Tennessee Williams Mrs. Stone und ihr römischer Frühling
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Tennessee Williams Mrs. Stone und ihr römischer Frühling
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Tennessee Williams
Mrs. Stone und ihr römischer Frühling Mit einem Nachwort von Horst Krüger
S. Fischer Verlag
Titel der amerikanischen Originalausgabe THE ROMAN SPRING OF MRS. STONE Ins Deutsche übertragen von Kurt Heinrich Hansen
Alle Rechte vorbehalten durch S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main Copyright 1950 by Tennessee Williams Umschlagentwurf: Hannes Jahn Satz und Druck: Georg Wagner, Nördlingen Einband: G. Lachenmaier, Reutlingen Printed in Germany 1978 ISBN 3 10 092206 9
Der zehnjährigen Freundschaft mit Paul
Erster Teil Diese kalte Sonne
Um fünf Uhr nachmittags, es war gegen Ende März, begann der fleckenlose Himmel über Rom bereits zu verblassen, und die durchscheinende Bläue in den engen Straßen zog sich zu zarten Nebeln zusammen. Die Kuppeln uralter Kirchen, die wie Brüste riesig hingelagerter Frauen über den winkligen Dächern vorquollen, und die obersten Stufen der sich gewaltig von der Trinita di Monte auf die Piazza di Spagna ergießenden Kaskade aus Steintreppen schwammen in Gold. Den ganzen Tag über hatte sich um diese verschwenderisch ausströmende Fontäne aus Treppen die sonnesuchende Masse all derer versammelt, die ohne eine regelmäßige oder legitime Beschäftigung waren – ein herrenloses Volk, das sich jetzt, während die Sonne niederging, allmählich höher hinaufschob, Flüchtlingen gleich, die sich vor der steigenden Flut höher hinauf in die Berge verziehen. Die Wenigen, die noch da waren, drängten sich auf den obersten Stufen, um den Abschiedsgruß der Sonne entgegenzunehmen. Ehrfurcht lag auf ihren stillen Gesichtern und Händen, kaum einer bewegte sich 7
oder sprach ein Wort. Die Lebhafteren unter ihnen, wie etwa die Straßenjungen mit falschen amerikanischen Zigaretten, denen die Spanische Treppe ein willkommener Ort war, um sich bei Gelegenheit außer Sicht- und Reichweite zu bringen, und die erfolgreicheren Bettler mit kleinen Bündeln schmutziger Papiere, die sie hier in der Öffentlichkeit noch nicht durchzuzählen wagten, verließen bereits die winzige Piazza am Kopf der Treppe und ließen sich durch die Straßen treiben, hinunter zur Via Veneto vielleicht, wo sich um diese Zeit die amerikanischen Touristen versammelten. In der sich auflösenden Menge stand bewegungslos die Gestalt eines jungen Mannes, der aus einem Fenster oder von der Terrasse eines alten, den oberen Teil der Spanischen Treppe flankierenden Palastes ein Zeichen zu erwarten schien. Er war auffallend schön, und das in einer Gegend, wo eigentlich alle jungen Männer schön sind. Seine Schönheit war von der Art, wie sie in den heroischen Jünglingsstatuen der römischen Fontänen verewigt ist. Durch zweierlei wurde sie ein wenig beeinträchtigt, durch seine grauenhaft ärmliche Kleidung und durch eine gewisse Verstecktheit in seinem Benehmen. Das einzige anständige Kleidungsstück, das er trug, war ein schwarzer, viel zu enger Mantel. Unter seinem Kragen wurde ein Dreieck aus elfenbeinfarbenem Fleisch sichtbar, ein Hemd schien er nicht zu tragen. Die Aufschläge seiner Hosen waren 8
zerfetzt. Durch die Löcher in seinen Schuhen sah man die nackten Füße. Es schien, als wollte er der Aufmerksamkeit entrinnen, die seine Schönheit erregte, denn jedesmal wenn ihn ein Blick traf, wandte er sich zur Seite. Er stand etwas vorgebeugt da und hatte den Kopf gesenkt. Und doch machte er einen sehr wachen und gespannten Eindruck, es war, als wollte er jeden Augenblick einen wilden Ruf ausstoßen oder den Arm heben, um irgend jemandem zu winken. Aber er stand nun schon ziemlich lange da, und niemand hatte ihm bislang ein Zeichen gegeben: es war noch nicht an der Zeit, um zu rufen oder zu winken. Seine Aufmerksamkeit ließ nicht nach, und als jetzt auf der Terrasse, fünf Treppenabsätze über dem Platz, zwei menschliche Gestalten erschienen, da steigerte sich sogar noch seine Spannung. Auf der Terrasse lag noch das Licht der untergehenden Sonne; selbst dann, wenn es sich den Spanischen Treppen bereits bis zum morgigen Tag entzogen haben würde, würde es dort wohl noch eine Viertelstunde verweilen. Die Gestalten auf der Terrasse waren zwei Frauen in dunklen Pelzen: sie hatten die Kragen ihrer Pelze aufgeschlagen, so daß sie von hier unten wie zwei auf einem Felsvorsprung hockende exotische Riesenvögel aussahen. Gespannt lugte der junge Mann zu ihnen hoch, als wären sie Raubvögel, die jeden Augenblick auf ihn niederstoßen und ihn mit ihren Krallen packen könnten. Während er sie beobachte9
te und dabei offensichtlich auf irgend etwas wartete, preßten sich seine Lippen vor Unbehagen zusammen, und heimlich, um ja etwas so Peinliches nicht zu verraten, fuhr er mit seinen langen, kalten Fingern unter seinem schwarzen Mantel entlang und drückte sie gegen die warme, schmerzende Mitte seines Körpers, wo er Hunger fühlte und schon während der ganzen Zeit gefühlt hatte, seit er vor vielen Tagen und Nächten aus jener zertrümmerten Stadt zwischen den Hügeln südlich von Rom heruntergekommen war. Es stand für ihn ziemlich fest, daß er auch in dieser Nacht den Schlaf mit dem Hunger zu teilen haben würde. Ohne hinzusehen, beobachtete er unterdes einen amerikanischen Touristen, der nicht weit von ihm vor dem ägyptischen Obelisken stehengeblieben war und, wie es schien, die geheimnisvollen heidnischen Inschriften studierte. Der junge Mann wußte indes, daß der Amerikaner gleich ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche ziehen und ihm eine anbieten würde. Nähme er die Zigarette an, dann würden noch weitere Angebote folgen, und eine Zeitlang würde er frei sein von Hunger und anderen Unannehmlichkeiten. Ohne den Blick des Fremden zu beachten, schätzte er den Wert seines goldenen Armbandes und der Kamera ab, die an einem Lederband von seiner Schulter herabhing, und versuchte sogar, die ungefähre Größe seines Hemdes und seiner Schuhe festzustellen. Als dann aber der 10
Amerikaner genau das tat, was er erwartet hatte, schüttelte er nur kurz den Kopf, trat etwas beiseite und sah wieder unverwandt zur Terrasse hinauf: denn wenn ein Mann mit der Größe selbst verabredet ist, dann läßt er sich nicht auf Bequemlichkeit ein …
An die Stelle der Schönheit, die Mrs. Stone früher einmal besessen hatte, war eine gewisse Größe getreten. Die Erkenntnis, daß sie nicht mehr schön sei, war erst kürzlich über sie gekommen, und noch war sie imstande, diese Tatsache wieder und wieder zu vergessen. Dies zu vergessen, war in der durch Seide gefilterten Dämmerung ihres Schlafzimmers, wo die Spiegel ihr Bild weich und geschickt in den Blick brachten, wirklich zuweilen möglich. Auch in der Gesellschaft von Italienern war es von Zeit zu Zeit möglich; denn das waren Leute, die sie nie anders gekannt hatten und die sich überdies auf eine freundliche und barmherzige Weise zu verstellen wußten. Mrs. Stone hatte es instinktiv vermieden, mit Frauen in Berührung zu kommen, die sie von Amerika her kannte und die nicht nur mit Blicken, sondern auch mit ihren Zungen unangenehm offen sein konnten. Die Frau, mit der sie im Augenblick auf der Terrasse ihres Appartements zusammenstand, hatte sie schon als Mädchen gekannt, sie dann aber nur selten wiedergesehen. Sie waren sich 11
morgens in der Bank des American Express über den Weg gelaufen. Mrs. Stone hatte für derlei Begegnungen immer bestimmte Redensarten parat. Wie freue ich mich, Sie zu sehen, aber wie schade, ich bin gerade auf dem Weg zum Flugplatz! Ob die andere das glaubte oder nicht, war ihr gleichgültig, es kam ihr nur darauf an, so schnell wie möglich zu verschwinden. Heute morgen nun aber war ihr nichts dergleichen eingefallen. Gegen die Aggressivität dieser Frau war sie machtlos gewesen. Diese Bekannte setzte sich einfach über Mrs. Stones schwache Verteidigungsversuche hinweg. Teilweise war es Mrs. Stone vielleicht recht so, denn tatsächlich hatte sie in letzter Zeit öfters das Bedürfnis gefühlt und es sich selbst auch fast zugegeben, einige Punkte in ihrem Leben mit einem Menschen zu besprechen, den sie von früher her kannte. Es gibt Zwischenzeiten, in denen das Leben einem von einem Gefühl der Unwirklichkeit durchwölkt scheint; es fehlt dann an Bestimmtheit; Wille und Verstand, oder was man dafür hält, haben ihre wirkliche oder angebliche Herrschaft verloren. In solchen Zeiten fühlt man sich machtlos dahintreiben oder man glaubt, in einem Universum wild durcheinanderwirbelnder Nebel und Dünste zu ertrinken. Dies war der Zustand, in dem sich Mrs. Stone seit kurzem befand; sie hatte es wohl bemerkt, und so glaubte sie, daß die Dinge sich vielleicht ein wenig verfestigen oder doch klären 12
würden, falls sie sie, wenn auch nur angedeutet und indirekt, mit einem Menschen bespräche, der aus ihrem eigenen Land stammte, und mit dem sie früher einmal einigermaßen eng verbunden gewesen war. So kam es, daß sie zu Meg Bishop sagte: Ja, komm heute nachmittag zu mir zum Plaudern. Ich habe dir so viel zu erzählen. Sie erschrak allerdings gleich darauf, denn sie fürchtete sich vor der Bloßstellung, die ihr bevorstand. Es war, als hätte sie ihr Einverständnis zu einer Operation gegeben, die vielleicht schiefgehen konnte und vor der sie infolgedessen im letzten Moment zurückschreckte. Kurz bevor Meg Bishop zu ihr kommen sollte, hatte Mrs. Stone noch eine Menge anderer Leute telephonisch eingeladen. In ihrem Appartement drängten sich Menschen, die sie erst kurze Zeit kannte und die sie als Schutzwehr gegen die Vergangenheit benutzte. Sie hatte die Hoffnung, daß vertrauliche Gespräche gar nicht erst aufkommen würden, aber so leicht war Meg Bishop nicht abzutun. Sie war entschlossen, genau die Dinge zur Sprache zu bringen, die Mrs. Stone so ängstlich zu vermeiden suchte, und wiederum zeigte es sich, daß Mrs. Stone den Frontalangriffen dieser Frau nicht gewachsen war. Meg Bishop war Journalistin und hatte unter dem Titel »Was Meg sah« eine Reihe von Büchern geschrieben, in denen sie sich – vom spanischen Bürgerkrieg bis zu den gegenwärtigen Guerilla13
kämpfen in Griechenland – mit all jenen Ereignissen auseinandersetzte, die wie Springfluten die moderne Welt überkamen. Zehn Jahre Umgang mit hohen Militärs und Politikern hatten ihrer Stimme und ihrem Benehmen jede Weichheit genommen. Unglücklicherweise hatte sie sich als Kleidung keineswegs ein Schneiderkostüm gewählt, das noch am besten zu ihrer lauten, schneidenden Stimme und ihrer militärisch drahtigen Haltung gepaßt hätte. Sie trug einen königlich vornehmen Umhang aus Nerzen und ein Abendkleid aus Taft, in dem sie erschreckend unnatürlich aussah, ungefähr wie der stämmige Kommandant eines Kanonenbootes, der sich in der Verkleidung eines wohlhabenden Damenklub-Mitgliedes präsentiert. Sie strahlte nicht ein bißchen von jener Wärme aus, nach der Mrs. Stone sich sehnte. Sie hatte einen prüfenden Blick und die Gabe scharfer, durchdringender Analyse, gerade das aber waren Dinge, die sich Mrs. Stone in diesem Augenblick am allerwenigsten wünschte. Sie hatte versucht, die Aufmerksamkeit ihres amerikanischen Gastes auf die Italiener zu lenken, aber es stellte sich kein Kontakt her. Miss Bishop ließ keinen Zweifel darüber, daß sie diese Leute nicht mochte, und während Mrs. Stone sie von einer Gruppe zur andern führte, beschränkte sie sich darauf, irgendwelche unverständlichen Begrüßungslaute vor sich hin zu murmeln. Mrs. Stone geriet dabei derart durcheinander, daß sie sich 14
kaum noch der Namen ihrer Gäste erinnern konnte und ihre Titel verwechselte. Als sie sich schließlich durch die Vorstellungen hindurchgestottert hatte, war sie, sosehr sie sich davor fürchtete, plötzlich allein zu sein mit Meg Bishop, zu schwach, um dem Arm zu widerstehen, der sie gewaltsam auf die Terrasse hinausführte, wo sich niemand befand, der ihr Gespräch hätte unterbrechen können. Die Luft sei unangenehm kühl, meinte Mrs. Stone, als sie vor die Tür traten. Miss Bishop aber durchkreuzte dieses Manöver, indem sie vorschlug, beide sollten doch ihre Pelze umlegen. Ich muß mit dir sprechen, sagte sie, und das ist drinnen unmöglich. So holten sie ihre Pelze und gingen wieder nach draußen. Mrs. Stone schlug den Pelzkragen hoch und drückte ihn gegen ihre Wangen; aber der Schatten, der sich dadurch über ihr alterndes und erschrecktes Gesicht legte, schmeichelte kaum, so daß sie etwas von einem Falken an sich hatte, der von einem Kliff in den Sturm hinausspäht. Sie merkte, daß sie Meg Bishop behandelte, als hätte sie sie eben erst kennengelernt. Sie gab sich gesellschaftlich souverän und redete überspannt und gekünstelt so rasch wie möglich daher, wobei sie hierhin und dorthin auf die verschiedenen Sehenswürdigkeiten Roms zeigte, die man vom Dach des Palazzo fast alle erkennen konnte. Miss Bishop grunzte nur skeptisch irgend etwas vor sich hin, als bezweifelte sie jedes Wort, das Mrs. Stone sagte. 15
Mrs. Stone zeigte gerade auf einen der sieben Hügel Roms, als Miss Bishop ihre Hand faßte und sagte: So, und nun ist es genug! Gleichzeitig legte sie ihren Arm um Mrs. Stones Hüfte. Diese Berührung erweckte in Mrs. Stone eine weit zurückliegende, unangenehme Jugenderinnerung. Sie mußte daran denken, wie sie beide gelegentlich im Schlafraum eines College im Osten zusammen in einem Bett gelegen hatten. In kalten Nächten hatten sie sich umarmt und gewärmt, und dann, eines Nachts, war, wenn auch ganz flüchtig und erfolglos, etwas passiert, woraus sich schließen ließ, daß ihre Freundschaft vielleicht doch nicht so ganz rein und unschuldig war. Es war so gräßlich und ihr hinterher so peinlich, daß sich hieraus vielleicht erklärte, warum Mrs. Stone sich späterhin in der Gesellschaft dieser alten Freundin nie so recht wohl fühlte, obschon sie sich bei ihren späteren Begegnungen immer verpflichtet gefühlt hatte, sie mit größter Herzlichkeit zu behandeln und sie, wenn sie an sie dachte oder von ihr sprach, als ihre »liebste und älteste Freundin« zu bezeichnen. Hörst du, was ich sage? rief Meg. Mrs. Stone nickte, obwohl sie in Wirklichkeit nicht zugehört hatte. Sie hatte durch die Glastür ein junges Paar beobachtet, das eng aneinandergeschmiegt und fast ohne Bewegung tanzte. Die beiden hatten nicht bemerkt, daß sie beobachtet wurden. Plötzlich trennten sie sich, als würden sie sich 16
in diesem Augenblick ihrer Situation bewußt, und Mrs. Stone gab dem jungen Mann ein Zeichen. Er beachtete es anscheinend nicht. Er gab dem Mädchen Feuer, und beide wandten sich ab. Kein Mensch begreift, warum du das getan hast! sagte Meg. Was getan hast? Daß du von der Bühne gingst! Ich hatte genug davon. Man kann sich aus einem Geschäft zurückziehen, aber nicht von der Kunst. Doch, sagte Mrs. Stone, wenn man schließlich entdeckt, daß man kein Talent hat. Talent, sagte Meg, was ist Talent anderes als die Fähigkeit, mit einer Sache fertig zu werden? Und du bist schließlich erfolgreich mit einigen sehr schwierigen Rollen fertiggeworden. Natürlich war es ein Fehler von dir, noch im Alter von Mrs. Alving die Julia zu spielen. Ha, ha! Das war ein Mißgriff. Das weiße Satinkleid, das du anhattest, und die Perlen sollten eine Atmosphäre von Jungfräulichkeit zaubern, aber die Illusion stellte sich nicht ein. Als die Geigen ertönten und jener süße kleine Romeo unter deinem Balkon erschien, hätte ich am liebsten gerufen: Paß auf, kleines Vöglein, gleich packt sie dich mit ihren Krallen und zerreißt dich! Das klingt ja, als hätte ich ausgesehen wie ein Geier! 17
Nein, wie ein kaiserlicher Adler sahst du aus! Das war vielleicht der Grund, sagte Mrs. Stone, weswegen ich in der Rolle versagte … In diesem Augenblick kam – auf ein zweites, dringenderes Zeichen von Mrs. Stone – der junge Mann, der vorhin hinter der Glastür getanzt hatte, auf die Terrasse, aber er blieb nur ganz kurz. Er sah in die untergehende Sonne, verzog sein Gesicht zu einer komischen, ablehnenden Grimasse und wandte sich wieder zur Tür. Paolo! rief Mrs. Stone und wollte auf ihn zugehen. Aber er kehrte nicht zurück. Ich hasse diese kalte Sonne, erklärte er, ich mag das nicht, wenn sie keine Wärme mehr ausstrahlt. Mrs. Stone fühlte sich von dieser Bemerkung unangenehm berührt, was der Frau neben ihr nicht entging. Ist es nicht seltsam, sagte Meg, daß Frauen, wenn sie in unser Alter kommen, anfangen, bei ihren männlichen Partnern vor allem auf Schönheit zu achten? Du hast damals geheiratet, und offensichtlich mochtest du diesen kleinen, fetten Mann, der aussah wie ein Osterhase, gern. Wieso, höre ich noch jemanden sagen, Karen Stone hat ganz einfach geheiratet, um der Liebe und den Konsequenzen, die sich daraus ergeben, aus dem Wege zu gehen. Aber jetzt – Ich habe Tom Stone sehr geliebt, sagte Mrs. Stone scharf. 18
Kann sein, aber er hatte nicht das Recht, dich von der Bühne zu nehmen, um dann wenige Monate später tot umzufallen und dir nichts, an das du dich halten konntest, zu hinterlassen, als seine lumpigen Millionen. Ich habe mich an sehr viel mehr halten können als an das, sagte Mrs. Stone. Zum Beispiel? Dies Land, diese Menschen hier … Wenn du diese Bande hübsch aussehender Hexen und verweichlichter Dandies meinst, die du da drinnen um dich versammelt hast, nun, dann mußt du mir schon gestatten, daß ich dir in aller Höflichkeit ins Gesicht lache! Sie haben eine gewisse Eleganz, das stimmt, und die Jüngeren unter ihnen sind hübsch und machen, wie man mir erzählt hat, den Damen auf sehr reizende Weise den Hof. Aber genügt das, um so etwas wie eine menschliche Gesellschaft zu bilden? Ich glaube, ja, sagte Mrs. Stone. Eskapismus! sagte Meg. Dies war eins ihrer Lieblingsworte, wenn es ihr darum ging, die Erscheinungsformen einer Welt moralischer und intellektueller Schwächlinge anzuklagen, die zu züchtigen sie sich berufen glaubte. Wie eine Kultur von Krankheitsbazillen unter der Linse eines Mikroskops wurde ihr das Phänomen Mrs. Stone ganz allmählich klar und gewann symbolische Bedeutung. Sie sah in ihr nicht mehr die einzelne wohlha19
bende und dem Müßiggang ergebene Frau, die Schauspielerin gewesen und angeblich von der Bühne gegangen war, weil sie in einer Rolle, für die sie zu alt war, versagt hatte, sie erkannte vielmehr in ihr das Grundprinzip einer Gesellschaft und eines Zeitalters, die blind ihrem Verfall entgegengegangen waren. Sie fühlte kein Mitleid. Mitleid betrachtete sie als einen Dunst vor den klaren Linsen der Analyse, und auf dieser römischen Terrasse gefiel sie sich nun einmal darin, einen Strafprozeß en miniature in Szene zu setzen gegen das Grundübel aller modernen Geschichte, denn die zerbröckelnde, goldglänzende Antiquität der Stadt unter ihr und das alternde und erschreckte Gesicht der Frau neben ihr riefen ihr beide das gleiche abscheuliche Wort zu, und dieses Wort hieß: Verfall. Ich glaube nicht, daß du ehrlich bist, sagte sie, aber selbst wenn du es bist, selbst wenn du mehr Energie hattest als Talent, was gedenkst du dann jetzt mit dieser Energie zu tun? Willst du sie in die Tasche stecken wie den Schlüssel zu einem Haus, in dem du nicht mehr wohnst? Energie kann nur in Handlung umgesetzt werden, und unter Handlung verstehe ich nicht wahlloses geschlechtliches Ausleben! Ja, ich nenne das Kind beim Namen! Und du wirst mich anhören. Du bekamst deine Typhusspritzen, bevor man dich an Bord der ›Queen Mary‹ ließ, und bei Gott, du wirst jetzt die simple Wahrheit eingespritzt bekommen, und zwar von 20
einer, die das nur deswegen tut, weil sie sich Sorgen um dich macht. Ich bin entsetzt über dich, Karen, ich bin entsetzt und empört über das, was du, wie es scheint, mit dir selbst anstellst, und ich bin nicht die einzige, die sich entsetzt! Wenn du denkst, daß man dich hier nicht beobachtet oder etwa keine Bemerkungen über dich macht, nun, dann laß mich dich bitte von diesem Irrtum befreien! Die Zeitungen von New York, London und Paris sind voll von Klatsch und Sticheleien gegen dich! Du kannst dem Gerede der Leute hier ebensowenig entrinnen wie du dir die Haut vom Leibe herunterreißen kannst. Laß es dir gesagt sein, die allgemeine Vorstellung von einer Frau in den mittleren Jahren, die sich völlig verblendet wie eine Verrückte an den Körper eines hübschen jungen Burschen halt, die sich mit einem Gefolge von hübschen Halbstarken oder Gigolos umgibt, deren wahres Wesen zwar von einem wohltönenden Titel aufgeschmückt, nicht aber überdeckt wird, ist – Hör auf! schrie Mrs. Stone. Sie packte Miss Bishops Arm, um sich frei zu machen, aber der Arm legte sich nur noch fester um sie, und sie redete weiter. Nein, nein, du wirst mir jetzt zuhören. Ich weiß, es ist dir alles egal, aber du wirst mir zuhören! Genau dies wollte ich dir sagen, deswegen bin ich gekommen. Die Leute wissen, was du tust. Niemand, der dich jemals gekannt hat, und ganz bestimmt niemand, der dich jemals liebte, hätte – 21
Wer sind die Menschen, »die mich jemals liebten«? fuhr Mrs. Stone auf. Kannst du mir jemand nennen? Tausende! Du spieltest – Die verschiedensten Rollen! Aber niemals mich selbst! Und das hier – bist du das selbst? Was denn? Dieser weibliche – Tiberius! – den du jetzt zu spielen scheinst … Die Glastüren öffneten sich, als hätte der Wind sie auseinander geweht. Mrs. Stone durchschritt ihre Gäste, als schöbe sie in einem Schrank Kleider beiseite, um irgendein bestimmtes Kleid zu finden. Als sie die Tür zu ihrem Schlafzimmer erreichte, berührte jemand ihre Schulter. Ohne sich umzusehen, schlug sie zu, wobei sie die zart aufgelegte Hand wahrscheinlich mit ihren Nägeln verletzte. Und dann war die Tür auf, und dann schlug sie zu, und die Stimmen, die Grammophonmusik, das entfernte Geklapper des Roulettes und die schürfenden Schritte der Tänzer verklangen. Lauter als alles das rauschte das Wasser jetzt aus dem Hahn in die Badewanne. Sie spritzte sich das lauwarme Wasser ins Gesicht. Sie stöhnte, aber dieser heftige Ausdruck ihrer Gefühle schien keinerlei Verbindung zu haben mit dem, was in ihrem Kopf vorging. Ihre Gedanken waren erstaunlich ruhig, es war, als hätte ein wilder Vogel, 22
der in ihrem Kopf eingesperrt gewesen war, seinen Käfig durch eine unsichtbare Öffnung verlassen. Nein. Es war nicht nötig, das Beruhigungsmittel zu nehmen, nach dem sie gedankenlos gegriffen hatte. Sie tat es in das Glasschränkchen zurück und schloß die Tür, die spiegelnd zum Bild ihres Gesichtes wurde, und sie sah, wie das Gesicht sie anschaute, neugierig und etwas unruhig, und als sie es ansah, wurde es rot, als hätte sie es bei einer Tat ertappt, über die es sich schämte … Das Sichtreibenlassen! Ein Zimmer betreten und es wieder verlassen, und beides, ohne daß man einen wirklichen Grund dazu hatte – das war es. Es bestand darin, daß man etwas tat, ohne einen Grund dazu zu haben. Aber wozu gab es denn überhaupt einen Grund? Gewiß, man konnte sich Gründe ausdenken; einige davon mochten sogar recht einleuchtend sein. Einleuchtend genug, um wie eine höfliche Entschuldigung aus Bequemlichkeit oder gesellschaftlicher Konvention hingenommen zu werden. Aber es war nichts dagewesen. Lange, sehr lange schien dieses Nichts schon geherrscht zu haben; es hatte seinen Anfang genommen, als die Perlenschnur riß und sie nach der Hand geschlagen hatte, welche die Perlen zurückhalten wollte; und dann war sie auf die Bühne gestürzt, um das Werk der Zerstörung zu vollenden, dort, in dem sehr dünnen, bläulich fließenden Licht, in das sie wie in eine Hülle aus 23
Seidenpapier mit den Krallen eines angeketteten Vogels gegriffen hatte. Lange Zeit her. Lange genug, um sich nicht mehr erinnern zu können. Und wie war noch der Name des plumpen, kleinen Mannes, der mit ihr zusammenlebte? Auf irgendeine Weise hatte sie ihn sehr geliebt; auf was für eine Weise, daran konnte sie sich nicht mehr erinnern. Und was war es während der ganzen Zeit gewesen? Es hatte mit nichts Verbindung, was heut existierte. Er nicht, und es auch nicht. Es war irgend etwas, das mit einer Art Trick zu Ende gegangen war, mit einer Art Theaterzauber, wodurch es weiterging, obwohl es zu Ende war. Ja, zu Ende. Zu Ende. Ein Wort, das wie ein Echo den Schluß einer Geschichte imitierte. Irgend etwas, das, gegen die Wand geworfen, klatschend dort hängen blieb und sich austropfte. Aber mit ihr war es nicht zu Ende, denn sie trieb weiter dahin. Sie hatte ein Glas in der Hand, ein Glas mit lauwarmem Wasser, sie trank davon; nein, sie stand hier nicht vor dem Ende. Sie trieb weiter dahin, aus dem Badezimmer ins Schlafzimmer, und jetzt aus dem Schlafzimmer nach draußen auf die Terrasse. Und sah jetzt hinunter. Kein Licht mehr. Es war prima sera. Blaues Seidenpapier alles. Aber immer noch stand dort unten, bei der steinernen Nadel aus dem alten Ägypten, der auffallend schöne junge Mann, der ihr gestern ein obszönes Zeichen gemacht hatte. Schaudernd vor Ekel wandte sie sich ab … 24
Kein Laut. Alle waren fort. Nichts blieb ihr übrig, als sich hintreiben zu lassen durch die Leere der Räume.
Gott behüte dich, sagte Miss Bishop, als sich Mrs. Stone von ihr losmachte und durch die offene Glastür zu ihrem Schlafzimmer eilte. Sie folgte ihr nicht, sie ließ sie gehen, denn was sie sich vorgenommen hatte, war ihr gelungen: sie hatte Mrs. Stone einen Stachel ins Fleisch gesetzt. Sie hatte Rache genommen für etwas, das vor langen Jahren passiert war, und sie war zufrieden darüber. Aber sie war erschüttert. Sie war zutiefst erschüttert. Aus irgendeinem Grunde, der ihr selbst unklar war, fühlte sie sich nach dieser Auseinandersetzung mit den Nerven ebenso herunter wie Mrs. Stone. Jene große geistige Klarheit, auf die sie so stolz war, war in diesem Augenblick verwirrt und getrübt; es war, als hätte ein Seeungeheuer sich aus den Tiefen des undurchsichtigen Meeres erhoben, ohne dabei die Oberfläche zu durchbrechen, ja, nur die Unterwasserbewegungen des Tieres hatten die Oberfläche ein wenig bewegt und verwirrt. Ihre Begabung, zu analysieren, war nicht so stark, wie sie meinte. Sie war nicht so tapfer, wie sie glaubte, und ihr Begriffsvermögen war auf die riesigen Blockbuchstaben kollektiver Impulse beschränkt, in denen sich, wie sie meinte, der Sinn dessen offenbarte, was sie 25
mangels eines längeren und eindrucksvolleren Wortes Leben nannte. In diesem Zustand der Verwirrung ging sie auf der Terrasse entlang, sie bog um eine Ecke und fand sich vor einer zweiten Glastür stehen. Sie blickte hindurch und sah Mrs. Stone in ein Schlafzimmer gehen. Sie sah, wie sie eine Tür zuschlug, abschloß, ihren Pelzumhang auf den Boden warf und rasch in ein Badezimmer ging. Miss Bishop faßte die Klinke der Glastür, aber sie ging nicht auf, sie war von innen abgeschlossen. Sie schlug gegen die Tür und rüttelte an ihr, aber sie erhielt keine Antwort. Entfernt hörte sie das Geräusch von einlaufendem Wasser. So ging sie um die Ecke zurück; sie würde vielleicht bleiben, dachte sie, bis die Gesellschaft aufbräche, aber hier draußen, an der Balustrade der Terrasse. Sie schaute abwesend nach unten, auf die Mitte der kleinen Piazza. Die letzten Reste des Lichtes streiften die Inschriften auf dem mattroten Granit des Obelisken, neben dem, mit dem Rücken gegen den Stein gelehnt, und so, als wollte er gerade einen Vortrag über den Obelisken halten, die einsame Gestalt eines auffallend schönen jungen Mannes stand. Es hatte den Anschein, als schaute er ihr von da unten her direkt ins Gesicht, ja, es schien, als sei er nahe davor, ihr etwas zuzurufen oder den Arm zu heben, um sie zu grüßen. Aber Miss Bishop sah nur kurz zu ihm hin. Sie beachtete ihn kaum, bis sie einige Sekunden später plötzlich bemerkte, daß er seinen 26
Platz am Obelisken verlassen hatte und nun genau dort unter ihr stand, wo sie sich gegen die Balustrade lehnte. Seine Hände, die er aus der Tasche zog, trafen sich vor seinem Körper, und sie bemerkte, daß er sein Wasser lassen wollte. Sie erschrak, abgestoßen zog sie sich zurück und ging wieder in das Appartement. Die Gesellschaft brach gerade auf. Die Musik hatte aufgehört zu spielen. Die Versammlung »hübsch aussehender Hexen und verweichlichter Dandies« bewegte sich lässig zu dem Barockvestibül, wo ein Fahrstuhl auf sie wartete, der aussah wie eine damastrote Opernloge. Niemand beachtete sie, während sie aufgeregt umherblickte, um Mrs. Stone zu finden. Aber Mrs. Stone war nirgends zu sehen. Sie war auch während des Aufbruchs ihrer Gäste nicht wieder in Erscheinung getreten. Miss Bishop zögerte noch. Der Fahrstuhl füllte sich und verschwand. Die übrigen Gäste standen wartend im Vestibül beisammen. Miss Bishop war noch in der Sala. Sie bewegte sich zum Kamin hinüber, wo sie interessiert eine französische Uhr unter einer Glashaube betrachtete. Unter der Uhr lag ein fuchsienroter Briefumschlag, den Miss Bishop ganz in Gedanken hervorzog. Sie entdeckte, daß er eine kleine Photographie enthielt. Es war die Photographie einer blonden Frau von unbestimmtem Alter, ihr Gesicht war von einer maskenhaft unwirklichen Schönheit, und als Miss Bishop die 27
Photographie umdrehte, las sie: »So sehe ich heute aus!« Eine mysteriöse Bemerkung, aber vielleicht stand ja auf dem Notizpapier etwas, woraus hervorging, was diese Worte zu bedeuten hatten. Sie zog den Umschlag ganz hervor, aber gerade in diesem Augenblick berührte jemand ihren Ellbogen. Wie bitte? Ach ja, der Fahrstuhl! – So mußte sie das Papier liegenlassen …
Jeden Nachmittag gegen fünf Uhr dreißig ging Paolo zu einem bestimmten Friseur für Herren und Damen in der oberen Via Veneto. Dort bediente ihn ein junger Mann namens Renato, nicht älter als Paolo selbst, fast ebenso hübsch und nur um eine Nuance weniger elegant. Paolo wußte es vielleicht nicht, aber dies war in Wahrheit die glücklichste Zeit seines Tages, die Zeit, die er – manchmal dauerte es länger als eine Stunde – entspannt unter den besänftigend auf und nieder streichenden Fingern Renatos im Frisierstuhl zubrachte. Der sinnliche Genuß dieser Stunde war köstlich wie göttlicher Nektar. Renatos Finger waren lang und kühl und so sauber wie Wasser, das aus einem silbernen Hahn floß. Er hatte eine einschmeichelnde Stimme, und seine Augen waren dunkel und unbestimmt wie die Augen Paolos. Was sie miteinander besprachen, schloß sich immer genau an die Nachmittagsunterhaltung vom Tage zuvor an, sie setzten ihre 28
Unterhaltung ohne Zwang fort, wo sie ohne Zwang aufgehört hatten, und fast immer drehte es sich um ihre Mädchen. Paolo war in bezug auf Eleganz und modischen Schick Renatos Idol. Paolo war ein schlechter Katholik, er ging nicht zur Beichte, aber seine Besuche bei Renato verfolgten einen ähnlichen Zweck – sie sollten seiner Schmetterlingsexistenz Halt und Bedeutung geben. Manchmal blieben Renatos lange, kühle Finger minutenlang fast ohne Bewegung auf Paolos Wangen liegen, während unter ihnen Zunge und Kinnbakken seines Kunden gemächlich arbeiteten und träge die Worte nach vorn brachten. Müßigtun und Sinnlichkeit flossen vom einen zum andern, wie zwei stille, klare Ströme, die sich unter dem Schatten einer Weide vermischen. Es war dies die Stunde, in der die Römer ihre Passeggiata machten, und so stellte Renato den Frisierstuhl immer so hin, daß beide die vielen elegant gekleideten Spaziergänger vorübergehen sehen konnten. Diese Spätnachmittags-Passeggiata war eine schöne Gewohnheit, der sich auch die Amerikaner gern anschlossen, und so konnte man zu dieser Stunde von dem Friseurladen aus praktisch all die Leute sehen, die in Paolos Welt des Reichtums und der falschen Eleganz zählten. Man konnte sie durch die Schaufenster und durch den Vorhang vorm Eingang sehen. Dieser Vorhang, der, sobald der Winter vorüber war, anstelle der Glastüren aufgehängt wurde, bestand aus sehr 29
feinen, geschmeidigen Silberketten, die melodisch aufklangen, wenn jemand hindurchging. Und der Winter war ja nun vorüber. Mit der fast sommerlichen Luft, die von Tag zu Tag wärmer wurde, drangen durch den leichten Metallvorhang einzelne Worte der Vorübergehenden herein. Es gab ständig etwas zu sehen, manchmal so viel, daß die trägen Lider sich irritiert vor der Fülle schlossen; wie eine Hand etwa, die mitten in einer sehr wollüstigen Liebkosung innehält, um den Höhepunkt nicht zu rasch herbeizuführen. Je wärmer es draußen wurde, desto angenehmer empfand es Renatos junger Lieblingskunde, von den langen und kühlen Fingern behandelt zu werden. Er wurde zuerst rasiert, dann aber folgte eine Massage, bei der üppig von erhitzten Handtüchern und Mentholcremes Gebrauch gemacht wurde. Paolos Haut war fehlerfrei. Sie hatte die Farbe einer sehr fülligen Creme, und es war ein Vergnügen, sie zu berühren. Die Massage war vom kosmetischen Gesichtspunkt aus sinnlos, aber als Entschuldigung dafür wurde ihre schwelgerisch üppige Durchführung hingenommen, und das Gespräch, das natürlicherweise durch den ständigen Kontakt zwischen Gesicht und Fingern sehr intimen Charakter annahm. Während er rasiert und massiert wurde, saß Paolo, der für einen Süditaliener ziemlich groß war, weit zurückgelehnt im Stuhl, seine Beine waren auseinander gespreizt, und eine Hand lag lässig in 30
der Mitte seines Seins, das heißt in der Gegend der Schamleiste. Diese Hand glich einem in eine Steckdose eingelassenen Draht, der dem unveränderlichen Gegenstand ihrer Unterhaltung Licht und Kraft zuzuführen hatte, und dieser Gegenstand bestand in den sexuellen Erlebnissen des jungen Conte Paolo, durch die und von denen er lebte. Die lässige, traumähnlich luxuriöse Verbindung zwischen den beiden jungen Männern dauerte nun schon fast ein Jahr, und in dieser Zeit hatte Paolo in Fortsetzungen die Geschichte der drei »Schutzherrinnen« erzählt, die er nacheinander gehabt hatte; da war als erste im vorigen Sommer die Signora Coogan gewesen und fast gleichzeitig mit ihr der sagenhaft reiche jüdische Baron Waldheim, von dem man allgemein wie von einer Frau sprach und den man Baronessa nannte; es folgte die kurze, aber glanzvolle Verbindung mit Mrs. Jamison Walker, einer eleganten amerikanischen Lady (deren Mann ihm in Tanger ein Auge blau geschlagen hatte, was aber erst geschah, als die Dame ihm bereits ein Paar Manschettenknöpfe aus Rubinen geschenkt hatte, deren Verkauf ihm zweitausendfünfhundert Dollar einbrachte); und jetzt war es seit einigen Monaten Mrs. Stone, von der er sich sehr viel mehr erhoffte, als er von den drei anderen zusammen erhalten hatte, denn sie war die reichste von ihnen, und sie schien nicht nur in geschlechtlicher Beziehung, sondern irgendwie tiefer an ihm interessiert. 31
Paolo war zu sehr der eitle junge Dandy von Welt, als daß es ihn gelockt oder auch nur interessiert hätte, tiefer in die Natur eines Menschen hineinzuschauen, der komplizierter war als er selbst. Er sah sich jemanden bei der ersten Begegnung einmal an und erinnerte sich an diesen Eindruck deutlich genug, um sich späterhin jeden weiteren Einblick ersparen zu können. Es gehörte zu seinem koketten Wesen und zu der enormen Gleichgültigkeit, die er, außer seiner eigenen Person, allem gegenüber zur Schau trug, daß er kaum jemals einem Menschen ins Gesicht sah, es sei denn, daß er ihm einen jener trägen und nahezu ausdruckslosen Blicke zuwarf, die er von sich gab, wenn er eine Frage oder Nachfrage unterstreichen wollte. Und doch hatte selbst Paolo, so wenig er sein Auffassungsvermögen beanspruchte, in Mrs. Stones Wesen die Existenz einer gewissen, ihrer Art und ihrem Grade nach ungewöhnlichen Einsamkeit bemerkt, die ein junger Abenteurer, der Skrupel nur in bezug auf sich selbst kannte, leicht zu seinem Vorteil ausnutzen konnte, er brauchte nur die schwachen Verteidigungsversuche und die niedrige Sperrmauer persönlicher Eigenheiten zu überwinden. Aber Mrs. Stone setzte sich unerwartet heftig zur Wehr. Sie war nun doppelt so lange auf der Welt wie Paolo, und sie hatte in ihrem Beruf eine ganze Menge lässiger junger Männer gekannt, die einigermaßen hübsch und anmutig waren und bei allem, was sie 32
taten, eigentlich immer nur sich selbst in einem imaginären Spiegel betrachteten. Sie hatte sich früher nicht für sie interessiert, aber sie hatte sie gekannt. Sie hatte gern mit ihnen auf der Bühne gestanden, denn sie setzten einem kaum Widerstand entgegen. Es war, als steckte man den Finger in einen Sahnebaiser, wenn man ihren Persönlichkeitswert ausprobierte, aber als unterstützende Partner waren sie gut zu gebrauchen. Sie fühlten keine Erregung und forderten sie auch nicht heraus. Man wußte, was sie tun würden, und konnte sie mit einer einzigen Handbewegung wegwischen. Das machte einem sogar Vergnügen. Zuweilen hatte man Freude daran, hinter der Kulisse ihre feuchte Hand zu fassen und zu sagen: Reg dich nicht auf! Jedes Theaterstück muß irgendwann einmal anfangen, und manche gehen sogar zu Ende … In ihren Umkleideräumen roch es gut, ihnen selbst entströmte noch nicht der männliche Geruch, oder er war doch so schwach, daß man ihn unter den Gerüchen von Talkum und Eau de Cologne nicht bemerkte. Bisher hatte Mrs. Stones Neigung für jene jungen Männer darauf beruht, daß sie sich ihnen absolut überlegen wußte; ein Gefühl, das noch genährt wurde von der Verachtung, die sie für sie empfand. Nur ganz zu Anfang war es Mrs. Stone gelungen, Paolo diesen jungen Männern, die sie seinerzeit als Schauspielerin so leicht beherrscht hatte, gleichzu33
setzen. Es waren bald gewisse Differenzen aufgetreten. Trotz seiner Launenhaftigkeit und Passivität wirkte er irgendwie nicht mädchenhaft. Unter dem Duft der Parfüms, die er benutzte, war jener männliche Geruch immer noch spürbar, etwas das Mrs. Stone, wie sie immer gesagt hatte, an sehr jungen Männern nicht liebte und wogegen sie besonders empfindlich war. Schon bei ihrer ersten Begegnung bemerkte sie diesen Geruch an Paolo und empfand ihn als unangenehm. Und doch fand sie sich in letzter Zeit manchmal neben ihm stehen, nur um diesen Geruch einzufangen, sie blieb neben ihm, nachdem ihre Zigarette bereits angezündet worden war oder sie ihm ein Glas in die Hand gegeben hatte, und sie tat so, als dächte sie eben noch über irgend etwas nach. Besonders verwirrend waren seine Hände. Auf dem Tisch neben dem Sofa in der Bibliothek stand ein erleuchtbarer Globus. Innen war eine elektrische Glühbirne angebracht. Und oft kamen ihr Paolos Hände, wenn sie, wie berauscht vom Berühren des eigenen Körpers, auf der Serge lagen, die seine Oberschenkel bedeckte, ebenso groß und glühend vor wie die beiden Welthälften des erleuchteten Globus, und sie stellte sich diese Hände auf ihren Brüsten vor, jede der beiden Wärme gebend und ganz auf ihren beiden Brüsten … Aber Mrs. Stone hörte nicht auf, sich zu wehren. Diese verwirrenden Entdeckungen hatten sie nur 34
noch wachsamer und unruhiger gemacht. Sie sagte ihm an der Tür gute Nacht, wenn er sie spät nach Haus brachte, sie benahm sich in den letzten Minuten ihres Zusammenseins immer ein bißchen gezwungen, und manchmal gab sie ihm nicht einmal die Hand. Mrs. Stone wußte, und Paolo wußte es auch, daß derjenige, der in einem solchen Fall den Angreifer spielt, einen Vorteil aus der Hand gibt. Auch sie hatte einst den Trumpf der Schönheit in ihren Karten gehabt, den er nun besaß, und sie hatte diese Karte so lange besessen, daß sie sich gesellschaftlich weiterhin so benahm und bewegte, als hätte sie sie noch in Besitz. Wenn sie sich auch in Augenblicken, in denen sie sich selbst gegenüber ehrlich war, zugestand, daß sie diesen Trumpf nicht mehr ausspielen konnte, so brachte sie doch ebenso deutlich wie Paolo zum Ausdruck, daß sie es eher gewohnt war, umworben zu werden, als etwa ihrerseits zu umwerben. An dem Nachmittag, als sie sich in Mrs. Stones Appartement zuerst begegneten – eine alte Contessa hatte Paolo mitgebracht –, hatte er seine gravierte Karte mit Büttenrand unter einem Aschbecher auf ihrem Kamin hinterlassen. Links unten auf der Karte stand seine Telephonnummer, rechts unten seine Adresse. Aber Tage vergingen, ohne daß Mrs. Stone ihn anrief oder ihn auch nur der Contessa gegenüber erwähnte, mit der sie damals häufig zusammenkam. Die Contessa mußte schließlich zu35
geben, daß die in solchen Fällen übliche Strategie versagt hatte, und daß es wohl besser wäre, wenn er den ersten Schritt selbst täte. Diese Frau ist immer noch sehr stolz, sagte die Contessa, sie hat sich noch nicht mit ihrem Alter ausgesöhnt. Zischelnd und gestikulierend versuchte sie ihm Mut zu machen, als Paolo Mrs. Stone vom Zimmer der Contessa aus zum erstenmal anrief. Das Gespräch verlief nicht sehr befriedigend. Mrs. Stone war freundlich, sie war liebenswürdig und gelassen. Sie erinnerte sich seiner sofort. Sie erwähnte sogar die Karte, die er auf dem Kamin hinterlassen hatte. Aber sie lud ihn nicht zum Cocktail oder zum Essen ein, was Paolo und seine Beraterin erwartet hatten. Er seinerseits mußte sie zum Essen einladen und auch bezahlen. Mrs. Stone ließ sich wohl anmerken, daß sie Vergnügen an seiner Gesellschaft fand, aber die Initiative überließ sie weiterhin ihm. Erst ganz vor kurzem hatte sie sich dazu herbeigelassen, Paolo anzurufen. Dies war das einzige Zeichen von Aktivität, das sie bislang von sich gegeben hatte, und es reichte nicht aus, um ihn die Oberhand gewinnen zu lassen. Es stimmte nicht, was Paolo seinen Freunden auf der Via Veneto angedeutet hatte. Mrs. Stone war nicht seine Geliebte. Gewiß, er hatte in ihren Augen die Zeichen der Begierde gesehen, dort standen sie, wie in einem Spiegel oder hinter einem Glasfenster, aber es blieb auch dabei. Seine zarten Versuche, sie hervorzulocken, blieben 36
ohne Erfolg. Er mußte also deutlicher werden. Seine odaliskenhaften Posen und seine träge Lässigkeit führten zu keinem Ziel, und so ergriff Paolo eines Abends ihre mit Ringen besetzte Hand und legte sie auf sein Knie. Er legte seine Hand auf ihre Finger, zuerst ziemlich fest, dann etwas zarter, aber ihre Hand blieb dort nur kurze Zeit liegen. Sie zog sie behutsam zurück und legte sie in ihren Schoß, ohne daß dieser Vorfall sie sichtbar betroffen gemacht hätte. Für Paolo war das eine bestürzende, allmählich kaum noch zu ertragende Situation, denn sein Leben spielte sich auf dem Strom der Zeit ab, und dieser Strom bewegte sich gegen ihn. Der Verkauf der Manschettenknöpfe, die Mrs. Jamison Walker ihm in Marrakesch geschenkt hatte, hatte ihn glänzend durch eine Saison gebracht. Aber diese Saison war nun vorüber. Etwas sehr Ähnliches, ein weiterer Glückstreffer mußte sehr bald gelingen, wenn Paolo Nachgiebigkeit, wenn er größere Konzessionen vermeiden wollte, die häufig genug zum vollkommenen Fehlschlag einer solchen Campagne führen. Ich weiß, daß sie mich haben will, schrie Paolo die Contessa an. Warum sagt oder tut sie nicht irgend etwas? Geduld, sagte die Contessa. Rom wurde nicht an einem Tag erbaut! Ich bin ein Römer, sagte Paolo, und nicht Rom. 37
Wenn sie sich nicht bald regt, werde ich in die Galleria gehen müssen und mich dort herumtreiben! Tu das, warnte ihn die Contessa, und wir sind fertig. Die Galleria hat einen Geruch an sich, der nicht nur in den Kleidern, sondern auch an der Haut hängenbleibt und den Atem verdirbt! Selbst wenn man so oft hungrig herumläuft wie ich, muß man noch Kraft genug haben, seine Karte auf alles oder nichts zu setzen … So standen die Dinge, als eines Nachmittags gegen Ende April Paolo und Renato, sein junger Friseur, Mrs. Stone so nahe vor ihrem Fenster aus ihrem Cadillac steigen sahen, daß sie deutlich den etwas erschreckten, ängstlichen Ausdruck erkennen konnten, den ihre blassen blauen Augen immer dann annahmen, wenn sie allein war und sich unbeobachtet glaubte. Mein Gott, kommt sie hier herein? flüsterte Paolo aufgeregt. Die Dame? sagte Renato. Sie ist keine Kundin von uns. Du weißt nicht, wer sie ist? Das, rief Paolo, ist die Signora Stone! Zischelnd und wispernd machte der Name rasch die Runde. Handtücher kühlten ab und Seifenpinsel trockneten ein, während sämtliche Insassen des Ladens, Kunden, Friseure, Maniküre und Lehrlinge ihre Aufmerksamkeit auf die Dame richteten, die zögernd den Rahmen des Fensters durchquerte. Für 38
wenige Augenblicke hielt irgend etwas in ihrem Benehmen, das sie aus ihrer großen Zeit hinübergerettet hatte ins Exil, dem Gespött, dem Paolos Geschwätz sie ausgeliefert hatte, die Waage. Ich wußte nicht, sagte Renato fast entschuldigend, daß sie so eine große Dame ist! Paolo selbst war beeindruckt, weniger durch die Dame, die er allein genauer kannte, als vielmehr durch die Wirkung, die sie auf die andern ausübte. Es hätte ihm kaum angestanden, einen Stein aufzunehmen und ihn nach ihr zu werfen, und so machte er gleich darauf die Bemerkung, sie sei immerhin keine so große Dame, daß sie sich scheuen würde, einen Pumpenschwengel anzufassen, wenn ein Haus in Brand stünde. Gelächter brach aus und zerstörte die für einen Augenblick eingetretene andächtige Stille, denn Paolo spielte mit seiner Bemerkung auf ein gewisses, sehr ordinäres Gassenwort an. Voller Genugtuung rächte er sich damit für die Lage, in die Mrs. Stones Zurückhaltung ihn gebracht hatte. Er schwor sich zu, daß er das, worauf diese Bemerkung anspielte, wahr machen würde. Ihre Zurückhaltung würde nicht standhalten, sie hielt jetzt schon nicht mehr ganz stand. Gestern hatte sie ihn zweimal angerufen, beim zweitenmal hatte er ins Telephon gegähnt und eine Verabredung, die sie vorschlug, mit einer Entschuldigung abgelehnt. Wahrscheinlich war sie gerade dabei, über ihn 39
nachzudenken, vielleicht suchte sie ihn sogar irgendwo auf dem Boulevard. In seinen Fingern fühlte er bereits ihr gefärbtes blondes Haar, an dem er sie herabzog, er fühlte ihren heißen Atem, während sie niedergezwungen nach seinem Mund suchte und er sich in gespielter Erregung wand. Das konnte sie haben, ja, und er würde um alles in der Welt wetten, daß er es fertigbrächte. So geschickt Mrs. Stone als Schauspielerin sein mochte, ihre violetten Augen hatten sie verraten. In ihnen saß ein wilder, raubgieriger Vogel, den er aus seinem Käfig befreien konnte, aber nicht in den Himmel … Es sah fast so aus, als hätte Mrs. Stone das Gelächter im Friseurladen gehört und es auch auf sich bezogen, denn sie hob die Hand vors Gesicht, kehrte um und bewegte sich in entgegengesetzter Richtung auf eine Reihe von Tischen zu, die vor einem benachbarten Restaurant standen; sie zwängte sich zwischen ihnen hindurch, als ob sie irgend jemanden sehr angestrengt suchte. Sie war immer noch vom Fenster des Friseurladens aus zu sehen, und so sah man auch, daß ihr jetzt jemand folgte. Ein gewisser junger Mann, der länger als eine Stunde an der Ecke herumgestanden hatte, schlug den Kragen seines Mantels hoch – er wollte verbergen, daß er kein Hemd trug – und begann ihr in einem bestimmten Abstand vorsichtig nachzugehen. Renato lachte, und Paolos Triumphgefühl schwand dahin. 40
Er fühlte, daß sein eigenes Verhältnis zu Mrs. Stone dadurch, daß dieser junge Mann hinter ihr her war, in ein schlechtes Licht geriet. Er zog seine Beine an und setzte sich zurecht, der Kontakt mit den Knien des lächelnden jungen Friseurs wurde dadurch abrupt unterbrochen. Subito, subito! murmelte er. Ich habe eine Verabredung!
Auf ihren Wegen durch den römischen Frühling fühlte sich Mrs. Stone durch das Licht geblendet und verwirrt. Alle Fenster waren so blank geputzt, daß man manchmal kaum durch sie hindurchsehen konnte. Sie wußte nicht recht, wohin sie sich wenden, wohin sie gehen sollte und fühlte sich verlegen. Die Leute mußten denken, sie hätte getrunken. Kein Ziel zu haben und betrunken zu sein, waren Zustände, die sich ähnelten. In New York war sie immer verabredet gewesen, irgendwo hatte sie immer zu einer bestimmten Zeit sein müssen: hier nie! Hier war sie frei, stundenlang konnte sie sich ohne besonderes Ziel dahintreiben lassen. Sie hatte nur die Verabredungen mit Paolo, und die waren immer ein bißchen unbestimmt. Ich rufe Sie morgen früh an, sagte er meistens, oder: Ich hole Sie zu einem Cocktail ab. Kaum jemals irgend etwas zu einer bestimmten Stunde. Manchmal kam er überhaupt nicht. Für den heutigen Nachmittag hatte er 41
weder etwas von sich hören, noch sich sehen lassen, und es wurde ihr klar, daß ihr Leben in Rom ganz und gar von dieser Beziehung zu ihm abhing, wie das Tuch eines Zeltes, das ohne den tragenden Mittelmast schlaff in sich zusammenfällt. Sie öffnete ihre Handtasche und durchsuchte sie nach ihrer Sonnenbrille, aber sie fand sie nicht. Es war merkwürdig, was sie in diesen Tagen alles vergaß. Dabei hatte sie gar nicht viel zu bedenken, außer Paolo hatte sie praktisch überhaupt nichts zu bedenken, und doch war sie selbst in den aufregendsten Zeiten der Vorbereitungen für die Premiere eines neuen Stückes nicht so mit sich beschäftigt gewesen wie jetzt. Sie blieb stehen, mitten auf dem Bürgersteig, so daß die Fußgänger von beiden Seiten um sie herumgehen mußten. Sie blinzelte unschlüssig zu den Schaufenstern hinüber und zupfte an dem breiten Rand ihres Hutes herum. Feuchtigkeit trat ihr in die Augen. Brächte das blendende Licht sie zum Weinen, dann würde die Schminke an ihren Wimpern sich auflösen. Hastig nahm sie also ihren Weg wieder auf und bog an der ersten Ecke in eine verhältnismäßig schattige Seitenstraße ein. Der Schatten tat ihr wohl, aber ihre Verwirrung hielt an. Wirklich, sie mußte sich irgendwo hinsetzen, um sich zu sammeln. Es war zu idiotisch! Warum war sie bloß ausgestiegen und hatte den Fahrer entlassen? Sie konnte sich nicht einmal mehr erinnern, ob sie ihm gesagt hatte, wo 42
oder wann er sie abholen sollte. Was tat sie denn eigentlich hier, suchte sie auf der Straße nach Paolo, wie ein entlaufener Hund nach seinem Besitzer? Nun, so schlimm war es sicherlich nicht, aber auch, wenn es nur annähernd so schlimm war, sollte sie sich doch besser irgendwo hinsetzen und versuchen, die Dinge zu durchdenken und zu einem vernünftigen Schluß zu kommen. So etwas konnte einen direkt zum Wahnsinn treiben, wenn man zuließ, daß es die Oberhand gewann über den Verstand. Wieder blieb sie stehen. Diesmal stand sie vor einem sehr breiten Schaufenster; es sah aus, als schaute sie hinein, aber es wurde ihr nicht im geringsten klar, was das Schaufenster eigentlich enthielt. Sie stand nur da, um ihr Gleichgewicht wiederzugewinnen, um sich zu orientieren; aber die Minuten vergingen und in ihr ereignete sich nichts. Die Gegenstände hinter dem Schaufenster wurden etwas deutlicher. Es waren Lederartikel von sehr guter Qualität. Gleichgültig ließ sie ihren Blick über sie hinwandern, bis sie plötzlich über etwas erschrak. In dem dämmerigen Laden stand jemand, der sie ansah. Der Laden war geschlossen, denn es war während der langen Nachmittagspause; das Innere des Ladens war nur durch das gestreifte Licht erhellt, das von draußen durch die Bäume hereinfiel. Sie konnte den Mann nicht genau sehen, aber er sah Paolo so ähnlich, daß sie ihr Herz vor 43
Erregung zucken fühlte. Gleich darauf bemerkte sie, daß der Betreffende nicht innerhalb des Ladens stand. Was sie sah, war das Spiegelbild einer Gestalt, die am andern Ende des Schaufensters, aber auf derselben Seite wie sie stand. Es war ein junger Mann, etwas größer als Paolo, aber derselbe einheimische Typ. Sie sah nicht zu ihm hin. Sie wußte später nicht mehr genau, was sie davor gewarnt hatte. Irgend etwas hatte sie gewarnt. Es hatte sie gewarnt, hinzusehen, und so hatte sie es auch unterlassen. Sie hatte weiterhin so getan, als betrachtete sie die Lederwaren im Schaufenster, und dabei etwas nervös darauf gewartet, daß der Mann weitergehen würde. Aber er blieb dort stehen. Als Mrs. Stone dann das wispernde Geräusch von fließendem Wasser hörte, brachte sie es nicht sofort mit ihm in Verbindung. Überall in Rom hört man Wasser fließen, nahebei oder entfernt, laut oder kaum hörbar; fließendes Wasser und Steinstufen gehören fast ebensosehr zu den charakteristischen Merkmalen dieser Stadt wie die in den blauen Himmel ragenden cremefarbenen Kuppeln – und man konnte sich nur schwer vorstellen, daß der Mann da drüben gegen das Glas des Schaufensters urinierte. Erst als das Geräusch schwächer wurde, erkannte sie es. Sie erschrak dermaßen, daß sie zwar leise, aber doch hörbar aufschrie. Sie drehte sich sofort vom Fenster weg und ging hastig in entgegengesetzter Richtung die Straße hinunter zu einem 44
kleinen Hotel. Sie ging hinein, um sich drinnen von ihrem Schreck zu erholen. Der Vorfall war an sich nicht wirklich schockierend. Was sie in Aufregung versetzte und durcheinanderbrachte, war die Tatsache, daß dieser junge Mann sich ihr schon vorher wiederholt bemerkbar gemacht hatte. Schon sehr oft – der Zufall allein konnte also nicht dafür verantwortlich sein – hatte dieser junge Mann ihren Weg gekreuzt und bei ihren Gängen durch die Stadt die Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollen, niemals allerdings in einer so schockierenden Weise, immer aber, als versuchte er, ihr irgendein geheimes Zeichen zu geben …
Drei wichtige und einschneidende Dinge hatten sich während eines Jahres nacheinander in Mrs. Stones Leben ereignet. Der Abgang von der Bühne, der Tod ihres Mannes und jener Einschnitt im Leben einer Frau, den man Klimakterium nennt. Jedes dieser Ereignisse hatte sie schwer erschüttert, und alle drei zusammen hatten den Eindruck in ihr hinterlassen, als führe sie eine posthume Existenz. Als Ort, wo sich solch eine Existenz vielleicht am bequemsten durchführen ließe, hatte sie sich Rom gewählt, vielleicht deswegen, weil so vieles in dieser Stadt nur noch in der Vergangenheit zu existieren schien. Sie hatte sich zunächst im Hotel Excelsior niedergelassen, wo sie aber zu sehr von den 45
allzu häufigen Begegnungen mit Bekannten und Filmleuten behelligt wurde, die mit dem Nachkriegsschwall der amerikanischen Touristen herüberkamen. Ständig lief ihr in der Vorhalle irgend jemand über den Weg, und ehe sie noch ihre dunkle Brille aufsetzen konnte, wurde sie schon begrüßt, wobei unausgesprochen in den Worten dieser Leute der Schreck über ihre veränderte Erscheinung lag, über ihr Haar, das sie grau werden ließ, ohne es zu färben, über Gesicht und Figur, denen man ansah, daß sie sich, ebenso wie ihr Name von den Leuchtfassaden der Theater verschwunden war, vollständig aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hatte. Um solchen Begegnungen zu entgehen, hatte sie ihr jetziges Appartement bezogen, das wie der einsame Horst eines Vogels über den Dächern der Stadt hing. Sie hatte zwei Diener und nicht viel mehr Bekannte in der Stadt, während ihr Körper sich allmählich an die Umstellung gewöhnte und sie die drei Trennungen überwand, die ihren Nerven sehr zugesetzt hatten. Das Angstgefühl ließ langsam nach, und eines Tages war ihr Haar blond wie früher; sie hatte sich mit einem Reitstall in der Nähe der Villa Borghese in Verbindung gesetzt und ritt nun jeden Morgen aus, um sich körperlich wieder in Form zu bringen. Nicht lange danach suchte sie aus ihrem Notizbuch die Adresse einer älteren Contessa heraus, die sie und ihr Mann vor dem Krieg auf einer Reise nach Italien kennen46
gelernt hatten, und nahm den Verkehr mit ihr auf. Die Stimme der Contessa bebte vor Erregung, als sie erkannte, wer da telephonisch mit ihr sprach. Sie war nicht deswegen so aufgeregt, weil sie wußte, was für eine bedeutende Theaterpersönlichkeit Mrs. Stone war, sondern weil sie an Mr. Stones großes Vermögen dachte, das sich jetzt vermutlich in den Händen seiner amerikanischen Witwe befand. Sie war so erregt, daß sie nicht weitersprechen konnte und den Hörer einige Sekunden mit der Entschuldigung absetzen mußte, daß jemand an ihrer Tür geklingelt habe. Sie ging zum Fenster und atmete mehrere Male tief ein, bevor sie das Gespräch mit beherrschter Stimme und gesammelt wiederaufnehmen konnte. Sie sprach mit so gut gespielter Warmherzigkeit, daß Mrs. Stone sich in ihrer Einsamkeit tief berührt fühlte. Sofort lud sie die Contessa zum Lunch ein, die ohne zu zögern die Einladung annahm, wodurch Mrs. Stone zum vorläufigen Mitglied eines recht kuriosen Teils der römischen Gesellschaft wurde. Seitdem waren mehr als zwei Jahre vergangen. Den jungen Paolo hatte Mrs. Stone erst kürzlich kennengelernt, und zwar durch die Vermittlung der Contessa. Paolo war nicht der erste junge Mann, den ihr die Contessa zugeführt hatte. Vor ihm waren es schon drei andere gewesen, und Mrs. 47
Stones Verbindung mit ihnen hatte sie jedesmal ziemlich viel Geld gekostet, obwohl diese jungen Männer ihr nur als Begleiter gedient hatten. Alle drei waren sie sicher darauf vorbereitet gewesen, ihr mehr als das zu bieten, aber Mrs. Stone hatte keinerlei Intimitäten von ihnen verlangt. Nach einer gewissen Zeit waren sie jeweils mit ganz ähnlichen Entschuldigungen an sie herangetreten und hatten sich mit der Andeutung, daß sie ihr dadurch noch weitgehender zur Verfügung stehen würden, eine größere Summe Geldes von ihr leihen wollen. Mrs. Stone aber hatte sich dann von ihnen zurückgezogen. Eher traurig als geringschätzig hatte sie ihnen das Geld mit der Versicherung gegeben, daß sie ihren Wunsch nach Gesellschaft mißverstanden hätten, und hatte sich dann nicht wieder mit ihnen getroffen. Was Mrs. Stone nicht wußte, war, daß jede dieser Beziehungen von der Contessa eingefädelt, und daß die erzielten Summen mit der alten Lady geteilt worden waren. Dies war ihr zunächst unbekannt, aber dann schöpfte sie Verdacht, denn kaum hatte sie einen der jungen Männer entlassen, so erschien die alte Dame auch schon mit dem nächsten, ähnlich einem Kaufmann, der vor einem schwer zufriedenzustellenden Kunden serienweise seine Artikel ausbreitet. Mrs. Stone wurde durch dies Zusammentreffen der Umstände mißtrauisch. Sie war enttäuscht und es quälte sie, sie fühlte sich vielleicht sogar ein bißchen erniedrigt, aber sie 48
brach den Verkehr mit der alten Dame nicht ab. Die prächtige alte Hexe benahm sich stets mit einer gewissen Galanterie, die man trotz ihrer Schikanen respektieren mußte. Mrs. Stone stellte bald fest, daß diese ihre gesellschaftliche Schutzpatronin durch Armut und Alter sehr an den Rand der eleganten aristokratischen Welt Roms gerückt war; aber ebenso schnell wurde ihr klar, daß gerade dies die Sphäre war, in der sich eine Frau, die sich nicht länger mit irgendwelchen ehrgeizigen Plänen und Ansprüchen plagen wollte, noch am ehesten wohlfühlen konnte. Denn sie war mittlerweile ernüchtert, aber eben auch verhältnismäßig gelassen genug, um zu wissen, nicht nur, was sie wollte, oder vielleicht wollte, sondern auch, was sie aller Wahrscheinlichkeit nach noch zu erwarten hatte. Man kann etwas wissen, ohne es doch bewußt zu wissen. In ihrem eigenen Leben und in der Welt gab es einiges, was sie mit Entschiedenheit nicht wissen wollte. Im letzten Jahr, oder in den letzten beiden Jahren, seit dem Tode ihres Mannes und dem Ende ihrer Bühnenlaufbahn, war manche Schranke in ihr gefallen, es war ein großes, wenn auch lautloses und unsichtbares Zusammenbrechen gewesen, es war etwas eingetreten in sie und hatte sie durchweht – in aller Offenheit hatte sie sich manches eingestehen müssen, aber das alles waren Dinge, die nicht gerade an die Wand geschrieben zu werden brauchten. Man konnte das wissen, ohne auch nur 49
zu sagen, ich weiß es. Das Dahintreiben hatte eine Richtung, wenn es ihm auch an einem Ziel fehlte, aber manchmal wissen wir eben von einem Ziel nichts als die Richtung … Die Verbindung zwischen Mrs. Stone und dem jungen Paolo hatte sich keineswegs zur Zufriedenheit der Contessa entwickelt. Die alte Dame kam bald zu der Überzeugung, daß Paolo es darauf angelegt habe, sie zu betrügen, denn er war jetzt seit drei Monaten ständig mit Mrs. Stone zusammen, ohne an handgreiflichen Werten mehr herauszubekommen als seine Dinners und ein paar Krawatten. Wenn sie dem jungen Mann mit ihren zudringlichen und streitsüchtigen Fragen kam, tat er sie mit ihren eigenen Worten ab und sagte: Geduld bitte, Rom wurde nicht an einem Tag erbaut. Sie, die Contessa, sagte Paolo, sei nicht imstande, zu begreifen, daß Mrs. Stone keine gewöhnliche Lady sei. Sie sei eine große Lady, eine sehr große sogar, und man konnte ihr nicht mit demselben Zynismus kommen, mit dem man beispielsweise die alte Mrs. Coogan im letzten Sommer auf Capri behandelt hatte. Die Contessa war von diesen Argumenten keineswegs beeindruckt. Zunächst einmal, sagte sie, gibt es so etwas wie eine große amerikanische Lady überhaupt nicht. Große Ladies kommen nicht in einem Volk vor, das noch keine zweihundert Jahre 50
alt ist. Und außerdem, sagte sie, sei Mrs. Stone nicht nur gesellschaftlich ein Emporkömmling, sondern auch als Künstlerin nur mittelmäßig begabt. O ja, sie war eine ziemlich bekannte Schauspielerin gewesen, aber Leute, die sie in New York und London auf der Bühne gesehen hatten, hatten ihr, der Contessa, versichert, daß sie mehr durch ihre Persönlichkeit als durch ihr Künstlertum wirkte. Sie hatte früher auffallend gut ausgesehen, gewiß; etwas davon war immer noch zu erkennen: auf der Straße trug sie sich, als beträte sie eine Bühne. Sie war imposant und immer noch hübsch, aber nur ein naiver junger Mann, der verhältnismäßig wenig mit der großen Welt in Berührung gekommen war, konnte sich von dieser Fassade täuschen lassen. Im Grunde, sagte die Contessa, sei Mrs. Stone nichts weiter als eine Hure, die es zu Reichtum gebracht hatte und jetzt in der Lage war, andere zu bezahlen, wo sie früher ihrerseits bezahlt worden war, und wie die meisten Frauen dieser Art und unter diesen Umständen sei sie in ihrer Handlungsfreiheit nahezu unbegrenzt. Sie hätte keine wirkliche Würde an sich und keinen wirklichen Stolz, sondern nur die üblichen Affektiertheiten eines Menschen, der sich seinen Weg in die Prominenz erzwungen und erkauft hat. Diese »große Lady«, sagte die Contessa abschließend, ist im Begriff, ein »tipo cattivo« zu werden. Ihr Name wird zu einem Skandal. In kurzer Zeit wird sie niemand 51
mehr in jenen Häusern empfangen, wo ich sie töricht genug einführte, aber das wird sie nicht aufhalten. Wenn Rom ausgeschöpft ist, wird sie nach Tanger gehen: eine Frau, die wie sie immer tiefer fällt, wird nirgends auf Grund treffen! Ich glaube, sagte Paolo, du bist ein bißchen zu boshaft. Die Frau ist einsam, sie ist nicht mehr jung, sie hat sich aus einer sehr aufregenden Karriere zurückgezogen. Aber ich bin davon überzeugt, daß sie nicht gierig wie eine Wölfin hinter mir her ist, sondern daß ihre Gefühle für mich, ja, romantisch sind. Sie hat nie versucht, mit mir ins Bett zu gehen. Sie hat mich nie geküßt. Wir sagen an der Tür gute Nacht zueinander, wenn ich sie nach Haus bringe. Und das ist bestimmt etwas ganz anderes als das, was ich mit der Signora Coogan, mit der Baronessa Waldheim und selbst mit der großen Mrs. Jamison Walker durchgemacht habe. Fast vom ersten Augenblick an benahmen sie sich mir gegenüber wie Wölfe, ja, sie waren wie ein Rudel von Wölfen, und ich mußte mir Einspritzungen geben lassen, um mich wieder zu erholen. Pfui, sagte die Contessa, wie du lügst! Jedermann weiß, daß du der Signora Coogan nie zu Willen gewesen bist. Und den armen Baron hast du fast zum Wahnsinn getrieben, obwohl er dich mit Geschenken überhäufte. Mrs. Jamison Walker nahm dich nach Marrakesch mit, wo sie dir ein Paar Manschettenknöpfe schenkte, mit denen man einen 52
König hätte auslösen können, und mir hast du erzählt, sie wären aus Glas! Weißt du, was ich glaube? Ich glaube, diese Mrs. Stone hat dich verrückt gemacht und sie ist von allen die einzige, mit der du tatsächlich ins Bett gegangen bist und es weiterhin regelmäßig tust. Ja, ich glaube, daß du von Anfang bis Ende lügst, du lügst und erfindest Ausflüchte, weiter nichts! Und lebst unterdes einen guten Tag! Und was geschieht mit mir? Gestern nacht bin ich vor Hunger ohnmächtig geworden. Ja, ja! Buchstäblich ohnmächtig, als ich bei Rosati vorbeiging und das Essen roch! Dabei war ich mit einer Gruppe von Amerikanerinnen zusammen, die den Straßenbettlern so viel geben, daß ich mich eine ganze Woche davon ernähren könnte. Meinst du, ich hätte zugegeben, daß ich hungrig war? Bewahre! Ich habe meinen Stolz, ich bat um ein Glas Kognak und öffnete meine Handtasche, als ob ich ihn selbst bezahlen wollte! Und du saßest derweil mit Mrs. Stone im Quirinale! Und stopftest dir den Bauch voll, du Vielfraß! Und erzähltest mir, daß du nichts von ihr bekommst, und daß es boshaft von mir ist, zu denken, daß sie deinen Körper … Aspett’-aspett’ un momento! rief Paolo. Du meinst, ich sei eine gewöhnliche marchetta? Figlio mio! �������������������� Was denn wohl sonst? Ich bin ein di Leo! sagte Paolo. Und ich, sagte die Contessa, wurde in die Welt des schwarzen Adels geboren! 53
Davvero! sagte Paolo. Und sterben wirst du auf dem schwarzen Markt! Die alte Dame stöhnte schwer auf. Ihr Arm war nicht lang genug, um den sich zurücklehnenden Paolo ins Gesicht zu schlagen, und so stieß sie ihm die geballte Faust in eine Gegend seines Körpers, die sie erreichen konnte. Paolo krümmte sich auf dem Sofa und spielte den schwer Getroffenen. Ecco! Ecco! sagte ihn anglotzend die alte Dame. Ich hoffe, das wird dir für heute nacht das Geschäft verderben!
Die Contessa sah Mrs. Stone beim Lunch in einer Vorstadtvilla wieder, wo beide Gäste eines Hollywood-Produzenten waren, der in Rom einen Film drehte. Während der Party nahm die alte Dame Mrs. Stone diskret beiseite. Wie ich höre, sagte sie zu Mrs. Stone, sind Sie in letzter Zeit häufig mit Paolo zusammen, und so halte ich es als Ihre älteste Freundin in dieser Stadt für meine Pflicht, Ihnen etwas mehr über ihn zu erzählen. Sie finden ihn reizend, nicht wahr? Jeder tut das. Er ist der charmanteste Junge in ganz Rom, woraus man schließen kann, daß es wahrscheinlich in der ganzen Welt niemanden gibt, der charmanter wäre als er. Aber es gibt einige Dinge, die wichtiger sind als Charme. Was sind das für Dinge? fragte Mrs. Stone; sie 54
wußte wirklich nicht, was die alte Dame meinte. Ihm fehlen die wahren römischen Eigenschaften! sagte die Contessa. Er stammt aus einer verarmten, aber einigermaßen guten Familie, obwohl der Adelstitel seinem Onkel gehört und diesem vor ungefähr fünfundsiebzig Jahren vom Papst verliehen wurde. Eins müssen Sie nun allerdings über Paolo wissen. Er ist so etwas wie eine kleine marchetta! Eine was? Das ist unser Wort für einen jungen Mann, der kein Geld und keine Arbeit hat, aber trotzdem sehr gut lebt. Wie denken Sie über solche Menschen? Mrs. Stone konnte nicht umhin, über diese Frage zu lächeln. Ich habe nichts gegen sie, sagte sie. Sehr schön! sagte die alte Dame. Solange Sie wissen, was Sie zu erwarten haben, ist die Gefahr für Sie geringer. Aber sehen Sie zu, meine Liebe, daß Sie auch bekommen, was Sie bezahlt haben. Die Signora Coogan, glaube ich, ist dabei übel betrogen worden. Die Signora Coogan? Ach, Sie kennen die Signora Coogan nicht? Sie ist auch aus Amerika, und im vorigen Sommer nahm sie Paolo mit nach Capri, wo sie, wie man sagt, von der ganzen Gesellschaft die einzige war, mit der er keinen Flirt anfing, und darüber regte die Arme 55
sich so auf, daß sie ein nervöses Ekzem bekam. Sie sah mit dem Ausschlag so gräßlich aus, daß sie nach Afrika flog und sich in den Dschungel verzog. Immerhin – Paolo hat eine sehr nette Eigenschaft, die bei einem Jungen von seinem Typ selten ist. Ich meine die Jungen, die wir als marchette bezeichnen. Er hat keine langen Finger. Nicht einmal die Signora Coogan könnte sagen, daß er jemals ihre Juwelen oder irgend etwas anderes, das sie ihm nicht geschenkt hatte, berührt hätte, und man weiß, daß die Signora Coogan unter ihren Juwelen einige sehr wertvolle Stücke hatte. Wie es heißt, soll sie sie nachtsüber in einer Seifenschale aufbewahrt haben. Nun, meiner Meinung nach, und Sie denken da wahrscheinlich nicht anders, hat eine erwachsene Frau von Welt, die Smaragde und Diamanten im Werte von einhundertundfünfzigtausend Dollar in einer Seifenschale aufbewahrt, nicht einmal in ihrem eigenen Badezimmer hinter verschlossener Tür, sondern in einem Badezimmer nebenan, zwischen ihrem Schlafzimmer und einem anderen Schlafzimmer, das auf eine Veranda hinausführt – nun, eine solche Frau hat nicht mehr Recht auf den Genuß großen Reichtums als ein Affe, und der afrikanische Dschungel ist es darum auch, wohin die Signora Coogan in Wahrheit gehört! Aus Gründen, die ihr selbst nicht sofort klar waren, fand Mrs. Stone diese Geschichte von der Signora Coogan und Paolo eher verwirrend als komisch. 56
Sie sah durch den Raum zu dem jungen Mann hinüber, von dem die Contessa sprach. Er tanzte mit der Frau des Filmproduzenten zur Musik einer Schallplatte. Soviel Schönheit, dachte Mrs. Stone, ist ganz gewiß eine Welt für sich, und für die Anarchie, die in ihr herrscht, gibt es eine Art göttlicher Lizenz. Sie wußte, daß auch sie einst solche Schönheit besessen und die anarchistischen Vorrechte, die sie mit sich brachte, genossen hatte, aber sie wußte auch, daß ihre Lizenz durch die inzwischen vergangene Zeit widerrufen worden war. Sie lebte jetzt in einer Welt, die weltlichen Gesetzen unterstand. Vielleicht, daß ihr nicht gerade etwas so Schändliches bevorstand wie Mrs. Coogans Flucht in die afrikanische Wildnis, aber sicher wäre es töricht, zu hoffen, ihre Neigung zu diesem dunklen, außergewöhnlich schönen jungen Mann würde irgendwie so auslaufen, daß dadurch die wenigen Dinge, an denen sie sich noch zu trösten vermochte, vermehrt werden würden, jetzt, da sie ihre Nächte unter dem Mond der großen Pause verbrachte … Mrs. Stone wandte ihre Aufmerksamkeit erst jetzt wieder der Contessa zu, die inzwischen weitergeredet hatte. Zu welcher Kirche gehören Sie? fragte die Contessa scheinbar ganz beiläufig. Zu keiner, sagte Mrs. Stone. Ich wurde als Methodistin geboren. Warum? Aha, meinte die Contessa, dann wird er Ihnen 57
wahrscheinlich die Geschichte von seinem Freund und dem gottlosen Priester erzählen, der seine Geschäfte auf dem schwarzen Markt macht. Wieso? Was ist das für eine Geschichte? Er wird Ihnen erzählen, daß dieser Priester seinen Freund bei einem Schwarzmarktgeschäft um zehn Millionen Lire betrog, und er wird versuchen, Sie mit dieser Geschichte so zu rühren, daß Sie ihm das Geld geben, um den Verlust seines Freundes wieder gutzumachen! Oh, sagte Mrs. Stone, ich glaube nicht, daß ich so sehr gerührt sein werde. Vielleicht rührt die Geschichte mich, aber wohl kaum so, daß ich zehn Millionen Lire dafür gebe! Sie sehen, die Amerikaner sind nicht so romantisch wie ihre Filme … Das ist aber sehr schade, sagte ehrlich enttäuscht die Contessa.
Es ging schon gegen Abend, als wenige Stunden später am gleichen Nachmittag Mrs. Stone und Paolo auf der Terrasse ihres Appartements zusammensaßen. Paolo behauptete, er hätte Kopfschmerzen, und verfiel zusehends in eine sehr nachdenkliche Stimmung. Er seufzte, als Mrs. Stone seine Stirn berührte. Er schlug das Bein über die Lehne des Liegestuhls und legte sich weit zurück. Möchten Sie einen Negroni? fragte sie. 58
Nein, ich will mich nicht betrinken. Ich würde dann anfangen zu weinen. Worüber, Paolo? Einem Freund von mir ist eine furchtbare Sache passiert. So? Er hat auf dem schwarzen Markt spekuliert. Ich will Ihnen sagen, wie es dazu kam. Ein Priester aus den obersten Kreisen des Vatikans machte sich an ihn heran und erzählte ihm, daß ihm ein Konzern von Leuten bekannt sei, der über eine riesige Menge englischer und amerikanischer Armeebestände verfüge, die nach der Besetzung zurückgelassen worden seien und jetzt mit großem Profit auf dem schwarzen Markt verkauft werden könnten, und so gab er dem Priester zehn Millionen Lire, um eine Masse von dem Zeugs aufzukaufen, und der Priester behielt das Geld, und mein Freund bekam nichts, und jetzt hat es sich herausgestellt, daß der Priester Kokainist ist und die zehn Millionen Lire mit einer Frau und für Kokain ausgegeben hat. Mein Freund Fabio ging also zu einer anderen, noch höhergestellten Persönlichkeit des Vatikans und sagte: Wenn Sie mir die zehn Millionen Lire nicht wiedergeben, die ich diesem Schuft von Priester gab, werde ich zur Kommunistischen Partei gehen und die ganze Sache aufdecken, und es wird einen furchtbaren Skandal geben, der die Demo-Cristiani bei der Wahl im nächsten Frühjahr zu Fall bringen 59
wird. Die Leute im Vatikan waren entsetzt und sagten: Gehen Sie nicht zu den Kommunisten, gehen Sie nicht zu den Kommunisten! Auf Knien flehten sie ihn an, und mein Freund, der sehr fromm ist, versprach, daß er es nicht tun würde, und sie sagten: Zeigen Sie uns die Quittung, die Ihnen der Priester gab. Darauf gab er ihnen die Quittung, und eine von den hohen Persönlichkeiten nahm sie an sich und verschwand damit, während die anderen bei Fabio blieben und Wein tranken und beteten. Und dann hatten sie ihn schließlich betrunken gemacht, und er sagte: Wo ist meine Quittung und das Geld, und sie sagten: Aber Sie haben ja gar keine Quittung. Wo ist sie, geben Sie sie mir zurück! sagte Fabio. Und sie sagten: Was denn? Was zurückgeben? Wir haben nie eine Quittung gesehen! Paolo erzählte das alles in einem einzigen Atemzug, er legte dabei das Bein über die Armlehne, nahm es wieder herunter, drehte und wand sich gequält, er stieß entsetzliche Seufzer aus und begann schließlich sogar zu weinen. Mrs. Stone hörte nicht zu. Sie fühlte sich sehr müde und gleichgültig, als hätte sie die Geschichte schon hundertmal gehört. Nur als Paolo die zehn Millionen Lire erwähnte, hörte sie hin und rechnete die Summe in Gedanken in Dollar um. Paolo, sagte sie leise, wie rasch braucht Ihr Freund das Geld? 60
So bald wie möglich, oder er dreht den Gashahn auf! Ich bin überzeugt, daß er so etwas Albernes nicht tun wird. Er ist verzweifelt. Er schreibt Gedichte. Sein Glaube an die Kirche ist zerbrochen. Paolo war aufgestanden und hatte sein Jackett angezogen. Zehn Millionen Lire ist viel Geld, sagte Mrs. Stone. Was bedeutet Geld, wenn es um Freundschaft geht? Aber wenn es um so viel Geld geht, sagte Mrs. Stone, dann, glaube ich, handelt es sich gewöhnlich um mehr als Freundschaft. Was ist mehr als Freundschaft! sagte Paolo. Freundschaft ist das Schönste, was es auf der Welt gibt! Wer hat das gesagt? Hat Mrs. Coogan Ihnen das gesagt? Mrs. Coogan? Ja. Aber, Paolo, ich laß meine Smaragde und Diamanten nicht in einer Seifenschale liegen, sagte Mrs. Stone freundlich. Ich verstehe nicht, was Sie meinen. Ich habe keine Smaragde und Diamanten, höchstens einen oder zwei Diamanten, aber wenn ich welche hätte, würde ich sie nicht nachtsüber in eine Seifenschale legen. Und noch etwas anderes, Paolo, caro! Wenn die Zeit kommt, daß mich niemand 61
mehr um meiner selbst willen begehrt, dann, glaube ich, möchte ich lieber überhaupt nicht mehr begehrt werden. Sie verließ die Terrasse und ging nach drinnen. Es war der Augenblick, bevor die Lichter angehen, und es herrschte jene aufregende bläulich-klare Atmosphäre, wie man sie aus den nächtlichen Szenen alter Stummfilme her kennt, die Farbe des Wassers mit einigen Tropfen Tinte. In wenigen Augenblicken würde sie, wenn Paolo sie jetzt verlassen sollte, die Tür des Fahrstuhls zuschlagen und das surrende Geräusch der Kabel hören, die ihn aus ihrer Nähe entfernten. Sie wartete ängstlich gespannt auf diese Laute, die Abschied bedeuteten, aber sie hörte nichts weiter als die winzigen Schreie der Schwalben, die an ihren Fenstern hinflatterten. Mrs. Stone fühlte sich erleichtert, und sie wußte auch, warum. Sie wünschte, er würde bleiben. Und als deutlich wurde, daß er nicht ging, fühlte Mrs. Stone zum erstenmal in ihrem Leben Verlangen, ohne daß dieses Gefühl von irgendwelchen anderen Impulsen verwirrt wurde. Es hatte mit Vernunft und Willen nichts zu tun. Denn es war keineswegs vernünftig, und sie war ganz und gar nicht gewillt, sich zu diesem jungen Mann hingezogen zu fühlen, der eben die Maske der Galanterie heruntergelassen hatte, die Fassade der Höflichkeit, um sich als das zu enthüllen, was, wie die Contessa ihr vor einigen Stunden 62
warnend gesagt hatte, er in Wirklichkeit war. Paolo ist so etwas wie eine kleine – wie war noch das Wort, das sie gebrauchte? Ach ja, marchetta. Etwas mehr als eine Hure, aber doch eine marktgängige Ware, etwas mehr hauptsächlich deswegen, weil er teurer war, ein Luxusartikel und vornehmer, etwas, das die Franzosen eine poule de luxe nannten … Mrs. Stone lachte harsch auf, als ihr klar wurde, was sich auf der Terrasse zugetragen hatte, und es war, als käme dies Lachen aus dem zustoßenden Schnabel eines Vogels. Der Junge hatte eine Rechnung mit dem Vermerk ›Im voraus zu bezahlen‹ aus der Tasche gezogen, für Dienste, die in der Zukunft abzuleisten waren, und sie hatte nicht bezahlt, nein, aber auch den Händler nicht davongejagt; mit einer Kasuistik, die der von ihm angewandten, ganz ähnlichen Methode gewachsen war, hatte sie ihm – oder war es nicht so? – angedeutet, daß unter angemessenen Bedingungen eine Übereinkunft erzielt werden könnte. Wenn es um so viel Geld geht, dann, glaube ich, handelt es sich gewöhnlich um mehr als Freundschaft. Und hatte sie nicht die Summe rasch im Kopf umgerechnet, und wartete sie nicht in diesem Augenblick auf eine Berichtigung der Bedingungen? Den anderen drei jungen Männern gegenüber hatte sie sich mit Würde benommen. Sie hatte bezahlt, aber ihre Dienste nicht angenommen. Trotzdem hatte die alte Contessa, die sie ganz gut erkannt hatte, ihr nach jeder Ab63
lehnung frischere und verlockendere Ware präsentiert, bis sie ihr schließlich mit Paolo gekommen war. Als sie ihn kennenlernte, hatte sich Mrs. Stone irgendwie der naiven Vorstellung hingegeben, daß die frischere Ware zugleich eine Ware von höherer Qualität sein könnte, und daß sich mit ihm ein anständiges und würdiges Verhältnis beginnen ließe. Nun, mit dieser etwas ausgefallenen Vorstellung war es nichts mehr, das Häßliche an der Sache war offenbar geworden, und sie, Mrs. Stone, war allein. Wollte man mit Anstand existieren, dann blieb einem nichts als dieses Alleinsein übrig. Und sie war allein in diesem Schlafzimmer über der weiten Scala di Spagna. Nur ihre eigenen Augen im Spiegel hatten sie angesehen, seitdem sie gekommen war, um hierzubleiben, und das Bett war groß und weiß wie eine Schneelandschaft, deren Farbe in der Dämmerung ins Bläuliche überging. Letto heißt Bett und ein letto matrimoniale war es, in dem sie allein schlief und dessen Decken nur durch die Bewegungen ihres eigenen Körpers verwühlt wurden. Und doch konnte Mrs. Stone nicht vor sich verbergen, was sie jetzt, und zwar zum erstenmal, unter dem Mond der großen Pause fühlte, der sie hätte unempfindlich machen sollen, sie statt dessen aber an solche Gefühle ausgeliefert zu haben schien. Sie empfand Sehnsucht und Lüsternheit, und während 64
sie sich davon abgestoßen fühlte, spürte sie sich gleichzeitig doch von einem starken Lebensgefühl durchdrungen. Hätte der Fahrstuhl den Jungen entführt, dann wäre Mrs. Stone zurückgesunken in dieses verzweifelte Sichtreibenlassen, in das blind flutende und unbestimmte Gewoge einer Unzahl von Dingen im Strom der Zeit, die zusammenstießen und dann sich wieder trennten in einem ständigen, formlosen Wirrwarr, sinnloser noch als Bilder in einem Traum. Diese Spannung jetzt war jenem Dahintreiben genau entgegengesetzt. Etwas Ähnliches hatte sie in der Vergangenheit nie gespürt. Mit Vergangenheit meinte sie natürlich die Zeit, als ihr Körper noch ein Bett war für die roten Ströme, die das organische Leben weitertragen. Jene rhythmischen Gezeiten herrschten nicht mehr in ihr, sie hatten sich ihrem Körper entzogen und ihn wie eine gezeitenlose Flußmündung zurückgelassen, über der wie die Scheibe des Mondes über einer stillen Wasserfläche das Verlangen stand. Und plötzlich gab es für Mrs. Stone keinen Anlaß mehr, sich darüber zu wundern, woher jetzt der Unterschied kam. Jene Gezeiten waren voller Gefahren gewesen, weil sie etwas bezweckten, das nicht mit Mrs. Stones hochgesteckten Zielen übereingestimmt hatte. Was sie jetzt fühlte, war Verlangen, ohne daß sie dabei von dem alten Gedanken an die damit verbundene Gefahr irritiert wurde. Jetzt konnte nichts mehr eintre65
ten, nur eben dieses Verlangen und möglicherweise Befriedigung. Als sie dies erkannte, wußte sie zum erstenmal, warum sie geheiratet hatte, um (wie Meg Bishop es als allgemein herrschende Ansicht hingestellt hatte) Empfängnis zu verhüten. Das war es, wovor sie sich insgeheim gefürchtet hatte; es war die unbewußte Abneigung dagegen gewesen, ein Kind zu bekommen. Diese Angst war jetzt beseitigt. Sie hatte sich mit den Gezeiten der Fruchtbarkeit verzogen, und jetzt existierte nur noch das reglose Wasser und darüber der klare Mond, der leidenschaftslos war wie die Hinnahme eines geschickten Vorschlags unter Bedingungen, die beiden Partnern paßten. Mrs. Stone ging ins Badezimmer und füllte ein Glas mit lauwarmem Wasser. Dann spülte sie eine Tablette Belladonna hinunter, füllte das Glas wieder und ging zurück in ihr Schlafzimmer. Sie behielt das Glas in der Hand. Hals und Lippen waren so trocken, daß sie ständig in kleinen Schlucken von dem lauwarmen Wasser trinken mußte. Das Glas in der Hand, setzte sie sich auf den Rand des Bettes, wieder und wieder nippte sie von dem Wasser, um ihren ausgetrockneten Mund zu befeuchten; es wurde dunkler in ihrem Zimmer, als lösten sich aus einer Tropfflasche mit Tinte immer mehr Tropfen. Ihr Gesicht im Spiegel, das sie von dort, wo sie saß, in einem bestimmten Winkel sehen konnte, wurde undeutlicher und schöner, während die Erkenntnis, 66
daß sie nichts zu fürchten habe, tiefer und tiefer eindrang in sie. Nach einer kurzen Weile stand sie auf, sie zog sich aus und legte sich ausgestreckt auf das kühle und behagliche weiße Bett, das Glas Wasser in Reichweite neben ihr auf dem Tisch. Während der ganzen Zeit waren außer ihren eigenen stillen Bewegungen keine Geräusche zu hören gewesen, die irgendwelche Aktivität anzeigten, jetzt aber hörte sie Paolos Schritte quer über die Terrasse, die Tür zur Terrasse öffnete sich, und die Schritte näherten sich ihrer Schlafzimmertür. Nicht hereinkommen, rief sie leise, ich habe nichts an. Er betrat bedächtig das Zimmer und setzte sich auf den Rand des Bettes. Seinen Entschluß, nicht zu trinken, hatte er sich offenbar überlegt, denn sein Atem roch nach Campari, als er sich über sie beugte. Er beugte sich nicht so weit herab, daß er sie küssen konnte, er kam nur nahe genug heran, um ihr klar und direkt in die Augen zu sehen, als er fragte: Warum wollten Sie wissen, wann mein Freund das Geld braucht? Weil Sie sehr jung sind, sagte Mrs. Stone, und sehr töricht und sehr schön. Und weil ich nicht mehr so sehr jung bin und nicht so schön, aber sehr weise zu werden beginne … Paolo dachte einen Augenblick nach, dann nickte er kaum merklich und beugte sich mit geöffneten 67
Lippen ganz herab; aber noch bevor er ihren Mund berührte, hoben sich ihre Arme und ihr Kopf, als hätte der Mond überm Wasser sich in einen Vogel verwandelt, der in den Himmel stieg …
Der Winter und der beginnende Frühling hatten jene Fremden, welche die goldene Witterung dieser Stadt den unruhigeren Vergnügungen hinter den Türen der beiden großen Hauptstädte im Norden Europas vorgezogen hatten, voll zufriedengestellt. Der Himmel war ununterbrochen klar gewesen wie der Glashimmel über dem aufsteigenden Heiligen Geist in der Sankt-Peters-Kirche, und mit jedem Tag hatte die Wärme zugenommen. Jene winzigen Schwalben, welche die Römer rondini nennen, waren jetzt in die Stadt zurückgekehrt. Tagsüber schwebten sie in unsichtbarer Höhe der Sonne zu, in der Dämmerung aber ließen sie ein flirrendes Netz bis auf die Höhe von Mrs. Stones Terrasse herunter. Mrs. Stone kam es so vor, als führte die ganze Stadt in aller Gemächlichkeit eine Art Schwebetrick durch. Jeden Morgen, wenn sie auf die Terrasse hinaustrat, schien das ineinander verwobene, goldstaubbedeckte Gewirr der Straßen, über denen die Kuppeln der Kirchen wie netzeziehende Spinnen standen, mehr an Schwere verloren zu haben, sie schienen langsam und gewichtlos dahinzuströmen, aufwärts in die blaugoldene 68
Wärme des Tages, und alles war heiter, ausgelassen und ohne Mühe. So können einem die Dinge nur in der Verfassung eines jugendlichen Menschen erscheinen, und das war Mrs. Stone nicht mehr. Manchmal machte es ihr Herz leicht, wenn sie auf die Stadt hinuntersah, aber das dauerte immer nur wenige Augenblicke; was länger anhielt und stärkere Wirkung auf sie ausübte, war ein Gefühl der Sorge, als müßte irgend etwas schlecht ausgehen; ein Gefühl, das vielleicht nur dadurch zustande kam, daß die Absonderung, in die sie sich schutzsuchend im Jahr nach dem Tod ihres Mannes begeben hatte, jetzt zu Ende ging – eine Absonderung, die gesundheitlich nicht länger aufrechtzuerhalten war und aus der sie nun in ein Leben normalerer Empfindungen überging. Was es auch sein mochte, es zerstörte die Stille in ihr, es machte sie in zunehmendem Maße ärgerlich und nervös, und was das Schlimmste war: sie wußte keinen Grund, den sie dafür hätte angeben können. Morgens konnte sie sich jetzt schon auf ihrer Terrasse in einem kleinen, dachlosen Zelt aus weißer Leinwand in die Sonne legen. Ihr Körper wurde goldbraun, aber die Goldfarbe war nicht rein. Winzige Fältchen durchliefen sie, die unter den öligen Fingern der täglich erscheinenden Masseuse nicht verschwinden wollten; das überflüssige Gewebe, das sich in dem einen Jahr, als sie nicht auf sich achtgab, angesammelt hatte, war durch Bewegung 69
und Massage weggebracht worden, aber diese kleineren Zeichen der Zeit, diese winzigen Fältchen, blieben unauslöschlich auf ihrer Haut. Manchmal zog sich auch Paolo in dem kleinen weißen Zelt aus und legte sich neben sie auf ein Liegebett. Sie konnte es nicht aushalten, ihn zu betrachten. Er sah zu herrlich aus. Die Sonne sprang durch die Luft zu ihm wie ein Kind zu einem Kind, und sie fühlte sich ausgeschlossen und übersehen; gewöhnlich streckte sie dann die Hand aus, um sich zu bedecken, ausgestoßen und voller Scham in der Gegenwart zweier sich so nahe verwandter Dinge, wie Paolos nacktes Fleisch und die Sonne. Einmal weinte sie. Sie wandte ihr Gesicht ab und bedeckte es mit ihrem gefärbten Haar; gedankenlos döste er mit einem leisen, kindischen Lächeln vor sich hin, eine Hand lag gewölbt über seiner Scham, um sie vor der Hitze zu schützen. Eines Tages hatten sie einen Streit. Eine Wolke war gekommen und hatte die Terrasse flüchtig in Schatten gehüllt; Mrs. Stone beklagte sich über die Kühle. Paolo war plötzlich hochgekommen und hatte sie mit einem römischen Blick mißbilligend angesehen. Du möchtest nicht, daß es regnet? Natürlich nicht, ich hasse den Regen! Ich glaube kaum, daß es dir jemals eingefallen ist, daß es hier außer dem Amüsement der reichen Fremden noch einige andere Erwägungen gibt. Ich 70
glaube kaum, daß du es für wichtig hältst, daß das Korn auf dem Lande aus Mangel an Regen verdorrt, und daß die Wasserversorgung der Stadt so zurückgegangen ist, daß man den elektrischen Strom zwei Tage in der Woche abschalten muß! Oh, Paolo! Oh, Paolo! ahmte er sie nach. Na ja, ihr reichen amerikanischen Ladies seid die neuen Eroberer Roms. Oder ihr glaubt doch, daß ihr es seid. Aber ich warne dich – diese Stadt ist dreitausend Jahre alt, und alle ihre Eroberer sind wieder zu Staub geworden! Sie schwieg kurze Zeit, dann sagte sie ruhig zu ihm: Paolo, warst du Faschist? Ich bin ein Aristokrat, sagte er zu ihr. Ist das die Antwort? Einige waren Monarchisten, sagte Paolo, aber die waren alt und stupid. Ich war mit fünfzehn schon Pilot und Führer einer Fliegergruppe mit Namen ›Die Taube‹, und wir trugen hellblaue Uniformen mit goldgestickten Tauben auf den Ärmeln. Ich hatte fünfzehn Tauben unter mir. Sechs davon wurden über Afrika abgeschossen und stürzten brennend ab. Es waren meine Lieblingstauben. Er bewegte die Hand vor seiner nackten Brust und machte ein Zeichen der Ehrerbietung. Mrs. Stone glaubte die Geschichte von den Tauben nicht. Sie klang wie die heroische Phantasterei eines 71
Pfadfinders. Paolo hatte eine rege, aber oft widerspruchsvolle Phantasie; erst vor einer Woche hatte er ihr eine ähnliche Geschichte erzählt, nur daß es anstelle der Flugzeuge Panzer gewesen waren, die Uniformen waren scharlachrot und der Name nicht Tauben, sondern Tiger gewesen, und außerdem hatte sie entdeckt, daß er, als er am Steuer ihres Wagens saß, weder die Kupplung von der Bremse unterscheiden noch richtig schalten konnte; er war dann so irrsinnig durch die Stadt gefahren, daß ihr Fahrer, der nach hinten gesetzt worden war, laut zu beten und pazzo zu murmeln begann, was Paolo derart in Wut brachte, daß er seine sofortige Entlassung verlangte; und er war hinterher noch eine halbe Stunde lang eingeschnappt gewesen, weil Mrs. Stone ihm das freundlich abgelehnt hatte. Im vorigen Jahr, erzählte Paolo jetzt, stellten wir fest, daß eine meiner Tauben jede Nacht in der Galleria herumlungerte. Wir hielten daraufhin um Mitternacht ein geheimes Treffen im Weinkeller eines alten Schlosses ab. Die heruntergekommene Taube wurde verhört, alle sprachen lateinisch, trugen schwarze Masken und in den Händen weiße Kerzen, auch das Urteil wurde auf lateinisch verkündet, und nach der Urteilsverkündung nahm ein junger Priester, der auch zu meinen Tauben gehört, der schlechten Taube die Beichte ab und erteilte ihm Absolution, worauf ihm freigestellt wurde, 72
zwischen Pistole, vergiftetem Wein und dem Sprung vom Turm des Schlosses zu wählen. Armer Junge, sagte Mrs. Stone sanft. Und was wählte er? Den Sprung, sagte Paolo. Er hatte sich so in Feuer geredet, daß er, nackt wie er war, am Ende des Liegebettes auf seine Füße sprang und seine Arme kreuzförmig hochwarf. Er verlor das Gleichgewicht und fiel seitwärts herunter, so daß eine Zeltwand umfiel und er von den benachbarten Dächern aus zu sehen war, aber schlimmer als das – Mrs. Stone konnte nicht an sich halten und mußte hell auflachen. Paolo konnte es nicht ertragen, ausgelacht zu werden, und immer, wenn sie ihn versehentlich merken ließ, daß sie sich über irgendeine kindische Redeweise oder Handlung von ihm amüsierte, rächte er sich aufs gehässigste. Diesmal rächte er sich mit Worten und auf seltsam feminine Weise, denn nachdem er die Zeltwand wiederaufgerichtet und seine nackte Würde auf dem Liegebett wiederhergestellt hatte, sagte er zu Mrs. Stone: Ich nehme dir das Lachen nicht übel. Es ist lächerlich von mir, jemandem von meinen Tauben zu erzählen, der nur an den goldenen Exkrementen des amerikanischen Adlers interessiert ist. Aber bilde dir nur nicht ein, daß du dich selbst noch nie lächerlich gemacht hast. Denn du hast dich lächerlich gemacht, und zwar gestern nacht. Ich bin davon überzeugt, daß mir das schon oft 73
passiert ist, sagte Mrs. Stone. Aber was hab ich denn gestern nacht getan? Du hast mich gefragt, ob ich dich liebte, sagte Paolo. War das lächerlich? Außer meiner Familie und meinen Tauben, sagte Paolo, habe ich nur einen Menschen geliebt, und das war meine Cousine, die Principessa di Leo, die in Neapel von betrunkenen amerikanischen Soldaten vergewaltigt wurde und ins Kloster der Grauen Nonnen ging. Bitte, lach nur! Ich liebe niemanden … Sie hatte ihre Hand auf seine gelegt, aber er drehte sich herum und entzog ihr die Hand, er wandte ihr den Rücken zu, den fehlerlos aus Kupfer getriebenen Rücken eines beleidigten efebo; und es trat eine feindliche Stille ein. Was die Vögel anbetrifft, sagte Mrs. Stone und versuchte, sich zusammenzunehmen, stimmt es, daß die rondini keine Beine haben und deswegen immer in der Luft bleiben? Nein, sagte Paolo, sie bleiben in der Luft, weil sie nicht mit amerikanischen Touristen in Berührung kommen wollen. Seine Kühle gegen Mrs. Stone dauerte bis in den späten Nachmittag an, als sie zum Cocktail ins Excelsior gegangen waren, wo sie ihm plötzlich in einem panischen Versuch, Frieden zu machen, vorgeschlagen hatte, zu einer berühmten sartoria auf 74
dem Corso d’Italia zu gehen, um Maß nehmen zu lassen für einen neuen Anzug für ihn. Er hatte, fast so kokett wie ein Backfisch, nur schwachen Widerstand geleistet, und auf ihrem Wege zum Schneider erzählte er ihr, daß die Signora Coogan ihm zu Weihnachten einen blutroten Alfa Romeo hatte schenken wollen, daß er ihn aber nicht hätte annehmen können, weil er sie nicht liebte. Aber bei uns ist das natürlich anders, sagte er, wir lieben uns ja! Als Mrs. Stone ihn daran erinnerte, daß er wenige Stunden vorher gesagt hatte, es sei lächerlich, ihn zu fragen, ob er sie liebte, weil er außer seiner Familie und seinen Tauben und seiner Cousine, die ins Kloster gegangen war, niemals einen anderen Menschen geliebt hätte, nahm Paolo ihre mit Handschuhen bekleidete Hand. Ich habe dir das nur erzählt, weil du mich verletzt hattest. Und nebenbei, wenn du jemanden liebst, mußt du nicht hinhören auf das, was er dir sagt. Er möchte dich verletzen, weil er Angst davor hat, selbst verletzt zu werden. Du mußt ihm in die Augen sehen, sagte Paolo, und fühlen, was in seinem Herzen vorgeht! Er sagte das so einfach und mit so deutlich fühlbarer Zartheit, daß Mrs. Stone in Tränen ausbrach. Sie weinte nur deswegen, sagte sie zu ihm, weil sie sich erleichtert und glücklich fühlte. Insgeheim freilich bezweifelte sie, ob ihre Gefühle derart einfach zu erklären seien. 75
Zweiter Teil Eine Insel, eine Insel!
Es war richtig, Mrs. Stone hatte während ihrer Bekanntschaft mit Paolo dann und wann für kurze Augenblicke etwas erlebt, das sie vielleicht für Glück halten konnte. Es war etwas, ein Gefühl, für das ihr jede Vergleichsmöglichkeit fehlte, weil sie es früher nie kennengelernt hatte. In ihrem Beruf hatte sie die nervös aufgeregte Hochstimmung nach großen Erfolgen erlebt, aber schlug das Stück ein, dann waren die vielen Wiederholungen aufreibend und langweilig, und es war nur der Ehrgeiz gegenüber der Konkurrenz, der ihr solche Erfolge erstrebenswert erscheinen ließ. In ihrem Herzen hatte sie immer die Schriftsteller beneidet, selbst diejenigen, die lange tot waren, weil sie in ihrer schöpferischen Arbeit so etwas wie frei gewesen sein mußten, während es für sie als Schauspielerin nur die Ausführung vorgeschriebener Handlungsmuster und Reden gab. Sie war keine sehr einfallsreiche Schauspielerin. Im Innersten ahnte sie, daß es ihr an wirklicher Begnadung fehlte, und obwohl sie sich bei den Erfolgen anderer Schauspielerinnen immer hocherfreut zeigte und ihnen Rosensträuße 77
und telegraphische Lobeshymnen schickte, fand sie insgeheim doch Gefallen daran, wenn sie bei ihren Aufführungen nicht so viele Lorbeeren ernteten wie sie selbst; nur wenn sie versagten, fühlte sie echte schwesterliche Wärme für sie. Wenn eine andere Schauspielerin einen außergewöhnlichen Erfolg hatte, der ihren eigenen Erfolgen gleichkam oder sie übertraf, war sie manchmal eine Woche lang während der Aufführungen zerfahren, sie vergaß ihren Text oder ihre Stimme versagte. Sie hatte einmal auf der Entlassung einer untergeordneten Schauspielerin bestanden, worauf diese ihr schrieb: Ich weiß, warum du mich rauswerfen ließest. Weil du dich so aufgeregt hast über Helens wundervolle Kritik! Aber damals hatte Mrs. Stone es nicht nötig, sich unangenehme Wahrheiten über sich selbst zuzugestehen. Sie war durch ihre Arbeit und durch die bedeutende Position, die sie am Theater und in der Gesellschaft einnahm, ständig so beschäftigt, daß sie keine Zeit hatte, selbst wenn es sie dazu getrieben hätte, die geheimen Regungen ihres Herzens zu ergründen. Die Ereignisse überstürzten sich, zu eng griff eins ins andre, und ihr Prestige erschien ihr unverletzbar. Zu ihrem Mann pflegte sie zu sagen: Ich glaube, ich würde einen Nervenzusammenbruch bekommen, wenn ich die Zeit dafür hätte! Aber ihre noch jugendliche Kraft wurde ununterbrochen von Karriere und gesellschaftlichem Leben aufgesogen, und sie raste weiter, immer weiter, und 78
außer dieser möglichst raschen Bewegung gab es kein erkennbares Ziel. Das Versagen als Julia war kopfüber gekommen wie der Zusammenstoß zweier sich entgegenkommender Bewegungen, und erst dann hatte sie erkannt, daß sie mit geschlossenen Augen und geballten Fäusten dahingerast war und weiter nichts wußte, als daß sie sich bewegte, sehr schnell bewegte. Die gegnerische Kraft war die Zeit gewesen, die unwägbare Zeit, die nicht als Verbündete neben ihr her, sondern als Verräterin gegen sie an gelaufen war, schließlich mit ihr zusammentraf und sie mitten im Flug mit vernichtender Wucht zum Stehen gebracht hatte. Und dann, zwischen den Trümmern, hatte sie sich mit einiger Würde und, wie sie meinte, mit einem tapferen Lächeln erhoben und der Welt, die sehr viel weniger Anteil nahm, als sie und ihr Mann glaubten, mitgeteilt, daß sie sich wegen des Gesundheitszustandes ihres Mannes von der Bühne zurückzöge, und hatte sich mit ihm auf eine lange Erholungsreise nach Europa und Asien begeben. Gewiß, Mr. Stone hatte in der Zeit vorher eine Neigung zu Schwächeanfällen gehabt, aber wenn man, wie Mr. und Mrs. Stone es seit Jahren taten, ständig von einer Verabredung zur anderen stürzt, dann ist einem der Gedanke an den Tod als einem auf sich selbst bezüglichen, ständig gegenwärtigen Faktum nur theoretisch, niemals aber wirklich faßbar. Solange man weiß, wohin man zu gehen und 79
um welche Zeit man dort zu sein hat, um vier Uhr, sagen wir, zum Friseur, um fünf Uhr dreißig zum Photographen, um sechs zur Colony, zum Theater um sieben Uhr dreißig, zu Sardis um Mitternacht und um eins zu Bett, solange man das weiß, ist man von einem Gefühl der Unüberwindlichkeit erfüllt. Solange man sich an solchen Orten aufhält und solche präzisen Verabredungen einhält, geschäftig ist, schwätzt, probt oder auf der Bühne steht, solange man in Betrieb ist, wird der alte Mann aus Knochen es sicher nicht wagen, sich irgendwoanders sehen zu lassen als auf einer gewissen Seite der Zeitung, die erst einige Seiten nach den Theaterund Gesellschaftsberichten kommt und rasch überblättert werden kann, wenn man übergeht zu den Börsennachrichten. So hatte Mrs. Stone es nicht für nötig befunden, sich über Mr. Stones Gesundheitszustand ernstlich Gedanken zu machen, bis endlich sie einen Vorwand brauchte, um in dem unseligen Stück nicht weiterspielen zu müssen. Der Arzt hatte ebenfalls gesagt, es bestünde kein Anlaß zur Sorge. Er erzählte ihnen, daß es nur ein vorübergehendes Symptom dessen sei, was er »Klimakterium« nannte. Trotzdem hatte er Mrs. Stone eine Woche vor ihrer Abreise nach Europa zu einer vertraulichen Aussprache in sein Sprechzimmer gebeten, wo er ihr auseinandersetzte, daß die beruhigende Haltung, die er eingenommen hatte, nur einen Teil 80
der Behandlung darstellte, der eigentliche Bericht über die Diagnose stünde noch aus. Er stellte ernsthaft in Zweifel, ob Mr. Stones geschwächtes Herz die Reise um die Welt und zurück aushalten würde. Es war genau, als hätte er zu ihr gesagt, wenn Sie mir Ihren Reiseweg angeben, werde ich Ihnen für jeden Hafen, den Sie anlaufen, den Namen eines zuverlässigen Begräbnisunternehmers angeben. Mrs. Stone hatte das Gefühl gehabt, als sei sie persönlich beleidigt worden. Mr. Stone wird nicht sterben, sagte sie kühl zu dem Arzt. Man hat ein Gefühl für solche Dinge, und wenn wirklich Gefahr gewesen wäre, hatte ich es in mir gespürt. Es interessiert mich nicht, was Ihnen Ihre Instrumente sagen. Er ist eben sehr erschöpft und hat sich über meine Karriere mehr Gedanken gemacht als ich selbst, und wenn er sich ein paar Wochen ausgeruht und entspannt haben wird, dann wird die Herzneurose von selbst verschwinden. Ich habe schon immer den Verdacht gehabt, daß ihr Ärzte mit den Begräbnisunternehmern gemeinsame Sache macht, weil, wenn die einen nichts zu tun haben, die anderen Pleite machen! Lachend war sie in ihrer großen Bühnenmanier aufgestanden, sie reichte ihre mit weißem Handschuh bekleidete Hand dem Arzt, der immerhin als eine Art Regisseur gewirkt hatte, indem er die Grenzen seiner Kompetenz überschritten und ihr, dem Star, zu einem kleinen Auftritt verholfen hatte. 81
Aber nachdem sie das Sprechzimmer verlassen hatte, und zwar mit einer Liste der Namen anderer Ärzte, die anzunehmen sie sich herabgelassen hatte, geriet ihr Glaube, daß keinerlei wirkliche Gefahr bestünde, ins Wanken. Am Tage ihrer Abreise auf der ›Queen Mary‹ schritt jene Gefahr, jene graue Unausbleiblichkeit, mit ihnen das Fallreep hinauf und ließ sich unversöhnlich zwischen den buntbebänderten Sektflaschen und cellophanumhüllten Fruchtkörben nieder, die ihnen gute Reise wünschten. Es war, als befände sich jemand im Raum, den zu übersehen man sich vorgenommen hatte, nach dem man aber heimlich immer wieder hinsah. Sie hatte den Verdacht, daß Mr. Stone, so ungehemmt gutlaunig er sich gab, ebenfalls von dem Schatten wußte. Denn wenn er nicht lachte oder sprach, räusperte er sich ständig oder er zupfte seinen Kragen zurecht oder hustete nervös. Seine Zigarette rauchte er immer nur zu einem Drittel und drückte sie dann unnötig heftig aus; seine milden und seltsam kindlichen grauen Augen hatten einen glasigen Ausdruck, wie sie ihn noch nie an ihm gesehen hatte, nicht einmal während der schwärzesten Zeiten der Wirtschaftskrise. Über das Ausmaß und die Art ihrer Neigung zu ihrem Ehemann hatte Mrs. Stone, wie über so manches andere auch, nie ernstlich nachgedacht, und erst zu diesem Zeitpunkt machte sie die verspätete Entdeckung, daß das, was sie für eine keines82
wegs ungewöhnliche Beziehung gehalten hatte, in Wirklichkeit eine tiefe Abhängigkeit war. Denn es war Mr. Stone, und nur Mr. Stone, der einen Platz neben ihr eingenommen hatte auf jener Rakete, die sie auf schwindelnder Bahn durch den Sternenraum ihrer Bühnenlaufbahn getragen hatte. Ihre Ehe drohte gleich zu Anfang zu einer Katastrophe zu werden, wegen Geschlechtskälte, die sich bis zur Abneigung steigerte, auf ihrer Seite, und wegen sexueller Ungeschicklichkeit, die bis zur Impotenz führte, von ihm aus. Wenn er nicht eines Nachts, vor fünfundzwanzig Jahren ungefähr, zusammengebrochen wäre und an ihrer Brust wie ein Kind geweint und auf diese Weise seine Position als erfolgloser Meister aufgegeben hätte, um anschließend zum rührenden Lehrling zu werden, dann wäre die Ehe gescheitert. Aber die rührende Gebärde war von Erfolg gewesen, wo das Verlangen versagt hatte. Sie hatte ihn in einem plötzlichen Ausbruch von Zärtlichkeit in die Arme geschlossen, und die Ehe kam dadurch plötzlich in Ordnung oder war doch wenigstens gerettet worden. Mr. Stones Unfähigkeit hatte beiden zu erkennen ermöglicht, was sie sich eigentlich wünschten, sie ein erwachsenes Kind und er eine lebendige, junge und verehrungswürdige Mutter. Erst in den Jahren, nachdem sie die Bühne verlassen hatte, lernte es Mrs. Stone, offen gegenüber sich selbst zu sein. Solange sie monomanisch von ihrem 83
Beruf beansprucht war, verstand es sich ganz von selbst, daß sie kaum jemals näher über ihre eigenen Handlungen nachdachte. Bei einer Gelegenheit handelte sie einmal ziemlich gewalttätig, ohne daß sie es wagte, sich die Motive ihrer Tat klarzumachen. Das war vor fünfzehn Jahren gewesen, als sie auf einer Tournee durch das Land Shakespeares Rosalinde spielte. Der Orlando wurde von einem jungen Schauspieler gespielt, der ihr mit seinem guten Aussehen und seiner schönen lyrischen Sprechweise ernsthaft Konkurrenz machte. Manchmal, wenn sie zusammen auf der Bühne standen, spürte sie, wie er die Aufmerksamkeit der Zuhörer von ihr abzog, und sie fühlte sich dadurch in zunehmendem Maße provoziert. Aber sie mußte so tun, als freute sie sich über seinen Erfolg in der Rolle und über die begeisterten Berichte der weiblichen Kritiker, die gewöhnlich diskret einfließen ließen, wie besonders gut ihm die enthüllenden Kostüme der elisabethanischen Zeit stünden. Ihre Erregung wuchs ständig, bis sie schließlich, als sie während der Pause einer Nachmittagsvorstellung in der Stadt Toledo an seinem Umkleideraum vorbeiging und ihn in enganliegenden, apfelgrünen Hosen vorm Spiegel sitzen sah, eine Art Anfall bekam. Sie betrat den Raum, schlug die Tür zu und schloß ab. Eben noch wie Narziß in sein Spiegelbild vertieft, fuhr er, von Mrs. Stone unterbrochen, herum und sah sie überrascht an. Sie selbst war 84
noch überraschter als er, denn sie hatte keine Ahnung, weshalb sie hier eingedrungen sein mochte. Hatte sie die Absicht, ihm eine Szene zu machen? Vielleicht war es die beunruhigende Feststellung, daß dies tatsächlich ihre Absicht sein könnte, wodurch die einzige Art von Gefühlsausbruch, die ihr im Augenblick möglich erschien, ausgelöst wurde: fast gewalttätig umarmte sie ihn und hielt ihn in einer Weise umschlossen, als sei sie der Mann und er das Mädchen, und er gab ihr nach, als seien tatsächlich die Geschlechter vertauscht – als es dann allerdings zum Höhepunkt ihrer Umarmung kam, wechselte sie ihre Rolle und nahm die natürlichere Haltung der Hinnehmenden an, während er (und zwar ziemlich geschickt) den Part des Angreifers übernahm. Der Vorhang konnte erst fünfzehn Minuten später aufgezogen werden, weil man auf das Klopfen und Rufen an der Tür zum Umkleideraum des Stars keine Antwort erhalten hatte. Als dann aber am nächsten oder übernächsten Abend Orlando den Besuch Mrs. Stones erwidern wollte, hatte sie, ohne die Augen vom Spiegel zu wenden, zu ihm gesagt: An dem, was am letzten Sonnabend geschah, sind, denke ich, die Benzedrintropfen schuld, die ich nahm. Ich bitte um Entschuldigung. Ich muß mich schnell umziehen. Der Vorfall hatte ein Gutes. Sie brauchte vor dem jungen Schauspieler nun keine Angst mehr zu ha85
ben. Von nun an beherrschte sie ihn auf der Bühne, sie drängte ihn in den Schatten ihrer virtuosen Spielweise, überlegen und kühn wie ein Falke, der auf irgendein hilfloses kleines Tier auf der Erde niederstößt. Als sie in der Stadt Denver Weihnachten feierten, schenkte sie ihm ein kostbares, in Leder gebundenes Einklebebuch, auf dessen Vorderseite mit silbernen Buchstaben Stimmen der Begeisterung stand. Das war ein ausgeklügelt boshaftes Geschenk, denn seit dem Vorfall in Toledo wurde sein Name in der Presse nur noch beiläufig erwähnt. Und nicht lange danach hatte er wütend gekündigt und einen Brief geschrieben, in dem es hieß: Das Starsystem am Theater hat ein junges Talent erstickt … Der Vorfall in Toledo war wie ein Blitz aus heiterem Himmel gewesen, ein einmaliges Geschehen, das sich in ihrem weiteren Berufsleben nicht wiederholte. Für den Orlando wählte sie sich mit Bedacht einen anderen Schauspieler, der ein braunrotes Lederwams trug und weniger verwirrende, apfelgrüne Hosen aus Seide, und als die Tournee beendet war, kehrte sie besonders dankbar zu Mr. Stone zurück, wie ein Kind, das aus einem schrecklichen Traum erwacht und die Arme um den Hals seiner Mutter legt. Sie hatte nicht besonders darüber nachgedacht, wie gemein ihre Handlungsweise gegen den jungen Schauspieler gewesen war: es war ihr nicht bewußt geworden, daß sie sich wie 86
ein großer Raubvogel benommen hatte. Etwas in ihr war allerdings vor ihrem eigenen Benehmen zurückgeprallt und erschüttert worden. Sie mußte Mr. Stone beruhigen und ihm sagen, daß nichts Schlimmes passiert war. Sie erzählte ihm, was sich zugetragen hatte, und am Abend sagte er zu ihr: Ich weiß, daß ich dich nie richtig zufriedengestellt habe. Denn es war natürlich die sexuelle Seite der Sache, die ihn beschäftigte, nicht die sehr viel wichtigere Frage des sittlichen Verhaltens. Mr. Stone verzieh ihr nur die körperliche Verfehlung; aber sie, ebenso wie er, meinten eben, daß es außerdem tatsächlich nichts zu verstehen und zu verzeihen gab, und so hatte sie ihm ihrerseits versichert, und das war ja auch weitgehend die Wahrheit, daß die Art ihrer Beziehung ihrem Wunsch immer entsprochen hätte und auch heute noch entsprach, und daß diese einem Blitz ähnliche Episode nicht aus einer Wolke latenter Unzufriedenheit gekommen sei. Und in der folgenden Nacht war sie es, die sich trösten ließ, denn die Rollen des Kindes und der Mutter sind auf eine merkwürdige Weise auswechselbar, wenn eine Ehe auf ihnen basiert. Wie alle Beziehungen, die nicht echt sind, war auch die Ehe der Stones von einer mysteriösen Einsamkeit überwölkt. Die Arme umschließen voller Verlangen ein Phantom, die begehrenden Lippen drükken sich auf den Mund eines Gespenstes. Die Mutter befindet sich im Grab und das Kind ist nicht 87
geboren, aber es liegt in diesem Versuch, sich Ersatz zu schaffen, eine rührende Zärtlichkeit von besonderer Art. Hätten sie ihre auf das Theater bezogene Existenz in New York nicht unterbrochen, dann wäre diese Empfindung vielleicht immer am Rande ihres Bewußtseins erhalten geblieben, gestaltlos wie ein Kind, das sie nie miteinander gehabt hatten. Aber mit der Unterbrechung durch die lange Seereise und durch die Aufgabe all jener schutzbietenden Zerstreuungen – Theater, Büro und Gesellschaft – wurde jenes lauernde Ungenügen, jene Einsamkeit sichtbar wie Atem im Winter. Sie floß zwischen ihnen hin wie ein grauer Nebel, durch den sie ihre eifrig ableugnenden, lächelnden Blicke und ihre oberflächlichen, beruhigenden Reden wechselten. Sie hatten beabsichtigt, in aller Gemächlichkeit eine Reise um die Welt zu machen, und tatsächlich schon alle Schiffs- und Flugzeugplätze sowie Hotelzimmer im voraus belegt. Aber als sie eines Nachts in Paris ins Hotel zurückgekommen waren und Mr. Stone, um sich die Zähne zu putzen, ins Badezimmer gegangen war, wurden plötzlich anstelle des gewöhnlichen Geräusches des Zähneputzens heiser röchelnde, kaum noch menschliche Erstickungslaute hörbar. Mrs. Stone war ins Badezimmer gestürzt und hatte ihren Mann halb zusammengebrochen am Boden gefunden, seine kurzen, plumpen Hände festgeklammert am Rand des Waschbeckens, als sei 88
diese Stütze aus weißem Porzellan für ihn der letzte, verbleibende Halt im Lebendigen. Es war nicht die erste Attacke gewesen, und er hatte sie überstanden, aber dieser Vorfall bestimmte sie nun doch, das Reisen als zu anstrengend vorläufig aufzugeben und sich besser einige Zeit irgendwo niederzulassen. Nachdem sich Mr. Stone einige Tage in einer Pariser Klinik ausgeruht hatte, waren sie nach Rom geflogen. Während ihres Aufenthaltes in Rom trat eine ermutigende Besserung in Mr. Stones Zustand ein, und es war während dieser Periode der Erholung, daß Mrs. Stone ihn zum Maßnehmen zu dem weltberühmten Schneider auf dem Corso d’Italia begleitete, nicht weil er Anzüge benötigte oder haben wollte, sondern mehr als Zeichen des Vertrauens, daß er am Leben bleiben und die Anzüge tragen würde. Als sie jetzt mit Paolo zum gleichen Schneider kam, erinnerte sich Mrs. Stone daran, wie sie und ihr Mann sich durch den sonnigen Laden zugelächelt hatten, während an seiner plumpen und ziemlich komischen Figur Maß genommen wurde. Sie hatten für ihn einen taubengrauen Flanellstoff ausgesucht. Und jetzt nahm derselbe Schneider aus einem seiner Glasschränke einen Ballen desselben Stoffes und rollte ihn auf dem glatten Tisch aus. Bitte, fassen Sie den Stoff an, sagte er zu Mrs. Stone. 89
Nein, sagte Mrs. Stone, ich weiß, wie er sich anfühlt … Sie wandte sich rasch ab und tat so, als bemerkte sie zum erstenmal den Topf mit weißen Azaleen auf der Fensterbank: denn in dem Anzug aus diesem taubengrauen Flanell hatte Mr. Stone im Flugzeug auf dem Wege nach Athen seinen letzten, qualvollen Erstickungsanfall gehabt. Sie stand mit dem Rücken zu Paolo und zum Schneider und dachte an jene furchtbare Trennung hoch über der Erde in einem Sturm von metallischem Licht und Maschinengeräuschen. Sie hatte hinübergeschaut durch den engen Raum des Flugzeugs und gesehen, daß der kleine, plumpe Körper ihres Mannes seltsam steif geworden war, und daß seine Hände sich in die Sessellehnen gekrallt hatten, als könnten sie, und nur sie, ihn davor bewahren, zu fallen, hinunter durch die schwindelnde Bläue ins Ionische Meer, das sie in diesem Augenblick überflogen. Sie hatte sich seitlich etwas vorgebeugt und behutsam zu ihm gesagt: Fühlst du dich schlecht, Tom? Er hatte verneinend sehr kurz und rasch mit dem Kopf geschüttelt, aber sie wußte, es war eine Lüge. Sie erinnerte sich, auf ihre kleine Armbanduhr aus Platin geschaut zu haben – es war Mittag, und damit wurde ihr schlagartig die furchtbare Tatsache klar, daß dieser unglaubhaft dahinschwebende, aber leblose Vogel, der sie durch den Raum trug, sie erst in drei Stunden wieder auf der Erde absetzen 90
würde. Sie beugte sich nach der anderen Seite hinüber und starrte durch die gewölbte Glasscheibe und die blendende Leere der Luft hinunter auf die noch blendendere und noch leerer heraufblickende Fläche der See; sie bemerkte (und erst jetzt schrie sie auf) nicht weit entfernt, etwas nördlich ihres Flugkurses eine winzige Insel mit einigen weißen Häusern. Ihr Schrei galt der Stewardess. Sagen Sie dem Piloten, er soll landen! Mein Mann ist krank! Und auch dann noch hatte Mr. Stone sich umgedreht, er hatte verneinend gelächelt und etwas zu ihr gesagt, das in dem großen und unaufhörlichen Geschrei des mechanischen Vogels unterging. Und dann hatte die Stewardess wenige Augenblicke zwischen ihr und ihrem Mann gestanden, sie hatte sich besorgt über ihn gebeugt, so daß Mrs. Stone nur noch die blaßrote Oberseite seines Kopfes sehen konnte, und in diesem winzigen Moment visueller Trennung hatte Mr. Stone, als hätte das junge Fräulein die Hand grauenhaft schnell und wirksam unter seine taubengraue Weste geschoben und ihm das Herz herausgerissen, aufgehört zu leben. Hätte die kühle, junge Stewardess in ihrer grauen Uniform nicht zwischen ihnen gestanden und so den Faden ihrer ineinander verschmolzenen Blicke unterbrochen, dann wäre, dachte Mrs. Stone, der Tod vielleicht nicht eingetreten, und als die Stewardess sich nun umdrehte und sagte: Ihr Mann ist ohnmäch91
tig geworden, sprang sie auf, stieß das Fräulein wild vor die Brust und schrie sie wirr an, während sie sie den Gang hinunter fast bis zur Tür der Pilotenkabine vor sich her drängte. Sie war dann wieder zu ihrem Mann gegangen, um ihn zurückzuholen in die Welt, aus der dieser Eindringling ihn entfernt hatte. Aber an der Art, wie der kleine, plumpe Körper in sich zusammengebrochen in dem weichen, grauen Flanellanzug steckte, erkannte sie sofort, daß das, was diesem Körper entwichen war, nicht zurückgebracht werden konnte. In der leeren, glitzernden Luft befand es sich jetzt. Dann hatte sie nur noch geschrien und flehend die Hände gerungen und versucht, sich vorbei an der jungen, starken Stewardess den Weg zur Pilotenkabine zu bahnen, zu der blanken, grauen Tür aus Metall. Eine Insel! hatte sie geschrien. Eine Insel! Und schließlich, weil das Mädchen und ein grau uniformierter junger Mann, der aus der vorderen Kabine hinzugekommen war, anscheinend nicht verstehen konnten, was das Wort Insel bedeutete, hatte sie sich in einen leeren Sitz vorn im Flugzeug geworfen, ihre Arme wie Flügel gegen die Glasscheibe geschlagen und über die See zu der kleinen grünen Insel gezeigt, die jetzt still unter ihnen und dann hinter ihnen davonglitt. Madame, sagten sie freundlich zu ihr, auf der Insel ist es nicht möglich zu landen …
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Paolo bestellte nicht nur einen Anzug aus taubengrauem Flanell, sondern noch zwei weitere, einen nachtblauen Tuxedo und einen Anzug aus Schantungseide von der Farbe einer gelben Perle. Mrs. Stone hatte noch niemanden, nicht einmal ein Kind, sich so aufgeregt benehmen sehen wie Paolo hier beim Schneider. Während er redete, hatte er den Kopf so weit zurückgelegt, daß man Angst haben mußte, seine Kehle würde zerspringen, und die Finger seiner Hand, mit der er fortwährend vor sich herumgestikulierte, waren steif hochgestellt und etwas nach innen gebogen, so daß die Hand aussah wie ein Becher. Strette, strette, strette, schrie er den Schneider an, während an seinem herrlichen jungen Körper Maß genommen wurde. Während er sich auf diese Weise hitzig mitrechnend erging, zog sich Mrs. Stone abseits von dem enthüllenden Sonnenlicht in eine einsame Ecke des Raumes zurück; sie überließ sich hier nicht ihren Erinnerungen, sondern, quälender noch, sie dachte nach. Sie versuchte zu begreifen, wie sie dorthin gekommen war, wo sie sich jetzt befand. Vielleicht existierte ja irgendeine geheime, aber logische Verbindung zwischen ihrem vergangenen Leben am Theater und diesem ungewöhnlichen Nachspiel, das sich hier in Rom entwickelte, und vielleicht würde sich der Faden, der sich vollkommen natürlich durch das Ganze hindurchzog, zeigen, wenn sie 93
sich in dieser Abgeschiedenheit lange genug ihren Gedanken überließ. Sicherlich gab es irgendwo an dem Weg ihrer Entwicklung, von ihrer Mädchenzeit in keineswegs ungewöhnlich vornehmer Umgebung in Virginia und dem Theaterspielen in der Schule, wodurch sie auf ihren Beruf kam, über die Besessenheit, mit der sie diesen Beruf ausübte, und die Jahre einer konventionellen Ehe, sicherlich gab es irgendwo auf dieser furchtbar rasch durchlaufenen, aber eintönigen Bahn irgendein, wenn auch noch so verschlüsseltes Zeichen, irgendein unauffälliges Schild, dessen Pfeil auf Paolo und diesen römischen Frühling zeigte. All die verschiedenen Zahlen und Zeichen der langen Gleichung waren da, zeitlich geordnet standen sie auf dem Papier, aber die Gleichung brach ohne Ergebnis ab. Zu sagen, daß sie abbrach, stimmte natürlich nicht genau. Sie setzte sich in einer Weise immer noch fort. Wäre zum Beispiel sie im Flugzeug nach Athen gestorben, dann hätte die Gleichung ein eindeutiges Ende gehabt, wenn auch immer noch kein Ergebnis. Irgend etwas war tatsächlich abgebrochen, der Teil ihres Lebens, aus dem sich all die sauber geordneten Zahlen und Zeichen zusammensetzten, alles das war zu Ende, aber sie war weiterhin irgendwie in Bewegung, sie existierte, beobachtete, fühlte und dachte nach wie früher, und zwar sogar viel intensiver als damals, als diese Art von Gefühlsanarchie, die sie jetzt zu beherrschen 94
schien, nur zweimal Besitz ergriffen hatte von ihr, im Schlafraum eines College und in einem Umkleideraum in Toledo, und nicht einmal ganz, sondern –
Mrs. Stone sah plötzlich von ihren Handschuhen hoch. Die Stimmen Paolos und des Schneiders hatten sich in einen anderen Vorführraum entfernt, aber nicht dadurch war sie aufmerksam geworden, sondern durch ein besonderes Geräusch, das jetzt hereindrang. Es war ein helles, metallisches Klopfen. Einen Augenblick lang wußte sie nicht, wo es herkam. Dann plötzlich erblickte sie die Gestalt des jungen Mannes, der vor dem Fenster der Ladenfront stand. Er sah, wie es schien, nicht ins Fenster, sondern vor sich auf seine Hand, mit der er mit einem Gegenstand aus Metall an das Fenster klopfte. Er hatte den Kopf gesenkt, so daß sie sein Gesicht vielleicht nicht als das Gesicht jenes jungen Mannes erkannt hätte, den sie in letzter Zeit so oft hier und da in den Straßen der Stadt undeutlich gesehen hatte, aber an der seltsam versteckten und doch kühnen Haltung seiner Gestalt erkannte sie ihn sofort. Es war die Haltung eines Menschen in der Menge, der die Aufmerksamkeit einer einzelnen Person auf sich ziehen möchte, ohne sich dabei den anderen durch sein Zeichenmachen zu verraten. Obgleich es warm war, hatte er den Kragen 95
seines Überziehers hochgeschlagen, so daß sein gesenktes Gesicht im Schatten lag, und als er nun wieder leise und kaum hörbar klopfte, blickte er verstohlen links und rechts die sonnige Straße hinunter. Mit einer kaum merklichen Bewegung öffnete er dann wenige Zentimeter seinen Mantel, der nicht zugeknöpft war, und voller Abscheu erblickte die entsetzte Mrs. Stone seine Blöße, die durch diese leichte Bewegung enthüllt worden war. Sie stand sofort auf und wandte sich den Glasschränken zu, die nebeneinander an der Rückwand standen. Dort blieb sie eine Weile so stehen. Das Klopfen hörte auf, und in der unbestimmten Spiegelung durch die Glastür eines der Schränke sah sie, wie die Figur sich vom Fenster entfernte. Sie rief nach den beiden Männern im Nebenraum. Ihre Stimme klang alarmiert, aber als Paolo antwortete, schämte sie sich, ihm zu sagen, was passiert war, und bemerkte nur, wegen einer Verabredung zum Essen müßten sie sich jetzt beeilen.
Dritter Teil Das Nichts …
Als Karen Stone zehn Jahre alt war, hatten ihre Eltern sich getrennt, und sie war in ein Internat in Maryland gekommen. Sie hatte zu der Zeit nicht viel mit Kindern gespielt, sie war sehr erwachsen und wählerisch und von den Lehrerinnen bewundert worden, weil sie sich wie eine Dame betrug, schöne goldene Locken und sehr große blauviolette Augen hatte. Sie glich eher dem Bild einer melancholischen kleinen Prinzessin als einem wirklichen Kinde. Ihre Hände im Schoß und die Füße zierlich übereinandergelegt, sah sie aus wie das Modell eines romantischen viktorianischen Porträtisten. Ihre Lippen waren meist fest geschlossen, außerdem hatte sie die Angewohnheit, rasch mit den Augen umherzuschauen, ohne dabei den Kopf zu wenden, so daß sie manchmal trotz ihrer Märchenschönheit ziemlich kühl und fast hinterhältig wirkte. Bei den anderen Mädchen war sie nicht beliebt. Sie erfanden kleine, häßliche Spitznamen für sie, wie Miss Priss und ›Das Püppchen‹. Sie selbst schien über diese Feindseligkeit nicht weiter überrascht zu sein. Man hatte den Eindruck, als sei 97
dies genau das, was sie nach den Erfahrungen ihrer Vergangenheit, begrenzt wie sie waren, von ihren Gefährten in der Welt außerhalb des Elternhauses erwartet hatte. Nach einer Weile steckte sie, als hätte sie sich die Situation sorgfältig durchdacht, ihre langen goldenen Locken hoch, sie legte ihre damenhaften Allüren ab und sah von nun an genau wie die andern Kinder aus und benahm sich auch so wie sie. Aber immer noch glich sie eher einer kleinen Erwachsenen, die ein Kind imitierte, als einem wirklichen Kinde. Und auch ihre Schönheit blieb. Nur sehr viel Zeit konnte darin eine Änderung schaffen. Bis zur Mitte des Winters hatte sich Karen während ihres ersten Schuljahres in ihrem Benehmen vollkommen auf das andere Extrem umgestellt. Sie war zu einem Wildfang geworden und bei den Wettspielen und im Sport eine der Besten. Auf dem Rasen vor der Schule befand sich eine hochgebaute Terrasse mit steilen Wänden, die, wenn sie mit Schnee bedeckt oder vereist war, schwer zu ersteigen war. Hier nun spielten die robusteren Mädchen, darunter auch Karen, ein Spiel, das sie Bergkönig nannten. Bei diesem Spiel, das von der Schulleitung nicht gern gesehen und später verboten wurde, mußte eins der Kinder auf die Terrasse hinaufklettern, und es war dann solange Bergkönig, wie es ihm gelang, die anderen am Ersteigen der Höhe zu hindern. In diesem Spiel konnte die zu einer anderen 98
gewordene Karen sich nun so richtig zeigen. Keins der Mädchen hielt die Burg so zäh wie sie und keines griff so wütend an. Das Spiel endete oft in einem Tumult, die Kleider waren zerrissen, und es setzte Beulen und Tränen, Karen aber saß triumphierend auf dem Gipfel des glitschigen Bauwerks. Das Bergkönig-Spiel gab sie auch als Erwachsene nicht auf. Natürlich waren die Methoden, die sie jetzt anwandte, von Grund auf andere. Das Schlagen, Stoßen, Füßetreten und Kratzen war ersetzt worden durch eine dem Anschein nach zivilisiertere Taktik. Aber in der heldenhaften Zähigkeit, mit der Mrs. Stone sich in ihrem Beruf durchsetzte und die schließlich erreichte Position gegen alle Angreifer und Widerstände (mit der einen einzigen Ausnahme der Zeit) fest in der Hand behielt, lag, mußte sie sich sagen, eine deutliche Parallele zu jenem Spiel auf der Terrasse. In gewissen unkontrollierten Momenten, in jenen Momenten, da das erwachsene und wohlerzogene Ich – heimlich und rasch wie Diebe eine gestohlene Uhr unter sich austauschen – von seinem ursprünglichen und eigentlichen Ich eine Botschaft empfängt, hatte sie es jubelnd in sich flüstern gehört: Immer noch bin ich Bergkönig! Diplomatie war an die Stelle der kindlichen Ruppigkeit getreten. Wenn Mrs. Stone auf ihren großen Tourneen als Star durch das Land zog, dann glich das dem Unternehmen einer Wahlkampagne. Es ist bei einer solchen Gelegenheit besonders wirkungs99
voll, wenn der betreffende Politiker sich möglichst vieler Namen und Gesichter erinnert, und Mrs. Stone hielt es in diesem Punkt nicht anders. Sie kannte buchstäblich Hunderte von Leuten und nannte sie bei ihren Vornamen, obgleich sie ihr meistens nur flüchtig bekannt waren. In jeder Stadt, die sie auf ihrer großen Reise berührte, wußte sie über jeden Journalisten und Kritiker praktisch alles, was es über ihn zu wissen gab, so zum Beispiel, wenn einer von ihnen kurzsichtig war oder schlecht hörte, so daß man ihm einen Platz in der ersten Reihe reservieren mußte, oder welche Art von Alkohol dieser oder jener bevorzugte und was für kleine Eitelkeiten und Schwächen sie sonst an sich hatten. Wenn einer von ihnen seit ihrem letzten Zusammentreffen beträchtlich zugenommen hatte, pflegte sie zu sagen: Oh, mein Lieber, sind Sie aber schlank geworden! Hatte einer dieser Leute, was nicht selten vorkam, eine heimliche Neigung zu seinen eigenen Geschlechtsgenossen, dann fand sich immer irgend jemand in der Truppe, dem sie ihn in diskreter Weise vorzustellen wußte. Ja, sie war tolerant und hatte für so vieles Verständnis. Niemals benahm sie sich scharf oder bissig. Der alte Trick, sehr rasch mit den Augen umherzuschauen, ohne dabei den Kopf zu wenden, dieser Trick aus ihrer Kindheit, der sie damals kühl und fast hinterhältig erscheinen ließ, war ihr bei allen Gelegenheiten von größtem Nutzen. Sie sah und wußte fast 100
alles, und was sie noch nicht wußte, erfuhr sie durch ihre Sekretärin. Die Menge der Informationen, über die sie verfügten, war einfach überwältigend. Als erstes fragte sie morgens ihre nicht mehr ganz junge, unverheiratete Sekretärin gewöhnlich: Wer hat heute Geburtstag? Die Sekretärin führte ein Notizbuch, das nichts weiter als die Geburtsdaten einer ungeheuren Menge von Personen enthielt, von der Witwe eines früheren Präsidenten bis zu einer Journalistin, die die rührenden Geschichten in der ›Tulsa Gazette‹ schrieb. Wer hat heute Geburtstag? fragte Mrs. Stone oder: Wer ist heute gestorben? Beide Fragen brachte sie in genau dem gleichen leidenschaftslosen und fast wissenschaftlich interessierten Ton vor. Täglich gingen große Mengen an Glückwunsch- und Beileidschreiben hinaus, und Flora, die Göttin des Frühlings, streute ihre Blumen nicht verschwenderischer aus als sie. An zwei Vormittagen in der Woche machte Mrs. Stone Krankenbesuche. Wurde der einfachste Bühnenarbeiter krank, dann konnte er damit rechnen, ob es ihm nun lieb war oder nicht, daß sie ihn besuchte. Es muß zugegeben werden, diese Krankenbesuche hatten nichts Erfreuliches an sich. Sie sah die Kranken mit den harten Augen eines Vogels an und die mitfühlenden Laute, die sie von sich gab, kamen tief aus dem Hals. An einem bösartigen, unheilbaren Leiden Erkrankte erweckten in ihr ebensowenig Mitgefühl wie irgend jemand, dem die Man101
deln herausoperiert worden waren. Was sie auch tat, um sich die Gunst ihrer Kollegen zu erhalten und die Legende von Mrs. Stone als einem Vorbild an Hilfsbereitschaft und Güte zu schaffen, sie tat es mit dem Kopf und nicht mit dem Herzen. Der Erfolg war, daß viele Leute sagten: Mrs. Stone ist eine wundervolle Frau, und zwar in fast demselben gewohnheitsmäßigen Ton, mit dem Mrs. Stone morgens ihre Sekretärin fragte: Wer ist heute gestorben? oder: Wer hat heute Geburtstag? Niemandem war das Mechanische ihres Tuns klarer als ihr selbst. Es war etwas das sie weder an sich verdammte noch sich verzieh. Sie wußte zweierlei liebte sie: Tom Stone und ihre Karriere als Schauspielerin, und sie sagte sich vielleicht ganz vernünftig, daß es nicht besonders ins Gewicht fiel, ob das Interesse, das sie für andere zeigte on Herzen kam oder nur eine Sache des Verstandes war. Etwas anderes freilich fiel ins Gewicht und das war die Tatsache, daß die vogelhafte Härte ihrer Augen und der falsche Ton in ihrer Mitgefühl heuchelnden Stimme immer deutlicher bemerkbar wurden, je weiter die Zeit vorschritt und je mehr das Festungswerk ihrer Schönheit, die ihr zur Erreichung ihrer Bergkönig-Position so sehr nützlich gewesen war, verfiel. Mrs. Stone wußte das. Sie bemerkte diesen allmählichen Verfall und tat, was sie konnte, um ihn durch noch mehr Geschick und durch noch größere Anstrengungen auszugleichen. 102
Mrs. Stone war, was man »a quick study« nennt, das heißt, sie lernte ihre Rollen sehr schnell auswendig. Ja, das Auswendiglernen ging bei ihr so außergewöhnlich schnell, daß sie darüber regelrecht in Verlegenheit geriet denn es ist üblich am Theater, daß gerade die großen Stars sich zum Einprägen ihrer Rollen ziemlich viel Zeit nehmen. Ehrgeiz und Angst aber erlaubten es Mrs. Stone nicht, sich mit irgendwelchen Dingen, die mit ihrem Beruf in Verbindung standen, Zeit zu nehmen. Oft konnte sie ihren Part schon nach drei oder vier Proben auswendig. Sie fürchtete, man könnte diese Schnelligkeit bloß als Zeichen ihres handwerklichen Geschicks auslegen und darunter würde dann ihr Ruf als Künstlerin leiden. Aus diesem Grunde tat sie oft so, als sei ihr diese oder jene Zeile ihres Parts entfallen, obwohl sie sich in Wirklichkeit genau erinnerte. Das hatte auch noch einen anderen Vorteil. Unter der Maske eines angeblichen Versagens konnte Mrs. Stone andere Mitglieder der Truppe, die sie vielleicht später bei Beginn der Vorstellungen übertreffen würden, heimlich genau beobachten. Alles das konnte natürlich nur eine begrenzte Zeit unentdeckt bleiben. Trotz ihrer Bemühungen, ihr rasches Auffassen zu verbergen, wurde es bald geradezu sprichwörtlich am Theater. Schließlich wußte jeder, der sie kannte, worauf sie hinaus war. Sie wollte Bergkönig sein und es auch bleiben. So103
lange sie schön war, war das alles in Ordnung. Als aber diese Schönheit zu schwinden begann, wurde hinter alledem allmählich das verräterische Blinken einer geschickt eingerichteten und gut geölten Maschinerie sichtbar. Von da an begannen Bemerkungen wie »Mrs. Stone war gestern abend nicht ganz auf der Höhe« oder »Mrs. Stone war großartig, aber die Rolle ist mit ihr nicht besonders glücklich besetzt« eine Karriere zu Grabe zu singen, für die sie irgendwie nie ganz gepaßt hatte. So lag der Fall nun einmal, und deswegen mußte es einem ziemlich geheimnisvoll vorkommen, warum sie mit solcher Besessenheit an der Fortführung ihrer Karriere festhielt. Aber es war ja auch ein Geheimnis, warum Mrs. Stone seinerzeit in dem BergkönigSpiel auf so wenig mädchenhafte und gewalttätige Weise hervorzustechen versucht hatte. Vielleicht wohnt allen menschlichen Bestrebungen ein solches Geheimnis inne. Das Wissen um die Ursachen für dies oder jenes oder überhaupt für irgend etwas ist nicht sehr verbreitet … Alles das, was sie im Gedächtnis hatte, all jene Namen, Gesichter und Eigenheiten von Leuten, die ihr vermutlich von Nutzen sein könnten, waren wie auf Regalen rings an den Wänden eines großen leeren Zimmers aufgestapelte Gegenstände. Diese Leere war nicht die Leere eines unbedeutenden, alltäglichen Menschen. Mrs. Stone kannte diese Art von Leere so gut, wie nur jemand sie kennen 104
konnte. Viele ihrer Bekannten führten ihr Leben in dieser Leere, ohne daß ihnen dabei offensichtlich bewußt war, daß sie teilnahmen an einem ungeheuren Ritual des Nichts. Mrs. Stone kannte dieses Ritual. Sie nahm selbst daran teil. Sie ging zu den Parties, sie suchte sich zu zerstreuen. Sie bewegte sich in dem weiten und leeren Kreis. Aber Mrs. Stone sah vom Rand aus in diesen Kreis hinein und sah die Öde, die er umschloß. Sie sah die Leere. Sie wußte, daß er leer war. Aber Mrs. Stone hatte immer etwas vor. Sie war fortwährend mit mehr Dingen beschäftigt gewesen als ein einzelner Mensch anscheinend bewältigen konnte, und aus diesem Grunde blieb sie, ähnlich wie ein herumwirbelnder Gegenstand durch die Zentrifugalkraft daran gehindert wird, vom Rande des Kreises in die Mitte zu stürzen, lange Zeit vor dieser Öde bewahrt. Als sie sich von der Bühne zurückzog und mit ihrem todkranken Mann aus Amerika abreiste – zu einer Zeit, als ihr Körper bereits jenen Dienst am Leben verweigerte, den er ihm nie geleistet hatte –, wußte Mrs. Stone innerlich schon, daß ihr Weg sie jetzt fort von dem schwankenden Rand rasch nach innen führen würde, daß sie sich nach innen wenden und jenen Raum betreten würde, den ihre Flugbahn umschloß. In ihrem Innern wußte sie es, ohne daß es ihr deshalb bewußt war. Sie war nicht ängstlich, und so bewegte sie sich mit weit geöffne105
ten Augen auf diesem Wege voran und fragte sich innerlich, was sie dort wohl vorfinden würde. War es einfach nur Öde, oder würde sie auf irgendwelche Kräfte treffen, die sie vielleicht noch retten oder auch zerstören könnten? Eines Spätnachmittags im Frühling machte Mrs. Stone die erschreckende Entdeckung, daß ein mächtiger Sturm in ihrem Gedächtnis aufgeräumt und all jene Namen und Gesichter in alle Winde zerstreut hatte. Sie war gerade am Bürgersteig der Via Veneto aus ihrem Wagen gestiegen und wollte den Laden eines Schneiders betreten, als sie eine Frauenstimme hörte, die laut ihren Vornamen rief. Gleich darauf faßte eine Frau ihren Arm, an deren Gesicht sie sich nur sehr unbestimmt erinnern konnte. Sie suchte das Versagen ihres Gedächtnisses dadurch zu vertuschen, daß sie rasch irgend etwas daherredete, aber es dauerte einige Minuten, bis sie sich plötzlich entsann, daß diese Frau nicht nur eine flüchtige Bekannte war. Sie gehörte zu jenem inneren Kreis von Menschen, den die Stones als »unsere Freunde« bezeichneten. Es war Julia McIlhenny, und ihr männlicher Begleiter, ein großer, krötenähnlicher Mann, der etwas unglücklich hinter seiner Zigarre herumstand, war ein früherer Geschäftsfreund, der sich ständig finanziell an Mrs. Stones Theaterunternehmungen beteiligt hatte. Sie hatte die beiden nicht wiedererkannt. Minutenlang konnte sie sich nicht im geringsten besinnen, wer 106
die beiden sein mochten. Als dieser Fehler ihr plötzlich in seinem ganzen Ausmaß klar wurde, verlor sie die Fassung. Tränen kamen ihr in die Augen. O Julia, flüsterte sie – sie erinnerte sich wenigstens an den Namen dieser kleinen, untersetzten Frau. Julia, ich muß dir unbedingt etwas erzählen. Und dann nahm Mrs. Stone die kleine Frau beiseite und begann ihr aus irgendeinem unerfindlichen Grunde etwas vorzulügen. Sie erzählte von einem bösartigen Geschwür, dessenthalben sie sich einer Operation hatte unterziehen müssen; das Geschwür aber wäre dann wiedergekommen. Sie würde nicht mehr lange leben. Als die Frau fragte: Wo? oder als es Mrs. Stone vielleicht auch nur so vorkam, als hätte sie diese Frage gestellt, sagte sie: In der Gebärmutter. Sie erzählte, die Gebärmutter wäre entfernt worden, das Geschwür aber wäre schon zu weit vorgeschritten gewesen und hätte auf andere Organe übergegriffen. Mrs. Stone fühlte, während sie diese Lüge erzählte, etwas wie Freude, es war ein wildes Gefühl der Freiheit, das sie nur gelegentlich in gewissen Momenten auf der Bühne erlebt hatte, wenn es ihr plötzlich virtuos gelungen war, die Schwierigkeiten einer komplizierten Rolle zu meistern. Dieses Gefühl der Befreiung hielt an, auch nachdem sie sich von der Frau verabschiedet hatte und schwer atmend, mit Tränen in den Augen, vor dem Straßencafé stand, vor dem sie sich getroffen hatten. Ruf mich nicht an, bitte besuch mich nicht, 107
rief sie, als sie sich trennten. Ich weiß, du wirst verstehen, daß ich jetzt niemanden sehen kann! Anstatt in den Schneiderladen zu gehen, was nach dieser Geschichte ein bißchen unpassend gewesen wäre, bestieg sie ihren Wagen wieder und ließ sich eine Weile im Park der Villa Borghese umherfahren. Wieder und wieder sagte sie voller Entzücken vor sich hin: Denk einmal an, ich habe sie nicht erkannt! Ha! Stell dir das vor, ich habe sie nicht einmal erkannt … Denn das war es, was ihr an diesem merkwürdigen Erlebnis zunächst als Wichtigstes auffiel. Später erst, als der Fahrer sich umdrehte und sie fragte, ob sie hier nun genug umhergefahren sei, fiel ihr als mindestens ebenso merkwürdig auf, daß sie offensichtlich doch aus dem Nichts eine so phantastische Lüge über sich selbst erfunden hatte. Nein, sagte sie zu dem Chauffeur, fahren Sie weiter. Sie lehnte sich weit zurück gegen die Lederpolster, und als der Wagen aufs Geratewohl auf den verschlungenen Wegen der Villa Borghese umherfuhr, hatte Mrs. Stone ein Gefühl, als sei sie nun angenommen. Dies war die Mitte. Dies war es, was sie in rasender Fahrt umkreist hatte. Dies war die Öde …
Wie die meisten Menschen, die ungewöhnlich schön sind, hatte sich Mrs. Stone lange der romantischen Vorstellung hingegeben, daß sie früh ster108
ben würde. Als junges Mädchen hatte sie ihren Tod noch vor dreißig erwartet. Später war diese Grenze weiter hinausgeschoben worden; mit fünfundvierzig, hatte sie nun gemeint, würde sie sterben, oder mit fünfzig; jetzt aber waren diese beiden Grenzen überschritten, und der Gedanke an einen frühen Tod hatte sich als eine bloße Einbildung erwiesen, der das Schicksal keine Wirklichkeit zu geben beabsichtigte. Man konnte nicht sagen, daß Mrs. Stone sich wirklich den Tod wünschte. Es war lediglich so, daß die Richtung oder die Richtungslosigkeit ihres jetzigen Lebens sie beunruhigte. Litte sie tatsächlich an einer solchen Krankheit, wie sie sie zu Mrs. McIlhennys Erstaunen erfunden hatte, an irgendeiner unheilbaren Krankheit, die ihr zu einem verhältnismäßig frühen Zeitpunkt den Tod bringen würde – das Wissen um diese Tatsache hätte sie beruhigt. Aber das war nicht der Fall. Symptome, daß sie körperlich vor dem Zusammenbruch stand, waren nicht vorhanden. Jene Schwächezustände, die Atemnot und den unregelmäßigen Puls solcher Menschen im mittleren Alter, deren Ableben ziemlich früh zu erwarten ist – das alles kannte Mrs. Stone nicht. Jetzt, da ihr Körper sich aus dem verworrenen Dickicht des Klimakteriums erhob, fühlte sie im Gegenteil ein mächtiges Wiederaufleben ihrer physischen Kräfte. Sie war ständig in Betrieb, ohne jemals wirklich müde zu werden. Andere Amerikaner klagten über Mattigkeit, die sie 109
in Rom überkam, Mrs. Stone aber hatte nie so etwas erlebt. Sie wünschte, sie würde das einmal erleben. Wie gerne wäre sie dann und wann körperlich so matt gewesen, daß sie sich einen Nachmittag lang im Bett wirklich wohl gefühlt hätte. Natürlich, es war möglich, still dazuliegen. Ihr Körper tat ihr den Willen, wenn sie ihm den Befehl dazu gab. Aber wenn sie allein dalag, wenn Paolo nicht neben ihr war, fühlte sie sich sofort von Unruhe gequält. Sie stand dann auf, um die Fensterläden festzumachen oder ein Stück Wäsche aufzuheben, das auf den Boden gefallen war. Oder sie meinte, sie sei durstig, oder erinnerte sich an irgend etwas, das sie dem Stubenmädchen oder dem Diener hatte sagen wollen, und war wenige Sekunden später schon wieder auf den Beinen; war dann diese oder jene Kleinigkeit erledigt, stand sie wieder da und betrachtete die weiße Einsamkeit ihres Bettes, dann schlug ihre Stimmung sofort um und sie fühlte sich abgestoßen. Gewöhnlich setzte sie sich dann neben das Telephon, manchmal legte sie die Hand auf den Hörer, aber sie nahm ihn nur selten ab. Nahm sie ihn tatsächlich einmal ab und hob die Hand, um die fünf Zahlen zu wählen, die Paolos träge Antwort, sein schläfriges pronto, hervorrufen würden, selbst dann fehlte es ihr gewöhnlich an Entschlußkraft; unsicher legte ihre Hand den Hörer auf und fiel wieder in ihren Schoß oder schloß sich müßig um ein Wasserglas oder um eine Flasche mit Parfüm. 110
Teilweise kam das alles zweifellos daher, daß Mrs. Stone sich geistig in keiner Weise auf die Zeit vorbereitet hatte, der sie sich jetzt gegenüber sah. Die einzige Lektüre, für die sie sich jahrelang wirklich interessiert hatte, waren ihre Rollenmanuskripte gewesen und die Theaterkritiken in den Zeitungen. Musik machte ihr nur Freude als Hintergrund zu irgendwelchen Betätigungen wie Baden oder wenn sie sich anzog. Die aufgewühlte Epoche der Geschichte, die sie durchlebt hatte, die Kriege und der gewaltige Kampf sozialer Ideen hatten sie sowenig interessiert wie eine Menge anonymer Gesichter auf der Straße. Das alles war wie ein trüber, kaum sich verändernder Dunst, um den sie sich nicht kümmerte, es sei denn, daß er gelegentlich ihre Schulter streifte oder momentan ihre eigene festgelegte, aber fast gedankenlose Entwicklung hemmte, die sich mitten unter diesen Dingen oder an ihnen vorbei vollzog. Aus diesen Fakten über Mrs. Stone könnte leicht geschlossen werden, daß sie dumm war, aber wie die meisten schnellfertigen Urteile über das Wesen eines Menschen war dies nicht ganz richtig. Es gibt Menschen, die über große Energie verfügen, was dann aber auf Kosten ihrer Intelligenz geht; dies stimmt besonders dann, wenn alle oder praktisch alle Energie auf einen einzigen Punkt angesetzt wird, wie zum Beispiel auf die besessene Verfolgung einer Karriere. Wäre sie dabei nicht mit ziemlich viel Intelligenz und 111
Scharfsinn vorgegangen, dann hätte sie das ganze Unternehmen am Ende niemals mit so erbarmungsloser Klarheit durchschaut, mit einer Klarheit, die es ihr gestattete, sich selbst einzugestehen, daß sie nur ein zweitrangiges Talent gewesen war und daß ihre Karriere sich auf ihrer Jugend und Schönheit gegründet hatte, die sie beide jetzt nicht mehr besaß. Es braucht eine gewisse Intelligenz, solch eine erbarmungslose Wahrheit über sich selbst anzuerkennen und vor allem, sie zu ertragen und weiterzumachen. Sie wußte das alles jetzt und sie machte weiter, und zwar mit ungebrochener Energie, ja, sie hatte sogar erstaunlich viel Freude daran. Ihrer körperlichen Verfassung zufolge mußte sie mindestens noch zwanzig Jahre leben, und natürlich war es unter solchen Umständen erschreckend, sich am Morgen eines herrlichen Frühlingstages im Schlafzimmerspiegel zu betrachten, und zwar mit jener Art Realismus, den Mrs. Stone besaß und durch den sie sich immer noch von einem gewöhnlichen, nichtssagenden Menschen unterschied. Vorm Spiegel mußte sie Kenntnis davon nehmen, daß ihr Gesicht die kritische Periode, die hinter ihr lag, nicht so sieghaft überstanden hatte wie die Organe, von denen ihr Leben abhing. Ihr Körper war wie ein kraftvoller Vogel durch das verworrene Gestrüpp der letzten Jahre geflogen und hatte sich darüber erhoben, in ihrem Gesicht aber stand der Bericht über diesen Flug. 112
Mrs. Stone war kürzlich mehrere Male fast so kunstvoll wie auf der Bühne aufgemacht und geschminkt durch die Straßen gegangen, aber das Licht der römischen Sonne wollte ihr diese Täuschung nicht zugestehen, und sie bemerkte, daß man ihr nicht nur kritische, sondern manchmal auch spöttische Blicke zuwarf. Sie hatte ihr Haar etwas dunkler färben lassen, fast kastanienbraun, und sie trug Hüte mit breiten Rändern aus Gaze, die das Licht filterten und ihrem Gesicht dadurch schmeichelten, aber wie einen dunklen, noch nicht zu einem Gedanken gewordenen Schatten fühlte sie in ihrem Innern ständig den Verdacht, daß besser früher als später noch andere, radikalere Mittel hinzugezogen werden mußten, wenn sie für den langen Weg durch die Zeit, der offenbar noch vor ihr lag, vorbereitet sein wollte … Mrs. Stone gab nun eine Menge Geld aus für Kleider, die sie sich bei den römischen Filialen der großen Pariser Salons machen ließ. Als sie noch voll im Besitz ihrer Schönheit war, hatten sie einfache Kleider vorgezogen und nur einen einzigen Ring getragen, jetzt aber fand sie Geschmack an Roben und Schmuck, deren Machart von den Barockfassaden eines Bernini inspiriert schien. Darunter war ein Abendkleid aus goldfarbenem Taft mit Spitzen, zu dem sie mehrere Schmuckringe und ein Halsband aus Perlen und Topasen trug, und dieses Kleid nun hatte sie eines Nachmittags zum ersten113
mal an, als Paolo mit dem fertigen taubengrauen Flanellanzug, den er gerade an diesem Tage vom Schneider erhalten hatte, in ihr Schlafzimmer platzte. Es war vielleicht unvernünftig von ihr, zu erwarten, Paolo würde sie in ihrer Aufmachung bewundern, aber wenn er nur einen Augenblick in der Tür stehengeblieben wäre und sich von ihrer Erscheinung angenehm überrascht gezeigt hätte, dann wäre der Abend vielleicht nicht so katastrophal verlaufen. Paolo aber hatte sein angenehmes Überraschtsein für seine eigene Erscheinung aufgespart. Er stürzte zum Spiegel, als stünde er in Flammen und der Spiegel wäre Wasser. Ohne Mrs. Stone einen einzigen Blick zuzuwerfen, starrte er in den Spiegel und geckte davor herum, und da ihm durch ihre Doppelerscheinung das Gedränge im Spiegel zu groß schien, murmelte er Verzeihung und gab ihr einen kleinen Stoß in die Seite. Dann drehte er sich um und betrachtete sich über die Schulter von hinten, er hob das Jackett über die Hüften, so daß beide, sie und er, bewundern konnten, wie gut der Flanell sich der klassisch geformten Gestalt seines festen, jungen Gesäßes anpaßte. Mrs. Stone brach in ein Gelächter aus, aber es war kein fröhliches, sondern ein nahezu verzweifeltes Lachen. Paolo geriet auf der Stelle in Wut. Er riß sein Päckchen amerikanischer Zigaretten aus der Tasche und ging aufgeregt ins Badezimmer, wo 114
über dem Waschbecken ein kleinerer, aber intimerer Spiegel hing. Ich bin es nicht gewohnt, so feine, neue Anzüge zu tragen! rief er und schlug die Tür zu. Dreißig Jahre sind zwischen uns, dachte sie. Dann schämte sie sich über sich selbst, und als Paolo wieder aus dem Badezimmer herauskam, hatte sie zwei Negronis gemixt und sie zusammen mit einer Schale mit Oliven auf die Glasplatte eines Tisches gestellt, der auf der immer noch sonnigen Terrasse stand. Mit dem Ausdruck der Zerstreutheit kam Paolo nach draußen. Er beachtete die Gläser nicht und ließ sie allein an ihrem Cocktail nippen, während er zur Balustrade ging und nachdenklich auf die kleine Piazza am Kopf der Spanischen Treppe schaute. Eine Stunde, in der man zusammenliegen könnte, dachte Mrs. Stone bei sich. Und so sagte sie nichts. Die Augen auf den grauen Flanell seines Rückens gerichtet, nahm sie einen Schluck und dachte an die Nacht, wenn der Flanell nicht zwischen ihnen sein würde. Plötzlich aber drehte sich Paolo herum und stellte ihr eine überraschende Frage. Wer ist der Bursche, der in letzter Zeit immer hinter dir her geht? Wer? Was! Hast du ihn nicht bemerkt? Er verfolgt uns fast überallhin. Er ist jetzt da unten auf der Spanischen Treppe. Sieh ihn dir an! Sie stand auf und stellte sich neben ihn an die 115
Balustrade, aber sie war nicht imstande, länger als eine Sekunde hinunterzusehen. Das scharfe Getränk tat ihr in den Augen weh und es war ihr ein bißchen schwindlig. Ich kann nicht an der hohen Mauer hinuntersehen, sagte sie. Im übrigen bin ich überzeugt, daß es nur ein Geldwechsler ist … Das Schlimme ist, sagte Paolo dumpf, daß du dich auf einen Skandal eingelassen hast! Wieso? Was meinst du? Ein Skandal, sagte Paolo, ist etwas, das auffällig ist, und du hast dich auffällig benommen! Man zeigt auf der Straße mit dem Finger auf uns! Weißt du das nicht? Doch, sagte Mrs. Stone, ich weiß es. Und ich weiß auch, daß du daran anscheinend dein Vergnügen hast! Warum bestehst du immer darauf, daß der Wagen direkt vor dem Café Doney hält, wo alle, die dort an den Tischen sitzen, dich aussteigen sehen und die idiotischen Anweisungen hören können, die du dem Fahrer zurufst! Du bist es, und nicht ich, der sich in dieser Weise zur Schau stellt! Dir gelten die Blicke der Leute, nicht mir, nicht mir! Ich mache auch nicht annähernd eine so feine und auffällige Figur wie du! Würden wir zusammen auf der Bühne eine Szene spielen – man würde mich überhaupt nicht bemerken! Du verstehst nicht, was die Leute sagen, sagte Paolo. 116
O doch, sagte Mrs. Stone, ich verstehe sie schon. Ich habe ein besseres Ohr fürs Italienische als du denkst. »Che bel’ uomo, che bel’ uomo!« sagen die Leute an den Tischen, und du sonnst dich darin wie eine Sonnenblume. Wenn wir allein sind, bist du träge und mißgelaunt und sprichst kaum ein Wort, aber sofort wenn Leute da sind, beginnst du zu glänzen, da trägst du den Kopf hoch und wirfst dein Haar zurück und rufst Befehle durch die Gegend. Wirf mir also nicht vor, daß ich mich auffällig benehme, caro mio. Ich bin auffällig nur durch dich! Ich habe noch nie eine Amerikanerin getroffen, sagte Paolo, die zugegeben hätte, daß sie über irgend etwas im Unrecht sei, es ist also sinnlos, dir zu widersprechen. Aber ich wiederhole, daß du nicht alle Bemerkungen der Leute verstehst, weil dein Ohr fürs Italienische doch nicht so gut ist wie du denkst. Ich wollte dir dies nicht sagen, ich wollte es vermeiden, aber in der letzten Woche war ich gezwungen, jemanden wegen einer Bemerkung, die er über uns gemacht hat, zum Duell zu fordern. Was für eine Bemerkung? Eine ganz abscheuliche Bemerkung! Du hast mit ihm gekämpft? Ich forderte ihn heraus und er verließ Rom! Mrs. Stone gab sich keine Mühe, ihr ungläubiges Lächeln über diese Geschichte vom starken Mann 117
zu verbergen, und Paolo fuhr noch wütender fort. Ich nehme an, es ist dir noch nie zu Ohren gekommen, daß Frauen deiner Art oft ermordet in ihren Betten aufgefunden werden? Nun, das ist so, laß es dir sagen, gerade in der letzten Woche ist so ein Fall an der französischen Riviera passiert. Eine Frau in den mittleren Jahren wurde mit durchschnittener Kehle in ihrem Bett gefunden, von einem Ohr zum anderen, der Kopf war fast ab. Sie lag auf der rechten Bettseite und neben ihr auf dem Kissen fand man Flecken von Haaröl. Kein aufgebrochenes Schloß, niemand, der gewaltsam eingedrungen war. Der Mörder war offenbar von der Dame selbst hereingebracht worden, und – freiwillig war sie mit ihm ins Bett gegangen! Soll das heißen, sagte Mrs. Stone, daß du mich wahrscheinlich umbringen wirst? Ganz richtig, mach deine Witze darüber und lache, aber in drei oder vier Jahren werde ich in den Zeitungen lesen, daß du unter ähnlichen Umständen umgebracht wurdest. Drei oder vier Jahre, sagte Mrs. Stone, mehr Zeit brauche ich nicht. Danach wird es für mich ein Vergnügen sein, die Kehle durchgeschnitten zu bekommen … Sie lachte und schob sein Glas zu ihm hin; Stai tranquillo, murmelte sie, er aber schob das Glas so heftig zurück, daß der Inhalt sich über ihr Kleid ergoß. Mrs. Stone brach wie ein Kind in Tränen aus 118
und floh in ihr Schlafzimmer. Wenig später folgte er ihr und bat sie ebenso obenhin um Verzeihung, wie er ihr seine Umarmung anbot. Er ließ sich von ihr küssen und erlaubte ihren Händen, ihrer hemmungslosen Sehnsucht nach ihm nachzugeben, aber nach einer Weile murmelte er: Ich möchte zuerst das Medaillon meiner Großmutter abnehmen. Und Mrs. Stone, die keinen Drang und auch keinen Wunsch nach Selbstkasteiung hatte, hielt es für klüger, nicht zu fragen, warum er das Medaillon nicht umbehalten wollte … Der Abend durchlief seine vorgesehenen Stadien, ohne daß Mrs. Stones bis zu hilfloser Angst und Paolos bis zu schweigender Mißgelauntheit ständig abfallende Stimmungskurven ein einziges Mal unterbrochen wurden. Bei Rosati trafen sie sich mit einigen Freunden zum Cocktail. Mrs. Stone kannte die Leute nicht. Sie sah sie kaum durch den Nebel ihrer beginnenden Panik, und sie hörte nicht, was sie sagten, nur ihr Lachen hörte sie, und es kam ihr vor, als richtete es sich indirekt gegen sie. Sie war unfähig zu reden, und Paolo weigerte sich, ein Wort zu sprechen. Er streckte die Unterlippe vor und sah gelangweilt hoch, er schaute nicht irgend jemand an, der anwesend war, sondern irgendein unsichtbares Geschöpf in der Luft. Ein Mädchen, das mit am Tisch saß, machte sich ziemlich auffällig an ihn heran. Sie 119
fischte die Kirsche aus ihrem Cocktail und versuchte, sie Paolo in den Mund zu stecken. Er ahmte die kleinen Grunzer eines Babys nach, während er sich mißlaunig dem süßen Angebot verweigerte. Das Mädchen aber gab nicht auf. Mit Gewalt zwang sie ihm die Kirsche in den Mund. Er hielt ihren Finger mit seinen weißen Zähnen fest. Sie schrie, als täte er ihr weh, entzückt auf. Ihr Gesicht war von Röte übergossen, sie nahm ihren Finger nicht aus seinem Mund, und seine Augen schlossen sich fast, während er weiterhin wie ein Baby grunzte und seine Hand zärtlich in seinem Schoß lag. Das war zu viel für Mrs. Stone. Abrupt stand sie auf und ging, ohne sich zu entschuldigen, zur Bar. Von dort schaute sie zurück. Wie es schien, hatte niemand bemerkt, daß sie gegangen war. Das kleine Spiel um die Kirsche dauerte an, und die andern saßen in stellvertretender Verzauberung drum herum. Die Ober sahen zu und lächelten. Ein Geiger näherte sich dem Tisch, und der Kopf des hübschen Mädchens neigte sich zu Paolo hinüber, so daß ihr honigfarbenes Haar ihr Gesicht überströmte, während ihre Beine sich unter dem Tisch wollüstig berührten und die Hand, die zärtlich in seinem eigenen Schoß gelegen hatte, sich hinüberbewegte zu ihrem Schoß. Niemand störte sich daran, niemand widersprach. Niemand hatte bemerkt, daß Mrs. Stone sich erhoben hatte, am wenigsten von allen der Geiger, der die süße Melo120
die der Jugend aus seinem Instrument hervorlockte … Mrs. Stone fühlte sich nahe vor einer Ohnmacht und verließ rasch das Lokal. Draußen blieb sie kurze Zeit in dem amethystfarbenen Licht des prima sera stehen. In der Brust fühlte sie dieselbe erstickende Schwere, die sie damals, an jenem furchtbaren Premierenabend als Julia gefühlt hatte, als ihr plötzlich hinter der Bühne klar wurde, daß sie die Rolle nicht spielen könnte, auch nicht in all dem weißen Satin und mit den vielen Perlen, die sie sich umgetan hatte. Die Illusion stellte sich nicht ein. Flüsternde Schatten traten vor ihr beiseite, als sie die Bühne verließ. Irgend etwas hakte irgendwo fest. Eine Kaskade von Perlen ergoß sich. Sind Sie wahnsinnig! schrie sie die Frau an, die ihr beim Umziehen half. Die Perlen knackten unter ihren Schuhen, die Frau fing an zu weinen, die flüsternden Schatten umwogten sie wie Dämonen im Dunst einer Hölle, und jetzt mußte sie wieder auf die Bühne, aber das Kleid war noch nicht in Ordnung. Zwei Frauen fingerten an ihr herum. Drei jetzt. Da kam ihr Stichwort. Warten Sie, warten Sie, flüsterte jemand. Sie drehte sich wütend um und schlug nach den Armen, die sie festhielten, und dann rauschte sie davon, stolz und verzweifelt, trat in das zähfließende, bläulich-blasse Licht auf der Bühne, wo ihr Versagen sich Zeile um Zeile und 121
mit jeder Gebärde einer Rolle, in der eine Frau ihres Alters sich lächerlich machen mußte, aufbaute wie ein steinernes Monument … Was geht mich das jetzt noch an, dachte Mrs. Stone, sie dachte es mit solcher Intensität, daß ihre Lippen die Worte aussprachen. Gleich darauf hörte sie, wie eine Antwort auf ihr Flüstern, ein leises metallisches Klopfen. Sie drehte den Kopf nicht. Das Klopfen kam aus ganz geringer Entfernung von der anderen Seite des Eingangs, in dem sie stand. Mit dem Gesicht zum Lokal stand dort eine schlanke Gestalt. Der Kopf war gesenkt, als schaute der Betreffende auf den metallenen Gegenstand, mit dem er gegen das Glas klopfte, dies metallene Klopfen aber war an sie gerichtet. Mrs. Stone fühlte keine Kraft, sich zu bewegen. Ein paar junge Burschen kamen vorbei, und das Klopfen hörte kurze Zeit auf. Dann setzte es, diesmal etwas lauter, wieder ein. Die amethystschimmernde Dämmerung wurde zu einem kraftvollen Strom, der sie zu ihm hinzog, aber sie sah ihn nicht an. Ohne die Augen zu ihm zu erheben, trat sie an ihn heran, so daß ihr Gesicht ganz nahe an seinem war. Sehen Sie mein Gesicht an! flüsterte sie heiser und schnell. Warum verfolgen Sie mich, können Sie nicht mein Gesicht sehen? Der junge Mann nahm seinen Kopf zurück, als sie 122
so nahe herankam. Er murmelte irgend etwas Unverständliches, drehte sich um und begann, das Gesicht hinter dem Kragen seines Mantels verborgen, die Straße hinunterzugehen. Nach einigen Schritten blieb er stehen, als wartete er darauf, daß sie ihm nachkommen würde. In diesem Augenblick kam Paolo aus der Bar. Warum bist du weggegangen? Bitte, hol mir den Wagen, sagte sie leise. Schweigend saßen sie nebeneinander, als der Wagen durch den Borghese-Park fuhr. Sie legte den Kopf rückwärts gegen das Lederpolster des offenen Wagens, bis die Wellen einer mysteriösen Panik in ihr abgeebbt waren; dann gab sie, während sie heimlich eine Belladonna-Tablette nahm, dem Fahrer Anweisung, zu einem Restaurant in Trastevere zu fahren. Paolo war jetzt so weit entfernt von ihr wie der kühle Frühlingsmond. Er hatte die Hände in die Hosentaschen gesteckt und saß weit zurück in den Lederpolstern. Seine langen, flanellbedeckten Beine standen träge weit auseinander wie die Flügel eines müden Schmetterlings. Als sie über den Tiber fuhren, wagte sie es, ihre Hand auf sein Knie zu legen. Er ließ es sich gefallen, ohne irgendwie zu reagieren. Beim Restaurant Alfredo stiegen sie aus, sie ließen sich das Essen draußen servieren. Durch die Aufregung und ihre Erschöpfung war Mrs. Stone sehr hungrig geworden, kaum aber hatten sie zu essen 123
begonnen, als Paolo aus seinem mißgelaunten Schweigen auffuhr und wild ausrief: Mein Gott! Hast du das ganz vergessen? Was, Paolo? Du hast die Contessa und einige Freunde eingeladen, sich unseren Film anzusehen! Ich habe sie eingeladen? Ja, du – oder ich! Das ist ja doch gleichgültig. In fünf Minuten werden sie kommen und nur der Diener wird da sein, um sie zu empfangen! Wohin kommen? Zu deiner Wohnung! Wohin, meinst du, sonst? Sie wollte protestieren, aber er war schon aufgestanden und ging. Es blieb ihr nichts weiter übrig, als die Rechnung zu bezahlen und ihm zum Wagen zu folgen. Das war wohl die unerträglichste Grobheit, die sie jemals erlebt hatte, dachte Mrs. Stone. Und das stimmte wahrscheinlich. Nur selten hatte sie sich in der Vergangenheit mit dem Problem, wie man seine Würde bewahrt, befassen müssen. Bei dem Prestige, das sie, schön und arrogant, wie sie gewesen war, in der Welt des Theaters und der Gesellschaft besaß, schien diese ihre Würde außer Gefahr, verletzt zu werden; als aber ihre Schönheit verfiel und sie sich aus jenen beiden Sphären, in denen sie eine unantastbare Position eingenommen hatte, zurückzog, blieb ihr als Schutz nichts weiter als ihr Reichtum, und Würde kann man mit Reichtum nicht sichern. Signora 126
Coogans Würde war dadurch ganz gewiß nicht gesichert worden, wenn man den Berichten über das Benehmen dieser Dame Glauben schenken konnte. Bei verschiedenen Gelegenheiten hatte Mrs. Stone sich in letzter Zeit gesagt: meine Würde werde ich nicht aufgeben, ganz gleich, was geschieht, ich werde sie nicht aufgeben, aber ebenso häufig hatte sie sich dabei ertappt, daß sie Dinge tat, die mit diesem Entschluß keineswegs übereinstimmten. So hatte sie eines Abends, als sie Paolo erwartete, aus dem weggestellten Gepäck ihres verstorbenen Mannes die vielen Erinnerungsstücke entfernt, die er als eine Art Chronik ihrer Bühnenlaufbahn aufbewahrt hatte. Darunter waren Photographien von ihr in allen großen Rollen, die sie gespielt hatte, einschließlich jener unglückseligen Rolle der Julia, welche nur Mr. Stone für eine große und denkwürdige Leistung seiner Frau gehalten hatte, ja, er war ganz vernarrt in diese Aufführung gewesen und hatte immer behauptet, es wäre die größte Rolle ihrer ganzen Karriere gewesen. Als sie diese Photographie aus der Sammlung ihres Mannes nahm, mußte sie daran denken, wie sie dazugekommen war, als er gleich nach Erscheinen der unfreundlichen Kritiken seiner Sekretärin einen entrüsteten Brief diktiert hatte, und zwar an einen Kritiker, der wenig ritterlich darauf angespielt hatte, daß teilweise wohl das Alter, in dem sie diese Rolle noch spielte, schuld sei an Mrs. Stones Versa127
gen. Sie hatte das Abschicken des Briefes verhindert, aber jetzt sah sie, daß eben dieser Brief, zwei Monate vor dem Tod ihres Mannes datiert und Thomas J. Stone unterschrieben, an die Julia-Photographie angeheftet war. Sie nahm den Brief hastig ab und starrte auf ihr Bild im Kostüm ihrer letzten Rolle. Es war bei einer Kostümprobe aufgenommen, bei der die Nerven zum Zerspringen gespannt sind, aber reichte das aus, um das irgendwie raubgierige Funkeln, nicht Leuchten, zu erklären, mit dem ihre Augen unter einer verschwimmenden Wolke von blondem Haar und Perlen den vergleichsweise scheuen Blick der Kamera erwiderten? Die Optik war ziemlich weich eingestellt, und doch – hatte ihr Gesicht nicht etwas von dem Ausdruck eines Falken? Mit der Photographie in der Hand ging Mrs. Stone, als wäre sie im Begriff, irgendein sorgfältig gehütetes Geheimnis ihrer Person aufzudecken, zum Spiegel, aber sie kehrte auf halbem Wege um und steckte das Bild wie ein übles Omen zuunterst in den Haufen der Sachen, die sie schon herausgesucht hatte. Außer Hunderten von Bildern fand sie Mr. Stones Sammlung von Theaterprogrammen aller Stücke, in denen sie jemals aufgetreten war, auf denen ihr Name in großen Buchstaben über den kleiner gedruckten Titeln berühmter Stücke stand, und dann eine Unmenge von Ausschnitten aus Zeitungen und Zeitschriften aus Jahren, lange bevor sie Mrs. Stone geworden war. Der 126
Haufen war alles in allem so groß, daß sie ihn, als sie ihn nun zum Speisezimmertisch in der Mitte des Raumes trug, kaum mit beiden Armen umfassen konnte. Hier mußte Paolo ihn gleich, wenn er hereinkam, sehen. Dann aber, im letzten Moment, als die Klingel Paolo bereits angekündigt hatte, hatte sie sich der Würdelosigkeit geschämt, mit der sie seinen Respekt herausfordern wollte. Sie hatte das Ganze wieder auf beide Arme genommen und war damit rasch zum Abstellraum gegangen. Zwei oder drei von den prächtigen Kostümbildern waren ihr dabei entglitten und auf den Boden gefallen. Sie lagen Paolo direkt vor den Füßen, als er das Zimmer durchquerte; mit einem flüchtigen Blick auf die Bilder hatte er sie aufgenommen und ohne ein Wort auf den Tisch geworfen. Als der Wagen sie jetzt zu ihrem Appartement zurückbrachte, sagte sie verzweifelt wieder und wieder vor sich hin: ich werde meine Würde nicht aufgeben, ganz gleich, was geschieht! In dem Augenblick aber, als Paolo sich plötzlich zu ihr herüberneigte und ihre abgewandte Wange mit seinen jungen, warmen Lippen berührte, drehte sie sich ihm ganz zu, faßte seine schimmernden Schläfen mit ihren Händen und schrie fast: Paolo, Paolo, ich bin nicht die Signora Coogan, ich bin keine verrückte alte Hexe ohne Haar und mit zwei Zähnen im Mund und nichts als Geld, das ich dir zu geben habe! 127
Ich weiß nicht, wovon du sprichst, sagte Paolo. Ihm war ein wenig unbehaglich zumute, die Intensität, mit der sie auf ihn eingedrungen war, hatte ihn aufgeschreckt. Aber sie ließ nicht locker. Er drehte und wand seinen Kopf, aber sie hielt ihn an seinen geölten und parfümierten Schläfenhaaren fest. Sieh mich an, Paolo, verlangte sie. Warum? Was ist denn los? Du sollst dich davon überzeugen, daß ich nicht bin wie sie, nicht einmal, wenn ich müde bin, und wenn ich meine Würde ganz aufgegeben habe. Ich bin nicht wie sie, nicht ganz! Ich habe nie gesagt, daß du wie irgend jemand bist! Aber du hast mich so behandelt, Paolo! In Amerika habe ich immer noch einen Ruf als schöne und talentierte Frau, Paolo. Modemagazine sind immer noch hinter meinem Bild her als Empfehlung für Zigaretten und kosmetische Artikel. Stücke sind für mich geschrieben worden und Bücher über mich. Frag jeden, der jemals in London war oder in New York oder Paris, alle werden dir sagen, sogar deine Freundin, die Contessa, daß ich es nicht verdient habe, wie die Signora Coogan behandelt zu werden. Wenn wir in meiner Wohnung sind, Paolo, heute abend vielleicht nicht, weil Leute da sein werden, aber morgen irgendwann werde ich dir eine Sammlung von Erinnerungen vom Theater zeigen, die mein Mann für mich aufbewahrt hat, 128
und du wirst es selbst sehen, ich werde es dir nicht mehr zu sagen brauchen! Damit war es also geschehen. Alle Würde war hin, und nun durchgrub sie schluchzend und verzweifelt ihre Handtasche nach einem Taschentuch und der Puderdose. Der Wagen bog in die Via Gregoriana ein. Mit Gewalt unterdrückte sie das Schluchzen und öffnete die Puderdose. Paolo begann zu reden. Ja, ich habe deine Bilder auch in den Modemagazinen gesehen. Aber da du dies Thema, das, glaube ich, nicht gerade sehr rühmlich ist, zur Sprache bringst, laß dir sagen, daß ich auch photographiert worden bin, und zwar von Settimana Incom, um nur ein Beispiel zu nennen, und nicht nur photographiert, ich bin auch gemalt worden, und zwar von den berühmtesten Künstlern Europas. Und du bist nicht die erste große Dame, mit der ich ausgegangen bin. Gerade in der letzten Saison, in dem Winter, bevor ich dich traf, reiste ich in der Gesellschaft von Mrs. Jamison Walker, deren Bild in einem Monat von mehr Modemagazinen gebracht wurde, als die meisten Menschen im ganzen Jahr überhaupt vor Augen bekommen, durch ganz Marokko und Andalusien! Der Wagen war vor der Tür des Palazzo angekommen. Du hast recht, Paolo, sagte Mrs. Stone, als sie auf 129
den Portier warteten, um eingelassen zu werden, es ist kein sehr rühmliches Thema, und ich glaube, das Schlimmste an einem Liebesverhältnis zwischen einem sehr jungen und einem schon etwas älteren Menschen ist der Verlust der Würde, der damit anscheinend verbunden ist … Die Contessa und drei jüngere Damen waren bereits in Mrs. Stones Appartement versammelt und warteten auf ihre Rückkehr. Eine von ihnen war eine junge amerikanische Filmschauspielerin, für die dieser Abend arrangiert worden war. Erst am Tage vorher hatte die Contessa sich dazu entschlossen, das Mißverständnis zwischen ihr und Paolo aus der Welt zu schaffen. Sie hatte dazu die Filmschauspielerin als Köder benutzt, wie ein Stück Zucker, mit dem man ein ausgebrochenes Pony in den Stall zurücklockt. Am Telephon hatte sie ihm gesagt, daß die junge Schauspielerin mit Ehemännern zusammen sei und sich fraglos langweilte. Ich bin überzeugt, sagte die Contessa, daß hier größerer Gewinn zu machen ist, als du ihn bei der Signora Stone herausbekommen hast, und ich spreche dabei nicht nur vom Materiellen. Denn du weißt, Paolo caro, du bist nicht nur einer von vielen jungen und hübschen Männern, du hast noch anderes an dir, auf das Millionen Frauen fliegen würden, wenn sie dich auf der Leinwand sähen. Das Motiv zu dieser Handlungsweise der Contessa 130
lag in einer Enttäuschung, die ihr Mrs. Stone kürzlich am Telephon bereitet hatte. Zu diesem Zeitpunkt war die Contessa zu dem Entschluß gekommen, ihr Interesse an Mrs. Stones Leben in Rom aufzugeben, und infolgedessen mit der Bitte an sie herangetreten, ihr tausend Dollar zu leihen. Die Summe, die sie erhielt, war erheblich geringer. Mrs. Stone hatte sich ziemlich lahm damit entschuldigt, daß ihre Konten in den Staaten wegen irgendeines obskuren Prozesses gesperrt seien. Während man nun also auf Mrs. Stone wartete, schaute die Contessa in ihr Glas mit Brandy und sah an seinem Grunde Gefahr. Aus einer Einladung zum Essen, die sie erwartet hatte, war nichts geworden, und so hatte die alte Dame nur sehr wenig gegessen; sie wußte, daß der Alkohol, wenn sie ihn anrührte, von ihrem Kopf direkt in ihre Zunge gehen würde, aber schon während sie sich noch sagte: Ich darf ihn nicht anrühren, hob ihre rebellische Hand das Glas, und kaum stieg ihr der Duft in die Nase, da begann sich das Glas, wie ihr schien, aus eigener Kraft in ihren Fingern zu drehen und leerte sich in ihre Kehle, die sich eine köstliche Sekunde lang zusammenzog und brannte, und sich dann, einen Augenblick später, in den Seidenfaden eines Ballons zu verwandeln schien, der zwischen zwei Fingern aufwärts gegen die Decke glitt. Als stünde sie heimlich lauschend draußen an einer Tür, hörte sie sich den Namen Mrs. Stone sprechen. Sie 131
hörte, allerdings sehr deutlich, nichts weiter als diesen Namen, während sie ihr Ohr gegen diese mysteriöse Scheidewand preßte, aber sie hörte ihn wieder und wieder und dazwischen das dumpfe, erregte Gesumm von Worten. Dann und wann sagte sie einen Satz, bei dem sie schwer aufseufzte, obwohl sie ihn nicht genau verstand. Immerhin fühlte sie, wie ihre Lippen während der ganzen Zeit zitternd auf und ab gingen, wie die trunkenen Flügel eines Insekts über der Nahrung spendenden Blüte. Während sie sprach, drängten die römischen Damen sich gierig um sie, alle genossen den gleichen berauschenden Nektar, und die junge Filmschauspielerin steigerte noch ihre Erregung durch kleine bewundernde und erstaunte Ausrufe. Man rückte die Stühle eng zusammen, denn die Contessa sprach rasch und mit leiser, wispernder Stimme, wobei sie andauernd Blicke zu der Tür zum Vestibül warf, durch welche der Gegenstand ihres Klatsches erwartungsgemäß eintreten mußte. Aber es traf sich, daß Mrs. Stone nicht durch diese Tür hereinkam. Sie ging zuerst ins Schlafzimmer, um den Hut abzulegen und ihre Handschuhe auszuziehen, und Paolo folgte ihr, um sein Haar mit Eau de Cologne durchzukämmen. Sie sprachen nicht miteinander und sahen sich auch nicht an. Sie standen jeder vor einem anderen Spiegel, schweigend wie Diebe, und Mrs. Stone hatte das elektrisch dünne Gesumm der Stimme der Contessa schon 132
einige Minuten lang gehört, ehe sie wirklich hinzuhören begann. Tatsächlich wurde sie nicht durch die Stimme der Contessa, sondern durch einen Ausruf des amerikanischen Filmstars aufmerksam. Die Schauspielerin hatte einen bestimmten Ausdruck, den sie nicht ganz verstanden hatte, wiederholt, und sie hatte laut aufgestöhnt, als die Contessa ihr diesen Ausdruck mit brutaler Offenheit erklärte. Daraufhin hatte Mrs. Stone sich dicht an die Tür gestellt und zuzuhören versucht. Es ist in jedem Fall verwirrend, wenn man andere Leute, die glauben, daß man nicht hört, was sie sagen, über sich reden hört. Selbst wenn sich ihre Unterhaltung in normalen Grenzen hält, gibt einem dies ein merkwürdiges Gefühl von Unwirklichkeit. Aber die Unterhaltung, der Mrs. Stone jetzt zuhörte, hielt sich keineswegs in normalen Grenzen, und sie fühlte sich von dem, was gesagt wurde, dermaßen schockiert, daß ganz plötzlich das Leben, das sie in letzter Zeit geführt hatte, sichtbar vor ihren Augen dalag, sichtbar, aber nicht verständlich, als hätte sie sich blind durch einen Tunnel, durch vollkommene Finsternis getastet, und dann, mit einem Male, sei eine Flut von Licht hereingebrochen, so daß sie jetzt, von Grauen gepackt, vor der Mauer, an der ihre Finger sich entlanggetastet hatten, und vor dem Raum, der plötzlich aufgedeckt vor ihr lag, zurückschreckte. Paolo hatte der Unterhaltung im Nebenzimmer 133
offensichtlich ebenfalls zugehört, denn als Mrs. Stone jetzt zu ihm hinüberschaute, sah sie, daß er bewegungslos dastand, die Flasche mit Eau de Cologne in der einen, die Haarbürste in der anderen Hand, und beide Hände links und rechts in Höhe seines herrlich geformten Kopfes. Als er ihren Blick auffing, warf er sofort Flasche und Bürste weg und stürzte zur Tür, an der sie lauschte. Ich hasse das Horchen, sagte er, öffnete an ihr vorbei die Tür und trat rasch ein. Die Contessa stieß erschrocken einen leisen Schrei aus, und die anderen Damen setzten sich schuldbewußt in ihren Stühlen zurecht, aber Paolo ließ sich nicht anmerken, ob oder daß er etwas gehört hatte. Mrs. Stone folgte ihm nicht sofort. Durch den Spalt der etwas geöffneten Tür sah sie, wie er der Filmschauspielerin vorgestellt wurde, wie er ihre Hand im ordinärsten Stil römischer Galanterie an die Lippen hob, sie dann aber, ohne zu küssen, fallen ließ. Sie sah, wie er es, noch ein wenig gleichgültiger, bei den anderen beiden jungen Damen ebenso machte und sich dann graziös auf die Lehne des Sessels setzte, in dem die Contessa saß. Und immer noch blieb Mrs. Stone dort stehen, sie war weder fähig, einzutreten, noch sich zurückzuziehen. Ein breiter Lichtstreifen lag der Länge nach auf dem goldschimmernden Kleid, das sie anhatte; die Damen mußten sie gesehen haben, aber keine von ihnen schaute zu ihr hinüber. Sie sahen angestrengt nach der anderen Seite, als 134
wäre ihnen die seltsam in den Türrahmen Gebannte nicht aufgefallen, und sie taten so, als hätten sie die Unanständigkeit, die eben begangen worden war, nicht bemerkt. Die Contessa versuchte stotternd einige Worte zu sagen. Sie kämpfte offensichtlich mit einem nervösen Anfall von Asthma. Mit dem gefrorenen Lächeln von Mannequins sahen die anderen Paolo an, der seelenruhig und anmutiger denn je dasaß. Er machte keine Anstrengung, ihnen zu helfen, er gab ihnen lediglich ein Beispiel, und zwar durch die herausfordernde Lässigkeit seiner Haltung. Eine Hand lag wie gewöhnlich im Schoß, und wenn er ein Wort zu der Filmschauspielerin sagte, sah er ihr nicht in die Augen, sondern ließ seinen Blick schmeichlerisch um ihren Mund und ihre berühmte Brust spielen. Und auch jetzt noch stand Mrs. Stone in dem Licht, das durch den Spalt der Tür fiel, wie eine Zuschauerin, die so dicht an der Rampe steht, daß das Bühnenlicht sie umfängt. Die Verwirrung der Contessa wuchs zusehends. Sie streckte die Hand nach dem Glas aus, aber es fehlte ihr augenscheinlich an Kraft, es zu heben. Als ihr das verzweifelte Manöver endlich gelang, war es nur, um festzustellen, daß die Schale leer war. In diesem Augenblick hörte Mrs. Stone ihre eigene Stimme sprechen. Paolo, hörte sie sich sagen, das Glas der Contessa ist leer! Gleich darauf fand sie sich durch den Raum gehen, mechanisch die Be135
grüßungen entgegennehmen und hörte, wie sie sich für das Zuspätkommen entschuldigte. Dann sagte sie zu der Contessa: So, und nun können Sie fortfahren mit Ihrer Geschichte! Das Glas der Contessa war inzwischen wieder vollgeschenkt worden; sie hatte ihre Atembeschwerden überwunden, oder vielleicht war es auch Paolos lässig auf ihre Schulter gelegte Hand, die ihr wieder Fassung gab. Oh, sagte sie, ich habe Miß Thompson nur erzählt, wie skandalös sich die Signora Coogan auf Capri benommen hat. Diese lächerliche alte Frau! sagte Paolo. Er stand auf und reichte seine Hand der jungen Schauspielerin. Kommen Sie, sagte er, ich werde Ihnen von der Terrasse aus die sieben Hügel Roms zeigen. Mrs. Stone blieb mit den anderen Damen zurück, die begeistert von der Sommeroper an der Terme di Caracalla zu erzählen begannen. Mrs. Stone sagte und hörte eine Zeitlang nichts. Der Diener hatte inzwischen den Projektionsapparat hereingebracht und die Leinwand aufgespannt. Er fragte, ob man jetzt den Film sehen wollte. Mrs. Stone sagte, ja, sie wären so weit; die Lichter wurden ausgemacht, und dann ging sie, mit der Entschuldigung, sie wolle Paolo und den Filmstar hereinrufen, nach draußen auf die Terrasse. Aber sie fand draußen nur Paolo und den frostigen jungen Mond, der ihm, wie ihr schien, zu Beginn des Abends so seltsam geähnelt hatte. Wo ist die junge Dame vom Film? fragte sie. 136
Gegangen, sagte Paolo. So bald schon? Ich wußte, daß du uns spätestens in fünf Minuten nachkommen würdest, sagte er. Ich verstehe nicht, was diese alberne Bemerkung mit meiner Frage zu tun hat, sagte Mrs. Stone. Es kam ihr, ähnlich wie der Contessa vorhin, vor, als sei ihr Kopf ein Ballon, dessen Faden den haltenden Fingern entglitten war. Nicht Alkohol, der mit Hunger und Boshaftigkeit zusammenkam, war die Ursache, sondern jenes Gefühl der Panik, das den davon Besessenen nicht zur Flucht vor der Gefahr bewegt, sondern ihn mitten hineintreibt. Ich habe ihr erzählt, daß du hysterisch bist, fuhr Paolo fort, ich gab ihr den Rat, zu gehen. Das ist nun das vierte oder fünfte Mal, schrie Mrs. Stone, daß du mich heute abend auf unerträgliche Weise beleidigst! Zuerst bei Rosati, wo du dich mit dem betrunkenen Mädchen so beleidigend benahmst, daß ich nicht am Tisch bleiben konnte; dann bei Alfredo, wo du plötzlich – Ich bitte dich, sagte Paolo, ich habe furchtbare Kopfschmerzen! Dein Kopf, sagte Mrs. Stone, ist wie die französische Uhr auf dem Kamin, hinter deren Glas man die Federn und Rädchen arbeiten sehen kann. Ich weiß genau, was du sagen und tun wirst, ebenso wie ich an dem Räderwerk dieser Uhr sehe, wann sie schlagen wird. Du wirst jetzt sagen, daß du 137
nicht länger hierbleiben kannst. Stimmt es? Aber nicht, weil du Kopfschmerzen hast, sondern weil du von hier direkt zum Excelsior gehen und dich treffen willst mit diesem billigen kleinen – Billig ist wohl nicht ganz das richtige Wort für sie, sagte Paolo. Denkst du, ich weiß nicht, warum sie heute abend hierhergebracht wurde? Sie wurde von deiner Freundin, der Contessa, mitgebracht, denn die ist eine Kupplerin mit mehreren hübschen jungen Männern an der Hand, die sie marchettas nennt und an den meistbietenden Kunden vergibt. Aber sie hat herausbekommen, daß ich mich auf diese schmutzige Art von Geschäft nicht einlasse, und so hat sie sich entschlossen, dich weiterzugeben an eine Person, die, wie sie meint, auf dieses Geschäft eingehen wird! Ich hatte keine Ahnung, sagte Paolo, daß du solche Abgründe in dir hast! Wenn es dahingekommen ist, dann liegt das an meinem Umgang mit – Augenblick! unterbrach Paolo. Er hielt ihr den Mund zu und packte sie. Seine Finger gruben sich schmerzhaft in ihre Schulter. Einen Augenblick, bitte! sagte er, ich werde dir jetzt einmal etwas sagen. Du solltest Rom verlassen. Du solltest diese Stadt verlassen, denn du hast dich hier selbst unmöglich gemacht, und ich würde mich nicht wundern, wenn die Questura sich wei138
gerte, deinen permesso di soggiorno zu verlängern. Das ist natürlich deine Sache und Sache der Questura, mich geht das nichts an. Aber was ich persönlich nicht schätze, ist deine Unredlichkeit! Bist du wahnsinnig geworden, Paolo? Nein, ich bin nicht wahnsinnig geworden, und mein Gedächtnis habe ich auch nicht verloren. Ich erinnere mich, daß du mir im Februar sagtest, du wolltest meinem Freund Fabio helfen, der auf dem schwarzen Markt alles an diesen Schuft von Priester verlor! O Paolo! rief sie. O Paolo! ahmte er sie nach. Ich hielt das für einen schlechten Traum, sagte Mrs. Stone, oder wir müßten es doch, dachte ich, wenn es wirklich vorgekommen sein sollte, mittlerweile vergessen haben! So ein schlechtes Gedächtnis ist doch etwas sehr Bequemes, sagte Paolo. Paolo, wie kannst du es wagen, so mit mir zu sprechen! schrie sie. Wieder hielt er ihr den Mund zu. Drinnen sind Frauen, die uns hören können und über uns reden werden. Sie sind mir gleichgültig! Ich will wissen, warum du so furchtbare und beleidigende Dinge zu mir gesagt hast! Ich habe nichts weiter gesagt, als – Nein, du hast gesagt – 139
Er drückte ihr den Mund so fest zu, daß sie einen Augenblick nicht weitersprechen konnte. Du willst mich nicht hören, zischte er. Du willst dich nicht warnen lassen. Du bist so aufgeplustert mit deinem Ruhm, deinem Geld, deinen Bildern in Modemagazinen und deinem Wachskönig von einem Ehemann, der dir seine Millionen hinterlassen hat. Aber dies ist eine sehr alte Stadt. Rom ist dreitausend Jahre alt, und wie alt bist du? Fünfzig? Fünfzig! stöhnte sie. Dieses Wort gab ihr den Rest. Würde, flüsterte sie vor sich hin, aber es war nur ein geflüstertes Wort, das von dem Sturm ihrer Empörung erfaßt wurde und zerstob. Paolo hatte sich umgedreht und wollte nach drinnen gehen, aber mit der Schnelligkeit eines Vogels mit großen Flügeln stürzte Mrs. Stone an ihm vorbei und erreichte als erste den Eingang. Sie riß die Glastüren so heftig auseinander, daß die Scheiben klirrten und zersprangen. Über das, was sie dann zu den römischen Damen sagte, hatte sie keine Kontrolle mehr. Sie sah, wie der Contessa das Glas aus der Hand fiel, aber das Geräusch, als es auf dem Boden zersprang, hörte sie nicht. Sie hörte wohl ihre eigene Stimme, aber nicht die Worte, die sie schrie. Die Stimme schien nicht mehr ihr selbst zu gehören, es war wie ein Trick ihrer Phantasie, wie sie ihn in bestimmten Augenblicken auf der Bühne erlebt 140
hatte, und zwar in Szenen heftiger Erregung, wenn sie sie häufig genug gespielt hatte und sie dann, ohne zu denken, sich selbsttätig abspielen lassen konnte. Es war ihr nicht einmal klargeworden, daß Paolo nun auch den Raum betreten hatte, bis sie seine Hand auf ihrem schreienden Mund fühlte; ebenfalls ohne es zu wissen, hatte sie ihn in die Hand gebissen; laut fluchend hatte er die Hand weggezogen und sie ins Gesicht geschlagen. Dies alles hätte nun plötzlich und abrupt zu Ende sein sollen, aber durch die Mühe, die es der Contessa machte, sich aus ihrem Sessel zu erheben, wurde die Szene in grotesker Weise verlängert. Der Stock, auf den sie sich stützte, glitt aus, die Hände hilflos in die Sessellehnen gekrallt, suchte sie sich hochzuziehen, kam auch etwas hoch, fiel dann aber wieder zurück. Die beiden andern Damen faßten ihre Ellbogen und richteten sie schließlich auf, aber ihre Beine waren wie aus Gummi, und als die beiden Damen sie zum Vestibül brachten, wirkte sie wie ein Zirkusclown, der einen Betrunkenen nachmacht. Ich treibe, sagte Mrs. Stone zu sich, ich treibe dahin. Sie bewegte sich durch die Räume des Appartements. Ihr Blick glitt über die weite, weiße Einsamkeit des Bettes. Sie stand ganz still da und lauschte so gespannt, daß sie die Uhr im Nebenzimmer ticken hören konnte. Ja, auch die Zeit trieb dahin. Und der Schlaf. Hoch über der alten Stadt trieb der 141
Schlaf hin. Schaute sie aus dem Fenster oder ginge sie hinaus auf die Terrasse, sie würde sehen, daß auch der Himmel dahintrieb. Alles nahm teil an dieser Bewegung. Gab es noch irgend etwas anderes als dieses enorme Hintreiben der Zeit und des Lebens? Gab es irgendeinen festen Punkt? O ja. Jene einsame Gestalt, die neben dem ägyptischen Obelisken stand und heraufsah. Sie schien nicht einbegriffen in dieses Hintreiben der Dinge. Dieser junge Mann stand da, genau in derselben Haltung wie am Nachmittag, als Paolo von ihm gesprochen hatte. Alles andere aber trieb dahin, das Leben selbst war ein Dahintreiben, und sie, Mrs. Stone, nahm teil an dieser Bewegung. Sie bewegte sich wieder hinüber, in das vordere Zimmer des Appartements. Zum Kamin, und dort, unter der ornamentalen Glasuhr hervor, die ihr Inneres preisgab, ebenso klar und erkennbar wie sie Kunde gab vom Dahintreiben der Zeit, zog sie ein fuchsienrotes Blatt Papier hervor. Es war zusammengefaltet und enthielt außer einer kleinen weißen Karte, auf der der Name eines Pariser Arztes stand, eine kleine Photographie. Ein Gesicht von einer seltsam unwirklichen Schönheit war darauf zu sehen: unwirklich, weil ihm jeder Ausdruck fehlte, und ausdruckslos, weil die Falten von einem kosmetischen Chirurgen entfernt worden waren, und zwar von dem, dessen Name auf der Karte stand. Auf der Rückseite der Photographie stand, in einer Handschrift, die vor 142
Erregung und Jubel zu zittern schien, der kurze Satz: »So sehe ich heute aus!« Sie schaute noch einmal auf das rote Schreibpapier, auf den Namen, der auf den unteren Rand gekritzelt war; es war der Name einer alten Freundin von ihr. Der Brief hatte lange Zeit auf dem Kamin gelegen, ja, seit dem letzten Winter. Warum hatte sie ihn aufbewahrt? Weil das damals in ihren Gedanken eine Rolle spielte? Nein. Sicherlich nicht. Aber warum hatte sie Brief, Karte und Bild aufbewahrt und heimlich unter die Kaminuhr geschoben? Sie legte die Papiere wieder zurück, sie blieb vor dem Kamin stehen und betrachtete den metallisch glitzernden Mechanismus der Uhr. Ein kleiner Hammer aus Messing hob sich. Er stand einen Augenblick ohne Bewegung da. Dann schlug er dreimal kurz hintereinander gegen eine winzige Glocke aus Glas, und dann fiel er zurück und bewegte sich nicht mehr. Die Zeit aber trieb weiter dahin. Sie hörte es an dem ununterbrochenen Ticken. Und auch sie trieb wieder dahin. Zurück ins Schlafzimmer, wo sie ihren Blick über die weite weiße Einsamkeit des Bettes gleiten ließ. Eine Schneelandschaft, eine Fläche der schieren Verzweiflung. Irgendwo auf dieser weichen Ebene begann unsichtbar die wilde Landschaft des Schlafes, da hinein nachts der Geist sich bewegte, willenlos unter treibenden Schatten, die keinen Sinn hatten oder deren Sinn man nicht kannte. Sie schüttelte den Kopf. Nein, murmelte sie vor sich 143
hin. Sie würde es nicht tun. Und dann bewegte sie sich zum Badezimmer, sie füllte ein Glas mit Wasser und kam mit dem Glas in der Hand ins Schlafzimmer zurück; sie war nicht durstig, aber sie trank von dem Wasser. Das Nichts setzte wieder ein. Dieses Nichts, das in dem Sichtreibenlassen besteht. Etwas, sagte sie vor sich hin. Irgend etwas, nur dieses Nichts nicht! Das durfte nicht weitergehen, weiter und immer weiter! Kurze Zeit darauf fand sie sich selbst an der Balustrade der Terrasse stehen. Und jetzt, jetzt würde etwas geschehen. Nichts, das sie geplant oder sich gewünscht hätte, und doch war sie selbst der Anlaß, sie selbst machte es geschehen. Denn sie war es, die mit dem weißen Taschentuch gewinkt hatte, die das Taschentuch rasch durch die Nachtluft bewegt und dann die schweren eisernen Schlüssel zur Tür des Palazzo darin eingewickelt hatte. Und dann hatte sich die einsame Gestalt da unten, die nicht teilzunehmen schien an dem Dahintreiben, in dem sie hilflos begriffen war, von dem ägyptischen Obelisken entfernt und sich gebückt, um das weiße Bündel auf dem Pflaster aufzuheben. Mit einer einzigen raschen Bewegung seines Kopfes schaute er hoch, dieser junge Mann, und bewegte sich eben jetzt fort aus ihrem Gesichtskreis, aber nicht fort von ihr, sondern zu ihr hin. Er war im Begriff zu verschwinden, nein, er war bereits verschwunden, un144
ter dem Bogen, der die Tür des Palazzo überdeckte, und jetzt gleich, ja, jetzt, in wenigen Minuten, würde das Nichts unterbrochen werden, irgend etwas würde eintreten in diese furchtbare Leere.
Mrs. Stone sah zum Himmel, sie hatte den Eindruck, als hätte er plötzlich in seiner Bewegung innegehalten. Sie lächelte vor sich hin und flüsterte: Schau her! Ich habe diesem Dahintreiben ein Ende gemacht!
Nachwort
Als dieses Prosastück 1953 zum ersten Mal in Deutschland erschien, umgab es sogleich der Geruch einer, wenn auch sublimen, so doch unerhörten Provokation. Die Provokation kam, ganz ähnlich wie bei den großen Theaterstücken des amerikanischen Dramatikers, aus der Tabuzone des Sexuellen. Zum ersten Mal wurde das Motiv der männlichen Prostitution ganz unverhüllt thematisiert. Nicht nur dies: wie hier hinter den Kulissen der sogenannten großen Gesellschaft der Urwald elementarer Triebsehnsüchte freigelegt und in seinen animalischen Reflexen seziert wurde, das mußte schockieren. Entsprach so viel kalt-entfesselte Sexualität eigentlich jenem hehren ›Menschenbild‹, von dem man damals gern sprach? Deutschland – wer wird das heute noch glauben? – war damals, trotz Thomas Manns ›Der Tod in Venedig‹ und ›Die Betrogene‹, in allen sexuellen Fragen ein unerhört braves, konventionelles, man kann auch sagen: unaufgeklärtes Land. Es schickte sich nach seinem mörderischen Totentanz mit Hitler eben an, schrittweise und eher kleinlaut in die 147
Gemeinschaft der zivilisierten Völker zurückzukehren. Es gab sich vorwiegend christdemokratisch, auf jeden Fall bürgerlich, sehr gesittet. Es war dabei, sein Wirtschaftswunder aufzubauen. Revolten, auch sexuelle Revolten lagen in dieser Situation ganz außerhalb des Denkhorizonts der geschlagenen und mit Schuld beladenen Nation, die, schrecklich blessiert, noch einmal davongekommen war. Es lebte, äußerlich wieder frei, innerlich unter dem Druck vieler Verdrängungszwänge, nicht nur politischer Art. Es ist reizvoll und für den Liebhaber dieses Prosastücks von hohem Erkenntniswert, die damals so anrüchige Geschichte heute neu zu lesen. Die gesellschaftliche Szene, natürlich, hat sich vollkommen geändert. Was an sexueller Aufklärungsarbeit in der ›verspäteten Nation‹ zu leisten war, ist in diesem Vierteljahrhundert sozusagen in exzessiver deutscher Gründlichkeit geleistet worden. Das begann mit dem Kinsey-Report Mitte der fünfziger Jahre. Es setzte sich mit den obszön-raffinierten Romanen von Henry Miller fort. William Burroughs und Jean Genet kamen und wurden angenommen. Die Aufklärung nahm dann Ende der sechziger Jahre im Zeichen des allgemeinen Jugendprotestes sozusagen kollektive Breitendynamik an. Die sozialistische Revolution (was immer das sein sollte) wurde zunächst als sexuelle Revolution verstanden. Es kam die Liberalisierung des Sexual148
strafrechts, längst überfällig. Es begann in diesem Zusammenhang die Pornographiewelle, die Minderheitenwelle, die sich gerade auch der sexuellen Minderheiten annahm. Es kam vieles mehr. Mit einem Wort: die Bundesrepublik Deutschland ist heute in allen Fragen der sexuellen Moral einer der aufgeklärtesten und liberalsten Staaten der Welt. Ich wage die Behauptung: auch diese Lektion haben die Deutschen inzwischen gelernt. Solche Fortschritte und Veränderungen des geistigen Klimas müssen nicht immer der Literatur, die davor entstand, von Vorteil sein. Vieles, was gestern noch als ›gewagt‹, ja ›skandalös‹ erschien, wirkt dann ein Vierteljahrhundert später auf ernüchternde Weise eher harmlos und schal, auf jeden Fall deutlich gealtert. Die Revolten von gestern, die heute niemanden mehr interessieren, setzen schnell Staub an, ja nehmen sich im Rückblick manchmal fast komisch aus. Das also, wirklich, hat uns damals bewegt, getroffen und provoziert? Mehr war das nicht? Man denke etwa an die Anfänge der Rockmusik, die heute fast idyllisch und schüchtern wirken. Es scheint mir ein Beweis für die poetische Kraft und Originalität von Tennessee Williams, daß man seine Erzählung ›Mrs. Stone und ihr römischer Frühling‹ heute fünfundzwanzig Jahre später wiederlesen kann, ohne daß sich eine solche Ernüchterung einstellt. Der Text hat auf eine erstaunliche 149
Weise überstanden. Er ist frisch und faszinierend geblieben. Es handelt sich unverändert um ein Meisterwerk der kleinen Form, um ein Stück klassischer Entlarvungsliteratur, wie es Amerika immer wieder von Zeit zu Zeit produziert. Gewiß hat sich der Geruch des Skandalösen verzogen. Die unerhörte Provokation wird nicht mehr empfunden, aber gerade durch die Freigabe dieser Tabuzone wird erst jetzt der Blick auf die tiefere, moralische Substanz der Erzählung gelenkt. Erst jetzt wird ganz deutlich, daß hier noch weiter hinter dem anrüchigen Vordergrund eine menschliche Tragödie abgehandelt wird. Es geht, wenn ich es recht sehe, um die Tragödie des Narziß, um ein Drama menschlicher Vereinsamung, das stufenweise bis auf seinen tödlichen Grund freigelegt wird. Es geht um die Offenlegung jenes ›ungeheuren Rituals des Nichts‹, dem der Mensch, der nur auf sich selbst bezogen lebt, schließlich verfällt. Williams war damals, als er Ende der vierziger Jahre diese Novelle schrieb, auf dem Höhepunkt seiner literarischen Laufbahn. Es war die steile, glanzvolle Karriere eines jungen Dramatikers gewesen, der in der (wohl unbewußten) Nachfolge Strindbergs und Ibsens dem psychologischen Theater noch einmal neue, faszinierende Höhepunkte abzuringen verstand. Hier schrieb ein starkes, leidenschaftliches Talent aus dem amerikanischen Süden Stücke, die als ebenso feinnerviges wie brutales 150
Triebtheater die literarische Welt in Bann schlugen. Man spürte: ein Zauberer, ein Hexenmeister war hier am Werk. Schon 1945 waren in New York seine beiden berühmtesten Theaterstücke uraufgeführt worden: ›Endstation Sehnsucht‹ und ›Die Glasmenagerie‹. Sie begannen schnell, die Bühnen der Welt zu erobern. Es folgten dann in den fünfziger Jahren (fast immer im Abstand von zwei Jahren) jene Stücke, die seinen Ruhm gefestigt, seine Meisterschaft bestätigt haben: ›Die tätowierte Rose‹, ›Die Katze auf dem heißen Blechdach‹, ›Orpheus steigt herab‹ und ›Süßer Vogel Jugend‹. Sie sind rund um die Welt gegangen. Welch ein makabres Kraftgenie bereitet hier dem Eros immer wieder seltsame, verwirrende Feste des Untergangs! Seine Theaterstücke wurden auch als Filme berühmt: Marion Brando als Kowalski in ›Endstation Sehnsucht‹ und Anna Magnani in der ›Tätowierten Rose‹ – es waren Welterfolge und unvergeßliche Höhepunkte dieser Dramatikerkarriere. ›Mrs. Stone und ihr römischer Frühling‹ muß in diesem Zusammenhang sozusagen als stillere Prosaeinlage dieses berühmten Stückeschreibers verstanden werden. Woher kommt die unveränderte Frische, die noch heute von diesem Prosastück ausgeht? Sie kommt zunächst, wie mir scheint, aus dem ebenso kühnen wie realistischen Zugriff auf die gesellschaftliche und politische Situation, die erzählt wird. Hier ist nichts allgemein poetisierend. 151
Es ist alles in Raum und Zeit exakt und soziologisch sehr präzis festgemacht. Es ist das Rom der ausgehenden vierziger Jahre. Tennessee Williams hat damals eine Weile dort gelebt und die faszinierenden und makabren Seiten dieser Stadt genau erkannt. Mit wenigen Strichen wird die klassische Landschaft der ewigen Stadt skizziert. Es wird ihr historischer Glanz, ihre verführerische Schönheit, die Gelassenheit einer uralten Kultur gezeichnet, die in diesen kühlen Frühlingstagen mürbe, porös und doch ungebrochen in ihrer Vitalität einem neuen Lebensjahr entgegengeht. Wir erleben: eine vom Faschismus und Zweiten Weltkrieg erschütterte und korrumpierte Gesellschaft, die in ihren Resten immer noch so tut, als lebe sie wirklich, versucht, sich mit ihren neuen Machthabern, den Amerikanern, zu arrangieren. Sie tut es, wie sehr alte Kulturen immer ihrer Eroberer schließlich Herr wurden: durch Nachgiebigkeit, durch Gefälligkeit. Sie korrumpiert durch Verlockung. Rom betört die neuen Eroberer durch seine Schönheit und laszive Pracht, die man kaufen kann, scheinbar wenigstens. Die Spanische Treppe jedenfalls steht hier stellvertretend für den verwirrenden, barocken Glanz der alten Welt, dem die Vertreter der neuen Welt hilflos verfallen. In diesen gesellschaftlichen Rahmen, dessen politische Aspekte wir heute schärfer als früher sehen, hat Williams sein eigenes, sein immerwährendes 152
Thema hineingestellt: Jugend und Verfall, Schönheit und Sterblichkeit, Sexualität und Tod. Große Poeten sind ja immer daran zu erkennen, daß sie nur ein Thema haben, lebenslänglich. Ihr Werk ist fast immer eine fortgesetzte Variation der einen Ausgangsproblematik. Monomanisch kreisen sie es ein, fassen sie es immer konzentrierter. Bei Benn, bei Brecht kann man es beobachten. Auch Tennessee Williams wird man in diesem »monomanischen« Sinn Größe zusprechen müssen. In vielen Variationen hat er immer dem Eros ein Fest bereitet. Genauer gesagt: er feiert, wie die Vergottung des Eros schließlich den Tod einläutet. Das Thema an sich ist von romantischer Klassizität, wenn man so sagen darf. Es ist nicht neu. Es reicht von den Sonetten des Grafen Platen bis zu Thomas Manns Erzählung ›Der Tod in Venedig‹. Aber die Behandlung des Themas ist neu, ist unverkennbar amerikanischer Herkunft. Tod und Schönheit werden nicht poetisch verschwistert. Sie werden mit den Mitteln der Freudschen Psychologie analysiert. Psychoanalytisch gesprochen geht es um den Abbau eines neurotischen Arrangements und um die Aufdeckung einer narzißtischen Vereinsamung. Im Licht des römischen Frühlings wird eine unendlich raffinierte und kunstvolle Lebenslüge Schritt für Schritt rückgängig gemacht. Thema des Buchs ist nicht, wie es auf den ersten Blick scheinen mag, Rom und sein Stück schöner 153
Käuflichkeit. An der Identität der Stadt und ihrer Bewohner zweifelt Williams mit keinem Satz. Nichts ist hier problematisiert, nichts wird in Frage gestellt. Die Römer ruhen in sich, sind, was sie immer waren: intakte Figuren eines großen Kunstkabinetts, und auch in ihrer scheinbaren Verkommenheit sind sie intakt und identisch mit sich: Paolo, der schöne Jüngling, sein Friseur Renato, sein Spiegelbild, etliche Etagen tiefer, die Contessa, diese makabre Mischung aus Adel und Elend, selbst noch die geheimnisvolle Gestalt am Straßenrand, die obszöne Annäherungsversuche macht – sie alle wirken in der Erzählung merkwürdig statuarisch. Es gibt keine Veränderung oder Entwicklung dieser Gestalten, mit Recht. Sie sind, was sie eben sind und was der Dichter an ihnen liebt: Statuen der ewigen Stadt, klassische Diener des Eros, so oder so. Also nicht Rom, sondern Amerika ist das tiefere Thema des Buchs. Es geht um eine amerikanische Selbstkritik im Licht Italiens. Das dynamische Element der Erzählung kommt jedenfalls nur durch Mrs. Stone in Gang, die alternde Schauspielerin, die mitten in ihren kritischen Jahren nach Rom kommt, um ihrem entleerten Leben eine neue Wendung zu geben. Nur ihr Leben wird bis in die Kindheit zurück kritisch durchreflektiert. Ihre Entwicklung, genauer müßte man sagen: ihre tiefsitzende Fehlentwicklung ist Thema des Buchs. In der 154
knappen, rückblickenden Skizzierung ihrer Vita wird uns in nuce ein amerikanischer Entwicklungsroman vorgeführt, der, vom Formalen her, durchaus in der Tradition des europäischen Entwicklungsromans steht. Eine verborgene ›Entelechie‹ wird ausgewickelt. In unserer heutigen Sprache formuliert: die Frustration einer Kindheit wird freigelegt. Daß Williams diesen Entlarvungsprozeß am Lebensgang einer Schauspielerin demonstriert, ist ein weiterer Kunstgriff. Denn nur im Theater ist narzißtische Vereinsamung, wie man weiß, sozial gesellschaftswertig zu kompensieren. Nur hier können verborgene Niederlagen zu künstlerischen Siegen umstilisiert werden. Und von dieser Umstilisierung eines frustrierten Mädchens zum großen Star handelt diese Erzählung hauptsächlich. Es wird die Umstrukturierung eines zerstörten Lebens zur Rolle eines Lebens erzählt. Insofern ist das ›Bergkönig-Spiel‹, das erst zum Ende hin erzählt wird, der Schlüssel zum Ganzen. »Bei diesem Spiel, das von der Schulleitung nicht gern gesehen und später verboten wurde, mußte eines der Kinder auf die Terrasse hinaufklettern, und es war dann so lange Bergkönig, wie es ihm gelang, die anderen am Ersteigen der Höhe zu hindern.« Wer wollte darin nicht eine frühe Metapher für den Leistungsdruck der unbarmherzigen Konkurrenzgesellschaft in Amerika sehen? Williams Gesellschaftskritik wirkt 155
unverändert aktuell. Er kritisiert ihren Mangel an Solidarität, ihren ungebrochenen Glauben an die Macht, ja an das Recht des Stärkeren. In diesem Sinne ist es eine sehr moderne, durchaus »linke« Kritik. Wohin nämlich treibt eine Gesellschaft, die grundsätzlich nur die »Bergkönige« honoriert? Sie führt nicht zum Leben, so erzählt dieser Text, sondern zur Übernahme eines Rollenschemas vom Leben. Mit psychologischer Meisterschaft wird diese Rollenentwicklung der Karen Stone dann ausgebaut. Die Fehlentwicklung geht so lange gut, wie sie sich im Theater auf der Bühne sozial wertig ausleben läßt. Das »Festungswerk ihrer Schönheit« hält die zentrifugalen Fliehkräfte zunächst noch zusammen. Aber schon bei der sexuellen Affäre mit dem Schauspielerkollegen auf einer Tournee werden erste Risse erkennbar. Ihre Sexualität sucht nicht Liebe, sie wird zur Waffe, um die Konkurrenz des Kollegen auszuschalten, umfunktioniert. Die schöne Schauspielerin entwickelt sich zum egozentrischen Star, der eiskalt Machtverhältnisse kalkuliert. Sehr präzis beschreibt er diese Verwandlung. »Diplomatie war an die Stelle der kindlichen Ruppigkeit getreten … Wer hat heute Geburtstag? fragte Mrs. Stone oder: Wer ist heute gestorben? Beide Fragen brachte sie in genau dem gleichen leidenschaftslosen und fast wissenschaftlich interessierten Ton vor … Der Erfolg war, daß viele Leute sag156
ten: Mrs. Stone ist eine wundervolle Frau, und zwar in demselben gewohnheitsmäßigen Ton, mit dem Mrs. Stone morgens ihre Sekretärin fragte: Wer ist heute gestorben? oder: Wer hat heute Geburtstag?« Man sieht: das Drama der Selbstentfremdung ist im vollen Gang. Es setzt sich folgerichtig in der glücklosen Ehe mit dem ungeliebten Geldmanager fort, die nur in den Verformungen infantiler Sexualität zu funktionieren vermag. Ein Mensch hat sich selbst verfehlt. Er lebt noch, leidet an sich, sucht noch die Liebe und ist doch schon zerstört. »Ihr Körper war wie ein kraftvoller Vogel durch das verworrene Gestrüpp der letzten Jahre geflogen und hatte sich darüber erhoben, in ihrem Gesicht aber stand der Bericht von diesem Flug.« Kann man es noch knapper, noch genauer sagen? Was weiter geschieht, wie dieses zerstörte Leben im Licht der Spanischen Treppe endgültig zerfällt, ist Gegenstand des letzten Kapitels »Das Nichts …« Es soll hier nicht analysiert werden. Es wird ja erzählt: klar, einsichtig, unmißverständlich, auf den letzten Seiten in einer etwas melodramatischen Steigerung, in der der erfahrene Theaterpraktiker ganz offenbar den Erzähler unterläuft. Wogende Gefühlsausbrüche zum Schluß, die etwas an Oper erinnern. Es ist, als wenn man Verdi-Musik oder ein Puccini-Finale hört. Warum nicht in Rom? Nur dies sei zum Schluß noch gesagt: Es wird uns 157
hier ein Mensch vorgeführt, der trotz aller Rollendressur seine Menschlichkeit nicht ganz verloren hat. Der tiefste Schmerz dieser alternden Frau ist nicht ihre Einsamkeit, ihr Leben ohne erfüllende Liebe, ihr Angewiesensein auf die Käuflichkeit der Zuwendung, sondern ihr Stolz. Sie leidet zuletzt an der klaren Erkenntnis, daß es eine Würde des Menschen gibt, die man nicht ungestraft aufgeben kann. Nichts ist hier mehr lasziv, zweideutig oder makaber. Mit großer Einfachheit wird eine moralische Erkenntnis ausgesprochen, in die offenbar die Lebenserfahrung des Dichters miteingegangen ist: »Ich glaube, das Schlimmste an einem Liebesverhältnis zwischen einem sehr jungen und einem schon etwas älteren Menschen ist der Verlust der Würde, der damit anscheinend verbunden ist.« Dieser Satz, scheinbar wie nebenher gesprochen, ist nicht nur der Schlüssel zu dieser Erzählung. Er ist das moralische Fundament seines ganzen Werks. Immer geht es bei Tennessee Williams um die Würde von verletzten Menschen, und noch in der Falltiefe all seiner Helden wird ihre ursprüngliche Höhe erkennbar. Nur der Tod kann diese Würde wiederherstellen. Mrs. Stone ist ein solcher Held. Ihr Untergang stellt ihre verletzte Menschlichkeit wieder her. Horst Krüger
Das Buch ist mit der lyrischen Intensität und der schwelgerischen Üppigkeit der Farben geschrieben … mit jenem besonderen Talent für die Darstellung psychischer Grenzzustände, das ihn mit Recht weltberühmt gemacht hat. Der Tagesspiegel
isbn 3 10 092206 9