Christoph Martin Wieland
Nachlaß des Diogenes von Sinope Aus einer alten Handschrift.
Vorwort
Diogenes von Sinope ...
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Christoph Martin Wieland
Nachlaß des Diogenes von Sinope Aus einer alten Handschrift.
Vorwort
Diogenes von Sinope (am Schwarzen Meer) lebte von ca. 412 323 v. Chr. Er war Verächter der Kultur und führte ein Bettlerdasein, lebte in einer Tonne, benutzte weder Eßbestecke noch andere Hilfsmittel und verrichtete jegliche Bedürfnisse in der Öffentlichkeit. Diogenes wirkte zwar als Lehrer, von seine Lehren ist jedoch nicht allzuviel bekannt. Er forderte die Aufhebung der Ehe, befürwortete in Übersteigerung der sokratischen Selbstgenügsamkeit äußere Bedürfnislosigkeit, verachtete alle Konventionen und bezeichnete sich als Weltbürger. Erziehung und Stählung soll diesen Prinzipien entsprechen, der Satz von der "Umwertung der Werte" geht auf ihn zurück. Berühmt wurde er auch für seine despektierlichen Aussprüche.. Als er aufgrund seines Alters nicht mehr zu seiner Lebensweise in der Lage war, soll er sich in Korinth durch Anhalten der Luft selbst umgebracht haben. Diogenes war bekanntester und populärster Schüler des Antisthenes aus Athen. Dieser Sokratiker wiederum war ein Schüler von Gorgias und lebte von ca. 444 bis 368 v. Chr. Antisthenes war Gründer der Schule der Kyniker (von "Hund") und Verfasser zweier Reden: "Aias" und "Odysseus".
Vorbericht des Herausgebers. Geschrieben im Jahre 1769.
Ich hatte vor einigen Jahren Gelegenheit, in einer gewissen Abtey B..... Ordens in S.. Bekanntschaft zu machen, welche, Dank sey dem Genius des zwölften und dreyzehnten Jahrhunderts, der sie dotiert, und dem ökonomischen Geiste, der sie bisher verwaltet hat, reicht genug ist, siebzig bis achtzig wohl genährte Erdensöhne in einem durch verjährte Vorurtheile ehrwürdig gemachten Müßiggang, und in tiefer Sorglosigkeit über alles, was außerhalb ihrer Gerichte und Gebiete vorgeht, zu unterhalten.1 Vermöge einer wohl hergebrachten Gewohnheit hat das Kloster einen Bücherschatz, welcher sich mehr durch Weitläufigkeit als gute Einrichtung empfiehlt. Von neuen Büchern werden höchstens nur eine gewisse Art von Kanonisten, Asceten und Ordensgeschichtschreibern angeschafft. Von allen andern, besonders von den Werken des Genies, ist die Rede nicht. Diesen letztern wird der Zutritt gar nicht gestattet: und wofern sich eines derselben durch irgend einen unglücklichen Zufall in so heterogene Gesellschaft verirren sollte; so hat der Pater Bibliothekar nichts angelegners, als sich sogleich in einem besondern Schrank, der allen seines gleichen zum Gefängnis bestimmt ist, einzuschließen, und zu mehrere Sicherheit in Ketten schmieden zu lassen. Zum Gebrauch, den diese würdigen Männer von ihrer Bibliothek machen, haben sie auch in der That keine guten Bücher, und, wenn wir die Wahrheit sagen sollen, überhaupt keine Bücher vonnöthen; welches denn vermuthlich der Grund ist, warum die Vermehrung derselben in ihren Augen unter die überflüssigen Ausgaben gehört, welche ein Abt, der den Ruhm eines guten Haushalters hinterlassen will, dem Kloster 1
Zur Steuer der Wahrheit können wir nicht verhehlen, daß seit den 25 Jahren, da alles hier gesagte historische Wahrheit war, auch in dem Reichsstifte, wovon die Rede ist, (so wie in S. überhaupt) die Gestalt der Sachen sich so mächtig geändert hat, das es dem inquisitivsten Reisenden unmöglich seyn würde, das ehmalige Urbild von dem hier aufgestellten Gemählde ausfündig zu machen.
ersparen muß. In der That vermuthe ich, daß bloß eine Art von Gefälligkeit gegen die Motten, welche man in ihrem unfürdenklichen Besitze zu stören Bedenken trägt, oder vielleicht die Furcht, daß sie sich, wenn sie daraus vertrieben würden, ihres Schadens auf eine unsern guten Mönchen weniger gleichgültige Art erhohlen möchten, der Beweggrund ist, warum man die so genannte Bibliothek immer ungefähr in demjenigen Stande, worin man sie gefunden hat, den Nachkommen zu hinterlassen sucht. Dem sey wie ihm wolle, das unbegreifliche Schicksal wollte, daß ich in dieser nehmlichen Bibliothek etwas fand, was ich am wenigsten da gesucht hätte, und was in der That so außerordentlich scheint, daß ich besorge, meine ganze Erzählung dadurch verdächtig zu machen, - einen vernünftigen und wissensbegierigen Bibliothekar. Um die Sache einiger Maßen begreiflich zu machen, muß ich sagen, daß er dem Anschein nach kaum dreyßig Jahre haben mochte. Meine Freude über diesen Fund war, wie billig, außerordentlich; wir wurden in wenigen Minuten gute Freunde, und ich fand, daß der wackere Pater das Recht, seine Gefangenen so oft er wollte von ihren Ketten los zu schließen und sich mit ihnen in seinen Nebenstunden zu unterhalten, ziemlich wohl zu benutzen wußte. Er war noch nicht was man eigentlich einen aufgehellten Kopf nennen kann; aber es fing doch wirklich an in seinem Kopfe Tag zu werden, und ich machte mir gute Hoffnung, bey einem zweyten Besuch im Kloster einen beträchtlichen Theil desselben schon beleuchtet zu finden. Aber ich fand mich in meiner Erwartung sehr betrogen. Seine Obern, was sie auch sonst seyn mochten, waren doch nicht so dumm, daß sie nicht etwas von demjenigen wahrgenommen haben sollten, was diesen Mann in meinen profanen Augen schätzbar machte. Man erschrak darüber. Seit sieben oder acht Jahrhunderten hatte sich der Fall nicht ein einziges Mahl begeben, daß ein Mönch dieses Klosters hätte klüger seyn wollen als seine Mitbrüder. Was für Folgen konnte eine solche Neuerung haben! Man übersah sie beym ersten Blick,
man erschrak davor, und glaubte nicht schnell genug eilen zu können, einem so großen Übel vorzubauen. Mit einem Worte, der ehrliche ... wurde plötzlich zu einem andern Amte befördert, und der Pater Küchenmeister wurde - Bibliothekar. Man hätte keine glücklichere Wahl treffen können; er war die beste, dümmste, und mit sich selbst und ihrer Dummheit vergnügteste Seele von der Welt. Außer seinem Brevier und Marx Rumpels Kochbuche hatte er in seinem Leben nichts gelesen; auch konnt' er nicht begreifen, wie es Leute geben könne, die sich mit dem unnützen Bücherlesen die Augen verderben mögen. Weil man doch von allem gern eine Ursache angiebt, so half er sich damit, daß er behauptete, die Wissensbegierde und die daher rührende Liebe zum Bücherlesen sey weder mehr noch weniger als einer von den subtilen Fallstricken, wodurch der leidige Satan die Seelen in seine Gewalt zu ziehen suche. Unwissenheit war, seiner Meinung nach, der wahre Stand jener seligen Einfalt und Armuth an Geiste, welchen die herrlichste Belohnung in jener Welt versprochen ist; und er pflegte zu sagen, daß ein Kamel leichter durch ein Nadelöhr, als ein Gelehrter in das Himmelreich eingehen könnte. Kurz, man hätte vielleicht die Hälfte von Europa durchsuchen können, ohne noch einen Bibliothekar, wie dieser war, anzutreffen. Meine angeborne Neigung zu allen Leuten, die in ihrer Art ungemein sind, machte, daß ich gar bald mit dem neuen Bibliothekar eben so gut bekannt war als mit seinem Vorfahrer. Ich schmählte auf den Febronius, und lobte das alberne Buch des Herrn von ...; mehr brauchte es nicht, mich bey ihm in die beste Meinung von der Welt zu setzen. Ich hatte aber, die Wahrheit zu sagen, noch eine andere Absicht, ohne welche ich vielleicht so gefällig nicht gewesen wäre. Es standen ein paar Schränke voll Handschriften in der Bibliothek, unter denen, der Sage nach, einige rare Stücke seyn sollten. Ich konnte mir vorstellen, was ich ungefähr zu erwarten haben möchte; allein ich wollte doch sehen. Ich
machte den P. Bibliothekar, der in der That ein sehr gutherziges Geschöpf war, so gefällig, daß er mir seine Schränke aufschloß. Ich fand was ich mir eingebildet hatte, schön geschriebene Gebetbücher, Legenden, magre Kroniken von Erschaffung der Welt an, Quaestiones metaphysicales de principio individuationis, de formalitatibus etc. Commentarios in libros sententiarum, in parva Naturalia Aristotelis, Abbreviationes Decretorum, und hundert andre dergleichen Leckerbissen, welche mich nicht sehr lüstern machten, mehr als die Titel davon zu entziffern. Ich war im Begriff alles weitere Suchen aufzugeben, als mich das moderige Aussehen eines dünnen Kodex in Quartformat, oder vielmehr der nehmliche Instinkt, welchen Sokrates seinen Genius zu nennen pflegte, auf eine beynahe bloß maschinenmäßige Art antrieb, ihn hervor zu ziehen, um zu sehen was es seyn möchte. Das Buch hatte weder Anfang noch Ende; aber der Nahme Diogenes, und einige andre, die ich nicht darin gesucht hätte, machten mich, ungeachtet des schlechten Lateins, aufmerksam. Ich überlas eines oder zwey von den kleinsten Kapiteln, und war nun vollkommen überzeugt, daß ich vermuthlich auf die beste unter allen diesen Handschriften gestoßen sey. Da ich mir Gewalt genug anthat, um dem ohnehin wenig auf mich acht gebenden Kerkermeister dieses litterarischen Gefängnisses nicht merken zu lassen, wie wichtig mir dieser Fund war, so kostete mir es wenig Mühe, die Erlaubniß von ihm zu erhalten, es auf etliche Tage zum Durchlesen mitzunehmen. Und nun weiß der geneigte Leser so gut als ich selbst, wie ich zu der alten Handschrift gekommen bin, davon ich ihm hiermit eine Art von Übersetzung vorlege. Ich nenne sie eine alte Handschrift, ungefähr aus eben dem Grunde, womit der Antiquar, dessen Lady Worthley in ihrem dreyzehnten Briefe gedenkt, ihren Einwurf gegen das Alterthum der Münzen in dem damahligen kaiserlichen Kabinet ablehnte: Sie sind alt
genug, sagte er; denn so viel ich weiß, sind sie diese vierzig Jahre her immer da gewesen. So viel getraue ich mir zu behaupten, daß sie wenigstens nicht viel jünger ist als einige Übersetzungen von Aristotelischen Büchern aus dem Arabischen. Denn so viel ich aus dem noch übrigen Bruchstücke der Vorrede ersehen konnte, giebt der Verfasser vor, dieses Werkchen aus einer Arabischen Handschrift, die er in der Bibliothek zu Fetz gefunden und abgeschrieben habe, in so gutes Latein, als man damahls zu Salamanka zu lernen pflegte, gedolmetscht zu haben. Da ich fand, daß ein beträchtlicher Theil dieser Handschrift aus Gesprächen des Diogenes mit sich selbst und mit andern bestehe, so erinnerte ich mich aus dem Diogenes Laertius, daß Diogenes von Sinope, genannt der Hund, unter andern auch Dialogen geschrieben haben sollte. Und nun brauchte ich nichts weiter als von den Regeln der Verwandlung des Möglichen ins Wirkliche einen kleinen Gebrauch zu machen, um mir einzubilden, daß diese Dialogen ohne Zweifel unter den Griechischen Handschriften gewesen seyen, welche der berühmte Kalif Al-Mamon zu Bagdad mit großen Kosten zusammen suchen und ins Arabische übersetzen ließ; daß ein Exemplar dieser Arabischen Übersetzung in der Folge in die prächtige Bibliothek gekommen sey, welche unter der Regierung des Maurischen Sultans Al-Mansur errichtet worden seyn soll; und daß dieses Exemplar vielleicht das nehmliche gewesen, aus welchem mein Ungenannter seine Übersetzung verfertiget habe. Wenn ich ein Liebhaber von Dissertazionen über Dinge, die man nicht wissen kann, wäre, sollt' es mir eben nicht schwer fallen, mir selbst eine Menge Einwürfe gegen diese Hypothese zu machen. Der beträchtlichste würde indessen doch immer derjenige seyn, der von dem Karakter, welchen Diogenes in diesen Dialogen und übrigen Aufsätzen behauptet, hergenommen werden kann.
Es ist nehmlich der gewöhnlich Begriff, den man sich, den Nachrichten des Diogenes Laertius und dem Athenäus zu Folge, von unserm Diogenes von Sinope zu machen pflegt, von demjenigen, den wir aus diesem Werke von ihm bekommen, nicht weniger verschieden, als die Komödie von dem Possenspiel, der ironische Sokrates von dem zügellosen Aristofanes, der Harlekin des Marivaux von dem Hanswurst des alten Wiener Theaters, und ein launiger, aber feiner und wohl gesitteter Spötter der menschlichen Thorheiten von einem schmutzigen und ungeschliffenen Misanthropen unterschieden ist. Wenn dem unkritischen Kompilator der Lebensbeschreibungen der Filosofen, und dem waschhaften Grammatiker, der in seinem GelehrtenGastmahle den alten Weisen so viele ungereimte Geschichtchen anheftet, zu glauben wäre, so müßte Diogenes der Cyniker der verachtenswürdigste, tolleste, unfläthigste und unerträglichste Kerl gewesen seyn, der jemahls die menschliche Gestalt verunziert hätte; und es wäre solchen Falls nichts unbegreiflicher, als wie eben dieser hündische Mensch so vernünftige Dinge, als die Alten von ihm melden, hätte sagen und thun können, und woher die Hochachtung gekommen seyn sollte, welche selbst die Weisesten unter ihnen für ihn geheget habe. Aber zum Glücke für sein Andenken verdienen die vorbemeldeten Schriftsteller, welche uns ein so häßliches Bild von diesem Schüler und Nachfolger des Sokratischen Antisthenes machen, nicht Glauben genug, um die Gründe zu entkräften, womit die bessere Meinung unterstützt ist, welche einige neuere Gelehrte von ihm gefaßt haben. Wer diese Sache umständlich erörtert lesen will, kann seine Wissensbegierde in demjenigen, was Heumann und Brucker hierüber geschrieben haben, befriedigen. Uns genüget hier dem schwachen Ansehen jener beiden alten Griechen (deren anderweitiger Werth uns sonst ganz wohl bekannt ist) das ungleich größere Gewicht zweyer weiser Männer des
Griechischen Alterthums entgegen zu setzen, welche uns einen ganz andern Begriff von unserm Diogenes geben. Der eine ist Arrian, ein Mann, den seine persönlichen Verdienste unter dem Kaiser Hadrian zur Statthalterschaft von Kappadocien beförderten, und der, was noch mehr als dieß ist, ein Schüler und Freund des weisen Epiktet, und in der That der Xenofon dieses zweyten Sokrates war. Ich schreibe nicht gern ab: Leser, welche die Quellen selbst besuchen können, mögen das zwey und zwanzigste und vier und zwanzigste Kapitel des dritten Buches seines Epiktet nachlesen, um zu sehen, was für ein großes und sogar liebenswürdiges Bild er von unserm Filosofen macht. Sie werden finden, daß er in dem ersten der angezogenen Kapitel - worin er von dem ächten Cynismus handelt, und denselben gegen die Vorwürfe, welche von den Sitten einiger AfterCyniker hergenommen zu werden pflegen, ausführlich rechtfertigt - an verschiedenen Stellen deutlich zu erkennen giebt, daß Diogenes ein solcher Mann gewesen sey, wie der den wahren Cyniker schildert; - und daß er in andern, wo er sich über den eigenen Karakter des Diogenes umständlicher ausbreitet, ihm eben diese Liebe zur Unabhängigkeit, eben diese Freymüthigkeit und Stärke der Seele, eben diese Güte des Herzens, eben diese Gesinnungen eines Menschenfreundes und Weltbürgers zuschreibt,2 durch welche er sich in seinem gegenwärtigen Nachlaß, bey aller seiner Singularität und Launenhaftigkeit, unsrer Zuneigung bemächtigt. Und gesetzt auch, wie wir gern gestehen, daß ihn Arrian nur von der schönen Seite gemahlt hätte: so bleibt doch immer so viel gewiß, daß er in dem wirklichen historischen Karakter des Diogenes den Grund dazu gefunden haben mußte; denn man wählt keinen Thersites zum Urbilde, wenn man einen schönen Mann mahlen will. Die zweyte Autorität, welche ich den Verleumdern unsers Weisen entgegen stelle, ist der Filosof Demonax, dessen Karakter uns Lucian Αγε, Διογενης δ' ουκ εϕιλει ουδενα; ος ουτως ηµερος ην και ϕιλανϑρωπος, etc. δια τουτο πασα γη πατρις ην εκεινω µονω, εξαιρετος δ' ουδεµια, etc. Arrian. L. III. c. 24. p. m. 382 2
(ein sehr glaubwürdiger Mann, wenn er Gutes von jemand sagt, denn das begegnet ihm selten genug) in einer eignen Abhandlung mit Xenofontischem Geist und Plutarchischer Naivität geschildert hat. Wenn dieser weise Mann gleich kein Sektenstifter noch ein großer Verehrer metafysischer Spekulazionen war, so wird doch niemand, der gelesen hat was uns Lucian von ihm erzählt, in Abrede seyn, daß er das günstige Urtheil verdiene, das dieser scharfe und mißtrauische Beurtheiler des moralischen Werths der menschlichen Dinge von ihm fällt. Ist aber das Ansehen dieses Demonax festgesetzt, so muß auch sein Urtheil von Diogenes Gewicht genug haben, alle die elenden Mährchen und Gassenanekdoten zu überwiegen, auf welche die abschätzige Meinung, die man gemeiniglich von ihm hegt, gegründet ist. Lucian führet etliche Züge an, welche die ungemeine Hochachtung des Demonax für den Diogenes beweisen. Wir begnügen uns zwey davon abzuschreiben. Die Rede war einst von den alten Filosofen, und welcher unter ihnen am meisten Hochachtung verdiene. Ich meines Orts, sagte Demonax, ich verehre den Sokrates, bewundere den Diogenes, und liebe den Aristippus. Und da man ihm zu Olympia eine Bildsäule aufrichten lassen wollte, lehnte er diese Ehre aus dem Grunde ab: »Damit es ihren Vorfahren nicht zur Schande gereiche, weder dem Sokrates noch dem Diogenes Bildsäulen gesetzt zu haben.« Wenn gegen solche Zeugnisse noch immer der Einwurf übrig bleibt: man könne doch, ohne die ganze Autorität des Alterthums wider sich zu haben, nicht läugnen, daß Diogenes überhaupt unter seinen Zeitgenossen in schlechtem Ansehen gestanden und vielmehr für einen närrischen Sonderling als für einen weisen Mann gehalten worden sey; so können wir dies zugeben, ohne daß er das geringste von der Achtung verlieren soll, die uns das günstige Urtheil der kleinen Zahl für ihn gegeben hat. Was für einen Begriff müßten wir uns von Sokrates selbst machen, wenn wir ihn nach demjenigen, den Aristofanes in seinen Wolken auf die Schaubühne brachte, oder nach der Anklage des Anytus
und nach dem Endurtheil seiner Richter beurtheilen wollten. Man müßte wenig Kenntniß der Welt haben, wenn man nicht wüßte, daß etliche wenige Züge von Sonderbarkeit und Abweichung von den gewöhnlichen Formen des sittlichen Betragens hinlänglich sind, den vortrefflichsten Mann in ein falsches Licht zu stellen. Wir haben an dem berühmten Hans Jakob Rousseau in Genf (einem Manne, der vielleicht im Grunde nicht halb so sonderbar ist als er scheint) ein Beyspiel, welches diesen Satz ungemein erläutert. Und in den vorliegenden Aufsätzen werden wir den Diogenes selbst über diesen Gegenstand an mehr als Einem Orte so gut räsonnieren hören, daß schwerlich jemanden, der sich nicht zum Gesetz gemacht hat nur seine eigene Meinung gelten zu lassen, ein unaufgelöster Zweifel übrig bleiben wird. Bey allem dem gestehe ich doch gern, daß der Diogenes, der in diesen Aufsätzen spricht, mir selbst ein ziemlich idealischer Diogenes zu seyn scheint: es sey nun, daß ihn der Lateinische Übersetzer wirklich aus dem Arabischen, und der Arabische aus einem Griechischen Original gedolmetscht habe, oder daß einer von den vorgeblichen Übersetzern selbst der Urheber dieses Werkchens sey. Die Verschönerung einiger Züge fällt in die Augen; und, um alle mögliche Aufrichtigkeit gegen den Leser zu gebrauchen, kann und soll ich ihm nicht verhalten, daß auch ich, eben so wohl als die beiden Übersetzer, meine Vorgänger, vielleicht eben so viel aus Nothwendigkeit als aus Vorsatz, mehr Antheil daran habe, wenn dieses kleine Werk der Urschrift ziemlich unähnlich seyn sollte, als mit der Treue bestehen kann, die man ordentlicher Weise von einem Dolmetscher fordert. Ohne Umschweife, ich besorge, sie habe beynahe das nehmliche Schicksal gehabt, welches die Geschichte des Schaumlöffels, nach der Erzählung seines Französischen Herausgebers, betroffen haben soll. Es ist mehr als zu wahrscheinlich, daß der erste Arabische Übersetzer, gesetzt auch, daß er alle mögliche Geschicklichkeit gehabt habe, doch in der unendlichen Verschiedenheit seiner Sprache von der Griechischen eine unüber
windliche Schwierigkeit gefunden, ein Werk von dieser sonderbaren Art gut zu übersetzen. Es wird also vermuthlich von ihm geheißen haben: Ex Graecis bonis fecit Arabicas non bonas. Ich denke, es sey dem Lateinischen Dolmetscher nicht besser gegangen. Die Wahrheit zu sagen, seiner Schreibart nach muß er ein armer Stümper gewesen seyn; ungeachtet er, als ein Magister noster auf einer neu angehenden Universität (wie Salamanka damahls war) in der Vorrede die Backen ziemlich aufzublasen scheint. Er scheint, nach Art unsrer meisten neuern Übersetzer, weder die Sprache, aus welcher, noch die, in welche er übersetzt hat, am allerwenigsten aber den Geist seiner Urkunde recht verstanden zu haben. Man merkt an unzähligen Orten, daß da vermuthlich ein feiner Gedanke, oder eine glückliche Wendung, oder irgend eine andere seines gleichen unsichtbare Schönheit unter seinen plumpen Händen verloren gegangen seyn müsse; an vielen Stellen ist er sogar gänzlich unverständlich, ohne sich das mindeste darum zu bekümmern, was seine Leser dazu sagen würden. Vermuthlich hat er sich nicht vorgestellt, daß er Leser haben würde, oder (wie ein ehmaliger Französischer Übersetzer der Musarion) nur für sich und seine guten Freunde, und nicht für das Publikum - schlecht übersetzt. Dem sey wie ihm wolle, so viel ist gewiß, daß ich der Welt das elendeste Geschenk, das sich denken läßt, gemacht haben würde, wenn ich mich durch die Ehre, der Herausgeber einer alten Lateinischen Handschrift zu seyn, hätte verleiten lassen, die seinige, so wie sie war, abdrucken zu lassen. Ich gab mir also, weil doch dieser Diogenes so viel zu verdienen schien, lieber die Mühe, ihn ganz umzuschmelzen, und, nach meinem besten Können und Wissen, so Deutsch reden zu lassen, wie ich mir einbildete, daß ihn wenigstens ein erträglicher Griechischer Sofist aus Alcifrons Zeiten möchte haben Griechisch reden lassen.
Zusatz.
Dieses kleine Werk erschien im Jahre 1770 zum ersten Mahle unter dem Titel Dialogen des Diogenes. Man hat das Wort Dialogen hauptsächlich deßwegen unschicklich gefunden, weil die eigentlichen Gespräche nur den wenigsten Theil des Ganzen ausmachen; als welches meistens aus zufälligen Träumereyen, Selbstgesprächen, Anekdoten, dialogisierten Erzählungen und Aufsätzen, worin Diogenes bloß aus Manier oder Laune abwesende oder eingebildete Personen apostrofiert, zusammen gesetzt ist. Der Herausgeber, der jenem Tadel nichts erhebliches entgegen zu setzen hatte, fand also für gut, bey gegenwärtiger Ausgabe von der letzten Hand den Titel der alten Lateinischen Handschrift, Diogenis Sinopensis Reliqua beyzubehalten; ein Titel, wozu dieses Werkchen ein desto größeres Recht hat, weil in der That (da die unächten Briefe, die dem Diogenes angedichtet worden sind, nicht in Betrachtung kommen) außer demselben sonst nichts von diesem berühmten Cyniker übrig ist. Der ehmahlige Griechische Titel Σωκρατης µαινοµενος (Socrates delirans, ein aberwitzig gewordener Sokrates) ist aus dem zweyfachen Grunde weggeblieben, erstlich weil er Griechisch ist, und dann weil dieser halb ehrenvolle halb spöttische Spitznahme, welchen Plato dem Diogenes gegeben haben soll, auf den Diogenes, der sich uns in diesen Blättern darstellt, ganz und gar nicht zu passen scheint. Dieser ist zwar ein Sonderling, aber ein so gutherziger, frohsinniger und (mit Erlaubniß zu sagen) so vernünftiger Sonderling als es jemahls einen gegeben haben mag; und gewiß, wer nicht Alexander ist, könnte sich schwerlich etwas besseres zu seyn wünschen als ein solcher Diogenes.
1.
Wie ich auf den Einfall komme, meine Begebenheiten, meine Beobachtungen, meine Empfindungen, meine Meinungen, meine Träumereyen, - meine Thorheiten, - eure Thorheiten, und - die Weisheit, die ich vielleicht aus beiden gelernt habe, zu Papier zu bringen, das sollte gleich das erste seyn, was ich euch sagen wollte, wenn ich nur erst Papier hätte, worauf ich schreiben könnte. - Doch Papier könnten wir leicht entbehren, wenn wir nur Wachstafeln oder Baumrinden, oder Häute, oder Palmblätter hätten! - und in Ermanglung deren möcht' es weißes Blech, Marmor, Elfenbein, oder gar Backsteine thun; denn auf alle diese Dinge pflegte man ehmahls zu schreiben, als es noch mehr darum zu thun war dauerhaft als viel zu schreiben. - Aber unglücklicher Weise hab' ich von allen diesen Schreibmaterialien nichts; und wenn ich sie auch hätte, so würd' ich sie nicht gebrauchen können, weil ich weder Feder noch Griffel, noch irgend ein andres Werkzeug dazu habe, als dieses Stückchen Kreide. Es ist ein schlimmer Handel! - Aber wie macht' ichs, wenn gar nichts von allen diesen Dingen in der Welt wäre? Nicht schreiben wäre wohl das kürzeste Mittel; aber schreiben will ich nun, das ist beschlossen! In den Sand schreiben? - Es ginge an; ich kenne zwey bis drey hundert junge und alte Schriftsteller, (nichts von einigen Tausenden zusagen, die ich nicht kenne) denen ich, weil sie doch nun einmahl schreiben wollen - oder schreiben müssen, - diese Methode bestens empfohlen haben wollte. Allein sie hat bey allem dem ihre Unbequemlichkeiten. Dummkopf! daß ich mich nur einen Augenblick besinne, eh' ich sehe, daß meine Tonne geräumig genug ist, eine ganze Iliade zu fassen, in so fern ich klein genug schreiben könnte. An meine Tonne will ich
schreiben! - Ihre Seitenwände sind ohnehin so nackt, ohne Schnitzwerk, ohne Vergoldung, ohne Tapeten, ohne Mahlereyen; - in der That gar zu kahl. - Bin ich nicht so gut als der Wurm, aus dessen gesponnenem Schleime man diese Gewebe macht, womit unsre neuen Argonauten ihre Sähle behängen?3 - Der Wurm spinnt sich sein Haus selbst; ich beneide ihn darum; das ist mehr als ich kann. Aber ich kann doch mein Haus mit meinen eignen Hirngespinsten tapezieren, und das will ich, wenigstens so lange dieses Stückchen Kreide dauert. In der That, es sollte mich verdrießen, wenn unter allen zwey beinigen Thieren ohne Federn auf diesem Erdenrund, oder Erdeney, oder Erdenteller - was es ist, mögen die Herren ausmachen, die sonst nichts zu thun haben, und nicht müßig seyn können - ein einziges wäre, das weniger Bedürfnisse hätte als ich. Es ist eine vortreffliche Sache, keine Bedürfnisse zu haben; oder, wenn man nun einmahl nicht umhin kann einige zu haben, doch wenigstens nicht mehr zu haben, als man schlechterdings haben muß, und sich so wenig damit zu thun zu machen, als nur immer möglich ist. Anfangs, in so fern ihr nicht dazu geboren seyd, kostets einige Mühe. Aber wie viel Mühe macht sich der Thor, der sich in den Kopf gesetzt hat reich zu sterben? Wie viel Mühe giebt sich der Thor Fädrias, sein Mädchen erst zu gewinnen, hernach zu befriedigen, dann zu hüten? Wie viel kostets einem andern Thoren, um aus einem Gerber oder Gewürzhändler ein Vater des Vaterlandes zu werden? Oder einem andern, sich in die Gunst eines Satrapen einzuschmeicheln? - Die doppelten Narren! Mit der Hälfte der Mühe, die sie anwenden, sich tausend wirkliche und eingebildete Plagen zu den natürlichen, denen sie ohnehin nicht entgehen können, zu erkaufen, könnten sie sich auf ihr
3
Wir können es keinem Kenner der Griechischen Sitten und Gebräuche in den Zeiten des Diogenes verdenken, wenn er an der Ächtheit dieser Stelle zweifelt. Freylich ist es nicht die einzige in diesem Werke, die zu einem solchen Zweifel Anlaß giebt - Aber desto schlimmer! werden die Kenner sagen.
ganzes Leben in den Besitz einer Glückseligkeit setzen, die so nahe als möglich an die göttliche reicht. Denn daß die seligen Götter es darum seyen, weil sie nichts zu thun haben als sich ewig mit Ambrosia zu füllen, ewig in Nektar zu berauschen, und den Weihrauch in die Nase zu ziehen, den wir ihnen zu Ehren verbrennen, - das glauben ihre Priester - wie ich. Sie sind selig, weil sie nichts bedürfen, nichts fürchten, nichts hoffen, nichts wünschen, alles in sich selbst finden;- und so bin ichs auch, so viel es ein armer Schelm von einem Erdensohne seyn kann, der Brot oder Wurzeln haben muß, um zu leben, einen Mantel, um nicht zu frieren, eine Hütte oder wenigstens ein Faß, um sich ins Trockne legen zu können, und - ein Weibchen seiner Gattung, wenn er Menschen pflanzen will. Bey allem dem bin ich zufrieden, es so weit gebracht zu haben, daß ich gegen Hunger und Durst nur Wurzeln, gegen die Blöße nur einen Mantel von Sackleinewand, gegen Wind und Wetter nur mein Faß nöthig habe. Was den vierten Artikel betrifft, davon hören eure ernsthaften Leute nicht gern sprechen, und ein weiser Mann denkt so wenig daran als er kann; - und muß er daran denken, nun, so hat unsere gute Mutter Natur auch dafür Rath geschafft; wie ich euch mit einem hübschen Beyspielchen beweisen könnte, wenn ich nicht besorgte, ihr möchtet eifersüchtig werden.
2.
Wenn sich jemand in den Kopf setzen wollte, andern Leuten zu Gefallen weise zu werden, - als, zum Beyspiele, sein Glück dadurch zu machen, oder sich bey der Welt in Achtung zu setzen, oder sich ihrem Tadel zu entziehen, - so wollte ich ihm unmaßgeblich gerathen haben,
sich hinzusetzen und es bleiben zu lassen. Denn ich will meine Tasche und meinen Stecken, das ist, mein ganzes Vermögen, gegen eine Puffbohne (in so fern ihr keine Pythagoräer seyd) setzen, daß ihr eure Mühe dabey auf die eine oder die andre Art verlieren würdet. Entweder werdet ihr euch die Hochachtung der Welt erwerben; und dann müßte mich alles betrügen, oder ihr werdet diese Ehre euerm Gelde, oder euerm Stande, oder euerm Amte, oder eurer Frau, oder eurer Schwester, oder eurer guten Miene, oder eurer Kunst zu singen, zu tanzen, die Flöte zu spielen, durch einen Reif zu springen, Hirsenkörner durch einen Fingerring zu werfen, kurz, eher allem andern in der Welt als eurer Weisheit zu danken haben: - oder gelangt ihr, durch des Himmels Gunst, wirklich zu Weisheit; so wird sichs die Welt nicht ausreden lassen, euch für eine Art von Narren zu halten; welchen Falls ihr wohl thun werdet, es (wofern ihr könnet) wie Diogenes zu machen nehmlich, gerade weil Diogenes weise ist, so ist Diogenes kein Narr und bekümmert sich darum. Denn, meine guten Freunde, wenn er euern Beyfall suchte, er, der euch keine Gnade auszutheilen, keine Gastmähler zu geben, keine Persischen Weine und keine schöne Frau vorzusetzen hat, - so müßte er eure Handmühlen drehen, oder in euern Bergwerken graben, oder eure Nymfen ins Gehäge treiben, oder eure Verdauung durch seine Schwänke befördern; und, mit eurer Erlaubniß, von allem diesem und was dem ähnlich ist, findet er für gut sich selbst zu dispensiren, weil er das Mittel ausgefunden hat eures Beyfalls entbehren zu können. Mit den guten Freundinnen hat es schon eine andere Beschaffenheit. Auch ohne eben schön oder reich oder von Stande oder in Purpur und Byssus gekleidet zu seyn, oder nach Lavendel zu riechen, oder einen frisierten Kopf, oder überhaupt einen Kopf (in so fern Witz darein gehört) oder irgend ein Talent zu haben, das ein Frauenzimmer auch haben kann, giebt es - Dank sey eurer Gutherzigkeit, ihr
angenehmen Geschöpfe! - ein unfehlbares Mittel euern Beyfall zu verdienen, und - kurz, wir verstehen einander, denke ich: und wenn jemahls meine Feinde ihre Bosheit so weit treiben sollten, mir durch gewisse Verleumdungen eure gute Meinung entziehen zu wollen; so hoffe ich, es werden immer noch einige unter euch edelmüthig genug seyn, mich in ihren Schutz zu nehmen, und ihren Schwestern in die Ohren zu lispeln, daß Diogenes - nicht ohne alle Verdienste sey.
3.
Übrigens, und was die Weisheit betrifft, meine Herren von Korinth, Athen, Sparta, Theben, Megara, Sicyon, u.s.w. - und ihr, welche ich Ehren halben zuerst hätte nennen sollen, meine werthen Mitbürger von Sinope, - so erlaubet mir euch zu sagen, daß ich die Ehre, von einem Stamme mit euch allen zu seyn, viel zu stark empfinde, um an mehr Weisheit Anspruch zu machen, als so viel ich zu meinem eignen nothdürftigen Gebrauche nicht entbehren kann. Sollte davon auch etwas zu euern Diensten seyn können, so gestehe ich offenherzig, daß ich es lediglich den Beobachtungen zu danken habe, zu denen ihr mir Gelegenheit gabt, wenn ich euch handeln sah. Ich bemerkte gemeiniglich in der Folge, was ich euch, ohne ein Ödip zu seyn, hätte vorher sagen können: »daß es euch hinten nach gereuete so gehandelt zu haben;« - und daraus schloß ich schlechtweg: »ihr würdet besser gethan haben, es anders zu machen.« Ich habe mir daraus einige Anmerkungen gesammelt, wovon ich euch gelegenheitlich so viel zukommen lassen werde, als ich glaube daß ihr auf Einmahl tragen könnet. Inzwischen aber, und um auf die Veranlassung zu dieser ganzen Betrachtung zurück zu gehen, kann ich nicht umhin, den Einfältigen zu Besten zu erinnern: daß - seitdem es meinem Freunde Platon gefallen
hat, mir die Ehre zu erweisen, mich den rasenden Sokrates zu nennen einige Halbköpfe in den Vorstädten von Korinth, und vielleicht auch in der Stadt selbst, sich eine ordentliche Angelegenheit daraus zu machen scheinen, eine Menge Narrheiten von ihrem eigenen Gewächs auf meine Rechnung zu setzen, und denjenigen, wozu ich mich wirklich bekenne, eine Gestalt zu geben, worin ich sie nicht für mein erkennen kann. Es sollte mir leid thun, wenn das, was ich davon sagen werde, ihnen unangenehm seyn könnte. Denn ich merke wohl, daß sie bey dieser kleinen Kurzweil eine große Absicht haben. Sie können in ernsthafter Beurtheilung der Narrheiten, die sie mir andichten, ihre Vernunft, oder in Verspottung derselben, ihren Witz desto bequemer sehen lassen. Sie genießen dabey des Vortheils, den derjenige hat, der sich den Gegner, den er überwinden will, selbst macht: er kann ihn gerade so schwach und ungeschickt machen, als er ihn nöthig hat, um den Sieg davon zu tragen. Da es nun unfreundlich wäre, sie in dieser kleinen Ergetzlichkeit beunruhigen zu wollen; so soll alles, was ich bis zu Num. 4 sagen werde, ohne einigen Nachtheil ihrer dießfälligen Zuständigkeiten, und bloß zum Besten derjenigen gesagt seyn, welche mich gern kennen möchten, und die Gelegenheit nicht haben deßwegen nach Korinth zu reisen. Ich gestehe also, daß ich vor vielen Jahren ausdrücklich darauf studiert habe, »wie ich mich so unabhängig machen könnte als möglich wäre.« Ich fand, »daß dieß unter gewissen Bedingungen ganz wohl angehe,« und, »daß diese Bedingungen in meiner Gewalt lägen.« Ich bedachte mich also nicht lange. Meine Theorie war nicht so bald gefunden, als und that, was die wenigsten von euern Sittenlehrern thun. Ich fing an sie in Ausübung zu bringen, und kam darin, ohne Ruhm zu melden, binnen zwanzig Jahren so weit, daß ich, wie ihr sehet, sehr bequem in einer Tonne wohne, von Bohnen und Wurzeln Mahlzeit halte,
und meinen Nektar dazu, in Ermanglung eines Bechers, mit der hohlen Hand aus dem nächsten Brunnen schöpfe. Dafür aber genieße ich auch die Vortheile der Unabhängigkeit. Ich habe nicht nöthig euch zu betrügen, und bin sicher, daß ihr mich eben so wenig betrügen werdet. Ich erwarte nichts von euch, ich fordre nichts von euch, ich besorge nichts von euch. - Denn was für ein armer Teufel müßte der seyn, der mir meinen Stecken und meine Tasche voll Bohnen und Brotkrumen stehlen wollte! Sollte sich, wider Vermuthen, jemand hervorthun, der arm genug wäre in eine solche Versuchung zu fallen, so bin ich bereit, ihm beides gutwillig abzutreten. Ich werde im nächsten Walde wieder einen Stecken finden, und mir aus einem Zipfel meines Mantels eine andre Tasche machen, so ist der Abgang ersetzt. - Kurz, ich sehe nicht, warum wir nicht die besten Freunde seyn sollten. Wornach ihr immer streben möget, findet ihr den Diogenes nie in euerm Wege. Bewerbt euch, wenn ihr wollt, - rathen werde ich euch nie dazu - um eine Archontenstelle, um eine Priesterstelle, um eine Feldherrnstelle, um eine Stelle in dem Bette einer schönen Frau, oder einer reichen Matrone, oder einer Dame, die euch für eine Hand voll Drachmen thut, was Platons Penia dem schlafenden Plutus, - bewerbt euch um die Gunst eines Satrapen, oder eines Königs, oder einer Königin, oder um eine Krone selbst, oder gar um einen Platz unter den Göttern - (ihr wißt daß auch der zu kaufen ist) - kurz, bewerbt euch worum ihr wollt, Diogenes wird niemahls euer Nebenbuhler seyn. Diogenes ist der unschädlichste, unbedeutendste Mensch von der Welt, - ausgenommen, daß er euch bey Gelegenheit die Wahrheit sagt; und wenn er auch gleich dadurch nichts zu euerm Vergnügen beyträgt, so dächte ich doch, er verdiente immer, daß ihr ihm Luft und Sonnenschein unentgeldlich angedeihen ließet, und erlaubtet, sich unter einen Baum hinzulegen, den vielleicht sein Großvater gepflanzt hat. Sagte ich euch nicht vorhin, daß Diogenes, des Iketas Sohn von Sinope, - dessen Narrheiten ich übrigens nicht besser zu machen begehre
als sie sind - nicht ganz so närrisch sey, als die Herren und Damen im Kraneon aus einigen Zügen seiner Denkungsart zu folgern belieben? »Der Mensch affektiert ein Sonderling zu seyn,« sprechen sie: und Sie, meine Herren und Frauen, affektieren ehrlich und tugendhaft zu seyn. »Er hat seinen hölzernen Becher weggeworfen, da er einen Bettler sah, der aus der hohlen Hand trank.« - Dieser Zug ist, mir Ihrer Erlaubnis, ein wenig verzeichnet. Der Becher mußte weggeworfen werden, weil er ein Leck bekommen hatte; und da man nicht gleich einen andern fand, so sah man zu gutem Glück einen ehrliche Sohn der Erde, von dem man ohne Becher zu trinken lernte. Ein weiser Mann findet immer Gelegenheit etwas zu lernen; und ich versichre Ihnen, Madam, daß ich von Ihrem Schooßhündchen die ganze Filosofie des Aristipp gelernt habe. Aber, gesetzt ich hätte den Becher weggeworfen, weil ich ihn entbehren konnte? - Kleon, der jetzt aus einem goldnen Becher trinkt, weil er den unschuldigen Nikias verurtheilen half, würde noch ein ehrlicher Mann seyn, wenn er aus der hohlen Hand trinken könnte wie ich. »Diogenes ist ein Misogyn.« - Ha, ha, ha »Er nimmt sich heraus, allen Leuten zu sagen, was sie nicht gern hören.« - Ist es meine Schuld, wenn sie die Wahrheit nicht hören mögen? »Er wohnt in einem Fasse.« - Es ist, wie Sie sehen, eine Tonne, und für einen Mann ohne Familie, der nichts zu thun hat, geräumig genug. Gesetzt nun, daß ich eine Probe hätte machen wollen, daß im Nothfall auch die engste Wohnung für einen ehrlichen Mann groß genug ist? - Ich weiß es, guter Xeniades, daß, wenn mich jemahls Alter oder Krankheit einer bequemern Wohnung bedürftig machen sollte, Diogenes
unter deinem freundschaftlichen gastfreyen Dache sein Kämmerlein bereitet finden wird. Jetzt, da ich es noch nicht bedarf, sey, in diesen heitern Sommertagen, der grüne Rasen mein Faulbettchen, mit weichem Gras und Blumen gepolstert, und eine Cypresse breite gesunde Schatten um mich her! Da sauge ich den erfrischenden Athem der Natur ein; der umwölbende Himmel ist meine Decke; und indem ich so liege, und mein Blick seine endlosen Tiefen durchschweift, ist mein Gemüth offen, still und unbewölkt wie er. »Aber, was für eine Grille, sagen sie, die Wände eurer Tonne zu einer Schreibtafel zu machen?« - Gut! Es soll eine Grille seyn: haben Sie etwa keine Grillen? Oder sind meine Grillen nicht eben so gut weil die die meinigen, als Ihre Grillen weil sie die Ihrigen sind? Indessen sehen Sie hier diese Schreibtafel? Es ist eine hübsche Schreibtafel von Elfenbein, in vergoldetes Leder gebunden, deren ich mich, aus Mangel einer schlechtern, künftig vielleicht bedienen werde. So eigensinnig bin ich nicht, die Bequemlichkeit zu fliehen, wenn sie mich sucht, und ich ihr nichts bessers aufopfern muß. Der gute Xeniades, dem sie zugehört, glaubt, daß sie desto besser seyn werde, wenn ich sie ihm beschrieben zurück gebe. - Du sollst deinen Willen haben, guter Xeniades.
5.
Sie lag, ein wenig zurück gebogen, auf einem kleinen Throne von Polstern, und spielte, wie ich sagte, mit ihrem Schooßhündchen. Gegenüber saß ein junger Mensch, von dem die Natur viel versprach, - und der beym Xenokrates gehört hatte, man müsse die Augen zuschließen, wenn man sich nicht stark genug fühlte, einer schönen Versuchung mit offnen Augen Trotz zu biegen.
Der junge Mensch hatte den Muth nicht, die seinigen ganz zu schließen; aber er sah auf den Boden, - und da fiel ihm (zum Unglück) ein kleiner Fuß in die Augen, wie man sich den Fuß einer aus dem Bade steigenden Grazie einbilden kann, jedoch nur wenig über die Knöchel aufgedeckt. Es war Nichts für - euch oder mich; aber es war sehr viel für den jungen Menschen. Schüchtern und verwirrt zog er die Augen zurück, sah die Dame an, dann ihren Schooßhund, dann wieder den Fußteppich; aber der schöne kleine Fuß hatte sich inzwischen unsichtbar gemacht. Er bedauerte es. Er sprach, mit stotternder Stimme, von allem andern - als was er fühlte. Die Dame streichelte ihren Schooßhund. Das Hündchen liebkosete ihr hinwieder, zerrte mit seiner kleinen Pfote an ihrem Halstuche, sah sie dann mit schalkhaftem - Lächeln, hätte ich gesagt, wenn Hunde lächeln könnten - an, zerrte wieder an ihrem Tuche, und entfesselte unter diesem Spiele - (die Dame betrachtete eben eine Leda von Parrhasius, die etwas rechter Hand gegen über hing) - die Hälfte eines sehr weißen und sehr reitzend gegründeten Busens. Der junge Mensch blinzelte, erröthete bis an die Ohrenläppchen, und schnappte nach Luft. Das Hündchen stand mit den Hinterpfoten auf ihrem Schooße, schmiegte sein rechtes Vorderpfötchen an dem schönen Busen an, und sah mit halb offnem Munde - dem Ausdruck des Verlangens - zu ihren Augen auf. Sie küßte das Hündchen, nannt' es ihren kleinen Schmeichler, und steckte ihm den Mund voll Honigplätzchen. Der junge Mensch hatte keine Kraft mehr auf den Boden zu sehen, und - Ich schlich mich fort.
Unterwegs sah ich Aristippen, mit Rosen bekränzt und ganz Arabien um sich her düftend, von einem Gastmahl des reichen Klinias wohl bezecht zurückkehren. Er schwamm in einem weiten seidnen Gewande, schimmerte um und um von der Beute, die er vor einiger Zeit von Dionysen zu Syrakus gemacht hatte: ein kleiner Hof von muntern Jünglingen schwärmte um ihr her, und, wie Bacchus unter Faunen uns Satyrn, ging er in ihrer Mitte und lehrte sie - seine Weisheit. Beym Anubis, dem Schutzgott aller Schooßhündchen! ich will meinen Stecken und meine Tasche verloren haben, wenn Aristipp seine Weisheit nicht von Danaens Schooßhunde gelernt hat! Schmeichelt der Eitelkeit der Reichen und Großen, liebkoset ihren Leidenschaften, oder befördert ihre geheimen Wünsche, ohne zu thun als ob ihr sie merket; - so werden sie euch den Mund mit Honigplätzchen füllen: das ist das ganze Geheimniß. »Nichts mehr als das?« - Kein Jota!
6.
Glaubet mir, Klinias, Chärea, Demarchus, Sardanapalus, Midas, Krösus, und wie ihr alle heißet, - es ist nicht aus Neid - oder aus Verzweiflung daß ich euch niemahls werde gleichen können, oder aus Stolz, der sich durch Verachtung dessen, was er nicht haben kann, leichter zu machen sucht; - ich habe mich genau darüber geprüft - es geschieht aus einer innern Überzeugung, welche sich nichts von mir einreden läßt, daß ich meinen Freunden unmöglich rathen kann, sich um eine Glückseligkeit, wie die eurige, zu bewerben. Eure Paläste sind geräumig, schön gebaut, mit den auserlesensten Werken der Kunst geschmückt, mit den wollüstigen Geräthschaften der Üppigkeit angefüllt; - eure Gärten gleichen den Gärten des Alcinous und
der Hesperiden; - eure Sähle dem Sahl, wo Homers unsterbliche Götter sich in Nektar selig trinken; - eure Knaben sind schön wie Ganymed, eure Sklavinnen wie die Gespielinnen der Liebesgöttin; - euer Leben ist ein immer währendes Gastmahl, mit Musik, Tänzen und Spielen abgesetzt; - euch ist keine Schöne spröde, keine Danae unzugangbar; Riegel, Mauern, hütende Drachen, nichts hält euch auf; euer Gold überwindet alles. Ein Sofist würde vielleicht viel gegen alle diese Vortheile einzuwenden haben - aber von mir habt ihr keine Schikane zu besorgen. Ich bin kein Verächter des Schönen, kein Feind des Vergnügens, wie mich die Sträußermädchen im Kraneon beschuldigen. Ich hasse schwache Gründe. »Die Wollust entnervt,« sagt Xenokrates: - die Tugend auch, sag' ich; denn sonst würde Fryne nicht so mißvergnügt von dir aufgestanden seyn. - War Alcibiades nicht tapfer? Konnt' er nicht, wenn es seyn mußte, eben so gut auf hartem Boden unter freyem Himmel schlafen, als im Schooße der schönen Nemea? Ließ er sich nicht die schwarze Suppe der Spartaner eben so gut schmecken als die niedlichen Gerichte des üppigen Tissafernes? - Keine Einwürfe, ich bitte euch, die nur von Einer Seite wahr sind, und die man mit tausend Beyspielen widerlegen kann! - Gestehen wir die reine Wahrheit! Guter Wein aus Cypern schmeckt, in so fern ihr nicht durstig seyd, besser als Brunnenwasser, die strengen Sittenlehrer mögen einwenden was sie wollen; und eure Tänzerinnen aus Ionien, oder eure Mädchen von Skio sind, mit allem dem, ganz artige Geschöpfe. Eure Gallerie mit den Gemählden der Zeuxis und Polygnotus, der Parrhasius und Apellen behangen, bezaubert ungelehrte Augen, und befriedigt den verweilenden Kenner. - Solltet ihr denn nicht glücklich seyn? Sollten wir nicht alle nach euerm Zustande streben? Der Genuß alles Schönen und Angenehmen sollte nicht glücklich machen? Ich habe nur einen einzigen Zweifel, - es ist, däucht mich, mehr als ein Zweifel - aber ich besorge euch verdrießlich zu machen, wenn ich
ihn sage. Er würde zu Erörterungen führen, und mein Zweck ist verfehlt, so bald ich euch lange Weile mache. - Ihr habt zu thun wie ich sehe? - Einen Besuch bey der schönen Filänion abzulegen, oder bey der jungen Gemahlin des Strepsiades? - Ich will euch nicht aufhalten; ich lege mich indessen in den Schatten hin, und träume was, bis ihr wiederkommt.
7.
Diesen Augenblick ertappe ich mich bey einer häßlichen Unart. - O Sohn des Iketas, wie weit bist du noch entfernt so weise zu seyn, als du närrisch aussiehest - Ungeduldig darüber zu werden, daß du von einem Menschen, der dir Ehre anzuthun glaubt, und nicht zu wissen schuldig ist daß du eben träumen willst, in deinen Träumereyen gestört wirst! Fy! das hättest du von einer langbeinigen Spinne, von einer Wespe oder Hornisse leiden müssen. - Ich will euch den ganzen Handel erzählen. »Du bist müßig, Diogenes?« sagte er Nach meiner Gewohnheit, antwortet' ich. »So setze ich mich zu dir.« Wenn du nichts bessers zu thun hast. »Auf der Welt nichts, außer daß ich auf dem Markte seyn sollte. Die Sache des armen Lamon wird entschieden. Sein Vater war ein guter Freund unsers Hauses. Ich denke, er wird Mühe haben, seinen Feinden dießmahl zu entwischen. Ich bedaure ihn. Ich hatte mir gestern vorgenommen, für ihn zu sprechen; - aber ich bin heute gar nicht aufgelegt. - -« Nicht aufgelegt? Und Lamons Vater war ein Freund deines Hauses? - und der arme Lamon ist in Gefahr?
»Wie ich dir sagte, mein Kopf ist heute zu nichts gut. Wir schmauseten gestern beym Klinias. Es währte die ganze Nacht hindurch. Wir hatten Wein der Götter, Tänzerinnen, Mimen, Filosofen, die sich erst zankten, hernach besoffen, hernach den Tänzerinnen - genug, wir hatten alles was zu einer vollständigen Kurzweil gehört. -« Das ist alles ganz hübsch, wenn du willst - aber der arme Lamon! »Wer kann sich helfen? Er dauert mich, wie ich sage. Er ist ein ehrlicher Mann, - und hat eine tugendhafte Frau, - eine sehr tugendhafte Frau!« Und eine schöne Frau vermuthlich? »Sie kam gestern mir ihres Mannes Sache zu empfehlen. Sie hatte zwey Kinder zwischen drey und fünf Jahren bey sich - liebliche kleine Geschöpfe. Sie war nicht sehr geputzt, aber ihre Gestalt und Miene überraschte mich. Sie warf sich mir zu Füßen; sie sprach mit Hitze für ihren Mann: - Es ist unmöglich, daß er schuldig seyn kann; er ist der ehrlichste Mann, der zärtlichste Vater, der beste Freund; - gewiß, er kann nichts unedles aus Vorsatz gethan haben; helfen Sie ihm, Sie können es. - Ich machte ihr Einwendungen: sie widerlegte mich. Ich stellte ihr die Schwierigkeit vor, da er so viele Feinde hätte. - Er habe sie bloß weil er mehr Verdienste als Vermögen habe, sagte sie. - Ich zuckte die Achseln. - Sie weinte, und die beiden artigen kleinen Geschöpfe fingen auch an, da sie ihre Mutter so heftig reden und weinen sahen, schlangen ihre kleinen Arme um ihre Knie, und fragten sie ängstlich: Wird uns dieser Mann unsern Vater nicht wieder geben? - Ich versichre dich, die Scene war rührend; ich hätte funfzig Minen4 um einen guten Mahler gegeben, der mir auf der Stelle ein Gemählde daraus gemacht hätte -« 4
Sechzig Minen machten ein Attisches Talent, dessen Betrag man, in runder Summe, für zwölf hundert Reichsthaler unsers Geldes annehmen kann.
Wirklich? - Konntest du in jenem Augenblick einen solchen Gedanken haben? »Ich versichere dich, Diogenes, es wäre des Geldes werth gewesen. In meinem Leben sah ich die Schönheit in keiner rührendern Gestalt. Ihr Busen schlug unter ihrem Halstuche so stark empor, daß ich ihn zu fühlen glaubte. Alles war Seele und Grazie an der reitzenden Sirene. Ich sagte ihr: Madam, ich will das möglichste versuchen; was würde man nicht für eine Frau unternehmen wie Sie sind? - Ich muß jetzt zu Klinias; er giebt diesen Abend ein Fest: aber ich will mich vor Mitternacht los reißen. Kommen Sie um diese Zeit wieder; mein Kammerdiener soll Sie in mein Kabinet führen, und wir wollen dann auf ein Mittel denken, wie Ihrem Manne geholfen werden kann. Das meiste wird von Ihnen selbst abhängen. - Kannst du dir einbilden, Diogenes, was die Närrin that? Sie raffte sich mit einem Zorne, der sie noch zehnmahl schöner machte, - ich hätte sie gleich dafür umarmen mögen - vom Boden auf, eh' ich noch ausgeredet hatte, und ein verächtlicher Blick war ihre ganze Antwort. Ich winkte meinem Kammerdiener und verließ sie. Ich kenne den Kerl; ich bin gewiß, daß er ihr alles sagte was man sagen kann; aber sie wollte ihn nicht anhören. Kommt, meine Kinder, sagte sie ohne ihn nur eines Blickes zu würdigen, indem sie die kleinen Geschöpfe an ihren Busen drückte: der Himmel wird für uns sorgen, - und wenn auch Er uns verläßt, so können wir sterben. - Du siehst, daß ich Ursache habe, sie eine sehr tugendhafte Frau zu nennen.« Wie ich sehe, nur gar zu tugendhaft für die Erhaltung des armen Lamon! - O Chärea, Chärea - ists möglich? »Du bist in der Laune zu moralisieren, Diogenes! - Lebe wohl! Ich bin nicht aufgeräumt, wie ich dir sagte. Ich muß mich zerstreuen. Willst du mit mir zu Thryallis gehen? - Mein Mahler nimmt das Modell zu einer Venus Kallipyga von ihr. Es wird ein treffliches Stück werden!«
Ich danke für dießmahl. - Der arme Lamon und seine schöne tugendhafte Frau mit den zwey lieblichen Kindern hat sich meiner so sehr bemächtigt, daß ich zu nichts anderm gut bin. Dein Mahler würde mit keinen Strich recht machen können, und könnte doch nichts dazu. Gehe, Chärea, geh und überlaß mich meinen einsamen Gedanken! Nein, ich will nicht denken; unsinnig müßt' ich werden, wenn ich in diesem Augenblick den Gedanken Gehör gäbe, die sich eindrängen wollen. Ihr wißt doch, daß dieser Chärea einer von den berühmten Glücklichen zu Korinth ist?
8.
Wie schön diese Grasmücke zwitscherte! - Ich habe mich dort aus dem Quell erfrischt, - und nun will ich mich zu der kleinen wilden Sängerin in dieses Gebüsche legen, und mich jedem Vergnügen überlassen, womit die Natur wohlthätig die dornigen Pfade des Lebens bestreut. Der arme Lamon! - Soll ich gehen und versuchen? - Das will ich! Aber was wird ihm mein guter Wille helfen? Ich habe kein Ansehen, keine Anhänger, niemand, dem an meiner Freundschaft gelegen ist. - Ich bin hier fremd. - Lamons Sache betrifft sein Amt, das gemeine Wesen; - ich würde nicht einmahl die Erlaubniß zu reden bekommen. - So könnt ich wenigstens als Fürsprecher für ihn reden? Aber wir sind nicht bekannt mit einander. - Was hindert das? Ich will gehen! Eine so schöne Frau soll nicht umsonst die Füße eines Chärea mit ihren Thränen benetzt haben!
9.
Ich wußte noch nichts eigentliches von Lamons Handel, da ich ging und meine Grasmücke allein ließ. Unterwegs stieß ich auf einen seiner Richter, der mir sagte worum es zu thun war. Nichts als ein Pack Schelmen, von einem andern Schelme gedungen, der auf Lamons Amt ein Auge hat. Er sollte mit öffentlichem Gelde, das er zu verwalten hatte, ungetreu umgegangen seyn. Sie konnten ihm keine wirkliche Untreue beweisen. Aber er hatte einem Freunde Geld ausgezahlt, der ihm eine Vollmacht von den Archonten vorzeigte, und dieses Geld zu den Geschäften der Republik nöthig zu haben vorgab. Lamon traute seinem Freunde, und wurde betrogen. Das war sein ganzes Verbrechen. - Aber ihr hättet das Ungeheuer sehen sollen, das seine Ankläger daraus machten! Lamon antwortete ihnen mit der Erschrockenheit eines ehrlichen Mannes, der sein Schicksal in den Händen seiner Feinde sieht, und weiß, daß sein Urtheil schon beschlossen ist, eh' er noch zu reden anfängt. Er sprach wenig und übel. Laß mich für dich reden, Lamon, sagte ich, und fing an. Sie wollten Lärm machen, aber da half mir meine Brust; ich überschrie sie und fuhr fort. Ich sprach mit aller der Wärme, die mir die Idee der schönen Frau und der zwey lieblichen Kinder mitgetheilt hatte; ich schonte seine Feinde nicht, - und die Richter bestach ich mit Anpreisung ihrer Frömmigkeit, ihrer Menschlichkeit, ihres Edelmuths, ihrer Unparteylichkeit, ihres Hasses gegen die Unterdrückung. Ein Drittel von ihnen hatte noch Wangen, welche erröthen konnten. - Das feuerte mich an - Ich verdoppelte meine Lobsprüche, und meine Zuversicht zu ihrer Billigkeit, zu ihrer Tugend; - ich brachte noch ein Drittel zum Erröthen. - Nun hatt' ich gewonnen! Ich vollendete meinen Sieg mit dem Gemählde der schönen Frau, und der zwey kleine Jungen,
die ich zu ihren Füßen hinwarf und für ihren ehrlichen Vater bitten ließ. - Lamon wurde losgesprochen. Ich schlich mich im Tumulte davon, und da bin ich wieder! Wie schön der Abend ist! Wie heiter, wie lachend die ganze Natur! Ich bin mit mir selbst zufrieden, ich habe dem Rufe der Menschlichkeit gefolgt. Ich habe die Freude wieder in die schönen Augen der tugendhaften Frau und in die kleinen Herzen ihrer armen Kinder gebracht. Wie süß werden ihre Umarmungen seyn! - Ich genieße sie, ohne sie zu sehen. Und wer ist nun an diesem Abend glücklich? Chärea, Klinias, Midas, Sardanapalus, Krösus, - oder ich?
10.
Gönnet mir, daß ich mich der Empfindung überlasse die mich glücklich macht - und überleset inzwischen die drey vorher gehenden Nummern noch einmahl - wenn ihr wollt, - und so langsam oder flüchtig als ihr wollt.
11.
Wirklich ein recht poetischer Ort! - Dieser hohe Rosenstrauch voll frisch aufgeblühter Rosen, wie schön er sich über mich herab wölbt! Wie lieblich diese Quelle neben mir über die kleinen Kiesel hinrieselt! Wie eben und weich dieser Rasenplatz ist! wie frisch sein Grün, wie dicht sein kurzes Gras! Ich würde mir Vorwürfe machen, wenn ich mir eine so wollüstige Gegend mit Fleiß ausgesucht hätte.
Was für ein Zauber liegt in der einfältigen Natur! Selbst der unpoetische Diogenes wird von ihr begeistert. Ich sehe, ja, ich sehe die Grazien! rosenbekränzt tanzen sie auf diesem weichen Grasplatz ihre schwesterlichen Tänze. Kleine versteckte Amorn winden indeß hinterm Gebüsche ein lange Kette von Rosen; sie winken einander lächelnd zu; nun sind sie fertig. Auf einmahl rauschen sie aus ihrem Hinterhalt hervor, und umschlingen lachend die Tanzenden mit ihrer Rosenkette. Welch ein liebliches Gemählde! Wenn ihr es erst so lebhaft vor euch stehen sähet, als es jetzt, von meiner Fantasie ausgemahlt, vor mir steht! Sie hat einen feinen warmen Pinsel, das versichr' ich euch, meine schönen Damen, - so unempfindlich für eure Reitzungen man mich ausruft, weil ich mir vielleicht mehr Mühe als ein andrer gegeben habe, euch entbehren zu können; ohne daß ich mir jedoch schmeichle, es gar weit darin gebracht zu haben. Eine Dryade, die hinter diesem Gebüsch hervor schliche, käme vortrefflich gelegen, die Probe darüber zu machen. Aber, meine Grazien - ihr denkt, ich habe das Gemählde selbst erfunden, und das wundert euch. Ich will euch aus dem Wunder helfen; ich verachte es, mich für besser zu geben als ich bin. - Es ist eine bloße Kopie. Chärea hat das Original, von Apelles, den sie den Mahler der Grazien nennen, und der den Muth hatte, sich diesen Nahmen selbst zu geben, weil er fühlt, daß ers ist. Ich war zugegen, da es gekauft wurde. Es ist göttlich! rief der entzückte Chärea: ich muß es haben; ich laß' es keinem Könige. Kennst du, Diogenes, das Myrtenwäldchen in meinem Garten, mit dem kleinen Sahle, wo ich zuweilen Mittagsruhe halte? Dort will ich diese Grazien im Gesicht haben, wenn ich ruhe. Chärea kaufte das Gemählde um vier Attische Talente.
Vier Attische Talente! rief ich, um drey halb nackte Mädchen, und drey oder vier kleine nackte Buben auf einem Stück Leinwand! Aber siehe nur, wie schön sie sind! rief Chärea; - wie idealisch! wie ganz Grazie! Jede mit ihrem eigenen karakteristischen Reitze, jede durch sich selbst schön, und dennoch durch eine Art von Wiederschein von ihrer Nachbarin verschönert! Es ist wahr, Chärea - Aber ihr reichen Leute habt Unrecht, diese Künstler so theuer mit ihren Werken zu machen. Zehen Minen wären immer genug für einen Mahler. Er soll auch das Vergnügen, das er unter einer so schönen Arbeit genießt, für etwas rechnen! - Vier Talente, Chärea! für eine Augenlust, die in wenig Wochen ihren Reitz für doch verloren haben wird! Wie viel Glückliche hättest du mit dieser Summe machen können!
12.
Nach einiger Zeit kam ich auf ein großes Gut, das dieser Chärea am Korinthischen Meere besitzt. Ich fand da einen seiner Pächter, einen wackern alten Mann mit weißen Haaren, der traurig vor seiner Thür saß, und sich die Augen auswischte, wie er mich gewahr wurde. Ich bat ihn, daß ich mich zu ihm setzen dürfte, und fragte ihn nach der Ursache seiner Kummers. »Ach, Fremdling, sprach er, ich habe meine Tochter verloren! - ein Kind von vierzehn Jahren, das beste angenehmste Mädchen, das jemahls gewesen ist. Alle jungen Leute in der Gegend sagten, daß sie einer Oreade gliche, wenn sie an Festtagen mit andern Mädchen ihres Alters im Reihen tanzte. Ich hatte meine Lust daran, sie tanzen zu sehen. - So war ihre Mutter ehmahls gewesen! - Es war ein gutes Mädchen; häuslich, arbeitsam von der besten Mutter erzogen - ach! die ich jetzt
glücklich preise, daß sie den grausamen Tag nicht erlebt hat. Seeräuber entführten mein Kind, da es am Ufer Muscheln suchte, um eine kleine Grotte in unserm Garten auszuschmücken, worin ich in der Mittagshitze zu ruhen pflegte. -« Ich erkannte den Vater in der Wärme des Gemähldes. Aber seine Tochter hätte zehnmahl weniger liebenswürdig seyn können als er sie beschrieb, ohne daß ich weniger Antheil an seinem Schmerze genommen hätte. Armer Vater! rief ich, und wischte die Augen: aber war denn kein Mittel, eure Tochter wieder zu bekommen? Wars nicht möglich sie los zu kaufen? »Ach! antwortete er seufzend, ich versuchte alles. Sie forderten zwey Talente. Das Mädchen ist schön, sagten sie; ein Satrape des großen Königs würde uns noch mehr für sie bezahlen. - Es war mir unmöglich, nur die Hälfte dieser Summe aufzubringen. Das Verlangen, mein Kind wieder zu haben, machte mich unsinnig. In dieser Verwirrung lief ich zu meinem Herrn nach Korinth. - Er ist unermeßlich reich, dacht' ich; deine Thränen, deine weißen Haare werden ihn erweichen. Wie oft giebt er zwey Talente aus, um sich eine vorüber rauschende Lust zu machen! Vielleicht bewegst du ihn, daß er eben so viel thut, sich das Vergnügen zu machen, einem alten Vater sein Kind, die einzige Freude seines Alters, wieder zu schenken! - - Ich warf mich zu seinen Füßen. Aber alles war umsonst. - Ich hätte besser auf meine Tochter Acht geben sollen, sagte er. - Es durchbohrte mir das Herz, da er es sagte; und wie kalt er dabey aussah! Ich darf nicht daran denken!« Der alte Mann weinte, da ers sprach; und ich - wenig fehlte, daß ich wie Ajax Oileus zu rasen angefangen hätte. Ich fluchte in der Erbitterung meines Herzens dem ersten der jemahls gemahlt hatte, und allen Mahlern, seinen Nachfolgern, und allen Angehörigen ihrer Zunft, die Farbenreiber selbst nicht ausgenommen.
Wie ich wieder allein war, und mein Blut sich abgekühlt hatte, verwandelte sich mein Zorn gegen die Reichen in Mitleiden. Ich bejammerte sie, daß eben das, was sie glücklich machen sollte, sie für das göttliche Vergnügen Gutes zu thun unempfindlich macht. Die armen Leute! Sie haben so viel Bedürfnisse! ihre Sinne, ihre Fantasie, ihre Leidenschaften, ihre Grillen, ihre Bequemlichkeit, ihre Eitelkeit, - haben so viel Forderungen zu machen, daß ihnen für die Forderungen der Menschlichkeit nichts übrig bleibt. Wie gern wollt' ich euch eure Paläste, Gärten, Gemählde, Statuen, Gold, Silber und Elfenbein, eure Gastmähler, Koncerte, Schauspiele, Tänzerinnen, Affen und Papagayen gönnen, wenn es nur von mir abhinge - nicht daran zu denken, daß zehn tausend arme Geschöpfe eurer Art nicht haben, womit sie sich der Beleidigungen des Wetters und der unfreundlichen Jahreszeit erwehren können, - weil Ihr in marmornen Palästen wohnt; nicht haben, womit sie ihre Blöße decken, - weil eure Sklaven in prächtigem Gewande schimmern; nicht genug haben, um sich zu sättigen, - weil Ihr in Einem Gastmahle den wöchentlichen Unterhalt von Tausenden verschlingt. Ich haß' es diese Gedanken fortzusetzen; ich besorge, ich spiele mein Lied tauben Zuhörern. - Aber, was wollt' ich nicht thun, wenn ich hoffen könnte, von jedem Hundert eurer Gattung - einen Einzigen zur Menschlichkeit zu bekehren!
13.
Ich bitte doch, Chärea, dich und alle deine Brüder, sagt mir nichts davon, daß ihr durch den Gebrauch, den ihr von euern Reichthümern macht, den Fleiß, die Künste, die Handlung unterhaltet, und den Umlauf der Zeichen des Reichthums befördert, worin, wie ihr sagt, das Leben des Staats bestehe.
»Tausende und Zehntausende, sagt ihr, leben dadurch, daß wir bauen, Gärten anlegen, ein großes Haus unterhalten, eine unendliche Menge entbehrlichster Dinge nöthig haben, u. s. w.« Darüber ist kein Streit zwischen uns. Aber, wenn ihr euch ein Verdienst daraus machen wolltet, so könnten der Seidenwurm und die Purpurschnecke mit gleichem Rechte behaupten, die vortrefflichsten und wohlthätigsten Geschöpfe in der Welt zu seyn; denn wirklich leben etlichen Millionen Menschen von der Arbeit, die ihnen diese beiden Arten von Gewürme verschaffen. Nichts ist billiger, als daß ihr eure Reichthümer, ihr möget sie nun geerbt, erworben, erschlichen, erkuppelt, geraubt, oder gefunden haben, zur Belohnung derjenigen anwendet, die für eure Trägheit, Eitelkeit und Üppigkeit arbeiten. Aber, mein lieber Chärea, es giebt Leute, die nun gerade nichts beytragen können, deine Sinne oder deine Fantasie zu kitzeln, und die darum nicht minder Anspruch an deinen Überfluß haben. Der Unglücklichste, dem du mit einem kleinen Theil davon die Ruhe wieder geben kannst, die sein thränenbenetztes Lager flieht; - die unschuldige Schönheit, welche du von der Schmach, einem Parrhasius zum Modell seiner leichtfertigen Täfelchen5 zu dienen, und von einem noch schimpflichern Mißbrauch ihrer Reitzungen, mit der Hälfte dessen, was dir ein solches Täfelchen kostet, befreyen könntest; - der verlassene Waise, dem Dürftigkeit und Verachtung der Muth niederschlägt, und aus welchem deine Hülfe dem Staat einen guten Bürger, vielleicht einen großen Mann, einen Aristides, einen Sokrates, erziehen könnte; - haben diese alle kein Recht an deinen Überfluß? Ihr Söhne des Glücks könnt sonst sehr fertig rechnen. Rechnet doch einmahl, wie viel tausend Geschöpfe eurer Gattung darben müssen, 5
Parrhasius - pinxit et minoribus tabellis libidines, eo genere petulantis oci se reficiens. Plin. Hist. Nat. L. 35.
damit Einer von euch jährlich vierzig oder funfzig Talente verzehren könne! Solltet ihr nicht Gutes thun, wenn es auch nur wäre, um den Haß von euch abzuwälzen, den der Anblick eurer Wollüste und Verschwendungen dem größten Theil eurer Mitbürger einflößen muß, der mit der sauersten Arbeit seinen Kindern kaum so viel Brot erwerben kann, als ihr täglich euren Hunden zur Suppe reichen laßt?
14.
Wie? es sollte also nicht auch schöne Seelen geben, wie es schöne Gesichter giebt, die dere Kunst nichts schuldig, und gerade darum nur desto schöner sind? Ich widerlegte einsmahls einen Sofisten, der die Bewegung aus der Welt hinaus demonstrierte, indem ich vor den Augen des Narren auf und ab ging. Soll ich euch auf die nehmliche Art beweisen, daß es solche schöne Seelen giebt? Ich werde euch vielleicht zu schiefen Urtheilen Anlaß geben: doch, denkt davon was ihr wollt; unsre Meinungen von einander können euch und mich nicht schlechter machen als wir sind. Überdieß erkläre ich hiermit, daß ich meine Geschichte allein der schönen Psyche und ihres gleichen erzähle. Ich kann niemanden verbieten zuzuhören; aber das versichre ich, daß ich keine Sylbe darum mehr noch weniger sagen werde, und wenn mir der ganze hohe Rath der Amfiktyonen zuhörte. Ich hielt mich ehemahls (wie ihr wißt - oder auch nicht wißt) zu Athen auf, um von Plato reden, und von Antisthenes leben zu lernen. Einsmahls fügte sichs, daß ich Abends, zwischen Dämmerung und Nacht, ganz allein unter den Säulengängen des Keramikus herum schlenderte. Es war schon dunkel in der Halle, außer daß der stark
erleuchtete Sahl eines nicht allzu nahen Gebäudes einige Stellen etwas heller machte. Mit Hülfe dieser schwachen Helle sah ich einen Schatten auf mich zu schleichen, der sich im Annähern in eine weibliche Gestalt, und diese in die liebliche Figur eines Mädchens von sechzehn Jahren ausbildete. Sie war so leicht bekleidet, daß einem Theil ihrer Füße, und einem Busen wie man der Hebe zu geben pflegt, wenig zur Bedeckung blieb; und ihre langen blonden Haare flogen ungebunden um den Nacken. Dieser Anblick setzte mich in einige Verwirrung; aber das war noch nichts. Das Mädchen breitete seine aufgestreiften Arme, deren Weiße aus der Dunkelheit hervor glänzte, mit jammervoller Geberde gegen mich aus, und sank mit dem Gesicht auf meinen Arm hin. Meine Verwirrung stieg aufs äußerste. Jedoch faßt' ich mich ohne langes Besinnen. Ich schlang meinen rechten Arm um ihren Leib, drehte sie zugleich mit mir selbst um, und führte sie gerades Weges in eine kleine Hütte, die ich im Keramikus gemiethet hatte. Folgsam ließ sie sich führen, ohne ein Wort zu sagen. Sie schien ohne Kräfte und von Kummer erdrückt. Wir kamen in meiner Zelle an. Ich setzte sie auf eine Art von Ruhebett, das, im Vorbeygehen zu sagen, nichts weniger als geschickt war wollüstige Ideen zu begünstigen. Ich machte Licht; und nun betrachtete ich meinen Fund mit aller Aufmerksamkeit die er zu verdienen schien. Das Mädchen flößte mir - ich weiß nicht was ein, das mich weichherziger machte als ich gewöhnlich bin. Es war ein überaus angenehmes Gemisch von Mitleiden und Liebe. - Damit ich es ungestört genießen könne, gab ich ihr, unter dem Vorwande daß es kühl sey, eine Art von Mantel, womit sie ihren Busen und ihre Füße bedecken konnte.
Sie schien mich mit einiger Verwunderung anzusehen. Sie versuchte etwas zu sagen; aber ein Strom von Thränen erstickte ihre Stimme. Ich nahm sie in meine Arme, küßte sie, bat sie mit der sanftesten Stimme, die mir möglich war, Zutrauen zu mir zu fassen. - Sie schien sich aus meinen Armen winden zu wollen, aber so schwach, daß ein andrer es für eine Aufmunterung genommen hätte. Ich dachte anders. Ich glaubte, in ihren halb erloschnen Augen die Merkmahle einer schönen Seele zu sehen. Ich konnte mich betrogen haben. - Denn die Umstände, - und der schöne Busen, und was Vater Homer ihre Rosenarme und Silberfüße genannt haben würde, - arbeiteten, die Wahrheit zu sagen, gewaltig in meiner Einbildung. Allein ich überließ mich mit vollem Vertrauen meiner Empfindung, und ihr werdet aus dem Erfolg sehen, ob ich mich betrogen habe. Das erste, was das Mädchen nöthig zu haben schien, war einige Erfrischung; denn sie hatte das Ansehen einer gänzlichen Erschöpfung. Ich eilte also - Aber in der That, ich bitte euch um Verzeihung; ich vergesse, daß ich dieses Nachbild eines Originals, an dessen kleinste Züge ich mich mit Vergnügen erinnere, nicht für mich selbst mache. Das Mädchen kam, nachdem sie etwas Speise und ein wenig Wein gekostet hatte, so gut wieder zu sich selbst, daß sie mir ihre Geschichte erzählen konnte. Mit niedergeschlagenen Augen hob sie an - Aber die Grazie ihres Ausdrucks, in ihrer Stimme, in ihrem ganzen Wesen, kann ich zum Unglück nicht in mein Nachbild übertragen.
15.
»Die schöne Lais ist meine Mutter. Ich wurde bey ihr erzogen, und lebte in dieser frohen Unwissenheit meiner selbst, die das Vorrecht der
Kindheit ist, bis ich denjenigen verlor, der die Gutherzigkeit hatte sich für meinen Vater zu halten. Er war aus Silicien, und man sagte daß er reich und von edler Geburt wäre. Ich war kaum sieben Jahre alt, da er starb. Nach und nach erkaltete die Zärtlichkeit meiner Mutter für mich; andere Liebhaber verdrängten das Bild dessen, der nicht mehr war; und endlich hörte ihr Herz gänzlich auf, ihr etwas für die arme Laidion zu sagen. Ich grämte mich sehr darüber; aber ich mußte meine Thränen verbergen; die bloße Spur davon in meinen Augen zog mir Ungewitter zu. Im übrigen hielt sie mich den andern Mädchen gleich die ihr aufwarteten, und wir hatten Lehrmeister im Singen, Tanzen und Lautespielen.« Die spielst die Laute, kleine Grazie? (rief ich) und singst? - Hier ist eine Laute; ich bitte dich Das Mädchen hatte die Gefälligkeit ihre Erzählung zu unterbrechen. Sie sang mir Anakreons süßestes Liedchen, - rathet selbst, welches? - und begleitete es auf der Laute mit Fingern, deren jeden eine eigene Seele zu beflügeln schien. O Weisheit! O Antisthenes! wo waret ihr damahls? - Für mich eben so, als ob nichts, das euch gliche, jemahls in der Welt gewesen wäre. Ich suchte meine Seele auf den Lippen der schönen Sängerin. Laß mich in meiner Erzählung fortfahren, sagte sie lächelnd, indem eine liebliche Röthe ihr ganzes Gesicht überzog. Ihr Erröthen brachte mich plötzlich wieder zu mir selbst, und eine natürliche Folge davon war, daß ich wenigstens eben so sehr erröthete als das Mädchen. Sie fuhr fort: »Ich war vierzehn Jahre alt, als ich von der schönen Lais einem jungen Athener übergeben wurde, der mich, wie er sagte,
heftig liebte. Die schöne Lais sagte mir, da er mich wegführte, ich hätte ihn hinfür als meinen Gebieter anzusehen. »Mein neuer Gebieter verbarg seine Gewalt über mich unter die zärtlichsten Liebkosungen. Meine Tage flossen unter immer abwechselnden Ergetzungen vorbey. Ich war mit meinem Zustande zufrieden, ohne an die Zukunft zu denken. Glykon hatte Ursache mit meiner Gefälligkeit vergnügt zu seyn; aber wenn die Liebe das ist, was in Saffo's Liedern glüht, so ist mein Herz unfähig, sich diese Leidenschaft mittheilen zu lassen. Glykon würde es gethan haben, wenn es möglich wäre. Oft mußt' ich ihm das Lied an Faon singen, worin die Wuth der Leidenschaft so feurig ausgedrückt ist; und allemahl wurde er unwillig, nichts von allem was ich sang in meinen Augen zu finden. Endlich ward ich gewahr, daß seine Liebe lauer zu werden anfing. Der zärtliche Ton, auf den sie gestimmt gewesen war, verwandelte sich in einen scherzhaften und muntern, - der mir, aufrichtig zu reden, nur desto besser gefiel. Aber auch dieses dauerte nicht lange -« Kurz, (denn ich merke, daß ihr zu gähnen anfangt), die schöne Bacchis entführte meinem kleinen Mädchen ihren Liebhaber, und die Komödie war aus. Das Mädchen, wie ich euch sagte, erzählte sehr artig, - weil die kunstlose Offenheit der Jugend, ihre Blicke, ihr Ton, und ein gewisses wie nennt ihrs? das ich sehr stark empfand aber nicht beschreiben kann, ihre Geschichte interessanter machte als sie an sich selbst war. - Denn in der That, meine Herren, ihr habt Recht; es war (Dank sey euern Bemühungen!) ein sehr alltägliches Mährchen. - Überdieß öffnete sich zuweilen in der Hitze der Erzählung der Mantel ein wenig, den ich ihr umgeworfen hatte, und ihr begreift, daß eine solche Kleinigkeit in gewissen Umständen keine Kleinigkeit ist. Ich hätte ihr die ganze Nacht durch zugehört; aber euch kann es unmöglich so seyn. Ich lasse mir und euch Gerechtigkeit widerfahren,
und ich wünsche, im Vorbeygehen, daß alle Erzähler - Dichter oder Geschichtschreiber - die Gütigkeit haben möchten, sich daraus eine kleine Lehre zu nehmen.
16.
Das Mädchen fuhr fort, mir begreiflich zu machen, wie es zugegangen, daß sie mir in dieser nehmlichen Nacht in einer Halle des Keramikus in einem so verdächtigen Aufzug in die Arme gelaufen sey. Ich denke, ich könnte diese Lücke eurer eignen Einbildungskraft auszufüllen überlassen. Wenn ihr euch vorstellt, daß Glykon sie endlich, seiner neuen Buhlschaft zu Gefallen, an einen seiner Freunde, - dieser, weil sie ihm nicht wohl begegnete, an einen Bildhauer, - und der Bildhauer, nachdem er etliche Modelle von ihr genommen, an einen Mädchenhändler verkauft habe, dem sie, da er sie wieder an einen alten Seefahrer von Efesus gegen Levantische Waaren austauschen wollte, gestern Nachts entlaufen sey, und sich den folgenden Tag über unter den Ruinen eines alten eingefallenen Gebäudes verborgen gehalten habe, oder so was dergleichen, - so hättet ihr nahe zu an die Wahrheit gerathen. Dem sey wie ihm wolle, die junge Lais befand sich nun unter meinem Schutze, und ich glaubte verbunden zu seyn, mich ihrer so gut ich immer könnte anzunehmen. Ich war damahls nicht viel reicher als ich dermahlen bin. Mitleiden und guter Rath war das beste, womit ich ihr dienen konnte. Vielleicht kann das, was ich ihr sagte, (wenn anders eine Abschrift dieser Schreibtafel auf die Nachwelt kommen sollte) in vielen Jahrhunderten einem jungen Geschöpfe nützlich seyn; es sey nun, daß sie sich in einer ähnlichen oder in der allgemeinen Schwierigkeit der
Personen ihres Geschlechts und Alters, - in der Ungewißheit was sie mit ihrem Herzen anfangen solle, - befinde. In dieser Voraussetzung widme ich hiermit den nächst folgenden Abschnitt dem schönern und zärtlichern Theil der Nachwelt zu behutsamem Gebrauch, mit der Bitte, die Filosofie, die ich sie darin lehre, für sich allein zu behalten, und weder ihren Müttern, noch viel weniger ihren Liebhabern das geringste davon merken zu lassen.
17.
Das Vergangene, sagte ich zu dem Mädchen, war eine Folge des Unglücks, die schöne Lais zur Mutter gehabt zu haben. Bemühe dich, es in jeder andern Absicht zu vergessen, als ich so fern deine Erfahrung dir fürs Künftige nützlich seyn kann. Dieß allein muß nun dein Augenmerk seyn; es wird meistens von dir selbst abhangen. Ein so schönes Geschöpf - ich konnte mich nicht verhindern sie auf die Stirn zu küssen, indem ich es sagte - ist ganz gewiß zu etwas besserm gemacht, als einem Glykon zum Spielzeuge oder einem Kalamis zum Modell zu dienen. Die Natur hat viel für dich gethan, meine Liebe, das Glück nichts; aber, launisch wie es ist, wird es durch unverhoffte Zufälle seine bisherige Nachlässigkeit verbessern. Es hat den Anfang damit gemacht, daß es mich in deine Hände fallen ließ, sagte das Mädchen. Verdiente das nicht wieder einen Kuß? Deine Zukunft, fuhr ich fort, wird von dem Gebrauch abhangen, den du von dem einen und dem andern machen wirst. Weil es Nahmen von schlimmer Vorbedeutung giebt, so wollen wir immer damit anfangen, deinen Nahmen zu ändern. Laidion soll in Glycerion verwandelt werden; und als Glycerion will ich dich mit einem meiner
Freunde bekannt machen, der (gegen eine kleine Erkenntlichkeit vielleicht) großmüthig genug seyn wird, dich unter der Aufsicht einer alten Freygelaßnen aus seinem Hause nach Milet zu führen, wo du, mit allem versehen was die Anständigkeit erfordert, durch eine stille und eingezogene Lebensart am ehesten Aufmerksamkeit erregen wirst. Es giebt eine gewisse Art sich zu verbergen, um desto bessere gesehen zu werden. In kurzem werden die Liebhaber so dicht, wie die Bienen um einen Rosenstrauch, um deine Hütte flattern. Ihre Absicht - merke dirs wohl, gutes Mädchen! - ist weder schlimmer noch besser, als dich so wohlfeil zu haben als möglich: die deinige muß seyn, dich so theuer zu verkaufen als du kannst. Dein eigenes Herz wird dir hierin vielleicht am hinderlichsten seyn. Wehe dir, wenn es zur Unzeit oder für einen Gegenstand gerührt würde, wobey nur die Augen ihre Rechnung fänden! Eine Schöne hat tausend Dinge zu verschenken, die von keiner Erheblichkeit sind; aber ihr Herz muß immer in ihrer Gewalt bleiben. So lange du dieses Palladion erhältst, wirst du unbezwinglich seyn. Bemühe dich, allen deinen Liebhabern gut zu begegnen, ohne Einen zu begünstigen. Theile die Gnaden, die du, ohne dir selbst zu schaden, verschenken kannst, in unendlich kleine Theilchen. Ein Blick sey schon eine große Gunst; und den Zwischenraum vom gleichgültigen zum aufmunternden, und von diesem zum zärtlichen, fülle, wenn es seyn kann, - und ich dächte, ein schönes Mädchen sollte es können - mit hundert andern aus, die stufenweise sich von dem einen entfernen und dem andern nähern. Aber hüte dich, bey diesem Spiele deine Absicht merken zu lassen: das wäre so viel, als wenn du sie warntest, sich in Acht zu nehmen. Gleich schädlich würde es seyn, wenn du die Meinung von dir erwecktest, als ob dein Herz nicht gerührt werden könnte. Laß einem jeden, der es werth zu seyn scheint, einen Strahl von Hoffnung, daß es möglich sey dich zu gewinnen; aber dabey richte alle deine Bewegungen so ein, daß es immer in deiner Macht bleibe, denjenigen zu begünstigen, der zärtlich und schwach
genug ist, sich und sein Glück deinen Reitzungen auf Gnade oder Ungnade zu ergeben; - wohl verstanden, daß, nach bedächtlichster Abwägung aller Umstände, der Mann und sein Glück das Opfer werth sey, das du ihm dagegen von dir und deiner Freiheit machst. Einen solchen, wenn die Wunde, die ihm deine Augen geschlagen haben, zu schwären anfängt, kannst du mit gehöriger Vorsicht merken lassen, daß du fähig bist zärtlich zu seyn. Aber mir fällt auf einmahl ein, daß du mir sagtest, du könntest nicht zärtlich seyn. Sie erröthete - Ich glaubte es, flüsterte sie. Ich nicht, sagte der Sohn des Iketas, indem er ihr mit einem Blicke, der ein Mittelding von Zärtlichkeit und Muthwillen war, in die Augen sah. Sein Knie berührte von ungefähr das ihrige in diesem Augenblicke. Er fühlte es zittern. Willst du nicht fortfahren zu reden? sagte sie. Ich muß vorher wissen, ob du zärtlich seyn kannst. »Und wenn du es wüßtest?« So muß ich wissen, wie sehr du es seyn kannst. Ihr Mantel hatte sich, indem sie ihn um ihre Kniee zusammen zog, oben ein wenig aufgethan. - Eine süße Verwirrung zitterte in ihren glänzenden Augen. Der Sohn des Iketas war damahls fünf und zwanzig Jahre alt. Seine Neugier hätte nun schweigen sollen. - Hatte sie nicht Ursache dazu?
18.
O Glycerion, warum bin ich nicht Herr von einer Welt, - oder, so stark der Abfall ist, - nur der Herr eines kleinen Meierhofs, der für dich und mich groß genug wäre; der einen Garten hätte, und ein kleines Feld, uns zu nähren, und Gebüsche, unser Glück vor den Augen des Neides zu verbergen!
19.
Es ist ein schwaches Ding, lieben Leute, um unser Herz. Und doch, so schwach es ist, und so leicht es uns irre gehen macht, ist es die Quelle unserer besten Freuden, unserer besten Triebe, unserer besten Handlungen. Unmöglich kann ich anders, ich muß den Mann, der das nicht verstehen kann, oder nicht verstehen will, - bedauern oder verachten. Indessen wollte ich, daß sich die Schönen warnen ließen, auf keine vermeinte Erfahrung hin jemahls zu versichern, daß sie sich für unfähig hielten bis auf einen gewissen Grad gerührt zu werden. Ein sanfter Schlummer unterbrach die Unterweisungen des Freundes, und die Lehrbegierde des Mädchens.
20.
Wie schwer hast du dirs gemacht, allzu schwacher Schüler des weisen Antisthenes, in deiner Unterweisung fortzufahren, wo du sie gelassen hattest!
Liebste Glycerion, sagte ich endlich, so sehr ich dich liebe, so muß ich doch, wenn meine Liebe nicht die Wirkung des Hasses haben soll, fortfahren. - Ach, Glycerion! morgen werden wir uns nicht mehr sehen. »Nicht mehr sehen? - Und warum nicht?« Weil meine Gegenwart deinem künftigen Glücke hinderlich wäre. »Was für einem Glücke? - Ists dein Ernst? Kannst du an unsre Trennung denken?« Ich muß! Meine Umstände - »Werd' ich deinem Glücke schädlich seyn, Diogenes?« Nein, Glycerion, das Glück und ich haben nichts mehr mit einander zu schaffen. Ich wär' es, der dem deinigen im Lichte stände. »Wenn dieß dein Beweggrund ist, so höre mich an, lieber Diogenes! - Ich wünsche mir kein andres Glück, als bey dir zu seyn. Du verdienst eine Freundin, an deren Busen du die Ungerechtigkeit des Glücks und der Menschen vergessen kannst. Denke nicht daß ich dir zur Last fallen werde; ich kann weben, sticken, spinnen -« Vortreffliches Geschöpf! - Lange widersetzt' ich mich. Aber Glycerion blieb entschlossen. Sagt nun, ihr, denen die Natur ein fühlendes Herz gab, hatt' ich mich geirret, da ich die Zeichen einer schönen Seele in ihren Augen wahrzunehmen glaubte? Wir beschworen den Bund ewiger Freundschaft. Wir entfernten uns von Athen. Die Welt wußte nichts von uns, und wir vergaßen die Welt. Drey glückliche Jahre - Meine Augen lassen mich nicht fortfahren.
21.
Sie ist nicht mehr, die zärtliche Glycerion! - mit ihr verlor ich alles was ich noch verlieren konnte. Ihr Grab ist das einzige Stück Boden auf der Welt, das ich mein zu nennen würdige. Niemand weiß den Ort als ich. Ich habe ihn mit Rosen bepflanzt, die so voll blühen wie ihr Busen, und nirgends so lieblich düften. Alle Jahre im Rosenmonde besuch' ich den geheiligten Ort. Ich setze mich auf ihr Grab, pflücke eine Rose - So blühtest Du einst, denke ich, - und zerreiße die Rose, und verstreue die Blätter auf dem Grab' umher. - Dann erinnr' ich mich des süßen Traums meiner Jugend, und eine Thräne, die auf ihr Grab herab rollt, befriedigt den geliebten Schatten.
22.
Wenn ihr nicht gerührt seyd, so ist es meine Schuld nicht; aber ich vergeb' es euch. Ihr habt keine Glycerion verloren, - oder habt keine zu verlieren, - oder verdient keine zu bekommen. Ich weiß ein hübsches Mährchen, das mir meine Amme zu erzählen pflegte, wie ich noch klein war; - vielleicht würde es euch belustigen. Es steht euch von Herzen zu Dienste. Aber da kommt der gute Xeniades, und nimmt mir die Schreibtafel.
23.
Du bist eine so gute Art von Sterblichen, sagte Xeniades, nachdem er die Geschichte von Glycerion gelesen hatte. - Ich kann es nicht ausstehen, daß die Welt dich in einem falschen Lichte sehen soll.
D. Und warum sieht sie mich in falschem Lichte? X. Vergieb mir, mein Freund; ich ehre dich so herzlich, daß ich mich selbst überzeugen möchte du habest keinen Fehler. D. Aber warum das, guter Xeniades? - Bin ich nicht ein Mensch? Darf ich nicht so gut Thorheiten und Fehler haben als andre? X. Du willst mich nicht verstehen, Diogenes D. Ich verstehe dich wohl, aber ich kann eine gewisse Art von Gleißnerey nicht leiden, die ich in unsrer Familie - ich meine die Familie des Deukalion und der Pyrrha - herrschen sehe. Ist die Rede überhaupt von den Schwachheiten, Fehlern und Gebrechen der menschlichen Natur, so gesteht jedermann daß er die seinigen auch habe, daß er deren viele habe. Aber gebt diesen Schwachheiten oder Fehlern ihren rechten Nahmen, leset das ganze Register von Stück zu Stück ab, und haltet bey jedem Umfrage; so wird sich kein Mensch auch nicht zu einem einzigen von allen bekennen wollen. Welche Ungereimtheit! - Ich hasse sie von Herzen! Ich entferne mich in vielen gleichgültig erscheinenden Dingen von den Regeln der Gewohnheit. Man nennt mich deßwegen einen Sonderling, und wer nicht so höflich seyn will, einen Narren. - Gut! Ich bekenne mich dazu. Das ist meine Schellenkappe. Schadet sie jemandem? - Ich sehe ganz Korinth mit Thorheiten und Lastern erfüllt, die ihren Besitzern, andern ehrlichen Leuten, und dem gemeinen Wesen selbst verderblich sind. Man sieht ihnen ruhig zu; und mir will man nicht zwey oder drey Grillen zugestehen, von denen keine lebende Seele, nicht die Seele einer Schmeißfliege, Schaden hat! X. Aber das wirst du mir doch eingestehen, daß ein vortrefflicher Mann es desto mehr wäre, wenn er gar keine Flecken hätte? D. Gesetzt, Xeniades, daß dieß möglich wäre, so ist die Frage, ob eine so große Vollkommenheit nicht das unfehlbarste Mittel wäre, sich einen allgemeinen Abscheu zuzuziehen? Wehe dem Manne, der so
weise wäre, um den übrigen Sterblichen in keiner Schwachheit ähnlich zu seyn! Wie sollten sie ihn erträglich finden? Wie sollten sie ihm seine Vorzüge verzeihen können? Er muß sich die Freyheit, ihrer ungestört zu genießen, durch einige wirkliche oder vermeinte Thorheiten erkaufen, mit denen er gleichsam den allgemeinen Genius dieser sublunarischen Welt versöhnt, und den übrigen Thoren das Recht giebt sich über ihn lustig zu machen. - Aber wirklich räum' ich dir schon mehr ein als ich schuldig bin, mein lieber Xeniades, indem ich dir zugebe, daß dasjenige, worin ich ein Sonderling bin, so schlechthin Thorheit oder Grille Seyn müsse. Ich bin bereit, wenn du gerade nichts bessers zu thun hast, dir das Gegentheil zu beweisen. - Sage mir Stück für Stück, was die Korinthier an mir aussetzen, und ich will dir sagen, was ich darauf zu antworten habe. X. Sie sagen, zum Beyspiel, Diogenes suche aus Hochmuth was besondres darin, sich in Kleidung, Lebensart und Manieren von allen andern Leuten zu unterscheiden. D. In allen diesen Punkten handelt er nach seinen Grundsätzen; er sucht also nichts - als mit sich selbst übereinzustimmen; und das ist freylich sonderbar genug! Aber wie kommen die ehrlichen Korinthier dazu, die geheime Triebfeder meines Betragens so zuverlässig angeben zu können? - Doch wir wollen nicht über einen Punkt streiten, wo es so schwer ist einander zu überzeugen. - Gesetzt sie hätten Recht, so hieße das weder mehr noch weniger, als ihr Hochmuth finde nicht gut, daß der meinige eine andre Maske trage als er. - Aber, gerade von der Sache zu reden, würden nicht eure reichen Wollüstigen, selbst für ihren eigenen Vortheil, besser thun, wenn sie wenigstens in der Mäßigkeit meinem Beyspiele folgten? Wie viele von ihnen befinden sich bey der schmeckenden Giftmischerey ihrer Köche so wohl, als ich bey der einfältigen Nahrung, welche die Natur überall für mich zubereitet? Welcher unter ihnen allen, wenn der dem Komus nur zehn Jahre geopfert hätte, dürfte es mit mir an Stärke und Geschmeidigkeit aufnehmen, die
Probe möchte nun mit den Spielen, die zu Olympia gekrönt werden, oder mit denen, wovon die Schönen Richterinnen sind, gemacht werden sollen? Diese äußerste Mäßigung hat, nachdem ich ihrer einmahl gewohnt bin, nichts beschwerliches mehr für mich, und verschafft mir hingegen Vortheile, welche mit dem schalen Vergnügen, meinen Gaumen zu kitzeln, gewiß in keine Vergleichung kommen. Denn seitdem ich diese Lebensart führe, die euch so armselig vorkommt, bin ich immer munter und zu allem aufgelegt; mein Gemüth ist unbewölkt, meine Vernunft unbefangen, mein Herz fühlend, alle meine Kräfte stehen mir zu Gebot, und es hängt nicht von meinem Magen ab, ob ich ein Genie oder ein Dummkopf, ein angenehmer oder ein unerträglicher Gesellschafter für mich selbst und andere seyn soll. Die Schönheiten der Natur verlieren ihren Reitz nie für mich, und gegen ihre Abwechslungen bin ich abgehärtet. Ich kann Hitze und Frost ertragen, hungern und dursten, Wind und Wetter ausdauern, so lang' es die Natur eines Menschen ausdauern kann. Kurz, ich bin zu Erduldung aller Arten von Arbeit und Schmerzen geschickter, und empfinde das Reitzende der Wollust selbst desto lebhafter, je seltner ich sie koste. Laßt eure verzärtelten, mädchenhaften, nervenlosen, wetterlaunischen, kränkelnden und schmachtenden Sybariten, denen ein geknicktes Rosenblatt auf ihrem weichlichen Lager schon Schmerzen macht, laßt die herbey schleichen, und sich in allen diesen Stücken mit mir messen! - Es ist übrigens nicht mehr als billig, mein lieber Xeniades, als daß es so ist; die Günstlinge des Zufalls würden gar zu viele Vortheile über uns andere haben, wenn die Natur nicht auf sich genommen hätte, uns schadlos zu halten. - Und nun sprich selbst, sollte ich, dem Naserümpfen der Korinthier zu Ehren, der Stimme dieser guten Mutter ungetreu werden? - Diogenes ist zu sehr sein eigner Freund! X. Du magst in der Hauptsache so unrecht nicht haben, Diogenes; aber was würde aus der Welt werden, wenn jedermann nach deinen
Grundsätzen leben wollte? Und hat die Natur, indem sie den Erdboden mit Gegenständen des Vergnügens für uns angefüllt und den Menschen mit Witz und Geschicklichkeit ausgerüstet hat, tausend Künste zu erfinden, welche sich einzig mit Verschönerung des Lebens beschäftigen; - hat sie dadurch nicht selbst zu erkennen gegeben, ihre Absicht sey nicht bloß daß wir leben, sondern daß wir auf die angenehmste Weise leben sollen? D. Es ließe sich vielleicht manches gegen die Einbildung sagen, womit wir uns zu schmeicheln pflegen, als ob alles in der Welt um unsertwillen gemacht sey. Der Schluß, »ich kann etwas zu einer gewissen Absicht gebrauchen, also ist es dazu gemacht,« ist offenbar falsch; denn ich kann, zum Exempel, einen Becher für einen Topf gebrauchen, ob er gleich zum Trinkgeschirr bestimmt war. Die Frage bleibt immer: ob wir nicht viele Dinge durch den bloßen Gebrauch, den wir davon machen, schon mißbrauchen? - Es käme auf besondere Untersuchungen an, in die wir uns jetzt nicht einlassen wollen; ich hab' es auch zu Beantwortung deines Einwurfs nicht vonnöthen. Gesetzt die Natur habe alle ihre Werke, mit allen Schöpfungen der Kunst, (welche in gewissem Sinne die Tochter der Natur genannt werden kann) zu unserm Gebrauch und Vergnügen bestimmt: so könnten wir sie hierin einem reichen Manne vergleichen, der ein großes Gastgebot angestellt, und dazu alle Arten von Gästen aus allerley Ländern, Völkern und Zungen, von allerley Klassen, Ständen, Geschlecht und Leibesbeschaffenheit, eingeladen hätte. Natürlicher Weise würde er recht daran thun, so vielen und mannigfaltigen Gästen vielerley Gerichte, und alles in großem Überflusse vorzusetzen. Nun stelle dir unter diesen Gästen irgend einen starken Kerl vor, der, nicht zufrieden mit dem was vor ihm stände, auch die entfernten Schüsseln alle zu sich raffte, und, ohne zu bedenken, daß nicht alles für ihn allein zubereitet worden, und daß er nur Einen Magen hat, oder daß gewisse Speisen nur für die schwachen und kränklichen Gäste aufgestellt sind, alles allein zu verschlingen suchte, bis er so voll
wäre daß er das Überflüssige wieder von sich geben müßte - was würdest du von einem solchen Menschen sagen, oder wie meinst du daß er von dem Herrn des Gastmahls angesehen würde?6 X. Die Antwort giebt sich von selbst. D. Und die Anwendung meines Gleichnisses auch. Eure Reichen, die ihre Speisen aus allen Elementen und Himmelsgegenden zusammen suchen lassen, sind der Gast, der das ganze Gastmahl der Natur, wenigstens so viel an ihm ist, allein verschlingen will. Laßt einen jeden nach dem greifen, was ihm zunächst liegt, und nicht mehr essen als er bedarf um seinen Hunger zu stillen: so werden wir alle von der Tafel der Natur gesättigt aufstehen, werden uns alle wohl befinden, und niemand wird über Unverdaulichkeit klagen, oder seinen Mitgästen durch unziemliche Entladungen beschwerlich fallen. Das wäre alles, was daraus entstände, wenn jedermann nach meinen Grundsätzen lebte. Aber sey immer unbesorgt, Xeniades. Ich werde nie so viel Nachfolger bekommen, daß die dermahlige Verfassung der Welt darunter Gefahr liefe. Und wenn wir auch den unmöglichen Fall setzen, daß mein Beyspiel Kraft genug hätte, ein ganzes Volk zu meinem System zu bekehren; meinst du, daß es desto schlimmer für sie wäre? - Ich habe gute Lust - Aber, was ists? Hörst du nicht ein ängstliches Geschrey vom Ufer her? - Ich will dir meine Republik schuldig bleiben, Xeniades - ich muß sehen was es ist.
24.
Es war nichts - als eine kleine Barke, die an einer Klippe nah am Ufer umschlug. Ich ward unter den Schwimmenden einer Person gewahr, welche nicht Kräfte genug zu haben schien das Ufer zu 6
Die Leser Lucians werden sich erinnern wem diese Stelle zugehört.
erreichen. In einem Augenblicke lag mein Mantel im Sande; ich sprang ins Wasser - Anständigkeit oder nicht! - Es kam jetzt darauf an das Leben einer menschlichen Kreatur zu retten. »Es war also eine Weibsperson?« Ich kann nichts dazu, daß es so war; indessen - glaubt mirs oder nicht - dacht' ich in diesem Augenblick nicht mehr daran, als an den Mann im Monde. - Ich lud sie auf meinen Rücken, und arbeitete mich mit ihr ans Ufer. Sie in den Sand hinzulegen und davon zu gehen, wäre unartig gewesen; man muß nichts Gutes halb thun. Ich trug sie also bis zum nächsten Grasplatze, der mit einigen Gebüschen bewachsen war. Ihr könnt euch vorstellen, daß ich während allem dem Gelegenheit hatte, die Entdeckung zu machen, daß die Frau eine schöne Frau war. Interessiert sie euch nun weniger seitdem ihr das wißt? - Es ging mir wie euch. Inzwischen war ich noch immer ohne Mantel. Die schöne Frau, und die Sorge sie wieder zurecht zu bringen, beschäftigte meine Aufmerksamkeit so sehr, daß ich nicht auf mich selbst Acht geben konnte - bis sie die Augen zu öffnen anfing. Ich wollte wetten, daß sie nicht viel gesehen haben konnte, so schnell schloß sie die Augen wieder zu. Die Verwirrung, womit sie es that, machte mich stutzen; und jetzt ward ich erst gewahr, daß ich ohne Mantel war. Ich erzähle euch die Sache mit allen ihren Umständen wie sie war, ohne das geringste zu verschönern. - Ruhe indessen hier an der Sonne, und trockne doch so gut du kannst, sagte ich; ich gehe einen Augenblick meinen Mantel zu hohlen; denn ich will und muß deine Augen sehen, und hören wozu ich dir noch weiter gut seyn kann.
Ich lief fort. In zehn Minuten hatte ich meinen Mantel wieder. Ich kam zurück. Sie hatte indessen ihr Oberkleid ausgewunden und gegen die Sonne ausgebreitet, und war im Begriffe, sich hinter dem Gesträuche auf der übrigen zu entladen. Ein großer Busch hinderte sie mich gewahr zu werden, ungeachtet sie immer schüchtern um sich sah. Ich blieb stehen, und - sah ihr zu. Ich sage euch weiter nichts davon, als - daß ich unter hundert jungen Menschen neun und neunzig und einem hätte rathen wollen, anders wohin zu sehen, oder lieber gar wegzugehen. Aber ein Mann von funfzig Jahren, der seit mehr als zwanzig von Salat, Bohnen und Wasser lebt, darf eine jede schöne Statue ansehen, sie mag nun aus den Händen eines Alkamenes oder der Natur selbst gekommen seyn. Endlich war das Oberkleid trocken. Sie wickelte sich darein ein, setzte sich an die Sonne, die sich schon zum Untergang neigte, und schien sich umzusehen wo ich bliebe. Ich kam zum Vorschein. Sie erröthete, schlug die Augen nieder, und sah wie eine Person aus, die in Verlegenheit ist. Ich komme wieder, schöne Fremde, sagte ich, (hier klärte sich ihr Gesicht ein wenig auf, aber die Röthe nahm zu) um zu vernehmen, worin ich dir weiter dienen kann. Sie schwieg eine Weile. Wolltest du mir, sagte sie endlich, den Gefallen thun, und sehen was aus einer alten Frau geworden ist, die bey mir in der Barke war? Sie war meine Amme; ich hoffe sie ist gerettet. Ich flog nach dem Ufer. - Alles war gerettet; nur von der alten Amme konnte niemand Nachricht geben. Die schöne Frau weinte, da ich ihr diesen Bericht brachte; sie lief selbst ans Ufer, bat die Schiffer ihre Amme aufzusuchen, versprach Belohnungen, und - weinte vielleicht noch, wenn nicht eine Kiste, die nicht weit von ihr im Sande lag, ihrer Aufmerksamkeit eine andre Richtung gegeben hätte. Sie gehörte ihr zu,
und war mit Kleidern und tausend Sachen, die zur Rüstung einer schönen Frau gehören, bepackt. Zum Glücke war alles unbeschädigt. Ein Strahl von Freude entwölkte plötzlich ihr ganzes Gesicht; - es war ein sehr liebliches Gesicht, das versichr' ich euch. Aber die Amme fand sich nirgends und die Sonne ging unter. Die schöne Frau, ziemlich getröstet daß sie wenigstens ihre Kiste gefunden hatte, sagte mir den Nahmen einer Freundin, zu der ich sie führen sollte. Ein Schiffer, mit ihrer Kiste beladen, zeigte uns den Weg. Wir langten an; die schöne Frau dankte mir, und ich - wünschte ihr eine gute Nacht. - Zum ersten Mahle schien sie mich mit Aufmerksamkeit und einem gewissen Erstaunen zu betrachten. Ruhe wohl, schöne Fremde, sagte ich und ging fort.
25.
Nun fragte ich alle ehrlichen Leute, Griechen und Barbaren, Männer und Weiber, (die Zwitter und Kastraten mit eingerechnet) »was an der Geschichte, die ich eben erzählt habe, denn so sehr ärgerliches ist?« Auf mein Wort, ich begreife nichts davon. Alle Umstände vorausgesetzt wie sie wirklich waren, seh' ich nicht, wie ich selbst, oder die schöne Frau, oder beide zusammen, uns anders hätten betragen sollen als wir thaten. Indessen höret was geschah! Des folgenden Tages war die Sache in ganz Korinth ruchbar; man sprach drey Tage lang von nichts anderem als von Diogenes und der schönen Frau; man erzählte einander den Umstand mit einem andern von eigner Erfindung; man setzte sie sogar in Verse, und gestern Nachts hörte ich sie auf der Gasse singen.
Aber das ist noch nichts. Man urtheilte auch darüber; man untersuchte, was Diogenes und die schöne Frau gethan hatten, was sie nicht gethan hatten, aus was für geheimen Bewegursachen und zu welchem Zwecke sie es gethan hätten; was sie unter diesen oder andern gegebenen Umständen hätten thun können, oder thun sollen, u.s.w. Man sprach für und wider davon, und die Stimmen fielen einhellig dahin aus: »Daß Diogenes in dieser ganzen Sache weder als ein weiser noch als ein tugendhafter Mann gehandelt habe.« Eine alte Dame fand sehr übel, daß er seinen Mantel so spät gehohlt hätte. Was für eine Unvorsichtigkeit, wenn man der Sache auch den gelindesten Nahmen geben wollte! Wie war es möglich, das Vergessen seiner selbst so weit zu treiben? Er hätte die Frau, ehe sie sich noch erhohlt hatte, ans Ufer hinlegen, und erst, nachdem er seinen Mantel wieder umgehabt hätte, an einen bequemern Platz tragen sollen. Sie sind sehr gutherzig, Madam, sagte eine Andere: sehen Sie denn nicht, daß man etwas mit gutem Bedacht vergessen kann? - und daß es ihm gemüthlich seyn mochte, an das Nothwendigste nicht eher zu denken als bis es zu spät war? Bey den Eleusinischen Göttinnen, schwor eine Dritte, er hätte sich nicht mehr vor mir sehen lassen dürfen, wenn ich die Fremde gewesen wäre! Vermuthlich, nahm die Vierte das Wort, war die Dame aus einem Lande, wo man noch im Naturstande lebt. Oder sie sah ihn für einen Satyr an, - sagte die Fünfte, eine große dicke Frau, welche die Miene hatte sich vor zehen Satyrn nicht zu fürchten. Ich weiß nicht, warum Sie rathen mögen, sprach die Sechste. Ich denke, die Sache spricht von sich selbst. Wenn es nun der Geschmack dieser Dame so ist? Allen Umständen nach war es ohnehin so eine Dame
von - den Damen, bey denen es eben nicht viel zu bedeuten hat, ob man ihnen so gar regelmäßig begegnet oder nicht. So urtheilten die Damen von der ersten und zweyten Klasse zu Korinth; die Priesterinnen ausgenommen, welche gar nicht urtheilten, sondern sich nur nach allen Umständen erkundigten, und da sie hörten, daß er ohne Mantel gewesen als die Dame zum ersten Mahl die Augen aufschlug, feuerroth wurden, die Hände vor die ihrigen hielten, und nichts weiter hören wollten. In den männlichen Gesellschaften wurde die Sache aus einem andern Gesichtspunkt erörtert. Warum erstreckte sich seine Dienstfertigkeit nur auf die schöne Frau? Warum ließ er die ehrliche Amme zu Grunde gehen? Sie mußte doch, wie der Erfolg zeigte, seiner Hülfe eben so sehr benöthiget gewesen seyn! Die Frage ist um so begründeter, setzte ein Andrer hinzu, da sich vermuthen läßt, daß die schöne Frau auch ohne seine Hülfe das Ufer würde erreicht haben. Sie sind streng, meine Herren, sprach der Dritte: als ob es nicht natürlich wäre, sich lieber um eine schöne junge Frau als um ihre alte Amme Verdienste machen zu wollen, ha, ha, he! - Der Mann lachte über seinen guten Einfall - Ha, ha, he! Zumahl, fügte ein Vierter mit einer spitzfündigen Miene bey, da man nicht alle Tage einen so ehrbaren Vorwand findet, mit einer schönen Nymfe in puris naturalibus hinter eine Hecke zu gehen. Ich weiß von guter Hand, ließ sich ein Fünfter vernehmen, der erst kürzlich Rathsherr geworden war, daß sie über zwey Stunden allein bey einander im Gebüsche waren; und es könnten Zeugen aufgeführt
werden, welche seinen Mantel am Ufer und die Kleider der Dame an einem dürren Aste gegen die Sonne haben hangen sehen. Ich denke nicht gern das Ärgste, sprach ein Priester Jupiters, ein ernsthafter Greis - von vierzig Jahren, indem er sehr emfatisch auf sein gedoppeltes Unterkinn drückte. - Aber, so wie die Menschen einmahl sind, hör' ich nicht gern von großmüthigen Handlungen reden, wenn ein Frauenzimmer, zumahl ein junges und schönes Frauenzimmer, dabey im Spiel ist. Es fällt so stark in die Augen, warum man sich, wie schon vor mir erinnert worden ist, um diese letzte Klasse so gern verdient macht. Ich möchte, wenn ernsthaft von der Sache gesprochen werden soll, wohl wissen, warum eine schöne Frau, in so fern sie eine schöne Frau ist, liebenswürdiger seyn sollte als ihre Amme? Haben wir nicht die nehmlichen Pflichten gegen sie? Ist nicht in vorliegendem Falle die eine so hülfsbedürftig als die andere? Ist nicht Frömmigkeit und Unsträflichkeit der Sitten dasjenige, was den wahren Werth der Menschen bestimmt? Und hat eine junge oder schöne Frau dieser zufälligen Eigenschaften wegen etwa mehr Anspruch an Frömmigkeit und Tugend, als eine alte oder häßliche? - Natürlicher Weise ist eher das Gegentheil zu vermuthen. Ein tugendhafter Mann, wenn er weise ist, und das muß er seyn, oder seine Tugend läuft alle Augenblicke Gefahr zu straucheln - würde in einem solchen Falle, wo er unter beiden wählen müßte, sich um so mehr für die Amme bestimmt haben, je reiner bey dieser seine Bewegungsgründe seyn konnten, je erbaulicher das Beyspiel gewesen wäre, das er dadurch gegeben hätte, und je weniger er dabey für seine eigene oder ihre Tugend zu besorgen gehabt hätte. Vergieb mir, Vater der Götter und Menschen! - aber es ist mir unmöglich, deinen Priester länger so gravitätisch - Unsinn sagen zu hören. - Du sollst Recht haben, Priester Jupiters! Es ist nicht abzusehen, warum eine schöne junge Frau liebenswürdiger seyn sollte als ihre Amme; sie ist gar nicht liebenswürdig! - Die Tugend der alten Amme, das ist die Sache! Welch ein Kleinod! Dieses hätte gerettet werden
sollen! Laßt immerhin die schönen Frauen ertrinken! Was ist daran gelegen? Die Tugend gewinnt doch dabey! Die Versuchungen vermindern sich; was für Beyspiele wollten wir geben, wenn nichts als alte Ammen in der Welt übrig wären! - Diogenes hat weder als ein weiser noch tugendhafter Mann gehandelt; man giebt dir alles zu was du willst, Priester Jupiters, - nur schweige!
26.
Ohne Ruhmredigkeit, das vorher gehende Kapitel ist eines von den lehrreichsten, die jemahls geschrieben worden sind, und ich rathe euch wohlmeinend, es mehr als Einmahl mit aller möglichen Aufmerksamkeit zu überdenken. Ein nur mittelmäßig scharfsinniger Leser wird daraus, mit geringer Mühe, die Regeln verschiedener von den brauchbarsten und nützlichsten Künsten abstrahieren können; - als da sind die Kunst mit guter Art zu verleumden - die Kunst Begebenheiten in ein falsches Licht zu stellen, ohne an den Umständen etwas andres als Zeit und Ort zu ändern - die Kunst einer gleichgültigen und unschuldigen Sache einen Anstrich von Ärgerlichkeit zu geben - die Kunst individuelle Lügen durch allgemeine Wahrheiten aufzustutzen: - lauter Künste, die einen sehr ausgebreiteten Einfluß in das gesellschaftliche Leben haben, und von einer solchen Art sind, daß diejenigen, welches es darin auf einen gewissen Grad von Vollkommenheit gebracht haben, durchgängig so geheim damit thun, als gewisse Ärzte mit ihren Arcanis, weil sie den Nutzen, der daraus zu ziehen ist, für sich selbst behalten wollen. - Ich wiederhohl' es, es ist viel daraus zu lernen!
27.
Ich gestehe dir, Xeniades, ich unterlag der Versuchung, mich an der großen dicken Frau zu rächen, die mich mit einem Satyr verglichen hatte. Du kennst ja die Lysistrata, die Gemahlin des albernen Fokas? Ich ging an einem dieser Tage, um die Zeit der Mittagsruhe, zu ihr. Die Hitze war sehr groß. Ich fand sie in einem kleinen Sahl ihres Gartens auf einem Faulbettchen liegen. Ein junger Sklave - ein Mittelding von Knabe und Jüngling, der einem Mahler die Idee zum schönsten Bacchus gegeben hätte - kniete mit einem großen Luftfächer neben ihr, und zog sich zurück wie ich hinein trat. Ich sagte ihr, daß ich gekommen wäre, um eine von meinen Freundinnen in eine bessere Meinung bey ihr zu setzen, als worin sie, unwissend warum, das Unglück hätte bey ihr zu stehen. Sie schien nicht zu begreifen was ich wollte. Ich half ihrem Gedächtniß nach, und sagte ihr, die bemeldete Dame glaubte nicht ein so strenges Urtheil verdient zu haben, als neulich in einer gewissen Gesellschaft über sie ergangen wäre. In der That, setzte ich hinzu, wünschte ich zu wissen, wie Lysistrata in den nehmlichen Umständen sich anders hätte betragen wollen? »Es ist meine Schuld nicht, daß die Gesetze des Wohlstands so streng sind,« sagte sie Redest du von dem Wohlstande, der aus der innern Schönheit der Gesinnungen und Handlungen entspringt, oder von dem eingebildeten Wohlstande, der bloß von der Meinung der Leute abhängt? »Ich verstehe mich nicht auf eure Distinktionen, erwiederte die Dame. - Jedermann weiß, was man unter Wohlstand versteht, und alle Leute stimmen, glaub' ich, überein, daß es gewisse Regeln giebt, von
denen man sich nicht los zählen kann, ohne sich dem Urtheil der Welt auszusetzen.« Du zielest vermuthlich auf den Umstand, daß ich ohne Mantel war, wie die Dame zum ersten Mahl die Augen aufschlug. Ich gestehe, es war nicht nach den Regeln; allein die Umstände müssen mich entschuldigen, und ich dachte in der That nichts böses. »Die Rede ist nicht von dem, was du dachtest, sondern was du thatest,« sagte sie lächelnd. Ich wollte für nichts stehen, schöne Lysistrata, wenn ich mich mit einer so reitzenden Frau, als ich jetzt vor mir sehe, in so seltsamen Umständen befände. »Ich sehe nicht warum du mich ins Spiel ziehen willst,« versetzte sie erröthend, indem sie ihr Halstuch, welches ein wenig in Unordnung war, so nachlässig zurecht machte, daß das Übel merklich größer wurde als es gewesen war. Aber im Ernst, schöne Lysistrata, würdest du fähig gewesen seyn, einem Menschen, der dir das Leben gerettet hätte, eine solche Kleinigkeit nicht zu vergeben? Im Grunde war es doch immer die nichtsbedeutendste Sache von der Welt. »Nicht so sehr als du dir einbildest.« Aber warum das? - Ich müßte mir einen kleinen Begriff von der Tugend eines Frauenzimmers machen, wenn ich glaubte, daß ein Zufall dieser Art, wobey weder auf der einen noch andern Seite die mindeste Absicht war, fähig seyn sollte sie aus ihrer Fassung zu setzen. »Wer sagt auch das? - Ich wollte nicht, daß ihr euch für so gefährlich hieltet: aber was würde aus der Achtung, die man uns schuldig ist, werden, wenn wir so geneigt wären, wie deine Fremde,
dergleichen Freyheiten, so wenig auch Absicht dabey seyn möchte, zu verzeihen?« Vielleicht, schöne Lysistrata, sah sie ihren Retter für einen Satyr an, von dem sich kein so zartes Gefühl erwarten läßt? Sie erröthete zum zweyten Mahle. - »Du bist boshaft, Diogenes,« sagte sie, indem sie sich etwas mehr auf meine Seite drehte, ohne Acht zu geben, daß diese Bewegung die Drapperie ihres linken Fußes in eine gewisse Unordnung brachte, welche ihrer ganzen Figur, so wie sie auf dem Ruhebette lag, zwar ein desto mahlerischeres Ansehen gab, aber doch Eindrücke machen konnte, welche sie, nach der Präsumzion die für eine tugendhafte Dame vorwaltet, vermuthlich nicht zu machen gesonnen war. In der That, Lysistrata, sagte ich, einem Satyr ist vieles erlaubt, was man einem andern nicht vergeben würde. - Die Richtungslinie meiner Augen hätte sie aufmerksam machen sollen, wenn sie weniger zerstreut gewesen wäre. - Ich wollte dir, zum Beyspiel, nicht rathen, schöne Lysistrata, fuhr ich nach einer kleinen Pause fort, doch mit Vorsatz in die Stellung zu setzen worin ich dich wirklich sehe, wenn du dich in der mindesten Gefahr glaubtest von einem Satyr überrascht zu werden. »Wer sollte sich einfallen lassen, sagte sie, indem sie sich mit einer angenommenen Verwirrung in sich selbst hinein schmiegte, daß die Filosofen für solche Kleinigkeiten Augen hätten! - Du trauest mir doch zu, daß ich nicht daran dachte, deiner Weisheit Zerstreuungen zu geben?« Ich weiß nicht was du dachtest; aber ich weiß was ich zu thun hätte, wenn ich dich überreden könnte, mir die Vorrechte eines Satyrs zuzugestehen.
Die Dame sah mich mit einem kleinen Erstaunen, das nichts abschreckendes hatte, an. - Es war ein Blick, der in meinen Augen zu suchen schien, ob ich wirklich so viel fühle als ich sagte. Da alles seine Grenzen hat, fuhr ich mit einem großen Seufzer fort, sollte nicht auch die Tugend die ihrigen haben? - Ich fühl' es zu sehr, schöne Lysistrata, als daß ich nicht wünschen sollte, dich davon überzeugen zu können. Ich gab in diesem Augenblick nicht mehr auf meinen Mantel Acht, als die Dame vor einigen Augenblicken auf ihre Tunika. - Sie hatte ihre Augen halb geschlossen, und ihr mit Gewalt aus seinen Fesseln drängender Busen hätte mich selbst beynahe aus meiner Fassung gesetzt. O reitzende Lysistrata, rief ich, indem ich mich ihr mit einer Bewegung näherte, als ob ich mir kaum verwehren könne sie zu umarmen, - warum kann ich dir nicht eine gelindere Denkungsart einflößen! Die strenge Tugend, von der du zu öffentlich Profession machst, - ich verehre sie, - sie zwingt mich dazu! - aber wie würd' ich dich lieben, wenn du fähig wärest, der armen Fremden den kleinen Fehler zu vergeben, der dir so anstößig gewesen ist! Wie bald könntest du das, wenn du nur selbst fähiger wärest, eine Schwachheit zu begehen! »Ich verstehe dich in der That nicht, sagte sie; aber - du würdest mir einen Gefallen thun, wenn du mich allein lassen wolltest.« Kannst du im Ernst einen so grausamen Gedanken haben? sagte ich in einem tragischen Ton, indem ich eine ihrer Hände ergriff und mich vorwärts an den Rand ihres Ruhebettes setzte. Sie zog ihre Hand so unvorsichtig zurück, daß die meinige, indem sie der ihrigen folgte, auf einen Theil des besagten Busens zu liegen kam. »Ich will nicht mit mir spielen lassen,« sagte sie.
Das ist es eben, was mich zur Verzweiflung treibt, rief ich: ich möchte unsinnig werden, daß ich mich selbst in eine solche Gefahr wagte, da ich doch so viele Ursache hatte, mir von deiner Tugend die fürchterlichsten Begriffe zu machen! Sie schwoll vor Wuth auf, ohne zu wissen, wie sie mit Anständigkeit ausbrechen könne. Du siehst, allzu reitzende Lysistrata, wie viel mir noch fehlt, um so sehr Satyr zu seyn als ich aussehe. Aber gestehe mir, würdest du nicht selbst so gut betrogen worden seyn als meine Fremde? Sie brach vor Zorn in Thränen aus. Ich fühlte, daß ich schwach zu werden anfing, und stand auf. In diesem Augenblick trat der Sklave herein, um der Dame etwas ins Ohr zu raunen. - So leise ich höre, so vernahm ich doch nichts als den Nahmen Diofant, - des Priesters, der nicht begreifen konnte, warum eine schöne Frau liebenswürdiger seyn sollte als ihre Amme. Der Knabe eilte mit einem Befehl wieder fort, von dem ich nichts verstehen konnte. Ich hatte keinen andern Wink vonnöthen. Ich hoffe, Lysistrata, sagte ich, daß ich dich mit der Gewißheit verlassen darf, dir eine bessere Meinung von mir und der schönen Fremden beygebracht zu haben. Der ehrwürdige Diofant kommt so gelegen, die Gemüthsverfassung, worin ich dich verlasse, zu bearbeiten, daß es unbillig wäre, ihn nur einen Augenblick aufzuhalten. Lebe wohl, schöne Unerbittliche! - Und damit ging ich fort, ohne eines Blicks oder einer Antwort gewürdiget zu werden. Ich begreife nicht, sagte Xeniades, wie du so viel Gewalt über dich haben konntest, eine Rache zu nehmen, die dir wenigstens so beschwerlich seyn mußte, als der Dame selbst.
Du kannst nicht glauben, Xeniades, wie herzlich ich diese Gleißnerinnen hasse! - so sehr, als ich Unschuld und wahre Tugend ehre. Die Begierde, sie die ganze Verachtung, die sie verdiente, fühlen zu lassen, machte mich zu allem fähig, ungeachtet ich dir gestehe, daß eine Art von Gutherzigkeit mir, da ich sie so schrecklich leiden sah, beynahe einen Streich gespielt hätte, den ich mir in meinem Leben nicht vergeben haben würde.
28.
Wer es nicht selbst, oder doch etwas ähnliches erfahren hat, begreift nicht, was für ein Unterschied ist, nach dem Hafen zu gehen weil man da zu thun hat, oder auch nichts zu thun hat, und nach dem Hafen gehen zu müssen, um sich für zehen Jahre auf eine Galeere schmieden zu lassen. Ich selbst habe den Unterschied nie so lebhaft empfunden als dieser Tage, da ich auf einem meiner irrenden Spaziergänge in das Gehölze gerieth, welches sich nicht weit von Neptuns Tempel längs dem Ufer hinzieht, und, wie ihr wißt, den Nereiden geheiligt ist. Indem ich nichts weniger dachte als auf eine alte Bekanntschaft in dieser wilden Gegend zu stoßen, erblickte ich einen Mann von ungefähr fünf und dreyßig Jahren, übel gekleidet, ungekämmt, hager, blaß, hohlaugig, kurz, mit allen Attributen des Kummers und Elends, unter einen Baum hingeworfen. Er war im Begriff, mit einer Hand voll Wurzeln, die er eben ausgerauft hatte, und etlichen Stückchen in Wasser geweichtem Zwieback seine Abendmahlzeit zu halten. Ich glaubte den Mann zu kennen, und da ich näher kam, sah ich mit einigem Erstaunen, daß es Bacchides von Athen war, dem kurz zuvor, eh' ich diese Stadt zum letzten Mahl verließ, ein Vermögen von wenigstens acht hundert
Attischen Talenten von einem alten Wucherer, dessen einziger Sohn zu seyn er das Unglück hatte, erblich zugefallen war. Wie treff' ich hier den glücklichen Bacchides an? und so allein, bey einer so frugalen Mahlzeit? - sagte ich. »Glücklich! - Ach, Götter! rief er seufzend, diese Zeit ist vorbey, Diogenes! - denn der bist du, wenn mich anders meine Augen nicht täuschen.« Ich wünsche, daß sie dich nie mehr getäuscht haben mögen, versetzte ich. »Du kommst sehr gelegen: ich wollte dich aufsuchen; denn ich komme von Athen, mich in deine Schule zu begeben.« So hast du eine vergebliche Reise gemacht; denn ich halte keine Schule. »Ich werde also dein erster Schüler seyn. Ich will von dir lernen, wie du es machst, um in diesem dürftigen Zustande, worin du schon so viele Jahre lebst, glücklich zu seyn?« Und wozu wolltest du diese Wissenschaft nützen? »Wozu? - Ich dächte, mein bloßer Anblick sollte diese Frage beantworten.« Ich sehe wohl, daß einige Veränderung in deinen Umständen vorgegangen seyn muß. »Eine sehr große, bey allen Göttern, eine sehr große! Du kanntest mich noch, da ich Häuser, Landgüter, Bergwerke, Fabriken, Schiffe, kurz, genug hatte, um mich von dem größten Theil meiner Mitbürger beneidet zu sehen -«
Ohne Zweifel hattest du auch Bildsäulen, Gemählde, Persische Tapeten, goldene Trinkgefäße, schöne Sklaven, Tänzerinnen, Pantomimen »Die hatte ich, beym Jupiter! die hatte ich, und besser als jemand zu Athen!« Ich bedaur' es. »Ich finde nichts dabey zu bedauern, als daß ich sie nicht mehr habe.« Beides! Aber durch was für Unglücksfälle Ich will dir die Wahrheit gestehen, Diogenes, - auch ist es mein einziger Trost, daß ich meine Reichthümer doch genossen habe! - Keine Unglücksfälle, - Pracht, Aufwand, Feste, Gastmähler, Buhlerinnen, haben mein Vermögen aufgezehrt. Zehen glückliche Jahre - wie kann ich ohne Verzweiflung an das denken, was ich jetzt bin! - Zehen glückliche Jahre brachte ich ununterbrochen mit Komus und Bacchus und Amorn und der lachenden Venus und mit allen Göttern der Freude zu.« Und diese freundlichen Götter halfen dir in zehen Jahren ein Vermögen von acht hundert Talenten zu verschlingen? »Wenn es noch einmahl so viel gewesen wäre, ich würde mit ihnen Mittel gefunden haben, es gegen Freuden und Wollüste zu vertauschen. Ich gesteh' es, ich war ein unbesonnener Mensch; ich dachte nicht an die Zukunft.« Und jetzt, da du gezwungen bist an sie zu denken, was sind deine Anschläge? »Ich habe keine, Diogenes, ich weiß mir nicht zu helfen.«
Du wirst dir doch mit so vielem ausgeworfenen Gelde, so viel Festen und Gastmählern, Freunde gemacht haben? »Freunde so viel du willst; aber seitdem ich nichts dergleichen mehr zu geben habe, kennt mich keiner mehr.« Das hättest du in der Akademie - oder, weil du vermuthlich kein Liebhaber von graubärtiger Gesellschaft warest, von zwanzig ehmaligen Glücklichen, welche sich bey dir eingefunden haben werden, lernen können, ohne es auf die eigne Erfahrung ankommen zu lassen. - Doch ich will die Vorwürfe, die du dir vermuthlich selbst machst, nicht durch die meinigen vermehren. Die Frage ist, was wir nun anfangen? Du würdest doch zufrieden seyn, wenn dir irgend eine wohlthätige Gottheit dein verlornes Vermögen wieder gäbe? »Welch eine Frage! - Leider! kenne ich nur keine so freygebige Wesen.« Du irrst, Bacchides; der Fleiß ist dieser hülfreiche Gott! Arbeit und Mäßigkeit sind ergiebige und unerschöpfliche Goldgruben, in denen der ärmste Sohn der Erde graben darf so viel er will. »Aber ich mag nicht graben, mein guter Diogenes; und wenn ich wollte, so kann ich nicht; alle Arten von Arbeiten wollen gelernt seyn, und ich - ich habe nichts gelernt.« Ich will zugeben daß du keine Kunst verstehest, die dich nähren könnte; aber du hast Verstand, du kannst reden; - widme dich der Republik; bewirb dich um das Vertrauen der Athener »Du scherzest gar zu bitter, Diogenes! Wie wollte ich die Athener überreden können, ihre Sicherheit, ihre Wohlfahrt, ihre gemeinen Einkünfte, einem Menschen anzuvertrauen, der sein eignes Erbgut nicht zu erhalten gewußt hat?« Es dürfte schwer halten.
»Zudem muß man eine Menge Dinge wissen, um die ich mich nie bekümmert habe, wenn man den Staatsmann machen will.« In deinen Umständen wenigstens; ohne Vermögen ist freylich ordentlicher Weise kein andres Mittel sich empor zu schwingen, als Verdienst. - Wir wollen diesen Vorschlag aufgeben. - Aber du kannst ja Kriegsdienste nehmen.« »Als Gemeiner? - Lieber wollt' ich mich auf eine Ruderbank vermiethen! Als Officier? - Dazu gehört Geld oder Unterstützung, oder persönliches Verdienst.« Wohlan! wenn dir von dem allen nichts gefällt, so sind noch andre Auswege übrig. - Sie sind nicht so ehrenhaft; aber wo man so wenig Wahl hat - Zum Beyspiel, reiche Damen, die zu den Jahren gekommen sind, wo man den Werken der goldnen Venus entweder entsagen, oder seine Liebhaber erkaufen muß - Du schüttelst den Kopf? »Ach Diogenes! Auch diesen armseligen Ausweg hab' ich mir gesperrt. - Die Damen, von denen du sprichst, fordern viel; - du kannst dir doch einbilden, daß ein Mensch, der in zehn Jahren acht hundert Talente durchgebracht hat, zu keinem solchen Amte taugt -« O, die Vortheile des Reichthums! - Ich gestehe dir, ich bin am Ende meiner Anschläge. »Du hast das alles nicht nöthig, wenn du mich lehren willst, wie Du es machst, um in eben so dürftigen Umständen als die meinigen, so glücklich zu seyn, wie du es wenigstens zu seyn scheinest.« Ich bin es in der That; aber laß dir sagen, daß du irrest, wenn du mich in dürftigen Umständen glaubst. Hierin betrügt dich der Schein. Ich bin reich, mein guter Bacchides! - reicher, denk' ich, als der König von Persien - denn ich bedarf so wenig, daß ich das, was ich bedarf, allenthalben finde, und ich werde nicht gewahr daß mir etwas mangle.
Diese Begnügsamkeit erhält mich so gesund und stark wie du mich siehest. Nicht selten reiß' ich, aus Mitleiden, oder um mir Bewegung zu machen, dem schwitzenden Sklaven die Mühle aus der Hand, und mahle für ihn. »Sonderbarer Mann!« - rief Bacchides aus. Du glaubst nicht, Bacchides, wie viel darauf ankommt, daß das Instrument, worauf unsre Seele spielen soll, wohl gestimmt sey. Gesund am Leibe, gesund am Gemüthe, gesund im Kopfe, - etliche Grane Narrheit ausgenommen, um die ich mich nicht desto schlimmer befinde, - ohne Sorgen, ohne Leidenschaften, ohne beschwerliche Verbindungen, ohne Abhängigkeiten, wie sollt' ich nicht glücklich seyn? Ist nicht die ganze Natur mein, in so fern ich sie genieße? Welch eine Quelle von Genuß liegt nur allein im sympathetischen Gefühle! - Ich besorge du kennest diese Quelle nicht, Bacchides! - Und zu allem dem hab' ich einen Freund. »Indessen lebst du doch von Bohnen und Wurzeln, bist in Sacktuch gekleidet, und wohnest, wie man sagt, in einem Fasse -« Wenn du mir Gesellschaft leisten willst, so werden wir in meinem Sommerhause wohnen; es liegt nicht weit von hier am Ufer, und hat die prächtigste Aussicht von der Welt; denn für unser zwey ist meine Tonne zu enge. Es ist zwar in der That nur eine Art von Höhle, von der Natur selbst ausgegraben; aber ich habe alle nöthige Bequemlichkeiten darin, dürre Baumblätter zum Lager, und einen breiten glatten Stein zum Tische. »Ich nehme dein Anbieten an, in der Hoffnung, daß du großmüthig genug seyn werdest, einem Unglücklichen das Geheimniß nicht zu versagen, das du besitzen mußt, um dir einbilden zu können, daß du reich und glücklich seyst.«
Ich konnte mich des Lachens nicht erwehren. - Du sprichst ja, als ob du dir einbildest, ich trage Amulete oder magische Zeichen bey mir, welche diese Kraft hätten. Um dir nicht zu schmeicheln, Bacchides, mein Geheimniß ist das einfältigste Ding von der Welt, aber es läßt sich nicht mittheilen. Meine Grundsätze lassen sich freylich lehren: aber um ihre Wahrheit zu fühlen wie ich sie fühle, und so glücklich durch sie zu seyn wie ich, muß uns die Natur gewisse Anlage gegeben haben, - die du vielleicht nicht hast. - Doch, machen wir immer eine kleine Probe! Gefällt es dir bey mir; gut - Wo nicht, so wird uns der Zufall etwann einen andern Ausweg zeigen.
29.
Hilf mir lachen, guter Xeniades; ich habe auf einmahl meinen Gast und einen Schüler verloren. Die erste Nacht, die er in meiner Grotte zubrachte, konnt' er keinen Schlaf finden; und doch hatte der Homerische Ulysses selbst, da er an die Fäakische Küste geworfen wurde, kein besseres Nachtlager als ich ihm zubereitete. Man merkte wohl, daß der Mensch auf weichen Polstern und Schwanenfellen zu liegen gewohnt war. - Eine Nachtigall sang zum Entzücken nicht weit von unsrer Höhle. Höre, sagte ich, die freundliche Sängerin, welch ein schönes Schlaflied sie uns singt! - Er hörte nichts, oder er fühlte doch nichts bey dem was er hörte. Des folgenden Morgens nahmen wir ein leichtes Frühstück von Brombeeren, die wir im Gebüsche pflückten; ich gab ihm ein wenig Brot aus meiner Tasche dazu. Er fand mein Frühstück in der That sehr leicht, und dachte mit Seufzen an die Mahlzeiten seines glücklichen Zustandes, und an die wenige Wahrscheinlichkeit, auf den Abend eine bessere zu finden als sein Frühstück war.
Ich fing an mit ihm zu filosofieren; ich bewies ihm, daß ein Mensch in seinen jetzigen Umständen der glücklichste von der Welt seyn könne, so bald er wolle. Er schien mir aufmerksam zuzuhören, er fand meine Gründe unwidersprechlich, aber sie überzeugten ihn nicht. Unter diesen Reden kamen wir an einen Ort, wo ihm Gegenstände in die Augen fielen, die ihn ganz anders interessierten als meine Filosofie. Unweit meiner Höhle hat ein alter Fischer seine Hütte. Er hat drey junge Töchter, welche meinem Athener (einem feinen Kenner schöner Formen) in ihrem schlechten Anzuge merkwürdig genug vorkamen, um sie näher in Augenschein zu nehmen. Die Mädchen saßen vor der Hütte unter einem Baum und strickten Netze. Bacchides fand, daß die eine so schöne Arme wie Juno, die andre einen Wuchs wie eine Nymfe, und die dritte ein Paar viel versprechende Augen hatte. Ich hatte noch nie darauf Acht gegeben. Du lächelst, Xeniades! Hab' ich dir jemahls eine Schwachheit, die ich hatte, verborgen? - Der alte Fischer hat auch eine Frau, die Mutter dieser Mädchen, welche sich, im Nothfall, nicht übel schicken würde eine Dämäter vorzustellen; aber damahls war sie nicht zugegen. Auf den Abend nöthigte mich Bacchides ihn in die Stadt zu führen. Er schien mit der Scharfsichtigkeit eines Habichts auf Beobachtungen auszugehen; aber er sagte mir nichts von denen die er machte. Eh' ich mirs versah, verlor ich ihn von meiner Seite. Eine Weile darauf sah ich ihn mit einem Sklaven reden. Er flog zu mir, wie er mich wieder gewahr wurde. Ich habe einen Fund gemacht, rief er mir mit einem Ausdruck von Freude und Hoffnung zu, der wieder Leben und Farbe in sein Gesicht brachte. - Und was ist das für ein Fund, fragte ich. - Ein junger Mensch, sagte er, der das Vergnügen liebt, oder, was eben so viel sagt, der ein junger Mensch ist, will sich diesen Abend mit seinen Freunden in geheim ergetzen; und sein Vater, ein reicher Filz, soll nichts davon wissen. Er hat einen vertrauten Sklaven ausgeschickt, ihm einen
bequemen Ort ausfündig zu machen; aber alle, die in den Vorschlag kamen, hatten ihre Schwierigkeiten. Ich sagte dem Sklaven, ich wisse eine vortreffliche Gelegenheit; und nun geht er es seinem Herrn zu melden, welcher mich ohne Zweifel zu sich bitten lassen wird. Du bist erst vier und zwanzig Stunden hier, rief ich, und kennest die Gelegenheit schon! Darf ich fragen Warum nicht? fiel er mir ins Wort: ich hoffe du wirst nicht so albern seyn, eine Gelegenheit, satt zu werden und dich zu belustigen, fliehen zu wollen. Die Hütte unsers Fischers ist groß genug zu unserm Vorhaben. Der alte Mann ist weggegangen, seine Fische ich weiß nicht wo zu verkaufen. Das Mädchen mit den versprechenden Augen sagte mir ins Ohr, er würde erst übermorgen wieder kommen. Und wo sprachst du sie? fragte ich. »Ich fand einen Augenblick dazu, da du auf deiner Streu ein wenig Mittagsruhe hieltest. Die Mädchen sind so lebhaft wie das Element an dem sie geboren wurden, wahre Nymfen! von der gefälligsten Art, denk' ich; und die Mutter scheint der Freude auch noch nicht entsagt zu haben.« Du bist ein guter Beobachter, Bacchides, sagte ich; und nun haben wir auf einmahl dein Talent gefunden. Gelegenheit machen ist an einem Orte wie Korinth kein unergiebiges Handwerk, und wirklich das einzige, das einem Manne von deiner Art übrig bleibt. Ich sehe, daß du meiner nun weiter nicht bedarfst; ich werde dich den Weg, den du gehen willst, allein machen lassen. - Gehabe dich wohl, Bacchides! - Aber kaum kann ich dir verzeihen, daß du mich durch deine neu angesponnene Intrigue um mein Sommerhaus bringst. Es hatte eine so schöne Lage! - Nun werd' ich es nicht mehr sehen; denn nicht alles, was dem Bacchides anständig seyn mag, geziemt dem Diogenes.
30.
Ja, Filomedon, ich behaupte es: der elendeste Wasserträger in Korinth ist ein schätzbarer Mann als du! - Du wirst mir meine Freyheit vergeben, - oder wenn du böse darüber würdest, so wirst du mir doch erlauben, daß ich - nichts darnach frage. »Das wollen wir sehen,« sagte Filomedon mit trotziger Miene. Ich habe so wenig zu verlieren, junger Mann, daß es nicht der Mühe werth wäre mich vor jemand zu fürchten. - Fy, wer wollte böse darüber werden wenn man ihm die Wahrheit sagt! »Unverschämter Geselle!« Du scherzest, Filomedon: die Wahrheit von dem, was ich sage, fällt so stark in die Augen, daß dich alle deine Eigenliebe nicht blind genug machen kann, sie nicht zu sehen. Der Wasserträger, so ein armer schlechter Kerl er ist, nützt doch dem gemeinen Wesen; aber wozu nützest Du? - Komm, keinen kindischen Trotz! Wir wollen freundschaftlich von der Sache sprechen. - Du verzehrst alle Jahre zwanzig Talente, das beträgt beynahe fünf hundert Drachmen auf jeden Tag. »Und es verdrießt dich, daß du es nicht auch so machen kannst, Diogenes, nicht wahr? Du könntest wenigstens mein Tischgenossen seyn, wenn du wolltest; aber dazu bist du zu stolz.« Nicht eben zu stolz, Filomedon, aber zu bequem. Seitdem ich die Beschwerlichkeiten der Sklaverey gekostet habe, wollt' ich das Glück mein eigner Herr zu seyn, nicht gegen alle Schätze Asiens vertauschen. »Gerade so denk' ich auch, Diogenes. Ich bin reich; ich genieße meines Reichthums, und andre genießen ihn mit mir. Er verschafft mir Ansehen, oft auch Einfluß. Ich habe nicht nöthig erst zu erwerben, was
mir das Glück freywillig zugeworfen hat. Warum sollt' ich nicht eben so gut mein eigner Herr seyn dürfen als du?« Der Schluß von mir auf dich geht nicht an; der Unterschied ist zu groß zwischen uns. Du ziehest jährlich zwanzig Attische Talente aus dem Staate; ich nichts. »Ich ziehe meine Einkünfte nicht vom Staate; sie sind mein Eigenthum.« Beides geht mit einander. Sie sind dein Eigenthum, es ist wahr; aber nur kraft des Vertrags, welcher zwischen den Stiftern der Republik getroffen worden, da sie die erste Gütertheilung vornahmen. Deine Vorfahren bekamen ihren Antheil unter der Bedingung, daß sie so viel, als in ihren Kräften wäre, zum Besten des Staates beytragen sollten. Dieser Vertrag dauert noch immer fort. Wer Vortheile aus dem Staate zieht, ist ihm auch Dienste schuldig. »Ziehest du etwa keine Vortheile aus dem Staate?« Welche zum Exempel? »Du lebst doch, und man lebt nicht von Luft. Du gehst frey und sicher unter dem Schutze der Gesetze herum. - Rechnest du das für nichts?« Es ist etwas, Filomedon; aber es ist doch nicht mehr als mir die Korinthier schlechterdings schuldig sind. Das wenigste, was ich nach dem Gesetze der Natur an sie zu fordern habe, ist, daß sie mich ungekränkt leben lassen, wenigstens so lang' ich ihnen nichts böses zufüge. »Warum sollten sie das mir nicht eben so schuldig seyn als dir, ohne daß ich ihnen mehr Dienste zu thun brauchen als du?«
Sie sind es auch; aber du würdest übel zufrieden seyn, wenn sie dich damit abfertigen wollten. Du forderst noch gar viel mehr von ihnen. Andre müssen deine Felder bauen, andre deine Herden hüten, andre in deinen Fabriken arbeiten, andre die Kleider weben die du anziehst, oder die Teppiche womit du deine Zimmer belegst, andre deine Speisen bereiten, andre den Wein pflanzen den du trinkst; kurz, alles was du nöthig hast, - und wie viele Bedürfnisse hast du nicht! - das müssen dir andre verschaffen: du allein legst dich hin und thust nichts, nichts auf der Welt als essen, trinken, tanzen, küssen, schlafen, und dir aufwarten lassen; und dieß alles kraft deiner zwanzig Attischen Talente, an die du kein andres Recht hast, als was dir der gesellschaftliche Vertrag und die daher fließenden bürgerlichen Gesetze geben; ein Recht, welches, wie ich sagte, gewisse Pflichten von deiner Seite voraussetzt, deren Beschaffenheit du vermuthlich in deinem ganzen Leben nie so ernsthaft in Überlegung genommen hast, als den Küchenzettel, über den du dich alle Morgen mit deinem Hausmeister berathschlägst. »Mich däucht, Diogenes, du vergissest, daß alles, was mir andre thun, entweder durch Sklaven geschieht, die ich dafür ernähre, oder durch Freywillige, die ich dafür bezahle?« Das wickelt dich noch lange nicht heraus, mein guter Filomedon. Wer giebt dir ein Recht, Menschen, welche von Natur deines gleichen sind, als dein Eigenthum anzusehen? - »Die Gesetze,« wirst du sagen; aber gewiß nicht das Gesetz der Natur, sondern Gesetze, welche ihre Verbindlichkeit eben demjenigen ausdrücklichen oder stillschweigenden Vertrage zu danken haben, auf den sich die ganze bürgerliche Verfassung stützet. Denn was anders als diese nöthigt deine Sklaven zu einem Gehorsam, den sie dir bald aufkündigen würden, wenn sie nicht durch eine so furchtbare Macht im Zaum gehalten würden? - Und kannst du dir einbilden, daß unter allen den Freygebornen, welche dir um Belohnung arbeiten, nur ein einziger sey, der dessen nicht lieber überhoben wäre, wenn ihn nicht dringende Bedürfnisse, oder die
Begierde sich zu bereichern, zu deinem freywilligen Sklaven machten? Meinst du nicht, die meisten, anstatt durch die beschwerliche Arbeit etlicher Tage dir kaum den zehntausendsten Theil deiner Einkünfte abzuverdienen, würden weit lieber, an deinem Platze, zwischen der lächelnden Venus und dem Bacchus, dem Geber der Freuden, auf einem wollüstigen Ruhebette liegen, und für die zwanzig Talente, welche sie jährlich ohne die geringste Mühe einzunehmen hätten, - (denn auch diese überträgst du deinem Verwalter) - zehntausend andre Menschen für sich arbeiten lassen? - Ja, es ist kein Zweifel, daß die meisten, wenn sie dürften, die ganz einfältige Überlegung machen würden, sie könnten sich diese Mühe ersparen, wenn ihrer etliche zusammen träten, und sich deines Vermögens mit Gewalt bemächtigen. Was anders sichert dich gegen diese Gefahr als die bürgerliche Polizey und der Schutz der Gesetze, von deren Handhabung die ganze Gültigkeit des Vertrags, ich arbeite dir damit du mich bezahlst, abhängt? Und gesetzt auch, du hättest keine Gewalt zu besorgen, so würden eben diese Leute, von denen du, gegen einen kleinen Theil deines Geldes, Nothwendigkeiten, Bequemlichkeiten und Wollüste eintauschest, dir ihre Waaren oder ihre Arbeit in einem so übermäßigen Preise verkaufen, daß deine zwanzig Talente kaum für die Bedürfnisse einer Woche zureichten, - wenn es nicht abermahl eine Wirkung der Polizey wäre, daß die Preise der Arbeiten und Waaren nicht von der Willkühr der Arbeiter und Verkäufer abhangen. Gestehe also, Filomedon, daß du von der bürgerlichen Gesellschaft, wovon du ein Mitglied bist, so große und wesentliche Vortheile ziehest, daß dir ohne sie alles Gold des Königs Midas wenig helfen würde. Ist aber dieses richtig, so brauchen wir weiter keinen Beweis, daß der erste beste Lastträger zu Korinth mehr Verdienste hat als du. Denn für den dürftigen Unterhalt, den ihm die Gesellschaft reicht, arbeitet er zu ihrem Dienste. Du hingegen, dem sie zwanzig Talente jährlich zu verzehren giebt, thust nichts für sie; oder wenigstens
ist dein ganzes Verdienst um den Staat das Verdienst einer Hummel, welche den besten Theil des Honigs, den die arbeitenden Bienen mühsam zusammen tragen, verzehrt, ohne etwas anders dafür zu thun, als dem Staate junge Einwohner zu verschaffen; - und erlaube mir zu sagen, daß du auch dieses nicht thun würdest, wenn der Reitz des Vergnügens nicht mächtiger auf dich wirkte, als das Gefühl deiner Pflichten gegen die Gesellschaft. Laß uns noch einen Fall setzen, Filomedon, der so möglich ist, daß wir in der That keine Stunde sicher sind, ihn nicht vorkommen zu sehen. - Zehen tausend Menschen haben unstreitig neunzehn tausend und acht hundert Arme mehr als hundert Menschen. Nun ist nichts gewisser, als daß gegen jedes Hundert deines gleichen in ganz Achaja wenigstens zehen tausend sind, welche bey einer Staatsveränderung mehr zu gewinnen als zu verlieren hätten. Gesetzt also, diese zehen tausend ließen sich einmahl einfallen, die Anzahl ihrer Arme auszurechnen, und das Facit ihrer Rechnung wäre, daß sie sich ihrer Übermacht bedienten, euch Reiche aus euren Gütern hinaus zu werfen, und eine neue Theilung vorzunehmen? So bald der Staat ein Ende hat, fängt der Stand der Natur wieder an, alles fällt in die ursprüngliche Gleichheit zurück, und - kurz, du würdest keinen größern Antheil bekommen, als der ehrliche Handwerksmann, der deine Füße bekleidet. Dieser einzige kleine Umstand würde dich in die Nothwendigkeit setzen, entweder zu arbeiten, oder - von so wenigem zu leben als Diogenes; und vermuthlich würde dir das eine so fremd vorkommen als das andere. Es ist wahr, ich habe einen Fall gesetzt, der, so möglich er ist, dennoch aus vielen Ursachen nicht sehr zu besorgen scheint. Aber, giebt es nicht noch viele andere Zufälle, die dich um dein Vermögen bringen können? Sehen wir nicht alle Tage Beyspiele von dergleichen Veränderungen? Und wie wolltest du dir in einem solchen Falle helfen?
Es ist also klar, daß deine Unnützlichkeit ein eben so großes Übel für dich selbst, als sie eine Ungerechtigkeit gegen den Staat ist, dem du für die Vortheile, die er dir gewährt, verhältnißmäßige Dienste schuldig bleibst, ohne dich zu bekümmern wie du deine Schuld bezahlen wollest; - kurz, wir mögen die Sache wenden auf welche Seite wir wollen, so fällt die Vergleichung zwischen dir und dem Wasserträger immer zu Gunsten des letztern aus.
31.
»Bey allem dem, Diogenes, würdest du schwerlich lieber Wasserträger als Filomedon seyn wollen?« Wenn ich dir die Wahrheit sagen soll, so möcht' ich weder das eine noch das andere seyn. »Aber, weil du doch so viel von der Gleichheit hältst, warum forderst du von mir so viel, und von dir selbst gar nichts? - Ich sehe nicht, womit Du dem Staate dientest; du treibst weder Kunst, noch Gewerbe, noch Wissenschaft, du bauest und pflanzest nicht, du verwaltest kein Amt, du thust nichts, nicht einmahl das, was du mir noch endlich zugestanden hast; du bist nicht einmahl eine Hummel im gemeinen Wesen. Womit willst du deine Unnützlichkeit rechtfertigen?« Man ist niemanden mehr schuldig als man von ihm fordert. Ich fordre von den Korinthiern und von allen Griechen und Barbaren zusammen genommen nichts mehr, als, wie ich dir schon sagte, daß sie mich leben lassen. Ich bin ihnen also auch nichts weiter schuldig. Ich besitze keine Güter, ich habe keine Einkünfte, ich bedarf keines Schutzes; ich sehe also nicht, was Korinth oder irgend eine andere Partikulargesellschaft in der Welt an mich zu fordern haben sollte.
»Wenigstens hat Sinope, deine Vaterstadt, ein vorzügliches Recht an deine Dienste. -« Gerade so viel als Babylon oder Karthago. - Da die Natur einmahl wollte, daß ich geboren werden sollte, so mußt' ich irgendwo geboren werden; der Ort selbst war dabey gleichgültig. Die Herren von Sinope wären sehr unhöflich gewesen, wenn sie meiner Mutter, die eine ehrliche hübsche Frau war, die Freyheit hätten versagen wollen, sich meiner in ihren Mauern zu entladen. »Aber du wurdest doch zu Sinope erzogen. - Ist die Erziehung kein Vortheil? -« Wenn sie gut ist; ich kann mich der meinigen nicht sonderlich rühmen. Meine eigentliche Erziehung empfing ich zu Athen vom Antisthenes, ohne daß ich den Athenern desto mehr Dank dafür schuldig bin; denn er hatte nicht mehr von ihnen als ich von den Korinthiern. Das übrige, und, die Wahrheit zu sagen, das beste, hab' ich meiner Erfahrung und mir selbst zu danken. »Aber waren nicht deine Voreltern Sinopier? Warum sollte das Vaterland kein Vorrecht an seine Bürger haben?« An seine Bürger? Unstreitig! - Aber die Geburt macht mich zu keinem Bürger eines besondern Staats, wenn ich es nicht seyn will. Frey, unabhängig, gleich an Rechten und Pflichten, setzt die Natur ihre Kinder auf die Welt, ohne irgend eine andere Verbindung als das natürliche Band mit denen, durch die sie uns das Leben gab, und das sympathetische, wodurch sie Menschen zu Menschen zieht. Die bürgerlichen Verhältnisse meiner Ältern können mich meines Naturrechts nicht berauben. Niemand ist befugt, mich zu zwingen daß ich mich desselben begeben soll, so lange ich keine Ansprüche an die Vortheile einer besondern Gesellschaft mache. Kurz, es hängt von
meiner Wahl ab, ob ich als Bürger irgend eines einzelnen Staates, oder als Weltbürger leben will. »Und was nennst du einen Weltbürger?« Einen Menschen wie ich bin, - der, ohne mit irgend einer besondern Gesellschaft in Verbindung zu stehen, den Erdboden für sein Vaterland, und alle Geschöpfe seiner Gattung - gleichgültig gegen den zufälligen Unterschied, welchen Lage, Luft, Lebensart, Sprache, Sitten, Polizey und Privatinteresse unter ihnen machen - als seine Mitbürger oder vielmehr als seine Brüder ansieht, die ein angebornes Recht an seine Hülfe haben, wenn sie leiden, an sein Mitleiden wenn er ihnen nicht helfen kann, an seine Zurechtweisung wenn er sie irren sieht, an seine Mitfreude wenn sie sich ihres Daseyns freuen. Vorurtheile, ausschließende Neigungen, gewinnsüchtige Absichten, alls in ihren eigenen Wirbel hinein ziehende Leidenschaften sind die gewöhnlichen Triebwerke unsrer Handlungen, so lange wir uns bloß als Glieder irgend einer besondern Gesellschaft ansehen, und unsre Glückseligkeit von der Meinung, welche sie von uns hat, abhängig machen. Sogar was man in diesen besondern Gesellschaften Tugend nennt, ist vor dem Richterstuhl der Natur oft nur ein schimmerndes Laster; und derjenige, dem Athen oder Sparta Ehrensäulen setzt, wird vielleicht in den Jahrbüchern von Argos oder Megara als ein ungerechter und gewaltthätiger Mann dem Abscheu der Nachwelt übergeben. Der Weltbürger allein ist einer reinen, unparteyischen, durch keine unächte Zusätze verfälschten Zuneigung zu allen Menschen fähig. Ungeschwächt durch Privatneigung schlägt sein warmes Herz desto stärker bey jeder Aufforderung zu einer Handlung der Menschlichkeit und Güte. Seine Zuneigung, seine Empfindlichkeit breitet sich über die ganze Natur aus. Mit einer Art von zärtlichem Gefühl sieht er die Quelle an, die seinen Durst löschet, und den Baum, in dessen Schatten er liegt; und der erste der sich zu ihm hinsetzt, käm' er von den Garamanten her,
ist sein Landsmann, - und, wofern sein Herz ihn liebenswürdig macht, sein Freund. Diese Art zu denken und zu empfinden hält ihn reichlich für die Vortheile schadlos, die er dadurch entbehrt, daß er sich nicht in die Leidenschaften und Absichten einer besondern Gesellschaft einflechten läßt. Da er sich angewöhnt hat, außer dem Nothwendigen was die Natur bedarf, alles übrige, was Gemächlichkeit und Üppigkeit den Günstlingen des Glücks zu unentbehrlichen Nothwendigkeiten gemacht hat, entbehrlich zu finden, so hat er keine Mühe, allenthalben zu leben, ohne jemanden beschwerlich zu seyn. Im Nothfall verschafft ihm die Arbeit eines Tages den Unterhalt einer ganzen Woche; und die Korinthier oder Athener werden nie so unfreundlich seyn, einem harmlosen Menschen, der niemandem im Wege steht, eine Hütte, oder wenigstens einen hohlen Baum, zur Wohnung zu versagen. Übrigens ist ein Weltbürger, wie ich ihn schildre, kein so unnützlicher Mann, als man sich gemeiniglich einbildet. Es ist eure eigene Schuld, wenn ihr keinen Gebrauch von ihm macht. Er hat keine Vortheile davon auch zu schmeicheln, euch auf Abwege zu verleiten, euch in euern Thorheiten zu bestärken; er gewinnt nichts durch euern Fall; wer sollte sich also besser dazu schicken, euch die Wahrheit zu sagen, deren ihr am meisten vonnöthen habt? Und das wäre doch oft (wenn ihr klug genug wäret guten Rath anzunehmen) der wichtigste Dienst, den man euch leisten könnte. Zum Beyspiel, damit du deine Stunde nicht ganz bey mir verloren habest, hätte ich gute Lust, Filomedon, dir eine kleine Lehre mit nach Hause zu geben, welche - wenigstens zehn Talente werth ist; und von mir könntest du sie umsonst haben. »Laß hören, Diogenes!«
Du bist höchstens fünf und dreyßig Jahre auf der Welt, Filomedon; du bist also noch nicht zu alt, um ein rechtschaffener Mann zu werden. Danke die schlechten Gesellen ab, die alles bewundern was du sagst, und alles gut heißen was du thust, um sich alle Wochen zwey- oder dreymahl satt bey dir zu essen. Wende nur den sechsten Theil des Tages dazu an, dir die Kenntnisse zu erwerben, wodurch du dich dem gemeinen Wesen nützlich machen könntest. Da du einer der reichsten Bürger bist, so ist dir mehr als tausend andern daran gelegen, daß es dem Staat wohl gehe, aus dem du so große Vortheile ziehst. - Oder trauest du deinem Kopfe nicht so viel zu, so bedenke, daß die Natur, welche ihre übrigen Gaben, Schönheit, Stärke, Witz, Genie, austheilt wie und wem sie will, - die Güte des Herzens in unsre eigene Gewalt gegeben hat. Ein wohlthätiger Gebrauch deines Reichthums - und Gelegenheiten dazu wirst du nur zu häufig finden - würde dir die Herzen deiner Mitbürger gewinnen, und deine Erhaltung zum Gegenstande der allgemeinen Wünsche machen. Wer wollte sich noch lange besinnen, ob er einen so großen Vortheil um eine arme Hand voll Goldes erkaufen wollte? Ob Filomedon diese guten Lehren des wohlmeinenden Cynikers zu Herzen genommen? - Wir lesen nichts davon; es ist möglich, aber nicht zu vermuthen.
32.
Ein weiser Mann, liebe Leute, ist nichts weniger als ein Hasser der Freude. - Schickt die finstern, hohlaugigen, milzsüchtigen Gesellen, welche das Gegentheil sagen, dem Demokritus oder den Söhnen des Hippokrates zu! - Wir haben keine Widerlegung, Nieswurz und blutreinigende Tränke haben sie vonnöthen. Warum sollten wir die Freude hassen? Was haben uns die Götter bessers gegeben? Und warum haben sie uns überhaupt dieses vorüber
rauschende Daseyn gegeben? - Wenn ihre Meinung nicht war, daß wir uns dessen mit einander erfreuen sollten, so hätten sie uns (aufrichtig zu reden) ein sehr gleichgültiges Geschenk gemacht. Weisheit! Tugend! - ehrwürdige Nahmen, die so wenig Bedeutung auf den Lippen der meisten haben! - was seyd ihr anders, als du, der sicherste Weg zur Freude? und du, die beste Art ihrer zu genießen? Was fordert die strengste Pflicht von der Obrigkeit eines Staats als daß sie für das Wohl ihres Volks arbeite? Und wenn sie glücklich genug ist, ihm Sicherheit und Friede verschaffen zu können; wenn sie den Fleiß und die Künste aufmuntert, die Gewerbe befördert, die Wissenschaften ehrt, die Verdienste belohnt; wenn sie durch weise Anstalten für die Bildung derjenigen sorgt, in denen der aussterbende Staat wieder aufleben soll; wenn sie für die Gesundheit des Volks Sorge trägt; wenn sie in Zeiten des Überflusses dem künftigen Mangel zuvorkommt; wenn sie rechtschaffene Leute zu Handhabern der Gesetze und zu Beamten bestellt; wenn sie Vernunft, Sitten, Geschmack und Geselligkeit allgemein zu machen bemüht ist; - kurz, wenn sie nichts unterläßt, was ein wahrer Vater des Vaterlandes thun kann, und thun soll; - und wenn sie Weisheit, Macht, guten Willen und Glück genug hätte, alles dieses in dem höchsten Grade der Vollkommenheit, der sich denken läßt, auszuführen, - das ist, wenn es ihr möglich wäre, alles Übel von ihren Kindern zu entfernen, und ihnen den Genuß alles Guten zu verschaffen, welches die Götter überhaupt den Sterblichen zugemessen haben: - was hätte diese Obrigkeit anders gethan, als etliche hundert tausend oder Millionen Menschen in einen Zustand gesetzt, worin sie des Lebens froh werden könnten? Jede öffentliche oder Privattugend hat zum Gegenstand etwas Gutes zu befördern, oder etwas Böses zu verhindern oder zu verhüten; und analysiert ihr dieses Böse und Gute, so löset sich immer jenes in Schmerz, und dieses in Vergnügen auf.
Warum schwitzt der emsige Hausvater, mit schwerer Mühe, ganze Wochen durch über seiner Arbeit? - Um sich an einem festlichen Tage mit seinen Hausgenossen der Freude zu überlassen. Der müde Tagelöhner versingt aus voller Brust das Gefühl seines mühseligen Lebens. Mit einer Wollust, die den Lieblingen des Plutus unbekannt ist, öffnet er, unter einen schattigen Baum hingeworfen, seinen sonnegeschwärzten Busen dem kühlenden Zefyr, und wenn ihn unverhofft das braune Grasmädchen beschleicht, vergessen beide - unter unschuldigern Scherzen vielleicht, als die eurigen sind, ihr Meister der feinsten Lebensart! - daß es Leute in der Welt giebt, welche glücklicher scheinen als sie sich in diesen Augenblicken fühlen. Der Nepenthe, mit dem wir ein süßes Vergessen alles gegenwärtigen Kummers, alles vergangenen Leides, alles Sorgen der Zukunft einschlürfen, ist die Freude. Wie unglücklich würden neun und neunzig von hundert Theilen des menschlichen Geschlechts seyn, wenn die mitleidige Natur nicht von Zeit zu Zeit etliche Tropfen aus diesem ihrem Zauberbecher auf die Beschwerden ihres Lebens fallen ließe! Wir Griechen sind so sehr davon überzeugt, daß Freude das höchste Gut der Sterblichen ist, daß wir uns, so oft einer dem andern begegnet, nichts bessers zu wünschen wissen als Freude. Was ist also der Mann, der nicht leiden will, daß wir dieser wohlthätigen Göttin opfern? - Er ist krank, wie ich sagte, oder - er ist noch was ärgers - ein Schurke. Wenn ich einem Fürsten zu rathen hätte, so würd' ich ihm nichts eifriger empfehlen, als - sein Volk in gute Laune zu setzen. Kurzsichtige Leute sehen nicht, wie viel auf diesen einzigen Umstand ankommt.
Ein fröhliches Volk thut alles, was es zu thun hat, muntrer und mit besserm Willen als - ein dummes oder schwermütiges; und (unter uns gesagt, ihr Hirten der Völker!) es leidet zwanzigmahl mehr als ein andres; Eure Majestäten dürfen es kühnlich auf die Probe ankommen lassen. Wenn die Athener bey guter Laune sind, so vergessen sie über einer Komödie, einer neuen Tänzerin, einem neuen fröhlichen Liedchen, den Verdruß über eine verlorne Schlacht, oder die schlimme Verwaltung ihrer öffentlichen Einkünfte. Alcibiades machte mit ihnen was er wollte, weil er das Geheimniß besaß, ihnen alle Augenblicke wieder einen Spaß zu machen, über dem sie das Böse vergaßen, das er ihnen zufügte. Drückt uns immerhin ein wenig, - wir würden es an euerm Platze eben so machen; - aber empört unsre Geduld nicht, indem ihr uns verbietet einen Theil unsrer Plagen wegzuscherzen. Das hieße, ohne den mindesten Vortheil auf euerer Seite, unsere Last verdoppeln, - und das wäre, um ihm den gelindesten Nahmen zu geben, sehr unfreundlich. Ein fröhliches Volk, ein Volk das für Witz und lachenden Scherz empfänglich ist, läßt sich viel leichter regieren als ein schwerfälliges, und ist unendliche Mahl weniger zu Unruhen, Widersetzlichkeit und Staatsveränderungen geneigt. Religions-Schwärmerey und politische Schwärmerey, diese Ungeheuer, welche die schrecklichsten Katastrofen zu verursachen fähig sind, finden bey einem fröhlichen Volke keinen Zugang offen, oder verlieren bey ihm alle ihre Macht zu schaden. Steigt in irgend einem trüben Kopfe eine menschenfeindliche Grille auf, so scherzt und spottet man sie weg, und sie wird vergessen. Eben diese Grille würde unter einem milzsüchtigen Volke, bey einem mäßigen Zusammenflusse befördernder Umstände, die Gemüther in allgemeine Gährung gebracht, Unruhen und Spaltungen erweckt, die Verfassung des Staats in Gefahr gesetzt, und wenigstens ein halbes Dutzend der besten Köpfe gekostet haben!
»Es ist ein schlimmes Zeichen, sagte der alte Demokritus, wenn die Tugend unter einem Volke ein gravitätisches und aufgedunsenes Ansehen gewinnt. Irgend ein feindseliger Dämon schwebt mit unglückbeladenen Flügeln über ihm. Ich bin kein Tiresias, setzte er hinzu; aber ich weissage einem solchen Volke mit der zuversichtlichsten Überzeugung, daß mich die Zukunft keiner Lügen strafen wird: Dumm und barbarisch wirst du werden, armes Volk! Trebern und Distelköpfe wirst du fressen, und Dinge leiden müssen, vor denen Natur und Vernunft sich entsetzen; - und wenn du siehest, daß die Betrüger, von deren gleißnerischer Miene du dich hast hintergehen lassen, ihre Tage in Müßiggang und Wollüsten verzehren, das Mark deines Landes aussaugen, und deine Weiber und Töchter beschlafen, - wirst du die Augen zumachen und schweigen - oder mit offnen Augen zusehen, und doch schweigen, und dich bereden lassen müssen, du habest nichts gesehen!« Glaubt mir, guten Leute! - doch was bekümmert mich das? - glaubt es eurer Empfindung - (wenn ihr euch diese abschwatzen laßt, so kann ich nichts dazu) - »Die Tugend, sie, die selbst die Mutter der besten Freuden ist, verträgt sich mit jeder schuldlosen Freude.« »Und welche Freuden sind schuldlos?« Fragst du mich das, Diofant? - Hast du keine Sinne, keinen Witz, kein Herz, kein sympathetisches Gefühl? Bist du keiner uneigennützigen Neigung fähig? Kannst du nichts außer dir lieben? - So will ich dir wenigstens sagen, welche Freuden nicht unschuldig sind. - Warum erröthest du? Fürchtest du, ich werde dich an das Ruhebette der tugendhaften Lysistrata erinnern? Besorge nichts! Möchten diese unter deinen geheimen Freuden die verdammlichsten seyn! - Die Schadenfreude, Diofant, die Freude, einen Unglücklichen, den du verfolgst, sich zu deinen Füßen krümmen zu sehen; die Freude, ein aufkeimendes Verdienst, das dich eifersüchtig macht, erstickt, eine
Tugend, die dich verdunkelt, angeschwärzt zu haben; die Freude, durch niedrige Kunstgriffe dich des Ohrs eines Großen bemächtiget, oder die Erbschaft einer alten Thörin vor dem hungrigen Munde dürftiger Verwandten listig weggeschnappt zu haben; die Freude Böses zu thun, damit, wie du uns bereden willst, Gutes daraus erfolge: ich schwöre dirs bey allen Göttern und Göttinnen, Diofant, diese Freuden, wenn es gleich die deinigen wären, sind viel weniger unschuldig, als es die Freude der jungen Bacchanten war, welche diesen Morgen vom aufgehenden Tage bey Tanz und Saitenspiel und vollen Bechern und ermüdeten Mädchen überrascht wurden!
33.
Du begreifst nicht, Eurybates, was ich mit dieser Schutzrede für die Freude wolle, die dir in dem Munde des Diogenes unerwartet ist? Ich würde, däucht dir, am wenigsten dabey zu verlieren haben, wenn die ernsthaften Leute, die sichs zum Verdienst anrechnen in ihrem Leben nie gelacht zu haben, die Oberhand in der Welt gewinnen sollten. Du irrest dich vielleicht, Eurybates; - denn sie würden mir meine gute Laune nehmen wollen; und wenn sie das könnten, so möchten sie mir eben so gut auch das Leben nehmen; ich würde keine Bohne mehr darum geben. Aber, in der That, ich dachte dabey weniger an mich selbst, als an eure Kinder und Kindeskinder. - Ich hatte bey mir selbst nachgedacht, was daraus folgen würde, wenn eine gewisse Partey von Graubärten in euerm Rathe durchdränge, welche Tag und Nacht über Verderbniß der Sitten klagt, und, wie ich höre, neulich den Vorschlag gethan hat, daß man alle die Personen beiderley Geschlechts aus Korinth wegschaffen solle, deren Profession es ist, andern Vergnügen zu machen. Alle Tempel und Kapellen, wo den Göttern der Freude geopfert wird, sollten
geschlossen, alle Schauspieler, Mimen, Tänzerinnen, Flötenspielerinnen, auf Einen Tag aus der Stadt verwiesen werden, - wenn es nach dem strengen Sinne dieser Herren ginge, welche sich ihrer eigenen Jugend nicht gerne mehr erinnern, und einen vielleicht unbilligen Haß auf Vergnügungen geworfen haben, zu denen sie das Alter oder ihre ehemahlige Unmäßigkeit unvermögend gemacht hat. Ich gestehe dir, Eurybates, ich würde diese fröhliche Bande aus meiner Republik auch verbannen, ich werde sie nie hinein lassen, so bald ich Gelegenheit finde, eine Republik nach meiner Fantasie zu errichten. - Aber, ob ihr sie aus Korinth verweisen sollt, ist eine andere Frage. Die Perikles und die Sokraten, die Weisesten und Besten zu Athen, versammelten sich des Abends bey der schönen Aspasia. Man sprach von wichtigen Dingen in dem muntern Tone der die lange Weile verbannt, und Kleinigkeiten wurden durch Witz und Laune interessant. Aspasia war die Seele der Unterredung. Die schönsten Ideen, die klügsten Anschläge wurden in dieser Gesellschaft entworfen, welche nur Erhohlung und Zeitvertreib zum Zweck zu haben schien; und oft fand Aspasia Mittel, unvermerkt zu vereinigen, oder kleine Mißverständnisse zu beheben, welche in der Folge der Republik hätten nachtheilig werden können. Eine niedliche Abendmahlzeit öffnete vollends die Gemüther der Geselligkeit und Freude. Kleine rosenbekränzte Becher weckten den Attischen Scherz und das feine Lachen, die Filosofie lernte von den Grazien scherzen, man sprach Dinge, welche werth waren, von einem Xenofon geschrieben zu werden; bis die Musen, unter der Gestalt lieblicher junger Mädchen, durch Gesang und Tänze die Scene beschlossen. Sage mir nun, Eurybates, würde sich Athen besser befunden haben, wenn es die schöne Aspasia mit ihren Mädchen fortgeschickt, und die
Perikles und Sokraten genöthigt hätte, ihre Abende ernsthafter zuzubringen? Meinst du, daß Hellas diesen mannigfaltigen Überfluß von schönen Bildern und Gemählden, diese Meisterstücke idealischer Schönheiten, welche den Geist zu Begriffen von überirdischer Vollkommenheit erheben, besitzen würde, - wenn keine Theodoten, Frynen, Danaen und ihres gleichen gewesen wären, welchen der Wohlstand nicht verbot, ihre Schönheit zur Aufnahme der Kunst dienen zu machen? Und was für Ergetzungen wollen wir, wenn wir die Musen und die fröhlichen Grazien aus unsern Grenzen verbannt haben, an die Stelle der ihrigen setzen? - Gar keine? - So müßten wir die menschliche Natur umschaffen können! - Skythische Schmäuse und Thracische Freuden werden die Stelle derjenigen einnehmen, die ihr verjaget. In kurzem wird euer Witz plump, eure Gemüthsart rauh und ungesellig, eure Tugend wild, spröd und menschenfeindlich seyn. Ihr werdet eurer Jugend Eine Gelegenheit zu Ausschweifungen abgeschnitten haben; aber, unbekehrt von euern Sittenlehren, werden sie auf Schadloshaltung bedacht seyn, welche ihnen selbst und dem Staate zehnmahl verderblicher seyn werden. Die Fremden werden eure Stadt fliehen, die nichts anlockendes mehr für sie haben wird; und der müßige Theil eurer Bürger, dem ihr die unschädlichsten Mittel, seine Zeit zu verlieren, benommen habt, wird in kleine Privatgesellschaften zusammen schleichen, und aus lauter langer Weile anfangen die Regierung nach falschen Begriffen zu bekritteln, Intriguen anzuzetteln, und Staatsveränderungen zu träumen. Ich habe, wie du sagtest, bey allem diesem nichts zu verlieren: aber, alles überlegt, dächt' ich, ihr behieltet immer eure Komödianten, Mimen, Gaukler, Flötenspielerinnen u. s. w. mit den kleinen Übeln, von welchen ihr Daseyn begleitet ist. - Es giebt zwanzig Mittel, den
Ausschweifungen, wozu der Hang zum Vergnügen verleitet, Grenzen zu setzen. Aber gegen die Übel, die über euch kommen werden, wenn ihr die Musen und Huldgöttinnen, mit ihrem Gefolge von Scherzen und Freuden des Landes verwiesen habt, weiß ich kein Mittel, als - ihr müßtet euch gefallen lassen, eure Republik nach der Spartanischen, oder Platonischen, - oder nach der meinigen umzuschaffen; und dabey würdet ihr einige Schwierigkeiten finden!
34.
Was ich von den Leuten halte, die in spekulativen Dingen immer entscheiden, nie zweifeln, nie gestehen wollen, daß sie von gewissen Dingen nicht mehr wissen als wir andern? - Von den Leuten, welche euch ganze Wochen lang von Wesen und Naturen, von Atomen und Homöomerien, vom Vollen und Leeren, von Geist und Materie, von Ursachen und Zwecken unterhalten, und euch die unbekannten Länder, ihre Lage, Größe, Länge, Breite, Luftbeschaffenheit, Wärme und Kälte, ihre Produkte, Pflanzen, Thiere, Einwohner, und deren Lebensart, Polizey, ehmalige und künftige Begebenheiten u.s.w. so genau und zuversichtlich beschreiben, als ob sie eben jetzt mit Gelegenheit eines Kometen, oder der Himmel weiß welches andern wunderbaren Fuhrwerks, von dannen angelangt wären? - Was ich von ihnen halte? Ich hörte einst einen solchen viel wissenden Schwätzer in der bunten Halle zu Athen zwey volle Stunden von den Geheimnissen der Pythagorischen Zahlen sprechen. Wir liehen ihm unsre Ohren mit großer Geduld, und begriffen nichts von dem was er uns offenbarte; dem ungeachtet fand der Pythagoräer großen Beyfall. Er versprach, den folgenden Tag von den sieben Sfären, und von der achten Sfäre, und von den erstaunlichen Dingen, die über der achten Sfäre sind, eben so lang' und eben so gelehrt zu sprechen. Ich lachte über meine eigne Narrheit,
und ließ mich dennoch von der kindischen Neugier, was der Mann über solche Dinge werde sagen können, noch um zwey Stunden und zehn Drachmen betrügen. - Das sollen aber auch die letzten Drachmen seyn, sagte ich wie er fertig war, die ich um Nachrichten von den Dingen überm Monde ausgebe, und wenn ich älter werden sollte als Tithon! Nach etlichen Tagen ließ ich in ganz Athen ansagen, daß ein Chaldäischer Weiser neu angekommen sey, welcher sich im Keramikus zu einer gesetzten Zeit öffentlich werde hören lassen. Es versammelte sich eine erstaunliche Menge Volks. Ich hatte mich, so gut ich immer konnte, in einen Chaldäer vermummt; ein langer weißer Bart, und ein Mantel, mit allen Thieren des Sternhimmels bemahlt, that eine vortreffliche Wirkung. Man lechzte vor Erwartung unerhörter Dinge bey meinem Anblick. Alles wurde still, wie ich mich zu räuspern anfing. Ich fing also an, und sprach Ich gebe euch zehen Tage, oder zehen Olympiaden, wenn ihr wollt, zu errathen wovon ich sprach; - ihr werdet eher auf alles andre rathen Vom Mann im Monde sprach ich. Ich unterließ nicht, meine Zuhörer in dem Eingang meiner Rede mit einem so emfatischen Schwunge zu dem, was ich ihnen sagen würde, vorzubereiten, daß sie kaum erwarten konnten, bis ich wirklich zur Sache schritt. Aber ich muß jetzt noch lachen, wenn ich mir den Ausdruck von Erstaunen, Überraschung, Ungeduld, und zwanzig andern Leidenschaften wieder vorstelle, der mir in der possierlichsten Vermischung aus unzähligen verzerrten Gesichtern entgegen kam, wie ich ankündigte, daß ich sie vom Mann im Monde unterhalten würde. Einer sah den andern an, und murmelte - vom Mann im Monde! Alle ohne Ausnahme sahen wie Leute aus, die sich gewaltig in ihrer Erwartung betrogen fänden. - Vom Mann im Monde!
Ja, vom Mann im Monde, rief ich, ohne mich aus der Fassung setzen zu lassen; von der wunderbarsten, wichtigsten, und geheimnißvollsten Materie, wovon jemahls ein Sterblicher zu Sterblichen gesprochen hat; vom Mann im Monde! Der alte Knabe ist ein Narr, rief einer ziemlich laut, oder er hält uns für Narren. - Es könnte wohl beides seyn, dacht' ich. Der dritte Theil der Versammelten machte Miene davon gehen zu wollen. Seyd ihr klug? rief ihnen ein alter hohlaugiger Schuhflicker zu, der selbst so aussah, als ob er aus irgend einem Planeten ausgewandert wäre; konntet ihr von einem Weisen aus Chaldäa weniger erwarten? Sagte er nicht, daß er von unerhörten Dingen reden würde? Man muß ihn erst anhören eh' man urtheilen kann. Ich habe mehr Leute seiner Art gesehen; es stecken Dinge hinter ihm, die man ihm nicht an der Nase ansieht; und gerade, weil die Materie, wovon er sprechen will, närrisch scheint, wollt' ich um meinen Kopf wetten, daß ein Geheimniß unter der Decke liegt. Wer weiß - Kurz, ich will den Mann im Mond kennen lernen - ein andrer kann auch thun was er will. Was der Schuhflicker gesagt hatte, war, dem Ansehen nach, gerade was der größte Theil der Versammlung dachte. Nachdem also der Lärm eine Weile gedauert hatte, kam am Ende heraus, daß jedermann da blieb, und wenigstens hören wollte, was man wohl vom Mann im Monde werde sagen können? Ich fuhr fort, so viel ich mich erinnern kann, ungefähr wie folget: »Nach dem was ich euch angekündiget habe, meine Herren von Athen, scheint nichts billiger von mir erwartet werden zu können, als daß ich euch vor allen Dingen eine solche Erklärung von dem, was unter dem Mann im Monde zu verstehen sey, gebe, vermittelst deren ein jeder, so oft die wellenförmige Bewegung der Töne, woraus dieser Nahme
besteht, sein Trommelfell erschüttert, denjenigen bestimmten Begriff damit verbinden könne, der keinem andern Mann in der Welt zukommt, als dem Mann im Monde. »Dem ersten Anschein nach eine sehr billige Forderung; aber in der That, meine Herren, eine Forderung, welche so schwer zu befriedigen ist, daß ihr mir eben so leicht zumuthen könntet, den Ocean in einen Becher zu schöpfen, und - wofern es Wein von Thasos wäre ihn auf eure Gesundheit auszutrinken. »Es giebt viele Dinge auf der Welt, die beym ersten Anblick nicht die geringste Schwierigkeit zu haben scheinen; man glaubt sie so gut zu kennen, als die Mutter die uns geboren hat. Kommt es aber dazu, daß wir den Mund aufthun sollen, um uns deutlich darüber vernehmen zu lassen, so finden wir uns beynahe in der Nothwendigkeit, ihn unverrichteter Sache wieder zuzuschließen, so weit wir ihn aufgemacht hatten. So ist, zum Beyspiel, nichts leichter zu sagen, als: Wir wollen vom Mann im Monde reden! oder - Laßt doch hören, was man vom Mann im Monde sagen kann! Aber ich berufe mich auf euer eigenes Gefühl, wie euch zu Muthe wäre, wenn ihr euch anheischig gemacht hättet, von einem Dinge zu sprechen, das weder in die Sinne fällt, noch ohne Sinn begriffen werden kann! »Aufrichtig zu reden, ungeachtet als ich als ein Filosof verbunden bin, niemahls einiges Mißtrauen in die Allgemeinheit und Unfehlbarkeit meiner Einsichten zu verrathen: so seh' ich mich doch in keiner geringen Verlegenheit, ob ich von der Wirklichkeit des Mannes im Mond, oder von seiner Möglichkeit zuerst reden soll. Denn damit er wirklich seyn könne, muß er möglich seyn, und damit er möglich seyn könne, muß er wirklich seyn. Hier liegt der Knoten! »Sag' ich, der Mann im Mond ist möglich: so denk' ich entweder nichts bey dem was ich sage, - welches freylich das bequemste ist - oder ich setze in der That voraus, daß er sey; denn wie könnt' ich sonst sagen,
er sey möglich. Es ist gerade so viel als sagt' ich, der Mann im Mond ist blau, oder großmüthig, oder er ist ein guter Mann; - denn bey jeder dieser Behauptungen setz' ich voraus, daß ein Mann im Mond ist, oder es wäre lächerlich zu sagen, er ist dieß oder er ist jenes; und ich würde im Grund eben so viel sagen als: das Ding das nicht ist, ist etwas. »Sag' ich auf der andern Seite, der Mann im Mond ist wirklich: so setze ich seine Möglichkeit voraus, wozu ich doch nicht befugt bin, eh' ich sie erwiesen habe. Will ich sie aber erweisen, flugs bin ich wieder in dem verwünschten Zirkel, in welchem ich mich so lange von Möglichkeit zu Wirklichkeit und von Wirklichkeit zu Möglichkeit herum drehe, bis mir der Kopf so schwindlig wird, daß ich die ganze Welt, den Mann im Mond und meine eigene Wenigkeit aus dem Gesicht verliere, und am Ende nicht einmahl den Unterschied zwischen meinem eigenen kleinen Ich und dem unendlichen Nicht-Ich mehr erkennen kann. »Bey so bewandten Umständen weiß ich Ihnen und mir nicht anders zu helfen, als daß wir uns entweder mit dem einfältigen Behelf, »es ist nicht klar,« ausreden,- und eh' ich mich dazu bequemte, wollt' ich lieber den Kopf verlieren! - oder daß wir einen Anlauf nehmen, und mit so vieler Dreistigkeit, als uns nur immer möglich ist, geradezu behaupten: der Mann im Mond existiere, so gut als Hermes Trismegistus oder irgend ein andrer Mann in der Welt; eine Behauptung, wobey wir den doppelten Vortheil haben, daß unsre Gegner entweder das Gegentheil beweisen - oder schweigen müssen, und daß alle Männer außerhalb des Monds um ihrer selbst willen genöthigt sind, sich zu uns zu halten; denn wo lebt der Mann, gegen den sich nicht die nehmlichen Zweifel erregen ließen? In welchem Betracht ich gestehe, daß mir der Beweis des tiefsinnigen Heraklitus noch immer die meiste Genüge thut, der, um auf Einmahl aus der Sache zu kommen, sagt: Der Mann im Mond ist da, denn wie könnte er sonst der Mann im Mond seyn?
»Nachdem wir uns solcher Gestalt aus dieser ersten Schwierigkeit glücklich heraus gewickelt haben, so entsteht die andre große Frage: Wenn der Mann im Mond ist, was ist er? »Hier, meine Herren, öffne ich euch die Pforte des metafysischen Abgrundes. Ein undurchdringliches Dunkel scheint hier euern forschenden Blicken auf ewig Einhalt zu thun. Aber lasset euch nicht dadurch abschrecken! Wir schauen so lange hinein, bis wir etwas sehen. »Ich verrathe euch hier ein großes Geheimniß; eure Filosofen werden böse auf mich werden; aber ich mache mir nichts daraus. Nur immer hinein geschaut, meine Freunde! Wir haben kein andres Mittel Entdeckungen in den unbekannten Ländern zu machen. »Sehet ihr noch nichts? - Seyd deßwegen unbekümmert! Es liegt bloß daran, daß wir unsre Augen zuvor in die gehörige Verfassung setzen. Höret an! »Als ich zuerst anfing, mich um den Mann im Mond zu bekümmern, ohne zu wissen wie ich es anfangen sollte, ging ich bey allen euern Filosofen herum, und fragte sie, was sie davon wüßten? »Der Mann im Monde? - sagte der erste, an den ich mich wandte es ist so leicht nicht ihn kennen zu lernen! Wenn ihr aber entschlossen seyd das Abenteuer zu unternehmen, so kommt alles darauf an, daß ihr ausfündig macht, was er ist, - und wie er ist was er ist. - Das ists eben was ich wissen möchte, sagte ich. - So muß du nun bey andern nachfragen, versetzte jener; denn ich habe dir alles gesagt was ich von der Sache weiß. »Nun ging ich von Haus zu Haus, um zu hören, was die Weisen im Volk auf meine Fragen antworten würden. Und hier erfuhr ich die Wahrheit des alten Sprichworts: Viel Köpfe viel Sinne; ausgenommen, daß ich zuletzt einen guten Theil mehr Köpfe als Sinne herausbrachte.
»Der Mann im Mond ist kein eigentlicher Mann, sagten einige: man könnte eben so gut sagen, die Frau im Mond, ob er gleich, genau zu reden, weder Mann noch Frau ist. - Denn wenn er ein eigentlicher Mann wäre, so müßte er eine Frau haben, oder wo bliebe der zureichende Grund seiner Mannheit? Nun hat man aber nie von einer Frau im Monde, oder von der Frau des Mannes im Monde reden gehört: also u. s. w. »Die Wahrheit ist, daß er gar nichts mit uns gemein hat, sagte ein Andrer. »Das ist unmöglich, sprach der Dritte; er muß uns doch immer ähnlicher seyn als einer Auster oder einer Seenessel. »Ich beweise meinen Satz, versetzte jener. Alles was unterm Mond ist, ist nicht im Mond, und umgekehrt; und es muß ein Grund vorhanden seyn, warum es unterm Mond und nicht vielmehr im Mond ist, wo es sich vielleicht eben so gut befände; nun stimmen alle Leute überein, daß der Mann im Mond - im Mond ist »Wenn er im Mond ist, zugegeben! fiel ihm dieser ein: aber ich getraue mir zu behaupten, daß er vielleicht zwey Drittheile vom Jahr in der Venus oder im Merkur ist, oder daß er sich wenigstens den Winter über, der im Monde ziemlich kalt seyn mag, anderswo aufhält. »Fy, sagte jener, wie wolltet ihr das beweisen können, da warm und kalt nichts absolutes ist? Natürlicher Weise ist die Organisazion des Mannes im Monde seinem Aufenthalt gemäß; und weil dieser (wie alle Astronomen wissen) feucht und kalt ist, so muß auch der Mann im Mond ein ausgemachter Flegmatikus seyn: ist er aber das, so läßt sich ohnehin nicht begreifen, was man in der Venus, welche der Planet der Liebe ist, mit ihm anfangen wollte. »Die Herren sprechen sehr zuversichtlich von dem guten Mann im Monde, sprach ein Vierter; und doch bin ich gewiß, daß sie nicht mehr
von ihm wissen als ich - das ist, so viel als - gar nichts. Denn ich behaupte, man müßte wenigstens Einen Sinn mehr haben, als die fünf oder sechs die wir haben, um sich eine richtige Vorstellung von ihm machen zu können. Nach unsrer Art zu reden ist er weder groß noch klein, weder hitzig noch frostig, weder sauer noch süß, weder weiß noch schwarz; - er ist - er ist - das mag er selbst wissen was er ist! »Die Meinung dieses letztern führte offenbar zum Skepticismus, der uns Dogmatikern von jeher so verhaßt gewesen ist, als - die Filosofie der Gymnosofisten - der Schneidergilde. Indessen, da ich doch nach allem, was mir die weisen Männer gesagt hatten, weder mehr noch weniger von der Sache wußte als zuvor: so beschloß ich einen Versuch zu machen, wie weit mich mein eigenes Nachdenken in dieser äußerst dunkeln Materie führen könnte. »Wenn es seine Richtigkeit hat, sagt' ich zu mir selbst, daß ein jedes Ding das ist was es ist, so kann ich ohne mindestes Bedenken zum Grunde legen, der Mann im Monde sey - der Mann im Monde. Ihr meint vielleicht, damit sey nicht viel gesagt: aber da würdet ihr euch mächtig irren, meine werthen Herren. Ich habe schon viel damit gewonnen, wenn ihr mir das zugeben müßt! - Denn wenn der Mann im Mond - der Mann im Mond ist, so ist er also nicht der Mann im Merkur, noch im Mars, noch im Jupiter, noch im Saturnus; u.s.w. Er ist auch nicht der Mann im Thierkreise, noch in der Milchstraße, noch im Feuerhimmel,
noch im leeren Raum,
noch im Chaos, - sondern wirklich und wahrhaftig der Mann im
Monde; und da er das ist, so ist er auch weder Fisch, noch Vogel, noch Amfibion, noch Insekt. »Er kann weder schwimmen noch fliegen - Wiewohl ich für die Gewißheit des letztern nicht gut sagen lassen wollte. Denn vielleicht ist es im Monde möglich, ohne Floßfedern zu schwimmen und ohne Flügel zu fliegen, oder er könnte auch Flügel und Floßfedern haben, ohne darum weniger der Mann im Monde zu seyn. »Eben so wenig getraue ich mir aus seiner bloßen Identität mit sich selbst d.i. daraus, daß der Mann im Mond - nicht der Nicht-Mann im Nicht-Mond ist - mit völliger Gewißheit zu bestimmen, ob er von Essen und Trinken lebt, wie wir, oder von der Luft, wie der Paradiesvogel, oder von Sonnenstrahlen, wie der Fönix, oder von Ideen, wie Platons Geister? ob er sein Geschlecht fortpflanzt, oder nicht? und ersten Falls, ob er ein Weibchen seiner Gattung dazu nöthig hat? oder ob er sich mit sich selbst behelfen kann, wie unsre Schnecken? oder ob er sich durch die Wurzel,
oder durch Zwiebeln,
oder durch Knospen,
oder durch Schößlinge,
oder durch Eyer,
oder durch lebendige Junge fortpflanzt?
oder vielleicht, wie der Fönix, immer der einzige von seiner Art
bleibt, und nur von Zeit zu Zeit wieder aus seiner Asche hervor geht? ob er lang oder kurz, fett oder mager, blond oder braun, gut- oder bösartig, gelehrt oder unwissend, ein guter oder schlechter Dichter ist? ob er gut tanzt, gut reitet, gut Ball spielt, - u.s.f. »Diese und zwanzig tausend andre Fragen dieser Art, welche ein jeder, auch mit dem mäßigsten Grade von Witz, sich selbst machen kann, unter andern auch die nicht ganz unerheblich scheinenden: Was kümmert uns der Mann im Mond? Was für einen Einfluß hat er auf unser Wohl- oder Übelbefinden?
Ist es auch wohl überall der Mühe werth, sich den Kopf um ihn zu zerbrechen? »Alle diese Fragen werden (wie ich besorge) nicht wohl beantwortet werden können, so lange wir nicht Mittel und Wege finden den Mann im Monde näher kennen zu lernen; ob ich gleich überhaupt nicht ungeneigt bin zu glauben, daß er - falls er so allein im Mond ist, wie man vorauszusetzen pflegt - ziemlich oft lange Weile haben, und überhaupt kein Mann von sehr angenehmer Laune oder lebhaftem Umgange seyn mag. »Doch, wie gesagt, meine Herren Athener, die Ehre, alle nur ersinnlichen Probleme, welche sich über oft besagten Mann im Mond aufwerfen lassen, rein und aus dem Grunde aufzulösen, ist lediglich demjenigen unter unsern filosofischen Abenteurern aufbehalten, welcher sinnreich oder glücklich genug seyn wird - den Weg in den Mond zu entdecken, wofern einer ist; oder sich einen Weg dahin selbst zu machen, wofern keiner ist; und - was zum wenigsten eben so nothwendig scheint - den Weg wieder zurück zu finden, nachdem er sich lange genug da aufgehalten haben wird, um eine hinlängliche Anzahl von Beobachtungen machen zu können; vorausgesetzt, daß es überhaupt möglich sey, mit Hülfe solcher Sinne wie die unsrigen, über einen Mann, wie der Mann im Mond ist, irgend eine Entdeckung zu machen. »Ihr seht, meine guten Athener, daß ich eure Aufmerksamkeit nicht gemißbraucht, und, alles wohl erwogen, vielleicht mehr geleistet habe, als ihr billiger Weise von mir erwarten konntet. Wenige meiner Zunftgenossen würden sich so aufrichtig herausgelassen, und so wenig Umschweife gemacht haben, um euch auf eine gelehrte Art zu erkennen zu geben, daß sie von einem Dinge sprechen, von dem sie nichts wissen noch wissen können, d.i. von einem Dinge, welches - was es auch an sich oder für die Bewohner andrer Weltkörper seyn mag, wenigstens für sie - kein Ding ist.
»Übrigens hoff' ich dem Mann im Monde selbst, wer er auch seyn mag, durch das, was ich von ihm gesagt oder vielmehr nicht gesagt habe, auf keinerley Weise zu nahe getreten zu seyn. Er hätte sich vielleicht beleidigt finden können, wenn ich unverschämt genug gewesen wäre, ein System über ihn zu machen, und euch mit der gewöhnlichen Dreistigkeit meiner Amtsbrüder seine Figur, Farbe, Bildung, Fähigkeiten, Sitten, Lebensart, Religion, kurz alle seine innerlichen und äußerlichen Bestimmungen vorzudemonstrieren. - Aber ich - was konnt' ich unschuldigers von ihm sagen, als - gar nichts?« Hiemit endigte sich meine Rede, und ich schlich mich hinter die Scene, um die Wirkung, welche sie thun würde, desto ungestörter zuzusehen. Meine Athener, welche vermuthlich geglaubt hatten das beste würde noch kommen, machten sehr alberne Gesichter, da sie sich in ihrer Hoffnung betrogen sahen. Etliche Augenblicke lang standen sie ganz betroffen da, große Augen und halb offne Mäuler nach der Bühne, wo der Chaldäer gestanden hatte, hingekehrt. Aber nachdem sie sich völlig überzeugt hatten, daß nun nichts mehr zu erwarten sey, erhob sich ein vermischtes Gemurmel, welches immer lauter wurde, und zuletzt in ein allgemeines Getümmel ausbrach. Ein jeder sagte und behauptete seine Meinung von der Sache, von der Absicht die der Chaldäer bey seiner Rede gehabt haben möchte, ob er gut oder schlecht gesprochen habe, von seiner Miene, von seinem Bart, endlich vom Mann im Monde selbst, und wen er wohl darunter verstanden habe; denn daß ein Geheimniß unter der Sache stecke, wurde für ausgemacht angenommen. Der Tumult nahm überhand, man zankte sich, man schrie, alle gaben ihre Stimme auf einmahl; und da viele, welche mit Gründen und Schlüssen nicht so gut zurechte kommen konnten, desto stärker von Schultern und Knochen waren, so wurde man endlich handgemein kurz, es fehlte wenig, daß der Mann im Monde nicht einen allgemeinen Aufstand in Athen veranlaßt hätte.
Was für Kinder die Athener sind! rief einer von den Klügern, indem er sich in Zeiten auf die Seite machte: merkt ihr denn noch nicht, daß der Chaldäer keine andre Absicht hatte, als euch und eure Filosofen zum besten zu haben?
35.
Ich lag an einem schönen herbstlichen Tag unter einer Cypresse im Kranion, und genoß des Sonnenscheins, welcher alten Leuten in dieser Jahrszeit so angenehm ist; als ich unvermerkt in den Träumereyen, denen ich mich zu überlassen pflege, wenn ich so eben nichts zu denken habe, von einem Unbekannten gestört wurde, der in Begleitung etlicher andrer, die etwas beßres als seine Sklaven, aber doch nicht seines gleichen schienen, auf mich zuging. Ich gab Anfangs nicht darauf Acht; aber da er mich anredete, fing ich an zu merken, daß jemand zwischen mir und der Sonne stand. Bist du, sagte er, indem er mich mit einer gewissen Dreistigkeit, die bey gemeinen Leuten Unverschämtheit genannt wird, mit den Augen maß, - bist Du dieser Diogenes, von dessen Karakter und Launen man im ganzen Griechenlande so viel zu erzählen hat? Ich betrachtete meinen Mann nun auch etwas genauer als Anfangs. Es war ein feiner junger Mensch, mittelmäßig von Statur, aber wohl gemacht, außer daß ihm der Kopf ein wenig auf die linke Schulter hing; er hatte eine breite Stirn, große funkelnde Augen, mit denen er euch in die Seele hinein sah; eine glückliche Gesichtsbildung, und eine Miene, worin Stolz und Selbstvertrauen, durch eine gewisse Grazie gemildert, dasjenige ausmachten, was man an Königen Majestät zu nennen pflegt. Ich bemerkte, daß er ein Diadem trug, welches ihn zu einer solchen Miene berechtigte; aber ich that nicht als ob ich es wahrgenommen hätte.
Und wer bist denn Du, antwortete ich ihm ganz kaltsinnig, daß du ein Recht zu haben glaubst, mich so zu fragen? Ich bin nur Alexander, Filipps Sohn von Macedonien, versetzte der Jüngling lächelnd: ich gestehe, es ist dermahlen nicht viel; aber was es ist, steht dem Diogenes zu Dienste. Da ich wußte, daß du nicht zu mir kommen würdest, so komm' ich zu dir, um dir zu sagen, daß ich mir ein Vergnügen daraus machen würde, deine Filosofie auf einen gemächlichern Fuß zu setzen. Verlange von mir was du willst, es soll dir unverzüglich gewährt werden, oder es müßte mehr seyn als in meiner Macht steht. Versprichst du mirs bey deinem königlichen Worte? sagte ich. Bey meinem Worte, versetzt' er. Nun, sagt' ich, so ersuch' ich Alexandern, Filipps Sohn von Macedonien, so gut zu seyn und mit aus der Sonne zu gehen. Ist das alles? sagte Alexander. Alles was ich jetzt bedarf, antwortete ich. Die Hofschranzen erblaßten vor Entsetzen. Ein König muß sein Wort halten, sagte Alexander, indem er sich mit einem gezwungenen Lächeln gegen seine Leute wandte. Er rechtfertigt den Zunahmen, den ihm die Korinthier geben, sagten die Hofschranzen, und er verdiente, daß ihm auch nach seinem Nahmen begegnet würde. Das sollt ihr bleiben lassen, erwiederte der Jüngling; ich versichre euch, wenn ich nicht Alexander wäre, so möcht' ich wohl Diogenes seyn. Und damit führten sie sich wieder ab.
Das Abenteuer wird Lärmen machen. Ich kann nichts dazu. In ganzem Ernste, was hätt' ich von ihm begehren sollen? Ich will mit seines gleichen nichts zu thun haben. - In der That, ich bedarf nichts; und, wenn ich was bedürfte, hab' ich nicht einen Freund? Sollt' ich von einem König Wohlthaten annehmen, da ich keine von meinem Freund annehme, den ich dadurch glücklicher machen könnte? Aber der junge Mensch gefällt mir. - Weil man doch Könige haben muß, so wär' es eben so gut, solche zu haben, die ihm glichen. - Ich zweifle nicht, daß er mich auf die Probe setzen wollte; und doch schien ihm meine Bitte unerwartet. - Es ist billig, daß er lieber Alexander als Diogenes ist; ich dächte an seinem Platz eben so: aber es macht ihm Ehre bey mir, daß er Diogenes seyn möchte, wenn er nicht Alexander wäre. Wie viel wird dieser einzige junge Mann den Griechen von sich zu reden geben! Er hat sich von ihnen zu ihrem gemeinschaftlichen Feldherrn gegen den großen König erwählen lassen. Ein schöner Vorwand für einen jungen Ehrgeitzigen, dem Macedonien und Griechenland ein zu kleiner Schauplatz ist! Ich wollte daß er über die Welt zu gebieten hätte und dächte wie Diogenes!
36.
Ich dachte an nichts weniger, als ich gestern Nachts auf meinem Ulyssischen Ruhebette lag, als Besuch von einem Könige zu bekommen: auf einmahl öffnete sich das hölzerne Schloß an meiner Hütte, und Alexander, mit einer kleinen Laterne in der Hand, trat ganz allein in meine Zelle.
Ich stand auf und hieß ihn willkommen. Du bist ein sonderbarer Mensch, sagte er zu mir: ich suche dich, so wenig ich Ursache habe mit dir zufrieden zu seyn; denn du hättest mich beynahe zu einem närrischen Wunsche gebracht Darf ich fragen zu welchem? »Kein König zu seyn, damit ich Diogenes seyn, und Könige so demüthigen könnte wie du.« Vergieb mir, Alexander, das war meine Absicht nicht! Ich lag in der Sonne wie du kamst; sie beschien mich so gut, daß es mir verdrießlich war, mir ein Vergnügen nehmen zu lassen, das in den Augen eines Königs so unbedeutend ist. Du hattest nichts bey mir zu thun, und ich hatte nichts von dir zu begehren. Ich hätte mich eine halbe Stunde besinnen können, ohne daß mir was andres eingefallen wäre, als daß du mir aus der Sonne gehen möchtest. »Gut! wenn du der sonderbarste Filosof bist, den ich noch gesehen habe, so bin ich vielleicht der sonderbarste König, den du gesehen hast. Du gefällst mir; ich wollte, daß ich dich bereden könnte, mit mir auf Abenteuer zu gehen. Ich brauche einen ehrlichen Kerl, der mir die Wahrheit sagt, - und ich denke du wärest mein Mann!« Ein jeder Mensch muß seine Rolle spielen, König Alexander. Ich wäre nicht mehr Diogenes, wenn ich mit dir ginge. Aber wenn du es verlangst, kann ich dir so viel Wahrheit mit auf die Reise geben als du brauchst, und wenn du Herr vom ganzen Erdboden würdest. »Unter uns gesagt, ich gehe mit nichts geringerm um; ich habe Ideen, die ich mir nicht aus dem Kopf bringen kann. Macedonien ist nichts; Griechenland - ist etliche Hufen mehr; - Klein-Asien, Armenien, Syrien, Medien, Indien, - das wäre wohl etwas! Aber wenn wir das haben, nehmen wir eben so wohl das übrige noch dazu. - Kurz, ich sehe den Erdboden für ein Ding an, das aus Einem Stücke gemacht ist; die
Menschen darauf haben alle zusammen nicht mehr als Einen Anführer nöthig, und - ich fühle, daß ich gemacht bin dieser Anführer zu seyn.« Ich wollte nicht dafür stehen, daß dir, wenn du damit fertig bist, der Einfall nicht kommen sollte, auf eine Brücke in den Mond und in die übrigen Planeten zu denken, um das ganze Sonnensystem zu erobern, welches auch aus einem Stücke gemacht zu seyn scheint, und wozu du, nach deiner Denkungsart, ein Recht haben wirst, so bald du Meister von diesem Erdenrund bist. »Ich werde nie Schimären verlangen, Diogenes: mein Projekt ist groß; aber auch so schön, so leicht auszuführen, daß mich nur wundert, wie ich der erste bin dem es eingefallen ist.« Du wirst über mich lachen, Alexander; aber ich versichre dich, ich würde gerade so gedacht haben, wenn ich, in deinem Alter und mit so günstigen Umständen, ein König gewesen wäre. Du hast die Herzen der Griechen in deiner Hand, und mit dreyßig tausend Griechen muß ein junger Mann, wie du, mit der ganzen Welt fertig werden können. Aber, wenn du sie nun hast, was willst du mit ihr anfangen? »Welche Frage für einen Filosofen! Was ich mit Macedonien oder Epirus anfinge, wenn ich sonst nichts hätte. Es ist alles schon in meinem Kopfe angeordnet. Die noch unpolicierten Völker werd' ich in neu angelegte Städte ziehen, und mit den besten Gesetzen versehen, die ich für sie nöthig finde; an allen großen Flüssen, an allen Seeküsten, will ich neue Kolonien und Handelsplätze anlegen; alle Provinzen des festen Landes durch brauchbare Straßen vereinigen; dem ganzen Erdboden einerley Sprache, und mit unsrer schönen Sprache unsre Wissenschaften und Künste geben; und, damit ich alles übersehen und die Maschine in Gang halten kann, ungefähr in dem Herzen meiner Eroberungen eine große Stadt anlegen, welche der Vereinigungspunkt aller Nazionen und ihrer verschiedenen Verhältnisse und Vortheile, die Seele aller ihrer Bewegungen, der Inbegriff aller Schätze der Natur und Kunst, der Sitz
der Amfiktyonen des menschlichen Geschlechts, die allgemeine Akademie seiner auserlesensten Geister, kurz die Hauptstadt der Welt und meine Residenz seyn soll.« Und wie lange, König Alexander, denkst du daß dieses große Werk dauern werde? »So lang' ein Alexander seyn wird, es zu regieren. - Das sieht einer Prahlerey gleich, Freund Diogenes; aber ich traue dir zu, daß du es für das hältst was es ist. Gesetzt die Unbeständigkeit der menschlichen Dinge, oder vielmehr die schwindlige Beschaffenheit der menschlichen Köpfe, welche in kurzem der Glückseligkeit selbst überdrüssig werden, lasse meine Stiftung von keiner langen Dauer seyn: so wird doch der Nutzen, den ich dem menschlichen Geschlecht dadurch verschaffe, sich über viele Jahrhunderte erstrecken, und ich werde doch immer das Vergnügen haben, dem vorüber gehenden Traum meines Daseyns durch die größte Unternehmung, die jemahls in die Seele eines Sterblichen gekommen ist, eine Art von Unsterblichkeit gegeben zu haben.« Aber die Schwierigkeit der Ausführung? »Schwierigkeiten? Dafür laß du mich sorgen! Gieb mir nur zehn Jahre, und dann komm und sieh!« Aber die Köpfe die es kosten wird, bis du so viele hundert Nazionen gelehrig genug gemacht haben wirst, sich von dem deinigen regieren zu lassen? »Köpfe mag es kosten! - Es ist mir leid, denn ich bin kein Freund von Würgen und Zerstören. Aber daß ich um dieser Köpfe willen, die doch ohnehin später oder früher der Natur ihre Schuld zahlen müßten, meinen Plan fahren lasse, das sollen mich alle Köpfe der Welt nicht überreden! Setz' ich nicht meinen eigenen aufs Spiel? - Zu dem sind die Weiber in Hyrkanien und Baktrianeso fruchtbar, daß der Abgang unmerklich seyn wird.«
O Alexander! (rief ich) du bist nur zwanzig Jahre alt! Andre deines gleichen verzehren ihre unrühmliche Jugend in Wollüsten und Müßiggang, zufrieden beym Trinkfeste die ersten zu seyn, und Anschläge auf die Tugend unsrer Weiber zu machen; und Du hast in diesem Alter den Entwurf von einem allgemeinen Reiche gemacht, und gehst hin ihn auszuführen! - Ich sehe dich von der hohen Schönheit deiner Idee begeistert; du bist dazu gemacht, ins Werk zu setzen, was kleinere Seelen für eine Schimäre halten würden. Ich würde dir und mir selbst lächerlich vorkommen, wenn ich dich von deinem Vorhaben abzuziehen suchen wollte. Gesetzt auch, ich hätte einige erhebliche Einwendungen zu machen, so würd' es gerade so viel seyn, als wenn ich einem Verliebten durch eine Kette von Schlußreden beweisen wollte, daß er besser thäte nicht verliebt zu seyn. - Geister, wie der deinige ist, erweckt der Himmel, so oft er dem Erdboden eine neue Gestalt geben will. Die Regeln, wonach wir andre uns zu betragen haben, sind keine Gesetze für Alexandern. - Ich würde dir vielleicht in meinem Herzen fluchen, wenn ich ein Athener, oder Spartaner, oder Kappadocier, oder Mede, oder Ägypter wäre. Aber ich bin ein Weltbürger. Kein andres Interesse, als das Beste des menschlichen Geschlechts im Ganzen betrachtet, ist in meinen Augen groß genug, um zu verdienen, daß es in Betrachtung gezogen werde. Geh, Alexander, und führe den großen Gedanken aus, der deine Seele schwellt! - Nur vergiß mitten im Laufe deiner glänzenden Unternehmungen nie, daß wir andern Erdensöhne so empfindlich für Schmerz und Vergnügen sind wie du selbst, und daß du mit allen deinen Vorzügen so hinfällig bist wie wir. Es braucht nichts mehr als einen elenden Pfeil vom Bogen eines nichtswürdigen Sogdianers, oder etliche Tropfen Gift von einem treulosen Meden in deinen Becher gemischt, um alle Entwürfe deiner großen Seele in Träume zu verwandeln. Du läufst eine gefährliche Bahn. Der Mensch kann alles eher ertragen als unumschränkte Gewalt. Der Augenblick, wo du der Versuchung unterliegen wirst, dich von deinen Schmeichlern bereden zu lassen, daß du mehr als ein Mensch seyest, wird das Ziel
deines Ruhms und der Untergang deiner Tugend seyn. Dann wirst du deine schönen Thaten durch Laster beflecken, welche deine Menschheit nur zu sehr beweisen werden. Grausamkeit und zügellose Leidenschaften werden deine Regierung verhaßt machen, dein Leben abkürzen, und dein Reich einem dieser seltnen und weit glänzenden Meteore gleich machen, welche die Welt einen Augenblick in Erstaunen setzen, aber wieder verschwunden sind, indem noch alle Augen auf ihre Betrachtung starren. Alexander saß mit gesenktem Haupte da, und schien in Gedanken vertieft zu seyn, während ich das alles sagte. Ich vermuthe, daß er über meinen Sittenlehren ein wenig eingeschlummert war. Aber bald nachdem ich aufgehört hatte, erwacht' er wieder, stand auf, und sagte mir, daß er mit Anbruch des Tages von Korinth abgehen würde. »Im Ernste, Diogenes, setzte er hinzu, kann ich dir zu nichts nütze seyn? Die Korinthier kennen, wie ich sehe, deinen Werth nicht.« Ich bin zufrieden, wenn sie mir nichts Übels thun. Seelen von deiner Art sind zum Wohlthun gemacht. Ach Alexander! es sind in diesem Augenblicke so viele Tausende, die in Elend und Unterdrückung schmachten! Könntest du machen, daß diese Unglücklichen den Tag deiner Geburt segneten, so hättest du mir alles Gute gethan, das mir der größte der Könige zu thun vermag. »Du bist ein glücklicher Mann, Diogenes! Ich kann nicht unwillig darüber werden, daß du vielleicht der einzige Mensch in der Welt bist, der meine Freundschaft abweist.« Alexander, sagt' ich ihm, ich ehre dich, wie ich niemahls einen Sterblichen geehrt habe. Aber ich kann dir nicht sagen, was ich nicht denke. Ein König kann kein Freund seyn, und kann keine Freunde haben.
»Verwünscht seyst du mit deiner Aufrichtigkeit, Diogenes! Ich will nichts mehr davon! Du würdest machen, daß ich mich in deine Tonne wünschte, und die Welt hat genug an Einem Diogenes.« Das weiß ich eben nicht; aber das ist gewiß, daß sie unter zwey Alexandern in Trümmern gehen würde. »Du sagst die Wahrheit, alter Mann! - Lebe wohl.«
Die Republik des Diogenes An Xeniades
1.
Ich habe dir meine Republik versprochen, guter Xeniades, und der Besuch eines Macedonischen Jünglings, der auf Eroberung der Welt auszieht, hat mich in die Laune gesetzt, dir Wort zu halten. Um den ungeheuern Einfall zu haben, aus allen Völkern des Erdbodens einen einzigen Staat zu machen, muß man - Alexander seyn. So weit erstreckt sich meine Einbildungskraft nicht. Ich will mir einbilden, ich wär' ein weiser Zauberer, der mit Hülfe einer magischen Ruthe alle seine Ideen realisieren könnte; und hätt' eine noch unbewohnte Insel vor mir liegen, welche groß und fruchtbar genug wäre, einige hundert tausend Männer, mit den dazu gehörigen Weibern und Kindern, auf jeden Mann höchstens zwey Weiber und sechs Kinder gerechnet, hinlänglich zu ernähren. Ich setze ferner voraus, daß diese Insel - Ja, das ist eben die Frage, was ich voraussetzen soll? - Ob, zum Exempel, meine künftigen Unterthanen noch ungezeugt und ungeboren, - oder zwar erwachsen aber noch wild, - oder ob sie wirklich schon so policiert, so geschickt, so wohl erzogen und fromm seyn sollen, als wir Griechen sind? Die Sache verdient Überlegung.
2.
Alles wohl erwogen, denke ich, ich will sie schon erwachsen nehmen; es würde mir gar zu viele Mühe machen, bis ich so viele Leute
gezeugt, geboren, und so weit gebracht hätte, daß sie ohne Führhand gehen könnten. Doch - ich vergesse, daß ich ein Zauberer bin! Kann ich sie nicht mit einem einzigen Schlag meiner Ruthe machen wie ich sie haben will? - Das ist kein geringer Vortheil; aber bey einem solchen Geschäft ist er unentbehrlich. Der Henker möchte eine Republik machen, wenn man die Leute nehmen müßte wie man sie fände! Ich hohle mir also ungefähr hundert tausend hübsche Mädchen aus Albanien, Iberien und Kolchis zusammen, wo man sagt daß sie am schönsten wachsen. - Es versteht sich, daß ich sie aus vier- oder fünfmahl hundert tausenden ausgesucht habe, - lauter große, starke, voll aufgeblühte Dirnen, mit langen blonden Haaren, blauen Augen, hoher Brust, vollem Busen, runden ausgeschweiften Hüften, kurz mit allem, was die Kenner zur vollkommnen Schönheit und Gesundheit - einer Kindergebärerin fordern; - von Farbe lauter Lilien und Rosen, und alle im zwanzigsten Jahre. Diese Mädchen versetz' ich durch einen Schlag meiner Ruthe mitten im May in das anmuthigste Thal am Fuße des Antilibanus. Meine Geister haben indessen unter jedem Mandelbaum und Rosinenstrauch eine Tafel gedeckt: keine Niedlichkeiten von der Art, womit unsre Reichen sich langsam vergiften lassen; gute, nahrhafte, saftvolle Speisen, und frisches Quellwasser dazu, so viel sie wollen. So bald alles fertig ist, flugs hohlt mir hundert tausend hübsche junge Burschen aus Hyrkanien und Baktriane her! - Keine Adonisse, keine glatte halb weibliche Ganymeden, wie ihr Korinthischen Herren, wer weiß wozu, in euern Gynäceen unterhaltet; - große derbe Bengel, die noch alle ihre Jugendkraft beysammen haben, gewohnt in Wäldern herum zu schwärmen, und, wie lauter Herkulesse, ihren Landsleuten, den Tiegern und Pantherthieren, die Häute abzujagen, die um ihre breiten Schultern hangen.
Wie die Mädchen und die Jungen einander ansehen werden, - das könnt ihr euch vorstellen. Die Natur mag itzt vollenden, was ich angefangen habe! - Ihr könnt euch darauf verlassen, daß sie gute Arbeit machen wird. »Aber wie? sagt ihr, - nichts als Brunnenwasser dazu? Keinen Wein von Thasos, von Chios, von Cypern?« - Keinen Tropfen! Glaubt ihr, meine Hyrkanier haben solche Stärkungsmittel vonnöthen? Meine Mädchen würden euch solches Mißtrauen sehr übel nehmen. Die Morgenröthe bricht an. - Die Jünglinge wachen auf, und wollen auch die armen Kinder nicht länger ruhen lassen. - Nun, es mag seyn, weil es doch das letzte Mahl ist! und dann, meine Geister, tragt mir sie, eben so plötzlich als sie gekommen sind, wieder in ihre Wälder zurück; ich habe sie nicht mehr vonnöthen. Juno Lucina steh' uns bey! In neun Monaten hab' ich zum wenigsten hundert und dreyßig tausend kleine Bübchen und Mädchen zu erziehen, jedes Mädchen so lieblich wie eine Grazie, jeder Knabe so schön wie der junge Bacchus. Und nun laßt sehen, ob ich euch nicht eine Republik daraus machen will, wie noch keine gewesen ist!
3.
Ich weiß es mir selber Dank, daß ich mir die künftigen Einwohner meiner Republik nach meiner eigenen Idee habe machen lassen; - oder, richtiger zu reden, daß ich es der bloßen unverdorbenen Natur aufgetragen habe, sie zu machen wie sie es selbst für gut befände. Denn, die Wahrheit zu gestehen, ich würde in zwanzig Jahren nicht mit allen den Veränderungen fertig geworden seyn, die ich mit euern policierten
Griechen und Asiaten hätte vornehmen müssen, bis sie nur einiger Maßen in meinen Staat getaugt hätten. Ich wohnte neulich den Isthmischen Spielen bey. Welch eine unendliche Menge Volks, von Königen und Königinnen, bis zu Sklavenmäklern und Citronenmädchen, übersah ich da mit Einem Blicke! Wie viele Gattungen und Arten, in fast unzählbaren Subdivisionen! - Staatsmänner, Archonten, Räthe, Redner, Advokaten; Heerführer, Oberste, Hauptleute bis zu den Helden, die des Tages für achtzehn Pfennige dienen; Priester, Poeten Geschichtschreiber, Filosofen, Mahler, Bildhauer, Musikanten, Baumeister, Meister in allen nothwendigen und entbehrlichen Künsten, Wechsler, Kaufleute, Seefahrer, Juwelenhändler, Spezereykrämer, Weinhändler, Köche, Pastetenbäcker; Komödianten, Mimen, Seiltänzer, Gaukler, Taschenspieler, Beutelschneider, Schmarotzer, Kuppler; - und unter allen diesen Kluge, Witzige, Dummköpfe, ehrliche Leute, Spitzbuben, Ehrgeitzige, Niederträchtige, Wucherer, Verschwender, Weichlinge, Narren und Gecken von so vielerley Arten, Gattungen, Geschlechtern, Figuren, Farben und Zuschnitt, daß Aristoteles in seinem ganzen Leben nicht fertig würde, wenn er sie klassifizieren wollte. Was für ein mächtiger Gott ist der Zufall! dacht' ich bey mir selbst. Welcher Filosof getraute sich, aus so ungleichartigen Bestandtheilen ein erträgliches Ganzes zusammen zu setzen? - Und dieser Zufall hat alle unsre kleinen Reiche und Staaten daraus zusammen gestöbert; und doch sehr ihr, daß es nach Gestalt der Sachen noch so ziemlich erträglich darin zugeht. Indessen gesteh' ich, der Fehler mag nun an meiner Republik oder an was anderm liegen, daß ich die wenigsten von allen diesen wackern Leuten zu gebrauchen wüßte.
Fürs erste müßte ich die ganze Klasse der Staatsleute abdanken; denn meine Republik muß von sich selbst gehen, wenn sie einmahl aufgezogen ist, oder ich wollte keine faule Mispel um sie geben. Soldaten? - Meine Leute sollen glücklich seyn ohne es zu scheinen. Man soll es nicht der Mühe werth halten, sie anzufallen; und vor bloßen Räubern fürchten sie sich nicht. Es sind starke nervige Gesellen, welche die Keule so gut zu führen wissen als Ihr einen Luftfächer; sie sollen euch gewiß die Lust, ihre Weiber und Töchter zu entführen, beym ersten Versuche vergehen machen! Baumeister? - Paläste, Tempel, Amfitheater werden wir nicht nöthig haben; und um uns von gutem Holze kleine saubere Häuschen zu bauen, wenn Jahrszeit und Witterung uns die freye Luft verbieten, dazu brauchen wir keine Baumeister. Wir werden uns mit dem begnügen lassen, was die Natur auf unsrer Insel wachsen läßt, und das werden wir alles für uns selbst brauchen. Wir haben also nichts zu handeln oder zu tauschen: eure Seefahrer oder Negocianten können nur weiter reisen; bey uns ist nichts zu thun. Eure Wollen- und Seidenfabrikanten sollten wir auch entbehren können. - Ich werde dafür sorgen, daß in den Wäldern unsrer Insel der Bären, Wölfe, Lüchse und Füchse so viel seyn sollen, als meine Leute zu ihrer Winterkleidung vonnöthen haben; und für Sommerkleider will ich die ganze südliche Seite mit Wollenbäumen bedecken. Unsre Weiber und Mädchen sollen die Wolle selbst sammeln, spinnen, weben, auch färben wenn sie wollen, und sich artige, niedliche Gewänder daraus machen; denn sie sind so gern geputzt als die eurigen. »Und warum Gewänder?« wird ein Gymnosofist fragen. Erstlich, weil Luft und Sonne den Rosen und Lilien ihrer Haut schädlich seyn würden; und dann, weil ich nicht für gut finde, daß sich
die Augen meiner Knaben und Jünglinge mit den Schönheiten ihrer Liebsten so gemein machen sollen, um sie vom ersten Anblick auswendig zu wissen. Den ganzen Zug der üppigen Künste, die eurer Prachtliebe und Weichlichkeit dienen, weiß ich zu nichts zu gebrauchen. Ich denke sogar, daß wir euch eure Mahler und Bildhauer lassen werden. Ich thu' es ungern; aber die Furcht, daß es einem von ihnen etwann einfallen könnte, seinem Bildchen eine Kapelle zu bauen und sich selbst zum Priester davon zu weihen, überwiegt alle meine Liebe zu diesen Künsten. Im Grunde kann ich ihrer auch sehr wohl entbehren. Findet einer von meinen Jünglingen seine Geliebte so schön, daß er ihre Gestalt verewigt zu sehen wünscht: - so mag ihm Amor helfen, eine lebendige Kopey von ihr zu machen; sie wird allemahl schöner und dauerhafter seyn, als das schönste Bild, das ein Lysippus oder Apelles von ihr machen könnte. Eure Köche, Pastetenbäcker, Näschereyenkrämer, Parfümierer, u.s.f. - weg damit! Die Natur soll meinen Leuten entweder selbst kochen, oder sie kochen lehren. - Ihr Naschwerk soll ihnen auf Bäumen und Stauden wachsen; - und meine Weibsleute sollen die reinlichsten, niedlichsten und wohlriechendsten Dinge von der Welt seyn, ohne was anders dazu nöthig zu haben, als frisches Brunnenwasser, einen Strauß am Busen, und Rosenblätter auf ihre Matratzen, oder auf den weichen Grasboden, wo ich euch, unter gewissen Bedingungen, erlauben werde sie im Schlaf zu überraschen. Eure Sofisten, Geschichtschreiber, Dichter, u.s.w. - sie werden mir vergeben; aber ich weiß nichts mit ihnen anzufangen. Die Hälfte von ihrer Gelehrsamkeit wäre genug, meine Kolonisten unwiederbringlich um ihr Bißchen Mutterwitz zu bringen. - Zu Dichtern soll sie die Liebe oder die Freude machen. Aus euern Geschichtschreibern würden sie nur Laster kennen lernen, die sie nicht kennen sollen, oder Tugenden, die
ihnen zu nichts nütze wären. Von Filosofie brauchen sie keine andre als die Filosofie des Diogenes, - und diese sollen sie von ihren Müttern und Ammen lernen! - Also, Gott befohlen, meine Herren. Schauspieler, Mimen, Tänzer, und was unter diese Rubrik gehört; es mögen in Republiken, wie die eurigen sind, ganz brauchbare Leute seyn! Sie machen das Volk seines Leides vergessen, und desto besser für die Regenten! Aber, bey uns taugten sie nichts. - Tanzen soll meine Jugend von der Fröhlichkeit lernen. Laßt ihnen noch was dazu auf einer ländlichen Pfeife aufspielen, um sie im Takt zu erhalten, so wette ich was ihr wollt, ihr werdet selbst kommen und ihnen ihre kunstlosen Tänze ablernen. Ihr werdet sie auf euern Tanzsählen nachmachen wollen: aber die herzliche Freude, welche die Seele davon ist, werdet ihr nicht nachahmen können; die muß man fühlen; und um sie in ihrer ganzen Lauterkeit zu fühlen, müßtet ihr Einwohner meiner Insel seyn. Mimen würden sich in einem so einfältigen Volk als das meinige ist nicht verständlich machen können; und Schauspieler, was wollten sie uns aufführen? - Tragödien? - Warum sollte ich die schönen hellen Augen meiner jungen Weiber ohne Noth in erkünstelten Thränen baden? - Komödien? - Wir werden nicht mehr Narrheit unter uns haben, als so viel man schlechterdings braucht um weder gar zu dumm noch gar zu weise zu seyn; und das ist nicht Narrheit genug, um Fratzenbilder hervorzubringen, die ein Parterre wiehern machen. - Kurz, wir wollen schon Mittel finden uns die Zeit zu vertreiben; behaltet immerhin eure Zeitvertreiber für euch selbst! Und zu dem, womit wollten wir sie bezahlen? »Aber, Ärzte muß man doch haben?« - Schlimm genug, wenn ihr sie haben müßt! - Ich ehre die Hippokraten; sie sollen willkommen seyn, wenn sie zu uns kommen wollen; aber zu thun werden sie wenig finden. - Die Luft auf unsrer Insel ist eine gesunde Luft; und bey der einfältigen Lebensart, die wir führen, bey der Mäßigkeit unsrer Tafel, bey der Heiterkeit unsers Gemüths, ohne Sorgen, ohne Kummer, ohne Ehrgeitz,
ohne andre als wohlthätige Leidenschaften und ergetzende Fantasien, die uns in einem angenehmen Gefühl unsers Daseyns erhalten, wozu sollten wir Ärzte bedürfen? - Wir wollen euch zu uns bitten, meine Herren, so bald wir einer gar zu einförmigen Gesundheit überdrüssig sind. Den ganzen übrigen Troß der Leute, welche von der Behendigkeit ihrer Hände, oder der Geschmeidigkeit ihrer Zunge, oder der Beweglichkeit ihrer Hüften, oder der Gefälligkeit gegen eure Leidenschaften, Absichten und Launen leben, - wollte Gott, daß ihr Mittel fändet eure Staaten von diesem Auskehricht zu reinigen! Es giebt allenfalls noch eine Menge unbewohnter Inseln, wohin ihr sie verpflanzen könnet. - Die unsrige ist schon besetzt.
4.
Sie ist gerade so wie sie Aristoteles haben will: nicht zu kalt und nicht zu warm, ihre Luft rein und gelinde, ihr Erdreich fruchtbar, ihre Wälder voll Wild, ihre Gehölze voll Lerchen, Nachtigallen und Distelfinken, ihre Flüsse und Bäche voll Fische, ihre Anger und Thäler mit Herden, und ihre Felder mit Reiß und Weitzen bedeckt. Ihr sehet, daß ich Vorrath auf viele Jahrhunderte habe, wenn sich meine Leute nur eine kleine Mühe geben wollen, den Reichthum zu erhalten, in den ich sie einsetze. Weil es mich nur einen Schlag mit einer Ruthe kostet, so habe ich ihnen die Hütten bauen lassen, worin sie künftig wohnen sollen. Sie sind alle von gutem Cedernholze gebaut, mit Palmblättern bedeckt, geräumig, gleichförmig, ungekünstelt, und durch den ganzen bewohnbaren Theil meiner Insel (meistens plattes Land) in gleicher Entfernung zerstreut. Ich habe ihrer ungefähr sechzig tausend bauen
lassen; wenn wir künftig mehr gebrauchen, oder wenn die alten baufällig geworden sind, so mögen meine Insulaner selbst für neue sorgen. »Das ist bald gesagt: - aber dazu werden sie Äxte und Sägen vonnöthen haben; denn mit den Zähnen wie die Biber werden sie ihre Bäume schwerlich zu Balken und Brettern nagen, und um Äxte und Sägen zu haben, müssen sie Eisengruben, Schmelzhütten und Eisenhämmer haben; und um diese zu haben, müssen sie -« Der Henker hohle alles was sie haben müßten! Das würde mir meine ganze Republik zu Grunde richten. Sie sollen in Lehmhütten wohnen! Aber das wäre zu unreinlich, und meine Leute sollen keine schmutzigen Leute seyn. Also Höhlen und Grotten! - Aber dazu werden wir nicht Felsen genug auf der Insel haben, wenn sie auch alle in lauter Grotten ausgehauen wären; und Städte kann ich aus gewissen Ursachen schlechterdings nicht bauen lassen. Ich weiß mir nicht zu helfen; - anders nicht, als daß ich sie ein- für allemahl mit Äxten, Beilen und Sägen versehe, und dafür sorge, daß wenigstens alle zwanzig Jahre ein Schiff mit dergleichen Werkzeugen an ihrer Küste scheitern muß. Hab' ich mir nicht gerade solcher Fälle wegen eine Zauberruthe ausbedungen?
5.
Nun ist es Zeit, daß ich meine Kolonie in ihre neue Wohnung einführe. Ich habe sie, kraft meines magischen Stabes, die ersten achtzehn Jahre ihres Lebens wegschlummern lassen; und nun erwachen sie sämmtlich, Jünglinge und Mädchen, auf einmahl mit dem Wuchs, der Stärke und vollen Blüthe des achtzehnten Jahres, reif zu jedem süßen Gefühl ihres Daseyns, und zu dem ganzen kleinen Kreise angenehmer Verrichtungen, in welchen die Natur ihre Thätigkeit einschränkt. O Amor, und du, freundliche Venus, alles vermehrende Gottheiten, - euch ruf' ich jetzt für meine Kinder an! Euch kommt es zu, den süßen und mächtigen Trieb, der, indem ich sie einander entgegen führe, zum ersten Mahl in ihrer Brust klopfen wird, zu entwickeln, und, was ohne euch ein bloßes Spiel der Fibern wäre, zu Liebe und zärtlicher Empfindung zu bilden. Man denke nicht, daß ich hier einen Gott aus der Maschine hervor rufe; ich habe des höhern Beystandes, den ich erbitte, mehr als zu sehr vonnöthen. Es ist keine so geringe Sache, hundert und dreyßig tausend Leute von achtzehn Jahren auf ihr ganzes Leben glücklich zu machen. Wie es nur darum zu thun war, sie machen zu lassen, dazu hatte ich nichts als den Instinkt vonnöthen; sie geriethen nur desto besser. Aber nun, da sie gemacht sind, sie auch glücklich zu machen, oder vielmehr, weil die Natur so ziemlich dafür gesorgt hat, zu verhindern, daß sie nicht aus Unverstand und Unerfahrenheit sich selbst unglücklich machen, das ist der Punkt! Ich wünschte, meine Zauberkunst möchte sich so weit erstrecken, daß ich eine andre Art, ihr Leben und ihre Gattung zu erhalten, für sie ausfündig machen könnte, als die gewöhnliche. Denn, alles ohne
Vorurtheile überlegt, ist doch nicht zu läugnen, daß das Bedürfnis des Essens und Trinkens, und ein gewisses andres, welches sich gemeiniglich anmeldet, wenn ihr wohl gegessen und getrunken habt, die wahren Quellen der meisten Übel unter den Sterblichen sind. Lange schon vor der schönen Helena gab ein Ding, das ich nicht bey seinem rechten Nahmen nennen darf, Anlaß zu tausend verderblichen Unordnungen; und wie wenig eigennützige und gewinnsüchtige Laster blieben übrig, wenn wir - von Luft und Sonnenstrahlen leben könnten! Allein das ist nun nicht zu ändern! Meine armen Pflegekinder, hier nützt euch mein guter Wille nichts; ihr müßt euch nähren und begatten wie alle andre Erdenbewohner auch. Alles was ich thun kann, ist, die Natur für euch zu fragen, wie sie haben wolle, daß ihr das eine und das andre thun sollet. Denn so unverschämt bin ich nicht, daß ich mir einbilden sollte, es besser zu wissen - als die Natur. Fangen wir immer beym Begatten an; es ist wirklich der angelegenste Punkt: denn meine Jünglinge und Mädchen sitzen in diesem Augenblicke alle unter den Bäumen von ihren Wohnungen durch die ganze Insel zerstreut, und werden von meinen dienstbaren Geistern mit einer frugalen Mahlzeit von Reiß und Früchten bewirthet, worin künftig ihre gewöhnliche Nahrung bestehen wird. Nach der Tafel werden sie zum Tanzen aufstehen, - und bis dahin muß dieser Theil unsrer Gesetzgebung ins Reine gebracht seyn. Die Sache leidet keinen Aufschub. Plato hält die Gemeinschaft der Weiber für das unfehlbarste Mittel, die unschädlich zu machen. Das mag in seiner Republik gut seyn, die aus lauter Ideen zusammen gesetzt ist, und lauter Ideen zum Endzweck hat! - In der meinigen, wo alles natürlich zugehen soll, würde diese Methode nicht gut thun. Die Bevölkerung meiner Insel würde darunter leiden; unsre Kinder würden in jedem Manne ihren Vater suchen, und ihn eben deßwegen nirgends finden, weil es ein jeder andrer eben so gut
seyn könnte als dieser oder jener. Die Liebe, aus welcher die Natur, wie mir däucht, eine Quelle von Glückseligkeit für uns machen wollte, würde bloß auf Bedürfniß und thierischen Instinkt herab gewürdigt. Kurz, ich begreife nicht, wie meine Leute bey dieser Einrichtung so glücklich seyn könnten, als ich sie gern machen möchte. »Aber, sagt Plato, durch welches andre Mittel willst du den unzähligen Unordnungen vorbeugen, denen du durch Einführung des Eigenthums unter beiden Geschlechtern tausend Pforten öffnest? - Und siehst du nicht, daß indem du deine Menschen in kleine Familien absonderst, dein Staat in unzählige besondere Gesellschaften zerstückelt wird, deren jede ein näheres Interesse hat als das allgemeine?« Das sehe ich, göttlicher Plato, - so wie ich sehe, daß du allen den Unordnungen, die dir so fürchterlich vorkommen, dadurch abhilfst, daß du die Nahmen der Dinge umtauschest, und die äußerste Unordnung in deiner Republik zur Ordnung machst; - und wie ich sehe, daß du, um das allgemeine Interesse deines idealischen Staates zu befördern, alls die Empfindungen vernichtest, wodurch das allgemeine Beste für einen jeden einzelnen interessant wird, oder, kurz zu sagen, wodurch ein allgemeines Interesse sich denken läßt. Ich kann nichts dafür, daß die Natur so viele Öffnungen und Ritzen am Menschen gelassen hat, durch welche sich Irrthum und Verderbniß einschleichen kann. Aber, bey allem dem, will ich mich zu einem Priester der Mutter Berecynthia machen lassen, wenn das nehmliche wunderliche Ding, wovon ich euch sagte, auf meiner Insel nicht tausendmahl weniger schlimme Händel veranlassen soll, als auf allen euren Inseln, Halbinseln und festen Ländern der ganzen Welt. Ich habe ungefähr sechzig tausend Knaben, und zehen tausend Mädchen mehr als Knaben, - die ich wahrlich nicht der Diana zu weihen
gedenke! - Wie? Ich sollte zehen tausend schöne, frische, vom gesundesten Blute strotzende Mädchen brach liegen lassen? - Nicht eine einzige, so wahr ich Diogenes, meiner Mutter Sohn, bin! Nun ist kein ander Mittel als, entweder für diese zehen tausend Mädchen eben so viele neue Jünglinge machen zu lassen; - und das ist mir jetzt gerade nicht gelegen; oder, sie unter alle sechzig tausend zu vertheilen; und das wäre wider meinen Anti-Platonismus; oder Dacht' ich's nicht? - Sie sind des Tanzens bald müde geworden; Paar und Paar, oder drey und drey, wie die Grazien, haben sie sich in die anmuthigen Gebüsche geschlichen, womit sie ihre Wohnungen, wie mit Kränzen durchflochten haben. - Nun kann ich mir die Müh ersparen, auf Auswege zu denken! Amor und seine Mutter würden meiner spotten, und es ginge doch weder besser noch schlimmer als sie es haben wollen. Lieber will ich mirs gutwillig gefallen lassen. Alles, o ihr holden Götter der Liebe, sey demnach euerm Einfluß überlassen! Stiftet an diesem Abend, dem Einweihungsfeste meiner Republik, so viele Bündnisse als ihr wollt und könnt. Weder das blinde Loos, noch ein fremder Befehl, dem das Herz sich selten unterwirft, soll der Ehestifter bey meinen Pflegekindern seyn. Ich begebe mich, für jetzt und allezeit, aller Willkühr, die ich mir, unter welchem Vorwand es sey, über sie anmaßen könnte. Amor allein hat das Recht über ihre Herzen zu gebieten. Ich denke, er wird meine zehen tausend Mädchen nicht vergessen. Kann er zehen tausend von ihren Schwestern überreden, sich mit eben so vielen Jünglingen in Güte zu vertragen, wer hat was dawider einzuwenden? »Aber, werden die übrigen funfzig tausend Jünglinge nicht eifersüchtig werden?« Nein, wenn jeder seine Schöne so lieb hat als ich einst meine Glycerion.
»Aber wenn das nun nicht wäre?« So mögen sie selbst zusehen! Ich kann nicht für alles Rath schaffen.
6.
Wenn sich doch eure Könige und Fürsten vorstellen könnten, wie angenehm es ist, eine Menge von Leuten glücklich zu machen! In meinem Leben hat mir nichts ein so vollkommnes Vergnügen gemacht, als die Vorstellung, hundert und dreyßig tausend liebenswürdige junge Geschöpfe wenigstens auf vier und zwanzig Stunden glücklich gemacht zu haben. Meine Ehegesetze sind in Ordnung gebracht; in zwanzig Jahren hoff' ich meine Insel ziemlich bevölkert zu sehen. Ob es eine ewige Liebe giebt? - Das weiß ich nicht. So viel ist gewiß, daß es unbesonnen wäre, einander ewige Liebe zu schwören, so geneigt man mit sechzehn Jahren dazu ist; aber ewige Liebe schwören müssen - Nein, meine Kinder, ich will euch keinen Anlaß geben, einander desto eher überdrüssig zu werden! Wem die Freyheit, die ich meinen Insulanern lasse, anstößig ist, der muß (denk' ich) gewohnt seyn, die Welt mit dem halben Durchmesser des kleinen Kreises zu messen, den er um sich selbst, und den Ort wo er etwas zu bedeuten hat, eine oder zwey Stunden scheibenweise herum zieht. Es ist nichts alberner, als alles lächerlich oder ärgerlich finden, was anders ist als bey uns. In Grunde läuft doch der ganze Unterschied darauf hinaus, daß ihr euch die Freyheit selbst nehmt, die ich meinen Unterthanen lasse, weil ich nicht gern Gesetze gebe, bloß damit ich fein viel zu dispensieren und zu strafen bekomme.
Ich sehe nicht warum die Ehen in meiner Insel nicht dauerhaft seyn sollten. Ehrgeitz, Interesse, Unverträglichkeit der Gemüther, tödtliche Feindschaft, Unvermögen, oder wie die andern Ursachen eurer Ehescheidungen heißen, finden bey uns nicht Statt. - Doch erlaube ich meinen Leuten, in gewissen Umständen einen Tausch zu treffen, in so fern es mit gutem Willen der sämmtlichen Interessenten geschieht. Diejenigen, welche, ohne jemahls zu tauschen, vierzig Jahre mit einander gelebt haben, werden öffentlich mit einem Kranze von Schasmin und Myrten gekrönt, und erhalten dadurch das Recht, bey allen Festen mit einem solchen Kranz um die Stirne oben an zu sitzen, und bey den Versammlungen zuerst ihre Meinung zu sagen. Eine Schöne - (häßliche giebt es überhaupt in meiner Insel nicht) welche überzeugt werden kann, zwey Liebhaber zugleich zu begünstigen, wird verurtheilt, drey Monate lang bey allen Festen und öffentlichen Lustbarkeiten mit sechs Daumen hohen spitzen Schuhen, und einem achtzehn Daumen hoch aufgethürmten Aufsatz von Ziegenhaaren zu erscheinen. - Eine Strafe, die in den Augen meiner Insulanerinnen so entsetzlich ist, daß es auf dem ganzen Erdboden keine behutsamern Geschöpfe giebt als sie. Übrigens ist auf meiner Insel nicht erlaubt, sich in fremde Liebesangelegenheiten einzumischen. Der oder diejenige, welche sich beygehen ließe, einem zärtlichen Paar in eine Grotte nachzuschleichen, oder einem Manne zu verrathen, daß man seine Frau mit einem andern hinter einem Rosenstrauche habe sitzen sehen, wird ohne die mindeste Nachsicht in einen Nachen gesetzt, und mit einem guten frischen Landwinde, unter höflicher Empfehlung an die Tritonen und Nereiden, ins hohe Meer geschickt. Eine einzige solche übelthätige Kreatur würde hinlänglich seyn, den Samen der Zwietracht in meiner ganzen Insel auszusäen.
Ihr werdet mir einwenden, daß es bey so gestalten Sachen unmöglich sey, eine Schöne jemahls zu überweisen, daß sie zwey Männer zugleich begünstige. Schwer ist es, ich gesteh' es, aber nicht unmöglich. Denn es würde unmöglich gewesen seyn, von dem Gesetze, dessen ich eben erwähnte, den Mann oder die Frau nicht auszunehmen, welche selbst unmittelbar bey einem solchen Fall interessiert wären. Gesetzt, ich sähe meine eigene Frau mit einem andern die Einsamkeit suchen, so ist mir (falls ich unhöflich genug wäre sie zu überraschen) nicht nur erlaubt, sie zur Strafe der spitzigen Schuhe und der Pyramide von Ziegenhaaren zu ziehen: sondern ich bin auch berechtigt, ihren Liebhaber anzuhalten, mir, wofern ich anders Lust zum Tausche habe, seine Frau gegen die meinige abzutreten. Indessen versichern mich meine Geister, welche die Gabe haben, die Begebenheiten der moralischen Welt auf etliche Jahrhunderte hinein so genau auszurechnen, als unsre Sternseher die Sonnenfinsternisse, daß dieser Fall sich in den ersten fünf und zwanzig Jahren meiner Republik kaum fünf- oder sechsmahl ereignen werde; welches (denke ich) fünf oder sechs tausendmahl weniger ist, als in jedem andern Staate (eine gleiche Anzahl von Einwohnern vorausgesetzt) in einem einzigen Monat geschehen könnte. Amor (für den ich übrigens alle Ehrfurcht hege, die ich ihm schuldig bin) wird mir verzeihen, wenn ich sage, daß er seiner Natur nach ein loser Vogel ist, der sichs schlechterdings nicht wehren läßt, von Zeit zu Zeit eine kleine Schelmerey zu begehen. Ich kann ihn nicht anders machen; und ich fordre alle eure Gesetzgeber und Sittenlehrer heraus, ihn anders zu machen wenn sie können. Was blieb mir also übrig, als ihm entweder die Flügel gar abzuschneiden, - und wenn ihr auch dazu entschließen könnt, so schneidet ihm eben so wohl auch alles andre ab, was sich abschneiden
läßt, - oder die Behutsamkeit unter meinem Volke zu einer der vornehmsten Tugenden zu machen? wie sie es auch in der That ist, ihr möchtet leben wo und in welchen Umständen ihr wolltet. Das Wort Eifersucht habe ich aus den drey hundert und fünf und sechzig Wörtern, woraus die Sprache meiner Insel besteht, gänzlich ausgeschlossen. - Hab' ich unrecht daran gethan?
7.
Ich habe um jede Wohnung in meiner neuen Kolonie einen kleinen Hain von fruchtbaren Bäumen und Stauden, einen kleinen Garten, ein Feld mit Reiß, und ein Wäldchen von Wollenbäumen anlegen lassen. Jede kleine Familie hat Platz genug zum Anbau; je mehr sie sich verstärkt, je mehr Hände zum Arbeiten. Die Männer bestellen ihr Feld und ihren Garten, oder fischen, oder jagen in den gemeinschaftlichen Wäldern; die Jünglinge und Mädchen hüten und besorgen, so lange sie in den Schäferjahren sind, die Herden; und die Frauen beschäftigen sich mit dem Innern der Haushaltung; sie pflegen den Garten, sie bereiten die Mahlzeit zu, und die Baumwolle gewinnt unter ihren schönen Händen alle die mannigfaltigen Gestalten, worin sie geschickt wird, ihnen den Mangel aller Persischen und Indischen Manufakturen zu ersetzen. Bey allen diesen Arbeiten, welche nicht mehr sind, als meine Leute bedürfen um mit besserm Appetit zu essen und desto süßer zu schlafen, bleibt ihnen noch Zeit genug zu den Vergnügungen, in welchen eigentlich der Genuß des Lebens besteht. Der Vater behält Zeit genug mit seinen Kindern zu tändeln, und tändelnd seine Knaben den Bogen gebrauchen, oder sein Frühstück mit
dem Wurfpfeil verdienen zu lehren; indeß die jungen Töchter von der schönen Mutter den Gesang der Nachtigall nachahmen, oder die Lieder irgend eines dichterischen Schäfers auf der Cither begleiten lernen. Des Abends versammeln sich gewöhnlich etliche benachbarte Familien unter den Bäumen einer anmuthigen Gegend, Gesang und Scherz verkürzt die geselligen Stunden; sie sehen den Spielen ihrer Kinder zu, und erinnern sich dabey des süßen Traumes ihrer eigenen Kindheit. Ich gestehe, daß ich viel auf Müßiggang und Ergetzlichkeiten halte. Arbeit ist ein Mittel zum Zweck unsers Daseyns; aber sie ist nicht der Zweck selbst. Meine guten Pflegekinder! ihr habt, wenn ich die Zeit, die ihr verschlaft, abrechne, höchstens vierzig oder funfzig Sonnenjahre zu leben; und ich sollte nicht alles in der Welt anwenden, damit ihr eures Daseyns froh würdet? Der Stiftungstag meiner Republik, der Anfang jeder Jahreszeit und jedes Monats, und die Ernte und Weinlese, sind öffentliche Feste, wo der Geist einer allgemeinen Fröhlichkeit durch meine ganze Insel weht. Diese Feste sind das vornehmste Mittel, wodurch ich Eintracht, Geselligkeit und allgemeines Wohlwollen unter meinem Volk erhalte. Es sind eigentlich die Tage, wonach sie ihre Leben messen. Ich habe schon dreyzehn Rosenfeste erlebt, sagt ein Mädchen, wenn sie sagen will, daß sie dreyzehn Jahr alt sey. - Es sind die Tage, auf die man sich an allen übrigen freuet, und mit deren Erwartung man sich zum Fleiß ermuntert. Die Mädchen und Frauen arbeiten emsiger, um am nächsten Feste in einem niedlichern Anzug zu erscheinen, und die Männer beeilen sich für einen hinlänglichen Vorrath zu sorgen, um sich nach ihrer einfältigen Art mit ihren Nachbarn gütlich thun zu können.
Überhaupt getraue ich mir zusagen, daß schwerlich noch ein andres Land in der Welt ist, wo man die Glückseligkeit, unter einem Baume zu liegen und von Nichtsthun auszuruhen, in einem höhern Grade genösse; oder wo an festlichen Tagen die Freude geselliger, sympathetischer, allgemeiner, und dabey unschuldiger und seltsamer wäre als in meiner Insel. Mein Volk ist eine gutherzige, muntre, jovialische Art von Geschöpfen, die sich mit einander freuen daß sie da sind, und keinen Begriff davon haben, wie man es machen müßte um einander das Leben zu verbittern, oder warum man es thun sollte. Ich habe ihnen alle Gelegenheit genommen auf so unnatürliche Gedanken zu kommen. In der vollkommnen Überzeugung, daß jeder Schritt, der sie von der Einfalt und Genügsamkeit der Natur entfernte, sie von der Glückseligkeit entfernen würde, - hab' ich alle angewandt, um ihnen den Verlust dieser wohlthätigen Einfalt unmöglich zu machen. Der Erfinder eines neuen Tanzes, eines neuen Liedchens, einer neuen Melodie, wird durch das Vergnügen belohnt, das er seinen Gespielen (so nennen sich meine Insulaner unter einander) damit macht. Aber der Erfinder einer jeden andern Neuigkeit oder Neuerung, welche auf eine vermeinte Verbesserung ihrer Lebensart, ihrer Art zu wohnen, zu essen, zu schlafen, sich zu kleiden, oder ihrer Arbeit, ihren Sitten, und der Einförmigkeit in allem diesem abzielte, würde sich eben so, wie ein Störer der ehelichen Ruhe, die Belohnung zuziehen, in einen Nachen gesetzt und auf ewig in den weiten Ocean verwiesen zu werden. Das Schöne und Gute fließt in einer einzigen sanften Wellenlinie zwischen unzähligen Abweichungen fort: es ist seiner Natur nach einförmig; wenn man es einmal besitzt, so geht jede Veränderung - ins Schlimmere, eure Sofisten mögen sagen was sie wollen.
Um sie vollkommen zu überweisen, laßt mir nur einen einzigen jungen Athener kommen, und seht, was er in acht Tagen aus meiner armen Republik gemacht haben wird. In rauschendem Purpurgewande, mit Silberblumen durchwirkt, schwimmt mein artiger junger Herr daher, von arabischen Öhlen und Essenzen düftend, zierlich gelockt, zierlich beschuht, kurz, um und um schimmernd wie Föbus Apollo, wenn ihm die Stunden die goldne Pforte des Morgens öffnen. Was für Ausrufungen er macht, indem er meine Schönen in ihrem einfältigen Putz von selbst-gesponnener Wolle sieht, die Haare kunstlos mit Blumen durchflochten, ohne Ohrengehänge, ohne Ringe, ohne Blumen von bunten Edelsteinen in den Locken! Was für Ausrufungen beym Eintritt in ihre Hütten, bey ihren Mahlzeiten, bey ihren Festen, bey ihren Tänzen! - »Götter, wie reitzend würden diese Mädchen seyn, wenn die Erziehung ihrer glücklichen Anlage zu Hülfe käme! Wie Schade, daß so liebenswürdige Geschöpfe eine so elende Lebensart führen sollen!« - Wir sind glücklich, junger Fremder! »Glücklich nennt ihr das? - Arme Geschöpfe! ich bedaure eure Unwissenheit.« - Und nun beschäftigt er sich sie aus dieser Unwissenheit zu ziehen, von welcher wirklich ihre Glückseligkeit abhing. Es wird ihnen schwer ihn zu verstehen. Aber was er ihnen nicht beschreiben kann, das zeigt er vor; sein Putz, sein Geschmeide, sein Gold, ein ganzer Hausrath von hundert kleinen artigen Gerätschaften, die er bey sich trägt, und wovon sie den Gebrauch ewig nicht errathen hätten. - Dieß macht Eindruck; man fängt an zu merken, daß man unwissend, arm, einfältig ist. Tausend neue Begierden steigen in den betrognen Seelen auf, und stören den ruhigen Schlummer ihrer noch unentwickelten Fähigkeiten. Mein gefälliger Verführer bedient sich der unglücklichen Anlage, die er ihnen zu geben angefangen hat. Er läßt sich einen Palast unter ihnen bauen, er giebt ihnen Gold, Künste, Wissenschaften, Gewerbe, - er macht sie auf etliche Tage glücklich; sie
sehen ihn für eine wohlthätige Gottheit an, und was kann ihre Dankbarkeit weniger thun, als sich ihm zu Sklaven zu ergeben? Was wird die Folge davon seyn? In weniger als zwanzig Jahren wimmelt es in meiner Insel von Handwerkern, Künstlern, Handelsleuten, Seefahrern, Staatsmännern, Priestern, Soldaten, Richtern, Advokaten, Finanzpachtern, Ärzten, Filosofen, Dichtern, Komödianten, Mimen, Gauklern, Taschenspielern, Beutelschneidern, Kupplern, Spitzbuben und - Bettlern, so gut als bey den Isthmischen Spielen. Der wohlthätige Athener! Sein Geschenk war die Büchse der Pandora. Wir gaben ihm unsre Freyheit, unsre Ruhe, unsre Gesundheit, unsre sorglose Fröhlichkeit, unsern glücklichen Müßiggang; und er gab uns dafür Bedürfnisse, Leidenschaften, Thorheiten, Laster, Krankheiten, Sorgen, Kummer, hohle Augen und eingefallne Wangen. - Wie glücklich hat er die Republik des Diogenes umgeschaffen! Seine Insel ist nun, Dank sey euern Künsten und Wissenschaften, was alle eure Inseln sind! Das war es eben, was ich euch beweisen wollte.
8.
Ich habe euch schon so viel von meiner Denkensart merken lassen, daß es beynahe unnöthig ist, von der Staatsverfassung meiner Republik zu sprechen. Sie ist sehr einfach; ihre Erfindung hat mich keine halbe Stunde Zeit gekostet. Den Unterschied ausgenommen, den die Natur selbst macht, sind alle meine Leute einander gleich; - und sie ersuchen den Aristoteles durch mich, nicht übel zu nehmen, daß sie den Satz: »der Stärkere sey der natürliche Herr des Schwächern,« für einen der garstigsten Sätze halten, die jemahls von dem Gehirn eines Filosofen abgegangen sind.
Der Stärkere ist der natürliche Beschützer des Schwächern, das ist alles. Seine Stärke giebt ihm kein Recht, sie legt ihm nur eine Pflicht auf. Bei der ungekünstelten ländlichen Lebensart meiner Insulaner, bey ihren wenigen Bedürfnissen, bey der Vorsicht, die ich gebraucht habe einer gar zu engen Vereinigung unter ihnen vorzubauen, bey dem gerechten Vertrauen, welches ich in die Güte der Natur setze, und bey den wenigen Gesetzen, die ich ihnen eben darum zu geben nöthig befunden habe, - begreif' ich nicht, warum ich einen so großen Grad von Verderbniß bey ihnen besorgen soll, daß ich bewogen werden könnte, ihnen im Voraus eine künstliche Polizey zu geben. Sollten sich, wider besseres Verhoffen, kleine Zwistigkeiten unter meinem Völkchen entspinnen, oder sollte jemand, es sey nun aus Muthwillen, oder Eifersucht, oder böser Laune, sich so sehr vergessen, einem andern zu thun, was er nicht haben wollte daß man ihm thäte: so wird es so schwer nicht seyn, ohne Advokaten und Richter, ohne erste, zweyte und dritte Instanz, alles gar bald wieder in den alten Stand zu setzen. Gemeiniglich ist der Handel so unerheblich, daß er, mit etwas Geduld auf der einen Seite und mit einer kleinen Wiederkehr zu sich selbst auf der andern, leichtlich beygelegt werden kann. Im Nothfall werden ein paar Nachbarn zu Schiedsrichtern erbeten, und man unterwirft sich ihrem Ausspruch ohne Widerspenstigkeit. Gewaltthaten sind unter einem so sanften Volk, als das meinige, nicht zu besorgen; und allenfalls verlasse und mich darauf, daß die Empfindung des gemeinschaftlichen Besten, auf den ersten Ruf, so viele Arme bewaffnen würde, als nöthig wäre dem Unterdrückten gegen den Unterdrücker beyzustehen.
Überhaupt hat ein Volk, das durch Sitten regiert wird, keine Gesetze vonnöthen, so lange es seine Sitten bewahrt. Und haben meine Insulaner einst die ihren verloren, so - sey ihnen der Himmel gnädig! Die Noth wird sie alsdann so gut Gesetze machen lehren, als Plato und Aristoteles; aber, was sind Gesetze ohne Sitten?
9.
Weil kein Volk ohne Religion Sitten haben kann, so hab' ich diesen Punkt bey dem meinigen nicht vergessen. Ich habe ihm eine Religion gegeben, die der ungemeinen Einfalt seiner ganzen Verfassung angemessen ist. Sie ist, ohne Ruhm zu melden, freundlich, wohlthätig, friedsam, und hat überdieß die besondere Tugend, daß sie sich nicht so leicht abnützt oder verdirbt als andere, und daß sogar ihr Mißbrauch der Gesellschaft nur in einem sehr kleinen Grade nachtheilig werden könnte. Ich würde mir ein Vergnügen daraus machen, nähere Nachrichten von ihr zu geben, wenn ich nicht besorgen müßte, aus gewissen Ursachen alle Priester der Götter Jupiter, Mars, Apollo, Merkur, Vulkan und Neptun, und der Göttinnen Juno, Cybele, Diana und Minerva, unzähliger Gottheiten vom zweyten Rang und der unterirdischen nicht zu gedenken, meiner armen Republik auf den Hals zu ziehen; eine desto gerechtere Besorgniß, da bekannt ist, daß Diofant, der Priester Jupiters, keiner von meinen Freunden ist. Solon, ein so weiser Mann, daß ihr ihm unter euern sieben Weisen den ersten Platz gegeben habt, Solon, der Gesetzgeber von Athen, hatte in einem Alter, von welchem man am meisten Gravität zu fordern pflegt, Muth und Laune genug - - - - - - -7 7
Hier ist, zu großem Bedauern des Herausgebers, eine Lücke in der Handschrift, deren Ergänzung, wie er gestehen muß, über seine Kräfte geht.
10.
»Und wie lange, Diogenes, glaubst du denn daß das alberne Ding, das du deine Republik nennst, dauern würde?« Die nehmliche Frage that ich an Alexandern: aber ich beantworte sie nach meiner Manier. Sie wird so lange dauern, bis meine Insulaner es sey nun von dem vorhin gedachten Athener, oder durch irgend einen andern Zufall - mit allen den Vortheilen bekannt gemacht werden, die ihr vor ihnen voraus habt. Die Unwissenheit, die bey euch eines der größten Übel ist, ist bey meinem Volke die Grundlage seiner Glückseligkeit. »Aber, sollte es denn nicht möglich seyn, (sagt ihr) Witz und Geschmack, Bequemlichkeit, Pracht, Überfluß, und alle Vortheile der Üppigkeit, mit Ordnung und Sitten, mit allgemeiner Tugend und allgemeiner Glückseligkeit zu vereinigen?« Nichts leichter - in einem Staate, der, wie die Republik des Diogenes, eine - bloße Schimäre seyn soll. Ich wünschte, daß Alexander von Macedonien, oder der König von Babylon, oder der erste beste König der euch beyfällt, die Gnade haben wollte, meine Meinung durch eine Probe zu widerlegen. - Nun! wer weiß, was in tausend oder zwey tausend Jahren geschehen kann! Das gestehe ich, daß für einen Zuschauer, der aus dem Mond oder Jupiter auf unsre Halbkugel herab guckte, die buntscheckige Gestalt derselben, in ihrer unendlichen Mannigfaltigkeit von Einwohnern, mit dreyeckigen, viereckigen, runden und eyformigen Köpfen - mit gebogenen, platten und aufgestülpten Nasen - mit langen oder wollichten, weißen, rothen und schwarzen Haaren - mit weißer, brauner, braungelber, olivenfarbner, oder pechschwarzer Haut - von langer,
mittelmäßiger, oder zwergichter Statur; - gekleidet in Gold- und Silberstoffe, Seide, Purpur, Leinewand, Baumwolle, Schafwolle, Ziegenfelle, Bären- oder Seehundhäute; oder ohne Kleider, mit ihren Schürzen oder Trichtern um die Hüften, oder gar ohne Trichter und Schurz; - in Häusern von Marmor, Backsteinen, Holz, Schilfrohr, Lehm oder Kühmist; - mit allen ihren Verschiedenheiten von Lebensart, Sitten, Barbarey, Polizey und Tyranney; - mit allem ihrem Glauben an unzählige Arten von wohlthätigen und übelthätigen Göttern, und mit allen ihren Larven von falschen Tugenden und eingebildeten oder erkünstelten Vollkommenheiten, vor dem Gesichte: - - ich gestehe, sag' ich, daß dieser Anblick für den Zuschauer aus dem Monde (der weiter nichts dabey zu gewinnen noch zu verlieren hätte) ein viel angenehmeres Schauspiel wäre, als der Anblick eines so einförmigen Volkes wie meine Insulaner. Diese Vorstellung könnte uns, durch einen einzigen Schritt vorwärts, auf den Gedanken leiten: daß die Menschen nur dazu gemacht seyen, dem Muthwillen irgend einer mächtigen Art von Geistern zur Kurzweil zu dienen; - aber das ist ein so niederschlagender, gelbsüchtiger, hassenswürdiger Gedanke, daß ich es nicht einen Augenblick ausstehen kann ihn für möglich zu halten. Ich bin nichts weniger als ein Verächter eurer Künste und Wissenschaften. So bald ein Volk einmahl dahin gekommen ist, ihrer vonnöthen zu haben, so kann es nichts bessers thun, als sie so weit zu treiben als sie gehen können. Je weiter ihr euch von der ursprünglichen Einfalt der Natur entfernt habt, je zusammen gesetzter die Maschine eurer Polizey, je verwickelter eure Interessen, je verdorbener eure Sitten sind: desto mehr habt ihr der Filosofie vonnöthen, eure Gebrechen zu verkleistern, eure streitenden Interessen zu vergleichen, euer alle Augenblicke den Umsturz drohendes Gebäude zu stützen, so gut sie kann und weiß.
Aber dafür gesteht mir auch, daß eben diese Filosofie, wenn ihre wohlthätige Wirksamkeit nicht durch eine unzählige Menge entgegen wirkender Ursachen gehemmt würde, euch von Grad zu Grad unvermerkt wieder zu eben dieser ursprünglichen Einfalt zurück führen würde, von der ihr euch verlaufen habt, - oder die Wiederherstellung der Gesundheit müßte nicht der Endzweck der Arzney seyn. In euerm jetzigen Zustande, was thun eure Filosofen, als daß sie euch ohne Aufhören beweisen, daß ihr beynahe über alles unrichtig denkt, beynahe immer unrecht handelt, und daß in eurer ganzen Verfassung, Polizey und Lebensart beynahe alles anders seyn sollte als es ist? - Das heißt den Kranken überzeugen, daß er krank ist. - Ihn gesund zu machen, das wäre der große Punkt! Aber ich wollte wetten, daß es ihnen eben so wenig Ernst ist euch gesund zu machen, als es euch Ernst ist gesund zu werden. Ich könnte euch eine sehr gute Ursache sagen, warum ich es glaube; aber man muß nicht alles sagen was man weiß. Ich hoffe demnach, ihr werdet mir - in Erwägung, daß ich nichts dafür kann wenn mir der Schnee weiß vorkommt - nicht übel nehmen, daß ich unmöglich begreifen kann, wie man mit zehn tausend Bedürfnissen glücklich seyn könne; oder, daß es eine so herrliche Sache sey als ihr euch einbildet, eine so ungeheure Menge Bedürfnisse zu haben. Bloß aus dieser Überzeugung hab' ich mich verbunden gesehen, den Einwohnern meiner Republik, da ich sie machen konnte wie ich wollte, so viel Bedürfnisse zu ersparen als möglich war. Ich hätte keine Nacht ruhig schlafen können, wenn ich mir den Vorwurf hätte machen müssen: Wär' es nicht besser gewesen sie gar nicht zu machen, als sie unglücklich zu machen? In Folge dieser Zärtlichkeit für meine Geschöpfe, und damit ich ihnen, so viel an mir ist, alle Gelegenheit ihre Vervollkommenbarkeit zu
entwickeln abschneide, - kann ich demnach nicht umhin, zu ihrem besten noch einen Schlag mit meiner Zauberruthe zu thun, und die ganze Insel auf immer und ewig - unsichtbar zu machen. Alle Mühe, die sich eure Seefahrer jemahls um ihre Entdeckung geben möchten, würde verloren seyn; sie werden sie in Ewigkeit nicht finden!
ET200202051350