Von der nationalen zur internationalen Literatur Transkulturelle deutschsprachige Literatur und Kultur im Zeitalter globaler Migration
Herausgegeben von
Norbert Otto Eke Martha B. Helfer Gerhard P. Knapp Gerd Labroisse
69
2009
Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik
Von der nationalen zur internationalen Literatur Transkulturelle deutschsprachige Literatur und Kultur im Zeitalter globaler Migration
Herausgegeben von
Helmut Schmitz
Amsterdam - New York, NY 2009
Die 1972 gegründete Reihe erscheint seit 1977 in zwangloser Folge in der Form von Thema-Bänden mit jeweils verantwortlichem Herausgeber. Reihen-Herausgeber: Prof. Dr. Norbert Otto Eke Universität Paderborn Fakultät für Kulturwissenschaften, Warburger Str. 100, D - 33098 Paderborn, Deutschland, E-Mail:
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Prof. Dr. Gerhard P. Knapp University of Utah Dept. of Languages & Literature, 255 S. Central Campus Dr. Rm. 1400 Salt Lake City, UT 84112, USA E-Mail:
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Cover Image: Pieter Brueghel d. Ä. ‘Der Turmbau zu Babel’. © Kunsthistorisches Museum, Wien All titles in the Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik (from 1999 onwards) are available online: See www.rodopi.nl Electronic access is included in print subscriptions. The paper on which this book is printed meets the requirements of “ISO 9706:1994, Information and documentation - Paper for documents Requirements for permanence”. ISBN: 978-90-420-2582-0 ©Editions Rodopi B.V., Amsterdam – New York, NY 2009 Printed in The Netherlands
Inhaltsverzeichnis Helmut Schmitz: Einleitung: Von der nationalen zur internationalen Literatur
7
I. Historisches
17
Jürgen Joachimsthaler: “Undeutsche” Bücher: Zur Geschichte interkultureller Literatur in Deutschland
19
II. Begriffliches
41
Karl Esselborn: Neue Zugänge zur inter/transkulturellen deutschsprachigen Literatur Volker C. Dörr: ‘Third Space’ vs. Diaspora. Topologien transkultureller Literatur Alexandra Lübcke: Enträumlichungen und Erinnerungstopographien: Transnationale deutschsprachige Literaturen als historiographisches Erzählen
43
III. Deutsch-türkische Literatur und Film
99
59 77
Sandra Vlasta: Das Ende des ‘Dazwischen’ – Ausbildung von Identitäten in Texten von Imran Ayata, Yadé Kara und Feridun Zaimog˘lu Karin E. Yes¸ilada: ‘Nette Türkinnen von nebenan’ – Die neue deutsch-türkische Harmlosigkeit als literarischer Trend Margaret Littler: Profane und religiöse Intensitäten: Die islamische Kultur im Werk von Emine Sevgi Özdamar und Feridun Zaimog˘lu Jim Jordan: Orientalismus, umgepolt? Zum Gebrauch des Exotismus und des Fantastischen in Werken der Diaspora-Literatur Maha El Hissy: Transnationaler Grenzverkehr in Fatih Akins Gegen die Wand und Auf der anderen Seite
101
IV. Ost- und Südosteuropa
187
Boris Previs˘ic´: Poetik der Marginalität: Balkan Turn gefällig? Aigi Heero: Zwischen Ost und West: Orte in der deutschsprachigen transkulturellen Literatur Christoph Meurer: “Ihr seid anders und wir auch”: Inter- und transkulturelle Russlandbilder bei Wladimir Kaminer Michaela Haberkorn: Treibeis und Weltensammler: Konzepte nomadischer Identität in den Romanen von Libus˘e Moníková und Ilija Trojanow
189 205
117 143 155 169
227 243
6 Terry Albrecht: Erzählerische und sprachliche Nähe. Bilder interkultureller Erfahrungen in den Texten von Terézia Mora und Yoko Tawada Ernst Grabovszki: Österreich als literarischer Erfahrungsraum zugewanderter Autorinnen und Autoren
263
V. Deutsch-jüdische Literatur im europäischen Raum
293
Hans-Joachim Hahn: ‘Europa’ als neuer ‘jüdischer Raum’? – Diana Pintos Thesen und Vladimir Vertlibs Romane Katrin Molnár: “Die bessere Welt war immer anderswo”. Literarische Heimatkonstruktionen bei Jakob Hessing, Chaim Noll, Wladimir Kaminer und Vladimir Vertlib im Kontext von Alija, jüdischer Diaspora und säkularer Migration Heinz-Peter Preußer: Europäische Phantasmen des Juden: Shylock, Nathan, Ahasver
295
Autoren
359
275
311
337
Helmut Schmitz
Einleitung: Von der nationalen zur internationalen Literatur Die internationalen gesellschaftlichen, ökonomischen, politischen und demographischen Entwicklungen der lezten Jahrzehnte haben aus Deutschland längst eine Einwanderungsgesellschaft von zunehmender ethnischer und kultureller Heterogenität gemacht. “Jeder 4. Bürger ist Migrant”, berichtete der STERN im Mai 2007 und gab die Zahl der in Deutschland lebenden Menschen mit Migrationshintergrund mit 15.3 Millionen bzw. 18.6% an.1 Damit ist Deutschland wohl das Land mit dem größten Migrantenanteil in Europa.2 Mit dem zunehmenden Wandel der deutschen Gesellschaft zu einer globalisierten, polykulturellen Kultur gibt es in den letzten Jahren im literarischen und akademischen Betrieb eine zunehmende Sensibilisierung für den Beitrag von Schriftstellerinnen und Schriftstellern zur Gegenwartsliteratur, deren Muttersprache nicht oder nicht nur deutsch ist und die nach Deutschland immigriert oder Kinder bzw. Enkel von Immigranten sind. Die Schwierigkeiten bei der Formulierung dieses Satzes lassen bereits einiges von den Beschreibungsproblemen ahnen, die die Fachgermanistik angesichts dieses hybriden und vielgestaltigen Phänomens hat. Dies fängt schon bei der Begriffsbestimmung an. Über die lange Zeit als Stiefkind der Akademie behandelte ‘Gastarbeiterliteratur’3 zur ‘Ausländerliteratur’,4 ‘Migrantenliteratur’ und ‘Migrationsliteratur’,5 hat sich seit den 1990er Jahren der Begriff der ‘interkulturellen’ Literatur eingebürgert, ein Begriffswandel, STERN vom 4. 5. 2007. http://www.stern.de/politik/deutschland/:DeutschlandHeimat-15-Millionen-Migranten/588398.html (26. 8. 2008). 2 Laut der Zahlen für “Foreign population as a percentage of the total populationî des Migration Policy Institute, liegt Deutschland mit 8.9% Ausländeranteil (2002) weit vor z.B. Großbritannien (5.5%, 2002) oder Frankreich (5.6%, 1999). http://www. migrationinformation.org/datahub/comparative.cfm (26. 8. 2008). Der Unterschied zu den Zahlen im STERN ergibt sich daraus, dass dort die aus Osteuropa eingewanderten deutschstämmigen ‘Aussiedler’ sowie eingebürgerte Migranten mitgezählt werden. 3 Vgl. Franko Biondi und Rafik Schami: Literatur der Betroffenheit. Bemerkungen zur Gastarbeiterliteratur. In: Zu Hause in der Fremde. Hg. von Christian Schaffernicht. Fischerhude: Atelier im Bauernhaus 1981 und Reinbek: Rowohlt 1984. Dort: S. 136–150. 4 Vgl. Eine nicht nur deutsche Literatur. Zur Standortbestimmung der “Ausländerliteratur”. Hg. von Irmgard Ackermann und Harald Weinrich. München: Piper 1986. 5 Vgl. Heidi Rösch: Migrationsliteratur im interkulturellen Kontext. Frankfurt/M.: Verlag für interkulturelle Kommunikation 1992. 1
8 der auch die sich verändernde Situation von Migranten der ‘ersten’ und ‘zweiten’ Generation reflektiert. Diese interkulturelle Literatur wird mittlerweile akademisch begrüßt als eine Herausforderung an Konzepte homogener nationaler Identitäten, als Form des Schreibens nach der Auflösung von festen nationalen Kulturbegriffen nach dem Ende der ost/westlichen Machtblöcke, als Literatur jenseits eines bürgerlichen Literaturbegriffs mit seinem Hintergrund in Nationalismus und Imperialismus, als Literatur, die die Gegensätze von ‘Fremd’ und ‘Eigen’, Einheimischem und Fremden unterläuft, als eine Literatur der Hybridität und der Patchwork-Identitäten, die sowohl den Gegebenheiten der Globalisierung angemessener sei als auch der multikulturellen Situation in Deutschland selbst. Eine Literatur also, die zum einen die Illusion einer homogenen kulturellen Identität als auch nicht-bipolare und hierarchische Begegnungen mit dem Fremden erfahrbar macht, die Fremdheit artikuliert und die Festschreibung von Fremdheit unterläuft. Eine Literatur, die sich längst von den Ursprüngen in der ‘Gastarbeiter-’ oder ‘Betroffenheits’-Literatur der 1980er Jahre emanzipiert hat und selbstbewusst ihren Platz in der deutschen Gegenwartsliteratur reklamiert. Diese fordere den deutschen Leser deswegen heraus, so Michael Hofmann in seiner umfassenden Einführung Interkulturelle Literaturwissenschaft, weil sie ihm etwas abverlange, das ihm immer noch schwerfalle: “eine Begegnung mit dem Anderen und eine Reflexion über das, was er als deutsche Literatur und deutsche Identität begreift”.6 An Hofmanns erhellender Einführung werden verschiedene begriffliche Probleme deutlich. Denn der Begriff des Interkulturellen, mit dem hier, wie auch andernorts operiert wird, ist gleichzeitig zu weit und zu eng gefasst. Einerseits ist letzlich jede Literatur ‘interkulturell’, “oder sie ist keine”, etwas, das sowohl Hofmann als auch Thomas Bleicher als Fazit ihrer Betrachtungen anführen.7 Dabei mag man sich denn fragen, worin genau der Unterschied bzw. das Gemeinsame zwischen z.B. Günter Grass und Emine Sevgi Özdamar, Terézia Mora oder Feridun Zaimog˘ lu besteht. Andererseits fungiert die 6
Michael Hofmann: Interkulturelle Literaturwissenschaft. Eine Einführung. Paderborn: Fink/UTB 2006. S. 201. Auch in ders.: Die Vielfalt des Hybriden. Zafer Senocak als Lyriker, Essyaist und Romancier. In: Literatur und Migration. Text Kritik Sonderband IX/2006. Hg. von Heinz-Ludwig Arnold. München: edition text kritik 2006. S. 47–58. Hier: S. 47. Auch Leslie A. Adelson begreift das Aushandeln “von neuen Werte[n] und Einstellungen gegenüber einer im Wandel begriffenen Welt” als “Kulturarbeit” der transnationalen AutorInnen. Vgl. Adelson: Against Between – Ein Manifest gegen das Dazwischen. In: Literatur und Migration. S. 36–44. Hier: S. 37. 7 Vgl. Thomas Bleicher: Das Exil der Anderen – und die eigene Kultur. In: Literatur der Migration. Hg. von Nasrin Amirsedghi und Thomas Bleicher. Mainz: Donata Kinzelbach 1997. S. 74–87. Hier: S. 75. Siehe auch Michel Hofmann: “Hybrid und interkulturell ist insofern per definitionem jeder (heute) geschriebene Text”. Hofmann: Die Vielfalt des Hybriden [wie Anm. 6]. S. 49.
9 deutsch-türkische Literatur in interkulturellen Ansätzen häufig als modellhaftes Paradigma der Kultur einer Einwanderungsgesellschaft, in etwa analog der postkolonialen Situation in Großbritannien, Frankreich, USA oder Kanada,8 wobei die spezifisch deutsche Situation darin besteht, dass die gesellschaftliche Entwicklung der der Literatur hinterherhinkt. Die Paradigmatisierung deutschtürkischer Literatur lässt allerdings migrierte Schrifsteller wie Terézia Mora, Yoko Tawada oder Ilja Trojanow, die keiner größeren Migrationsgemeinschaft angehören und z.B. von Hofmann nicht erwähnt werden, außen vor.9 Ein ähnliches Problem gibt es mit nahezu sämtlichen Begriffen, die derzeit für eine Literatur, die nicht von Schriftstellern primär ethnisch deutscher Herkunft verfasst wird – ‘Migrantenliteratur’, ‘Migrationsliteratur’, ‘diasporisches Schreiben’, ‘trans-’ oder ‘interkulturelle Literatur’, – Begriffe, um die es in den letzten Jahren rege Auseinandersetzungen gab. Auf diese will ich hier nicht näher eingehen, möchte aber einige Punkte aufgreifen, die mir bei der Zusammenstellung dieses Bandes wesentlich erschienen. Zum einen, dass diese Literatur den begrifflichen Rahmen der herkömmlichen germanistischen Literaturwissenschaft in Frage stellt, da sie sich weder aus außerliterarischen und biographischen Phänomenen wie dem an sich schon heterogenen der Migration, noch aus rein ästhetischen, formalen oder thematischen Aspekten wie der Schilderung multikultureller Erfahrung erschöpfend herleiten lässt.10 Während ‘Migrationsliteratur’ eindeutig über den in ihr verhandelten Erfahrungsgehalt der Migration definiert wird,11 trifft das auf den Begriff ‘interkulturelle Literatur’ bereits nicht mehr zu.12 Spiegelt sich in dieser Begriffserweiterung eine veränderte Situation von Gesellschaft und Literatur im Zeitalter von Globalisierung mehr als vierzig Jahre nach der ersten Immigrationswelle der Bundesrepublik, so 8
Vgl z.B. Leslie A. Adelson, die darauf verweist, dass der interkulturelle Kontakt nicht zwischen den Kulturen, sondern “innerhalb der deutschen Kultur” stattfindet. Adelson: Against Between [wie Anm. 6]. Hier: S. 39. Vgl. auch Petra Fachinger: Zur Vergleichbarkeit der deutschen mit der amerikanischen und der englischsprachigkanadischen Migrantenliteratur. In: Literatur der Migration [wie Anm. 7]. S. 49–59. 9 Leslie A. Adelsons Begriff des Turkish Turn, zum Beispiel, erhebt die deutschtürkische Literatur in den Rang eines Paradigmas. Vgl. Adelson: The Turkish Turn in Contemporary German Literature. Toward a New Critical Grammar of Migration. New York – Basingstoke: Palgrave MacMillan 2005. 10 Vgl. z.B. Rösch, die die “Migrationsliteratur” von der “MigrantInnenliteratur” abgrenzt. Während sie erstere durch ihre Bestimmtheit durch den Gegenstand und die “interkulturelle Literaturgestaltung” definiert sieht, bleibt “MigrantInnenliteratur” durch biographische Merkmale und Bikulturalität bestimmt. Rösch [wie Anm. 5]. S. 34–35. 11 So definiert Rösch “Migrationsliteratur” als “Literatur, die sich mit dem Gegenstand der Migration befasst”. Rösch [wie Anm. 5]. S. 33. 12 Vgl. Bleicher [wie Anm. 7]: “Migrationsthematik? Nein, darin erschöpft sich interkulturelle Literatur sicherlich nicht”. S. 76.
10 führt der Versuch, einen Gattungsbegriff aus einem außerliterarischen und außerästhetischen Phänomen wie Migration oder Zweitsprache zu entwickeln, zu einer fast unüberschaubaren und oft widersprüchlichen Heterogenität, – ein Problem das schon die Exilliteraturforschung bei der Bestimmung ihres Studienobjektes hatte. Nun könnte man sagen, dass Hybridität ja gerade ein, wenn nicht das Merkmal der interkulturellen Literatur ist. Das löst aber das Beschreibungsproblem nicht, sondern nähert es dem Paradoxon an, begrifflich etwas zu erfassen, was sich der präzisen Identifikation sperrt. Denn ob man nun die Migration oder das Schreiben in einer Zweitsprache zum Kriterium macht, oder beides, es bleibt eine begriffliche Unschärfe. Was wäre z.B. mit Anne Duden und Herta Müller, um nur zwei deutsche Schriftstellerinnen zu nennen, die zwar in ihrer Muttersprache schreiben, aber nicht in dem Lande leben, in dem sie geboren sind? Was ist mit Ingo Schulze, der ein angloamerikanisches literarisches Modell auf Post-Wende-Zustände appliziert? Das heißt, wo verläuft die Grenze zwischen Intertextualität und Interkulturalität? Und was ist schließlich mit deutsch-jüdischen bzw. österreichisch-jüdischen SchrifstellerInnen, die zwar nur beschränkt einer anderen ‘Ethnie’ bzw. ‘Kultur’ zurechenbar sind, deren historische Ausgrenzungserfahrung aber Teil des Komplexes von ‘Nationalkultur’ und homogenen Identitätskonzepten ist, die von der interkulturellen Literatur in Frage gestellt werden? Am Überzeugendsten ist in diesem Zusammenhang vielleicht Karl Esselborns Begriff der “deutschsprachigen Minderheitenliteraturen”, der etliche Subklassifikationen zulässt.13 Aber auch hier bleibt das Problem, dass über die Begriffe ‘interkulturelle Literatur’, ‘Migranten-‘ oder ‘Diaspora-Literatur’ leicht eine erneute Einhegung und Stereotypisierung literarischer Phänomene geschehen kann. Viel problematischer als der letztlich innergermanistische Streit um den richtigen Begriff ist jedoch die häufig unkritische Adaptierung von Theoremen aus dem Poststrukturalismus und den anglo-amerikanischen Postcolonial Studies, mittels derer die Subjektpositionen der interkulturellen Literatur zum adäquaten Modell einer postnationalen Identität aufgebaut werden. Gerade der Terminus ‘interkulturelle Literatur’ und die Betonung der Hybridität unter einseitiger Berufung auf postkoloniale Theorie läuft Gefahr, die in diesem Komplex latenten Machtpositionen zu verwischen, da der Begriff des Interkulturellen eine Symmetrie und Gleichberechtigung zwischen Kulturen impliziert, die nicht existiert.
13
Vgl. Karl Esselborn: Deutschsprachige Minderheitenliteraturen als Gegenstand einer kulturwissenschaftlich orientierten ‘interkulturellen Literaturwissenschaft’. In: Die andere deutsche Literatur. Hg. von Manfred Durzak und Nilüfer Kuruyazıcıi. Würzburg: Königshausen & Neumann 2004. S 11–22. Hier: S. 11.
11 Die Überbetonung der historischen Entwurzelung und der hybriden Identitäten (z.B. bei Hofmann u.a.) läuft weiterhin Gefahr, ein normatives Modell (homogene kulturelle Identitäten) durch ein anderes (Hybridität) zu ersetzen, die spezifischen Differenzen zwischen einer nicht auf Migration beruhenden modernen Entwurzelung und einer auf Migrationserfahrung beruhenden hybriden Identität zu verwischen und die sozialen Gegebenheiten in Deutschland aus den Augen zu verlieren. Zum dritten wird durch die häufige Funktionalisierung der ‘interkulturellen Literatur’ auf letztlich didaktische Funktionen für Leser aus ‘nicht-interkulturellen’ Zusammenhängen (d.h. nichttürkische Deutsche) diese Literatur auf eine primär nicht-ästetische Rezeption festgelegt, nämlich das Lernziel ‘Interkulturalität lernen’.14 Damit wird der ‘interkulturellen’ Literatur ein erkenntnistheoretischer oder didaktischer Sonderstatus zugesprochen, den diese zumeist gar nicht beansprucht. Diese Zuerkennung eines Sonderstatus verläuft merkwürdig parallel zu einer medialen Einengung interkultureller Schriftsteller, besonders deutsch-türkischer Herkunft, auf einen repräsentativen Status bei der Verhandlung von Fragen multi- bzw. interkultureller Natur in der bundesdeutschen Öffentlichkeit.15 Was Wunder, dass Feridun Zaimog˘ lu den Begriff der ‘Migrationsliteratur’ als “toten Kadaver” und “Ekelbegriff ” bezeichnet, der ihn auf die Funktion als “Alibitürke” festlege.16 Wenn man mit Adorno davon ausgeht, dass die ästhetische Erfahrung schlechthin die einer Konfrontation mit einem nichtkommensurablen Anderen ist, erhebt sich wiederum die Frage, was denn die trans/interkulturelle Literatur von der nicht-trans/interkulturellen Literatur unterscheidet. Nichtsdestotrotz entwickelt sich aus dem interkulturellen Anstoß der “emergent Literatures”17 seit etwa einem Jahrzehnt eine dazugehörige ‘interkulturelle Germanistik’, wobei es durchaus Unterschiede in der Schwerpunktsetzung und Focussierung gibt, je nachdem, ob sie innerhalb oder außerhalb Deutschlands betrieben wird. Eine kulturwissenschaftlich und anthropologisch ausgerichtete Germanistik, die sich von einem bloß nationalen Kulturbegriff verabschiedet hat und die Literatur insgesamt unter neuem ‘polylogischen’ Blickwinkel sieht, 14
Vgl. Rösch [wie Anm. 5]. S. 8 und S. 219. Weiterhin Hofmann: Die Vielfalt des Hybriden [wie Anm. 6]. S. 201. Vgl. auch Werner Nell: Zur Begriffsbestimmung und Funktion einer Literatur von Migranten. In: Literatur der Migration [wie Anm. 7]. S. 34–48. Hier vor allem S. 37. 15 Vgl. z.B. Hofmann, der Migranten, und besonders deutsch-türkische Schriftsteller der zweiten und dritten Generation, “Erfahrungen von Hybridität und polykontextuellen Bezugnahmen in exemplarischer Weise darstellen” sieht. Hofmann: Die Vielfalt des Hybriden [wie Anm. 6]. S. 49. 16 Feridun Zaimog˘lu und Julia Abel: “Migrationsliteratur ist ein toter Kadaver”. Ein Gespräch. In: Literatur und Migration [wie Anm. 6]. S. 159–166. Hier: S. 162 und 166. 17 Vgl. Adelson [wie Anm. 6]. S. 37.
12 unter nicht unbeträchtlicher Mitwirkung der Auslandsgermanistik, wie Karl Esselborn betont.18 Der in der interkulturellen Germanistik zirkulierende Begriff einer postkolonialen ‘Weltliteratur’19 ist Anzeichen dafür, dass vielleicht am Ende die sogenannte ‘Migrantenliteratur’ ihren Reservatstatus verliert und wieder zu dem wird, was sie immer schon war, bzw. sein wollte und will: Literatur.20 Damit jedoch dürften der interkulturellen Literaturwissenschaft, jenseits aller in ihr virulenten Kritik an älteren germanistischen methodischen und ästhetischen Konzepten ähnliche Wertungsprobleme ins Haus stehen, wie sie auch die klassische Germanistik hatte.21 Aus diesen Gründen ist der vorliegende Band so heterogen als möglich konzipiert, um die reichhaltigen Facetten der interkulturellen deutschsprachigen Literatur möglichst weitgehend abzudecken. Die der inter-, bzw. transkulturellen Literatur analoge begriffliche Heterogenität der Literaturwissenschaften wird dabei auch von und in den Beiträgen reflektiert und unterschiedlich beantwortet. Jürgen Joachimsthaler beleuchtet einleitend die vielgestaltige historische interkulturelle Literatur, die von sorbischen, polnischen, estnischen und lettischen Minderheiten auf deutschem Staatsgebiet verfasst, und von der deutschen Nationalphilologie ausgegrenzt wurde. Sein Beitrag argumentiert, dass die Betonung der Hybridität der zeitgenössischen interkulturellen Literatur als neuartiges Phänomen Gefähr läuft, die Verdeckung der literarischen und kulturellen Hybriditäten in der Ära der Nationalphilologie zu wiederholen. Darauf folgt ein Abschnitt mit Aufsätzen zu begrifflichen Fragen. Karl Esselborn unterzieht eine Reihe jüngster Veröffentlichungen zum Tema ‘interkulturelle Literatur’ und ‘interkulturelle Germanistik’ einer eingehenden Betrachtung. Esselborn fragt, ob eine ‘interkulturelle Literaturwissenschaft’ nicht den Rahmen einer traditionellen Inlandsgermanistik sprengt und sieht Anzeichen zu einem Wandel zu einer transnationalen ‘europäischen’Germanistik. Volker C. Dörr nähert sich kritisch zwei Begriffen, die in der derzeitigen Forschung Konjunktur haben, Homi K. Bhabhas Konzept des ‘Dritten Raumes’ und der ‘Diaspora-Literatur’. Dörr unterzieht beide Begriffe einer 18
Vgl. Esselborn [wie Anm. 13]. S. 11. ”Die neue Weltliteratur ist postkolonial und damit in fundamentaler Weise interkulturell”. Michael Hofmann: Interkulturelle Literaturwissenschaft [wie Anm. 6]. S. 59. Ähnlich auch Werner Nell [wie Anm. 14]. S. 34. 20 Vgl. Nell [wie Anm. 14]. S. 46. 21 Siehe das allgegenwärtige Insistieren auf eine zumeist nicht weiter ausgewiesene “literarische Qualität” bei Rösch [wie Anm. 5] S. 31, Bleicher [wie Anm. 7] S. 75 und besonders Norbert Mecklenburg, der das Problem literarischer Wertung explizit benennt. Vgl. Mecklenburg: Eingrenzung, Ausgrenzung, Grenzüberschreitung. Grundprobleme deutscher Literatur von Minderheiten. In: Die andere deutsche Literatur [wie Anm. 13]. S. 23–30. Hier vor allem S. 26f. 19
13 Dekonstruktion und verdeutlicht ihre Problematik am Beispiel von Zafer S¸ enocaks Roman Gefährliche Verwandtschaft. Alexandra Lübcke analysiert am Beispiel von S¸ enocaks Gefährliche Verwandschaft, Feridun Zaimog˘lus Leyla und Yadé Karas Selam Berlin, in welcher Weise interkulturelle Schriftsteller in Debatten der bundesdeutschen Erinnerungskultur eingreifen, bzw. die ethnisch homogene Konzeption derselben hinterfragen. Ausgehend von einer Kritik an Jan Assmanns statischem Begriff des kulturellen Gedächtnisses entwirft sie einen Begriff ‘erinnerungstopographischer Netze’, der die von der interkulturellen Literatur veränderte Gedächtniskultur reflektiert. Der dritte Teil des Bandes beschäftigt sich mit Aspekten der deutschtürkischen Literatur und Kultur. Sandra Vlasta entwirft anhand von Texten von Imran Ayata, Yadé Kara und Feridun Zaimog˘ lu eine Typologie zeitgenössischer Migrationsidentitäten. Sie argumentiert, dass die Texte der behandelten AutorInnen keinen ‘Sonderfall’ hybrider Migrationskultur darstellen, sondern die gesellschaftlichen Realitäten urbaner Jugendkultur abbilden und damit klischeehafte Bilder von Migrationsidentitäten, wie z.B. der Vorstellung einer Existenz ‘zwischen zwei Welten’ unterlaufen. Karin E. Yes¸ilada analysiert die deutsch-türkische Variante des ‘deutschen Fräuleinwunders’, welches vor einigen Jahren durch die Feuilletons geisterte. Unter dem Begriff der ‘Chick-Lit alla turca’ betrachtet sie drei Texte deutsch-türkischer Journalistinnen – Aslı Sevindims Candlelight Döner, Dilek Güngörs Das Geheimnis meiner Großmutter und Hatice Akyün’s Einmal Hans mit scharfer Soße – , die mit feuilletonistischem Humor interkulturelle Familienprobleme schildern und deren integrative literarische Harmlosigkeit sich auffallend von der Literatur junger Schriftstellerinnen in der Türkei unterscheidet. Margaret Littler widmet sich Bildern des Islam in Texten von Emine Sevgi Özdamar und Feridun Zaimog˘lu. Ausgehend von Deleuzes und Guattaris Begriff einer ‘kleinen’ Literatur analysiert Littler die deterritorialisierende Dynamik der Begegnungen mit einer islamischen Mystik sufisch-anatolischer Herkunft in Özdamars Die Brücke vom goldnenen Horn sowie dem islamischen Fundamentalismus in Zaimog˘lus Erzählung “Gottes Krieger”. James Jordan hinterfragt kritisch den Gebrauch von Exotismus und Elementen des Fantastischen in Texten von Galsan Tschinag, Jusuf Naoum, Salim Alafenisch und Rafik Schami. Er argumentiert, dass diese Elemente häufig eingesetzt werden, um den Leser auf unterhaltsame Weise mit Gesellschaftskritik zu konfrontieren und damit Leseerwartungen auf ‘sanfte’ Art zu unterlaufen. Fatih Akins Filme Gegen die Wand und Auf der anderen Seite sind der Gegenstand von Maha El Hissys Beitrag. In einer detaillierten Analyse der transnationalen Räume und Handlungsspielräume in Akins Filmen geht El Hissy der visuellen und szenischen Gestaltung von Grenzerfahrungen und -überschreitungen nach. Ost- und Südosteuropa sind der Focus des vierten Teiles. Boris Previs˘ ic´ fragt, ob der deutschsprachigen Literatur nach dem Turkish Turn nun ein
14 Balkan Turn ins Haus stehe. Sein Beitrag beginnt mit einer kritischen Analyse der Darstellung der jüngsten Balkankriege bei W.G. Sebald, Norbert Gstrein, Juli Zeh und Peter Handke, gefolgt von einer Diskussion von Sas˘ a Stanis˘ ic´s Roman Wie der Soldat das Grammophon repariert als Beispiel einer hybriden Literatur, die der Aufgabe der Vermittlung politischer Komplexitäten durch ihre narrative Struktur gerecht wird. Aigi Heeros Beitrag konzentriert sich auf topographische Themen in der interkulturellen Literatur. Ihre Analyse verschiedener Texte osteuropäischer AutorInnen einer ‘ersten’ Migrantengeneration – u.a. Aglaja Veteranyi, Radek Knapp, Catalin Dorian Florescu, Vladimir Vertlib und Wladimir Kaminer – fördert eine Unterscheidung zwischen ‘Sehnsuchtsorten’ und ‘Alltagsorten’ zutage, die diese Texte imaginativ strukturieren und von Texten einer ‘zweiten’ Migrantengeneration unterscheiden. Christoph Meurers Beitrag untersucht Russlandbilder bei Wladimir Kaminer. Ausgehend von Bhabhas Begriff des ‘Dritten Raumes’ argumentiert Meurer, dass die vormalige Sowietunion einen solchen hybriden ‘dritten Raum’ in Kaminers Texten bildet, wobei allerdings auch dem ‘ersten Raum’ Russland eine nicht zu reduzierende Hybridität zukommt. Die interkulturellen Erfahrungen in Texten von Térezia Mora und Yoko Tawada, zweier Schriftstellerinnen, die keiner migrant community angehören, sind Gegenstand von Terry Albrechts Beitrag. Den Texten beider Autorinnen ist gemein, dass in ihnen die sowohl identitätsstiftende als auch ausgrenzende Gewalt der Sprache eine zentrale Rolle spielt. Auch Libus˘ e Moníková und Ilija Trojanow, mit denen sich Michaela Haberkorn beschäftigt, gehören keiner migrant community an. Der Beitrag analysiert die Motive von Reise und Nomadismus in den Romanen beider Autoren. Ernst Grabovszki konzentriert sich auf die Frage, wie die Literatur von migrierten Schrifstellern den literarischen Erfahrungsraum ‘Österreich’ gestaltet und dadurch nationalliterarische Konzepte des ‘Österreichischen’ erweitert oder unterwandert. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei, ähnlich wie bei Alexandra Lübcke, auf dem Beitrag zugewanderter Schrifsteller zu einer homogenisierenden Erinnerungskultur und der Auseinandersetzung mit der faschistischen Vergangenheit. Der fünfte Teil schließlich konzentriert sich auf deutsch-jüdische Fragen. Hans-Joachim Hahn stellt Diana Pintos Thesen zu Europa als ‘neuem jüdischen Raum’Vladimir Vertlibs Romanen gegenüber. Er kommt zu dem Schluss, dass sich in den Texten beider Autoren ein neuer Kosmopolitismus artikuliert, der jenseits der Erfahrung des Holocaust angesiedelt ist, ohne diesen zu vergessen oder zu verdrängen. Katrin Molnár analysiert literarische Heimatkostruktionen von zwei deutsch-jüdischen, nach Israel ausgewanderten und von zwei nach Deutschland, bzw. Österreich eingewanderten jüdischen Autoren. In einer zugespitzten Gegenüberstellung arbeitet sie territorialisierende und ethnisierender Heimatkonzepte bei Jakob Hessing und Chaim
15 Noll und nomadische Heimatbegriffe bei Vladimir Vertlib und Wladimir Kaminer heraus. Den Abschluß macht Heinz-Peter Preußers Beitrag zu transkulturellen Lektüren dreier jüdischer Figuren, die in der europäischen Kultur seit der Renaissance zentrale phantasmagorische Positionen des Anderen markieren – Shylock, Nathan und Ahasver. Dass diese Exklusionsnarrative auch nach dem Holocaust noch abrufbar bleiben und als identitätsstiftende Mytheme fungieren – nur oft unter umgekehrtem Vorzeichen – ist das Fazit seiner Analyse. Die meisten der in diesem Band versammelten Aufsätze gehen auf eine Tagung zurück, die ich im Sommer 2007 in Zusammenarbeit mit dem Gesamteuropäischen Studienwerk Vlotho organisierte, und die von der Bundeszentrale für politische Bildung finanziell unterstützt wurde. Dem Leiter der Tagungsstätte, Herrn Prof Theo Mechtenberg, der die Tagung mit mir konzipierte, sei an dieser Stelle herzlich gedankt.
I. Historisches
Jürgen Joachimsthaler
“Undeutsche” Bücher: Zur Geschichte interkultureller Literatur in Deutschland Intercultural literary studies in Germany constitutes its object on the basis of the conspicuous success of recent migrant and transnational literature. As much as the academic turn towards these texts that transgress the boundaries of a ‘national literature’ is to be welcomed, the critique of a national concept of literature in recent intercultural approaches threatens to obscure an older intercultural literature in Germany. This older literature was contested, persecuted, and excluded from literary scholarship. Germany has always been a mulitcultural country, the Sorbian minority has been living there for about 1000 years; until 1919 and 1945 respectively, there were Polish, Lithuanian, Sorbian, Masurian and Kashubian minorities. The chapter discusses this older transnational literature as a precursor to current literary trends.
Die noch in Entstehung begriffene1 interkulturelle Literaturwissenschaft in Deutschland konstituiert als eine von gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklungen (Migration, Globalisierung) inspirierte Forschungsrichtung ihren Gegenstandsbereich vorrangig auf Basis der aktuellen Literatur von Zuwanderern und in Deutschland geborenen Menschen mit Migrationshintergrund.2 Fast hat man deshalb den Eindruck, interkulturelle Literatur wäre in Deutschland erst im Zuge der Zuwanderung ausländischer Arbeitskräfte während der Nachkriegsjahre entstanden. Historisch ältere Texte (praktisch jedoch nur deutschsprachiger Autoren) mit interkultureller Thematik werden meist nur marginal und am ehesten dann berücksichtigt, wenn sie wie etwa Goethes West-östlicher Diwan oder die (vergleichsweise bedeutungslose) deutsche Übersee- und Kolonialliteratur3 der wilhelminischen Ära dazu geeignet scheinen, als eine Art ‘Vorgeschichte’ gegenwärtiger Fragestellungen zu dienen und in literaturgeschichtlicher Darstellung “eine[r] postkoloniale[n] Literaturgeschichte im Hinblick auf die Großräume Afrika und Asien und […] der deutsch-türkischen Literatur”4 als 1
Der Begriff “interkulturell” findet sich noch nicht einmal im Register der Grundzüge der Literaturwissenschaft. Hg. von Heinz Ludwig Arnold und Heinrich Detering. München: dtv 1996. 2 Vgl. Interkulturelle Literatur in Deutschland. Eine Einführung. Hg. von Carmine Chiellino. Stuttgart – Weimar: Metzler 2000. 3 Eine Forschungsbibliographie bietet der Band Kolonialismus, Kolonialdiskurs und Genozid. Hg. von Mihran Dabag, Horst Gründer und Uwe-K. Ketelsen. München: Fink 2004. S. 261–278. 4 Michael Hofmann: Interkulturelle Literaturwissenschaft. Eine Einführung. Paderborn: Fink 2006. S. 7.
20 letztlich gegenwartsorientierter historischer Vorlauf vorgeschaltet zu werden. Damit freilich droht der Blick auf die Vergangenheit einseitig an augenblicklichen Begriffsmoden ausgerichtet und eine umfangreiche interkulturell relevante Literatur abermals ausgeblendet zu werden, die im Zuge von Nationalismus und Nationalsozialismus schon einmal erfolgreich aus deutschen Bibliotheken und deutschem Bewusstsein getilgt worden ist – und mit ihr jene vornationale multikulturelle Geschichte Deutschlands, die der Nationalismus zu unterdrücken und der Nationalsozialismus mit allen Mitteln zu eliminieren versucht hatten. Deutschland war ja trotz aller national(istisch)en Propaganda (und teilweiser brutaler Verfolgungen) immer schon ein multikulturelles Land, die sorbische Minderheit (mit ausgebautem Literatursystem) etwa lebt seit über einem Jahrtausend hier, bis 1919 bzw. 1945 gab es polnische und litauische, kaschubische und masurische, französische und (bis heute) dänische Minderheiten auf dem Territorium des jeweiligen deutschen Staates (von zahlreichen Migranten vorrangig aus Frankreich, Polen und Italien ganz abgesehen). Bedeutende Teile fremdsprachiger Nationalliteraturen sind in muttersprachlicher Umgebung auf staatsrechtlich deutschem Boden entstanden, ohne dass dies größere Auswirkungen auf das Verständnis dessen gehabt hätte, was in Deutschland unter ‘Deutschland’, ‘deutscher Literatur’ oder ‘Literatur in Deutschland’ verstanden wurde und wird.5 Das nationale Selbstbewusstsein verbot jede Integration des ‘Anderen’ in das ‘Eigene’, mochte das Zusammenleben mit ihm auch seit Jahrhunderten selbstverständlicher Alltag sein, mochte die eine oder andere Ethnie auch im jeweiligen Gebiet länger als ‘die Deutschen’ ansässig sein – und mochte deren Literatur ihr Verhältnis zur deutschen Mehrheitskultur auch ständig reflektieren und thematisieren. Natürlich gab es auch nichtdeutschsprachige Literatur innerhalb der Grenzen deutscher Staaten, die trotz ihrer polykulturellen Entstehungskontexte die Thematisierung jeder Nachbarschaft mit ‘den Deutschen’ ebensozu vermeiden suchte wie umgekehrt deutschnationale Literatur diese ‘Anderen’ auszublenden trachtete. Da jedoch diese nationalen Minderheiten sich in deutsch dominierter Umgebung zu behaupten hatten, ist die Reflexion des Verhältnisses der Ethnien bzw. Nationen zueinander in ihren Literaturen weit stärker ausgeprägt als in deutschsprachiger Literatur. Aus vornationalen multikulturellen Kontexten hervorgegangen, setzt in diesen Literaturen mit Beginn der Nationalisierung kultureller Differenz im 5
Zum Konzept der “Literatur in” einem Gebiet, das alle dort existierende Literatur gleichermaßen zu berücksichtigen verpflichtet ist, vgl. Regina Hartmann: Das literarische Selbstbild einer Ostseeregion – Schwedisch-Pommern im 18. Jahrhundert. In: Regionalität als Kategorie der Sprach- und Literaturwissenschaft. Hg. von Instytut Filologii German´skiej der Uniwersytet Opolski. Frankfurt/M. u.a.: Lang 2002. S. 197–214.
21 18. und 19. Jahrhundert die Reflexion kulturellen Unterschiedes ein; damit rückt die Wechselwirkung zwischen den Kulturen und die Bedeutung der Mehrheitskultur für ein der Minderheit sich zurechnendes Individuum, rücken Problembereiche wie ‘Identität’, ‘Alterität’ oder ‘Hybridität’, also für interkulturelle Literaturwissenschaft heute zentrale Fragestellungen, in den Mittelpunkt des Interesses. Insofern haben wir es hier nicht nur einfach mit Literatur aus multikulturellen Kontexten zu tun – dies natürlich auch –, sondern in zunehmendem Maße mit einer aus polykultureller Verankerung hervorgegangenen tatsächlich interkulturellen Literatur im aktuellen Sinne des Wortes. Sie passt freilich nicht zu einem nur eingeschränkten Verständnis von ‘Interkulturalität’, das interkultureller Begegnung einen Kulturbegriff unterlegt, demzufolge Kulturen voneinander getrennte Blöcke wären, die sich über klar voneinander abgegrenzte unterschiedliche Territorien erstreckten und erst in interkulturellen Kontakt miteinander gerieten, wenn Individuen aus einer Kultur die geographisch räumliche Grenze zur anderen Kultur überschritten (wie es dann Reise- und Migrationsliteratur widerspiegelten). Tatsächlich jedoch lebt auch die neuere interkulturelle Literatur in Deutschland von im Land selbst geborenen Menschen ‘mit Migrationshintergrund’, die also, weil hier geboren, selbst noch schlecht als ‘Migranten’ bezeichnet werden könnten. Deshalb setzt Interkulturalität eben nicht voraus, dass die Kulturen in jeweils mononationale Bereiche voneinander geschieden werden können, zumal sie meist ohnehin schon in einem Zustand der ‘Mischung’, der Anziehung und Abstoßung, der Assimilation, Abgrenzung und des Austauschs zueinander stehen. Nichts miteinander zu tun haben zu wollen kann nur Folge der Tatsache sein, dass man sehr wohl miteinander zu tun hat. Dass sich einzelne kulturelle Figurationen wie einst die monotheistischen Religionen oder später die Nationen aus diesem stets fließenden kulturellen Austauschprozess herauszuschneiden und durch innere ‘Reinigung’ oder ‘Säuberung’ monokulturell zu stabilisieren suchen, ist Ergebnis historisch bedingter Alleinstellungsansprüche von freilich oft weitreichender historischer, politischer und gesellschaftlicher Wirkung, die auch in einen noch aus dem nationalen Zeitalter kommenden Begriff von “Interkulturalität” sich eingeschrieben hat, der Kulturen so versteht, wie der Mononationalismus sie verstanden wissen wollte: Als von allem ‘Fremden’ freie Entitäten eigenen Rechts (zwischen denen es dann zu erst nachträglich zu ihnen hinzukommender ‘interkultureller’ Begegnung kommen könne). In Deutschland hatte dieses Kulturverständnis einst die Konsequenz, dass all dieses – doch vorhandene – ‘Fremde’ ausgesondert und als nicht vorhanden behandelt (wo nicht gar eliminiert) werden musste. “Nichtdeutsche Bücher”, so heißt es in 6
Umfangreiches Material hierzu findet sich im Archiwum Pan´ stwowe w Opolu. Kreisschulinspektion Oppeln 1.
22 Regierungsanordnungen aus dem Kaiserreich,6 waren seit ca. 1878 aus Schul- und öffentlichen Bibliotheken zu entfernen, über Karl Kaisig, den in dieser Hinsicht erfolgreichsten deutschen Bibliothekspolitiker, konnte man 1933 im nun bereits nationalsozialistisch gefärbten Rückblick lesen, er “entfernte aus den Volksbüchereien alle undeutsche Literatur und stattete sie mit dem Besten aus, was in deutscher Dichtung in reicher Fülle zur Verfügung steht”.7 Der Begriff “undeutsch” stammt ursprünglich aus dem Baltikum und bezeichnete dort anfangs aus Sicht der deutschen adeligen Oberschicht die zumeist bäuerliche baltische Bevölkerung, insbesondere die Letten.8 Im Zuge der Nationalisierung seit ca. 1800 erhielt der Begriff zunehmend negative Färbung und wurde schließlich auch außerhalb des Baltikums auf alles angewandt, was der politisch vorherrschenden Definition von ‘deutsch’ widersprach – und sei es ethnisch neutral ‘nur’ die politische (sozialdemokratische, kommunistische, z.T. auch katholische und liberale) Opposition. In dieser Doppeldeutigkeit erlaubte er es, das nationalistische Konzept des “Deutschthums” abzugrenzen zugleich von ethnischer Alterität und allem, was diesem Konzept inhaltlich widersprach – bis im NS-Jargon jede Unterscheidung zwischen politisch Verfolgtem und ethnisch bzw. dann “rassisch” Bekämpftem verschwand.9 Der in den wilhelminischen Verordnungen gebrauchte Begriff “nichtdeutsch” bezeichnete im Vergleich dazu noch in erkennbarer Klarheit aus deutscher Sicht fremd-, also nicht deutschsprachige Bücher jener ethnischen Minderheiten in Deutschland, von denen Assimilation und weitgehende kulturelle Selbstaufgabe verlangt wurde: Polen, Kaschuben und Masuren, Sorben und Litauer. Ihre Existenz wurde betrachtet als ein Relikt aus ungebildet ‘vordeutscher’ Zeit, die durch deutsche ‘Kulturarbeit’ überwunden werden müsse. Germanisierungspolitik war die logische Folge: Die Bevölkerung des Deutschen Reiches sollte vereinheitlicht werden zu einer kulturell deutschen. Literatur in den Sprachen “nichtdeutscher” Bevölkerungsteile galt deshalb spätestens seit der Reichsgründung von 1870/71 zunehmend als unerwünscht, war sie doch geeignet, ethnisch widerständiges Selbstbewusstsein zu fördern. Die all dem zu Grunde liegende Idee der Nation als einer in sich homogenen “fest umgrenzte[n] Entität” musste jedoch gegen eine ihr entgegenstehende 7
W. Penkert: Vom nationalen Schrifttum in Oberschlesien. In: Der Oberschlesier 15 (1933). S. 493–500. Hier: S. 495. 8 Zur Begriffsgeschichte vgl. Wilhelm Lenz: Undeutsch. Bemerkungen zu einem besonderen Begriff der baltischen Geschichte. In: Aus der Geschichte Alt-Livlands. Festschrift für Heinz von zur Mühlen zum 90. Geburtstag. Hg. von Bernhart Jähnig und Klaus Militzer. Münster – Hamburg – Berlin – London: Lit Verlag 2004. S. 167–184 (Schriften der Baltischen Historischen Kommission 12). 9 Vgl. Jürgen Joachimsthaler: “Erziehung zum Deutschthum”. Aspekte der wilhelminischen Literaturpolitik unter Berücksichtigung der besonderen Verhältnisse im mehrsprachigen Oberschlesien. In: Zeszyty Naukowe Uniwersytetu Opolskiego. Filologia German´ska 2 (1996). S. 37–72.
23 Wirklichkeit durchgesetzt werden.10 Die interkulturelle Literaturwissenschaft nun ist ihrem Selbstverständnis nach dazu verpflichtet, diese Konstruktion methodisch in Frage stellen und an jene kulturelle Vielfalt zu erinnern, gegen die der Nationalismus mit allen Techniken der “inneren Kolonisation” einst ankämpfte,11 befreit doch erst die Durchbrechung des Mythos der in sich widerspruchsfrei einheitlichen Nation auch die interkulturelle Literaturwissenschaft von der Gefahr, interkulturelle Begegnung so darzustellen, als würden in dieser zwei einander fremde essenzialistische Entitäten aufeinanderstoßen, zwischen denen es dann nur Konflikt geben könne, Sieg oder Niederlage, einen bedingungslosen Kampf um das vom ‘Anderen’ gefährdete ‘Eigene’. Tatsächlich war deutsche Kultur seit jeher in intensiven Austausch- und wechselseitigen Duchdringungsprozessen mit anderen Kulturen begriffen und ist ohne diese nicht verständlich. Geht man zurück in die Zeit vor Propagierung und weitgehende Durchsetzung des nationalen Schemas für kulturelles Selbstverständnis, so zeigt sich, dass es durchaus Konzepte einer positiv, oder, in vornational konfessioneller Terminologie, als Gottes Wille verstandenen Interkulturalität gab, deren zentrale Bezugsgröße freilich noch nicht Ethnie oder Nation war, sondern Glaube und Gemeinde. Ein Zitat mag zeigen, wie – aus heutiger Sicht – fremdartig ‘anders’ damals gedacht und formuliert wurde: Gehen Sie in welche Gemeine der Christen Sie wollen; die Sprache auf der heiligen Stäte wird ihr Vaterland und Genealogie verrathen, daß sie heÿdnische Zweige sind, auf einen jüdischen Stamm gepfropft. Je erbaulicher der Redner seÿn wird: desto mehr wird uns sein galiläisches Schiboleth in die Ohren fallen. Je mehr Feuer; desto mehr von jenem Canariensect, über den die Ismaeliten, (Kinder unserer Kirche nach dem Fleisch) ihr Gespött treiben, (wie geschrieben steht, , ); desto mehr von jenem Thau der Morgenröthe, in deren Schoos uns die Sonne der Gerechtigkeit aufgegangen mit Heil unter ihren Flügeln – – Kurz, das Orientalische in unserm Kanzleistÿl führt uns auf die Wiege unsers Geschlechts und unserer Religion zurück, daß man sich gar nicht den ästhetischen Geschmack einiger christlicher Wortführer darf befremden lassen, si aures (mit einem hispanischschönen Lateiner unserer Zeit zu reden) perpetuis tautologiis, Orienti iucundis, Europae inuisis laedant, prudentioribus stomachaturis, dormitaturis reliquis.12 10
Ortrud Gutjahr: Alterität und Interkulturalität. Neuer deutsche Literatur. In: Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neue Theoriekonzepte. Hg. von Claudia Benthien und Hans Rudolf Velthen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2002. S. 345–369. Hier: S. 353. 11 Vgl. Max Sering: Die innere Kolonisation im östlichen Deutschland. Leipzig: Duncker & Humblot 1893. 12 Johann Georg Hamann: Kleeblatt Hellenistischer Briefe. Text mit Wiedergabe des Erstdrucks. Hg. und kommentiert von Karlheinz Löhner. Frankfurt/M. u.a.: Lang 1994. S. 49–51 (Regensburger Beiträge zur deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft A 8).
24 Stilistische und sprachliche Mischung, eine jede ästhetische ‘Reinheit’ unterlaufende polyglotte Ironie und Ambivalenz bei deutlicher Betonung kultureller Hybridität (“Christen […] heÿdnische Zweige […] auf einen jüdischen Stamm gepfropft”): Alles, was moderne Poetiken als ‘typisch’ für postkolonial interkulturelle Literatur betonen, ist hier bei Johann Georg Hamann bereits versammelt. Von einer solchen Offenheit für scheinbar “Fremdes” aus war Hamann auch in der Lage, in den Volksliedern, die er das marginalisierte “lettische oder undeutsche Volk beÿ aller […] Arbeit singen” hörte,13 poetische Qualitäten zu erkennen, die ihn an Klopstock, also den damals avanciertesten deutschen Lyriker erinnerten.14 Sein Schüler Johann Gottfried Herder entwickelte daraus das kulturhistorisch folgenreiche Konzept seiner Volksliedsammlung Stimmen der Lieder in Völkern in denen auch die “undeutschen” Völker eine eigene, neben der deutschen gleichberechtigte Stimme erhielten.15 In der Tradition Hamanns und Herders stehend wandte dann zu Beginn des national(istisch)en Zeitalters – aber explizit gegen dieses gerichtet – der vielgelesene Jean Paul dieses Konzept der Mischung und wechselseitigen Durchdringung verschiedener kultureller Sphären direkt auf Deutschland an und propagierte zum Verständnis des Landes und seiner Bewohner ein nun bewusst antinationales Deutungsmodell, das aus dem Rückblick nur als “interkulturell” bezeichnet werden kann. Unsere neue Vielgestaltung ist bloß die Anverwandte unserer Alten. Nicht bloß darum, weil kein Volk so oft wanderte als (nach Herder) das Deutsche, daher der Name Sweven von Schweifen, Vandalen von Wandeln […], sondern hauptsächlich deshalb, weil das reisende Deutschland zugleich auch ein durchreisetes ist von Kriegherren und Kauffahrtei-Kirwanen – und weil dieses Herz Europens alle Völker als Adern wässert – und weil Deutschland ein ganzes Volk von Völkchen, ein Land voll Ländchen und ein Spielplatz von Himmelsstrichen ist – und weil das vielgestaltete Reich der noch mehr gestaltige Grenzumkreis von Russen, Welschen, Galliern und noch dabei näher die Mannigfaltigkeit der halben oder Dreiviertelbrüderschaft von Schweizern, Holländern und Elsässern und Nordländern und Ungarn einfäßt – und endlich, weil […] deutsche geistige Niederlassungen und Warenniederlassungen uns wieder eben darum fremde Waren zuschickten – nach all diesen Einwirkungen und noch mehren mußte schon früher Deutschland den Steinen gleich werden, auf welchen die Abdrücke der ungleichartigsten Gegenstände von Pflanzen und von See- und von Landtieren zugleich erscheinen.16 13
Johann Georg Hamann: Aesthetica in nuce. In: Ders.: Sokratische Denkwürdigkeiten. Aesthetica in nuce. Mit einem Kommentar. Hg. von Sven-Aage Jørgensen. Stuttgart: Reclam 1983. S. 77–147. Hier: S. 143. 14 Ebd. 15 Vgl. Johann Gottfried Herder: Stimmen der Völker in Liedern. Leipzig: Reclam 1978, insbesondere S. 205ff. 16 Jean Paul: Politische Fastenpredigten während Deutschlands Marterwoche. In: Ders.: Sämtliche Werke. Hg. von Norbert Miller. Frankfurt/M.: Zweitausendeins 1996. Abt. I. Bd. 5. S. 1077.
25 Jean Paul sah Deutschland als das nicht in sich selbst einschließbare Produkt unentwegter geistiger, kultureller, ökonomischer und politischer Austauschprozesse und Wanderbewegungen, dessen Charakter von vielerlei “Abdrücken” benachbarter Völker, aber auch durch innere Vielfalt und Heterogenität (ein “Volk von Völkchen”) und komplex gestufte Übergänge aus Halb- und Dreiviertelnachbarschaften gesprägt sei. Diese positiv gewertete “Vielgestaltung” war ein Ergebnis auch der komplizierten, noch nicht nach nationalen Kriterien geordneten Herrschaftsverhältnisse in der Zeit des ‘Alten Reiches’ (das durchaus an das moderne Europa erinnern kann17) und der damit einhergangenen Überlappung national noch nicht vereinheitlichter verschiedener Sprach- und Kulturräume in großen Teilen Mitteleuropas. Ethnien lebten bunt durcheinander und noch nicht wie nach den nationalen Grenzziehungen, ethnischen Säuberungen, Umsiedlungen und nationalsozialistischen Terrormaßnahmen in Nationalstaaten, die sich lange Zeit mit der Erklärung legitimierten, ihre gegeneinander mobilisierten Bevölkerungen voreinander schützen zu müssen. Unmittelbar wirksam war diese vornationale Vieldeutigkeit des Raumes auch im Bereich der Literatur. So wie es deutsche Sprachinseln bis an die Wolga gab, gab (und gibt) es Gebiete mit slawischer und baltischer (und dänischer) Bevölkerung auf staatsrechtlich deutschem Gebiet. Aus Platzgründen werde ich mich im Folgenden beschränken müssen auf das für die nationale Identitätskonstruktion in Deutschland (ohne Österreich) grundlegende Gebiet des späteren Deutschen Reichs und auf die – in der österreichischen Forschung freilich schon umfassend reflektierten18 – besonderen Verhältnisse im Vielvölkerstaat der Habsburger nicht näher eingehen können.19 Gegenüber der heutzutage in zahlreichen einst habsburgischen Ländern nostalgisch umflorten multiethnischen Gemengelage in Österreich-Ungarn war die deutsche Nationalitätenpolitik darin erfolgreich, weitgehend vergessen zu machen, dass Deutschland noch im 19. Jahrhundert keineswegs nur das Land der Deutschen, Literatur in Deutschland keineswegs nur deutsche Literatur war. Bis heute ist das Bewusstsein der Nation weitgehend ‘rein’ vom Wissen um die nichtnationalen Bevölkerungen und Kulturen, die es auf staatsrechtlich deutschem Boden einst gegeben hat (und zum Teil immer noch gibt). 17
Vgl. Ulrich Beck und Edgar Grande: Das kosmopolitische Europa. Gesellschaft und Politik in der Zweiten Moderne. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2007. 18 Vgl. Zoran Konstantinovic´ und Fridrun Rinner: Eine Literaturgeschichte Mitteleuropas. Innsbruck – Wien – München – Bozen: Studien Verlag 2003 (Comparanda 3). 19 Zahlreiche Beispiele finden sich nun auch in: Zwischeneuropa – Mitteleuropa. Sprache und Literatur in interkultureller Konstellation. Akten des Gründungskongresses des Mitteleuropäischen Germanistenverbandes. Hrsg. von Walter Schmitz in Verbindung mit Jürgen Joachimsthaler. Dresden: Thelem 2007.
26 Die litauische Nationalliteratur etwa wäre undenkbar ohne den Anteil in “Kleinlitauen” (dem preußischen bzw. dann deutschen Teil des litauischen Sprach- und Kulturraumes um die Städte Memel und Tilsit) lebender litauischer Autoren. Bereits 1547 erschien in Königsberg das erste (für die Bewohner Kleinlitauens) gedruckte litauische Buch, eine Übersetzung von Luthers Kleinem Katechismus, die jedoch nicht den deutschen Originaltext, sondern dessen polnische Übersetzung zugrundegelegt hatte20 – noch war Polen kulturell tonangebend in der Region und das Herzogtum Preußen polnisches Lehen. Der Übersetzer Martynas Mazˇ vydas (1500–1563)21 wurde damit zum Autor des ersten auf litauisch publizierten Buches und Begründer der litauischen Schriftsprache; in der litauischen Nationalgeschichte wird ihm deshalb heute ein sehr ehrenvoller Platz eingeräumt. 1701 erschien dann abermals in Königsberg die erste litauische Übersetzung des Neuen Testaments (von Samuel Bythner),22 1735 die von einer Kommission unter Leitung von Pastor Johann Behrendt übertragene erste vollständige Bibel.23 Das Schrift- und Hochlitauische hatte sich so in Preußen herausgebildet als eine Sprache seelsorgerischer Betreuung, nicht umsonst wurden die ersten Grammatiken und Wörterbücher des Litauischen (um 1650) von oftmals deutsch- oder zweisprachigen Geistlichen verfasst.24 So ist es kein Wunder, das die ersten bedeutenden literarischen Texte in litauischer Sprache ebenfalls im preußischen Kleinlitauen geschrieben wurden – und, natürlich, auch das Verhälnis zwischen Deutschen und Litauern reflektierten: In den Metai, den Jahreszeiten des Tollmingkehmer Pfarrers 20 Martynas Mazˇ vydas: Katekismas ir kiti rasˇ tai. Vilnius: Baltos Lankos 1993 [Faksimileausgabe der Ausgabe Martynas Mazˇ vydas: Catechismusa prasty Szadei, Makslas skaitima raschta yr giesmes del kriksczianistes bei del berneliu iaunu nauiey sugulditas. Karalauczui: Jan Weinreich 1547]. 21 Friedrich Scholz: Maˇz vydas und die litauische Literatur, bearbeitet nach dem Vortrag auf der Jahrestagung 1997 des Litauischen Kulturinstituts: http://pirmojiknyga.mch.mii.lt/Leidiniai/lkischolz.de.htm (12. 12. 2007). 22 Naujas Testamentas wieszpaties musu Jezaus Kristaus, prima˛ karta˛ ant Swieto Lietuwiszkoj kal⁄ boj, Ant Isákimo Mal⁄oningiauso Karalaus Prussu &c. &c. &c. Su didz´ iu dabojimu pérguldÿtas, o Ant Garbês Diewui Traicej’ Szwentoj’ wienatijam, Lietuwos z´ monems ant iszganitingos naudôs Iszpáustas. Drukawójo arba iszpáude S´páustuwoj Reusnero Karalauc´ iuj’. Métu MDCCI. 23 Biblia, Tai esti: Wissas Szwentas Rásstas, Séno ir Naujo Testamento pagal Wokitzko Pérstattima˛ D. Mertino Luteraus Su kiekwieno Perskyrimo trumpu Praneßimmu, ir reikalingu Pazenklinnimu tu paczû Z´odzû, kurrie kittose Perskyrimose randomi, Nù kellu Mokytoju Lietuwoj’ Lietuwißkaj pérstattytas, Ir antra˛ Karta˛ iszpáustas. Karaláuczuje. 1755. Randamas pas Pilippa˛ Kristupa˛ Kanteri. 24 Siegfried Tornow: Was ist Osteuropa? Handbuch zur osteuropäischen Text- und Sozialgeschichte von der Spätantike bis zum Nationalstaat. Wiesbaden: Harrassowitz 2005. S. 253 (Slavistische Studienbücher N.F. 16).
27 Kristijonas Donelaitis (auch Christian Donaleitis oder Donalitius, 1714–1780),25 die heute als erster Text der litauischen ‘schönen’ Literatur insgesamt und manchen sogar als das litauische Nationalepos gelten, spiegelt sich eine gewisse Konkurrenz zwischen den Ethnien wider, die der Prediger Donelaitis für die Zwecke christlicher Ermahnung einzusetzen weiß: Schämt ihr euch eigentlich gar nicht, ihr Frauen, Litauerinnen, Schämt ihr euch nicht, daß die fleißigen Frauen der Deutschen Auf dem Feld euch beschämen mit ihrer vortrefflichen Arbeit?26
Deutsche erscheinen als mahnende Konkurrenz, denen gegenüber die Litauer sich vor der Schande hüten sollen, nicht mithalten zu können:27 [J]a mit den süßen Nüssen auch ist es genauso gegangen. Ganze Fässer von ihnen haben die Deutschen gesammelt, Manche haben sogar schon Säcke gefüllt zum Verkaufen. Aber unsre verbummelten Weiber haben kein Nüßchen, Nicht ein einziges gepflückt, nicht mal das einzigste Nüßchen.28
Die Metai sind eine aus dem Nachlass zum an Hesiod gemahnenden Epos zusammengefügte Sammlung (noch vor Klopstock!) in Hexametern geschriebener schwankhaft moralisierender Idyllen, die den Jahresablauf ‘einfacher’ Menschen mit Arbeit, Freude und Streit, Not und Festen zeigen. Ihr auch heute noch besonderer literarischer Wert liegt in einer für diese Zeit erstaunlich plastischen und realistischen Beschreibung des kleinlitauischen Landlebens und des Alltags der ‘kleinen’ Leute. Der Text setzt sich vielstimmig zusammen aus verschiedenen Figurenreden und ist trotz der antikisierenden Form seiner Anlage nach so polyphon, wie es die Poetik postmoderner und postkolonialer Texte nur immer fordern mag. Donelaitis nutzte die litauische Sprache dabei jedoch nicht als nationaler oder ethnischer Wortführer, sondern als Werkzeug der Seelsorge und christlichen Unterrichtung. Mit seinen deutschen Gemeindemitgliedern ging er analog auf deutsch um, literarische Texte verfasste er nicht nur auf litauisch, sondern auch auf deutsch, lateinisch, griechisch und hebräisch. Als Gebildeter bewegte er sich in verschiedenen Kommunikations- und Sprachräumen, modern gesprochen: er ‘switchte’. In 25
Deutsche Erstveröffentlichung: Das Jahr in vier Gesängen. Ein ländliches Epos aus dem Litthauischen des Christian Donaleitis, genannt Donalitius. In gleichem Versmaaß ins Deutsche übertragen von D. L. J. Rhesa, Prof. d. Theol., Königsberg 1818, gedruckt in der Königl. Hartungschen Hofbuchdrukkerei. 26 Kristijonas Donelaitis: Die Jahreszeiten. Ein litauisches Epos. Nachdichtung und Geleitwort von Hermann Buddensieg. Leipzig: Insel 1970. S. 46. 27 Ebd. S. 46f. 28 Ebd. S. 47.
28 klassischer literarischer Tradition verklärt er in seinem literarischen Werk mit moralischer Absicht das Leben der Bauern zur in den Jahreszeitenwechsel quasi ‘natürlich’ eingebetteten Idylle: ‘Seine’ Litauer, ‘seine’ Lietuvininkai sind “Volk”, eine im Geist der hohen und späten Aufklärung halb sentimental verklärte, halb ‘vernünftig’ zu belehrende Ansammlung ‘natürlich’ unverbildeter Menschen. Weitere auch interkulturell für eine Untersuchung der deutsch-litauischen Beziehungen in Kleinlitauen interessante bedeutende litauische Autoren aus preußisch-deutscher Zeit wären Vydu¯ nas (Vilius Storosta, deutsch Wilhelm Storost; 1868–1953),29 der heute als einer der wichtigsten Schriftsteller litauischer Zunge überhaupt gilt und in seinem Werk die deutsch-litauischen Beziehungen vielfach thematisiert hat, oder Ieva Simonaityte˙ (1897–1978),30 nach der ein wichtiger litauischer Literaturpreis benannt ist und deren Werk vom deutsch-litauischen Kulturkontakt maßgeblich geprägt ist. Beide arbeiteten bereits vor dem Ersten Weltkrieg im Deutschen Reich mit der litauischen Presse zusammen – die wiederum wegen der Zensur im Russischen Reich weitgehend nach Kleinlitauen übergesiedelt war und ihre Produkte von dort aus nach ‘Großlitauen’, aber auch an litauische Gemeinden in Amerika vertrieb. Deshalb wurde ein Großteil der litauischen Druckerzeugnisse, Bücher, Zeitschriften usw. vor Beginn des Ersten Weltkrieges in Deutschland gedruckt. Weil dies sich gegen Russland richtete, wurde es von deutscher Regierungsseite aus teils geduldet, teils sogar gefördert, wie überhaupt der Umgang mit den Litauern im Deutschen Reich höchst widersprüchlich war. Einerseits gehörten sie zu jenen Minderheiten, von denen Assimilation und Anpassung gefordert wurde, andererseits war die litauische Minderheit klein und ungefährlich genug, um sie den anderen Minderheiten gegenüber als eine Art Musterminderheit ohne eigene nationalen Ansprüche darzustellen und deshalb explizit freundlich mit ihr umzugehen – wenn auch immer in der Annahme, dass die Kleinlitauer bereits auf dem Wege der Germanisierung wären und ‘Bildung’ für sie letztlich gleichbedeutend wäre mit der Selbstaufgabe ihrer litauischen Identität: “Der Littauer als solcher bringt es nicht über den Bauer hinaus. […] Söhne von 29 Jürgen Storost: Vydu¯ nas im Spiegel zeitgenössischer deutscher Behörden und Presseorgane. Eine Dokumentation. In: Die Grenze als Ort der Annäherung. 750 Jahre deutsch-litauische Beziehungen. Hg. von Arthur Hermann. Köln: mare Balticum 1992. S. 97–148; Vacys Bagdonavicˇius: Pagrindiniai Vydu¯ no veiklos bruozˇ ai. In: Nuo Maˇzvydo iki Vydu¯ no. Karaliaucˇiaus krasˇ tosˇ viesuoliai. Hg. von Vytautas Sˇilas. Vilnius: Mintis 1998. S. 181–192; Alina Kuzborska: Litauer und Deutsche im Werk von Donelaitis und Vydu¯ nas. In: Geistiges Preußen – Preußischer Geist. Hg. von Gabriele Hundrieser und Hans-Georg Pott. Bielefeld: Aisthesis 2003. S. 107–119. 30 Vytautas Kubilius: Ievos Simonaityte˙s ku¯ryba. Svarbiausios gyvenimo ir ku¯rybos datos. Vilnius: Vaga 1987.
29 Littauern studiren, besteigen die Kanzel, tragen die Robe, nehmen einen Lehrstuhl der Universität ein. Sie hören damit auf Littauer zu sein”.31 So schrieb ein in Kleinlitauen tätiger preußischer Richter – und musste noch im selben Text zur Aufrechterhaltung dieser eigenartigen Konstruktion die dort tätigen national engagierten Litauer aus Russland von den deutschen Kleinlitauern wie von einem völlig anderen Volk abgrenzen. Die ‘deutschen Litauer’ erschienen dadurch wie eine vormoderne Bevölkerung, die ähnlich schwäbischen Dorfbewohnern noch einen Dialekt sprach, den sie, so die Annahme, im Zuge von Modernisierung, Zivilisierung und Germanisierung (diese drei Begriffe galten als Einheit) bald ablegen (müssen) würde32 – liebenswertes, etwas zurückgebliebenes “Volk”, auf dessen zum Absterben verurteilte kulturelle Eigenart man von den Errungenschaften und Leiden der Moderne aus mit nostalgischer Wehmut blickte, während man selbst auf dieses (faktisch nie erfolgte) Absterben hinzuarbeiten versuchte. Eine Zurkenntnisnahme kleinlitauischer Literatur – die durchaus zu einer interkulturellen Bereicherung deutschen Selbstverständnisses hätte beitragen können – war da freilich nicht mehr möglich. Es durfte eine solche Literatur einfach nicht geben (erst und nur Johannes Bobrowski hat sie von deutscher Seite aus ausführlich rezipiert).33 Die sie nostalgisierende Darstellung der Kleinlitauer war gerichtet insbesondere gegen die große Zahl der Polen im Deutschen Reich, denen die ‘deutschen Litauer’ als vorbildlich entgegengehalten wurden. Im Süden Ostpreußens lebten die polnischssprachigen Masuren, während der schlesischen Kriege hatte Preußen mit Schlesien ein multikulturelles Land annektiert, dessen Bevölkerung teils deutsch, teils polnisch, teils (zu einem freilich eher geringen Teil) tschechisch sprach, mit den polnischen Teilungen schließlich hatte sich Preußen mit Wielkopolska (“Großpolen”), dem “Großherzogtum” bzw. dann der “Provinz Posen”, polnisches Kernland einverleibt, das im Zuge der Nationalisierungspolitik in altes deutsches bzw. ‘germanisches’ Territorium umgedeutet werden sollte. Die Polen dort sollten als nachträgliche Zuwanderer geringeren Rechts und minderer Kultur erscheinen, die preußische Verwaltung als eine Kultivierungsinstanz, die überhaupt erst Wohlstand, Bildung und Fortschritt in diese Gebiete brächte – verbunden mit dem “Angebot” an alle Polen, sich durch Assimilation der ‘überlegenen’ deutschen 31
Ernst Wichert: Littauische Geschichten. Dresden – Leipzig: Carl Reißner 1900. Vorwort. S. XI. 32 F. Preuß: Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist. In: Ostmarkenbuch. Eine Sammlung aufklärender Abhandlungen, Erzählungen und Schilderungen aus dem gesamten Gebiete des deutschen Ostens. Hg. von K. F. Preuß. Zweiter Band. Breslau: Priebatsch 1911. S. 5–10. Hier: S. 9. Vgl. auch bereits 1830: [anonym]: Über die Einwirkung auf das Erlöschen der Nebensprachen in unserem Vaterlande. In: Preußische Provinzialblätter 1830. S. 343f. 33 Johannes Bobrowski: Litauische Claviere. Roman. Berlin: Union Verlag 1966.
30 Kultur anzuschließen. Die polnische Sprache wurde als Unterrichtssprache verboten, polnisches Lese-, Schul- und Lehrmaterial aus öffentlichen Anstalten der betreffenden Gebiete entfernt. Die Existenz einer polnischsprachigen Literatur auf deutschem Boden musste da als störend erscheinen und entsprechend systematisch wurde sie marginalisiert – und mit ihr gleich die einst fruchtbaren Beziehungen zwischen deutscher und polnischer Kultur, die einmal so eng waren, dass die Frage der nationalen Herkunft etwa von Kopernikus34 oder Angelus Silesius35 nicht mehr mit nationaler Eindeutigkeit beantwortet werden kann. Solche kulturelle Nähe jedoch musste bestritten werden, Polen galt als kulturloser Raum, der erst von den Deutschen kultiviert werden musste. Polnische Kultur durfte es nicht geben. So gehört es noch heute zum selbstverständlichen literaturwissernschaftlichen Standardwissen in Deutschland, dass deutsche Literatur beeinflusst ist von französischer, englischer, niederländischer, italienischer usw. Literatur. Von polnischen Einflüssen aber liest man selten, obwohl doch die großenteils im ursprünglich polnischen36 und damals noch immer in engen Beziehungen zu Polen stehenden Schlesien entstandene deutschsprachige Barockliteratur gekennzeichnet war durch eine relativ starke Hinwendung nach Polen […]. So etwa besuchten zahlreiche Schlesier die Gymnasien in Thorn und Danzig. Dann war Polen […] für viele eine Zufluchtstätte. Aus der Erfahrung der Not entstanden Gedichte auf das friedfertige und blühende Land. […] Auch wurde nun ein Bezug zur polnischen ‘Renaissance’ gesucht. Vor allem Dichtungen Kochanowskis sind gelesen und übersetzt worden.37
Doch die deutsche Literaturgeschichte ist – wie die gesamte Germanistik – ein Kind des nationalistischen Zeitalters, in dem es aus deutschnationaler Sicht kaum Schlimmeres gab als das Eingeständnis polnischer Kultureinflüsse auf
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Vgl. Janusz Tazbir: Akteure und Symbolfiguren. In: Deutsche und Polen. Geschichte – Kultur – Politik. Hg. von Andreas Lawaty und Hubert Orl⁄ owsky. München: Beck 2003. S. 117–123. Hier: S. 123. 35 Vgl. Cezary Lipin´ ski: Deutsche Vergangenheit und polnisch-niederschlesische Identität. In: Verhandlungen der Identität. Literatur und Kultur in Schlesien seit 1945. Hg. von Jürgen Joachimsthaler und Walter Schmitz. Dresden: Thelem 2004. S. 265–291. 36 Nicht umsonst tauchen die ältesten schriftlich überlieferten polnischen Sätze in einer schlesischen Handschrift auf. Vgl. Alfons Nossol: Schlesien, ein Land von drei Kulturen. In: Nationale Identität aus germanistischer Perspektive. Hg. von Maria K. Lasatowicz und Jürgen Joachimsthaler. Opole: Wydwanictwo Uniwersytetu Opolskiego 1998. S. 13–21. 37 Arno Lubos: Geschichte der Literatur Schlesiens. III. Bd. München: Korn 1974. S. 491f.
31 Deutschland, wiewohl “manche, wenn nicht gar alle Barockdichter – den schlesischern Verhältnissen entsprechend – slawische oder teilweise slawische Vorfahren hatten”.38 Deshalb war noch im 17. Jahrhundert “das Bewußtsein slawischer Abstammung oder geschichtlicher Gemeinsamkeit mit Polen wach […] (es schwindet dann im 18. Jahrhundert infolge der verstärkten preußischen Eindeutschung)”.39 Biographisch und/oder literarisch enge Beziehungen zu Polen sind etwa nachweisbar für den “Vater der deutschen Dichtung”, den polnischen Hofhistoriographen Martin Opitz (dessen Name zudem auf polnische oder sorbische Vorfahren verweist), Daniel Czepko und Angelus Silesius (dessen Vater Stanisl⁄ aw Szeffler aus Krakau stammte und vom polnischen König nobilitiert worden war), Andreas Gryphius (der den polnischen Dichter Jan Kochanowski, 1530–1584, schätzte und Vorlagen auch polnischer Autoren als Anregung nutzte), Christoph Köler, Daniel Caspar von Lohenstein, Johann Christian Hallmann, Wenzel Scherffer von Scherffenstein (der Kochanowski übersetzte), u.v.a.40 In Oberschlesien gab es gar eine Reihe polnischsprachiger Barockschriftsteller wie Walenty Roz´ dzien´ ski (so die heutige Schreibung), der als Hüttenmeister in Rosdzin ein umfangreiches Lehrgedicht über das Hüttenwesen verfasste,41 voll von – für diese Zeit – erstaunlich realistischen Beschreibungen des Alltagslebens und Arbeitsmilieus in der Gegend um Tost im Fürstentum Oppeln, gewidmet dem Freiherrn Kochtitzky in Lublinitz, dessen an polnischen Beständen reichhaltiger Bibliothek Roz´ dzien´ ski viel zu verdanken hatte.42 Aus seinem Nachlass wurde schließlich auch noch eine schwankhafte Komödie mit deutlich sozialkritischen Untertönen veröffentlicht.43 Mit seinem Werk gab er den Ton vor für volksnah oppositionelle Prediger wie Adam Gdacjusz (Gdacius, 1615–88) u.a.,44 auf die bis ins 19. Jahrhundert hinein eine enorme Zahl polnischsprachiger oberschlesischer Traktate und Kirchentexte zurückzuführen ist, die dann wiederum Einfluss gewannen auf die (nun oft auch deutschsprachige) literarische Gestaltung der harten Arbeitsbedingungen in der Zeit der Industrialisierung Oberschlesiens.
38
Ebd. S. 492. Ebd. S. 492. 40 Ebd. S. 491–494. 41 Walenty Roz´ dzien´ sky: Officina ferraria abo Hutá ÿ Wársztat z Kuz´ niámi / szlachetnego dz´iela Zelaaznego. Kraków: Drukárnia Symoná Kempiniego 1612. 42 Vgl. Lubos: Geschichte der Literatur Schlesiens [wie Anm. 37]. S. 486–488. 43 [anonym] [Walenty Roz´ dzien´ sky ]: Posel⁄ Krotochwilny, Mac Lac y Rozmowá jego Ktora mia/l ze swakiem y z Pal⁄ a wdrodze, z Wácha w Bramie […]. Olesnic: Jan Seyffert 1666. 44 Zu diesem vgl. Izabela Kaczmaryk: Adam Gdacjusz. Z dziejów kaznodziejstwa s´la˛skiego. Katowice: Biblioteka S´la˛ska 2003. 39
32 Dieser Teil der Geschichte der Literatur in Deutschand musste jedoch ebenso ausgeblendet werden wie die Existenz einer polnischsprachigen Literatur im Deutschland des 19. Jahrhunderts. In Poznan´ (Posen), eine der historisch wichtigsten Städte Polens und während der Zeit der Teilungen ein Zentrum der ‘organischen Arbeit’, mit der die polnische Gesellschaft in den drei Teilungsgebieten auf einen neuen gemeinsamen und eigenen polnischen Staat hinarbeiten wollte, war polnisches Kultur- und Literaturleben selbstverständlich und bedürfte eines eigenen Aufsatzes.45 In der Stadt gab es wichtige Autoren, Verlage, Theater, sogar eine Gesellschaft der Freunde der Wissenschaft, die eine Zeitlang die wichtigste polnische wissenschaftliche Institution überhaupt war. Noch während des Kaiserreiches entwickelte sich dort eine avantgardistische Szene, deren wichtigstes Organ, die Zeitschrift Zdrój, schließlich Kontakte auch mit der deutschen Aktion unterhielt. Dies alles ist ein wesentlicher Teil der polnischen Literaturgeschichte. Doch auch die durch jahrhundertelange friedliche Assimilation fast vollständig germanisierte schlesische Großstadt Breslau (1871 nach Berlin und Hamburg die drittgrößte im Deutschen Reich), in der es Ende des 19. Jahrhunderts nur noch eine – numerisch betrachtet – vernachlässigenswert kleine ansässige polnischsprachige Minderheit gab, war noch während des Kaiserreichs ein Zentrum der polnischen Literatur und Gelehrsamkeit.46 1798 war in noch vornationaler Zeit zur Ausbildung polnischsprachiger Pfarrer in den neuen polnischen Gebieten Preußens an der Breslauer Jesuitenhochschule ein polnisches Kolleg gegründet worden, nach Umwandlung der Hochschule in die Universität Breslau ging daraus schließlich 1841 ein slavistisches Institut hervor, das noch lange von polnischsprachigen Studierenden besucht wurde, obwohl es langsam einen deutsch-nationalen Kurs einschlug und gegen Ende des Kaiserreichs Polonistik als Mittel zur Bekämpfung des Polentums betrieb. Die Verlage Wilhelm Gottlieb Korn und Zygmunt Schletter in Breslau bildeten vom 18. bis ins 20. Jahrhundert wichtige Publikationsorte der polnischen Literatur, 1817 gründeten in Breslau polnische Studenten die Burschenschaft Polonia (die bis 1819 immerhin Mitglied der Allgemeinen deutschen Burschenschaft war), 1836 entstand dort (neben zahlreichen kleineren konkurrierenden polnischsprachigen Gruppierungen) eine Literarisch-slavische . Vgl. Literatura polska. Przewodnik encyklopedyczny. Hg. von Julian Krzyzanowski ⁄ und Czeslaw Hernas. Warszawa: PWN 1985. Bd. 2. S. 226–228. 46 Eine Geschichte der Stadt unter Berücksichtigung des polnischen Kulturanteils bieten Norman Davies und Roger Moorhouse: Die Blume Europas. Breslau – Wrocl⁄ aw – Vratislavia. Die Geschichte einer mitteleuropäischen Stadt. Aus dem Englischen von Thomas Bertram. München: Droemer Knaur 2002. Eine interkulturell angelegte Literaturgeschichte der Stadt in Einzelstudien ergibt der Band Wrocl⁄ aw literacki. Hg. von Marta Kopji, Wojciech Kunicki und Thomas Schulz. Wrocl⁄ aw: ATUT 2007. 45
33 Gesellschaft mit fast tausend Mitgliedern, der Tscheche Jan Evangelista Purkyneˇ (1787–1869), der mit Unterstützung Goethes in Breslau den Lehrstuhl für Physiologie erhalten hatte, war Mittelpunkt eines Kreises am Slawentum interessierter Gelehrter polnischer, tschechischer und sorbischer Herkunft (darunter der spätere sorbische Volksliedsammler Jan Arnosˇ t Smoler, 1816–1864), in Breslau versuchte Jerzy Samuel Bandtk(i)e (1768–1835) mit umfangreicher historiographischer Tätigkeit die These von einer Erstbesiedlung des östlichen Mitteleuropa durch die Germanen durch gezielte Beschränkung nur auf die fassbaren schriftlichen Dokumente anzuzweifeln und zu widerlegen u.s.w.47 Breslau war ein Zentrum polnischer Gelehrsamkeit, ohne dass dies freilich auf das deutschsprachige Kulturleben der Stadt und ihre deutschsprachige Bevölkerungsmehrheit allzuviel Auswirkung gehabt hätte. Für das Thema Interkulturalität von vielleicht noch größerer Relevanz als die zumeist in sich abgeschlossene polnische Kultur und Literatur in Posen und Breslau ist die polnischsprachige Literatur in jenen Gebieten, die traditionell mischsprachig waren und deshalb schon von sich aus zu einer Reflexion der kulturellen Wechselseitigkeiten, der Kontakte und Konflikte einluden. In Oberschlesien, das national umkämpft war und wo deshalb zahlreiche polnischsprachige Zeitungen und Zeitschriften existierten,48 lebten und wirkten Publizisten und Volksschriftsteller wie Juliusz Ligon´ (1879–1954) oder Piotr Kol⁄ odziej (1853–1931), die mit ihren Volksstücken oberschlesische, zwischen deutscher und polnischer Kultur ‘switchende’ regionale Identität und polnische Nationalbewegung miteinander zu vermitteln versuchten, oder Regionalschriftsteller wie Norbert Bonczyk (1837–1893), der unter germanisierter Namensschreibung, aber auf polnisch ein in Form, Sprache und mancherlei Motiven an Mickiewiczs polnisches Nationalepos Pan Tadeusz angelehntes Regional-Epos Stary Kos´ciol⁄ Miechowski verfasst hatte, in dem es nicht zuletzt um die Frage des Miteinanders zwischen deutsch- und polnischsprachigen Oberschlesiern ging.49 Zu nennen wären (mit ähnlicher Themenstellung) auch Konstanty Damrot (1841–1895) oder Aleksander Skowron´ski (1863–1934). Selbst nach 1921, als Oberschlesien zwischen dem deutschen Reich und dem neu erstandenen polnischen Staat aufgeteilt worden war, verblieb im deutschen Teil Oberschlesiens eine beträchtliche 47
Jerzy Samuel Bandtke: Historisch-kritische Analecten zur Erläuterung der Geschichte des Ostens von Europa. Breslau: Meyer 1802. 48 Vgl. Bernhard Gröschel: Die Presse Oberschlesiens von den Anfängen bis zum Jahre 1945. Dokumentation und Strukturbeschreibung. Mit einem Vorwort von Gerhard W. Wittkämper. Berlin: Gebr. Mann 1993. 49 Nobert Bontzek [Nobert Bonczyk]: Stary Kos´ciol⁄ Miechowski. Obrazek obyczajów wiejskich w narzeczu górnos´la˛skiem. Bytom 1883 [Neuausgabe: Katowice: S´la˛sk 1987].
34 polnischsprachige Minderheit, die weiterhin über eigene Autoren wie die bei den polnischen Oberschlesiern populären Volksdichter Jakub Kania (1872–1957) oder Szymon Koszyk (1891–1972) verfügte. Aber auch in Westpreußen gab es mit den Kaschuben eine den Polen sprachlich und kulturell sehr nahe stehende slawische Minderheit, deren bedeutendstes literarisches Werk, Hieronim Derdowskis (1852–1902) O panu Czerlon´scim co do Pucka po sece jachol⁄ ,50 Wert und Rang eines kaschubischen Nationalepos für sich beanspruchen darf. In Ostpreußen hatten bereits im 17. Jahrhundert zahlreiche polnische Arianer Zuflucht vor der Gegenreformation gefunden, unter ihnen mit Zbigniew Morsztyn (1628–1689) einer der bedeutendsten Barockdichter Polens.51 In konfessionell umgekehrter Richtung hatte seit 1766 Igancy Krasicki (1735–1801), einer der wichtigsten Autoren der polnischen Klassik, den (katholischen) Bischofsstuhl von Ermland inne.52 Von Voltaires engen Beziehungen zu Preußen weiß man in Deutschland. Was weiß man von Morsztyn und Krasicki? Im Kaiserreich, während der Weimarer Rrepublik und sogar noch während des “Dritten Reiches” lebte in Masuren schließlich mit Michal⁄ Kajka (1858–1940) ein polnischssprachiger Volksschriftsteller, der bei eher geringem literarischem Wert doch von größtem interkulturellem Interesse sein muss, drückt in ihm die Ambivalenz einer mit Kolonialisierungsmaßnahmen überzogenen ethnischen Minderheit sich allein dadurch schon deutlich aus, dass er sich zugleich für die polnische Sache einsetzen und – polnische – Gedichte auf Kaiser Wilhelm II. verfassen konnte.53 Von literarisch größerem Wert ist Wojciech Ke˛ trzyn´ ski (1838–1918), der sich, geboren als Adalbert von Winkler, aufgrund seiner polnischen Herkunft umbenannte und auch in seinen literarischen Texten von der deutschen zur polnischen Sprache wechselte. Sein aus interkultureller Sicht bedeutendstes Werk ist sicherlich sein Liederbuch eines Germanisierten.54 Daneben wären für Ostpreußen neben vielen anderen noch zu nennen Andrzej Samulowski, ein Volksdichter aus dem Ermland (1840–1918), und die Schriftstellerin Maria Zientara-Malewska (1894–1984), die beide innerhalb
50 Hieronim Derdowski: O Panu Czorlin´ s´cim co do Pucka po sece jachol⁄ . Torun´ 1880 [Neuausgabe Torun´: Towarzystwo Bibliofilów im. J. Lelewela 1975]. 51 Andreas Kossert: Masuren. Ostpreußens vergessener Süden. München: Pantheon 2006. S. 71. 52 Vgl. Stanisl⁄ aw Achremczyk: Ignacy Krasicki, nie tylko poeta. Olsztyn: Littera 2001. . 53 Vgl. Rafal⁄ Zytiniec: Zwischen Verlust und Wiedergewinn. Ostpreußen als Erinnerungslandschaft der deutschen und polnischen Literatur nach 1945. Osnabrück – Olsztyn: fibre, Borussia 2007. S. 172–194. 54 Wojciech Ke˛ trzyn´ ski: Aus dem Liederbuch eines Germanisierten. Lwów: Zakl⁄ ad Narodowy im. Ossolin´skich 1938.
35 des Deutschen Reiches für die polnische Sache, Maria Zientara-Malewska sogar für einen Anschluss der polnischsprachig masurischen Gebiete Ostpreußens an Polen agitiert und gedichtet hatten. Von all dem wollte man im Deutschen Reich nichts wissen. Das Vergessen reicht bis heute. Selbst bedeutende polnische Schriftsteller wie Stanisl⁄ aw Ignacy Kraszewski (1812–1887) oder Stanisl⁄ aw Przybyszewski (1868–1927),55 die außerhalb dieser multikulturellen Gebiete und ohne Bezug zu den dort aktuellen Konflikten jahrzehntelang in Deutschland gelebt hatten und wie Kraszewski Romane mit deutschen Themen oder sogar wie Przybyszewski (der zur Geschichte der literarischen Moderne in Deutschland zu zählen ist) auch auf deutsch geschrieben hatten, haben es bis heute schwer, eine ähnliche Aufmerksamkeit in der deutschen Literaturgeschichtsschreibung zu finden, wie sie z.B. für Madame de Staël selbstverständlich ist. Deutsche Kulturarbeit war so sehr gegen die polnische Kultur gerichtet, dass sich zentrale Momente des deutschen Selbstbildes sogar aus dieser – verdrängten – Abgrenzung vom Polnischen herleiten lassen.56 Das Bewusstsein dafür fehlt jedoch. So ist es kein Wunder, dass unter dem Zeichen der “interkulturellen Literaturwissenschaft” fast schon bedauert wird, dass es in Deutschland so wenig relevante Kolonialisierungsliteratur gebe,57 die im Kampf gegen die polnische Kultur verfasste und einst sehr umfangreiche und weit verbreitete antipolnische Kolonialisierungsliteratur jedoch im Zusammenhang mit Kolonialisierungsfragen fast schon systematisch nicht beachtet wird. Prominentestes Beispiel wäre Gustav Freytags Soll und Haben.58 Die eigens zum Zweck der Bekämpfung des Polentums gegründete Kaiser-Wilhelm-Bibliothek (zu ihren Unterstützern gehörte auch Theodor Fontane) in Posen, um nur ein bedeutendes Beispiel herauszugreifen (es gäbe weitere), sollte als Kolonialisierungseinrichtung in Großpolen deutsche Literatur und entsprechende Bilder des als Assimilationsziel dargestellten “Deutschthums” verbreiten und polnische Literatur und Kultur zurückdrängen. Sie initiierte eine eigene Sonderform deutscher Kolonialliteratur, 55
Über Stanisl⁄ aw Przybyszewski. Rezensionen - Erinnerungen - Porträts - Studien (1892–1995). Rezeptionsdokumente aus 100 Jahren. Hg. von Gabriela Matuszek. Paderborn: Igel-Verlag 1995 (Kölner Arbeiten zur Jahrhundertwende 5. Literatur- und Medienwissenschaft 40). 56 Vgl. Hubert Orl⁄ owski: “Polnische Wirtschaft”. Zum deutschen Polendiskurs der Neuzeit. Wiesbaden: Harrassowitz 1996 (Studien der Forschungsstelle Ostmitteleuropa an der Universität Dortmund 21). 57 Hofmann: Interkulturelle Literaturwissenschaft [wie Anm. 4]. S. 35f. 58 Gustav Freytag: Soll und Haben. Roman in sechs Büchern. München: dtv 1978 [EA 1855]; vgl. dazu Izabela Surynt: Das ‘ferne‘, ‘unheimliche‘ Land. Gustav Freytags Polen. Dresden: Thelem 2004. 59 Maria Wojtczak: Literatur der Ostmark. Posener Heimatliteratur (1890–1918). Poznan´: Wydawnictwo Naukowe UAM 1998.
36 die “Ostmarkenliteratur”,59 die deutsche Überlegenheit beweisen, deutsches Vorrecht auf die polnischen Gebiete begründen und ihre polnischen Bewohner als kolonialisierungs- und germanisierungsbedürftig ‘unterkultiviert’ darstellen sollte. Umgekehrt wurde in dieser Bibliothek polnisches Schrifttum nur zum Zwecke der Bekämpfung der polnischen Nationalbewegung gesammelt und ausgewertet – und zum Zwecke strenger Zensur der Polizei ausgeliefert.60 Aufgebaut wurde so in Deutschland ein nicht nur antipolnischer, sondern ein insgesamt antislawischer Komplex, der das populäre deutsche Polen- und Slawenbild mit den in dieser Kolonialisierungsliteratur verbreiteten Stereotypen wie Unsauberkeit, Alkoholismus, Schlendrian, Verantwortungslosigkeit usw. bis heute beherrscht und fatale Rückwirkungen auch auf den Umgang mit der ältesten slawischen Minderheit in Deutschland hat, den einst etwas verächtlich als “Wenden” bezeichneten Sorben. Große Teile selbst noch des heutigen Deutschland waren ja einst slawisch besiedelt, die “Germania Slavica” erstreckte sich bis weit westlich der Elbe und wurde erst im Zuge der Christianisierung deutsch überformt.61 Viele Deutsche haben allein schon deshalb slawische Vorfahren. Reste slawisch sprechender Bevölkerungsteile hat es in den einzelnen Gebieten unterschiedlich lange gegeben, in der Lausitz, in den heutigen Bundesländern Sachsen und Brandenburg gibt es sie noch heute als eine kleine, mittlerweile gesetzlich geschützte und politisch geförderte Minderheit mit breit ausgebautem eigenen Kulturleben. Als Minderheit in Deutschland müssen die Sorben ihre Rolle immer auch im Verhältnis zur deutschen Mehrheit reflektieren – das deutsch-sorbische interkulturelle Verhältnis ist von Anfang an zentrales Thema der sorbischen Literatur, die, wie die der baltischen Völker, mit der Reformation begann: Das erste gedruckte sorbische Buch war eine Übersetzung von Luthers kleinem Katechismus, erst im 19. Jahrhundert entstanden eine national bewusste sorbische Literatur und eine sorbische Nationalbewegung, die es sich zur Aufgabe machten, sorbische Identität nach innen zu wahren und nach außen zu vertreten. Für die Entstehung der sorbischen Literatur wichtige Autoren waren der Lyriker Handrij Zeiler (1804–1872), der die sorbische Sprache überhaupt erst richtig literaturfähig gemacht hatte (aber auch über die sorbische Sprache arbeitete und als Mitbegründer der wissenschaftlichen Gesellschaft Mac´ica Serbska wesentlich zur Entstehung der Sorabistik beitrug),62 der bereits erwähnte Lieder- und Märchensammler Jan Arnosˇ t Smoler, der katholische Pfarrer Jakub Bart-C´isˇ inski (1856–1909),63 60
Vgl. Marek Rajch: Cenzura pruska w Wielkopolsce w latach 1848–1918. Poznan´: Wydawnictwo Poznan´skie 2004. 61 Christian Lübke: Germania Slavica. In: Deutsche und Polen [wie Anm. 34]. S. 26–33. 62 Meˇrc ´ in Völkel: Trac´ dyrbi Serbstwo. Budysˇ in: Domowina 1997. 63 Pawol⁄ Nowotny: Vorwort. In: Jakub Bart-C´isˇ inski: Glut des Herzens. Auswahl seiner Gedichte. Bautzen: VEB Domowina 1959. S. 5–14.
37 der gemeinhin als Begründer der national bewussten sorbischen Literatur gilt (und wegen seines Einsatzes für die sorbische Sache strafversetzt und in rein deutscher Umgebung eingesetzt wurde) und schließlich die Lyrikerin Mina Witkojc (1893–1975), die dem in Brandenburg gesprochenen niedersorbischen Dialekt zur Literaturfähigkeit verhalf (während ansonsten in sorbischer Literatur das in der sächsischen Oberlausitz beheimatete Obersorbische dominiert). Seit dem nationalen Erwachen der Sorben im 19. Jahrhundert gibt es eine bis heute ungebrochene Tradition sorbischer Literatur in Deutschland, deren Zuordnung zur deutschen Literaturgeschichte eine bis heute kaum angedachte Aufgabe darstellt:64 Müsste die sorbische Literatur als eine praktisch vollständig in Deutschland verfasste Literatur deutscher Staatsbürger nicht Teil der Geschichte der Literatur in Deutschland sein? Auch die sorbische Kultur wurde – in Brandenburg/Preußen mehr als in Sachsen – unterdrückt und unter Assmilationsdruck gesetzt, der preußische Kampf gegen “undeutsche” Bücher in Büchereien und Schulen, der Kampf gegen “nichtdeutsche” Sprache und Literatur richtete sich auch gegen sie. So ist es kein Wunder, dass sich sorbische Kultur in Sachsen weit besser erhalten hat als in Brandenburg. Nach 1945 wurde sie in der DDR dann unterstützt und gefördert – nicht zuletzt aus Angst, alte tschechische oder polnische Forderungen auf diese slawischen Gebiete könnten als Spätfolge der territorialen Neuordnung Europas nach 1945 bei der sorbischen Bevölkerung auf Sympathie stoßen (tatsächlich gab es unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg eine Strömung unter den Sorben, die einen Anschluss an die Tschechoslowakei forderten – während andere für den Verbleib bei Deutschland votierten und sich schließlich mit dem interkulturell interessanten Argument durchsetzten, der größere Sprach- und Kulturkontrast zur deutschen Umgebung verringere die Gefahr einer Assimilation im Vergleich zu drohender Tschechisierung in tschechischer oder Polonisierung in polnischer Umgebung).65 Das gegenwärtige literarische Leben der Sorben ist zwar überschaubar (die Gruppe der Sorben ist klein und wird aufgrund nun ökonomisch bedingter Abwanderung und Assimilation immer kleiner), aber doch zu umfangreich, um hier auch nur ansatzweise adäquat wiedergegeben werden zu können. Hinweisen möchte ich nur auf die interkulturell besonders interessante Lyrikerin Rózˇ a Domasˇ cyna (geb. 1951), die mit großer sprachlicher Kreativität zwischen dem Deutschen und dem Sorbischen ‘switcht’ und an einer unerwarteten
64
Einen Versuch, sorbische Gegenwartsliteratur wenigstens am Rande in einen Überblick deutscher Gegenwartsliteratur zu integrieren, habe ich unternommen in Jürgen Joachimstaler: Politik bis Pop. Gegenwartsliteratur in Deutschland 1980–2005. In: Orbis Linguarum 30 (2006). S. 37–64. Hier: S. 50. 65 Vgl. Jurij Breˇzan: Mein Stück Zeit. Berlin: Aufbau 2000 [EA 1989]. S. 287 und 292.
38 Erweiterung auch der deutschen Sprache arbeitet, indem sie (etwa in dem Band selbstredend selbzweit selbdritt66) ihre Existenz zwischen den Sprachen zu einer Vermischung deutscher und sorbischer Sprachelemente und zur Entwicklung einer dadurch entstehenden eigenen Kunstsprache nutzt, und auf den wohl bedeutendsten Schriftsteller der sorbischen Literaturgeschichte, den erst kürzlich verstorbenen Jurij Breˇzan (1916–2006), der, auf sorbisch und deutsch schreibend, den Brückenschlag zwischen beiden Literaturen versuchte, in der DDR einst vielgelesene Romane schrieb, aber auch die sorbische Sage von Krabat für deutschsprachige Leser in Form eines in Ost wie West erfolgreichen Jugendbuches zugänglich machte67 (Otfried Preußlers berühmtes Jugendbuch68 zehrt davon) und auf Basis dieser Sage in deutscher Sprache den wichtigsten Roman der sorbischen Literaturgeschichte verfasste: Krabat oder Die Verwandlung der Welt.69 Krabat erscheint darin als eine durch die Jahrhunderte und Jahrtausende in immer wieder neuer Gestalt wiedergeborene sorbische Figur, die in ewigem Gegensatz zu dem deutschen Adligen Reissenberg das bäuerlich einfache Volk verkörpert, das sich nur durch List und Zauberei vor der unterdrückenden Übermacht Reissenbergs zu bewahren vermag. Was in dieser kurzen Zusammenfassung wie eine simpel binäre Gegenüberstellung zweier stereotyper Figuren in einfacher Schwarz-Weiß-Malerei wirkt, wird durch die kompositorische Vielfalt des Romans aufgesplittert und zerlegt in ein verwirrend buntes Durcheinander tatsächlich gar nicht so einfacher Gegensätze: Nicht nur wechseln Handlungszeiten und -räume, Traum und Wirklichkeit und verschiedene Fiktionalitätsebenen quer zu aller Chronologie und Logik ständig bunt durcheinander, auch Krabat ist keineswegs nur ‘gut’, Reissenberg erweist sich spätestens bei seinen (Krabats) Gewissenskonflikten über den Umgang mit der Gentechnologie (Karbats jüngste Inkarnation ist ein Biogenetiker der das Geheimnis entdeckt hat, Menschen vollständig manipulieren zu können) als eine Gestalt seines Inneren, seine dunkle Seite. Kulturkonflikt und Modernisierungsdebatte, eine Sprachstil, Handlungsführung und Textaufbau bestimmende “Vielgestaltung” (wie Jean Paul das einst nannte) und Mischung, eine jede ästhetische ‘Reinheit’ unterlaufende polyglotte Ironie und Ambivalenz bei deutlicher Betonung kultureller Hybridität (nicht umsonst gebrauche ich hier dieselben Worte wie bei Johann Georg Hamann) erweisen den Roman als fast schon idealtypisches Beispiel postmoderner interkultureller Literatur avant la lettre. 66
Rózˇ a Domasˇ cyna: selbstredend selbzweit selbdritt. Berlin: Janus Press 1998. Jurij Breˇzan: Cˇ orny ml⁄ yn. Budysˇ in: Domowina 1968; deutsche Fassung: Die schwarze Mühle. Berlin: Neues Leben 1968. 68 Otfried Preußler: Krabat. Würzburg: Arena 1971. 69 Jurij Breˇzan: Krabat oder Die Verwandlung der Welt. Roman. Mit einem Vorwort von Peter Handke. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2004 [EA Berlin: Neues Leben 1976]. 67
39 Doch mag Breˇzan auch davon überzeugt sein, “mit diesem Buch zur deutschen Literatur beigetragen zu haben”,70 als – und sei es auch in deutscher Sprache verfasste – sorbische Literatur hat das Buch in Deutschland nicht die verdiente Anerkennung gefunden. Außerhalb Deutschlands wird es bereits zur Weltliteratur gezählt. Sorbische Literatur wird so bis heute kaum dort, wo sie (noch immer) geschrieben wird, in Deutschland nämlich, sondern (fast) nur in unseren Nachbarländern rezipiert: “Daß Dissertationen zu ‘Krabat’ in Litauen, Rußland, Polen und auch hier im Lande verfaßt wurden, tröstete mich wenig darüber, daß das Buch in der literarischen Öffentlichkeit der Bundesrepublik offenbar als nicht erschienen galt”.71 Dies freilich ist ein Problem nicht nur dieses einen Buches, sondern des Umgangs der deutschen literarischen Öffentlichkeit mit der umfangreichen älteren interkulturellen Literatur in Deutschland überhaupt, deren jüngstes Beispiel Krabat nur darstellt. Interkulturelle Literaturwissenschaft in Deutschland hat deshalb darauf zu achten, dass sie ihren Gegenstand nicht so eng definiert, dass sie damit unfreiwillig das falsche nationalistische Selbstbild einer bis 1945 nur deutschen Literatur und Kultur in Deutschland fortsetzt. Sie würde sich damit nicht nur gewichtiger Argumente berauben, sondern auch selbst perpetuieren, was in Frage zu stellen doch ihre Aufgabe ist.
70
Jurij Breˇzan: Ohne Paß und Zoll. Aus meinem Schreiberleben. Leipzig: Gustav Kiepenheuer 1999. S. 211. 71 Ebd.
II. Begriffliches
Karl Esselborn
Neue Zugänge zur inter/transkulturellen deutschsprachigen Literatur This chapter surveys a series of recent publications on the issue of ‘intercultural German literature’ and discusses the various concepts of ‘Intercultural German Studies’ developed therein. It serves as a critical introduction to the various theoretical approaches towards inter- and transcultural German literature over the last decade and the challenges a globalising German literature poses to the academic subject ‘Germanistik’ and its attempts to systematise and contain this heterogeneous field.
Eine ganze Reihe von Neuveröffentlichungen zum Thema ‘interkulturelle Literatur’ bzw. ‘interkulturelle Literaturwissenschaft’ ließ zuletzt ein neues Interesse der deutschen Literaturkritik wie auch der Germanistik an einem Gegenstandsbereich erkennen, der lange Zeit durch das traditionelle germanistische Konzept einer monolingualen und kulturell homogenen ‘Nationalliteratur’ im Sinne des 19. Jahrhunderts verstellt war. Erst seit dem unübersehbaren Hervortreten der Literatur der Arbeitsmigration seit den 1980er Jahren waren neue und ältere Formen einer offenen, hybriden, ‘interkulturellen’ deutschsprachigen Literatur von der Literaturwissenschaft zunehmend wieder wahrgenommen und unter dem Einfluss von multicultural und postcolonial studies und des cultural turn auch in den Philologien zum Gegenstand einer transnational und kulturwissenschaftlich erweiterten Germanistik gemacht worden. Die Perspektiven haben sich seither beständig weiter verschoben, wie die letzten Tagungen zur deutschsprachigen Literatur der Migration und Interkulturalität in Berlin (2000), Prag (2002), Istanbul (2003) oder Wrocl⁄ aw (2005) oder Themen der IVG 2005 in Paris ‘Germanistik im Konflikt der Kulturen’ zeigen. So enthalten auch die jüngsten Abhandlungen veränderte Sichtweisen, die neue Zugänge zu interkulturellen Zusammenhängen der deutschen Literatur – von der Minderheiten- und Migrationsliteratur bis zu den Beiträgen zu einer neuen postkolonialen Weltliteratur – öffnen und deshalb hier als Einführung in das Thema kurz vorgestellt werden sollen. Literaturkritik und Literaturwissenschaft reagieren dabei nicht zuletzt auf die aktuellen Diskurse über Migration, kulturelle Hybridisierung und weltweite Globalisierung und deren nicht zu übersehende Auswirkungen auf (Populär-)Kultur und Literatur. Wenn Migration am Ende des Jahrhunderts der Vertreibungen und Verschleppungen, der ethnischen Säuberungen, der großen internationalen Flüchtlings-, Asylanten- und Migrantenströme zunehmend unter dem Zeichen von Globalisierung und neuer Mobilität steht, so erklärt dies vielleicht auch die literarischen Erfolge der jüngsten Vertreter der Minderheitenliteratur
44 in Deutschland oder der nach der Wende von 1989 eingewanderten jungen Autoren wie Dimitré Dinev, Wladimir Kaminer, Yadé Kara u.a., welche kaum noch als Fremde, sondern vor allem im populären Literaturbetrieb von Slam-Poetry oder Rap (ganz zu schweigen vom Film) als selbstverständlicher Teil einer internationalen, transkulturellen (Post-)Moderne wahrgenommen werden. Dass die renommierte Literaturzeitschrift TEXT KRITIK im September 2006 einen Sonderband zu Literatur und Migration herausbrachte (nachdem die letzten Zeitschriftennummern zu ähnlichen Themen Ende der 1980er Jahre erschienen waren), muss inzwischen nicht mehr besonders begründet werden: “Auch im deutschsprachigen Raum bestimmen heute transkulturelle Bewegungen literarische Themen, Schreibweisen und poetologische Konzepte” (Umschlagtext).1 In den 20 Beiträgen des Bandes wird ein aktuelles, verändertes Bild der ‘Migrantenliteratur’ in ihrer ganzen Breite geboten, vom Rückblick auf das 19. und frühe 20. Jahrhundert, als die Einwanderung der Fremden (besonders aus dem Osten) nach Europa bei Thomas Mann, Stefan Zweig oder Joseph Roth schon als Überflutung, als “Seuche” und als kulturelle Auflösung bzw. als bedrohliche nomadische Bewegung empfunden wurde, über die Diskussion der neuen Migrantenliteratur, etwa in ihrer deutsch-türkischen Variante, bis zur transkulturellen Gegenwartslyrik oder auch zu Romanen des Emigranten W.G. Sebald. Neben den bekannten jüngeren Autoren wie Zafer S¸enocak, Emine Sevgi Özdamar, Yoko Tawada, Terézia Mora, Wladimir Kaminer, Feridun Zaimog˘lu, Dimitré Dinev (von denen einige selbst zu Wort kommen) werden auch rumäniendeutsche Exilanten und postkoloniale afrikanische Autoren in Deutschland vorgestellt und Beispiele der deutlich weiter entwickelten französisch-maghrebinischen und der angloamerikanischen Literatur des black atlantic gegeben. Neben ihrer Bedeutung für die Kinder- und Jugendliteratur in Deutschland wird ausführlich auch die aktuelle Rolle dieser Literatur für die deutschen Verlage angesprochen. Diese ist am einleuchtensten etwa am Beispiel von Emine Sevgi Özdamar zu begründen, deren Bachmann-Preis von 1991 eine Wende in der Wahrnehmung der Migrantenliteratur einleitete. Sie wird nun als ästhetisch avanciert und von (exotischer) erzählerischer Üppigkeit – besonders im Vergleich mit dem ‘Erzähldefizit’ der deutschen Gegenwartsliteratur – vom Leser sehr positiv aufgenommen. Die reflektierte orale Tradition im Erzählen von Geschichte in Familien- und Migrationsgeschichten macht auch Dimitré Dinevs Roman Engelszungen (2003) und andere Migrantenliteratur so überzeugend, dass sie sich “zu einer Hüterin des Literarischen selbst” entwickelt haben
Vgl. Literatur und Migration. Text Kritik Sonderband IX/2006. Hg. von HeinzLudwig Arnold. München: edition text kritik 2006. 1
45 (so Martin Hielscher vom Beck-Verlag).2 Bei dieser neuen Begeisterung der Verlage erscheinen auch literarische Preise für Bestseller junger Autorinnen und Autoren “mit Migrationshintergrund” (die man lange der ‘Sondersparte’ des Adelbert-von-Chamisso-Preises überließ) im aktuellen deutschen Literaturbetrieb nicht mehr ungewöhnlich.3 All dies passt gut zur zunehmend positiven Rolle, die neuerdings ‘inländische Ausländer’ nicht nur im populären Literatur- und Musikbetrieb oder in den deutschen Unterhaltungsmedien spielen, wo sie etwa als Comedians der kommerziellen Fernsehsender für den ‘Globalkolorit’ sorgen, sondern (wie Faith Akin u.a.) auch im offiziellen deutschen Film. Die traditionelle Germanistik hat dagegen immer noch Mühe, von den älteren Vorurteilen gegen eine vermeintlich nur in konventionellen literarischen Formen die Realitäten abbildenden und die Ästhetik vernachlässigenden ‘Gastarbeiterliteratur’ (deren Entwicklung man deshalb nicht weiter verfolgte) zur angemessenen Würdigung der nun plötzlich erfolgreichen Migrantenautoren überzugehen.4 Von der frühen Thematisierung des leidvollen Heimatverlusts und der Identitätssuche zwischen den Kulturen in der deutsch-türkischen Literatur der ersten Migrantengeneration springt man dann recht unvermittelt zu einer “ethnographischen Poetik” der jüngsten Autoren wie Özdamar, Özdog˘an oder Zaimog˘lu, die zuletzt die Geschichte der Eltern in “differenten performativen Individuationsgeschichten” erzählen, “die kulturelle Verortungen und Ortlosigkeiten in sich tragen und nicht länger repräsentieren”5 – wobei allerdings die Besonderheit des ethnographischen Blicks auf das fremde Eigene nicht so recht deutlich wird. Oder man
2
Martin Hielscher: Andere Stimmen – andere Räume. Die Funktion der Migrantenliteratur in deutschen Verlagen und Dimitré Dinevs Roman Engelszungen. In: Literatur und Migration [wie Anm. 1]. S. 196–208. Hier: S. 207. 3 Neben den speziellen Preisen wie dem “Adelbert-von-Chamisso-Preis”, dem österreichischen Preis “Schreiben zwischen den Kulturen” oder dem “May Ayim Award” u.a. ging zuletzt etwa der Preis der Leipziger Buchmesse 2006 an Ilija Trojanows Der Weltensammler (2006). 4 Die literaturwissenschaftliche Diskussion über die Migrations- und Minderheitenliteratur war, vor allem in einer komparativen Auslandsgermanistik, eigentlich schon deutlich weiter fortgeschritten, bes. in Sammelbänden aus dem Zusammenhang internationaler Tagungen: Denn du tanzt auf einem Seil. Positionen deutschsprachiger MigrantInnenliteratur. Hg. von Sabine Fischer und Moray McGowan. Tübingen: Stauffenburg 1997; Interkulturelle Konfigurationen. Zur deutschsprachigen Erzählliteratur von Autoren nichtdeutscher Herkunft. Hg. von Mary Howard. München: iudicium 1997; Migration und Interkulturalität in neueren literarischen Texten. Hg. von Aglaia Blioumi. München: iudicium 2002 u.a. 5 Özkan Ezli: Von der Identitätskrise zu einer ethnographischen Poetik. Migration in der deutsch-türkischen Literatur. In: Literatur und Migration [wie Anm. 1]. S. 61–73. Hier: S. 68 und S. 72.
46 konzentriert sich gleich ganz auf die “weitreichenden ästhetischen Konsequenzen” dieser Literatur und etwa auf die Frage, wie die “Poetik der Migration” Yoko Tawadas mit der “verfremdenden Inszenierung kultureller Phänomene” das “ästhetische und analytische Potential kultureller Differenz” ausschöpft und “neue und unerwartete Perspektiven freisetzt”.6 Indem man Beziehungen zur deutschen Gegenwartsliteratur (speziell zu einer “Poetik der Fremde”: K. Siblewski zu Terézia Mora7) oder zu älteren literarischen Modellen der europäischen Moderne oder des Surrealismus herstellt, glaubt man Tawada, Özdamar oder Herta Müller aus dem “Reservat des Dazwischen”, des Schreibens zwischen zwei Welten befreien zu können.8 Der Sache gerechter werden jedoch eher konkrete Untersuchungen etwa zum “Unterwegs-Sein” in der transkulturellen Gegenwartslyrik und zu den literarischen Themen und Schreibstrategien von Adel Karasholi, Zehra Çırak, José Oliver und Zafer S¸enocak, die durch vielgestaltigen Perspektivenwechsel und eine innovative hybride Sprache eine neue Identität im Dazwischen finden.9 An die aktuelle Literaturszene führen am nächsten die “Popkulturelle(n) Positionierungen” in Wladimir Kaminers Russendisko und Feridun Zaimog˘lus Kanak Sprak zu Zeiten des Popliteratur-Booms Ende der 1990er Jahre heran, als auch die Kanak Attak-Bewegung der subkulturellen und minoritären Popbewegung nahe stand, aber die deutsche “Generation Golf ” ebenso ablehnte wie MTV und Musikantenstadel.10 Allerdings werden die Konzepte der neuesten Anthologien wie Kanaksta (1999), MorgenLand (2000), Döner in Walhalla (2000), Feuer, Lebenslust (2003) (interessant wären auch die Schweizer und österreichischen oder die deutschafrikanischen Anthologien) zu einer Neupositionierung der ‘Migrationsliteratur’ (im Vergleich mit den frühen Sammelbänden der ‘Gastarbeiterliteratur’) eher skeptisch beurteilt.11 Die letzten
6
Hansjörg Bay: Wo das Schreiben anfängt. Yoko Tawadas Poetik der Migration. In: Literatur und Migration [wie Anm. 1]. S. 109–119. Hier: S. 109. 7 Klaus Siblewski: Tezézia Moras Winterreise. Über den Roman Alle Tage und die Poetik der Fremde. In: Literatur und Migration [wie Anm. 1]. S. 211–221. Hier: S. 221. 8 Vgl. Bettina Brandt: Schnitt durchs Auge. Surrealistische Bilder bei Yoko Tawada, Emine Sevgi Özdamar und Herta Müller. In: Literatur und Migration [wie Anm. 1]. S. 74–83. Hier: S. 74f. 9 Vgl Andreas Blödorn: Nie da sein wo, man ist. ‘Unterwegs-Sein’ in der transkulturellen Gegenwartsliteratur. In: Literatur und Migration [wie Anm. 1]. S. 134–147. 10 Vgl. Thomas Ernst: Jenseits von MTV und Musikantenstadl. Popkulturelle Positionierungen in Wladimir Kaminers Russendisko und Feridun Zaimog˘lus Kanak Sprak. In: Literatur und Migration [wie Anm. 1]. S. 148–58. 11 Vgl. Julia Abel: Positionslichter. Die neue Generation von Anthologien der ‘Migrationsliteratur’. In: Literatur und Migration [wie Anm. 1]. S. 233–45.
47 Beiträge des Bandes verweisen auf die sichtlich weiter entwickelte angloamerikanische und französische ‘Migrationsliteratur’, auf Black Britain oder Black Atlantic, wo die irreversible Trans-Lokation in eine Neue Welt sich mit dem Gedächtnis der Herkunft verbindet, oder auf die maghrebinische Literatur, die das koloniale Französisch zur Fortschreibung arabisch-islamischer und berberischer Kultur nutzt, um ein kultur- und textübergreifendes Gedächtnis zu schaffen. Sie machen besonders deutlich, dass die deutsche Germanistik noch keine vergleichbaren Konzepte einer gegenwärtigen (deutschsprachigen) Migrantenliteratur als eigenständiger hybrider Neuschöpfung mit eigener Poetik – und als eines besonders avancierten, nicht nur marginalen Teils der zeitgenössischen deutschen Literatur – entwickelt hat, die auch nicht mehr aus dem Reservat der Migrationsliteratur herausgeholt und dem nationalen monokulturellen Literaturkanon einverleibt werden muss, sondern wesentlich zu dessen Sprengung und interkultureller Öffnung beiträgt. Die deutschsprachigen Romane von Ota Filip, Libusˇe Moníková, Franco Biondi, Francesco Micieli usw. bis hin zu Vladimir Vertlib, Artur Becker, Dimitré Dinev u.a. bezogen sich immer schon gleichzeitig auf ihre (benachbarten) Herkunftsländer und waren Teil auch von deren Emigranten- und Exilliteratur. Erst recht war die deutschtürkische Literatur schon immer auch eine nach Europa gewanderte türkische Literatur in mehreren Sprachen; so wie auch Rafik Schamis letzter großer Roman Die dunkle Seite der Liebe (2004) ihn an die Seite der großen syrischen Autoren stellt (vergleichbar mit französischschreibenden Autoren des Nahen Orients wie Amin Maalouf u.a.). Und man muss nicht erst an Yoko Tawada oder Ilija Trojanows Der Weltensammler (2006) erinnern, um den transnationalen Charakter dieser (nicht nur) deutschsprachigen deutschen Literatur schnell zu erkennen. Die historische interkulturelle Literatur aus den mehrsprachigen Grenzregionen Europas, wie die Regionalliteraturen im Elsaß, in Luxemburg, im Alpen-Adria-Gebiet waren schon seit den späten 1960er Jahren wiederentdeckt und wiederbelebt worden.12 Nach der Wende von 1989 wurde auch die historische (post-)koloniale Literatur des Vielvölkerstaats Österreich-Ungarn – dessen Hauptstadt Wien um 1900 ähnlich multikulturell war wie die heutigen internationalen Zentren13 – aus einer neuen postkolonialen Perspektive etwa
12
Vgl. Über Grenzen. Literaturen in Luxemburg. Hg. von Irmgard Honnef-Becker und Peter Kühn. Esch/Alzette: Editon Phi 2004 oder das Alpen-Adria-Projekt der Universität Klagenfurt. 13 Wie etwa Moritz Czaky im Forschungsprojekt Habsburg Postcolonial (2003) gezeigt hat.
48 unter dem Titel Kakanien revisited oder Habsburg Postcolonial14 auf die komplexen Zusammenhänge von “Herrschaft, ethnische(r) Differenzierung und Literarizität in Österreich-Ungarn 1867–1918”15 untersucht. Aspekte einer “inneren Kolonisierung” der Regionen des wirtschaftlich, sozial und kulturell sehr unterschiedlich entwickelten Vielvölkerstaats Österreich-Ungarn im Bereich der Sozial-, Bildungs- und Sprachenpolitik bzw. eines gemeinsamen kollektiven Gedächtnisses speziell in der Literatur (wie beim von Claudio Magris beschriebenen Mythos der Donaumonarchie16) wurden thematisiert. Dass der koloniale und postkoloniale Diskurs durchaus auch auf Österreich und Deutschland anzuwenden ist, hatte zuletzt der Sammelband (Post-) Kolonialismus und deutsche Literatur17 gezeigt, der vor allem an den “phantasierten Kolonialismus”, schon für die Zeit vor (und nach) dem Erwerb deutscher Kolonien und die ‘kolonialen Imaginationen’ in den “kulturellen Resonanzräumen kolonialer Bestrebungen”, speziell der Literatur (Honold/Simons) erinnerte.18 H.Uerlings betont zugleich den “strukturellen Zusammenhang zwischen äußerer und innerer Kolonisierung” (gegen Migranten, Juden, ‘Zigeuner’), die mit dem zentralen ethnisierenden Inferioritätsaxiom mittels Analogiebildungen, Überlagerungen und metaphorischer Verschiebungen
14
Habsburg Postcolonial. Hg. von Johannes Feichtinger, Ursula Prutsch und Moritz Csaky. Innsbruck – Wien – Bozen: Studien Verlag 2003; Kakanien revisited. Das Eigene und das Fremde (in) der österreichisch-ungarischen Monarchie. Hg. von Wolfgang Müller-Funk, Peter Plener und Clemens Ruthner. Tübingen – Basel: Francke 2002 (Kultur – Herrschaft – Differenz. Band 1). Siehe weiterhin Veröffentlichungen aus der Reihe ‘Paradigma: Zentraleuropa’ im Studien Verlag: Kultur – Identität – Differenz. Wien und Zentraleuropa im 20. Jahrhundert. Hg. von Moritz Csáky, Astrid Kury und Ulrich Tragatschnig. Innsbruck – Wien – Bozen: Studien Verlag 2004; Inszenierungen des kollektiven Gedächtnisses. Eigenbilder, Fremdbilder. Hg. von Moritz Csáky und Klaus Zeyringer. Innsbruck – Wien – Bozen: Studien Verlag 2002 u.a. 15 So der Titel des österreichischen Forschungsprojekts. Vgl. Clemens Ruthner: Kulturelle Imagines und innere Kolonisierung. Ethnisch kodierte Selbst- und Fremdbilder der k.u.k. Monarchie – eine Projektskizze. In: Czáky/ Zeyringer 2002 [wie Anm. 14]. S. 30–53. 16 Vgl. Claudio Magris: Der habsburgische Mythos in der modernen österreichischen Literatur [1963]. Wien: Paul Zsolnay 2000. 17 (Post-)Kolonialismus und deutsche Literatur. Impulse der angloamerikanischen Literatur- und Kulturtheorie. Hg. von Axel Dunker. Bielefeld: Aisthesis 2005. Vgl. Heinz Antor: Postkoloniale Studien. Entwicklungen, Positionen, Perspektiven. In: Sprachkunst 33 (2002). S. 115–130. 18 Kolonialismus als Kultur: Literatur, Medien, Wissenschaft in der deutschen Gründerzeit des Fremden. Hg. von Alexander Honold und Oliver Simons. Tübingen – Basel: Francke 2002. Einleitung. S. 7–15.
49 ein sehr breites und komplexes Feld hierarchisierter Oppositionen bilden kann, das eine Kultur strukturiert.19 Kolonialismus, Dekolonisierung und eine Globalisierung, die viele Ungleichheiten der Kolonialzeit fortsetzt, versteht er als aufeinander folgende Schritte auf dem Weg zur Herausbildung einer Weltgesellschaft. Sein Verweis auf die ältere osteuropäische Kolonisation betrifft nicht nur die interkulturelle postkoloniale (binnenkoloniale) Literatur des multiethnischen Österreich-Ungarn, sondern auch die der preußisch-polnischen Grenzregionen wie Oberschlesien, des größeren Ostseeraums oder ‘Sarmatiens’, wie sie eine neu sich formierende osteuropäische ‘Anrainergermanistik’ schon vor der historischen Wende von 1989 zu untersuchen begann. Besonders die polnische Germanistik beschäftigt sich intensiv mit den gemeinsamen konfliktreichen kulturellen und literarischen Traditionen der multikulturellen Grenzregionen und ihren ‘Grenzliteraturen’, von der älteren meist aggressiv-nationalen ‘Grenzlandliteratur’ bis zur Nachkriegsliteratur der deutschen und polnischen Heimatvertriebenen,20 und schließlich der polnisch-deutschen Migrantenliteratur von der Nachkriegszeit bis zu den jüngsten Autoren wie Radek Knapp, Arthur Becker, Dariusz Muszer u.a.21 Das auf der Warschauer Konferenz “Deutsch und Auslandsgermanistik in Mitteleuropa” 1996 von den Germanistiken in Ostmitteleuropa entwickelte Konzept einer eigenständigen, sich von der Inlandsgermanistik deutlich absetzenden ‘Anrainergermanistik’ geht vom besonderen historischen Verhältnis zu den deutschsprachigen Ländern und den gemeinsamen sprachlichen und literarischen Traditionen in Grenzgebieten und damit von der “empirischen
19
Herbert Uerlings: Kolonialer Diskurs und deutsche Literatur. Perspektiven und Probleme. In:. Duncker [wie Anm. 17]. S. 17–44. 20 Vgl. Rafal⁄ Zytyniec: Heimatverlust in der polnischen und deutschen Literatur nach 1945 – ein Topos, zwei Erinnerungskulturen, der Gemeinsamkeiten der Erfahrungen und Unterschiede der offiziell geförderten bzw. unterdrückten kollektiven Erinnerung herausarbeitet. In: Literatur Grenzen Erinnerungsräume. Erkundungen des deutsch-polnisch-baltischen Ostseeraums als einer Literaturlandschaft. Hg. von Bernd Naumann u.a. Würzburg: Königshausen & Neumann 2004. S. 211–246. Siehe auch Hans-Christian Trepte: Postdeutsch (po niemieckie) – Zur Problematik des westlichen Grenzlandes (kresy) in der polnischen Gegenwartsliteratur. Ebd. S. 393–412. Bei einer Reihe jüngerer polnischer Autoren wie Huelle, Chwin, Iwasiów u.a.wird die Erinnerung an das historische Erbe des schlesischen Raums oder der früheren multiethnischen regionalen Zentren wie Danzig, Breslau, Posen usw. wieder thematisiert. . 21 Vgl. Elzbieta Katarzyna Dzikowska: Zwischen Eigentum und Erbe. Zur Wahrnehmung des schlesischen Raumes in der polnischen Literatur nach 1945. In: Convivium. Germanistisches Jahrbuch 2004. S. 107–117.
50 Interkulturalität” der Gegenstände aus, die ihren besonderen Status ausmachen und ihre “doppelte Optik” und “Rückbezüglichkeit” (Wierlacher) begründen.22 Das zuletzt von Jürgen Joachimsthaler (an einer polnischen Universität entwickelte) Konzept einer “Philologie der Nachbarschaft”23 nimmt die von der polnischen Germanistik in einer Art Identitätsarchäologie begonnene Erforschung deutscher Traditionen und Einflüsse und das neue Interesse an der multinationalen Geschichte der Region konsequent auf, wie es zuletzt in zahlreichen polnisch-deutschen Symposien zur “Literatur des Grenzlandes” sichtbar wurde (wozu auch die lange tabuisierte Literatur der Vertriebenen beider Seiten wie die polnische “Ankunftliteratur” als “nachträgliche” Variante gehört). Er entwirft dabei ein “Literarisches Kulturraummodell Oberschlesien”, dem es (literatursoziologisch) um die sich überschneidenden kulturräumlichen Gegebenheiten wie um das (auch) literarisch entworfene Bild der komplexen, vielschichtigen Region mit mehrfachen Zugehörigkeiten geht. Im Blick auf die “nichtdeutschen” Traditionen Mitteleuropas (und den germanistischen Beitrag der östlichen Nachbarn) wäre die konsequente Überschreitung der Nationalphilologien, die das Andere systematisch ausschlossen, in Richtung auf eine “Europäische Philologie” erforderlich. Joachimsthalers Kritik einer interdisziplinären “Interkulturalitätsforschung” konzentriert sich allerdings (erkenntnistheoretisch) auf das “fehlende Dritte” im Unterscheiden – in Ablehnung der im systematischen Kulturvergleich nahe liegenden Binarität des ‘Eigenen’ und ‘Fremden’ mit ihren kulturessentialistischen Annahmen bzw. der dialektischen Konstruktion des Fremden aus dem Eigenen. Mit Derrida setzt er auf eine unabschließbare Signifikantenkette im Vergleichen (différance), der aber mit dem “Absoluten Signifikat” die utopische Form eines Dritten aller Unterscheidungen entgegengestellt wird, das die “Einheit des Unterschiedenen” wie der Unterscheidenden garantiert, in der das einzelne, das Eigene wie das Andere als zufälliges Bruchstück aufgeht, als bloße Variation des gemeinsamen Dritten. In einem solchen europäischen Universalismus theologischer Provenienz ist letztlich jede Fremdheit zumindest theoretisch doch wieder vereinnahmt. Über eine Germanistik der Nachbarschaft führen allgemeinere komparatistische Perspektiven hinaus. Die neuesten Ansätze auch aus dem angloamerikanischen und frankophonen Bereich, eine inter/transkulturelle postkoloniale 22
Alois Wierlacher: Fünf Thesen zur Neuorientierung der Germanistik in Mittel- und Osteuropa. In: Deutsch und Auslandsgermanistik in Mitteleuropa. Geschichte – Stand – Ausblicke. Dokumentation einer internationalen Konferenz 10.–12. 10. 1996. Hg. von Franciszek Grusza. Warzawa: Warzawa 1998. S. 580–58. Hier: S. 583. 23 Jürgen Joachimsthaler: Philologie der Nachbarschaft. Erinnerungskultur, Literatur und Wissenschaft zwischen Deutschland und Polen. Mit einem Nachwort von Marek Zybura. Würzburg: Königshausen & Neumann 2006.
51 Literatur vor dem Hintergrund zunehmender Migration und Globalisierung zu beschreiben, wurden jetzt konsequent von Elke Sturm-Trigonakis zusammengetragen, die systematisch versucht, für das gegenwärtige “Global playing in der Literatur” das Konzept einer hybriden “Neuen Weltliteratur” zu entwickeln.24 Diese wird sowohl von der neueren Migranten- und Minderheitenliteratur in Deutschland wie von einer mehrsprachigen Literatur der europäischen Nachbarschaft unterschieden und eher einer modernen, durch kulturelle Globalisierung veränderten, transkulturellen “nicht-seßhaften Literatur” (O. Ette) zugerechnet,25 aber auch gegen ältere Begriffe wie Commonwealthliteratur oder World Fiction u.a. abgegrenzt und im Bezug auf die neueren Diskurse des Postkolonialismus, der Cultural Studies, der Globalisierung, der Franco-, Hispano- und Lusophonie genauer zu definieren versucht. Denn Anglistik, Romanistik oder interkulturelle Germanistik konnten sie bisher nur als marginalen Teil der Nationalliteratur verstehen und keinen adäquaten Begriff für die multikulturelle und multilinguale Komplexität dieses postnationalen Schreibens entwickeln. Das neue (systemtheoretisch geschlossene) Ordnungssystem ‘Neue Weltliteratur’ wird nun ganz auf die spezifischen Merkmale der Multilingualität (mit vielfältigen sprachlichen Interferenzen, Transtextualität und Metamultilingualismus, wie sie die transkulturelle Ästhetik mischsprachiger Texte bestimmen) und der thematischen Konzentration auf Globalisierunsphänomene und Regionalismus- bzw. Lokalismuserscheinungen festgelegt, so dass es dabei ausschließlich um eine Literatur geht, die Migrationen aller Arten thematisiert, transnationale und transitorische Identitäten inszeniert und von globalisierungsbeeinflussten kulturellen Praktiken bei gleichzeitiger Verankerung in lokalen Gegebenheiten erzählt, in der Raum- und Zeitordnungen ihre kategoriale Bestimmtheit verloren haben und Heterogenität und Differenz dominieren. Allgemein gesprochen: eine Literatur, die “unter Einsatz von Mehrsprachigkeit kulturelle Hybridität als Korrelat zur globalisierten Umwelt” erzeugt.26 Denn da nach Sturm-Trigonakis eine strukturalistische “textanalysierende Literaturwissenschaft” die Biographie des Autors im Text oder seine sprachliche Kompetenz ebenso wie die sozialen und politischen Kontexte als außerliterarische Aspekte grundsätzlich ausgrenzt (obwohl das neue Verhältnis von zeichenverfasster Wirklichkeit und erfahrungsbezogener Zeichenwelt eine
24
Elke Sturm-Trigonakis: Global playing in der Literatur. Ein Versuch über die neue Weltliteratur. Würzburg: Königshausen & Neumann 2007. 25 Vgl. Ottmar Ette: Literatur in Bewegung. Raum und Dynamik grenzüberschreitenden Schreibens in Europa und Amerika. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2001. 26 Sturm-Trigonakis [wie Anm. 24]. S. 243. Zum Folgenden das Resümee S. 241ff.
52 solche Grenzziehung wenig sinnvoll erscheinen lässt27), können diese nur in ihrer literarischen Umsetzung als literarische Motive oder als ästhetische Strategien erscheinen. Das bedeutet letztlich, dass die konkreten komplexen Erfahrungen von Migration, kultureller Fremde, Hybridisierung und Globalisierung, die meist zum Anlass und Ausgangspunkt des Schreibens wurden, auf literarästhetische Strategien der Verfremdung reduziert werden. Kulturelle Differenzen und Konflikte werden so ästhetisch neutralisiert. Ohnehin wären für Sturm-Trigonakis die großen Autoren der ‘Neuen Weltliteratur’, die zunehmend gleichberechtigt zu denen der europäischen Moderne aufschließen, kaum noch unter der Perspektive von Widerstand und Antikolonialismus zu sehen – trotz der Gefahr einer ‘Normalisierung’ und ‘Philologisierung’ und der Vernachlässigung der Kontexte – : Sie haben bereits eine reflexive Distanz gewonnen, welche eine vermittelnde Synthese der fremden Elemente in einem ‘dritten Raum’ ermöglicht. Entscheidend bleiben die transnationalen Strategien zur Erzeugung fiktiver Wirklichkeiten und die Analyse narrativer Mechanismen, unterschieden nach Personal, Räumen, Orten und Zeitkonstruktionen in globaler und lokaler Perspektive. Entsprechend versuchen neuere literaturwissenschaftliche Ansätze bereits, den Postkolonialismus auf die Literatur einzugrenzen.28 Die früheren Forderungen, den eurozentrischen weltliterarischen Kanon zugunsten bislang benachteiligter peripherer oder ‘minoritärer Literaturen’ (im Sinne des politisch aufgeladenen Begriffs von Deleuze/Guattari29) zu sprengen, werden damit auch wieder unterlaufen. Bezeichnenderweise gerät auch Christian Jäger in seiner Habilitation Minoritäre Literatur. Das Konzept der kleinen Literatur am Beispiel prager- und sudetendeutscher Werke in große Schwierigkeiten, wenn er von Deleuze/Guattaris politischer Definition ausgeht, aber entsprechend dem “avanciertesten Stand” der Wissenschaft nur den einzigartigen Text außerhalb des Lebens und der Biographie des Autors, der bloß den Namen für einen Stil abgeben darf, als “textuelles Gefüge” oder “Stilistik der literarischen Maschine” gelten lassen will.30
27
Vgl. Günter Abel: Zeichen der Wirklichkeit. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2004. Zitiert bei Sturm-Trigonakis [wie Anm. 24]. S. 93. 28 Sturm-Trigonakis [wie Anm. 24]. Resümee S. 249f. 29 Vgl. Gilles Deleuze und Félix Guattari: Kafka. Für eine kleine Literatur. Frankfurt/M.: edition suhrkamp 1976. 30 Christian Jäger: Minoritäre Literatur. Das Konzept der kleinen Literatur am Beispiel prager- und sudetendeutscher Werke. Wiesbaden: DUV 2005. Vgl. auch Oliver Lubrich: Welche Rolle spielt der literarische Text im postkolonialen Diskurs? In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 2005 (1). S. 16–39.
53 Die Reduzierung ausgerechnet der Literatur der Migration, der Minderheiten und der Globalisierung auf den die Literaturwissenschaft vermeintlich allein legitimierenden Kernbereich, die “Literarizität” der Texte, und die tabuisierende Ausblendung des gesamten gesellschaftlichen Kontexts als Rahmen literarischer Kommunikation ist in ihren sehr unterschiedlichen (historischen) Motiven nur schwer nachvollziehbar und dürfte kaum zur interdisziplinären und gesellschaftlichen Relevanz und Akzeptanz der Philologien beitragen. Der traditionellen Germanistik näher bleibt die neueste Einführung in die Interkulturelle Literaturwissenschaft von Michael Hofmann,31 der einen sehr aktuellen Bereich der Literaturwissenschaft mit neuen wissenschafllichen Ansätzen und interkulturellen literarischen Texten für die Inlandsgermanistik erschließen möchte. In einer theoretischen “Grundlegung” stellt er zunächst die wichtigen Konzepte, Projekte und Modelle mit ihren unterschiedlichen Orientierungen und Begriffen wie ‘Kultur’, ‘Differenz’, ‘Interkulturalität’ oder ‘Fremdheit’ vor, danach die postkoloniale Perspektive und entsprechende Interpretationsansätze bei Bhabha (Hybridität, Dritter Raum, Mimikry) und Said (Orientalism). Die Literatur- und Kulturtheorie in interkultureller Perspektive ist mit der Hermeneutik des Fremden und der interkulturellen Hermeneutik (Wierlacher) vertreten, die besonders auf anthropologische Konstanten bezogen wird. Aus der Kritischen Theorie (Benjamin, Adorno) werden Konzepte von Kultur und Herrschaft bzw. herrschaftsfreier Kulturenbegegnung referiert (allerdings ohne den Toleranzbegriff). Derridas Dekonstruktion erscheint unter den Stichworten ‘Vorrang der Differenz’ und ‘Suspendierung definiter Bedeutung’ als Alternative zur Hermeneutik und ihren Grundprinzipien Synthese und Totalität. Das Programm der “interkulturelle(n) Literaturwissenschaft” wird anhand eines Artikels von Norbert Mecklenburg über “Kulturelle und poetische Alterität” entwickelt, der kulturelle Alterität im Spannungsfeld von Differenz und Universalismus sieht und ihr die poetische Alterität, die Distanz einer autonomen Literatur zu Sprache und Welt des Alltags (in (post)strukturalistischer, rezeptionsästhetischer, hermeneutischer Variante) zur Seite stellt – die allerdings doch auf eine ganz andere Erfahrungsebene gehört.32 Aus ihr wird “das spezifische interkulturelle Potential der Literatur” abgeleitet: Literatur als verfremdender Umgang mit Zeichen enthält und relativiert kulturelle Fremdheit, sensibilisiert für
31
Michael Hofmann: Interkulturelle Literaturwissenschaft. Eine Einführung. Paderborn: Fink/UTB 2006. 32 Vgl. Norbert Mecklenburg: Über kulturelle und poetische Alterität. Kultur- und literaturtheoretische Grundprobleme einer interkulturellen Germanistik. In: Hermeneutik der Fremde. Hg. von Dietrich Krusche und Alois Wierlacher. München: iudicium 1990. S. 80–102.
54 Differenzwahrnehmung überhaupt, übt als Simulation fremdkultureller Erfahrung (ohne Gewalt und Unterwerfung), als Experiment und Spiel in den Umgang mit Fremdheit und Differenz ein. Nach einem Hinweis auf Leo Kreutzers (und afrikanischer Germanisten) Konzept einer “Interkulturellen Literaturwissenschaft als vergleichender Entwicklungsforschung”,33 speziell im Blick auf Modernisierungserfahrungen in Europa und Afrika, gibt ein letzter Abschnitt einen kurzen Überblick über spezifische literarische Mittel der Interkulturalität wie Satire, Parodie (Mimikry), Groteske, Komik, Phantastik (zu ergänzen wären etwa die Inszenierung von Kontrasten und Konflikten oder Sprachmischung, Mehrsprachigkeit u.a.), die unter den Oberbegriff ‘Verfremdung’ (Blick mit fremden Augen) subsumiert werden. Die ausführliche Interpretation von Orhan Pamuks Roman Schnee (2002) demonstriert abschließend die Möglichkeiten einer interkulturellen Deutung fremdkultureller Literatur “aus deutscher Perspektive”. Denn wie weitere interkulturelle Interpretationen von (post-)kolonialen Romanen zeigen, wird hier Interkulturelle Literaturwissenschaft im Rahmen der Germanistik als Erschließung (deutschsprachiger?) Texte für deutsche Leser verstanden (und nicht deutscher Literatur für Nichtdeutsche wie etwa in der interkulturellen Germanistik). Als Arbeitsfelder der interkulturellen Literaturwissenschaft werden anhand von exemplarischen Modellanalysen drei zentrale Bereiche interkultureller Ansätze in der deutschen Literaturgeschichte vorgeführt, beginnend mit einer positiv-kritischen Bilanz von Goethes Auseinandersetung mit dem Orient im West-östlichen Divan im Sinne eines “differenzierenden Universalismus” und mit der (eurozentrischen) Indien-Begeisterung der Romantik (A. W. Schlegel, Karoline von Günderrode). Europäische Zivilisationskritik und interkulturelles Interesse der Avantgarde um 1900 wird an Carl Einsteins Analyse der Negerplastik und an Alfred Döblins Romanpoetik und der kulturellen Hybridität seiner China- und Amazonas-Romane demonstriert. Eine ausführliche Interpretation versucht dann, Grass’ Blechtrommel im Anschluss an Salman Rushdie als moderne Migrationsliteratur auszuweisen: mit diversen Migrantenfiguren, bunter Kulturenmischung und einer hybriden Erzählinstanz. Die “Perspektiven einer postkolonialen Literaturgeschichte” beginnen in Deutschland mit Uwe Timms Afrikaroman Morenga (1978) über den HereroAufstand von 1904, der in den Rahmen der älteren (ambivalenten) britischen Kolonialliteratur (Conrad, Kipling) sowie der sich gegen sie absetzenden neuen afrikanischen Nationalliteraturen (Achebe) und der neuen postkolonialen Weltliteratur aus dem Geist indisch-britischer Hybridität (Rushdie) gestellt wird.
33
Vgl. Leo Kreutzer: Literatur und Entwicklung. Studien zu einer Literatur der Ungleichzeitigkeit. Frankfurt/M.: Fischer 1989.
55 Schließlich wird die (deutschsprachige) ‘Deutsch-türkische Literatur’ der zweiten Migrantengeneration der 1990er Jahre als “zentraler Begegnungsraum mit dem Interkulturellen in Deutschland” anhand von Romanen Zafer S¸enocaks, Emine Sevgi Özdamars und Feridun Zaimog˘lus vorgestellt. Sie hat sich offenbar aus den sozialpolitischen Debatten um die ‘Gastarbeiterliteratur’ gelöst (gegen die auch hier kuriose germanistische Vorurteile nachwirken) und ihre Themen von der Migration zur Globalisierung weiterentwickelt. Für die Autoren gilt nun das Gleiche wie für die deutsche Gegenwartsliteratur: Sie repräsentieren nichts und niemanden; sie profilieren sich durch eine eigenständige Perspektive, durch eine eigenständige Sprache; sie entwickeln literarische Konzepte und Modelle, die aus einer produktiven Auseinandersetzung mit eigenen biographischen und gesellschaftlichen Erfahrungen heraus entstanden, auf diese Erfahrungen aber nicht zu reduzieren sind.34
Ihr interkultureller Erfahrungsraum und die Überwindung von klischeehaften Bildern der türkischen und deutschen als homogener Kulturen in einer Konstellation des Hybriden (eines dritten Orts) machen sie zu einem aufschlussreichen Paradigma für die interkulturelle Literaturwissenschaft und zu einem “Experimentierfeld interkultureller Kommunikation” für die globalisierte Gesellschaft. Die grundsätzliche Frage bei dieser thematischen und methodischen Öffnung bleibt allerdings, ob eine ‘interkulturelle Literaturwissenschaft’, wie sie ausgehend von den Ansätzen der interkulturellen Germanistik und einer komparativen Auslandsgermanistik schon längere Zeit auch in Deutschland von Mecklenburg, Bachmann-Medick u.a. entworfen wurde,35 wie hier vorgesehen im Rahmen einer traditionellen Inlandsgermanistik vermittelt werden kann, oder ob sie deren Konzept nicht grundsätzlich sprengt. Hat man der kultur- und sozialwissenschaftlichen Einbindung einer Literatur grundsätzlich zugestimmt, die zentral Migrations- und Minderheitenprobleme behandelt oder neue transnationale Identitätsmuster entwirft, die weit über formalästhetische Innovationen hinausführen, dann ist jedenfalls die ritualisierte Versicherung ihrer Zweck- und Folgelosigkeit im Sinne einer popularisierten Autonomieästhetik mehr als überflüssig. Die transnationale Erweiterung der europäischen Nationalphilologien speziell im Blick auf die kulturelle Globalisierung und eine neue hybride 34
Hofmann: Interkulturelle Literaturwissenschaft [wie Anm. 31]. S. 196. Vgl. Norbert Mecklenburg: Interkulturelle Literaturwissenschaft. In: Handbuch interkulturelle Germanistik. Hg. von Alois Wierlacher und Andrea Bogner. Stuttgart – Weimar: Metzler 2003. S. 433–439; Doris Bachmann-Medick: Kulturelle Texte und interkulturelles (Miß-)Verstehen. Kulturanthropologische Herausforderungen für die interkulturelle Literaturwissenschaft. In: Perspektiven und Verfahren interkultureller Germanistik. Hg. von Alois Wierlacher. München: iudicium 1987. S. 653–664.
35
56 Weltliteratur bzw. historisch auf die grenz- und sprachüberschreitenden Traditionen der europäischen Literaturen seit ihrer Etablierung in den Volkssprachen, deren ‘Interregionalität’ bereits die Mediävistik feststellte, ist zu einer entscheidenden Forderung in der aktuellen Diskussion um die “Zukunftsperspektiven der Germanistik in Europa” im Zusammenhang mit dem Bologna-Prozess geworden.36 Die gleichnamige Berliner Tagung von DAAD und Deutschem Germanistenverband 2004 hat gerade die vielfältigen Forderungen einer Transformation der Nationalphilologien im Sinne kultur- und medienwissenschaftlicher Orientierungen und die Ausweitung des Gegenstandsbereichs der Germanistik im Rahmen von Deutschland- und Europastudien aufgenommen. Reformbemühungen der französischen und portugiesischen Germanistik bzw. der German Studies in den USA laufen auf eine Neukonzeption der Studiengänge unter den Stichworten: Faszination Literatur, Einbeziehung der Übersetzungen, europäischer oder bilateraler Kanon, Kontaktgeschichte der Kulturen, Nationenmodelle in grenzüberschreitenden Kulturräumen usw. hinaus. Jürgen Wertheimer plädiert am konsequentesten für eine internationale Öffnung und Reorganisation der ‘Germanistik’ etwa in einem Studium ‘Europäische Literaturwissenschaft’ oder ‘Internationale Literatur’ (als Leitfach), die einen komparatistischen Ansatz und eine strukturelle Reorganisation der Nationalphilologien und des Kanons verlangt.37 Eine international dimensionierte Philologie der Gegenwart könnte in offener polyperspektivischer Diskursform in interdisziplinären ‘Literaturzentren’ Kontakte, Berührungen, Dialoge zwischen Kulturen und Texten untersuchen. Auf der vergleichbaren internationalen Pariser Tagung “Germanistik – eine europäische Wissenschaft? Der Bologna-Prozess als Herausforderung” hat Ortrud Gutjahr noch ausführlicher das Konzept einer “Interkulturelle(n) Literaturwissenschaft als europäische Kulturwissenschaft” entworfen.38 Sie 36
Perspektiven der Germanistik in Europa. Tagungsbeiträge. Hg. von Eva Neuland, Konrad Ehlich und Werner Roggausch im Auftrag des DAAD und des Deutschen Germanistenverbandes. München: iudicium 2005; Germanistik – eine europäische Wissenschaft? Der Bologna-Prozess als Herausforderung. Hg. von Nicole Colin, Joachim Umlauf und Alain Lattard. München: iucicium 2006. 37 Jürgen Wertheimer: Goethe oder Globalisierung? – Zur Reorganisierung der “Germanistik”. In: Perspektiven der Germanistik in Europa [wie Anm. 36]. S. 70–79. 38 Ortrud Gutjahr: Interkulturelle Literaturwissenschaft als europäische Kulturwissenschaft. In: Germanistik – eine europäische Wissenschaft? [wie Anm. 36]. S. 110–145. Innerhalb der NDL besteht in Hamburg seit 2001 ein Schwerpunktstudium Interkulturelle Literaturwissenschaft und Deutsch als Fremdsprache. Vgl. Ortrud Gutjahr: Von der Nationalkultur zur Interkulturalität. Zur literarischen Semantisierung und Differenzbestimmung kollektiver Identitätskonstrukte. In: Interkulturalität und Nationalkultur in der deutschsprachigen Literatur. Hg. von Maja RazbojnikovaFrateva und Hans-Gerd Winter. Leipzig: Thelem 2006 (Germanica, Jahrbuch der Germanistik in Bulgarien NF 2003/2004). S. 91–122.
57 verweist auf die Etablierung des Forschungsparadigmas Interkulturalität durch den Wissens- und Umorientierungsbedarf einer multikulturell geprägten Gesellschaft sowie die bildungspolitischen Trends in Deutschland (Stichwort interkulturelle Erziehung und Bildung) und weltweit, die die deutsche Universität stärker denn je auf Interkulturalität ausgerichtet haben. Angesichts von Globalisierung, Migration, Des-Integration und kultureller Diversifikation scheint Ende des 20. Jahrhunderts die neue transnationale Literatur als interkulturelle Moderne einen “Paradigmawechsel zu einer transnationalen und damit auch europäischen Ausrichtung der Literatur” zu fordern. Die interkulturelle Literaturwissenschaft, von Beginn an kulturwissenschaftlich und interdisziplinär orientiert, stellt vor allem die unterschiedlichen Formen literarischer Inszenierung von Fremdheit, von Formen und Konflikten der Kulturenbegegnung ins Zentrum und entsprechend kulturreflexive Gattungen wie Reise-, Kolonial-, Exil- und Migrationsliteratur. Es geht dabei um kulturelle Selbst- und Fremdzuschreibungen und Differenzkonstruktionen in literarischen Texten, um Alteritätsforschung und Xenologie, um kulturspezifische Vermittlungs- und Rezeptionsprobleme und eine interkulturelle Hermeneutik, um Stereotypenforschung und Imagologie, um Kolonialismus-, Rassismusoder Genderforschung. Interkulturalität meint in der interkulturellen Literaturforschung nicht Austausch von je kulturell Eigenem, sondern zielt auf ein intermediäres Feld, das sich im Austausch der Kulturen als Gebiet wechselseitiger Differenzerfahrung wie zugleich Identifikationsmöglichkeiten herausbildet. Erforderlich ist dafür eine interdisziplinäre Zusammenarbeit auch mit Ethnographie, Kultur- und Sozialanthropologie, Ethnopsychoanalyse oder Psychohistorie. Solche Entwürfe könnten zumindest die Richtung für einen angemessenen (wissenschaftlichen) Umgang mit interkultureller (deutschsprachiger) Literatur in ihren vielfältigen Formen vorgeben. Denn weder ist es mit der neuen Begeisterung der deutschen Literaturszene über ein üppiges (exotisches) Erzählen getan, obwohl sie eine zunehmende Normalisierung im Umgang mit der Migrationsliteratur anzeigt, noch überzeugt das neue Interesse der Germanistik an bislang vernachlässigten Gegenstandsfeldern, solange es im traditionellen Rahmen einer nationalen Philologie und ihres Kanons bleibt. Die Beschäftigung mit der interkulturellen Literatur muss den Blick von den anderen Seiten – und d.h. den wissenschaftlichen Dialog oder Polylog – mit einbeziehen, wie die interkulturelle Germanistik dies zumindest forderte und eine “Philologie der Nachbarschaft” (Joachimsthaler) es zu praktizieren versucht. Konsequenter wäre eine transnationale ‘interkulturelle Literaturwissenschaft’, eventuell mit nationalen Schwerpunkten. Wenn ihre zentralen Themen Deterritorialisierung und ‘kulturelle Fremdheit’ auch als relationale Konstrukte zu sehen sind, so liegen diesen doch sehr konkrete biographische Erfahrungen in kulturellen Kontakten oder
58 Konflikten zu Grunde, wie sie neben der postkolonialen auch die Minderheitenliteratur eindrücklich gestaltet. Deshalb bleibt eine historischempirische Situierung von Inter- oder Transkulturalität unverzichtbar, wenn metaphorische Begriffe wie Delokalisierung, Verfremdung oder Hybridisierung nicht völlig abstrakt bleiben sollen. Der politische und gesellschaftliche Kontext, der auch die ästhetische Dynamik mit bestimmt, ist nicht aus den literarischen Texten herauszunehmen. Eine ästhetische Neutralisierung von ‘Fremdheit’ zur ‘Verfremdung’ bzw. von kultureller ‘Vermischung’ zu einem hybriden ‘dritten Raum’ der Literatur wird dem Gegenstand nicht gerecht. Vor allem wenn die Tabuisierung der Inhalte teils noch auf eine vormoderne Autonomie- und Originalitätsästhetik, teils auf einen (post)strukturalistischen Formalismus zurückgeht, die kaum mit einer “Poetik des Diversen” (W. Wintersteiner) oder mit der rhizomatischen Ästhetik und Poetik vereinbar sind, wie sie jüngere Philologinnen mit bikultureller Kompetenz wie I. Amodeo, A. Blioumi u.a. für die Heterogenität und Hybridität der neuen “Babylon”Literatur entwickelt haben.39 Auch Sturm-Trigonakis’ sehr anspruchsvoller und informativer Überblick über die aktuellen Diskurse zu den neuen transnationalen hybriden Literaturen weltweit wird letzten Endes durch die einseitig literarästhetische Orientierung relativiert, wenn die bisherigen ‘außerliterarisch’ fundierten Ansätze weitgehend wieder zurückgenommen werden. Was dann bleibt ist ein eher willkürliches wissenschaftliches ‘System’, das aufgrund unflexibler Festlegung der Spezifika eher ein Wunsch-Konstrukt als die Realitäten der interkulturellen literarischen Kommunikation im Zeitalter der Globalisierung und Glokalisierung beschreibt. Dabei wird die ‘Neue Weltliteratur’ mit Hilfe einer universalistischen europäischen Ästhetik einem neuen geschlossenen Kanon der ‘Weltliteratur’einverleibt, wie er ähnlich lange Zeit definiert war. Trotzdem werden zugleich genügend gewichtige Argumente für eine transnationale Öffnung der neueren Philologien und eine komparatistisch ausgerichtete transkulturelle Literaturwissenschaft geliefert, wie sie von allen hier referierten Veröffentlichungen explizit oder implizit vertreten und in den Diskussionen über eine künftige ‘europäische Germanistik’ gefordert werden.
39
Vgl. Werner Wintersteiner: Poetik der Verschiedenheit. Literarisch-kulturelle Bildung und Globalisierung. Umrisse einer interkulturellen Literaturdidaktik. Klagenfurt 2003 (Habil.-Schrift masch.); Immacolata Amodeo: “Die Heimat heißt Babylon”. Zur Literatur ausländischer Autoren in der Bundesrepublik Deutschland. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1996; zu Blioumi siehe Anm. 4.
Volker C. Dörr
‘Third Space’ vs. Diaspora. Topologien transkultureller Literatur The discourse about transnational literture(s) uses two spatial models: on the one hand, predominantly in the context of concepts of ‘hybridity’, the topos of a ‘third space’ where the collective identities of migrants are to be situated. On the other hand, the application of the concept of ‘diaspora’ to ‘German-Turkish’ literature can be observed over the last few years. Simultaneously Sociology and Literary Studies increasingly compare the situation of ‘Turks’ in Germany with that of German Jews. This chapter examines the critical potential and limits of both topological models. The connection between collective memory and narrated memory is illustrated with reference to an example of recent German-Turkish literature, Zafer S¸enocak’s novel Gefährliche Verwandtschaft.
Die Zeiten haben sich geändert: Wer etwa in den 70er oder 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts aus der Türkei stammte und Literatur auf Deutsch produzierte, zählte damit fast zwangsläufig zur damals ohne Scheu sogenannten ‘Gastarbeiterliteratur’ – und das auch, wenn er gar kein Gastarbeiter war, sondern, wie z.B. Zafer S ¸ enocak, Student der Germanistik. Seine (oder, viel seltener: ihre) poetischen Erzeugnisse wurden, wenn sie denn wahrgenommen wurden, zunächst als Lernerfolge registriert und fielen unter das Patronat der aufstrebenden Disziplin ‘Deutsch als Fremdsprache’. Die Begrenzungen des Begriffs ‘Gastarbeiter’ liegen inzwischen offen zutage: die sozialromantische Konnotation des ‘Gast’-Seins (“die Welt zu Gast bei den Produktionsmitteln”?) ebenso wie die unterschwellige Unterstellung, ja oft auch Hoffnung, es handele sich eben nur um Gäste, die irgendwann auch wieder nach Hause gehen. Beides hatte und hat wenig mit der Realität zu tun. Wenn heute jemand, dessen Eltern oder Großeltern aus der Türkei stammen, Literatur auf Deutsch produziert, gerät er oder sie fast zwangsläufig in die terminologischen Mühlen einer Wissenschaft, die nach dem Verlust ihrer national(istisch)en Unschuld und dem folgenden scientific turn ihrer Identität nie wieder sicher geworden ist. (Dass Letzteres alles andere als ein Mangel ist, dass die Pluralität nicht nur Kontingenz bedeutet, sondern auch Vielfalt, wird leider nur zu häufig übersehen.) Nicht viele Problemzusammenhänge sind in den letzten Jahren in so hohem Maße in den Strudel des/der cultural turn(s) der vormaligen Geisteswissenschaft ‘Germanistik’ geraten wie derjenige der Literatur von vormaligen ‘Gastarbeitern’ (und ihren Nachkommen), die jetzt meist ‘Menschen mit Migrationshintergrund’ heißen. Das bedeutet, dass in vergleichsweise hoher Frequenz die Leitkonzepte
60 wechseln – wobei der Verdacht, es handele sich weniger um Theorieimporte, etwa aus den Cultural Studies, als vielmehr um grau eingeführte terminologischrhetorische Kosmetika, nicht immer leicht von der Hand zu weisen ist. Unter der Vielzahl von turns, die die Kulturwissenschaften seit dem linguistic turn umtreiben,1 ist – aus unmittelbar einsichtigen Gründen – der postcolonial turn im hier betrachteten Zusammenhang der einschlägigste: geht es doch um Konstellationen, die aus der politischen wie begrifflichen Auflösung kolonialer Zusammenhänge entstanden sind und die, mindestens in metaphorischer Sicht, auch dann vorliegen, wenn es – wie im Falle etwa der sogenannten ‘deutschtürkischen’ Literatur – nie koloniale Zusammenhänge gegeben hat.2 Festzustellen ist jedenfalls, dass die aus der deutschen hermeneutischen Tradition stammende leitende Idee eines ‘Verstehens’ des Fremden, einer Einfühlung in die fremde Kultur, hier ihre Vorherrschaft eingebüßt hat. Sie ist weitgehend abgelöst worden durch aus dem angloamerikanischen Raum stammende Konzepte von Kulturalität. Unzulässig verkürzt, überpointiert und entsprechend unfair, aber dennoch nicht ganz falsch, kann man vielleicht Folgendes sagen: Ging es noch in den 1980er Jahren darum, wie Gastarbeiterliteratur ihrem deutschen Leser dabei helfen kann, eine fremde Kultur vom (hierarchisch höheren) Standpunkt seiner eigenen Kultur aus zu verstehen und dabei etwas über den fremden Blick auf seine ‘eigene’ Kultur zu erfahren – oder womöglich sogar durch den fremden Blick über seine eigene Kultur –, so gelten die Dinge heute als so kompliziert, wie sie wohl immer schon gewesen sind: Weitgehend durchgesetzt haben sich die Einsichten, dass Kulturen keine in sich abgeschlossenen homogenen Wesenheiten, “keine von einander völlig isolierten und sich abschottenden Gebilde sind”,3 sondern dass es sich um ein “wechselseitiges Ineinanderwirken verschiedener, auch antagonistischer Kulturen und Teilkulturen” ‘in’ den Kulturen handelt – und: “Kulturen werden liminal produziert, werden von ihren Grenzen bzw. von Grenzsituationen aus gestaltet”.4 1
Vgl. dazu Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2006. 2 Dass aber auch der theoretisch-politische Umgang mit türkischen ‘Gastarbeitern’ nicht ganz frei von kolonialistischen Momenten im konkreten Sinne (gewesen) ist, zeigt: Kien Nghi Ha: Ethnizität und Migration reloaded. Kulturelle Identität, Differenz und Hybridität im postkolonialen Diskurs. Berlin: wvb 2004. 3 Alois Wierlacher: Interkulturalität. In: Handbuch interkulturelle Germanistik. Hg. von Alois Wierlacher und Andrea Bogner: Stuttgart – Weimar: Metzler 2003. S. 257–264. Hier: S. 260. Vgl. auch Alois Wierlacher: Interkulturalität. Zur Konzeptualisierung eines Rahmenbegriffs interkultureller Kommunikation aus der Sicht Interkultureller Germanistik. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 26 (2000). S. 263–287. 4 Bachmann-Medick: Cultural Turns [wie Anm. 1]. S. 198. – Etwas irreführend an dieser Formulierung mag allerdings das implizite Moment von Intentionalität sein, das in dem Verb “gestaltet” liegt.
61 Diese Ansicht des Phänomens wird zumeist mit dem Schlagwort ‘Hybridität’ belegt und mit der Person des indisch-britischen Literaturtheoretikers Homi K. Bhabha verbunden (oder zumindest mit dessen Namen verfußnotet). Mit dessen Konzept verbindet sich eine spezifische Räumlichkeit – die Vorstellung eines “third space”, eines ‘Dritten Raums’ oder ‘Zwischenraums’, “in dem die Konstitution von Identität und Alterität weder als multikulturelles Nebeneinander noch als dialektische Vermittlung, sondern als unlösbare und wechselseitige Durchdringung von Zentrum und Peripherie […] modelliert wird”.5 Dieser “Dritte Raum” im Sinne Bhabhas ist ein “widersprüchlicher und ambivalenter Äußerungsraum”, der “die Struktur von Bedeutung und Referenz zu einem ambivalenten Prozeß macht” (und damit gewissermaßen die différance Jacques Derridas in eine Topologie überführt);6 er ist konzipiert als “space of potentiality where new cultural combinations can be experimented with and performed”.7 Allerdings lässt sich recht leicht zeigen, dass der meist gängige, entpolitisierte, weil aus dem Zusammenhang mit dem (Post-)Kolonialismus gerückte8 Begriff der Hybridität zur Bezeichnung einer spezifischen ‘transkulturellen’9 Situation gar nicht recht tauglich ist: Wenn alles “hybrid” ist, “was sich einer Vermischung von Traditionslinien verdankt, was unterschiedliche Diskurse und Technologien verknüpft, was durch Techniken der collage, des samplings, 5
Julika Griem: Hybridität. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Hg. von Ansgar Nünning. Stuttgart – Weimar: Metzler 1998. S. 220–221. Hier: S. 221. 6 Homi K. Bhabha: Die Verortung der Kultur. Tübingen: Stauffenburg 2000 (Stauffenburg Discussion. Band 5). S. 56f. 7 Jim Jordan: More than a Metaphor: The Passing of the Two World Paradigm in German-Language Diasporic Literature. In: German Life and Letters Vol. LIX No. 4 (Oct. 2006). Special Number: Crossing Boundaries. Hg. von Jim Jordan. S. 488–499. Hier: S. 490. – Diese Formulierung führt auf eine grundsätzliche kritische Nachfrage: Es scheint so, als habe das Konzept der Hybridität mindestens vordringlich “die Erfahrungen einer privilegierten Schicht kosmopolitischer Intellektueller verallgemeinert”, denn nicht nur mit der Realität noch stets herrschender “[post-]kolonialer Ausbeutung” (Griem: Hybridität [wie Anm. 5]. S. 221), sondern auch mit der Lebenswirklichkeit der meisten Arbeitsmigranten, etwa mit “Leidensdruck durch Migrationserfahrungen” (Bachmann-Medick: Cultural Turns [wie Anm. 1]. S. 200), hat ein solcher “space of potentiality” offenbar wenig zu tun. 8 Zur Kritik an der Entpolitisierung (und Enthistorisierung) des Begriffs der Hybridität vgl. Kien Nghi Ha: Hype um Hybridität. Kultureller Differenzkonsum und postmoderne Verwertungstechniken im Spätkapitalismus. Bielefeld: transcript 2005. S. 92 und passim. 9 Zum Konzept der Transkulturalität vgl. Wolfgang Welsch: Transkulturalität – Lebensformen nach der Auflösung der Kulturen. In: Information Philosophie 20 (1992). H. 2. S. 5–20; Ders.: Transkulturalität. In: Zeitschrift für Kulturaustausch 1 (1995). S. 39–45.
62 des Bastelns zustandegekommen ist”, dann, so Elisabeth Bronfen und Benjamin Marius, ist, in einer “Situation der Massenmigration, der globalen Zirkulation von Zeichen, Waren, Informationen”, “Hybridität weder ein spezielles Merkmal noch eine zu vermeidende Gefahr, sondern ein grundlegendes Charakteristikum jeder Kultur”.10 Oder, mit Stuart Hall gesprochen: “Alle modernen Nationen sind kulturell hybrid”.11 Diesem Problem kann aber noch abgeholfen werden: indem Hybridität nicht als qualitativer Sprung einer besonderen Situation verstanden wird, sondern vielmehr als Phänomen in historischer Schichtung und verschiedenen Reflexionsstufen – und mit verschiedenen kollektiven Reichweiten. Denn natürlich macht es einen Unterschied, ob kulturelle Hybridität als reflektiertes Resultat eines Familienumzugs von Istanbul nach Berlin oder der römischen Besetzung Germaniens verstanden wird. Nur: ‘hybrid’ ist dies letztlich alles. Die hier vorgetragene Kritik des Begriffs richtet sich jedoch eher auf dessen etymologische Altlasten. Die Tatsache, dass Hybridität ja ursprünglich ein ‘rassisches’, oder richtiger: rassistisches, Konzept gewesen ist, das zu einem “postkolonialen Leitbegriff ”,12 und mehr noch, zu einem “kulturtheoretischen Schlüsselbegriff umgedeutet” worden ist,13 kann ja noch als eine Form der Wiederaneignung von hate speech im Sinne Judith Butlers verstanden werden:14 Strukturell vollzieht sich hier das Gleiche, was auch passiert, wenn ein afroamerikanischer Rapper sich selbst einen “Nigga” nennt oder ein türkischer Arbeitsmigrant der dritten Generation von sich als von einem “Kanaken” spricht – so dass der Begriff gerade als Kritik an seinen eigenen rassistischen Untertönen begriffen werden kann.15 Von den Konnotationen, die sich auf den pejorativen Gebrauch des Begriffs beziehen, kann also wohl abgesehen werden (auch wenn niemandem das Recht 10
Elisabeth Bronfen und Benjamin Marius: Hybride Kulturen. Einleitung zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte. In: Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte. Hg. von Elisabeth Bronfen, Benjamin Marius und Therese Steffen. Tübingen: Stauffenburg 1997. S. 1–30 (Stauffenburg Discussion. Band 4). Hier vor allem S. 14 und S. 17f. 11 Stuart Hall: Die Frage der kulturellen Identität: In: Ders.: Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2. Hg. und übers. von Ulrich Mehlem u.a. Hamburg: Argument 1994. S. 180–222 (Argument-Sonderbd. N.F. 226). Hier: S. 207. 12 Bachmann-Medick: Cultural Turns [wie Anm. 1]. S. 197. 13 Vgl. Griem: Hybridität [wie Anm. 5]. S. 221. 14 Vgl. Judith Butler: Haß spricht. Zur Politik des Performativen. Berlin: Berlin Verlag 1998. 15 Vgl. Feridun Zaimog˘lu: Kanak Sprak. 24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft. Hamburg: Rotbuch. 6. Aufl. 2004; dazu Manuela Günter: “Wir sind bastarde, freund…”. Feridun Zaimog˘ lus “Kanak Sprak” und die performative Struktur von Identität. In: Sprache und Literatur 30 (1999). H. 83. S. 15–28.
63 auf einen merkwürdigen Beigeschmack abgesprochen werden kann); deutlich problematischer ist die ursprüngliche Vorstellung, die in lat. hybrida (‘der Mischling’) steckt. Nun soll hier keineswegs behauptet werden, dass Begriffe sämtliche Windungen ihrer Verwendungsgeschichte stets mittransportieren, dass sie also als semiologische Altlastcontainer fungieren; und auch Metaphern können kaum jenseits eines tertium comparationis noch auf eine Mannigfaltigkeit von quarta, quinta, sexta comparationis festgelegt werden, die aus dem Feld der Denotationen desjenigen stammen, das nun metaphorisch eben nur im Blick auf ein Gemeinsames verwendet wird – und doch: Bemerkenswert ist, in wie hohem Maße sich durch die Hintertür der Konnotation denotative Reste einschleichen. So ist es auch hier, mit dem Begriff des Hybriden. Dem gesunden Menschenverstand scheint unmittelbar einleuchtend, dass etwas Gemischtes aus etwas gemischt ist, dass zu etwas Hybridem also zwei (oder mehr) ursprüngliche ‘Substanzen’ gehören. Dies aber ist nicht im Sinne des Erfinders. Bhabha selbst hat darauf aufmerksam gemacht, dass für ihn “the importance of hybridity is not to be able to trace two original moments from which the third emerges”; vielmehr sei Hybridität selbst eben “the ‘third space’ which enables other positions to emerge”.16 Man wird es also so sehen müssen: Das Hybride, etwa die gemeinsame ‘Kultur’ einer Gruppe von Migranten, ist etwas neues ‘Drittes’, von dem nicht behauptet wird, dass es aus etwas essentiellem Ersten und Zweiten – eben durch Mischung17 – hervorgegangen sei.18 Vielmehr ist das, woraus das neue Dritte entstanden ist, qua Kultur, selbst hybrid, also gemischt, ohne aus etwas gemischt zu sein – usw. ad infinitum. Bei eingehender Betrachtung der Verwendung des Begriffs der Hybridität in der Forschung zeigt sich aber, dass die Vorstellung eines Dritten auch diejenige eines 16
Jonathan Rutherford: The Third Space. Interview with Homi K. Bhabha. In: Identity. Community, Culture, Difference. London: Lawrence & Wishart 1990. S. 207–221. Hier: S. 211; zit. nach: Bachmann-Medick: Cultural Turns [wie Anm. 1]. S. 203. 17 Gemeint ist also nicht ein Moment der Mischung, sondern ein qualitativer Sprung in eine differentielle “Übersetzungssituation”, die komplexer ist als ein Sowohlals-auch (Bachmann-Medick: Cultural Turns [wie Anm. 1]. S. 200); vgl. auch Doris Bachmann-Medick: 1 1 3? Interkulturelle Beziehungen als ‘dritter Raum’. In: Weimarer Beiträge 45 (1999). S. 518–531. 18 Vgl. Bachmann-Medick: Cultural Turns [wie Anm. 1]. Hier vor allem S. 205: “[…] ein solcher dritter Raum entsteht nicht etwa zwischen zwei reinen, unvermischten Zonen. Vielmehr kennzeichnet er eine kulturelle Verfassung, die überhaupt keine reinen, unvermischten Zonen enthält, sondern aus Überlagerungen in sich widersprüchlicher und differenter Schichten einer Kultur besteht”. Da aber ja jede Kultur schon per se “aus Überlagerungen in sich widersprüchlicher und differenter Schichten” besteht, folgt, analog zur Universalität des Hybriditätsbegriffs: Jeder Raum ist ein dritter.
64 essentiellen Ersten und Zweiten mindestens begünstigt; unausgesprochen kehrt dann die Vorstellung wieder, dasjenige, aus dem eine hybride Kultur gemischt sei, seien eben doch zwei Kulturen als in sich abgeschlossene homogene Wesenheiten. Die Vorstellung der Hybridität verleitet also zu (Re-) Essentialisierungen. Nebenbei bemerkt: Sie verleitet auch zur Re-Essentialisierung des hybriden Dritten selbst, denn keineswegs immer wird das Hybride dann differentiell verstanden; häufig begegnen auch essentialisierende Homogenisierungen des Hybriden. Dann erscheint als das Besondere etwa der deutsch-türkischen Migranten nicht nur, dass ihre Kultur aus ‘dem’ Deutschen und ‘dem’Türkischen gemischt ist; es gibt dann auch gleich ‘die’ hybride Migrantenkultur. Das aber bedeutet letztlich einen Rückfall in ein längst problematisch gewordenes Konzept von ‘Interkulturalität’ als einer Begegnung von essentiell verstandenen Kulturen. Obendrein noch lasten dann meist auf den Migranten, besonders auf literarischen Autoren die burdens of representation;19 denn im schlimmsten Fall werden sie nun auch noch darauf verpflichtet, die durch die Hintertür re-essentialisierte homogene Hybridität auch noch zu repräsentieren20 – und nicht etwa ihre ästhetische Individualität selbst. Ein so (miss-)verstandener Zwischenraum erweist sich vielmehr als die berühmt-berüchtigte ‘Brücke zwischen den Kulturen’, auf die der Migrationsliterat verbannt bleibt, um zu verbinden, was in der ‘Verbindung’ säuberlich getrennt bleiben soll.21 Und nun zu etwas nicht ganz anderem. In den angloamerikanischen Cultural Studies erfreut sich, seit den 1990er Jahren noch einmal zunehmend, der 19
Tom Cheesman: Juggling Burdens of Representation: Black, Red, Gold and Turquoise. In: German Life and Letters Vol. LIX No. 4 (Oct. 2006). Special Number: Crossing Boundaries. S. 471–487. Hier: S. 477. Der Begriff “burdens of representation” stammt wohl von Kobena Mercer (Black Art and the Burden of Representation. In: Third Text 10. Spring 1990. S. 61–78); vgl. dazu Iain Chambers: Migration – Kultur – Identität. Tübingen: Stauffenburg 1996 (Stauffenburg Discussion. Band 3). S. 51. 20 Vgl. dazu Volker C. Dörr: “Gastarbeiter” vs. “Kanakstas”: Migranten-Biographien zwischen Alterität, Hybridität und Transkulturalität. In: AutoBioFiktion. Konstruierte Identitäten in Kunst, Literatur und Philosophie. Hg. von Christian Moser und Jürgen Nelles. Bielefeld: Aisthesis 2006. S. 145–165. – Vgl. auch Sandra Hestermann: The German-Turkish Diaspora and Multicultural German Identity. Hyphenated and Alternative Dicourses in the Works of Zafer S ¸ enocak and Feridun Zaimog˘lu. In: Diaspora and Multiculturalism. Common Traditions and New Developments. Hg. von Monika Fludernik. Amsterdam – New York: Rodopi 2003. S. 329–373. Hier vor allem S. 358: “Zafer S ¸ enocak, as this analysis illustrates, is the representative [!] of a new multicultural discourse of Turkish-German hybrid writers in which the boundaries of fiction and reality are blurred”. 21 Zur Kritik an solchen Modellen vgl. Leslie A. Adelson: Against Between – Ein Manifest gegen das Dazwischen. In: Literatur und Migration. Text Kritik Sonderband IX/2006. Hg. von Heinz-Ludwig Arnold. München: edition Text kritik 2006. S. 36–46. – An Metaphern wie die der “Brücke” oder der “zwei Stühle” zwischen denen Migranten sitzen, lässt sich zeigen: “[…] underlying the use of these
65 Begriff der ‘Diaspora’ großer Beliebtheit (und damit, mit der üblichen Verzögerung, dann auch in deutschsprachigen Diskursen). Ja, man kann sogar von einem “inflationary use of the term ‘diaspora’ to cover just about any type of existence away from the homeland” sprechen.22 Und auch dasjenige, was immer noch meist ‘Deutsch-türkische Literatur’ heißt, wird immer häufiger als “Diasporaliteratur” bezeichnet.23 Nun soll hier nicht dafür plädiert werden, im strengen Sinne nur “the voluntary dispersion of the Jewish people”24 als Diaspora (im Gegensatz zu ‘Exil’) zu bezeichnen. Und doch wird man zustimmen müssen, dass es sich bei dem Terminus ‘jüdische Diaspora’ zwar um keinen Pleonasmus, aber doch um eine (nicht nur historisch) privilegierte Begriffskopplung handelt.25 Es ist also metaphors is a model of two fixed identities, with the migrant subject either suspended in motion or trapped between them”. Hier wird dann kein “third space of enunciation” als “space of potentiality where new cultural combinations can be experimented with and performed” im Sinne Bhabhas aufgerufen. Jordan: More than a Metaphor [wie Anm. 7]. S. 490. 22 Monika Fludernik: The Diasporic Imaginary: Postcolonial Reconfigurations in the Context of Multiculturalism. In: Diaspora and Multiculturalism [wie Anm. 20]. S. xi-xxxviii. Hier: S. xiii. – Martin Baumann gilt ‘Diaspora’ als “one of the most fashionable terms in academic discourse of late 20th century”. Martin Baumann: Diaspora: Genealogies of Semantics and Transcultural Comparison. In: Numen 47 (2000). S. 313–337. Hier: S. 325. 23 Vgl. etwa Jim Jordan: Spieler, Mitspieler, Schauspieler: die postmoderne interkulturelle Literatur in Deutschland. In: Die andere deutsche Literatur. Istanbuler Vorträge. Hg. von Manfred Durzak und Nilüfer Kuruyazıcı in Zusammenarbeit mit Canan Senöz Ayata. Würzburg: Königshausen & Neumann 2004. S. 118–124. Hier: S. 121. – Jim Jordan sieht “diasporic literature” als Zielpunkt der chronologischen Folge “‘Gastarbeiterliteratur’, ‘Ausländerliteratur’, ‘Migrantenliteratur’, MigrantInnenliteratur’, ‘interkulturelle Literatur’ and ‘Diasporaliteratur’”. Jim Jordan: Crossing Boundaries: Changing Perspectives on Contemporary Diasporic Cultures in German. Introduction. In: German Life and Letters Vol. LIX No. 4 (Oct. 2006). Special Number: Crossing Boundaries. S. 469–470. Hier: S. 469. 24 Menahem Stern: Diaspora. In: Encyclopaedia Judaica. Second Edition. Vol. 5: Coh – Doz. Hg. von Fred Skolnik und Michael Berenbaum. Detroit: Macmillan 2007. S. 637–643. Hier: S. 637 [Hervorh. V.D.]; im Gegensatz dazu steht die “forced dispersion, which ist treated under Galut” (ebd.); vgl. auch Baumann: Diaspora [wie Anm. 22]. S. 317f. 25 ‘Diaspora’ wurde wohl zuerst in der Septuaginta als terminus technicus für eine jüdische Existenz fern vom Gelobten Land eingeführt. Vgl. Baumann: Diaspora [wie Anm. 22]. S. 316. Für Robin Cohens These, der Begriff Diaspora sei ursprünglich positiv besetzt gewesen und habe die griechische Kolonisierung Kleinasiens bezeichnet, gibt es laut Baumann keine Belege. Vgl. Robin Cohen: Global Diasporas. An Introduction. London: Routledge 1997. S. 2; Baumann: Diaspora [wie Anm. 22]. S. 315f.; dazu auch Ruth Mayer: Diaspora. Eine kritische Begriffsbestimmung. Bielefeld: transcript 2005. S. 46. Zur weiteren Begriffsgeschichte vgl. neben dem Buch von Ruth Mayer: Baumann: Diaspora [wie Anm. 22]. S. 315–325.
66 vielleicht sinnvoll, der Begriffsinflation eine Konzeption des Begriffs gegenüberzustellen, die ihn genetisch auf die jüdische Diaspora bezieht. Jan Assmann entwickelt in seinem Buch Das kulturelle Gedächtnis (1992) den Zusammenhang von, so der Untertitel, Schrift, Erinnerung und politischer Identität in frühen Hochkulturen. Assmann macht dabei auf ein fundamentales Moment der Ortlosigkeit der jüdischen Diaspora aufmerksam, das auf merkwürdige Weise mit dem Moment der Rückkehr ins ‘Gelobte Land’ verschränkt ist. Der Bundesschluss Gottes mit dem Volk Israel ist gewissermaßen wesenhaft “extraterritorial”. Das heißt nicht nur, dass man “in diesem Bund […] überall verbleiben [kann], wohin auch immer auf der Welt es einen verschlägt”;26 mehr noch: Es geht um die Abgrenzung gegenüber einer “fremden kulturellen Umwelt” auch im eigenen Land: “‘Ägypten’ […] ist überall, und überall öffnet sich im Halten des Gesetzes der Weg der Befreiung aus Knechtschaft und Verfolgung, der ins Gelobte Land führt”.27 Zentrale Momente des an den U-Topos, den Un-Ort, der Diaspora geknüpften Konzepts der Orthopraxie, des rechten Handels, sind “Distinktion, Seklusion, Einzigartigkeit – also Identität in einem emphatischen Sinne”.28 Wichtig ist, “sich mit den Bewohnern dieses Landes nicht gemein zu machen, sondern eine unüberwindliche Grenze der Fremdheit zwischen sich und die anderen zu legen”.29 Dieses Konzept der Diaspora als eines (Un-)Orts des Gesetzes ist untrennbar mit zwei weiteren Momenten verknüpft: Erinnerung und Schrift. Die Erinnerung im Medium der Schrift bewirkt nämlich eine doppelte räumliche Inversion; sie ermöglicht es, die Erinnerung des Außen im Innen außen wiederzuerinnern: “Worauf es im Deuteronomium ankommt, ist die Zumutung, sich im Lande an Bindungen zu erinnern, die außerhalb des Landes eingegangen sind und ihren Ort in einer extraterritorialen Geschichte haben: Ägypten – Sinai – Wüste – Moab. […] Damit wird eine Mnemotechnik fundiert, die es möglich macht, sich außerhalb Israels an Israel zu erinnern, und das heißt, auf den historischen Ort dieser Ideen bezogen: im babylonischen Exil Jerusalems nicht zu vergessen (Ps. 137.5)”.30 “Grundproblem des Deuteronomium” sei mithin die “Transformation kommunikativer – gelebter und in Zeitzeugen verkörperter – Erinnerung in kulturelle – institutionell geformte und gestützte – Erinnerung, mithin in kulturelle Mnemotechnik”.31 “Indem es [sc. das Deuteronomium] dem Volk einschärft, in Jerusalem nicht den Auszug aus Ägypten zu vergessen, fundiert es die Hoffnung, aus Babylon 26
Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: Beck 1992. S. 201. 27 Ebd. S. 202. 28 Ebd. S. 197f. 29 Ebd. S. 224 (unter Verweis auf 5. Ms 7.2–5). 30 Ebd. S. 213. 31 Ebd. S. 222.
67 nach Jerusalem zurückzukehren”.32 Das 5. Buch Mose also ermöglicht eine Form von Ortlosigkeit, die doch auf das Versprechen einer Rückkehr bezogen ist. Indem die quasi-mythologische Erinnerung an den Ursprung in eine kultische Praxis überführt wird, prägt sich zugleich ein u-chronisches Moment aus, das in der heilsgeschichtlichen Dimension des Topos ‘Jerusalem’ aufgenommen wird. Die jahreszyklische Lesung der Thora stiftet eine mythisch-kultische Präsenz des Geschehens; entsprechend vollzieht sich die ‘Rückkehr’ auch nicht im historischen Raum-Zeit-Kontinuum, sondern jenseits der Geschichte. Folgende Strukturmomente sind wichtig für dieses Konzept von Diaspora: eine eingekapselte, abgegrenzte Form von Ortlosigkeit, die mit einer textuell kodierten kulturellen Erinnerung ebenso wie mit der Hoffnung auf eine Rückkehr untrennbar verschränkt ist – wobei diese Rückkehr weniger als konkrete lebensweltliche Perspektive denn vielmehr als Heilsversprechen gedacht ist.33 Man könnte den Bezug auf den Ursprungsort also als ‘mythotopisch’ bezeichnen,34 weil sich die kollektive kulturelle Erinnerung auf eine kollektive Rückkehr richtet, die jenseits des physikalischen RaumZeit-Kontinuums in einem narrativ konstituierten Sinn-Raum situiert ist. Wichtig ist auch zu betonen, dass sich, weil es sich um eine Form von Erinnerungspraxis handelt, eine solche Diaspora in der Selbstbeobachtung konstituiert. Eine nur von außen beobachtete Diaspora ist eigentlich eine Paradoxie. Daraus folgt aber, dass es in doppelter Hinsicht problematisch ist, einem Anderen eine Diaspora-Existenz zuzuschreiben: Es müsste zum einen zumindest gefragt werden, ob dieser Fremdzuschreibung auch eine Selbstzuschreibung korrespondiert, ob es also eine Diaspora-spezifische kollektive Gedächtnisfunktion gibt; zum anderen gilt es, einen Fehlschluss zu vermeiden: daraus, dass sich eine Diaspora im engen Sinne über eine mythotopische Rückkehrhoffnung konstituiert, folgt nicht, dass jeder Diasporist im weiteren Sinne zum Ursprungsort zurückkehren will (oder gar zurückkehren zu wollen hat).35 Und der Hinweis darauf, dass jemand, der selbst von nirgendwo hergekommen ist, auch nirgendwo hin zurückkehren kann, ist womöglich auch nicht so banal, wie er klingt. 32
Ebd. S. 294. Vgl. James Clifford: Diasporas. In: Cultural Anthropology 9 (1994). S. 302–338. Hier vor allem S. 305: “[…] the notion of return for Jews is often an eschatological or utopian projection in response to a present dystopia”. 34 Auch Ruth Mayer deutet die “Vorstellung eines gemeinsamen Ursprungs oder einer gemeinsamen Bestimmung, die viele diasporische Gruppen zusammenhält”, als eine “mythisierende Komponente”. Mayer: Diaspora [wie Anm. 25]. S. 13. 35 Entsprechend formuliert etwa James Clifford sein zentrales Kriterium abstrakter und allgemeiner: “diaspora cultures” seien “constituted by displacement”. Clifford: Diasporas [wie Anm. 33]. S. 308. 33
68 An dieser Stelle liegt natürlich ein Einwand nahe: Selbstverständlich gebraucht nicht jeder den Begriff Diaspora im eben skizzierten religionsgeschichtlichen Sinne; vielmehr steht es natürlich jedermann frei, den Begriff metaphorisch zu benutzen und sein tertium comparationis frei zu wählen. Problematisch wird es allerdings, wenn – und dies ist bei ‘Diaspora’ ebenso zu beobachten wie bei ‘Hybridität’ – unter der Hand andere als die explizit aktualisierten Merkmale des Begriffs den Gebrauch als Metapher kontaminieren und zu überschreiben drohen. Bei einem erneuten Blick auf die oben zitierte Bemerkung über den “inflationary use of the term ‘diaspora’ to cover just about any type of existence away from the homeland” wird nun die Gefahr deutlich: Indem behauptet wird, es handele sich bei jeder Diaspora um eine “existence away from the homeland”, wird logischerweise jedem Angehörigen jeder Diaspora unterstellt, sein “homeland”, also “the land which is one’s home or where one’s home is”,36 sei nicht dasjenige, in dem er sich ‘diasporisch’ befindet, sondern dasjenige, auf das sich seine Diaspora – oder genauer: die ihm von außen zugeschriebene Diaspora – konstitutiv bezieht. Wenn es dann in expliziter Anwendung des Begriffs (nicht der Metapher) der Diaspora auf die Situation von Migranten generell heißt: “What is a live issue with all migrants, however, is the hope to return home – a hope that in many cases persists well beyond the point where one has settled down permanently abroad”,37 dann ist folgender Verdacht kaum noch zu zerstreuen: dass in der Fremdzuschreibung einer Diaspora-Existenz die Unterstellung des Rückkehrwunsches, die sich bereits den ‘Gastarbeitern’ gegenüber als nicht recht angemessen erwiesen hat, mehr oder minder postkolonialistisch verbrämt wiederkehrt. Ein Charakteristikum der Betrachtung deutscher Zusammenhänge scheint dabei eine Korrespondenz von Phänomenen zu sein, von denen nicht klar ist, ob (und in welcher Richtung) sie kausal miteinander zusammenhängen, von denen aber angenommen werden kann, dass sie sich wechselseitig verstärken: Ebenso wie in den letzten Jahren die Frequenz des Terminus ‘Diaspora’ in Betrachtungen ‘transkultureller’ Zusammenhänge zunimmt, begegnet auch die Parallelisierung ‘deutsch-türkischer’ und ‘deutsch-jüdischer’ Phänomene in zunehmendem Maße. Letztere findet sich auf mehreren Ebenen: in der Selbstbeschreibung von Migrantinnen und Migranten sowie deren soziologisOxford English Dictionary Online: http://dictionary.oed.com/cgi/entry/50107374? single1&query_typeword&querywordhomeland&first1&max_to_show 10 (5. 11. 2007). Wenn man hingegen “one’s native land” (ebd.) als ‘Synonym’ wählt, stellt sich das Problem, dass nicht klar ist, was ‘native’ in zweiter und höherer Generation heißen soll. – Baumann formuliert entsprechend umsichtiger: “Since the 1970s, ‘diaspora’ was increasingly used to denote almost every people living far away from their ancestral or former homeland”. Baumann: Diaspora [wie Anm. 22]. S. 313 (Hervorh. V.D.) 37 Fludernik: The Diasporic Imaginary [wie Anm. 22]. S. xv. 36
69 cher Beobachtung38 ebenso wie in der (angloamerikanischen) Deutschen Literaturwissenschaft39 sowie schließlich im politischen Leben (dort zuweilen in der Wiederkehr aus den 1970er Jahren bekannter Slogans, denen zufolge ‘die Türken’ die ‘Juden von heute’ seien). Dabei lassen sich zuweilen irritierende Beobachtungen machen. So erinnert die von soziologischer Seite formulierte These, “typisch” für die “Einwanderer” aus der Türkei seien “jüngere, in Deutschland aufgewachsene Geschäftsleute, Ärzte oder Rechtsanwälte, die längst dabei sind, ihrer Einwanderergruppe ein Deutschland angepasstes, modernes Gepräge zu geben”,40 wohl eher an idealisierende Darstellungen assimilierter Juden vor 1933 als an die Realität von Menschen mit Migrationshintergrund. Natürlich gibt es, was oft genug unterschlagen wird, erfolgreiche “Geschäftsleute, Ärzte oder Rechtsanwälte” mit Migrationshintergrund; aber sie als “typisch” zu bezeichnen, unterschlägt doch eine Reihe von Problemen, die in Deutschland aus der beharrlichen Verweigerung einer konstruktiven Einwanderungspolitik resultieren. Auch folgende These scheint schon für den US-amerikanischen Kontext, auf den sie bezogen ist, womöglich etwas zu blauäugig formuliert: “If one calls oneself a diasporic, then one would like to imitate the Jewish success-story – to be the same but different. It is thus no coincidence that economically advantaged groups were the first to take up the label ‘diaspora’: they, too, were on the way to becoming rich and respected despite holding on to their cultural difference”.41 Zumindest für Migranten in Deutschland und für deutschsprachige ‘Migrantenliteratur’ trifft diese Beobachtung nicht zu, denn von einer “Jewish success-story” kann hier ja nicht recht die Rede sein; zudem werden Migranten in Literatur oder die Produzenten von Migrationsliteratur in erheblich höherem Maße ‘diasporisch’ genannt, als dass sie sich selbst so nennen würden. Dennoch wird etwa von soziologischer Seite aus beobachtet, dass auch Türken, wenn auch “gänzlich anders”, in einer “diasporischen Situation” seien; für sie gebe es “nur wenige Vorbilder – oder genauer: es gibt nur eines, nämlich das der jüdischen Gemeinschaft”. Diese, die “jüdische Gemeinschaft” aber musste nach der Shoah “drastisch veränderte Narrative entwickeln”, die wiederum den “türkischen Neuankömmlingen sodann bereits zur Verfügung [standen]”.42 Weiter 38
Vgl. Y. Michal Bodemann und Gökce Yurdakul: Geborgte Narrative: Wie sich türkische Einwanderer an den Juden in Deutschland orientieren. In: Soziale Welt 56 (2005). S. 441–451. 39 Vgl. Leslie A. Adelson: Touching Tales of Turks, Germans, and Jews: Cultural Alterity, Historical Narrative, and Literary Riddles for the 1990s. In: New German Critique Nr. 80 (Spring–Summer 2000). S. 93–124. 40 Bodemann/Yurdakul: Geborgte Narrative [wie Anm. 38]. S. 442 [Hervorh. V.D.]. 41 Fludernik: The Diasporic Imaginary [wie Anm. 22]. S. xxi. 42 Bodemann/Yurdakul: Geborgte Narrative [wie Anm. 38]. S. 441.
70 heißt es in der zitierten Studie: “Angesichts des Unbehagens in den Beziehungen zwischen Juden und Deutschen nach der Schoah stünden hierbei die Türken als die natürlichen Partner der Juden zur Verfügung, als die ‘anderen Anderen’ in der deutschen Gesellschaft, freilich ohne die historische Bürde”.43 Hierzu ist freilich zu sagen, dass eine ‘den Juden’ vergleichbare Situation “ohne die historische Bürde” schlechterdings keine ‘den Juden’ vergleichbare Situation44 und dass die einzige Bürde, die in solchen Diskursen allen Beobachteten zugewiesen wird, wohl die Bürde der Repräsentation ist. Offenbar gibt es eine Reihe von (strukturellen) Gemeinsamkeiten zwischen Migranten und deutschen Juden; ebenso allerdings gibt es signifikante Kontraste, wie etwa die türkisch-muslimische Beobachtung einer “eigenen inneren Fragmentierung und organisatorischen Schwäche”, die “der vorgestellten jüdischen Geschlossenheit gegenübergestellt” wird.45 Und offenbar nutzen muslimische Institutionen das Judentum in der Tat als Form: auf der Suche “nach Modellen für diasporisches Leben”, “wobei die jüdische Gemeinschaft freilich idealisiert und deren innere Konflikte und innere Gegensätze übersehen werden”.46 Dass aber ein nach der Shoah entwickeltes jüdisches “Narrativ” “türkischen Neuankömmlingen […] zur Verfügung” stehe, ist ein Befund, der sich jedenfalls mit Beispielen aktueller deutschsprachiger Literatur nur schwer stützen lässt. Und es stünde doch eigentlich zu erwarten, dass sich Narrative auch und gerade in Literatur niederschlagen. Auch wenn ein einzelnes Beispiel natürlich keinerlei Beweiskraft hat und damit insbesondere die Behauptung einer Nicht-Existenz nicht verifiziert werden kann, soll doch kurz noch auf einen einzelnen literarischen Text eingegangen werden. Zafer S¸enocaks Roman Gefährliche Verwandtschaft (1998) ist zwar am Buchmarkt weitgehend spurlos vorübergegangen; in Diskursen über Diaspora und Hybridität spielt er aber eine prominente Rolle – und dies wohl nicht zu Unrecht. Der Ich-Erzähler des Textes, Sascha Muhteschem, Sohn einer jüdischen deutschen Mutter und eines türkischen Vaters, kehrt 1992 nach einem dreijährigen Aufenthalt in den USA nach Berlin zurück, das nicht mehr das Berlin ist, das er verlassen hatte. Dort erhält er, als Teil einer Erbschaft in mehrfachem Sinne,47 die Tagebücher seines türkischen Großvaters, die sich ihm aber nicht erschließen: weil sie in türkischer Sprache, die er nicht spricht, und obendrein in arabischer und kyrillischer Schrift, die er nicht lesen kann, 43
Ebd. S. 448. Dies gilt selbst dann, wenn mit großem argumentativen Aufwand behauptet wird, dass die Shoah doch in der Gegenwart keine Rolle spiele: weil dies dann eben, anders als in anderen Fällen, mit großem argumentativen Aufwand behauptet werden muss. 45 Bodemann/Yurdakul: Geborgte Narrative [wie Anm. 38]. S. 447. 46 Ebd. S. 446. 47 Vgl. Roland Dollinger: Hybride Identitäten: Zafer S¸enocaks Roman Gefährliche Verwandtschaft. In: Seminar 38 (2002). H. 1. S. 59–73. Hier: S. 66. 44
71 geschrieben sind. Der Schluss des Protagonisten: “Meine Aufgabe war es zu konstruieren, was nicht zu rekonstruieren war”.48 Er beschließt am Ende, “das Leben meines Großvaters nicht zu rekonstruieren, sondern zu erfinden” (8). In seiner Konstruktion hat sich der Großvater 1936 das Leben genommen, weil ihn die Vergangenheit eingeholt hat: Er hatte ein armenisches Mädchen eigenmächtig von einer von ihm selbst erstellten Deportationsliste gestrichen, und sie war seine Geliebte geworden. Ein Brief von ihr, von der er sich zwanzig Jahre zuvor getrennt hatte, in dem sie ihn an sein “Versprechen” erinnert, sich umzubringen, wenn ihre Beziehung ein Ende finden würde, wird Auslöser seines Suizids (136). An diesem Text nun lässt sich nicht Weniges demonstrieren, und das macht ihn, zu Recht, so attraktiv für den theoretischen Diskurs. Allerdings ist – gerade angesichts der Tatsache, dass der Autor S ¸ enocak selbst im theoretischen Diskurs als aktiver essayistischer Teilnehmer so präsent ist – womöglich der Verdacht nicht völlig abwegig, der Roman sei auch auf solche Demonstrierbarkeit hin geschrieben; dieser Eindruck wird noch dadurch verstärkt, dass in den Text hinein auch diskursive Passagen verwoben sind, die mit diskursiven Äußerungen in Essays desselben Autors durchaus zusammenstimmen (vgl. bes. 127–31). Von der Forschung mit Interesse bemerkt worden ist, dass die Parallele zwischen Türken und Juden, die der Roman in Nebenhandlungen zieht,49 im zentralen Handlungsstrang ersetzt ist durch eine “diskursive Assoziation der Shoa mit dem armenischen Völkermord”: “Während ihn die Familiengeschichte seiner Mutter zum Nachkommen der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus macht, wird der Ich-Erzähler durch die Verstrickungen seines türkischen Großvaters in den armenischen Genozid zum Erben einer Tätergeschichte”.50 Plausibel ist aber wohl die These, dass es dabei gar nicht um eine behauptete, problematische Parallele beider Genozide oder um die “elective affinity of genocidal guilt” geht, sondern vielmehr darum, “how such histories are remembered”. Eine andere Frage wiederum ist aber die nach der Reichweite des Problems: Geht es tatsächlich darum, “how they [sc. “such histories”] can be imagined and written at a time when the changing memory culture of
48
Zafer S¸enocak: Gefährliche Verwandtschaft. München: Babel 1998. S 51. Weitere Seitenangaben im Text. 49 So etwa in einer Episode mit einer “alte[n] Frau, die in einem vornehmen und sehr gepflegten Haus in Dahlem wohnt” und sagt, “daß die Türken heute viel schlimmer seien als die Juden damals. Die Juden hätten sich mit dem Deutschtum maskiert. Sie hätten einfach so getan, als wären sie Deutsche. Das hätte man ihnen zwar nicht abgenommen. Aber das sei dann ihr Problem gewesen. Sie überlegte eine Weile und fügte dann hinzu, Juden und Deutsche hätte eine Haßliebe verbunden. Zwischen Deutschen und Türken aber gebe es nur Haß” (Ebd. S. 65f.). 50 Dollinger: Hybride Identitäten [wie Anm. 47]. S. 62, S. 68.
72 Germany poses new problems of memory for the Turkish immigrants and their descendants”?51 Oder anders gefragt: Geht es eigentlich um das kulturelle Gedächtnis oder um individuelle Identität? Tatsächlich fordert die betont artifiziell konstruierte familiäre Genealogie der Ich-Erzählerfigur wohl eher dazu auf, “traditionelle Muster der persönlichen und kollektiven Identität zu überdenken”,52 als dass sie verallgemeinerbare Muster anböte. Die Provokation der türkischjüdischdeutschen Erzählerfigur […] liegt nicht nur darin, dass sie nationale, ethnische und religiöse Grenzen transzendiert und dem Leser die bisher üblichen Möglichkeiten der Klassifizierung und Fixierung als ‘Deutscher’, ‘Jude’ oder ‘Türke’ verweigert. Die Provokation geht tiefer und umfasst auch die heteronomen historischen Narrative, die Saschas Identität mitkonstituieren und einen Platz inmitten jener Diskurse beanspruchen, die das imaginäre Gebilde ‘deutsche Nation’ produzieren.53
Indem im Ich-Erzähler “die historischen Narrative mehrerer Nationen, ethnischer Gruppen und Kulturen zusammenfließen”, ist er selbst als ‘hybrid’ in einem unmittelbar einleuchtenden Sinn ausgewiesen.54 Allerdings legt der Roman zwei Missverständnisse wenigstens nahe: Zum einen kann er in dem oben skizzierten, reduktionistischen Sinne als ‘hybrid’ gelesen werden, dass sein Protagonist ein ‘Mischling’55 aus ihrerseits jeweils homogen verstandenen Ethnien: der deutschen, der jüdischen und der türkischen ist; zum anderen bietet der Text selbst eine Allegorese dieser individuellen Geschichte als kollektive an, die sich wiederum im Sinne eines reduktionistischen Verständnisses von ‘hybrider Kultur’ verstehen lässt: “Im Deutschland von heute stehen Juden und Deutsche einander nicht mehr allein gegenüber. Vielmehr ist eine Situation eingetreten, die meiner persönlichen Herkunft und Situation entspricht” (89f.). Nun besteht des Protagonisten “persönliche Herkunft und Situation” aber darin, dass er Nachkomme einer deutsch-jüdischen Mutter und eines türkischen Vaters ist, deren jeweilige kollektive Identität nicht als hybrid charakterisiert ist: Der Vater ist Türke und die Mutter ist deutsche Jüdin (und das heißt: Jüdin in Deutschland). Bezogen auf seine “persönliche Herkunft und Situation” erweist sich der vom Erzähler ‘phantasierte’ “Trialog zwischen Deutschen, Juden und Türken” (90) auf diese Weise als Trialog von monologischen Stimmen. In der Realität aber – und hier fehlt der 51
Andreas Huyssen: Diaspora and Nation: Migration Into Other Pasts. In: New German Critique. Nr. 88 (2003). S. 147–164. Hier: S. 160. 52 Dollinger: Hybride Identitäten [wie Anm. 47]. S. 60. 53 Ebd. S. 72. 54 Ebd. S. 71. 55 Zu der in deutschen Diskursen verbreiteten grundsätzlichen Tendenz dieser Verwechslung vgl. Todd Herzog: Hybrids and Mischlinge: Translating AngloAmerican Cultural Theory into German. In: The German Quarterly 70 (1997). S. 1–15.
73 Allegorie ein entscheidendes tertium comparationis – sind die einzelnen Stimmen ihrerseits polylogisch. Eine Lesart, die hier, mit postkolonialistischem Vokabular verbrämt, in die Falle des Essentialismus geht und schließt, der Text plädiere für einen Trialog der Deutschen, der Juden und der Türken, kann sich immerhin auf den Wortlaut des Textes stützen. Dass also der “Gehalt dieses Romans”56 sogar im strikten technischen Sinne hybrid ist, weil er auf die differentielle Natur kollektiver kultureller Identität aufmerksam macht, kann auch bezweifelt werden. Auf jeden Fall aber ist er weniger ein Beispiel dafür, “wie die zeitgenössische Literatur von Minderheiten die Konstruktion von hybriden Identitäten, und zwar sowohl auf personaler als auch kollektiver Ebene, zu einem zentralen Motiv macht”;57 vielmehr doch ist das Ziel des Textes, “to point to other lived experiences precisely in order to question the idea of an identity that is representative”.58 Sascha Muhteschems Begegnungen mit der Vergangenheit, mit seinem türkischen und jüdischen Erbe “counterpoint and complement each other within the narrative and illustrate, in very specifically delineated contexts, the ways in which individuals take up particular aspects of their heritage in construction of their identities in the present”.59 Es geht also nicht darum, diese eine besondere hybride Identität zum Repräsentanten hybrider kollektiver Identitäten oder gar des Moments der Hybridität zu machen. Der Erzähler ist zunächst auf der Suche nach sich selbst: “Ich sehnte mich danach, tiefere Schichten meiner selbst zu finden. Diese Tiefe war nur durch die Entdeckung meiner Herkunft zu erreichen. […] Plötzlich erschien mir Großvater als das Geheimnis, das zwischen mir und meiner Herkunft stand. Ich mußte mein Geheimnis lüften, um zu mir selbst zu kommen” (118, meine Hervorh.). Und auch wenn diese Suche in die Tiefen der türkischen Geschichte führt und nationale kulturelle Erinnerung (über das Moment des Genozids) problematisiert wird: Sascha Muhteschem wird nicht als Angehöriger eines Kollektivs vorgestellt; vielmehr kritisiert er, dass generell “die Frage der Zugehörigkeit […] in Deutschland eine Existenzfrage ist” (12) – und: “Wer oder was man ist, kann man sich nicht aussuchen, das entscheiden die anderen, die einen nicht zu sich zählen” (39). Das ‘typisch deutsche’ existentielle Gewicht der “Frage der Zugehörigkeit” zu einem Kollektiv habe sich, so Sascha Muhteschem wohl in Übereinstimmung mit seinem Autor, durch Mauerfall und Wiedervereinigung eher noch erhöht:
56
Dollinger: Hybride Identitäten [wie Anm. 47]. S. 71. Ebd. S. 59. 58 Katharina Hall: ‘Bekanntlich sind Dreiecksbeziehungen am kompliziertesten’: Turkish, Jewish and German Identity in Zafer S ¸ enocak’s Gefährliche Verwandtschaft. In: German Life and Letters Vol. LVI No. 1 (Jan. 2003). S. 72–88. Hier: S. 74. 59 Ebd. S. 75. 57
74 Ich hatte keine Identität. Damit hatten die Menschen in meiner Umgebung zunehmende Probleme. Es war, als hätte der Fall der Mauer, der Zusammenbruch der alten Ordnung, nicht nur eine befreiende Funktion gehabt. Ohne Mauer fühlte man sich nicht mehr geborgen. Identität ist zum Ersatzbegriff für Geborgenheit geworden. Man fixiert sich, den anderen, seine Herkunft, um Nähen und Distanzen zu bestimmen. (47)
Er selbst ist aber weder eindeutig Deutscher noch Türke noch Jude;60 aber er ist auch nicht Repräsentant der Gruppe der Weder-Deutschen-nochTürken-noch-Juden: “Eigentlich fühle ich mich wohler, wenn ich nicht Teil einer Schicksalsgemeinschaft bin” (121). Dass “neither S ¸ enocak nor his work are to be considered diasporic in the simple traditional sense”, ist wohl richtig (und das nicht nur “in the simple traditional sense”, sondern in jedem begrifflich scharfen Sinne). Dass der Roman oder seine Hauptfigur nicht als “diasporic” bezeichnet werden können, zeigt aber nicht, dass “the traditional understanding of diaspora as loss of homeland and desire to return itself becomes largely irrelevant for the second and third generations”.61 Wenn also “loss of homeland and desire to return” für die Erzählerfigur “largely irrelevant” sind, dann wohl nicht deswegen, weil sie für ein von der Figur repräsentiertes Kollektiv irrelevant wären, sondern weil das Konzept der Diaspora hier gar nicht anwendbar ist (es sei denn um den Preis der weitgehenden Entleerung des Begriffs). Vielmehr sollte dies als Hinweis darauf gewertet werden (und diesmal wird aus der Existenzaussage ein logisch wahrer Satz), dass nicht jede ‘hybrid’ konstruierte individuelle Identität Repräsentant für ein mehr oder minder diasporisches Kollektiv ist. Es ist also nicht hilfreich, sondern eher entdifferenzierend, wenn die Prädikate ‘hybrid’ und ‘diasporisch’,62 wenn die Begriffe Migranten- und Diasporaliteratur
60
“He [Sascha] does not apply the term Turk or Jew or German to himself but he does not reject any of them either. He reads widely on world religions but he does not identify with any one. S¸enocak’s narrator […] is a postmodern subject who is well aware of his family history but refuses to let the past delimit his psychological and narrative options”. Katharina Gerstenberger: Difficult Stories. Generation, Genealogy, Gender in Zafer S¸enocak’s Gefährliche Verwandtschaft and Monika Maron’s Pawels Briefe. In: Recasting German Identity. Culture, Politics, and Literature in the Berlin Republic. Hg. von Stuart Taberner und Frank Finlay. Rochester (NY) u.a.: Camden House 2002. S. 235–249. Hier: S. 239. 61 Huyssen: Diaspora and Nation [wie Anm. 51]. S. 162. 62 Vgl. etwa Stuart Hall: Kulturelle Identität und Dispora. In: Ders.: Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2 [wie Anm. 11]. S 26–43. Hier vor allem S. 41: “Das Verständnis der Dispora-Erfahrung, um das es mir geht, wird nicht von Essenz oder Reinheit bestimmt, sondern von der Anerkennung notwendiger Heterogenität und Verschiedenheit; von einem Konzept von ‘Identität’, das mit und
75 als mehr oder minder synonym verstanden werden. Vielmehr lassen sich doch verschiedene Strukturmomente unterscheiden – was man sieht, wenn man einen Schritt zurück tritt und einmal jenseits eingeschliffener Begrifflichkeit eine grundsätzliche Überlegung anstellt: Ein von woanders her stammendes Minderheitenkollektiv in einer Mehrheitsumgebung hat doch wohl drei grundsätzliche Möglichkeiten, mit seiner Situation umzugehen: Es kann versuchen, in der Majorität aufzugehen; es kann sich abgrenzen, indem es sich auf seine Herkunft bezieht (auch ohne damit zugleich die Hoffnung auf Rückkehr zu verbinden – und sei sie eschatologisch gedacht); oder es kann schließlich seine Identität als ein neues Drittes begreifen: als diese besondere Minderheit im Raum dieser besonderen Mehrheit. Das erste Moment ist unter dem Namen Assimilation bekannt und für unsere Zusammenhänge eigentlich uninteressant: weil sein Spezifikum in der Negation von Spezifika besteht. Das zweite Moment, das der Abkapselung, ist diasporisch, und das dritte konstituiert einen ‘Dritten Raum’, einen hybriden Zwischenraum, in dem individuelle Identitäten ausgehandelt werden können.63 Und da es weder notwendigerweise noch auch nur faktisch so ist, dass die beiden abgrenzenden Strategien jeweils strikt alternativ sind; weil es also Zwischenräume mit starkem Bezug auf die Herkunft gibt, in denen etwas Neues entsteht, das sich als Transformation eines Ursprünglichen versteht, das erinnert wird, ohne dass es in seiner Reinheit belassen werden soll – aus diesen Gründen sollte man nicht von Diaspora oder Zwischenraum reden, sondern von
von – nicht trotz – der Differenz lebt, das durch Hybridbildung lebendig ist. Die Identitäten der Diaspora produzieren und reproduzieren sich ständig aufs Neue, durch Transformation und Differenz”. – Zur Kritik an solchen Entdifferenzierungen vgl. etwa Baumann: Diaspora [wie Anm. 22]. S. 324f. 63 Wenn “Integration” kein Euphemismus für Assimilation sein soll, dann kann auch sie sich nur in einem dritten Raum vollziehen: als differentielle Auseinandersetzung sich Integrierender, die weder diese selbst noch das, wo hinein sie sich integrieren, unverändert lässt. – Vgl. in diesem Sinne auch die frühe These Leslie Adelsons, der zufolge es S ¸ enocak im Gegensatz zu dem “all to common single-minded focus on Turkish-German literature as a sociological encounter between two distinct national cultures” nicht um eine “assimilation to an unchanged German culture” zu tun sei, sondern um die “creation of something new by Turks who are also Germans. This means Germans who are also Turks”. Leslie A. Adelson: Minor Chords? Migration, Murder, and Multiculturalism. In: Wendezeiten Zeitenwenden. Positions-bestimmungen zur deutschsprachigen Literatur 1945–1995. Hg. von Robert Weninger und Brigitte Rossbacher. Tübingen: Stauffenburg 1997. S. 115–129. Hier vor allem S. 123 und S. 126; vgl. dazu Dollinger: Hybride Identitäten [wie Anm. 47]. S. 62.
76 diasporischen64 bzw. hybriden Strukturen, die in jeweils völlig unterschiedlichen Verhältnissen zueinander stehend gemeinsam vorkommen können. Dabei sollte allerdings sorgfältig differenziert werden, wer diese Charakterisierungen eigentlich vornimmt: So ist die Zuschreibung des Begriffs Diaspora, wie gezeigt, wenig sinnvoll, wenn sie nur von außen vorgenommen wird, wenn ihr also in der Selbstbeobachtung des Kollektivs gar keine spezifische Gedächtnisfunktion entspricht. Wenn diese Gedächtnisfunktion aber fehlt, dann gibt es kein kollektives Bewusstsein einer gemeinsamen ‘ursprünglichen’ Herkunft; von einem Kollektiv, das sich über eine ursprüngliche Herkunft definiert, könnte dann nicht gesprochen werden, sondern nur von einer Kategorie von Personen, die über ihre Herkunft definiert und auf ihre Herkunft festgeschrieben wird.65 Und ebenso wenig sinnvoll ist es, jemandem eine Repräsentationsfunktion für ein Kollektiv zuzuschreiben, für das derjenige gar nicht sprechen will. Genauso wie es ein Trugschluss ist, dass jeder Mensch mit Migrationshintergrund ‘in der Diaspora’ lebt, ist es verfehlt zu fordern, dass jeder Text aus der Feder eines Menschen mit Migrationshintergrund einen dritten Raum für die Individuen eines Kollektivs konstituiert.66 Nicht jeder, dem man auf den Kopf zusagt, er gehöre zu einem Kollektiv, das man für eine Diaspora hält, schreibt deswegen hybride Literatur – außer in dem zwar tautologischen, aber keineswegs banalen Sinne, dass jede Literatur hybrid ist.67
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Schon Clifford geht nicht von Diasporen, sondern von diasporischen Momenten aus, die mehr oder weniger ausgeprägt vorliegen können. Vgl. Clifford: Diasporas [wie Anm. 33]. S. 310; auch Baumann plädiert für die Betrachtung weniger der Entität ‘Diaspora’ als vielmehr der Qualität ‘diasporisch’. Baumann: Diaspora [wie Anm. 22]. S. 326. 65 Baumann betont die “perpetual collecting identification with a fictitious or far away existent geographic territory and its cultural-religious traditions. […] It is this identificational focus which in biblical terms ‘gathers the dispersed’ (Jer 32, 37–38) and forms their specific collective identity”. Baumann: Diaspora [wie Anm. 22]. S. 327. 66 Vgl. auch Leslie A. Adelsons Kritik an einem verbreiteten “soziologischen Positivismus”, demzufolge “Literatur empirische Wahrheiten über Migrantenleben widerspiegelt und […] die Biografien von Autoren ihre Texte so gründlich erklären, dass es nahezu überflüssig ist, diese literarischen Texte zu lesen”. Adelson: Against Between [wie Anm. 21]. S. 37. 67 Vgl. Michail M. Bachtin: Die Redevielfalt im Roman. In: Ders.: Die Ästhetik des Wortes. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1979. S. 192–218. Hier vor allem S. 209. – Hybrid, also dialogisch ist aber nicht nur das Wort im Roman, sondern, qua Intertextualität, jedes Wort; vgl. Julia Kristeva: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman. In: Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven. Hg. von Jens Ihwe. 3 Bde. Frankfurt/M.: Athenäum 1972. Bd. 3. S. 345–375.
Alexandra Lübcke
Enträumlichungen und Erinnerungstopographien: Transnationale deutschsprachige Literaturen als historiographisches Erzählen This chapter explores the connection between migration, transnational experience, literature and memory.1 The first part sets transnational literature into a conceptual context with contemporary cultural dynamics that produce global interconnections and heterogeneous identities. Within these historiography and memories attain particular relevance. These are discussed in the second part which looks at the concept of cultural memory and the rewriting of national (German) memory narratives by processes of migration and their actants. In this context I develop the concept of ‘topographies of memory’ as a dynamic, spatially and temporally interlinked concept of absent/present memory content. This is concluded by exemplary readings of Zafer S¸enocak’s Gefährliche Verwandtschaft, Yadé Kara’s Selam Berlin und Feridun Zaimog˘lu’s Leyla.
I. Migration und Transnationalisierungen ‘Migrantenliteratur’ – so heißt es oft, wenn die direkte biographische Verknüpfung von Literatur und Migration gemeint ist. Diese Etikettierung zieht jedoch sofort Fragen nach sich: Ist es Literatur, in der es um Migration geht? Sind die Schreiber und Schreiberinnen MigrantInnen, oder sind es die Leser/Innen – und wenn ja, welche räumlichen Bewegungen müssen sie genau für diese Kategorisierung vollziehen? Sind die Texte während der Migration entstanden, auf dem Weg, und muss dieser Weg schon abgeschlossen sein? Ausdruck dieser fragwürdigen Setzung sind nicht zuletzt die Sortierungen in den Regalen der Buchhandlungen. So passiert es nicht selten, dass Bücher von Emine Sevgi Özdamar oder Selim Özdogan beispielsweise unter der Rubrik ‘türkische Literatur’ oder ‘Türkei’ zu finden sind. Ein Beispiel dafür, dass also auch Namen – die letzten vermeintlichen Fixpunkte kultureller Zugehörigkeiten – zu sehr trügerischen Zeichen werden können. Betrachtet man zudem die gegenwärtigen politischen Debatten nicht nur in Deutschland um ‘Assimilation’ und ‘Integration’, dann scheint dieses eher buchhändlerische Phänomen wohl auch in diesem Kontext zu verorten zu sein. Sind diese KünstlerInnen so sehr ‘unterwegs’, werden sie von der so genannten Mehrheitsgesellschaft so wenig als 1
Diese Überlegungen sind nicht zuletzt Ergebnisse eines sehr fruchtbaren transnationalen und transdisziplinären gedanklichen und schriftlichen Austausches mit Hiltrud Arens (Missoula), Stefanie Michels (Köln und Hannover) und Claudia Lenz (Oslo und Hamburg).
78 zugehörig begriffen, dass sie im mehrfachen Sinne des Wortes an einen anderen Ort sortiert und kategorisiert werden? Nur unbefriedigende und keinesfalls kohärente Antworten lassen sich auf die oben aufgeworfenen Fragen zu ordnenden Begrifflichkeiten finden. Glücklicherweise meines Erachtens, da diese Art der Ratlosigkeit zu einer produktiven Auseinandersetzung und zur Dekonstruktion dieser einordnenden Setzung führen. Retten lässt sich der Begriff ‘Migrantenliteratur’ wohl nur, wenn er als politische Kategorie strategisch eingesetzt wird. Denn dann deutet er auf ungleiche gesellschaftliche Machtverhältnisse, auf die unterschiedlichen Sprech-Orte von Subjekten, die “Positionen der Artikulation”2 bzw. der Repräsentation, die immer auch als ein Diskurs zu begreifen sind. Und er verweist in diesem Zusammenhang nicht zuletzt auf eine oftmals kanonisch orientierte nationale Literaturwissenschaft und einen nach Markterfolgen ausgerichteten Literaturbetrieb. Eine andere sprachliche Hilfskonstruktion, um literarische Texte des nationale Grenzen überschreitenden Unterwegsseins zu benennen stellt die Bezeichnung ‘transnationale Literatur’ dar. Sie wird im Folgenden genutzt, um zum Einen weitere Reproduktionen homogener Zuschreibungen weitgehend einzuschränken. Zum Anderen soll dieser Arbeitsbegriff einen weiteren gedanklichen Zusammenhang aufreißen, der die thematischen Felder Nation – Erinnerung – Geschichte – Erzählungen umkreist. Der zugegebenermaßen vage Begriff transnational umreißt gegenwärtige gesellschaftliche und kulturelle Dynamiken, die auf Pluralisierungen, Umbrüche und Heterogenitäten deuten. Arjun Appadurai versucht diese Wandlungen mit dem postkolonialen Begriff der “Enträumlichung” zu fassen.3 Die Prozesse und Dynamiken von Migration und globalen Interaktionen lösen die vermeintlich untrennbaren Verbindungen zwischen Nationen, Kulturen, Territorien, Ressourcen – zu letzteren gehören auch daran geknüpfte Geschichte und Geschichten – und wandeln das Verständnis kultureller Identitäten von einem fixen, naturalisierten hin zu einem dynamischen, heterogenen Konzept. Die Suche nach einer eindeutigen, authentischen und damit immer auch ‘reinen’ Identität stellt zwar in den mannigfaltigen restaurativen Versuchen von Nationalisierung eine wirkmächtige Praxis dar. Gleichwohl muss diese Vorstellung von Identität immer eine Illusion bleiben. Denn Identität ist keinesfalls die feste unveränderliche Größe, wie sie im abendländischen 2
Stuart Hall: Die Frage der kulturellen Identität. In: Ders.: Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2. Hamburg: Argument 1994. S. 180–222. Hier: S. 26. 3 Arjun Appadurai: Globale ethnische Räume. Bemerkungen und Fragen zur Entwicklung einer transnationalen Anthropologie. In: Perspektiven der Weltgesellschaft. Hg. von Ulrich Beck. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998. S. 11–40. Hier: S. 13.
79 Subjektivitätsentwurf gedacht wird, sondern ein stetig veränderliches Produkt vielfältiger Konstruktionsprozesse, ein dynamisches, netzartiges Gebilde, das sich aus unterschiedlichen Bezugsgrößen – wie eben auch Vergangenheit und Zukunft – generiert. Diese Grundannahme reflektieren postmoderne Identitätskonzepte mit Begriffen wie “Positionierung”4 und “verknotetes Subjekt”.5 Diese Konzepte von Identität hinterfragen und demontieren tradierte und normierende Vorstellungen; wechselseitig spielt dabei auch der Diskurs der Globalisierung eine immer stärkere Rolle, denn Gesellschaften sind zunehmend Prozessen von komplexen Verflechtungen ausgesetzt, die die nationalen Fixierungen mehr und mehr auflösen.6 Die globalen freiwilligen oder unfreiwilligen Wanderungsbewegungen wie Einwanderung, Exil, Vertreibung führen dabei – trotz ihrer sehr unterschiedlichen individuellen und sozialen Bedingungen und Folgen – zu einem Moment der “DissemiNation” – wie der postkoloniale Denker Homi Bhabha es in einem Wortspiel nennt.7 Ein Moment der Streuung verbunden mit der Auflösung ebenjener scheinbar eindeutigen Fixpunkte wie ‘Nation’, ‘Vaterland’, ‘nationale Identität’. Die vermeintlich eindeutigen Zugehörigkeiten sind fragiler und brüchiger denn je in den gegenwärtigen transnationalen Prozessen. Gleichzeitig jedoch bilden diese Momente von Enträumlichung und Streuung eine Reibungsfläche mit hegemonialen nationalen Diskursen vorgeblich homogener Gemeinschaften. Versuche, und ihre konkreten politischen Folgen, Fixpunkte wie Herkunft, Geschichte und damit Gemeinschaften zu bestimmen, repräsentieren sich nicht zuletzt in den stark regulierenden Staatsangehörigkeitsentwürfen bzw. Einwanderungsgesetzgebungen. Sie stehen dem Selbstverständnis einer heterogenen, pluralen, nicht mehr ausschließlich ethnisch fixierbaren Identität entgegen. Sie generieren unter anderem Konzepte wie ‘Leitkultur’ und ‘Assimilation’, die reflektieren, wie sehr die ethnische, nationale oder auch religiöse Herkunft zu einem Bezugspunkt in den sozialen, politischen und symbolischen Praktiken gerät. So durchziehen beispielsweise die Spuren des Jus sanguinis das hart umkämpfte deutsche Zuwanderungsgesetz, das auch namentlich immer noch kein Einwanderungsgesetz sein darf, und in dem letztlich auch weiterhin das 4
Stuart Hall: Die Frage der kulturellen Identität [wie Anm. 2]. S. 26f. Zu diesem Konzept und seiner multiperspektivischen, vor allem postkolonialen, “Theoriegeschichte” vgl. den Sammelband Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte. Hg. von Elisabeth Bronfen, Benjamin Marius und Therese Steffen. Tübingen: Stauffenburg 1997. Hier vor allem die Einleitung S. 4f. 6 Vgl. Perspektiven der Weltgesellschaft. Hg. von Ulrich Beck [wie Anm. 3]. S. 9f. 7 Homi K. Bhabha: DissemiNation: Zeit, Narrative und die Ränder der modernen Nation. In: Hybride Kulturen [wie Anm. 5]. S. 149–194. 5
80 Konzept der Volks- und Kulturnation dominiert.8 Automatisch ‘deutsch’ ist man immer noch qua Geburt, qua ‘natürlicher’ Weitergabe der essenzialistisch entworfenen Staatsangehörigkeit. Eine ‘deutsche’ Mutter und ein ‘deutscher’ Vater garantieren das ‘Deutschsein’ des Kindes. Der Ein- bzw. wörtliche Zutritt in das ethnisch verfasste Kollektiv kann nur mittels ‘Bewerbung’ um die Zugehörigkeit erfolgen, über die in einem entsprechenden Verfahren entschieden wird. Der Eintritt in das vermeintliche Kollektiv erfolgt auf Basis dieses ‘Prüfungsverfahrens’, in dem der soziale Status eine wesentliche Rolle spielt, und kostet Geld. Bedenkt man allerdings, dass auch das ‘Deutschsein’ aufgrund der zunehmenden Einbürgerungen von ImmigrantInnen gegenwärtigen Umbrüchen unterliegt, bleibt offen, inwiefern auch dieses vermeintlich homogene Konzept einer intergenerativen Wandlung unterliegt. Um einen Entwurf einer heterogenen staatsbürgerlichen Gemeinschaft mit Mehrsprachigkeit, ethnischer Vielfalt, pluralen Erinnerungskulturen und miteinander verflochtenen Geschichten wird auch weiterhin hart gerungen. Wobei die immer noch dominierende ethnische Fixierung in den Debatten um Einwanderung zu einer ebenso ethnischen Hierarchisierung von ImmigrantInnen führt: So sind es nur türkische, mehrheitlich weibliche, Ehepartner, die deutsch lernen müssen, bevor sie durch den so genanten Familiennachzug in die Bundesrepublik Deutschland kommen dürfen. In diesem Spannungsfeld, das sich in den gegenwärtigen Umbrüchen auftut, scheint der Geschichte als erinnerte Vergangenheit, der Geschichtspolitik und der Geschichtsschreibung als kultureller Praxis eine besondere Rolle zuzufallen.
II. Migration und Erinnerung An dieser Stelle komme ich zu einem dritten nicht eindeutig fassbaren Begriff in meinen Überlegungen: das kulturelle Gedächtnis. Dieses erscheint als ein zentrales Feld, in dem Geschichtsbilder, Geschichtserfahrungen, Erinnerungen, Migration und Diskurse des Nationalen aufeinander stoßen. Die paradigmatischen kulturwissenschaftlichen Auseinandersetzungen von Jan und Aleida Assmann um dieses Konzept haben zu einer Vorstellung von kulturellem Gedächtnis geführt als dem Bestand an Wiedergebrauchs-Texten, -Bildern und -Riten einer jeden Gesellschaft und Epoche. Deren Pflege stabilisiert und vermittelt deren Selbstbild, das 8
Das “Gesetz zur Reform des Staatsangehörigkeitsrechts” (StAG) trat am 1. Januar 2000 in Kraft. Wesentliche Neuerung ist die nunmehr mögliche ‘automatische’ deutsche Staatsangehörigkeit für Kinder ausländischer Eltern, die nach dem 1. 1. 2000 in der BRD geboren sind. Bedingung dafür ist, dass mindestens ein Elternteil acht Jahre vor der Geburt des Kindes regelmäßig und rechtmäßig in Deutschland gelebt hat.
81 Bewußtsein von Einheit und Eigenart einer Gemeinschaft stützt sich auf ein kollektiv geteiltes Wissen vorzugsweise über die Vergangenheit.9
Eine Art Archiv, auf das zurückgegriffen wird und das einen Ort bildet für die Wechselwirkungen von Erinnerung, Identitätsbildung und politischer Machtausübung. “Selbstbilder werden von Gesellschaften imaginiert” und über “Generationenfolgen hinweg in Form einer Identität kontinuiert mittels einer spezifischen Form der Erinnerungskultur”.10 So existiert in der gegenwärtigen Bundesrepublik zum Einen der historiographische Diskurs nationalsozialistischer Vergangenheit und Shoah. Der Nationalsozialismus stellt ein, wenn nicht sogar das, zentrale(s) historische Narrativ in den Erinnerungen der deutschen, im Besonderen westdeutschen Bevölkerung dar – wie sozialwissenschaftliche Untersuchungen herausstellen.11 Dabei findet in den verschiedenen Erinnerungsdiskursen auch immer wieder eine Nationalisierung dieses Erinnerungsnarrativs statt. Die jüngsten Auseinandersetzungen darum, ob nun ein amerikanischer Scientologe den ‘nationalen Widerstandshelden’ Stauffenberg in der gleichnamigen Hollywoodproduktion spielen darf und ihm damit moralisch gerecht wird; sowie das harte innen- und außenpolitische Ringen zwischen der Bundesrepublik und europäischen Nachbarländern wie Polen und Tschechien um den Ort eines “Zentrums gegen Vertreibungen” sind nur zwei Beispiele dafür. In diesem Zusammenhang steht auch das ethnisch homogene Konzept von Heimat der deutschen Vertriebenenverbände und ihrer Dachorganisation, dem Bund der Vertriebenen. In seiner Analyse des deutschen Opferdiskurses nach 1990 und der ‘Gedächtnispolitik’ der Vertriebenenverbände identifiziert Samuel Salzborn deren Heimat-Konzept als völkisch. Der ethnisch naturalisierte Entwurf der Volksnation wird hier zum konstitutiven Element des Diskurses von Heimat und Vergangenheit. Salzborn reflektiert dabei auch die Re-Zitation der nationalsozialistischen ‘Volkstumspolitik’ für eine rassisch gedachte
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Jan Assmann: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. In: Kultur und Gedächtnis. Hg. von Jan Assmann und Tonio Hölscher. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1988. S. 9–19. Hier: S. 15. 10 Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: Beck 1992. S. 18. 11 Vgl. dazu vor allem die zahlreichen Arbeiten von Harald Welzer und dem Center for Interdisciplinary Memory Research in Essen, v.a. Harald Welzer et.al.: Opa war kein Nazi. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Frankfurt/M.: Fischer 2002.
82 Germanisierung in den politischen Diskussionen der Vertriebenenverbände um ein “Zentrum gegen Vertreibungen”.12 Zum Anderen zirkuliert der politische Diskurs einer neuen, global agierenden Bundesrepublik mit ihrem sich wandelnden Selbstverständnis als modernes Einwanderungsland, das der Globalisierung und ihren ökonomisch-kulturellen Herausforderungen gewachsen sein soll. Kulturelle Diversität und Pluralisierungen verweisen dabei nicht nur permanent auf die Brüchigkeit einer Vorstellung von kollektiver nationaler Identität im Sinne einer ethnisch homogenen Gemeinschaft und ihrer Vergangenheit. Sie führen gleichzeitig zu einem erinnerungspolitischen und erinnerungskulturellen Umbruch. Denn die unterschiedlichen AkteurInnen schreiben sich mit ihrer Geschichte, ihren Erzählungen und deren Protagonisten in dieses Feld ein und verändern es. Und zu diesen Einschreibungen im wörtlichen Sinne gehören auch die transnationalen Erzählungen, die um Wanderungen, Identität, Sprache, Geschichte und kulturelle Diversitäten kreisen. Verbunden sind damit in diesem Land Namen wie Özdamar, Senoçak, Schami, Ören, Engin, Zaimog˘lu, Kara, Tawada, Mora, Kaminer usw. Diese Auflistung ließe sich um ein Vielfaches ergänzen und auf andere Genres wie Film und Kabarett ausweiten. Eine Untersuchung zu Geschichtsbildern von jungen MigrantInnen in Deutschland fokussiert mittels zahlreicher narrativer Interviews von sozialwissenschaftlicher Seite diese Umbrüche.13 Dieser kurze interdisziplinäre Exkurs soll an dieser Stelle folgendes herausstellen: Er erscheint wie das wissenschaftliche Pendant zu den künstlerischfiktiven Kanak-Attak-Protokollen Feridun Zaimog˘lus, monologisch entworfenen Erzählungen des Selbst deutsch-türkischer Jugendlicher: Kanak Sprak und Koppstoff heißen die Authentizität vorgaukelnden und in Interviewform präsentierten Selbstverortungen.14 In einem radikalen, artifiziellen Code-Switching zwischen Hochdeutsch, Slang, Dialekten, Anglizismen und hybriden Wortkonstruktionen erzählen und positionieren sich Jugendliche, indem sie
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Samuel Salzborn: The German Myth of a Victim Nation: (Re-)presenting Germans as Victims in the New Debate on their Flight and Expulsion from Eastern Europe. In: A Nation of Victims? Representations of German Wartime Suffering from 1945 to the Present. Hg. von Helmut Schmitz. Amsterdam – New York: Rodopi 2007 (German Monitor 67). S. 87–104. Hier: S. 88f. und S. 92f. Für diesen Hinweis danke ich Helmut Schmitz, der mich auf die besondere Verknüpfung von aktuellen deutschen Opferdiskursen und einem ethnisch fixierten Identitätsentwurf aufmerksam machte. 13 Vgl. Viola Georgi: Entliehene Erinnerung: Geschichtsbilder junger Migranten in Deutschland. Hamburg: Hamburger Edition 2003. 14 Vgl. Feridun Zaimog˘lu: Kanak Sprak. 24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft. Hamburg: Rotbuch 1995 und Koppstoff. Kanaka Sprak vom Rande der Gesellschaft. Hamburg: Rotbuch 1998.
83 auch auf nationale deutsche Erinnerungsfigurationen zurückgreifen und diese in Bezug zur erzählten ‘eigenen’ Erfahrung setzen. ‘Getto’, ‘Arisch’ und ‘Germanisch’, ‘Jüdisch’, ‘KZ’ bilden zentrale Referenzen für Beschreibungen von Rassismus und eigene Ausgrenzungserfahrungen der ErzählerInnen. In den beiden Textprojekten werden dabei sehr unterschiedliche Entwürfe von Lebensgeschichten präsentiert – sehr unterschiedliche Entwürfe von Identität. Gemeinsam ist ihnen jedoch ein Moment von Ausschluss, ein Ringen um Gehör der eigenen Geschichte(n), eine Suche nach Repräsentation. Die Autorin der oben genannten Studie, Viola Georgi, stellt nun ihrerseits fest, dass die dominierenden Vergangenheitsdiskurse sich mehrheitlich um eine durch Abstammung begründete deutsche Gemeinschaft drehen. Dies muss – nicht nur in einer Einwanderungsgesellschaft – zu Ausschlüssen führen, da dann das so genannte kulturelle Gedächtnis von einem völkisch, ethnisch fixierten nationalem Selbstverständnis bestimmt ist.15 Georgi knüpft diesbezüglich mit ihrer Studie nicht zuletzt an Fragen an, die schon Dan Diner Mitte der 1990er Jahre in seinen Reflexionen zu “Nationalisozialismus und Gedächtnis” aufwarf.16 Auch wenn Diner hier einen anderen Gedächtnisbegriff hat und von einem eher geschlossenen kollektiven Gedächtnis ausgeht, verweist er doch auf ein wichtigs Moment in den bundesrepublikanischen Erinnerungsdynamiken. So stellt er fest, dass sich die Attribute der Zugehörigkeit über die Herkunft rationalisieren und nennt es den ethnischen Ethnos.17 Indem kollektives Gedächtnis und Nationalsozialimus direkt verbunden bleiben, konstitutieren sich Diner zufolge ethnisch bestimmte Zugehörigkeiten innerhalb des so genannten Erinnerungskollektivs. Die Partizipation deutscher Bürger so genannter nichtdeutscher ethnischer Herkunft – hier vertritt Diner den aufklärerischen Entwurf universeller Bürger- bzw. Menschenrechte – am Gedächtnis ist somit ausgeschlossen.18 Interessant scheint mir hier trotz der anderen ‘Gedächtnismethodologie’, dass auch Diner trotz seiner etwas anders gewichteten Fragen ebenso Ausschlüsse und fehlende Repräsentation markiert. Die amerikanische Philosophin Judith Butler reflektiert darüber in ähnlicher Weise in einem Interview. So stellt sie fest, dass der aktuelle politische Diskurs in Deutschland im Besonderen die “jüdische Geschichte” und “jüdischen Themen” zunehmend befördere und vor allem Antisemitismus (damit) thematisiert und diesem auf unterschiedlichen Ebenen etwas entgegensetzen will. Andererseits gebe es aber keine wirklichen Anstrengungen, eine Verbindung herzustellen zur 15
Vgl. Georgi: Entliehene Erinnerung [wie Anm. 13]. S. 10f. Vgl. Dan Diner: Gedächtnis und Institution. Über zweierlei Ethnos. In: Ders.: Kreisläufe. Nationalsozialismus und Gedächtnis. Berlin: Berlin Verlag 1995. S. 113–121. Auch für diesen Hinweis Dank an Helmut Schmitz. 17 Ebd. S. 116. 18 Ebd. S. 118f. 16
84 (vornehmlich türkischen) Migration und die rassistischen Diskriminierungen gegen so genannte Minderheiten zu sanktionieren.19 Die von Butler als fehlend konstatierten Verknüpfungen, die in diesen Umbrüchen Defigurationen der nationalen Identität neu zusammen fügen könnten, finden bis heute nur vage statt. Es sind demnach zentrale, ethnisch homogene Erinnerungsfiguren, die zu Teilen der Konstruktionen nationaler Identität werden. Ein Ergebnis der umfangreichen Studie von Georgi ist jedoch, dass die Jugendlichen mit ihren eigenen Familiengeschichten, kulturellen Erinnerungen und Gedächtnissen in auffälliger Weise Vergangenheit und Gegenwart verbinden. Die jüngste Vergangenheit des Einwanderungslandes und seine so genannte Erinnerungskultur mit ihrem Grundnarrativ Nationalsozialismus/ Holocaust dienen vor allem als Matrix für eigene Ausgrenzungs- und Integrationserfahrungen der Jugendlichen in der Gegenwart. Die Erinnerung an den Holocaust wird von den Jugendlichen darüber hinaus in Bezug gesetzt zu einer universalistischen Idee von Menschheit und Menschenrechten. Womit es nicht nur zu einer Art ‘Inter- bzw. TransNationalisierung’ des Holocaust kommt, sondern auch zu einer Verknüpfung von lokalen und nationalen hin zu transnationalen Erinnerungs- und Erfahrungsräumen.20 Der Dichter und Publizist Zafer Senoçak fragte schon vor einigen Jahren in seinem Atlas des tropischen Deutschland, ob in “Deutschland einzuwandern nicht auch heißt, in die jüngste Geschichte einzuwandern”.21 Er reflektiert weiter über die deutsch-jüdische Geschichte als Erfahrungshintergrund für die Akteure und Akteurinnen gegenwärtiger türkischer Migrationsbewegungen. Die sich mit der “Wende von 1989” wandelnde Bundesrepublik mit ihrer Vorstellung einer national homogenen Erinnerungsgemeinschaft führt Senoçak zur Suche nach den Stimmen kultureller Diversität: “Hatten unsere reisenden, schwankenden und widersprüchlichen Symbole Platz in diesem, nach seiner Geschichte als einem Fixpunkt greifenden, Land?”. Und weiter, schon metaphorisch, fragt er: “Was konnte den Türken das Brandenburger Tor bedeuten?”.22 19
Judith Butler: Feminism by Any Other Name (Interview mit Rosi Braidotti). In: Feminism meets queer theory. Hg. von Elisabeth Weed und Naomi Schor. Bloomington: Indiana University Press 1997. S. 31–67. Hier: S. 39. 20 Zur Problematik des Holocaust als Teil einer kosmopolitischen Erinnerungskultur und einer damit einhergehenden möglichen Entkontextualisierung und Enthistorisierung vgl. den Aufsatz von Daniel Levy und Natan Sznaider: Vom Holocaust zur kosmopolitischen Erinnerungskultur. In: Generation Global. Hg. von Ulrich Beck. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2007. S. 187–1998. 21 Zafer S¸enocak: Deutschland – Eine Heimat für Türken? Zus. Mit Bülent Tulay. In: S¸enocak: Atlas des tropischen Deutschland. Essays. Berlin: Babel 1993. S. 9–19. Hier: S. 16. 22 Zafer S¸enocak: Ein Türke geht nicht in die Oper. In: Ebd. S. 20–30. Hier: S. 20.
85 Doch bevor ich im Folgenden anhand ausgewählter Texte genauer auf Erzählungen und die gesuchten Stimmen hören will, die möglicherweise S¸enocaks Fragen beantworten, komme ich noch einmal zurück zum Begriff des kulturellen Gedächtnisses. Es gilt nach Aleida Assmann als epocheübergreifend, da es verschiedene Generationen umfasst, und durch normative Texte gestützt ist; wozu unterschiedliche, sich verändernde Medien von Büchern bis Gedenkstätten gehören, die verbunden sind mit der offiziellen Erinnerungs- und Gedächtnispolitik sowie weiteren kulturellen Praktiken.23 Diese Praktiken besitzen wichtige Funktionen in den gegenwärtigen Kämpfen um (nationale) Identität und der Verfestigung entsprechender Normative. Die Impulse dieses Konzeptes für kulturwissenschaftliches, transdisziplinäres Arbeiten sind unbestritten. Und doch bleibt es ein statisches Konzept und mit seiner Teilung in ein kulturelles und kommunikatives Gedächtnis in hierarchisierenden Dichotomien verhaftet: Dem geordneten, geformten, mit “festen, normativen Objektivationen” ausgestatteten, in einer absoluten Vergangenheit Angesiedelten steht das organische, ungeordnete, unspezifische, auf Alltagsinteraktionen Basierende gegenüber, das zudem in einer so genannten relativen Vergangenheit angeordnet sei.24 Und auch die Trennung zwischen einem Funktions- und Speichergedächtnis, einem bewohnten, präsenten, bedeutungsgeladenen und einem unbewohnten, amorphen, nichtpräsenten, bedeutungslosen Teil wird von einer Dichotomie strukturiert.25 Daher kann auch Aleida Assmann an dieser Stelle die Vorstellung von einem möglichen “Gedächtnisschwund” im Sinne von “Verlust” entwickeln. Ich plädiere jedoch dafür diesen “Verlust” nicht als solchen, sondern eher als etwas Dynamisches zu begreifen. Denn kulturelles Gedächtnis ist nichts Statisches, Abgeschlossenes, im Sinne eines ‘Behälters’; es ist nie um ein eindeutiges fixiertes Zentrum geordnet, womit jegliche Vorstellung von Stabilität und zeitliche sowie räumliche Abgeschlossenheit immer eine Illusion sein muss. Es ist mal mehr und mal weniger im Umbruch und ordnet sich – je nach hegemonialer Erinnerungspolitik und der Durchsetzungskraft der kulturellen Praktiken – immer wieder um. Dies zeigt sich beispielsweise an der gegenwärtigen Dominanz des Erinnerungsnarrativs Nationalsozialismus/Zweiter Weltkrieg im Unterschied zu den nicht hegemonialen Vergangenheitsdiskursen wie der kolonialen Geschichte Deutschlands oder des Ersten Weltkriegs mit ihren Narrativen. Um diesem dynamischen, unfixierbaren Moment näher zu kommen bevorzuge ich an dieser Stelle den Begriff der Erinnerungstopographien. 23
Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: Beck 1999. S. 13 ff. 24 Vgl Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis [wie Anm. 10]. S. 56. 25 Vgl. Aleida Assmann: Erinnerungsräume [wie Anm. 23]. S. 134f.
86 Erinnerungstopographien – dies umfasst sowohl ein zeitlich-diachrones, ein räumliches, als auch ein repräsentatives Moment – nämlich im Be- bzw. Einschreiben.26 Als Gedächtnismetapher umfasst dieser Begriff des Topos nicht nur den Ort, sondern darüber hinaus ein narratives Element – ein erzähltes, immer wiederkehrendes, aber wandelbares Thema. Das Erinnern greift die Topoi auf, re-zitiert sie, greift dabei sowohl in individuelle als auch gesellschaftliche, kulturelle Archive und versetzt sie mittels narrativer Praxis in gegenwärtige zeitliche und räumliche Bezüge. Dies führt zu einer diskontinuierlichen und nicht widerspruchsfreien netzartigen Anordnung. Im Unterschied zum eher statischen Begriff von kollektivem bzw. kulturellem Gedächtnis ermöglicht dieses netzartige Konzept den Blick auf Widersprüchliches, Diskontinuierliches, ‘Disseminiertes’ bzw. Zerstreutes. Als Arbeitsbegriff knüpfen die Erinnerungstopographien ebenfalls an die Vorstellung des Assmannschen floating gap an – eine ‘wandernde Lücke’ zwischen erinnerter Zeit, kulturellem und kommunikativem Gedächtnis, zwischen einer absoluten und einer relativen Vergangenheit. Das floating gap gilt als ein Übergang verschiedener Erinnerungsformen und fließt nach dieser Vorstellung mit jeder Generation nach vorn. Es wird allerdings begriffen als ein Dazwischen, als eine gedächtnislose Lücke. Diesen Aspekt der Gedächtnislosigkeit, der in den Assmanschen Konzepten durch die Vorstellung von Erinnertem und Nichterinnertem enthalten ist, verneinen nun die Erinnerungstopographien, sie gehen vielmehr davon aus, das es immer abwesendes und anwesendes Erinnertes gibt. Wenn die jeweiligen Topoi bzw. Orte netzartig miteinander verbunden sind, dann ist die Sicht auf die jeweilige Erinnerungstopographie auch immer nur von einem bestimmten Ort aus möglich, nie aber holistisch und abschließend. Das heißt demzufolge nicht, dass nicht an anderen Punkten des Netzes nicht auch (andere) Erinnerungen zirkulieren, die in andern Momenten des Raumes und der Zeit sichtbar und erfahrbar werden. Sie sind nur anders verteilt – gestreut – im Erinnerungsnetz. Die Repräsentation, das Sichtbarwerden der Erinnerungstopoi, ist jedoch auch gebunden an Medien. Letzteren bzw. den entsprechenden Wirkungsweisen fällt eine bedeutungsgebende Funktion zu: Ohne Erinnerungsund Speichermedien wie Bilder, Bücher, Filme usw. keine Sichtbarkeit und damit keine Transformation, keine Übertragung und kein Zugriff darauf. Topographien gelten zudem laut Übersetzung als ‘Lage-Be-Schreibungen’ – womit ihnen ein dokumentarisches, chronistisches, historiographisches Moment eingeschrieben ist. 26
Dieser Begriff ist entstanden aus der Zusammenarbeit mit Stefanie Michels im Rahmen eines gemeinsamen Arbeitsprojektes und einer transdisziplinären Arbeitsgruppe am Historischen Seminar der Universität Hannover zur “Provinzialisierung und Translokalisierung Europas – erinnerte und erfahrene Räume”.
87 Noch ein wichtiger methodologischer Gedanke sei an dieser Stelle aufgegriffen und weiter bedacht. Die Erinnerungstopographien stehen auch in Beziehung zum Konzept der touching tales, der sich berührenden Geschichte(n), der US-amerikanischen Literaturwissenschaftlerin Leslie A. Adelson.27 Adelson entwickelt diesen Begriff in Auseinandersetzung mit historiographischen und literarischen Prozessen bundesdeutscher Nachkriegs- und Wendezeiten, dabei bilden deutsch-jüdische und deutsch-türkische Geschichten, Holocaust und (türkische) Arbeitsmigration die Eckpfeiler im narrativen Referenzsystem. Es geht aber nicht um eine Analogie der Geschichten von Verfolgung und Vernichtung (Holocaust) und Rassismus und Ausgrenzung (türkische Arbeitsmigration); oder darin um eine Ersetzung von ‘Jüdisch’ durch ‘Türkisch’, wie es ein Diskursstrang der westdeutschen Linken der 1970er und 1980er praktizierte. Indem sie mit einem geschichts- und literaturtheoretischen Blick die türkisch-deutsche Literatur der 1990er Jahre fokussiert, markiert Adelson Referenzpunkte innerhalb der Geschichte(n); die zentralen Narrative in der interpretativen Landschaft (interpretive landscape) – so Adelson – bilden ‘Drittes Reich’ und Holocaust.28 Insofern spricht Adelson auch in diesem Zusammenhang von den jüdisch-deutsch-türkischen touching tales, die sie genauer betrachtet. In ihnen treten die zu Opfern gewordenen Juden in Kontakt mit den zu Opfern gemachten Türken durch einen sie verbindenden Effekt; die Narrative berühren sich. Sie berühren sich unter anderem genau darin, dass die Viktimisierung ein Gefühl von Scham, Schuld und Bedrohung hervorruft.29 Interessant an Adelsons Ausführungen sind an dieser Stelle vor allem zwei Aspekte, die darin reflektiert werden: Zum Einen die zentrale Frage, inwiefern diese Texte in das Narrativ deutscher Gegenwart und das kulturelle Gewebe intervenieren (können).30 Diese Frage nach dem ‘Sich-Einschreiben’ knüpft direkt an meine Überlegungen bezüglich des Interagierens von Geschichte, Erinnerung und Migration an und berührt auch die oben erwähnte Untersuchung zu Geschichtsbildern junger MigrantInnen. Zum Anderen – damit verbunden – reflektiert Adelson vor allem anhand Zaimog˘lus Kanak Sprak und S¸enocaks Roman Gefährliche Verwandtschaft die Frage nach der Referenzialität der Narrative, oder mit einem anderen Terminus 27
Vgl. Leslie A. Adelson: Touching Tales of Turks, Germans, and Jews: Cultural Alterity, Historical Narrative, and Literary Riddles for the 1990s. In: New German Critique No. 80 (Spring/Summer 2000). Special Issue on the Holocaust. S. 93–124. 28 Ebd. S. 95. 29 Ebd. S. 102. Zum Problem der Übertragung jüdischer Post-Holocaust-Narrative auf Erfahrungen türkischer Migrationsgenmeinschaften in Deutschland siehe auch den Aufsatz von Volker C. Dörr in diesem Band. 30 Ebd. S. 103.
88 gesprochen, der “Lines of Thought”.31 Diese Idee der Linien, die den Adelsonschen Überlegungen zufolge keinesfalls linear und abgeschlossen sind, sondern vielmehr ein weit verzweigtes, rätselhaftes und nie vollständig durchdringbares Labyrinth darstellen, transportiert sowohl die Vorstellungen des Netzartigen, Unabgeschlossenen als auch das Moment von Anwesenheit und Abwesenheit. Und sie wirft ebenso Fragen der Repräsentation auf: Wer (kann und) wird wann, an welchen Orten, auf welche Art und Weise repräsentiert (werden)? Und genau hierin treffen sich die touching tales konzeptionell mit den Erinerungstopographien. Denn spinnt man den gedanklichen Faden weiter, dann können die Linien auch Wege sein – so eine andere Konnotation in der Übersetzung. Sie haben ebenso eine räumliche wie zeitliche Dimension, die in den Erinnerungstopographien noch mal akzentuiert ist.
III. Geschichte und Geschichten erzählen: fragmentarische Lektüren Als Teil solcher erinnerungstopographischer Netze will ich im Folgenden drei Erzählungen exemplarisch, in Auszügen, lesen: Gefährliche Verwandtschaft von Zafer S¸enocak, Selam Berlin von Yadé Kara und Leyla von Feridun Zaimog˘lu. Eine Referenz, die diese Texte miteinander verbindet, ist die des Alters der SchreiberInnen. Sie gehören zur zweiten bzw. dritten Generation so genannter türkischer Arbeitsmigration und – wie Ulrich Beck es nennt – ebenfalls zur “Generation Global”.32 Zudem schreiben sie alle auf Deutsch und haben ihren Lebensmittelpunkt in der Bundesrepublik. Die Schreibenden fungieren hierin als Geschichtenerzähler. Mittels Geschichten werden sowohl individuelle als auch gemeinschaftliche Geschichte als erinnerte Vergangenheit erzählt, niedergeschrieben und Gedächtnisräume aufgerissen. Dabei ist zu bedenken, dass jede literarische und künstlerische Arbeit aufgrund ihrer intertextuellen Praxis immer auch Erinnerungsarbeit darstellt. Zurückgegriffen wird auf ein vielschichtiges, verzweigtes Archiv, aufgenommen und weitergeschrieben werden durch Raum und Zeit hindurch darin zirkulierende Topoi.
Gefährliche Verwandtschaft (S¸enocak) Zu Beginn der Lektüren will ich auf Zafer S¸enocak zurück kommen und schlage die Gefährliche Verwandtschaft auf: Als Roman – so der programmatische Untertitel – ist dieses fragmentarische, fiktiv-dokumentarische Erzählgewebe
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Ebd. S. 117f. Vgl. Generation Global [wie Anm. 20].
89 angelegt.33 Geschichte wird anhand von heimlichen/verheimlichten, bisher unerzählten Familiengeschichten aufgerollt. Schubladen, Kisten, Keller, Dachböden, Bibliotheken, das Sammeln von Büchern, Notizbücher, Schreibblöcke, Fotos repräsentieren in der Erzählung Gedächtnis, Erinnerungen und Erinnerungsarbeit. Metaphorisch findet in der Erzählung der Rückgriff auf die Vergangenheiten und ihre Archive statt: Auf einem Dachboden findet der Erzähler Sascha Muhteschem, deutsch-jüdisch-türkischer Herkunft, eine Kiste mit für ihn unleserlichen Aufzeichnungen des unbekannten, 1936 verstorbenen Großvaters. Die polyglotten Erinnerungsschriften – in kulturraumübergreifenden Sprachen Türkisch, Arabisch, Russisch – entziehen sich auf die Schnelle und in ihrer scheinbaren Ganzheit dem nachgeborenen Leser. Mittels einer archäologischen Spurensuche kann er sich ihnen nur mit Hilfe verschiedener, deutscher, Übersetzer in Berlin nähern; das heißt der individuellen, der Familiengeschichte und der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Im mehrfachen Sinne symbolisch erscheint dieser Akt für die Unlesbarkeit, für die Irritation, vermeintlich Bekanntem zu begegnen, es aber nicht entziffern zu können, wenn die Passagen der Tagebücher, der Erinnerungstexte also, Sascha Muhteschem und seinem Übersetzer in türkischer Sprache mit kyrillischen Buchstaben erscheinen. Die Zeichen können gelesen werden, bilden aber keinen Sinnzusammenhang; sie entziehen sich dem Leser in ihrer Bedeutungsgebung und bleiben arbiträr. Das Dechiffrieren der unbekannten Sprachen seziert die vergrabenen Schichten und deutet auf die Verstrickungen in das, was wir heute “ethnische Säuberungen” nennen: Der Großvater war in entscheidender militärischer Position involviert in die Pogrome gegen die armenische Bevölkerung im Osten des untergehenden osmanischen Reiches und in ihre Vertreibung. Diese Auslöschung menschlichen Lebens aufgrund ethnischer Zugehörigkeiten durchzieht als unerzählter Topos Erzählung und Geschichte. Die Familienkonstellation des Protagonisten lässt dabei die Erinnerungsnarrative Holocaust und Völkermord an den Armeniern ineinander fließen. Markiert
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Neben Adelson bietet Friederike Eigler eine weitere “Gedächtnislektüre” dieses Textes. Ihre Analysen umkreisen die Felder Gedächtnis, Geschichte und Generationenroman. Sie konzentrieren sich auf die narrativen Strukturen dieser literarischen Erinnerungsarbeit des Textes, das Spannungsfeld zwischen öffentlichem Erinnern und privatem Familiengedächtnis sowie die historiographischen Funktionen, insbesondere für das türkische und deutsche kulturelle Gedächtnis. Zudem findet eine produktive programmatische Auseinandersetzung mit den Begriffen Interkulturalität, Kultur und (nationalem) Gedächtnis statt. An die von Eigler aufgeworfenen Fragen knüpft meine transnationale, erinnerungstopographische Lesart an. Vgl. Friederike Eigler: Gedächtnis und Geschichte in Generationenromanen seit der Wende. Berlin: Erich Schmidt 2005. Hier besonders S. 63–101.
90 wird diese Überlappung unter anderem in jenem Erzählelement, in dem der Großvater als Führer der türkischen Ringer-Mannschaft und der deutschen Sprache in Teilen mächtig, bei den Olympischen Spielen 1936 in Berlin mit dem Hitlergruß in das Berliner Olympia-Stadion eintritt. Die Verortung der literarischen Figur des Großvaters in koloniale historische Zusammenhänge verweist einmal mehr auf die transnationalen Verflechtungen nationaler Geschichten, die entangled histories:34 So dient der Großvater beim deutschen Militär in Konstantinopel – den historischen Rahmen bildet die Allianz des Deutschen und des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg gegen die Entente-Mächte Frankreich, Großbritannien und Russland. Die heute besonders im Zuge der Beitrittsverhandlungen zwischen der Türkei und Europa aufgerufenen politischen Ost-West-Gegensätze erweisen sich damit einmal mehr als historische Konstruktionen. Um Tabus und Verborgenes, Angedeutetes, Nichterzähltes und hegemonial Erzähltes dreht sich die literarische Spurensuche. Das angedeutete Geheimnis des Großvaters, sein rätselhafter Tod, sein Auftauchen und Verschwinden berührt dabei die unterschiedlichen Zeitachsen von Vergangenheit und Gegenwart in unterschiedlichen kulturellen und politischen Räumen. Denn Mord und Vertreibung der Armenier sind ein historisches Ereignis in umkämpfter transnationaler, aktueller Geschichtsschreibung. Die topographischen Achsen der Erzählung sind verzweigt, markieren diachrone Räume und Orte wie München, Berlin, Istanbul/Konstantinopel, Schlesien/Polen, die USA, das Osmanische Reich, die Türkei. Dabei lokalisieren sie immer wieder einen Osten, lassen die Geschichte an multiethnischen Orten spielen: Istanbul, Berlin/Ostberlin, Anatolien, Schlesien als der östliche Rand Nazideutschlands. Und diese transnationale Dimension findet sich auch im Namen Sascha Muhteschem, dessen Zeichen ebenfalls Richtung Osten weisen. Dieser Osten ist allerdings nicht nur geographisch zu verstehen, er bleibt nicht auf einen Ort und eine Zeit fixiert, wie die schlesischen Vorfahren, die in das ‘deutsche Kernland’ migrierten, die deutsch-jüdischen Verflechtungen mit dem Exil in Istanbul – Zufluchtsort deutscher Juden und Erinnerungsort für die deutsch-jüdische und türkische Geschichte – bezeugen. Die anatolisch-arabisch-osmanisch-türkischen Gewebe und nicht zuletzt die Einbettung in die Postwende-Bundesrepublik und die neue vereinigte Hauptstadt Berlin strukturieren die Familiengeschichte mit ihren freiwilligen
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Vgl. zu diesem Konzept Sebastian Conrad und Shalini Randeria: Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften. Frankfurt/M. – New York: Campus 2002. Insbesondere die Einleitung der Hgg. “Geteilte Geschichten – Europa in einer postkolonialen Welt”. S. 9–49.
91 und unfreiwilligen Wanderungsbewegungen. Die nationalen und lokalen schlesischen, jüdischen, deutschen Spuren, die osmanischen, türkisch-arabischen, deuten auf historische Vernetzungen nationaler Geschichten und fragmentieren vermeintlich homogene Identitäten. Zudem werden Peripherie und Zentrum verrückt, Berlin als aktuelles Zentrum erscheint zugleich periphär, ebenso wie die USA, die zwischenzeitlich den Lebensmittelpunkt des “Archäologen” und “Möchtegern-Deutschen” Muhteschem an einer abseits gelegenen CampusUniversität bilden. Istanbul und Anatolien werden durch die Erzählung hindurch und die historiographischen Referenzen ins Zentrum gerückt. Und auch die In- und Exklusionen von Individuen, die Positionierungen, die Gemeinschaften und ihre Geschichten praktizieren, reflektiert die Erzählung: “Wer oder was man ist, kann man sich nicht aussuchen, das entscheiden die anderen, die einen nicht zu sich zählen”.35 Das Öffnen der alten Kiste auf dem Dachboden als Initiation der Erzählung wird zu einem Öffnen der ‘Büchse der Pandora’: Protagonist und LeserInnen können sich der Vergangenheit nicht entziehen, sie werden zu Dechiffrierenden derselben und zu Historiografen sowohl der eigenen Familiengeschichte als auch der gemeinschaftlichen Geschichte. Am Ende des Romans steht keine fertige Entwicklung des Protagonisten, keine Auflösung der vergangenen unerzählten Ereignisse, sondern eine Variante des “Wie-es-gewesen-sein-könnte”. “Sie könnte ungefähr so enden” stellt der Geschichtenerzähler S¸enocak dem Ende seiner Erzählung voran und verweist auf das unabgeschlossene Moment seiner Erinnerungsarbeit:36 Das wohl endlich entzifferte Tagebuch erzählt folgende Geschichte: Ein Brief ohne Absender erreicht den aus Berlin von den Olympischen Spielen zurückgekehrten osmanisch-türkischen Großvater. Ein Brief einer möglicherweise von ihm geretteten türkischen Armenierin, die ihr Leben ohne ihn in der Diaspora führt und von einem gemeinsamen Kind erzählt, dessen biologische Herkunft gleichzeitig unklar bleibt, da es ebenso ein lebendiges Produkt der geschlechtsspezifischen Gewalt ihrer Vertreibungsgeschichte sein kann. Der Brief ohne Absender kommt aus Frankreich, ein weiterer Knotenpunkt und Topos im heterogenen Raum. Denn Frankreich wird für armenische Flüchtlinge und Überlebende, ebenso wie Istanbul für jüdische Deutsche, zu einem Ort der Diaspora. Auch hier führen die Verbindungslinien in die Gegenwart: Die armenische Diaspora als Teil der französischen Staatsnation hat 2007 mit ihrer Lobby ein Gesetz in Frankreich durchgesetzt, das die Pogrome an den Armeniern als Genozid benennt und dessen Leugnung unter Strafe stellt. Gegenwärtige
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Zafer S¸enocak: Gefährliche Verwandtschaft. München: Babel 1998. S. 39. Ebd. S. 134.
92 politische Bestrebungen französischer Abgeordneter wollen dies auch auf EU-Ebene durchsetzten. Am Ende der Aufzeichnungen steht der Tod des Großvaters, ebenso ungenannt und spekulativ bleibend in seinem Verlauf. Diese vielen offenen, inkohärenten Stellen in der hier geschriebenen Geschichte kennzeichnen die narrative Struktur und halten den Text unabgeschlossen und vage. Sie übertragen die historiographische Arbeit ebenso an die LeserInnen. Erzähler und Leserschaft werden so gleichsam zu Archäologen, Genealogen und Deutenden auf einer Spurensuche, und sie tragen sich überkreuzende Schichten um Schichten ab. Im Foucaultschen Sinne zerlegen sie, ordnen, organisieren, stellen Beziehungen her und bearbeiten die Materialen eines historisch umfassenden, labyrinthischen Archivnetzes von innen.37 Gleichzeitig wird an dieser Lesart einmal mehr deutlich, dass die Erinnerungstopographien auch die dichotomische Trennung von Erzähltem und Archiv, von kulturellem und kommunikativem Gedächtnis aufheben.
Selam Berlin (Kara) Einen ganz anderen “Entwicklungsroman” entwirft die Erzählung Selam Berlin von Yadé Kara. Schon der Titel erscheint topographisch und deutet auf transnationale Spuren. Und so ist es auch die türkisch-ost-west-deutsche Geschichte, die die Erzählung ausbreitet.38 Der männliche Protagonist Hasan Kazan bewegt sich zwischen den Achsen Istanbul, Ost- und West-Berlin und großstädtische USA. Als Teil der deutsch-türkischen Einwanderungsgeschichte verbrachte der mittlerweile Neunzehnjährige seine Zeit pendelnd zwischen Istanbul und Berlin. Sein deutscher Name ist “Hansi” – ein karikiertes umgedeutetes kulturelles Zeichen, denn so lautet der ironische türkische Spitzname für den deutschen 37
Michel Foucault: Archäologie des Wissens. Frankfurt/M.: Suhrkamp. 8. Aufl. 1986. S. 13–15. 38 Yadé Kara: Selam Berlin. Zürich: Diogenes 2003. Ähnliche Titeltopographien wären beispielsweise S¸enocaks Atlas des tropischen Deutschland und Erottomane, Mein deutsches Dschungelbuch von Wladimir Kaminer, Alles roger, Hodscha von Kerim Pamuk. Zaimog˘lus Kanak Sprak birgt zudem eine indirekte Referenz auf die koloniale deutsche Vergangenheit: Die “Begriffsgeschichte” erzählt, dass Kanaka zunächst das polynesisch-hawaianische Wort für Mensch ist und die Einwohner Neukaledoniens bezeichnet. Deutsche Seeleute benutzten den Begriff Kanaker(mann) für Seemänner aus der Südsee in positiver Konnotation, sie wurden stereotypisiert als arbeitsam und zuverlässig. Mit der Arbeitsmigration der 1950er bis 1970er Jahre erlangte der Begriff eine Repräsenz in seiner diskriminierenden Funktion. Mit der Kanak-Attak-Bewegung beispielsweise oder auch Zaimog˘lus Texten geschieht jedoch wiederum eine Bedeutungsverschiebung: Der Begriff wird strategisch gewendet und offensiv-positiv einge-setzt, die Subalternen verorten sich damit selbst.
93 Mann. Hasan/Hansi kommt nun, zunächst ohne Mutter und Bruder, zum Vater in das Berlin des Mauerfalls 1989. Auch hier begegnen wir einem Familiengeheimnis, dessen Offenlegung und konfliktreicher Bearbeitung vor dem Hintergrund jüngster Zeitgeschichte. Die individuellen Entwicklungsprozesse Hasans sind verwoben mit den gesellschaftlichen Entwicklungsdynamiken bundesrepublikanischer Geschichte. Die Gestaltenden der Narration sind dabei geschickt verknüpfte Beziehungskonstellationen und multiple Identitätsentwürfe, in denen Kategorien wie Alter, Ethnizität, soziale Herkunft, Geschlecht gebrochen und dezentriert werden. Sie offerieren eine durchweg heterogene, vernetzte Geschichte: So kommen Hasans Vater und dessen Bruder Halim als Immigranten nach Westberlin. Sie sind Ingenieure, haben in der Türkei studiert, waren gegen die Militärregierung politisch in kommunistischen Parteistrukturen aktiv, brechen also mit der stereotypen Vorstellung einer homogenen, analphabetisch-ländlichen türkischen Einwanderungsgruppe. Der Vater überschreitet schon vor Wende und Vereinigung die Grenzen zwischen Ost- und Westberlin, ist beteiligt an ostdeutscher Ökonomie, indem er Geschäfte mit dem Staatsunternehmen Interflug tätigt. In Westberlin agiert er nicht mit einer Ingenieurskarriere, sondern als selbstständiger Kleinunternehmer in einem eigenen Reisebüro. Teil seiner Lebensgeschichte sind eine verheimlichte Liebesbeziehung mit einer Ostdeutschen sowie ein dritter Sohn, dessen türkischer Name ihn im Ostteil der Stadt ebenso exotisiert und marginalisiert, wie es mit Hasan im Westteil der Stadt passiert. Als Archäologe versucht sich Hasan, nicht nur bei der Wahl eines Studiums. Er geht auf individuelle und historische Spurensuche durch die Welt. In der Begründung der Studienwahl taucht wie auch an anderen Stellen die Vergangenheit des heutigen türkischen Raumes mit Namen wie Ephesos, Troja, Hattuscha auf. Diese ‘Erinnerungsorte’ werden auch aufgerufen von Kusine Leyla, die auf ihrer tragisch-komischen Suche nach der eigenen türkischen Identität die Imagination einer vergangenen anatolisch-türkischen Kultur aufruft. In ihrer Re-Zitation der damit verbundenen Zeichen wie schwarzer Tee, Kelims, Musik, Schmuck werden entsprechende Klischees aufgegriffen und gebrochen. Sie kann weder Tee kochen noch Türkisch sprechen, denn die deutsche Mutter wollte die mit dem türkisch-arabischen Namen versehene Tochter als ‘Deutsche’ erziehen. Gleichwohl erlebt sie – und hier taucht wiederum der Nationalsozialismus als narrative Spur, als Matrix, auf – einen rassistischen Überfall in Berlin, wo sie von Skinheads als Türkin und Ausländerin, als “Kanakenbraut” gewalttätig angegriffen wird. Der Freund von Leyla, ein afroamerikanischer Soldat der Alliierten, wird mit seiner eigenen Geschichte Teil der Topographien. Darin verlaufen die Spuren von Unterdrückungs- und rassistischen Ausgrenzungserfahrungen, aber auch von deutscher-europäischer-globalhistorischer Vergangenheit, deren Teil die im Erzählungsverlauf abziehenden alliierten Truppen sind. Kriegs- und
94 Nachkriegsgeschichte wird damit in und mit der Erzählung weiter geschrieben, wozu auch Fluchten aus Ostdeutschland (die Tante), aus Schlesien (die Nachbarin), russische Gefangenschaft (der Nachbar), Einwanderung, die so genannte Wende und Wiedervereinigung gehören. Mit den verhandelten Beziehungsgeschichten, den Beziehungen zwischen Menschen und den verwobenen historischen Beziehungen verschieben sich auch Peripherie und Zentrum: Berlin erscheint zerstückelt, provinziell; gegenübergestellt wird ihm ein mondänes, kosmopolitisches Istanbul. Bruder Ediz will keinesfalls in das im Einwanderungsdiskurs als Zentrum erklärte Deutschland, sondern in die USA, nach Boston – aus Ediz wird dabei Eddy, eine wandelbare Identität also. Leylas Freund Redford – ein Spiel des afroamerikanischen Protagonisten mit dem Namen des weißen blonden Filmhelden – will wiederum weg aus Deutschland/Berlin, allerdings nicht in die USA, sondern nach Alanya/Türkei. Und auch hier weisen die Spuren wieder Richtung Osten: der osmanische Großvater, der Marxismus vergangener Zeiten von Vater und Onkel, der daraus resultierende Spitzname “Onkel Breschnew” des letzteren, der ostdeutsche Fluchtort der Tante Ingrid, der andere Lebensmittelpunkt Istanbul, die Ostküste der Türkei als Dienstort des US-amerikanischen Freundes der Kusine, die Ostküste der USA mit Boston als Studienort des Bruders und wieder Schlesien als Herkunftsort der alten Berliner Nachbarin von Hasans Familie, das sowjetische Kriegsgefangenenlager des Nachbarn, Ostberlin als Heimat des anderen Bruders und als neu entdeckter, unbekannter städtischer Raum. Es spannt sich also ein verzweigtes, globales topographisches Netz. Als neuer ‘Wende-Roman’ wurde diese Geschichte mehrheitlich von der Literaturkritik gekennzeichnet, eine ähnliche verbale Auszeichnung erhielt auch ein anderer mit der Kategorie Osten verbundener Autor: Ingo Schulze mit seiner Textsammlung Simple Storys. Nur, dass er nicht den zuordnenden Adelbert-von-Chamisso-Preis wie Yadé Kara (Förderpreis 2004) bekam, ein Literaturpreis für deutschsprachige Texte von AutorInnen nichtdeutscher Sprachherkunft, wie es heißt. Sein ‘Deutsch(sprachig)sein’ als Schriftsteller scheint wohl gesichert zu sein. Immerhin erhielt aber die Autorin auch einen nationalen, deutschen Preis für ihre Erzählung: den Deutschen Bücherpreis für “Das beste Debüt” 2004. Das Narrativ ‘Türkischer Mann hat neben seiner türkischen eine zweite deutsche, verheimlichte Geliebte oder Ehefrau’ durchzieht als strukturierendes Motiv interessanterweise auch andere Erzählungen wie Dilek Zaptcioglus Der Mond isst die Sterne auf oder Feridun Zaimog˘lus Leyla. Aufschlussreich wäre auch hier eine transdisziplinäre Betrachtung. So ist nach sozial- und geschichtswissenschaftlichen Untersuchungen zu fragen, die diesen Teil der Migrationsgeschichte in Deutschland erzählen. Es scheint, als wären wir im Moment auch diesbezüglich bei einer künstlerisch-literarisch-dokumentarischen
95 Geschichtsaufbereitung. Dazu gehört auch der Dokumentarfilm von Markus Vetter Mein Vater, der Türke, der auf eine Spurensuche seiner eigenen Familiengeschichte geht und den unbekannten Vater in Anatolien für sich und seine persönliche Geschichte finden will.
Leyla (Zaimog˘lu) Als ein weiterer Geschichtenschreiber tritt Feridun Zaimog˘lu mit seinem Roman Leyla auf die Bühne.39 Gelesen werden könnte Leyla als Emanzipationsroman, ich bevorzuge allerdings die Lesart eines Geschichtsbuchs. Am Ende der Erzählung steht dieses Mal die Einwanderung nach Deutschland, sie wird nurmehr angerissen und nicht weitererzählt. Dem Lesenden bleibt es überlassen, das eigene Wissen darum mit der Geschichte des Romans zu verknüpfen. Wieder bewegen sich die Erzählachsen zwischen Deutschland und der Türkei, verschieben sich aber und dezentrieren die Dichotomie Ost und West. Und auch hier geht es um Familiengeschichten mit ihren Tabus. Erzählt wird über Leyla, ihre Lebensgeschichte in der Türkei, bevor sie nach Deutschland einwandert. Dabei taucht eine Türkei und ihre Geschichte auf, die mit der Vorstellung einer kulturell homogenen türkischen Gemeinschaft, wie sie in den nationalen deutschen und türkischen Diskursen entworfen wird, bricht. Ein vielschichtiger, ebenfalls multiethnischer, fragmentierter Raum erscheint. Die unterschiedlichsten ethnischen Gemeinschaften, die gewaltförmigen Grenzverschiebungen und Überlappungen sind Teil der Erzählung eines Kontinente übergreifenden Raumes, Armenisch, Tschetschenisch, Bulgarisch, Kurdisch, Tscherkessisch erklingen durch die Figuren im Text. Der Koreakrieg und der Einsatz verbündeter türkischer Soldaten fließen in die Erzählung ein und zeichnen globale historiographische Achsen. Ebenso erscheinen die Umrisse der kaukasisch-russisch-sowjetischen Geschichte mit ihren bis heute wirkmächtigen gewaltförmigen Vertreibungen ethnischer Minderheiten im Kaukasus. Oder auch die Orientierung einer türkisch-osmanischen Oberschicht nach Frankreich als Zentrum zivilisierter Lebensart, sowie die Hinwendung der jüngeren Generation zum Hollywood-Amerika und seinen Glamour- und Glücksversprechungen werden zu Elementen der Geschichte. Es ist auch eine Geschichte von Gewalt, von individueller, männlicher Gewalt, verstrickt in die gewaltförmigen gesellschaftlich-kulturellen Dynamiken des 20. Jahrhunderts mit seinen Kriegen, Vertreibungen und Pogromen. Als Topos durchzieht – ebenso wie in Gefährliche Verwandtschaft – die Gewalt an der armenischen Bevölkerung die Geschichte. So ist die Mutter Leylas als Armenierin Opfer des Genozids, ein ‘Makel’ der ihr Leben und das ihrer Kinder mit dem gewalttätigen Ehemann bestimmt und dessen geschlechtsspezifisches Symbol die verschwiegenen, angedeuteten und im Verlauf der Erzählung 39
Feridun Zaimog˘lu: Leyla. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2006.
96 artikulierten Vergewaltigungen sind. Mit den Figuren der mütterlichen Schwestern, die in der US-amerikanischen Diaspora leben, werden wiederum transnationale, historiographische Fäden gezogen. Sie erscheinen kurzzeitig in der Geschichte, wollen die Mutter holen, der gewalttätige Ehemann verhindert es. Gewalt taucht in vielfältiger Form auf, wird von den unterschiedlichen Entwürfen von Männlichkeit – in Bildern von Ehre, Kraft und Dominanz – generiert. Ebenso repräsentiert ist die psychische und physische Gewalt in Familien, in staatlichen Institutionen wie Schule (Prügelstrafe) und Gefängnis (Misshandlungen), als medizinische Gewalt von Ärzten ihren Patienten gegenüber. Opfer werden dabei zu Tätern, Täter zu Opfern: der schlagende Lehrer, der gleichzeitig das Kind Leyla vor dem schlagenden Vater rettet und gleich darauf mit seiner Kritik am Koreakrieg als “Vaterlandsverräter” suspendiert wird. Der brutale Vater, der selbst am Ende als Opfer sowjetischer Militär-Massaker der Roten Armee gegen Tschetschenen sowie von Misshandlungen durch türkische Staatsdiener im Gefängnis auftaucht. Der älteste Bruder, der selbst der väterlichen Gewalt unterliegt und später die ebenso gewalttätige Rolle des ältesten Sohnes als Stellvertreter des Vaters übernimmt. Und auch der Ehemann, der mit seinem normabweichenden “unmännlichen Verhalten” familiärem und gesellschaftlichem Druck ausgesetzt ist, erniedrigt die Ehefrau Leyla. Am Ende der Erzählung wandert nicht nur die Protagonistin Leyla, sondern auch deren Mutter mit ihrer Vergangenheit in Deutschland und seine Geschichte ein. Sie kommen zum Ehemann Leylas, der seiner Aufgabe, ein erfolgreicher Geschäftsmann zu sein, die Familienauftrag und männliche Pflicht zugleich ist, in Istanbul nicht erfüllen kann. Wie viele männliche Migranten geht er auf der Suche nach Erfolg in ein neues Land. Zaimog˘lus Erzählung gibt der türkischen Immigration in die Bundesrepublik Deutschland und türkischen Immigranten eine Geschichte, eine Geschichte die letztere mitnehmen, und die sie aus der vermeintlich geschichtslosen Position von Eingewanderten in vorgeblich nationaler, bundesdeutscher Gegenwart entrückt und sichtbar macht. Die historiographischen Topoi, die zu Referenzpunkten der Narration werden, machen diese Geschichte zu einer transnationalen Geschichte, verweisen auf miteinander geteilte und ineinander verwobene Vergangenheiten und Gegenwarten, auf Pluralitäten vermeintlich kollektiver Geschichten von vermeintlich homogenen Gemeinschaften. Dies verbindet nicht nur die drei genannten Texte, die mit ihrer literarischen Erinnerungsarbeit zentrale Narrative deutscher Geschichtsschreibung dezentrieren, neu ordnen und die Verflechtungen in einen transnationalen Kontext offen legen. “Erzähl die Geschichte, erzähl die Geschichte, wie sie sich ereignet hat. Erzähl sie, auch wenn es nicht deine eigene Geschichte ist”, heißt es auffordernd
97 in Gefährliche Verwandtschaft.40 Mit dem Erzählen – dem Storytelling – und dem Hören der Erzählung werden Erzählende und Narration Teil der Geschichte, schreiben sich ein in sie und schreiben sie weiter. Die Texte werden zu den Stimmen, die S¸enocak selbst noch Anfang der 1990er Jahre suchte in der Auseinandersetzung mit der 2. und 3. Generation junger – an dieser Stelle türkischer – MigrantInnen. Es herrsche dort jener Geist, der nur die gespaltene Identität beklagt, also Sprachlosigkeit. Sie schreiben an einem unendlichen Buch der Erinnerungen, in Fetzen der Kindheit, in verlorenen oder noch nicht gefundenen Sprachen und die Seiten bleiben leer. Noch haben sie keine Sprache gefunden, um aus diesem Buch zu übersetzen, um es anderen mitzuteilen. Für ihre Väter und Mütter bleiben sie die verlorene Generation. Werden sie für ihre Kinder die Sprachlosen sein? Gibt es einen Weg, der aus der Passivität herausführt, aus Nischen, Ghettos und Halbwahrheiten?41
Die Transnationalität künstlerisch-literarischer Artikulation wäre, so meine These und entgegen S¸enocaks Überlegungen, ein Modus des Sprechens und der Repräsentation. Zu fragen bleibt nun für die Zukunft, wie eine breite gesellschaftliche Transformation stattfinden kann zwischen künstlerischen Positionierungen und sozial Marginalisierten. Und ob die Einschreibung in ein erinnerungstopographisches, kulturelles Gewebe, die Positionierungen in der Geschichte und damit die Repräsentation in einer Gesellschaft nicht ein mindestens genauso wichtiger Aspekt ist, wie das Erlernen der Amtssprache?
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S¸enocak: Gefährliche Verwandtschaft [wie Anm. 35]. S. 77. S¸enocak: Deutschland – Eine Heimat für Türken? [wie Anm. 21]. S. 12.
III. Deutsch-türkische Literatur und Film
Sandra Vlasta
Das Ende des ‘Dazwischen’ – Ausbildung von Identitäten in Texten von Imran Ayata, Yadé Kara und Feridun Zaimog˘ lu Constructions of identiy in recent literature in the context of migration are an expression of the transnational character of the works and are simultaneously subverting attempts to locate them ‘between two worlds’. After briefly discussing the scholarly critique of this (self-)definition ‘between two worlds’ which is still frequently invoked in public discourse, this chapter will look at a series of processes of identity construction in select texts by Imran Ayata, Yadé Kara and Feridun Zaimog˘ lu that blur the concept of an existence ‘between’ such as representation of a hybrid society, subversion of the ‘guest-worker’ cliché, identifications of self and others, and finally the mixing of languages and of global spaces. All of these textual operations stress the alternative, hybrid identities of the protagonists and illustrate a reading of the texts that recognizes their potential as an integral part of contemporary German literature
Der folgende Aufsatz beschäftigt sich mit Identitätskonstruktionen in ausgewählten Texten von Imran Ayata, Yadé Kara und Feridun Zaimog˘ lu. Protagonisten, die aufgrund ihrer Herkunft und Sozialisation nicht eindeutig einer bestimmten Kultur zuzuordnen sind, Selbstzuschreibungen, die Klischees durchbrechen, ein Gemisch von Sprachen und global wechselnde Handlungsorte – all diese Aspekte geben den Texten transnationalen Charakter, der über nationale (Literatur-)Grenzen hinaus geht. In der Folge widersprechen die Identitäten der Protagonisten dem viel zitierten Bild der MigrantInnen, die ‘zwischen zwei Welten’ stehen, und auch die Texte selbst widersetzen sich der Zuschreibung, eine vermittelnde ‘Brücke zwischen den Kulturen’ darzustellen. Jim Jordan legt in seinem Aufsatz zum “two worlds paradigm” dar, wie dieses in Bildern, Metaphern und Motiven in der deutschsprachigen Literatur im Kontext von Migration, aber auch als (Selbst-)Zuschreibung der AutorInnen von den späten 1970er bis in die frühen 1990er Jahre immer wieder auftauchende Phänomen im multikulturellen Diskurs verankert ist.1 Mit der Aufgabe des multikulturellen Paradigmas, dessen grundlegende Bestandteile klar definierbare ethnische Gruppen bilden, zugunsten desjenigen der kulturellen Hybridität, 1
Vgl. Jim Jordan: More Than A Metaphor: The Passing of The Two Worlds Paradigm in German-Language Diasporic Literature. In: German Life and Letters Vol. LIX No. 4 (Oct. 2006). Special Number: Crossing Boundaries. Hg. von Jim Jordan. S. 488–499. Einen ausführlichen Überblick sowie eine kritische Analyse zur Metapher der Brücke und ihren Wandlungen in der türkisch-deutschen Literatur hat Moray McGowan zusammengestellt. Vgl. Moray McGowan: Brücken und Brücken-Köpfe: Wandlungen einer Metapher in der türkisch-deutschen Literatur. In: Die andere Deutsche Literatur. Hg. von Manfred Durzak und Nilüfer Kuruyazici. Würzburg: Königshausen & Neumann 2004. S. 31–40.
102 die die kulturelle Vermischung in Gesellschaften betont und die Vorstellung fixer, nicht veränderbarer Grenzen und ebensolcher (kultureller, ethnischer etc.) Identitätsdefinitionen als Konstrukte entlarvt, habe auch das Bild des ‘zwischen zwei Welten’ seine Gültigkeit verloren, so Jordan. AutorInnen würden sich selbst nicht mehr zwischen zwei Kulturen stehend sehen, noch verwendete, daran angelehnte Bilder in Texten seien Ausdruck von Protest und hätten bewusstseinsbildende Funktion. Trotzdem, wie Jordan festhält, findet die Zuschreibung des Bildes der ‘zwei Welten’ im Diskurs um Literatur im Kontext von Migration nach wie vor Anwendung: “[…] less in informed critical and academic work than in essays and editorials on community relations and in reviews of diasporic works in, for example, the ‘Feuilletons’ of local and regional newspapers”.2 Jordan sieht den Grund dafür vor allem darin, dass das ‘two worlds paradigm’ eine praktische, einfache Charakterisierung darstellt, die anfangs auch von den AutorInnen gutgeheißen und transportiert wurde. Vor allem nach den Terroranschlägen im September 2001 und der einhergehenden verstärkten Polarisierung (Christen/Muslime, Osten/Westen usw.) sei das Bild der ‘zwei Welten’ im breiten Diskurs sehr gelegen gekommen. Und so hält auch Leslie A. Adelson in ihrer Arbeit über deutsch-türkische Literatur fest: “No rhetorical conceit holds more sway over discussions of migrants and the cultures they produce than that which situates migrants ‘between two worlds’ ”.3 Die Zuschreibung dieses (Nicht-)Ortes ‘between two worlds’ hält Adelson für problematisch, weil sie eine statische Beziehung zwischen den beiden Welten beschreibt, wobei diese beiden Welten für die verlassene Heimat und den Ort der Migration stehen können, aber auch für die unterschiedlichen Kulturen dieser beiden Orte, oder den Immigranten einerseits und die neue Heimat andererseits. Außerdem, so Adelson weiter, sei ‘between two worlds’ ein Raum, in dem nichts zu passieren scheint, schließlich sind die ‘Welten’ ja die Zentren, obwohl wir uns in einer historischen Phase verstärkter Mobilität und Transformation befinden, sich also immer mehr Menschen in diesem ‘Zwischenraum’ wiederfinden müssen.
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Jim Jordan: More Than A Metaphor [wie Anm. 1]. S. 497. Leslie A. Adelson: The Turkish Turn in Contemporary German Literature. Toward a New Critical Grammar of Migration. New York: Palgrave MacMillan 2005. S. 3. Vergleiche dazu ebenso das auch auf Deutsch erschienene “Manifest gegen das Dazwischen”, das bei einer Konferenz in Berlin präsentiert wurde sowie zum Teil bereits 2000 im New German Critique erschienen ist. Adelson: Against Between – Ein Manifest gegen das Dazwischen. In: Literatur und Migration. Text Kritik Sonderband IX/2006. Hg. Von Heinz-Ludwig Arnold. München: edition text kritik 2006. S. 36–46; dies.: Touching Tales of Turks, Germans, and Jews: Cultural Alterity, Historical Narrative, and Literary Riddles for the 1990s. In: New German Critique No. 80 (Spring/Summer 2000) Special Issue on the Holocaust. S. 93–124. 3
103 Das Gefühl einer Form von ‘betweenness’, also des ‘Dazwischen’, schreibt Adelson, ist einerseits eines, das in sehr vielen, wenn nicht allen literarischen Texten unserer Zeit konstatiert werden kann und somit auch in Literatur im Kontext von Migration. Problematisch wird die Metapher und die spezielle Zuschreibung des ‘between two worlds’ auf MigrantInnen aber, wenn durch sie der Eindruck entsteht, es handle sich um zwei intakte, in sich abgeschlossene Welten, die durch klare Grenzen voneinander geteilt sind. Diese Vorstellung impliziert, dass sich Migranten als instabile Elemente irgendwo zwischen diesen Polen der stabilen Welten aufhalten, ständig in einer unsicheren Situation, ausgeschlossen von gesellschaftlicher und politischer Partizipation, von den Geschehnissen in den Zentren. Wenngleich diese Stellung in politischer und sozialer Hinsicht der Realität vieler MigrantInnen in westlichen Ländern entspricht, so ist die Fortschreibung des ‘between two worlds’ in der literaturwissenschaftlichen Rezeption von Literatur im Kontext von Migration problematisch, verhindert sie doch jede Beschäftigung, die über dieses Bild hinausgeht. Adelson entlarvt die Vorstellung der Migranten ‘between two worlds’ schließlich als “cultural fable”, die bislang auch die Betrachtung literarischer Texte im Kontext von Migration überschattet hat und die Kritik blind für deren innovative Elemente gemacht hat.4 Einige dieser innovativen Elemente arbeitet Adelson in der Folge in ihrer Arbeit heraus. Sie veranschaulicht, wie in der Literatur von deutsch-türkischen AutorInnen das kulturelle Gedächtnis Deutschlands auf neue Weise durchgearbeitet und mitgestaltet wird. Historische Ereignisse wie der Holocaust werden in diesen Texten aufgenommen und auf neue Art verarbeitet. Ebenso wird die Gegenwart neu gestaltet: So legen z.B. die Beziehungen zwischen der Migrantin und den Nachbarn in Özdamars Der Hof im Spiegel postnationale Intimität in einer von Migration veränderten Gesellschaft nahe.5 Diese Lesarten sind bislang verdeckt gebliebenen Ansätzen in der Literatur deutsch-türkischer AutorInnen auf der Spur. Das Aufgeben des Paradigmas ‘between two worlds’ ermöglicht es, die Texte in erweiterten Kontexten zu lesen. Die Texte schlagen neue Arten der Identitätskonstruktion vor, die sowohl durch die Protagonisten als auch durch formale Aspekte ausgedrückt werden und schreiben sich in die deutschsprachige Literatur ein, die einen Turkish Turn erfährt, wie es Adelson bezeichnet. In diesem Sinne ist auch für die hier zu untersuchenden Texte das Bild des ‘between two worlds’ nicht ausreichend, um deren komplexes Abbild einer transnationalen deutschen Realität zu analysieren. Es gilt, deren 4
Vgl. Adelson: The Turkish Turn [wie Anm. 3]. S. 4f. Vgl. Emine Sevgi Özdamar: Der Hof im Spiegel. Erzählungen. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2001.
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104 innovative Elemente herauszuarbeiten, die sich vor allem in alternativen Identitätskonstruktionen manifestieren. In den Texten von Imran Ayata, Feridun Zaimog˘ lu und Yadé Kara stehen jugendliche Lebensweisen mit all ihren Problemen im Vordergrund – Sexualität, Freundschaft, Arbeit, Geld usw. Wenngleich die Protagonisten oft Migrationshintergrund haben, haben die Identitäten, die entworfen werden, weniger damit zu tun als mit ihren individuellen Lebensentwürfen, die stark mit Deutschland verbunden sind. Es sind keine getrennten Welten auszumachen, zwischen denen die Protagonisten stehen, sondern vor allem Vermischungen, ‘hybride Identitäten’ um mit Homi K. Bhabha zu sprechen. Wie bereits bemerkt, ist hier wiederum die Aufnahme, Abbildung oder gar Vorwegnahme (im Sinne einer breiteren öffentlichen Diskussion) des Diskurses um kulturelle Hybridität in den Texten festzustellen, der den Multikulturalismus ablöst. Für die Analyse alternativer Identitätskonstruktionen in Ayatas Erzählband Hürriyet Love Express, Karas Roman Selam Berlin und Zaimog˘ lus Briefroman Liebesmale, scharlachrot werden in der Folge vor allem folgende Aspekte betrachtet:6 1. Die Distanz zur (Eltern-)Generation der Gastarbeiter, zu deren Problemen und der Thematik der Migration selbst wird in den Texten deutlich. Als Protagonisten tauchen Gastarbeiter nur peripher auf, das Klischee ‘Ausländer Gastarbeiter’ wird an mehreren Stellen gebrochen. 2. Die Protagonisten verstärken das Bild einer ‘hybriden’, durchmischten Gesellschaft, in der niemand eindeutig zuordenbar ist. Die Herkunft der Charaktere ist sehr unterschiedlich, Beziehungsgeflechte zwischen Personen aus verschiedenen Kulturkreisen sind häufig. Dieser Aspekt wird zusätzlich verstärkt durch 3. die Zuschreibungen und Selbstzuschreibungen der Charaktere, die sich in erster Linie als Individuen und nicht als einer Nationalität, Ethnie etc. angehörig darstellen und begreifen. Wenn, dann wird ethnische Herkunft höchstens ironisch eingesetzt und subversiv überzeichnet (z.B. wenn sich Kinder türkischstämmiger Immigranten als ‘Kanack’ oder ‘Orientale’ bezeichnen). 4. Ein Blick auf die Sprache zeigt außerdem, dass das Sprachgewirr, in dem sich die Protagonisten befinden, sich nicht, wie das Bild des ‘zwischen zwei Welten’ implizieren würde, z.B. zwischen Deutsch und Türkisch bewegt, sondern ein viel größeres ist, das nahezu alle Charaktere betrifft.
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Imran Ayata: Hürriyet Love Express. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2005. Im Folgenden: (HLE). Yadé Kara: Selam Berlin. Zürich: Diogenes 2003. Im Folgenden: (SB). Feridun Zaimog˘ lu: Liebesmale, scharlachrot. Köln: Kiepenheuer & Witsch. 1. Auflage 2002. Im Folgenden: (Ls).
105 Ad 1. Die Beschäftigung mit Literatur im Kontext von Migration hat im deutschsprachigen Raum mit der Beschäftigung mit der so genannten Gastarbeiterliteratur der 1970er Jahre begonnen. Schon damals gehörten die AutorInnen selbst nur selten tatsächlich dieser Schicht an, auch die Texte haben sich nicht ausschließlich mit jener Problematik beschäftigt, und doch stand in der Auseinandersetzung mit der literarischen Produktion immigrierter AutorInnen die Gastarbeit im Vordergrund und überschattete dabei viele andere Details. Die Literatur späterer Generationen von Einwanderern hat sich noch stärker von dieser Thematik entfernt, und doch tauchen auch in ihren Texten, wenn auch peripher, immer wieder Figuren auf, die als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen sind. Die Verbindung zur Periode der Gastarbeit bleibt oft die Elterngeneration, wenngleich dieser Umstand zu einer (teils ironischen) Distanzierung von jener Zeit führen kann. Das trifft z.B. auf die Hauptfiguren Serdar und Hakan in Zaimog˘ lus Briefroman Liebesmale, scharlachrot zu, deren Eltern als “ältere Semester der ersten Stunde” nach Deutschland gekommen sind (Ls 23). Hakan nennt Serdar und sich selbst dementsprechend Sprosse “von Arbeitern und Bauern […] die irgendwann ihre Scheißscholle verließen, auf der Suche nach Banknoten aufm Pokertisch oder ner Blendung hinter Schaufenstern” (Ls 40). ‘Gastarbeiter’ sind in dem Text aber nicht nur als Eltern der Protagonisten präsent, sondern z.B. auch im Flugzeug, das Serdar von Deutschland in die Türkei nimmt oder in der Erinnerung Serdars an die Urlaubsreisen von Deutschland in die Türkei, die am Anfang des Romans erwähnt werden. In Imran Ayatas Erzählband steht in der ersten Erzählung “Pokerci Ali” ein Vertreter der Gastarbeitergeneration im Mittelpunkt, eben jener Pokerci Ali, der in der Hoffnung nach Deutschland kommt, hier im neuen Casino von Baden-Baden seine Pokerkünste zum Einsatz bringen zu können, um so das große Geld zu verdienen. Er landet dann allerdings auf einer Baustelle und soll vorerst mithelfen, das erträumte Casino überhaupt erst zu bauen. In einer anderen Erzählung, “Elvan”, stammen die Protagonisten aus zwei befreundeten Familien, deren Väter sich als Gastarbeiter in München kennengelernt haben. In den anderen “Polaroids”, wie die kurzen Erzählungen gegen Ende des Bandes genannt werden, ist die Herkunft zum Teil so nebensächlich, dass z.B. auf die Elterngeneration und die Familiensituation generell nicht hingewiesen wird. Die Protagonisten sind meist junge Deutsche mit türkischem Migrationshintergrund und damit oft Kinder der zweiten Generation, die Elterngeneration wird aber kaum thematisiert. In Karas Roman Selam Berlin schließlich wird die Gleichung ‘erste Generation Gastarbeiter’ als Klischee dekonstruiert. Hier sind die Eltern des Ich-Erzählers zwar zur selben Zeit wie zahlreiche Gastarbeiter nach Deutschland gekommen, Hasans Vater allerdings um zu studieren, seine Mutter
106 als Tochter aus gutem Istanbuler Haus; Hasan selbst ist in Berlin geboren. Auch die befreundete Familie passt nicht in die üblichen Vorstellungen: Vater Halim ist ebenfalls als Student nach Berlin gekommen, seine Frau ist eine gebürtige Deutsche, gemeinsam haben sie eine Tochter, Leyla. Türkei bedeutet für die Protagonisten stets Istanbul, nicht der anatolische Osten des Landes, von wo der Großteil der Gastarbeiter rekrutiert wurde. Gastarbeiter sind, vor allem für die Mutter, eine Gruppe von Türken in Deutschland, mit denen sie nichts zu tun haben will. Sie beschimpft sie als “Bauern” und “Dörfler” (SB 119). “Für die Reichen von Istanbul war Deutschland gleich GastarbeitDrecksarbeit. Sie blickten nach Florida, Boston und New York” (SB 157) – erklärt Hasan diese Reaktion seiner Mutter an einer Stelle. Ad 2. Wer sind nun aber die Protagonisten in den Werken der ‘zweiten Generation’? Die Romane sind von Charakteren unterschiedlichster Herkunft besiedelt. In den ausgewählten Werken stehen meist jugendliche Protagonisten im Mittelpunkt, die versuchen, ihr Leben in richtige Bahnen zu bringen und es dabei vor allem mit Beziehungsproblemen, Sexualität, Geld und Jobs zu tun haben. Migrationshintergrund ist nicht selten, aber kein unbedingtes Muss, das Verbindende zwischen den einzelnen Charakteren sind Freundschaften, das Wissen um die ähnliche Situation des anderen. Kategorien wie Gastarbeiter oder Ausländer, aber auch Immigranten der zweiten oder dritten Generation werden als Konstruktionen entlarvt, damit verbundene Klischees ständig gebrochen. An die Stelle der homogenen Vorstellung von ‘den Türken’ tritt eine heterogene Gruppe von Menschen unterschiedlichster Herkunft. Die Romane arbeiten auf diese Weise intensiv an einer realistischen Abbildung der Gesellschaft, sie halten Strömungen des Konformismus das reale Bild der Städte, des Landes (der Nation), eines Europas entgegen, das sich nie und schon gar nicht heute als monokulturell begreifen lässt. Ein Beispiel dafür sind Leyla und Adem in Karas Selam Berlin, die jeweils mit einer deutschen Mutter und einem türkischen Vater aufwachsen. Sowohl Leyla, Halims Tochter, als auch Adem tragen Züge ihrer väterlichen Abstammung, kulturell sind sie aber primär deutsch orientiert – keiner der beiden hat als Kind Türkisch gelernt, Leyla erlernt es erst später als junge Erwachsene. Sie hat außerdem eine klassisch-humanistische Ausbildung genossen, auf die ihre (deutsche) Mutter großen Wert legt und wächst in einem der betuchteren Viertel der Stadt auf. Ihrem Aussehen nach werden sowohl Leyla als auch Adem aber von Außenstehenden immer wieder pauschal als ‘Ausländer’ bezeichnet, eine Kategorie, die als Vorurteil entlarvt wird. Beziehungen über kulturelle und sprachliche Grenzen hinweg ziehen sich durch Karas gesamten Roman. Es gibt fast schon auffällig viele ‘internationale Pärchen’: Neben den bereits genannten ist da noch der türkischstämmige Kazim, der gegen Ende des Romans mit der aus Indien stammenden Sukjeet in
107 deren Heimatstadt London zieht. Leyla hingegen, Halims Tochter und Hasans enge Freundin, verliebt sich in den schwarzen GI-Soldaten Robert Redford (der eigentlich Redfield heißt). Dann wäre da noch Cora, deren Mutter aus Ostdeutschland stammt und deren Vater aus dem Irak kommt, jetzt aber in den USA lebt. Mit ihr hat Hasan im weiteren Verlauf des Romans ein Verhältnis, das Cora dann aber zugunsten des jüdischen Letten Vladimir aufgibt. Und schließlich die Deutsche Agnes Schulze, die eine über den Urlaub hinaus bestehende Romanze mit dem Türken Ali (!) hat und gleichzeitig mit Hasan, der Alis Briefe für sie übersetzt, ein unschuldig-erotisches Verhältnis beginnt. Diese ‘multikulturellen’ Paarbeziehungen bei Kara werden außerdem erweitert um das Motiv der Grenze. Sie manifestiert sich als jene zwischen Ost- und Westdeutschland, die während der Handlung zwar gerade fällt, die sich aber weiterhin durch die Köpfe der Menschen zieht. Sie wird damit im Text zu einer viel deutlicheren Barriere als sämtliche sprachlichen oder kulturellen Grenzen. In Beziehungen über diese Ost-West-Grenze hinweg, wie die zwischen Hasans Vater Said im Westen und Rosa im Osten oder Ingrids Cousine aus der DDR und deren türkischem Freund in West-Berlin oder auch zwischen Coras Mutter im Osten und ihrem irakischen Vater, der wieder aus der DDR emigriert, scheint im Roman die Distanz zwischen Osten und Westen stärker zu trennen als kulturelle oder ethnische Unterschiede. Generell sind die ‘Ossis’ den Protagonisten und vor allem auch den Westdeutschen fremder als Kreuzberger türkischstämmige Jungs. Das manifestiert sich auch in der unterschiedlichen Jugendkultur, die Leyla und ihren Ost-Berliner Cousin in punkto Musikgeschmack auf keinen gemeinsamen Nenner kommen lassen (SB 133). Auch in Ayatas Erzählband Hürriyet Love Express sind die Charaktere unterschiedlicher Herkunft. In der Erzählung “Liebe ist mächtiger als Tito” finden sich in einer Liste von Ex-Freundinnen eines der Protagonisten türkische, deutsche und nicht eindeutig zuordenbare Namen: “Nora, Fatma, Helin, Angela, Songül, Giti, Margit, Pamela, Aylin, Katharina, Henriette, Julia, Nadine, Zeynep, Beate, Christel, Ludmilla, Müjgan, Ivanka, Diana oder Berfin. Jetzt war es also Nurten […]” (HLE 23). Bei Ayata wird die Bedeutung der Herkunft und damit einhergehende Stereotypen ebenfalls dekonstruiert. So ergeben sich in der Erzählung “Hürriyet Love Express” für die auf den ersten Blick vermeintlich türkischen Protagonisten Probleme aufgrund der Herkunft potenzieller Freundinnen. Die türkischstämmigen Deutschen Fred und Aki sind verunsichert, als sie sich mit türkischen Frauen verabreden sollen. Aki äußert seine Zweifel: “Das ist jetzt ein bisschen zuviel. Mit Frauen telefonieren, die ich nicht kenne. Und dann auch noch Türkinnen. Ich weiß nicht, wie die ticken”. “Na und? Vorhin dachte ich, dass ich noch nicht einmal eine geküsst habe. Schlimm”? (HLE 103)
108 Bei Zaimog˘ lu finden sich gleichermaßen Beziehungen ‘über Grenzen’, wenngleich sie hier auf Deutsche bzw. Deutsch-TürkInnen beschränkt bleiben: In seinem Roman flüchtet der Protagonist Serdar aus Deutschland zu seinen Eltern in die Türkei, um sich vor seinen beiden Parallelbeziehungen mit zwei deutschen Frauen zu retten. Im heimatlichen Dorf trifft er dann auf die Türkin Rena, in die er sich unsterblich verliebt. Sein Freund Hakan, der in der Heimatstadt Kiel geblieben ist, versucht sein Glück indes bei seiner deutschen Nachbarin Jacqueline. Wie in den Beschreibungen der diversen Beziehungen bereits angedeutet wurde, sind sämtliche Figuren in den drei Werken sehr unterschiedlicher Herkunft. Zu den Hauptpersonen und ihren Beziehungen in Karas Selam Berlin gesellen sich noch polnische Arbeiter sowie das deutsche Ehepaar Wessel, das im selben Haus wie Hasans Familie lebt, genauso wie Emine Hanim: Sie ist eine türkische Frau, die trotz langen Aufenthalts in Deuschland kein Deutsch spricht, von der türkischen community aber als Wahrsagerin und Kaffeesatzleserin geschätzt wird. Das Wohnhaus vereinigt so Tratsch bei süßem türkischen Mokka und Gebäck, Frau Wessels Dackel Susi, die Kriegsvergangenheit von Herrn Wessel sowie die Familie Kazan und das alles direkt an der ehemaligen Grenze zwischen West und Ost, schließlich steht das Haus an der Berliner Mauer. Bei Ayata finden sich in den einzelnen Stories türkische und deutsche Hauptfiguren, aber auch ein polnisches Au-pair-Mädchen, eine kolumbianische Frau, die in Deutschland zur Prostitution gezwungen wird, ein jugoslawischer Blumenverkäufer, ein bayerischer Oberwachtmeister und ein griechischer Bekannter, der in Deutschland wiederum auf einen Türken trifft. Bei Zaimog˘ lu schließlich besteht der Freundeskreis des Deutsch-Türken Hakan aus dem Perser Mohi, dessen Freund Davoud und den Palästinensern Achmed und Farouk. Genauso unterschiedlich sind bei Ayata übrigens die Schauplätze der Stories. Sie spielen an verschiedenen Orten in Deutschland (Berlin, Frankfurt, Ruhpolding), genauso wie in der Türkei (Istanbul, Altinoluk, Erinnerung an Zeranik), genannt werden aber auch Italien (Sizilien, Bari), der indische Ozean oder Griechenland (Lentas) und Barcelona. Ad 3. Das ‘zwischen zwei Welten’-Stehen wird am deutlichsten in den (Selbst-)Zuschreibungen der Protagonisten als Klischee aufgenommen und gebrochen. Viele der Charaktere nennen eine Heimat, haben einen konkreten Bezugspunkt, der zum ‘bei uns’ wird und sie nicht zwischen den Welten stehen lässt. Viele der Protagonisten in den drei vorgestellten Texten bezeichnen Deutschland als ihre Heimat. So fühlt sich Karas Ich-Erzähler als Berliner, oder sogar noch mehr als Kreuzberger, auch wenn er mit der Zeit draufkommt, dass nach dem Mauerfall ganz andere Viertel ‘hip’ werden. Aber es bleibt für ihn der Stadtteil, wo er aufgewachsen ist und wo er sich daheim fühlt. Immer
109 wieder finden sich Hinweise wie “bei uns”, wenn er sich auf Kreuzberg bezieht, Berlin ist das ‘hier’, Istanbul eher das ‘dort’, eine Sichtweise, die nicht nur mit seinem momentanen Aufenthalt in Berlin zusammenhängt. Auch in Zaimog˘lus Briefroman wird Deutschland mehrmals als Heimat bezeichnet, wenngleich die Türkei, in der sich gegen Ende des Romans beide Briefeschreiber aufhalten, ‘homeland’ genannt wird. Das ‘homeland’ entspricht hier jener Heimat, die die Elterngeneration der Protagonisten verlassen hat, in das man aber regelmäßig zurückkehrt. In der lässigen englischen Bezeichnung gewinnt ‘homeland’ im Roman an jugendlicher Coolheit, hat aber nicht jene starke Konnotation wie das deutsche ‘zu Hause’ oder ‘Heimat’, das an anderer Stelle auch der “vertraute Boden” genannt wird (Ls 287 und 290). Serdars und später auch Hakans Reise in die Türkei gleicht eher einer Modebewegung ‘back to the roots’, sie halten sich schließlich auch nur kurze Zeit im ‘homeland’ auf, wohingegen sie in Deutschland leben. Liebesmale, scharlachrot ist der erste Roman Feridun Zaimog˘lus, Anklänge an sein früheres Projekt der Kanaksprak bleiben erhalten und mischen sich mit formalen sowie sprachlichen Anlehnungen an die Tradition des empfindsamen Briefromans. Im Vergleich zu den Vorgängern Kanak Sprak oder Koppstoff findet sich die Kunstsprache zwischen “norddeutschem Dialekt, jugendlicher Umgangssprache, englischem Hip-Hop Vokabular und Einsprengseln aus dem Jiddischen und Rotwelschen (nicht aber dem Türkischen)” hier teilweise wieder, allerdings in formal abgeschwächter Form.7 Auffälligstes Kennzeichen der Kanaksprak, das auch in Liebesmale, scharlachrot erhalten bleibt, sind die Zuschreibungen, die die Protagonisten sich selbst und anderen machen. Die zahlreichen ‘Kanaken’, ‘Alis’ und ‘Kümmel’ in den verschiedensten Variationen waren in Kanaksprak neben Ausdruck der Gruppenzugehörigkeit noch Zeichen extremer Auflehnung gegen den herrschenden Rassismus und die Ghettoisierung. Dort sprechen die türkischstämmigen Protagonisten die ansonsten gegen sie verwendeten Beleidigungen aus und tragen sie so an die erschrockene, peinlich berührte Öffentlichkeit. Die Bedeutung der Worte wird aus eigener Kraft verändert und sie dienen von da an zur Selbstbezeichnung – die Waffen werden gedreht und sind in ihrer neuen Wirkung noch stärker. In Liebesmale, scharlachrot feiern die Protagonisten das Ghetto etwas selbstironischer. Sie verwenden selbst stolz die Bezeichnungen, die sie gleichzeitig dem jeweils anderen halb scherzend, halb beleidigend an den Kopf werfen. Da wimmelt es von “hardboiled Kanakstas”, “Luxuskümmel”, man fühlt sich als “Ghettokollega”, auch Komposita werden ohne Ende gebildet: “Kanakenoutfit,
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Karin E. Ye¸silada: Feridun Zaimog˘ lu. In: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (KLG) 86. Nlfg. 6/07. München: edition text kritik 2007. 22 S. Hier: S. 6.
110 Abiturkümmel, Charmekümmel, Kümmelkohorte, Kanakenkollega, StreetlifeKümmel” etc. (Ls 110, 13, 27). Die Selbstzuschreibungen greifen auch auf andere rassistische Wörter zurück, die ursprünglich nicht gegen türkische ImmigrantInnen gerichtet waren. Die beiden deutsch-türkischen Protagonisten verwenden sie nun ebenfalls in der beschriebenen Umkehrung: Sie nennen sich “Scheißbimbos”, “Krausköppe”, haben eine “Semitennase”, den “Semitenblick” oder bezeichnen sich als “typische Semitenmacker” (Ls 26, 43, 135, 262, 264). Die jeweils heftigsten, politisch unkorrektesten Bezeichnungen werden aufgegriffen, teilweise in Form eines Kompositums in ihrer Aussage noch verstärkt, um sie dann in dieser doppelten Tabu-Form zu einer positiven Selbstzuschreibung werden zu lassen. Ähnlich wie bei Zaimog˘ lu versteht auch Hasan in Karas Selam Berlin die Bezeichnung Kanacke, im Gegensatz zu seinem Bruder. Der prophezeit ihm, als er nach Berlin gehen will: “Dort bist du immer Kanacke, ob mit Abi oder ohne, Kanacke bleibst du immer in Berlin”. Hasan jedoch reagiert gelassen: “Na und, dann bin ich halt Kanacke!” (Sb 19). Er hat sich daran gewöhnt, entweder als Almanci oder als Kanacke zu gelten, je nachdem, ob er sich gerade in Istanbul oder Berlin aufhält. Deshalb wehrt er sich auch nicht gegen die Bezeichnung – für einen Kreuzberger, als der er sich eigentlich fühlt, ist das Kanackendasein zu einem selbstbewussten Teil seiner Identität geworden. So bezeichnet Hasan auch seinen Freund Kazim als “Gastarbeiter-Ali”, wenn der wieder mal mit Gastarbeiterdeutsch die Leute unterhält (SB 87). Auch in Ayatas Stories finden sich an die Kanaksprak angelehnte Selbst- und Fremdzuschreibungen. Die Protagonisten in den diversen Erzählungen nennen einander “Ali”, “Kanak-Heino” (trägt immer eine Sonnebrille), “Turco” oder “Abitur-Türkenboy” (HLE 33, 81, 88, 91). Das Aufgreifen dieser Selbstzuschreibungen auch von Kara und Ayata kann gleichzeitig als Ausdruck des Pop-Status verstanden werden, den Kanaksprak mittlerweile erreicht hat, wie Tom Cheesman beschrieben hat.8 Prinzipiell wird aber von Seite der Protagonisten wenig Gewicht auf die türkischen Wurzeln gelegt. Wenn, dann passiert die Zuschreibung wiederum von außen, zum Beispiel als der junge Süleyman von der Polizei aufgehalten wird, die ihm mit Abschiebung droht. “Würde mich interessieren, wie Sie heute noch einen Deutschen aus Deutschland abschieben wollen”, antwortet Süleyman darauf (HLE 90). Selbstbewusst macht der Protagonist damit seine Identität deutlich: Er ist Deutscher, der Migrationshintergrund seiner Familie hat mit seinem Selbstverständnis als Bürger Deutschlands nur bedingt zu tun, und kommt nur mehr in (falschen) Zuschreibungen von außen zum Tragen.
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Vgl. Tom Cheesman: Talking ‘Kanak’: Zaimog˘ lu contra Leitkultur. In: New German Critique (Spring/Summer 2004). S. 82–99.
111 An anderer Stelle werden die deutsch-türkischen Hintergründe der Protagonisten in den drei Texten vor allem durch die Namen der Charaktere deutlich, so diese denn den LeserInnen überhaupt bekannt werden, und durch türkische Wörter, die immer wieder in die Dialoge eingestreut werden, worauf im nächsten Abschnitt eingegangen werden soll. Die türkischen Namen werden in Deutschland teilweise verändert und angepasst: So wird Hasan in Karas Roman teilweise zum deutschen ‘Hansi’ (SB 5). Auch ein anderer Protagonist, Leylas Freund, verändert seinen Namen: Statt Robert Redfield nennt sich der schwarze amerikanische Soldat Robert Redford: “Am Telefon klingt es gut. Verstehst du?” “Neee”. “Na, hör mal, wenn ich mich mit Robert Redford melde, dann denken diese weißen Macker gleich an einen blonden, blauäugigen Cowboy”. Er grinste breit. “Und wenn ich dann vor ihnen stehe, fliegen ihnen die Augäpfel raus”. (SB 173–174.)
Angeregt von Redfords Trick, nennt auch Hasan sich am Telefon ‘Katz’ und nicht ‘Kazan’ als er in Berlin eine Wohnung sucht, damit die Leute (die Deutschen) nicht sofort denken, dass er Türke ist, sondern (korrekterweise) annehmen, er sei Deutscher. In der titelgebenden Erzählung “Hürriyet Love Express” von Imran Ayata verändern die beiden Protagonisten ihre Namen und machen sie “Almanyakompatibel”, wie sie es nennen: ‘Abdurrahman’ wird zu ‘Aki’, einem “Dreibuchstaben-Pop”, wie Aki es selbst nennt, weil er die ständigen Nachfragen zu seinem Namen satt hat. Sein Freund Fetullah hingegen nennt sich ‘Fred’ (HLE 97). Das Selbstverständnis der eigenen Identität wird so als sichtbares Zeichen nach außen getragen, gleichzeitig wird, wie im Falle von Hasan ‘Hansi’ oder Redfield ‘Redford’ mit den Erwartungen und Vorurteilen anderer gespielt, um sie dann in der Konfrontation wiederum zu widerlegen. Ad 4. Ähnlich der Zuschreibung des ‘zwischen den Kulturen’ Stehens wird jene des ‘zwischen den Sprachen’ Stehens in den vorliegenden Texten ironisiert und als Klischee dekonstruiert. Dass die Protagonisten nicht zwischen den Sprachen stehen, hängt schon mit ihrer Sprachkenntnis zusammen. So wie die meisten von ihnen deutsch sozialisiert wurden, so sprechen sie in den Texten großteils Deutsch bzw. erzählen als Ich-Erzähler oder Verfasser von Briefen auf Deutsch. Lediglich ab und an wird das eine oder andere türkische Wort in die Dialoge eingestreut. Türkisch ist aber für viele der Protagonisten eine Sprache, die sie nicht einmal gut sprechen können. So sagt Aki in Ayatas titelgebender Erzählung “Hürriyet Love Express” zu einer Freundin, die eine Kontaktanzeige in der türkischsprachigen Zeitung Hürriyet auf seinen Namen aufgibt: “Alev, ich kann doch nicht mal richtig Türkisch” (HLE 101).
112 Anstatt eines ‘zwischen zwei Sprachen’-Stehens entsteht in den Texten eher ein Sprachgewirr, das aber nicht nur aus Deutsch und Türkisch entsteht. Die vermischte Sprache von Ayatas Charakteren wirkt eher wie ein eigener Slang, in dem man sich genauso Wörter aus anderen Sprachen aneignet. Es geht nicht um zwei Sprachen und die Problematik mit ihnen, sondern um ein Gemisch von Sprachen, in dem sich die Protagonisten finden, was in einem der kurzen “Polaroids” gegen Ende des Bandes besonders deutlich wird: Das erwachsene Kind türkischer Eltern in Deutschland erzählt von den geringen Deutschkenntnissen seiner Eltern und beginnt doch mit der Feststellung “Ich brauche einen Deutschkurs” (HLE 205, meine Hervorh.). Dass deutsche Beamte seine Eltern “mit Sätzen wie ‘Du bringen bis morge Unterschrift…’ behelligen”, liegt nicht an ihren geringen Deutschkenntnissen (HLE 206). Ihnen reicht ihr Sprachwissen um sich in Deutschland durchzuschlagen. Tatsächlich der Sprachverwirrung ausgeliefert ist ihr Kind. Der IchErzähler/die Ich-Erzählerin steht aber nicht, wie man durch die Vorgeschichte annehmen könnte, zwischen Deutsch und Türkisch; er/sie hat in Deutschland studiert, spricht daheim wahrscheinlich Türkisch. Das Sprachgemisch, das ihn umgibt und für das er einen Deutschkurs einfordert, ist ein viel größeres: In einer langen Textpassage mischen sich zumindest Deutsch, Türkisch, Englisch, Französisch, Portugiesisch, Italienisch und Spanisch zu einer neuen Sprache, die im neuen Deutschland gesprochen wird: Oder bunun anlamı was? Rüf Regnäfna. Harris meets Sezen y Makabar. Alper onlara uzun hava söyler. Güzel, çok güzel. Bak, Suat, Meltem ve Seda tempo tutuyorlar. Rüya Hanım, çay demledim. Ama içen yok! Esta função é útil para tirar de pessoas contra o pordo-sol ou com fundos nocturnos. Ce palais, ainsi que d’autres situés de l’autre… Utilice este modo par atomar fotos de sujetos que non sean personas. Deniz mahkemeye dü¸smü¸s, avukatı Madonna olsaydı. Dersim dört dag˘ içinde, and le mot no implication fatale. Je detesse hiç kimseyi ama, sevmekte zorla¸sı yor artık. Kalbim heißt mein Herz. Mein Herz, mein Herz, mein Herz […]. La notte fumare Muratti Ambassador. (HLE 206)
Für dieses Sprachgewirr, das in Wahrheit viel größer als ein simples ‘zwischen-den Sprachen’ Stehen ist und nicht nur die Nachfolgegenerationen von MigrantInnen betrifft, braucht der Ich-Erzähler einen Deutschkurs, und nicht um die “rassistischen Absurditäten”, wie er sie nennt, der deutschen Behörden besser zu verstehen (HLE 206). Ein vergleichbares, wenngeich für die deutschsprachigen LeserInnen leichter zugängliches Sprachgewirr findet sich in Zaimog˘ lus Kanaksprak. Ein auf Deutsch und Türkisch reduzierter Gegensatz wird in dieser vermischten Sprache ebenso dekonstruiert, durch das Vermeiden türkischer Ausdrücke sogar gänzlich ignoriert.
113 Ähnlich wie bei Ayata, ist auch bei Kara die verwendete Sprache, sowohl des Ich-Erzählers als auch in den Dialogen, die meiste Zeit ein Jugendslang, der zum Großteil aus deutschen, berlinerischen, türkischen und englischen Wörtern besteht. So begrüßen sich zwei türkischstämmige Freunde mit “Hey, Istanbulu, wat machst du denn hier, Lan?” und geben sich Ratschläge: “Glaub mir, Lan, deine Eltern kleben wie eine Klette an dir. No chance, Lan” (SB 76, 93). Der Wechsel zwischen Deutsch und Türkisch wird allerdings an einigen Stellen im Roman auf nahezu didaktische Weise thematisiert. Der Ich-Erzähler Hasan hört seinem Freund Kazim beim Telefonieren zu, bemerkt dessen Wechsel zwischen Deutsch und Türkisch und kommentiert ihn: Von nebenan hörte ich Kazims Stimme. Er telefonierte immer noch. Dabei wechselte er ständig vom Türkischen ins Deutsche und umgekehrt. Jetzt, wo ich ihm so zuhörte, fiel mir ein, dass ich das auch oft tat, ohne es zu merken. Ich sprang von einer Sprache in die andere. Einfach so, wie Seilspringen. (SB 88)
Ein weiteres Beispiel für das Thematisieren des Wechsels findet sich etwas später, als Hasan seine Freundin Leyla besucht, die von ihm alle Neuigkeiten aus Istanbul erfahren will, aber unbedingt auf Türkisch: Leyla kannte Istanbul nur aus den Ferien, trotzdem liebte sie diese Stadt und ihre Skandalgeschichten. Sie bestand darauf, dass ich ihr alles auf türkisch erzählte. Sie wolle in das Istanbul-Gefühl kommen, sagte sie immer. Was auch immer sie damit meinte (SB 101).
Die Sprache transportiert für Leyla ein bestimmtes Gefühl des Landes, vor allem der Stadt, ein Gefühl, das Hasan allerdings nicht wirklich nachvollziehen kann, vielleicht weil Istanbul als langjährige Heimatstadt für ihn die Exotik verloren hat, die sie für Leyla als Urlaubsziel immer noch hat. Dieses Gefühl wird durch die ‘orientalisch’ gefärbte Atmosphäre bei dem Treffen verstärkt: Hasan hat türkischen Honig mitgebracht, gemeinsam trinken sie Tee “aus kleinen taillierten Gläsern”, wie bemerkt wird (SB 102). Wie an anderen Stellen scheint der Roman hier besonders engagiert dabei, kulturelle Missverständnisse zu thematisieren und aufzuklären. Dabei scheint sich die Autorin gelegentlich aller möglichen soziologischen und kulturellen Ingredienzien für einen typischen (verkaufsfähigen) deutsch-türkischen Roman zu bedienen, wie Moray McGowan anmerkt.9 Klischees werden so zwar teilweise gebrochen, aber andererseits neue stereotype Vorstellungen transportiert. So bringt das Bild des Seilspringens zwischen zwei Sprachen im 9
Vgl. Moray McGowan: Turkish-German Fiction Since the Mid-1990s. In: Contemporary German Fiction. Writing in the Berlin Republic. Hg. von Stuart Taberner. Cambridge: Cambridge University Press 2007. S. 196–214. Hier: S. 200.
114 zitierten Beispiel genau jene Vorstellung zurück, die andernorts durch größere Sprachenvielfalt widerlegt wird. Der Wechsel zwischen Deutsch und Türkisch ist ansonsten in Karas Roman kaum gekennzeichnet, bis auf einige wenige Wörter, die auf Türkisch stehen bleiben und teilweise auch mehrmals eingesetzt werden. Das sind einerseits Anreden oder Kosewörter wie Lan, Hanım, Bey oder yavrum, die in Fußnoten übersetzt werden. Anderseits handelt es sich um Beleidigungen und Flüche, die ebenfalls in deutscher Übersetzung wiedergegeben werden.10 Die wenigen türkischen Wörter, die bei Kara verwendet werden, wiederholen sich auch in den anderen beiden hier besprochenen Texten. So kommt Lan, der ‘Kumpel’ aus dem Berliner Slang auch in einer der Stories von Ayata vor. Ebenso og˘ lum (Sohn), Bey oder Hanım, wobei der Kiepenheuer & Witsch Verlag bei Zaimog˘ lus und Ayata sogar die korrekten türkischen Buchstaben verwendet (außer bei Zaimog˘ lus Namen, aber der scheint sich in der Schreibweise Zaimoglu durchgesetzt zu haben), der Diogenes Verlag hingegen nicht. Thematisiert wird bei Ayata und Kada auch das Nicht-Sprechen, bzw. das Nicht-Beherrschen des Türkischen. So gibt es in Selam Berlin einige Charaktere, die kein Türkisch sprechen, wenngleich es ihre familiären Umstände nahe legen würden. Ingrid, die deutsche Frau des Türken Halim, weigert sich, Türkisch zu lernen, bei ihr zu Hause darf nur Deutsch gesprochen werden. Dementsprechend lernt ihre Tochter Leyla erst als junge Erwachsene auf eigenes Betreiben Türkisch, spricht die Sprache aber nicht sehr gut. Adem wiederum, Hasans Halbbruder aus Ostberlin, sieht seinen Vater zwar ab und zu, wächst aber mit seiner deutschen Mutter auf und lernt deshalb kein Türkisch. Bei Ayata hingegen finden sich, wie bereits zitiert, Protagonisten, die sich im Türkischen nicht ganz sicher fühlen. Das Gegengewicht zu den nicht-Türkisch sprechenden Charakteren bilden bei Kara jene, die wiederum kein oder nur wenig Deutsch sprechen, wie die Berliner Nachbarin der Kazans, Emine Hanım oder Hasans Mutter. Selbst Hasans Vater Said und sein Freund Halim sprechen Deutsch mit starkem Akzent. So sagt Hasan über seinen Vater: “Obwohl er seit über zwanzig Jahren hier lebte, sprach er immer noch Wörter wie Straße und Spiegel ‘Scheteraße… Schiipiigeel’ aus” (SB 69). Zu Udo Jürgens altem Schlager singt Said “sex und sexy Jaaahre” (SB 70). In einer ganz besonderen Sprachlosigkeit befindet sich der jugendliche Protagonist in Ayatas Erzählung “Wintersonne”.11 Er flüchtet vor seinem 10
So z.B. “Siiktiir, Lan!” (Was in der Fußnote mit “Verpiss dich” übersetzt wird: Kara: Selam Berlin [wie Anm. 6]. S. 245), oder “Anaani ziikim” (im Text übersetzt als “fuck your mother”). Ebd. S. 220. 11 Imran Ayata: “Wintersonne”. In: Ders.: Hürriyet Love Express [wie Anm. 6]. S. 123–153.
115 Leben in Deutschland in ein Dorf an die ägäische Küste und spricht dort während der ersten Tage mit niemandem, was dazu führt, dass die Dorfbewohner annehmen, dass er stumm ist. Dass solch eine Sprachlosigkeit von der Umwelt aber nicht einfach akzeptiert wird, zeigen die weiteren Zuschreibungen: In der Folge beginnen die Leute über ihn zu reden, sie nennen ihn einen Verrücken oder bemühen sich einfach, ihn zu übersehen.12 Das Nicht-Sprechen eröffnet ihm auch neue Dimensionen, er bemerkt Dinge, die ihm früher nicht aufgefallen waren, in stummen Gesprächen reagieren Menschen anders auf ihn als sonst und er beginnt ein Verhältnis mit einer Frau, das große Tiefe gewinnt. Wird er als Sprachloser von den anderen als verrückt abgestempelt und weiter nicht beachtet, so macht ihn seine Entscheidung, wieder zu sprechen am Ende der Erzählung verdächtig. Als in der Kleinstadt zur selben Zeit ein Mord passiert, will ihn die Kioskbesitzerin aufgrund seiner ‘wiedergewonnen Sprache’ sogar bei der Polizei anzeigen. Verdächtig, fremd oder zumindest ungewohnt ist in diesen Texten im Grunde also jede Sprache: Das Türkische, das Deutsch der vermeintlich nichtdeutschen Protagonisten, der Wechsel zwischen den Sprachen, die sich nicht nur zwischen zwei Polen bewegen, verschlüsselte Jugendsprachen, das Nicht-Sprechen – ein genauer Blick zeigt, dass eindeutige Zuschreibungen kaum möglich sind, die Protagonisten und Texte sich ihnen widersetzen und Sprachidentitäten ebenso vielfältig und mehrdimensional dargestellt werden. Die Identitäten in den betrachteten Werken bestätigen Adelsons Zurückweisung der Zuschreibung ‘between two worlds’. Auch können die Texte in ihrer ‘Hybridität’ nicht mehr als ‘Sonderfall’ gesehen werden. Vielmehr sind sie Beschreibungen urbaner Jugendkultur, in denen die Vermischung verschiedener Elemente, ob sprachlicher oder kultureller Natur, nicht mehr gesondert hervorgehoben werden muss. Die Texte spiegeln gesellschaftliche Realitäten wieder, in denen nicht an dem Befund getrennter Welten festgehalten werden kann, die aber trotzdem noch auf ihre breite (An-)Erkennung in der politischen und gesellschaftlichen Diskussion warten. Genau wie die entworfenen Identitäten kann die Literatur von AutorInnen mit Migrationshintergrund nicht eine ‘Sonderstellung’ quasi ‘Zwischenzwei-Literaturen’ einnehmen, eine zwar oft gelegen kommende Sicht, die allerdings zahlreichen innovativen Elementen in den Texten nur ungenügend Beachtung schenkt. Im Gegenteil darf das Potenzial einer Literatur im Kontext von Migration als integrativem Bestandteil der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nicht übersehen werden: – Das Anschreiben gegen klischeehafte Zuschreibungen sowie deren Dekonstruktion ist nicht ausschließlich, aber auch Gehalt der Werke. 12
Vgl. dazu ebd. S. 123, 125, 133–135, 142.
116 – In ihrer Vielfalt der Sprachen, Kulturen, Generationen von Migranten bieten die Werke von Autoren wie Kada, Ayata, Zaimog˘ lu und vielen anderen ein realistisches Abbild gegenwärtiger westlicher ‘Einwanderungsländer’. Gleichzeitig beinhalten die Romane keine optimistischen MultikultiBotschaften, sondern bilden das Zusammenleben der vielfältigen Protagonisten als Alltag mit den entsprechenden Problemen ab. – Die Texte sind schließlich vor allem wegen ihrer literarischen Qualität, ihres Inhalts und ihrer Botschaft interessant, nicht primär aufgrund der Biographie ihrer AutorInnen. Ein vergleichender Blick bringt zwar ähnliche Aspekte zum Vorschein, deren Untersuchung äußerst lohnend ist, dabei müssen die Texte aber für sich sprechen können, ohne zu sehr von einem Label wie ‘MigrantInnenliteratur’ überschattet zu werden.
Karin E. Ye¸silada
‘Nette Türkinnen von nebenan’ – Die neue deutsch-türkische Harmlosigkeit als literarischer Trend The Harem as the hidden world of Oriental women has always been at the centre of European imagination. This Orientalism still has an impact on contemporary reception of Turkish-German literature by and about women writers. To what extent do young Turkish women writers reflect or undermine this discourse when inviting a German audience into their private realm in their books? The chapter analyses a literary trend that could be best characterised as Chick-Lit alla turca. Aslı Sevindim’s Candlelight Döner (2005), Dilek Güngör’s Das Geheimnis meiner Großmutter (2007) and Hatice Akyün’s Einmal Hans mit scharfer Soße (2005) are three texts by a new generation of Turkish-German women writers who write entertaining stories about their TurkishGerman lives. A final discussion of two Turkish women writers of the same generation allows a comparative view at contemporary women’s writing in in Germany and Turkey.
I. Von Harems, Suleikas und anderen Orientalinnen – Vorbemerkungen Der Blick hinter die Türen des Harems ist ein europäischer Topos, der sich durch die Literatur und Reiseliteratur des gesamten Westens über den Orient zieht: Einen Blick nur erhaschen auf jene geheimnisvolle Welt der Frauen, das war Inspiration für unzählige Reiseberichte, Romane, Fotografien und Gemälde seit dem frühen 18. Jahrhundert und besonders im 19. Jahrhundert. In der Folge wurde das Bild der Orientalin als Odaliske, Liebessklavin, als Verkörperung lasziver Indolenz und erotischer Verführerin festgeschrieben.1 Wie viele dieser tradierten Vorstellungen geistern noch in den Köpfen heutiger Redakteure und Verleger herum?2 Und wie ist es zu verstehen, wenn eine 1969 geborene Autorin türkischer Herkunft ihre Leserschaft mit folgenden Worten umgarnt: “Ich entführe Sie in ein Deutschland, dass Sie unter Garantie noch nicht kennen. Ein Land mit Geschichten aus 1001 Nacht mitten im Ruhrpott […].”?3 1
Einen guten Überblick über die umfangreiche Sekundärliteratur bietet der Abschnitt Harem and the Veil. In: Feminist Postcolonial Theory. A Reader. Hg. von Reina Lewis and Sara Mills. Edinburgh: Edinburgh University Press 2003. S. 489–609. 2 Der Münchner Allitera Verlag verwendete das berühmte Bild Das türkische Bad von Jean-Auguste-Dominique Ingres für das Cover einer Literaturgeschichte. Ob es sich bei den sich lasziv räkelnden nackten Odalisken um Leserinnen oder Autorinnen der türkischen Literatur handelt, bleibt offen. Vgl. Wolfgang Günter Lerch: Die Laute Osmans. Türkische Literatur im 20. Jahrhundert. München: Allitera 2003. 3 Hatice Akyün: Einmal Hans mit scharfer Soße. Leben in zwei Welten. München: Goldmann 2005. S. 11. Weitere Seitenangaben im Text.
118 Fest steht, dass sich in der deutschen Literaturgeschichte besonders im Zuge der Arbeitsmigration und der türkischen Einwanderung nach Deutschland seit den 1960er Jahren eine spezifische Literatur herausgebildet hat, in der die Türkin, um das Bild der Orientalin hier einzugrenzen, sowohl als beschriebenes Objekt wie auch als schreibendes Subjekt Einzug in die deutschsprachige Gegenwartsliteratur gehalten hat. Martin Mosebachs Roman Die Türkin etwa, eine sentimentale Liebesgeschichte zwischen einem deutschen Mann und einer Türkin, eine Art éducation sentimentale, fixiert das Bild von der zu entdeckenden, zu erobernden und nach westlichem Vorbild zu erziehenden türkischen Naiven in fast klassisch-kolonialisierender Schreibweise: Hier das schöne Opferkind, da der deutsche Retter.4 Ein ähnliches Prinzip prägte auch Filme der späten 1980er und frühen 1990er Jahre, in denen Türkinnen häufig zu Opfern stilisiert wurden, wie etwa in Hark Bohms Yasemin;5 selbst in der Trash-Literatur findet sich das Motiv der Türkin als Opfer männlicher Gewalt.6 Neben solchen Fremdzuschreibungen gab es auch Selbststilisierungen, etwa in den Romanen von Saliha Scheinhardt, deren Kolportage-Literatur das Bild der unterdrückten, bemitleidenswerten und sich selbst bemitleidenden türkischen Frau in der Literatur der 1980er Jahre zementierte.7 Dieses literarische Genre, das ich als Die geschundene Suleika bezeichnet habe,8 ist nur eine mögliche Form weiblichen Schreibens innerhalb der deutsch-türkischen Literatur, allerdings eine sehr spezifische, da sich hier der Rekurs auf eine Jahrhunderte alte Zuschreibung 4
Martin Mosebach: Die Türkin. Roman. Berlin: Aufbau 1999. Die Fixierung stereotyper Bilder von Türken im Film wird kritisch beleuchtet in: “Getürkte Bilder”. Zur Inszenierung von Fremden im Film. Hg. von Ernst Karpf, Doron Kiesel und Karsten Visarius. Marburg: Schüren 1995 (Arnoldsheimer Filmgespräche. Band 12). 6 Vollends pervertiert wird die Opfer-Türkin in den Trash-Romanen von Michael Mamitza, dessen Türkinnen wechselweise im Rollstuhl sitzend onanieren, vom Vater mit dem Ledergürtel gezüchtigt oder mitsamt ihrem Rollstuhl im Fluss versenkt werden, bevor der blonde Deutsche rettend einschreitet. Michael Mamitzas Romane Kismet (1992), Fatum (1993) und Feran (1993) wurden vom S. Fischer Verlag auf der Frankfurter Buchmesse 1994 flächenfüllend im Regal präsentiert. Vgl. dazu Karin E.Yes¸ ilada: Wenn Deutsche Türkinnen lieben: Michael Mamitza, Kismet. In: die tageszeitung vom 3. 9. 1994. S. 30. 7 Vgl. meine kritische Polemik gegen die Bewertung der Autorin in der örtlichen türkischen Kulturpolitik: Literatur statt Tränen! Warum das Goethe-Institut Saliha Scheinhardt nicht mehr einladen sollte. Eine Polemik. In: Diyalog. Interkulturelle Zeitschrift für Germanistik (1999). S. 151–54. 8 Vgl. Karin E.Yes¸ ilada: Die geschundene Suleika. Das Eigenbild der Türkin in der deutschsprachigen Literatur türkischer Autorinnen. In: Interkulturelle Konfigurationen. Zur deutschsprachigen Erzählliteratur von Autoren nichtdeutscher Herkunft. Hg. von Mary Howard. München: Iudicium 1997. S. 95–114. Ähnliche Version des Artikels auch in: Materialien Deutsch als Fremdsprache 46/1999. S. 384–401. 5
119 vollzieht, und zwar sowohl in der Fremd- wie auch in der Eigenkonstruktion, wobei die Wechselwirkungen zwischen Fremd- und Selbstwahrnehmung nicht zu übersehen sind.9 Im intermedialen Kontext lassen sich “Opferrolle und Leidenspose” als zentrale Merkmale eines Subgenres in filmischen und literarischen Erzählungen über Türkinnen in Deutschland ausmachen; nicht selten prägten die berufliche Orientierung sowie spezifische Raumkonstellationen dabei den literarischen Impetus.10 Andererseits schufen Schriftstellerinnen wie Aysel Özakın, Zehra Çırak oder Emine Sevgi Özdamar in ihren Texten autonome Frauenfiguren, die abseits vereinfachender Selbststilisierungen zu Grenzgängerinnen einer nicht selten künstlerischen Weiblichkeit wurden. Ihre Literatur eröffnete größere Handlungsspielräume für Identitätsarbeit, für die Entstehung und Verhandlung von Identität in ihrer Prozesshaftigkeit.11 In Bezug auf die Literatur der 1980er und 1990er Jahre argumentiert Leslie A. Adelson, dass in der Wahrnehmung deutsch-türkischer Literatur von Frauen eine doppelte Diskriminierung, nämlich die gender- wie auch nationalspezifische (Frau und Türkin) auszumachen sei.12 Dies wäre auch gegenwartsbezogen eine mögliche Erklärung für das neuerliche Aufkommen von Kolportagetexten über und von Frauen, die Ehrenmorde überlebt haben oder sonstwie Opfer von Unterdrückung durch türkische/muslimische Männer wurden. Necla Keleks Die Fremde Braut (2005) ist hier Schlüsseltext für ein Genre, das seit einigen Jahren Erfolge auf dem deutschen Buchmarkt feiert und, entgegen des dokumentarischen Anspruchs, Vorurteile und Klischees wie das der Türkin als Opfer festschreibt.13 Nicht selten werden solche Texte als Beweis für die These der vermeintlich “gescheiterten Integration” von Türken in Deutschland
9
Vgl. Deniz Göktürk: Kennzeichen: weiblich, türkisch, deutsch. Beruf: Schriftstellerin, Schauspielerin, Sozialarbeiterin. In: Frauen – Literatur – Geschichte. Hg. von Hiltrud Gnüg und Renate Möhrmann. Stuttgart: Metzler 1999. S. 516–532. 10 Vgl. Göktürk 1999 [wie Anm. 9]. S. 520ff. Göktürk typisiert Scheinhardt als “schreibende Sozialarbeiterin”. Die literarische Verarbeitung der erlebten sozialen Wirklichkeit schien eine bestimmte Sorte von Textproduktion, in dem Fall die Kolportageliteratur der 1980er Jahre, hervorzubringen. In Bezug auf Raum- und Zeitkontexte lassen sich in Scheinhardts Romanen häufig Vergangenheits- und Dorfkonstellationen feststellen. Vgl. Andrea Zielke-Nadkarni: Frauenfiguren in den Erzählungen türkischer Autorinnen. Identität und Handlungs(spiel)räume. Pfaffenweiler: Centaurus-Verlagsgesellschaft 1996. 11 Vgl. Kader Konuk: Identitäten im Prozeß. Literatur von Autorinnen aus und in der Türkei in deutscher, englischer und türkischer Sprache. Essen: Die blaue Eule 2001. 12 Leslie A. Adeslon: The Price of Feminism. Of Women and Turks. In: Gender and Germanness. Hg. von Patricia Herminghouse und Magda Mueller. Oxford: Berghahn Books 1997. S. 303–317. 13 Vgl. Necla Kelek: Die fremde Braut. Ein Bericht aus dem Innern des türkischen Lebens in Deutschland. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2005. Eine rezeptionskritische
120 herangezogen14 – die Problematik liegt dabei in der Vereinnahmung vermeintlich literarischer Texte für die Kritik gesellschaftlicher Missstände. Zugleich wird dieses Türkinnenbild auf männlicher Seite konterkariert von jenem kulturellen Phänomen, das seit Mitte der 1990er Jahre unter dem Slogan “Kanak Attack” ein neues türkisches Selbstbewusstsein besonders der zweiten Generation junger Türken repräsentiert und sich sowohl als Ausdruck gesellschaftlicher Rebellion wie auch eines Lebensgefühls (Kanak Chic als subkultureller Erscheinungsform) manifestiert. Autoren wie Feridun Zaimog˘lu oder Selim Özdog˘an, Filmemacher wie Fatih Akin, Schauspieler wie Mehmet Kurtulus¸ und andere prägten einen virilen Künstlertypus mit deutschtürkischer Identität. Innerhalb dieser Männerdomäne waren jedoch bislang selten weibliche Stimmen vernehmbar; zumindest in der Literatur waren keine femme fatales vom Schlage einer Sibel Kekilli oder einer Lady Ray auszumachen. Neuerdings ist jedoch ein Trend auf dem Büchermarkt zu beobachten, der sich als Türkisches Fräuleinwunder beschreiben ließe: Junge DeutschTürkinnen bringen Bücher heraus, in denen sie über sich selbst und ihr Leben als Türkin in Deutschland erzählen. Gemeinsamkeiten bestehen sowohl in textproduktiver als auch in struktureller und inhaltlicher Hinsicht. Fast alle der gut ein halbes Dutzend Autorinnen sind Journalistinnen, die zuvor ihre Texte als Kolumnen in Zeitungen veröffentlicht hatten, danach das erste Buch und bald darauf eine Fortsetzung dazu vorlegten. Die Autorinnen gehören zur Generation der um 1970 Geborenen und sind Töchter von eingewanderten türkischen Arbeitsmigranten, also zweite Generation. Auch sie berichten “aus dem Innern türkischen Lebens in Deutschland” (vgl. Kelek), ohne sich dabei jedoch als geschundene Suleika zu stilisieren. Ganz im Gegenteil, hier melden sich sehr selbstbewusste junge Frauen zu Wort, und zwar nicht etwa in der Nische, sondern bei etablierten Verlagen wie etwa Goldmann, Ullstein,
Diskussion dieses Genres findet sich in Tom Cheesmans Studie zur türkischdeutschen Literatur: Novels of Turkish German Settlement. Cosmopolite Fictions. Rochester (NY): Camden House 2007. S. 113–117. Vgl. Cheesmans Urteil über Kelek: “Die fremde Braut lacks an academic basis and confirms Germans’ worst suspicions about the Turks among them” (S. 114). 14 Vgl. Cheesman 2007 [wie Anm. 13]. Die deutsch-türkische Autorin Seyran Ates¸ begründet ihre fundamentale Kritik an der Verletzung von Frauenrechten durch das türkisch-muslimische Patriarchat aus ihrer Praxis als Rechtsanwältin und fordert ein Umdenken in der deutschen Mehrheitsgesellschaft, die solche Menschenrechtsverstöße unter Hinweis auf “kulturelle Differenz” duldet. Vgl. Seyran Ates¸ : Der Multikulti-Irrtum. Wie wir in Deutschland besser zusammenleben können. Berlin: Ullstein. 2. Aufl. 2007. Hier vor allem S. 41ff.: Muslimische Mädchen und Frauen in Deutschland.
121 Rowohlt oder Piper. Wie aber ist das trendartige, plötzliche Auftreten dieses Genres zu erklären? Ist es ein Gegenentwurf zur Suleika-Literatur, zum Opfer-Diskurs oder ein Gegendiskurs zum vorherrschenden Kanak-Diskurs männlicher Provenienz? Inwieweit vermischen sich in diesem jüngeren literarischen Phänomen Konstruktionen von Geschlecht und Ethnizität?15 Bezüglich der Lebensrealität von Einwanderern in Deutschland spricht Mark Terkessidis von der Banalität des Rassismus,16 jener Ausgrenzung, die sich hinter Fragen verbirgt wie: ‘Dein Name ist aber nicht deutsch, oder? Du bist aber nicht von hier, oder?’. Neben der institutionalisierten Diskriminierung und der medialen Stigmatisierung von Türken in Deutschland geht es dabei um die alltägliche Rechtfertigung des Andersseins: ‘Wie lebt ihr eigentlich? Feiert ihr auch Weihnachten? Wurdest du zwangsverheiratet?’. Es wäre durchaus plausibel, die neue deutsch-türkische Frauenliteratur als Antwort darauf zu bewerten. Eine zweite Erklärungsmöglichkeit wäre jener literarische Trend, der sich seit gut einem Jahrzehnt im amerikanischen bzw. angloamerikanischen Raum unter dem Namen Chick-Lit innerhalb der Frauenliteratur etabliert hat. Kennzeichnend sind ein leichter, vorwiegend unbekümmerter, teils ironischer Unterhaltungston, der sich auch in der spielerischen Buchillustration spiegelt, eine spezifische Selbstinszenierung und Inszenierung von Weiblichkeit, sowie ein expliziter Bezug auf ein gleichgesinntes Zielpublikum, die sogenannten chicks (amerik. ugs.), d. h. junge Frauen, und zwar Städterinnen, häufig SingleFrauen auf der Suche nach der großen Liebe. In den USA manifestierte sich darüber hinaus eine eigene Strömung der ethnic-chicks, in der zumeist Latinas das Genre mit der Aufarbeitung der eigenen Einwandereridentität im Sinne einer Verknüpfung von Geschlecht und Ethnizität verbinden. Handelt es sich bei der neuen türkisch-deutschen Frauenliteratur um Chick-Lit alla turca? Bei der folgenden literarischen Analyse dreier ausgewählter Autorinnen, Aslı Sevindim, Dilek Güngör und Hatice Akyün, geht es um die Frage, wie sich diese interkulturellen Grenzgängerinnen selbst verorten: Welche Grenzen sind das – Generationen, Nationen, Kulturen? Welche Räume werden konstruiert?17 Welche Selbstentwürfe gibt es bei dieser neuen Autorinnengeneration?
15
Vgl. Ethnizität und Geschlecht. (Post-)Koloniale Verhandlungen in Geschichte, Kunst und Medien. Hg. vom Graduiertenkolleg Identität und Differenz. Köln – Weimar – Wien: Böhlau 2005. 16 Mark Terkessidis: Die Banalität des Rassismus. Migranten zweiter Generation entwickeln eine neue Perspektive. Bielefeld: Transcript 2004. 17 Vgl. Claire Horst: Der weibliche Raum in der Migrationsliteratur. Irena Brez´na – Emine Sevgi Özdamar – Libus˘e Moníková. Berlin: Hans Schiler 2007.
122 II. Lässig: Aslı Sevindim Bereits der Klappentext zu Aslı Sevindims Candlelight Döner. Geschichten über meine deutsch-türkische Familie (2005) legt die narrative Intention fest, und tatsächlich sind Sevindims Geschichten selbstironisch und humorvoll.18 Etwa wenn sie davon spricht, dass sie an ihrem 30. Geburtstag so ausgiebig gefeiert hat, dass sie “gleich drei bis vier Jahre älter” geworden sei (19), oder wenn sie das sowohl kultur- als auch geschlechtsspezifische Verhalten von (nicht nur türkischen) Müttern, ihre Kinder mit angedrohter Krankheit zu erpressen, als “psychosomatische Türkinnentuberkulose” bezeichnet: Nur für den Fall, dass Sie mir nicht glauben: Sie können jeden beliebigen Türken auf der Straße anhalten und ihn fragen, welche schlimmen Krankheiten es in seiner Familie gibt. Die psychosomatische Türkinnentuberkulose wird hundertprozentig darunter sein. (93)
In diesem Zitat manifestieren sich die wesentlichen Bestandteile der narrativen Technik, nämlich die direkte Interaktion mit dem Leser, eine deutsch-türkische Lebenswelt, die Aufforderung, mit dieser Lebenswelt in Berührung zu treten und zwar sowohl im öffentlichen als auch im privaten Raum, eine von türkischer Warte aus lancierte, ironisch-witzig gestaltete Selbstkritik, sowie eine gender- und generationsspezifische Perspektive. Aslı Sevindim, 1973 in Duisburg als Tochter türkischer Arbeitsmigranten geboren, ist professionelle Journalistin mit langjähriger Moderationserfahrung in Rundfunk und Fernsehen.19 Unter dem Titel “Typisch deutsch” schrieb sie Kolumnen über ihr Leben als Deutsch-Türkin für die Westdeutsche Allgemeine Zeitung. Als 2005 ihre gesammelten Geschichten herauskamen, konnte der Ullstein Verlag daher bereits auf ein vorhandenes Publikum aus der Generation der Autorin zählen.20 Diese Generationsspezifik ist im Buch präsent, etwa wenn es über die unterschiedlichen Konzepte türkischer Familienplanung heißt, Sevindims Generation neige nicht mehr zur Gründung von “Kingsize-Familien”, was ein 18
Klappentext: “Mit viel Humor und Selbstironie erzählt Aslı Sevindim von deutschtürkischen Befindlichkeiten, von Liebe alla turca – und wie es ist, wenn ihr deutscher Freund die ultimative Schwiegersohnprüfung mit ihrem Vater bestehen muss, den alle nur ‘Ali der Barbar’ nennen […]. Herrlich komische Geschichten aus dem wahren Leben”. Aslı Sevindim: Candlelight Döner. Berlin: Ullstein 2005. Weitere Seitenangaben im Text. 19 Bereits mit 17 Jahren machte sie erste Radiobeiträge und arbeitet seit langem beim WDR Funkhaus Europa als beliebte Radio- und Fernsehmoderatorin. 20 Tatsächlich wurde das Buch in der gleichen Sendung als “Buchtipp” promotet, die Sevindim auch moderiert. Vgl. Karin E.Yes¸ ilada: Familiengeschichten. Cosmo Buchtipp in Funkhaus Europa vom. 21. 12. 2005. http://www.funkhauseuropa.de (27. 7. 2008).
123 Grund ewiger Bekümmernis ihrer Elterngeneration sei, deren Lieblingsbeschäftigung darin bestehe, “sich über uns junge Leute [sic!] zu beschweren” (11). Die türkische Einwanderertochter schreibt aus dem transnationalen Selbstverständnis deutsch-türkischer Lebenswelten heraus und zugleich aus dem topographischen Mikrokosmos des Ruhrgebiets, einem Kerngebiet türkischer Migration in Deutschland, das sie aus ihrer Praxis als Tagesjournalistin bestens kennt. Ebenso vertraut ist ihr auch die mediale Verschmelzung von öffentlichem und privatem Raum, etwa in Form von sog. ‘O-Ton-Reportagen’.21 Zur lässigsouveränen Erzählhaltung gehört zudem das direkte Ansprechen der Zuhörer- bzw. Leserschaft, die im Buch gesiezt und als ethnisch ‘anders’, d. h. als ‘nicht-türkisch’ ( deutsch) definiert wird. In solcherart medialer Inszenierung schlüpft die Erzählerin in die Rolle der Vermittlerin bzw. Moderatorin, die das ‘draußen’befindliche deutsche Publikum in das erzählte türkische ‘Drinnen’ einbezieht. Bereits im Titel verheißt Candlelight Döner transkulturelle Sinnlichkeit, die den Antagonismus von Altem Europa und Orient scheinbar überwindet: Das aus dem englischen Sprach- und Kulturraum übernommene romantische Dinner zu zweit bei Kerzenschein und der zumeist an Imbissbuden servierte türkische Döner als fremdkulturelles Element bilden das Grundmotiv für die Geschichten über eine deutsch-türkische Familie. Türkisch ist die Ich-Erzählerin, deutsch ihr Freund und Ehemann in spe, Stefan. In eine in der Jetztzeit spielende Rahmenerzählung, in der die Ich-Erzählerin mitten in den Vorbereitungen auf ein geplantes Familientreffen am Weihnachtstag steckt, werden Retrospektiven locker eingeflochten. Diese rekapitulieren die Entwicklung des vergangenen Jahres, in dem die Ich-Erzählerin und Stefan ihre Hochzeit ankündigen, die jeweiligen Eltern miteinander bekannt machen, schließlich heiraten, in die Türkei reisen, um dort die türkische Familie kennen zu lernen und anschließend einen Türkei-Urlaub zu machen. Die eigentliche, episodenhaft gestaltete Erzählung schildert eine Entwicklungsgeschichte auf mehreren Ebenen: Türkische Gastarbeiter werden Schwiegereltern eines Deutschen, ein deutsches Ehepaar bekommt türkischen Familienzuwachs, ein junger Deutscher mausert sich zum deutsch-türkischen Schwiegersohn, ein deutsch-türkisches Pärchen wird auf der Urlaubsreise zu Fremden im Land der Väter der Türkin. Candlelight Döner begibt sich als Genesis einer bikulturellen Ehe inklusive gegenseitiger Vorurteile und Begegnungen in den Kontext eines veritablen Kulturkonflikts. Doch der semantische Doppelsinn des Titel-Compounds candlelight deutet (ganz im Sinne des Klappentextes) an, dass diese Konflikte trotz zwischenzeitlicher 21
Solche O-Ton-Collagen sind einerseits paritätisch nach pro und contra aufgebaut, andererseits präsentieren sie stets das vom Macher gewünschte Ergebnis; die Journalistin Sevindim weiß also, was sie sagt, wenn sie verspricht: “Die psychosomatische Türkinnentuberkulose wird hundertprozentig darunter sein”.
124 Bekundung höchster Gefahr für Leib und Leben stets heiter-versöhnlich ausgetragen bzw. gelöst werden.22 Im ironischen Spiel nationaler Etikettierung präsentiert Sevindim durchgängig und explizit Stereotypen gegenseitiger Wahrnehmung und führt damit die in den 1980er Jahren von Satirikern wie S¸inasi Dikmen und Osman Engin begründete Tradition von “Deutschlingen” und “getürkten Türken” fort.23 Nach dem durchgängigen Prinzip des doppelten Blicks etwa kommentiert sie ihre Partnerwahl, die entgegen den Klischees von der türkischen Zwangsverheiratung vonstatten ging: “Im Gegenteil, meine Mutter hätte sich zunächst lieber die Fußnägel ziehen lassen, als in meine Heirat einzuwilligen, denn ich hatte mir Stefan ausgesucht. Eine deutsche Kartoffel” (8). Die aus dem türkischen Sprachgebrauch übertragene, leicht abschätzige Metapher “Kartoffel” (türk. “patates”) für den deutschen Mann zieht sich danach motivisch durch den Text, etwa wenn die bigott-bornierte Tante in der Türkei später an dem Deutschen schnüffelt, ob er nach Schweinefleisch riecht (173f.), oder der türkische Hotelier den deutschen Gast kategorisiert (195f.). Sevindim kennt, nennt und unterläuft solche Klischees, indem sie vom Allgemeinen zum Individuellen wechselt und damit die Pauschalisierung ad absurdum führt, so auch am Beispiel der “deutschen Kartoffel”: “Manche heißblütigen Türkinnen und Türken”, schreibt sie (und lanciert gleich das nächste Stereotyp aus dem orientalistischen Repertoire), “wollen damit sicher auch zum Ausdruck bringen, dass Deutsche ungefähr genauso aufregend und sexy sind wie Kartoffeln, nämlich gar nicht. Aber meine Kartoffel ist ganz anders. Knackig, knusprig, würzig” (8f.). Mit der sprachlichen Anleihe aus der Werbung hebt Sevindim auf die semantische Differenzierung zwischen langweiliger deutscher Küche (Kartoffelbrei, Salzkartoffeln) und schmackhaftem Freizeitsnack (Kartoffelchips) ab. Auch die syntaktische Struktur (Hypotaxe/kurzer Hauptsatz/Adjektivreihung) sorgt für Dynamik – die Journalistin weiß, wie man Texte schreibt. Und sie scheint auch zu wissen, was der deutsche Leser will, nämlich: Einblick in die deutsch-türkische Lebenswelt. Bereitwillig gewährt Sevindim diesen Einblick im Vorspann, der unter dem Titel Hereinspaziert Familie und Rahmengeschichte expositionsartig und im Sinne der Tür zum nachfolgenden Mikrokosmos eröffnet. Die Ich-Erzählerin vollzieht dabei auf der narrativen Ebene die Pose in der dazugehörigen 22
Darauf deuten auch die in den Text eingestreuten humoristischen Illustrationen von Anja Filler hin. 23 Vgl. dazu Karin E. Yes¸ ilada: “Getürkt” oder nur “anders”? Das Türkenbild in der türkisch-deutschen Satire. In: The Image of the Turk in Europe from the Declaration of the Republic in 1923 to the 1990s. Proceedings of the Workshop held on 5–6 March . 1999, CECES, Bog˘aziçi University. Hg. von Nedret Kuran Burçog˘lu. Istanbul: Isis Press 2000. S. 205–220.
125 Illustration zu Kapitelbeginn, die eine junge ‘Türkin’ in einladender Geste vor der geöffneten Wohnungstür zeigt. Dieses erste Kapitel erfüllt die Funktion eines Teasers für alle weiteren Folgen (vgl. das Ende des Kapitels: “Wie wir das hinbekommen und noch einiges mehr über unser deutsches Leben alla turca, erfahren Sie auf den folgenden Seiten”. 14); zugleich vermittelt es eine Botschaft an die nicht-türkische Leserschaft: Hier erzählt eine “echte Deutschlandtürkin”, wie es “bei den Türken zuhause so zugeht”. Ähnlich wie Necla Kelek öffnet die Autorin die imaginäre Tür ins ‘Innere’ der türkischen Lebenswelt – und befriedigt damit das Jahrhunderte alte Verlangen nach dem Blick hinter die verschlossene Tür des Harems. Die imaginäre Öffnung des verschlossenen Raumes verläuft demnach entlang festgesteckter ethnischer Grenzen (‘Hier sind wir Türken, dort seid ihr Deutsche’) und folgt einer klaren integrationsspezifischen Intention, nach der bestehende Probleme des interkulturellen Miteinanders humorvoll gelöst werden. Zugleich macht Sevindim hier ihre Positionierung deutlich als Repräsentantin einer neuen Generation von Deutschen türkischer Herkunft, die ihre eigenen Entwürfe einer interkulturellen Identität als “unser deutsches Leben alla turca” gruppen- und generationsspezifisch formulieren. Und zwar lässig im Ton: Von etwaigen Integrationsverhandlungen auf politischlegislativer Ebene, von restriktiver Zuwanderungs-Gesetzgebung, von Integrationsgipfeln oder Islamkonferenzen ist in Candlelight Döner keine Rede. Hier geht es um die Lightversion der Leitkultur, um das Einrichten im interkulturellen Alltag und im privaten Raum, um das dazugehörige Lebensgefühl – letztlich also um eine neue Leichtigkeit des deutsch-türkischen Seins. Diese Botschaft sendet die deutsch-türkische Autorin in verschiedene Richtungen, an die deutsche Mehrheitsgesellschaft, an die Multikultur-Kritiker und an die Generation der Eltern. Ein gänzlich neuer Typ der Deutsch-Türkin meldet sich zu Wort: Souverän im journalistisch-literarischen Umgang mit der medialen Öffentlichkeit und dem heimischen Publikum, bereit, zwischen den beiden Welten zu moderieren. Ähnlich verfahren auch Sibel Susann Teoman, mit ihrer kulinarisch-kulturell verbrämten bikulturellen Liebesgeschichte Türkischer Mokka mit Schuss24
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Sibel Susann Teoman: Türkischer Mokka mit Schuss. Roman. München – Zürich: Piper 2007. Wie Sevindim rollt auch Teoman ihre Erzählung von hinten her auf, d. h. vom Tag ihrer unfreiwilligen, arrangierten Heirat mit einem türkischen Ingenieur, den sie schließlich im Einvernehmen mit ihren Eltern doch nicht heiratet und statt dessen ihrem deutschen Freund Jan den Vorzug gibt. Ähnlich wie Sevindim spielt auch Teoman ironisch mit soziologisch einschlägig belasteten Begriffen wie “Zwangsheirat” oder “türkische Braut”; ihr “verruchtes Doppelleben” etwa besteht darin, dass sie tagsüber biedere Bankangestellte (mit Bezug zur türkischen Tradition türkischer Mokka) und abends wilde Drummerin in einer Rock-Band ( mit Schuss) ist.
126 sowie die später noch vorgestellte Hatice Akyün. In gleicher Weise stellt auch die (binationale) deutsch-türkische Journalistin Iris Alanyali ihre bikulturelle Lebenswelt metaphorisch als entspannte Urlaubsreise dar.25 Stets sind es kleine, unterhaltsame Geschichten aus dem privaten Bereich, eine Art familienkultureller Mikrokosmos, der auf unterhaltsame Art vermeintlich unüberbrückbare Welten verbindet.
III. Migrationsgeschichte: Dilek Güngör Das narrative Prinzip der Episodenhaftigkeit findet sich auch in Dilek Güngörs Geschichtensammlung Unter uns, das ihre für die Westdeutsche Allgemeine Zeitung geschriebenen Texte der gleichnamigen Kolumne versammelt. Bereits im Titel manifestiert sich die Grenzziehung zwischen der abgeschlossenen Welt der türkischen Minderheit und ‘den anderen’ (Deutschen), die nicht dazu gehören. Dem kollektiven, türkischen ‘Wir’ zugehörig, öffnet die Verfasserin diese verborgene Welt im Akt medialer und transkultureller Grenzüberwindung für ihre Leserschaft aus der deutschen Mehrheitsgesellschaft: “Wir sind keine Christen”, heißt es etwa, “aber wir feiern Weihnachten, seit ich denken kann”.26 Mit ihrem kurz nach dem Prosadebüt vorgelegten Roman wechselte Dilek Güngör dann von der episodenhaften Geschichtenstruktur zur erzählten Geschichte. In Das Geheimnis meiner Großmutter (2007) geht es um die ca. 30-jährige Deutschlandtürkin Zeyneb, die sich mit ihrer anatolischen Familiengeschichte auseinandersetzen muss.27 Weder sie noch ihre Eltern waren früher gerne zu den alljährlichen Besuchen in die “Heimat” aufgebrochen und hatten dort stets “gefremdelt”; als nun die Großmutter im Sterben liegt, müssen sie für eine längere Zeit in die Türkei, was besonders Zeyneb schwerfällt. Der Weltenwechsel Deutschland-Türkei steht ganz im Zeichen des Kulturkonfliktes zwischen westlich-urbanisierter Deutschland-Migrantin und
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Iris Alanyali: Die Blaue Reise und andere Geschichten aus meiner deutschtürkischen Familie. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2006. Alanyali, deren Nachname gewissermaßen touristische Konnotationen trägt (die südost-türkische Stadt Alanya, seit den 1980er Jahren beliebter Badeort, beherbergt inzwischen die größte Kolonie von Auslandsdeutschen der Türkei), schrieb zuvor den essayistischen Reiseführer Gebrauchsanweisung für die Türkei. München – Zürich: Piper. 2. Aufl. 2005. 26 Dilek Güngör: Unter uns. Berlin: Edition Ebersbach 2004. S. 44. Der Band erschien in mehrfachen, z. T. veränderten Neuauflagen (Unter uns. Meine türkische Familie und ich. Berlin: btb 2006; Ganz schön deutsch. Meine türkische Familie und ich. München: Piper 2007). 27 Dilek Güngör: Das Geheimnis meiner Großmutter. Roman. München – Zürich: Piper 2007. Weitere Seitenangaben im Text.
127 der ihr fremden, dörflich-anatolischen Lebensrealität, die durch Armut, primitive Lebensbedingungen und patriarchalische Strukturen gekennzeichnet ist.28 Mit der Großmutter wird Zeyneb dagegen bald vertraut: Zwischen der alten Anatolierin und ihrer Enkelin aus Deutschland entspinnt sich ein intimes Verhältnis, so dass sich ihr Zeyneb, die sich nach der Trennung von ihrem deutschen Freund und der Kündigung ihres Zeitungsjobs gerade mitten in einer Lebenskrise befindet, anvertraut. Die Großmutter zeigt sich bei diesen vertraulichen Gesprächen freizügiger und frivoler, als die Enkelin erwartet hätte, und kontert auf deren Erstaunen hin: “Denkst du, ich weiß nichts über Männer und Sex, nur weil ich im Dorf lebe?” (87). Es wird deutlich, dass Alterität hauptsächlich entlang der Trennlinie Stadt-Land (Dörflerinnen versus Städterinnen) konstruiert wird, und dass transkulturelle Konzepte hinter die Geschlechtsthematik zurücktreten. Stattdessen geht es hauptsächlich um die Verhandlung weiblicher Lebensentwürfe auf dem Land und in der Stadt. Großmutter und Cousine wehren sich daher auch gegen ihr Image als Hinterwäldlerinnen: “Glaub mir”, lacht die Großmutter, “wir Frauen im Dorf sind nicht so doof, wie ihr Städterinnen immer denkt” (86). Entsprechend wird der mehrwöchige Aufenthalt im anatolischen Dorf zum Wendepunkt im Leben der Protagonistin, die sich unter den neuen Bedingungen verändert und von der passiven in eine aktive Rolle wechselt. Die Reise nach Ostanatolien ist daher nicht nur eine Reise zu den eigenen Wurzeln, sondern vor allem eine Reise zu sich selbst. Hatte sich Zeyneb zu Beginn noch sprachlich und kulturell inkompetent und fremd gefühlt (32), so vollzieht sich nun der ersehnte Kompetenzgewinn, und schließlich übernimmt sie sogar Verantwortung, als sie beschließt, ohne ihre Eltern bei der sterbenden Großmutter zu bleiben. Im Verlauf der Geschichte kommt Zeyneb dann einem lang gehüteten Familiengeheimnis auf die Spur: Die Familie ist in eine Blutrache-Fehde verwickelt, bei der ein Bruder ihres Vaters zum Mörder, ein anderer Bruder ermordet wurde. Ihre Eltern waren seinerzeit vor dieser Fehde nach Deutschland geflohen, die Deutschlandmigration war seinerzeit also aufgrund einer Tragödie erfolgt. Für Zeyneb, die sich bis dahin als indifferentes Wesen im geschichtslosen Raum betrachtet hatte,29 ist diese Erkenntnis ein Schock, 28
Der Weltenwechsel Türkei-Deutschland erfolgt bei Güngör damit unter völlig anderen Vorzeichen als ewa bei Emine Sevgi Özdamar, deren weibliche Hauptfigur mühelos zwischen Deutschland und der Türkei hin- und herpendelt. Vgl. dazu etwa Konuk 2003 [wie Anm. 11]. 29 Dass (türkische) Migranten jedoch keine geschichtslosen Wesen sind, hat u.a. Zafer S¸enocak in einigen seiner Essays angemahnt. Eine ausführliche Diskussion des Themenkomplexes Erinnerung und Migration findet sich bei Leslie A. Adelson: The Turkish Turn in Contemporary German Literature. Toward a New Critical Grammar of Migration. New York: Palgrave Macmillan 2005 (Studies in European Culture and History), besonders im zweiten Kapitel Genocide and Taboo.
128 der einen emotionalen Konflikt zur Folge hat: “Ich hatte die Stunden an ihrem Bett immer genossen. Aber ich bekam die andere Großmutter, die ihren Sohn zum Mord getrieben hatte, nicht aus dem Kopf ” (158). Der Tod der Großmutter bedeutet zugleich die Umkehrung der bisherigen Entwicklung, da Zeyneb sich von der neu gewonnenen Welt wieder distanziert und beschließt, nicht mehr nach Anatolien zurückzukehren. Das “Geheimnis” der Großmutter, die Blutfehde, knüpft an die in Deutschland vorherrschende Kritik an den patriarchalisch-archaischen Auswüchsen türkisch-muslimischer Kultur an; Güngör berührt damit ein brisantes Thema. Die Verarbeitung der Familiengeschichte und die Aufdeckung eines dunklen Familiengeheimnisses findet sich auch bei anderen Autoren der deutschtürkischen Literatur.30 Bei Güngör vollzieht sich die literarische Verarbeitung der Familienthematik im Roman stellvertretend für jenen Dokumentarfilm, den die Protagonistin ursprünglich hatte drehen wollen. Gerade die literarische Gestaltung macht jedoch die Schwächen des Romans deutlich. Diese liegen einerseits in der linearen Erzählweise, die nach dem Prinzip der eins-zu-einsAbbildung alle Fakten auflistet und Emotionen benennt ohne sie weiter literarisch auszugestalten. Der obersten Grundregel im Journalismus gemäß wechseln lange und kurze Sätze, ohne dass dadurch jedoch strukturelle oder inhaltliche Dynamik entstünde. In sämtlichen Dialogen wird nahezu ausschließlich das Verb sagen verwendet, was die Lektüre ermüdend macht; auch fehlen Bilder und Metaphern völlig. Insgesamt bleibt der Roman damit unterhalb seiner Möglichkeiten und vermittelt zumindest stilistisch den Eindruck eines mittelmäßigen Schulaufsatzes. Eine mögliche Erklärung dafür findet sich im Roman selbst, in jenen Passagen, in denen Zeyneb über ihre eigene journalistische Arbeit und die mögliche Wirkung der Familientragödie im deutschen Kontext reflektiert. Ihre bisherige Rolle als Journalistin war es gewesen, Türkei-Themen abzudecken. Diese berufliche Re-Ethnisierung kam durch Ex-Freund Stefan zustande, der als zuständiger Redakteur seine deutsch-türkische Freundin “mit türkischen Themen versorgt” hatte, was allerdings auf wenig Gegenliebe traf: “Ich fand das albern, so als wollte er mir seine Zuneigung zeigen, indem er sich für meine Kultur interessierte” (109). Damit beschreibt Güngör ein Phänomen, dem sich wohl die Mehrheit der Journalisten ‘mit Migrationshintergrund’ ausgesetzt sieht, nämlich dass sie durch ihren fremdländischen Namen auf die fremdländischen Themen festgelegt werden.31 Die Problematik dieser Stigmatisierung liegt in der unkritischen Rezeption der Texte aufgrund des ‘Ausländerbonus’, ein Umstand, der 30
Vgl. etwa Zafer S¸enocak: Gefährliche Verwandtschaft. München: Babel 1998 sowie Feridun Zaimog˘lu: Leyla. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2006. 31 Im Roman Die Prärie von Zafer S¸enocak (Hamburg: Rotbuch 1997) entzieht sich die deutsch-türkische Romanfigur Sascha der Verpflichtung, “über Türkenfragen” zu schreiben, durch die Flucht in die amerikanische Prärie (S. 87f.). Die Problematik
129 bereits in der Anfangsphase der Migrationsliteratur Gegenstand heftiger Debatten war. Bezeichnenderweise ist sich Zeyneb dieser Ambivalenz bewusst. Das Urteil des Redakteurs scheint da symptomatisch für die Rezeption von Dilek Güngörs Roman insgesamt: “Der Artikel war nicht besonders gelungen, aber Stefan sagte: ‘Ist doch nett geworden’ ” (110). Mit ihrem Roman verortet sich Dilek Güngör nicht nur im aktuellen Trend der Migrationsliteratur zweiter Generation, bei dem die eigene Migrationsgeschichte zum Gegenstand literarischen Schreibens wird, sondern sie knüpft auch an eine aktuelle Dokumentationsform für erzählte Migrationsgeschichte an.32 Womöglich ist Güngörs minimalistische Sprache als Ausdrucksform mündlichen Erzählens zu deuten.
IV. Ein echtes Chick: Hatice Akyün oder Turkish Sex and the City of Berlin Eine der jüngsten solcher Migrationsgeschichten, nämlich Feridun Zaimog˘lus Leyla (2006), ein Entwicklungsroman über eine türkischen Gastarbeiterin der ersten Stunde, wurde nach Aussagen des Autors vom Anblick Kopftuch tragender älterer Türkinnen inspiriert. Dieser Rekurs auf das Medien-Stereotyp der türkischen Migrantin (klein, dick, alt, mit Kopftuch) rückt die weibliche Sexualität in den Blick: ‘So eine Türkin hat viele Kinder, aber hat sie auch Sex?’. Mit dem Image der entsexualisierten türkischen ‘Gastarbeitermutti’ will sich die Generation der Töchter jedoch nicht identifizieren. Dennoch schreiben in der zweiten Generation deutsch-türkischer Literatur eher männliche Autoren erotische Literatur.33 Eine Entsprechung zu Charlotte Roches Skandalbuch34 ist in der von Frauen geschriebenen deutsch-türkischen neuesten Literatur nicht zu vermelden. Hatice Akyüns Roman Einmal Hans mit scharfer Soße (2005) handelt dagegen explizit von der weiblichen Sexualität und der Verwirklichung entsprechender Wünsche bei der türkischen Frau, allerdings in Maßen: Dies sind keine türkischen Feuchtgebiete.
der ethnischen Stigmatisierung sowie der geringen Präsenz von Migranten in deutschen Medien war schon in den 1980er Jahren beklagt worden, rückte nach einer alarmierenden Studie 2007 jedoch erneut ins Zentrum der öffentlichen Diskussion. Vgl. dazu DIE ZEIT Nr. 45 vom 31. 10. 2007 (S. 55ff.) sowie meine Ausführungen in Karin E.Yes¸ ilada: Turkish-German Screen Power – The Impact of Young Turkish Immigrants on German TV and Film. In: gfl-journal No. 1/2008. S. 73–99. http://www.gfl-journal.de/1-2008/yesilada.html (27. 7. 2008). Hier vor allem S. 94ff. 32 Vgl. etwa das bundesweite Projekt, mündlich erzählte Einwanderer-Geschichte(n) aufzuzeichnen, zu archivieren und im öffentlichen Raum hörbar zu machen. http://www.migration-audio-archiv.de (27. 7. 2008). 33 Vgl. Texte von Zafer S¸enocak oder Selim Özdog˘an. 34 Charlotte Roche: Feuchtgebiete. Köln: DuMont 2008.
130 Wenn sich die biographisch verifizierte Erzählerin gleich im ersten Satz mit dem literarischen Anspruch einer Proseminar-Vorstellungsrunde einführt: “Mein Name ist Hatice. Ich bin Türkin mit deutschem Pass […]”, deutet das Oxymoron beiläufig auf die Kritik an den Debatten um das Einwanderungsland Bundesrepublik, wo naturalisierte Deutsche, und insbesondere Deutsche mit türkischen Wurzeln, nur allzu gern als ‘Türken mit deutschen Pass’ bzw. als ‘Mitbürger’ ausgegrenzt und diskriminiert werden.35 Doch geht es Akyün nicht um Politik, vielmehr steht ihre Identität als Frau zur Debatte, wie sie deutlich macht: “Ich bin Türkin mit deutschem Pass, für Politiker ein Paradebeispiel einer gelungenen Integration, für deutsche Männer die verbotene, exotische Frucht und für deutsche Frauen der Grund, ihre Haare zu hassen” (7). Keine politische, eher noch eine geschlechtsspezifische Gefahr geht von dieser orientalischen Sirene aus – der Clash of Cultures vollzieht sich als Geschlechterkampf im Kosmetiksalon zwischen monolithischen FrauenBlöcken, die je nach ethnischer Herkunft über Haarpracht verfügen oder nicht. Das ist nicht etwa ironisch gemeint, im Gegenteil: Den physiognomischphänotypischen Vergleich zwischen Deutschen und Türkinnen treibt die Autorin im Folgenden noch weiter und bemüht dabei Klischee um Klischee. So fehle es deutschen Frauen an Herz und Leidenschaft, deutsche Karrierefrauen in “Designer-Hosenanzügen, mit streng zurückgekämmten Haaren und unterdrücktem Babywunsch” verkörperten vielmehr die androgyne Seite des Globalismus, wohingegen die türkische Frau “warm und weich” sei “wie ein Seidentuch” (8). Bei dieser Konstruktion von Weiblichkeit werden Konzeptionen von Rasse, Klasse und Ethnizität munter durcheinander gewirbelt.36 Strukturell verfährt Akyün ähnlich wie Sevindim, Güngör und Alanyali nach dem Prinzip der Öffentlichmachung des privaten Raumes; auch hier dient die 35
Gerade in Bezug auf Deutsch-Türken ergibt sich eine besondere Problematik hinsichtlich doppelter Staatsangehörigkeit, Einbürgerungsverfahren und möglichem Entzug der deutschen Staatsangehörigkeit. Vgl. etwa den Artikel: Deutschland: Verlust der Staatsbürgerschaft droht. In: Migration und Bevölkerung. Hg. vom Netzwerk Migration in Europa. Ausgabe 02/05 (März 2005). Online einsehbar unter http://www.migration-info.de/migration_und_bevoelkerung/artikel/050202.htm (27. 7. 2008). Kritiker weisen auf die permanente Diskriminierung türkischer Migranten durch die deutsche Zuwanderungsgesetzgebung hin. Vgl. etwa Miltiadis Oulios: Doppelpass futsch mit 18. Sendung auf Funkhaus Europa vom 2. 1. 2008. http://www.funkhauseuropa.de/sendungen/piazza/2008/doppelpass.phtml (2. 1. 2008). 36 Auch bei der Ich-Erzählerin hinterlässt der Weltenwechsel zwischen Deutschland und der Türkei Spuren, so dass sich ihre Freundinnen in der Türkei Sorgen um sie machen: “Du hast ein frostiges Herz, wo ist nur deine Sinnlichkeit und Leidenschaft hin?”. S. 10f.
131 familiäre Migrationsgeschichte als Folie für das Bekunden der eigenen, generationsbedingten Differenz.37 Und auch hier gibt es die symbolische Türöffnung und Einladung in den häuslichen Bereich am Schluss des ersten Kapitels, diesmal in Verbindung mit dem orientalischen Märchen-Klischee.38 Die eigene Verortung ins “Land mit Geschichten aus 1001 Nacht mitten im Ruhrpott” ist dabei weniger in Homi K. Bhabhas Sinne als ‘dritter Ort’ zu verstehen;39 vielmehr bestätigt Akyün gängige Lesererwartungen über türkische Großfamilie/Gastfreundschaft und konstruiert die eigene Alterität als fremd/nicht-deutsch/orientalisch. Mithin greift sie den politischen Begriff von der türkischen ‘Parallelgesellschaft’ auf, wenn sie bekundet, dass es “um so etwas wie den Eintritt in ein anderes Universum” (12) gehe. Diese Sichtweise entspringt einer dichotomischen Reduzierung auf (nur) zwei Welten und Kulturen, die im Huntington’schen Sinne als unvereinbar gelten: “Ich versuche”, heißt es zu Beginn, “in zwei Welten gleich gut zurechtzukommen, die sich einfach nicht unter einen Hut bringen lassen” (9). 172 Seiten später bestehen diese monolithischen Blöcke immer noch, strikt getrennt nach ethnischnationaler Zugehörigkeit: “Ich frage mich plötzlich, was türkisch an mir ist und was deutsch? Und wie das eigentlich zusammenpasst?” (181). Die Antwort darauf ist eine (Selbst-)bestätigung innerhalb des dichotomen Paradigmas: “Ich bin Hatice, mit all den Erfahrungen, Erlebnissen und Wünschen aus beiden Welten, und ich schätze gerade die Andersartigkeit von Deutschen und Türken” (183). Ein im Sinne Amartya Sens aus mehreren Teilidentitäten zusammengesetzter Identitätsentwurf steht hier nicht zur Diskussion.40 Und doch geht es Akyün, siehe Titel, um die Vermischung der Kulturen über die Beziehung zum deutschen Mann und damit, wie auch schon bei Sevindim oder Teoman, um die Überwindung der ethnischen Grenzen durch die Liebe. Ähnlich wie Sevindims “knusprige Kartoffel” soll es auch bei Akyün ein Deutscher mit orientalischer Zusatzqualität sein, ein “Hans mit scharfer Soße sozusagen”: 37
Im zweiten Kapitel Mokkagläser mit Goldrand (S. 13–23) setzt sich Akyün mit den Hoffnungen ihrer Eltern auf Heirat und Enkel auseinander, und wie schon bei Sevindim betont auch hier die Tochter, dass sie solche Erwartungen nicht erfüllen wird, weil sie anders ist. Dieses Thema ist auch in Teomans Roman Türkischer Mokka mit Schuss handlungsbestimmend [wie Anm. 24]. 38 “Sie kennen meine Familie noch nicht? Dann kommen Sie und setzen Sie sich, und vergessen Sie nicht, etwas zu essen mitzubringen, denn das macht man so bei uns. Und stellen Sie sich auf einen langen und vergnüglichen Nachmittag ein! Ich entführe Sie in ein Deutschland, das Sie unter Garantie noch nicht kennen. Ein Land mit Geschichten aus 1001 Nacht mitten im Ruhrpott […]”. Akün 2005 [wie Anm. 3]. S. 11. 39 Vgl. Homi K. Bhabha: Die Verortung der Kultur. Aus d. Engl. von Michael Schiffmann und Jürgen Freudl. Tübingen: Stauffenburg 2000. 40 Vgl. Amartya Sen: Die Identitätsfalle. Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt. Aus d. Engl. von Friedrich Griese. München: C. H. Beck 2007.
132 Den richtigen Hans habe ich übrigens noch nicht gefunden. Ein Hans, der leidenschaftlich wäre und galant genug, mir beim ersten Date – wie in der Türkei üblich – die Autotür aufzuhalten, ein Hans mit scharfer Soße sozusagen, ist mir noch nicht begegnet. Und türkische Männer trauen sich nicht mehr in meine Nähe. (11)
Und auch hier deutet die kulinarische Metapher auf den häuslichen Bereich und damit auf ein eher konventionelles Konzept von Weiblichkeit. Im ursprünglich türkischen Stereotyp vom “deutschen Hans”41 klingt im intertextuellen Verweis außerdem die Märchenwelt der Brüder Grimm an, und zwar sowohl der Hans im Glück als auch die Märchenprinzessin.42 Die Besonderheit von Akyüns Bekenntnisroman liegt jedoch nicht (ausschließlich) in der Tatsache begründet, dass sie ihre Klischees plumper setzt als die bisherigen hier behandelten Autorinnen, sondern darin, dass sie sich selbst explizit als verführerischen Vamp stilisiert. Zu ihren Opfern gehören bevorzugt türkische Männer, die sie abserviert, und deutsche Männer, die sie um den Verstand bringt. So geht es bei der Einführung in türkische Sitten und Gebräuche eben nicht nur, wie bei Sevindim, Güngör und Alanyali, um die türkische Küche und den türkischen Mokka, sondern vorzugsweise um den weiblichen Körper und die erotischen Sinnesreize. Dabei bezieht sich Akyün auf ein bekanntes Genre innerhalb der amerikanischen Chick-Lit, nämlich auf die Serie Sex and the City. Dort wird Weiblichkeit in der Welt US-amerikanischer, weißer Großstädterinnen verhandelt, die sich in einem weiblichen Paralleluniversum manifestiert: Kleidung, Schuhe, Kosmetik, und die Beziehungen zum anderen Geschlecht. Akyün erweitert diesen Kontext um das ethnische Element sowie, damit verbunden, um das orientalistische Prinzip. Hier spricht also ein Turkish Chick. Ein Beispiel dafür ist etwa die Badeszene auf Seite 88f., wo die Ich-Erzählerin splitterfasernackt in der Badewanne liegt (mit dem Leser live dabei) und bekundet, sie bade in Milch und Honig: “Weil Türkinnen wissen, wie man Männer um den Verstand bringt”. Die Anspielung auf die badende Kleopatra, auf das über Jahrhunderte hinweg tradierte Bild der Orientalin im Bade43 mit gleichzeitiger Amibition auf den Mann, sowie der sprachliche Duktus á la Carrie Bradshaw runden das literarische Gesamtbild 41
Mit “Hans “ und “Helga” werden Deutsche gemeinhin in der Türkei bezeichnet. Vgl. auch Alev Tekinays Erzählung Tante Helga und Onkel Hans. In: Tekinay: Die Deutschprüfung. Erzählungen. Frankfurt/M.: Brandes & Apsel. 2. Aufl. 1990. S. 144–155. Siehe dazu auch Yes¸ ilada 1997 [wie Anm. 8]. 42 Es gibt mehrfach intertextuelle Bezüge zur deutschen Märchenwelt, etwa das “frostige Herz” (S. 10) oder die Verwandlung nach dem Cinderella-Prinzip bei der Rückkehr von der Anatolienreise nach Deutschland (S. 190); auch orientalische Märchen klingen mehrfach an. 43 Kurz darauf heißt es über die Badefrauen im Hamam, sie sähen aus, “als kämen sie geradewegs aus einem Harem, so zauberhaft sind sie”. Akyün 2005 [wie Anm. 3]. S. 89.
133 von Sex and the City alla turca ab.44 Die wiederholten Verweise auf Körperlichkeit im Allgemeinen,45 und auf Lust und Sexappeal im Besonderen bilden den Grundstein weiblicher Selbstinszenierung als orientalische Exotin aus der Lebenswelt der New Economy und der Glamourwelt. “Ich stelle das Bild einer traditionellen Türkin ganz schön auf den Kopf ”, resümiert die Ich-Erzählerin am Schluss des Romans: “Ich bin eine Singlefrau, eine Großstädterin, die sich manchmal als Türkin verkleidet, wenn sie mit einem Kopftuch ihr anatolisches Dorf besucht” (190). Das postkoloniale Prinzip der Maskerade, der Mimikry als Anpassung an unterschiedliche Welten als Antwort auf die unvereinbaren Ansprüche ist für Akyün ein Überlebensprinzip, das ihr die Autonomie als Frau in der Gesellschaft sichert. Zugleich ist ihr der amerikanischen Chick-Lit entlehnter Körperdiskurs eine explizite Absage an den traditionellen Herrschaftsanspruch des muslimischen Mannes über die Sexualität der Frau.46 Hier bestimmt die Ich-Erzählerin Hatice selbst über ihre Sexualität. Obgleich jedoch dieser Selbstentwurf durch immer neue Wiederholungen ins Zentrum des Romans gerückt wird, wirkt er durch seine Widmung für den “einen zukünftigen Hans” eigenartig unautonom (zumal der Inhalt des Buches eher einen Titel wie “Einmal Hatice mit scharfer Soße” suggeriert). Das ist nicht nur eine Anlehnung an die Suche nach ‘Mr. Big’ in Sex and the City, sondern ein traditionelles Brautwerbungsmuster, welches über die Jahrhunderte hinweg vor allem im Unterhaltungsgenre seinen Niederschlag fand. In Friedrich von Flotows bekannter Oper Martha oder Der Markt zu Richmond (1847) verdingen sich etwa junge Bauerntöchter als Mägde für ein Jahr und preisen sich entsprechend ihres Könnens an: “Ich kann kochen, ich kann braten, graben, hacken mit dem Spaten, ich kann spinnen feines Linnen und versehen Hof und Haus. (…) Und ich diente gar zu gern bei einem reichen, älteren Herrn”. In diesem Sinne könnte man Akyüns Roman auch als Gesang auffassen, mit dem sich die junge Deutschlandtürkin um einen Herrn (nicht reich und älter, aber Hans und scharf) aus der deutschen Mehrheitsgesellschaft bemüht. 44
Dazu gehört auch der Schuhfetisch, wobei die Pumps, die die Erzählerin zu ihren Miniröcken trägt, ebenso wie in der amerikanischen Vorlage echte Manolos (also Schuhe des Designers Manolo Blahnik) sind: “Ich trage meine Manolos nicht nur zu besonderen Anlässen, sondern immer, wenn ich gerade Lust auf sie verspüre. Manchmal kommt sie ganz plötzlich, die Lust”. Akyün 2005 [wie Anm. 3]. S. 100. 45 So geht es in der Badeszene um Körperbehaarung und ihre Entfernung, um Körpergewicht und Diäten, sowie um die Attraktivität der Ich-Erzählerin, die bekennt, dass sie leidenschaftlich im Auto knutscht. 46 Ates¸ führt die Vielzahl an Zwangsverheiratungen und Ehrenmorde hauptsächlich auf diesen Herrschaftsanspruch zurück. Vgl. Ates¸ [wie Anm. 14]. S. 46f.
134 V. Chic-Lit alla turca: Harmlos oder subversiv? Trotz der allgemein geringen Präsenz von Migranten in deutschen Medien sind Aslı Sevindim, Dilek Güngör, Hatice Akyün, Iris Alanyali, Hilal Sezgin und anderen Deutsch-Türkinnen des 1970er Jahrgangs vor allem im PrintJournalismus etabliert, wo sie entsprechend ethnischer Zuordnung hauptsächlich für ‘Türkenthemen’ und dort häufig für die ‘bunten’ Beiträge zuständig sind.47 Womöglich bewirkt gerade das Genre der Kolumnen ‘aus der türkischen Parallelwelt’ jenen Eindruck von angepasster Harmoniesüchtigkeit, den sämtliche hier besprochenen Texte der neuen türkisch-deutschen Literatur wecken. Da stellen sich mustergültig integrierte Frauen vor, die nicht aufbegehren, die anders als ihre männlichen Kollegen nicht die Rebellion à la Kanak Attack proklamieren, sondern die statt dessen als schön anzuschauende Paradebeispiele einer ‘gelungenen Integration’ daherkommen. Sie sind ‘nette Türkinnen’ von nebenan, die nicht stören, sondern den neugierigen deutschen Nachbarn bereitwillig die Tür öffnen, damit sie Zutritt zum türkischen Privatleben bekommen. Auf diese Weise wird kundgetan, was Türk(inn)en essen, wie sie kochen, wie Türk(inn)en auf dem Sofa sitzen und mit wem, und in welcher Farbe die Sofakissen gehäkelt werden, warum der Vater manchmal brummig ist und was die schrullige türkische Tante dazu sagt. Die bedrohliche türkische Parallelgesellschaft wirkt da auf eine sonderbare Weise putzig und harmlos. Ein ‘typisch weibliches’ Konstrukt? Oder neuer Biedermeier? Die literarische Melange aus ethnologischer Studie, Lifestyle-Zeitschrift, Kochbuch und Reiseprospekt erinnert nicht nur an die neue Küchenliteratur, die verkaufsträchtig möglichst exotische Kochrezepte mit einer möglichst exotischen Lebensgeschichte vereint.48 Der große Trend dahinter ist jene Chick-Lit, die als Literatur von Frauen für Frauen hauptsächlich dem Ziel der Unterhaltung dient. Zugleich kultiviert sie ein (vermeintlich) neues Frauenbild, nämlich das der leicht verrückten, unangepassten, shoppenden, kichernden, plaudernden, urbanen Stadtneurotikerin, die ebenso ausgeflippt ist, wie bürgerlich und politisch gesehen völlig unbedenklich. Hier meldet sich also das türkische Chick zu Wort und plaudert munter drauflos, über Kosmetik, Kleider, Kino, Partys, über die Kindheit mit Tanten und Onkels, über die Schule, die
47
Anders als bei den männlichen Kollegen wie Zafer S¸enocak oder Navid Kermani obliegen ihnen hauptsächlich Kulturthemen (vgl. etwa Alanyali und Sezgin zum Plagiatsstreit um Feridun Zaimog˘lus Leyla-Roman) – Geschlechtsspezifik? Die genderspezifische Analyse der deutsch-türkischen Essayistik steht noch aus. 48 Vgl. etwa Isabel Coe: La Dolce Vita. Meine Familie und ihre Schokoladenrezepte. Aus d. Engl. von Theda Kron-Linke. München: Limes 2005 oder Marsha Mehran: Das persische Café. Roman mit Rezepten. Aus d. Engl. von Gloria Ernst. München: Limes 2005.
135 deutschen Freundinnen, die türkischen Freundinnen usw. Dabei entsteht eine Weiblichkeit, die sich weniger über einen Feminismus im Sinne Alice Schwarzers definiert, als über amerikanische Kultserien wie Sex and the City. Die netten Türkinnen von nebenan liegen mit ihren literarischen Zuwortmeldungen im internationalen Trend. Eine marktopportune Chick-Lit alla turca also? Das Genre der türkisch-deutschen Chick-Lit ist zugleich jedoch auch als Gegendiskurs zu verstehen. Die neuen Chicks in Jeans und Turnschuhen, in Miniröcken und Stöckelschuhen räumen gründlich auf mit den besonders durch die Medien verbreiteten deutschen Vorurteilen über ‘KopftuchTürkenmuttis’. Sie konterkarieren aber auch das Bild der geschundenen Suleika, die neuerdings wieder in melodramatischer Bekenntnisliteratur auf dem Buchmarkt Erfolge feiert. Auch die Chick-Lit alla turca ist eine Bekenntnisliteratur, mit der sich die Generation der Mittdreißigerinnen in der deutschen Gesellschaft zu Wort melden und positionieren: Als Töchter türkischer Einwanderer, die sich sowohl ihrer eigenen Migrationsgeschichte bewusst sind als sie auch hinter sich lassen bzw. sie fortschreiben. Diese Töchter verhalten sich nicht rollenkonform, sie heiraten keinen türkischen Mann und verschreiben sich auch nicht der traditionellen (türkischen) Rolle als Frau und Mutter. Hier wird sowohl dem traditionellen türkischen Familienprinzip als auch der patriotischen Verpflichtung auf das Türkentum eine Absage erteilt. Ausnahmslos alle dieser Bücher handeln von der bikulturellen Liebesbeziehung zum deutschen Mann, die damit einerseits die Grenzen der ethnischen community überwindet, andererseits jedoch in der Wahl eines ausschließlich deutschen Partners in dichotomischer Weise beschränkt bleibt.49 Die Liebe zum deutschen Mann, zum Vertreter der andersgläubigen Mehrheitsgesellschaft stellt jedenfalls einen Akt der Subversion dar. Wenn die türkische Tochter den Bund fürs Leben mit einem Andersgläubigen, mit einem deutschen ‘Schweinefleischesser’ schließt, bedeutet das gleichermaßen ihre Ankunft in der deutschen Mehrheitsgesellschaft wie ihre Abkehr von dem, was in den 1990er Jahren in Folge der rassistischen und xenophoben Bedrohung unter Türken als ReEthnisierung stattfand, nämlich der Import türkischer Ehegatt(inn)en aus dem 49
In der Statistik binationaler Eheschließungen rangieren Ehen zwischen türkischen Frauen und deutschen Männern weit oben. In der TV-Serie Türkisch für Anfänger wird dagegen z. B. eine türkisch-griechische Liebesbeziehung gestaltet. Vgl. Yes¸ilada 2008 [wie Anm. 31]. Akyün bekundet mehrfach ihre Aversion gegen türkische Machos, bei Sevindim scheint die Liebe eher zufällig auf einen Deutschen gefallen zu sein, bei Teoman fällt die Heldin sprichwörtlich von der Bühne in die Arme ihres deutschen Retters, Alanyali erzählt ausführlich, wie sich ihre (binationalen) Eltern kennen gelernt haben.
136 Heimatland. Damit unterlaufen die neuen Deutsch-Türkinnen in mehrfacher Hinsicht Konzepte türkischer Männlichkeit: Den Machismo der Kanak-Kultur ebenso wie die religiöse Bigotterie, den re-ethnisierenden Patriotismus türkischer Patriarchen ebenso wie den muslimischen Herrschaftsanspruch auf die Sexualität der Frau. Doch keine völlig harmlose Literatur? Unter den bemerkenswert zahlreichen strukturellen und inhaltlichen Ähnlichkeiten der deutsch-türkischen Chick-Lit fällt besonders die symbolische Öffnung des eigenen privaten Raumes auf. Jede der Autorinnen lädt im Sinne des türkischen Willkommensrituals – “Hos¸geldiniz! Siz buyrun, oturun! Çay içer misiniz?”50 – die deutsche Leserschaft ins verborgene Innere türkischer Lebenswelten ein. Die Grenzen der ansonsten hermetisch abgeschotteten Parallelwelt von Türken in Deutschland werden hier geöffnet, überwunden; mit weiblichem Charme und häuslicher (‘typisch türkischer’) Gastfreundschaft lassen die Autorinnen die deutschen Gäste sich bei ihnen “zu Hause fühlen”, und zwar in betont “gemütlicher Behaglichkeit”.51 Doch mit dem Öffnen der metaphorischen Tür ins private Reich der Türkinnen vollzieht sich auch metaphorisch die Öffnung der Tür zum orientalischen Harem, der als Sehnsuchtsfiktion nach wie vor in den Köpfen des westlichen Publikums herumgeistert. Ob bewusst oder unbewusst – die neuen deutschen Türkinnen bedienen hier ein uraltes Klischee und erfüllen den Jahrhunderte alten Wunsch des europäischen bzw. deutschen Mannes nach Zutritt zu jenem Bereich, den ihm der türkische bzw. orientalische Mann bis dahin stets verwehrt hatte. Zugegeben, was sich hinter der Tür findet, ist einigermaßen ernüchternd und entspricht eher bundesdeutschem Spießbürgertum als europäischen OrientPhantasien.52 Iris Alanyali spricht davon, dass sich der “Reiz der Türkin zum 50
Übersetzung dieser türkischen Höflichkeitsfloskel: “Willkommen! Bitte, treten Sie doch ein, setzen Sie sich! Möchten Sie einen Tee trinken?” 51 Sheila Johnson sieht dagegen gerade diejenige Literatur islamischer Frauen als interessant an, die es nicht auf die “gemütliche Behaglichkeit” anlegt. Vgl. Sheila Johnson: Von “Betroffenheit” zur Literatur. Frauen islamischer Herkunft, die auf deutsch schreiben. In: Interkulturelle Konfigurationen. Zur deutschsprachigen Erzählliteratur von Autoren nichtdeutscher Herkunft. Hg. von Mary Howard. München: Iudicium 1997. S. 153–170. Hier: S. 167. 52 Neuere Forschungen belegen, dass die zahlreichen Orient-Fotografien, auf denen orientalische Frauen in erotischen Posen mit zum Teil entblößtem Oberkörper zu sehen waren, künstliche Konstrukte örtlicher Fotostudios waren, in denen europäische Fotografen mit “Fotomodellen” Szenen nachstellten, von denen sie annahmen, dass sie das heimische Publikum in Europa interessierten. Umgekehrt wurden jedoch realistische Aufnahmen aus dem Inneren türkisch-orientalischer Lebenswelten nicht verbreitet, wenn bzw. weil sie nicht den allgemeinen Vorstellungen vom Harem (Armut, pittoreske Szenerie, Erotik etc.) entsprachen. Sarah Graham Brown berichtet von einem Fall, in dem die Innenaufnahmen eines vornehmen Istanbuler Wohnhauses von einer Londoner Zeitung abgelehnt wurde: “The newspaper editor
137 Anfassen”53 schnell wieder verflüchtigt; Hatice Akyün räkelt sich lasziv im Bade. Es stellt sich die Frage, inwieweit dieses “Buyrunuz!” / “Hereinspaziert!” als subversiver Akt gegen die Unterdrückung durch den orientalischen Mann zu verstehen ist, oder nicht eher als Fortschreibung des orientalisierenden westlichen Blicks. Wie aber kommt es zu diesem neuen Trend, der fast jedem größeren Belletristik-Verlag eine Deutsch-Türkin beschert, die, journalistisch geschult, ihr (deutsch-)türkisches Leben und Frau-Sein locker-flockig und unterhaltsam zu Papier bringt und dem Verlag schöne Verkaufszahlen beschert? Wer scoutet da wen? Ist es Zufall, dass alle Autorinnen etwa zur gleichen Zeit in Erscheinung treten, oder steckt eine Marktstrategie dahinter? Fest steht, dass sich die schreibenden Deutsch-Türkinnen der neuen Generation mit ihrem Bekenntnis zu Deutschland und dem Leben in zwei Welten aus jenem Schattendasein befreien, das nicht nur die orientalische Frau in europäischen Diskursen jahrelang eingenommen hat,54 sondern auch die Figur der bestens integrierten, erfolgreichen Durchschnittsmigrantin, die kaum je in den medialen Statistiken von Kopftuchträgerinnen und Ehrenmordopfern auftaucht. Wer kennt schon eine ‘normale’ Türkin? Wer auch immer die Initiative ergriffen haben mag, Journalistinnen oder Verleger, diese Marktlücke wurde durch die neue Chick-Lit alla turca gesättigt. Ob mit dem neuen literarischen Genre Vorurteile über Türk(inn)en bestätigt oder unterlaufen werden, bleibt dahingestellt. Der Vergleich zu Romanen anderer Autorinnen ‘mit Migrationshintergrund’ macht jedoch einige Unterschiede, wenn nicht sogar bemerkenswerte Fallhöhen deutlich, etwa wenn man Dilek Güngörs Roman mit den MigrationsFamiliengeschichten von Eva Menasse, Rada Biller oder Lena Gorelik vergleicht. Auch die Konstruktionen von Weiblichkeit und Sexualität bei (‘orientalisch-deutschen’) Autorinnen wie Sudabeh Mohafez oder Andrea Karimé bieten weitaus komplexere Entwürfe als Sibel Susann Teomans oder Hatice Akyüns erotische An- und Ausflüge. Nicht zuletzt auf sprachlicher
could not accept the picture because it did not conform to the stereotypical photograph taken in a studio, and therefore did not appear ‘real’ ”. Vgl. Sarah GrahamBrown: The Seen, the Unseen and the Imagined: Private and Public Lives. Feminist Postcolonial Theory. A Reader. Hg. von Reina Lewis und Sara Mills. Edinburgh: Edinburgh UP 2003. S. 502–519. Hier: S. 510. 53 Iris Alanyali: Die Blaue Reise [wie Anm. 25]. S. 207. 54 Vgl. Helma Lutz: Unsichtbare Schatten? Die “orientalische” Frau in westlichen Diskursen – Zur Konzeptualisierung einer Opferfigur. In: Peripherie 37/1989. S. 51–66.
138 Ebene hebt sich die bilderreiche, vielschichtige Prosa dieser Autorinnen von der dahingeplauderten Bekenntnisliteratur der ‘türkischen Chicks’ ab.55 Als zum dreißigjährigen Jubiläum der feministischen Zeitschrift Emma Anfang 2007 auch Kritik laut wurde an dem von der Herausgeberin Alice Schwarzer geprägten bzw. dominierten Feminismus und sich dabei insbesondere jene Generation, die so alt ist wie die Zeitschrift selbst, gegen die Selbstinszenierung des sog. ‘Emma-Feminismus’ positionierte, bemängelte die Kritik daraufhin, dass diese Alpha-Mädchen oder Neuen deutschen Mädchen “zu gefühlsbetont” und “privatistisch” argumentierten. Allein durch emotionale Sprache und autobiographisch anmutende Anekdoten wirke ihr neuer Feminismus nicht überzeugend.56 Ähnlich scheint auch bei den ‘neuen deutschtürkischen Mädchen’ der künstlerische Anspruch und die argumentative Konsequenz hinter dem Bestreben der eigenen Positionierung zurückzustehen.
VI. Exkurs zu den ‘echten Türkinnen’ Türkische weibliche Welten erschließen sich jedoch auch durch deutsche Übersetzungen der Romane Türkei-türkischer Autorinnen. Trotz der vergleichsweise geringen Präsenz türkischer Literatur in Deutschland erlauben einige neuere Übersetzungen den vergleichenden Blick auf weibliches Schreiben in der türkischen Gegenwartsliteratur.57 In der Generation der hier vorgestellten 55
Eva Menasse: Vienna. Roman. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2005; Rada Biller: Melonenschale. Lebensgeschichte der Lea T. Roman. Berlin: Berliner Taschenbuch 2003; Lena Gorelik: Meine weißen Nächte. Roman. München: SchirmerGraf 2004; Andrea Karimé: Alamat. Wegzeichen. Arabisch-deutsche Erzählungen. Tübingen: Konkursbuch 2006; Sudabeh Mohafez: Gespräch in Meeresnähe. Roman. Zürich – Hamburg: Arche 2005. 56 Emma erschien erstmals im Januar 1977. Vgl. http://www.emma.de (27. 7. 2008). Jana Hensel und Elisabeth Raether: Neue deutsche Mädchen. Reinbek: Rowohlt 2008. Vgl. dazu die Rezensionen von Stephanie Wurster (Glanz des Repräsentativen: In: die tageszeitung vom 18. 4. 2008. S. 16) und Jutta Person (Mein Freund ist immer so gefasst. In: Süddeutsche Zeitung vom 23. 4. 2008. S. 16). Meredith Haaf, Susanne Klingner und Barbara Streidl: Wir Alphamädchen: Warum Feminismus das Leben schöner macht. Berlin: Hoffmann & Campe 2008. Während sich die selbsternannten neuen Feministinnen als “cool, schlau und schön” inszenieren, findet die deutsch-türkische Rezensentin Hilal Sezgin dieses Gebaren “dümmlich” (Endlich haben wir wieder Feminismus. In: die tageszeitung vom 13. 3. 2008. literataz Sonderbeilage S. II–III.). 57 Insgesamt ist türkische Literatur in Deutschland trotz vereinzelter Initiativen von Kulturvermittlern, Übersetzern und Kulturträgern nicht allzu präsent. Vgl. dazu verschiedene Aufsätze zur türkischen und türkisch-deutschen Literatur unter http://www.dialogev.de/texte/ (27. 7. 2008). Die aktuelle literarische Szene in der Türkei verzeichnet dagegen über drei Dutzend Autorinnen, darunter mehrere Bestsellerautorinnen. Im Zuge des Gastland-Auftritts der Türkei auf der Frankfurter
139 Autorinnen treten Aslı Erdog˘an und Elif Shafak als kulturelle Grenzgängerinnen in Erscheinung. In ihrem 1998 erschienenen Roman Die Stadt mit der roten Pelerine schildert Aslı Erdog˘an (*1967) mit faszinierender Intensität, wie sich ihre Heldin in Rio de Janeiro verliert. Die angehende Kernforscherin Özgür aus Istanbul versucht in der brasilianischen Metropole eine alternative Existenz als Schriftstellerin. Vom täglichen Überlebenskampf ermattet, driftet sie mehr durch den Alltag, als dass sie wirklich lebt. Permanent denkt sie über den in Rio allgegenwärtigen Tod nach und schreibt fast manisch an ihrem Roman “Die Stadt mit der roten Pelerine”, der ihre eigene Geschichte anhand der Romanfigur Ö. spiegelt. Beide Erzählungen sind raffiniert ineinander verwoben, so dass einerseits nie ganz klar ist, wer hier letztlich über wen erzählt, Özgür über Ö., oder umgekehrt, sich andererseits damit eine selbstreflexive Ebene der Erzählung eröffnet. Der eigentliche Roman (von Aslı Erdog˘an) erzählt einen Tag in Özgürs Leben, Ostersonntag, den sie einsam und hungrig als Stadtnomadin verbringt, und an dessen Ende sie infolge eines Raubüberfalls stirbt. Das Ganze ist eine auf der narrativen Ebene kunstvoll verschlungene, philosophische Erzählung über Tod und Vergänglichkeit entlang des immer wieder anklingenden Motivs von Orpheus und Eurydike. Özgür, die verwestlichte türkische Bürgerstochter, ist ‘Lost in Rio’, während sie eigentlich auf der Suche ist, nach sich selbst, nach ihrem vergessenen Körper, nach Liebe. Sie lebt ihre Weiblichkeit jenseits aller Rollenmodelle, richtet ihren Körper mit Koks und Bulimie zugrunde und imitiert in einer eigenartigen Mimesis das Elend der Abertausenden Obdachlosen der Stadt. Diese Untergangserzählung, in die Aslı Erdog˘an biographische Elemente verwoben hat58 und in der sich reale und fiktionale Ebenen permanent vermischen, arbeitet mit zahlreichen intertextuellen Verweisen auf die türkische und lateinamerikanische Literatur und spiegelt auch auf sprachlicher Ebene die Vielfältigkeit der abgebildeten Welt. Die Schwüle der Stadt, die Einsamkeit der gestrandeten Protagonistin, die Vitalität und das Elend verdichten sich in intensiven Bildern, die den Sog
Buchmesse im Oktober 2008 sind einige neue Übersetzungen zu erwarten. Wolfgang Günter Lerchs Literaturgeschichte verzeichnet einige wichtige türkische Schriftstellerinnen [wie Anm. 2]; nützlich ist auch Kader Konuks einleitender Überblick über die türkische Prosa von Frauen [wie Anm. 11], indessen fehlt im deutschsprachigen Raum noch immer eine umfassende Frauenliteraturgeschichte der Türkei. 58 Die 1967 in Istanbul geborene Autorin brach eine Karriere als ExzellenzPhysikerin (Informatik-Studium und Anstellung an der renommierten Istanbuler Bosporus-Universität sowie Mitarbeit am Kernforschungszentrum CERN in Genf) nach einem zweijährigen Aufenthalt in Rio de Janeiro ab und lebt seitdem als freie Schriftstellerin in Istanbul.
140 Rio de Janeiros in einer nahezu berauschenden Sprache abbilden. Für Karin Schweißgut ist Die Stadt mit der roten Pelerine ein Beispiel postmoderner Literatur einer “jungen Weltbürgerin, die sich kosmopolitisch in allen Literaturen bzw. Kulturen der Welt heimisch fühlt”.59 Die türkische Bestsellerautorin Elif Shafak (* 1971) wiederum ist mit mehreren übersetzten Romanen mittlerweile auch in Deutschland bekannt.60 Ihr 2007 ins Deutsche übersetzter Roman Der Bastard von Istanbul erzielte unmittelbar nach Erscheinen in der Türkei Verkaufsrekorde,61 obgleich – oder gerade weil – er eine türkisch-armenische Familiengeschichte erzählt. Armanoush Tchakhmakhchian wächst abwechselnd in San Francisco bei ihrem armenischen Vater und der traditionsbewussten armenischen Großfamilie, und in Arizona bei ihrer amerikanischen Mutter auf, die inzwischen einen Türken geheiratet hat. Den Bemühungen der Mutter, die “Amy” am liebsten vor jeglichem armenischen Familieneinfluss bewahren würde, zum Trotz macht sich Armanoush jedoch auf die Suche nach den Wurzeln ihrer armenischen Familie und fliegt eines Tages heimlich nach Istanbul, wo ihre Vorfahren einst lebten. Dort trifft sie auf die Familie ihres türkischen Stiefvaters, einem vier Generationen umfassenden Clan höchst skurriler Frauenfiguren, die eine alte Istanbuler Villa bewohnen: Die eigensinnige osmanische Urgroßmutter, die verbitterte Großmutter sowie ihre vier Töchter, zu denen eine fromme Wahrsagerin, eine republiktreue Lehrerin, eine schizophrene Exzentrikerin und eine Nonkonformistin mit ihrer unehelichen Tochter Asya gehören. Auf unterschiedliche Weise verkörpern alle diese Frauen des Kazanci-Clans nicht nur ein breites Spektrum türkischer Weiblichkeitsentwürfe, sondern auch die türkische Republikgeschichte. Shafak belässt es nicht bei diesem vermeintlich parodistischen Familienpanorama à la My big fat Greek Wedding, sondern verknüpft beide Familienstränge, die armenische in den USA und die türkische in Istanbul, zu einem komplexen, transationalen historischen Puzzle miteinander, das im Verlauf der Geschichte zusammengesetzt wird. 59
Karin Schweißgut im Nachwort zur deutschen Romanausgabe. Aslı Erdog˘an: Die Stadt mit der roten Pelerine. Aus d. Türk. von Angelika Gillitz-Acar und Angelika Hoch. Zürich: Unionsverlag 2008. S. 200. 60 Elif Shafak (eig. S¸afak) wuchs als Tochter von Diplomaten in Spanien und der Türkei auf, studierte in der Türkei und lebt heute in Arizona, wo sie Literaturwissenschaft lehrt. Bereits mit ihren frühen Romanen, in denen sie historische Themen mit surrealer Erzählweise und experimentellem Sprachgebrauch verknüpft, machte sie sich in der Türkei einen Namen. 61 Der Roman erschien 2006 zunächst auf Englisch in der Türkei, wo er sich in kürzester Zeit über 60.000 mal verkaufte – Raubkopien nicht mitgerechnet. Sowohl Erdog˘an als auch Shafak berichten bei ihren Lesungen vom schädigenden Effekt der in der Türkei weit verbreiteten Raubkopien. Elif Shafak: Der Bastard von Istanbul. Übers. von Juliane Grüber-Müller. Frankfurt: Eichborn 2007.
141 Schlüsselfigur ist das jüngste Mitglied des türkischen Kazanci-Clans, ebenjene Asya, die darunter leidet, ein “Bastard” zu sein und in einem Haus “voller Verrückter” aufzuwachsen, eine nihilistisch-melancholische Intellektuelle, die sich um die “armenische Amerikanerin” kümmert und ihr bei der Suche nach Spuren ihrer einstigen Familiengeschichte hilft. Elif Shafak schickt ihre beiden Hauptfiguren Amy und Asya, deren Namen symbolhaft für zwei Kontinente stehen, durch einen verwirrenden Kosmos verschiedenster Meinungen und Lebenshaltungen, die sich nach dem Prinzip der Heteroglossie in unterschiedlichen Stimmen manifestieren und die kontroversen Positionen zum Armenienthema repräsentieren.62 Asya und Armanoush müssen das gemeinsame schwierige Erbe der Vergangenheit, nämlich die Vertreibung und Vernichtung der Armenier im Osmanischen Reich, schultern und sich um ihrer Zukunft willen gemeinsam um eine Lösung bemühen, zugleich aber auch ihre eigene Identität finden. Shafak verlagert die diffizile Auseinandersetzung mit dem brisanten Tabu-Thema (der Genozid wird offiziell in der Türkei geleugnet) in ihre eigene Generation und eröffnet damit fiktional die Möglichkeit für einen gemeinsamen Dialog zwischen Armeniern und Türken. Damit geriet sie ins Kreuzfeuer und wurde unter Berufung auf Artikel 301 des türkischen Strafgesetzes (“öffentliche Verunglimpfung der Republik und der Großen Türkischen Nationalversammlung”) angeklagt. Zweifelsohne gehört die kosmopolitische Autorin mit dem Hang zu historischen Themen zu den interessantesten Stimmen der gegenwärtigen türkischen Literatur. Aslı Erdog˘an und Elif Shafak sind Beispiele für eine neue Literatur von türkischen Autorinnen, die diffizile Themen wie Existenzkrise, Suizidalität, Tod, aber auch historische Erblast und Identitätsfindung auf künstlerisch anspruchsvolle Weise gestalten. Figurenreichtum, kunstvolle narrative Strukturen, sprachliche Vielschichtigkeit, spannende Themen kennzeichnen ihre Literatur, die damit weit entfernt ist von der Chick-Lit deutsch-türkischer Provenienz: Hier biedert sich keine nette Türkin an, die es allen recht machen will. Während sich die einen in Deutschland selbst im Spiegel betrachten, um zu sehen, wie schön sie sind, halten die anderen in der Türkei ihrer Gesellschaft den Spiegel vor. Solche ‘Spiegelungen’ vergleichend zu analysieren, wäre die Aufgabe zukünftiger komparatischer Studien der germanistischen und turkologischen 62
Shafak etabliert dafür einen Chatroom, um anonyme Stimmen zu präsentieren, die den Genozid entweder rundheraus leugnen, oder ihn politisch für die Türkei-Hetze instrumentalisieren. Daneben gibt es Figuren (wie in der türkischen Familie), die das Thema erfolgreich lebenslang verdrängen, oder (wie in der armenischen Familie) sich davon weder lösen können noch wollen. Asya erkennt, dass manche scheinbar liberalen Freigeister ihres Intellektuellenzirkels plötzlich zu Ultranationalisten werden, wenn es um die Wahrnehmung der türkischen Verbrechen an den Armeniern geht, ebenso wie Armanoush in ihrem armenischen Chatroom auf Propaganda stößt.
142 Literaturwissenschaft. In diesem Sinne wäre Leslie A. Adelsons Begriff vom Turkish Turn in der deutschen Gegenwartsliteratur als Einschreibung türkischer Perspektive, türkischer Geschichte, als nicht-deutsche Sichtweise in die deutsche Literatur von Belang, gerade auch mit Blick auf deutsch-türkische und türkische Autorinnen.63 Auch neuere Ansätze aus der Orientalistik, die einen historischen Gegendiskurs zum damaligen Orientalismus belegen,64 wären für die Beurteilung der neueren Literatur deutsch-türkischer Autorinnen interessant.
63
Etwa in Bezug auf die Erkundung historischer Räume und Topographien wie etwa der deutsch-jüdischen oder türkisch-armenischen Geschichte. Hier wäre unter den deutsch-türkischen Autorinnen jedoch eher an Yadé Kara und Emine Sevgi Özdamar zu denken. Vgl. dazu Adelson [wie Anm. 29]. 64 Reina Lewis berichtet, dass bereits zu Osmanischer Zeit türkische Frauen Reiseberichte und Romane vorlegten und damit ihrerseits bewusst gegen den Diskurs der Suleika, der Odaliske, mithin der vom Westen orientalisierten Orientalin anschrieben. Vgl. Reina Lewis: Rethinking Orientalism. Women, Travel and the Ottoman Harem. London – New York: I. B. Tauris 2004. Hier vor allem Kapitel 1: Harem Travellers (S. 12–52) und Kapitel 4: Eroticised Bodies: Representing Other Women (S. 142–177).
Margaret Littler
Profane und religiöse Intensitäten: Die islamische Kultur im Werk von Emine Sevgi Özdamar und Feridun Zaimog˘lu Against the backdrop of recent fears of the emergence of an Islamic ‘parallel society’ in Germany, this paper argues for the importance of the imaginative work of TurkishGerman authors in overcoming simplistic and homogenising ideas of Turkish Islam. It explores the complexity of German encounters with Islam in texts by Emine Sevgi Özdamar and Feridun Zaimog˘lu, focusing on Islam as an aspect of the texts’ minoritarian status (Deleuze and Guattari), while also arguing that they evoke a specifically Anatolian tradition of mystical Sufism. Thus a link is proposed between the deterritorialising dynamics of the texts, and the rich aesthetic tradition of Ottoman poetics. Both writers invite their readers to engage with Islam in unexpected and unsettling ways, requiring a nuanced understanding of heterodox Islamic mysticism and of Ottoman poetic traditions.
Am 4. Dezember 2005 schrieb Peter Schneider in der New York Times über eine neu entstehende Mauer in Berlin, hinter der sich eine Parallelgesellschaft islamischer Stadtteile beobachten ließe.1 Der Autor des Mauerspringer (1972), dessen Protagonist die Trennung Berlins im Kalten Krieg überwunden hat, errichtet hiermit ein neues Feindbild, indem er vor so genannten unassimilierbaren muslimischen Gemeinschaften Deutschlands warnt. So außergewöhnlich ist seine Äußerung seit September 2001 auch gar nicht, da die New Yorker Terroranschläge auch in Teilen der europäischen Presse eine Hetzkampagne gegen Muslime entfesselt haben. Trotz wichtiger Änderungen des deutschen Staatsbürgerschaftsrechts seit 2000, die das Recht der Kinder ausländischer Einwanderer auf einen deutschen Pass gewährleisten, wird infolge des so genannten ‘Kriegs gegen den Terror’ die doppelte Staatsbürgerschaft immer weniger geduldet, besonders bei Ausländern muslimischen Glaubens.2 Diese Krise des deutschen Multikulturalismus macht meines Erachtens die Phantasiearbeit, die Schriftsteller türkischer Abstammung in der deutschen Literatur leisten, umso wichtiger. Mich interessiert hier, wie sie neue Gedankenräume entwerfen, in denen vereinfachende und nivellierende Vorstellungen des Islam in Frage gestellt werden. Solche Vorstellungen vom Islam werden immer noch in dualistische Begriffe gefasst: global und lokal, Europa gegen Asien oder die säkulare, aufgeklärte Moderne gegen eine religiös geprägte, unaufgeklärte Tradition, 1
Peter Schneider: The New Berlin Wall. In: New York Times vom 4. 12. 2005. S. 66. Vgl. Tom Cheesman: Novels of Turkish German Settlement: Cosmopolite Fictions. Rochester (NY): Camden House 2007. S. 19–20. 2
144 wobei der Islam immer auf der Seite der antimodernen, traditionsgeprägten Kulturen gegenüber einer säkularen westlichen Moderne angesiedelt wird. Der Islam ist andererseits ein untrennbarer Bestandteil der Globalisierung, wie z.B. Yildiz Atasoy am Beispiel der heutigen Türkei erläutert. Die seit 2002 regierende AKP (Adalet ve Kalkınma Partisi) sei ihres Erachtens eine gleichzeitig religiöse und westlich orientierte Partei, die den Beitritt der Türkei zur EU energisch ansteuert.3 Laut Atasoy sei die Türkei das einzige islamische Land, das so stark in die politischen, ökonomischen und kulturellen Strukturen des Westens eingebunden ist. Als ein sowohl muslimisches als auch westorientiertes Land bietet (und erfordert) die Türkei ein einzigartiges Verständnis der Komplexität des Islam, das auch in der türkisch-deutschen Literatur zum Ausdruck kommt. Im Gegensatz zu Leslie A. Adelsons Behauptung also, dass der Islam in der Literatur der türkischen Migration fast vollkommen abwesend sei und dass die wenigen Anspielungen auf den Islam eigentlich mit den Modernisierungsreformen Atatürks zu tun hätten, will ich hier die oft unerwartete und durchaus wichtige Rolle des Islam in der türkisch-deutschen Literatur erläutern.4 Dabei habe ich nichts dagegen einzuwenden, dass Adelson diese AutorInnen nachdrücklich in einen europäischen Zusammenhang stellen will, und dass sie sich weigert, sie als Vertreter einer ‘intakten’ türkischen Kultur aufzufassen. Andererseits scheint mir die Vernachlässigung des Islam in ihrer sonst so aufschlussreichen Studie eine versäumte Gelegenheit, sich mit dem Islam als Bestandteil der europäischen Kultur ernsthaft und differenziert auseinander zu setzten. In diesem Beitrag möchte ich die direkte und indirekte Bedeutung des Islam in Texten von Emine Sevgi Özdamar und Feridun Zaimog˘lu untersuchen. Dabei will ich die Texte weder verdinglichen noch an einen festen Ursprung binden, sondern ich will zeigen, dass der Islam zur Modernität ihrer Werke gehört (wie auch muslimische Gemeinschaften inzwischen ein fester Bestandteil Europas sind). Dies gehört zu einem größeren Projekt, diese Literatur als “kleine Literatur” im Sinne Deleuze und Guattaris aufzufassen,5 und somit nicht nach der Darstellung erkennbarer muslimischer Identitäten zu suchen, sondern auf die Deterritorialisierung gerade dieser Vorstellungen zu achten. Beweggrund dieses theoretischen Ansatzes ist die Notwendigkeit einer 3
Yildiz Atasoy: Turkey, Islamists and Democracy: Transition and Globalization in a Muslim State. London – New York: I.B. Tauris 2005. S. 6. 4 Vgl. Leslie A. Adelson: The Turkish Turn in Contemporary German Literature: Toward a New Critical Grammar of Migration. New York: Palgrave Macmillan 2005. S. 113 und S. 178. 5 Vgl. Gilles Deleuze und Félix Guattari: Kafka. Für eine kleine Literatur. Frankfurt/M.: edition suhrkamp 1976.
145 Auffassung der Differenz, die nicht auf dualistischem Denken gründet, was sogar bei der postkolonialen Theorie noch der Fall ist.6 Anstatt der Untersuchung der Darstellung des islamischen “Anderen” will ich aufzeigen, wie der Islam als dynamisches Moment in der Verkettung7 des Textes wirkt. Somit können alle Formen der Intensität, sowohl die religiösen als auch die profanen, im Zeichen des Islam verstanden werden und gleichzeitig Klischeevorstellungen vom Islam in Frage stellen. Diese Texte verwischen oft die Trennung zwischen spiritueller und weltlicher Erfahrung, indem das Religiöse oft extrem erotisch erlebt wird und die Begegnung der Körper eine tiefe Verwandlung zu Stande bringen kann. Dabei sehe ich die durchlässige Grenze zwischen dem religiösen und dem profanen Bereich als tief im mystischen anatolischen Sufismus verwurzelt, obwohl sie in diesen Texten auch zukunftsweisend und rhizomatisch unberechenbar weiterwirkt. Dieses grenzenverwischende Moment in den Texten lässt individuelle und kollektive Identitäten als dynamisches Werden, statt als festgelegte Kategorien des Seins neu denken. Bei Özdamar tritt das, was Azade Seyhan “Islam with a Turkish accent” genannt hat, auffallend zu Tage.8 Sowohl die reiche Tradition der osmanischen Poesie, als auch die mythischen Eigenschaften der arabischen Sprache hallen in ihren Texten wider. Arabisch dient in Özdamars Texten einer ausschließlich heiligen Funktion, da es nicht mehr verständlich ist (seitdem Türkisch mit lateinischen Buchstaben geschrieben wird), obwohl es in ihren Texten oft eine poetische, verkörperte Wirkung erzeugt.9 Mich interessiert in diesem Kontext der ambivalente Zusammenhang zwischen sexueller und religiöser Intimität in “Großvater Zunge” (1990) und Die 6
Vgl. z.B. Claudia Breger: “Meine Herren, spielt in meinem Gesicht ein Affe?” Strategien der Mimikry in Texten von Emine S. Özdamar und Toko Tawada. In: AufBrüche: Kulturelle Prokuktionen von Migrantinnen, Schwarzen und jüdischen Frauen in Deutschland. Hg. von Kathy S. Gelbin, Kader Konuk und Peggy Piesche. Königstein/Taunus: Ulrike Helmer 1999. S. 30–59. Der postkoloniale Begriff der Mimikry gründet sich auf der Lacanschen Psychoanalyse, die eine grundsätzliche Trennung des Selbst vom Anderen voraussetzt. 7 Verkettung (Frz: agencement) ist der Deleuzesche Begriff für ein intensives Netzwerk, das sich aus selbstgesteuertem Material zusammensetzt, und das immer weitere Vernetzungen ansteuert. Die Verkettung überwindet feste Kategorien, indem sie das Materielle mit dem Semiotischen bzw. dem Menschlichen zusammen bringt. 8 Azade Seyhan: Writing outside the Nation. Princeton: Princeton University Press 2001. S. 146. 9 Vgl. Daniel W. Smith. Introduction. “A Life of Pure Immanence”: Deleuze’s Critique et Clinique Project. In: Gilles Deleuze: Essays Critical and Clinical. Übers. von Daniel W. Smith und Michael A. Greco. London: Verso 1998. S. xi–liii. Zu den volkstümlichen, vermittelnden, bezeichnenden und mythischen Sprachtypen bei Deleuze siehe S. xlvi–xlvii.
146 Brücke vom Goldenen Horn (1998).10 Diese Texte stellen westliche Vorstellungen vom islamischen ‘Puritanismus’ in Frage und erzeugen einen heftigen Affekt in den LeserInnen, die vergebens nach erkennbaren Stereotypen muslimischer Identitäten suchen. Zaimog˘ lus Erzählung “Gottes Krieger” (2005) dagegen behandelt die latente Gewalt im fundamentalistischen Glauben und die islamische Kritik am globalen Kapitalismus. Hier ist zu fragen, ob der Selbstmordattentäter eine äußerst aktuelle und beunruhigende Figur der absoluten Deterritorialisierung darstellt.
I. Materielle Bewegungen in Emine Sevgi Özdamars “Großvater Zunge” und Die Brücke vom Goldenen Horn An anderer Stelle habe ich schon die Ansicht vertreten, dass in Özdamars Erzählung “Großvater Zunge” eine mystische Tradition des anatolischen Islam der orthodoxen (vermutlich sunnitischen) Koranlehre gegenübergestellt wird.11 Die Geschichte erzählt vom Versuch einer türkischen Frau, von einem Arabischlehrer in West-Berlin die arabische Schrift zu erlernen, um an die Sprache ihrer Großelterngeneration wieder anzuknüpfen. Die Beziehung zwischen Schülerin und Lehrer wandelt sich in eine leidenschaftliche Liebe, wobei eine Spannung entsteht zwischen Ibni Abdullahs Verständnis der ‘orientalen’ Weiblichkeit und dem Anspruch der Protagonistin auf sexuelle Freiheit. Eine weitere Spannung entsteht zwischen seiner Koranlehre und ihrem alltäglichen, über die Volkstradition überlieferten Islamverständnis. Dieser Unterschied lässt sich zweifach erklären: erstens war der Islam im osmanischen Reich eine Verschmelzung verschiedener Religionen, insofern er frühere Traditionen von Schamanismus und von Naturreligionen in sich aufgenommen hatte; zweitens wurde der Islam in den frühen Jahren der türkischen Republik zum individuellen Glauben degradiert, der keine politische Rolle mehr spielen durfte. Die Geschichtsauffassung der Kemalisten rückte die Kultur der vorosmanischen “Urtürken” Anatoliens in die Nähe der westlichen Moderne und stellte den Islam in einen Gegensatz zur Aufklärung und zum Kapitalismus. Da die Bevölkerung aber zum größten Teil aus Muslimen bestand, duldete der Staat den Islam als Teil des Alltags und nutzte ihn sogar als Mittel zum 10
Diese Ambivalenz gibt es auch in Zafer S ¸ enocaks Der Erottomane. München: Babel 1999. Auch der Titel deutet auf eine Verbindung zwischen erotischer Erfahrung und Osmanischer Poesie hin. 11 Vgl. Margaret Littler: Diasporic Identity in Emine Sevgi Özdamar’s Mutterzunge. In: Recasting German Identity: Culture, Politics and Literature in the Berlin Republic. Hg. von Stuart Taberner und Frank Finlay. Rochester (NY): Camden House 2002. S. 219–234; Brigid Haines und Margaret Littler: Contemporary Women’s Writing in German: Changing the Subject. Oxford: Oxford University Press 2004. S. 118–138.
147 gesellschaftlichen Zusammenhalt. Die Religion wurde einerseits von der Gesetzgebung ausgeschlossen, andererseits vom öffentlichen Dienst verwaltet. Der Staat war (und ist immer noch) laizistisch, aber die Religion dient der nationalen Gesinnung. Wenn man die zwiespältige Einstellung des türkischen Staats gegenüber dem Islam bedenkt, wundert es kaum, dass man sie bei Özdamar wiederfindet. Ihre Protagonistin ist zwar türkische Muslime, aber eindeutig Kind der laizistischen Republik. In diesem Zusammenhang ist es bedeutsam, dass das Liebesverhältnis in der Erzählung religiöse Züge annimmt, was sich dadurch ausdrückt, dass der Geliebte in zwei Personen gespalten wird. Er ist zugleich tatsächlicher Liebhaber und ein verkörperter Teil der Protagonistin selbst: “Ich lief einen Monat lang mit Ibni Abdullah in meinem Körper in beiden Berlin”; “Ich sprach zu dem Ibni Abdullah, der in meinem Körper ist”.12 Mit der Zeit lenkt die Stimme des verinnerlichten Ibni Abdullah die Protagonistin sogar von ihrem Koranstudium ab. Seine verinnerlichte Anwesenheit löst in ihr ein leidenschaftliches Liebeslied aus: Ich lernte die Schrift schlecht, weil ich immer mit dem Ibni Abdullah, der in meinem Körper war, mit anderen Wörtern sprach: “Du Seele in meiner Seele, keine ist dir ähnlich, ich opfere mich für deine Schritte. Mit deinen Blicken schautest du mich an, ich gebe mich zum Opfer deinem Blicke. Verwahrlost, Haar gelöst, fortwimmern will ich, mit einem Blick hast du meine Zunge an deine Haare gebunden. Ich bin die Sklavin deinen (sic) Antlitzes. Zerbrich nicht diese Kette, lehne mich nicht ab, Geliebter, ich bin die Sklavin deines Gesichts geworden, sag mir nur, was tue ich jetzt, was tue ich jetzt”. […] “Du bist ungeduldig, unkonzentriert”, sagte Ibni Abdullah. “Die Schrift verzeiht es dir nicht.” (GZ 29–30)
Diese Verkörperung des Geliebten habe ich anderswo als Hinweis auf das Streben im Sufismus interpretiert, die schmerzliche Trennung von Gott zu überwinden, was in der Auslöschung des Selbst mündet.13 Diese Selbstauslöschung sehe ich nun als Folge der Intensität der Begegnung, die nicht nur religiöse Bedeutung hat (zumindest nicht im Sinne einer Transzendenz). Diese Aufhebung subjektiver Grenzen kann auch als Moment des Deleuzeschen Werdens ausgelegt werden, das bei Özdamar immer dann stattfindet, wenn gegenseitiges Verständnis ausbleibt. Die Erotik der Liebe bedeutet bei Deleuze genau so eine Verschmelzung der subjektiven Grenzen, es geht weder um bloße “Kommunikation” noch um “Austausch”.14 Die Liebe ist, wie alles andere in Deleuzes Ontologie der 12
Emine Sevgi Özdamar: Großvater Zunge. In: Mutterzunge. Berlin: Rotbuch 1990. S. 13–46. Hier: S. 19 und S. 28. Im Folgenden: (GZ). 13 Margaret Littler: Diasporic Identity in Emine Sevgi Özdamar’s Mutterzunge [wie Anm. 11]. S. 228–229. 14 Vgl. Todd May: Gilles Deleuze. An Introduction. Cambridge: Cambridge University Press 2005. S. 167–169.
148 Immanenz, keine Frage des Erkennens, sondern ein Tasten nach dem, was wir nicht wissen können (“to palpate the unknowable”).15 Das Selbst wird bei Deleuze nicht durch einen beständigen Kern bestimmt, sondern durch seine Randzonen, wo es mit anderen in Berührung kommt (andere, die auch selbst vielfältige Wesen sind) und sich zu wandeln anfängt. Die Liebe löst also ein neues Werden aus, wobei “Werden” ein objektives Gebiet der materiellen Undifferenziertheit bezeichnet.16 Die verkörperte Vereinigung mit dem Geliebten in “Großvater Zunge” scheint mir einen ähnlichen Zustand der materiellen Undifferenziertheit darzustellen, dessen Körperlichkeit dadurch unterstrichen wird, dass sich die Protagonistin einer unbequemen Nacht in der Bahnhofsmission aussetzt, um den verinnerlichten Ibni Abdullah aus ihrem Körper wieder herauszutreiben: “Ich brauchte ein sehr hartes Bett. Das Bett müßte mich so beschäftigen, daß ich nur an das Bett denke […]. Ich wollte Ibni Abdullah, der in mir ist, in Ohnmacht bringen. Ich aß nicht, ich trank nicht” (GZ 42–43). In Die Brücke vom Goldenen Horn kommt eine ähnliche erzählerische Figur vor: eine einsame Nacht in der Bahnhofsmission nach einem intensiven erotischen Erlebnis. Hier erinnert das Motiv der Verdoppelung auch an den früheren Text, und die Ähnlichkeiten fallen trotz der scheinbar unreligiösen Handlung auf. Der Roman handelt von einer jungen türkischen Frau, die Mitte der 1960er Jahre als Gastarbeiterin nach Berlin geht. Sie wird in den sich verschärfenden Studentenunruhen politisiert und kehrt 1967 nach Istanbul zurück, wo sie sich zur Schauspielerin ausbilden lässt und die viel ernsthaftere Gewalt miterleben muss, die der politischen Linken in der Türkei angetan wird. Ungefähr in der Mitte des Romans gibt es einen lyrischen Abschnitt, in dem die Protagonistin nach Paris fährt, wo sie sich in einen jungen Katalanen namens Jordi verliebt. Beide sprechen (bei ihren Unterhaltungen) nur wenige Worte gebrochenes Englisch, fühlen sich aber fast ungewollt und unwiderstehlich zueinander hingezogen. Wie schon Frank Krause festgestellt hat, spielt hier das Bild des Schattens bei der körperlichen Begegnung eine wichtige Rolle.17 Die Protagonistin nimmt zuerst Jordis Schatten wahr, der ihren eigenen Schatten teilweise überdeckt. Die Schatten der Bäume im Park der Cité Universitaire scheinen auch viel solider zu sein als bloße Lichterscheinungen: Ich lief zwischen die Schatten der Bäume, als ob ich diese Schatten nicht stören wollte. Die Erde zeigte mir meine Beinschatten, sie waren sehr dünn, sehr lang, dann lief ein anderer Beinschatten neben meinem her, ich schaute nur auf die Erde. Dann lief der andere Beinschatten durch meine Beine hindurch. Wir liefen und liefen.18 15
Ebd. S. 171. Vgl. Daniel W. Smith [wie Anm. 9]. S. xxx. 17 Frank Krause: Shadow Motifs in Emine Sevgi Özdamar’s Die Brücke vom Goldenen Horn. Debatte. 8.1 (2000). S. 71–81. 18 Emine Sevgi Özdamar: Die Brücke vom Goldenen Horn. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1998. S. 129. Im Folgenden: (BGH). 16
149 Ihre Schatten werden intim, noch ehe sie sich in die Augen gesehen haben, und als er ihr in die Mensa folgt und mit seinem Tablett in der Reihe neben ihr steht, drückt sich die Erregung in ihren Körpern zuerst im Zittern des Wassers in ihrem Glas aus: “Als ich mit meinem leeren Tablett vor der Kantinenfrau stand und zeigte, was ich essen wollte, stieß ein anderes Tablett an meins, und das Wasser im Glas auf meinem Tablett zitterte” (BGH 129). Diese Auslagerung des Verlangens hat meines Erachtens mehr als metonymische Bedeutung, vielmehr wird der Affekt vom individuellen Subjekt losgelöst und wirkt im Text fast unabhängig von persönlichen Wünschen weiter. Dies möchte ich mit dem Schattenmotiv in Verbindung bringen, da der Schatten für Deleuze eine dieser Randzonen des Körpers ist, die Zugang zu einer verkörperten Form der Erkenntnis bietet. Im Schatten kommt eine Art Bedeutung zu Tage, die im Sinne Spinozas auf der Ebene des Materiellen auftaucht, statt auf der Ebene des Diskurses.19 Krause hat das Schattenmotiv im Roman mit der Tradition des anatolischen Schattenspiels in Verbindung gebracht, das satirisch auf die vielen wechselseitig unverständlichen Dialekte Anatoliens hinweist.20 So deutet er den Schatten als Hinweis auf die Tatsache, dass die Liebhaber keine gemeinsame Sprache haben. Ich möchte den Schatten aber positiver auslegen, und zwar als eine andersartige Erkenntnis, etwas wie die affektive materielle Sprache, die Deleuze beschreibt, nicht nur als Kommunikationslücke. Diese vor-subjektive Erkenntnis, die sowohl mit der erotischen als auch mit der religiösen Erfahrung verbunden ist, sehe ich im Bild der Doppelgänger wieder. Sehr früh nach der Begegnung mit Jordi teilt sich die erzählende Protagonistin in ein beobachtendes und ein handelndes Selbst (BGH 130), und während eines Besuchs im Spiegelkabinett des Versailler Schlosses teilt sich auch Jordi in zwei Personen, so dass sie zu viert in Paris flanieren. An anderer Stelle findet eine Verschmelzung ihrer Körper statt, bei der das beobachtende Selbst die Liebhaber in seinem Bett “wie ein[en] einzige[n] Körper” (BGH 136) wahrnimmt. Ihre Körper schweben auch in einer surrealistischen Szene schwerelos, vom Feuer umgeben, im Raum und werden zugleich von oben und von unten betrachtet (BGH 136–137). Dies erinnert stark an die Liebeslieder in “Großvater Zunge”, in denen das Höllenfeuer des Korans vom Feuer der Leidenschaft ausgeglichen wird. Wie der Ibni Abdullah, der sich auch in seiner Abwesenheit im Körper der Protagonistin der früheren Erzählung aufhält, begleitet der zweite Jordi die Protagonistin des Romans, als sie mit dem Zug nach Berlin zurück fährt. Diese Beispiele der Verkörperung und Verdoppelung deuten meines Erachtens in zwei Richtungen: sie sind sehr wohl in einer Tradition des 19
Vgl. Gilles Deleuze: Spinoza and the three Ethics. In: Ders.: Essays Critical and Clinical [wie Anm. 9]. S. 138–151. Hier: S. 143–144. 20 Krause [wie Anm. 17]. S. 77.
150 anatolischen Sufismus und der osmanischen Poesie verwurzelt und sie deuten auf eine nicht mehr dualistische Denkart hin, die von der alternativen Aufklärung Spinozas bis hin zur Philosphie von Deleuze reicht. Dass diese Richtungen viel Gemeinsames verbindet, lässt sich anhand der Lektüre der osmanischen Poesie nachvollziehen. Victoria Rowe Holbrook hat ein spezifisch türkisches Verständnis der Einbildungskraft ermittelt, das sie der osmanischen Poetik zuschreibt: danach ist die Einbildungskraft nicht nur das Erzeugnis des Geistes, sondern sie vermittelt zwischen den abstrakten und materiellen Bereichen. Dabei verweilt sie im eigenen Bereich und wartet darauf, verwirklicht zu werden: Die Einbildungskraft ist ein Bereich der nicht körperlichen, sondern sinnlichen Erkenntnis […]; dieser Bereich wird als Teil des menschlichen Mikrokosmos verinnerlicht und als Teil des Kosmos vergegenständlicht. Die Denkgewohnheit, die einen Gesichtspunkt objektiviert, ihn gleichzeitig als Handlungsort, als das, was von dort aus gesehen wird, und als die Handlung des Beobachtens selbst betrachtet, ist noch nicht als grundsätzliche Eigenschaft des osmanischen Denkens wahrgenommen worden.21
Wenn man die Verlagerung der Blickwinkel in der vorhin zitierten Levitationsszene bedenkt, und angesichts des sehr ‘körperlichen’ Schreibstils Özdamars, scheint diese Denkgewohnheit in der türkisch-deutschen Literatur weiterzuleben. Dieses Verständnis der Einbildungkraft lässt sich durchaus auch mit dem Deleuz’schen Begriff des Virtuellen vereinbaren, das die noch nicht verwirklichten Möglichkeiten innerhalb des Realen umfasst, wofür die Kunst bzw. die Literatur mögliche Welten erschafft. Dies entspricht sehr wohl dem osmanischen Begriff der Originalität, die nach Holbrook als “keine Nachahmung der materiellen Wirklichkeit, sondern ein Mitwirken an der Erschaffung der materiellen Wirklichkeit” verstanden wurde.22
II. Gewalt und Terror in Feridun Zaimog˘ lus “Gottes Krieger” (2005) Ganz im Gegensatz zu Özdamars Heraufbeschwörung und Neubelebung einer poetischen Sprache, die aus der islamischen Kultur Anatoliens schöpft, wird in Zaimog˘lus Erzählungen Zwölf Gramm Glück vielmehr die Angst vor dem islamischen Fundamentalismus thematisiert. Der Band ist in zwei Teile unterteilt; die ersten sieben Erzählungen (mit dem Titel “Diesseits”) spielen in Deutschland, die letzten fünf (“Jenseits” betitelt) in der Türkei, was schon ironisch darauf hinweist, dass es um die Beziehung des Westens zum Islam geht. 21
Victoria Rowe Holbrook: Originality and Ottoman Poetics: In the Wilderness of the New. In: Journal of the American Oriental Society 112.3 (1992). S. 440–454. Hier: S. 453. Meine Übersetzung. 22 Ebd.
151 Die Erzählung “Gottes Krieger” besteht aus den Gedanken eines jungen Islamisten türkischer Herkunft, der in die Türkei zurückkehrt, nachdem er in einer islamistischen Geheimorganisation in Deutschland zum künftigen Selbstmordattentäter ausgebildet wurde. Seine Gedanken werden durch die erinnerte, kursiv gedruckte Polemik des islamischen Predigers unterbrochen, die in die ideologische Ausbildung des “Heers Gottes” Einsicht gewährt. Zunächst ist unklar, ob er dem plötzlich verschwundenen Prediger noch anhängt oder ob er wegen eines den Prediger betreffenden Sexskandals ganz ernüchtert weggegangen ist. Das Interessante an der Geschichte ist die unvollständige Zurückweisung der islamistischen Denkart seitens des Erzählers, auch nachdem er mit der Organisation nichts mehr zu tun haben will. Da die Geschichte in einem Ferienort an der Küste spielt, der aber weit entfernt von den türkischen Metropolen liegt, gewährt sie auch Einsicht in die komplexe politische Beschaffenheit des Islam in der Türkei. Der junge Mann empört sich über die sexuelle Zügellosigkeit, die ihn in dem türkischen Seebad umgibt. Er geht aber gleichzeitig eine diskrete Liebesbeziehung mit seiner Vermieterin, einer älteren und geschiedenen “Witwe”, ein. Als er mit der “Witwe” eine Hochzeitsfeier auf dem Land miterlebt, wird er von seiner Begierde nach ihr genau dann überwältigt, als sie einem immer wilder und schneller werdenden Volkstanz beiwohnen. Es verschmelzen sich wieder sexuelles Verlangen und religiöse Inbrunst: Die Männerkette schließt sohlenklatschend einen perfekten Kreis und tanzt immer schneller, immer wilder, ich atme aus dem offenen Mund, ich kann an nichts anderes denken als an die Frau an meiner Seite, die mich begehrt und die ich begehre, ich sehe die Krieger, und ich bin glücklich: glücklich darüber, daß diese wehrtüchtigen Männer sich jedem Barbarenheer in den Weg stellen werden, daß sie zurückschlagen, bis der Feind Blut und Galle kotzt. Ein Gott. Ein Gottesheer.23
Die kursiv gedruckten Passagen in Zaimog˘lus Geschichte verdeutlichen, inwieweit das Denken des Erzählers noch vom Diskurs seines früheren Lehrers geprägt ist, der auf dem Gegensatz zwischen den “Fleischmaschinen” und den “Gottesmaschinen” bestanden hatte, und über den Kampf gegen den “WestAmerikanische[n] Judasstaat” (139) und gegen “Byzanz-Babylon-Europa” (131) getobt hatte: “Ich habe euch die Seifenoper-Liebe herausgeprügelt: jetzt ist die Rache eure Religion. An die umpanzerten Herzen der Soldaten Gottes greift der Imperialist vergeblich. […] Ihr wart gierige Kreaturen, und ich habe euch das Blutwasser verkochen lassen und zu Gottes Kriegsgerät verwandelt” (148–149). Der Erzähler fühlt sich anfangs den “Soldaten Gottes” immer noch zugehörig, und macht sich um “die kopflose Gemeinde” Sorgen, seitdem der 23
Feridun Zaimog˘ lu: Gottes Krieger. In: Zaimog˘lu: Zwölf Gramm Glück. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2005. S. 122–156. Weitere Seitenangaben im Text.
152 Hetzprediger verschwunden ist (150). Deshalb kann er nicht umhin – auch nachdem er sich den Bart abrasiert hat und angefangen hat, sich Klatschsendungen im Fernsehen anzuschauen – die Macht des globalen Kapitalismus zu hassen, der die Armen mit falschen, unerfüllbaren Wünschen betrügt. Er kann den antikapitalistischen Kampf schwer aufgeben: “Mir ergeht es wie allen Abtrünnigen: Ich bin müde, die Ruhe eines bloßen Zivilisten bekommt mir nicht” (144). Er versucht zaghaft, seiner Geliebten sein vergangenes Leben zu erklären; die Liebe zum Prediger, sogar den Glauben, dass die Selbstaufopferung ihn näher zu Gott bringen würde: “Ich bin kein Mörder”, erklärt er, “ich war ein präparierter Sprengkörper. Ich glaube immer noch, daß die Judaslämmer den Erlöser nicht loswerden, Gottes Sturz haben sie umsonst gefeiert” (150). Sein Glauben bleibt ungeschwächt, sogar die Beweggründe des Selbstmordattentäters verteidigt er immer noch. Der nachdrücklich unpersönliche Diskurs des Maschinellen (“präparierter Sprengkörper”) mag einerseits als Versuch gelten, die Verantwortung für vermutlich terroristische Taten abzuwälzen. Anders gesehen eröffnet der Verzicht auf den Individualismus eine andere Deutungsmöglichkeit, die sich mit psychologischem Realismus nicht begnügt.24 Bei Deleuze und Guattari stellt die Denkfigur der Maschine ein reines Werden dar. Im Gegensatz zum organischen menschlichen Leben, das feste Züge trägt, wandelt sich die Maschine andauernd, indem sie sich an andere Maschinen anknüpft. Die Kriegsmaschine ist eine Energiequelle, die der Starrheit des Staatsapparats Widerstand entgegen setzt. Erst wenn sie vom Staatsapparat in Besitz genommen und als Militär institutionalisiert wird, mündet sie in den Krieg selbst. Gegen die Zerstörung des Krieges setzen Deleuze und Guattari die Wandlungsfähigkeit der Kriegsmaschine ein.25 Im Sinne Deleuzes und Guattaris könnte man Zaimog˘lus Erzähler als losgelösten Teil der Kriegsmaschine sehen, der im Dienst eines totalitären Apparats dem Massentod nicht mehr verpflichtet ist, sondern als Fluchtlinie eine neue Richtung einschlägt. Insofern ist die Erzählung von der gleichen Zweideutigkeit gekennzeichnet, wie für Deleuze und Guattari die großen Religionen wie der Islam selbst. Die Religion kann sowohl im Dienst des Staatsapparates fungieren als auch (als Kriegsmaschine) die Macht des Staates
24
Ich stimme Tom Cheesmans Auslegung des Textes z.B. nicht zu, die dem Erzähler am Ende der Erzählung einen gemäßigten, pragmatischen Glauben zuschreibt. Vgl. Cheesman: Novels of Turkish German Settlement [wie Anm. 2]. S.79. 25 “Mutations spring from this machine, which in no way has war as its object, but rather the emission of quanta of deterritorialization, the passage of mutant flows (in this sense, every creation is brought about by a war machine)”. Gilles Deleuze und Félix Guattari: A Thousand Plateaus: Capitalism and Schizophrenia. London – New York: Continuum 2004. S. 253.
153 bedrohen;26 man denke nur an die heutige Türkei, wo die regierende religiöse Partei immer größere Herausforderungen an die laizistische, nationalistische Staatsideologie stellt. Diese Spannung zwischen der totalitären Macht der Religion und deren deterritorialisierender Kraft kommt meines Erachtens gegen Ende der Erzählung zum Vorschein. Einerseits befestigt der Diskurs des Predigers die kollektive Identität der “Gottes Krieger”, andererseits erlebt der Erzähler seinen Glauben als sinnlichen Rausch, der die subjektiven Grenzen auflöst und neue Energie freisetzt. Gegen Ende der Erzählung wird der Erzähler zu einem seiner früheren “Brüder” gerufen, der den Inbegriff des asketischen Guerillakämpfers darstellt, “gestählt, wachsam, angriffsbereit” (154). Dieser junge Mann weigert sich, auf seinen “Heidennamen” Karl zu antworten, und führt einen eigenen, sehr persönlichen Krieg gegen den Westen. Seine Mutter hat einen Amerikaner in zweiter Ehe geheiratet und ein Kind von ihm bekommen. Karl hegt einen leidenschaftlichen Hass auf die USA und sieht seine Familie als verunreinigt und verdorben an: “Jedesmal wenn der Meister von der Mulattenrepublik sprach, bin ich zusammengezuckt” (155). Er verkündigt, dass es unmöglich sei, in der Türkei Gott richtig zu verehren, da die “Judaslamm-Demokraten” das Land ins Elend gestürzt hätten. Das heißt, er hasst die Demokratische Partei wegen ihrer Nähe zu den USA und ihres Modernisierungsdrangs.27 Karl beschuldigt den Erzähler, ein Verräter zu sein, was dieser zurückweist; er sei immer noch gläubig, bloß kein “Herrengläubiger” mehr. Er verlässt das Haus mit den Worten des Propheten (nicht denen des Predigers) im Kopf, und tritt möglicherweise vor ein Fahrzeug. So ist er kein Selbstmordattentäter mehr, aber vielleicht ein Selbstmörder. Er ist zwar kein fremdgesteuertes “Kriegsgerät” Gottes (149), seine Selbstauslöschung mag aber vielleicht als Fluchtlinie im Sinne Deleuzes betrachtet werden. Für Deleuze und Guattari kann eine Fluchtlinie sowohl weitere maschinelle Verbindungen erzeugen und daraus neue Kraft schöpfen als auch in Vernichtung und leidenschaftlichem Töten enden, das heißt, entweder dynamische oder zerstörerische Qualitäten haben: “Wie die Kleistsche Fluchtlinie und dessen seltsamer Krieg; wie Selbstmord, doppelter Selbstmord, ein Ausweg, der die Fluchtlinie in eine Todeslinie verwandelt”.28 Die letzten Gedanken des Erzählers kreisen um die “dünne Scheidewand” (156), die
26
“When religion sets itself up as a war machine, it mobilizes and liberates a formidable charge of nomadism or absolute deterritorialization; […] it turns its dream of an abolute State back against the State-form. And this turning-against is no less a part of the ‘essence’ of religion than that dream”. Deleuze/Guattari [wie Anm. 25]. S. 423. 27 Obwohl man hierbei bedenken muss, dass die Entwicklung der Demokratie in der Türkei seit den 1950er Jahren den politischen Islam neu belebt und gefördert hat. 28 Deleuze/Guattari [wie Anm. 25]. S. 253.
154 Himmel und Erde, Seele und Materie trennt. Er tritt mit schlafwandlerischer Sicherheit vor den Straßenverkehr und scheint der Todesgefahr gleichgültig zu sein. Einmal von der zerstörerischen Identität des Terroristen losgelöst, steuert er den Tod nicht als Ende, sondern als radikalen neuen Anfang an.
III. Schluss In den hier betrachteten Texten kommt die islamische Kultur auf neuen Wegen in die deutschsprachige Literatur. Bei Özdamar begegnen wir dem Islam als kulturellem Erbe und poetischer Tradition, in der die Religion und die Erotik ineinander übergehen und schöpferische Kräfte freisetzen. Ich habe versucht zu zeigen, dass ihre Texte gleichzeitig in zwei Richtungen weisen: sowohl zurück in die Mystik des anatolischen Sufismus als auch vorwärts in eine europäische Zukunft, in der bekannte Identitäten in ein ständiges Werden geraten. Bei Zaimog˘ lu wird ein inzwischen allzu bekanntes Feindbild (des islamistischen Selbstmordattentäters) von innen heraus beleuchtet und dessen Identität als Erzeugnis des hasserfüllten Diskurses des Predigers enthüllt. Dessen Herrschaft ist aber nicht unumgänglich, wie der Erzähler langsam versteht; der Kampf findet nicht zwischen dem Islam und dem Westen statt, sondern zwischen der totalisierenden Polemik des Priesters und den befreienden Worten des Propheten, innerhalb der Religion selbst. Wie auch bei anderen neueren Texten Zaimog˘lus eröffnet diese Geschichte die Möglichkeit einer schöpferischen Kraft des Spirituellen, die sich vom bekannten Bild des islamistischen Terroristen befreit. In beiden Beispielen habe ich versucht, einen Ansatz vorzuschlagen, der den Islam nicht bloß als homogenen und ursprünglichen Ausgangspunkt der Texte betrachtet, sondern ihn auch als schöpferische Quelle einer neuen Energie wahrnimmt, die die alten religiösen, nationalen und ethnischen Identitäten in Bewegung bringt. In Zaimog˘lus Erzählung wird diese Wandlungsfähigkeit in der Figur des Selbsmordattentäters zugespitzt, der sich von den reterritorialisierenden Machtstrukturen der Religion zwar befreit, dessen Glaube sich aber als unbezähmbare, selbstauslöschende Kraft erweist. Die Materialisierung der Gefühle, die Freisetzung des Affekts von der persönlichen Erfahrung und der Aufbruch neuer Fluchtlinien tragen sämtlich zur gestaltenden und umgestaltenden Phantasiearbeit dieser Texte bei. Nach der Literaturauffassung von Deleuze stellt die Literatur nicht nur die Wirklichkeit dar, sondern sie durchquert erfahrene und erfahrbare Welten, sie eröffnet die virtuellen Möglichkeiten im Realen; oder – um ein letztes Mal auf die osmanische Poetik zurück zu kommen – die “kleine Literatur” ist “ein Mitwirken an der Erschaffung der materiellen Wirklichkeit”.29
29
Rowe Holbrook [wie Anm. 21]. S. 435.
Jim Jordan
Orientalismus, umgepolt? Zum Gebrauch des Exotismus und des Fantastischen in Werken der Diaspora-Literatur A noted feature of many works of German-language diasporic literature is the use of the exotic, the fantastic, of myth and fable. Such elements tend to be viewed as part of a process of intercultural encounter, in which authors present ‘their’ culture, often using traditional narrative modes, in order to raise awareness of their migration backgrounds amongst German readers. This essay demonstrates that the use made of these elements is more differentiated and strategic than has hitherto generally been acknowledged, ranging from the de-exoticisation of the ‘other’ through encoded social criticism to the deliberate undermining of Orientalist attitudes through an ironic play with Orientalist expectations of migrant literature.
Beurteilt man die von Migranten und Postmigranten in deutscher Sprache veröffentlichten Bücher von ihren Umschlägen her, handelt es sich offensichtlich um eine ausgesprochen fantastische und exotische Literatur. Wüstenszenen, Palmen, Kamele, schwungvolle arabische Schrift und viele andere exotische Ikonen zieren diese Werke und verführen den Leser zur Erwartung eines durchaus orientalisch-exotischen Leseerlebnisses. Und vieles davon wird tatsächlich von den Texten bestätigt: Orientalische Handlungsräume, fremde Sitten, märchenhafte Erzählstile, sogar Märchen sind oft darin vertreten. Insoweit scheinen diese Autoren jedes Klischee des Orientalismus zu bedienen und dadurch die Vorurteile ihrer deutschen Leserschaft zu bestätigen oder sogar zu vertiefen. Wenn wir aber voraussetzen, dass dies nicht das eigentliche Ziel dieser Autoren ist, dass sie eine bestimmte Aufklärung sowohl des Wissensstands der deutschen Leser über ihre Herkunftsländer als auch ihrer Auffassung der Beziehungen zwischen Deutschen und Migranten bzw. Deutschen sozusagen ‘mit Migrationshintergrund’ anstreben, gibt es dann also Anzeichen in diesen Texten dafür, dass nicht einfach eine schlichte Festigung von Vorurteilen von diesen Autoren beabsichtigt oder erzielt wird? Im Folgenden befasse ich mich mit Werken von Autoren, die eher zum exotischen Ende der Publikationsskala zählen. Verglichen mit Schriftstellern wie Emine Sevgi Özdamar oder Feridun Zaimog˘ lu haben sie relativ wenig kritisches Interesse erregt. Jedoch werden Galsan Tschinag, Jusuf Naoum, Salim Alafenisch und vor allem Rafik Schami von einem breiten Publikum gelesen. Mein Anliegen ist nicht, sie zu rehabilitieren, oder ihre literarischen Qualitäten zu übertreiben. Ich möchte aber zeigen, dass ihre Werke nicht nur Elemente der politischen und gesellschaftlichen Kritik enthalten, was im Wesentlichen schon bewiesen worden ist, sondern eher, dass diese Kritik durch spezifische literarische
156 Strategien geltend gemacht wird. Diese Strategien machen Gebrauch vom Exotischen – sogar vom Exotismus – und vom Fantastischen. Dass die literarische Verkörperung dieser Begriffe nicht unproblematisch ist, möchte ich durch einen Umweg über zwei andere Autoren der Diaspora-Literatur zeigen. Wohl das bekannteste Werk der deutschsprachigen Diaspora-Literatur ist Emine Sevgi Özdamars Das Leben ist eine Karawanserei.1 Auszüge und Entwürfe dieses Romans genügten im Jahre 1991 zur Verleihung des IngeborgBachmann-Preises, und der Roman ging rasch von der gebundenen zu einer Taschenbuch-Ausgabe über. Nicht weniger beeindruckend ist die Vielzahl von kritischen Essays, Magister- und Doktorarbeiten, die ihn zum Gegenstand genommen haben. Der Roman ist zwar kein populärer Erfolg, wird aber in intellektuellen und ausländerfreundlichen Kreisen sowie im Ausland gekauft (und zum großen Teil wohl gelesen). Die Beliebtheit des Werkes lässt sich leicht aus vielen Faktoren erklären: der Vielfalt der Erfindung; dem Humor und der Menschlichkeit der Darstellungen; der durchaus originellen Umsetzung gewisser türkischer Vokabeln und Idiome ins Deutsche bei gleichzeitiger Verweigerung, andere Ausdrücke und Wörter zu übersetzen. Der Roman schmolz sogar das Herz des Kritikers Norbert Mecklenburg, der ohne weiteres die Werke von Feridun Zaimog˘ lu, Selim Özdogan und Wladimir Kaminer als “humoristische Billigprodukte” abgetan hatte. Ebenso pauschal feierte er Özdamar als die “mit Recht bekannteste Stimme der deutschen Migrantenliteratur”.2 Das “literarische Ereignis” von Das Leben ist eine Karawanserei (wie es damals in der Süddeutschen Zeitung hieß) ließ einen weiteren Autor der Diaspora-Literatur, Zafer S¸enocak, kalt. In einem Gedichtessay, den er zwei Jahre später veröffentlichte, setzte er sich mit dem Roman und seiner Autorin auseinander: sie nähre die Neigung Deutscher, ihre Obsession mit dem Exotischen des Orients weiter zu pflegen, ohne sie mit ihren rassistischen Einstellungen und Diskriminierungen auf tagtäglichem, praktischem Niveau zu konfrontieren. Es gebe einen Konflikt zwischen einem Aufruf zu einem rationalen Verständnis von rassistischen orientalistischen Haltungen und einer Ausbeutung der Exotik zwecks literarischen Erfolgs. S¸enocak fasste dies zusammen in der prägnanten Formulierung: “verstehen ist anders / aber 1
Emine Sevgi Özdamar: Das Leben ist eine Karawanserei, hat zwei Türen, aus einer kam ich rein, aus der anderen ging ich raus. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1992. 2 Norbert Mecklenburg: Eingrenzung, Ausgrenzung, Grenzüberschreitung. Grundprobleme deutscher Literatur von Minderheiten. In: Die andere deutsche Literatur. Istanbuler Vorträge. Hg. von Manfred Durzak und Nilüfer Kuruyazıcı. Würzburg: Königshausen & Neumann 2004. S. 23–30. Hier: S. 27.
157 rauschen ist schöner”.3 Er lehnte den Roman als sowohl anscheinend antirational als auch marktorientiert ab. Der Roman hat sich aber nicht nur in kommerzieller Hinsicht, sondern auch unter Literaturwissenschaftlern und Kritikern bewährt. Zwar findet die Handlung in der ‘exotischen’ Türkei statt, aber Özdamar schildert unter anderem die Armut einer um ihre Existenz kämpfenden Familie, die Diskriminierung innerhalb der Türkei und die Modernisierungsversuche sowiegegensätze des Landes in den 1950er und 1960er Jahren. Die frappierende Bildhaftigkeit der Sprache und der ungewöhnliche (und oft ungrammatikalische) Satzbau haben sich inzwischen als interkulturelle Strategie erwiesen: Sie fordern vom Leser eine aktive Mitarbeit, um den Inhalt zu erschließen, und schaffen damit einen neuen Begegnungsraum für Autorin und Leser, wo die fremde Kultur nicht einfach aufgetischt wird. Die kritische Auseinandersetzung mit dem Roman, die seit der Veröffentlichung dieses Gedichts stattgefunden hat, hat also S¸enocaks ursprüngliche Einstellung als ein seltenes Fehlurteil von einem der einfühlsamsten und scharfsinnigsten Beobachter von Deutschlands multikultureller Entwicklung erwiesen. Es ist aber ein interessanter Fall, der meines Erachtens ein intellektuelles Unbehagen am Gebrauch des Exotischen und des Fantastischen in der Literatur offenbart; ein Unbehagen, das auf der Annahme basiert, dass ihre scheinbare Irrationalität diesen Werken keine kritische Aussagekraft gestattet. Dem Exotischen wird misstraut, es wird verdächtigt das Weiterleben von veralterten Einstellungen zum Osten (wo das auch liegen mag!) zu ermutigen. Der Gebrauch von Märchen, Legende und Mythos scheinen solche Werke für die Wissenschaft fragwürdig zu machen, da sie oft für Kinder geschrieben sind, oder eine Gratwanderung zwischen Erwachsenenund Juniorenliteratur machen. Und wenn ein Autor der Migrantenliteratur sich der Exotik bedient, hat das nicht den Hauch einer Onkel-Tom-Literatur, die sich nach den Vorurteilen und Vorstellungen der (westlichen) Mehrheitsleser richtet, und damit diese noch fester vertieft? Dieses Misstrauen kann jedoch fehl am Platz sein, besonders dann, wenn es um eine littérature mineure geht, die kämpfen muss, ihre Überlebensfähigkeit und Integrität in einem zunehmend kommerziellen literarischen Marktplatz zu bewahren. Der Gebrauch von unbekannten und exotischen Schauplätzen und Figuren und das Verflechten des Fantastischen, von Mythos und von Fabel in scheinbar realistische Handlungen tragen auf diverse Weise dazu bei, das Nachdenken beim Leser und eine gewisse Gleichheit zwischen Autor und
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Zafer S¸enocak: Das Leben ist eine Karawanserei. Ein Gedichtessay. In: S¸enocak: War Hitler Araber? IrreFührungen an den Rand Europas. Berlin: Babel 2004. S. 55–58. Hier: S. 55.
158 Leser zu fördern. Das Exotische und das Fantastische können schon auf verschiedene Weisen gebraucht werden, nämlich um einen Raum zu schaffen, wo komplexe und potenziell heikle Probleme untersucht werden, wo Handlungen in unbekannte und beunruhigende Kontexte verlagert, und herkömmliche Denkweisen und Machtverhältnisse in Frage gestellt werden. Im Folgenden wird untersucht, wie und in wie weit dieses Potenzial an Aufklärung und politischem Widerstand sich in der deutschsprachigen Diaspora-Literatur niederschlägt. Es werden drei Strategien untersucht, jeweils im Kontext von exemplarischen Texten. Die erste Strategie könnte man als ‘kulturelle Vermittlungsarbeit’ beschreiben, wo der Autor versucht, die Fremdheit zwischen Autor und Leser abzubauen (Galsan Tschinag, Dojnaa).4 Die zweite Strategie verlagert eine für ein deutsches Publikum intendierte Gesellschaftskritik an fremde und exotische Handlungsplätze, um die Kritik verdaulicher zu machen (Jusuf Naoum, Die Kaffeehausgeschichten des Abu el Abed und Salim Alafenisch, Das Kamel mit dem Nasenring).5 Die letzte und komplexeste verlässt sich auf orientalistische Einstellungen und Tendenzen des Lesers, um gezielt mit den Mitteln des Orientalismus diesem entgegenzuwirken (Rafik Schami, Die Sehnsucht der Schwalbe).6 Die erste literarische Strategie beruht, wie gesagt, auf dem Gebrauch des Exotischen. Wir haben es hier mit keiner objektiven Kategorie zu tun, sondern mit einer bestimmten Betrachtungsweise. Das heißt, dass die Exotik nicht ausschließlich auf immanente Weise in dem beobachteten Gegenstand beruht: Sie ist eher ein Produkt eines ästhetischen Verhältnisses zwischen dem Beobachter und dem Gegenstand der Beobachtung. Dieses Verhältnis produziert das Andere, z.B. in der Reiseliteratur, wo normale gesellschaftliche Prozesse und Praktiken fremder Gesellschaften fremd werden im Blick des (westlichen) Beobachters. Die Andersartigkeit dieser exotischen Phänomene ist für den Leser zwar faszinierend, aber zugleich meist auch westlichen Gesellschaftsnormen unterlegen. Die Exotik dient in diesem Fall also als Mittel, westliche Überlegenheit zu bestätigen und, in direkter Wechselwirkung damit, dem ExotischOrientalischen jedwede Legitimität abzusprechen. Es ist aber möglich, im Rahmen des Exotismus zu arbeiten, jedoch dessen negativen Zielen und Auswirkungen entgegenzuwirken. Als Beispiel nehme ich den Roman Dojnaa von Galsan Tschinag, veröffentlicht im Jahre 2001. Geboren als Nomade in der mongolischen Altai-Steppe, kam Tschinag von 1962 bis 1968 als DAAD-Stipendiat und Student der Germanistik nach 4
Galsan Tschinag: Dojnaa. München: A1 2001. Jusuf Naoum: Die Kaffeehausgeschichten des Abu al Abed. Frankfurt/M.: Brandes & Apsel 1987. Seitenangaben im Text. Salim Alafenisch: Das Kamel mit dem Nasenring. Zürich: Unionsverlag 1990. 6 Rafik Schami: Die Sehnsucht der Schwalbe. München – Wien: Carl Hanser 2000. 5
159 Deutschland. In seinen Werken beschreibt er den Alltag der mongolischen Nomaden in einer sich schnell verändernden Welt. Seine Romane und Geschichten stellen den gefürchteten Mongolen als Einzelnen dar, der seine Traditionen und Lebensgewohnheiten in der modernen Welt behalten will. Die am meisten gefürchteten Züge dieses Menschenschlags werden anders kontextualisiert und formuliert. Die Zentralität der Jagd, die Gewalt und die ständige Gefahr von Tod und Verletzung basieren auf einer Nähe zum Lande und einem engen Verhältnis zu Tieren, nicht nur als Objekten des Jagdtriebes oder als Nahrung, sondern als Mitstreitern in der Natur. Die Gewalt wird also zum notwendigen Teil des Erneuerungszyklus der Natur – eine Art von “stirb und werde” – und zum Teil eines ehrbaren Wettbewerbs zwischen verschiedenen Spezies. Der Reiz des Romans besteht für den deutschen Leser natürlich in der exotischen Andersartigkeit des Lebensstiles der Nomaden; doch der Ausgang ist ein tieferes Verständnis für und eine Akzeptanz von Differenz. Die weibliche Hauptfigur Dojnaa handelt aus Sorge um ihre Kinder und Respekt für familiäre Traditionen und Strukturen des Stammes. Obwohl stark gebaut, wird sie zum Opfer der Gewalttätigkeit und der groben Beschimpfungen ihres viel kleineren Mannes, der versucht, seine Mängel an Männlichkeit und Statur durch Gewalt gegen Frauen zu kompensieren. Ein notwendiger Teil dieses Mechanismus ist Dojnaas tiefe zuverlässige Treue zu den patriarchalischen Strukturen des Stammes. Soweit ist der Roman völlig im Rahmen westlicher Erwartungen an die Exotik. Aber Dojnaa bricht mit diesen Erwartungen, indem sie ihren Mann verlässt und ein unabhängiges Leben gründet, das es ihr ermöglicht, die Zukunft ihrer Kinder zu sichern und trotzdem im Wesentlichen den herkömmlichen Strukturen des Stammes treu zu bleiben. Im Grunde genommen erreicht sie eine Art Synthese zwischen den Traditionen des Stammes und der Erkenntnis, dass Gewalt und die Unterdrückung der Frau nicht mehr vertretbar sind. Das Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne, besonders wo es um die Rolle der Frau geht, ist westlichen Lesern ein vertrautes Thema. Vergessen werden die Exotik der Mongolei, die kulturellen Unterschiede zu Deutschland: An ihren Platz tritt stattdessen ein empathisches Verständnis für und von Dojnaas Dilemma, und ein Respekt für ihre Versuche, der Tradition und den Erwartungen ihrer Gesellschaft und ihrer Kinder treu zu bleiben. Die simultane Betonung von Ähnlichkeit und Differenz ist nur scheinbar widersprüchlich. Am Ende des Romans kann der Leser darüber reflektieren, wie das Exotische vertraut geworden ist, und über die Idee, dass kulturelle Unterschiede, so tief sie zu sein scheinen, doch fundamentale menschliche Ähnlichkeiten verbergen können. Diese Strategie wird oft von Autoren der Diaspora-Literatur benutzt, die in ihren Werken das Exotische betonen. Sie hat eine aufklärerische, sogar pädagogische Funktion, die aus den Erfahrungen der
160 Autoren von Ablehnung und Entfremdung in der deutschen Gesellschaft entsteht. Ihre Hoffnung ist, dass die Leser im Kontakt mit Personen anderer kultureller Hintergründe deren Andersartigkeit akzeptieren und den Menschen erkennen werden. Der Versuch, das Exotische vertraut zu machen, bringt selbstverständlich gewisse Gefahren mit sich. Bei allen ehrlichen Versuchen, das Fremde vertraut zu machen, bleibt es immer noch fremd, und eine Verbindung zwischen Lebenserfahrungen und -kämpfen im Aus- und Inland garantiert keine unbedingte Akzeptanz von Ausländern hier. Außerdem bleibt das Fremde immer noch Gegenstand des westlichen Blickes, sei das auch durch Tschinags Brille gesehen. Die Exotik wird natürlich in vielen Bereichen gebraucht und missbraucht, z. B. in der Werbung und im Vertrieb. Es gibt also die Gefahr, dass der Appetit auf die Exotik einfach angeregt wird, ohne notwendigerweise einen kritischen Gewinn zu erzielen. Auf diese Weise könnten Autoren direkt in die Hände des globalen Konsumkapitalismus spielen, der ständig auf der Suche nach neuen vermarktbaren Exotik-Produkten ist. In dem Fall wäre der “strategische Exotismus” solcher Werke bloß ein weiteres Symptom der postkolonialen Exotik statt Teil einer Strategie des Widerstandes.7 Man könnte Werke wie die von Galsan Tschinag als eine Art kulturelle Vermittlungsarbeit beschreiben, die darauf zielt, die kulturelle Distanz zwischen Deutschen und Migranten zu vermindern. Andere Autoren befassen sich mit politischer und gesellschaftlicher Kritik in Deutschland und anderswo. Ihre Werke unterscheiden sich von der Literatur der Betroffenheit der späten 1970er und der 1980er Jahre insofern, dass der Leser nicht einfach mit dieser Kritik als Anklage konfrontiert wird, sondern zuerst in eine fantastische Welt eingeladen wird. Die Kritik wird auch indirekt geäußert und appetitlich präsentiert, in der Hoffnung, dass der Leser im Nachhinein darüber reflektieren wird. Bevor wir zur Analyse eines Beispiels dieser zweiten Strategie kommen, möchte ich präzisieren, wie ich das Fantastische hier benutzen werde. Ich gehe hier nicht von Definitionen wie der von Tzvetan Todorov aus, die versucht, im Rahmen des Strukturalismus klare Grenzen für eine bestimmte literarische Gattung zu ziehen.8 Ich knüpfe stattdessen hier an allgemeinere Definitionen des Fantastischen an, wie z. B. bei Rosemary Jackson oder Neil Cornwell, wo der Leseprozess betont wird, und das Fantastische auch den Gebrauch 7
“ ‘Strategic exoticism’ is an option […] but […] it is not necessarily a way out of the dilemma. Indeed, the self-conscious use of exoticist techniques and modalities of cultural representation might be considered less as a response to the phenomenon of the postcolonial exotic than as a further symptom of it”. Graham Huggan: The postcolonial exotic: marketing the margins. London – New York: Routledge 2001. S. 32–33. 8 Vgl. Tzvetan Todorov: The fantastic: a structural approach to a literary genre. Ithaca (NY): Cornell University Press 1975.
161 des Außerordentlichen und Märchenhaften zu humoristischen und Unterhaltungszwecken einschließt.9 Wie Donna Kinerney in ihrer Diskussion des “psychopolitischen” Inhalts von Rafik Schamis Werken bemerkt, unterscheidet sich “fantasy” von “illusion”, da fantastische Werke nicht unbedingt auf ein “happy end” hinauslaufen. Solche Werke sind also “rebellious and revolutionary” und politisch in dem Sinne, den Deleuze und Guattari von einer littérature mineure erwarten.10 In diesem Sinne sind Jusuf Naoums Kaffeehausgeschichten des Abu al Abed zu verstehen. Naoum spielte eine bedeutende Rolle in den ersten Wellen der Gastarbeiterliteratur und der Literatur der Betroffenheit, sowohl als Schriftsteller als auch Mitherausgeber von Anthologien. Die Kaffeehausgeschichten beginnen mit Erzählungen über die wundersamen Heldentaten Abu al Abeds, der zu einer Art libanesischem Münchhausen aufgebaut wird. Der Rhythmus des Erzählens entsteht zum Teil aus der Routine des Kaffeehauserzählers (Abu al Abed kommt jeden Abend pünktlich um 9 Uhr ins Kaffeehaus, nippt an seinem Tee und fragt seine Zuhörer, was er am vorigen Abend erzählt habe), aber auch aus dem Ausbruch aus banalen Anfängen ins Fantastische sowie aus dem Auftritt von Figuren aus Märchen und Fabeln. Gegen Mitte der Sammlung wird aber eine neue Erzählstrategie eingeführt. Alle bisherigen Erzählungen fanden entweder irgendwo im mittleren Osten statt, oder in einem unpräzisierten fantastischen Raum. Jetzt wird die Handlung nach Berlin verlagert. Abu al Abed erzählt, dass er dort als Tierarzt für wohlhabende Kunden reich wurde, und fädelt nebenbei die Figur von Sindbad ein, der mit seinem fliegenden Teppich eine Notlandung im Wannsee machen muss. Mit seinem Esel geht Sindbad in die Stadt, wo er zum ersten Mal Ablehnung gegenüber Fremden erlebt. Doch wird er von einem türkischen Gastarbeiter befreundet, der seine Unterkunft mit ihm teilt. Er findet keine Arbeit in der Fabrik, wo sein neuer türkischer Freund arbeitet, und geht stattdessen zum (in den Worten Abu al Abeds) “Sklavenhändler”, der Hilfsarbeiter für Großunternehmen illegal organisiert. Mit unmöglichen Arbeitsbedingungen konfrontiert, wird Sindbad entlassen und seine Bezahlung wird beschlagnahmt, also beschließt er, eine Arbeitserlaubnis für sich und einen Impfpass für seinen Esel zu bekommen. Abu al Abed begleitet Sindbad zur Ausländerbehörde, aber das Unverständnis und der 9
Neil Cornwell: The literary fantastic: from Gothic to postmodernism. New York: Harvester Wheatsheaf 1990. Rosemary Jackson: Fantasy: the literature of subversion. London und New York: Routledge 1981. 10 Donna Kinerney: The stories of Rafik Schami as reflections of his psychopolitical program. In: The German mosaic. Cultural and linguistic diversity in society. Hg. von Carol Aisha Blackshire-Belay. Westport (CT): Greenwood 1994 (Contributions in Ethnic Studies 33). S. 225–239. Hier: S. 228.
162 Unglaube der Beamten führen zur Ablehnung seines Antrags um eine Arbeitserlaubnis. Abu al Abeds lakonische Bemerkung dazu: “Wieder war Sindbad gezwungen, schwarz zu arbeiten” (74). Schließlich holt er seinen fliegenden Teppich vom Müllhaufen und fliegt in großer Erleichterung nach Bagdad zurück. Was die gesellschaftliche Kritik betrifft, ist diese Erzählung ein verhältnismäßig normales Beispiel der Gastarbeiterliteratur: die negativen Erfahrungen des ‘Gastarbeiters’ stehen im Mittelpunkt, die Diskriminierung und Gefühllosigkeit der deutschen Behörden werden betont usw. Doch erscheint die Geschichte nach einer Reihe von fantastischeren Geschichten. Obwohl der Übergang ins quasi-Realistische eine Überraschung ist, passt die Geschichte mit ihrer märchenhaften Dimension trotzdem nahtlos in die Serie von fantastischen Erzählungen hinein. Obwohl die Realität des Migrantenlebens in Deutschland im Vordergrund steht, wird durch den Unterhaltungswert der Erzählung die Kritik einigermaßen schmackhaft gemacht. Der Leser wird auch daran erinnert, dass der Autor Gastarbeiter ist und – während die Exotik einen Verbindungspunkt zwischen der arabischen und der deutschen Kultur bildet – daran, dass es immer noch eine Kluft in den Machtverhältnissen zwischen den beiden gibt, die überwunden werden muss. Auf diese Weise zwingt Naoum den Leser, die Faszination des Exotischen und des Fantastischen mit der Realität der Behandlung von Ausländern in Deutschland zu verbinden – eigentlich offenbart er die gespaltene Denkart des Orientalismus im Sinne Zafer S¸enocaks in dessen Aufsätzen.11 Eine ähnliche Strategie der Verlagerung der Kritik ins Fantastische können wir in Salim Alafenischs Sammlung Das Kamel mit dem Nasenring (1990) erkennen. Hier geht es nicht um die Zustände für Migranten in Deutschland, sondern um die politische Situation im mittleren Osten. Wie bei Naoum beginnen die Erzählungen in einem harmlosen Ton, bevor die eigentlichen Themen angeschnitten werden. Alafenisch erzählt vom Schicksal der Beduinen in der Negev-Wüste vom Osmanischen Reich bis zur Gegenwart. Ähnlich wie in der Mongolei erfahren die Nomaden den Druck der Politik und der Modernisierung und kämpfen um ihren geographischen Raum und die Integrität ihres Lebensstils. Anfangs ist die Negev-Wüste ein fast uneingeschränkter Raum für die Beduinen, die dann seitens der Türken unter Druck geraten, ihre nomadische Lebensweise aufzugeben. Der Bau des Suez-Kanals trennt ihren nomadischen Raum und stört ihre herkömmlichen Routen. Die Engländer (Briten eigentlich) erheben exzessive Steuern und Gütertarife als Rache für die Unterstützung der Beduinen für die Türkei im Ersten Weltkrieg und befürworten
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Vgl. S¸enocaks Aufsatzsammlungen: Atlas des tropischen Deutschland. Berlin: Babel 1992; War Hitler Araber? IrreFührungen an den Rand Europas [wie Anm. 3].
163 außerdem die Gründung des Staates Israel. Schließlich treiben die Israelis die Beduinen in weniger fruchtbare Gebiete, um ihre Kibbuzim zu gründen. Von Anfang an erregt Alafenisch Mitleid mit den marottenhaften aber ehrenvollen Nomaden, die ein beispielhaftes demokratisches System besitzen – nur, dass keine Frau daran teilnehmen darf. Wie Khalil in einem Essay über arabische Autoren bemerkt, zielen die Beschreibungen von arabischen Gesellschaften darauf hin, das europäische Bild des “wilden Arabers” zu korrigieren: They present rural and urban traditions as constituting lifestyles and communal systems appropriate to specific societies. The texts point out diversities and nuances within Arab cultures. They compel readers to think in terms of cultural plurality and require mutual respect of difference.12
Obwohl die Beduinen anfangs fremd erscheinen, wird der Leser allmählich mit ihrer Gesellschaftsordnung vertraut und versteht dadurch, wie angemessen ihre Sitten und Bräuche sind. Der eigentliche politische Inhalt wird bis zum Ende aufbewahrt, damit der Leser sich an die beduinische Lebensweise gewöhnt. Die Hauptfiguren Hadsch Ibrahim und sein Esel überqueren unbewusst eine von den Jordanern gesetzte Grenze, als Ibrahim versucht, seinen Esel zurückzuholen, der saftige Artischocken sucht. Als Spion verhaftet, widersteht Hadsch Ibrahim dem Druck seiner jordanischen Vernehmer, als ‘informeller Mitarbeiter’ nach seiner Rückkehr zu dienen. Als er endlich aus der Haft entlassen wird, wird er sofort von den israelischen Behörden verhaftet, die ihn auch der Spionage beschuldigen. Die Vermutungen beider Länder basieren auf territorialen Trennungen und dem dadurch verursachten Argwohn. Alafenisch stellt den Wahrnehmungskonflikt zwischen den etablierten Staaten und den Beduinen dar, die einfach nicht in nationalstaatlichen Kategorien denken, denn für sie hat Raum keine Grenzen. Der Kern der Sache ist aber die Misshandlung der Beduinen seitens der Israelis: die Inhaftnahme Ibrahims durch die Jordanier ist nur ein Kunstgriff, der anscheinend beide Staaten als Gegenstand der Kritik nimmt, aber wirklich die Kritik an den Israelis legitimiert. Der Gebrauch von fantastischen Elementen – z. B. erscheint Ibrahims Esel als Zeuge in seinem Prozess im Jordan – dient dazu, das Heikle an den politischen Problemen zu entzünden. Dieses ist also eine Strategie, mittels derer ernste Kritik in ein fantastisches Gewand gehüllt wird, um den Leser nicht abzuschrecken, und in der Hoffnung, 12
Iman O. Khalil: From the margins to the center: Arab-German authors and issues. In: Transforming the center, eroding the margins. Essays on ethnic and cultural boundaries in German-speaking countries. Hg. von Dagmar C.G. Lorenz und Renate S. Posthofen. Columbia (SC): Camden House 1998. S. 227–237. Hier: S. 231.
164 dass die Kritik irgendwann akzeptiert werden wird. Das Risiko hierbei liegt auf der Hand: bei diesem Versteckspiel mit der Kritik besteht durchaus die Möglichkeit, dass die Kritik nicht einmal wahrgenommen wird, oder als nicht vereinbar mit sonst angenehmen und lustigen Erzählungen betrachtet wird. Wir kommen jetzt zu der dritten und letzten Strategie, dem bewussten und gezielten Umgang in Werken der Diaspora-Literatur mit den Mechanismen des Orientalismus. Aus zwei Gründen nehme ich hier als theoretische Basis das Werk von Edward Said.13 Trotz späterer Kritik haben die Ideen Saids zum großen Teil ihre Gültigkeit bewahrt, und für die Zwecke dieses Aufsatzes sowieso; und seine Ideen sind vielen Autoren der Diaspora-Literatur bekannt – man denke nur an gewisse Aufsätze von Zafer S¸enocak, die davon Gebrauch machen.14 Laut Said funktioniert die Exotik im Orientalismus sowohl als Anreiz als auch als Kontrollmechanismus. Exotische Figuren und Gesellschaften ziehen den Leser an, weil sie mysteriös, kindisch, unberechenbar, manchmal gewalttätig und oft erotisch sind. Aber gerade wegen dieser Eigenschaften sind sie rationalen, aufgeklärten westlichen Normen unterlegen und sind reif, vom Westen beherrscht und in seinem eigenen Interesse befehligt zu werden. Der Westen schreibt sich auch das Recht zu, den Osten zu beschreiben und zu definieren, und überlässt dem Orient keine authentische Stimme zur Selbstartikulation. In seinem Roman aus dem Jahre 2000, Die Sehnsucht der Schwalbe, setzt Rafik Schami gerade diese wesentlichen Züge gegen den Orientalismus ein. Die Hauptfigur Lutfi stammt von schwarzen afrikanischen Sklaven ab, die in den vorigen Jahrhunderten nach Syrien geholt wurden. Obwohl sie schließlich ihre Freiheit bekommen und eine theoretische Gleichheit vor dem Gesetz genießen, erfahren die Nachfolger der Sklaven Diskriminierung und Misshandlung von den ‘eingeborenen’ Syriern. Diese Benachteiligung stärkt Lutfi: Er wird schlauer und selbstständiger, und das wird ihm zum Vorteil, da er ständig zwischen Damaskus und seiner Wahlheimat, dem Flohmarkt in Frankfurt am Main, reist und den Abschiebungsversuchen der Polizei zu entkommen versucht – wie die Schwalbe im Titel will er immer zum Nest zurück. Obwohl Lutfi in Deutschland Diskriminierung erfährt, wird das Problem des Rassismus viel tiefer während seiner Aufenthalte in Syrien dargestellt. Das ist aber nicht prinzipiell eine Kritik der Haltungen in Syrien, sondern paradoxerweise derer in Deutschland. Die Rahmenhandlung findet zwischen zwei 13
Vor allem Edward Said: Orientalism. Western conceptions of the Orient [1987]. London: Penguin Books 1995. 14 Z.B. in S¸enocak: Samuel-Emil-Nordpol-Otto-Cäsar-Anton-Kaufmann. In: Deutsche Zustände: Dialog über ein gefährdetes Land. Hg. von Bahman Nirumand. Reinbek: Rowohlt 1993. S. 11–18.
165 Freunden auf einer Hochzeit auf dem Dorfe statt, die mehrere Tage dauert. Schami betont das Exotische, indem er die Bräuche der Gegend und die üppigen Mahlzeiten genau und ausführlich beschreibt. Die Verlagerung der rassistischen Dimension an einen exotischen Schauplatz macht die Kritik verdaulich für den deutschen Leser, denn Lutfis Pendeln zwischen Syrien und Deutschland bildet eine Verbindung zwischen den zwei Ländern, und ermutigt den Leser, über deutsche Einstellungen zu Fremden zu reflektieren. Im Grunde genommen ist dies eine Parabel des deutschen Rassismus, verlagert an eine exotische Ortschaft, um ein indirektes Plädoyer an den Leser zu richten. Der von Said beschriebene Orientalismus wird in diesem Fall umgepolt. Das Exotische wird sozusagen vom Exoten selbst artikuliert, und zwar mit der Absicht, den Leser in das Werk hineinzulocken. Während die Diskriminierung im Orient nicht verschwiegen wird, wird die vermeintliche westliche Überlegenheit durch die Assoziation mit gesellschaftlichen Umständen in Deutschland unterminiert. Auf diese Weise wird der westliche Leser durch seinen Hang zum Exotismus manipuliert, wenn auch auf leichte und milde Weise. Trotz Kritik an der syrischen Gesellschaft werden Zustände und Einstellungen im Orient als durchaus vernünftig und sozial verträglich dargestellt, und das Bild des Ostens wird korrigiert und normalisiert. Das heißt aber nicht, dass Zustände in Syrien oder im mittleren Osten im Allgemeinen einfach idealisiert werden. Der Hinweis auf den fortwährenden Rassismus in Syrien in Die Sehnsucht der Schwalbe bildet einen Teil von Schamis deutlicher Kritik an seinem Heimatland, die in späteren Romanen wie Die dunkle Seite der Liebe immer expliziter wird.15 Dieser Kritik fehlt die “für die arabische Welt explosive politische Sprengkraft”, die Wild in ihrem Autorenportrait bei Schami sieht, ist aber trotzdem Teil eines politischen Engagements, nicht nur in Deutschland, sondern in Schamis Heimatland Syrien.16 Bei Autoren wie Schami oder Naoum wird oft die Rolle der ‘arabischen Erzähltradition’ (die sogenannte Oralität) hervorgehoben, was mittlerweile zum Klischee geworden ist und subtilere Aspekte ihrer Werke verdeckt hat. Das wurde etwas genauer von Aifan als “inszenierter Exotismus” beschrieben, wobei der Vorgang des Erzählens als Grundstein des literarischen Kunstgriffs erkannt und nicht nur als Erzählmethode akzeptiert wird.17 Meiner Ansicht nach ist aber dieser Exotismus doppelt inszeniert, denn diese Schriftsteller schreiben in einem bestimmten kulturellen und theoretischen Kontext: Sie kennen die Vorlieben ihrer 15
Rafik Schami: Die dunkle Seite der Liebe. München – Wien: Carl Hanser 2004. Bettina Wild: Rafik Schami. München: dtv 2006 (dtv Autoren-Portraits). S. 111. 17 Uta Aifan: Staging exoticism and demystifying the exotic: German-Arab Grenzgängerliteratur. In: German-language literature today: international and popular? Hg. von Arthur Williams u.a. Oxford – Bern – Berlin – Brüssel – Frankfurt/M. – New York – Wien: Peter Lang 2000. S. 237–253. 16
166 Leser, ihre politischen und kulturellen Voraussetzungen als Europäer, die theoretischen Hintergründe des Exotismus und des Orientalismus. Und sie benutzen diese Elemente, um eine Art kulturellen Gegenstrom zu schaffen. Die Werke, die ich mir in diesem Aufsatz vorgenommen habe, stammen alle aus einer Periode von weniger als fünfzehn Jahren, vom Ende der 1980er Jahre bis zum Anfang dieses Jahrhunderts. Sie zeigen eine deutliche Entwicklung fort von der Gastarbeiterliteratur und Literatur der Betroffenheit der frühen 1980er Jahre, wo ausländische Figuren in Romanen und Kurzgeschichten als Opfer gesellschaftlicher Ungerechtigkeit dargestellt wurden. Die Kritik der Ungerechtigkeit war zum großen Teil schon richtig, aber Ausländer tauchten in der Literatur zumeist als passiv auf, als Figuren im politischen Schachspiel. In diesen Werken ist nicht nur der Autor aktiv in der Umformulierung bisheriger Machtverhältnisse, sondern die Figuren sind lebhafter, bunter, entschlossener: Sie sind nicht mehr das ‘Problem’, das ‘gelöst’ werden muss. Wir haben es also hier mit einer adaptiven Literatur zu tun, deren Autoren aus der Erfahrungen ihrer frühen Werke gelernt haben, dass einer Leserschaft in gewissem Maße geschmeichelt werden muss. Aus verschiedenen Gründen haben sie gewählt, den Leser nicht zu konfrontieren und stattdessen mit seinen Erwartungen zu arbeiten, um eine Infragestellung (Dekonstruktion wäre zu stark) vieler dieser Erwartungen zu erreichen. Viele praktische und theoretische Probleme sind zwar mit dieser Strategie verbunden, aber diese Werke bilden Teil einer sanften Aufklärungsarbeit. Bis Anfang der 1990er Jahre war dieser Aufklärungsprozess offensichtlich nicht genug, um rassistischen Angriffen vorzubeugen. Er ist aber nur ein Teil in einem Mosaik von literarischen Strategien, das kritische Essays, konfrontative Werke, formelle Innovationen usw. einschließt. Und diese literarischen Versuche sind nur Teil einer ganzen Reihe von sozialen und politischen Verhandlungsprozessen auf dem langen Weg zu einer multiethnischen Gesellschaft. Es besteht durchaus die Gefahr, dass die politische und gesellschaftskritische Dimension dieser Werke übersehen oder einfach ignoriert werden kann. In ihrem Aufsatz zur Rolle des Essens in der deutschsprachigen multikulturellen Literatur bemerkt Henderson: Applying the food metaphor to society at large, cultural critic Bell Hooks worries about the commodification of otherness. […] Ethnic literature is being praised as enliverning and rejuvenating the “bland” German literary landscape. […] Foreign writers are being praised for giving spice to “German” literature and culture, without seriously questioning the meaning of Germanness.18 18
Heike Henderson: Beyond Currywurst and Döner: the role of food in German multicultural literature and society. Glossen (Oktober 2004). http://alpha.dickenson.edu/ departments/germn/glossen/heft20/henderson.html (11. 3. 2008). 9 Druckseiten. Hier: S. 6.
167 Diaspora-Literatur ist zwar schon oft missbraucht worden, um den vermeintlichen Mangel an Lebhaftigkeit und Fantasie in der deutschen Literatur zu tadeln, aber Autoren nichtdeutscher Herkunft haben keine Verantwortung, die deutsche Identität (was das auch sein mag) zu untersuchen oder neu zu definieren. Sie sind aber sehr oft damit beschäftigt, die Beziehungen zwischen Deutschen und Migranten bzw. Postmigranten aufzuklären und, wo möglich, zu verbessern. Ob alle Leser dieser Werke diesen Interpretationen zustimmen (oder sie sogar erkennen) würden, ist höchst unwahrscheinlich. Das Risiko ist natürlich, dass diese Werke einfach als Unterhaltungsliteratur gelesen werden können, und dass die darin verborgene Kritik nicht erkannt oder einfach kurz nach der Lektüre vergessen werden kann. Es ist auch extrem schwer, die eigentliche Wirksamkeit dieser Werke zu messen. Wir wissen aber, dass diese Werke in relativ großen Mengen gekauft werden, und dass Autorenlesungen zahlreich besucht werden. Wir wissen auch, dass diese Werke ihre Beliebtheit behalten haben, dass sie Jahre nach den Erstveröffentlichungen gedruckt and gekauft werden. Und: was nicht gelesen wird, kann auch nichts verändern.
Maha El Hissy
Transnationaler Grenzverkehr in Fatih Akins Gegen die Wand und Auf der anderen Seite German-Turkish director Fatih Akin is regarded as one of the most important European film directors today. The characters in his films move between different worlds and unite several homes and influences in their personas. In Akin’s film Gegen die Wand the protagonists struggle to find a way between their desire for a life of their own and the traditional-conservative requirements of their ‘Turkish’family and countrymen. His latest film Auf der anderen Seite goes one step further and suspends the boundaries between the characters’ life in Germany and in Turkey completely. The chapter discusses the transnational border crossings in Akin’s films and looks at how the worlds between these boundaries are erected, transgressed and suspended.
Seit einigen Jahren hat sich das Migrantenkino als Bestandteil des deutschen Kinos etabliert und es ließe sich sogar fragen, was das zeitgenössische deutsche Kino ohne die Filme von Migranten wäre.1 Während die meisten Figuren in der früheren Phase der 1980er Jahre als Opfer dargestellt wurden, – zu nennen wäre hier beispielsweise Tevfik Bas¸ers 40 Quadratmeter Deutschland (1986) – entwickelten sich die Charaktere in den späteren Filmen der 1990er Jahre zu handelnden Akteuren.2 Das Gastarbeitermotiv, das in der früheren Phase des Migrantenkinos sehr präsent war, verlor im Zuge des andauernden Alltags in Deutschland an Bedeutung und wurde im Laufe der Entwicklung nur noch am Rande behandelt. Den größten Erfolg mit seiner Arbeit hat der deutsche Regisseur mit türkischen Wurzeln Fatih Akin zu verbuchen. Vor allem durch den Erfolg von Gegen die Wand (2004) und Auf der anderen Seite (2007), die ersten beiden Filme seiner angekündigten Trilogie “Liebe, Tod und Teufel”, hat er sich als einer der bedeutendsten deutschen Regisseure der Gegenwart etabliert. Gegen die Wand wurde mit dem Goldenen Bären preisgekrönt, Auf der anderen Seite feierte seine Premiere auf den Filmfestspielen in Cannes, wo Faith Akin den 1
Vgl. dazu Deniz Göktürk: Migration und Kino – Subnationale Mitleidskultur oder transnationale Rollenspiele? In: Interkulturelle Literatur in Deutschland. Hg. von Carmine Chiellino. Stuttgart: Metzler 2000. S. 329–347. Hier: S. 329. 2 Eine ausführliche Besprechung der Entwicklung des deutsch-türkischen Kinos findet sich vor allem bei Deniz Göktürk: Verstöße gegen das Reinheitsgebot. Migrantenkino zwischen wehleidiger Pflichtübung und wechselseitigem Grenzverkehr. In: Globalkolorit. Multikulturalismus und Populärkultur. Hg. von Ruth Mayer und Mark Terkessidis. St.Andrä/Wördern: Hannibal 1998. S. 99–114 und Göktürk: Migration und Kino [wie Anm. 1].
170 Preis für das beste Drehbuch erhielt. Der Film wurde als offizieller deutscher Beitrag für den Oscar in der Kategorie ausländischer Film eingereicht und gewann den Deutschen Filmpreis für das Jahr 2008 in den Kategorien bester Spielfilm, Drehbuch, Regie und Schnitt. Kennzeichnend für Akins Filme sind die Figuren, die sich jenseits von nationalen Festschreibungen befinden und damit transnationale Züge aufweisen. Markant ist die Gelassenheit, mit der sich die Figuren in und zwischen den Welten zu bewegen wissen, wobei dies in seinem Werk eine Entwicklung durchläuft. In seinem ersten Spielfilm Kurz und Schmerzlos (1998) sind die drei männlichen Hauptfiguren noch hauptsächlich durch ihre ethnische Herkunft definiert. In Standaufnahmen werden sie vorgestellt: “Bobby, Serbe” (gespielt von Aleksandar Jovanovic), “Gabriel, Türke” (Mehmet Kurtulus¸) und “Costa, Grieche” (Adam Bousdoukos).3 Der Film skizziert insgesamt ein multikulturelles Deutschlandbild und bleibt keineswegs auf deutsch-türkische Migrationsphänomene beschränkt. Vor der Kulisse Hamburg-Altonas, dem Schauplatz der Filmhandlung, hat sich Deutschland in einen Ort verwandelt, an dem das multikulturelle Leben eine Selbstverständlichkeit geworden ist. In den meisten von Akins Filmen führt der Weg die Protagonisten in die Türkei, auch wenn man in jedem Film unterschiedlich viel von diesem Land sieht. Im Juli (2000) zeigt ebenso, dass das Reisen nicht nur auf die deutschtürkischen Protagonisten beschränkt bleibt. In dem Road Movie macht sich der deutsche Protagonist Daniel (Moritz Bleibtreu) auf die Suche nach seinem Glück und der großen Liebe. Seine Reise beginnt in Deutschland und führt über Österreich, Ungarn und Rumänien nach Istanbul. Im Laufe des Films zeigt sich, wie der Weg selbst zum Reiseziel wird. Solino (2002) dient als Beispiel gegen die Festschreibung, dass ein deutschtürkischer Regisseur nur Filme über Deutsch-Türken dreht oder sich hauptsächlich zwischen Deutschland und der Türkei bewegt. Der Film handelt von einer italienischen Familie, die mit der Welle der Arbeitsmigration zu Beginn der 1960er Jahre nach Deutschland wandert. Auch hier führt der Weg die Protagonisten schließlich in ihr Heimatland zurück. Hervorzuheben ist aber, dass das Motiv der Rückkehr nicht zwangsläufig an einen geographischen Ort gebunden ist, sondern dass die Heimkehr vielmehr die Ankunft der Protagonisten bei sich selbst bedeutet. Sie ist als Endziel einer Selbstfindungsreise zu verstehen, an das die Figuren nach einer Odyssee gelangen. In Crossing the Bridge. The Sound of Istanbul (2005) reist Akin durch Istanbul und dokumentiert dabei die Musikszene der Stadt. Die 3
Für die Besprechung transnationaler Elemente in Kurz und Schmerzlos vgl. Barbara Mennel: Bruce Lee in Kreuzberg and Scarface in Altona: Transnational Auteurism and Ghettocentrism in Thomas Arslan’s Brothers and Sisters and Fatih Akin’s Short Sharp Shock. In: New German Critique. Nr. 87 (2002). S. 133–156.
171 Bosporus-Brücke – die Verbindung von Europa und Asien oder zwischen dem ‘Westen’ und dem ‘Osten’ – dient als Metapher des verbindenden Elements, legt aber die Herkunft oder das Reiseziel nicht fest. Außerdem eröffnet die Metapher die Möglichkeit eines wiederholten Überquerens und verleiht dem Reisen eine Dynamik. Der Dokumentarfilm zeigt die bunte Musikszene der Türkei und umfasst sowohl Straßenmusiker und Rapper als auch Szenen aus türkischem Rock und Hip-Hop. Der Film gilt als Beweis dafür, inwiefern die türkische Kultur an sich heterogen ist und als ein transkultureller Knotenpunkt unterschiedlicher Strömungen verstanden werden kann. Zusammenfassend lässt sich über Akins Filme sagen, dass sie keinen Raum für die Diskussion über nationale Räume und ethnische Trennungslinien lassen. Stattdessen erscheinen die Figuren in seinen Filmen als Grenzgänger und sind durch ihre Mobilität in einer globalen Welt gekennzeichnet. Im Laufe ihrer Entwicklung erschüttern sie kulturelle Festschreibungen und Kategorien. Im Folgenden wird nun der Frage nachgegangen, wie Grenzen in Gegen die Wand und Auf der anderen Seite gezogen und überschritten werden, und wie der Grenzverkehr zwischen den dargestellten Welten gezeigt wird. In Gegen die Wand wird eine ‘türkische’ Welt auf deutschem Boden konstruiert, in der ein traditionelles Leben bewahrt und eine Abgrenzung vom ‘deutschen’ Alltag erstrebt wird. Die beiden Hauptfiguren vereinen hingegen unterschiedliche Einflüsse in sich. Im Gegensatz zu der weit verbreiteten Aussage, dass die zweite Generation eine verlorene sei, die nicht wisse, wohin sie gehöre, versuchen die Protagonisten eine Harmonie zu erreichen zwischen dem, was sie sind, und den Erwartungen ihrer Umgebung an sie.4 In Auf der anderen Seite hingegen werden Grenzen aufgelöst und es kommt zu einer Verschmelzung zwischen den vermeintlich voneinander getrennten Welten in Deutschland und der Türkei.
I. Gegen die Wand Gegen die Wand handelt von Liebe, von Selbstzerstörung und vom Kampf zwischen Eros und Thanatos. Es geht auch um den Generationenkonflikt, der in Gegen die Wand vor allem im Schatten der Migration zum Ausdruck kommt. Die männliche Hauptfigur Cahit (Birol Ünel) arbeitet als Gläserabräumer in einem Kulturveranstaltungszentrum in Hamburg. Er betrinkt sich nach der Arbeit und scheint das Leben satt zu haben. Bei einem Versuch sein Leben zu 4
Adelson lehnt diesen Zustand des Dazwischen ab, in den Migranten ständig gezwungen werden. Sie weist darauf hin, inwiefern Migranten in diesem Zustand verharren, während die Welten, die durch das Dazwischen getrennt werden, nie konstant bleiben. Vgl. hierzu: Leslie A. Adelson: Against Between – Ein Manifest gegen das Dazwischen. In: Literatur und Migration. Hg. von Heinz-Ludwig Arnold. Text Kritik Sonderband IX/2006. München: edition text kritik 2006. S. 36–45.
172 beenden, fährt der 40-jährige Türke sein Auto mit überhöhter Geschwindigkeit gegen eine Wand und landet in einer psychiatrischen Klinik. Dort lernt er die weibliche Hauptfigur Sibel (Sibel Kekilli) kennen, die ebenfalls einen gescheiterten Selbstmordversuch hinter sich hat. Ohne vorher ein Wort mit ihm gewechselt zu haben, stellt sie ihm gleich die Frage, ob er Türke sei. Als zweites hält sie direkt um seine Hand an und offenbart einige Szenen später den Grund für ihren Selbstmordversuch und den Heiratsantrag: “Meine Nase hat mir mein Bruder gebrochen, weil er mich beim Händchenhalten erwischt hat”.5 Die gewaltsamen Beschränkungen, die sie als weibliche Türkin aufgezwungen bekommt, wecken in ihr den Wunsch, ihr eingeengtes Leben zu beenden. Sibel setzt die Enthüllung ihrer Bedürfnisse fort und sagt zu Cahit: “Ich will leben, Cahit. Ich will leben. Ich will tanzen. Ich will ficken. Und nicht nur mit einem Typen”.6 Sie bekennt sich damit zu ihrem ungezügelten Freiheitsdrang und zum Bedürfnis, sich von den traditionellen Wertvorstellungen ihrer Familie loszulösen, die ihr diese Freiheiten nicht erlauben würden. Die Hochzeit mit Cahit ist für sie augenscheinlich der einzig erkennbare Ausweg aus den familiär vorgegebenen Zwängen. Auf die Erklärung Sibels, dass es bloß darum gehe, eine Scheinehe einzugehen, stimmt Cahit zu. Letztendlich möchte Sibel die Heirat als “Alibi” benutzen, damit sie nicht mehr bei ihren Eltern leben muss. Sie möchte lediglich als “gute Mitbewohnerin” die Wohnung mit Cahit teilen. Nur in Anwesenheit ihrer Eltern müssten sie sich wie Eheleute verhalten.7 Gegen die Wand lässt sich in zwei große Kapitel einteilen, von denen das erste in Hamburg und das zweite in Istanbul spielt. Diese Kapitel lassen sich wiederum in Akte einteilen, die Akin durch Intermezzos in Form von Balladen des Ensembles von Selim Sesler trennt. Die Intermezzos gliedern den Film in insgesamt fünf Akte. Vor dem Bosporus sitzt das Ensemble auf rotem Teppich, spielt traditionelle Instrumente und singt Lieder, die parallel zur Handlung verlaufen. Das lässt an den Chor der griechischen Tragödie denken, der die Handlung kommentiert und gleichzeitig eine verfremdende Wirkung auf den Zuschauer hat. Der Zuschauer wird dabei jedes Mal aus dem Geschehen herausgerissen, vor allem weil der Inhalt der romantisch-kitschigen Lieder in starkem Kontrast zum brutal-exzessiven Verhalten der Protagonisten steht. Das Setting vor dem Bosporus evoziert einen romantisierenden Blick auf die Türkei, was durch die Liedtexte verstärkt wird. Die Ballade, die den Film eröffnet, gibt beispielsweise im Voraus die unerfüllte Liebesgeschichte bekannt, in der die Liebe anfangs nicht von der Frau erwidert wird. Am Ende des Films
5
Fatih Akin: Gegen die Wand. Deutschland 2004. 0:13:22. Ebd. 0:13:36-0:13:42. 7 Ebd. 0:14:39. 6
173 spielt das Ensemble das letzte Lied, das von einer unendlich traurigen und unerfüllten Liebe spricht, was vor allem den Zustand der männlichen Hautptfigur in der letzten Szene des Films widerspiegelt. Zum Schluss verbeugen sich die Musiker. Das kündigt das Ende der Handlung an und lässt mehr an ein Theaterstück denken, bei dem der Vorhang fällt. Die ersten Szenen im Film reichen für die Beschreibung des Charakters der Protagonisten aus. Die zwei Figuren haben viel gemeinsam: Sie teilen eine marginale Position, sie sind lebenshungrig, aber gleichzeitig auch selbstdestruktiv. Sie verdammen ihr Leben, jeder aus unterschiedlichen Gründen, und sind beide genauso kompromisslos, dass sie sich jedes Mal das Leben zu nehmen versuchen, sobald sie handlungsunfähig zu werden glauben. Cahit und Sibel tendieren dazu, misslungene Situationen im Leben in exzessive Handlungen umzusetzen. Sie oszillieren zwischen Selbstzerstörung und Selbstfindung und befinden sich damit in einer liminalen Phase. Diese Phase beinhaltet zunächst eine Distanzierung von den konservativen Vorschriften ihrer Umgebung, gefolgt von der kompletten Loslösung von ihnen. Diese liminale Phase ist ebenso durch eine gewisse Ambiguität gekennzeichnet und zeigt, wie die Charaktere Züge der abgeschlossenen, aber auch der neuen Phase in sich vereinen. Damit stehen sie als Außenseiter da. Zu den insgesamt drei Phasen des Übergangs schreibt Victor Turner: The first phase of separation comprises symbolic behavior signifying the detachment of the individual or group either from an earlier fixed point of the social structure or a set of cultural conditions (a ‘state’); during the intervening liminal period, the state of the ritual subject (the ‘passenger’) is ambiguous; he passes through a realm that has few or none of the attributes of the past or coming state; in the third phase the passage is consummated.8
Cahit und Sibel lehnen sich anfangs gegen das auf, was als ‘türkisch’ konstruiert wurde, weshalb Sibel beispielsweise ein Freiheitskonzept entwirft, das hauptsächlich auf das ‘Tanzen und Ficken’ eingeschränkt ist – genau das, was ihre Familie ihr verbieten will. Cahit schimpft nach einer Schlägerei auf die “Kanaken” und fragt Sibel ironisch, ob ihre Cousine Selma “einen Koffer voller Türken mitbringt”,9 wenn sie für die Hochzeit aus Istanbul nach Deutschland anreist. Kennzeichnend für die Grenzüberschreitung in Gegen die Wand sind das Rollenspiel10 und das Wechseln zwischen konformen und nonkonformen 8
Victor Turner: Betwixt and Between: The Liminal Period in Rites de Passage. In: The Forest of Symbols. Aspects of Ndembu Ritual. Ithaca (NY): Cornell University Press 1967. S. 93–111. Hier: S. 94. 9 Akin [wie Anm. 5] 0:26:55. 10 In Bezug auf die liminale Phase in den Übergangsriten bemerkt der Ethnologe Victor Turner, dass eine Maskierung erforderlich ist, um den paradoxen Zustand, in dem man sich befindet, zu verbergen. Vgl. hierzu: Victor Turner [wie Anm. 8].
174 Identitäten. Um Sibels Familie von der Eheschließung zu überzeugen bleibt Sibel und Cahit nichts anderes übrig, als die traditionellen Rollen vorzutäuschen, weil sie sonst ihre eigenen Ziele mit den Erwartungen der Familienmitglieder nicht in Einklang bringen könnten. Deniz Göktürk bemerkt in diesem Zusammenhang: “In cinema too, migrants are gradually liberating themselves from the prison of a sub-national paternalism, forging transnational alliances and evading ethnic attribution and identification through ironic-role play”.11 Mehrere Szenen zeigen, inwiefern die Figuren nur im Rahmen dieses Rollenspiels einen Raum für die Artikulation ihres Selbsts finden können. Zu nennen sind hier vor allem zwei Szenen. Die erste ist die Szene in der Cahit, den traditionell-türkischen Vorschriften gemäß, um Sibels Hand anhalten muss. Die ganze Szene ist eine Mischung aus einer Farce und einer Karnevalsposse, in der nicht nur Cahits bester Freund die Rolle seines Onkels vor Sibels Eltern spielen muss, sondern Sibel und Cahit sich beide verstellen müssen, um die Familie von der Glaubwürdigkeit Cahits zu überzeugen. Einige Szenen zuvor war Cahit noch mit Bierdose in der Hand in seiner dreckigen und chaotischen Wohnung zu sehen, während er für die Begegnung mit der Familie seiner Braut im Anzug und mit neuer Frisur die ehrwürdige Rolle des verantwortungsbewussten zukünftigen Ehegatten spielt. Auch der vermeintliche ‘Onkel’ hat seine Rolle mehrmals üben müssen, um einen überzeugenden Eindruck bei der Familie hinterlassen zu können. Dennoch weiß er häufig keine passenden Antworten auf Fragen zu Cahits Familie. Ständig wendet sich Sibels Bruder mit investigatorischen Fragen an Cahit und will beispielsweise wissen, wie Cahit Sibel kennen gelernt hat. Um möglichen Problemen auszuweichen, müssen Cahit und sein vermeintlicher ‘Onkel’ als Antwort auf die Frage eine Geschichte erfinden, wie Cahit Sibel nur zufällig in der Klinik gesehen hat. Die sonst wilde Sibel spielt in der ganzen Szene die Rolle der traditionellen Frau, ist von der Teilnahme an der Diskussion über ihre eigene Ehe ausgeschlossen und gibt zum Schluss ihr Ja-Wort. Besonders grotesk in diesem Spiel ist in diesem Zusammenhang die Bemerkung der Mutter, dass Cahit seinem ‘Onkel’ ähnlich sehe. In der angespannten Situation verschafft die groteske Komik der Szenerie eine Erleichterung. Während des Gesprächs zwischen den Anwesenden zeigt die Kamera in einem Schuss-Gegenschuss ihre Gesichter, wobei Cahit nicht allein, sondern fast immer mit seinem vermeintlichen ‘Onkel’ in einer Aufnahme zu sehen ist, was den traditionellkollektiven Auftritt unterstreicht. Als Sibel das Zimmer betritt, zeigt die Kamera in einer Nahaufnahme Cahits Gesicht und danach Sibels, was hervorhebt, dass die zwei Figuren in dem anwesenden Kollektiv als Außenseiter 11
Deniz Göktürk: Beyond Paternalism: Turkish German Traffic in Cinema. In: The German Cinema Book. Hg. von Tim Bergfelder, Erica Carter und Deniz Göktürk. London: BFI 2002. S. 248–256. Hier: S. 255.
175 aus dem Rahmen fallen. Nach der Annahme des Heiratsantrags zeigt die Kamera wieder in einer Nahaufnahme die Gesichter der beiden Hauptfiguren. Sibel und Cahit wechseln beide einen triumphierenden Blick, bei dem sie ganz kurz ihre aufgelegten Masken fallen lassen und zu ihrem Ich zurückkehren. Cahit schlüpft aber sofort wieder in die ‘traditionelle’ Rolle und verbeugt sich auf Anweisung des ‘Onkels’ traditionsgemäß, um die Hand des Vaters zu küssen. Immer wieder ist zu bemerken, dass Cahit sich sehr unwohl fühlt in seiner ‘türkischen’ Rolle und es ihm insgesamt schwer fällt, seine Lebensgeschichte aus Wahrheit und Lüge zusammen zu puzzeln. Auf die Frage des Bruders, was Cahit mit seinem Türkisch gemacht habe, da es “ganz schön im Arsch” sei, entgegnet er prompt, dass er es weggeworfen habe und hält mit seiner Rolle inne.12 Daraufhin kommt es zur Anspannung der Stimmung im Raum und sie lockert sich erst, weil der vermeintliche ‘Onkel’ so tut, als wäre Cahits Bemerkung lediglich ein Witz gewesen – wieder eine Täuschung, um unerwünschten Konsequenzen auszuweichen. In der folgenden Szene ist Cahit nackt auf der Couch in seiner Wohnung zu sehen. Er schlüpft wieder in sein alltägliches ‘Gewand’ und löst sich los von der Rolle, die er der Familie vortäuschen musste. Erst durch die Selbstmaskierung und das Simulieren von Rollen fallen die Protagonisten nicht mehr als Außenseiter unter ihren Landsleuten auf und finden so eine vorläufige Handlungsstrategie. Auf diese Weise können sie Grenzen überschreiten von ihrer marginalen Position zu dem, was als ‘türkisch’ konstruiert wurde. Darin steckt eine gewisse Ironie, da es erst durch die Vertuschung zur Befreiung der Figuren von den herrschenden Normen kommen kann. Eine weitere Szene zeigt, wie Cahit und Sibel ihre ‘Ehe-Rollen’ erneut aufnehmen müssen und mit ihrer eigenen Lebensgestaltung innehalten. Einige Monate nach ihrer Hochzeit, als das Ehepaar sich verpflichtet fühlt Sibels Bruder zu besuchen, spielen Cahit und Sibel von neuem ihre ‘türkische’ Rolle. Vor allem Cahit springt ungern in die von ihm erwartete ‘türkische Identität’ und hat “keinen Bock auf diese Kanaken”.13 Als Cahit mit Sibels Bruder und dessen türkischen Freunden zusammensitzt, fängt einer der Männer an, über seine sexuellen Beziehungen und Seitensprünge zu scherzen. Außer Cahit scheint sonst keiner der Männer etwas gegen diese Seitensprünge zu haben. Sie wollen sogar Cahit zu ihren Bordell-Besuchen mitnehmen. Cahit fragt stattdessen, warum sie eigentlich nicht ihre Frauen “ficken”.14 Die Männer reagieren entsetzt auf die Frage und wollen einen Streit mit Cahit ansetzen, weil Cahit das obszöne Wort “ficken” im Zusammenhang mit ihren Ehefrauen erwähnt. Es kommt zur Anspannung der Stimmung, weil Cahit sich an dieser 12
Akin [wie Anm. 5] 0:22:19. Ebd. 0:46:10. 14 Ebd. 0:47:17. 13
176 Stelle weigert, die von ihm erwartete Rolle zu simulieren und stattdessen die Doppelmoral der anwesenden Männer entschleiert. Im dem Moment, wo eine der Ehefrauen in das Zimmer tritt, wechseln die Männer das Thema und tun vor der Frau so, als würden sie sich nicht streiten und unterbrechen die Diskussion über ihre außerehelichen Beziehungen. In dem Augenblick, als die Frau wieder das Zimmer verlässt, wollen sie den Streit mit Cahit weiterführen. Die Eherollen, die Cahit und Sibel spielen, nehmen im Laufe des Films jedoch eine tragisch-ironische Form an. In der ersten Phase ihres Zusammenlebens als Ehepaar setzen die Protagonisten ihre individuellen Bedürfnisse fort. Cahit besäuft sich weiter und hat eine Affäre mit seiner deutschen Freundin Maren, während Sibel jede Nacht von einer Disco in die nächste geht und sich in jedes Abenteuer mit einem Mann zu stürzen versucht. Auch im Rahmen ihrer Ehe wechseln Cahit und Sibel, unabhängig von der Anwesenheit Sibels Familie, ihre Rollen als verheiratetes oder nicht verheiratetes Paar ab. Sibel führt trotzdem das Hausfrauenleben, das sie Cahit bei ihrem Heiratsantrag versprochen hat: sie kocht, putzt und räumt auf. Je nach Bedarf und Situation stecken sich Cahit und Sibel ihren Ehering an oder sie ziehen ihn ab. Wenn Sibel beispielsweise ‘ficken’ geht, zieht sie vorher ihren Ehering vom Finger. Als es zu einem intimen Moment zwischen dem Ehepaar kommt, sagt Sibel Cahit, dass sie sich keinen sexuellen Kontakt zwischen ihnen vorstellen kann, da sie sonst wirklich Ehemann und Ehefrau würden. Am Ende des Films, als es nach fünf Jahren Ehe tatsächlich zu einem körperlichen Kontakt zwischen den beiden kommt, gehen sie daraufhin unterschiedliche Wege. Im Laufe des Films nehmen die zwei Protagonisten immer mehr ‘türkische’ Praktiken auf. Sibel kocht türkisch und hört türkische Musik. In einem Streit mit einem Liebhaber will sie den Mann von sich abweisen und definiert sich dabei als verheiratete türkische Frau. Sie droht ihm sogar, dass ihr Mann ihn umbringen werde, falls der Liebhaber ihr zu nahe kommen würde. Sibel greift hier genau auf das Verhalten ihres Bruders zurück, das sie einen Ausweg aus ihrer Repression suchen ließ. Als der Liebhaber sie in Cahits Anwesenheit beleidigt, bricht der Ehemann, der sich inzwischen tatsächlich in Sibel verliebt hat, in Wut aus. Cahit schlägt den jungen Mann tot und kommt ins Gefängnis. Nachdem er aus dem Gefängnis entlassen wird, hat seine Wut auf sein ganzes Leben, aber auch auf alles ‘Türkische’ ein Ende gefunden. Er ist als allererstes in einem Dönerladen zu sehen. Am Ende des Films sieht er sogar keinen Platz mehr für sich in Deutschland und kann sich sein Leben nur noch in seinem türkischen Geburtsort Mersin vorstellen. Diese Wandlung und Rückkehr zu den eigenen Wurzeln war bis zu diesem Moment nicht denkbar gewesen, vor allem weil Cahit bisher alles ‘Türkische’ verworfen hatte. Zu Beginn des Films ist Sibel eigentlich diejenige, die mehr Einsicht in das ‘türkische’ Leben ihrer Familie zu haben scheint und einen Mittelweg zwischen ihren Bedürfnissen und den Erwartungen ihrer Familie finden will, was sie im Rahmen der
177 Scheinehe zu verwirklichen versucht. Gleichzeitig verweigert sich Cahit hingegen der Annahme dieser Tradtionen und zeigt beispielsweise keine Bindung an seine Familie. Anders als Sibel hat er zwar eine Schwester in Deutschland, weiß aber kaum etwas von ihr. Nach dem Eifersuchtsdrama wird Sibel von ihrer Familie verstoßen, für die keine Tochter mehr existiert. Sibel hat keine andere Möglichkeit, als Deutschland zu verlassen und zu ihrer Cousine Selma nach Istanbul zu fliehen. Obwohl Sibel sich mit ihrem Leben in Deutschland identifiziert, bildet dieses Land für sie einen Ort der Gefangenschaft in der kleinen Migrationsfamilie. Im Laufe des Films zeigt sich, wie Sibels Freiheitskonzept sie in die Leere führt. Sibel ist zu Beginn des Films so sehr in diesem Konzept gefangen, dass sie zu spät erkennt, dass sie Cahits Liebe erwidert. Dieses Konzept hält sie auch davon ab, ein eheliches Leben zu führen. In einem Moment der emotionalen und körperlichen Nähe zwischen dem Ehepaar will sie nicht mit ihrem Ehemann schlafen, weil sie auf diese Weise tatsächlich Ehemann und Ehefrau würden. Gleichzeitig entwirft sie mit dieser Aussage ein Konzept der Ehe, wo das Sexuelle die entscheidende Rolle spielt. In Istanbul ist sie hingegen zu keinem Rollenspiel mehr verpflichtet. Der Beginn ihres Aufenthalts in der Türkei bildet für sie zunächst eine Phase des Untergangs. In einem Brief an den inhaftierten Cahit beschreibt sie ihr Leben zunächst als Gefängnis, in dem es ihr nur um das Überleben geht. In dem Zusammenhang bemerkt Petra Fachinger, inwiefern die Darstellung von Istanbul im Film von der der Gefangenschaft im klaustrophobischen Hamburg abweicht und bezieht sich auf Hamid Naficy, der darin ein Merkmal für transnationale Identitäten sieht.15 Auffallend sind die Räume, in denen sich die Figuren im ersten Filmteil in Deutschland bewegen. Es sind oft enge bzw. einengende Räume, wie zum Beispiel Cahits Zimmer oder Sibels Elternhaus und, in einer kurzen Sequenz, das Haus von Cahits vermeintlichem ‘Onkel’. Obwohl die Räume in Istanbul in starkem Kontrast zu den Darstellungen im ersten Filmteil stehen, entspricht diese Stadt für Sibel zunächst einem Ort der Dekadenz und der Fremde. Charakteristisch für den zweiten Filmteil sind die Totalen, die Sibel oft in der Masse zeigen, was den Eindruck einer gewissen Anonymität vermittelt und ein Gefühl der Distanziertheit und Wahrnehmung als Fremde stärker zum Ausdruck bringt. Das Leben in Istanbul stellt aber auf einer anderen Ebene für Sibel eine Möglichkeit der Befreiung dar, wo sie das Bedürfnis von ‘tanzen und ficken’ nicht mehr hegt, obwohl sie dort nicht mehr 15
Vgl. Petra Fachinger: A New Kind of Creative Energy: Yadé Kara’s Selam Berlin and Fatih Akin’s Kurz und Schmerzlos and Gegen die Wand. In: German Life and Letters Vol. LX No. 2 (April 2007). S. 243–260. Hier: S. 258. Hamid Naficy: An Accented Cinema: Exilic and Diasporic Filmmaking. Princeton – Oxford: Princeton University Press 2001. S. 191.
178 von den Einschränkungen ihrer Familie bedroht ist. Auch die radikale Änderung ihres Äußeren, wie z.B. der kurze Haarschnitt, lässt den Zuschauer dies annehmen und deutet auf eine Wende in ihrer neuen Lebensphase hin. Im Laufe ihres Aufenthalts in der Türkei, für sie eigentlich ein Ort der Fremde, wo sie als Nichtdazugehörige auffällt, findet sie einen Raum für ihre Selbstentfaltung. Was zunächst als Flucht gedacht war, stellt sich als Befreiung von den Einschränkungen des Lebens in der einengenden Migrantenkultur in Deutschland heraus. Istanbul wird auch als Ort der Vielfalt dargestellt. Gezeigt wird das “transnationale Setting” der Weltmetropole, das auch durch die Mehrsprachigkeit an diesem Ort zum Ausdruck gebracht wird.16 Auf dem Weg vom Flughafen zum Hotel in Istanbul unterhält sich Cahit mit dem Taxifahrer auf Deutsch, nachdem der Taxifahrer sich als Bayer vorgestellt hat, während Cahit sich als Hamburger definiert. Mit Selma lässt Cahit sein mangelhaftes Türkisch im Stich und sie müssen sich beide auf Englisch miteinander unterhalten. Zwei weitere Figuren im Film zeigen, inwiefern kaum von einer einheitlichen ‘türkischen’ Identität die Rede sein kann. Die Cousine Selma ist als weitere Möglichkeit für das zu betrachten, was die türkische Kultur zu bieten hat und erschüttert gleichzeitig das homogene Bild der ‘türkischen’ Frau. Selma ist eine geschiedene Karrierefrau, die ihren beruflichen Aufstieg in der Türkei plant. Im Unterschied zu Sibels Gefangenschaft in der Familie in Deutschland führt Selma in Istanbul ein liberales Leben. Christina Kraenzle kommentiert die Aufnahmen, die Selma in Istanbul zeigen und beschreibt sie als “lofty, naturally lit interiors, with panoramic views of the city”,17 die vor allem einen Eindruck von ihrer sozialen Freiheit und Mobilität geben. Auch auf der beruflichen Ebene bildet Selma einen Kontrast zu Sibels Verlorenheit und Gefangenschaft, entweder wegen ihrer Arbeitslosigkeit zu Beginn des Aufenthalts in Istanbul oder ihrer Tätigkeit als Zimmermädchen im Hotel, das Selma leiten will. Cahits vermeintlicher ‘Onkel’ Seref zählt mit seinem Verhalten nicht zu seinen traditionellen Landsleuten und steht eindeutig jenseits von nationalen Kategorien. Er spricht zwar kein Deutsch und scheint außer Cahit niemanden in Deutschland zu kennen, passt aber keinesfalls in das ‘Türkenbild’, das Sibels Familie entwirft. Sein Einblick in die Situation der Protagonisten verleiht ihm mehrmals im Film eine rettende Funktion sowohl für Sibel als auch 16
Hendrik Blumentrath, Julia Bodenburg, Roger Hillman und Martina WagnerEgelhaaf: Transkulturalität. Türkisch-deutsche Konstellationen in Literatur und Film. Münster: Aschendorff 2007. S. 116. 17 Christina Kraenzle: Transnational Traffic: Travel, Space and Identity in the Films of Fatih Akin. Vortrag auf der jährlichen Konferenz der German Studies Association (San Diego) Oktober 2007. Unveröffentlichtes Manuskript.
179 für Cahit. Cahit rettet er beispielsweise als vermeintlicher ‘Onkel’ beim Heiratsantrag. Als Sibels Familie sie nach dem Ehebruch nicht mehr finden soll, ist er für sie eine Notlösung. Zum Schluss hilft er Cahit, zu Sibel in die Türkei zu reisen. Für Cahit bleibt Istanbul auf einen Transitort reduziert, an dem er sich aufhält, bis er Sibel wieder gesehen hat. Als es zum lang ersehnten Treffen kommt, bietet er Sibel an, mit ihm weiter zu reisen. Das Bleiben mit Sibel in Istanbul scheint für ihn nicht unter den Optionen zu sein, was eher an eine dominante Männerrolle denken lässt. Sibel hat inzwischen in Istanbul einen Freund und eine Tochter und führt das Leben einer Hausfrau, gegen das sie sich ursprünglich in Deutschland mit allen Kräften gewehrt hat. Die Sequenz nach ihrem Treffen mit Cahit im Hotelzimmer zeigt, wie Sibel den Gedanken an das Weggehen mit Cahit zunächst zu berücksichtigen scheint und ihren Koffer packt. Im Hintergrund hört man die Stimme ihrer Tochter und dann die ihres Freundes. Die darauf folgende Sequenz zeigt jedoch Cahit allein im Bus auf dem Weg nach Mersin. Das Filmende offenbart, dass Sibel in ihrer Mobilität eingeschränkt ist, vor allem im Unterschied zum Filmanfang, wo sie einen Ausweg vom Obrigkeitsdenken ihrer Familie finden wollte. Ihre Entscheidung ist aber nicht als Ausdruck der Gefangenschaft zu verstehen, sondern als Bekenntnis zu ihrem bürgerlichen und familiären Leben und ihren Verpflichtungen in Istanbul. Sie musste Deutschland verlassen, beschließt aber hingegen freiwillig am Ende des Films, in Istanbul zu bleiben, obwohl sie mit Cahit hätte gehen können. Das wäre aber eine weitere Flucht gewesen, die die wilde Sibel in Deutschland machen konnte, die jetzige aber nicht mehr ergreifen will. Die Phase des Übergangs ist abgeschlossen.
II. Auf der anderen Seite Auf der anderen Seite unterscheidet sich eindeutig von Gegen die Wand und hat nichts mehr von der Wut und dem atemberaubenden Erzählrhythmus der Geschichte der amour fou zwischen Cahit und Sibel. Dennoch erfahren die Themen im zweiten Teil der Trilogie eine Fortsetzung, trotz des großen Unterschieds. In Auf der anderen Seite wird die Verflechtung von parallel verlaufenden Geschichten in Deutschland und der Türkei als Selbstverständlichkeit dargestellt. Die Voraussetzung dazu ist die Aufhebung nationaler und ethnischer Grenzen. Wenn die deutsch-türkischen Protagonisten in Gegen die Wand einen Zufluchtsort in der Türkei suchen wollen, so führt der Weg in Auf der anderen Seite alle Hauptfiguren ohne Ausnahme in die Türkei – auch die Deutschen unter ihnen. Während die deutsch-türkischen Figuren in Gegen die Wand mit Palimpsesten vergleichbar sind und unterschiedliche Herkünfte und Heimaten in sich vereinen, so setzt Auf der anderen Seite das Leben jenseits
180 von Grenzen voraus. Die Überkreuzung der Wege der sechs Hauptfiguren ist unausweichlich, was vor allem durch die nichtlineare Erzählform der Handlung zum Ausdruck gebracht wird. Anders als Sibels konservative Familie in Gegen die Wand, die in ihrer traditionellen Lebensform eine Distanzierung und Abgrenzung vom ‘deutschen’ Alltag erstrebt, weisen die Figuren in Auf der anderen Seite wenig Merkmale auf, durch die ihr ‘Deutsch-’ oder ‘Türkischsein’ festgelegt werden kann. Im Film kommt es nicht nur zur Aufhebung von geographischen Grenzen, sondern auch der Grenzen zwischen den Generationen und den Angehörigen unterschiedlicher Familien. Bis zum Ende des Films werden die Karten neu gemischt und die Verhältnisse zwischen den Figuren neu definiert. Auf der anderen Seite wurde als Akins bisher politischster Film bezeichnet. Der Film befasst sich mit Fragen der illegalen Migration und des Asylrechts in Deutschland, dem politischen Widerstand in der Türkei und mit möglichen Konsequenzen des Beitritts der Türkei in die EU. Auf der anderen Seite handelt vom Tod, von Zufall und Aufschub, Liebe und Versöhnung. Der Film ist in drei Kapitel eingeteilt, die jeweils durch Zwischenblenden eingeleitet werden. Der erste Teil, “Yeters Tod”, spielt in Bremen. Ali (Tunçel Kurtiz), ein alter verwitweter Türke, lernt die Prostituierte Yeter (Nursel Köse) kennen und überredet sie, ihren Job aufzugeben und bei ihm zu leben. Als Ali sie jedoch bei einem Streit totschlägt, verstößt Alis Sohn Nejat (Baki Davrak), ein Germanistikprofessor in Hamburg, seinen Vater.18 Wer mordet, könne nicht sein Vater sein.19 Nejat beschließt nach Istanbul zu reisen, um das Studium von Yeters Tochter zu finanzieren. Gleichzeitig flieht Yeters 27-jährige Tochter Ayten (Nurgül Yes¸ilçay) zu Beginn des zweiten Filmteils, “Lottes Tod”, während einer Demonstration in Istanbul und setzt sich nach Deutschland ab. Ayten ist Mitglied einer linksradikalen Widerstandsgruppe in der Türkei und setzt sich für Menschenrechte ein. Sie entkommt der Polizei, nachdem sie eine Waffe gestohlen hat und kann mit gefälschten Papieren in Deutschland einreisen. Dort lernt sie die deutsche Studentin Lotte (Patrycia Ziolkowska) kennen, die Ayten Unterkunft bei sich zu Hause bietet. Bald darauf verlieben sich die beiden Frauen ineinander. Lottes Mutter Susanne (Hanna Schygulla) zeigt sich unzufrieden damit, dass ihre Tochter eine fremde Frau bei ihnen zu Hause wohnen lässt und scheint verärgert und besorgt über das Verhältnis zwischen den beiden Frauen zu sein. In Bremen macht sich Ayten auf die Suche nach ihrer Mutter Yeter. Nachdem Ayten jedoch von der Polizei gefunden und ihr Asylantrag abgelehnt wird, wird 18
Christina Kraenzle sieht beispielsweise darin und in der Rolle der Schauspielerin Idil Üner als Ärztin einen Hinweis auf eine neue Phase der Integration von DeutschTürken in unterschiedlichen beruflichen Kreisen. Vgl. Kraenzle [wie Anm. 17]. 19 Fatih Akin: Auf der anderen Seite. Deutschland 2007. 0:37:25.
181 sie nach Istanbul abgeschoben, wo sie ins Gefängnis kommt, bis das Urteil über ihre Zugehörigkeit zu einer oppositionellen Partei gefällt ist. Lotte folgt Ayten nach Istanbul und will ihr helfen. Dort findet sie eine Unterkunft bei Nejat, der inzwischen eine deutsche Buchhandlung gekauft und sich in Istanbul niedergelassen hat. Durch Zufall kommt Lotte ums Leben, als sie von Jungen auf der Straße erschossen wird. Hier beginnt der dritte Akt, der ebenso wie der gesamte Film “Auf der anderen Seite” heißt. In diesem Akt reist Susanne nach Istanbul, um ihre tote Tochter zu betrauern. Dort zeigt sich, dass Lottes Tod ein Schlüsselereignis im Film bildet. Es kommt zur Versöhnung zwischen den Figuren, aber auch zwischen den Figuren und dem Tod. Akin sieht “den Tod nicht als etwas Destruktives und Beendendes, sondern als Wandlung, Metamorphose, das ist schon in Gegen die Wand so, dass die Figuren immer wieder sterben und dann neu geboren werden”.20 Die Figuren in Gegen die Wand verändern ihr Verhalten, ihre Lebensführung und ihre Ansichten im Laufe des Films, was zu einem neuen Leben führt. In Auf der anderen Seite spielen Tod und Wiedergeburt hingegen eine andere Rolle. Der Tod einiger Figuren führt zur Wende im Leben der ihnen nahe stehenden Personen. Als es in Istanbul zu einem Treffen zwischen Susanne und Nejat kommt, will Susanne sogar beim Abendessen “auf den Tod” anstoßen. Der Tod erscheint somit als die andere Seite des Lebens. Auf diese Weise wird die Grenze zwischen der “anderen Seite” oder dem Jenseits und dem Diesseits aufgehoben. Dementsprechend kann man auch den Titel des Films verstehen. In der Türkei erlebt Susanne eine Wende, vor allem als sie das Tagebuch ihrer Tochter liest, in dem Lotte ihre Ähnlichkeit mit ihrer Mutter beschreibt. In diesem Moment will Susanne die Ziele ihrer verstorbenen Tochter aufnehmen, ihren Weg nachgehen und Ayten helfen. Hier zeigt sich die innere Verbundenheit mit der Tochter. Obwohl es Lotte ist, die in ihrem Tagebuch bemerkt, dass sie “verblüffend ähnliche Wege” wie ihre Mutter geht, verwandelt sich die Mutter nach dem Verlust der Tochter in eine Lotte.21 Susanne hat Lotte nicht in Istanbul erlebt und war eigentlich aus Angst um ihre Tochter gegen Lottes Aufenthalt in der Türkei. Sie will aber bei Nejat im Zimmer ihrer verstorbenen Tochter bleiben und grüßt die Leute auf der Straße unbewusst auf die gleiche Art und Weise, wie ihre Tochter dies vor ihrem Tod getan hat. Eine weitere Szene zeigt, wie Susanne, wie ihre Tochter, Ayten im Gefängnis besucht, weil sie Ayten helfen will. Susanne scheint eine höhere Stufe erreicht zu haben, wo sie die Grenze zur “anderen Seite” überquert und eine innere Versöhnung mit dem Tod ihrer Tochter gefunden hat. 20
Rainer Gansera: Der Leidenschaftliche. Fatih Akin arbeitet sich in den inneren Zirkel der europäischen Autorenfilmer vor. Epd Film. Das Kino-Magazin 10/2007. S. 27–31. Hier: S. 28. 21 Akin [wie Anm. 19] 1:32:52.
182 Auch Ayten lässt Lottes Tod nicht in Ruhe. Obwohl sie sich bisher für ihre politischen Ideen und Ziele engagiert hat, gesteht sie sich, nachdem sie von Lottes Tod erfährt, ihre Schuld ein und verzichtet auf ihren politischen Widerstand. Sie kommt aus dem Gefängnis und setzt einen Schlussstrich unter ihre kämpferische Natur. So wie Lotte in Deutschland, will Susanne Ayten einen Wohnplatz bei sich anbieten. Es kommt zur Versöhnung zwischen Ayten und Susanne, was sehr stark im Kontrast zum Spannungsverhältnis zwischen den beiden Frauen während der Zeit in Deutschland steht. Die Grenzüberschreitung läuft nicht nur über Nationen, sondern auch über Generationen hinweg. Die Szenen, die Susanne und Ayten in der Türkei zeigen, erwecken einen sanften und verständnisvollen Eindruck. In Deutschland zeichneten sich diese Szenen mehr durch Susannes Eifersucht und Sorge um ihre Tochter und Aytens kämpferischen Charakter aus. Bis zum Ende des Films überschneiden sich die Wege der beiden Frauen. Ayten wird für Susanne eine zweite Lotte, während Susanne die Mutterrolle für Ayten übernimmt. Auch Nejat erlebt nach Lottes Tod scheinbar eine Wende und will sich mit seinem Vater versöhnen. Nach einem Gespräch mit Susanne beschließt er, sich auf den Weg in das Dorf seines Vaters zu machen, der inzwischen aus dem Gefängnis entlassen und in seine türkische Heimat zurückgekehrt ist. Die letzte Szene im Film zeigt Nejat am Strand sitzend, als er über das Meer zum Horizont schaut und auf die Rückkehr seines mit dem Boot ausgefahrenenVaters wartet. Auf diese Weise wird der in Gegen die Wand thematisierte Generationenkonflikt in Auf der anderen Seite fortgesetzt, nimmt aber im zweiten Teil der Trilogie eine andere Form an. Während Sibels Familie sie nach dem Ehebruch verstößt und sie deswegen nach Istanbul fliehen muss, ist es in Auf der anderen Seite der Sohn Nejat, der seinen Vater nach Yeters Tod zunächst verstößt. Während der Vater in Gegen die Wand Sibel ihren Fehler nicht verzeihen kann und der Konflikt ungelöst bleibt, weil die Familie durch den Verstoß ihre Ehre retten will, endet Auf der anderen Seite mit Nejats Versöhnung mit seinem Vater, was man als eine Befreiung von seinem Zorn verstehen kann. Das Thema der Befreiung tritt im Laufe des Films verstärkt in den Mittelpunkt und bekommt über die Handlungsebene hinaus eine metaphorische Bedeutung. Nicht nur Ali und Ayten verlassen das Gefängnis oder Deutschland, nachdem sie beide abgeschoben werden. Alle Figuren durchlaufen eine Wandlung im Film, die sie Grenzen über Länder, Nationen und Generationen hinweg überschreiten lässt. Sie zeigen dadurch universale Züge. Diese Befreiung zeigt sich ebenfalls auf einer anderen Ebene im Film, indem die Figuren keine Bindungen an bestimmte Orte zeigen. Während die Türkei in Gegen die Wand für die Protagonisten einen Ort der Fremde bildete, wissen sich die Figuren in Auf der anderen Seite dort problemlos zu bewegen. Die Figuren weisen Merkmale mobiler Identitäten auf, die sich durch ihre
183 dynamische Weiterentwicklung auszeichnen. Nicht nur zwischen den beiden Ländern, sondern auch zwischen allen konstruierten Oppositionen werden Grenzen verflüssigt, was für Hamid Naficy ein Merkmal des transnationalen Kinos bildet: […], they [transnational filmmakers; M.EH.] further destabilize the traditional gendered binarism of space since in transnationality the boundaries between self and other, female and male, inside and outside, homeland and hostland are blurred and must continually be negotiated.22
Nejat zögert beispielsweise nicht, sich in Istanbul nieder zu lassen und lässt sein Leben in Deutschland und seine Professur hinter sich. Der Migrationsprozess zeigt sich jetzt viel komplexer und ist nicht nur in Form des Reisens und der Ankunft an einem bestimmten Ort zu betrachten. Auf diese Art und Weise kann Deutschland zum Beispiel für Deutsch-Türken der Ausgangspunkt einer Migration werden. Nejat ist sowohl in Deutschland als auch in der Türkei integriert und weiß, wie er sich mit einer gewissen Selbstverständlichkeit sicher und problemlos in den beiden Welten bewegt. Die Szene, als Nejat sich die deutsche Buchhandlung in Istanbul anschaut, zeigt auch, inwieweit die zwei Welten, Deutschland und die Türkei, zusammengewachsen sind. Der Besitzer der Buchhandlung ist Deutscher, der in die Türkei immigrierte und sich nun, nach langen Jahren, eine Rückkehr nach Deutschland ersehnt. Er ist selber beim Gespräch mit Nejat vom Zufall erstaunt: “Ein türkischer Germanistikprofessor aus Deutschland landet in einer deutschen Buchhandlung in der Türkei”.23 Aber wahrscheinlich ist die Migrationsgeschichte so weit fortgeschritten, dass sie keine Einbahnstraße mehr bildet. Der Weg führt jetzt in beide Richtungen und zeigt, “daß wechselseitige Bespiegelung und Grenzverkehr in beiden Richtungen die einseitigen Integrationsbestrebungen ablösen”.24 Auch Ayten weiß sich in Deutschland problemlos zu bewegen, obwohl ihr dieses Land fremd ist. Sie ist nicht nur als Beispiel für Mobilität, sondern auch für Heimatlosigkeit zu betrachten. Weder in Deutschland, noch in der Türkei, nachdem sie aus dem Gefängnis kommt, hat sie eine Unterkunft. Ayten zerbricht jedoch nicht an der Obdachlosigkeit. Es ist das Schicksal, das sie immer wieder zu Personen führt – Lotte und später Susanne –, die ihr zugleich auch ein Dach über dem Kopf zur Verfügung stellen. Nichts kann Lotte davon abhalten, dass sie ihr Studium in Deutschland für ihre Freundin unterbricht. Sie will 22
Hamid Naficy: Phobic Spaces and Liminal Panics: Independent Transnational Film Genre. In: Global, Local. Hg. von Rob Wilson und Wimal Dissanayake. Durham (NC) – London: Duke University Press 1996. S. 119–144. Hier: S. 128. 23 Akin [wie Anm. 19] 00:36:27. 24 Göktürk: Verstöße gegen das Reinheitsgebot [wie Anm. 2]. S. 113.
184 nur in Istanbul sein, um Ayten zu helfen. Auch Susanne beschließt so lange in Istanbul zu bleiben, bis sie Ayten geholfen hat. Im Allgemeinen scheinen die Bindungen an die Heimat nicht fest zu sein. Die Beweggründe, die die Figuren einen anderen Weg gehen lassen, sind viel stärker oder universaler als geographische Trennungslinien. Die Fremdheit, die mit der Ankunft an einem neuen Ort verbunden sein kann, wird damit unterlaufen. Interessant ist ebenfalls die Figur des Vaters Ali. An ihm erkennt man nicht mehr die ‘Betroffenheit’ der ersten Generation oder der ‘stummen Alis’, die in ihrem Außenseitertum in der deutschen Gesellschaft verhaftet sind. Außer Alis mangelhaftem Deutsch verrät nichts an seinem Verhalten, dass er nicht in den Alltag in Deutschland passt. Das steht in starkem Kontrast zu Sibels Familie in Gegen die Wand, die durch ihre Rückkehr zum Nationalen – oder zu dem, was sie als ‘national’ konstruieren – ein homogenes Türkischsein und einen isolierten Alltag erstreben. Die Darstellung Alis ist deswegen wieder ein Indiz dafür, inwiefern die Migrationsgeschichte eine fortgeschrittene Phase der Integration erreicht hat. Die Grenzüberschreitung manifestiert sich im Film auch in Form des wiederholten Kampfes, des Widerstands und der Bewegung. So kommentiert Akin die erste Filmszene, die die Hauptfigur Nejat zeigt: “Der Kameramann sagte, wir sollten das wie bei Antonioni machen, wir schwenken von der Bude auf die Tankstelle, und das Auto mit dem Helden fährt entgegen der Kamerabewegung ins Bild. Das setzt sich im ganzen Film fort”.25 Das zeigt sich im Laufe des ganzen Films in der Suche der Figuren nach einander über geographische Grenzen hinweg, um sich zu vereinen. Ihre Wege aus entgegengesetzter Richtung nähern sich an, kreuzen sich aber nie. Als Ayten ihre Mutter sucht, zeigt eine Einstellung sie zusammen mit Lotte im Auto, während Nejat und Yeter in der Straßenbahn sitzen und sich über Yeters Tochter Ayten unterhalten. Das bildet einen Moment der unerreichbaren Nähe, in dem sie sich verpassen und in Bewegung auf der Suche nacheinander bleiben. Nicht nur in Gegen die Wand, sondern auch in Auf der anderen Seite wird das Türkischsein komplexer als lediglich als einheitliche nationale Identität dargestellt. Kraenzle beschreibt, inwiefern die Darstellung der Vielfalt der türkischen Identität in Auf der anderen Seite zum Ausdruck gebracht wird. Als Beispiele für die breite Palette nennt sie die Figuren von zwei Fundamentalisten in Deutschland, die sich erlauben, Yeter in der Straßenbahn zu bedrohen. Für die beiden Männer verkörpert Yeter nicht ihre Idealvorstellung einer türkischen muslimischen Frau. Im Gegensatz dazu – so Kraenzle – stehen die Figuren von Ayten und ihren Kommilitoninnen – alles Frauen, die mit ihren linksradikalen politischen Ansichten in keine konservative Form der ‘türkischen’ Identität 25
Andreas Kilb und Peter Körte: Keine Angst vor dem Islamismus in der Türkei. Interview mit Fatih Akin. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 2. 9. 2007. S. 28.
185 passen.26 In einer weiteren Szene werden die Probleme des Analphabetismus und des Verbrechens kurdischer Minderheiten in der Türkei angesprochen, während Nejat auf der Suche nach Ayten ist. Dadurch macht Akin auch auf die multiethnische Seite der Türkei aufmerksam, die ein Mosaik von Identitäten bildet. Istanbul wird nicht nur als Ort der ethnischen, sondern auch der religiösen Vielfalt skizziert. Das zeigt sich in einer Szene, in der Nejat und Susanne über das Opferfest sprechen. Das Gespräch wird eingeleitet vom Gebetsruf, der im Hintergrund ertönt. Gleichzeitig folgen drei Einstellungen aufeinander, die zwei Moscheen und eine Kirche zeigen und damit auf das multireligiöse Leben in der Türkei hinweisen. An dieser Stelle erklärt Nejat Susanne die Hintergrundgeschichte des gefeierten Opferfestes, woraufhin Susanne antwortet: “Diese Geschichte gibt’s bei uns auch”.27 Das verleiht dem Gespräch einen universalen Klang.
III. Zusammenfassung In Gegen die Wand müssen die beiden Protagonisten zunächst Grenzen, die als ‘türkisch’ konstruiert wurden, ständig hin und her überqueren, um einen Mittelweg zu finden zwischen den auferlegten Einengungen und Einschränkungen der traditionellen Familie und ihren persönlichen Bedürfnissen, die stark von den sie umgebenden Normen abweichen. Masken- und Rollenspiele stellen sich vor allem in der ersten Filmhälfte als Mittel zur Überschreitung der Grenzen zwischen den Generationen oder zwischen Tradition und Modernität heraus. Im Laufe des Films zeigt sich eine Entwicklung der Protagonisten. Ihre Wut auf alles ‘Türkische’ kühlt ab, bis sie einen Neuanfang in der Türkei zu suchen beginnen, wobei das für Sibel eine Zwangsmaßnahme ist. Dort befreit sie sich im Zuge ihrer Entwicklung von ihren wilden Bedürfnissen und ihren dominanten Lebensmaximen und begibt sich in ein häusliches Leben. Cahit erstrebt hingegen einen Neubeginn bei seinen Wurzeln, zu denen er sich bisher kaum bekannt hat. Die Türkei offenbart sich für die Protagonisten gleichzeitig als ein Ort der Befreiung von ihren selbstdestruktiven Aktionen, aber auch der Gefangenschaft in individuellen Wegen, die sich nicht überkreuzen. Bis zum Filmende bleibt zwar die Liebesgeschichte unerfüllt, beide Figuren sind aber wiedergeboren. Während die Figuren in Gegen die Wand liminale Züge aufweisen, überschreiten die Protagonisten in Auf der anderen Seite nationale Festlegungen und verlagern die Diskussion auf eine universale und humanistische Ebene. In diesem Film werden Grenzen komplett aufgelöst, so dass man kaum von sich 26 27
Kraenzle [wie Anm 17]. Akin [wie Anm. 19] 01:41:53.
186 gegenüberstehenden Oppositionen sprechen kann. Das Verschwimmen der Grenzen scheint die Mobilität der Figuren zu unterstreichen und lässt sie mehrere Heimaten entdecken. Die Schicksale der einzelnen Figuren in Deutschland und in der Türkei lassen sich trotz der geographischen Grenzen nicht mehr voneinander trennen und sind ineinander verflochten. Alle Protagonisten wissen sich sowohl in Deutschland als auch in der Türkei zu bewegen und destruieren damit das Gefühl der Fremdheit. Auf der anderen Seite zeigt ebenso eine neue Phase der Migration, wo das Reisen, die Ankunft und die Rückkehr in mehrere Richtungen laufen und an unterschiedlichen Orten angesiedelt werden können. Bis zum Filmende sind nicht nur die Grenzen zwischen den verschiedenen Welten, Nationen und Generationen, sondern auch zwischen Leben und Tod überbrückt worden.
IV. Ost- und Südosteuropa
Boris Previsˇic´
Poetik der Marginalität: Balkan Turn gefällig? The importance of the Balkans as projection screen for contemporary German ‘native language literature’ cannot be underestimated, both for demographic and historical reasons. This chapter demonstrates that neither Peter Handke nor W.G. Sebald, neither Norbert Gstrein nor Juli Zeh manage to dissolve fixed stereotypes about the Balkans as their works remain flawed by distance, naivety, constructedness, hesitation and appropriation. In contrast, Sasˇa Stanisˇic´ ’s hybrid debut novel Wie der Soldat das Grammofon repariert manages to bring to life a kaleidoscope of different voices through its reflected narrative structure. Thus it is only migrant writing that fulfils an intercultural and political task of mediation that manages to break up stereotypes.
Kommt es nach dem Turkish Turn1 bald zu einem Balkan2 oder Yugoslavian Turn in der deutschen Literatur? Diese Frage lässt sich aus demographischem Gesichtspunkt nur halb entkräften: So stehen den über zwei Millionen nicht naturalisierten türkischen Einwohnern und Einwohnerinnen3 im deutschsprachigen Raum ungefähr eine Million aus dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens gegenüber. Man könnte daraus die Mutmaßung ableiten, dass die Wahrscheinlichkeit für einen Yugoslavian Turn bei 1 zu 2 liege. Da der Turkish Turn vornehmlich durch naturalisierte Türken der zweiten und dritten Generation ausgelöst wurde, welche hier nicht mitgezählt wird, hinkt die Beweisführung zugegebenermaßen. Ein weiterer Tatbestand ist wohl viel eher von Bedeutung, der auch die Notwendigkeit eines Yugoslavian Turn aufzeigen könnte: Während in Deutschland lediglich 8% der Immigrierten aus dem Gebiet von Ex-Jugoslawien stammen, so sind es in der Schweiz 23% und in Österreich sogar 43%.4 In der 1
Leslie A. Adelson: The Turkish Turn in Contemporary German Literature. Toward a New Critical Grammar of Migration. New York: Palgrave MacMillan 2005. 2 Im Unterschied zur ein bisschen spitzfindigen Überlegung von Maria Todorova, die jüngsten kriegerischen Auseinandersetzungen im ex-jugoslawischen Raum seien nicht als Balkankriege zu bezeichnen, da sie – im Unterschied zum Ersten und Zweiten Balkankrieg 1912 und 1913 – nicht mehrere Länder der Region betrafen, verwende ich Ex-Jugoslawien und Balkan bewusst synonym, da der Begriff “Balkan” erst seit dem Zerfall Jugoslawiens auch in unserer Rezeption wieder Urstände feiert. Vgl. dazu Maria Todorova: Die Erfindung des Balkans. Europas bequemes Vorurteil. Aus dem Engl. von Uli Twelker. Darmstadt: Primus 1999. S. 83f. 3 In diesem Abschnitt impliziert die männliche auch die weibliche Form. 4 Vgl. Daten – Fakten – Trends. Deutschland im Europäischen Vergleich. Hg. von der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration. Stand: 2004. Berlin: Dezember 2005. Weiterhin Bundesamt für Statistik:
(1. 7. 2007).
190 mehrsprachigen Schweiz hat beispielsweise das Serbokroatische als FamilienHauptsprache zwischen 1990 und 2000 das Spanische vom vierten Platz verdrängt, und das Albanische – vornehmlich dank Immigration aus dem Kosovo – ist im selben Zeitraum sogar von Platz 10 auf Platz fünf vorgerückt.5 Langer Zahlenrede kurzer Sinn: Österreich und die Schweiz werden durch ihre demographischen Begebenheiten dazu gezwungen, den Balkan als kulturellen Faktor wahrzunehmen. Zählte man den Balkan zur osmanischen Sphäre, so verstärkt sich letztlich der Turkish Turn im weiten Sinn.6 Doch genau hier stoßen wir neben der demographischen Verteilung auf die zweite Variable der nachbarschaftlichen Nähe: Einen ähnlichen historischen Anspruch auf den Balkan wie das osmanische Reich macht auch Österreich-Ungarn geltend, denn spätestens seit 1878, seit der k.u.k. Verwaltung und definitiv seit 1908, seit der Annexion der damals türkischen Provinzen Bosnien, Herzegowina sowie des Sandschak von Novi Pazar, hat sich der deutschsprachige Raum seinen eigenen Orient und seine eigene
5
Bundesamt für Statistik: (1. 7. 2007). So muss das Spanische mit dem siebten Platz vorlieb nehmen, da sich das Portugiesische auf Platz sechs behauptet. Kennzeichnend ist dabei, dass in der offiziell viersprachigen Schweiz die vierte Landessprache, das Rätoromanische, erst auf Platz 9 (1990) bzw. 10 (2000) rangiert. Absolut gesehen sprechen ungefähr sieben Mal mehr Leute Serbokroatisch oder Albanisch als Rätoromanisch. Man müsste sich nur einmal ausmalen, wie stark die jugoslawische Kultur in der Schweiz aufblühen könnte, bekäme sie dieselbe Unterstützung wie die rätoromanische. 6 Anzeichen einer Einbeziehung des Balkans in der deutsch-türkischen Literatur sind zwar nicht markant, aber durchwegs auszumachen. Darauf verweist Karin E. Yes‚ilada in ihrer Besprechung des Gedichts “Die schlafende Generation” von Zafer S‚enocak, wo es heißt: “auf dem Balkan schneite es / der Schnee roch nach Qualm / während ich schlief bekam ich einen Anruf auf meinem Anrufbeantworter / eine vertraute Stimme die ferner rückte je länger sie sprach / jemand fragte mich nach der Adresse des Frühlings / er hatte sein ganzes Hab und Gut dabei / hatte sich viel gemerkt unterwegs / und las aus dem Koffer vor / da Worte keiner Poesie bedürfen / zog ich weiter und schlief / die Bäume am Wegrand rauchten ihre letzten Blätter […]”. In: Zafer S‚enocak. Hg. von Tom Cheesman und Karin E. Yes‚ilada. Cardiff: University of Wales Press 2003. S. 9-10. Hier: S. 10. Yes‚ilada macht hier – im Unterschied zu früheren Stadtgedichten von S‚enocak – eine neue “Topographie des dunklen, unheimlichen Europas” aus, welche Hand in Hand mit “Krieg, Tod und Zerstörung” und mit Emigration geht, wodurch das Gebäude der Poesie, welches wenigstens den “Worten” Schutz bieten könnte, selbst bedroht wird. Karin E. Yes‚ilada: Poetry on its Way. Aktuelle Zwischenstationen im lyrischen Werk Zafer S‚enocaks. In: Ebd. S. 112–129. Hier: S. 120.
191 Projektionsfläche geschaffen.7 Dieser kommt in einem spezifisch österreichischen Mitteleuropadiskurs, in dem eine Prise k.u.k. Nostalgie immer mitschwingt, latent zum Ausdruck.8 Auch wenn sich zum Beispiel Thorsten Becker mit seiner Kombination von Box-Reportage, Schelmenroman und historischem Abriss Sieger nach Punkten (2004) weit in die Türkei vorgewagt hat, so beschäftigt sich die ‘deutschmuttersprachige’ Literatur weit mehr mit dem Balkan, genauer gesagt mit dem Zerfall Jugoslawiens. Bei der Rezeption dieses Konflikts weitet sich die Perspektive vom Nationalen auf das Supranationale, auf das Europäische, wenn nicht sogar auf das Globale und – das ist das Verwunderliche – verweist immer auf eine eigene lokal-nationale Identität. Das Schreiben über Ex-Jugoslawien erscheint im deutschsprachigen Raum noch heute viel gewichtiger als das Schreiben von Immigrierten aus diesem Gebiet. Das Paradox besteht nun darin, dass man über etwas, das näher liegt als die Türkei, mehr aus zweiter als aus erster Hand erfährt. Damit unterscheidet sich die literarische Balkanrezeption grundsätzlich vom Turkish Turn. Diese ‘Second-Hand-Situation’ hat zur Folge, dass der Balkan mehr als die Türkei als Projektionsfläche Europas herhalten muss. Gerade der Zerfall Jugoslawiens hat Europa ins Bewusstsein gerufen, dass auch ‘bei uns’ Krieg sein kann. Dies hat das Interesse ‘bei uns’ geweckt, sich mit diesem Raum auseinander zu setzen, wobei meist eine einseitige, man könnte sogar mit Said sagen: eine ‘orientalistische’ Sichtweise vorherrscht, welche zwei gegenläufige Reaktionen impliziert: Zum einen wird der Balkan exotisiert und dadurch marginalisiert, zum anderen ist aber eine große Bemühung erkennbar, diesen
7
Davon zeugt ein riesiger Fundus an deutschsprachigen Reisebeschreibungen und Romanen, welche bis 1918 – und darüber hinaus – entstanden sind. Dazu zählen auch Bestseller wie Heinrich Renners Wanderführer Durch Bosnien und die Hercegovina kreuz und quer (Berlin 1896) oder Robert Michels Romane Die Häuser an der Dzˇ amija (Berlin 1915) und Auf der Südostbastion unseres Reiches (Leipzig 1915). Von der Erinnerungsliteratur, welche nach dem Niedergang der Doppelmonarchie die großen Zeiten beschwört, ist Friedrich Oppenheimers auflagenkräftiger Roman Sarajevo – das Schicksal Europas (Wien 1931) oder Hermann Wendels Reisebericht Kreuz und quer durch den slawischen Süden (Frankfurt/M. 1922) zu erwähnen, der wiederum an den Titel des Wanderführers vor dem Ersten Weltkrieg anspielt – mit dem feinen Unterschied, dass man inzwischen das ganze Königreich Jugoslawien von Slowenien bis Mazedonien als Einheit bereisen kann. Denn auch die osmanische Einflusssphäre hat sich inzwischen von der Balkanhalbinsel zurückgezogen. 8 Ein Standardwerk der Literaturwissenschaft, welches diesen Zusammenhang bereits 1963 kritisch zu durchleuchten versuchte, bildet die wieder neu übersetzte und überarbeitete Dissertation von Claudio Magris: Der habsburgische Mythos in der modernen österreichischen Literatur [1963]. Wien: Paul Zsolnay 2000.
192 Raum in ‘unsere’ Sphäre zu integrieren. So kommt es einerseits zu einer Zuschreibung von Stereotypen (‘Balkanisierung’, ‘Pulverfass’, ‘Wild Europe’ etc.),9 andererseits zu einer zunehmenden ökonomisch-politischen Anbindung an Europa. Das Problem liegt nun darin, dass die zwei gegenläufigen Reaktionen oftmals nicht so leicht unterscheidbar sind, da sie oft im Verbund auftreten. Man kann von der politischen Agenda sprechen – die kriegsversehrten Gebiete bilden immer noch eine weiße Fläche mitten in der EU. Oder man kann die literarische Rezeption in den Blick nehmen – zurück bleibt ein blinder Fleck. Was bis jetzt im Unterschied zur deutsch-türkischen Literatur weitgehend ausbleibt, ist jene hybride Reflexion, welche in beiden Räumen zu Hause ist (und sich darum in beiden entwurzelt fühlt). Erst so könnte sich wirklich jener ‘dritte Raum’ bilden, worin die Integration nicht forciert wäre. Aus diesem Grund kann nicht nur eine politische Analyse, sondern insbesondere auch ein literaturwissenschaftlicher Ansatz aus leicht verschobenem Blickwinkel – ob er nun inter- oder transkulturell definiert wird, sei dahingestellt10 – die Notwendigkeit 9
Zur Begriffsgeschichte der “Balkanisierung” bzw. des “Balkanismus” einschlägig: Maria Todorova: Die Erfindung des Balkans [wie Anm. 2]. Zum Schimpfwort “Balkanisierung”: S. 17. Zu seiner historischen Herausbildung und heute immer noch kontroversen Verwendung: S. 56ff. In einem späteren Artikel weist die Autorin darauf hin, dass insbesondere Ambiguität diesem geographischen Raum zugeschrieben wird. Dazu gehört “halbentwickelt”, “halbkolonial”, “halbzivilisiert” und “halborientalisch”. So in Maria Todorova: Der Balkan als Analysekategorie. Grenzen, Raum, Zeit. In: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002). Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 2002. S. 470-492. Hier: S. 471f. Ihr Artikel ist als Reaktion auf die wissenschaftliche Stereotypisierung des Balkans durch Holm Sundhaussen zu verstehen. Vgl. Holm Sundhaussen: Europa balcanica. Der Balkan als historischer Raum Europas. In: Geschichte und Gesellschaft 25 (1999). Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1999. S. 626–653. Nach der Setzung von acht spezifischen Merkmalen für den Balkan – wie beispielsweise “Instabilität der Siedlungsverhältnisse”, “ethnische Gemengelage” (S. 638), “Rückständigkeit” (S. 645) oder Wichtigkeit von “Mentalitäten und Mythen” (S. 649f.) – kommt Sundhaussen zum Schluss, dass ein “empirisch fundierbare[s] Merkmalcluster” “dem Balkanraum sein unverwechselbares, faszinierendes und mitunter erschreckendes Profil verleiht” (S. 651). Mit der Hervorhebung seiner Empirik möchte sich Sundhaussen von der Diskursanalyse in Todorovas Die Erfindung des Balkans abheben. Damit gerät er aber nur ins Fahrwasser unreflektierter Zuschreibungen, welche die Zuschreibungen selbst – seien sie nun eigener oder fremder Provenienz – nicht mitreflektiert. 10 Dennoch bevorzuge ich den Begriff mit dem Präfix “inter”, da dadurch die Zwischenstellung, manchmal auch die widerständig kulturelle Versperrung mitgedacht werden kann, während “trans” im heutigen inflationären Sprachgebrauch eine mühelose Verbindung insinuiert. Vgl. dazu auch Michael Hofmann: Interkulturelle Literaturwissenschaft. Eine Einführung. Paderborn: Fink UTB 2006. S. 9–14.
193 eines explizit hybriden Reflexionsraumes im Zusammenhang mit dem Balkan aufzeigen. Um diese aber erfassen zu können, tut eine historische Aufarbeitung seit dem Krieg not. Exemplarisch soll bei vier ‘deutschmuttersprachigen’ Autoren aufgezeigt werden, worin bei ihrer Auseinandersetzung mit dem Balkanraum das spezifische Problem besteht, um schließlich die Rolle der zur Zeit noch spärlichen, aber sicherlich anwachsenden ‘Migrantenliteratur’ einer zweiten und dritten Generation bestimmen zu können. Den Ausgangspunkt bilden Peter Handke, W.G. Sebald, Juli Zeh und Norbert Gstrein, den Zielpunkt Sasˇa Stanisˇic´ s Romandébut Wie der Soldat das Grammofon repariert (2006), welches ein Anfang für einen Balkan Turn erahnen lässt. Obwohl man den Zeitpunkt des Beginns vom Zerfall Jugoslawiens weit vor dem Kriegsbeginn 1991 ansetzen müsste, findet man in der deutschsprachigen Literatur – abgesehen vielleicht noch von Milo Dor11 – einzig bei Peter Handke eine bewusste Auseinandersetzung mit dem Balkanraum Anfang der 1990er Jahre als Reaktion auf die Unabhängigkeitserklärung Sloweniens, eines Landes, welches “sich den Zerfall ihres [ursprünglichen] Staates [Jugoslawien]” habe “von außen einreden lassen”.12 Peter Handke sieht den utopischen Raum seines Jugoslawienromans Die Wiederholung, um die geflügelten Worte aus dem Slowenischen zu verwenden, sein “Neuntes Land”,13 untergehen, wozu er in seiner Realutopie nicht einfach nur Slowenien,
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Vgl. Milo Dor: Leb wohl, Jugoslawien. Salzburg – Wien: Otto Müller 1993. In dieser Aufsatzsammlung, die zu einem großen Teil vor dem Krieg entstanden ist, reflektiert der österreichische Schriftsteller, der im Banat und anschließend in Belgrad aufgewachsen war, bevor er sich im Zweiten Weltkrieg dem jugoslawischen Widerstand gegen die Nazibesetzung anschloss, den Zerfall seiner alten Heimat. Nach dem Krieg setzt eine Reflexion im europäischen Kontext ein. Vgl. dazu Milo Dor: Mitteleuropa – Mythos oder Wirklichkeit – auf der Suche nach der größeren Heimat. Salzburg – Wien: Otto Müller 1996. 12 Peter Handke: Abschied des Träumers vom Neunten Land (Süddeutsche Zeitung vom 27./28. Juli 1991). In: Abschied des Träumers vom Neunten Land, Winterliche Reise, Sommerlicher Nachtrag. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998. S. 20. 13 So heißt es noch: “Mögen wir uns eines Tages alle wiederfinden, in der geschmückten Osternachtskalesche, auf der Fahrt zur Hochzeit mit dem Neunten König im Neunten Land”. Peter Handke: Die Wiederholung. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1986. S. 317. Dass der Ausdruck “Neuntes Land”, auf Slowenisch “Deveta dezˇela”, bereits Ende des 19. Jahrhunderts ein geläufiger Begriff war und auch heute noch ist, um ein “fernes, mythisches Land” zu umschreiben, erwähnt Irena Samide in ihrem Aufsatz Spieglein, Spieglein an der Wand: Wo liegt das holde Neunte Land? – Der habsburgische Mythos aus slowenischer Sicht. In: Kakanien revisited. Das Eigene und das Fremde (in) der österreichisch-ungarischen Monarchie. Hg. von Wolfgang Müller Funk u.a. Tübingen: Francke 2002 (Kultur – Herrschaft – Differenz 1). S. 201–210. Hier: S. 201. Fußnote 3.
194 sondern das ganze “widerständische Jugoslawien” zählt.14 Diese fiktionalfaktuale Mischung des “Märchenwirklichen”15 setzt er unmittelbar nach dem Krieg in seiner Winterlichen Reise lediglich fort, welche er Anfang Januar 1996 in der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht.16 Die Projektionsfläche heißt zwar nicht mehr Jugoslawien, sondern Serbien, das er als Residuum des Widerstands gegen die Verwestlichung und Vermarktung verteidigt und glorifiziert. Es wird nur geglaubt, was Peter Handke sieht; dies garantiert die absolute Integrität und Authentizität im Gegensatz zu den Hauptfeinden, den Kriegsberichtserstattern. Die Poetik bleibt sich die Gleiche wie im Roman Die Wiederholung, doch darob wird die politische Situation völlig verkannt.17 Dadurch entsteht der paradoxe Effekt, dass durch den Versuch einer Reintegration der durch den Krieg diffamierten Serben die Bosniaken ausgegrenzt werden – ganz nach dem Muster des Nesting Orientalism.18 So beschreibt zwar der Ich-Erzähler in der Serbienreise, wie sich durch das Aussprechen des Warenwortes ein “Re-paysement” ereignet, er sich in Belgrad dadurch angekommen und so
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Peter Handke: Die Wiederholung [wie Anm. 13]. S. 14. Ebd. S. 17. 16 Zuerst erschien der Reisebericht unter dem Haupttitel Gerechtigkeit für Serbien am 5./6. und 13./14. Januar 1996 und kurz danach in Buchform. Peter Handke: Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1996. Im Folgenden: (WR). 17 So bemerkt Irena Samide in ihrem Aufsatz, dass Handke bereits im Essay Abschied des Träumers vom Neunten Land “aktuelle Probleme, wirtschaftliche, politische und historische Faktoren außer acht” lässt. Samide: Spieglein, Spieglein an der Wand [wie Anm. 13]. S. 2. Fußnote 9. Mirjana Stancˇic´ findet Handkes “politische Ansichten” in Eine winterliche Reise bloß “unüberlegt und nicht besonders interessant, gelegentlich auch verletzend”, da er über “keine relevante politische Vision” verfüge. Man müsse ihm hingegen “ein gewisses ästhetisches Recht einräumen”, welches der Undarstellbarkeit des Krieges gerecht werde. Mirjana Stancˇic´ : Der Balkankrieg in den deutschen Medien. In: Krieg in den Medien. Hg. von Heinz-Peter Preußer. Amsterdam: Rodopi 2005 (Amsterdamer Beiträge zur Neueren Germanistik. Band 57). S. 203–224. Hier: S. 213. Dennoch müsste man sich an dieser Stelle fragen, ob nicht gerade im Reisebericht Handkes die Gewichtung explizit anders ist, bei der die Frage nach der Ästhetik in den Hintergrund rückt und die politische Provokation umso größer ausfällt, zumal Handkes politische Reflexion über (das ehemalige) Jugoslawien nicht zu vernachlässigen ist. 18 Durch die konstruierte Essentialisierung von Nationalismus, wie sie Mitte der 1980er Jahre in Jugoslawien einsetzt, gelangt eine fatale Hierarchie unterschiedlicher Orientalismusgrade ins öffentliche Bewusstsein, wobei Slowenen als zivilisierter als Kroaten, Kroaten als Serben, Serben als Bosnjaken, Bosnjaken als Kosovoalbaner, Kosovoalbaner als Albaner stereotypisiert werden. Einschlägig dazu der Aufsatz von Milica Bakic-Hayden: Nesting Orientalisms. The Case of Former Yugoslavia. Slavic Review 54 (1995). S. 917–931. 15
195 authentisch wähnt. Doch fast im selben Atemzug, wenn er über Bosnien schreibt, spricht er despektierlich von den dortigen “Muselmanen” (WR 38) und davon, wie die Menschen “nicht bloß in der meinetwegen multikulturellen Hauptstadt, sondern von Dorf zu Dorf, und in den Dörfern selber von Haus zu Hütte, nebenund durcheinanderlebten”. (WR 39, meine Hervorh.) Damit tritt bei Peter Handke unverhofft eine Exotisierung auf, wie man sie vor dem Krieg, beispielsweise in der Aufsatzsammlung Noch einmal für Thukydides, nicht antrifft.19 Diese steigert sich zu noch mehr Unverständnis und Marginalisierung im Sommerlichen Nachtrag zu einer winterlichen Reise, als er sich endlich nach Bosnien vorwagt und über Srebrenica ein “islamische[s] oder überhaupt orientalische[s] Verbot der Bilder” verhängt.20 Dies geschieht an dem Punkt, an dem die Ungeheuerlichkeit des Massakers von Srebrenica beim Namen genannt werden könnte und auch müsste. Dem Erzähler gelingt es aber in einer eigenartigen Volte von Fremdlegitimation, das symbolische Zentrum der ethnischen Säuberung zu camouflieren. Denn es handle sich bei Srebrenica um eine “außerordentliche Kleinheit, gleichsam Geringfügigkeit […], verglichen mit dem großen, genau so bewohnten und doch mehr oder weniger verschonten Land ringsherum”.21 Zynischer könnte die Marginalisierung und Verdrängung des größten Massakers in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg nicht dargestellt werden. Die Marginalisierung des Balkans bildet in W.G. Sebalds Reisebeschreibung an der südenglischen Küste Ringe des Saturn, ein Jahr vor Handkes Winterlicher Reise, den Ausgangspunkt seiner Überlegungen. Es wird der Eindruck vermittelt, dass der Ich-Erzähler nur zufällig auf das Thema Balkan stößt, indem ihm “etwas abseits auf dem Tisch, ein dicker, zerfledderter Foliant in die Augen fällt”, “eine photographische Geschichte des Ersten Weltkriegs, zusammengestellt und veröffentlicht im Jahr 1933 […], sei es zum Andenken an das zurückliegende Unheil, sei es zur Warnung vor dem, das jetzt heraufzog”.22 Aufhorchen lässt das Temporaladverb “jetzt”, da es sich sowohl auf das Jahr von Hitlers Machtergreifung, 1933, wie auch auf die Jetztzeit des Erzählers beziehen kann. Diese Ambivalenz wird zwar nicht direkt, aber indirekt gelöst, wenn er an einer bestimmten Stelle im “Folianten” einhalten muss: “Ein besonderer Abschnitt des Bandes ist den chaotischen Verhältnissen
19 Vgl. Peter Handke: Noch einmal für Thukydides. Wien: Residenz Verlag 1995. S. 38. 20 Peter Handke: Sommerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise [1996]. In: Handke [wie Anm. 12]. S. 224. 21 Ebd. S. 238. 22 Winfried Georg Maximilian Sebald: Die Ringe des Saturn. Eine englische Wallfahrt. Frankfurt/M.: Eichborn 1995. Zitiert nach der Taschenbuchausgabe Frankfurt/M.: Fischer 1997. S. 116.
196 auf dem Balkan gewidmet, einer Weltgegend, die von England damals weiter entfernt war als Lahore oder Omdurman”.23 Damit gelingt es dem Erzähler, den zur Zeit der Niederschrift 199324 aktuellen Krieg und dessen mentale Entfernung zusammen zu denken. Dies ist aber erst der Ausgangspunkt. Denn der Erzähler wagt sich innerhalb des Kapitels weiter in die Gegenwart vor, vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg, in dem das brutale Vorgehen der Ustasˇa im Konzentrationslager Jasenovac vorgeführt wird. Davon wiederum habe “ein junger Wiener Jurist” “aus der Heeresgruppe E” berichtet, der “sogar in das [Amt] des Generalsekretärs der Vereinten Nationen” aufgestiegen sei. So figuriert die Person Kurt Waldheims und damit auch die österreichische Innenpolitik als eigentlicher Fluchtpunkt und Aktualisierung des zu Anfang so weit entfernt geglaubten Konflikts.25 Im digressiv-postmodernen Erzählen zeichnet sich plötzlich eine Bewegung vom äußersten Rand ins Zentrum ab. Der Ich-Erzähler muss sich nicht wie bei Peter Handke ständig seiner Authentizität und Intention vergewissern. Im Gegenteil: Auch ohne großes Dazutun wird Marginalisiertes plötzlich integriert. Doch die Perspektive bleibt gerade durch den inszenierten distanziert-zufälligen Blick immer ‘exterritorial’. Ähnlich ergeht es Juli Zeh, aber unter geänderten Vorzeichen: Die fiktive Bezugnahme zum Balkan gerinnt zum faktualen Bericht Die Stille ist ein Geräusch. Eine Fahrt durch Bosnien (2003). Darin folgt die Erzählerin poetologisch scheinbar den Fußstapfen Peter Handkes, meist implizit – und einmal
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Ebd. S. 117. Zwar waren beide Orte während des Ersten Weltkriegs Bestandteil von Englands Kolonien. Doch sowohl Lahore, vor der Eroberung 1848 Hauptstadt der Sikh, wie auch Omdurman, zwischen 1885 und 1898 im Unterschied zum gleich über dem Fluss liegenden und von den Ägyptern und Engländern verwalteten Khartum Hauptstadt der Gläubigen, symbolisierten eigentlich Widerstandsnester gegen die europäische Expansion. Mit der Anspielung, dass der Balkan “von England damals weiter entfernt” lag als diese Orte in Asien und Afrika, zeigt der Erzähler auf, dass der Balkan – zumindest aus britischer Perspektive – nicht nur außerhalb Europas, sondern auch außerhalb jeglicher Mission civilatrice zu verorten sei. 24 Die Jahreszahl erscheint auch im Zusammenhang mit dem fünfundsiebzigsten Todestag des Attentäters von Sarajevo, Gavrilo Princip, “den die Serben 1993 feierten”. Ebd. S. 119. 25 Der Begriff “Fluchtpunkt” wird hier nicht nur metaphorisch gebraucht. Vielmehr hebt auch der Schluss des Kapitels wörtlich von der Erde ab, wo der Erzähler noch anmerkt, dass Kurt Waldheim in der Funktion des UNO-Generalsekretärs “angeblich […] für allfällige außerirdische Bewohner des Universums eine Grußbotschaft auf Band gesprochen hat, die jetzt, zusammen mit anderen Memorabilien der Menschheit, an Bord der Raumsonde Voyager II die Außenbezirke unseres Sonnensystems ansteuert”. Ebd. S. 123.
197 gar explizit, wie sie auf der bosnischen Seite der Drina vermerkt: “Da drüben auf der anderen Seite stand Peter Handke vor fünfdreiviertel Jahren, entdeckte eine schwimmende Kindersandale und wollte nicht herüberkommen”. Und fügt die Bemerkung an: “Was haben sie ihn dafür gescholten”.26 Doch die authentische Erzählhaltung, welche der Ich-Erzähler bei Handke hervorhebt, wird durch ständige Ironisierungen der Ich-Erzählerin durchbrochen.27 Dies wird besonders da einsichtig, wo sich die Ich-Erzählerin über die Spezies “Balkanheld” auslässt. Obwohl sie es sich nicht verkneifen kann, immer wieder in die Rolle der Abenteurerin zu schlüpfen, lässt sie sich gehörig über ihn aus. Er spreche zwar von “Expedition”, müsse dann aber feststellen, “dass alles, was ihm bei Nacht um die Ohren fliegt, Mücken und Fledermäuse sind, keineswegs aber Kugeln aus Schnellfeuergewehren” (SG 227f.). Die Normalität wirkt so enttäuschend, dass er die “Balkanbrille” aufsetzen müsse, “durch die alles größer, ärmer und grusliger erscheint” (SG 228). Anstatt in der Normalität das Absurde und Gefährliche des zurückliegenden und immer noch latenten Krieges festzumachen, erzählt er dann “Geschichten”, welche er später an die Presse verkaufe (SG 228). Damit beschreibt die Erzählerin die Verselbstständigung eines Diskurses, welcher sich von den politischen Realia entfernt und mehr über den Beobachter als über das Beobachtete aussagt. So zeigt Juli Zeh durch die ironisch-distanzierte Perspektive der Ich-Erzählerin auf, dass gerade der Anspruch auf Authentizität – unabhängig davon, ob es sich nun um die Serbienreise Handkes oder ein journalistisches Produkt handelt – dieselbe Authentizität letztlich verhindert. Die Erzählerin ist sich der Hilflosigkeit bewusst, das auf dem Balkan Geschehene nicht erfassen zu können. Aus diesem Grund eignet sie sich die oder das Fremde nicht an, sondern beschreibt höchstens ihre subjektiven Gefühle von Nähe, was dieselben wiederum relativiert. Norbert Gstrein – um nur kurz seinen Roman Das Handwerk des Tötens (2003) zu streifen – insistiert auf einem “Schreibverfahren, das die 26
Juli Zeh: Die Stille ist ein Geräusch. Frankfurt/M.: Schöffling & Co. 2002. S. 231. Im Folgenden: (SG). 27 Eine metaliterarische Reflexion dazu findet man in Zehs Artikel Zur Hölle mit der Authentizität. In: DIE ZEIT Nr 39 vom 21. 9. 2006. S. 59. Darin erwähnt sie zwar nicht direkt Peter Handke, rügt aber, dass “sich in letzter Zeit auch viele Romane durch den Einsatz von schriftstellernahen Ich-Erzählern […] um die Simulation von Erlebnisunmittelbarkeit bemühen. Und bohren dadurch Löcher in die im DeutschLeistungskurs mühsam errichtete Mauer zwischen Autor und Erzähler”. Zwar kann es sich Juli Zeh auch in diesem Artikel nicht verkneifen, die Unterscheidung zwischen Autor und Erzähler – wie sie übrigens sowohl bei Handke wie auch bei Sebald nicht einfach zu machen ist – ironisch wieder zu unterwandern. Dennoch ist ihr das ständige authentische Gehabe zuwider, so dass auch in einem sehr realitätsnahen Text wie in ihrer bosnischen Reise von einem hohen Fiktionsgrad auszugehen ist.
198 Konstruiertheit aller Realität betont”.28 Dabei erscheint sogar Juli Zeh.29 In seiner Erzählweise eignet sich der Roman zusehends die Perspektive von Paul an, der vom anfänglichen Hauptprotagonisten, vom Kriegsjournalisten Allmayer, berichtet. So wird die zunächst vermittelnde und so auch distanzierende Erzählposition zusehends aufgegeben. Paul mausert sich zum zweiten Hauptprotagonisten. Doch gleichzeitig entfernt er sich wieder von seinem Gegenstand, vom Krieg auf dem Balkan, da zunächst Originaldokumente verwendet werden. Es handelt sich dabei um Reportagen, die den Krieg aus nächster Nähe beschreiben, in der Folge aber Reiseberichten Pauls weichen. Doch gerade in dieser insinuierten Nähe manifestiert sich paradoxerweise Distanz: Kein Fluss, in dem nicht Tote getrieben wären, kein Platz, so schien es mir, an dem man sich in Zukunft nicht fragte, was sich darunter verbarg, aber das war es nicht, was mir von seinen Reportagen am genauesten in Erinnerung blieb, im Gegenteil, je mehr Details er ausbreitete, umso mehr schienen sie sich gegenseitig auszulöschen, schienen noch die größten Abscheulichkeiten im einmal vorgegebenen Rahmen am Ende normal zu sein.30
Während Juli Zeh durch das Perspektiv ihrer Ich-Erzählerin eher arglos über Bosnien berichtet und sich erst aufgrund der nächtlichen Leküre von Augenzeugenberichten der Ungeheuerlichkeiten des Kriegs bewusst wird, setzt beim Ich-Erzähler von Norbert Gstrein eine irritierende Distanzierung in dem Moment ein, in dem er sich dem Gegenstand nähert.
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So Norbert Gstrein in seiner Verteidigung gegen den Vorwurf, er habe in seinem Roman dem Südtiroler Journalisten Gabriel Grüner in fiktiver Gestalt der Figur Allmayer übel nachgeredet. Gstrein: Wem gehört eine Geschichte? Fakten, Fiktionen und ein Beweismittel gegen alle Wahrscheinlichkeit des wirklichen Lebens. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2004. S. 10. 29 Dabei wird erzählt, wie Allmayer, der inzwischen im Kosovo umgekommen ist, gegenüber seiner Frau “immer mit der Irrfahrt eines deutschen Girlies” “endete”, “das er die letzte Kraft-durch-Freude-Touristin nannte, […] die […] blind durch die ehemaligen Kampfgebiete gezogen war und sich darüber in einem kopf- und besinnungslosen Hauptsatzstakkato verbreitete, eine verrannte Romantikerin, die es für das größte Abenteuer hielt, wenn sie unter freiem Himmel auf die Straße pinkelte und mit ihrem Hund in jede Minensperrung absichtlich hineintappte, um dann aller Welt per SMS direkt vom Ort des Geschehens mitteilen zu können, in welcher Gefahr sie sich befand”. Norbert Gstrein: Das Handwerk des Tötens. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003. S. 235f. Damit nimmt der zweifach vermittelte Erzähler direkten Bezug auf Juli Zehs Fahrt durch Bosnien, wo man diese Szene auch vorfindet: Juli Zeh: Die Stille ist ein Geräusch [wie Anm. 26]. S. 256. Doch gerade diese Anspielung macht deutlich, dass sie nichts mit dem realen Reporter Gabriel Grüner zu tun haben kann, da er vor der Publikation von Juli Zehs Fahrt durch Bosnien umkam. 30 Gstrein: Das Handwerk des Tötens [wie Anm. 29]. S. 58.
199 Zusammenfassend zu den deutschen und österreichischen Autoren muss der eigentümliche Befund festgehalten werden, dass selbst großes literarisches Potential dem Themenkomplex Balkankriege nicht beikommt. Meist kollidiert die poetologische Absicht mit einer politisch gegenläufigen Konzeption, welche sowohl im Falle Handkes wie auch im Falle Gstreins im Feuilleton ausgeschlachtet wurde und immer noch wird. Dieser spezifische literarische Umgang mit dem vermeintlich Fremden zeugt von einer Nähe, von einer eigenen Geschichte (insbesondere bei den Österreichern), welche zunächst einer Distanzierung bedarf. Zumindest Juli Zeh und Norbert Gstrein sind sich dessen bewusst; darum ihre spezifischen Erzählverfahren von ironischer Reflexion bzw. verdoppelter Perspektivierung. Aber letztlich löst genau diese Literatur die interkulturell so notwendige Vermittlungsaufgabe, endlich festgefahrene Stereotypen über den Balkan aufzulösen, nicht. Deutschsprachige Literatur einer ersten, zweiten oder dritten Generation von Immigranten aus Ex-Jugoslawien ist noch spärlich.31 Umso exemplarischer nimmt sich Sasˇa Stanisˇic´ s Wie der Soldat das Grammofon repariert aus. Denn trotz stark autobiographischer Anlehnung wirkt die Geschichte des Hauptprotagonisten Aleksandar Krsmanovic´ weder ‘authentisierend’ (wie bei Handke) noch extrem konstruiert (wie bei Norbert Gstrein). Vielmehr zeichnet sie sich anfangs durch eine kindlich-barocke Fabulierlust aus, wenn von Tito und Visˇegrad, seiner Heimatstadt, erzählt wird. Doch ziemlich bald tritt der Krieg ein. Es folgt die Flucht über Belgrad nach Deutschland, nach Essen. Ab der Flucht weicht die ursprüngliche Erzählform Briefen, welche Aleksandar seiner Jugendfreundin Asija schreibt, welche vermutlich nach Sarajevo geflüchtet war. Im zweiten Teil wird vieles nochmals erzählt – jedoch nicht mehr aus der ‘naiven’ Perspektive des Jungen, bei dem erlebendes und erzählendes Ich noch fast deckungsgleich sind, sondern vom jungen erwachsenen Aleksandar zehn Jahre später, welcher zur Recherche zurück nach Bosnien reist. In der Mitte trennt die zwei Teile ein längeres Konvolut, das wiederum über ein eigenes Inhaltsverzeichnis verfügt. Der Titel lautet – in Anspielung auf die vorkriegerische jugoslawische Zeit: “Als alles gut war von Aleksandar
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Bezeichnenderweise gelten die ursprünglich serbokroatisch sprechenden, inzwischen deutsch schreibenden Autoren und Autorinnen sehr schnell als integriert. Das ‘typisch Jugoslawische’ geht in einen übergeordneten literarischen Diskurs auf. Dies gilt vor allem für die beiden Wiener Autoren, für den inzwischen verstorbenen Milo Dor und Ivan Ivanji. Gerade bei Letzterem gibt es jedoch eine direkte Auseinandersetzung mit dem Krieg, beispielsweise in seinem Roman Die Tänzerin und der Krieg (Wien: Picus 2002). Eine jüngere Generation – auch wieder im Wiener Zirkel – wird erkennbar. Im Zentrum steht sicherlich Viktorija Kocman, welche den Kosovokrieg und die NATO-Bombardierung in ihrer ergreifenden Novelle Ein Stück gebrannter Erde (Wien: Milena 2003) verarbeitet.
200 Krsmanovic´ ”.32 Die Zweiteilung mit eingelassener Makrozäsur bringt es mit sich, dass auf einmal auch die erste Hälfte aus einer neuen vermittelten Perspektive gelesen werden kann. So ergänzen sich Inhalt und Form bei Sasˇa Stanisˇic´ im ständigen Wechselspiel. Die Beschäftigung mit den jüngsten Kriegen in Ex-Jugoslawien wirft bei den vier untersuchten Autoren jeweils eine anders gelagerte Problematik auf. Sasˇa Stanisˇic´ nimmt kaum explizit Bezug auf die besprochenen Autoren.33 Und dennoch findet man in seinen Erzählverfahren Antworten auf die aufgeworfenen Probleme, welche hier in der Reihenfolge Handke, Sebald, Zeh und Gstrein wiederum exemplarisch und somit nicht erschöpfend diskutiert werden sollen. So liegt Handkes Hauptproblem in der Bemühung, authentisch sein zu wollen, um dadurch das Eigentliche, das ‘Dritte’ aufzuzeigen, womit er lediglich seine Poetologie auf einen politisch-territorialen Raum projiziert. Dadurch wird er extrem empfänglich für ideologische Vereinnahmung. Sasˇa Stanisˇic´ verfährt gerade umgekehrt: Die (Kriegs-)Wirklichkeit bestimmt die Form seiner Geschichte und gleichzeitig seine Poetologie. Dies stellt man bereits in der großformalen Anlage fest. Die Zäsur, welche den Roman zweiteilt, bildet der Einbruch des Krieges selbst im Frühling 1992 in Visˇegrad, wo zuvor “alles gut war” (159). Entsprechend wird diese Zäsur auch zweimal erzählt. Während der Ich-Erzähler das erste Mal aus Kinderperspektive noch naiv von der “Zeit der Auszüge” in den “ersten warmen Wochen des Jahres” spricht (84), bevor ein Kollege zum Schluss kommt, “du, die fliehen” (86), so beginnt er im zweiten Teil – zwar vermittelt über die Erinnerung, doch in medias res: “Gleich blitzt es, und ein fast vergessenes Gefühl wird zum Blick auf staubverklebte Spinnweben an den Kellerwänden in Erwartung des nächsten Einschlags” (214). Einer entsprechend deutlicheren Sprache bedient sich Aleksandar auch im Brief, den er von der Flucht aus Belgrad an Asija schreibt: “Visˇegrad kam gleich im Fernsehen, hier sind diejenigen die Aggressoren, die in unserem Fernsehen die Verteidiger waren, und die Stadt ist nicht gefallen, sondern befreit worden […]” (134). Entlarvender kann man kaum von der Kriegsberichtserstattung schreiben (und in diesem Fall auch kritisch gegenüber der serbischen Propagandamaschine im Unterschied zu Handke, der seine Opposition konkret nur gegenüber dem westlichen Journalismus markiert). Mit anderen Worten: Je nach Wahrnehmung der spezifischen Ereignisse und je 32 Sasˇa Stanisˇic´ : Wie der Soldat das Grammofon repariert. München: Luchterhand Literaturverlag 2006. S. 159. Weitere Seitenangaben im Text. Sinnigerweise verfügt das dort ebenfalls angebrachte Inhaltsverzeichnis über ein Schlusskapitel, welches genau dem Anfangskapitel des Buches entspricht. Es verweist aber dort auf die Seite 212, welche leer ist. 33 Es wird lediglich Handke erwähnt, welcher in Aleksandars Google-Recherche “visegrad genozid handke scham verantwortung” (S. 215) auftaucht.
201 nach zeitlicher Distanz dazu wird unterschiedlich erzählt. Die Position verharrt dadurch nicht in Starre. Bei Sebald trifft man – trotz seiner Bemühung, die Ereignisse zusehends zu aktualisieren – auf eine sonderbare Gleichgültigkeit gegenüber den jüngsten kriegerischen Auseinandersetzungen, die nur mittels Ersten und Zweiten Weltkriegs durchscheinen. Dies macht durchwegs Sinn in der Gesamtanlage des Buches Die Ringe des Saturn, hinterlässt aber eine Unverbindlichkeit, welche nach einer zusätzlichen Kontextualisierung geradezu schreit. Auch hier weist Sasˇa Stanisˇic´ s Roman den Vorteil auf, diesen jüngsten Konflikt zu fokussieren. Die digressiven Verfahren eines Sebald (des zufällig Entdeckten) kondensieren bei ihm auf das bedeutende Detail – was mit der bereits hybriden (serbisch-muslimischen) Herkunft des Protagonisten zu tun hat. So beobachtet er vor Ausbruch des Krieges, wie der – wie er sagt – “morgige Soldat” in seiner großserbischen Rhetorik verkündet, es sei an der Zeit, dass wir den Ustaschas und den Mudschaheddin die Stirn bieten, […] es gibt verstohlene Blicke zu meiner Mutter und zu meiner Nena Fatima; es gibt die taubstumme Nena Fatima, die in die Runde sieht, als hätte sie jedes Wort und jede Geste und jeden Schuss verstanden: beschämt und traurig. Es gibt ein Dazugehören und ein Nichtdazugehören. (54)
Subtiler könnte der Übergang von der Kriegsrhetorik auf Ausgrenzung und schließlich Gewaltanwendung aus Sicht der zukünftigen Opfer (hier die muslimischen in einem serbischen Umfeld) nicht nachgezeichnet werden. Solches wird möglich mit der besonderen Erzählposition: “Ich bin ein Gemisch. Ich bin ein Halbhalb. Ich bin Jugoslawe – ich zerfalle also” (54). Das gesamtjugoslawische Schicksal wird so auf das Erzählverfahren umgemünzt, welches dadurch hybrid (“Halbhalb”) und gleichzeitig prekär (“ich zerfalle also”) wird. Bei Juli Zeh treffen wir auf ein ähnliches Problem wie bei Sebald – vielleicht nur aus unterschiedlichem Blickwinkel. Ihre Skepsis gegenüber einer Handkeschen Authentizität drückt sich weniger in einer historisierenden als vielmehr in einer (selbst-)ironischen Distanz aus. Das Ungeheuerliche kommt höchstens in Nachtträumen und Statistiken zum Ausdruck. Auch hier findet Sasˇa Stanisˇic´ eine Lösung, welche bereits genannt wurde: den naiv kindlichen Blick, der sich an eine im bosnisch-jugoslawischen Kontext eminente Vorlage anlehnt, an den zweiten Spielfilm von Emir Kusturica, Otac na sluzˇ benom putu (Vater auf Dienstreise, 1984).34 Während in diesem Film die 34
Die Vorlage zum Film, der 1985 in Cannes die Goldene Palme für den besten Film erhielt, stammt von Abdulah Sidran. Er erzählt vom Jugoslawien in den frühen 1950er Jahren. Im Mittelpunkt des Films steht der sechsjährige Malik, durch dessen kindlichen Blick die schicksalhafte Geschichte seiner aus Sarajevo stammenden Familie mitgeteilt wird. Maliks Vater ist Angestellter des Arbeitsministeriums und in
202 jugoslawischen Verhältnisse der 1950er Jahre aus Kindersicht kritisch unter die Lupe genommen werden, so wird das Verfahren bei Stanisˇic´ auf das zerfallende Jugoslawien Ende der 1980er Jahre übertragen. Dem stellt er eine weitere Perspektive in der zweiten Hälfte des Romans entgegen, worin das Nachkriegsbosnien im Jahre 2002 beschrieben wird. Das Hier-Fremd-Sein wird erkennbar und ermöglicht gleichzeitig eine ergänzende und vervollständigende Außenperspektive, welche sich durchwegs von der authentisch wirkenden des ersten Teils nun auch absetzen kann. Wie eine mise en abîme erscheint die ergänzende Funktion des zweiten Teils im Vergleich mit Bildern: “Im Schlafzimmer meiner Großmutter liegt ein Karton mit neunundneunzig unfertigen Bildern. Ich fahre nach Hause und male jedes einzelne zu Ende” (221). Das Erstaunliche an dieser Vervollständigung liegt in seiner “Konstruiertheit”, welche in Nichts Gstreins doppelter Perspektivität nachsteht. Zudem geht Stanisˇic´ weit über einen authentisch wirken wollenden bzw. ironisch distanzierenden Ich-Erzähler hinaus. Denn dieser ist nicht nur der Hauptprotagonist, sondern das Ich wechselt von Kapitel zu Kapitel von einer Person zur nächsten. Dadurch entsteht ein ganzes Kaleidoskop an Stimmen, die meist unvermittelt auftreten, obwohl sie im vorhergehenden Kapitel versteckt eingeführt wurden.35 Fazit: Der Balkanraum bildet – wegen der nicht gelösten politischen Situation nach dem nicht mehr für möglich gehaltenen Krieg in Europa – noch heute ein Faszinosum für die ‘deutschmuttersprachige’ Literatur. Dabei ist aber zu beobachten, dass die interkulturelle Vermittlung meist an Scheu und
dieser Funktion oft unterwegs. Eines Tages, kurz nach der Beschneidung seiner beiden Söhne, bricht er offiziell zu einer längeren Dienstreise auf. In Tat und Wahrheit aber ist er wegen einer im Spaß gemachten titofeindlichen Bemerkung verhaftet und zur Zwangsarbeit in einem Bergwerk deportiert worden. Letztlich ist es aber nicht seine nonkonforme Äußerung, die ihm den Kragen gekostet hat. Sein eigener Schwager, ein strammer Parteigänger, hat ihn wegen der Affäre mit einer Frau, die er selber begehrte, denunziert. Papa ist auf Dienstreise lebt, wie bereits schon Kusturicas Erstling, von den kleinen Details, die zu einem Gesamtbild wachsen. Da sind Studioberichterstattungen von jugoslawischen Fußballsiegen, die wie überall auf der Welt, politische Differenzen in den Hintergrund rücken, da ist die erste kindliche Liebe Maliks zur Tochter eines russischen Emigranten oder die nächtlichen Schlafwandlergänge Maliks, mit denen er sich in seine eigene Phantasiewelt zurückzieht. Siehe (25. 8. 2005). 35 Zwei eindrückliche Beispiele bilden die Stimme des “Dreipunktemanns”, des Rabbi Avram, welcher Zeuge einer Synagogenplünderung wird (das Kapitel im ersten Teil ist auf S. 102 lediglich mit drei Punkten überschrieben) und das Gedicht von Nena Fatima: “Ich will reden wieder reden / ich will reden wieder reden aber einen grund brauch ich / soll ein guter grund sein das ist so” (S. 151).
203 Vereinnahmung gleichzeitig scheitert. Wichtige interkulturelle Inputs, welche das politisch prekäre Verhältnis nicht nur zwischen den Staaten des ehemaligen Jugoslawiens, sondern auch zur EU entschärfen helfen könnten, sind aber erst von einer transnationalen Literatur zu erwarten, welche sich genuin hybrid versteht (und nicht nur so gibt). Ein schlagendes Beispiel ist Sasˇa Stanisˇic´s Erstlingsroman, weitere werden sicherlich folgen. Dabei ist der Wert von literarischen Übersetzungen aus den Nachfolge-Ländern Jugoslawiens ins Deutsche nicht zu unterschätzen. Im Unterschied zum englisch- oder französischsprachigen Raum stehen Autoren wie David Albahari oder Dzˇevad Karahasan in einem Rezeptionszyklus mit deutschsprachigen Autoren. Doch ob ein Yugoslavian Turn reicht, um auch wirklich ein politisches Umdenken zu bewirken, steht in den Sternen geschrieben. Die Türkei stößt ja auch in Deutschland auf Widerstand, wenn es um Verhandlungen für einen EU-Beitritt geht. Nachtrag: Gerade weil sich heute im Balkan Raum und Identität durchkreuzen, die sich nicht in einer supra- oder transnationalen Konzeption aufheben lassen, gerade weil Territorialpolitik als Produkt von lokalen, aber auch internationalen Diskursformationen zu verstehen ist, sah ich mich wider Willen gezwungen, den Neologismus ‘deutschmuttersprachige Autoren’ zu schaffen. Es gibt dementsprechend nur eine spezifische transnationale Literatur – aber nicht als Universalliteratur. Mit anderen Worten: Die Diskursfelder (beispielsweise von Territorialisierung, Nation Building, Nationalismus oder Orientalisierung) wirken sich direkt auf die Theorie aus. Erst in kritischer Reflexion dieser Kategorien und in Absetzung davon – was ich in diesen Erörterungen mit der Dichotomie ‘deutschmuttersprachig’ vs. ‘hybrid’ aufzudröseln gedachte, überwindet die Literaturwissenschaft das rein deskriptive Moment, um auch ethisch-politisch wirksam zu werden.
Aigi Heero
Zwischen Ost und West: Orte in der deutschsprachigen transkulturellen Literatur In the works of many transnational writers writing in German places play a significant role. These places can be divided into ‘places of longing’ and ‘everyday places’. The ‘everyday places’are where the literary characters spend their present lives; descriptions of these places frequently contain comparisons between ‘then’ and ‘now’, connotations with respect to the past as well as cultural clichés. To illustrate this, this chapter discusses five authors of East European background, Aglaja Veteranyi, Radek Knapp, Catalin Dorian Florescu, Vladimir Vertlib and Wladimir Kaminer. These are authors of a ‘first’ migrant generation, whose writing is set into a cultural and historical context and distinguished from the writings of authors from a ‘second’ migrant generation. To illustrate that the thesis of the two spaces can be relevant for writers from other literatures the works of Gohar Markosjan-Käsper und Michail Veller, two writers of non-Estonian background living in Estonia and writing in Russian and Estonian, are discussed as well.
I. Allgemeines Die Erkenntnis, dass das Verfassen literarischer Werke in deutscher Sprache keine Priorität der deutschen Muttersprachler mehr sein kann, ist mittlerweile zu einem festen Bestandteil der deutschen Kultur geworden. Doch sollte man mit den gängigen Begriffen wie multi- bzw. interkulturelle Literatur, unter denen viele deutsche Literatur- und Kulturwissenschaftler das deutschsprachige literarische Schaffen von nicht-deutschen Muttersprachlern verstehen und die als eine Art “Randkultur in der Fremde” fungiert, vorsichtig umgehen.1 Im Falle der meisten dieser Autoren kann von einer “Randkultur” keine Rede sein. Während die interkulturelle Literatur in den 1960er und 1970er Jahren tatsächlich als politisches Werkzeug benutzt wurde, um die Öffentlichkeit auf die komplizierte Situation der in Deutschland lebenden Ausländer aufmerksam zu machen, haben sich die Intentionen der Autoren mittlerweile geändert. Ging es in den früheren Texten häufig um eine “literarisch ausgestaltete Identitätsproblematik”,2 und wurden die ausländischen Autoren in der 1
Immacolata Amodeo: Die Heimat heißt Babylon: Zur Literatur ausländischer Autoren in der Bundesrepublik Deutschland. Opladen: Westdeutscher Verlag 1996. S. 75. 2 Bettina Baumgärtel: “Identitätsbalance” in der Fremde: Der Beitrag des symbolischen Interaktionismus zu einem theoretischen Rahmen für das Problem der Identität in der Migrantenliteratur. In: Denn du tanzt auf einem Seil. Positionen deutschsprachiger MigrantInnenliteratur. Hg. von Sabine Fischer und Moray McGowan. Tübingen: Stauffenburg 1997. S. 53–69. Hier: S. 54.
206 Bundesrepublik auf der Grundlage eines statischen Identitätskonzepts gerne als Personen dargestellt, die ständig auf der Suche nach ihrer Identität sind, von Ängsten gequält werden und unter dem Leben in der Fremde leiden,3 ist diese Thematik heute weit weniger ausschlaggebend. Dies trifft besonders auf die Schriftsteller der ‘zweiten Generation’ der Migranten zu. Sie sind in Deutschland geboren und betrachten sich völlig gerechtfertigt nicht als Fremde in einem neuen Land, sondern als Repräsentanten einer deutschen Kultur, auch wenn es sich nicht unbedingt um die deutsche ‘Leitkultur’ handelt. Des Weiteren sehen sie die deutsche Sprache als natürliches Material für ihr künstlerisches Schaffen an, eine Sprache, mit der sie selbstverständlich und sehr kreativ umgehen. Laut Marja-Leena Hakkarainen kann an dieser Stelle über eine neue deutsche Literatursprache gesprochen werden: “[…] a new literary German that is not rooted in German culture alone”.4 Die Autoren also, die zwar zur multikulturellen Literatur gezählt werden, die jedoch schon im deutschsprachigen Kulturraum geboren sind, erörtern in ihren Werken keine spezifischen Migrantenprobleme mehr. Migrierte Intellektuelle der zweiten und dritten Generation [sind] oftmals an anderen, verstörenderen Erzählweisen und Perspektiven interessiert. Statt Fremdheitskonstruktionen oder Mitleid erregende Ausstellung migrantischen Lebens setzen sich diese Ansätze stärker mit der unumkehrbaren Eingebundenheit migrantischen Lebens in der Einwanderungsgesellschaft wie auch mit der Wut gegen ihre rassistischen Strukturen auseinander.5
Ein wenig anders sieht es mit Autoren wie Wladimir Kaminer, Radek Knapp, Aglaja Veteranyi, Catalin Dorian Florescu oder Vladimir Vertlib aus. Der gemeinsame Nenner, der diese Autoren verbindet, ist der osteuropäische Hintergrund: Ihre Geburtsländer sind Russland, Polen und Rumänien. Dabei haben sie alle die Grenze zwischen Osten und Westen überschritten, sie haben ihre Heimat verlassen und sich in Deutschland, in Österreich bzw. in der Schweiz eine neue Existenz aufgebaut. Dementsprechend sind auch ihre Helden Grenzgänger und Neuankömmlinge in einem fremden Land. Ihre Werke behandeln hauptsächlich Bewegungen der 3
Vgl. Amodeo [wie Anm. 1]. S. 42. Marja-Leena Hakkarainen: German home and hybridity: Reclaiming new cultural identities in selected German migrant narratives from the 1990s. In: Cultural Identity in Transition. Contemporary Conditions, Practices and Politics of a Global Phenomenon. Hg. von Jari Kupiainen, Erkki Sevänen und John A. Stotesbury. New Delhi: Atlantic 2004. S. 191–204. Hier: S. 202. 5 Kien Nghi Ha: Kulturproduktion von Minderheiten zwischen Ethnisierung und Politik. In: IG Kultur Österreich. 2001. (7. 5. 2008) 4
207 Hauptperson zwischen Osten und Westen und zwischen den zwei Kulturen. Sie haben ihre Herkunft (Osten) nicht vergessen, gleichzeitig nehmen sie das Neue (Westen) auf und in diesem Zwischenraum entwickeln sich ihre Geschichten. Im Werk dieser Autoren spielen somit klassische Themen der Migrationsliteratur wie die Begegnung mit dem Fremden, die Anpassung an die neuen kulturellen Verhältnissen etc. eine ganz wesentliche Rolle. Sie schöpfen ihre Geschichten aus dem Prozess der Grenzüberschreitung und der Dynamik transnationaler Lebenswelten. In ihnen werden die Motive des Reisens bzw. der Flucht mit den Bildern von Verlust, Trauer, Fremdheit und Entfremdung vermischt. Viele künstlerische Positionen äußerten das Interesse, die Erfahrungen des Unterwegsseins, […] vor dem Hintergrund des eigenen Erlebens zu schildern und gesellschaftlich zu kommunizieren. Die künstlerische Praxis wird so vor allem zu einem Projekt der inneren Selbstbespiegelung und des Dialogangebots, […].6
Die Texte dieser Autoren sind also in einem kulturellen Zwischenraum entstanden, in dem verschiedene Kulturen sich überlappen, vermischen und abfärben. An dieser Stelle wird der Begriff ‘transkulturell’ gebraucht, denn in der gegenwärtigen Diskussion erscheint es nicht mehr gerechtfertigt, über inter- oder multikulturelle Literatur zu reden. Die Begriffe wie Inter- oder Multikulturalität implizieren nämlich das “Nebeneinander von mehr oder weniger klar voneinander abgegrenzten und in sich homogenen Kulturen innerhalb einer Gesellschaft”.7 Oft werden diese Begriffe auch gebraucht, um die Koexistenz von heterogenen kulturellen Mustern zu bezeichnen, da vermieden werden soll, direkt über zwei oder mehrere voneinander getrennte Kulturen zu reden.8 Der Begriff der Transkulturalität dagegen löst die EigenFremd-Differenz auf, denn er impliziert die Tatsache, dass die zeitgenössischen Kulturen denkbar stark miteinander verbunden und verflochten sind.9 In der jüngsten Zeit wurde von Helmbrecht Breinig und Klaus Lösch sogar ein neues Konzept der Kulturtheorie der Transdifferenz vorgeschlagen. Der Begriff der Transdifferenz, so Breinig und Lösch, “stellt die Gültigkeit binärer Differenzkonstrukte in Frage, bedeutet jedoch nicht die Aufhebung von Differenz. Das heißt, dass Differenz gleichzeitig eingeklammert und als Referenzpunkt beibehalten wird: […]”.10 Die Transdifferenz, genauso wie die Transkulturalität, weist auf die wechselseitige Überlagerung von kulturellen
6
Ebd. Lars Allolio-Näcke, Britta Kalscheuer und Arne Manzeschke: Differenzen anders denken. Bausteine zu einer Kulturtheorie der Transdifferenz. Frankfurt/M. – New York: Campus 2005. S. 151. 8 Ebd. 9 Vgl. ebd. S. 323. 10 Ebd. S. 27. 7
208 Zugehörigkeiten innerhalb der sichtbaren Differenzen.11 Doch statt den Zustand des ‘Dazwischenseins’ wie bislang als kurzlebiges Übergangsphänomen auf dem Weg zur Anpassung oder als privates Identitätsproblem spezifischer Randgruppen zu fassen, wird ‘Dazwischen’ als dauerhafte soziale Wirklichkeit in der gegenwärtigen Gesellschaften verortet.12 Daher wären auch die Werke der obengenannten Autoren zur Literatur der Transdifferenz zu zählen, da sie sich bewusst zu ihrem kulturellen Anderssein bekennen. Das Leben im kulturellen Zwischenbereich empfinden sie jedoch nicht als Mangel oder Behinderung, sondern als Chance zur Entwicklung des eigenen Selbst. Diese Haltung schlägt sich auch in ihrem literarischen Schaffen nieder. Diese Reflexionen des eigenen Selbst werden im Werk der transkulturellen Autoren mit osteuropäischem Hintergrund interessanterweise oft auf konkrete Orte bezogen. Dies führt zu einer starken Verbundenheit mit der jeweiligen Umgebung, was natürlich mit der ‘Erfahrung des Unterwegsseins’ zu erklären ist. Das heißt, im Werk dieser Autoren nehmen bestimmte Orte eine tragende Rolle ein und nicht nur von der Komposition des Werkes, sondern auch von dem inhaltlichen Aufbau her. Dabei ist zu unterscheiden zwischen ‘Alltagsorten’ und ‘Sehnsuchtsorten’. An den ‘Alltagsorten’ verbringen die literarischen Helden ihren gegenwärtigen Alltag. Es handelt sich um die Orte, an denen sie sich niedergelassen haben und nun ihr Leben in der neuen Umgebung meistern müssen. Die Beschreibungen solcher Orte sind des Öfteren durchtränkt von Vergleichen zwischen Früher und Jetzt, von Konnotationen, die das Neue besser begreifen helfen, wobei manchmal auch bestimmte kulturelle Klischees angesprochen werden. Es geht also um konkrete Örtlichkeiten, die durch die Perspektive eines Reisenden zwischen zwei Kulturen dargestellt werden. Dabei gibt es in den Werken dieser Autoren noch einen besonderen Ort, der nicht so konkret bestimmt ist bzw. manchmal gar nicht benannt wird und doch immer präsent ist: die Grenze bzw. der Grenzübergang. Die Grenzen als Orte fungieren wie Demarkationslinien zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Altem und Neuem, des Weiteren sind sie konnotiert mit der Idee des Lebens als Transit. Bei den ‘Sehnsuchtsorten’ dagegen handelt es sich einerseits um nostalgische Rückblenden in die Vergangenheit der jeweiligen Helden. Es sind Orte, an denen sie ihre Kindheit und Jugend verbrachten, in die Schule gingen etc. Es geht an dieser Stelle weniger um die konkreten Städte oder Dörfer, sondern eher um kleinere Lokalitäten: Straßen, Höfe, Spielplätze, Parks etc. Dazu
11
Vgl. Julia Reuter: Transdifferenz: Zur Konvergenz postkolonialer und postfeministischen Diskurse. In: Transforma Online. 2004. (7. 5. 2008). 12 Vgl. ebd.
209 gehören sicherlich auch Orte, die mit verschiedenen Ereignissen aus der jüngeren Vergangenheit konnotiert werden, etwa Städte, die bereist wurden und die angenehme Erinnerungen wecken. Andererseits handelt es sich um Orte, die emotional besetzt sind, wobei es weniger eine Rolle spielt, ob der Held an diesem Ort tatsächlich gewesen ist oder nicht. Dazu gehören Traumziele oder Orte, die die Helden nur von den Erzählungen ihrer Bekannten kennen. Beide Orte, die Alltags- sowie die Sehnsuchtsorte, haben aber auch etwas gemeinsam: Sie sind ein wichtiger Teil der Identität des jeweiligen Helden. Die Sehnsuchtsorte stehen da als ein Stück Vergangenheit, die man nicht aufgeben will, als eine Art Materialisierung des kulturellen Gedächtnisses, etwas, das in der neuen Umgebung zurecht zu kommen hilft. Die Alltagsorte dagegen fungieren als eine Folie, ein Hintergrund, der gegenwärtig ist, sich ständig ändert, auf dem sich Veränderungen am Ich des Helden sowie seine neuen Erlebnisse widerspiegeln. Die Orte helfen dem Helden also, sich selbst als Angehöriger einer bestimmten sozialen Gruppe bzw. Gemeinschaft zu identifizieren und weisen auf seine Herkunft und Zukunftspläne hin. Im Folgenden werden diese Orte am Beispiel ausgewählter Werke von folgenden Autoren genauer erläutert: Aglaja Veteranyi (Romane: Warum das Kind in der Polenta kocht, 1999 und Das Regal der letzten Atemzüge, 2002), Radek Knapp (Roman: Herrn Kukas Empfehlungen, 1999), Catalin Dorian Florescu (Roman: Wunderzeit, 2001), Vladimir Vertlib (Roman: Zwischenstationen, 2005) und Wladimir Kaminer (Erzählsammlungen: Schönhauser Allee, 2001, Russendisko, 2002, Die Reise nach Trulala, 2002 und Roman: Militärmusik, 2003). All diese Texte sind aus der Perspektive eines Ich-Erzählers oder einer Ich-Erzählerin geschrieben. Um zu zeigen, dass die These von zwei Orten auch für andere Nationalliteraturen relevant sein kann, werden Beispiele aus dem Schaffen zweier Autoren nicht-estnischer Herkunft präsentiert, die in Estland leben und ihre Werke auf Russisch sowie auf Estnisch verfassen, Gohar Markosjan-Käsper und Michail Veller.
II. Alltagsorte Die Grenze bzw. der Grenzübergang als ein Ort der spezifischen Erfahrungen haben in allen Werken der obengenannten Autoren einen starken Symbolcharakter und sind fast immer präsent. Die Grenzen markieren den Übergang von einem in den anderen Raum, manchmal sind sie als Trennlinien zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Altem und Neuem zu spüren. Eine besondere Symbolik erhält die Grenze in Catalin Dorian Florescus Roman Wunderzeit. Zu Beginn dieses Romans sitzt der fünfzehnjährige Alin mit seinen Eltern an der rumänisch-jugoslawischen Grenze fest. Vor wenigen Minuten ist sein Vater in dem Zollhaus verschwunden; Mutter und Sohn warten im Auto auf seine Rückkehr. Die Zeit erscheint sich endlos hinzuziehen – und
210 genau während dieser Minuten wird die Geschichte Alins und seiner Eltern erzählt.13 Die Diskrepanz zwischen der Erzählzeit und der erzählten Zeit macht einerseits deutlich, wie lange und qualvoll diese Minuten zwischen dem Verschwinden und Wiederkommen des Vaters erscheinen. Andererseits ist der Grenzübergang das Dazwischen per se, in dem man das Alte hinter sich lässt und der neue Lebensabschnitt beginnt, was wiederum mit hoher emotionaler Spannung zusammenhängt. Aglaja Veteranyi hat die Stimmung an der Grenze in ihrem Roman Das Regal der letzten Atemzüge wie folgt zusammengefasst: “Ein Land hört mitten auf einer Straße auf. Die Straße nach der Grenze ist eine andere, obwohl sie dieselbe ist. Vor einer Grenze halte ich die Luft an. Nach der Grenze atme ich sie wieder aus”.14 Die Figur, deren Worte hier wiedergegeben wurden, hat eigentlich schon die schweizerische Staatsbürgerschaft, also hätte sie an der Grenze nichts mehr zu fürchten, doch das Gefühl, dass man eventuell nicht mehr in die freie Welt kommt und zurückgeschickt wird, begleitet sie unbewusst wohl bis zum Lebensende. Dies trifft mehr oder weniger auf die übrigen Autoren genauso zu. Nach der Ankunft der ErzählerInnen in einer neuen Umgebung fällt auf, dass ihr Blick vielfach vom Staunen geprägt ist. Waldemar in Knapps Herrn Kukas Empfehlungen etwa erblickt in Wien eine fremde Welt, in der schnelle Autos unerklärlich langsam fahren, Straßenbäume in Erdquadraten Spalier stehen, die Menschen in teurer Kleidung wie Filmstars aussehen und alles ungewöhnlich sauber ist: Als unser Bus zwei Stunden später in Wien einfuhr, stach mir als erstes die Sauberkeit ins Auge. Dabei bin ich kein Sauberkeitsfanatiker wie meine Mutter, die jedem neuen Besen einen menschlichen Namen gibt, aber auf der Straße lag nichts, nicht einmal ein zufällig fallen gelassenes Papiertaschentuch. Als wäre gerade vor einem Moment ein riesiger Staubsauger vorbeigefahren und hätte alles, was nicht niet- und nagelfest war, in sich aufgesaugt.15
Waldemar sieht also seinen neuen Aufenthaltsort durch eine ‘touristische’ Perspektive: Ihm fallen zuerst die Äußerlichkeiten auf, die radikal unterschiedlich von dem sind, was er bislang kannte. Erst später gewinnt er einen ‘Insiderblick’, indem er auch die Schattenseiten des Lebens in Wien entdeckt und Menschen aus verschiedenen Gesellschaftsschichten kennen lernt. Auch Aglaja Veteranyis Ich-Erzählerin in Warum das Kind in der Polenta kocht 13
Catalin Dorian Florescu: Wunderzeit. Zürich – München: Pendo 2001. Vgl. hierzu auch Nicole Henneberg: Mit Fellini träumen. Schnörkellos erzählt: Catalin Dorian Florescus Roman Wunderzeit über Exil und Heimat. In: Frankfurter Rundschau vom 1. 12. 2001. S. 20. 14 Aglaja Veteranyi: Das Regal der letzten Atemzüge. Stuttgart: dtv 2002. S. 63. 15 Radek Knapp: Herrn Kukas Empfehlungen. München: Piper 1999. S. 37.
211 staunt zu Beginn des Romans über die Alltäglichkeiten, die ihr plötzlich eine ganz neue Dimension der Realität eröffnen. Es ist ihr beispielsweise neu, dass man im “Ausland” einkaufen kann, ohne stundenlang Schlange zu stehen: “DAS SCHLANGESTEHEN IST ZU HAUSE EIN BERUF. […] Im Ausland kann man sich das Warten ersparen. […] Auf dem Markt muss man fast nie anstehen, im Gegenteil, sie behandeln einen wie eine richtige Person, sagen sogar danke, wenn man was kauft”.16 Auch sie wendet ihren Blick nach und nach von den Äußerlichkeiten ab und beginnt, sich Gedanken über die politische Situation an dem früheren und jetzigen Aufenthaltsort zu machen: “IM AUSLAND KANN MAN BERÜHMT WERDEN, OHNE DER DIKTATORPARTEI ANZUGEHÖREN”.17 Bei Kaminer ist Staunen deutlich materieller geprägt. Die Geschichten, die die Anfangszeit seines Ich-Erzählers in Berlin schildern, befassen sich oft mit dem Thema Geldverdienen. Es scheint dem Ich-Erzähler, der ebenfalls Wladimir heißt, dass der Lohn sich zum Teil sehr leicht verdienen lässt: Die Bierbüchsen, die Wladimir und seine Freunde bei Aldi für 43 Pfennige kaufen, werden am Bahnhof Lichtenberg für DM 1,20 verkauft, wobei das Geschäft erstaunlich gut läuft: “Die verwirrten Ausländer waren unsere besten Kunden, ebenso eine Menge Zigeuner und Afrikaner, die ebenfalls ihre Geschäfte am Bahnhof abwickelten. Und nicht zu vergessen: die japanischen Touristen”.18 Es scheint, dass er sich schon nach der kürzesten Zeit damit auskennt, wie viel Lebensmittel in verschiedenen Läden kosten, wie man am schnellsten zum leicht verdienten Geld kommt und was man alles, zu seinem Erstaunen auch im Kapitalismus, kostenlos bekommen kann: Mehrere Stunden hatten wir in dem Kaufhaus verbracht, um zu recherchieren, was man dort so alles umsonst kriegen konnte. Diese Recherche sollte unserer alten Debatte über den Kapitalismus mit menschlichem Antlitz ein Ende setzen. […] Schließlich gingen wir in die “Schönhauser Arcaden”, um festzustellen, was es im Kapitalismus alles umsonst gab.19
Um diese neue Realität an einem neuen Ort zu bewältigen, greifen die Ankömmlinge zu einem bewährten Hilfsmittel: dem Erzählen. Das Erzählen hilft dem Erzähler (dem möglichen alter ego des Autors), eine gewisse Barriere zu überwinden und sich das Neue vertrauter zu machen. Jede seiner Erfahrungen wird somit gleichzeitig zu einer Versprachlichung von Erfahrenem. Damit setzt auch eine Reduzierung der erfahrenen Originalität ein, damit das Verstehen 16
Aglaja Veteranyi: Warum das Kind in der Polenta kocht. Stuttgart: dtv 1999. S. 12. Ebd. S. 48. 18 Wladimir Kaminer: Russendisko. München: Goldmann Manhattan 2002. S. 133. 19 Wladimir Kaminer: Schönhauser Allee. München: Goldmann Manhattan 2001. S. 26–27. 17
212 als Ergebnis dieses Prozesses entstehen kann.20 Die Texte beinahe aller Autoren schaffen somit eine Metawirklichkeit, die als Erklärungsmodus der wahrgenommenen Wirklichkeit fungiert, und zwar durch Konstruktion, Selektion, Verortung durch Abgleiche mit Intentionen und Vorverständnissen.21 In dieser individuellen Wirklichkeitsauffassung ist der Übergang zwischen Gegenwart und Erinnerung teilweise fließend, die Grenze zwischen Realität und Fiktionalität verschwommen.22 Ein gutes Beispiel für einen solchen Erklärungsmodus ist die Textstelle, in der Wladimir sich Gedanken über die Schönhauser Allee, seinen neuen Wohnort, macht: In Moskau lebte ich auf der Akademiker-Pawlow-Straße, benannt nach dem berühmten Verhaltensforscher und Hundeliebhaber. […] Egal, ob Winter oder Sommer, die Akademiker-Pawlow-Straße sah immer gleich aus. Man hatte das Gefühl, die Zeit sei hier stehen geblieben. […] Ganz anders meine jetzige Wahlheimat nun, die Schönhauser Allee. Sie verändert sich alle zwei Stunden, und ist total von der Außentemperatur abhängig. Steigt die Temperatur, geht sofort der Hollywoodfilm los: Rote Kabrios […] rollen aus ihren geheimen Verstecken an, halb angezogene langbeinige Models zeigen dem Publikum die neuesten Trends der Saison.23
Auch Alin in Florescus Wunderzeit vergleicht ständig seine momentane Situation mit den Zuständen in Rumänien. Seine Vergleiche betreffen meistens die alltäglichen Erscheinungen, die in der sozialistischen Mangelwirtschaft in Rumänien nicht in dieser Form anzutreffen sind: Wenn bei uns die Züge nach einigen Metern ruckartig wieder anhielten, zerbrachen Eier in geflochtenen Taschen, leere Bierflaschen rollten auf dem Boden herum, und alle machten einen Schritt vorwärts. In unseren Zügen saßen Erwachsene fest und fluchten. […] Der Zug nach Italien war anders. Er glitt sanft über die Erde, wie die Hand meiner Mutter über meine Stirn, wenn ich Fieber hatte.24
Aglaja Veteranyis Erzählerin in Warum das Kind in der Polenta kocht versucht auf ähnliche Weise, sich das Neue vertrauter zu machen, indem sie ständig Vergleiche zwischen den gegenwärtigen Aufenthaltsorten, die sie insgesamt als “Ausland” bezeichnet und dem Geburtsland Rumänien, das für sie immer noch das “Zuhause” ist, zieht. Eine gewisse Naivität solcher Vergleiche hängt 20
Stefan Mühr: Die Wirklichkeit der Fremderfahrung. Neue Wege zur deutschen Kolonialliteratur im südlichen Afrika. In: Acta Germanica. German Studies in Africa. Jahrbuch des Germanistenverbandes im südlichen Afrika. Hg. von John K. Noyes. Frankfurt/M. u.a.: Lang 1997. S. 129–50. Hier: S. 136. 21 Ebd. S. 135. 22 Ebd. S. 134. 23 Kaminer: Schönhauser Allee [wie Anm. 19]. S. 176–178. 24 Florescu: Wunderzeit [wie Anm. 13]. S. 47.
213 auch damit zusammen, dass ihre Geschichte durch die Perspektive eines Kindes erzählt wird, das in der neuen Umgebung heranwächst. Zum Beispiel fällt ihr auf, dass die Leute im “Ausland” sehr schöne Zähne haben und sie versucht, diese Tatsache mit ihrem kindlichen Verstand zu erklären: “Die Leute hier haben gute Zähne, weil sie jederzeit frisches Fleisch kaufen können. Zu Hause haben schon die Kinder faule Zähne, weil der Körper alle Vitamine raussaugt”.25 Sie selektiert bestimmte Wirklichkeitssegmente und verortet sie, indem sie das Neue mit dem Gewesenen vergleicht. In dieser Verortung, in der Metawirklichkeit, die sie sich schafft, bzw. dem erzählten Bereich zwischen dem Neuen und dem Alten, liegt also der Schlüssel zum besseren Verständnis der jeweiligen Situation. Das Erzählen kann an dieser Stelle auch mit einem Prozess der Restabilisierung verglichen werden, denn in einer neuen Realität entstehen bei allen Erzählern neue, originelle Erfahrungen, die gleichzeitig das Gefühl der Destabilität und Angst hervorrufen. Deshalb setzen die Erzähler den Prozess der Restabilisierung in Gang, indem sie zur Beschreibung von unbekannten Gegebenheiten schon bekannte Bezeichnungen, vertraute Metaphern, Analogien, Bilder, Sinnsysteme, Symbole und Sinnwelten verwenden.26 Sie greifen ständig auf das vertraute Kulturgut zurück und schaffen dadurch eine Verbindung, eine Brücke zwischen alter und neuer Erfahrung, alter und neuer Realität. Florescus Held Alin etwa vergleicht die Straßen von Brooklyn mit den Orten, die er aus seiner Vergangenheit kennt. Brooklyn ruft in ihm Angstgefühle hervor, deshalb versucht er, seine Umgebung mit den Orten aus seiner Vergangenheit in Verbindung zu bringen: Man konnte nachts in den Straßen von Brooklyn nicht einfach so gehen. So wie bei uns oder in Rom. Man kam nirgends hin, und dort, wo man hinkam, warteten vielleicht böse Kerle auf einen. Auch die Nacht war anders als bei uns. Wenn zu Hause Vater zum Schlafen kam, öffnete er die Fenster und draußen war es stiller als drinnen.27
Der Erzähler schafft hier eine Assimilation des Bekannten und Unbekannten, des Eigenen und des Fremden, indem er diese Welten ineinander fließen lässt. Des Weiteren werden wird hier die neue Erfahrung versprachlicht und die Originalität dieser Erfahrung (Angst) durch Verbalisierung reduziert. Die Texte von Kaminer, Veteranyi, Florescu, Vertlib und Knapp weisen an einer weiteren Stelle erstaunliche Gemeinsamkeiten auf. Ihre HeldInnen 25
Veteranyi: Warum das Kind in der Polenta kocht [wie Anm. 16]. S. 13. Vgl. Aigi Heero: Das Eigene und das Fremde in der interkulturellen Literatur Wladimir Kaminers. In: Jahrbuch für internationale Germanistik 82 (2007). S. 349–354. Hier: S. 350. 27 Florescu: Wunderzeit [wie Anm. 13]. S. 159. 26
214 können sich kaum in der neuen Umgebung etablieren, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Wladimirs und Waldemars Leben gestaltet sich als eine Bewährungsprobe, doch statt einer beruflichen Karriere möchten sie lieber nur über die Runden kommen und suchen statt des Erfolgs nur ein bescheidenes Auskommen. Sie verrichten unqualifizierte Arbeiten und verhalten sich, als ob sie im Westen auf Besuch wären (was Waldemar als Tourist in Wien eigentlich auch ist). Der Aufenthalt im Westen wird somit für sie ein auf Dauer gestellter Transit.28 Genauso befindet sich Vertlibs Ich-Erzähler in Zwischenstationen auf einer permanenten Durchreise, von den diversen Stationen bleiben ihm am Ende des Romans nur vage und verworrene Erinnerungen. Alin in Wunderzeit kann sein rumänisches Zuhause nicht vergessen und während der Aufenthalte in Rom und New York empfindet er permanente Sehnsucht nach der Stabilität, die er nicht an einem (neuen) Ort finden kann. Die Heimat definiert er durch die Emotionen, die er empfindet, wenn er an ein abstraktes “Zuhause” denkt: “Am Tisch roch es gut. Für die Italiener roch es nach Zuhause. Für mich und Vater roch es nach gutem Essen. Wenn es nach Zuhause riecht, hat man schöne Bilder im Kopf und schöne Gefühle im Bauch. Man schaut in die Weite und vergißt was man tun wollte”.29 Das Gefühl, ein Leben in der Transitzone zu führen, vermittelt in ihrem Roman auch Veteranyi. Die Heldin des Romans Warum das Kind in der Polenta kocht, Kind einer rumänischen Zirkusfamilie, fühlt sich nirgendwo richtig zu Hause, denn ihre ganze Welt besteht aus einem Zirkuswagen, der nirgendwo längeren Aufenthalt hat. Erst am Ende des Romanes spürt das Mädchen, dass da noch mehr sein muss hinter den Grenzen, die bislang ihren Horizont markiert haben. Bis dahin haben Ausland und Heimat für sie keinen Ort.30 Das heißt, in allen Texten klingt auch ein trauriger Unterton mit, ein Gefühl der Ortlosigkeit und die Gewissheit darüber, dass man kaum eine Chance hat, an dem neuen ‘Alltagsort’ richtig heimisch zu werden. Mit einem distanzierten und etwas ironischem Blick des Außenstehenden lassen die Autoren durch ihre Helden auch bestimmte klischeehafte Vorstellungen über Vertreter bestimmter Nationen bzw. Menschentypen Gestalt annehmen. Beispielsweise benutzen sie bei der Beschreibung der Westeuropäer zahlreiche Mythen und Klischees, die über den Westen im Osten (und nicht nur im Osten, 28
Jörg Plath: Wladimir Kaminer, Radek Knapp und Artur Becker – drei deutschsprachige Schriftsteller mit osteuropäischem Hintergrund. In: Dialog 68 (2004). (7. 5. 2008). 29 Florescu: Wunderzeit [wie Anm. 13]. S. 66. 30 Vgl. Judith Schifferle: Zwei Autorinnen schauen Fern. Aglaja Veteranyi und Herta Müller – zwei aus Rumänien stammende deutschsprachige Autorinnen im Vergleich. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. 15 (2004). S. 1–18. Hier: S. 4. (7. 5. 2008).
215 sondern zum Teil auch in Westen) verbreitet sind. Der Ortsname “Schwäbisch Hall” beispielsweise assoziiert der Leser mit den Begriffen wie ‘Kehrwoche’, ‘Bausparen’ oder ähnliches. Es ist daher nicht weiter verwunderlich, dass Jakob, ein Freund Wladimirs, in Schwäbisch Hall Frauen kennenlernen will, es ihm aber nicht gelingt, weil er keinen Bausparvertrag hat.31 Ebenso spielen auch Knapp und Vertlib in ihren Texten des öfteren mit solchen Vorstellungen, aber jeweils so, dass sie dabei als Klischees entlarvt werden. Mit scharfem, aber auch humorvollem Blick zeigen sie die Eigentümlichkeiten zweier unterschiedlicher Kulturen auf, die in ihrem Zusammentreffen noch skurriler wirken.32 So beschreibt Waldemar treffsicher seine Zeitgenossen, Typen, die es wohl in dieser Form nur in Wien geben kann: Die Wiener sind nämlich die höflichsten Menschen in Europa. Überall wird zuerst Gott gegrüßt, und erst dann wird geschaut, wen man da eigentlich gegrüßt hat. […] Die meiste Zeit sitzen sie in ihren gemütlichen Kaffeehäusern, blättern stundenlang in der Zeitung und nippen an einer Melange.33
In Vertlibs Zwischenstationen finden sich ebenfalls verschiedene, teilweise sehr markante Nebenfiguren, die jedoch an einigen Stellen etwas klischeehaft wirken, etwa die “Chefputzfrau” in Wien,34 die mit ihren Angestellten Xenolekt spricht:35 “ ‘Du über das Glas sprühen! Dann wischen! Wenn du drücken Knopf: Bssst! Knopf drücken, macht bssst! Ja? So funktioniert das’!”.36 Einen ähnlichen Eindruck hinterlassen auch Wladimirs zahlreiche Mitbewohner, Vertreter verschiedener Nationalitäten, die insgesamt zahlreiche Klischees verkörpern. Zusammenfassend kann man an dieser Stelle sagen, dass die Autoren einerseits ihre Alltagsorte ernst nehmen; sie versuchen, diese für sich zu definieren und für sich an dem neuen Ort einen festen Platz zu gewinnen. Andererseits empfinden sie den neuen Alltag als etwas Vorübergehendes, was sie nicht gerade dazu motiviert, sesshaft zu werden. Deshalb werfen sie einen distanzierten und zugleich ironischen Blick auf die neue Umgebung, der manchmal Klischeehaftes findet und entlarvt.
31
Kaminer: Schönhauser Allee [wie Anm. 19]. S. 142ff. Vgl. Plath [wie Anm. 28]. 33 Knapp: Herrn Kukas Empfehlungen [wie Anm. 15]. S. 68–69. 34 Vladimir Vertlib: Zwischenstationen. München: dtv 2005. S. 68. 35 Der Begriff “Xenolekt” bezeichnet die reduzierte, oft grammatikalisch inkorrekte Sprachform, die von den Muttersprachlern in der Kommunikation mit Ausländern verwendet wird (engl. “foreigner talk”). Siehe dazu Jörg Matthias Roche: Wie Deutsche mit Ausländern sprechen und was man daraus für den Spracherwerb und den Sprachunterricht lernen kann. In: Info DAF 33 (2006). S. 395–410. 36 Vertlib: Zwischenstationen [wie Anm. 34]. S. 71. 32
216 Des Weiteren können die hier behandelten Romane als Landkarten oder Stadtpläne benutzt werden, weshalb ihre Autoren als eine Art ‘Kartographen’ zu klassifizieren sind.37 Die Alltagsorte dieser Autoren können erkannt werden, denn bei der Beschreibung werden auch feste, konstante Strukturen der Landschaft oder der Stadt benutzt (etwa ‘Grenze’, ‘Kirche’ oder ‘Zug’). Sie geben jedoch nicht allgemein anerkannte Bilder von bestimmten Orten wieder, sondern sie ziehen es vor, selbst diese Orte zu entdecken und dadurch für sich neu zu konstruieren. Sie stellen nicht das sowieso Sichtbare dar, sondern machen neue und interessante Aspekte an ihren Standorten sichtbar und halten sie durch ihre Texte fest.38 Ihre Alltagsorte, ihre individuellen Aufzeichnungen von Städten und Landschaften erinnern also an die Karten, die diese Orte neu erschaffen, indem diese in literarischer Form intuitiv erklärt, definiert und verortet werden. Das Lesen solcher Werke ist wie auf eine Entdeckungsreise zu gehen, wobei der Leser die Möglichkeit hat, einen bekannten Ort (wie Berlin oder Wien) durch einen alternativen Blick kennen zu lernen und dabei seine eigene ‘Karte’ von diesen Orten zu korrigieren. An dieser Stelle lässt sich auch eine Verbindung zu Schriftstellern wie Michail Veller und Gohar Markosjan-Käsper herstellen. Beide Autoren leben in der estnischen Hauptstadt Tallinn, sind jedoch in Russland bzw. in Armenien geboren. Veller reflektiert in seinem Werk das Alltagsleben im heutigen Estland eher selten. In “Tallinner Legenden” beispielsweise stellt er bekannte Figuren aus der estnischen Film- bzw. Sportwelt durch eine karikierende Perspektive dar und schöpft damit aus dem reichlichen Fundus der örtlichen Folklore.39 Markosjan-Käsper situiert die Handlung einiger ihrer Novellen in Tallinn, doch erscheint die estnische Hauptstadt in ihrer Darstellung kalt, anonym und einer typischen skandinavischen Großstadt ähnlich. Die Figuren, die dort leben, scheinen an ihrer Gegenwart zu leiden, sie sind ständig gehindert, ihre Träume oder ihren beruflichen Ehrgeiz auszuleben. Die armenische Hauptstadt Jerevan dagegen wird in wärmeren Tönen gehalten, etwa in der Novelle “Ararat kadus ära” (Der Ararat war verschwunden). In dieser Erzählung, die mit fantastischen Elementen gespickt ist (an einem Morgen ist der Ararat, der heilige Berg der Armenier, einfach verschwunden und genauso plötzlich ist er einige Stunden später wieder da), zeigt sie, wie unterschiedliche Menschen sich in extremen Situationen verhalten.40 Daher lässt sich behaupten, 37
Vgl. Stefan Heyer: Deleuzes und Guattaris Kunstkonzept: ein Wegweiser durch Tausend Plateaus. Wien: Passagen 2001. S. 58–59. 38 Vgl. ebd. S. 14. 39 Siehe Michail Veller: Tallinna legendid. In: Veller: Legendid 2. Tallinn: Hermes 2006. S. 133–156. 40 Gohar Markosjan-Käsper: Ararat kadus ära. In: Markosjan-Käsper: Teekond säravatele tippudele. Tallinn: Kultuurileht 2006. S. 28–41.
217 dass auch Veller und Markosjan-Käsper ihre ‘Alltagsorte’ als etwas kulturell Fremdes empfinden; der Aufenthalt dort scheint mit einer ständigen Bewältigung alltäglicher Dinge verbunden zu sein. Als Zuhause qualifizieren sich in ihrer Darstellung eher die Orte, an denen sie geboren wurden. Auch verschiedene kulturelle Klischees kommen in ihren Werken zur Sprache. So erscheinen z.B. die Esten in Markosjan-Käspers Darstellung als schweigsam, arbeitsam und etwas depressiv; die Russen bei Veller trinken gerne Alkohol und betrügen den Staat so oft sie können. Auch die in “Tallinner Legenden” erwähnten bekannten Persönlichkeiten verkörpern bestimmte klischeehafte Vorstellungen über Esten bzw. Russen.
III. (Imaginäre) Sehnsuchtsorte Als Sehnsuchtsorte qualifizieren sich in den Texten von transkulturellen Autoren ihre Traumziele, die allerdings nicht frei von Kehrseiten sind. Mit den Traumzielen befasst sich Wladimir Kaminers Erzählsammlung Die Reise nach Trulala. Der Ich-Erzähler, der in der Sowjetunion aufwuchs, berichtet dort über verschiedene Reiseziele, von denen er vor vielen Jahren geträumt hat. Eines von solchen Zielen ist Paris. Doch diese Stadt ist und bleibt für den IchErzähler eine Imagination, worauf schon der Titel der Geschichte “Verfehltes Paris” hinweist. Zuerst berichtet der Erzähler über seinen Onkel Boris, der in der Zeit der Sowjetunion für seine gute Arbeit in einer Kautschukfabrik eine Reise nach Paris geschenkt bekam. Doch das Paris, wo der Onkel nach dem sechsstündigen Flug landet, entpuppt sich als ein potemkinsches Dorf mitten in einer Steppe: Die [sowjetische] Regierung konnte natürlich unmöglich ihre Leute wirklich nach Frankreich oder – noch schlimmer – nach England schicken. Die sowjetischen Arbeiter könnten dort unvorbereitet allen Versuchungen des Kapitalismus verfallen. […] Deswegen entschied sich die Regierung für eine sowohl preiswertere als auch weniger aufregende Lösung: Sie ließ in der südrussischen Steppe, in der Nähe von Stawropol, ein eigenes Ausland aufbauen – mit einer richtigen Stadt und vielen Bewohnern. Sie diente im Sommer zunächst als Paris, später im Herbst, wenn es zu regnen anfing und Wolken aufzogen, ließ sich die Stadt schnell zu London umbauen.41
Auch die weiteren Nachrichten von Paris, die Wladimir erreichen, sind eher von der Überzeugung getragen, dass der Schein trügt. Zum Beispiel sind Wladimirs Freund Korchagin und seine Freundin Mascha enttäuscht von Paris, denn nichts sei dort so gewesen, wie sie erwartet hätten: “Er verfluchte alle: die Exilrussen, die blöden Touristen im Jardin du Luxembourg und die 41
Wladimir Kaminer: Die Reise nach Trulala. München: Goldmann Manhattan 2002. S. 20.
218 französische Polizei”.42 Der Gipfel ihrer Enttäuschungen stellen die Konservenbüchsen dar, in denen statt Fleisch nur Luft ist: “Sie sahen aus wie russische Fischkonserven, doch auf dem Etikett war, statt irgendwelcher Tiere oder Fische, der Eiffelturm abgebildet. Air of Paris stand auf den Büchsen”.43 Auch ein anderes Traumziel entlarvt in Kaminers Darstellung seine Schattenseiten: die USA. Für viele Sowjetbürger, ganz besonders für diejenigen mit jüdischem Hintergrund (wie auch Kaminer und Vertlib), war Amerika das Traumland und in den 1990er das Ausreiseland Nr. 1. Wladimir und seine Freunde haben deshalb über Amerika nur wunderbare Vorstellungen: “Mit sechzehn dachten wir, alles Gute käme aus Amerika, seien es Bücher, Klamotten oder Musik”.44 Doch ein anderer Freund von Wladimir, der in die USA emigriert ist, macht diese Traumvorstellung zunichte: “Ein Mensch, der einfach nur frei und glücklich leben will, hat in dem Lügenimperium keine Chance. Das Leben in den USA ist ungenießbar. Alle amerikanischen Männer werden durch das Fernsehen fremdgesteuert, und alle amerikanischen Frauen haben viel zu dicke Hintern, aber die amerikanische Presse verschweigt das”.45 Alin in Wunderzeit muss ebenfalls erfahren, dass in Amerika der Schein trügt und das Kapital dort über alles herrscht: “ ‘Taxis’, sagte Sanowsky, ‘die sind so bei uns. Gelb. Wir Amerikaner, wir hängen nur an Geld mehr als am Auto. Im Prinzip ist hier alles gelb und grün. Gelb von Taxis, grün von Dollarscheinen’ ”.46 Im Übrigen ist auch in Vertlibs Zwischenstationen für den Vater des Ich-Erzählers die USA ein Traumland, in dem die Familie aber kaum Fuß fassen kann und aus dem sie schon bald abgeschoben wird. In diesen Darstellungen steckt also die Gewissheit darüber, dass man an einem Sehnsuchtsort auch eine herbe Enttäuschung erleben kann. Wie das Wort “imaginär” andeutet, sind die Sehnsuchtsorte in den Werken der transkulturellen Autoren manchmal gar nicht explizit genannt bzw. eindeutig definiert. Ihre Präsenz ist gedanklich und nicht real. Die Sehnsuchtsorte haben in den Romanen einen sehr starken Symbolcharakter und dienen manchmal als Flucht aus der Gegenwart. Einer von solchen nicht-erreichbaren Orten wäre die Heimat. Für Veteranyis Heldin in Warum das Kind in der Polenta kocht ist Heimat beispielsweise kein Ort, sondern die Familie. Ihre Welt ist zu einem Zirkuswagen geschrumpft, mit dem ihre Familie sich immer weiter fortbewegt, was natürlich auch als Sinnbild eines Migrantenlebens gelten kann: “Der Zirkus ist immer im Ausland. Aber im Wohnwagen ist das Zuhause. Ich öffne die Tür vom 42
Ebd. S. 49. Ebd. S. 37. 44 Ebd. S. 82. 45 Ebd. S. 96. 46 Florescu: Wunderzeit [wie Anm. 13]. S. 134. 43
219 Wohnwagen so wenig wie möglich, damit das Zuhause nicht verdampft”.47 Das heißt, sie hat sich schon vollkommen von Rumänien als geographischem Ort der Heimat distanziert. Die Orte, die das Zirkuskind erlebt, werden aber auch nicht beschrieben, weil sie für das Kind unwichtig sind.48 Sie hält aber mental noch sehr stark an Rumänien fest: Dieses Land kehrt über Gegenstände, Sprache und Personen ständig wieder: “Die gerösteten Auberginen meiner Mutter riechen überall wie zu Hause, egal in welchem Land wir sind”.49 Vom selben Gefühl ist auch Veteranyis anderer Roman Das Regal der letzten Atemzüge getragen. Die Erzählerin des Folgeromans ist eine erwachsene Frau, die nunmehr die Schweiz offiziell zur Heimat hat. Doch diese Heimat besteht nur in dem neuen Reisepass. Die richtige Heimat ist für sie nach wie vor ihre große Familie, die noch an alten Sitten und Bräuchen festhält und sie mit religiöser Inbrunst pflegt: “Der Weizen muss in neun Wassern gewaschen werden, sagte Costel. Warum? Wegen den neun Himmeln [sic]. Die Weizenkörner waren unruhig im Wasser, vielleicht wollten sie kein Totenkuchen werden. Im zehnten Wasser wird der Weizen gekocht, sagte er”.50 Die geographische Heimat besteht für sie nur noch aus einigen Erinnerungsbildern und aus einer Sprache, die sie schon fast vergessen hat. Bilder und Plakate, auf denen Szenen aus Rumänien dargestellt sind, rufen in ihr Wehmut wach, die Sehnsucht nach der nicht mehr existenten Heimat: “In meiner Wohnung wartete ein Bild seit Jahren darauf, aufgehängt zu werden. Wenn ich es tun wollte, rieselten meine Arme wie Sand herunter. ICE CREAM, Bucuresti 1995. […] Ich nahm mir vor, die Wörter zu zählen, die ich in der Muttersprache kannte”.51 Als jedoch die Tante der Ich-Erzählerin, ihre wichtigste Bezugsperson, stirbt, empfindet sie, als ob ihre Heimat endgültig verloren wäre, nicht nur im geographischen, sondern auch im familiären Sinne: “Ich drückte mich an die Brust meiner Tante und nahm ihre letzte Wärme in mich auf ”.52 Christina Thurner führt in ihrer Dissertation aus, dass eine solche “narrative Verarbeitung” des Exils bzw. der Heimatlosigkeit als eine “utopische” Praxis bezeichnet werden kann, denn sie wendet sich gegen die etablierten Diskurse und behandelt mit dem Exil einen nicht idealen “Nicht-Ort”.53 Das Erzählen ist daher die meistgewählte Gattung der Migrationsliteratur, weil die Narration 47
Veteranyi: Warum das Kind in der Polenta kocht [wie Anm. 16]. S. 10. Vgl. Schifferle [wie Anm. 30]. S. 4. 49 Veteranyi: Warum das Kind in der Polenta kocht [wie Anm. 16]. S. 10. 50 Veteranyi: Das Regal der letzten Atemzüge [wie Anm. 14]. S. 9. 51 Ebd. S. 87. 52 Ebd. S. 126. 53 Christina Thurner: Der andere Ort des Erzählens: Exil und Utopie in der Literatur deutscher Emigrantinnen und Emigranten 1933-1945. Köln u.a.: Böhlau 2003. S. 42. 48
220 selbst zu einem “neuen, jedoch flüchtigen Lebensort” wird.54 Das heißt, wenn die imaginäre Heimat, nach der die Ich-Erzählerin sich sehnt, in ihrer Erzählung verbalisiert und festgehalten wird, dann wird diese Heimat existent, auch wenn diese Existenz nur flüchtig ist. Das Erzählen hilft also, dem imaginären Sehnsuchtsort, der Heimat, eine Gestalt zu verleihen. Ein gutes Beispiel für diese Erzählweise ist auch der Roman Zwischenstationen von Vladimir Vertlib. Dieser Text wird von einem autobiographischen Gerüst zusammengehalten: Der Autor erzählt die Geschichte seiner Familie, genauer gesagt, die Geschichte einer Odyssee, die über zehn Jahre dauerte und den Jungen zusammen mit dem Vater und der Mutter aus der Sowjetunion in unzählige Städte und über drei Kontinente führte. Im Roman, wie auch in Vertlibs Leben, enden diese Stationen immer gleich: Dort, wo es dem Vater gefällt, dürfen sie nicht bleiben, und dort, wo sie bleiben dürfen, gefällt es ihm nicht. Mit jeder neuen Station werden die Eltern hoffnungsloser, und der Junge beginnt allmählich zu begreifen, dass dieses Reisen so nie zu Ende sein wird. Dabei sehnt er sich wirklich nach einer Heimat, nach einem festen Zuhause und nach dem normalen Alltag: “ ‘Wir bleiben sowieso nicht in Wien’, schrie ich schnippisch, ‘warum soll ich mich dann in der Schule anstrengen? Du sagst doch immer, dass wir nach Amerika, Australien oder Kanada auswandern. Dort werde ich dann lernen und ein guter Schüler sein’ ”.55 Das Gefühl, dass seine Heimat zu einer bloßen Imagination geworden ist, überkommt ihn kurz vor der Abschiebung aus den USA: “Vielleicht kehren wir tatsächlich nach Israel zurück. Ich weiß nicht, ob ich das will. Ich weiß längst nicht mehr, was ich will. Manchmal mache ich Runden durch den Bezirk und stelle mir vor, ich sei anderswo, in einem fremden Land, dessen Namen ich nicht wissen möchte”.56 Ungeachtet zahlreicher autobiographischer Momente hat es der Leser von Zwischenstationen nicht mit einer reinen Autobiographie zu tun. Vertlib weitet nämlich den Rahmen seiner Lebensgeschichte aus, um durch seine Geschichte auch viele andere Geschichten lebendig werden zu lassen. Auch für ihn ist die Tatsache, dass überhaupt erzählt wird, wichtiger als das, was erzählt wird, und dass es eine Geschichte gibt, die erzählt werden kann. In der Ortlosigkeit zwischen den einzelnen Stationen, in dem permanenten Dazwischensein, kreiert die Narration, die in diesem Roman auch quasi als Gegengewicht zum Vergessen dasteht, “den Ort des Erzählens”.57 Das Erzählen trägt auch in diesem Roman einerseits die Funktion des Erklärungsmodus, eine Verortung des Neuen, wirkt 54
Ebd. S. 43. Vgl. auch Schifferle [wie Anm. 30]. S. 5–6. Vertlib: Zwischenstationen [wie Anm. 34]. S. 168. 56 Ebd. S. 233. 57 Konstantin Kaiser: Von der Gültigkeit des Lebens. Vladimir Vertlib – ein Autor, der vom Erzählen erzählt. In: Wiener Zeitung vom 27. 4. 2001. EXTRA Lexikon. S. 10. 55
221 aber auch wie eine Befreiung von der alten Last, die dem Erzähler die Möglichkeit gibt, den eigenen Lebensweg zwischen verschiedenen (kulturellen) Stationen selbstständig zu wählen.58 Am Ende des Romans findet der Held tatsächlich eine Heimat in der österreichischen Provinz; das heißt, aus dem imaginären Sehnsuchtsort, der vorerst nur in seinen Erzählungen erkennbar war, wird Realität. Zu den Sehnsuchtsorten wären auch die nostalgischen Schilderungen der Kindheit und Jugendzeit zu zählen. In Florescus Wunderzeit berichtet Alin über seine Kindheit während der Ceausescu-Diktatur. Es handelt sich um eine ganz normale Kindheit, das politische Element wird in diesen Schilderungen zwar nicht ausgeklammert, doch durch die kindliche Perspektive etwas verharmlost und karikiert: Als ich mich von Dorin verabschiedet hatte und in die Wohnung trat, fand ich Vater und Mutter in der Küche. Sie spielten das Flüsterspiel, wie es alle Erwachsenen in unserem Land kannten. Einer redet so leise er kann, der andere schreckt alle paar Minuten auf und macht psst, psst. Das soll angeblich gegen fremde Ohren helfen.59
Durch die zeitliche Distanz hat das Leben in der Diktatur in den Erinnerungen Alins seine Brisanz verloren, statt dessen werden solche Momente besonders hervorgehoben, die nostalgische Sehnsucht nach einer vergangenen Zeit und einem in dieser Form verschwundenen Ort erwecken: “An unseren Nationalfeiertag war ich immer besonders glücklich. Wegen des Bratenduftes, der zu unserem Fenster aufstieg”.60 Auch Wladimir Kaminers Militärmusik erzählt die Geschichte einer Kindheit und Jugend, hier in der Sowjetunion. Das Buch beginnt mit seiner Geburt und endet mit der Zugfahrt gen Berlin. Doch während Florescu sich auch dem politischen System gegenüber kritisch äußert, werden die Schattenseiten des sowjetischen Lebens (die Allgegenwart der Staatsmacht, Misswirtschaft etc.) hier entweder ganz ausgeklammert oder durch eine stark verharmlosende humoristische Perspektive dargestellt. Die KGB-Angestellten erscheinen als Witzfiguren, die systemtreuen Lehrer in der Schule als hässliche Dummköpfe, die sowieso nicht ernst genommen wurden, aus der permanenten Mangelsituation wird ein Abenteuer, währenddessen der Held alles mögliche
58
Vgl. Dazu Aigi Heero: Vladimir Vertlibs Zwischenstationen – ein autobiographischer Roman? In: Tradition und Geschichte im literarischen und sprachwissenschaftlichen Kontext. Hg. von Mari Tarvas. Frankfurt/M. u.a.: Lang 2008. S. 22-36. Hier: S. 35. 59 Florescu: Wunderzeit [wie Anm. 13]. S. 26. 60 Ebd. S. 34.
222 zu beschaffen lernt. Auch die schwierigen Episoden wie der Militärdienst werden eher anekdotenhaft beschrieben: Wir drei, Andrej, Grischa und ich, saßen stattdessen in der Kantine und genossen das Frühstück. Es gab Weißbrot, dazu eine Menge Formbutter-Stückchen und einen Eimer voll Kartoffelpüree. Im warmen Püree schwamm irgendetwas herum. Zuerst dachten wir, es sei Fleisch und versuchten das Stück herauszulöffeln. Aber dieses “Fleisch” bewegte sich im Püree hin und her, tauchte unter und verursachte dabei Luftblasen an der Oberfläche. “Es lebt”, sagte Andrej erstaunt. […] Den Koch zu fragen, war uns zu einfach. Wir wollten alles selbst rauskriegen – aus eigener Armeeerfahrung.61
In einem Interview hat Kaminer begründet, warum er sich entschied, ein solches Buch zu verfassen, nämlich aus dem Wunsch heraus, seine Erinnerungen an eine vergangene Zeit und einen vergangenen Ort niederzuschreiben. Gleichzeitig wollte er zeigen, dass man auch in den schwierigen Zeiten ein normales Leben führen konnte (was wohl auch bei dem Roman von Florescu die Intention war): Das war ja auch in Deutschland für mich ein gewagter Schritt, ein ganzes Buch über die Sowjetunion der achtziger Jahre zu schreiben, weil das nicht das Thema ist, das breite Massen interessieren würde, aber für mich war das sehr wichtig, weil das ein großer Teil meines Lebens war und ich konnte nicht diese 23 Jahre der Sowjetunion einfach so abtun, als gäbe es sie nicht, außerdem war das eine sehr glückliche Zeit. Und im Westen habe ich die Erfahrung gemacht, dass sie, in Westdeutschland zumindest, diese Epoche lange Zeit, über Jahre hinweg dämonisiert haben, […]. Deswegen dachte ich, ein bisschen Verharmlosung kann nicht schaden, damit jeder verstehen kann, dass jedes Schicksal an eine bestimmte Zeit gebunden ist.62
Was dieses Buch also auszeichnet, ist die geschickte Verknüpfung von vielen verschiedenen Geschichten, die dem Erzähler selbst oder seinen Bekannten angeblich passiert sind. Des Weiteren werden zahlreiche Anekdoten über bekannte Gestalten wie Matthias Rust, Aleksandr Matrosov und andere in das Geschehen eingeflochten. In diesem Sinne pflegt Kaminer hier das Genre der so genannten (bajka), der humoristischen Erzählung, die zwar die Wahrheit darzustellen beansprucht, gleichzeitig aber auch ziemlich frei mit konkreten Personen und in Wirklichkeit stattgefundenden Ereignissen operiert und diese manipuliert, ohne dass ihr Autor gleich wegen der Verletzung der historischen Wahrheit zur Verantwortung gezogen wird.63 In seinem Roman 61
Wladimir Kaminer: Militärmusik. München 2003. S. 160–161. Interview auf der Turiner Buchmesse 2004. Abgedruckt in: Silja Saar: Vom Gastarbeiter-Schrifttum zur Interkulturellen Literatur. Eine Entwicklung am Beispiel von Wladimir Kaminers “Russendisko”. Bakkalaureusarbeit. Tallinn: Eesti Humanitaarinstituut 2004. S. 85–86. 63 Bajka. In: 2000–2007. (7. 5. 2008). 62
223 vermischt er also die real stattgefundenen Ereignisse und die Folklore, d.h. die in der ehemaligen Sowjetunion weit verbreitete mündliche Tradition des Geschichten- und Anekdotenerzählens, zu der auch die bajkas gehören. Diese Tendenz ist im übrigen auch in Michail Vellers Erzählsammlung Nevski prospekti legendid (Die Legenden vom Nevskij-Prospekt) festzustellen. Veller hat in seinem Buch verschiedene Legenden um Persönlichkeiten gesammelt, die in der Sowjetzeit mit der Leningrader/St. Petersburger Prachtstraße gebunden waren. Diese Zeit hat sehr viele Legenden geliefert, denn, so Veller, der allgemeine geistige Hintergrund war eher grau und uninteressant. Eine ungewöhnliche Situation oder eine strahlende Persönlichkeit haben aber mitgerissen und die Fantasie angeregt. Jede solcher fantastischen Geschichten war also ein Abenteuer, Protest und Kontrast, es war eine Komödie, in der eine Person über das System gelacht hat. Die heutige Zeit dagegen liefert laut Veller solche Geschichten nicht mehr, da der Hintergrund sich verändert hat.64 In diesen Büchern erklingt also die Nostalgie nach einer längst versunkenen Welt, die nicht mehr da ist und nur in den Erinnerungen der Erzähler existiert. Wenn sie also über diese Welt erzählen, wird sie wieder lebendig. Das Erzählen kreiert einen Ort neu, der sonst nur im Bewusstsein existiert, und verleiht ihm eine Gestalt.
IV. Zusammenfassung Judith Schifferle verweist in einer Untersuchung auf einen Literaturbegriff, der “Literatur als schriftlich und mündlich tradierte Sprachverdichtung auffasst, die einen Teilbereich der kulturellen Möglichkeiten des Subjekts Mensch im Rahmen seiner jeweiligen historischen Bedingtheiten und Möglichkeiten ausmacht”.65 Dies trifft auf die Literatur von transkulturellen Autoren zu. Kein Mensch ist eindimensional und auch wenn er sich aus seiner gewohnten Umgebung weiterbewegt, bringt er seine Voraussetzungen in die neue Umgebung mit. Die alten Gewohnheiten werden aber nicht abgelegt, im Gegenteil, der jeweilige Erzähler erlebt und definiert das Neue durch die Perspektive dessen, was er schon kennt. Dies macht sich auch in der Literatur bemerkbar – alle Alltagsorte, besonders, wenn sie neu und fremd sind, werden durch schon bekannte Praktiken erklärt und so zum Eigenen gemacht. Insofern ist diese Vorgehensweise vergleichbar mit dem Festhalten an einem bestimmten ‘Habitus’. Laut Bourdieu zeichnet sich ein Habitus durch eine vielschichtige Bedeutung von persönlicher Anlage, Haltung, Erscheinungsbild, Gewohnheit und Lebensweise aus, wodurch er sich als eine “Theorie des Erzeugungsmodus
64 65
Michail Veller: Nevski prospekti legendid. Tallinn: Fontes 2005. S. 308–309. Schifferle [wie Anm. 30]. S. 3.
224 der Praxisformen” definieren lässt.66 Ein Habitus ist “gesellschaftlich bedingt, er ist nicht angeboren, sondern beruht auf individuellen und kollektiven Erfahrungen”, bzw. leistet eine aktive Präsenz früherer Erfahrungen, die “sich in jedem Organismus in Gestalt von Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata niederschlagen”.67 Das heißt, alle diese Autoren schreiben von ihrem kulturellen Hintergrund heraus. Das eigenkulturelle Element wird dabei besonders hervorgehoben, manchmal sogar überpointiert und zu einer bewussten Selbststilisierung erhoben. Beispielsweise schreibt insbesondere Kaminer manchmal seine Bücher als ‘Berufsrusse’, indem er seinen Ich-Erzähler einen bestimmten Habitus verkörpern lässt. Auch in Bezug auf alle anderen hier behandelten Autoren kann man behaupten, dass sie ihre Herkunft immer mit sich tragen. Die eigene Geschichte ist und bleibt immer im Hinterkopf und die in der Kindheit erlernten kulturellen Praktiken sind nicht einfach zu vergessen. Es handelt sich bei diesen Erzählungen um ein bewusstes Bekenntnis zum Eigenen und zur eigener Geschichte, wobei das eigene Erleben vor dem allgemeinen thematischen Hintergrund dargestellt wird. Gleichzeitig handelt es sich hierbei um “rhizomorphe” Texte, wenn man den Begriff von Gilles Deleuze und Felix Guattari verwendet. Diese Texte besitzen einen offenen Schluss, denn es ist klar, dass diese Geschichten noch weiter gehen können.68 Wie beim Rhizom jeder Punkt mit jedem sich verbinden kann, so kann in einem Bereich, der durch kulturelle Überlappungen und unscharfe Übergänge zwischen verschiedenen Kulturen gekennzeichnet ist, jede Kultur mit jeder anderen eine Verbindung eingehen.69 Dabei findet keine Verschmelzung der Kulturen statt, denn wie kein Rhizom zu einer unförmigen Masse wird und nicht als ein abgeschlossenes Gebilde betrachtet werden kann, so entstehen auch in der Gesellschaft keine neuen homogenen Kulturen.70 Auf die hier behandelten Texte bezogen heißt das, dass der Umstand des Unterwegsseins, des Dazulernens und der Entwicklung des eigenen Selbst sich auch künftig bei allen Autoren fortsetzt. Diese Bücher schildern also nicht das Ergebnis eines Prozesses, sondern die Bewegung und das Leben in der Verwandlung.
66
Pierre Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1976. S. 164. 67 Pierre Bourdieu: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1987. S. 101. 68 Vgl. Gilles Deleuze: Bartleby oder die Formel. Berlin: Merve 1994. S. 39. 69 Vgl. Frank Beyersdörfer: Multikulturelle Gesellschaft. Begriffe, Phänomene, Verhaltensregel. Münster: Lit Verlag 2004. S. 206. 70 Ebd. S. 220.
225 Diese Autoren sind wie literarische Nomaden, die durch ihre Intuition einen neuen Sachverhalt oder ein Ding erkennen, erfassen und erklären. Doch die Kultur eines Nomaden ist eine mündliche und erst durch eine Verschriftlichung der mündlichen Geschichten wird das Erinnern ermöglicht.71 Deswegen schreiben sie ihre Geschichte bzw. die Geschichten aus ihrer Vergangenheit und ihre tiefsten Sehnsüchte auf, damit sie nicht vergehen und damit man nicht aufhört, nach ihnen zu streben.
71
Vgl. Gilles Deleuze und Félix Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie. Berlin: Merve. 5. Aufl. 2002. S. 595ff.
Christoph Meurer
“Ihr seid anders und wir auch”: Inter- und transkulturelle Russlandbilder bei Wladimir Kaminer The chapter discusses the images of Russia in Wladimir Kaminer’s Militärmusik, Helden des Alltags and Karaoke. Beginning with a discussion of the concept of the ‘Third Space’, the analysis shows, that Russia, including the former Soviet Union, appears as such a ‘Third Space’ in Kaminer’s texts. The chapter illustrates the consequences of Kaminer’s images of Russia for the concept of transculturality and agues that this cannot replace intercultural-concepts.
I. Dritte Räume, erste Räume Am sechsten Dezember 2006 fand am Goethe-Institut Brüssel eine Lesung mit dem Lyriker und Essayisten Durs Grünbein statt. Im Anschluss daran stellte sich der Literat gemeinsam mit drei Vertretern der deutschen Literaturwissenschaft in einer Diskussion folgender Frage: Das Wissen der Poesie. Was können wir wissen, wenn wir Gedichte lesen? Die Frage ist eindeutig und zugleich ausufernd, komplex und kompliziert. Etwas verallgemeinert verbirgt sich dahinter eine der Grundfragen der Literaturwissenschaft, die nach dem Sinn jeglichen Lesens fragt. Warum sollte man überhaupt literarische Texte lesen? Diese Frage stellt sich somit auch bei Texten aus dem Bereich der sogenannten Migrationsliteratur, nach dem Motto: Was können wir wissen, wenn wir Texte der sogenannten Migrationsliteratur lesen?1 Eine mögliche Antwort auf die Frage gibt der indisch-britische Autor Salman Rushdie. Als Literatur, die kulturelle Konstellationen kritisch verhandeln will, birgt die sogenannte Migrationsliteratur die Möglichkeit der Schaffung “neue[r] und bessere[r] Karten der Realität […] mit deren Hilfe wir die Welt verstehen lernen”.2 Rushdie meint damit, dass der Leser der 1
Auch wenn der Terminus ‘sogenannte Migrationsliteratur’ beim Verfasser keinen großen Anklang findet, wird dieser hier als notwendige Vereinfachung verwendet und zollt dem Problem der Begriffsinflation im Bereich der Interkulturellen Germanistik Rechnung. Vgl. dazu Sabine Keiner: Von der Gastarbeiterliteratur zur Migranten- und Migrationsliteratur – literaturwissenschaftliche Kategorien in der Krise? In: Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht 30 (1999). S. 3–14 und Aglaia Blioumi: “Migrationsliteratur”, “interkulturelle Literatur” und “Generationen von Schriftstellern”. Ein Problemaufriß über umstrittene Begriffe. In: Weimarer Beiträge 46/4 (2000). S. 595-601. 2 Salman Rushdie: Außerhalb des Wals. In: Rushdie: Heimatländer der Phantasie. Essays und Kritiken 1981–1991. München: Kindler 1992. S. 114–131. Hier: S. 130.
228 sogenannten Migrationsliteratur Erfahrung gewinnt von einer “alternativen Geographie von Raum, Identität und Politik”,3 einer imaginären Geographie, die Rob Shields als Verfahren beschreibt, zu untersuchen wie “Orte subjektiv aufgeladen und mit spezifischen Werten, historischem Gedächtnis und Gefühlen assoziiert werden”.4 Anders ausgedrückt beschreibt dieses erfahrbare Wissen fiktive Räume von “Heimatländern der Phantasie”,5 die “quer […] zu den Realitätszwängen wirklicher Städte, Länder und Nationen” verlaufen.6 Diese fiktiven Räume sind das, was man mit Bhabha “dritte Räume” nennen kann.7 Erfahrbare und erfahrene Realitäten kreuzen und überlagern sich und zerfließen in einen virtuellen Raum, der z.B. für V.S. Naipauls Roman An der Biegung des großen Flusses von Bachmann-Medick als “nicht indische Heimat, nicht afrikanische Fremde, sondern [als] ein Dritter Raum imaginärer Geographie” bezeichnet wird.8 Konzepte von imaginären Räumen sind auch immer Konzepte und Konstellationen von Identitäten. Dies bedeutet, dass eine Analyse von Räumen auch immer eine Analyse der Subjekte ist, die einen Raum durch dessen Aufladung konstituieren, ihn zu anderen Räumen abgrenzen und sich darin bewegen. Der Raum beschreibt somit die Möglichkeiten und Grenzen zur Aushandlung von Identitäten. Im dritten Raum lassen sich klare, homogene und zueinander abgegrenzte Identitäten nur schwer oder gar überhaupt nicht ausmachen. Multiple intra- wie interpersonelle Identitäten treten hervor. Raum kann somit als Ausdruck von Identität verstanden werden und Identität als konstitutiv für einen Raum. Solche Überlegungen beinhalten einen wichtigen Gedankengang, den es mehr als nur im Hinterkopf zu halten gilt, wenn Wissen über dritte Räume erfahrbar gemacht werden soll. Am Beispiel von Bachmann-Medicks Ansicht über Naipauls Romans verdeutlicht, gilt es die Aufmerksamkeit nicht nur auf das Dritte, sondern ebenso auf dessen Voraussetzungen zu richten. Damit die phantastische Heimat erfahren und beschrieben werden kann, muss zuerst konstatiert werden, dass sie gerade n i c h t Indien und n i c h t Afrika ist. Dies impliziert auch, weniger eine Kritik an, denn eine Anmerkung zu Bhabhas 3
Doris Bachmann-Medick: Dritter Raum. Annäherungen an ein Medium kultureller Übersetzung und Kartierung. In: Figuren der/des Dritten. Erkundungen kultureller Zwischenräume. Hg. von Claudia Breger und Tobias Döring. Amsterdam – Atlanta (GA): Rodopi 1998 (Internationale Forschungen zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft 30). S 19–36. Hier: S. 30. 4 Rob Shields: Places on the Margin. Alternative Geographies of Modernity. London: Routledge 1991. Zitiert nach Bachmann-Medick: Dritter Raum [wie Anm. 3]. S. 32. 5 Rushdie [wie Anm. 2]. S. 130. 6 Bachmann-Medick: Dritter Raum [wie Anm. 3]. S. 30. 7 Vgl. Homi K. Bhabha: Die Verortung der Kultur. Tübingen: Stauffenburg 2000 (Stauffenburg discussion. Bd 5). S. 55f. 8 Bachmann-Medick: Dritter Raum [wie Anm. 3]. S. 32.
229 Konzept des hybriden Dritten. Ohne das Vorhanden (gewesen) sein von ersten Räumen, können keine Aussagen über dritte Räume gemacht werden. Bachmann-Medick hat das in der griffigen Formel “113?” zusammengefasst.9 Wenn der dritte Raum, den postkoloniale Individuen besetzen, “weder der erste Raum einer ‘Ursprungskultur’ noch der zweite Raum der ehemaligen Kolonialmacht ist”,10 so muss er doch auf diese bezogen bleiben und kann nicht völlig losgelöst von ihnen gedacht werden.11 Das Fragezeichen, mit dem Bachmann-Medick ihre Rechenformel versehen hat, zieht die Überlegung, bzw. die Frage nach dem Aussehen der sogenannten ersten Räume nach sich. Da sie für die Konstitution des dritten Raums ausschlaggebend sind, ist es notwenig das Augenmerk auf sie zu richten. Wissen über dritte Räume ist ohne das Wissen über die ersten Räume unvollständig oder gar nicht erst zu erlangen. Im Fall von Wladimir Kaminer könnte man, in Anlehnung an BachmannMedick, einen dritten Raum als n i c h t russische Heimat und n i c h t deutsche Fremde beschreiben. Deutschland und Russland wären demnach die Räume, die einen dritten Raum konstruieren. Einer dieser beiden Räume soll nun genauer betrachtet werden. Am Roman Militärmusik sowie an den Erzählbänden Helden des Alltags und Karaoke wird aufgezeigt, wie der angenommene erste Raum Russland von Kaminer literarisch wahrgenommen und gedeutet wird und welche Konsequenzen dies für mögliche Analysen eines dritten Raums im Werk des Autors hat.12 Zuvor noch ein Einwand. Kaminers erster und bisher einziger Roman ist chronologisch zwischen den Jahren 1967 und 1990 angesiedelt, einer Zeit, in welcher Russland Teil der Sowjetunion war. Nun mag es vordergründig problematisch sein, das Russlandbild bei Kaminer untersuchen zu wollen und sich dann einem Text über die Sowjetunion zuzuwenden. Russland mit dem Reich der Kommunisten gleichzusetzen ist, unabhängig aktueller Politsatire, eine grobe, wenn nicht gar fahrlässige Vereinfachung. Dennoch wird sich zeigen,
9
Doris Bachmann-Medick: 113? Interkulturelle Beziehungen als “dritter Raum”. In: Weimarer Beiträge 45/1 (1999). S. 518–531. 10 Michael Hofmann: Interkulturelle Literaturwissenschaft. Eine Einführung. Paderborn: Fink 2006 (UTB Literaturwissenschaften 2839). S. 29. 11 Zudem sind auch ‘erste Räume’ selbst nicht homogen zu denken. Vgl. den Beitrag von Volker C. Dörr in diesem Band. 12 Wladimir Kaminer: Militärmusik. Taschenbuchausgabe. München: Goldmann 2003. Wladimir Kaminer und Helmut Höge: Helden des Alltags. München: Goldmann. 2. Aufl. 2004. Wladimir Kaminer: Karaoke. München: Goldmann 2005. Im Folgenden werden im Fließtext folgende Siglen für die Primärtexte verwendet: MM (Militärmusik), HdA (Helden des Alltags), K (Karaoke), jeweils mit der Seitenangabe versehen.
230 dass diese Gleichsetzung im Fall der hier zu verhandelnden Frage nach Kaminers Russlandbild weniger fahrlässig, denn erforderlich ist.
II. Schicksalsgemeinschaft: Armenische Patrioten und falsche Tadschiken In der Ideologie der Machthaber der untergegangenen UDSSR lag, wie wohl in allen totalitären Regimen im Lauf der Geschichte, die Idee einer kulturellen Raumbereinigung. Der flächenmäßig riesige Vielvölkerstaat sollte ein einheitlicher Raum für den einheitlichen “real existierenden sozialistischen Kleinbürger” (MM 9) werden, damit dieser z.B. selbst in Sotino, der “kleinste[n] Kleinstadt Russlands [den] Leninplatz unter dem Lenindenkmal zwischen der Klinik und der Schule” (MM 83) zu finden vermochte. Eine als Kultur verkaufte Ideologie sollte dem Staatsapparat dazu dienen, unter den Menschen im weiten sowjetischen Raum eine gemeinsame Identität zu schaffen, den Raum zu vereinheitlichen. Ein Mittel dazu ist das Muster der Identifikation des Eigenen durch Abgrenzung zum Anderen. So berichtet Kaminer z.B. von den Versammlungen einer Volksinitiative, die mit Diavorträgen auf die Gefahren aufmerksam macht, die den Sowjetrussen durch die Juden drohen. Die Markierung des Anderen, des Fremden erfolgt hier über Nachnamen, “die alle ziemlich unrussisch klangen” (MM 105): “Vor fünf Jahren wurden der Fabrikdirektor Genosse Iwanow und zwei leitende Ingenieure, Petrow und Michailow, durch die Ingenieure Goldberg und Kramstein ersetzt”, begann er. “Diese Leute erwiesen sich als Vorboten der Weisen Zions, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, unser Land ins Verderben zu stürzen. Sie sind für den Einsatz des giftigen Pulvers verantwortlich, das unseren Baikal-See kaputtmacht und das Volk krank. Die Seuche wird in der Gegend ‘jüdischer Krebs’ genannt”. (MM 101f.)
Auch an anderen Stellen bezieht sich Kaminer auf eine jüdische Identität, die, wenn nicht kontrapunktisch, zumindest quer zu einer russischen Identität verläuft was im vorliegenden Text ohne weiteres als Chiffre für eine sowjetische Identität zu verstehen ist. Der Erzähler, davon überzeugt, “kein richtiger Russe” (MM 61) zu sein, da sich in seinem Pass ein Vermerk auf seinen jüdischen Glauben befindet, ist gerade deswegen stolz auf seinen Vater: “Mit Schwindel erregender Schnelligkeit stieg er dort [d. i. in einem Betrieb der Binnenschifffahrt] zum Leiter der Abteilung Planwesen auf – eine seltene Kariere für einen parteilosen Jungspezialisten jüdischer Abstammung” (MM 26).13 13
Im vorliegenden Text referiert Kaminer an einigen Stellen auf seine eigene jüdische Herkunft. Allerdings erscheint die Referenz nicht in dem Maß ausgeprägt zu sein, dass im Rahmen diesen Beitrags näher darauf eingegangen werden sollte. Dennoch kann es sich mit Sicherheit interessant erweisen, im Werk Kaminers nach Spuren einer jüdischen Identität zu suchen. Vgl. auch den Beitrag von Katrin Molnár in diesem Band.
231 Nicht nur deswegen erweist sich die sowjetrussische Identität als eine ideologisch konstruierte. Bei der Abtastung des sowjetischen Raums unterzieht Kaminer im Verlauf des Textes diese Identität einer detaillierten Dekonstruktion. Auf einer Fahrt “von Lettland nach Usbekistan” (MM 65) durchfährt der Ich-Erzähler verschiedene Räume, trifft auf “komische Rigabewohner” (MM 65), fährt durch Weißrussland und die Ukraine, stellt fest, dass die “Steppen von Kasachstan [einen] richtig verrückt machen [konnten]” (MM 71) und dort Bewohner leben, die “nun wirklich ganz anders” (MM 72) als er selbst sind. Deutet sich dadurch die Ansicht an, dass der sowjetrussische Raum ein gebrochener, ein in keinem Fall als homogen zu betrachtender Raum ist, wird dies überdeutlich, wenn Kaminer die Menschen im Raum selbst zu Wort kommen lässt. Als der Viehtransport, den der Ich-Erzähler zusammen mit einigen anderen Personen begleitet, in der Nähe des Berges Ararat hält, bricht bei dem zuvor nicht näher beschriebenen Aram seine ethnische Identität hervor. Er bezeichnet einen Hirtenjungen, der ihn zuvor einen “Armenien-Arschficker” (MM 70) genannt hatte, als “Aserbaidschaner-Schwanzlutscher” (MM 70). In der Hafenstadt Baku setzt sich der performative Akt der Offenlegung von Ethnien weiter fort, als der “armenische Patriot” (MM 70) Aram sich gleich mit mehreren Bahnhofsangestellten, von denen er einen als Aserbaidschaner ausmacht, anlegt. Das Ausbrechen eines “nationalistische[n] Konflikt[s]” (MM 70) verdeutlicht, dass sich unter der Oberfläche des scheinbar homogen gedachten sowjetrussischen Raumes neue Geographien auftun. Kaminer zeichnet neue Karten seiner Heimat, die in ihrer Weite Gegenden enthalten, die dem Erzähler zugleich fremd und eigen erscheinen: “Irgendwo mitten im KopetDagh, zwischen Afghanistan und dem Iran, blieben wir stehen. Selbst die Sonne sah dort anders aus, viel zu groß und viel zu rot. O du meine Heimat, unendliches Land” (MM 72). Heimat kann, so führt Kaminer vor, ein Ort sein, an dem die gesprochene Sprache nicht als die Eigene erkannt wird. Ein Ort, von dem man denkt, “man hätte […] das falsche Gleis erwischt und [sei] in Afghanistan gelandet” (MM 72). Der Autor vollzieht die Erkennung des Eigenen im Fremden, ohne beides in einem Dritten vollkommen aufzulösen, sondern produktiv im hybriden Raum des Sowjetrussischen zu verhandeln. Das Land, das Kaminer in seinem Roman beschreibt, ist somit tatsächlich kein in sich geschlossener Raum. Angenommene und implizierte Homogenität erweisen sich als bloße Konstruktion, als potemkinsches Dorf, unter dessen Oberfläche es brodelt. In der Topographie des riesigen Landes laufen jüdische Räume quer zu russisch-orthodoxen, “die dringend eine neue orthodoxe Kirche am Baikal-See” (MM 102) zu benötigen scheinen. Russen treffen auf “Moslems […], die behaupteten, dass sie kein Schweinefleisch essen dürften und dass die Russen an allen Übeln der Welt schuld seien” (MM 173). Menschen, die einander nicht verstehen können, erleben Geschichten “wie aus
232 Tausendundeiner Nacht” (MM 72). Dies alles geschieht unter dem Deckmantel einer Identität, die so vielfach kodiert ist, dass im Militärlager, in dem der Erzähler seinen Wehrdienst absolviert, ein sowjetischer Soldat, der für einen Kasachen – “einer von der Sorte, die kaum Russisch konnten” (MM 179) – gehalten wird, sich letztlich als Afghane herausstellt, der von einem Tadschiken als Ersatz für seinen Sohn zur Armee geschickt wurde. Damit der sowjetische Raum für die Menschen bewohnbar ist, ganz konkret in der gerade beschriebenen Situation, damit die Raketenstellung überhaupt funktionieren kann, ist es von Bedeutung, eine “gemeinsame Sprache” (MM 173) zu finden. Eine Sprache, die das Eigene als das Eigene betont, ohne das Fremde als grundverschiedene Opposition wahrzunehmen. Obwohl Kaminer nicht ausdrücklich formuliert, wie diese gemeinsame Sprache, die n i c h t russisch, n i c h t kasachisch und erst recht n i c h t afghanisch sein kann, sondern ein Drittes sein muss, auszusehen hat, führt er doch andeutungsweise vor, wie das Zusammenleben im dritten, sowjetrussischen Raum funktionieren kann. Dazu muss er bezeichnenderweise die Städte mit ihren Lenindenkmälern und Leninplätzen hinter sich lassen und den Wald aufsuchen. Die Beschreibung des Zeltlagers – “genau genommen waren es drei verschiedene Camps, die nebeneinander lagen und eine komplizierte Beziehung untereinander unterhielten” (MM 139) – in den Wäldern Lettlands kann als mikrokosmische Allegorie auf die Sowjetunion verstanden werden. Die verschiedenen Camps verhandeln ihre Positionen im dritten Raum des Zeltlagers. Als auf den Punkt gebrachte Metapher des Dritten fungiert die “sogenannte ‘Waldsuppe’, die aus den kulinarischen Eroberungen des Tages bestand” (MM 142). In der “Wundersuppe, die jeden Tag anders schmeckte” (MM 142), vereinigt sich das Potenzial der Lagerbewohner, den Alltag gemeinsam zu bewältigen. Eine Suppe, in der sich verschiedene Geschmäcker zu einem Neuen verbinden, belegt die Ansicht des Erzählers, dass, trotz der scheinbaren Interessengegensätze, “es in dem großen Lager so gut wie keine Auseinandersetzungen [gab] […]” (MM 141). So mag es kaum verwundern, dass das Zeltlager auf seine Bewohner “wie ein Paradies, wie Kommunismus ohne Phrasen” (MM 147) wirkt. Wenn in Zeiten des Kalten Krieges in westlichen Medien von d e r Sowjetunion und d e n Russen gesprochen wurde, die Menschen in Kaminers Russendisko zu Musik aus Moldawien ebenso tanzen wie zu ukrainischer, russischer oder solcher aus dem Baltikum, impliziert dies, die UDSSR als homogenen Raum gedacht zu haben und immer noch zu denken. Russlanddeutsche, die aus der Ukraine oder Kasachstan in die Bundesrepublik gekommen sind, eben als solche zu bezeichnen, bedeutet ebenso, sämtliche Nachfolgestaaten der Sowjetunion unter der Marke russisch zu subsumieren. Mit seinem Roman verdeutlicht Kaminer, dass es bar jeder Gleichmachungsversuche unmöglich war, in der UDSSR eine kulturell homogene Bevölkerung auszumachen. Vielmehr handelte sich es um eine Schicksalsgemeinschaft, die ihre kulturellen
233 Unterschiede im dritten Raum, Sowjetunion genannt, verhandelte, vermischte, aber nicht nivellierte. Sich als Bürger der Sowjetunion zu fühlen, bedeutete auch, sich als Russe von Letten abzugrenzen, “kein Vertrauen zum ukrainischen Volk” (MM 120) zu haben, oder als Armenier auf die Aserbaidschaner zu schimpfen – “weniger als eines und zugleich doppelt” zu sein.14
III. Leitkultur und Streitkultur In Militärmusik beschreibt Kaminer eine Ambivalenz im dritten Raum. Zum einen wird dieser als konfliktbeladenes Spannungsfeld beschrieben, in welchem sprachliche, religiöse und andere Identitäten scheinbar unversöhnlich aufeinander prallen. Zum anderen ist der dritte sowjetische Raum auch der gemeinsame Raum der Schicksalsgemeinschaft der Menschen, in welchem das Eigene wie das Andere zu einer gemeinsame Sprache relativiert werden. Konflikt und Konsens erscheinen hier als zwei Seiten der Medaille, beruhen aber auf verschiedenen Implikationen. Produktiv ist der dritte Raum dann, wenn durch die gefundene gemeinsame Sprache kulturelle Unterschiede ausgehandelt werden, um so das Zusammenleben im Vielvölkerstaat zu ermöglichen. Problematisch ist es für die Menschen im dritten Raum, wenn dieser durch etwas ausgefüllt wird, das nicht auf der Verhandlung zweier oder gar mehrerer Kulturen beruht, sondern von ‘oben her’ mit einer Leitkultur besetzt ist, die nationale wie regionale Kulturen ausblendet, übermalt und nivelliert. Dazu gehören die von Kaminer in Karaoke erwähnten “VolksballetKollektiv[e]” (K 34) oder die dem Anschein nach von staatlicher Seite zusammengestellten Pop-Gruppen: Im Schwarzweißfernseher meines Vaters traten an jedem Sonntagmorgen in der Muntermach-Sendung Morgenpost [Hervorhebung von Kaminer] so genannte VIAs auf. So nannte man die sowjetischen Popbands: das V stand für Vokal, das I für Instrumental und das A für Ensemble. Sie sangen optimistische Lieder über die Liebe, den Frühling und den Sozialismus, waren korrekt gekleidet und politisch sehr engagiert. (K 40)
Ziel dieser konstruierten Leitkultur war die sowjetische Staatsräson. Dass sie sich jedoch als absolut inhaltsleer erweist und eine Realität schafft, die sich auf rein gar nichts bezieht, wird an den Stellen deutlich, an denen Kaminer diese Kultur kritisch hinterfragt und die sowjetischen Metaphern aufbricht. So zum Beispiel, wenn er von einem Lied der VIA Pesnjari mit folgender Strophe berichtet Oh, meine Liebe, Nun weiß ich, wo du steckst: In Vologda, wo denn sonst, Im Haus mit dem grünen Holzzaun. (K 40) 14
Homi K. Bhabha: Die Verortung der Kultur [wie Anm. 7]. S. 172.
234 und dazu dann bilanziert, dass “Vologda […] eine kleine Stadt [war]. Und jeder wusste: Es gab dort nur ein Haus mit besagtem Zaun: die Klinik für Geschlechtskrankheiten” (K 40). Diese ideologische Leitkultur gehört der Vergangenheit an, was übrig blieb sind “die charakteristischen unvergänglichen Pockenimpfungsnarben” (K 165). Nach dem Ende der Sowjetunion erhielten die quer und kontrapunktisch zum sowjetischen Raum verlaufenden Räume eine neue Stufe der Realität. Nicht mehr im dritten Raum der UDSSR aufgehoben, entbrannten in den Nachfolgestaaten Diskussionen um kulturelle Identitäten und Forderungen nach einer eigenen nationalen, homogenen Kultur, die von “neu gebackenen ‘Nationaldemokraten’ in allen fünfzehn ehemaligen Republiken sofort […] ins Leben gerufen” (K 105) wurden, die “nur das Beste für ihr Volk wollten” (K 105). Dieser Umstand zieht die Überlegung nach sich, wie es um den flächenmäßig größten Nachfolgestaat der UDSSR, Russland, bestimmt ist. Es stellt sich, jetzt im reinen Wortsinn, die Frage nach Kaminers Russlandbild in postsowjetischer Zeit. Man könnte durchaus annehmen und zu Bachmann-Medicks Rechenformel zurückkommen,15 dass Russland nach dem Wegfall des sowjetischen Dritten nun als ein homogener und monokultureller erster Raum aufzufassen ist, was auf die Frage an Kaminers Texte nach der Beschaffenheit des russischen Raumes eine einfache Antwort zutage fördern würde. Doch so einfach liegen die Dinge nicht. Befragt man Kaminers Karaoke nach einem Russlandbild, bekommt man nicht eine, sondern eine Vielzahl von Antworten. Ansatzpunkt ist dazu die Diskussion um die Beschaffenheit der “russischen Seele” (K 159), die im Text als Symbol das Cover einer CD mit russischer Soul-Musik zieren soll. In einem Streitgespräch, so berichtet der Erzähler, “gingen […] die Meinungen aller am Projekt Beteiligten auseinander” (K 159). In der Debatte oszilliert die Vorstellung von der russischen Seele zwischen “von einem Pfeil durchbohrte Herzen, […] Balalaikas in Blut schwimmend, […] augenzwinkernde[n] Pik-Damen” (K 160). Dazu kommt noch die Vorstellung von “Frauen mit typisch russischem Gesichtsausdruck und Kopftüchern” (K 160) als Symbol Russlands hinzu, alternativ auch “eine rotbackige, lebensfrohe Frau mit einem Eisbären an der Leine und einer Fackel in der Hand” (K 159), aber auch “ein Bild von Rasputin auf dem Cover […], möglichst mit einem überlangem Bart und verrückt geschminkten Augen” (K 159). Je mehr Menschen, so berichtet der Erzähler, in die Debatte einsteigen, desto größer wird das Konvolut möglicher Russlandbilder. Jeder einzelne Vorschlag ist Ausgangs- und Endpunkt einer Kette von intertextuellen Verweisen, Metaphern, Mythen und Geschichten, offenbart Brüche 15
Vgl. Bachmann-Medick: 113? [wie Anm. 9].
235 im russischen Raum, zieht Grenzen zwischen Vorstellungen von Identität und Identifikation und weist kulturelle Subräume aus. Was Russland ausmacht, kann und will Kaminer mit der gerade erwähnten Textpassage nicht eindeutig erklären. Vielmehr bescheinigt der Autor Russland verschiedene kulturelle Räume. Diese imaginären Geographien werden vom Autor an anderer Stelle am Beispiel der Musik auf konkrete, wenn auch nicht eindeutig festzumachende, Geographien übertragen: Im russischen Süden, in Krasnodar, wo die wahren Kosaken leben, sind die Lieder auch feurig und zum Tanzen animierend. Die Balalaikas haben dort nicht drei und nicht vier, sondern sechs Saiten und werden jedes Mal aufwändig gestimmt. Aber schon etwas nördlicher wird die Musik monotoner, langweiliger und die Texte immer tragischer. Die Balalaikas haben dort nur drei, manchmal zwei oder sogar nur noch eine Saite, und sie werden überhaupt nicht mehr gestimmt. Noch nördlicher, wo der Winter zehn Monate dauert und die Katzen wie Hunde bellen, werden Balalaikas durch einen Holzlöffel ersetzt und die Melodien auf eine Note reduziert. Dafür werden die Balladen immer länger. (K 111)
Der russische Raum ist von verschiedenen Räumen durchzogen, die mit jeweils anderen Gefühlen, Werten und Symbolen aufgeladen sind. Nun stellt sich die Frage, ob sich aus einer Schnittmenge dieser Räume möglicherweise die (kulturelle) Identität Russlands extrapolieren lässt. Durch das Fazit des Erzählers, dass sich das Russlandbild durch unterschiedliche Projektionen und Konstitutionen von Metaphernräumen als äußerst “wandlungsfähig” (K 161) erweist, bleibt fraglich, ob man überhaupt in der Lage sein kann, ein eindeutiges Russlandbild auszumachen. Die letztendliche Einigung auf ein “kleines Sternchen” (K 161) als Symbol für die russische Seele auf dem CDCover rückt das implizierte Russlandbild in die Nähe des untergegangenen Sowjetreichs, welches, wie die Analyse von Kaminers Militärmusik zeigt, geradezu ein Inbegriff eines hybriden Dritten war.
IV. Deutsch-russisches Kulturjahr Da man durch die Betrachtung der bisherigen Texte konstatieren kann, dass man bei Kaminer nicht von d e m Bild der Sowjetunion und d e m Bild Russlands sprechen kann, impliziert dies auch, dass alle Versuche, sich von außen ein Bild über ein Land zu machen, sich als unzulänglich erweisen müssen. Wenn jedes Eigenbild bereits einer Relativierung bedarf, erfordern jegliche Fremdbilder eine Korrektur. Dies liegt aber nicht nur daran, dass sich nicht einmal Russen darauf einigen können, was eigentlich die russische Seele ausmacht, was typisch russisch ist, sondern auch daran, dass außenstehende Menschen Einzelbilder, die sie aus einem Land wahrnehmen oder wahrzunehmen vermeinen, verallgemeinern und zu klischeehaften Vorstellungen verabsolutieren, das heißt, einen Raum in
236 seinen Grenzen so ausweiten, dass er andere daneben oder dazu quer liegende Räume überdeckt und eine reale Geographie mit einer imaginären überlagert.16 Dies führt Kaminer in Karaoke mehrfach am Beispiel deutscher Rezeption russischer Musik und den damit verbundenen Bildern in den Köpfen der Deutschen vor. So muss der Erzähler den außenstehenden Betrachter unter anderem in der Ansicht korrigieren, “dass die Russen gerne tanzen […]. Echte Russen tanzen nie! Außer wenn sie betrunken sind. Und in dem berühmten Lied ‘Wir tanzen auf den Tischen’ geht es auch nicht so sehr ums Tanzen als ums Geld” (K 35). Noch drastischer wird diese Vorstellungsdivergenz, wenn die Außenstehenden etwas als vermeintlich typisch russisch ausmachen, was im Land selbst jedoch völlig unbekannt ist: Fast jedes Mal, wenn wir Russendisko haben, drängt sich einer aus dem Publikum zum DJ-Pult und fragt nach “Kalinka Malinka”. “Was soll denn das sein?”, fragt der DJ zurück. “Wie – was? Das ist doch das [sic!] Russenlied überhaupt!”, empört sich jedes Mal der Gast […]. Sein Bild von der russischen Musik ist verrutscht. Der Mann ist ganz offensichtlich folkloregeschädigt. Und mit Folklore ist nicht zu spaßen […]. (K 110)
Kaminer stellt einerseits, die These auf, dass Vertreter von Folklore “in ihren Heimatländern oft unbekannt” (K 110) sind, will ihnen aber andererseits einen, im russischen Raum gelegenen, bestimmten konkreten und metaphorischen Raum zuordnen: “In jedem Land ist die Folklore eine Ehrensache des Südens” (K 110), und somit nicht typisch für ein mögliches abgerundetes, mit klaren Grenzen versehenes Russlandbild. Noch deutlicher tritt die Verabsolutierung von Einzelbildern und metaphorischen Räumen an den Stellen in Karaoke zutage, an denen Kaminer mit dem wahrscheinlich typischsten Klischee gegenüber den Russen spielt: dem Alkohol-Konsum. Dadurch, dass er das Stereotyp in geradezu inflationärer Weise bedient, macht er es sich zu Eigen und verschafft sich Deutungshoheit darüber. Beispielhaft für dieses Verfahren lässt Kaminer die offensichtlich gut gemeinte Ansicht der Deutschen, dass durch die Russendiskos “Balalaikas, Wodka und Russenmafia nicht mehr unsere [d. i. die der Deutschen] einzigen Assoziationen zu dem großen Nachbarn” (K 69) sind, gegen die Wand laufen, dadurch dass der Erzähler von Besuchen russischer Journalisten berichtet, und zwar “von solch bekannten Moskauer Zeitschriften wie Mafia aktuell, Balalaika heute und Wodka essen und trinken [alle Hervorhebungen von Kaminer]” (K 69). Dass Bilder des Anderen aus der Sicht des Eigenen mitunter 16
Ein Beispiel für dieses Verfahren ist auch das Bild Deutschlands in der US-amerikanischen Öffentlichkeit, das größtenteils, wenn nicht sogar ausschließlich aus Weißwürsten, Lederhosen und Oktoberfest besteht. Als Motto formuliert: Deutschland liegt in Bayern.
237 nicht nur verschoben, sondern schlichtweg falsch sind, findet im Text unter anderem seinen Beleg durch einen polnischen Trinkspruch, den Deutsche für russisch halten, der dann von den Russen mit Unverständnis und “Hitler kaputt” (K 70) beantwortet wird. Die imaginären Geographien der Sowjetunion und seines Nachfolgestaates Russland erweisen sich in Kaminers literarischer Ausdeutung als Flickenteppich. Die Behauptung lässt selbstverständlich die kritische Anmerkung zu, ob dadurch das Konzept der imaginären Geographie nicht überreizt oder gar vollkommen überladen wird. Wenn man sich jedoch ins Gedächtnis ruft, dass Raumanalysen zugleich immer Identitätsanalysen sind, ist es leicht, von der abstrakten Ebene herunterzukommen und zu konstatierten, dass sich aus der Matrix eines imaginären Flickenteppichs die Unfähigkeit ergibt, e i n Bild von Russland zu zeichnen, da man ebenso wenig e i n e russische Identität festmachen kann. Jeder Versuch, sei es von innen oder von außen, ergibt nur ein unvollständiges, wandelbares Bild von der Verfasstheit eines Russischen, die immer nur ein Drittes sein kann, etwas Auszuhandelndes, zwischen Balalaikas, Wodka, Frauen mit Kopftüchern oder Eisbären an der Hand, usw.: “Weniger als eines und zugleich doppelt”.17
V. Transkulturelle Obdachlose Das (vorläufige) Fazit, dass das Russlandbild, welches Kaminer in seinen Texten darlegt, ein wandelbares, nach innen und außen offenes Bild ist, scheint sich als Bestätigung von Wolfgang Welschs Transkulturalitätskonzept zu erweisen. Dieser wendet sich, ausgehend von Pufendorf, Herder und T.S. Eliot, gegen traditionelle Kulturbegriffe, die er als “stark vereinheitlichend […], volksgebunden […], separatistisch” bezeichnet.18 Auch Konzepte von Multiund Interkulturalität kommen bei ihm schlecht weg, seien sie doch immer noch “ans traditionelle Kulturkonzept gebunden”.19 Hingegen erscheint ihm Transkulturalität als passendes Schema, das Verhältnis von Nation und Kultur zu beschreiben, nämlich als den Zustand einer “inneren Differenzierung und Komplexität der modernen Kulturen”.20 Welsch meint damit, dass in der heutigen globalisierten Welt Lebensentwürfe nationale Schranken wie selbstverständlich überschreiten, dass z.B. “die Lebensform eines Ökonomen, eines Wissenschaftlers oder eines Journalisten [nicht] mehr einfach deutsch oder französisch, sondern […] europäisch oder global geprägt [ist]”.21 Daraus 17
Homi K. Bhabha: Die Verortung der Kultur [wie Anm. 7]. S. 172. Wolfgang Welsch: Transkulturalität. Zwischen Globalisierung und Partikularisierung. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache Jg. 26. München: Iudicium 2000. S. 327–51. Hier: S. 329. 19 Ebd. S. 332. Vgl. auch Wolfgang Welsch: Transkulturalität. Lebensformen nach der Auflösung der Kulturen. In: Information Philosophie 2/1992. S. 5–20. 20 Wolfgang Welsch: Grenzgänge der Ästhetik. Stuttgart: Reclam 1996. S. 275. 21 Wolfgang Welsch: Transkulturalität [wie Anm. 18]. S. 337. 18
238 resultiert er, wofür die behandelten Texte Kaminers als Beleg stehen, dass “im Innenverhältnis einer Kultur – zwischen ihren diversen Lebensformen – […] heute ebenso viele Fremdheiten wie in ihrem Außenverhältnis zu anderen Kulturen [existieren]”.22 Wichtig ist in diesem Zusammenhang Welschs Urteil, dass durch die transnationale Ausrichtung von Kultur alles jederzeit verfügbar wird: “Für jede einzelne Kultur sind tendenziell alle anderen Kulturen zu Binnengehalten oder Trabanten geworden”.23 Die Lebensform des nächsten Nachbarn mag fremder erscheinen als die kulturelle Ausrichtung eines Menschen auf der anderen Seite des Erdballs, dessen Eigenheiten vollkommen vertraut sind, als Teil des Eigenen erscheinen und durch moderne Kommunikations- und Reisemöglichkeiten immer abrufbar sind: Ein Gast aus Afrika wollte vom russischen DJ wissen, ob der Chor der sowjetischen Armee auch Reggae könne. Sofort wurde sein Wunsch erfüllt. “Die Russen können wohl alles”, murmelte der Mann deprimiert und kippte auf der Stelle um. Ein japanischer Gast sang zur großen Freude der Anwesenden “Bésame mucho” auf Japanisch, und ein Schwede erzählte, dass er eigentlich immer schon nach Russland wollte. Aber, erklärte er uns, er sei als Schwede zur Welt gekommen und müsse deswegen in Schweden enden. (K 63)
Wenn nun von Nationalkulturen nicht mehr gesprochen werden kann, wenn kein Raum mehr ein erster zu nennen ist, wenn Interkulturalität als Konzept ausgedient hat, wenn jede Benennung wie ‘typisch russisch’ oder ‘typisch deutsch’ verfehlt ist, was bleibt dann von einem Raum, der sich Russland, Deutschland, usw. nennt, übrig? Die Rettung eines möglichen Nationenbegriffs und eine damit einhergehende Relativierung von Welschs Transkulturalitätskonzept findet sich jedoch auch im Werk Kaminers, hier beispielhaft in Helden des Alltags. In den verschiedenen Kapiteln des Buchs werden jeweils Menschen in bestimmten Lebenssituationen vorgeführt. Oftmals sind die Erzählungen so aufgebaut, dass Kaminer die Bewältigung des Alltagswahnsinns zum einen in Deutschland (Berlin) und zum anderen in Russland (Moskau) darstellt. Um es mit den einzelnen Überschriften der Texte auszudrücken, erscheinen z.B. die “Menschen beim Feiern” (HdA 13-15) oder die “Menschen, die musizieren” (HdA 21-23) oder auch die “Menschen und ihre Freizeitbeschäftigungen” (HdA 51-53), um nur einige ausschnitthaft zu nennen, als transkulturelle Subjekte, die ihrer Lebensform nachgehen und ihren Raum bewohnen, bar jeder nationalen Zuordnung. Eine genaue Lektüre der einzelnen Passagen – hierfür könnte man zahlreiche andere Texte aus den verschiedenen Erzählbänden des Autors zu Rate ziehen – offenbart in den Lebensformen der Alltagshelden in Russland und Deutschland feine, aber doch auszumachende 22 23
Ebd. S. 338. Ebd. S. 337.
239 Unterschiede. Wenn man, vielleicht etwas überspitzt, beispielhaft Bettler als transkulturelle Lebensform betrachtet, so konstatiert Kaminer, dass die (erfolgreiche) Lebensform Obdachloser in Deutschland und Russland zwar ähnlich, aber nicht deckungsgleich ist. Beide, Moskauer und Berliner, können sich, so der Erzähler, “am ehesten mit dem ewigen Bettlertraum vom Neuanfang identifizieren” (HdA 10). Weiter ist aber zu lesen, dass den in Moskau ausgelobten Wettbewerb im Betteln ein Journalist gewinnt, der sich als verarmter Profikiller ausgibt (vgl. HdA 8), in Deutschland ein solcher Wettbewerb hingegen nur von einem Obdachlosenzeitungsverkäufer, der gelobt, sein Leben zu ändern, gewonnen werden könnte (vgl. HdA 10). Die Räume, die Obdachlose innerhalb eines russischen und eines deutschen Raumes besetzen, erscheinen ähnlich, sind aber doch anders. Das wird mit den Räumen zu tun haben, die sie umgeben, zu denen sie sich einerseits abgrenzen, mit denen sie andererseits interagieren, die zusammen einen dritten Raum aushandeln, der Russland oder Deutschland genannt wird. Dieses Beispiel ist nur eines von vielen, die sich aus Kaminers Texten extrapolieren lassen, für die Ansicht, dass Lebensformen im Zeitalter der Globalisierung “nicht mehr an den Grenzen der Nationalkulturen [enden]”,24 aber immer noch so etwas wie eine scheinbar nationale oder regionale Besonderheit aufweisen. Transkulturalität kann deshalb interkulturelle Konzeptionen nicht ablösen. Vielmehr erscheint es so, dass Transkulturalität einen (wandelbaren) Zustand im Zeitalter der Globalisierung darstellt, während Interkulturalität einen Vorgang im Zusammentreffen von national differenzierten transkulturellen Lebensentwürfen beschreibt.25 Wie SchulzeEngler konstatiert, muss “der Perspektivenwechsel von Inter- zu Transnationalität […] keineswegs zwangsläufig dazu führen, Nationalstaaten als eine zu vernachlässigende Größe zu betrachten […]”.26 Eine Ansicht, die sich ebenso mit Kaminer belegen lässt: Seit einiger Zeit habe ich Grund zu der Annahme, dass sich unter diesen einheimischen Pennern ein Landsmann von mir verbirgt, der unermüdlich hier im Park bisher unbekannte russische Trinksitten verbreitet. So hängt zum Beispiel seit neuestem ein Glas am Baum neben der Bank. Die Einheimischen haben früher nie ein Glas benutzt. Sie mixten ihren Doppelkorn mit Bier immer pur – im Bauch. Jetzt haben sie die Möglichkeit, die richtige Mischung vorab zu dosieren. (HdA 34f.) 24
Ebd. S. 337. Man stelle sich zum Beispiel nur ein Geschäftsessen vor, bei dem der transkulturelle Lebensentwurf ‘Ökonom’ aus den USA, China und Saudi-Arabien zusammenkommt. 26 Frank Schulze-Engler: Von ‘Inter’ zu ‘Trans’: Gesellschaftliche, kulturelle und literarische Übergänge. In: Inter- und Transkulturelle Studien. Theoretische Grundlagen und interdisziplinäre Praxis. Hg. von Heinz Antor. Heidelberg: Winter 2006 (Anglistische Forschung. Band 362). S. 41–53. Hier: S. 42. 25
240 VI. Fazit Die Frage, um die es sich in dem bisher Gesagten dreht, zielt auf die Beschaffenheit des dritten Raums an sich ab. Wenn im Verlauf des vorliegenden Textes sowohl Russland als auch die Sowjetunion als dritter Raum bezeichnet werden, mag dies verwundern. Die scheinbar homogene, als erster Raum zu denkende Sowjetunion, die aber, so beschreibt es Kaminer, nie ein solcher gewesen ist, zerfällt nach ihrem Ende in verschiedene Staaten, die sich im Sinne einer Reethnisierung ebenso gerne als homogene mit eigener Kultur versehene Räume verstehen würden. Dem stehen Kaminers Aussagen über das Ringen um die Frage, was typisch Russisch sei, genau entgegen. Wie aus den Texten des Autors herauszulesen ist, scheint es unmöglich, diese Frage zu beantworten. Eine homogene Kultur ist weder in der Sowjetunion noch in Russland zu verorten. Kann man somit überhaupt jemals von einem ersten Raum sprechen? Daraus ergibt sich die Überlegung, Bhabhas Konzept des dritten Raums in gewisser Hinsicht radikaler zu denken. Weder im Fall der Sowjetunion noch durch die Analyse von Kaminers Russlandbild kann Migration als Ursache des Entstehens eines dritten Raums ausgemacht werden. Dennoch scheinen die Figuren in den Texten des deutsch-russischen Autors immer in einem ‘Dazwischen’ zu existieren. Sie oszillieren zwischen Identitäten, die sie selbst sich zuschreiben oder durch Fremdprojektionen zugewiesen bekommen. Was hier, ansatzweise, angedeutet werden soll, ist die Überlegung, dass ein dritter Raum nicht nur ein postkoloniales, sondern ebenso ein ausgewiesenes postmodernes Phänomen ist, dem massenhafte Migration Vorschub geleistet hat, aber nicht als einziger Erklärungsgrund dafür ausreicht. Ein Raum als radikales Resultat der Transkulturalität. In Zeiten, in denen jegliches Kulturgut durch Migration und Kommunikation jederzeit verfügbar und austauschbar ist, bewohnen transkulturelle Individuen die Räume, von denen jeder ein Dritter genannt werden kann. Nationalitäten werden so zu hohlen Begriffen, an Konstrukte aus imperialistischen Zeiten gebunden. Das postmoderne Individuum lebt in einem ständigen ‘Dazwischen’ und handelt seine Identität und damit seinen Raum jeden Tag neu aus. Konstruierte homogene Kulturgemeinschaften, die in ersten Räumen leben, erweisen sich in Kaminers Lesart der Sowjetunion als hoffnungslose Suche nach imperialisten Träumen, wie es Wladimir Putin zurzeit erneut versucht. Über kulturelle Kollektividentitäten zu sprechen, scheint, Kaminers Literatur folgend, nur im ironischen Sprechen möglich zu sein. Kaminers Russland erweist sich, ebenso wie sein Blick auf und in die UDSSR, die praktisch die Matrix für sein Verständnis von Russland und den Russen bildet, als ein absolut heterogener Raum, als dritter Raum, als die von Bachmann-Medick beschriebene “Strategie der Vervielfältigung nicht
241 homogener Schichtungen innerhalb [Hervorhebung von Bachmann-Medick] einer jeweiligen Kultur”,27 als Flickenteppich imaginärer Geographien, die quer zu realen Orten verlaufen. Obwohl dies eine starke Relativierung einer Aussage wie ‘dies ist typisch russisch’ zugunsten eines transkulturellen Verhältnisses zwischen Einzelräumen jenseits nationaler Grenzen bedeutet, führt das aber nicht zur Absage an interkulturelle Verfahren. Hier kommt die Ambivalenz von Universalität und Partikularität in Zeiten der Globalisierung zum Tragen. Auch wenn z.B. “ein deutscher Idealist mit einem indischen Idealisten eine größere Gemeinsamkeit besitzt als mit einem Materialisten aus der eigenen Kultur”,28 so gibt es doch etwas, das die beiden Deutschen unter einem Raum zusammenfasst. Etwas, das mehr als die eigene Sprache und politische Grenzziehungen ist, etwas, dass in der täglichen Auseinandersetzung zwischen den Subräumen erfahrbar ist, etwas, dass den deutschen Idealisten genauso jubeln lässt, wenn die deutsche Fußballnationalmannschaft gewinnt wie den deutschen Materialisten oder, wie im Sommer 2006 zu beobachten war, türkische Migranten der zweiten Generation. Trans- und Interkulturalität sind weniger als Gegensätze, sondern, im Sinne Derridas, mehr als Supplemente zu verstehen.29 Welche Rolle kann nun die sogenannte Migrationsliteratur in diesem Kontext spielen? Als Literatur, die gleichzeitig außerhalb und innerhalb einer Gesellschaft steht, macht sie auf das tägliche ‘Andere’ aufmerksam, das uns umgibt, mit dem wir uns auseinandersetzen. Als ‘andere Literatur’ weist sie Brüche aus, offenbart Risse im kulturellen Gefüge und schafft es doch, die Gemeinsamkeiten einer (Kultur-)Gemeinschaft auszuweisen. Was mit Kaminers Texten erfahrbar wird, ist das Wissen, dass eine postmoderne Nation voller innerer Widersprüche ist, sich aber dennoch als Nation verstehen kann, eine Nation mit festgelegten geographischen Grenzen, jedoch mit wandelbaren kulturellen und imaginären Abmessungen, die es ständig neu zu verhandeln gilt. Wenn dieses Wissen dazu überleitet, das Fremde als Teil des Eigenen zu sehen, im Fremden etwas Eigenes zu finden, erste Räume nur vorläufig als solche hinzunehmen, dann aber kritisch auf den Status eines Dritten zu untersuchen, dann ist der Ausdruck ‘das ist typisch russisch’ kein performativer Akt einer Abgrenzungsstrategie, sondern eine Feststellung, die eigene Position in und zwischen Räumen kritisch zu überdenken und das Verhältnis zum und mit dem Anderen neu auszuhandeln. 27
Bachmann-Medick: 113? [wie Anm. 9]. S. 521. Ram A. Mall: Von Interkultur Kompetenz zur interkultureller Verständigung. In: Inter- und Transkulturelle Studien [wie Anm. 26]. S. 109–118. Hier: S. 112. 29 Vgl. Jacques Derrida: Grammatologie. Übers. von Hans-Jörg Rheinberger und Hanns Zischler. Sonderausgabe zum 30jährigen Bestehen der Reihe SuhrkampTaschenbuch Wissenschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003. S. 250ff. 28
Michaela Haberkorn
Treibeis und Weltensammler: Konzepte nomadischer Identität in den Romanen von Libus˘e Moníková und Ilija Trojanow Transcultural literature frequently explores the formation of identities in a process of cross-cultural communication and immersion in modern diasporas. We encounter protagonists who reinvent themselves in the course of changing geography, perspective and cultural context. The traveller, migrant or nomad becomes the metaphor of the modern deterritorialized or decentralized subject (James Clifford), their stories are often situated in places of transition (Ruth Mayer). The chapter discusses the novels of Libus˘e Moníková and Ilija Trojanow which portray such travellers between worlds who reinvent their identities between past and future and without a spatial or cultural centre.
“Wir sind alle Gäste. Wir sind alle Wanderer. Seien Sie einer von uns”.1
I. Literaturen der Diaspora – Geschichten über moderne Nomaden Zeitgenössische literarische Texte folgen häufig den Reisen, Wandlungen und dem Blick von Wanderern zwischen Welten, die entweder als Reisende oder als Nomaden ihre Geschichte jenseits kultureller Festlegungen schreiben. Was unterscheidet dabei den Nomaden vom Reisenden? Während der Reisende von einem festen Ort als Bezugspunkt ausgehend Grenzen überschreitet, um ihm fremde Territorien zu erforschen, existieren diese Grenzen für den Nomaden nicht (mehr), er eignet sich im Umherziehen seine Lebenswelt(en) an. Nicht ein bestimmter Ort, ein fest umrissenes Territorium, sondern das Wandern selbst stellt das Ziel seiner Wanderschaft dar. Wie in der Geophilosophie von Deleuze und Guattari die Erde selbst nicht statisch in nationalstaatliche Parzellen gegliedert erscheint, sondern die Dynamik ihrer Bewohner widerspiegelt,2 entzieht sich die Existenzform des Nomaden den nationalstaatlichen 1
Ilija Trojanow: Der Weltensammler. München – Wien: Carl Hanser 2006. S. 111. Im Folgenden: (W). 2 “Und doch haben wir gesehen, dass die Erde eine fortwährende Deterritorialisierungsbewegung an Ort und Stelle ausführt, mit der sie jedes Territorium überschreitet: sie ist deterritorialisierend und deterritorialisiert. Sie verschmilzt mit der Bewegung derer, die in Massen ihr Territorium verlassen: Langusten, die sich zugweise auf dem Grund des Meeres in Marsch setzen, Pilger oder Ritter, die entlang einer himmlischen Fluchtlinie reiten. Die Erde ist kein Element unter anderen, sie vereinigt alle Elemente in einer Umfassung, bedient sich aber des einen oder des anderen zur Deterritorialisierung des Territoriums. Die Deterritorialisierungsbewegungen sind unabtrennbar von Territorien, die sich einem Anderswo öffnen, und die Reterritorialisierungsprozesse sind unabtrennbar von der
244 und auch kulturellen Grenzziehungen und eröffnet einen transnationalen Raum des Übergangs.3 In der interkulturellen bzw. transkulturellen Literatur eröffnen sich ebenso diese Zwischenwelten und Räume des Übergangs. Sie bewegt sich im Spannungsfeld kultureller Widersprüche und kulturspezifischer Auslegungen von Wirklichkeit. Im Mittelpunkt stehen Themen wie Kulturkontakt oder das Vermitteln auf der Grenze zwischen zwei oder mehreren Kulturen. Moníková erschuf in ihren Romanen “den Typus des zeitgenössischen politischen Nomaden”4 und erzählt “Geschichten von Menschen, die unterwegs sind. […] Sie alle sind TschechInnen, die durch die bewegte Geschichte des 20. Jahrhunderts ihr Zuhause verlassen mussten […]”.5 Am Beginn dieser Lebensform steht bei Moníková das Exil, das unfreiwillige Getriebensein in eine Welt jenseits der vertrauten Zugehörigkeiten. Auch die Weltreisenden in den Romanen Trojanows sind oft zunächst auf der Flucht, bevor sie sich die Welt als Reisende aneignen. Doch nicht immer sind Exil und Diaspora der Ausgangspunkt der nomadischen Existenz. So spielt in Ilija Trojanows jüngstem Roman Der Weltensammler der ‘Nomade auf vier Kontinenten’ Sir Richard Francis Burton die Hauptrolle, der im Zeitalter des Kolonialismus und der Entdeckungsreisen seine politischen und wissenschaftlichen Aufträge zu Reisen in die Tiefen des eigenen Ichs verwandelt. Wenn man ‘transnationale’ Lebensweisen und Organisationsformen im Zeitalter der zunehmenden Vernetzung, Kommunikation und Mobilität als typisch ‘modernes’ Phänomen verbucht, wird dabei oft vergessen, dass Diaspora, Exil und Migration uralte Phänomene darstellen und durch zahlreiche Gründe wie politischen Druck, Arbeitsmigration, Forschungsreisen, Imperialismus und Kolonialismus hervorgerufen wurden. In der theoretischen und definitorischen Annäherung an den Diasporabegriff werden jeweils unterschiedliche Akzente bei der Beschreibung von Diasporen gesetzt. Diasporen sind sowohl ein traditionell-historisches als auch ein typisch modernes Phänomen, sie distanzieren sich von nationalstaatlichen Gemeinschaften und werden doch durch
Erde, die Territorien zurückgibt”. Gilles Deleuze und Félix Guattari: Was ist Philosophie? Frankfurt/M.: Suhrkamp 2000. S. 97. 3 Zur Problematisierung der Begriffe ‘Reisender’, ‘Nomade’, ‘Tourist’ und ‘Pilger’ siehe James Clifford: Kulturen auf der Reise. In: Widerspenstige Kulturen. Cultural Studies als Herausforderung. Hg. von Karl H. Hörning und Rainer Winter. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999. S. 476–513. 4 Dana Pfeiferová: Das Bild des Nomaden. Zum Werk Libus˘e Moníkovás. In: Migrationsliteratur. Schreibweisen einer interkulturellen Moderne. Hg. von Klaus Schenk, Almut Todorow und Milan Tvrdík. Tübingen – Basel: Francke 2004. S. 143–148. Hier: S. 143. 5 Ebd.
245 diese definiert, sie werden abwechselnd als konservativ-reaktionär oder als zukunftsweisend, modern und offen wahrgenommen, sie werden einerseits im Spannungsfeld nationalstaatlicher Differenzen zwischen Heimat- und Gastland und andererseits als Produkt der Aufteilung der Welt in Zentrum und Peripherie beschrieben. Ruth Mayer hat darauf aufmerksam gemacht, dass es die Geschichte einer diasporischen Gruppe ebenso wenig gibt wie die Geschichte eines Nationalstaats, dass wir uns ständig und notwendigerweise mit vorläufigen Konstruktionen und Projektionen auseinander setzen müssen und dass wir uns bewusst sein müssen, dass diese – historischen – Konstellationen oft mit unserer eigenen Situation und mit Ängsten, Bedürfnissen und Begehren der Gegenwart sehr viel mehr zu tun haben, als es auf den ersten Blick scheinen mag.6
In den ausgewählten Romanen von Libus˘e Moníková und Ilija Trojanow spielen geographische und kulturelle Grenzziehungen und Grenzüberschreitungen und das Motiv der Reise eine wesentliche Rolle. Sie unterstreichen in der Anordnung ihrer Handlungsräume eine Beobachtung, die Ruth Mayer formulierte: “Es sind immer wieder »Wasserwelten« – Ozeane, Küstengebiete und Hafenstädte –, die sich als besonders attraktiv für diasporische Gemeinschaften erweisen, […]”.7 Aufgrund der Tatsache, dass Küstenregionen, Schiffspassagen, Wanderungen und Reisen in den Romanen eine entscheidende Instanz bei den Identitätsentwürfen der Protagonisten darstellen, lassen sich Parallelen ziehen zu Paul Gilroys Paradigma des Black Atlantic.8 Wie bei Gilroy Identitätskonzepte nicht als abgeschlossen und stabil bezeichnet werden können, präsentieren sich auch ‘nomadische’ Identitäten als offen und wandelbar: “The history of the black Atlantic yields a course of lessons as to the instability and mutability of identities which are always unfinished, always being remade”.9 In der Kontrastierung der englischen Homonyme roots und routes zeigt Gilroy, dass Identität sich nicht nur 6
Ruth Mayer: Diaspora. Eine kritische Begriffsbestimmung. Bielefeld: transcript 2005. S. 25. 7 Ebd. S. 22. 8 Bei Gilroy geht die Frage der Identität nicht so sehr auf die Suche nach den Wurzeln, sondern vielmehr auf das Verstehen eines Prozesses der Bewegungen und Vermittlungen zurück. Gilroy zeigt exemplarisch am Black Atlantic ein neues Modell einer diasporischen schwarzen community, das andere Schwerpunkte als der PanAfrikanismus setzt. Aus den Biographien schwarzer Musiker, Schriftsteller und Künstler leitet er ein neues Konzept schwarzer Geschichte ab, das weniger auf ethnische und nationalstaatliche Kategorien fokussiert, sondern auf die geteilte Erfahrung der Aneignung neuer Lebenswelten, die künstlerische Interaktion und die Herausbildung eines lebendigen transatlantischen Netzwerks für Gedankenaustausch und Interessensgemeinschaften zwischen Afrika, Amerika, der Karibik und Europa. Paul Gilroy: The Black Atlantic. Modernity and Double Consciousness. Cambridge (Mass.): Harvard University Press 1993. 9 Ebd. S. xi.
246 aus den Wurzeln der kulturellen Herkunft speist, sondern vor allem auch durch die Bewegungen und Wege des Individuums geschaffen wird: Marked by its European origins, modern black political culture has always been more interested in the relationship of identity to roots and rootedness than in seeing identity as a process of movement and mediation that is more appropriately approached via the homonym routes.10
In diesem Zusammenhang spielt auch das Konzept der kulturellen Hybridität eine Rolle, wie es von Robert Young und Homi K. Bhabha entwickelt wurde.11 Hybridität bezeichnet das nicht in binären Schemata zu erfassende und bei der Interaktion zwischen kulturellen Zeichensystemen entstehende ‘Dritte’, den Grenzraum zwischen Kulturen. In diesem Third Space eröffnet sich die Möglichkeit, dass plurale und hybride Identitäten jenseits des fixierten Bildes des jeweils ‘Anderen’ entstehen.12 Vor allem in literarischen Texten kann sprachliche bzw. kulturelle Hybridisierung, das Wechselspiel von Stereotypisierungsprozessen und Widerstand sowie die Dekonstruktion kultureller Zuordnungen stattfinden. Die fiktionalen Texte, die sich quer durch alle Gattungen mit Migration, Kulturkontakt und Fremderfahrung beschäftigen, treffen derzeit auf eine sich verschärfende politische Debatte um Globalisierung, Migration, ‘Multikulturalität’, ‘Leitkultur’ und ‘Parallelgesellschaften’. Viele Autoren wie Ilija Trojanow beziehen öffentlich Stellung zu aktuellen politisch-gesellschaftlichen Diskussionen um die 10
Ebd. S. 19. Siehe dazu auch James Clifford: Routes. Travel and Translation in the Late Twentieth Century, Cambridge (Mass.): Harvard University Press 1997. 11 Siehe Robert J.C. Young: Colonial Desire. Hybridity in Theory, Culture and Race. London – New York: Routledge 1995 und Homi K. Bhabha: The Third Space. In: Identity. Community, Culture and Difference. Hg. von Jonathan Rutherford. London: Lawrence and Wishart 1990. S. 207–221. 12 Von Seiten der Kulturwissenschaften werden die politischen, ökonomischen und sozialen Rahmenbedingungen des Kulturkontakts beschrieben und beleuchtet. So untersucht Homi K. Bhabha in The location of culture (2000), Nation and narration (1999) oder in Multicultural States. Rethinking difference and identity (1998) die Ausprägungen des Kulturkontakts in kolonialisierten oder postkolonialen ‘multikulturellen’ Gesellschaften, in denen sich die hierarchischen Verhältnisse zwischen unterschiedlichen kulturellen Gruppen vor allem in binären Denkmustern und Stereotypen manifestieren. Er entwirft die Möglichkeit des ‘Third Space’, in welchem diese hierarchischen Verhältnisse auf der Ebene der Sprache aufgehoben oder sogar umgekehrt werden können. Weitere wesentliche Beiträge zum Thema Kulturkontakt und Hybridität finden sich in dem von Elisabeth Bronfen, Therese Steffen und Benjamin Marius herausgegebenen Sammelband Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte (1997), in Robin Cohens Frontiers of identity (1994), Global Diasporas (1997) oder Conceiving Cosmopolitanism (2003) sowie in Stuart Halls Questions of cultural identity (1996).
247 ‘Leitkultur’ oder normierte ‘Kulturstandards’ und bringen ihre Forderung nach einer neuen Form des Denkens über Gesellschaft zum Ausdruck: Die nomadische Reise durch eine sich ewig wandelnde Definition der eigenen Identität steht im eklatanten Widerspruch zu der Forderung nach Assimilierung, durch die der Nationalstaat seinen vorgeblich einheitlichen Körper vor fremden Einflüssen zu schützen sucht. Vergeblich, denn während die Literatur der selbstbestimmten Wurzeln gedeiht, liegt der Nationalstaat im Sterben, zumindest als ideologisches Muster. In allen gesellschaftlichen Sphären kehrt Pluralität ein, das Internet ist als Organisationsform zukunftsträchtiger als der Nationalstaat. […] Mit dem Nationalstaat löst sich auch das Denken in binären oppositionellen Mustern auf.13
In die Analyse der derzeitigen Debatten muss eine kritische Hinterfragung der national orientierten Konzepte von Identität einfließen, da sich das Verständnis von der eigenen Identität in modernen Gesellschaften im Wandel befindet und nicht mehr nur von artifiziellen Kategorien wie ‘Heimatland’, ‘Muttersprache’ oder ‘Herkunftskultur’ bestimmt wird.14 Eines der großen Mißverständnisse in der an Vorurteilen reichen Debatte um Identität und Integration, um Herkunft und Heimat, ist die Annahme, die Vergangenheit präge das Zugehörigkeitsgefühl eines Menschen. Natürlich ist es wichtig zu wissen, woher man kommt, ebenso entscheidend ist aber die Frage, wohin man gehen will. Jedem Ausgereisten, jedem Flüchtling oder Exilanten zwingt sich diese Frage irgendwann einmal auf, und der Literat lebt in ihr, solange er schöpferisch tätig ist.15
Es stellt sich die “Frage nach dem gewählten oder zugeschriebenen Charakter von Identität” und dem prozessualen Charakter von Identität.16 Innerhalb der Literatur wird häufig auf die veränderte Problematik der Identitätsbildung in sogenannten postmodernen Gesellschaften angespielt: “So steht für die spätmodernen
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Ilija Trojanow: Döner in Walhalla oder Welche Spuren hinterläßt der Gast, der keiner mehr ist. In: Döner in Walhalla. Texte aus der anderen deutschen Literatur. Hg. von Ilija Trojanow. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2000. S. 10. 14 Stuart Hall nennt drei Konzepte der Identität: das Subjekt der Aufklärung, ausgestattet mit Vernunft, Bewusstsein und Handlungsfähigkeit, das soziologische Subjekt, das sich in der Interaktion zwischen Ich und Gesellschaft formiert, und das ‘dezentrierte’ postmoderne Subjekt: “Das Subjekt in der Spätmoderne ist nicht einfach entfremdet, es ist ‘zerstreut’ ”. Stuart Hall: Kulturelle Identität und Globalisierung. In: Widerspenstige Kulturen [wie Anm. 3]. S. 393–441. Hier: S. 407. 15 Ilija Trojanow: Döner in Walhalla [wie Anm. 13]. S. 10. 16 Peter Wagner: Fest-Stellungen. Beobachtungen zur sozialwissenschaftlichen Diskussion über Identität. In: Identitäten. Erinnerung, Geschichte, Identität. Hg. von Aleida Assmann und Heidrun Friese. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998. S. 44–72. Hier S. 59.
248 ‘Patchwork-Identitäten’ nicht eine stabile Selbstzuschreibung von Merkmalen im Mittelpunkt, sondern der ‘Herstellungsprozess’ der Identität”.17
II. Emigration und Exil – Treibeis der Geschichte in Romanen von Libus˘e Moníková Identitätsentwürfe und deren Problematik im Kontext von Krieg, Flucht und Vertreibung, Emigration und Exil im Europa des 20. Jahrhunderts werden im Werk Libus˘e Moníkovás geschildert. Die Autorin widmete sich immer wieder den Möglichkeiten und Grenzen der interkulturellen Kommunikation und der Überwindung der Dichotomien, die Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs spalteten. Libus˘e Moníková, geboren 1945 in Prag, studierte Anglistik und Germanistik. Seit 1971 lebte sie in der Bundesrepublik, wo sie zunächst als Lehrbeauftragte für Literatur und Komparatistik, seit 1981 als freie Schriftstellerin tätig war und 1998 starb. Sie schrieb in deutscher Sprache und erhielt zahlreiche literarische Auszeichnungen, darunter den Alfred-DöblinPreis 1987, den Franz-Kafka-Preis 1989 und den Adelbert von Chamisso-Preis 1991. Zu ihren wichtigsten Werken zählen Eine Schädigung (1981), Pavane für eine verstorbene Infantin (1983), Die Fassade (1987), Treibeis (1992) und Verklärte Nacht (1996). Eine verhalten optimistische Geschichte über Kulturkontakt findet sich in ihrem Roman Verklärte Nacht.18 Leonora Marty kehrt nach zwanzig Jahren Exil zurück nach Prag und begibt sich auf Streifzüge durch die Stadt ihrer Kindheit. Sie ist künstlerische Leiterin eines internationalen Tanzensembles, das zum zehnjährigen Jubiläum seines Bestehens zum ersten Mal in ihrer Geburtsstadt gastiert. Der Aufenthalt ist geprägt von der trostlos-depressiven Stimmung der Protagonistin, ihrem Gefühl der unterdrückten Wut, der Einsamkeit und Entfremdung. Wie die Heldin aus Janác˘eks Oper Die Sache Makropulos, die durch das Lebenselixier des Kaisers Rudolf ohne zu altern und unter wechselnden Identitäten durch die Welt wandelt, streifte Leonora zunächst von Heimweh geplagt durch die Welt des Exils, bis sie schließlich in ihre Geburtsstadt Prag zurückkehrt. Sie wird zerrissen zwischen den beiden Identitätsentwürfen ihrer Prager Jugendjahre und ihrer Künstlerexistenz im 17
Marion Gymnich: Individuelle Identität und Erinnerung aus Sicht von Identitätstheorie und Gedächtnisforschung sowie als Gegenstand literarischer Inszenierung. In: Literatur – Erinnerung – Identität. Theoriekonzeptionen und Fallstudien. Hg. von Astrid Erll, Marion Gymnich und Ansgar Nünning (Studien zur Englischen Literatur- und Kulturwissenschaft. Band 11). Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 2003. S. 29–48. Hier: S. 33. 18 Libus˘e Moníková: Verklärte Nacht. München – Wien: Carl Hanser 1996. Im Folgenden: (VN)
249 Exil, ihre Identität ist fragmentiert. Sie ist eine aus der Fremde Heimgekehrte und zugleich eine heimgekehrte Fremde. Die Besichtigung der Sehenswürdigkeiten der Stadt wird zu einer Reise durch die Geschichte des vorkommunistischen und kommunistischen Prag und zur Reise in die eigene Kindheit. Doch von der Gegenwart scheint die Protagonistin wie durch eine unsichtbare Wand abgeschnitten zu sein. Im sechsten Kapitel begegnet sie dem jungen Thomas Asperger, der sich als Kenner der Theater- und Musikgeschichte erweist, sehr gut Tschechisch spricht und es außerdem versteht, die Dinge etwas distanzierter und humorvoller zu betrachten, so dass die Protagonistin bemerkt: “Ich muß lachen. Für einen Deutschen ist er ziemlich witzig” (VN 93). Dennoch wehrt sich Leonora gegen den näheren Kontakt mit einem Menschen, bei dem sie aufgrund kultureller Vorurteile keine Gemeinsamkeiten vermutet oder sucht: Ich gehe. Ich bin nicht nach Prag gekommen, um mich hier mit Ausländern zu unterhalten. Ich bin auf meine “Landsleute” neugierig, die wiederum von mir nichts wissen wollen. Er geht weiter neben mir, als wäre alles in Ordnung. (VN 92)
Nach einem unfreiwilligen Bad in der Moldau und dem Kälteschock im eisigen Wasser verfällt Leonora in Fieberträume. Thomas pflegt Leonora, macht sich rasch mit der Gegend und den Hausbewohnern vertraut, zu denen Leonora bisher keinen Kontakt fand. Die Barrieren, welche zwischen Leonora und ihrer Heimatstadt stehen, spielen für Thomas keine Rolle, da er mit seiner eigenen Herkunft eher unbefangen umgeht. Seine weit verzweigte, sich über zahlreiche europäische Völker, Religionen und politische Parteien verteilende Verwandtschaft dient ihm nicht als alleiniges Mittel der Identifikation: “Ich will Sie aber mit unseren Interna nicht langweilen. Unter meinen Vorfahren sind Hugenotten, Niederländer, Tschechen, Deutsche” (VN 138). Da sie die durch Thomas erzeugte Nähe und Intimität nicht erträgt, will Leonora ihn nach ihrer Genesung zunächst wegschicken, im letzten Moment vor dem Abschied geht sie jedoch das Wagnis einer Liebesbeziehung ein und durchbricht damit ihre bisherige Isolation und Erstarrung. Während am Ende dieses Romans die Möglichkeit oder Vision einer gelungenen Annäherung zwischen Menschen aus verschiedenen Kulturen steht, scheitert die Liebesgeschichte zwischen Angehörigen des scheinbar gleichen Kulturkreises in Libus˘e Moníkovás Roman Treibeis aus dem Jahre 1992.19 Den Protagonisten Jan Prantl, Jahrgang 1922, hat die europäische Geschichte von Böhmen nach Grönland verschlagen. In Angmagssalik in Ostgrönland unterrichtet er Eskimojugendliche, denen er unter anderem die Grundlagen des elisabethanischen Theaters beizubringen versucht. Prantl folgt 1970 einer Einladung zu einem internationalen Pädagogen-Kongress nach Österreich, wo 19
Libus˘e Moníková: Treibeis. München – Wien: Carl Hanser 1992. Im Folgenden: (T).
250 mehrere Weltanschauungen und Menschenbilder aufeinanderprallen. In den jeweiligen didaktischen Konzepten spiegeln sich die unterschiedlichen Auffassungen von der Gesellschaft und dem Menschen wider; Prantl kann sich in keiner wiederfinden und fühlt sich isoliert und fremd. Statt sich auf diese weltanschaulichen Diskussionen einzulassen, bleibt Prantl den Kongressveranstaltungen fern, streift durch die Berglandschaft und begegnet auf einer seiner Wanderungen Karla, Jahrgang 1945, die ebenfalls ihre böhmische Heimat verlassen musste. Prantl schätzt die Situation falsch ein und erkennt nicht, dass es sich um Dreharbeiten handelt und rettet die Stuntfrau Karla vor einem sie scheinbar attackierenden Greif. Gemeinsam treten sie die Flucht an, doch trotz der spontanen Zuneigung und den offensichtlichen Gemeinsamkeiten erhält Prantl in Karlas Augen die Züge eines Alien: Sie denkt an ein Buch, wo der Zurückgekehrte von einem anderen Planeten die Simulationsspiele der ruhiggestellten Gesellschaft nicht versteht und die Schauspielerin in der fiktiven Schlucht ernsthaft retten möchte, ein Vergessener, Verschollener aus einer anderen Zeit. (T 79)
Dieser erste Eindruck eines Verschollenen aus einer anderen Zeit verstärkt sich im Laufe der Handlung und zeigt Prantl am Ende zurückgeworfen in seine frühere Isolation und Einsamkeit. Vordergründig hat das Paar viele kulturell bedingte Gemeinsamkeiten, ihre gemeinsame Sprache ist Tschechisch, für die beiden Protagonisten gibt es einen gemeinsamen räumlichen Bezugspunkt, nämlich die Heimatstadt Prag, und als zeitlichen Bezugspunkt das Schicksalsjahr 1968. Aufgrund ihres Altersunterschieds erinnern sie sich jedoch an völlig andere Geschichten ihrer tschechischen Heimat und setzen andere Akzente in der Bewertung und Einordnung von Politik, Musik, Film und Theater. Beide verbindet ihr Schicksal als Flüchtlinge und Exilanten. Prantl flieht als Jude aus dem Protektorat über die Slowakei, Ungarn, Jugoslawien und Syrien zunächst nach Frankreich. Dort wird er in einem Lager im Süden interniert. Im Anschluss an die Zeit der Flucht und Gefangenschaft macht er eine Ausbildung zum Fallschirmspringer in England und Schottland und springt im Mai 1944 als Widerstandskämpfer über Böhmen ab. Nach dem Putsch 1948 wird Prantl erneut aus seiner Heimat vertrieben. Zunächst kehrt er zurück nach Schottland, nach einer persönlichen Tragödie aber zieht er weiter nach Dänemark und schließlich übers Meer an die Peripherie der Zivilisation, nach Grönland. Zuerst ist er Opfer der nationalsozialistischen Diktatur, später des kommunistischen Regimes, die durch Krieg und Vertreibung in Europa entstandenen Risse ziehen sich durch Prantls Leben und machen ihn zum ‘Treibeis’ der europäischen Geschichte. Auch Karla hat eine Geschichte der Emigration und des Exils hinter sich. Sie verlässt Prag im Zuge einer Auswanderungswelle nach der gewaltsamen Niederschlagung des Prager Frühlings und der Besetzung Prags durch Truppen
251 des Warschauer Pakts: “Nach der Okkupation gab es ein Jahr Narrenfreiheit. Ich bin im September gegangen, am achtundzwanzigsten, im Oktober wurde die Grenze geschlossen. Ich konnte nicht mehr zurück” (T 141). Karla schildert die Zerstreuung ihrer tschechischen Kommilitonen in alle Windrichtungen und über alle Meere, sie emigrieren nach Kanada, Island oder, wie im Falle von Karla selbst, nach Japan. In zunehmendem Maße verfällt sie im Exil der Verbitterung, vor allem ist ihr die einseitige Sicht des Westens auf die tschechischen Exilanten und deren Funktionalisierung zur Stärkung der kapitalistischen westlichen Ideologie zuwider. Bei ihren Bemühungen, Prantl besser kennenzulernen, sucht Karla nach objektiven, Halt versprechenden Kriterien, die ihr die andere Person zugänglich machen könnten. Doch Prantl hat aufgrund seiner bewegten Biographie keine solchen eindeutigen ‘kulturellen Marker’. Obwohl er in Prag geboren wurde, hat er einen dänischen Pass, trotz seiner mitteleuropäischen Herkunft hat er Probleme mit dem Wetter in Österreich, trotz seiner Liebe zum Film verbindet er mit dieser Kunstform auch ein schweres Trauma. Auf ihrem verschlungenen Weg durch die Alpentäler in Richtung Italien beziehen sich beide immer obsessiver auf ihre scheinbar gemeinsamen Ursprünge, eine Verbindung, die im Laufe ihrer Reise fragiler wird. Unstimmigkeiten, Eifersucht, inkompatible Erinnerungen prägen zunehmend die Gespräche und den Umgang miteinander: “Sie gelangen an den Punkt, wo jeder ein anderes Land vor sich hat, das sie Tschechoslowakei nennen, mit schiefem Mund auch ‘Heimat’ ” (T 215). Bei der Diskussion über ihre gemeinsame Heimatstadt konkurrieren die beiden Protagonisten geradezu um das Privileg, das ‘authentische’ besetzte Prag zu kennen und zu erinnern. Während für Prantl die Zeit unter der deutschen Besatzungsmacht das unfreie Prag darstellt, ist es für Karla das russisch besetzte Prag nach dem niedergeschlagenen Prager Frühling. Aufgrund ihrer Erfahrungen wird Karlas Denken und Fühlen ‘verzerrt’ durch die von außen diktierten und schließlich verinnerlichten binären Oppositionen und Stereotypisierungen: “ ‘Widerlich alles! Auf der einen Seite der Westen, auf der anderen die Russen. Übler gerade das, was man ansieht!’ Karlas verzerrtes Gesicht. ‘Ich las früher Dostojewski. Seit ‘68 kann ich Russisch nicht mehr hören [—]’ ” (T 228). Im letzten Kapitel erfolgt ein Perspektivenwechsel, aus Karlas Sicht wird die Beziehung zu Prantl als erbitterter Zweikampf geschildert, sie selbst wird erschaffen und programmiert als mechanisches Wesen, als Android. Prantl hatte Karla schon vorher im Spaß als “Robot” bezeichnet (T 207). Sie erscheint fremdbestimmt und determiniert in ihrem Denken und Handeln, weil sie ihrer eigenen Geschichte unversöhnlich gegenübersteht, weil sie den Verlust ihrer Heimat mit nichts kompensieren kann: “[…] der letzte Höhepunkt auf dem Platz der Oktoberrevolution, in Prag 6, Dejvice, über den ich täglich ging, später die Metro-Station Leninova. Es kann heißen wie es will, dort bin ich heimisch” (T 233).
252 Ausgelöst durch die Bilder eines Grönland-Memory-Spiels mit Karten von Eisbergen und Walen begibt sich auch Prantl im Roman auf eine Traumreise, die sinnbildlich für seine ganze Existenz als Reisender, Emigrant und Exilant steht und in der die Eisberge und Eisschollen der Arktis auf ihrer Reise entlang der Meeresströmungen rund um den Globus als Metapher für die diasporische, sich auflösende und neu formierende nomadische Identität stehen. In Treibeis wird die Geschichte einer Entfremdung beschrieben und das Scheitern einer Annäherung geschildert. Der Roman beginnt mit Jan Prantl, überall fremd wie ein Verschollener oder Zeitreisender, von den politischen Strömungen wie Treibeis kreuz und quer durch Europa und schließlich bis an den kalten Rand der Zivilisation getrieben und er endet mit Karla, dem fremdprogrammierten Androiden. Trotz ihrer Zugehörigkeit zum scheinbar selben Kulturkreis finden sie nicht zueinander.
III. Transformationen – die Entdeckungsreisen der Weltensammler in Romanen Ilija Trojanows In seinen Interviews und Romanen reflektiert der deutschsprachige Schriftsteller Ilija Trojanow immer wieder über Konzepte der Identität und der kulturellen Zugehörigkeit. Dabei wird wiederholt die Frage nach der Bedeutung der kulturellen Wurzeln und des individuellen Lebensweges sowie persönlicher Zielsetzungen für die Identität des Einzelnen aufgeworfen. Identität kann im Werk Trojanows nicht einfach aus bestimmten Faktoren wie Geburtsort oder Muttersprache hergeleitet werden, sondern bleibt ein sehr flüchtiges und wandelbares Konstrukt. Der kulturellen Determiniertheit der Identität stellt er die erfinderische und kreative Macht des selbstbestimmten Subjekts gegenüber. Der 1965 in Sofia, Bulgarien, geborene Schriftsteller Ilija Trojanow war während seines bisherigen Lebens nicht nur in vielen Kulturen zu Hause, sondern gibt auch in seinen Texten auf vielfältige Weise, in Fiktion und Reportage, Einblicke in die Welt des kulturellen Grenzgänger- und Weltbürgertums. Seine Familie floh Anfang der 1970er Jahre über Jugoslawien nach Italien und erhielt 1971 politisches Asyl in Deutschland. Ilija Trojanow lebte 10 Jahre lang in Kenia, in Deutschland absolvierte er an der Universität München ein Studium der Rechtswissenschaft und Ethnologie. 1989 gründete er den Kyrill & Method Verlag und 1992 den Marino Verlag in München, beide auf afrikanische Literatur spezialisiert. Trojanow lebte seit 1998 als Autor und Publizist in Mumbai, Indien und seit 2003 in Kapstadt, Südafrika. Das weite Spektrum seiner Werke führt den Leser durch eine beeindruckende Vielfalt von Gattungen und Themen. Von Trojanows Zeit in Kenia zeugen Veröffentlichungen wie In Afrika (1993), Naturwunder Ostafrika (1994) oder Hüter der Sonne (1996). Nach seinem Roman Die Welt ist groß und Rettung lauert
253 überall (1996) erschien die politische Science Fiction Autopol (1997), eine kritische Reportage über sein Heimatland Bulgarien nach der Wende, Hundezeiten (1999), sowie literarische Reiseberichte wie An den inneren Ufern Indiens. Eine Reise entlang des Ganges (2003) oder Zu den heiligen Quellen des Islam. Als Pilger nach Mekka und Medina (2004). Zudem gab er eine kleine ProsaAnthologie zur deutschsprachigen Literatur von Autoren nicht-deutscher Herkunft unter dem Titel Döner in Walhalla. Texte aus der anderen deutschen Literatur (2000) heraus, in deren Vorwort er die Selbstbestimmtheit des künstlerisch tätigen, schreibenden Menschen unterstreicht und jegliche Vereinnahmungen durch staatliche oder gesellschaftliche Gruppierungen ablehnt: Sie kennen keine Nationalfeiertage, verbeugen sich vor keinen Flaggen, und wenn sie überhaupt ein Banner hochhalten, dann propagiert es die »Republik der Phantasie« – die einzige Heimat, die der Vergangenheit gerecht wird, der Zukunft alle Möglichkeiten offenläßt und die Freiheit des einzelnen respektiert.20
Trojanow charakterisiert hier eine “Literatur der sprachlichen und kulturellen Symbiosen in deutscher Sprache” die eine eigene Ästhetik und perspektivischen Gewinn aus ihrer “Position der Fremdheit” schöpfen könne.21 In seinen jüngsten Veröffentlichungen Kampfabsage. Kulturen bekämpfen sich nicht – sie fließen zusammen (2007) und Der entfesselte Globus. Reportagen (2008) beschreibt Trojanow die globale Gemeinschaft mit der Metapher von Indras Netz, das in seiner Betonung der gegenseitigen Verknüpfung das Gegenteil aller Ideologien der Differenz zum Ausdruck bringt.22 Das Vorhandensein von Treffpunkten und Kreuzungen, wo die Begegnung mit dem ‘Anderen’ stattfinden kann, ermöglicht ein Zusammenfließen von Kulturen, das nicht immer friedlich verläuft, aber als jahrtausendealter Prozess die Grundlage jedes zivilisatorischen Fortschritts bildet. In seinen literarischen Texten gestaltet Trojanow diese Sphären des Zusammenfließens und Vermischens aus der Sicht der sie durchwandernden und durchlebenden Individuen. Dem ‘Ortswechsel’ und der “nomadischen Reise durch eine sich ewig wandelnde Definition der eigenen Identität” widmet sich Trojanow in seinem Roman Die Welt ist groß und Rettung lauert überall, der unter einem Motto von Gustave Flaubert steht: “Die künstlerische Deutung der Welt hat die Form einer Reise”.23 Der Roman handelt von der sich über mindestens drei Generationen 20
Ilija Trojanow: Döner in Walhalla [wie Anm. 13]. S. 11. Ebd. S. 15. 22 Ilija Trojanow und Ranjit Hoskoté: Kampfabsage. Kulturen bekämpfen sich nicht – sie fließen zusammen. München: Karl Blessing 2007; Ilija Trojanow: Der entfesselte Globus. Reportagen. München – Wien: Carl Hanser 2008. 23 Ilija Trojanow: Die Welt ist groß und Rettung lauert überall. München – Wien: Carl Hanser 1996. Im Folgenden: (Welt). 21
254 erstreckenden Geschichte der Selbstfindung und Selbstbehauptung der Mitglieder einer bulgarischen Familie. Ein Ehepaar flieht mit dem kleinen Sohn Alex aus Unzufriedenheit mit ihrem bisherigen Leben unter dem kommunistischen Regime über Italien nach Deutschland. Dabei müssen sie zahlreiche Schwierigkeiten meistern. Zunächst sitzen sie mehrere Monate im Flüchtlingslager Pelferino in Italien fest, in dem Verteilungskämpfe und Gewalt an der Tagesordnung sind, nicht immer können sie sich auf die Hilfsbereitschaft und Großzügigkeit ihrer Mitmenschen verlassen und sie müssen mehrmals, ihrer gesamten Habe beraubt, ganz von vorne anfangen. Nachdem seine Eltern bei einem Autounfall ums Leben kommen, versinkt Alex in Depressionen. Er leidet unter Antriebslosigkeit und begibt sich schließlich freiwillig ins Krankenhaus, wo er das Bett nicht mehr verlässt. Dieser emotionale Rückzug wird durch seinen Taufonkel Ban Dai gestört, der im Auftrag der in Bulgarien zurückgebliebenen Großmutter nach Deutschland reist, um den verlorenen Enkel aufzuspüren. Die Ideen des Taufonkels führen schließlich zu der Therapie “unserer kleinen netten Reise durch die große weite Welt” (Welt 223), die im Kapitel Von der großen Reise um die kleine Welt geschildert wird: Der agile und eigensinnige 99-jährige Ban Dai bringt sein Taufkind dazu, ihn auf einem Tandem kreuz und quer durch ganz Europa zu radeln. Höhepunkt der Reise ist eine Schiffspassage nach New York, auf der Alex die Welt der Liebe und der Politik kennenlernt. Am Ende des Romans kehrt Alex in das Land seiner Vorfahren, nach Bulgarien zurück, um endlich die lange vermisste Großmutter zu besuchen. Das zentrale Thema des Buches ist das politisch-geographische sowie das geistig-soziale Exil. Mit Ban Dais Stimme wird ein Exkurs über die Befindlichkeiten des Exils durchgeführt, werden die Gefahren der geistigen Stagnation und sentimentalen Rückwärtsgewandtheit in der Kälte der fremden Kultur ausgemalt: EXIL Selbst der Sohn des Königs ist ein Niemand im fremden Land, heißt es. Ein Exilant ist noch weniger. Stirbt er gänzlich beim Verlassen seiner Heimat oder nur zu einem Teil, wie ein verkohlter Baum, aus dem ein junger Ast sprießt? Er verbringt seine Zeit, falsch, seine Leerzeit, in einem Zug auf dem Abstellgleis, stillgelegt in Erinnerung und Erwartung: Die Rückkehr wird großartig sein, das treibt ihn voran, er lebt für die Rückkehr, für diesen einen Tag, der alles aufwiegen wird, an dem alles sich verwirklichen wird. (Welt 157)
Diese trügerische Hoffnung auf Rückkehr und die Abschottung von der als fremd empfundenen neuen Lebenswelt gipfeln in Realitätsflucht und Sprachlosigkeit: “Die Sprache der Gastgeber erlernt er nur, soweit er sie braucht, […]” (Welt 157). In einem Teufelskreis von Rückzug und Isolation dreht sich der Exilant schließlich nur noch um die Ausweglosigkeit seiner Situation und erstarrt, wie es Alex im Roman widerfährt. Ban Dai konfrontiert
255 Alex mit seinen Möglichkeiten zur Eigeninitiative und will ihm Optimismus einflößen: Wie kannst Du resignieren, wenn noch nichts entschieden ist. Wieso bist Du enttäuscht? Na gut, Du hast ein schlechtes Jahrhundert hinter Dir, und zu jedem Ende hin wird man müde, die Saison schließt schlecht ab, wenn man absteigt. Und zugegeben, auch ein Winterschlaf muß mal sein, aber siehst du nicht, daß sich wieder Neues ankündigt. Ja, am Ende der Saison ist man müde, das Ende nährt eine eigene Logik, und man vergißt sogar das Selbstverständliche, daß es nichts Bleibenderes als die Veränderung gibt. (Welt 222)
Auf das Thema der Determiniertheit des eigenen Schicksals beziehen sich die Exkurse in das Reich des Würfelspiels, des Glücksspiels, das Ban Dai virtuos beherrscht. Die Kapitel “Erste Würfe” und “Letzte Würfe” umrahmen die Handlung um das Schicksal der jungen Emigrantenfamilie. In ihnen sowie in den Belehrungen von Ban Dai über das Würfelspiel kommt die Auflehnung gegen die Ergebenheit in das Schicksal und die Determiniertheit des persönlichen Lebensweges zum Ausdruck, sie beinhalten eine radikale Ablehnung jeglicher Fremdbestimmtheit der eigenen Identität. Im Roman lernt Alex diese Lehre umzusetzen und sein eigenes Schicksal in die Hand zu nehmen. Er wartet nicht mehr auf Rettung von fremder Seite, sondern hofft, sich die Welt als autonomes Subjekt empathisch einverleiben zu können. Zu Beginn definiert er sich in erster Linie über seine fehlenden Wurzeln und sein Dasein als Exilant in einer ihm fremden Umgebung. Dennoch kann diese Isolation im Exil überwunden werden durch den Wunsch nach Nähe und durch die Empathie des exilierten Subjekts mit den Menschen der fremden Kulturkreise und Sprachen. Man kann sich nicht mehr auf die Geborgenheit in einer menschlichen Gemeinschaft verlassen, sondern muss sich diese, auf sich allein gestellt, erkämpfen. Trotz aller Skepsis scheint es am Ende des Romans möglich, diese Herausforderung anzunehmen und als Einzelner das zerschnittene Netz der Beziehungen neu zu knüpfen; aus Alex wird allmählich ein ungebundener Weltbürger. Er verinnerlicht eine aktive, kämpferische und lebensbejahende Haltung, die es ihm ermöglichen wird, das Ziel seiner Lebensreise immer wieder neu zu wählen sowie seine Identität in Unabhängigkeit von seiner Herkunft und Vergangenheit und im Hinblick auf eine selbstgewählte Zukunft zu gestalten. Von Reisen und Kulturkontakt im Zeitalter des Kolonialismus handelt Ilija Trojanows jüngster Roman Der Weltensammler, der 2006 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde und in dem die Eroberung und Erforschung neuer geographischer Räume meisterhaft mit der Suche nach einer Person und ihren inneren Welten verknüpft ist. Der Roman ist inspiriert vom Leben und Werk des britischen Forschungsreisenden und Übersetzers Richard Francis Burton (1821–1890), der auf mehreren Kontinenten (Indien,
256 Arabien, Ostafrika, Nordamerika) mit verschiedenen Aufträgen lebte. So dreht sich die Handlung des Romans um ausgewählte Abenteuer der historischen Figur Burton, seine Stationierung als britischer Offizier in Indien, seine unter falschem Namen durchgeführte Pilgerreise nach Mekka und die 1857 mit John Hanning Speke angetretene Ostafrika-Expedition zur Entdeckung der großen Seen und der Nilquellen. Am Anfang des Romantextes steht die Frage nach der Persönlichkeit Burtons, welche aus unterschiedlichen Perspektiven und Motivationen aufgeworfen und aus unterschiedlichen Texten (re)konstruiert wird. Einerseits orientiert sich die Romanhandlung an der Biographie der realen, historischen Gestalt und an den Aufzeichnungen des jungen Burton, die ihrerseits wie jeder autobiographische Text eine intentionale Selbstinszenierung darstellen. Diese Prätexte münden in den fiktionalen Text, der keinerlei Anspruch erhebt, an den biographischen Realitäten gemessen zu werden: “Jeder Mensch ist ein Geheimnis; dies gilt um so mehr für einen Menschen, dem man nie begegnet ist. Dieser Roman ist eine persönliche Annäherung an ein Geheimnis, ohne es lüften zu wollen” (W 7). Vielmehr geht es darum, die Verwandlung der Identität eines Menschen durch Kontakt und Auseinandersetzung mit fremden Kulturen nachzuzeichnen. Burton wird charakterisiert als “Vorläufer der ‘teilnehmenden Beobachtung’ ” (W 17), der mit dem Fremden allmählich verschmilzt, wofür er auch einen hohen Preis zu zahlen hatte: “Die Verachtung, die seine Aufbrüche und Metamorphosen unter ‘seinesgleichen’ provozierten, gehört zu der Geschichte dieses Mannes” (W 17). Der Roman verdankt dabei seine besondere Komplexität der Verflechtung und Kontrastierung unterschiedlicher Erzählstränge und Perspektiven, die den prozessualen Charakter sowohl der inneren als auch der äußeren Identitätsfindung verdeutlichen und die Transformationen des Protagonisten auf seinen Reisen nachvollziehen. Die Erzählungen folgen den Schiffspassagen und Reisen des Protagonisten und der Erzählerfiguren und sind wiederum um Wasserwelten herum angesiedelt. Der Indische Ozean, das Arabische Meer und das Rote Meer erscheinen im Roman als Welten des Übergangs, die Küsten als Zonen des Kontakts und Austauschs zwischen den Wanderern. Das Bild des Protagonisten stellt sich bereits zu Beginn als unscharf und lückenhaft dar, Lüge und Verstellung verhindern die Annäherung an das Wesen und die Überzeugungen Burtons, dessen Identität während des gesamten Textes immer in der Schwebe, im Übergang bleiben wird. Das Kapitel über die Reisestation Britisch-Indien wird einerseits in Gesprächen zwischen seinem Diener Naukaram und einem Lahiya, einem Schreiber, wiedergegeben und andererseits aus der Perspektive eines neutralen personalen Erzählers mit Burton selbst als Reflektorfigur erzählt. Diese Multiperspektivität, das Kontrastieren von Passagen mit personalem Erzähler und Ich-Erzähler, der das Geschehene in der Retrospektive an unterschiedliche Zuhörer mit unterschiedlichen Intentionen weitergibt, zieht sich als Grundmuster
257 durch den ganzen Roman und dient als poetologisches Prinzip, nach dem dieser Roman gestaltet wird: Immer wieder wird der Protagonist samt seiner Lebensgeschichte (re)konstruiert in der – oft mehrfach – gebrochenen Erzählung unterschiedlicher Erzählerfiguren, wobei sich nicht nur ein Bild Burtons ergibt, sondern in erster Linie auch der Erzähler selbst, die nicht nur auf der Suche nach dessen, sondern auch nach ihrer eigenen Identität sind. Kulturkontakt wird zum Auslöser der Wandlungen und Entwicklungen des Protagonisten. Bereits in Indien widmet sich Burton neben seinen militärischen Aufgaben intensiv dem Erlernen von Sprachen, denn “Sprachen waren Waffen” (W 47). Er erlernt Hindustani, Gujarati und andere indische Dialekte und lässt sich von seinem Lehrer, dem Brahmanen Upanitsche Sanskrit beibringen, um so ein tieferes Verständnis für die Menschen der fremden indischen Kultur zu entwickeln. Doch hier in Indien stößt sein ehrgeiziges Projekt auch gleich an seine Grenzen, da er die Schranken zwischen sich und seiner Geliebten Kundalini nicht einreißen kann. Von Upanitsche erhält er zwar das Werk über die Lehre der Liebe von Vatsyayana, Kamasutra, das er später aus dem Sanskrit in seine Muttersprache Englisch übertragen wird, aber die praktische Übersetzung in sein Leben misslingt. Nach der Verbrennung der Leiche Kundalinis, in der Phase der Trauer um sie, ersetzt Burton sein Experiment, sich mittels ihrer Sprachen der einheimischen Bevölkerung annähern zu wollen, durch den obsessiv verfolgten Versuch mit mehreren Affen zu kommunizieren und ihre Sprache in Lautschrift festzuhalten. Naukaram berichtet dem Schreiber weiterhin, dass Burton nun begann, sich zu maskieren und in Verkleidung unter die Einheimischen zu mischen, um dadurch ihr Vertrauen zu gewinnen: Burton war “besessen von der Idee des Verkleidens” (W 91). Da die Sprache allein nicht genügt, um die neue Kultur zu begreifen und sich frei in ihr zu bewegen, beschließt Burton systematisch, sich die optischen Marker wie Kleidung, Frisur und Körperhaltung anzuverwandeln, um als Mitglied der Besatzungsmacht dennoch die Grenze zur indischen Bevölkerung zu überwinden. Die Situation zwischen den Kolonisierenden und Kolonisierten ist geprägt von Machtungleichheit sowie Pauschalisierungen und Zuschreibungen, die ein differenzierendes Kulturverständnis auf beiden Seiten verhindern. So beschreitet Burton bei der Annäherung an Indien, seine Menschen und Kulturen zwei Wege, einerseits den der Verstellung, Maskerade und Mimikry, andererseits den des Lernens und der spirituellen Erneuerung. Burton multipliziert im Laufe einer Spionagetätigkeit seine Identität und schafft sich ein Alter Ego, in dem er sich in diesem unvertrauten Land frei von der Festlegung auf seine britische Identität bewegen, neue Freundschaften schließen und bislang verborgene Facetten seiner Persönlichkeit erkunden kann. Doch die scheinbare Beliebigkeit, mit der Burton kulturelle Attribute annimmt und ablegt und die Autonomie, die er sich durch seine Strategie der kulturellen
258 Transformation verleihen möchte, werden ihm schon bald zum Verhängnis. Er gerät zunehmend in Loyalitätskonflikte und entfremdet sich von seinem Diener und Begleiter Naukaram. Das Kapitel Arabien basiert auf den Erlebnissen Burtons während einer in Kairo beginnenden Ägyptenreise, einer Schifffahrt auf dem Roten Meer und der anschließenden Pilgerreise nach Medina und Mekka, die er getarnt als Arzt und Derwisch Mirza Abdullah antritt. Dieses Kapitel beinhaltet Briefe, Unterredungen und Verhöre arabischer Herrscher, die sich auf die Suche nach Burtons Absichten bei dieser Reise begeben, weil ihr Verdacht erregt wurde: Der arabische Botschafter in London warnt in einem Schreiben den Großwesir in Istanbul vor den Vergehen des Richard Francis Burton, Leutnant der britischen Armee, der in Verkleidung die Hadj, die Pilgerreise nach Medina und Mekka unternommen hat. Seinen in England publizierten Reisebericht deutet er nicht nur als religiösen Frevel, sondern auch als Spionage im Dienste des britischen Imperiums. Er sieht in dieser Reise einen Angriff auf Ägyptens Autonomie und die gesamte arabische Kultur. Um das Ausmaß der Bedrohung einschätzen zu können, werden in der Folge Burtons Kontaktpersonen während der Reise anhand seines publizierten Reiseberichts ausfindig gemacht und verhört. Trotz der intensiven Befragungen bleiben jedoch Burtons Motivationen unklar, er erscheint je nach Blickwinkel und Einstellung des Betrachters als Doppelagent, britischer Spion, Betrüger, Shia, Sufi, Gläubiger oder Ungläubiger. Auch dieses Kapitel wird offen enden, da sich Burtons Identität jeglicher Kategorisierung durch die Machthaber oder seine ehemaligen Reisebegleiter entzieht. Die kulturellen Stereotypisierungen scheitern an dieser konkreten Person und offenbaren ihren relativen bzw. ‘imaginierten’ Charakter, indem sie mehr über die Erzähler und ihren politischen, sozialen oder religiösen Hintergrund verraten, als über das Objekt der Untersuchung selbst. Da Burton sich jeglicher Zuordnung und Festlegung so hartnäckig entzieht, kommt man zu dem Schluss, dass sein Charakter über die gängigen Schematisierungen nicht greifbar wird und er dem Modell eines ‘transkulturellen’ Beobachters gleichkommt: Ich denke, dieser Mann steht außerhalb des Glaubens. Nicht nur unseres Glaubens. Das erlaubt ihm, hinzugehen, wohin sein Wille ihn treibt. Ohne Gewissensbisse. Er kann sich an dem Glauben anderer bedienen, er kann annehmen und verwerfen, auflesen und weglegen, wie es ihm beliebt, als wäre er auf einem Marktplatz. Als wären die Mauern, die uns umgeben, weggefallen, als stünden wir draußen auf einer endlosen Ebene und hätten Sicht in alle Richtungen. Und weil er an alles und an nichts glaubt, kann er sich, zumindest dem Äußeren nach, nicht aber in der Festigkeit, in jeden Edelstein verwandeln. (W 263)
So sind die einzigen Komponenten, auf die sich Burton reduzieren lässt, Neugier und Wandelbarkeit, er scheint den Kern seiner Identität verloren zu
259 haben. Dennoch wurde diese Leerstelle gefüllt mit neuem Leben, mit einem selbstgewählten flexiblen Identitätskonzept, das sich in die jeweils neue Kultur einfügen lässt. Am Ende des Kapitels steht Burtons Rückkehr von der Hadj nach Kairo, wo das Erlebte durch Erinnern und neu Zusammenfügen der Reisenotizen selektiert und neu konstruiert wird: In Kairo wird er seine Notizen dechiffrieren, die zerschnittenen Zettel zusammenkleben, die Beobachtungen in gebotener Länge aufzeichnen. Wenn es etwas gibt, auf das er sich freut, so ist es dieses schriftliche Vergegenwärtigen. Er wird nicht alles aufschreiben, nicht alles dem Manuskript anvertrauen. (W 317)
Diese Leerstellen im Text bilden das Bindeglied zum nächsten Abschnitt des Romans, der die Ostafrika-Expedition Burtons beschreibt. Nach der Stimmenvielfalt im vorhergehenden Kapitel steht hier eine vielschichtige und geheimnisvolle Erzählerfigur im Mittelpunkt, bei der die eigene Geschichte stärker ins Zentrum gerückt und Burton eher zur Randfigur wird. Auch hier kreist die Geschichte um Dekonstruktion und Rekonstruktion von Identität und die Rolle der Erinnerung, die in einem Text neu organisiert wird. Der Erzähler Sidi Mubarak Bombay wird in einem wesentlichen Punkt mit Burton parallelisiert: Er bestimmt seine Identität selbst und mehrmals neu, er definiert sich nicht in erster Linie nach seiner Herkunft, seinen Wurzeln oder den Zuschreibungen durch seine Umgebung, sondern vielmehr im Spannungsverhältnis von Innen- und Außenperspektive und durch seine subjektive Sicht der Welt. Doch er unterscheidet sich dabei auch von Burton: Bei ihm ist die selbstgewählte Existenz keine Strategie und keine Maske, die man bei Bedarf ablegt, sondern eine ehrliche und verinnerlichte Lebensweise. Die durch die Geschichte und jeweilige Herrschaftskultur fragmentierte Identität wird durch das Erzählen zu einem neuen Ganzen zusammengefügt. Sidi Mubarak Bombay sieht sich selbst als Mann mit drei Leben. Er hat sich seinen Namen selbst gegeben und drückt in ihm die Fragmentierung und Zersplitterung seiner persönlichen Geschichte ebenso aus, wie das Wechselspiel von Selbstbild und Außenansicht seiner Person. Sein erstes Leben als Kind endete abrupt durch die Verschleppung durch Sklavenhändler und den brutalen, endgültigen Verlust seiner Familie und Herkunftskultur: Ich habe nie wieder jemanden getroffen, der mein Dorf kannte, der seine Gebete an dieselben Ahnen richtete wie ich, und es dauerte viele Regenzeiten, bevor ich wieder jemanden traf, der meine Sprache kannte. Von diesem Tag an war ich allein. (W 327)
Sein zweites Leben beginnt im Haushalt des Banyan aus Indien, der ihn mit nach Bombay nimmt und ihm durch testamentarische Verfügung nach seinem Tod die Freiheit schenkt. Dieser Lebensabschnitt, in dem der Erzähler langsam das Trauma der Versklavung überwindet und an dessen Ende er wieder ein freier Mensch wird, fließt in seine Namensgebung mit ein, die für ihn einen
260 wichtigen Schritt der persönlichen Emanzipation von Fremdbestimmung und einen Akt der Wiedererlangung der Kontrolle über sein Leben darstellt. Als Sidi wurden in Indien die Menschen dunkler Hautfarbe aus Afrika bezeichnet, Bombay steht für den Beginn einer autonomen Existenz: [. . .] manche von uns nannten sich nach den Orten, aus denen sie stammten, an die sie sich erinnerten, sie nannten sich Kunduchi, sie nannten sich Malindi, sie nannten sich Bagamoyo. Ich aber beschloß, mir den Namen der Stadt anzueignen, in der mein drittes Leben begann: Bombay. (W 333)
Der Name drückt gleichzeitig auch die Ambivalenz dieser neuen IchKonstruktion aus, die sich über die Emanzipation von Zuschreibungen konstituiert und die so in der Selbstbestimmung die Fremdbestimmung impliziert. Nachdem er zum zweiten Mal den Indischen Ozean überquert hat, führt Sidi Mubarak Bombay die im Auftrag der Royal Geographical Society durchgeführte Ostafrika-Expedition von Richard Francis Burton und John Hanning Speke an. Die beiden Forschungsreisenden erscheinen von Anfang an als charakterliche Antagonisten, was im Laufe der Expedition in offener Rivalität eskaliert. Speke kann sich nur auf Englisch und damit sehr schwer verständigen, während Burton Arabisch und Hindustani mühelos beherrscht und Kisuaheli lernt; Speke verachtet und fürchtet die indigene Bevölkerung und isoliert sich zusehends selbst, während Burton sich mit Wertungen und Vorverurteilungen zurückhält. Burtons Offenheit erscheint in den Augen Sidi Mubarak Bombays jedoch abschreckender als Spekes offene Feindseligkeit, da diese Offenheit auch dazu führt, dass er keinerlei Skrupel im freundschaftlichen Umgang mit menschenverachtenden Sklavenhändlern hat. Nach einem gefahrvollen und kräftezehrenden Weg durch Steppe, Regenwald und Wüste trifft Sidi Mubarak Bombay in Kazeh auf einen Mann, der die verloren geglaubte Sprache seiner Kindheit spricht und der ihn mit dem Mganga, dem einheimischen Heiler bekannt macht, von dem er viel traditionelles Wissen lernt. Sidi Mubarak Bombay sammelt so auf dieser Reise Elemente seiner untergegangenen Kindheit und Herkunftskultur und integriert sie in sein Identitätskonzept. In diesem Roman sind Identität, Erinnerung und kulturelle Zugehörigkeit keine fixen Bezugsgrößen, sondern haben prozessualen Charakter und unterliegen der dauernden Veränderung. Das Individuum ist nicht aufgehoben in einem Kollektiv, sondern muss sich seine Identität und Geschichte immer wieder neu im Akt des Erzählens oder im Schreiben und Weiterschreiben eines Textes erfinden. Und im Zentrum steht die Wanderung auf dem schmalen Grat zwischen Verkleidung und Verwandlung sowie die Frage: So sehr Burton ein Zögling seiner Zeit war, seine Eigenwilligkeit, Sturheit und Flexibilität verhinderten, daß er zu einem Konformisten wurde. Lust auf Einsicht war bei ihm gepaart mit Gier auf Teilhabe. Kaum hatte er erkannt, daß dem britischen Offizier in Uniform nichts als Abscheu entgegenschlug, wählte er den Weg der
261 Camouflage, verkleidete sich nicht nur, sondern erforschte so leidenschaftlich intensiv seine Umgebung, daß sich seine Kenntnisse im selben Maß vertieften wie seine Empathie. Wer war er, wird oft gerätselt, als was gab er sich aus – und die Antwort kann nur fragen: Wann wird eine Maske zu einem neuen Gesicht?24
IV. Zusammenfassung und Ausblick Vergleicht man die besprochenen Romane, so lassen sich viele Gemeinsamkeiten, aber auch deutliche Unterschiede feststellen. Moníková widmet sich insbesondere der Dekonstruktion der Dichotomie von Ost und West und zeigt, wie Individuen diese konstruierten ideologischen Grenzziehungen erleben und entweder als Teil ihrer Identität vereinnahmen oder aber sich davon emanzipieren und diese Grenzen überwinden und auflösen. Trojanow zeichnet das Bild des Weltreisenden und Grenzgängers zwischen Orient und Okzident und beleuchtet die Strategien, mit denen dieser sich stets wandelt und seine Identität neu erfindet. Das gemeinsame Anliegen der Texte ist die Annäherung an Menschen, die sich in transkulturellen Begegnungsräumen zwischen kulturellen Grenzen bewegen. Sie verhandeln ihre Identität in den Spannungsfeldern von Stereotypisierungen und Widerstand bzw. Subversion, zwischen Selbstbild und Fremdbild, zwischen Vergangenheit und Zukunft, Ausgangspunkt und Ziel ihrer Reisen. In diesen Texten stehen nicht Kollektive im Vordergrund, sondern Individuen, deren Identitäten sich gegen eine Einordnung in kulturelle Raster sperren. Die interkulturelle Literatur zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass sie neue Dimensionen des Phänomens der Interkulturalität erschließt, dabei die dichotomen Bewertungsschemata des Eigenen und des Fremden aufbricht und den Leser in weiterem Sinne mit der Gegenüberstellung von Individuum und Gesellschaft konfrontiert. Der in den Gesellschaftswissenschaften beschworenen Determinierung der persönlichen Identität durch das soziale und kulturelle Umfeld stellt sie auf der Ebene der Fiktion die Dekonstruktion kulturell und familiär geprägter Identitätskonzepte und die Betonung der Konstruiertheit der Selbstentwürfe gegenüber. Fremdheits- und Alteritätserfahrungen werden von der interkulturellen auf die intrakulturelle und schließlich auf die individuelle Ebene projiziert. Zwischen den Polen des Eigenen und des Fremden entwickelt sich etwas Neues und Ambivalentes, die Erzählungen und Texte über in der Transformation befindliche, nie endgültig festzuschreibende nomadische Identitäten der Diaspora.
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Ilija Trojanow: Nomade auf vier Kontinenten. Auf den Spuren von Sir Richard Francis Burton. Frankfurt/M.: Eichborn 2007. S. 16f.
Terry Albrecht
Erzählerische und sprachliche Nähe. Bilder interkultureller Erfahrungen in den Texten von Terézia Mora und Yoko Tawada Terézia Mora’s texts reflect different cultural spaces and environments. Her characters are determined by experiences of loneliness and displacements, their cultural experience originates in mental and physical destruction. The first part of this chapter discusses the consequences of these exclusions and the role of language and loss of language in Mora’s texts. The second part looks at Yoko Tawada’s texts in which language is likewise an important part of intercultural experience. The images in Tawada’s texts engender a playful engagement with the experience of foreign language where the experience of foreignness correlates with the untranslatability of languages.
In Terézia Moras und Yoko Tawadas Büchern spiegeln sich interkulturelle Erfahrungen. Weder Mora noch Tawada schreiben eine MigrantInnenliteratur, die von Einwanderung oder Exil in Deutschland geprägt ist. Terézia Mora wuchs in Ungarn, in der Nähe der Grenze zu Österreich auf. Die deutsche Sprache gehörte schon zu ihrem Alltag, als sie sich nach dem Abitur entschied, nach Deutschland zu ziehen, ohne ihre Beziehung zu Ungarn aufzugeben. Auch Yoko Tawada hat Japan nicht verlassen müssen, vielmehr bewegt sie sich zwischen beiden Ländern und Kulturen seit Anfang der 1980er Jahre. Beiden Autorinnen ist gemein, dass sie in ihrer Literatur auf der sprachlichen Ebene das Eigene der Landessprache, in der sie aufgewachsen sind, mit dem Anderen, der Sprache des Landes Deutschland, in dem sie die meiste Zeit leben, in Beziehung setzen. Die Texte beider Autorinnen zeigen wie Sprache, sowohl identitätsstiftend als auch ausgrenzend wirken kann. Im Folgenden wird untersucht, inwieweit Yoko Tawada dabei ein Spiel treibt mit der Sprachlosigkeit als Reflexion von Fremdheitserfahrung und bei Terézia Mora diese Fremdheitserfahrung durch die Verweigerung der Sprache als Medium der Vermittlung ausgedrückt wird.
I. Bilder der Fremde bei Terézia Mora Drei Frauen, drei Generationen (Großmutter, Mutter, Tochter) ziehen in ein Dorf. Die Mutter meint, hier fänden sie “Ruhe”. Auch die Großmutter meint das. Sie sagt der Enkeltochter, es sei nur wichtig, Postboten, Lehrer und Priester immer als erstes zu grüßen. Ophelia, so heißt die Tochter, aus deren Sicht die Erzählung “Der Fall Ophelia” erzählt wird, spürt aber schon bald am eigenen Leib, dass das nicht reicht. Das Dorf, in das die drei Frauen gezogen sind, lehnt sie ab. Das erfährt das Mädchen zum ersten Mal, als sie beim Schwimmunterricht von einem unbekannten Jungen verbal angegangen wird.
264 Scheiße schwimmt oben, sagt der Sohn der Krankenschwester zu mir. Er ist groß und weiß wie sie ist. Er kommt mit den Jungs über die Mauer geklettert. Er ist mein Feind. So, sagt er, und presst Zeigefinger und Daumen zusammen. So könnte ich dich zerquetschen. Der Apfelkern quillt zwischen seinen Nägeln hervor, stülpt sein weißes Inneres heraus. Er schnappt es mit den Lippen auf und zerkaut es. So, sagt er. Und weißt du auch, warum? Weil ihr Faschisten seid. Darum, sagt er und spitzt den Zeigefinger gegen mich.1
Auch in der Schule ist die Situation nicht besser: In der Geschichtsstunde drehen sich alle um und starren mich an. Die Lehrerin hat es gerade erklärt: Wer spricht, wie man in meiner Familie spricht, ist ein Faschist. Wer bei meiner Mutter in die Privatstunde geht, lernt die Sprache des Feinds. (SM 116)
Woher die “Familie” kommt, bleibt offen. Sicher ist nur, dass sich ihre Sprache von der der Dorfbewohner unterscheidet, sie fremd sind, nicht erwünscht, da nützt es nichts, dass sie viele Sprachen beherrschen. Was ist das für ein Ort? Eine Kneipe, ein Kirchturm, eine Zuckerfabrik. Ein Schwimmbad. Ein Dorf. Niedrige, zweiäugige Häuser, grüne Tore, und hinter jedem der Tore ein Bastard an die Kette gelegt. (SM 114)
Ein unauffälliges Grenzdorf voller Abgrenzung gegenüber allem Fremden. Terézia Mora erzählt aus der Perspektive eines kleinen Mädchens, das sommers jeden Morgen zum Schwimmen geht, dort von einem sexistischen Bademeister zur Schwimmerin angelernt wird und die Bedrohung der Dorfbevölkerung durch die Erfahrungen mit den sie verängstigenden Jungen erlebt. Diese quälen nicht nur Kettenhunde zu Tode, sie drohen auch, Ophelia im Wasser zu ertränken, ganz so wie es Ophelia in Shakespeares Hamlet ergeht. Zugleich erlebt sie ihre Geschichte als ein Rollenspiel, als Ophelia, die in Phantasiebildern und (Alb-)Träumen lebt, etwa angeregt durch das dreckige, nach Urin stinkende Wasser. Am Ende der Geschichte entgeht Ophelia knapp dem Versuch der Jungen, sie zu ertränken. Sie ist und bleibt hier die Außenseiterin. Es ist eine von zehn Erzählungen, die sich in dem Band Seltsame Materie von Terézia Mora befinden. Alle Geschichten spielen im Grenzgebiet Ungarn/Österreich, auf der ungarischen Seite. Allesamt Dorfgeschichten. Geschichten von Entgrenzung und Ausgrenzung, geprägt von Menschen, die ihre Fremdenfeindlichkeit mal subtil, mal offen ausdrücken. Die Erzählerinnen in Moras Geschichten prägt 1
Terézia Mora: Der Fall Ophelia. In: Mora: Seltsame Materie. Erzählungen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1999. S. 113–129. Hier: S. 116. Im Folgenden: (SM).
265 die ethnographische Beobachtungsgabe einer Welt, die niemals ihre eigene sein kann. Dafür sorgt allein schon die von den Orten ausgehende stete Bedrohung ihnen gegenüber. Über Budapest kam Terézia Mora 1990 nach Berlin. Seither lebt sie dort und schreibt in Deutsch, eine Sprache, die sie auch zuvor schon beherrschte. So übersetzt sie u.a. Bücher Peter Esterházys und schreibt Drehbücher, ein Kontrast zu ihrer knappen und von Traumbildern und Gedankensplittern durchzogenen Prosa. Das Thema ihres ersten Buches ist die Provinzialität, aus der sie stammt und entflohen ist. Eine archaisch wirkende Unemanzipiertheit des Lebens stellt Mora in den ständig wechselnden Rollen ihrer Figuren vor. Keine der Geschichten trägt den Gestus einer Selbstbefragung oder wirkt wie die Nabelschau der eigenen Herkunft der Autorin. Mora schafft Distanz, indem sie sich auf das Beschreiben ihrer Figuren konzentriert und dieser keine moralische Wertung unterlegt. Dadurch enthebt sie sie zugleich der Enge ihrer Lebenswelt und macht sie exemplarisch. Das Andere, das hinter ihren Geschichten steht, ist auch das, was sie selbst reizt und ihre Literatur so charakteristisch macht. Fremdheit ist überall, oftmals gerade dort, wo der Mensch sein Zuhause wähnt. So lesen sich die Texte Moras. Da klingt es folgerichtig, wenn sich die Autorin die Worte der ungarischen Lyrikerin Zsófia Balla zu eigen macht, indem sie über den Begriff Heimat sagt: “Wie ich lebe, das ist meine Heimat”, nicht wo.2 Außenseiterin sein heißt für Mora nicht Opfer sein, sondern eine Perspektive mehr haben. Die Figuren ihrer Bücher jedoch sind weit davon entfernt, eine innere und äußere Freiheit zu empfinden. Das wird besonders deutlich in ihrem ersten Roman Alle Tage.3 Der Roman handelt von Abel Nema, einem Mann, von dem nicht bekannt ist, wo er herkommt, der zehn Sprachen beherrscht, aber sie nicht spricht. Bei einem Gasunglück hat er den Orientierungssinn verloren, kann seither aber wie durch ein Wunder Fremdsprachen erlernen, indem er die Worte den Sprechern von den Lippen abliest. Am Romananfang hängt er kopfüber an einem Klettergerüst und befindet sich im Koma, infolge der an ihm verübten Gewaltdelikte. Am Ende des Buches leidet der Überlebende von Krieg und Gewalt an Amnesie. Von einer modernen Kaspar Hauser-Figur erzählt hier Mora. Eine Außenseitergeschichte, die in den Figurenkatalog von Hans Meyers Buch über literarische “Außenseiter” passen würde.4 Doch im Gegensatz zu Mayers Shylock bleibt eine Unschärfe über den 2
Harris Dzajic und Volkmar von Pechstaedt: Durchscheinendes Osteuropa. Interview mit Terézia Mora. In: wortlaut.de. Göttinger Zeitschrift für neue Literatur. Göttingen 16. 10. 1999. (22. 5. 2008). 3 Terézia Mora: Alle Tage. München: Luchterhand Literaturverlag 2004. Im Folgenden: (AT). 4 Vgl. Hans Mayer: Außenseiter. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1981.
266 Grund des Getriebenseins von Abel Nema. Er trägt eine Welt des Schweigens in sich. Schon sein Name ist Programm: Nema, das Anagramm für Amen, steht im Slawischen für Schweigen und als Bezeichnung für den Deutschen (Nemec), bzw. alle, die nicht slawische Sprachen sprechen, und somit als stumm gelten. Abel hingegen bedeutet im Hebräischen: Nichtigkeit. Klar ist im Roman, der sich im ersten Kapitel wie eine Kurzgeschichte liest,5 sehr dicht und auf den Punkt geschrieben ist und dann nach kaum glaublichen 400 Seiten erst zuende ist, nur was am Anfang steht: “Nennen wir die Zeit jetzt, nennen wir den Ort hier. Beschreiben wir beides wie folgt” (AT 9). Der Begriff der Jetztzeit, ist eine Prägung Walter Benjamins aus dessen Studie “Über den Begriff der Geschichte”.6 In “Ausgraben und Erinnern” stellt Benjamin die Bedeutung der Gegenwart für die Erinnerung bildhaft dar, und skizziert den Umgang mit der Vergangenheit aus der Perspektive der Gegenwart als einen “tastenden Spatenstich in’s dunkle Erdreich”.7 Und stellt fest, “der betrügt sich selber um das Beste, der nur das Inventar der Funde macht und nicht im heutigen Boden Ort und Stelle bezeichnen kann, an dem er das Alte aufbewahrt”. Denn wichtig sei es, ein “Bild […] von dem, der sich erinnert (zu) geben”.8 Terérezia Mora erzählt in Alle Tage von der ersten Seite an mit diesem Bezug zur Vergangenheit. Um die Geschichte vom Kriegsflüchtling Abel Nemas zu erzählen, ist es entscheidend, von wo aus man gräbt in der Geschichte. Das Jetzt und Hier seiner Situation im Exil in Deutschland ist der Ausgangspunkt, den der Roman in der Retrospektive des Erzählens nicht mehr verlassen wird. Es ist die Präsenz eines Bürgerkrieges, der Nema aus seinem Land vertrieben hat und ihn im Exil verfolgt. Aus diesem Land des Exils heraus erzählt Mora seine Geschichte, verliert aber deren Gegenwärtigkeit in Nemas neuer fremder Welt, einer deutschen Großstadt, dabei nie aus den Augen. Dabei erhält diese Gegenwart auf den ersten zwei Seiten des Romans bereits seine räumliche Kontur, in Form einer gesichtslosen deutschen “Grünfläche” (AT 9). In ihr situiert Mora die zentralen Personen, Abel Nema und Mercedes, seine Frau durch eine Scheinehe, die es ihm ermöglichte dem Balkankrieg zu entfliehen und nach Deutschland einzureisen. Abel Nema hängt dort kopfüber an einem Klettergerüst, Opfer eines Gewaltdelikts, das die Rahmenhandlung des Romans ausmacht. Seine Frau Mercedes identifiziert ihn. 5
Zur Verschachtelung der Erzählstränge auf den ersten 80 Seiten vgl. Klaus Siblewski: Terézia Moras Winterreise. Über den Roman Alle Tage und die Poetik der Fremde. In: Literatur und Migration. Text Kritik Sonderband IX/2006. Hg. von Heinz-Ludwig Arnold. München: edition text kritik 2006. S. 211–222. 6 Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte. In: Benjamin: Gesammelte Schriften Bd. I. 2. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991. S. 691–704. 7 Walter Benjamin: Ausgraben und Erinnern. In: Benjamin [wie Anm. 6]. Bd. IV. 1. S. 400–401. Hier: S. 400. 8 Ebd. S. 401.
267 Alle Tage ist die Beschreibung eines Kontinuums: die Fortsetzung des Krieges und die Suche nach Liebe, die Abel Nema bestimmt. Er kommt aus einem Krieg, den er weiter in sich trägt. Der Titel des Romans Alle Tage ist ein Zitat aus Ingeborg Bachmanns gleichnamigem Gedicht. Bei Bachmann lautet die erste Zeile: “Der Krieg wird nicht mehr erklärt, sondern fortgesetzt”.9 Für Mora war die Entdeckung des Gedichts eine existentielle Sache für den Fortgang ihres Romans, wie sie später freimütig bekennt: Ich las diese Zeilen und sah mit einem Mal klar, warum mein Buch nicht funktionieren konnte. Deswegen nicht, weil ich zwar einen Kriegsflüchtling zur Hauptfigur gemacht hatte, diese Eigenschaft aber nichts weiter war als eine biografische Notiz. Während doch alles, was ihm widerfuhr und was er selber tat oder nicht tat, seinen Ursprung gerade in dieser Tatsache hatte: das irgendwo, ganz in der Nähe, ein Krieg stattfand, und zwar selbst dann noch, wenn er für die Welt nicht mehr stattfand. Für den Flüchtling, in ihm, setzte er sich fort, unerhört und all-täglich. So bekam mein Roman ein Zitat zum Titel ALLE TAGE.10
Abel Nemas Geschichte ist der unmögliche Versuch, zu vergessen, und zugleich eine bizarre Ost-West-Begegnung der Verständnislosigkeit. In Deutschland igelt er sich ein. Dabei scheint er der alten Identität entrückt, aber eine neue ist im Westen nicht möglich. Und das, obwohl er zehn neue Sprachen erlernt. Dieses Lernen jedoch hat nichts polyglottes an sich, vielmehr etwas manisches. Er studiert diese Sprachen in einem Sprachlabor, ohne menschlichen Austausch. Der Prozess hat etwas mechanisches. Wie die Autorin Mora verlässt Nema sein Land gleich nach dem Abitur, doch anders als diese, als Flüchtling vor dem Krieg. Beide stammen sie aus der Provinz und gingen in die Großstadt. Doch damit sind die Gemeinsamkeiten zwischen der Autorin und ihrem Widergänger im Roman auch beinahe aufgebraucht. Wäre da nicht noch ein Schnittpunkt, der zugleich ihre Unterschiedlichkeit verdeutlicht. Beide sind sie sprachbegabt, Mora ist eine erfolgreiche Übersetzerin, doch während die Autorin ihre Chancen im anderen Land nutzte, mißlingt Nema dieser Weg der Integration. “Er bleibt in dem, was ihn selbst betrifft, sprachlos – ein Mensch ohne Bewusstsein von seiner eigenen Geschichte, wie abgehackt von der Wahrnehmung seiner persönlichen Erfahrungen”, schreibt Frauke MeyerGosau.11 9
Ingeborg Bachmann: Alle Tage. In: Bachmann: Die gestundete Zeit. Gedichte. München: Piper 1957. S. 27. 10 Terézia Mora: Die Masken der Autorin. Zum achtzigsten Geburtstag von Ingeborg Bachmann. In: Literaturen Heft 1/2 (2007). Berlin: Berlin Verlag 2007. S. 30–35. Hier: S. 31. 11 Frauke Meyer-Gosau: Böse Erlösung. Ein Nachmittag mit Terézia Mora in Barcelona – anlässlich des Erscheinen ihres ersten Romans Alle Tage. In: Literaturen Heft 9 2004. Berlin: Berlin Verlag 2004. S. 44–48. Hier: S. 48.
268 Noch vor der Ausreise aus dem Herkunftsland ist sein Vater spurlos verschwunden. Er findet ihn nicht. Im neuen Land ist das Sprachenlernen seine Rettung, doch keine Verheißung auf eine – sprachliche – Integration: So organisierte etwas, so organisierte sich das Labyrinth in Abel Nemas bis dahin in allen Schulfächern gleichermaßen begabtem und desinteressiertem Verstand so lange um, bis alles, was bis dahin eine Rolle gespielt hatte, das Gewusel von Erinnerung, […] Vergangenheit und Zukunft […] irgendwo verstaut war, in geheimen Wandschränken, und er, nun leer, bereit zur Aufnahme einer einzigen Art von Wissen: von Sprache. Dies ist das Wunder, das Abel Nema widerfahren ist. (AT 75)
“Abel baut sein ganzes Sprachsystem auf Memorisierbarkeit, auf ‘Objektivität’ auf ”, wie René Kegelmann schreibt. “Der äußeren Instabilität setzt er das scheinbar unverrückbare und Stabilität verleihende Konstrukt einer Sprachperfektion entgegen”.12 Doch dieser Raum ist begrenzt: “jetzt war das Innere seines Mundes das einzige Land, dessen Landschaften er bis ins Letzte kannte. Die Lippen, die Zähne, die Alveolen, das Velum, die Uvula, die Lingua, der Apex, das Dorsum, die Zungenwurzel, der Kehlkopf ” (AT 100). Abels Sprachtalent ist Ausdruck eines Paradoxons. Denn die Überlebensstrategie durch Spracharbeit, dem Kommunikationsmittel schlechthin, führt letztlich nur noch mehr zur Isolation. Aus einem Fremdsein entwickelt sich ein fremd werden. In dem neuen Land ist Abel Nema ein Ausgegrenzter. Sein Rückzug in die Innerlichkeit gehört mit dazu. Aber auch das Unbekannte, wo er herkommt, scheint mit dem Jetzt-Ort insofern zu korrespondieren. Auch hier erlebt er Gewalt. Es ist eine Entgrenzung bis in die Amnesie. Nema ist nicht nur fremd und heimatlos in der Fremde, sondern er wurde auch der Heimat entfremdet, die ihn zur Flucht vor einem Krieg gegen die Nachbarn zwang. Doch es ist nicht das Schicksal, die Selbstbeweinung der Opferrolle, die Nema letztendlich scheitern läßt. Es ist eine unbegreifliche Kraftlosigkeit zum Leben, in deren verschiedensten Formen ihn Mora im Roman vorführt, um schließlich mit ihm abzurechnen: “Abel ist eine Figur, die sich nicht entwickelt, er fängt in jeder neuen Situation einfach immer wieder von vorn an. Daran scheitert er, nicht an den äußeren Umständen”.13 Da ist es nur konsequent, dass Terézia Mora Abel Nema in Amnesie und Aphasie, dem Sprech- und Sprachverlust enden läßt. Dessen man sich nicht erinnert und nicht aussprechen kann, braucht man sich auch nicht (mehr) zu verweigern. Zu allem was ihm entgegengebracht wird, bleiben ihm nur noch drei Worte zu sagen: “Das ist gut” (AT 430). 12
René Kegelmann: Emigration. Zu Aspekten von Fremdheit, Sprache, Identität und Erinnerung in Herta Müllers Reisende Auf einem Bein und Terézia Moras Alle Tage. In: Wahrnehmung der deutschsprachigen Literatur aus Südosteuropa. Hg. von Stefan Steinert und Peter Motzan. München: IKGS 2008. S. 184–196. 13 Meyer-Gosau: Böse Erlösung [wie Anm. 11]. S. 48.
269 In Moras Geschichte wird die Differenz zwischen dem Eigenen und dem Anderen als dem vermeintlich Fremden aufgehoben. Alle Tage ist die Verlustgeschichte einer Identität in der Terézia Mora zugleich die Bedrohtheit der sogenannten Heimat aufdeckt, als einen Prozess, der nicht von außen, als vielmehr durch Nema selbst gesteuert stattfindet.
II. Yoko Tawadas Sprachbilder des Fremden und des Eigenen Bei der Japanerin Yoko Tawada korrespondiert hingegen das Fremde mit dem Eigenen. In ihren Texten entspannen sich Dialoge zweier oder mehrerer Welten. Yoko Tawada lebt seit 20 Jahren in Deutschland. Sie kam mit der transsibirischen Eisenbahn aus Japan. Ein Zeichen dafür, dass für sie der Weg das Ziel ist. Das spiegelt sich auch in ihren Texten wieder, in denen nicht selten vom Reisen erzählt wird. Wurden die ersten Texte der aus Tokyo stammenden Autorin, wie z.B. der kurze Roman Das Bad,14 noch übersetzt, so erlernte Yoko Tawada sehr schnell die deutsche Sprache und studierte in Hamburg neuere deutsche Literatur.15 Ihr Thema im Examen war die Bildersprache Heiner Müllers. Auch Tawadas Bilder, ihre literarischen Arbeiten, sind getragen durch eine Vorstellungskraft, eine Verbindung von Traum/Phantasie und Wirklichkeit. In Das Bad erzählt sie von einer japanischen Übersetzerin, deren Leben vom Hinweggleiten des Ichs bestimmt wird. So verwandelt sich in einer Metamorphose ihre Haut in die eines Fisches. In der Begegnung mit anderen Menschen und mit sich selbst, wo “sich jeden Morgen ein anderes Gesicht im Spiegel zeigt”,16 erscheint sie sich selbst als Fremde. In mythologischen Traumbildern erzählt Tawada auch davon, wie diese Frau wiederholt ihre Zunge verliert, sei es an ihren Liebhaber oder an eine “Frau die ich nicht kannte”. Ein anderes Mal kann sie ihre Augen nicht öffnen, bleibt ihr die Zunge am Gaumen haften: In der Ferne hörte ich ein knisterndes Geräusch. Ich wollte die Augen öffnen, konnte aber von innen meine Lider nicht ausfindig machen. Hinter dem Eisengitter der Kapillare versuchte ich, mich an irgendein Gesicht zu erinnern. Meine Mundhöhle war ausgetrocknet und schorfig. Gaumen und Zunge waren wie verklebt miteinander.17
Das Buch lässt sich lesen als eine Suche nach dem Eigenen, als ein Diskurs über die Identitätsfindung, wo Sprache als Fremd-Sprache empfunden wird 14
Yoko Tawada: Das Bad. Tübingen: konkursbuch 1989. Aus d. Jap. von Peter Pörtner. Das Buch ist ohne Seitenzahlen erschienen und in 10 Kapitel unterteilt. Nachfolgend werden bei den Zitaten die Kapitel angegeben. 15 Peter Pörtner hat die frühen Arbeiten Yoko Tawadas ins Deutsche übersetzt. Lyrik schreibt sie auch heute noch fast ausschließlich auf japanisch. 16 Tawada: Das Bad [wie Anm. 14]. Anfang Kap. 1. 17 Ebd. Anfang Kap. 4.
270 und Sprachlosigkeit zu körperlichen Reaktionen führt. Die Behandlung der Fremdheit indes wirkt wie ein Spiel mit der Form der Befragung und der Rolle der eigenen Identität der Erzählerin. Wo Mora auf Distanz zur Figur der Erzählerin geht, löst Tawada diese Distanz auf, nicht nur, weil sie in der ersten Person erzählt, sondern von Gefühlen intimster Wahrnehmung schreibt. In Das Bad beschreibt die Erzählerin die ersten Schritte beim Deutsch lernen. Frage: “Sind Sie eine Japanerin?”. Antwort: “Ja, Sie sind eine Japanerin”.18 Die Ich-Erzählerin versteht den “Trick bei diesem Spiel” nicht, bei dem es darum geht, das “Sie” durch ein “ich” zu ersetzen.19 Hinter der Distanz zum Deutschen sowie zum Japanischen steckt die Distanz zum eigenen Ich. Ich zu sagen, erscheint der Erzählerin auch in der eigenen Sprache nicht möglich. Das Eigene ist mit dem Fremden nicht nur in diesem frühen Prosatext Tawadas untrennbar eng verbunden. Eigenes und Fremdes treten in ihren Texten zumeist in dichotomischen Bildern der Gleichzeitigkeit auf. Das Eine, zum Beispiel die deutsche Kultur ist hier ohne das Andere, die Prägung durch die japanische Kultur, nicht denkbar. Yoko Tawadas Texte, auch ihre theoretischen Schriften, operieren mit Sprachbildern. In ihnen entwickelt die Autorin Dialoge mit der Geschichte als kultureller Erfahrung. Auf der Basis von Rollen- und Perspektivenwechseln veranschaulichen die Texte Gegensätzlichkeiten und Widersprüche der inneren und äußeren Wahrnehmungsprozesse. Tawada konfrontiert auch in ihren späteren Arbeiten immer wieder zwei Welten miteinander, lotet Erfahrungshorizonte aus und zeigt den manchmal so schmalen Grad von Verstehen und Missverstehen auf. In der Erzählung “Erzähler ohne Seelen” wird anhand der Sage um Teufelsbrück und ihrer Rezeption durch die Erzählerin deutlich, dass diese Sage nur vor ihrem kulturellen – in diesem Fall christlichen – Hintergrund verständlich ist: Es gibt einen ganz kleinen Hafen in Hamburg an der Elbe, der Teufelsbrück genannt wird. Vor langer Zeit konnte man keine Brücke über die Elbe bauen, die stark genug gewesen wäre, einen heftigen Herbststurm durchzustehen. Den verzweifelten Hamburger Kaufleuten bot der Teufel an, eine unzerstörbare Brücke zu bauen. Als Belohnung dafür wollte er eine Seele haben. Die Kaufleute versprachen ihm, ihm eine Seele zu geben, wenn die Brücke fertig sei. Als der Teufel seine Arbeit beendet hatte, stellte sich heraus, dass keiner der Kaufleute seine Seele hergeben wollte. Deshalb schickten sie eine Ratte über die Brücke zum Teufel, der voller Wut auf der Ratte herumstampfte und dann in der Erde versank. Seitdem heißt der Hafen Teufelsbrück.20 18
Ebd. Anfang Kap. 5. Ebd. 20 Yoko Tawada: Erzähler ohne Seelen. In: Tawada: Talisman. Tübingen: konkursbuch 1996. S. 16–27. Hier: S. 20. 19
271 Als die Erzählerin von dieser Legende zum erstenmal hörte, verstand sie sie nicht, “weil ich nicht wusste, dass Ratten keine Seele haben”. Für den “durchaus christlich orientierten” Teufel haben die Ratten keine Seele. In anderen Kulturkreisen, so auch in weiten Teilen Japans, “die von Pflanzenseelen und Tierseelen erzählen, hat eine Ratte selbstverständlich eine Seele, – und zwar eine, die nicht weniger wert ist als die eines Hamburger Kaufmanns. Der Teufel wäre dort nicht enttäuscht gewesen”.21 Mit der Seele steht es in Tawadas Texten so, wie mit der Erinnerung, von der Walter Benjamin sagt, sie husche in einem Augenblick vorbei, könne aber nicht festgehalten werden.22 Die Seele, als Erinnerungsbild dieser Texte, wandert, sie ist nicht an den Körper gebunden. So kommt sie Tawada beispielsweise auf einer Fahrt mit der transsibirischen Eisenbahn nach Asien gerade entgegen, weil sie sich noch auf der Rückfahrt der letzten Tour befindet. In diesen Bildern der Augenblickserfahrung erkundet Tawada Gemeinsamkeiten zwischen Erinnerung und Seele, zugleich betont sie, habe der Körper ein anderes Gedächtnis als der Kopf. Er bewahrt auch das noch, was man vergessen hat. Während Vergangenheit durch Sprache sortiert wird: was ist passiert, was nicht. Dabei kann man sich an viele Sachen nicht mehr erinnern. Das will ich herausfinden […], aber auch, dass Erinnerung etwas ist, das nicht festgehalten werden kann. Das heißt, in dem Moment […], wo wir etwas erleben, ist die Erinnerung da. Aber sie verschwindet ja auch wieder. Es gibt da auch eine Beziehung zur Seele. […] Die Seele emanzipiert sich vom Menschen, sie muß nicht als Sklavin immer bei ihm sein. Bei den Schamanen beispielsweise sind die Seele und der Mensch immer getrennt unterwegs. Wenn man daran glaubt, wird man als verrückt eingestuft. Dabei ist es eigentlich etwas ganz normales, dass Körper und Geist nicht immer beisammen sind. Auch im Traum ist die Seele allein unterwegs.23
Tawadas Geschichten sind weit entfernt davon, einen Fall authentisch nachzuerzählen, vielmehr zeigt die Autorin durch sie und in ihnen Gegensätze auf, hinterfragt den gewohnten Blick. So in der Erzählung “Rothenburg ob der Tauber”, in der sie die Stadt, die wie kaum eine andere für das Klischee der Mittelalterromantik in Deutschland steht, als ein Erinnerungsbild wahrnimmt, durch den Fokus eines Objektivs: “Erst durch die Linse meines Fotoapparates konnte ich die Stadt richtig betrachten, die auf einmal klein wie die Bühne eines Puppentheaters aussah. Sie war eingerahmt und wirkte weiter entfernt von mir als vorher”.24 Die Eindrücke des Fremden werden von der Erzählerin 21
Ebd. Vgl. Benjamin [wie Anm 6]. S. 695. 23 Kultur und Bildersprache. Yoko Tawada im Gespräch mit Terry Albrecht. In: TheaterKulturVision. Arbeitsbuch Theater der Zeit. Berlin: Galrev 1998. S. 135–137. Hier: S. 136. 24 Tawada: Rothenburg ob der Tauber. In: Tawada: Talisman [wie Anm. 20]. S. 28–39. Hier: S. 32. 22
272 aufgenommen, indem sie auf Distanz gehalten werden. Dadurch verbinden sich das Fremde und das Eigene, ohne ihre Gegensätzlichkeit aufzugeben. In “Rothenburg” geschieht dies durch den Perspektivenwechsel und die damit einhergehende Wahrnehmungsveränderung. Durch den Rahmen der Linse schrumpft die Bedeutung der Stadt auf ihre wahrhaftige Größe. Das Schreiben entwickelt sich aus dem Lesen. Dieses Lesen der Yoko Tawada ist aber ein Lesen der Welt in Bildern. Ihre Lektüre bleibt an einzelnen Buchstaben und Zahlen haften, aus denen bildhafte Darstellungen entstehen. So beschreibt sie in dem Roman Ein Gast, wie ein Passant ihr wie die Zahl 3 erscheint.25 Der Rücken des Mannes krümmt sich in ihren Augen zu dieser Zahl und sein Mund ist so geformt, als wolle er “Drei” sagen. Die Texte Tawadas lehren einen das Beobachten. Sie geben der Phantasie eine Sprache, die aber untrennbar ist von einer Wirklichkeit, aus der sie hervorgeht. Die in ihren Texten durch verschiedene Welten reisende Autorin sieht das Schreiben in der sogenannten Fremdsprache Deutsch als eine Freiheit an: In der Muttersprache sind die Worte den Menschen angeheftet, so dass man selten spielerische Freude an der Sprache empfinden kann. Dort klammern sich die Gedanken so fest an die Worte, dass weder die ersteren noch die letzteren frei fliegen können. In einer Fremdsprache hat man aber so etwas wie einen Heftklammerentferner. Er entfernt alles, was sich aneinanderheftet und sich festklammert.26
Es ist die Freiheit der sprachlichen und gedanklichen Konstruktion in der Fremdsprache, die Tawada meint. Sie reglementiert ihre Sprache nicht, da es zugleich immer die fremde, andere Sprache ist, die es ihr ermöglicht, anders zu sehen, gewissermaßen aus neuer Perspektive. Nimmt man den Erzählungszyklus Talisman zur Hand, fällt schon beim Lesen der ersten Geschichten ein Wesensmerkmal der Erzählerin Tawada auf: die Verquickung zwischen dem Schreiben und der Reflexion über das Schreiben. Beides ist in ihren Texten in Form einer ‘Fremd-Sprachen-Erfahrung’ untrennbar miteinander verbunden. Auch in formaler Hinsicht ergibt das eine spannend zu lesende Symbiose aus Essay und Fiktion: eine essayistische Erzählung. “Wer mit einer fremden Zunge spricht, ist ein Ornithologe und ein Vogel in einer Person”, stellt sie in ihrer ersten Tübinger Poetikvorlesung fest.27 Denn: “Wenn ich deutsch spreche, komme ich mir manchmal vor wie eine Komponistin, die in 25
Yoko Tawada: Ein Gast. Tübingen: konkursbuch 1993. Tawada: Von der Muttersprache zur Sprachmutter. In: Tawada: Talisman [wie Anm. 20]. S. 9–15. Hier: S. 15. 27 Yoko Tawada: Verwandlungen. Tübinger Poetikvorlesungen. Tübingen: konkursbuch 1998. S. 22. 26
273 einem Wald steht und versucht, die Musik der Vögel zu hören, zu notieren und nachzuahmen”.28 Tawadas Verwandlungsgeschichten funktionieren aber in beide Richtungen: von der Sprache zum Bild und vom Bild zur Sprache. Die Traditon der deutschen wie auch japanischen Märchen spielen in der Bildhaftigkeit ihres Ausdrucks dabei keine unwesentliche Rolle. Sie ist angelehnt an die Romantiker Ludwig Tieck und E.T.A. Hoffmann und den Japaner Kedo Akinaris. Bedrohtheit und Wunschträume sind gleichermaßen in allegorischen Bildern der Verwandlungsgeschichten ausgedrückt, wie bei der Frau, die sich in einen Fisch zu verwandeln beginnt (Das Bad) oder dem Mann, der wie die Zahl drei auszusehen scheint (Ein Gast). In dem Moment des Erzählens sind ihre Geschichten so wahr wie es Märchen sind. So wie für Tawada das Authentische nicht das Nacherzählte, sondern der Moment des Erzählens selbst ist, wenn sie sagt, es könne das Eigene einer Sprache niemals in der Übersetzung vermittelt werden: “Eine literarische Übersetzung muß von der Unübersetzbarkeit ausgehen und mit ihr umgehen, statt sie zu beseitigen”.29 Denn, “[d]ie Unübersetzbarkeit macht meistens ein weiteres Gesicht des Originals sichtbar und somit bringt sie Gewinn, und zwar gerade dort, wo sie etwas zu verlieren scheint”, stellt Yoko Tawada in einem Aufsatz über Kleist fest.30 In “Kleist auf Japanisch” hebt sie hervor, dass ein Text nur dann ein poetischer Text bleiben kann, wenn er nicht in die Statik einer vorgegebenen Fremdsprache übersetzt wird, sondern sich von der Originalsprache des Textes in der Übertragung leiten läßt. Hier vollzieht Tawada nach, was Walter Benjamin in “Die Aufgabe des Übersetzers” beschrieben hat, nämlich die Vorstellung vom Einfluß der Fremdsprache auf die Übersetzung. Dieser Einfluß sollte laut Benjamin jeder guten Übertragung zu Grunde liegen.31 Und es ist die Dynamik der Fremdsprache, die Tawada fasziniert, wenn sie Rudolf Pannwitz’ These aus Benjamins Übersetzer-Aufsatz zitiert: “der grundsätzliche irrtum des übertragenden ist, dass er den zufälligen stand der eigenen sprache festhält, anstatt sie durch die fremde sprache gewaltig bewegen zu lassen”.32 Es wäre poetisch spannend, so Tawada, “wenn man die heutige japanische Sprache durch Kleist-Sätze gewaltig bewegen lassen würde”.33 28
Ebd. Ebd. S. 35. 30 Yoko Tawada: Kleist auf Japanisch. In: Tawada: Sprachpolizei und Spielpolyglotte. Tübingen: konkursbuch 2006. S. 85–90. Hier: S. 90. 31 Walter Benjamin: Die Aufgabe des Übersetzers. In: Benjamin [wie Anm. 6]. Bd. IV. 1. S. 9–21. Vgl. insbesondere S. 18: “Die wahre Übersetzung ist durchscheinend, sie verdeckt nicht das Original, steht ihm nicht im Licht, sondern läßt die reine Sprache, wie verstärkt durch ihr eigenes Medium, nur um so voller aufs Original fallen”. 32 Tawada: Kleist auf Japanisch [wie Anm. 30]. S. 89. 33 Ebd. 29
274 Es ist die Sprache selbst, deren Verstehen und Nichtverstehen, mit der Tawada ein hermeneutisches Spiel treibt.34 Ihre Bücher führen dem Leser Erzählerinnen und Erzähler vor Augen, die nie das Eigene, die Augenblicklichkeit ihrer Entwicklung, außen vor lassen, sondern vielmehr aus diesem Prozess heraus verstehen, sehen und begreifen wollen. So wird auch die Fischhaut in die die Metamorphose die Erzählerin in Das Bad verwandelt, von dieser nicht als ein äußerer Einfluß, sondern als ein innerer Prozess der Verwandlung zum Anderen, als Teil des Eigenen wahrgenommen. Das Buch macht sichtbar: Die Metamorphose ist unübersetzbar und mit der Erzählerin verbunden. Diese Form der Unübersetzbarkeit gilt auch für das Bild der staunenden Japaner vor der Kulisse der mittelalterlichen Fassade Rothenburgs. Sie staunen deshalb, weil im eigenen Land Häuser nach 30 Jahren bereits als alt gelten und nicht selten bald darauf eingerissen und durch neue ersetzt werden.35 Es geht also nicht um einen gemeinsamen Text, sondern um die Transparenz der vielen Schichten, durch die ein Spaten stößt, der von der Jetztzeit ausgehend in der Vergangenheit gräbt: um die Transparenz der Erinnerung, wie Walter Benjamin es nennt.36 Dazu zählt auch, dass Tawada die Verwandlungen von Menschen in Tiere und umgekehrt beschreibt und damit von der Gleichrangigkeit allen Lebens erzählt. Verwandlung ist, so Tawada, die Neugier auf das Andere, nicht nur auf die Sprachen anderer Kulturen und Länder oder der Tiere. Es ist die Neugier auf das uns Ent-rückte. Die Dichterin und promovierte Germanistin Yoko Tawada ist Vogel und Ornithologin zugleich. Theorie und Poesie bilden in ihrer Literatur oftmals eine Synthese. Und so müssen wir immer aufpassen, dass sie nicht gleich wieder verschwindet, wenn wir ihr in ihren Texten begegnen, denn wenn ich spreche, so schreibt sie in Ein Gedicht in einem Buch, dessen Original in Fischhaut eingebunden ist, “bin ich nicht da”.37
34
Ein schönes Beispiel dafür bietet das Sprechmusikstück “gelati” auf der CD diagonal, die sie gemeinsam mit der Pianistin Aki Takase aufgenommen hat. Tübingen: konkursbuch 2002. Der Text ist abgedruckt in: Yoko Tawada: Aber die Mandarinen müssen heute abend noch geraubt werden. Tübingen: konkursbuch 1997. S. 97–99. 35 Vgl. Tawada: Rothenburg ob der Tauber [wie Anm. 24]. S. 32. 36 Vgl. Benjamin [wie Anm. 7]. 37 Yoko Tawada: Ein Gedicht in einem Buch. Hamburg: CTL Libretto 1996. Keine Seitenangabe.
Ernst Grabovszki
Österreich als literarischer Erfahrungsraum zugewanderter Autorinnen und Autoren The contribution by migrant writers to a country’s literature changes the culture’s perception of itself. This chapter discusses the way migrant writers are augmenting or subverting the concept of ‘Austria’ as a literary space, a concept that has long been dominated by an ‘aesthetics of social partnership’. The chapter contrasts a number of migrant writers, not all of whom write in Austrian, and analyses how their literary image of Austria contributes to a widening of the concept of a ‘national’ literature.
“Jeder 3. Wiener hat fremde Wurzeln”, titelte eine österreichische Tageszeitung im Herbst 2007, nachdem die Statistik Austria erstmals “neben der Zahl der Ausländer auch Zahlen zum kulturellen Hintergrund erfasst” hatte.1 Dieses gesteigerte Interesse an den Zuwanderern nach Österreich verdankte sich wohl auch einem differenzierteren Blick auf eine demographische, soziale und politische Entwicklung, die eben diese Differenziertheit notwendig macht. Zumindest in statistischer Hinsicht hat sich das Thema Migration in den letzten Jahren in Österreich markant entwickelt. “In keiner anderen Periode der österreichischen Nachkriegsgeschichte kamen und blieben so viele ZuwanderInnen wie in den vergangenen Jahren”, berichtet Heinz Fassmann im 2. Österreichischen Migrations- und Integrationsbericht; die Realität von Zu- und Abwanderung habe sich gravierend verändert.2 Das hängt nicht zuletzt mit der “verstärkte[n] Zuwanderung von EWR-BürgerInnen sowie begünstigten Drittstaatsangehörigen (Familienangehörige von eingebürgerten Personen als Echoeffekt vergangener Zuwanderungen)” zusammen.3 Die stärkste Gruppe an Zuwanderern stellen dabei Immigranten aus Deutschland dar (78% aller Zugewanderten aus den EU-14-Staaten), gefolgt von Bürgern des ehemaligen Jugoslawiens und – mit sinkender Tendenz – türkischen Staatsangehörigen. Den Diskussionen um die Zuwanderung liegt auch die Frage nach der Identität des ‘Österreichischen’ zugrunde, das hier einmal mehr seine Grenzen zu definieren sucht, letztlich aber – zumindest in diesem Fall – einsehen muss, 1
Josef Rietveld: Jeder 3. Wiener hat fremde Wurzeln. In: Kurier vom 27. 9. 2007. S. 9. Heinz Fassmann: Vorwort. In: 2. Österreichischer Migrations- und Integrationsbericht, 2001–2006. Hg. von Heinz Fassmann. Klagenfurt: Drava 2007. S. 13–15. Hier: S. 13. 3 Gustav Lebhart und Stephan Marik-Lebeck: Zuwanderung nach Österreich: aktuelle Trends. In: 2. Österreichischer Migrations- und Integrationsbericht [wie Anm. 2]. S. 145–164. Hier: S. 146. Alle weiteren Zahlenangaben sind diesem Beitrag entnommen. 2
276 dass diese Grenzen verschiebbar sind. Eine Spielform dieser Identität ist Thema dieses Beitrags, nämlich die Art und Weise, wie die Literatur nach Österreich zugewanderter Autorinnen und Autoren die Vorstellungen und Konstruktionen des ‘Österreichischen’ stützt oder unterwandert. Unter einem ‘literarischen Erfahrungsraum’ wird hier die literarische Ausgestaltung und Darstellung eines (vorübergehenden oder permanenten) geographischen und soziokulturellen Lebensraums verstanden, in deren Verlauf sich fremdund eigenkulturelle Erfahrungen dermaßen überblenden, dass sich daraus eine kontrastive und/oder harmonisierende Begegnung ergibt. Mit dem Thema dieses Beitrags sind darüber hinaus eine vielschichtige Begrifflichkeit und ebenso vielgestaltige Inhalte und Forschungsinteressen verbunden. Mögliche methodische und thematische Zugänge seien nur mit Begriffen wie interkulturelle Literaturwissenschaft/Germanistik, Alterität oder Migrationsforschung angedeutet – und diese Aufzählung ließe sich noch mühelos fortsetzen. Die Entscheidung in diesem Beitrag fällt zugunsten eines kontextualisierten Zugangs aus, der die zu untersuchenden Texte in einen sozialhistorischen und politischen Kontext eingebettet sieht und sie in ihrer Wechselwirkung mit ihrer jeweiligen Entstehungssituation zu verstehen trachtet. Um den Blick möglichst fokussiert ausfallen zu lassen, soll der zeitliche Rahmen die österreichische Literatur seit den 1980er Jahren umschließen.
I. Die Eigenschaften des Österreichischen und seiner Literatur Müsste man für den Diskurs über die österreichische Literatur der 1980er Jahre (und wohl auch des Jahrzehnts davor) eine Befindlichkeit attestieren, dann würden Abhandlungen wie jene Ulrich Greiners ins Blickfeld rücken, die Adalbert Stifter als gemeinsamen Ausgangspunkt für die österreichische Literatur der 1970er Jahre zu bestimmen suchte und diese damit als apolitisch und artifiziell klassifizierte.4 Bereits in den 1960er Jahren hatte Claudio Magris den habsburgischen Mythos heraufbeschworen, der sich so rasch nicht mehr austreiben ließ.5 Er bescheinigte der Literatur vor allem des 19. Jahrhunderts Politik- und Konfliktimmunität, und diesen Nimbus der intendierten Konfliktvermeidung wurde die theoretische Diskussion um die österreichische Literatur auch in den folgenden Jahren bzw. Jahrzehnten nicht so rasch wieder los: Eine Anfang der 1990er Jahre viel diskutierte These über die Beschaffenheit der österreichischen Literatur ist jene von Robert Menasse, der die so genannte Sozialpartnerschaft gleichsam als Grundkonstitution der literarischen 4
Ulrich Greiner: Der Tod des Nachsommers. Aufsätze, Porträts, Kritiken zur österreichischen Gegenwartsliteratur. München – Wien: Carl Hanser 1979. 5 Claudio Magris: Der habsburgische Mythos in der modernen österreichischen Literatur. Wien: Paul Zsolnay 2000. Erstmals 1963 unter dem Titel Il mito absburgico nella letteratura austriaca moderna.
277 Produktion in Österreich fasste, also von einem Wechselverhältnis zwischen gesellschaftlicher Realität und Literatur ausging.6 Nach seiner Auffassung zielt die Sozialpartnerschaft “auf eine konfliktmindernde Zusammenarbeit der Interessenorganisationen der Unternehmen und der Lohn- und Gehaltabhängigen”, eine Intention, die sich, so Menasse, auch auf die Literatur übertragen hat.7 Eine ebenso sozialhistorisch geprägte Erklärung hat Wendelin Schmidt-Dengler versucht. Er fasst Menasses Entwurf ein wenig weiter bzw. formuliert ihn etwas neutraler. Auf den Punkt gebracht kann er lauten: Österreichische Literatur wird unter anderen Bedingungen hergestellt als jene in Deutschland (und wohl auch der Schweiz).8 Darüber hinaus sei die “österreichische Geschichte […] in ihrer Besonderheit zumindest seit 1806 von der allgemeinen deutschen Geschichte leicht trennbar”, zudem würden “Autoren aus Österreich nicht in das Periodisierungsschema passen, das die deutsche Literaturgeschichtsschreibung bereithält”.9 Dieser Beitrag kreist um das ‘Österreichische’ der österreichischen Literatur, sucht seine Bestimmung aber nicht in einem Blick von innen nach 6
“Österreich verfügt über ein besonders ausgeprägtes System der Zusammenarbeit der großen wirtschaftlichen Interessenverbände untereinander und mit der Regierung. Diese Zusammenarbeit war eine Grundvoraussetzung für den Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg und bildete die Basis für das weitere wirtschaftliche Wachstum und für sozialen Frieden. […] Die Sozialpartnerschaft beschränkt sich nicht nur auf die Regulierung von Arbeitsbeziehungen, sondern sie erstreckt sich auf praktisch alle Gebiete der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Deshalb gilt Österreich auch als Musterbeispiel des Korporatismus, also der umfassenden und koordinierten Interessenvertretung. […] Sozialpartnerschaft bedeutet aber nicht, daß Interessengegensätze negiert werden. Vielmehr ist sie eine Methode, wie zwischen gegensätzlichen wirtschaftlichen und sozialen Interessen ein Ausgleich gefunden werden kann, und zwar durch das Bemühen um gemeinsame Problemlösungen zum Vorteil aller Beteiligten, durch die Bereitschaft zum Kompromiß”. http://www. sozialpartner.at/Internet03.html (22. 4. 2008). Die Kritik an der Sozialpartnerschaft bezieht sich vor allem auf die nicht öffentliche und vorparlamentarische Entscheidungsfindung. 7 Robert Menasse: Die sozialpartnerschaftliche Ästhetik. Das Österreichische an der österreichischen Literatur der Zweiten Republik. In: Menasse: Überbau und Underground. Die sozialpartnerschaftliche Ästhetik. Essays zum österreichischen Geist. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997. S. 11–110. Hier: S. 19. Die erste Fassung dieses Textes erschien 1990 unter dem Titel Das Land ohne Eigenschaften. Essay zur österreichischen Identität. Wien: Sonderzahl 1990. Vgl. auch Menasses Dissertation: Der Typus des “Außenseiters” im Literaturbetrieb am Beispiel Hermann Schürrer. Studie zum eigentümlichen Verhältnis von offiziösem Literaturbetrieb und literarischem “underground” im Österreich der Zweiten Republik. Wien: phil. Diss. 1980. 8 Vgl. Wendelin Schmidt-Dengler: Bruchlinien. Vorlesungen zur österreichischen Literatur 1945 bis 1990. Salzburg: Residenz 1995. 9 Ebd. S. 12 und S. 14.
278 innen, sondern geht von der Tatsache aus, dass Literatur in Österreich auch von Immigranten verfasst, publiziert, verbreitet und gelesen wird. Ob auf diese Gruppe von Autorinnen und Autoren, die aus unterschiedlichen Gründen und Herkunftsländern, folglich mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen und Erfahrungen nach Österreich gekommen sind, Kategorien wie ‘sozialpartnerschaftliche Ästhetik’ und dergleichen anwendbar sind, bleibt zu diskutieren. In jedem Fall, und damit ist die These dieses Beitrags formuliert, erweitern oder subvertieren sie sogar die bisher formulierten Idee und Auffassung des ‘Österreichischen’ zumindest aus drei Gründen: 1. Der Blick von außen verfremdet die Sicht auf das innerhalb einer Grenze Liegende, sofern sich ein Text mit den Bedingungen des innerhalb der Grenze Liegenden auseinandersetzt;10 2. Autoren, die in ihrer Muttersprache weiterschreiben (zwei Beispiele werden in diesem Beitrag genannt), affirmieren auf diese Weise ihre Abgrenzung zum Diskurs ‘Österreich’ (was nicht zwingend eine freiwillige Ausgrenzung bedeuten muss) und steuern damit auch die Rezeption. Ein Text in türkischer Sprache etwa wird aufgrund mangelnder Fremdsprachenkompetenz kaum von österreichischen Lesern gelesen und verstanden. In diesem Zusammenhang wird eine auf den ersten Blick vielleicht nicht schlüssig scheinende Feststellung Herbert Arlts verständlich: Sein Diktum “Österreichische Literatur ist eine Literatur in mehreren Sprachen” scheint zunächst für die vielsprachige Donaumonarchie zutreffend, gilt aber auch heute.11 3. Herkunft und ökonomische Situation des Zuwanderers selektieren seine Sicht auf seine neue Umgebung und lassen ihn bestimmte Ausschnitte seines literarischen Erfahrungsraums wahrnehmen. Plakativ formuliert: Ein Asylwerber im Flüchtlingslager erlebt das Zielland anders als ein Zuwanderer, der nicht aus politischen Motiven nach Österreich immigriert ist und sich möglicherweise in einer besseren finanziellen Situation befindet. Schließlich ist es nicht unwesentlich, ob der Autor in der Gemeinschaft, die er beschreibt, auch lebt oder ob er sie lediglich von außen betrachtet. Ersterem 10
Hier wäre freilich zu differenzieren: Ein in einer Gemeinschaft sozialisierter Migrant hat Meinungen und Lebensweisen unter Umständen schon in einem Grad angenommen, dass der ‘Blick von außen’ auch schon ein ‘Blick von innen’ geworden ist. Dieser Komplex der Verfremdung wie auch jener des betrachtenden Subjekts in einem bestimmten Kontext schließt natürlich an ethnographische Theoriedebatten an. Vgl. dazu die Beiträge in Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation. Hg. von Eberhard Berg und Martin Fuchs. Frankfurt/M.: Suhrkamp. 2. Aufl. 1995 (stw 1051). 11 Herbert Arlt: Projekt: Österreichische Literaturgeschichte. Arbeitsschritte und Planungen. In: Trans. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften (1997). http:// www.inst.at/trans/0Nr/arlt.htm (17. 4. 2008). Siehe dazu auch Arlt: Multilingual Austrian Literature. In: Trans. Internet-Zeitschrift für Kulurwissenschaften. Nr. 11 (2002). http://www.inst.at/trans/11Nr/Arlt11.htm (18. 4. 2008).
279 liegt ein größeres Abhängigkeitsverhältnis zugrunde, das mindestens durch soziale Bindungen, ökonomische Verhältnisse (Arbeitsplatz, Förderungen etc.) zustande kommt, zweiterem eine lediglich lose Verbindung (siehe etwa die Gattung des Reiseberichts).12 Beide Konstellationen haben einen Einfluss auf den gleichsam ethnographischen Blick des Schreibenden, auf die Ausgestaltung seines Diskurses über sein Umfeld, dem er entweder angehört oder das er nur mehr oder minder oberflächlich kennenlernt. Der vielleicht wesentlichste Unterschied zwischen diesen beiden Varianten liegt in der Adoption der jeweiligen Sprache der Zielgemeinschaft, nicht zuletzt aus der Überlegung, in deren literarischem Feld reüssieren zu können. Der Umweg über eine Übersetzung wird seltener gegangen.
II. Perspektiven des Ichs Die oben erwähnte Position des beschreibenden Subjekts in einem literarischen Text lässt sich an zwei Beispielen andeuten. Der in Ebreichsdorf bei Wien lebende nigerianische Autor Chibo Onyeji publiziert in englischer Sprache und bewahrt sich damit eine Distanz zu seinem deutschsprachigen literarischen Umfeld, das er in seinen Gedichten thematisiert, jüngst in dem Lyrikband Flowers, Bread, and Gold (2006).13 Ein “Prologue” gibt gleichsam den Kontext für die Gedichte vor, auch wenn der Autor diese Absicht in einer Vorbemerkung etwas abschwächt: “The entries of the prologue are not necessarily a background of poems; they are just another kind of poetry”.14 Der Großteil der Texte kreist um die Situation von Flüchtlingen und/oder Asylwerbern in Österreich, besonders um solche, die in Kontakt mit der österreichischen Exekutive geraten sind und Teil der medialen Berichterstattung wurden: Das prominenteste Beispiel in dieser Hinsicht ist der nigerianische Asylwerber Marcus Omofuma, der 1999, nachdem sein Asylantrag abgelehnt worden war und er nach Bulgarien abgeschoben werden sollte, im Flugzeug erstickte, weil ihm drei begleitende Polizeibeamte Mund und Nase verklebt hatten.15 Onyeji markiert 12
Analog zur Stellung des vergleichenden Subjekts vgl. Ernst Grabovszki: Methoden und Modelle der deutschen, französischen und amerikanischen Sozialgeschichte als Herausforderung für die Vergleichende Literaturwissenschaft. Amsterdam – New York: Rodopi 2002 (Internationale Forschungen zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft 60). S. 68f. 13 Chibo Onyeji: Flowers, Bread, and Gold. Ranshofen: edition innsalz 2006. Ein Roman “über Schwarze in Österreich” mit dem Titel Sacred Times im selben Verlag ist angekündigt. 14 Ebd. S. 10. 15 Vgl. zur Migration von Afrikanerinnen und Afrikanern: Von Soliman zu Omofuma. Afrikanische Diaspora in Österreich 17. bis 20. Jahrhundert. Hg. von Walter Sauer. Innsbruck: StudienVerlag 2006. Weiter Obiora C-Ik Ofoedu: Morgengrauen. Ein literarischer Bericht. Wien: Mandelbaum 2000.
280 deshalb in seinem “Prologue” auch zwei Diskursebenen: zum einen die “police accounts of the case” als gleichsam offiziellen und ‘heimischen’ Diskurs auf der einen Seite und einen aus der Sicht der Einwanderer, der den anderen als ein Gemenge aus “pseudo explanations and downrights lies” zu entlarven sucht.16 Grund dafür sind offenbar sinnlose Gewaltakte der Polizei gegen Schwarze, die sich auf keinerlei rechtliche Grundlage berufen können, etwa die Körperverletzungen, die Polizeibeamte dem “low ranking diplomat (Third Secretary) in the Sudanese embassy in Vienna”, Kureng Akuei, zugefügt hatten, nachdem er einem Polizeibeamten nach Aufforderung seinen Diplomatenausweis vorgewiesen hatte und danach auf eine Wachstube gebracht wurde, die er nach eingehender ‘Untersuchung’ mit blutender Unterlippe und geschwollener rechter Schulter wieder verließ. Bemerkenswert ist, dass Onyeji diese Schilderungen der Prosa anvertraut und nicht der Lyrik und damit die Themen seiner Gedichte mit diesem Rückgriff auf eine narrative Form offenbar deutlicher zu konturieren vermag. Die Gedichte variieren das Thema und erweitern es in der Folge um eine Dimension, die aus den formalen und über die Prosa hinausgehenden Möglichkeiten der Lyrik schöpft, und thematisieren den Schnittpunkt von eigener (literarischer) und öffentlicher Wahrnehmung der Immigranten. Das Gedicht “City” beispielsweise verlegt diese kollektive Wahrnehmung der schwarzen Einwanderer als Drogendealer in eine entpersonalisierte und entindividualisierte Stimme der Stadt Wien, die einer Korrektur bedarf (“They’re foreigners , / blacks, Africans, // for the most part / Nigerians! fumes city. // For the most part / Igbo, I add, to specify”), zu einer Berichtigung ihrer Ansichten aber nicht fähig oder willens ist: “Their trade is ruinous to youth, / our future!! cries city. // Youth already prone / already failed by family // long before / they arrived, I suggest. // Told this truths city is bitter”.17 Das Gedicht “Integration” markiert ebenfalls den Widerspruch zwischen öffentlichem Diskurs und innerer Überzeugung und weist letztere als die eigentlich handlungssteuernde Instanz gegenüber den Immigranten aus. It’s a word we use when we want to talk about other cultures but want to hide our inner belief that cultures are graded by Mr. and Mrs. God in hierarchy from top to bottom, ours the very top.18 16
Onyeji: Flowers, Bread, and Gold [wie Anm. 13]. S. 11. Ebd. S. 26f. Hervorhebungen im Original. 18 Ebd. S. 69. 17
281 Onyeji betrachtet das Schicksal (vor allem schwarzer) Einwanderer oder Asylwerber mit solidarischem Blick von innen, von Österreich aus. Die Kompatibilität seiner Sicht mit der Situation der Immigranten und Asylwerber beruht gewiss auch auf seiner Identifikation (bzw. die seines lyrischen Ichs) mit diesen. Der Ich-Erzählinstanz in Vladimir Vertlibs Roman Zwischenstationen (1999) kann eine solche Kompatibilität schon allein deshalb nicht gelingen, weil sie zunächst keinem geographischen Raum zugeordnet werden kann. Die Handlung führt den in Russland geborenen Ich-Erzähler teilweise wiederholt durch Israel, Österreich, Italien, Niederlande und die USA, bis er sich schließlich in Österreich niederlässt. Vergleicht man die Biographie des Autors mit dem Lebensweg seiner Ich-Figur, legt der Roman grundlegende autobiographische Züge nahe. Er erweitert die Dimension der Migration, für die eine derartige Wanderschaft eher die Ausnahme bleibt. Zwischenstationen bietet in diesem Sinn eine Multiperspektive des Ich-Erzählers auf Ansichten, Meinungen, Verhaltensweisen von Menschen unterschiedlicher nationaler Herkunft. Auf einer erzähltechnischen Ebene öffnet sich durch das retrospektive Erzählen und die damit verbundene Teilung der Erzählperspektive in ein erzähltes und ein erzählendes Ich wiederum eine doppelte Perspektive: die Sicht des IchErzählers als Kind und jene als Erwachsener, die freilich aufgrund der unterschiedlichen Erfahrungszustände teilweise divergente Möglichkeiten produziert, seiner Umgebung zu begegnen. Während das Kind den ausländerfeindlichen Tiraden und Bemerkungen seiner Mitbewohner im Wiener Domizil noch indifferent gegenübersteht, gelingt das dem Erwachsenen kaum mehr. Und auch Zugang zur Geschichte Österreichs kann der knapp 6-Jährige noch nicht finden: “An Hitler fällt mir nur das kleine Bärtchen auf ”, konstatiert der IchErzähler als Kind, als ihm die greise Nachbarin ein Bild des “Führers” zeigt, das sie in einer “schwarze[n] Mappe […], die mit einem […] schwarzen Seidenband auf der Seite verschlossen ist”, aufbewahrt.19 Die Aufnahmefähigkeit des Knaben für ideologische Abweichungen hätte immerhin fruchten können, scheitert aber an dessen Desinteresse. Fremd- und Eigenbilder über Zuwanderer und von Zuwanderern existieren aber auch unter diesen selbst: “Die Lehrerin lobt mich oft, daß ich besser bin als diese Türken”. Vater ermahnte mich, ich solle nicht so abschätzig von “diesen Türken” sprechen, sie seien nicht schlechter als ich. Aber ich hatte es gar nicht abschätzig gemeint, denn die türkischen Kinder wurden von allen nur “diese Türken” genannt, und sogar das türkische Mädchen, das neben mir auf der Schulbank saß und sonderbarerweise nicht nur eine Hose, sondern darüber auch noch einen Rock trug, sagte manchmal: “Ich bin eine von diesen Türken”. (58)
19
Vladimir Vertlib: Zwischenstationen. Wien: Deuticke 1999. S. 58. Weitere Seitenangaben im Text.
282 Die Imagebildung thematisiert gesellschaftliche Hierarchisierungen und dient letztlich auch zur Kontrastierung der Ziel- und der Herkunftsgesellschaft, ohne allerdings die Zielgesellschaft immer als die erstrebenswerte Alternative auszuweisen: “In diesem Land [Österreich]”, beschwert sich Mutter, “erwartet man von einer Frau mit Kind, daß sie zu Hause bleibt. Als ob wir uns so was leisten könnten. In Rußland arbeiten fast alle Frauen. Die meisten Ärzte sind Frauen. Hier ist es ja noch fast wie im Mittelalter. Sogar den Familiennamen des Mannes müssen die Frauen annehmen. So ist er eben, dein fortschrittlicher Westen”. (S. 58f.)
Solche typisierenden Image-Bildungen müssen sich nicht notwendigerweise aus konkreten Erfahrungen einer literarischen Figur oder eines realen Autors ableiten, sondern können auch tradierten vorgefassten Meinungen entspringen. Als etwa der Ich-Erzähler mit seiner Familie in die USA kommt, disponieren auch hier großteils übernommene Vorurteile deren Verhalten: “Und nimm den Müll mit!” ruft Mutter. “Ja, und kauf mir im russischen Laden von Birnbaum ein Kilo Schwarzbrot. Geh ja nicht in den Supermarkt, dieses amerikanische Kautschukbrot ist nicht zu essen. Außerdem brauchen wir Butter, zweihundert Gramm Käse und ein Glas Marmelade. Meine Geldbörse liegt in der Handtasche, wie immer. Und, ach ja, vergiß nicht, paß auf da draußen! Wenn du eine Gruppe Farbiger siehst, geh auf die andere Straßenseite”. (S. 185)
Und trotz unterschiedlicher politischer Auffassungen eint die Emigranten in den USA die Meinung, “die USA seien das schönste, demokratischste und reichste Land der Welt” (S. 184). Das nomadische Leben des Ich-Erzählers endet schließlich in Salzburg, wo er sich niederlässt. Die Folge der Unstetigkeit ist der Verlust einer Identität, die zumindest eine oberflächlich religiöse oder geographische Zuordnung ermöglicht: “Es ist schon tragisch”, sagt Rita […], “Russen durftet ihr nicht sein, richtige Juden seid ihr keine mehr, Gojim aber auch nicht”. “Es gibt nur Menschen”, sage ich. “Diese Einteilung in Juden, Gojim, Inländer, Ausländer, Europäer, Nichteuropäer kotzt mich an”. (S. 280)
Onyeji und Vertlib haben in ihrer Biographie und in ihrem Schreiben einen Sprachwechsel vollzogen, freilich mit unterschiedlichen Auswirkungen. Während Onyeji mit seinen englischsprachigen Gedichten über den deutschen Sprachraum hinaus gelesen werden kann, hat Vertlib letztlich statt seiner russischen Muttersprache die Sprache seiner neuen Heimat gewählt (wobei zu fragen wäre, ob die englische Sprache die Rezeption im deutschsprachigen Raum bzw. in Österreich nicht doch eher behindert, noch dazu weil Onyeji eine literarische
283 Gattung verwendet, die sich im Unterschied zu erzählenden Formen auf dem Buchmarkt der Gegenwart kaum durchzusetzen vermag). Meine schriftstellerische Heimat ist der Grenzbereich, die Gleichzeitigkeit und das Nebeneinander. Die Tatsache, dass ich mir meiner Sprache nie sicher sein kann, dass ich Worte und Formulierungen hinterfrage, die andere mit intuitiver Selbstverständlichkeit handhaben, sehe ich als Vorteil an. Er besteht darin, dass es mir leichter fällt, mein Schreiben aus der kritischen Distanz zu betrachten und somit meine Möglichkeiten und Grenzen besser zu erkennen. Ich glaube, dass die Fähigkeit zur Distanz ein Signifikum von Literatur überhaupt ist. Distanzen müssen aufgebaut werden, bevor man eine Wiederannäherung an ein Thema wagen kann. Kein einziges deutsches Wort hat für mich seine Fremdheit zur Gänze verloren. Darin liegt aber auch die Chance, den scheinbar bekannten und dennoch nicht ganz vertrauten Worten eine neue, manchmal überraschende Bedeutung zu geben oder sie in einen ungewohnten Kontext zu stellen.20
Vertlibs Instrument der Darstellung, die Sprache, wächst damit über ihre Abbildfunktion hinaus und differenziert die Referenz von Signifikat und Signifikant im Schreibprozess noch weiter aus. Diese Art der Verfremdung, die bei Vertlib auf auktorialer Basis stattfindet, kann sich auch auf inhaltlicher Basis vollziehen, nämlich dann, wenn kulturelles bzw. historisches Wissen durch einen Zuwanderer erfahren wird, der bis dahin keinen Bezug dazu gehabt hat. Diese Art der Begegnung lässt sich konkret anhand der Überschneidung der nationalsozialistischen Vergangenheit Österreichs mit dem kulturellen Hintergrund eines in Wien lebenden Persers darstellen, wie es Hamid Sadr in seinem Roman Der Gedächtnissekretär getan hat (siehe folgendes Kapitel).
III. Verfremdung – das Thema Nationalsozialismus Der in diesem Beitrag behandelte Zeitraum war vor allem durch einen Diskurs über die Rolle Österreichs im Nationalsozialismus geprägt. Das ‘Gedenkjahr’ 1988, das das 50-jährige ‘Jubiläum’ des Anschlusses Österreichs an HitlerDeutschland markierte, bildet einen Höhepunkt im literarischen Diskurs um die Auseinandersetzung österreichischer Autorinnen und Autoren mit der Vergangenheit des Landes. Ein bis in die Boulevardpresse diskutierter ‘Fall’ war Thomas Bernhards Theaterstück Heldenplatz (1988), das wenige Monate vor dem Tod des Autors im Februar 1989 im Wiener Burgtheater uraufgeführt wurde. Weniger das Stück als vielmehr die öffentliche Diskussion darüber und seine Skandalisierung noch vor der Uraufführung stimulierten das Nachdenken 20
Vladimir Vertlib: Spiegel im fremden Wort. Die Erfindung des Lebens als Literatur. Dresdner Chamisso-Poetikvorlesungen 2006. Mit einem Nachwort von Annette Teufel und Walter Schmitz sowie einer Bibliographie. Dresden: Richter 2007 (WortWechsel 8). S. 59.
284 über den ‘Anschluss’, das aber bereits während des Wahlkampfs von Kurt Waldheim um das Amt des österreichischen Bundespräsidenten im Frühjahr 1986 begonnen hatte. In dieser Zeit wurde Waldheims Mitgliedschaft bei einem Reiterkorps der SA entdeckt, dennoch konnte er die Wahlen für sich entscheiden, was Josef Haslinger darauf zurückführte, dass Waldheim “als Opfer von Diffamierungskampagnen präsentiert wurde” und durch diese “Mobilisierung der Gefühle […] einen zusätzlichen Gewinn von 8% der Wählerstimmen” für sich verbuchen konnte.21 Der Ausgang der Nationalratswahlen vom 3. Oktober 1999, der zu einer Koalition der ÖVP und der FPÖ im Februar 2000 führte, tat das Seine, um das Klima im Aus- und Inland phasenweise prekär werden zu lassen. Österreich sah sich vor allem aufgrund der Regierungsbeteiligung der FPÖ nun auch im Ausland mit Kritik konfrontiert und geriet in eine politische Abseitsstellung.22 Im Roman Der Gedächtnissekretär (2005) des 1946 in Teheran geborenen und seit 1991 in Wien lebenden Hamid Sadr steht die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus sogar im Mittelpunkt. Er erweitert darin ein in der österreichischen Gegenwartsliteratur sehr häufiges Thema – die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit – um die Konfrontation eines Zugewanderten mit dieser Vergangenheit in Österreich. Während der österreichische Blick auf die NS-Vergangenheit notwendigerweise mit einem Bewusstsein um die Verstrickungen des eigenen Lands in die Verbrechen des Nationalsozialismus verknüpft ist und in der Regel also um die psychologische Dimension der Schuld kreist, müsste der Blick von außen nun eine neutralere Sicht auf diese Konstellation erlauben. Der Ich-Erzähler, ein persischer ChemieStudent, hilft dem ehemaligen Nazi-Mitläufer Josef Sohalt rund neun Monate bei der Zusammenstellung eines Bildbandes, der seine “Trauer über manches verstorbene Gebäude dieser Stadt festhalten” soll und es sich zur Aufgabe macht, den Zustand Wiens nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu dokumentieren.23 21
Josef Haslinger: Politik der Gefühle. Ein Essay über Österreich. Darmstadt: Luchterhand. 6. Aufl. 1989. S. 20. 22 Berichte aus Quarantanien nannten deshalb die Herausgeber Isolde Charim und Doron Rabinovici im Untertitel eine Sammlung von Essays, die den politischen und kulturellen Status quo des Landes aus der Sicht der Beiträger reflektierten – und damit einmal mehr und indirekt über die österreichische Identität nachdenken. Unter ihnen finden sich, nebenbei bemerkt, keine zugewanderten Autoren, sondern lediglich solche, die sich in politisch-kulturellen Belangen ohnehin immer zu Wort melden (oder dazu eingeladen werden), sieht man von den im Ausland lebenden Peter Stephan Jungk und Bernard Henry Lévy ab. Vgl. Österreich. Berichte aus Quarantanien. Hg. von Isolde Charim und Doron Rabinovici. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2000. 23 Hamid Sadr: Der Gedächtnissekretär. Wien: Deuticke 2005. S. 18. Weitere Seitenangaben im Text.
285 Er hat den Auftrag, Bilder, die zerstörte Plätze, Häuser, Gassen zeigen, mit den gegenwärtigen zu vergleichen. Das Interesse des Persers Ardi an diesem Projekt ist zunächst rein finanzieller Natur, weil er sich Studium und Miete finanzieren muss. Nach und nach wird er aber von der nationalsozialistischen Vergangenheit geradezu absorbiert, obwohl (oder gerade weil) ihm diese Zeit als Perser fremd sein muss. Seine sprachliche und persönliche Identität gehen nach und nach verloren. Gleichzeitig “wusste ich mehr über die Stadt und den Krieg als jeder andere Fremde hier” (82), auch wenn die historische Rekonstruktion nie vollständig sein kann: “Ich habe mich, wie jeder andere, gefragt, was haben sich die Leute gedacht, was haben sie gefühlt und sich erträumt?” (85). Die Grundlage seiner Erfahrung von Vergangenheit und Gegenwart ist geradezu ein Palimpsest, der die Spuren des Nationalsozialismus genauso in sich trägt wie die Abbilder seiner materiellen Folgen: Sohalt interessiert sich für das Schicksal von Gebäuden, nicht von Menschen, und Ardis Wahrnehmung des urbanen Kosmos stattet auch Dinge und Pflanzen mit menschlichen Empfindungen aus. Die im Lauf der Handlung für Ardi immer prekärer werdende Überblendung von Vergangenheit und Gegenwart wird geradezu sinnbildlich mit einem Heft Sohalts angedeutet, in das dieser seine Kriegserlebnisse niedergeschrieben hat. Die Titelseite, auf der ursprünglich ein Huldigungsgedicht auf Hitler notiert war, überklebte Sohalt mit einem Grillparzer-Zitat. Damit ist auch Sohalts Persönlichkeit deutlich konturiert: ein aktiver Teilnehmer am nationalsozialistischen Regime mit Verleugnungsabsichten, auch wenn sein Ansinnen, das Gewesene zu dokumentieren, dem zu widersprechen scheinen mag. “Mit Hilfe von fünf Oktavheften und mehreren überwiegend losen, meist beidseitig beschriebenen Blättern unterschiedlichen Formats sollte ich herausfinden, wo und wann genau das jeweilige Foto aufgenommen worden war” (15), lautet der Auftrag, der Ardi geradezu traumatische Zustände beschert und seine Psyche derart beeinträchtigt, dass er aus seinem Lebensalltag völlig herausgerissen wird. Er wird delogiert, halluziniert Bilder der Vergangenheit in seine Gegenwart (erzähltechnisch durch den Wechsel vom Imperfekt ins Präsens angedeutet) und landet schließlich in der psychiatrischen Abteilung eines Wiener Krankenhauses. Als er sich auf dem Weg der Besserung meint, beschließt er, Sohalts Bildband fertigzustellen, aber auch solche Fotos aufzunehmen, die sein Auftraggeber ausgespart wissen wollte. Er korrigiert damit das verfälschende, verschweigende Geschichtsbild eines Österreichers, der aktiv an einem politischen System beteiligt war, das den Schaden, den er später aufzeichnen will, herbeigeführt hat. Doch seinem prekären Zustand kann er nicht mehr entkommen und begibt sich in ärztliche Behandlung. Ans Ende seiner Arbeit für Sohalt stellt er ein persisches Gedicht, das er auf Sohalts Esstisch hinterlässt und womit er den vorhin angedeuteten Palimpsest um ein Dokument aus seiner eigenen Erfahrungswelt erweitert – freilich erst am Ende
286 der Geschichte.24 Das Gedicht, das nicht zuletzt die Beziehung zwischen Ardi und Sohalt beschreibt, wird bei seinem Adressaten aber kaum je Wirkung entfalten können, zumal die Wahrscheinlichkeit, dass Sohalt persische Schriftzeichen entziffern kann, sehr gering ist. Das Fazit Ardis muss dennoch lauten, dass ihm die Stadt “abhanden gekommen” (238) sei – die Auslöschung der Gegenwart durch die Vergangenheit. Distanziert ist Ardis Sicht auf Österreichs Vergangenheit also keineswegs – ganz im Gegenteil. Geradezu schwellenlos dringen die Leiden und das Abseitige in sein Bewusstsein und bringen ihn letztlich um den Verstand. Er ist ein Beispiel für eine friktionsvolle Begegnung zweier Dispositionen: einer subjektiven und einer historischen. Mag sein, dass Ardi aufgrund seiner vorgegebenen Persönlichkeitsstruktur so und nicht anders reagieren konnte. Jedenfalls wird aber damit die Geschichte des Nationalsozialismus, vielmehr seiner Ausformungen und Folgen, als einzigartig im negativen Sinn exponiert, denn der Geist eines vormals Unbeteiligten geht bei den Gedanken an die Gräuel daran zugrunde.
IV. Nähe und Distanz Schließlich soll abschließend noch eine weitere These angedeutet werden, nämlich dass Herkunft aus einer und Integration in eine bestimmte soziale Schicht (letztlich auch die Vorstellungen der Einheimischen vom jeweiligen Herkunftsland und ihren Einwohnern) den literarischen Erfahrungsraum mitgestalten und die Wahrnehmung des Zuwanderers mitbestimmen. Der 1964 in Zlín, Südmähren, geborene, seit 1988 in Wien lebende und seit 1999 in deutscher Sprache schreibende Lyriker und Romancier Stanislav Struhar thematisiert sowohl seine dramatische Flucht aus der Tschechoslowakei im Jahr 1988 als auch sein Leben in Österreich in seiner Lyrik wie auch in
24
Ebd. S. 237 und S. 239: “Sagte ich dir nicht: Meide die Orte, wo du verkannt wirst? / In dieser Scheinwelt der Flüchtigkeit bin ich der Garant / deines Lebens, / läufst du vor mir davon, in hundert mal tausend Jahren / schüttelst du mich nicht ab – ich bin deine äußerste Grenze! / Sagte ich nicht: Begnüge dich mit keinem Trugbild der Welt, / ich allein bin der Maler der Bilder, die dich erfüllen! / Sagte ich nicht: Ich bin das Meer, du verwirrter Fisch, meide das Trockene, die Flut, die du brauchst, bin ich! / Sagte ich dir nicht im Schwarm der Vögel: Du fliegst in die Falle! / Komm! Ich bin die Kraft deines Flugs, deine Flügel und Füße! / Sagte ich nicht: Sie rauben dich aus und jagen dich fort in die Kälte! / Ich bin dein Feuer! Ich bin deine Wärme! Ich bin dein Puls! / Sagte ich nicht: Sie stecken dich an mit ihren trüben Gedanken, / damit du mich, den Quell deiner Klarheit, verlierst! / Sagte ich dir nicht: Du sollst nicht fragen, wie handle ich recht, / weil ich bin das Leben, das keine Ausrichtung braucht! / Sind deine Gefühle klar, wirst du das Haus nicht verfehlen, / denkst du geradewegs, findest du mich an der Tür!”.
287 Prosatexten mittels fiktionaler Figuren.25 “Ich bin ein österreichischer Autor, der in der damaligen Tschechoslowakei geboren ist”, sagt Struhar über sich.26 Seine “Gedichttrilogie” Der alte Garten umspannt zwei Leben: jenes in der Tschechoslowakei und jenes nach der Flucht nach Österreich. Während der Autor seine Kindheit mit Bildern aus der ländlichen Natur verbindet, löst er sich in der Beschreibung der späteren Jahre von diesen wieder, weist sein Schreiben als eine Möglichkeit aus, sein Lebensmuster zu bewältigen: “Nein / Ich schreibe nicht nur / Was mir durch den Kopf geht / Sondern mir durch den Körper schwirrt” (22). Wohl auch deswegen widmet er sich totalisierenden Themen und Begriffen wie Tod, Leben, Seele, Welt, kehrt dann aber wieder zu einer Naturmetaphorik zurück, als es darum geht, “Die Stimme der neuen Heimat”, so der Titel eines Gedichts, zu fassen: “Tränen meiner Blume / Meiner Freude / Werden zu Dornen / Die unsere nassen Kelche zerreißen” (38). Das zu Weihnachten 1988 im Flüchtlingsheim Reichenau verfasste Gedicht konstatiert keinen nahtlosen Übergang von der einen Lebenswelt in die andere: “Tag für Tag bemühe ich mich die Stimme / Der neuen Heimat aufzufangen / Drücke mein Herz an das Herz meiner Freude / Und dennoch bleiben mir ihre Worte verschlossen” (39). Vielmehr bleibt die neue Umgebung zunächst noch ein Zwischenreich, in dem das Alte noch nicht verloren, das Neue noch nicht gewonnen ist. In genau dieser Situation findet sich auch der Protagonist des Romans Das Manuskript. “Benjamin Marchera. Mittelgroß und schlank. Hautfarbe Schwarz. Schwarz wie der Teufel, sagt man”, lebt seit seinem vierzehnten Lebensjahr in Wien.27 Kurz nach der Ankunft wird sein Vater, Professor für Geschichte an der Universität in Abidjan, “der damaligen Hauptstadt von Côte d’Ivoire”, vom Wiener Institut für Afrikanistik für ein Jahr eingeladen, auf offener Straße von Skinheads zusammengeschlagen und stirbt darauf an Herzversagen (11). Die Mutter des französischsprachigen Jugendlichen ist die Tochter einer weißen Französin und teilweise europäischen Ursprungs, und nach dem gewaltsamen Tod ihres Mannes hat sie einen neuen Partner gefunden. Marchera ist Schriftsteller, schreibt in französischer Sprache und ist infolgedessen auf Übersetzungen angewiesen, um den literarischen Diskurs seiner neuen Heimat mitgestalten zu können. “Ich bin Österreicher, ein Wiener Autor, der nicht deutsch schreibt. Meine Muttersprache ist Französisch, deshalb bleiben meine Texte in meiner Heimat unbeachtet. […] Mein Herz schlägt hier, und trotzdem gehöre ich weder hierher noch dorthin […]” (153). 25
Bislang sind erschienen: Der alte Garten. Gedichttrilogie. Aus dem Tschechischen von Jan-Peter Abraham. Linz: Resistenz 1999. Das Manuskript. Roman. Aus dem Tschechischen von Andrej Leben. Klagenfurt: Drava 2002. Eine Suche nach Glück. Roman. Klagenfurt: Kitab 2005. 26 Struhar: Der alte Garten [wie Anm 25]. S. 1. Weitere Seitenangaben im Text 27 Struhar: Das Manuskript [wie Anm. 25]. S. 9. Weitere Seitenangaben im Text.
288 Ungleichheiten begegnen ihm sowohl in seiner Rolle als Autor als auch in seinem Privatleben: In der Begegnung mit Einheimischen muss seine Lebensgefährtin feststellen, dass sie “das typische Beispiel kleinkarierter Österreicher [seien], die mich als Ausländer tolerierten, vielleicht sogar mochten, aber nur unter der Voraussetzung, dass es mir schlechter ging als ihnen” (24). Diese Hierarchisierung erfährt Marchera auf einer anderen Ebene von einem deutschen Verleger: In einem Antwortschreiben, in dem dieser ein Romanmanuskript Marcheras abgelehnt hat, wird genau diese Übersetzungsleistung als Grund für die Ablehnung angeführt: “Der Verlagsleiter hatte geltend gemacht, er könne dem Auszug nicht entnehmen, welche sprachlichen Eigenheiten die Folge der Übersetzung seien und welche dem Original entstammten” (14). Der Verleger rät zudem, den Roman zunächst nicht in deutscher Sprache, sondern in französischer Sprache in Afrika zu publizieren. Der Verleger möchte nämlich nur solche Texte veröffentlichen, deren Originalsprache er verstehe, weshalb Marchera darauf hinweist, dass “seit Jahren im Literaturbetrieb Übersetzungen gemacht würden, bei denen sich Verleger und Lektoren auf den Übersetzer verlassen müssten […]” (15). Dieser Hinweis kommt nicht von ungefähr und hat eine größere Tragweite als man zunächst vermuten würde. Er fasst nämlich Translation nicht als ein voraussetzungsloses Produkt auf, sondern als einen Prozess, der auch an nicht messbare Faktoren gebunden ist: Verantwortung des Übersetzers seiner eigenen und der Zielsprache gegenüber, dem Bewusstsein von Bedeutungsverschiebungen im Zug der Übersetzung, dem bewussten, zumeist aber auch unbewussten Transfer kultureller Dispositionen von einer Sprache in die andere usf. Übersetzung als zwischenkulturelle Kommunikationsleistung muss – wie zwischenmenschliche Kommunikation überhaupt – nicht immer gelingen. Insofern kann der Einwand des Verlegers berechtigt sein, genauso relevant ist aber auch Marcheras Einschätzung des Übersetzers als Autorität der kulturellen Vermittlung. Doch Marchera wird erst nach seinem Tod “als heimischer Autor akzeptiert” (172), nachdem sich seine Lebensgefährtin seiner Texte annimmt, sie ins Deutsche übertragen will und sich ein Kleinverlag findet, der sein Werk nach und nach publizieren möchte. Dabei wiederholt sich Marcheras Migration gleichsam spiegelbildlich: Seine Lebensgefährtin geht nach der Geburt ihres gemeinsamen Sohnes nach Abidjan. Als Beispiel für eine großteils lose Verbindung mit dem Zielland Österreich dient die Anthologie vienna:views (2007), die der Literaturverein ViennaLit initiiert hat.28 Was die Beiträger der Anthologie von den meisten in diesem Beitrag genannten Autoren unterscheidet, ist ihr Migrationshintergrund: Ihr 28
Vgl. vienna:views. Hg. von ViennaLit. Wien: Luftschacht 2006. Vgl. die Website des Vereins http: www.viennalit.at. Siehe auch die Website der Gruppe ‘Labyrinth’ http://labyrinthpoetry.com/index2.htm (18. 4. 2008).
289 sozialer und materieller Status in der Ursprungs- als auch in der Zielgesellschaft ist höher als bei Migranten aus (süd-)östlichen Ländern. Dabei waren die Autoren vor die Aufgabe gestellt, solche Texte zu verfassen, “which demonstrated views of Vienna that would somehow throw a new light on the city and challenge what the Viennese were perhaps taking for granted”. Schließlich musste die Herausgeberin feststellen, “that there were certain themes that crept up again and again, such as Nationalsozialismus, unfriendly waiters in cosy coffee houses, dogshit, and interestingly enough, public transport”.29 So neu ist die Sicht auf Wien, seine Bewohner und ihre Eigenschaften also offenbar doch nicht, zumal die genannten Themen zu den gern zitierten Klischees der porträtierten Stadt zählen und gerade auch aus diesem Grund ein geeignetes Vergleichsobjekt zu den bisher dargestellen Texten bieten. Der seit den 1980er Jahren in Wien lebende Jonathan Carroll etwa ist als Verfasser fantastischer Romane international bekannt geworden. Sein Text “A Roof of Clouds” berichtet vom Verschwinden des Daches auf seinem Wohnhaus. Dieses durchaus pragmatische Problem entwickelt Carroll zu einem Bild der dynamischen Veränderung des historischen Stadtbildes, wie er selbst es seit seiner Ankunft in Wien erlebt hat: “The ‘roof’ over the Vienna I once knew has gradually disappeared too and been replaced by an energetic, cosmopolitan city full of new skylines and grand plans for well into the 21st century”.30 Andere Beiträge kreisen um Staatsmacht und Wählerverhalten,31 amerikanische Stereotypen in Österreich,32 Kontraste zwischen Österreich und Australien,33 Klischeebildung34 usw. Diese Themen tauchen auch bei Autorinnen und Autoren auf, die großteils unter anderen Umständen nach Österreich gekommen sind, als Flüchtlinge und Asylwerber nämlich, doch der Unterschied besteht wohl in der differenten sozialen und politischen Rolle: Wer einem Zielkontext in wirtschaftlicher, politischer und persönlicher Hinsicht auf der selben Augenhöhe begegnen kann, selektiert seine Wahrnehmung wenn nicht anders, dann unverfänglicher, weil er sich diesem Zielkontext nur für kurze Zeit ausliefert (etwa als Tourist) oder in diesem Kontext auf keine Weise verankert ist. Beide Varianten begünstigen darüber hinaus einen oberflächlichen Blick, der das betrachtende Subjekt und den Zielkontext kaum zueinander in Beziehung setzt. Sadrs Figuren und Vertlibs Ich-Erzähler hingegen erleben Wien, respektive Österreich, ab einem bestimmten Zeitpunkt ihrer Biographie 29
Julia Novak: Foreword. In: vienna:views [wie Anm. 28]. S. 9–12. Hier: S. 10. Jonathan Carroll: A Roof of Clouds. In: vienna:views [wie Anm. 28]. S. 17–22. Hier: S. 21. 31 Frederick Baker: Stamps Stempel. In: vienna:views [wie Anm. 28]. S. 41–45. 32 Bond Benton: Anti-American Me. In: vienna:views [wie Anm. 28]. S. 55–60. 33 Brian Hatfield: Shadow Wafting into Clouds. In: vienna:views [wie Anm. 28]. S. 75–87. 34 Fanny Vals: The Golden Viennese Heart. In: vienna:views [wie Anm. 28]. S. 89–94. 30
290 als ihren Lebensmittelpunkt und sind damit einem mehr oder minder dynamischen Prozess der Anpassung und/oder Abgrenzung ausgesetzt. Während Sadrs Protagonist an der Auseinandersetzung mit der Geschichte seiner neuen Umgebung scheitert, findet Vertlibs Ich-Erzähler in einer ironischen Wendung Anschluss an das österreichische Klischeeinventar, indem er sich am Bahnhof von Salzburg einen Tirolerhut kauft: “Ich lasse den Koffer kurz stehen, gehe in das Geschäft und kauf mir den erstbesten grünen Hut mit Feder. Hollaraitulijöötuliahiii” (292).
V. Zusammenfassung Die Literatur zugewanderter Autoren reflektiert in besonderer Weise deren Situation als Immigranten und/oder Integrierte. Sie schreiben damit jene österreichische Literatur mit, die sich wachsam mit der politischen Entwicklung des Landes auseinandersetzt, erweitern diese Sicht freilich um einen Aspekt, den ein heimischer Autor nicht in dieser Weise wiedergeben kann. Es ist die Authentizität des (vermeintlich) Fremden/Anderen, der den Diskurs ‘Österreich’ in der Literatur erweitert und ihn stellenweise auch subvertiert: zum einen, weil er dem Konzept des ‘Österreichischen’ seine einseitige Beschränkung auf eine Idee des Nationalen nimmt, zum anderen weil er den Diskurs ‘Österreich’ auf seinen Umgang mit dem vermeintlich Fremden/Anderen hinterfragt und somit sein Verhältnis zum Anderen mit zu fassen hilft. Eine Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis zwischen ‘Nationalliteratur’ und der Literatur von immigrierten Autorinnen und Autoren hat Vladimir Vertlib in seinen Dresdner Chamisso-Poetikvorlesungen 2006 formuliert. Dieses Verhältnis findet seinen Ursprung in der Rolle der Gastarbeiter, die seit den 1960er Jahren in Österreich, Deutschland und der Schweiz angeworben wurden. Obwohl – oder gerade weil – sie sichtbar waren, wurden sie lange Zeit im Selbstverständnis von Gesellschaften, die sich weitestgehend als homogen imaginierten, gleichzeitig übersehen und exponiert, also zum Fremden und anderen [sic] dieser Gesellschaft erklärt.35
Das sichtbar Fremde im eigenen Land ruft Reaktionen hervor, die die Konfrontation von Eigenem und Fremdem, Gewohntem und Ungewohntem, Heimlichem und Unheimlichem36 schon immer hervorgerufen hat, nämlich Idealisierung, Neugier, Irritation, Verachtung, Angst, und gibt schließlich Anlass, “sich seiner eigenen ‘nationalen Identität’ und des vermeintlichen 35
Vladimir Vertlib: Spiegel im fremden Wort [wie Anm. 20]. S. 35. Zum Begriff des ‘Unheimlichen’ vgl. Sigmund Freud: Das Unheimliche. In: Ders.: Psychologische Schriften. (Studienausgabe Bd. 4) Frankfurt/M.: S. Fischer 1970. S. 243–274.
36
291 Wertes derselben noch einmal versichern zu können”.37 Davon ausgehend formulierte Vertlib drei Thesen: 1. Literatur von Zuwanderern sei keine ‘Bereicherung’ der Literatur eines Landes; 2. Da es keine ‘reinen’ Nationalstaaten mehr gebe, gebe es auch keine Nationalliteraturen mehr; 3. Für den Leser sei es gleichgültig, ob ein Text einen autobiographischen Hintergrund habe oder nicht. Die dritte These bezieht sich auf Vertlibs Roman Zwischenstationen und die Schnittfläche von Autobiographie und Fiktion, die dieser Roman herausfordert, so dass sie für die weitere Argumentation beiseite gelassen werden kann. Wesentlicher scheinen die beiden ersten Thesen deshalb zu sein, weil sie die Integration des Anderen ins Eigene fassen, etwa jene von political correctness getragene Auffassung, Literatur von Migranten ergänze im positiven Sinn die Literatur eines Landes. Die damit dennoch betonte Abgrenzung zwischen den beiden Literaturen löst Vertlib geradezu auf: “Durch die Literatur von Zuwanderern wird […] Normalität hergestellt und keine Bereicherung erzeugt”.38 Diese Auffassung verweist nicht nur auf die globale Dynamik der Migration als einen prägenden Faktor von Gesellschaften, sondern führt direkt zu seiner zweiten These weiter: Die Literatur von Zuwanderern ist in vielen Fällen zeitgemäßer und dadurch “moderner” als die so genannte Nationalliteratur, weil sie Mehrfachidentitäten, gegenseitige Beeinflussung und permanente Veränderung direkt oder indirekt zum Thema hat oder zumindest implizit zu vermitteln vermag.39
Damit rückt Vertlib die erwähnte Verortung des schreibenden Subjekts in den Mittelpunkt. Während ein ‘einheimischer’ Autor in seinem Text stets seine Perspektive wahrt, also für den Leser immer als österreichischer Autor aufgrund gemeinsamer kultureller Sozialisation erkennbar bleibt, auch wenn “die Handlung zum Beispiel in einem fremden Land spielt”,40 so erzeuge die Literatur von Zuwanderern Uneindeutigkeit, und zwar nicht nur, weil die Perspektive des Autors und der Schwerpunkt seiner Interessen andere sein können als die eines Einheimischen, sondern weil der emotionelle Hintergrund, der seinem Text zugrunde liegt – die Wahrnehmung und Interpretation der Welt – auf einen kulturellen Zwischenbereich verweist.41
Genau diese Uneindeutigkeit lässt etwa Ardi in Sadrs Gedächtnissekretär die effektvolle Wiederbelebung der österreichischen Geschichte im 37
Vertlib: Spiegel im fremden Wort [wie Anm. 20]. S. 36. Ebd. 39 Ebd. S. 37f. 40 Ebd. S. 38. 41 Ebd. S. 39. 38
292 Nationalsozialismus als eine verfremdende Wahrnehmung erleben. Diese Verschiebung der Perspektive konturiert den Blick auf die Geschichte deshalb neu oder zumindest anders, weil die Verfremdung Sachverhalte aus ihrer Selbstverständlichkeit rücken und damit neu in Frage stellen kann. Auch in Struhars Manuskript wird die geographische Gebundenheit der Figuren aufgelöst, indem die Frau des Protagonisten in die Heimat ihres verstorbenen Mannes geht, ihr gemeinsames Kind dort aufwachsen lässt und den Weg der Migration fortsetzt. Schließlich ist nahezu allen Texten zugewanderter Autorinnen und Autoren gemeinsam, dass sie dem habsburgischen Mythos behände entkommen zu sein scheinen, zumal sich diesen ihre Wanderschaft und die daraus entstehenden existentiellen Folgen als Thema offensichtlich geradezu aufdrängen. Das biedermeierliche 19. Jahrhundert und Adalbert Stifter müssen in diesem Fall auf ihre Patenschaft verzichten.
V. Deutsch-jüdische Literatur im europäischen Raum
Hans-Joachim Hahn
‘Europa’ als neuer ‘jüdischer Raum’? – Diana Pintos Thesen und Vladimir Vertlibs Romane %&&& " # $ "
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Im Jahr 1999 erschienen in etwa zeitgleich Diana Pintos Thesen zu Europa als einem “neuen jüdischen Raum” und der zweite Roman eines jungen Autors, dessen Eltern mit ihm 1971 Leningrad verlassen hatten, um nach etlichen “Zwischenstationen” (so der Titel des Romans) in einigen europäischen Ländern wie Österreich, Italien und den Niederlanden sowie in Israel und den Vereinigten Staaten sich schließlich dauerhaft in Österreich niederzulassen. Diese Konstellation zwischen einem kulturpolitischen Essay, der vor dem Hintergrund der Veränderungen nach 1989 die Wiederkehr eines “jüdischen Europa” proklamiert, mit einem Autobiographie-nahen Roman, der eine jüdische Emigrationsgeschichte erzählt, welche vor allem die zwei vorausliegenden Jahrzehnte in den Blick nimmt, wirft Fragen auf, weil hier ‘jüdische Erfahrung’ in den Kontext des aktuellen europäischen Einigungsprozesses eingebracht wird. Insbesondere Dan Diner hat in den letzten Jahren auf die besondere Affinität jüdischer Lebenswelten zum ‘Europäischen’ hingewiesen, was er an deren transterritorialer, multilingualer und nicht zuletzt transnationaler Verfasstheit in der Vormoderne festmacht.1 Roman und Essay hingegen handeln von einer gegenwärtigen ‘jüdischen Erfahrung’ in, mit und für ‘Europa’, wobei als zentrale Metapher die Rede vom ‘Raum’ erscheint. Letzteres verbindet die hier zu untersuchenden Texte mit einer herausgehobenen Theoriediskussion, der Debatte um einen spatial turn. In den letzten etwa vier Jahrzehnten wurden regelmäßig neue Paradigmen ausgerufen, unter denen sich das Feld der Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften 1
Vgl. u.a. Dan Diner: Imperiale Residuen: Zur paradigmatischen Bedeutung transterritorialer jüdischer Erfahrung für eine gesamteuropäische Geschichte. In: Figuren des Europäischen. Kulturgeschichtliche Perspektiven. Hg. von Daniel Weidner. München: Wilhelm Fink 2006. S. 259–274.
296 neu ordnen ließ. So folgten dem linguistic turn der 1960er Jahre eine Vielzahl weiterer ‘Wenden’; ein bis heute andauernder cultural turn wurde ebenso ausgerufen wie ein pictorial turn oder ein postcolonial turn. Doris BachmannMedick gibt in ihrer Studie Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften (2006) einen nützlichen Überblick über sieben dieser proklamierten Paradigmenwechsel, wobei sie auch dem spatial turn ein eigenes Kapitel widmet.2 Sie geht davon aus, dass seit Mitte der 1980er Jahre im Anschluss an die internationale Forschung in den Kultur- und Sozialwissenschaften von einer “Renaissance des Raumbegriffs” gesprochen werden könne.3 Von der aktuellen Raumperspektive im theoretischen Diskurs sieht Bachmann-Medick einen neuen Zugang zu Materialität, Handeln und Veränderung eröffnet und die “jahrhundertelange Unterordnung des Raums unter die Zeit” beendet.4 Diese These ist sicherlich streitbar. Angesichts z.B. des Raumdenkens europäischer Geopolitik im 19. Jahrhundert oder auch im Hinblick auf das nationalsozialistische Paradigma vom ‘Volk ohne Raum’ scheint eine durchgängig geltende Unterordnung der Kategorie ‘Raum’ unter die Kategorie ‘Zeit’ seit der Aufklärung bis zu dem in den 1980er Jahren beginnenden spatial turn im ‘westlichen Denken’ kaum plausibel. Aufgreifen lässt sich aber die Einsicht des spatial turn in die soziale Konstruiertheit von ‘Raum’ und die Frage nach deren Bedeutung für die Analyse von literarischen Texten. Aussagen in Texten konstituieren sich unter anderem über Metaphern des Raums und deren Analyse gehört zu den Aufgaben der Literaturwissenschaft. Wenn der spatial turn im postkolonialen Ausloten vor allem marginaler Räume seinen Ausgang genommen hat und primär darauf abzielt, die als “eurozentrisch” bezeichnete binäre “Kartierung” der Welt in Zentrum und Peripherie zu hinterfragen, so stellt sich bezogen auf ein ‘jüdisches Europa’ noch einmal in besonderer Weise die Frage nach dessen Ort.5 Dieser Aufsatz widmet sich der Analyse einer auffälligen Verwendung von Raummetaphorik in Texten, in denen der topographisch-politische Begriff ‘Europa’ im Zusammenhang mit einer Diskussion und Darstellung jüdischer Zugehörigkeit erscheint. Welche Aufschlüsse ergeben sich, wenn die (selbst)reflexive Raumperspektive der Kulturwissenschaften infolge des spatial turn sowohl auf einen politischen Europaessay einer Historikerin als auch auf das Romanwerk eines österreichischen Autors bezogen wird, worin zum einen ‘Europa’ als “neuer jüdischer Raum” politisch postuliert und zum anderen aus der Perspektive der Gegenwart literarisch gestaltet wird, wie sich 2
Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns. Neuorientierungen Kulturwissenschaften. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. 2. Aufl. 2007. 3 Ebd. S. 286. 4 Ebd. S. 284–285. 5 Ebd. S. 290.
in
den
297 Juden in Europa während der Zeit vor dem Ende seiner bipolaren Teilung und kurz danach bewegen? Kein Fortschreiben oder Entwerfen neuer Raummetaphern ist also beabsichtigt, sondern deren Analyse in konkreten Texten.6 Zwei kursorische Bemerkungen seien noch vorangestellt, um die Fragestellung in historischer und begrifflicher Hinsicht zuzuspitzen. Erstens: Das geographische ‘Europa’ war für etwa ein Jahrtausend numerisch und kulturell der wichtigste Ort jüdischen Lebens. Hier gab es zu unterschiedlichen Zeiten bedeutende Zentren jüdischer Kultur. Während im Mittelalter im Deutschen Reich vor allem in der Rheinregion bedeutende jüdische Gemeinden existierten, die im Zuge der Kreuzzüge zum Teil zerstört wurden, stellte die polnisch-litauische Doppelmonarchie im 16.–18. Jahrhundert den wichtigsten Ansiedlungsraum dar. Nach der Vertreibung der Juden von der iberischen Halbinsel 1492 wurden die jüdischen Gemeinden in Antwerpen und Amsterdam bedeutsam. Vereinfacht gesprochen lässt sich die Geschichte der Juden in Europa bis zur Aufklärung als eine Geschichte der Koexistenz, der Verfolgung und partiellen Autonomie darstellen. Mit der durch die Französische Revolution eröffneten Teilhabe am politisch-gesellschaftlichen Leben in den sich vor allem im 19. Jahrhundert ausbildenden Nationalstaaten, dem sog. Zeitalter der Emanzipation, begann paradoxerweise eine moderne Verfolgungsgeschichte, die mit dem Genozid an den Juden Europas durch das nationalsozialistische Deutschland einen vorläufigen Abschluss fand. Wenn ‘Europa’ heute als “neuer jüdischer Ort” – a new Jewish Space – ausgerufen wird, kann das nur auf dem Hintergrund einer Kenntnis und Reflexion dieser vorausgegangenen Geschichte geschehen. Zweitens: Jüdische Literatur ist per se mehrsprachig und transzendiert dadurch den von Staatsgrenzen und festgelegten Territorien umgrenzten Raum der Nationalliteraturen. In der Moderne, als sich im Zuge der allgemeinen und der jüdischen Aufklärung, der Haskala, die Möglichkeit zur bürgerlichen Gleichstellung der Juden eröffnete, verließ jüdische Literatur zusammen mit ihren AutorInnen den ausschließlich religiösen Rahmen und damit ihre 6
Thomas Anz hat kürzlich in einem Aufsatz in der literaturwissenschaftlichen OnlinePlattform literaturkritik.de auf die besondere Bedeutung metaphorischer Verwendungen des Raumbegriffs für das literaturwissenschaftliche Erkenntnisinteresse hingewiesen. Diese verwiesen auf Ähnlichkeiten zwischen literarischen und wissenschaftlichen Texten und kämen darüber hinaus auch dem Anspruch entgegen, die disziplinären Kompetenzen in der Textanalyse auf weitere Gegenstandsbereiche auszuweiten. Sein Credo besteht denn auch zu Recht darin, der Literaturwissenschaft anzuempfehlen, sich nicht “blindlings” an der Produktion von Raummetaphern zu beteiligen, sondern diese zu analysieren. Vgl. Thomas Anz: Raum als Metapher. Anmerkungen zum topographical turn in den Kulturwissenschaften. In: literaturkritik.de. Nr. 2 (Februar 2008) Schwerpunkt: Raum. (22. 6. 2008).
298 sprachliche Fixierung primär auf Hebräisch, Aramäisch, Judeo-Spanisch und Jiddisch. War also bereits die vor allem sakrale Textproduktion von Juden mehrsprachig, so vervielfältigt sich diese Mehrsprachigkeit noch mit dem Eintritt in die Moderne. Im Zuge der Säkularisierung entstand jüdische Literatur in verschiedenen europäischen Sprachen. Zum Teil wurden diese Texte in die jeweiligen Nationalliteraturen eingegliedert, wo nicht völkischnationale Literaturgeschichtsschreibungen auf antisemitischer Grundlage eine solche Zuordnung verneinten und das Kriterium der Abstammung zum Maßstab von Literatur werden ließen. Diese sich seit etwa 1800 herausbildende Literatur in mehreren europäischen Sprachen, Jiddisch, Judeo-Spanisch und Hebräisch eingerechnet, bildet das Korpus der europäisch-jüdischen Literatur. Allerdings besteht keinerlei Einigkeit darüber, was unter ‘jüdischer Literatur’ zu verstehen sei. Hana Wirth-Nesher verweist in ihrem Aufsatz “Defining the Indefinable: What Is Jewish Literature?” (1994) darauf, dass “there is no consensus nor is it likely that there ever will be one about defining the subject under study”.7 Jede Zuordnung eines Textes zur jüdischen Literatur impliziert immer eine Perspektivierung; so können die beiden Romane von Vladimir Vertlib selbstverständlich auch unter einer Reihe anderer Kriterien gelesen werden, etwa als ‘Literatur aus Österreich’ oder als ‘Migrantenliteratur’. Statt ihrerseits eine inhaltliche Bestimmung in die Debatte einzutragen, verweist Hana Wirth-Nesher auf das grundlegende hermeneutische Problem, dass wir immer nur innerhalb von Erwartungshorizonten lesen (und verstehen), die uns von bekannten Kategorien diktiert werden. Auch wenn letztere instabil und problematisch sein mögen, so formen sie doch einen inhärenten Teil des Leseprozesses.8 Bezogen auf die Kategorie ‘Raum’ muss hinzugefügt werden, dass auch von ihr Erwartungen evoziert werden, zum Beispiel vor dem Hintergrund, dass jüdische Traditionen in der Diaspora durch den Gegensatz von ‘Schrift’ und ‘Raum’ gekennzeichnet erscheinen. Dem traditionellen Judentum eignete die “grundlegende Tendenz […] zu einer Enträumlichung seiner Geschichte”.9 Wird ‘Raum’ im Sinne von ‘Territorium’ verstanden, so lässt sich für die transterritorialen und transnationalen jüdischen Lebenswelten in Europa vor dem Holocaust ein sich verschärfender Widerspruch zu den auf die Deckung von Territorium, Sprache und (homogener) Bevölkerung hin konstruierten Nationalstaaten benennen. ‘Europa’ dagegen lässt sich nicht auf eine 7
Hana Wirth-Nesher: Defining the Indefinable: What is Jewish Literature? In: What is Jewish Literature? Hg. von Hana Wirth-Nesher. Philadelphia – Jerusalem: Jewish Publication Society 1994. S. 3–12. Hier: S. 3. 8 Vgl. ebd. S. 5: “The point is, we simply cannot read outside a framework of expectations dictated by familiar categories. While the categories themselves may be unstable and problematic, they are an inherent part of the reading process”. 9 Bernd Witte: Jüdische Tradition und literarische Moderne. Heine, Buber, Kafka, Benjamin. München – Wien: Carl Hanser 2007. S. 101.
299 territoriale Bestimmung reduzieren, ebenso wenig wie ‘jüdische Literatur’ auf den Gegenstand einer ‘Nationalliteratur’ beschränkt werden kann.
I. Die Thesen Diana Pintos Diana Pinto eröffnet ihren Essay “Europa – ein neuer ‘jüdischer Ort’” mit einer These, die getrost als eine Art Aufbruchspathos beschrieben werden kann: “Niemals zuvor in Europas jahrtausendealter Geschichte haben Juden auf diesem Kontinent in derart individueller und kollektiver Freiheit gelebt wie heute”.10 Die Reflexion über ein neues jüdisches Europa verbindet Pinto dabei mit einem zukunftsorientierten Konzept, das auf europäischem und jüdischem Erbe basiere und eine erneuerte religiöse Vitalität, ein diversifiziertes jüdisches Gemeindeleben einschließe, und diese Komponenten durch den demokratischen Pluralismus des europäischen Kontinents formen und fördern lasse. Auf der Ebene der kollektiven Existenz seien in der Vergangenheit – und sie bezieht diese These primär auf die Nachkriegsjuden – zwei Herausforderungen identitätsbestimmend gewesen, nämlich die Bekämpfung des Antisemitismus und die Unterstützung des Staates Israel. Beide Themen sind ebenfalls kurrent in den Romanen von Vladimir Vertlib, auf die weiter unten eingegangen wird. Die aus Sicht von Pinto nun um das Millenium herum durchweg positiven europäischen Aussichten bedeuteten für diese Generation aber eher Desorientierung oder gar Entmutigung. Erforderlich sei daher, dass “diejenigen Juden, die sich für ‘Europa’ entschieden haben oder sich hier permanent aufhalten, ihr eigenes Gefühl der Zugehörigkeit und einer vielfältigen und kreativen Existenz innerhalb eines pluralistischen Europas sicherstellen” (16). Gerade in einer Gestaltung dieser Zugehörigkeiten könnten Juden auch einen positiven Beitrag für die jüdische Welt insgesamt und den Fortbestand des Staates Israel leisten. Sie erinnert daran, dass im Zentrum jüdischer Existenz in der Diaspora seit jeher Werte standen, die den aktuellen und viel beschworenen ‘europäischen’ Werten des demokratischen Pluralismus, der Menschenrechte, der Toleranz und des gegenseitigen Respekts entsprechen. Damit stellt sie sich in eine Tradition, die weniger an der jüdischen Religion als an deren säkularisierter humanistischer Deutung interessiert ist. Pintos euphorischem Plädoyer für eine Fortsetzung und Neubegründung jüdischer Diaspora-Existenz in Europa steht als gewichtiger Einwand die Erfahrung insbesondere des Holocaust entgegen. So könnte die pointierte Vorstellung eines ‘neuen jüdischen Europa’ aus Sicht vieler Juden in den Vereinigten Staaten und in Israel dem Verdikt der Ketzerei anheim fallen, würde 10
Diana Pinto: Europa – ein neuer ‘jüdischer Ort’. In: Menora. Jahrbuch für deutschjüdische Geschichte. Hg. von Karl E. Grözinger, Gert Mattenklott und Julius H. Schoeps. Berlin – Bodenheim: Philo 1999. S. 15–36. Hier: S. 15. Weitere Seitenangaben im Text.
300 nicht Pinto dieser Besorgnis zuvorkommen und sie in ihre Argumentation integrieren. Sie greift eine Sichtweise auf, in der Auschwitz gleichgesetzt wird mit dem endgültigen Endpunkt jüdischen Lebens in Europa; in dieser Perspektive habe Europa die historische Rolle Spaniens eingenommen, aus dem 1492 alle Juden vertrieben wurden, wofern sie sich nicht durch die Taufe der Verfolgung entziehen konnten. Weitere Einwände beziehen sich darauf, dass die Rede von einem neuen jüdischen Europa sich gegenüber den Lehren der Geschichte als unverständig erwiese und obendrein die zentrale Bedeutung Israels für die Juden auf der Welt ignoriert werde. Diesen Zweifeln fügt Pinto noch die Sichtweise von “Skeptikern” an, die auf die Uneindeutigkeit der Begriffe ‘Europa’ und ‘Europäer’ verwiesen, ebenso, wie sie das historische ‘Europa’ als Chiffre für griechische, römische und christliche Wurzeln interpretierten. Alle diese Einwände müssten genauso in Betracht gezogen werden, wie die unveränderte Macht eines populistischen Nationalismus. Demgegenüber erinnert Pinto allerdings auch daran, dass die europäischen Nationen und ihre intellektuellen Eliten – mit wenigen Ausnahmen in den Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien vielleicht – nicht mehr zu den Multiplikatoren solcherart “vergifteter ‘Werte’” zählen (17). Und hier setzt Pintos Argumentation im engeren Sinne an. Jüdische Erneuerung im Europa der Gegenwart wird ihr nachgerade zur Voraussetzung und zum Garanten für ein Gelingen des europäischen Einigungsprozesses: Europa und ‘seine’ Juden werden gemeinsam oder gar nicht wiedererstehen, aber während dieser Zeit werden Juden nicht lediglich einen traditionell passiven ‘Lackmus-Test’ für ein offenes und tolerantes Europa abgeben, sondern ebenso aufgerufen sein, eine der prinzipiellen Antriebskräfte darzustellen. Jüdisches Leben wird nicht allein in Europa weitergeführt werden, jedoch hier eine neue, zentrale Rolle einnehmen. (17–18)
Das bedeutet, Pinto verbindet eine partikulare Entwicklung mit den universaleren Veränderungen in Europa nach 1989 und stellt diese in ein wechselseitiges Abhängigkeitsverhältnis. Mit anderen Worten, ohne ein neues jüdisches Leben auf dem europäischen Kontinent sei eine Zukunft Europas ebenso wenig denkbar, wie ersteres sich nicht unabhängig von den politischen Einigungsprozessen entwickeln könne. Zugespitzt heißt das: Die jüdische Erneuerung, von der sie schreibt, soll sich darin nicht nur als genuin europäisch, sondern auch als paradigmatisch für die Zukunft des Kontinents sowie als existentiell für die Juden in Israel und in anderen Teilen der Welt erweisen. In diesem Entwurf steht also eine Menge auf dem Spiel. Primär sind es vier historische Weichenstellungen, vor deren Hintergrund Pinto Europa als neuen jüdischen Ort entwirft: 1. Der Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989, der den Abschluss der Nachkriegsära zusammen mit dem Entstehen eines neuen, nicht mehr durch
301 ideologische Spaltungen zerrissenen, freien und geeinten Europas bedeutete, wird von ihr auch als Signal für den Beginn eines neuen jüdischen Europas verstanden. Statt eines Massenaufbruchs der in Osteuropa und insbesondere in den Ländern der früheren Sowjetunion “gefangenen Juden” nach Israel blieb eine nicht unbedeutende Anzahl von Juden in den mittel- und osteuropäischen Ländern, wo sie “ihren deutlichen Willen zur Wiederaufnahme eines aktiven jüdischen Lebens” demonstrierte (18). Diese Gruppe von Juden, die sie die “freiwilligen Juden” nennt, interagiert auf vielfältige Weise mit den Juden Westeuropas, die sie wiederum als “Produkt einer beispiellosen Nach-Holocaust-Mischung aus verschiedenen ethnischen und jüdischen Epochen” darstellt (18). Mit besonderem Augenmerk auf die große Anzahl ehemals sowjetischer Juden, die sich inzwischen im wiedervereinigten Deutschland niedergelassen haben, bekräftigt sie die besondere kulturelle sowie historische Dimension dieses vor unseren Augen entstehenden jüdischen Europas. Dabei nähmen der, wie sie schreibt, “traditionell militante Zionismus” gleichermaßen ab “wie der Antizionismus” oder revolutionäre kommunistische Identitäten, die allesamt das Post-Holocaust-Judentum in Europa bestimmt hätten (19). 2. Die Anerkennung des Staates Israel durch den Vatikan, die am 30. Dezember 1993 erfolgte, stellt für Pinto den (vorläufigen) Höhepunkt eines langen Weges der Aussöhnung dar, den beide großen christlichen Kirchen gegenüber dem Judentum vollzogen. Von vielen Juden sei diese “fast schon Kopernikanische Wende” bislang jedoch übersehen worden, die einer derartig veränderten christlichen Haltung gegenüber dem Judentum innewohne. Als besonderes Verdienst streicht Pinto dabei heraus, dass das Christentum von der unseligen Tradition als Wegbereiter und prägender Faktor in der Geschichte des europäischen Antisemitismus nicht nur Abstand genommen habe, sondern inzwischen auch die negative Rolle, die kirchlichen Instanzen bei der Ausbreitung des Holocaust zukam, anerkenne. Insgesamt betrachteten die christlichen Kirchen Juden zunehmend als “älteren Bruder” und das Judentum selbst als ein Bekenntnis mit einer universellen Botschaft (20). 3. Die Präzedenzlosigkeit des Holocaust habe “Europas Selbstbewusstsein” durchdrungen und sei so zum “Filter einer neumodellierten Lesart europäischer Identitäten geworden” (20). Indem der Holocaust inzwischen Bestandteil jeder europäischen Identität geworden sei, würden auch jüdische Erfahrungen und Erinnerungen zum konstitutiven Element einer sich entwickelnden, auf Erinnerungskultur gegründeten Identität Europas. In diesem Zusammenhang erläutert Pinto auch ihr Verständnis der Metapher vom “jüdischen Raum” bzw. “Ort” (Jewish Space). Sie unterstreicht, dass es sich um einen ständig in Ausdehnung begriffenen Raum handle, da er nicht ausschließlich von Juden bewohnt werde, sondern alle Gruppen mit
302 einbeziehe. Es geht also ganz im Sinne des spatial turn um einen ‘Raum’ kultureller und sozialer Interaktionen. Ihre Verwendung des Begriffs kann daher als relational verstanden werden. Dabei argumentiert sie durchaus historisch, wenn sie das Exemplarische jüdischer Geschichte und Erfahrungen gerade in dem Wechselverhältnis zu anderen Geschichten und Erfahrungen ausmacht. Ein solches Verständnis von jüdischer Geschichte erscheint allerdings insofern als reduktionistisch, als es sich kaum auf die – mindestens historisch – zentrale Rolle des Glaubens für die Ausbildung von jüdischer Zugehörigkeit interessiert. Ihr Nachdruck liegt dagegen auf einer Veränderung, die sie beobachtet: So sei eigentlich neu vor allem die Integration des Holocaust und weiterer jüdischer Komponenten in die verschiedenen Nationalgeschichten. Allerdings bliebe ein solcher ‘Raum’ oder ‘Ort’, der sich ausschließlich auf diverse Holocaust-Erinnerungskulturen bezöge, museal. Erst ein lebendiges Judentum könne diesen Raum in einen Ort gegenseitiger Anregung und Symbiose verwandeln. 4. Die Transformation Israels zu einem eigenständigen internationalen Akteur decke sich mit Europas heutigem Engagement für demokratischen Pluralismus und Menschrechte gegen alle Arten von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. So werde als ein Resultat von Israels eigener zunehmender Internationalität jüdisches Leben in Europa nicht mehr länger durch den jüdischen Staat definiert, sondern könne eigenen Prioritätssetzungen folgen und sich eigenständig entwickeln (23). Es könne sogar einmal dazu kommen, mutmaßt Pinto, dass das europäische DiasporaJudentum zu einem Brückenpfeiler für die israelische Demokratie werde. In Pintos Utopie sollte jüdisches Leben offene internationale Kreuzungspunkte bilden, auf denen Juden jedweder nationaler Zugehörigkeit oder Region frei interagieren können, gleich, ob in Europa, Israel oder den USA. Stimmt man mit den von Pinto skizzierten vier historischen Weichenstellungen als Voraussetzung einer existentiell bedeutsamen Perspektive überein, so lässt sich daraus eine Reihe von Verantwortlichkeiten ableiten, die sie primär in einer Sprache der Versöhnung beschreibt. Der jüdische Beitrag zur Pflege einer toleranten, pluralistischen und demokratischen europäischen Identität bestünde demnach im “raumfüllenden Planen von weitgesteckten Schlussfolgerungen über positive Erschließungsgebiete jüdischer Nachkriegserfahrung in Europa”, wie es etwas formelhaft bei ihr heißt (24). Gerade weil die Juden Europas die einzigen seien, die auf einem Kontinent lebten, der ein genozidales Verbrechen an ihnen als einem Kollektiv hervorgebracht hat, sei ihnen ein besonderes Verständnis für die Komplexität der europäischen Situation eigen und sie würden sich als Bestandteil eines “lebenden europäischen Kaleidoskops” verstehen (25). Es sind im Kern die veränderten, in den meisten europäischen Ländern in
303 irgendeiner Form auf den Holocaust rekurrierenden Erinnerungskulturen, die Pinto positiv bewertet und worin sie europäische Zukunftsfähigkeit verortet. Dass dies in der Tat eine außergewöhnliche, auch und spezifisch mentale Leistung der EuropäerInnen darstellt, daran lässt sie keinen Zweifel: “Denn erstmals seit tausend Jahren sind die nichtjüdischen Europäer bereit und mental in der Lage, ihre christliche Identität zu relativieren und jüdische Weisheit und Lehre in gleicher Wertigkeit zu rezipieren” (27). Gerade im Bezug auf das Wahrnehmen und Reflektieren religiöser Differenz – die nicht beschränkt bleibt auf den von Pinto vorrangig diskutierten christlich-jüdischen Antagonismus, sondern sich auch auf andere Religionen in Europa bezieht – kommt europäischen auch im Gegensatz zu US-amerikanischen Juden eine besondere Position zu. Europa ist heute für Pinto sogar der einzige Ort innerhalb der jüdischen Welt – also im Unterschied zu Israel und den USA –, wo ein interreligiöser Dialog, bereichert durch “kreative Spannungen”, über historisch und kulturell bedeutsame religiöse Identitäten überhaupt und obendrein im Kontext von “Versöhnung” stattfinden kann (27–28). Bemerkenswert an Pintos Entwurf eines jüdischen Europa scheint mir die Verbindung des europäischen Projektes von der Nachkriegszeit an bis heute mit Fragen jüdischer Zugehörigkeit und Tradition. Sie hebt hervor, dass es sich um einen historisch einmaligen Prozess handelt, der zu der von ihr geschilderten Situation geführt habe. Während sie für die Juden Frankreichs, Englands und Italiens pauschal behauptet, sie hätten früher auf Vereinigungsbestrebungen in Europa eher skeptisch reagiert und ihr Selbstverständnis als Europäer keinesfalls mit ihrer jüdischen Identität verbunden, so diagnostiziert sie für heute und für alle Juden in Europa, der Tendenz nach jedenfalls, eine eindeutige Verbindung von Judentum mit Europäizität: “Heute ist […] die europäische Dimension, ihr geistiger, kultureller und politischer Rahmen dazu bestimmt, ein zunehmend wichtiger Aspekt auch des jüdischen Lebens zu werden” (28). Zusammenfassend gehört die Annahme einer innerjüdischen “Versöhnung mit Europa” mit der Feststellung von insgesamt besonders vorteilhaften Bedingungen für eine “jüdische Renaissance” in Europa, die historisch präzedenzlos sind, zu den faszinierendsten und am meisten herausfordernden Aspekten des Essays (28 und 33). Pinto mag an einigen Stellen zu sehr auf kollektivierende Vorstellungen zurückgreifen. Auch erscheint ihre Skizze eines ‘jüdischen’ Europa der Gegenwart im Hinblick auf das gesamte geographische Europa inklusive der westlichen Teile Russlands, heute vielleicht etwas zu optimistisch. Was aber diesen Aufsatz noch immer lesenswert macht, ist die darin enthaltene Diskussionsgrundlage für den sicher streitbaren Versuch einer ‘kollektiven’, gleichwohl pluralen Standortbestimmung zum Verhältnis von Juden zu ‘Europa’ und den nichtjüdischen Mehrheitsbevölkerungen in den Staaten Europas. Pinto diagnostiziert einen fundamentalen Bewusstseinswandel, der
304 innerhalb der europäischen jüdischen communities ebenso stattgefunden habe wie auf der Ebene der die europäische Integration gestaltenden gesellschaftspolitischen Eliten in Europa, und der dieses Verhältnis neu bestimmt. In einer ‘europäisch-jüdischen’ Literatur, so lässt sich vermuten, könnte diese Veränderung registriert, in Narrativen durchgespielt, reflektiert und letztlich von ihr auch mit entworfen werden. Nicht zuletzt wäre eine Literatur in verschiedenen europäischen Sprachen, die sich mit jüdischen Themen beschäftigt und von jüdischen AutorInnen verfasst wird, Ausdruck der von Pinto beschworenen künftigen “jüdische[n] Renaissance” (33). Im Gegensatz zu der um die vorletzte Jahrhundertwende von Martin Buber ausgerufenen “jüdischen Renaissance”, die sich vom politischen Zionismus ebenso abgrenzte wie von der Assimilation, knüpft Pintos Entwurf allerdings nicht mehr an die Vorstellung eines idealisierten “Ostjudentums” an, das als Projektionsfläche für eine jüdische Wiedergeburt aus dem Geiste der Romantik und Nietzsches ausgerufen wurde.11 Im Zentrum steht vielmehr die liberale Idee pluralistischer Gemeinwesen mit Mehrfachzugehörigkeiten.
II. ‘Jewish Spaces’ in Vladimir Vertlibs literarischer Odyssee Fokussiert auf die Analyse von Raummetaphern in zwei Romanen Vladimir Vertlibs soll im Anschluss an Pinto danach gefragt werden, wie hier ‘Europa’ als Erfahrungsraum jüdischer Protagonisten entworfen wird. Wie stellt der Autor Migrationsprozesse dar, in welchen literarischen Mustern werden Fremdheitserfahrungen ausgedrückt und wie werden Identitätsfindungsprozesse verräumlicht? Ausgangspunkt ist die These, dass in gegenwärtigen literarischen Texten über jüdische Migrationserfahrungen in Europa komplexe Identitätsaushandlungen u.a. mit Hilfe von Raummetaphern dargestellt sind. Willi Jasper hat im Blick auf die Literatur jüdischer Kontingentflüchtlinge aus Russland und im Zusammenhang mit einer Umfrage aus dem Jahr 1999 die These aufgestellt, dass eine “bewusste russisch-jüdische Minderheit” den Prozess ihrer sozialen Integration und Selbstbehauptung in Deutschland als “europäische Perspektive” begreife.12 Bei der Umfrage unter russisch-jüdischen Einwanderern in Deutschland zum Verhältnis von ethnischem Bewusstsein und angestrebter Staatsbürgerschaft hatten 54,9 Prozent angegeben, dass sie eine ‘doppelte’ Staatsbürgerschaft bevorzugten, immerhin 31,9 Prozent hielten dagegen eine ‘europäische’ für erstrebenswert und nur 9,2 Prozent stimmten für eine alleinige ‘deutsche’ Staatsbürgerschaft.13
11
Zu Martin Buber siehe Bernd Witte [wie Anm. 9]. S. 95–140. Willi Jasper: Deutsch-jüdischer Parnass. Literaturgeschichte eines Mythos. Berlin: Propyläen 2004. S. 472. 13 Ebd. 12
305 In seinem zweiten Roman Zwischenstationen schildert der 1966 in Leningrad (St. Petersburg) geborene Autor die Erfahrungen eines jungen russisch-jüdischen Emigranten, der mit fünf Jahren mit seinen Eltern aus der Sowjetunion ausreist, zunächst in Wien Station macht, wo sich seine Familie nach weiteren Zwischenstationen in Israel, den Niederlanden, Italien und den USA schließlich dauerhaft niederlassen wird. Der Roman endet mit einem neuerlichen Ortswechsel, den der Ich-Erzähler innerhalb Österreichs unternimmt: einem Umzug von Wien nach Salzburg, wo der Autor auch heute lebt. Bereits in seinem Debütroman Abschiebung von 1995 habe Vertlib, so schreibt Olaf Terpitz, die Grundkonflikte auch seiner nachfolgenden Romane angelegt, “die von Ortlosigkeit, der Suche nach dem Glück, von deutsch-jüdischen und russisch-jüdischen Befindlichkeiten und deren Kollision handeln”.14 Die Grundsituation des Ich-Erzählers in den beiden ersten Romanen Vertlibs fasst Terpitz in der nicht nur topographischen Metapher des ‘Dazwischen’ zusammen. Tatsächlich erscheinen die Orte, an die es die Kleinfamilie während ihrer Emigration verschlägt, allesamt immer nur als Durchgangsstationen.15 Ein russisches Wiegenlied, das die Mutter ihrem fünfjährigen Sohn in ihrer Übergangsbleibe in einer heruntergekommenen Mietskaserne im Wiener Stadtteil Brigittenau gegen dessen Schlaflosigkeit vorsingt, unterstreicht die Schwierigkeit des Heimischwerdens in einer fremden Umgebung, indem es ein wenig kindgerechtes Rezept angibt: Wenn an einem neuen Ort du schlafen gehst, mein Kind, schlaf, schlaf ein geschwind; träumst du heute nacht von deiner Braut, wird der neue Ort dir bald vertraut.16
Wenig verwunderlich, dass der Ich-Erzähler danach die halbe Nacht lang wach liegt. Die von den Emigranten selbst ironisch-liebevoll als “russische[s] 14
Vgl. Olaf Terpitz: “Zwischen den Zeiten”. Russisch-jüdische Schriftsteller in Deutschland. In: Zwischen Erinnerung und Neubeginn. Zur deutsch-jüdischen Geschichte nach 1945. Mit einem Vorwort von Michael Brenner. Hg. von Susanne Schönborn. München: Martin Meidenbauer 2006. S. 232–249. Hier: S. 243. 15 In einem Artikel über den Autor in der Wochenzeitung Freitag wird mit der Formel vom “Wartesaal der Emigration” ein anderer räumlicher Topos bemüht, um Vertlibs Biographie und den Gegenstand seiner Romane, hier eng aufeinander bezogen, zu beschreiben. Zusätzlich greift derselbe Rezensent auf die ambivalente Figur des Ahasver zurück, um den Topos von der “jüdischen Wanderschaft” mit dem Thema der Migration zu verbinden. Vgl. Thomas Kraft: Der Jude und der Goi. Wanderschaft. Über den österreichischen Schriftsteller Vladimir Vertlib. In: Freitag 19 vom 13. 5. 2005. S. 14. 16 Vladimir Vertlib: Zwischenstationen. Roman. Wien: Deuticke 1999. S. 31. Weitere Seitenangaben im Text.
306 Schloß” (31) bezeichnete Mietskaserne verdichtet sich in der Imagination des Ich-Erzählers zur Metapher eines im Grunde ortlosen, typisierten ‘jüdischen Orts’, der aus den Erinnerungen und Vorstellungen seiner Bewohner entsteht: Jeden Tag spielte ich mit den anderen Emigrantenkindern in den Gängen, auf der Stiege und im Hof, verließ das Haus kaum und glaubte beinahe, die eigentümliche Außenwelt dieses fremden Landes existiere gar nicht, sei nur ein Gerücht oder ein Märchen. Ich dachte manchmal, ich sei in Israel, dann wieder, ich sei in Rußland, bis ich verstand, daß beides stimmte. Das Haus war ein Teil Israels und Rußlands, der sich in einer fremden Welt namens Wien befand. Keine Frage: Die Welt war wie eine Anzahl von Schachteln aufgebaut, die ineinanderpaßten. (31)
In dem Bild der ineinandergeschobenen Schachteln wird ein paradoxer Raum konstruiert, der offensichtlich entfernt liegende kulturelle Räume ineinander verschränkt. Dadurch, dass die “Außenwelt dieses fremden Landes”, die österreichische Hauptstadt Wien, vom Ich-Erzähler als nichtexistent betrachtet wird, kann der Innenraum verschiedene Schattierungen annehmen, die sich auf die Länder beziehen, die er bereits kennen gelernt hat: Russland und Israel. Dabei verkörpert das “russische Schloß” einen Übergangsort, einen klassischen Transitraum oder, in der Terminologie des Ethnologen Marc Augé, einen “Nicht-Ort”:17 Ganz Wien gilt Vertlib als “Drehscheibe der Ostemigration” und in der Mietskaserne warten die meisten ihrer BewohnerInnen darauf, wieder in die Sowjetunion zurückkehren zu dürfen (30). Am Ende des Kapitels ist schließlich zu erfahren, dass die Mietskaserne später abgerissen wurde (48). Ironischerweise ist Wien der Ort, an dem die Emigrationsversuche der Kleinfamilie nicht nur ihren Ausgang nehmen, sondern auch ihr Ende finden. Darüber sind die siebziger Jahre vergangen und der Protagonist bereitet sich auf seine Matura vor. Dieses Lernen, hinter dem für eine gewisse Zeit “die Erinnerung an die Zeit in Rußland, Amerika, Italien, Israel, den Niederlanden” verschwindet, “verscheuchte die Sehnsucht nach einer besseren Welt” (264). Die Sehnsucht erscheint als eigentliche Motivation für die Migrationsbewegungen seiner Eltern: “Die bessere Welt war immer anderswo gewesen, in einem fernen Land des Glücks. Seit meiner frühesten Kindheit hatten die Eltern von diesem Land gesprochen. Dort war ich zu Hause, an einem Ort, wo es keinen Alltag gab. Doch dieses ferne Land war nun, wie einst Atlantis, im Meer versunken” (264). In einem Interview verwendet Vertlib die Formel vom “Zuhause in einer 17
Marc Augé: Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit. Aus d. Frz. von Michael Bischoff. Frankfurt/M.: Fischer 1994. Vgl. auch das Vorwort in: Transitraum Deutsch. Literatur und Kultur im transnationalen Zeitalter. Hg. von Jens Adam, Hans-Joachim Hahn, Lucjan Puchalski und Irena S´wiatl⁄ owska. Wrocl⁄ aw – Dresden: Atut und Neisse 2008 (Beihefte zum ORBIS LINGUARUM. Band 56). S. 7–19.
307 Zwischenwelt”, um sich selbst zu verorten.18 Im selben Interview erzählt er auch davon, ihm sei von seinen Eltern immer suggeriert worden, das Glück liege an einem anderen Ort, jedenfalls nicht dort, wo er sich gerade aufhalte. Auf dem Hintergrund der Erfahrung mit dem Antisemitismus in verschiedenen Ländern, in denen er zeitweilig lebte, fasst er zusammen: “Der ‘ideale Ort’ ist eine Illusion und dazu noch eine recht langweilige”.19 Zu ähnlichen Schlüssen gelangt der Ich-Erzähler aus Zwischenstationen. Nur temporär können neue imaginäre Welten ihm ein Glücksversprechen eröffnen: “Das Land des Glücks fand ich in der fernen Vergangenheit, im alten Griechenland, im klassischen Athen. Vom Judentum, Rußland oder Amerika wollte ich nichts mehr wissen” (264). Kaum zufällig erfolgt eine Hinwendung zum klassischen europäischen Bildungskanon, die sogar zeitweilig seine Auseinandersetzung mit jüdischer Geschichte und dem unerreichten Traumziel seines Vaters, den Vereinigten Staaten, verblassen lässt. Der Ich-Erzähler wird in ‘Europa’ verortet, was über den klassischen Weg des jüdischen Bürgertums im 19. Jahrhundert geschieht: der Bildung. Freilich erklärt das Narrativ des Romans auch diese zeitweilige Identifizierung mit einem “Bürger Athens” für vorübergehend; mit siebzehn – im Jahre 1983 – verliebt sich der Ich-Erzähler in eine Mitschülerin, die seine Gefühle erwidert, und kehrt dem (antiken) “Griechenland” den Rücken, um nach “Österreich” und damit in die Gegenwart zurückzukehren (264 und 265). In der Auseinandersetzung mit der alten Jüdin Rita, einer Holocaustüberlebenden, definiert er seine eigene jüdische Identität weder religiös noch ethnisch, sondern auf der Grundlage kollektiver Erinnerung jüdischer Leidenserfahrung: “Für mich ist Judentum eine Schicksalsgemeinschaft. Die jüdische Leidensgeschichte ist auch meine Geschichte. Die Nazis hätten mich genauso umgebracht wie einen orthodoxen Juden” (287). Die Stärke des Romans besteht darin, alle Festlegungen dieser Art wieder infrage zu stellen. So führt der anschließende Wortwechsel mit Rita, die ihm vorhält, er definiere sein Judentum über die Nürnberger Rassengesetze, vor, dass auch die kulturellhistorische Definition seines Judentums nur eine instabile Größe darstellt. Am Ende des Romans steht neuerlich eine Identifizierung des IchErzählers: Ich bin tatsächlich zum Österreicher geworden, besser gesagt, zum Wiener. Ich muß Wien verlassen, um zu begreifen, daß ich im Laufe der Zeit alle Vorurteile dieser Stadt übernommen habe – die Selbstgefälligkeit, Überheblichkeit, Egozentrik und narzißtische Haßliebe, die Verachtung der ‘Provinz’, ein Minderwertigkeitsgefühl gegenüber dem Ausland und nostalgische Verklärung der einstigen Bedeutung der Metropole. (300) 18
Interview mit Vladimir Vertlib. In: Ausblicke 17. Zeitschrift für österreichische Kultur und Sprache. Hg. vom Zentrum für Österreichstudien. Mai 2003. Jg. 8. H. 2. S. 21–23. Hier: S. 21. 19 Ebd. S. 22.
308 Auch wenn das Verbleiben der Familie in Österreich schlussendlich keiner bewussten Entscheidung entspringt und die verschiedenen Identitätsmodelle des Protagonisten jeweils nur als vorläufige vorgestellt werden, so verläuft die im Roman vorgeführte Entwicklung hin zu einer regionalen Wien-Österreichischen Identität des Protagonisten auffällig parallel zu jenen von Diana Pinto in ihrem Essay diagnostizierten Veränderungen in Europa. Seine Identitätskonstruktionen entstehen jeweils in der Auseinandersetzung mit bzw. Abgrenzung von Identitätsangeboten seiner Umwelt. Identität wird so als relational und temporär vorgeführt und bezieht sich auf unterschiedliche soziale Räume, innerhalb derer und mit denen der Protagonist Erfahrungen macht. Jüdische Erfahrungen und Identitäten erscheinen dabei eingebettet in andere Erfahrungen und Identitätssuchen. Diese Befunde lassen sich mit einem weiteren Text Vertlibs vergleichen, dessen raumzeitliche Perspektivierung kaum zu übersehen ist. Der Roman Das besondere Gedächtnis der Rosa Masur kontrastiert bereits in den ersten Zeilen eine St. Petersburger Kommunalwohnung mit der als einem europäischen Sehnsuchtsort imaginierten südfranzösischen Stadt Aix-en-Provence.20 Am Ende werden die drei Protagonisten Rosa, Kostik und Frieda dorthin reisen. Das reale Unglück erscheint dabei ebenso ortsgebunden wie ein mögliches Glück. Zwischen diesen Polen organisiert der Roman die Geschichte einer 1907 im fiktiven weißrussischen Dorf Witschi bei Gomel geborenen russischen Jüdin Rosa Masur, die Ende der 1990er Jahre zusammen mit ihrem Sohn Konstantin (Kostik; H.J.H.) und dessen Frau Frieda aus dem inzwischen wieder in St. Petersburg umbenannten Leningrad im Rahmen des Kontingentflüchtlingsabkommens nach Deutschland emigriert. Sie wohnen dort in der fiktiven Kleinstadt Gigricht, in der sich Sascha, Rosas Enkelsohn, schon einige Jahre zuvor nach seiner Ausreise aus Russland niedergelassen hatte. Im Zentrum dieser Rahmenerzählung, in die Rosas Lebensbericht hineingestellt ist, in dem sie Wahrheit und Fiktion gekonnt vermischt, steht das Jubiläum zum 750jährigen Bestehen der Stadt. Allerdings ist auch dieses Datum, wie sich herausstellen wird, äußerst unsicher, da es sich bei der Urkunde, die das Datum der Stadtgründung belegen soll, möglicherweise um eine Fälschung handelt. Zunächst aber plant die Stadtverwaltung Gigrichts ein Album herauszugeben, für das sie Interviews mit einzelnen Angehörigen 20 Vladimir Vertlib: Das besondere Gedächtnis der Rosa Masur. Roman. Wien – Frankfurt/M.: Deuticke 2001. S. 5. Sander L. Gilman hat auf die Rolle des Südens von Frankreich hingewiesen, wo die Protagonisten am Ende on Vertlibs Roman nach dem “utopian space” suchen, an dem alle, vor allem aber Juden, “can be at one with themselves”. Sander L. Gilman: Becoming a Jew by Becoming a German: The Newest Jewish Writing from the “East”. In: Shofar. An interdisciplinary Journal of Jewish Studies Volume 25. Nr. 1 (2006). S. 16–32. Hier: S. 31.
309 einiger in der Stadt lebender Minderheiten zusammenstellen will. Hierfür wird auch Rosa angefragt. Rosas anlassbezogen konstruierte Memoiren, von denen der Roman handelt, werden immer wieder von der Rahmenhandlung unterbrochen. Zu diesen Einschüben gehört auch ein in der Gigrichter Synagoge angesiedeltes Gespräch über die jüdische Diaspora in der Nach-Holocaust-Situation im Deutschland der Gegenwart um die Jahrtausendwende. Vertlib arrangiert hier eine Anzahl unterschiedlicher Positionen in einem Gespräch, dessen Anlass wiederholt in Gigricht eintreffende Briefe aus Israel bilden, in denen die in Deutschland lebenden jüdischen Empfänger Vorwürfe erhalten, warum sie nicht nach Israel gekommen seien sondern sich obendrein noch im Land der Mörder und ihrer Nachfahren niedergelassen hätten. In dem Gespräch wird vorgeführt, dass es keinen idealen Ort für Juden gibt. Zum einen werden Vorbehalte gegenüber einem Leben in Israel geäußert bzw. eine Abhängigkeit der Juden in Israel von der Diaspora (“Ohne uns, die Juden der Diaspora, hätten die Kameltreiber längst Schaschlik aus ihnen gemacht”.) postuliert; andere dagegen behaupten, sie wären längst in die USA ausgewandert, wenn nicht seit Ende der 1980er Jahre dort ein Einwanderungsstopp für russische Juden bestünde; wieder andere können sich ein Leben in den Vereinigten Staaten gar nicht vorstellen (“Hast du gehört, wie schlecht dort das Sozialsystem ist? Und die hohe Kriminalität, die ständige Unsicherheit”.). Der Aufenthalt in Deutschland wird dagegen auf zweierlei Weise gerechtfertigt: So verkündet eine Frau, Deutschland sei gar nicht mehr richtig Deutschland: “Es ist Teil der Europäischen Union, und die wächst bald zu einem einheitlichen Staat zusammen. Meine Kinder werden Bürger Europas sein. Keine Deutschen, sondern Europäer”. Schließlich greift Herr Rotschwants zur Begründung seiner Übersiedlung nach Deutschland ein Argument auf, das sich in ähnlicher Form auch bei Diana Pinto findet:21 Eine Stärkung des “jüdischen Elements” trage zur Zivilisierung Europas bei (“Es ist nicht nur eine späte Rache an Hitler, sondern ein Beitrag zur Humanisierung Mitteleuropas”.).22
III. Fazit In dem Aufsatz wurde vor allem eine Konvergenz zwischen dem kulturpolitischen Diskussionsvorschlag Diana Pintos und Vladimir Vertlibs Romanen Zwischenstationen sowie Das besondere Gedächtnis der Rosa Masur 21
Die Gestalt des Herrn Rotschwants könnte eine Reverenz an Ilja Ehrenburgs Romanheld Lasik Roitschwantz darstellen, auch wenn über die auffällige Namensparallele hinaus keine unmittelbare weitere Analogie offensichtlich ist. Vgl. Ilja Ehrenburg: Das bewegte Leben des Lasik Roitschwantz. Roman. Aus d. Russ. von Waldemar Jollos. Berlin: Volk und Welt 1994. 22 Vertlib: Das besondere Gedächtnis der Rosa Masur [wie Anm. 20]. S. 315–16.
310 herausgearbeitet, die in der Darstellung aktuellen jüdischen Lebens in Europa unter den Bedingungen der Migration besteht. Bis heute stellt letzteres keine Selbstverständlichkeit dar, kann aber auch nicht als Geschichtsvergessenheit oder gar als Zurückweisung anderer ‘jüdischer Räume’ missverstanden werden. Das verdeutlichen Vertlib und Pinto in je eigener Weise. Beide nehmen in gewissem Sinne bereits die aktuelle Diskussion um den “Gedächtnisraum Europa” vorweg, innerhalb derer die Wiederentdeckung jüdischer Erfahrungen des Kosmopolitismus eingebracht wird.23 Die Unterschiede zwischen dem emphatischen Text einer Europapolitikerin auf der einen und der literarischen Darstellung des Alltags jüdischer Migranten auf der anderen Seite, spiegeln sich hingegen formal bereits in den differenten Textsorten (Essay versus Roman), darüber hinaus aber auch inhaltlich. So erscheint das Bild einer aktuellen jüdischen Diaspora in Europa, wie es von Vertlib entworfen wird, wesentlich skeptischer als die Utopie Pintos. Der Sehnsuchtsort Aix-en-Provence in dem Roman Das besondere Gedächtnis der Rosa Masur kann zwar nach dem Ende der europäischen Teilung heute auch von jüdischen Emigranten aus Russland besucht werden, verliert damit aber seinen utopischen Charakter. Auch im Hinblick auf die offizielle Erinnerungskultur, die Vertlib mit dem Plan eines Albums, für das Rosa Masur ihre Erinnerungen erzählen soll und das nicht zustande kommt, ironisch kommentiert, teilt seine Literatur nicht den Enthusiasmus Pintos für die europäischen Erinnerungskulturen. In den beiden Romanen wird das gegenwärtige Europa im Vergleich zu Israel und den Vereinigten Staaten zwar als ein weiterer legitimer und möglicher, aber keinesfalls idealer jüdischer Aufenthaltsort geschildert; im Unterschied zu Pinto wird dem Kontinent bei Vertlib keine besondere Rolle etwa für eine künftige “jüdische Renaissance” zugesprochen. In einer anderen Hinsicht allerdings treffen sich beide Ansätze: In beiden dient die Verwendung von Raummetaphern dem Entwerfen eines komplexen sozialen und kulturellen ‘Europas’, in dem jüdische Identitäten in der Interaktion mit anderen Identitätsentwürfen entstehen. In ihrem Zentrum steht das Dableiben, das Sich-Einrichten in temporären Lebenssituationen, in Provisorien, die sich nicht selten jedoch in dauerhafte Aufenthalte verwandeln. Pintos Essay und Vertlibs Romane lassen sich als Reaktionen auf das scheinbare Skandalon verstehen, dass es auch nach dem Holocaust, verstärkt seit dem Ende des Kalten Kriegs und mit der Emigration russischer Juden, wieder eine sichtbare jüdische Präsenz in verschiedenen Ländern Europas gibt, insbesondere auch in dem vormaligen ‘Täterland’ Deutschland.
23
Siehe dazu Natan Sznaider: Gedächtnisraum Europa. Die Visionen des europäischen Kosmopolitismus. Eine jüdische Perspektive. Bielefeld: transcript 2008. Siehe auch den Beitrag von Katrin Molnár in diesem Band.
Katrin Molnár
“Die bessere Welt war immer anderswo”. Literarische Heimatkonstruktionen bei Jakob Hessing, Chaim Noll, Wladimir Kaminer und Vladimir Vertlib im Kontext von Alija, jüdischer Diaspora und säkularer Migration The universalisation of discourses on exile, migration and diaspora will neither be able to do justice to the notion of Heimat, nor will the clinging to the idea of Heimat as a supposedly naturally grown affiliation to a country and tradition condition a stable cultural identity. This chapter examines texts by Jewish writers born after 1945 with reference to the construction of Heimat, both German-Jewish writers who emigrated to Israel (Jakob Hessing, Chaim Noll) as well as Russian-Jewish writers who emigrated from the former Soviet Union to Germany and Austria (Wladimir Kaminer, Vladimir Vertlib). The texts are not only shaped by the problematic heritage of German-Jewish history, but also by the tensions between Jewish diaspora and alija.
“Ich konnte mir mein weiteres Leben in Deutschland nicht vorstellen”, resümiert der 1954 in der DDR geborene, heute in Israel lebende Schriftsteller Chaim Noll in einem essayistischen Erfahrungsbericht.1 “Da muss ich hin!”2 und “Deutschland [ist] genau das Richtige”3 heißt es dagegen aus dem Munde jüdischer Figuren Wladimir Kaminers (geb. 1967), der aus der Sowjetunion nach Deutschland einwanderte und seit 2000 in deutscher Sprache publiziert. Unterschiedlicher könnten die hier angedeuteten jüdischen Emigrationen nicht sein: Während einmal das Land, von dem die Shoah ausging, für eine weniger problematische, auch religiöse jüdische Existenz über Zwischenstationen Richtung Israel verlassen wird, ist es das andere Mal aus postsowjetischer, eher säkularer Perspektive ‘genau das richtige’ Ziel. In dieser Spannung wird sich der Beitrag bewegen, wenn er im Folgenden anhand ausgewählter Beispiele das deutschsprachige Schreiben jüdischer Autoren nach den Konstruktionen von ‘Heimat’ befragen will. In den Blick genommen werden zum einen Texte von zwei in Deutschland aufgewachsenen Autoren der jüdischen Generation nach der Shoah, die nach Israel ausgewandert sind (Jakob Hessing, Chaim Noll) und zum anderen Texte zweier russisch-jüdischer Autoren, die ebenfalls nach 1945 geboren sind und aus der 1
Chaim Noll: Goethe, Kafka und in die Ferne führende Folgerungen. In: Lea Fleischmann/Chaim Noll: Meine Sprache wohnt woanders. Gedanken zu Deutschland und Israel. Frankfurt/M.: Scherz 2006. S. 51–74. Hier: S. 67. 2 Wladimir Kaminer: Militärmusik. München: Goldmann 2003 [EA 2001]. S. 211. 3 Wladimir Kaminer: Russendisko. München: Goldmann 2000. S. 12. Im Folgenden: (R).
312 ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland bzw. Österreich emigriert sind (Wladimir Kaminer, Vladimir Vertlib).4 Bei allen Unterschieden, die sich aus den jeweiligen gesellschaftlichen, kulturellen und historischen Kontexten und verschiedenen Relationen zu Alija,5 jüdischer Diaspora und säkularer Migration notwendig ergeben, stets macht die (E-/Im)Migration den entscheidenden Wahrnehmungshorizont im Schreiben aus. Sie wird zur Projektionsfläche, an der Zugehörigkeiten ausgelotet sowie Fragen nach Judentum und jüdischer Identität, Fremdheit und Heimat diskutiert werden. “Die Deutschen mögen uns nicht”, sagt der gerade mal fünfjährige Jonas zu seiner Mutter. “Sie hassen uns”, korrigiert diese, worauf der Sohn fragt: “Warum sind wir dann in Berlin?”.6 Leitmotivisch zieht sich Jonas’ Frage
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Der Aufsatz untersucht damit zwar deutschsprachige Texte jüdischer Autoren, die nach der Shoah geboren wurden, aber in Bezug auf das in der jüngeren deutschen und amerikanischen Literaturwissenschaft viel diskutierte Paradigma der so genannten ‘deutsch-jüdischen Literatur der Zweiten Generation’ (z.B. Maxim Biller, Doron Rabinovici, Robert Schindel, Robert Menasse, Rafael Seligmann, Esther Dischereit u.a.) nimmt der hier untersuchte Textkorpus eine Sonderposition ein: Zwar gibt es durchaus thematische Überschneidungen, aber zugleich werden viele Aspekte gestaltet und artikuliert, die – um es in den Worten Inga-Maria Kühls zu formulieren – nicht zum “Referential des jungen jüdischen Diskurses” in der deutschen/österreichischen Gegenwartsgesellschaft gehören oder dort zumindest nicht eine solch exponierte Bedeutung haben, wie zum Beispiel die Einwanderung nach Israel oder die Auswanderung aus der Sowjetunion und die damit jeweils verbundene Rolle des Immigranten- und/oder Emigrantenstatus. Vgl. Inga-Marie Kühl: Zwischen Trauma, Traum und Tradition. Identitätskonstruktionen in der jüdischen Gegenwartsliteratur. Berlin: Humboldt-Universität. Diss. 2001. Für Überblicksdarstellungen zur ‘deutschjüdischen Literatur der Zweiten Generation’ siehe etwa: Thomas Nolden: Junge jüdische Literatur. Konzentrisches Schreiben in der Gegenwart. Würzburg: Königshausen & Neumann 1995; Helene Schruff: Wechselwirkungen. Deutsch-jüdische Identität in erzählender Prosa der ‘Zweiten Generation”. Hildesheim: Georg Olms 2000. Des weiteren: Reemerging Jewish Culture in Germany: Life and Literature since 1989. Hg. von Sander L. Gilman und Karen Remmler. New York: New York University Press 1994; Yale Companion to Jewish Writing and Thought in German Culture 1096–1996. Hg. von Sander L. Gilman und Jack Zipes. New Haven – London: Yale University Press 1997. 5 Der Begriff ‘Alija’ (hebräisch wörtlich: ‘Aufstieg’, ‘Aufruf’) bezeichnete in der Antike den ‘Aufstieg’ zum Tempel in Jerusalem. Im Zusammenhang mit dem Zionismus und der Gründung des Staates Israel bekommt er in der jüngeren Geschichte eine weitere Bedeutung, indem er zum Codewort für die verschiedenen jüdischen Einwanderungswellen nach Palästina seit 1882 avanciert. In diesem Aufsatz wird er verallgemeinert verwendet, insofern er quasi synonymisch jegliche und damit auch ganz individuelle Einwanderungen nach Israel bezeichnet. 6 Jakob Hessing: Mir soll’s geschehen. Berlin: Berlin Verlag 2005. S. 39. Weitere Seitenangaben im Text. Erst im vorletzten Kapitel, als Jonas schon 36 Jahre alt ist
313 durch Jakob Hessings (geb. 1944, Anfang/Mitte der 1960er nach Israel ausgewandert) Romandebüt Mir soll’s geschehen (2005), ohne für den Jungen befriedigend beantwortet zu werden. In ihr spiegelt sich, wie wenig der jüdische Nachkomme nachvollziehen kann, dass seine aus Polen stammenden Eltern – die die Hitlerbesatzung im Keller eines polnischen Bauern überleben konnten – sich ausgerechnet im “Land von Hitler” (312) niedergelassen haben. Mir soll’s geschehen ist ein vielstimmiger Familienroman, dessen Handlung zwischen 1947 und 1996, erst in Deutschland und dann nahezu ausschließlich in Israel angesiedelt ist (Ausnahmen sind Briefe und zwei dargestellte Deutschlandreisen). In fünf großen Kapiteln, die nochmals in zahlreiche Unterkapitel gegliedert sind, wird heterodiegetisch und im Wechsel von Nullund verschiedenen internen Fokalisierungen relativ chronologisch erzählt, wie die nunmehr Übriggebliebenen der ehemals großen polnisch-jüdischen Sippe versuchen, eine neue Existenz im Berlin der deutschen (später bundesrepublikanischen) Nachkriegsgesellschaft aufzubauen. Doch es ist eine fragile Existenz, deren Aporien und Ambivalenzen letztlich zur Alija des Großteils der Familie führen. Jonas ist der Protagonist des Romans. Seine oben zitierte Frage repräsentiert den zentralen Widerspruch, in dem sich jüdische Nachgeborene stehen sehen, deren Eltern nach 1945 entweder im ‘Land der Täter’ geblieben, aus dem Exil in dieses zurückgekehrt oder aus Osteuropa immigriert sind. Die Kluft, die die Shoah zwischen Deutschen und Juden gezogen hat, prägt nachhaltig auch die in Deutschland/Österreich geborenen und/oder aufgewachsenen jüdischen Nachkommen. Sowohl das Blut der Geschichte als auch die Traumata der Eltern haben sich Jonas als transgenerationelle “Wunde” eingeschrieben7 – und mit ihr eine unterschwellige Angst vor den ‘Deutschen’ und ihrem (latenten) Antisemitismus. Von frühester Kindheit an nimmt er seine ‘Andersheit’ und seine Marginalität wahr: “In meinem Alter gibt es keine Juden” (179). Darüber
und längst in Israel lebt, gibt ihm der Vater eine Antwort: “Wenn’s heut keine Juden mehr gäbe in Deutschland, […] hätte Hitler doch gesiegt. Wär das besser gewesen?” (S. 411). 7 Symbolisiert in der Schlüsselszene des Kapitels “Die Wunde”: Nach einer Flut verstörender Erinnerungen an die Hitlerzeit hat Jonas’ Mutter Le’itsche ihren Sohn zu sich ins Bett genommen. Als sie sich an ihn schmiegt, reißt sie mit ihrem Zehennagel eine Wunde in seinen Oberschenkel, der daraufhin stark blutet. Auch die Versorgung der Wunde ist deutlich an die Erfahrung der Shoah, aber auch an Gefühle der Überlebensschuld gekoppelt: Mehrmals wiederholt Le’itsche den jiddischen Satz, der den Titel des Romans gibt: “Mir sol saan far dir” (S. 30) – ‘Mir soll’s geschehen, nicht dir’. Dieser Satz wiederum ist ein Zitat von Le’itsches Mutter, den diese kurz vor ihrer Deportation zur Tochter sagte, als entschieden werden musste, wer von beiden gerettet werden soll (ebd. S. 39f.).
314 hinaus hat das schwierige elterliche Verhältnis zur Vergangenheit, zum Judentum (das sie kaum noch praktizieren und teilweise auch verleugnen) und zu den ‘Deutschen’ dissoziierende Auswirkungen auf die jüdische Identifikation des Jungen.8 Doch nicht nur die deutsche Nachkriegsgesellschaft, auch der private, von der Außenwelt nahezu abgeschottete Raum der eigenen Familie ist für Jonas ein Ort der Entfremdung. Der Vater ist stets abwesend, weil er sich mehr um seine Schwester Chaje als um die eigene Frau kümmert. Da für diese das Leben in der früheren Hauptstadt des Großdeutschen Reiches immer unerträglicher wird, startet die Familie einige rastlose Versuche, im Ausland zu leben, was allerdings nur stark gerafft dargestellt wird und mit der Rückkehr nach Deutschland endet. Die Mutter eröffnet daraufhin an einem gleichsam exterritorialen Ort, in der Nähe der amerikanischen Luftwaffenbasis Ramstein, ein Hotel. Zwar lebt sie von nun an in Distanz zum ‘Täterkollektiv’ (Hotelgäste sind amerikanische Offiziere), doch im Grunde ist die “Wüste” (134) Ramstein nur der Anfang eines neuen “Gefängnis[ses]” (235). Die Familie zerbricht an diesem Ortswechsel, der Jonas’ Leben in Gasthäusern präfiguriert. Denn auch später, wieder in Berlin, wo er sein Abitur macht, wohnt er nur noch bei “fremden Leuten” (195). Ein Zuhause war nun endgültig verloren, einen “Heimweg”, so stellt Jonas rückblickend fest, gab es nicht mehr (232). Nach den zwei Kapiteln, die eine gesteigerte Heimatlosigkeit und Fremdheit in Deutschland darstellen, setzt die Handlung unvermittelt in Israel ein. Geschildert wird von nun an, wie sich Jonas’ plötzlich unternommene Reise schleichend zur Einwanderung nach Israel (bzw. zur Alija des Großteils der Familie) entwickelt. Die Darstellung der beiden Länder ist auffällig dichotom organisiert: Der Enge, Kälte und Dunkelheit Deutschlands – alles Semanteme, die mit dem Kellerversteck während der nationalsozialistischen Verfolgung korrespondieren – stehen die Weite, Hitze und Helligkeit Israels gegenüber. War die “Wüste” Ramstein noch mit einem “Gefängnis” assoziiert, löst die Wüstenlandschaft Israels bei Jonas “ein Gefühl der Freiheit” aus (186). Während in Deutschland private Wohnungsräume dominieren, sind es in Israel Landschaften und öffentliche Plätze (Wüste, Meer, Strand, Kibbuz, Restaurant, Universität, Flughafen). Entsprechend lebt Jonas in Israel nicht mehr abgeschieden und ohne Freunde, sondern hat zahlreiche soziale Kontakte. Während Deutschland einen Ort ohne Zukunft repräsentiert (377), einen Ort, an dem die Gegenwart von der traumatischen Vergangenheit eingeholt wird und an dem die Wunden der Geschichte niemals aufhören zu bluten, ist Israel ein Ort des hoffnungsfrohen Neubeginns, an dem für Jonas heilende Momente der Zeitlosigkeit und “eine[r] vergessene[n] Erinnerung” stattfinden (205). Auch eine Art Heimatgefühl stellt sich sofort ein: Bei gleichaltrigen Juden in 8
“Ich weiß nicht”, antwortet Jonas auf die Frage, ob er und seine Eltern Juden seien (S. 37).
315 Eilat, wo Jonas nur “vier Tage” zu “Gast” war, so schreibt er seiner Mutter, habe er sich “richtig zu Hause” gefühlt (207). Entsprechend ist es auch Israel, in dessen Zusammenhang das einzige Mal das Wort “Heimat” überhaupt explizit genannt wird (291). Die Omnipotenz des Deutungsmusters Deutschlandschlecht und Israel gut ist überdeutlich. Doch so schnell Jonas das allgegenwärtige kollektive Pathos, das sich in der ‘wir’-Form niederschlägt, für sich auch annimmt, auf die sich leitmotivisch wiederholende Frage, ob er “Neueinwanderer” sei, antwortet er zunächst immer mit einem “Ich weiß noch nicht” (188). Nach wie vor stellt er sich die Frage: “Aber gehört man wirklich dazu?” (209). Auch in Israel sind Exklusionsmechanismen wirksam, die ihn als ‘nicht ganz zugehörig’, ja weiterhin als “Außenseiter” markieren (207): War er in Deutschland als ‘Jude’ stigmatisiert, ist er es in Israel als ‘Deutscher’.9 Die disparaten Elemente seiner polnisch-deutsch-jüdischen Identität können also auch in Israel nicht harmonisiert werden. Dennoch ist Israel – und eben nicht Deutschland – der Ort, der Jonas einen weitgehend kohärenten jüdischen Lebensentwurf ermöglicht: Jonas wird Professor für deutsch-jüdische Geschichte, gründet eine eigene Familie, erlebt die Zusammenführung der zerbrochenen Familie durch die Alija seiner Eltern und entdeckt ein religiöses Judentum für sich. Jonas findet also in dem jungen Land neue Orientierungspunkte, die ihm affirmative Identifikationen ermöglichen. Das ‘Jüdisch-Sein’, das für Jonas in Deutschland nur als Leerstelle und fundamentale ‘Andersheit’ Bedeutung hatte, wird in Israel neu semantisiert. So lernt Jonas unter anderem auch die Geschichte der Juden vor der Shoah kennen. Weiterhin nimmt er zahlreiche, auch konflikthafte, innerjüdische Differenzen und die Heterogenität der israelischen Gesellschaft wahr: Aschkenasim, Sephardim, Fromme, Jeckes, nicht-religiöse Juden, Einwanderer der Pionierorganisation, Sabres (in Israel geborene Nachkommen der Einwanderer) und Neueinwanderer. Letztere kommen aus ganz unterschiedlichen Ländern und Kulturen, dennoch hat fast jeder eine andere leidvolle Geschichte von Flucht, Vertreibung und Exil zu erzählen. Sie alle wollen ihre schmerzliche Vergangenheit abwerfen und neue, eigene Wurzeln erfinden, indem sie an einer imaginären, zukunftsorientierten jüdischen bzw. israelischen Kollektividentität partizipieren und diese konstruieren. Die immer wieder an Jonas gerichtete Frage “Bist du ein Neueinwanderer?” wirkt vor diesem Hintergrund geradezu wie eine Anrufung, wie ein Versprechen auf Zugehörigkeit und Heimat, auf eine Existenz ohne Diskriminierung. Jonas wird eine Bindung, eine Identifikation als “Neueinwanderer” Israels angeboten, bei der er sich trotz aller Differenz als ‘ähnlich’, als ‘Fremder’ unter ‘Fremden’ begreifen kann. Der zentrale Einheit stiftende Bezugspunkt dieses Kollektivs 9
Als ‘Jecke’, wie man in Israel abwertend Juden aus dem deutschsprachigen Kulturraum bezeichnet.
316 ist nicht mehr die Shoah, sondern vielmehr der zukunftsorientierte Aufbau eines Heimatlandes für diskriminierte Juden aus aller Welt. Zwar hat Jonas nach einem Jahr die israelische Staatsbürgerschaft angenommen, doch erst die existentielle Bedrohung des jungen jüdischen Staates durch die arabischen Nachbarn im Sechstagekrieg (1967) generiert Jonas’ bewussten Willen, sich in die Gemeinschaft einzufügen. Auslösendes Moment ist seine Scham, aus Alters- und Gesundheitsgründen dem Land nicht als Soldat dienen zu können, während seine Freunde auf Leben und Tod gegen die Gefahr der Vernichtung kämpfen: “[P]lötzlich wollte er dazugehören”, erkennt Jonas, nachdem er das erste Mal darüber reflektiert und gesprochen hatte (303). Spätestens mit diesem Bekenntnis ist Jonas’ Selbst in der Territorialität, in der symbolischen Ordnung Israels aufgegangen, hat er als Heimatloser eine Heimat gefunden. In der Figur Jonas wird Deutschland als Ort jüdischen Lebens in der Diaspora ideologisch und territorial abgelehnt. Dennoch ist Israel für Jonas nicht von vorneherein, gewissermaßen als jüdische Ur-Heimat, ein Ort, an dem er sich unhinterfragt verortet.10 Vielmehr generiert sich ‘Heimat’ hier erst im Prozess der Teilhabe am Lokalen, der Identifikation und Entscheidung und im Akt des Widerstands gegen ein feindliches Außen. Die ‘Heimat Israel’ wird entsprechend im Sinne einer national geprägten kollektiven Zugehörigkeit konstruiert, deren symbolischer Kern zum einen die Verteidigung Israels als jüdischem Zufluchtsort ist und zum anderen die Verheißung der (Neu)Konstruktion einer (zukünftig) gesicherten jüdischen Identität sowie einer Existenz ohne Leid und fundamentale Andersheit. Ohne Zweifel zeichnet der Roman ein idealisiertes Israelbild. Auch der Sechstagekrieg wird beispielsweise in eine Geschichte der Selbstverteidigung eingeschrieben, ohne eine differenzierte Auseinandersetzung mit den territorialen Eroberungen zu leisten: Jonas ist lediglich “verwirrt” vom veränderten Panorama Jerusalems, dessen bisher noch “niemals gesehen[en]” Bauten für ihn – bedeutungsschwanger und nur diffus in die Zukunft weisend – eine “noch unsichtbare Perspektive […] verbergen” (285). Emphatische Israelpositionierungen und affirmative Identifikationen dominieren in den Israel-Kapiteln: “Alle wollen Sabres sein” (in Israel Geborene), wird zum einen das Begehren der jüdischen Immigranten nach Naturalisierung und damit auch nach einer Homogenisierung pointiert – nach einer nationalen Einheit in der innerjüdischen kulturellen Vielheit (299). Und zum anderen wird in den historischen Bezugnahmen auf den Sechstagekrieg und den Terroranschlag der marxistisch-antiimperialistischen Japanischen Roten Armee auf dem Flughafen Lod (1972)11 ein imperativer Heimatbegriff evoziert, letztlich eine Aufforderung zur Alija: Gerade die 10
Als alternatives, zweites ‘Gelobtes Land’ sind anfangs noch die USA präsent. Die Affinität zu den USA resultiert wiederum aus Jonas’ Kindheit in Ramstein, wo er sich schon zu den amerikanischen Soldaten hingezogen fühlte.
317 Bedrohung Israels als Land, Volk und Konzept und sein minoritärer, fragiler Status, so die Implikation, erforderten nicht nur Loyalität und Solidarität in der Diaspora, sondern in eigentlicher Konsequenz die Einwanderung. Exemplarisch wird dies in der auf den ersten Blick paradox erscheinenden Alija-Entscheidung der Eltern gestaltet, die auf dem Flughafen fast Opfer des Selbstmordanschlages geworden wären: “Jetzt, wo wir das überlebt haben, wandern wir ein” (386), sagt der Vater, der in den 1960ern noch eine eher distanziertere Haltung gegenüber dem Zionismus eingenommen hatte. Dem Maximum an Deterritorialisierungsenergie (Krieg, Terror) korreliert ein Reterritorialisierungsmaximum (Festigung des Heimatlandes) – das ist die Bewegung, die dem fiktionalen Text eingeschrieben ist als propagandistischer Imperativ zur Stärkung der territorialen Bindung und Souveränität gegenüber einem bedrohlichen Außen. Territorialisierung als ‘real’-politisches Überlebensprogramm also, aber auch im wörtlichen Sinne als eine Einschreibung in den Boden und als Verbundenheit mit ihm: “Das wird einmal ein blühendes Land sein”, erklärt ein junger Neueinwanderer Jonas (196). Territorialisierung versinnbildlicht auch die Figur Mordechai, ein zionistischer Bauer der Pionierorganisation des berühmten Hula-Tals, der den Boden urbar gemacht hat, der Leben aus der Erde schaffte, der diese Erde mit Tradition, religiöser Liturgie und Geschichte verbindet und deshalb Besitzansprüche legitimiert: “Das Tal war unser Leben” (305). Zugleich ist Mordechai – ganz nach jüdischer Tradition – eine bibliophile Gedächtnis-Figur und steht für ein Geschichtsverständnis, das sich des Konstruktionscharakters von Geschichte durchaus bewusst ist. Das wiederum erinnert daran, dass Heimat auch ein Bedeutungssystem ist, das Dichter stiften. Ihnen obliegt es, Heimat heimlicher oder unheimlicher zu gestalten. Jakob Hessing verfolgt eher Ersteres. Dabei artikulieren sich allerdings Vorstellungen von ‘Heimat’, die angesichts der europäischen Geschichte des Nationalismus nicht unproblematisch sind (Idealisierung, Ideologisierung, Patriotisierung, Homogenisierung). So sehr sie im Kontext der Shoah sowie der weltweiten Diskriminierung der Juden als Resultat und Kompensation eines traumatischen Verlustes von Heimat und Identität verstanden werden müssen, letztlich bleibt Heimat hier konservativ auf Ethnie und Territorium bezogen und das führt geradezu zwangsweise zu Formen der Exklusion: “Das wird einmal blühendes Land sein, aber nicht bei denen” (196), heißt die vollständige Aussage des jungen Einwanderers, der dabei arabische Beduinen beobachtet. Ein Satz, der diese nicht nur abfällig beurteilt, sondern sie auch aus der “blühenden” Zukunft der 11
Das Massaker von Lod, bei dem drei Mitglieder der japanischen Roten Armee im Namen der Palästinensischen Volksbefreiungsfront 26 Menschen töteten und 80 verwundeten, gilt als erster Selbstmordangriff auf Zivilisten in der Geschichte und fungiert insofern als realgeschichtliche Anspielung auf alle seitdem erfolgten Selbstmordattentate arabischer Extremisten.
318 israelischen Gemeinschaft ausschließt. Indem Jonas auf dieses rassistische Ressentiment mit Schweigen reagiert, wird es zwar von ihm nicht bestätigt, aber eben auch nicht kritisiert. Jonas’ Indifferenz ist bezeichnend für eine Schwäche des gesamten Romans: Gerade weil der arabisch-jüdische Konflikt einer differenzierten Diskussion enthoben bleibt und Israel durchgehend als Opfer einer von außen kommenden Bedrohung konnotiert wird und gerade weil die Existenz palästinensischer Israelis praktisch nicht erwähnt wird, reproduziert Hessings Roman, obwohl er die (innerjüdische) Heterogenität der israelischen Gesellschaft betont, unfreiwillig ein Heimatkonzept, das implizit durch ethnisierte Aus-und Abgrenzung, Territorialität und Homogenität gekennzeichnet ist. Die zentrale Aussage von Hessings Roman – “dass man als Jude nicht mehr in Deutschland leben kann” (307) – entspricht auch der Erfahrung von Chaim Noll (geb. 1954 in Ostberlin). Der greifbarste Ausweg aus dem Bann deutsch-jüdischer Geschichte und aus den Aporien jüdischer Existenz im ‘Land der Täter’ ist auch für ihn die Emigration. 1984 wandert Noll aus der DDR in die BRD aus, ab 1991 lebt er in Italien, um schließlich 1995 nach Israel einzuwandern, wo er 1998 die israelische Staatsbürgerschaft annimmt. Auch in seinem jüngsten, gemeinsam mit Lea Fleischmann veröffentlichten Essayband, um den es hier (bzw. um Nolls Texte darin) gehen soll, bleibt die Emigration herausragender Referenzhorizont. Schon der Titel Meine Sprache wohnt woanders (2006) weist darauf hin, indem er das exterritoriale Verhältnis des Schreibens kennzeichnet. So sehr sich Noll, Fleischmann und auch Jakob Hessing in existentieller und politischer Hinsicht von Deutschland getrennt haben, mit der deutschen Sprache als literarischästhetischem Ausdrucksmittel bleiben sie verbunden. Doch das kulturelle und ästhetische Diaspora-Profil ‘Sprache und Literatur als Heimat’, in das sich Noll in seinen früheren Essaybänden noch eingeschrieben hat, wird in dieser jüngsten Publikation nicht weiter thematisiert und scheint wenn nicht gleich aufgehoben, so doch zumindest gebrochen zu sein.12 Um dies näher zu beleuchten, sollen zunächst Nolls frühere Heimat-Implikationen zusammengetragen werden: In den Essaybänden Nachtgedanken über Deutschland (1992) und Leben ohne Deutschland (1995) ordnet er seine Distanznahme von der Kulturwelt Deutschlands, die sich sowohl in der DDR als auch in der BRD entfremdend auf sein sich entwickelndes jüdisches Bewusstsein auswirkt, in eine “spezifisch jüdische Praxis literarischer Emigration” ein.13 In Variation zu Heinrich 12
Siehe zu Chaim Nolls Diaspora-geprägtem Heimatverständnis Andreas B. Kilcher: Exterritorialitäten. Zur kulturellen Selbstreflexion der aktuellen deutsch-jüdischen Literatur. In: Deutsch-jüdische Literatur der neunziger Jahre. Hg. von Sander L. Gilman und Hartmut Steinecke. Berlin: Erich Schmidt 2002. S. 131–146. Hier vor allem S. 134–136. Weiterhin: Anat Feinberg: Abiding in a Haunted Land: The Issue of Heimat in Contemporary German-Jewish Writing. In: New German Critique 70 (1997). S. 161–181. Hier vor allem S. 176–178.
319 Heines berühmtem Satz vom heiligen Buch als “portative[m] Vaterland” konstruiert Noll dabei auch für sich ‘portative’ Heimaten:14 Neben der deutschen Literatur, verstanden als Teil europäisch-humanistischer Kultur, ist für Noll auch die deutsche “Sprache […] ein Ort, an dem ich mich zu Hause fühle”.15 Heimat wird hier im Unterschied zu Hessings Roman aus ihren geographischen und nationalstaatlichen Fesseln befreit, wird transportabel und mobil und darüber hinaus auch plural: “Muss Zuhause etwas Einmaliges sein?”16 So deutlich Noll vor allem in Leben ohne Deutschland einem Nomadismus bzw. besser: Kosmopolitismus das Wort redet,17 seine Texte in der jüngsten Publikation spiegeln jedoch die Veränderung von Nolls Schreib- und Lebenskontext, insofern auch hier Territorialisierung und Sesshaftigkeit vermehrt zum Ausdruck kommen. Implizit verrät dies auch schon der Titel: Wurde ‘die Sprache’ im Diaspora-Kontext noch als ‘portative’, deterritorialisierte Heimat gekennzeichnet, so wird sie jetzt, mehr als zehn Jahre nach der Einwanderung, mit dem Verb ‘wohnen’ verknüpft, mit einem Zeichen der Sesshaftigkeit, das sich freilich implizit auch auf das Subjekt, das diese Sprache spricht, bezieht. Zugleich ist das ‘woanders’ Hinweis auf die räumliche Trennung, auf das exterritoriale, wenn nicht gar entfremdete Verhältnis zwischen beiden. Emigration und Ankunft, Deplatzierung und Sesshaft-Werdung haben sich dem Titel als Doppelbewegung eingeschrieben. Auch in den Texten selbst ist dies wahrnehmbar. Den essayistischen Erfahrungsberichten und autobiographischen Skizzen über das frühere Leben in Deutschland, über die Emigration und das italienische Exil – alles Erzählungen von Deplatzierung, Fremdheit und Unzugehörigkeit – korreliert ein Drang nach Territorialisierung, eine Sehnsucht nach einem “Ufer”,18 einem 13
Kilcher [wie Anm. 12]. S. 135. Heinrich Heine: Geständnisse. In: Heinrich Heine. Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Bd. 15. Hg. von Manfred Windfuhr. Hamburg: Hoffman und Campe 1982. S. 43. 15 Chaim Noll: Enge oder ein Versuch, Amerikanern Deutschland zu erklären. In: Ders.: Leben ohne Deutschland. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1995. S. 75–95. Hier: S. 91. 16 Ebd. 17 “In line with postmodern thinking”, fasst Anat Feinberg Nolls Heimat-Reflexionen zusammen, “Noll invites his readers to tolerate the nomad, the uprooted foreigner, and to renounce political division, to vote for the anti-nationalistic European option […]”. Feinberg [wie Anm. 12]. S. 178. So schreibt Noll: “Zu sagen ‘Ich bin Europäer’ – was bedeutet das? Zuerst mit dem Gefühl der Weite fertig werden, mit dem Verlust an Geborgenheit, Sicherheit, Überblick und was noch alles in der nationalen Enge eingeschlossen war. […] Ein anderes Lebensgefühl gehört dazu. Eine Bereitschaft, auf Ungewohntes loszugehen, nicht panisch zu flüchten in die warmen, rauchigen Nester der Vergangenheit”. Noll: Nation ist keine Insel. In: Leben ohne Deutschland [wie Anm. 15]. S. 117-130. Hier: S. 119. 14
320 Land, letztlich nach einer Heimat: “Ein Land müsse es geben”, gibt Noll die Perspektive seiner Frau angesichts der über mehrere Länder verstreuten Familie wieder, “in dem man gemeinsam zuhause sei”.19 Diese Sehnsucht sei so stark gewesen, dass sie sogar die Italien-Zeit dominiert habe, während derer Noll und seine Frau “einige Jahre lang glaubten, ‘im Exil zuhause’ zu sein”:20 “Wir hatten uns nie wirklich vorstellen können, was es bedeutet, zuhause zu sein. In Italien kam dieses Gefühl zum ersten Mal auf, breitete sich im Körper aus, verursachte Entspannung”. Aber dennoch, schreibt Noll, “war eine unerklärliche Trauer in meinem Herzen”,21 und an anderer Stelle: “Wir wussten, dass auf der anderen Seite des Meeres die Lebenden waren, und dass wir nicht zurückbleiben wollten auf der Seite der Toten, der Mahnung, des Vorwurfs. Dass wir hinüber wollten in das Land der Lebendigen, wenigsten um es zu sehen”.22 Natürlich ist hier von Israel die Rede, dem Staat, von dem ein geheimnisvoller Sog ausgeht, und der für Noll ein “Wunder an Tapferkeit”23 ist und ein “Symbol für die Wiederauferstehung des Judentums aus Verfolgung, Demütigung und Massenvernichtung”.24 Mit der Dichotomie ‘tot-lebendig’ korrespondiert eine räumliche Dichotomie ‘Nord-Süd’: Während der ‘Norden’ für Tod, die Shoah und Deutschland steht und ähnlich wie in Hessings Roman semantisiert wird, repräsentiert der ‘Süden’ zunächst mit Italien bzw. Rom ein “Zuhausegefühl” und steht für die Befreiung von “der Last […] täglicher Anspannung gegen ein Außen” und – angesichts der jüdischen Gemeinde Roms – für das “Erlebnis jüdischen Lebens”.25 Der Bevorzugung des Südens korreliert eine Affinität zu “Alten Welt[en]”,26 die Noll schon in der DDR über Weimar und Goethe in Italien/Rom findet. Vermittels dieser zeitlich-räumlichen Parameter formt er rückwirkend seinen Migrationsweg als einen Überlebensweg aus der Heimatlosigkeit und Fremdheit, als einen Weg, der geradezu folgerichtig aus dem “falschen Ort” DDR bzw. Deutschland, dem Nullpunkt jüdischer Existenz, über Weimar nach Italien führt und sein eigentliches Ziel, den
18
Chaim Noll: Goethe, Kafka und in die Ferne führende Folgerungen [wie Anm. 1]. S. 68. 19 Chaim Noll: Das andere Land. In: Fleischmann/Noll [wie Anm. 1]. S. 75–88. Hier: S. 83. 20 Ebd. 21 Noll: Goethe, Kafka und in die Ferne führende Folgerungen. S 68. 22 Noll: Das andere Land. S. 80. 23 Ebd. S. 77. 24 Chaim Noll: Klarer Himmel über Jerusalem. In: Fleischmann/Noll [wie Anm. 1]. S. 147–160. Hier: S. 148. 25 Noll: Goethe, Kafka und in die Ferne führende Folgerungen. S. 64. 26 Ebd. S. 62.
321 “richtige[n]”27 Ort, in der noch älteren Welt, in Israel findet – eine Emigration also aus Sehnsucht nach den “Ursprüngen”28 und ‘zurück’ zu den verlorenen jüdischen Wurzeln. Unzweifelhaft zeugt die hier besprochene Publikation davon, dass Noll und auch Lea Fleischmann in Israel eine spirituelle Heimat gefunden haben, eine Nähe zu jüdischen Bräuchen und praktiziertem religiösem Judentum. Dass sich Noll als ein durch seine Erfahrungen in Deutschland und durch Emigration und Exil geprägter Heimat-Skeptiker nun in Israel mit einem Heimatbegriff auseinandersetzt, der sich auf ein Territorium und eine ‘ursprüngliche Einheimischkeit’ beruft, liegt nahe: “Das jüdische Volk war zweitausend Jahre in der Diaspora verstreut, alle diese einander Fremden sind Juden, haben eine gemeinsame Wurzel, und diese Wurzel ist das biblische Land”.29 Entsprechend ist seine Liebe zur israelischen Landschaft, seine Verbundenheit zur Wüste Negev nicht nur Zeichen eines ihn selbst erstaunenden territorialen Heimatgefühls, sondern Anlass genug für eine Revision bzw. Korrektur seiner früheren Infragestellung territorial gebundener ‘Heimat’: Jahre später in der Wüste Negev […] kam mir zum ersten Mal der Gedanke, dass es Menschen geben könnte, die deutsche Landschaften so innig lieben wie ich diese Wüste. Die sich, sagen wir, im Schwarzwald, in Mecklenburg, in der Eifel glücklich und zuhause fühlen. […] Es war fragwürdig, Menschen den einfachen Gedanken auszureden, dass sie eine Heimat hatten und folglich ein Recht, sich gegen feindliches Ansinnen zu behaupten – nur weil man selbst keine Heimat hatte oder sich einbildete, keine zu haben. Ich verstand, dass ich ihnen erst gerecht werden konnte, wenn ich selbst irgendwo zuhause war.30
Lässt sich diese Passage gewissermaßen als eine ‘Re-Naturalisierung’ von ‘Heimat’ lesen, insofern die vormals in Frage gestellte emotionale Verbundenheit mit einem Territorium (das hier allerdings nicht in seiner nationalen Konnotation zu verstehen ist, sondern eher regional-kulturell und landschaftlich) nun als ‘natürliches’ Bedürfnis (rück)codiert wird, beruft Noll sich an anderer Stelle sogar auf das alte, durch Besitz und Sesshaftigkeit definierte und auch in der hebräischen Bibel überlieferte “Heimatrecht”,31 um die jüdische Besiedlung von Hebron zu rechtfertigen. Fluchtpunkt dieser Passage – das wird im Unterschied zu Hessings Roman ganz deutlich – ist gerade keine ethnisch homogen konzipierte Heimatvorstellung. Vielmehr
27
Noll: Das andere Land. S. 78 und S. 85. Noll: Noll: Goethe, Kafka und in die Ferne führende Folgerungen. S. 62f. 29 Noll: Klarer Himmel über Jerusalem. S. 150. 30 Noll: Das andere Land. S. 80f. 31 Chaim Noll: Ein Tag in Hebron. In: Fleischmann/Noll [wie Anm. 1]. S. 169–82. Hier: S. 174. 28
322 belegt Noll mit demselben Bibelbezug, dass Hebron die Heimat von Arabern und Juden und der Ort ihrer “Aussöhnung” sei bzw. sein sollte: “Wenn uns aber so berichtet und überliefert wird, nämlich dass beide Söhne [Isaak und Ishmael, K.M.] Abraham zu Grabe trugen, gemeinsam wie Brüder, ist das ein allerhöchster Aufruf zum Frieden. Im Grunde ist Hebron der Ort, an dem dieser Frieden der Welt vorgeführt werden sollte”.32 Zwar ethnisiert, territorialisiert und essentialisiert Noll ‘Heimat’ in gewisser Weise mehr als je zuvor in seinem Schreiben, aber er homogenisiert sie nicht. Vielmehr verfolgt er ein Gesellschafts- und damit auch Heimatkonzept, das durchaus Heterogenität und Pluralität mit einbezieht. Ähnlich wie Hessing zeichnet aber auch Noll ein Israelbild, das sich durchgehend in die Opfer- und Selbstverteidigungsrolle einschreibt (so problematisiert er eben nicht die Politik, die Israel mit dem Heimatrecht betreibt, sondern er kritisiert die Israel-Politik der EU sowie die Berichterstattung der westlichen Medien). Auch Noll spricht also aus einer stark assimilativen Position heraus. Allerdings zeugen seine Texte dennoch von einem reflektierteren und differenzierteren Blick auf Israel. So bleibt ihm zum Beispiel als Pazifist, Wehrdienstverweigerer, DDR-Dissident und Gesellschaftskritiker der Nationalstaat Israel weiterhin “schmerzhaft fremd”: “Jetzt bin ich gehalten, das damit Unvereinbare zu akzeptieren: jüdische Soldaten, jüdische Raketen, ein staatsbezogenes Nationalgefühl, Wehrkunde, patriotische Erziehung, ein positives Bekenntnis zum Land, zur Armee”.33 Angesichts dieser Ambivalenzen nimmt es nicht Wunder, wenn Noll im Unterschied zu Hessings Protagonisten die Möglichkeit einer vollständigen Integration in die Territorialität und ihre imaginäre Gemeinschaft anzweifelt: Kann ich mir vorstellen, dieses ‘Wir’ eines Tages selbst auszusprechen, mein Fremdsein zu den Akten zu legen, einfach ‘nach Hause’ zu gehen? Habe ich überhaupt ein Zuhause, und falls ja, ist es dieses orientalische Land? Und selbst wenn ich die Frage theoretisch mit Ja beantworte und den schwierigen Schritt wage – würde dieses fremde Land allein dadurch mein ‘Zuhause’?34
Ohne Zweifel sind Nolls Auseinandersetzungen mit dem Thema ‘Heimat’ in dieser Publikation höchst heterogen: Gleichwohl er das ‘Heimweh’ nach dem Ort jüdischen Ursprungs als vorantreibendes Moment seiner Migration inszeniert, gleichwohl er die Migration als Überlebens- und Ausweg aus der Heimatlosigkeit kennzeichnet, und gleichwohl er als deplatziertes Subjekt in Israel heimisch/sesshaft geworden ist und angesichts seiner vormals geographisch entkoppelten, mobilen Heimatkonstruktionen insgesamt eine Tendenz zur 32
Ebd. S. 177. Noll: Klarer Himmel über Jerusalem. S. 155. 34 Ebd. S. 156. 33
323 Territorialisierung von ‘Heimat’ zu verzeichnen ist – das vorgefundene Land Israel bleibt für Noll als ‘Heimat’ in sich brüchig und ‘Heimat’, verstanden als vollständige Auflösung von ‘Fremdheit’ und als ungebrochene Vertrautheit (wie es Nolls rhetorischen Fragen unter anderem nahe legen), freilich unmöglich. Doch Nolls Heimat-Reflektionen enden nicht ex negativo. So schreibt er, Lea Fleischmann aus einem Gespräch zitierend: “niemals kann man, wo man eingewandert ist, dieselbe Vertrautheit erreichen, als wäre es das Land der Geburt. Aber so geht es dem halben Land, die Hälfte der Israelis sind Einwanderer, also ist dieses Fremdsein seinerseits eine Art israelische Identität”.35 Zwar basiert diese Aussage unbewusst immer noch auf einem eher konservativen Heimatbegriff (Heimat als Land der Geburt und damit als natürlich gewachsene Zugehörigkeit, Vertrautheit zu Land und Tradition), doch indem diese Passage betont, dass in der israelischen Einwanderergesellschaft das ‘Fremde’ als konstitutiver und immanenter Teil des ‘Eigenen’ zu verstehen sei, wertet sie ‘Fremdheit’ als integralen Bestandteil der ‘neuen Heimat’ positiv um. Damit wird hier ein Heimatbegriff impliziert, der zwar in verschiedenster Weise an das israelische Territorium als Raum des Wohnens gebunden und dabei auch auf eine ‘ursprüngliche’ Einheimischkeit rekurriert und religiös aufgeladen ist, dem aber Diaspora und Migration als konstitutive und immanente Spur der Differenz, als bleibende Fremdheit bzw. Heimatlosigkeit, eingeschrieben sind. So werden Heimat und Heimatlosigkeit sowie Sesshaftigkeit/Wohnen und Deplatzierung/Bewegung aus ihrer Binarität enthoben. Zusammenfassend ließe sich zu Nolls aktuellsten Texten sagen, dass sie eine “unabschließbare Dialektik der Heimatlosigkeit” spiegeln, aus der gleichwohl eine neue Heimat entsteht, aber eine, deren Subjekte “heimkommende Heimatlose” und “heimatlose Heimkommende” sind.36 Israel ist freilich nicht für alle Juden eine Alternative zur diasporischen Existenz. So schildert Vladimir Vertlibs Roman Zwischenstationen (1999) gleich zwei gescheiterte Versuche einer russisch-jüdischen Familie, in Israel heimisch zu werden.37 Der Roman trägt deutlich autobiographische Züge: Wie sein Protagonist, ein heranwachsender Junge, emigrierte auch Vertlib (geb. 1966 in Leningrad) 1971 mit seinen Eltern als Fünfjähriger wegen des staatlichen und alltäglichen Antisemitismus aus der Sowjetunion. Doch aus der Auswanderung nach Israel entwickelt sich eine zehn Jahre dauernde Emigrations- und Remigrations-Odyssee, die im Roman über folgende Exilstationen verläuft: Israel – Österreich – Italien – Österreich – Niederlande – Israel – Österreich – via 35
Ebd. Vgl. zur “Dialektik der Heimatlosigkeit”: Ottmar Ette: ZwischenWeltenSchreiben. Literaturen ohne festen Wohnsitz. Berlin: Kulturverlag Kadmos 2005. S. 31–37. Hier: S. 34. 37 Vladimir Vertlib: Zwischenstationen. Wien: Deuticke 1999. Vom Autor überarbeitete Ausgabe. München: Deutscher Taschenbuchverlag 2005. Seitenangaben im Text. 36
324 Rom, Antwerpen, Luxemburg und die USA, aus der die Familie abgeschoben wird und sich dann, 1981, schließlich doch in Österreich niederlässt – ausgerechnet in der “Heimat Hitlers und vieler ‘kleiner’ Nazis”.38 Die verworrene Situation der permanenten Deplatzierung und des ständigen Unterwegsseins, die Erfahrung des Heimatverlusts, die Suche nach dem Glück, nach einem ‘Ankommen’ in einer neuen Heimat, die Konflikte zwischen Juden und Deutschen bzw. hier Österreichern sowie innerhalb jüdischer Differenzen sind die zentralen Themen des Romans. Sie werden homodiegetisch aus Sicht des Kindes erzählt, in schlichtem, häufig auch ironischem Ton. Ein Land nach dem anderen deklariert der Vater zur perfekten zukünftigen Heimat – aus seiner Sicht ein Ort, an dem Juden nicht diskriminiert sind und wo der “Sohn zu einem richtigen Einheimischen werden” kann, “zu einem wie alle anderen auch” (196). Doch egal, wo es die Familie probiert, nirgends kann oder will sie bleiben, immer wird sie von der vorgefundenen Realität enttäuscht. Heimat wird zur Fiktion, zur Utopie und sogar Israel, das Land, in das der Vater “so viele Hoffnungen gesetzt hatte”, von dem er glaubte, dass es eine “bessere […] Welt” sei, wird zum Ort der Desillusionierung (41): “[D]er Staat kümmert sich einen Dreck um seine neuen Bürger oder überantwortet sie der Willkür der Bürokratie” (38), erklärt der Vater, der in der Sowjetunion noch überzeugt davon war, dass “Lebensziel und Daseinsberechtigung eines Juden nur in der Auswanderung nach Israel” lägen (15). “Jeder kämpft für sich allein. Alle gegen- und nicht füreinander. Wer Beziehungen oder Geld hat, der kann sich’s richten. […] Wo ist da der Unterschied zu Rußland? Ist das der jüdische Staat, von dem wir geträumt haben?” (38). Das solidarisch-brüderliche Israel, wie es sich der zionistische Vater vorgestellt hatte, existiert nicht. Stattdessen fühlt er sich in der Siedlung nahe Tel Avivs, wo überwiegend Zuwanderer aus der Sowjetunion leben, als sei er “in einem Kischlak, einem Dorf irgendwo zwischen Klein-Usbekistan, Klein-Tadschikistan und Klein-Kirgisien gelandet” (106). Auch im jüdischen Staat sieht sich die Familie diskriminiert – diesmal als russische Immigrantia: War der Ich-Erzähler in der Sowjetunion als ‘Jude’ stigmatisiert, so ist er es in Israel als “feiger Russe” (128) und “Goi” (145), der vor seinen Mitschülern fliehen muss, weil diese ihn eigenhändig beschneiden wollen. Auch Vertlibs Roman zeichnet Israel als Einwanderungsland, betont dabei aber die innerjüdischen Konflikte und Disharmonien aus einer kritischdistanzierten Position. Dies trifft auch auf die Auseinandersetzung mit dem Terror zu, dem das Land tagtäglich ausgeliefert ist und der wiederum anti-ara38
Vladimir Vertlib: Schattenbild. In: Altes Land, neues Land. Verfolgung, Exil, biographisches Schreiben. Texte zum Erich Fried Symposium 1999. Hg. von Walter Hinderer, Claudia Holly, Heinz Lunzer und Ursula Seeber. Wien: Dokumentationsstelle für Neuere Österreichische Literatur 1999. S. 119–123. Hier: S. 119.
325 bische Aggressionen auf Seiten der jüdischen Bevölkerung schürt und selbst den Ich-Erzähler kurzzeitig zum Rassisten werden lässt. Denn auch die Mutter wäre beinahe Opfer eines Attentats geworden, hätte sie den Bomben-Bus nicht zufällig verpasst. Diese Erfahrung lässt die Familie das Land wieder verlasen. Als die Klassenkameraden davon erfahren, wird der Ich-Erzähler als “Jored”, als “Abtrünniger”, als “verachtenswerter Verräter” beschimpft und endgültig ausgeschlossen. Selbst die Lehrerin wirft dem gerade mal Zehnjährigen vor, dem “jüdische[n] Vaterland” den Rücken zu kehren und es nicht wie die anderen “auf[zu]bauen und [zu] verteidigen” (142). So sehr die Idealisierung Israels, der ideologisierte zionistische Identifikationsdruck und die innerjüdischen Diskriminierungen und Grenzziehungen kritisch beleuchtet werden, zugleich wird auch die Solidarität mit Israel, dem einzigen “Refugium für Juden, wenn sie in Not sind” (46) hervorgehoben: Als die Familie wieder zurück in die Sowjetunion will, verweigern die Eltern die Unterzeichnung einer von den sowjetischen Behören verlangten anti-israelischen Erklärung. Sie verzichten damit auf die Rückkehr, was den Weg in eine noch größere Unsicherheit bedeutet. So wie Israel sind auch alle anderen Exilstationen immer nur “Zwischenstationen”. Aus der permanenten Migrationsbewegung formt der Roman eine Topographie des Dazwischen. Das Leben der Eltern und ihres Sohnes spielt sich wesentlich in transitorischen Räumen ab, in Zwischenräumen, die von einem Ort oder Land zum nächsten führen (Einwanderungsbehörden, Konsulate, Büros jüdischer Hilfsorganisationen, Wartesäle, Zugabteil, Paternoster, Straßenbahn, Korridore). In Wien, der “Drehscheibe der Ostemigration” (30), hat der Ich-Erzähler das Gefühl, “daß sich in diesem Land das Leben hauptsächlich in den Gängen abspielte” (35). Auch die beengten, ärmlichen Wohnungen der Familie befinden sich häufig an dezentrierten, deplatzierten Orten oder in transitorischen Räumen: Ob in “Little Odessa”, einem russisch-jüdischen Einwanderer-Viertel im New Yorker Stadtteil Brooklyn oder im “Kischlak” in Israel; ob im italienischen Ostia, wo zahlreiche russische Juden auf die Emigration in die USA warten und dessen Atmosphäre an Israel erinnert oder im “russischen Schloß”, einem alten Mietshaus in Wien, wo die meisten Juden wiederum auf die Rückkehr-Erlaubnis in die Sowjetunion warten – stets sind es Gegen-Orte zum Autochthonen: transnationale russisch-jüdische Emigrations-Enklaven oder auch ephemere Transiträume, in denen sich eine Vielheit territorialer Signifikationen hybridisierend überlagern oder nur flüchtig kreuzen: Der Erzähler glaubte beinahe, die eigentümliche Außenwelt dieses fremden Landes existiere gar nicht, sei nur ein Gerücht oder Märchen. Ich dachte manchmal, ich sei in Israel, dann wieder, ich sei in Rußland, bis ich verstand, daß beides stimmte. Das Haus war ein Teil Israels und Rußlands, der sich in einer fremden Welt namens Wien befand. Keine Frage: Die Welt war wie eine Anzahl von Schachteln aufgebaut, die ineinanderpaßten. (31)
326 Das “Gefühl der Zwischenwelt” (263) korreliert, wie schon angedeutet, mit der scheinbar unausweichlichen Zwischenposition des Ich-Erzählers, die nicht mehr in eindeutigen Zugehörigkeitsverweisen oder binären Unterscheidungen zu fassen ist: “Ich bin das Oder Was”, antwortet der Ich-Erzähler auf die Frage “Bist du Jugoslawe oder was?”, und bringt damit die Marginalität und Hybridität seines Ichs zum Ausdruck (170). “Russen durftet ihr nicht sein, richtige Juden seid ihr keine mehr, Gojim aber auch nicht”, fasst wiederum eine befreundete religiöse Jüdin die disparaten Identitätsschichten des Ich-Erzählers ex negativo zusammen (287). Egal, auf welchem Territorium kollektiver Identität sich der Erzähler bewegt, stets bleibt eine Fremdheit in Eigen- wie Fremdperspektive an ihm haften. Indem der Roman dies derart verdichtet vorführt, stellt er nicht nur die essentialistische Identitäts- und Alteritätslogik in Frage, sondern auch die Kriterien kollektiver Identitäten überhaupt. So sehr die Sehnsucht des Vaters nach einem “Land des Glücks” (264) auf den ersten Blick eine territorial fixierte Heimat evoziert, letztlich dominieren in diesem Roman Vorstellungen von territorial entkoppelten Heimaten: Die “einzig wahre Heimat”, die “ultimative Heimkehr”, meint Bulli, ein jüdischer Migrant aus Tbilissi im österreichischen Exil während einer kritischen Diskussion um Israel, sei der Koffer – also das Unterwegssein selbst (41). Eine alte Westukrainerin erklärt dem Ich-Erzähler in Italien, dass er froh sein könne, seine Eltern zu haben, denn wo er auch sei, sie blieben sein “Heim” (150). In ähnlicher Weise betrachtet es eine jüdische Freundin in Wien: “Letztendlich […] ist es doch gleichgültig, wo man lebt. Man hat seine vier, fünf Freunde, und auf die kommt es an. Die guten Freunde findet man überall” (255). Gerade der Verlust seiner Freunde trifft den Ich-Erzähler immer besonders schwer, wenn die Eltern Hals über Kopf das Exil für ein anderes verlassen. Oft sind dann die Kinderbücher seine letzte heimatliche Bastion, denn sie erzählen von der besseren, “der heilen Welt”, von der er zwar weiß, dass sie eine fiktionale, “erlogene” ist, nach der er sich aber, ähnlich wie der Vater, sehnt und in die er sich hineinbegeben kann, indem er liest (144 und 160). All diese individuellen, subjektiven Heimat-Interpretationen grenzen sich letztlich ab von geographisch definierten Heimatbegriffen und sind Ausdruck von Versuchen, einen alternativen Heimatbegriff für eine entwurzelte, deplatzierte Existenz ohne festen Wohnsitz produktiv zu machen. Doch für die Eltern und zunächst auch für den Ich-Erzähler bleibt der Heimatverlust eine schmerzliche Erfahrung, die ausgerechnet in der Sesshaft-Werdung der Familie ihren eigentlichen Höhepunkt hat: Indem die emigrationsmüde Familie beschließt, in Österreich zu bleiben – an einem Ort, wo der Vater bei jedem älteren Mann befürchtet, er könnte der Mörder seiner Großmutter sein; an einem Ort, wo “der Antisemitismus” alles andere als ein “marginales
327 Phänomen” ist (280) – scheint die Unmöglichkeit von ‘Heimat’ endgültig besiegelt zu sein.39 Gerade die Ambivalenz, sich in der “Heimat Hitlers” niedergelassen zu haben und die Erfahrung der jahrelangen vergeblichen Suche nach einem “Land des Glücks” lässt den Ich-Erzähler erkennen, dass ‘Heimat’ immer nur Utopie ist: “Die bessere Welt war immer anderswo gewesen […], seit meiner frühesten Kindheit hatten die Eltern von diesem Land gesprochen. Dort war ich zu Hause” (264), reflektiert der Erzähler und beendet mit dieser Erkenntnis die aussichtslose Jagd nach einem idealisierten Traum eines Heimat-‘Landes’. Er migriert stattdessen in die allerdings nicht weniger fiktive Welt der “fernen Vergangenheit” (264): in die überlieferte Welt der griechischen Antike, der Wiege des Abendlandes und, wenn man so will, des europäischen Humanismus. Jedoch nur flüchtig: Denn als sich der Ich-Erzähler in ein Mädchen verliebt, beschließt er schnell, “nach Österreich zurück[zukehren]” (265), um an der gegenwärtigen Realität des Lokalen teilzuhaben. Evoziert werden damit folgende Heimat-Implikationen: Zum einen, dass nicht das ‘Land’ selbst, sondern die Sehnsucht danach, also das Heimweh, das eigentliche Heimatgefühl ist. ‘Heimat’ konstituiert sich in dieser Perspektive und auch in Ähnlichkeit zu Chaim Noll aus “dem Fehlendem”, aus dem, was im ‘Hier’ und ‘Jetzt’ “nicht mehr oder auch noch nicht” ist.40 Doch während Nolls jüngstem Schreiben eher eine Re-Naturalisierung von Heimatgefühlen eigen ist, wird bei Vertlib der Konstruktcharakter dieses Heimwehs betont: Die Heimat-Sehnsucht des Protagonisten wird als etwas markiert, das sich durch die Eltern in die Kartographie seiner Biographie eingeschrieben hat. Zum anderen werden Heimaten konstruiert, die nicht territorial fixiert sind: Einmal die geistig-ideelle und damit auch transportable Heimat des europäischen Humanismus. Und das andere Mal eine gänzlich entgrenzte und dynamisierte Heimat: Im “anderswo” bleibt die Referenz auf einen Ort zwar bestehen, aber es ist ein imaginärer Ort, dessen Koordinaten sich in der Realität immer wieder verschieben, dessen Lokalisierung letztlich unmöglich ist und den das Subjekt deshalb nicht einholen kann (nicht hier, nicht dort, sondern “immer 39
Vgl. zum Thema Antisemitismus die ältere Frau, die an den Nachmittagen auf den Protagonisten aufpasst und sich als überzeugte Faschistin mit Führerbild und Devotionalien entpuppt (S. 50–57), und den Nachbarn im Treppenhaus, der sich nicht einmal bemüht, seine antisemitische Haltung zu verstecken (S. 63). Darüber hinaus wird mit dem realgeschichtlichen Bezug auf die Bundespräsidentschaft Kurt Waldheims deutlich gemacht, dass die Gefahr eines neuerlichen Aufblühens des Antisemitismus eben nicht lediglich eine jüdische “Paranoia” ist (ebd. S. 283): “Vieles [ist] wieder möglich, was vor einigen Jahren noch undenkbar gewesen wäre”, reflektiert der Ich-Erzähler (S. 279). Und die ebenfalls in Wien lebende Jüdin Rita meint, dass sie sich “[s]ogar in Deutschland sicherer” fühlen würde (S. 283). 40 Bernhard Schlink: Heimat als Utopie. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2000. S. 32.
328 anderswo”). Heimat als U-topie meint hier im wörtlichsten Sinne einen NichtOrt, eine Imagination, die in Wirklichkeit nicht ist.41 Doch das Ende des Romans eröffnet noch einen anderen Blick auf ‘Heimat’: Der Ich-Erzähler verlässt die Metropole Wien und zieht aufgrund seiner neuen Liebe in die Provinzstadt Salzburg. Während seiner Reflektion über die in der österreichischen bzw. genauer Wienerischen Imagination traditionelle Opposition von urbanem Zentrum und Peripherie (welche eine Gradierung von kulturellem und sozialem Prestige vorgibt) wird ihm bewusst, wie sehr er die “Vorurteile dieser Stadt übernommen” hat und inzwischen also selbst “zum Wiener”, ja “heimisch […] in diesem Land” geworden ist (300). Während Chaim Noll in der jüdischen ‘Ur-Heimat’ eine bleibende Heimatlosigkeit/Fremdheit als konstitutive und immanente Differenz von ‘Heimat’ fokussiert, pointiert Vertlib ein partielles Heimisch-Werden in einem Land, das das Maximum an jüdischer Heimatlosigkeit repräsentiert. War das ‘Land der Täter’ in den bisher besprochenen Texten entweder ein unmöglicher oder, wie bei Vertlib, zumindest ein ambivalenter Ort jüdischer Existenz und Heimat, ist Deutschland in den autobiographisch geprägten Kurzgeschichten Wladimir Kaminers (geb. 1967 in Moskau) “genau das Richtige” (R.12). Kaminer kam im Zuge jener Zuwanderungswelle aus der bereits zerfallenden UdSSR in die sich gerade auflösende DDR, die im Sommer 1990 einsetzte.42 Die ungewöhnliche, mit Dilettantismus, Naivität und Entpolitisierung kokettierende Nonchalance, mit der Deutschland (genauer Ostberlin) in Kaminers Texten zum Emigrationsziel erkoren wird, deutet es schon an: Während Vertlibs Romanfiguren sowohl ein jüdisch-diasporisches als auch ein säkulares Selbstverständnis mit ihren Migrationserfahrungen verknüpfen, haben Kaminers Ich-Erzähler und seine jüdischen Emigranten-Figuren ein ausschließlich säkulares Selbstverständnis. Sie repräsentieren noch stärker als Vertlibs Romanfiguren den “homo sovieticus” ohne Verwurzelung im Judentum, insofern in Kaminers Schreiben auch die Narrative um die Marginalisierung und Verfolgung der Juden, um die Shoah, den Zweiten Weltkrieg und die Stalinisierung stark zurückgenommen und gebrochen sind.43 ‘Jüdische Identität’ steht entsprechend nur selten im Zentrum des Erzählens und wird – freilich aus ironischer Distanz und dezidiert postsowjetischem Blickwinkel – als Spaßfaktor 41
Vgl. zu Heimat als Utopie und “Nichtort”: Ebd. Hier vor allem S. 32f. Motiviert von einer späten Anerkennung zu leistender Reparationen erließ die letzte DDR-Regierung einen Beschluss, der sowjetischen Juden dauerhaftes Bleiberecht zusicherte und sechs Monate lang, bis zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten, unter sehr unkomplizierten Aufnahmebedingungen wirksam war. 43 Siehe zu Kaminers Darstellungen der jüdischen Emigranten-Figuren als “homo sovieticus”: Olaf Terpitz: Russendisko and the Yid Peninsula. The Concepts of Art and Lebenswelt in the Work of Wladimir Kaminer and Oleg Iur’ev. In: Leo Baeck Institute Year Book. Hg. von J.A.S. Grenville und Raphael Gross. 2005. S. 289–298. 42
329 jugendlicher Rebellion in der Sowjetunion, ja sogar als libertäres Privileg, als Ticket aus der Enge des sowjetischen Regimes in die Freiheit des Westens stilisiert. “Judentum als Reiseleiter” titelt entsprechend ein bisher von der Forschung noch nicht beachteter autobiographischer Kurzprosatext aus dem Jahre 2002, der hier zuerst besprochen werden soll.44 “Ich bin in einem Gastland aufgewachsen, gehöre nicht ganz hier her und muss meinen Pass nach Möglichkeit geheim halten” – das ist die durch übertriebenes Pathos ironisch gebrochene “wichtige Lebenslehre” (JaR 58), die der 16-jährige, in Moskau geborene und lebende Ich-Erzähler aus dem Schulunterricht zieht. Während die Mitschüler den Pass als “Zeichen endgültigen Erwachsenseins” (JaR 57) stolz vor der Klasse zeigen, bedeutet dieselbe Geste für den Ich-Erzähler die Verwandlung in einen ‘Juden’. Denn im Unterschied zu den Pässen der anderen “frisch gebackenen Sowjetbürger” (JaR 57) steht bei ihm unter der Rubrik ‘Nationalität’ der Eintrag “Jude” (JaR 57). Die Kontinuität zwischen Nativität und Nationalität wird hier schon gebrochen, noch bevor der Ich-Erzähler überhaupt ausgewandert ist und das mit einer rassischen (wenn nicht gar rassistischen) Zu- und Festschreibung.45 Darüber hinaus sind die antisemitischen Ressentiments des ‘mustergültigen Vielvölkerstaats’ nicht zu überhören: “ ‘Kaminer will sich nicht ausweisen, er hat einen Judenpass!’, schrie einer der Schüler. Die ganze Klasse lachte […]” (JaR 58). Für den plötzlich als ‘fremd’ stigmatisierten Erzähler beginnt daraufhin tatsächlich eine Migration, zunächst vom Zentrum an den Rand der Gesellschaft. Die Bekanntschaft mit Kazman, der aus seiner Jüdischkeit “kein Geheimnis” (JaR 58) macht, bringt den Ich-Erzähler “auf den Berg” (JaR 58), zu einer Gemeinschaft jüdischer Jugendlicher, die sich auf einer kleinen, steilen Straße, vor der Moskauer Synagoge trifft. Freilich erinnert das metaphorische Potential des ‘Bergs’ an den Heterotopos des ‘Elfenbeinturms’ gesellschaftskritischer Intellektueller. Und tatsächlich gebaren sich die Jugendlichen nicht etwa als Religionsgemeinde, sondern vielmehr als ein widerständiges Lager, das bei einer der “lustige[n]” Demonstrationen sogar die Ausreise nach Israel fordert, einem erklärten politischen 44
Wladimir Kaminer: Judentum als Reiseleiter. In: So einfach war das. Jüdische Kindheit und Jugend in Deutschland seit 1945. Hg. von Cilly Kugelmann und Hanno Loewy. Köln: DuMont 2002 (Zeitzeugnisse aus dem Jüdischen Museum in Berlin). S. 57–60. Im Folgenden: (JaR). 45 Die Bestimmung der ‘Nationalität’ richtete sich in der UdSSR allein nach der Abstammung (vom Vater) und war irreversibel. Aufgrund dieser Zuschreibung einer ‘jüdischen Nationalität’ konnte ein Jude in der Sowjetunion “zahlreiche[n] Diskriminierungen im Berufsleben und bei der Ausbildung (Schulen, Universitäten)” ausgeliefert sein. Vgl. Vladimir Vertlib: Osteuropäische Zuwanderung nach Österreich (1976–1991 unter besonderer Berücksichtigung der jüdischen Immigration aus der ehemaligen Sowjetunion. Quantitative und qualitative Aspekte. Wien: Institut für Demographie 1995. S. 44.
330 und ideologischen Feind der Sowjetunion. Mit der gleichsam exterritorialen Lokalisierung in der heterotopisch signifizierten “Berg”-Gemeinschaft entwickelt der Ich-Erzähler einen neuen, affirmativen Bezug zu seiner Jüdischkeit, indem er sie als Privileg zu Subversion und Provokation umwendet, wodurch es “auch Spaß machen konnte, ein Jude in der Sowjetunion zu sein” (JaR 58). Seinen ernsten Höhepunkt hat dieses Spiel daraufhin in einer zweiten Migrationsbewegung, diesmal vom Rand der sowjetischen Gesellschaft ins Ausland. Während der Ich-Erzähler nach Deutschland auswandert, weil er “keinen Bock auf den Nahen Osten” hat (JaR 60), geht Kazman nach Israel. Doch die Lokalisierung im religiösen, nationalen, territorialen Zentrum des Judentums ist nur vorübergehend: “ ‘[Z]u viele Juden’, beschwerte er sich. Etwas Besonderes zu sein, so wie damals auf dem Berg, das war in Israel schlecht möglich” (JaR 60). Das ‘Gelobte Land’ wird nicht zur ‘neuen Heimat’ und setzt stattdessen, ähnlich Vertlibs Roman, eine radikalisierte Deplatzierung in Gang: Ob in Israel, Kalifornien oder wieder in der ‘alten Heimat’ Moskau – nirgends kann Kazman einen “richtigen Platz für sich finden” (JaR 60). Noch radikaler als Vertlibs Protagonist, der ja am Ende ‘ankommt’, ist Kazman eine Bewegungsfigur geworden, eine Figur scheinbar niemals endender Migration. Entsprechend wird ‘Heimat’ in diesem Text noch radikaler dynamisiert, entgrenzt und u-topisch, weil sie scheinbar für immer keinen Ort mehr hat und auch kein Ort mehr ist. Freilich erinnert die Figur Kazman an das stereotype Bild des ewig wandernden, nomadischen, heimatlosen Diaspora-Juden, doch zugleich wird dies durch den Titel des Textes ironisch gebrochen. Dass die jüdische Emigration hier lapidar als ‘Reise’ markiert wird, kennzeichnet die säkulare, sowjetische und postsozialistische Prägung des Erzählhorizontes. Noch deutlicher lässt sich dies in Kaminers 2000 erschienenem Debüt Russendisko nachvollziehen. Auch hier figuriert “Judentum als Reiseleiter”, indem ‘Jüdisch-Sein’ mit der Auflösung der Sowjetunion (in der ja Reisebeschränkung herrschte) zum Schlüssel einer “der größten Freiheiten der Demokratie, [der] Bewegungsfreiheit” (R 33) avanciert, ja zur “Freikarte in die große weite Welt” (R 11) bzw. genauer: in die westliche Welt: Die Juden, die früher an die Miliz Geld zahlten, um das Wort Jude aus ihrem Pass entfernen zu lassen, fingen an, für das Gegenteil Geld auszugeben. […] Viele Leute verschiedener Nationalität wollten plötzlich Jude werden und nach Amerika, Kanada oder Österreich auswandern. (R 11)
‘Jüdische Identität’ wird hier nicht essentialistisch, ethnisch, religiös oder national konnotiert, sondern als etwas, das sich an situationsbedingten Bedürfnissen orientiert.46 Entsprechend verwundert es nicht, wenn sich der 46
Siehe dazu auch Olaf Terpitz: “Zwischen den Zeiten”. Russisch-jüdische Schriftsteller in Deutschland. In: Zwischen Erinnerung und Neubeginn. Zur deutschjüdischen Geschichte nach 1945. Hg. von Susanne Schönborn. München: Martin Meidenbauer 2006. S. 232–249. Hier: S. 241.
331 Erzähler über die Erwartungen der lokalen jüdischen Gemeinden lustig macht, welche auf der Grundlage eines religiösen Verständnisses von Judentum prüfen, “wie jüdisch diese neuen Juden wirklich waren” (R 14). So relativiert der Erzähler die rituelle Beschneidung, wie Olaf Terpitz in seiner Untersuchung formuliert, “zu einer formalen Beschreibung, die weder seine Person als Individuum noch ein Gruppenverständnis von Ethnie oder Nation tiefgreifend berührt”.47 Wie fremd dem Erzähler identitäre Kategorisierungen generell sind, wird in Mein deutsches Dschungelbuch deutlich: “Ich höre auf jeden Namen”, erklärt der Erzähler angesichts der verschiedenen Titulierungen, die er durch die Presse verpasst bekommt, ob “Russe”, “[d]eutscher Autor russischer Abstammung” oder “jüdischer Schriftsteller”.48 Was sich in den spielerischen Erzähler-Betrachtungen zu Jüdisch-Sein und Identität schon andeutet, prägt auch die Heimat-Parameter. In der Vagheit und Mehrdeutigkeit von Zugehörigkeit und Identität wird ein offener Heimatbegriff fokussiert. So sind die Erzähler-Betrachtungen zu ‘Heimat’ und ‘Fremdheit’ untrennbar verbunden mit der Zuordnung des eigenen Lebens in eine sich kulturell stetig verändernde und ausdifferenzierende ‘neue’ Welt nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und in eine ethnisch und kulturell vielfach codierte, soziale Gruppe, deren kleinster gemeinsamer Nenner die Emigrationserfahrung ist. Im Zentrum von Russendisko und auch Schönhauser Allee steht entsprechend der im Emigrantenmilieu verortete Alltag in der plurikulturellen, diversifizierten und anonymisierenden Großstadt Berlin. Mit salopper Sprache und lakonischer Ironie wird dieser Alltag grotesk überzeichnet und bisweilen auch ins Surreale, Mystische oder Absurde gewendet. Die Protagonisten der skurrilen Kurzgeschichten sind Legale und Illegale aus der ganzen Welt. Sie arbeiten oder wohnen auf der Schönhauser Allee – der größten Straße des Berliner Stadtteils Prenzlauer Berg und der “Wahlheimat” des Erzählers – und sie alle versuchen, sich mit ihrer ‘neuen Heimat’ und dem westlichen Kapitalismus zu arrangieren.49 Die vom Erzähler geschilderten Erlebnisse, seine moralischen Reflexionen und ethnographischen Beobachtungen im Berlin der Gegenwart werden immer wieder an Erfahrungen aus der Sowjetunion geknüpft, woraus sich häufig eine ironische Gegenüberstellung von ‘deutschen’ und ‘russischen’ Verhaltens- und Denkweisen ergibt – das markanteste Witzelement Kaminerschen Schreibens. Doch welche Heimat-Implikationen lassen sich nun konkret extrahieren? Wie anhand von “Judentum als Reiseleiter” deutlich wurde, konstituiert sich die Erfahrung von ‘Heimat’ auch bei Kaminer zunächst durch deren Verlust und 47
Ebd. Wladimir Kaminer: Mein deutsches Dschungelbuch. München: Goldmann 2003. S. 117. Im Folgenden: (MdtD). 49 Wladimir Kaminer: Schönhauser Allee. München: Goldmann 2001. S. 177 und S. 191. 48
332 zwar – wie letztlich in allen hier besprochenen Texten – schon aufgrund einer Deplatzierung und minoritären Position im Land der Geburt bzw. Kindheit. Im Unterschied zu den anderen Texten allerdings konterkariert Kaminers Erzähler durch die doppelte Kommunikation der Ironie die pathetische Rhetorik von Heimatverlust und Heimatlosigkeit. Gleichwohl in Russendisko und auch in Schönhauser Allee die Zäsur der Emigration die zentrale Referenz ist, sind die Texte vor allem auch Zeichen der Annäherung an und Lokalisierung in der ‘neuen Heimat’. Diese konstituiert sich durch die Imagination einer urbanen, kosmopolitischen, heterogenen Migrantengemeinschaft, die wesentlich am Lokalen, an der Schönhauser Allee, teilhat und zugleich aber auch durch Verbindungen zu weiteren exterritorialen Orten und Zugehörigkeiten geprägt ist. Entsprechend wird Kaminers “Wahlheimat” radikaler als bei jedem anderen hier untersuchten Autor als transkultureller Raum sowohl des Wohnens als auch der Dynamik und Migration gekennzeichnet. Sie ist ein Gegenraum zur autochthonen Einheimischkeit, der sich jeglicher Homogenisierung und Essentialisierung entzieht und von Menschen, Waren, Zeichen usw. durchkreuzt wird, ein Raum, in dem sich viele territoriale Signifikationen hybridisierend überlagern und in dem sich deshalb raumbezogene lokale Heimattraditionen und ihre identitären Symbolisationen als Konstrukte erweisen.50 Wenn ‘Heimat’ in einem solch grundlegenden Sinne als ein multiethnischer, plurikultureller, heterogener, glokaler Kulturraum definiert wird, dann wird sie (positiv formuliert) eigentlich überall möglich, zumindest in jeder Großstadt und sogar auch in dem Land, von dem die Shoah ausging. Entsprechend formuliert Olaf Terpitz in seiner Untersuchung: Kaminers “Antwort als russischer Jude der Postmoderne in Deutschland lautet […] nicht ‘ubi patria, ibi bene’ oder ‘ubi bene, ibi patria’ sondern ‘ubi ego, ibi patria’, wobei die Begriffe Heimat oder Vaterland ihre politischen und ethnischen Konnotationen eingebüßt haben”.51 50
So erklärt der Erzähler in Geschäftstarnungen (R 97–99): “Berlin ist eine geheimnisvolle Stadt. Nichts ist hier, wie es zunächst scheint” (R 98). Seine Untersuchung ‘fremdländischer’ Restaurants führt vor, wie unsinnig die Suche nach ‘Identität’, ‘Ursprünglichkeit’ und ‘Authentizität’ in diesem Raum ist: Die Türken im türkischen Imbiss waren “Bulgaren, die nur so tun, als wären sie Türken” (R 97). Die Italiener im Restaurant nebenan, “entpuppten” sich “als Griechen” und die Angestellten im griechischen Restaurant “erwiesen” sich “als Araber” (R 98). “Selbst das letzte Bollwerk der Authentizität, die Zigarettenverkäufer aus Vietnam” (R 99) ist nur ein Trugbild, denn sie kommen aus der Mongolei. Die Migranten bedienen die kulturellen Klischees, um die Erwartung der Konsumenten zu erfüllen, wird als Erklärung geliefert. Doch auch in den “typisch einheimischen Läden” findet der Erzähler keine “unverfälschte Wahrheit” (R 99): Als er fragt, “wer die so genannten Deutschen sind”, stößt er “auf eine Mauer des Schweigens” (ebd.). Vgl. auch den Beitrag von Christoph Meurer in diesem Band. 51 Terpitz [wie Anm. 46]. S. 242.
333 Eines sollte allerdings nicht unberücksichtigt bleiben, denn ganz so beliebig ist ‘Heimat’ auch bei Kaminer nicht: Die Schönhauser Allee bzw. der Prenzlauer Berg werden nicht nur als ein ‘gewähltes’, sondern auch exterritoriales Gebiet in Deutschland gekennzeichnet: “Berlin ist nicht Deutschland, und der Prenzlauer Berg erst recht nicht” (MdtD 7), heißt es entsprechend in Mein deutsches Dschungelbuch. Und das nicht nur, weil Berlin als Großstadt notwendig eine extrem katalysierende Funktion bezüglich kultureller Dynamiken und Hybridisierungen hat, sondern weil der Prenzlauer Berg während der 1990er Jahre eines der künstlerischen, intellektuellen und alternativkulturellen Zentren Deutschlands repräsentiert. Der dargestellten Lokalisierung von Heimat in der ‘offenen Gesellschaft’ Berlins ist damit immer noch der heterotopische ‘Berg’-Charakter eingeschrieben. Die ‘neue Heimat’ des Erzählers ist also wie in “Judentum als Reiseleiter” als exterritorial, als randständig gekennzeichnet – bleibt aber wie Olaf Terpitz bereits herausstellte, entpolitisiert: Der Erzähler ist gleichmütig und sich selbst genug. Er fühlt sich schlichtweg dort wohl, wo es ihm gefällt. Insofern ließe sich Terpitz’ Heimat-Formel für Kaminer nur noch folgendermaßen komplettieren: ‘ubi bene, ibi ego’. “Heimat, teure Heimat: ein schönes Wort. Doch als Begriff taugt es nicht viel”, schreibt Joachim Riedl und empfiehlt seine Anwendung “nur erfahrenen Praktikern der Chaos-Theorie”.52 Und das mit Recht, möchte man angesichts der Vielfalt der Konnotationen, Assoziationen und Interpretationen von ‘Heimat’ in den hier besprochenen Texte meinen. Sie geben eine Ahnung von der nicht reduzierbaren Mehrdeutigkeit dessen, was Heimat alles bedeuten kann. Aber im Unterschied zu Riedl, der den Heimatbegriff angesichts der massiven Migration und der sozial wie politisch destabilisierenden Transnationalisierungsprozesse unserer Zeit gänzlich in Frage stellt,53 zeigen die analysierten literarischen Heimatkonstruktionen dieses Beitrages, dass sie nach mehr als einem Leseakt ex negativo verlangen. Als Medium und Resultat kultureller Dynamiken geben die hier besprochenen Literaturen Beispiele dafür, dass auch in unserer ‘entheimateten Zeit’ nach wie vor Heimaten (literarisch) gebildet werden. Allerdings sind es Heimaten, die es so zuvor für die jeweils repräsentierten heimatlosen Subjekte noch nicht gab, und für deren Konstruktion sich Heimatlosigkeit, Fremdheit und kulturelle Differenz sowie das Wechselverhältnis von Lokalisierung/Sesshaftigkeit/Wohnen und Deplatzierung/Bewegung/Migration als konstitutiv, ja meist sogar als immanent erweisen. 52
Joachim Riedl: Heimat! Welche Heimat? Über den Umgang mit einem schwierigen Begriff. In: Heimat. Auf der Suche nach der verlorenen Identität. Hg. von Joachim Riedl. Wien: Brandstätter 1995. S. 7–11. Hier: S. 7. 53 Vgl. Joachim Riedl: Keine Heimat. In: Riedl [wie Anm. 52]. S. 171–173.
334 Die Analysen haben gezeigt, dass in jedem Text das Bedürfnis nach Heimat, nach Zuhausesein, nach einem Ort, an dem man leben will, eine zentrale Rolle spielt. Nicht umsonst ist ‘Heimat’ zum Beispiel für Hannah Arendt das Menschenrecht schlechthin und nicht umsonst ist das Recht auf Heimat in der UN-Charta festgeschrieben. Die analysierten Texte legen allerdings nahe, zwischen diesem elementaren Heimatrecht und einer Heimat im Verhältnis zu Ethnie und Territorium zu unterscheiden. Bezüglich letzterem dürfte deutlich geworden sein, dass Hessing und Noll sich deutlich von Vertlib und Kaminer unterscheiden. Obwohl sie alle Erfahrungen der Migration und Heimatlosigkeit gestalten, konstruieren sie Heimaten, die sehr verschiedene Identitäts- und Kulturpolitiken implizieren. Bei Hessing und Noll (bei Noll jedoch gebrochen) hat der Heimatbegriff eine eher traditionelle territoriale, nationalstaatliche, ethnische Bedeutung und er rekurriert (vor allem bei Noll) auf die Vorstellung einer religiös aufgeladenen Ursprünglichkeit bzw. Verwurzeltheit. ‘Heimat’ erfüllt in Hessings Roman vor allem kollektivierende Funktionen der Homogenisierung und ist entsprechend weniger im Bereich des Subjektiven, Individuellen als vielmehr im gesellschaftlichen, politischen Bereich angesiedelt. Implizit ist sowohl Hessings als auch Nolls Heimatbegriff vorausgesetzt, dass Heimat im konservativen Sinne eines territorialen Raums der Kultur und eines ethnischen Traditionszusammenhangs Bedingung für eine stabilere Identität und Existenz sei und dass umgekehrt der Verlust bzw. das Nichtvorhandensein eines solchen Raums die krisenhafte Zersetzung und Dissoziation von Identität, Kultur und Tradition bedeute. Während Hessing dabei allerdings die Binäropposition Heimat/Sesshaftigkeit vs. Heimatlosigkeit/Deplatziertheit nahezu reproduziert, bricht sie Noll, ohne sie dabei jedoch aufzuheben: Er fixiert einerseits eine bleibende Heimatlosigkeit/Fremdheit, und redet aber andererseits dennoch der Idee der Verwurzelung das Wort. Dem stehen die Heimatbegriffe von Vertlib und vor allem Kaminer gegenüber. ‘Heimat’ wird hier zu einer kosmopolitischen Losgelöstheit, zu einer Deterritorialisierung radikalisiert, die am Ende aber eben nicht ‘Heimatlosigkeit’ bedeutet. ‘Heimat’ korreliert entsprechend mit einem gänzlich entgrenzten Raum der Transkulturalität, in dem sich zahlreiche territoriale Signifikationen überlagern und flüchtig kreuzen und in dem sich politische, kulturelle, nationale, ethnische, identitäre Grenzziehungen verflüssigen oder auch gänzlich auflösen. Entsprechend werden die Hybridität, der Konstruktcharakter und die Deterritorialisierung von ‘Heimat’ betont. Vertlibs Roman Zwischenstationen tut dies, indem er Heimat (verstanden als ein Land das für eine “bessere Welt” steht) als Utopie entlarvt, als imaginäres, fiktives Ideal, das gleichwohl eine realitätsmächtige Wirkkraft hat. Insofern ‘Heimat als Utopie’ auch auf einen NichtOrt rekurriert, werden traditionelle territoriale, nationale, ethnische Definitionen von ‘Heimat’ in Frage gestellt. Entsprechend repräsentiert Vertlibs Roman zum
335 einen zahlreiche individuelle Varianten alternativer Heimaten, die vom Territorium, ja von der Territorialität entkoppelt sind, wobei einmal sogar das Unterwegssein selbst als Heimat interpretiert wird. Zum anderen wird die Heimat- bzw. Emigrationsrhetorik mit dem Begriff des ‘Zwischenraums’ verbunden, letztlich mit einem Kulturbegriff, der Kulturen als entgrenzte, hybride Räume sowohl des Wohnens als auch der Bewegung, des Transits und der Migration fasst. Daher ist es nur folgerichtig, wenn ‘Heimat’ im traditionellen Sinne eines territorial begrenzten Raumes bei Vertlib dekonstruiert wird, indem sie “immer anderswo” und damit also nirgendwo mehr lokalisierbar ist. Im Unterschied dazu wird bei Kaminer der entgrenzte, deterritorialisierte Raum der Transkulturalität selbst zur ‘Heimat’, wenn er seine “Wahlheimat” im urbanen Wohn-Raum der Schönhauser Allee, einem Brennpunkt von Migration und dynamischen Transkulturalisierungsprozessen, lokalisiert. Zwar konstruieren sich sowohl bei Vertlib als auch bei Kaminer die jeweiligen Heimatvorstellungen und -implikationen aus einem räumlichen, zeitlichen und mentalen Beziehungsgeflecht von ‘alter’ und ‘neuer Heimat’ bzw. bei Vertlib aus den Erfahrungen von Deplatzierung und Heimatlosigkeit während der MigrationsOdyssee, dennoch ist letztlich die alltägliche Erfahrung von Lokalität vor Ort der wesentliche Bestandteil der Identifikationsprozesse der Ich-Erzähler. Während Vertlibs Roman dabei die Ambivalenzen einer jüdischen Existenz im ‘Land der Täter’ bewusst hält, haben sie in der säkularen und entpolitisierenden Heimat-Perspektive Kaminers kaum noch eine Relevanz. So schwierig es ist, die vielschichtigen Facetten der verschiedenen hier besprochenen Heimatkonstruktionen angemessen und genau zu beschreiben, Folgendes dürfte deutlich geworden sein: Einerseits formatieren und signifizieren die vom Subjekt durchlaufenen und bewohnten Räume seine Identitätsbezüge, zugleich aber hängt die Wahrnehmung der Räume von den eigenen Identifikationen und deren Sinnzuschreibungen ab. Demgemäß bestimmen sowohl die “roots” als auch die “routes” die wechselseitigen und vielfältigen Beziehungen zwischen individuellen und kollektiven Identitäten54 – und mit ihnen auch die jeweiligen Heimatvorstellungen, die diskursiv hergestellt werden. Genau in diesen singulären Wechselverhältnissen von “roots” und “routes” wären auch die genauen Gründe dafür zu suchen, warum Hessing und Noll (die ja aufgrund ihrer Familiengeschichte und ihrer Kindheit/Jugend in Deutschland viel direkter und komplizierter mit den Nachwehen der Shoah und der deutsch-jüdischen Geschichte konfrontiert waren als etwa Vertlib oder gar Kaminer) den Verlust von Identität, Tradition, Geschichte und eben auch von Heimat mit/in Israel auf eher assimilatorische, 54
Vgl. Das Kapitel zu Diasporas in James Clifford: Routes. Travel and Translation in the Late Twentieth Century. Cambridge: Harvard University Press 1997. S. 244–277. Hier vor allem S. 251.
336 teilweise auch problematische Weise zu kompensieren versuchen, und warum Vertlib und Kaminer aus dem sowjetischen Sozialisationskontext und ihrer E/Immigrationsgeschichte heraus dagegen eher zu einer Universalisierung des kosmopolitischen Gedankens und zu einer deutlichen Abschwächung und Kritik ethnisierender Semantiken neigen. Ohne Frage, die in diesem Beitrag behandelten Texte wurden bewusst derart ausgewählt und angeordnet, dass eine solche Polarisierung geradezu entstehen musste. Fasst man die Texte aber im Gesamten, als einen pluralen Heimattext, bei dem Noll/Hessing und Vertlib/Kaminer zwei äußere Pole des möglichen Spektrums bilden, wird deutlich, dass für theoretisierende Überlegungen zum Heimatbegriff im Zeitalter der Migration sowohl das Festhalten an Konzepten des ‘Sesshaften’ als auch die mystifizierende Überhöhung des Nomadischen und der Entwurzelung fehl am Platz wäre. Während Vertlibs und Kaminers Texte das Festhalten an der Vorstellung, Heimat sei eine natürlich gewachsene Zugehörigkeit zu Land und Tradition und als solche Bedingung für eine stabile kulturelle Identität, in Frage stellen, tun dies Nolls und Hessings Texte in Bezug auf die derzeit populäre Universalisierung der Exil-, Migrations- und Diaspora-Diskurse. Deshalb sollte das, was Telse Hartmann mit Bezugnahme auf James Clifford55 für Konzepte wie kulturelle Hybridität und Transkulturalität veranschlagt und für die Literaturwissenschaft fruchtbar zu machen versucht, auch für einen zeitgenössischen Heimatbegriff vorausgesetzt werden: “Gefordert ist eine Auflösung des Binarismus von ‘dwelling or displacement’ durch die Fokussierung der je spezifischen, historisch singulären Dynamiken von ‘dwelling and displacement’ ”.56
55
Vgl. ebd. S. 18. Telse Hartmann: Zwischen Lokalisierung und Deplatzierung. Zur diskursiven Neuverhandlung kultureller Identitäten in den Kulturwissenschaften. In: Germanistische Mitteilungen. Zeitschrift für deutsche Sprache, Literatur und Kultur 50 (1999). S. 17–40. Hier: S. 33 [meine Hervorhebung].
56
Heinz-Peter Preußer
Europäische Phantasmen des Juden: Shylock, Nathan, Ahasver The phantasmagorias of ‘the Jew’ in Europe can only be understood in an extended concept of trans-cultural studies, not as xenologies in a narrow sense. It is not the understanding of the ‘alien’or ‘foreign’and the development of useful patterns for its description that is at stake, nor the marking of ‘third spaces’ that came into being through migration, wars, trade and colonialism as utopian vantage points. Rather, this chapter tries to show how the opposition between cultures and their conflictual encounters produce the self-conceptions that later are taken as ‘identities’. The roles of victim as well as perpetrator serve in equal measure for these processes. It is particularly difference which serves for the construction of ‘self’. Europe permanently reconstructs itself through that which it excludes, even in its individual, national mythemes. This is still true after the Holocaust – albeit under different parameters.
I. Prekäre Mythen Mythen haben eine grenzüberschreitende Wirkungsgeschichte. Sie wandern durch die Jahrhunderte und über die Schranken von Nationalliteraturen hinweg. Faust ist ein urdeutscher Held und doch adaptieren ihn andere Literaturen. Shylock wird geprägt von Shakespeare, die Inszenierungsgeschichte zeigt aber ganz spezifische Formen seiner Integration in nationale Diskurse. Wenn diese Diskurse prekär werden, etwa in Deutschland nach dem Holocaust, geraten die Muster in die Krise, wird der positive Heros Faust zum präfaschistisch Faustischen,1 wird die Negativfigur Shylock zum Opfer fremder Willkürherrschaft umgedeutet.2 Die Stereotype kippen, verkehren sich zum Gegenteil des Intendierten. Das ist genau der Punkt, an dem Mythen transkulturell gelesen werden können und nicht mehr dem weitgehend starren Schema von Hetero- und Autoimagines folgen, wie es die herkömmliche Xenologie oder Interkulturalitätsforschung etabliert haben.3 Diese prekären 1
Vgl. Hans Schwerte: Faust und das Faustische. Ein Kapitel deutscher Ideologie. Stuttgart: Klett 1962. S. 8f., 22f., 149f., 238f., 240. 2 Hans-Peter Bayerdörfer: “Shylock” auf der deutschen Bühne nach der Shoah. In: Shylock? Zinsverbot und Geldverleih in jüdischer und christlicher Tradition. Hg. von Johannes Heil und Bernd Wacker. München: Fink 1997. S. 261–280. Hier vor allem S. 263–265, 269, 271. 3 Dazu Alois Wierlacher und Corinna Albrecht: Kulturwissenschaftliche Xenologie. In: Konzepte der Kulturwissenschaften. Hg. von Ansgar Nünning und Vera Nünning. Stuttgart – Weimar: Metzler 2003. S. 280–306. Und: Das Fremde und das Eigene. Prolegomena zu einer interkulturellen Germanistik. Hg. von Alois Wierlacher. München: Iudicium 2000.
338 Mythen bilden zunächst Identitäten aus (der hässliche Jude, der ewig Strebsame), durchkreuzen sie aber wieder – in Konfrontation mit der Realgeschichte – und werden so, als subvertierte, schon dekonstruierte Mytheme, wieder zu neuen Sinnstiftungen. Man kann sie verstehen als Extreme im Prozess der Mythenkorrektur,4 nicht im Sinne der Widerlegung eines Mythos.5 Sie generieren durch die Korrektur, die sie erfahren haben, neue Identitätsmuster, die zurückwirken auf die Nationaldiskurse und diese abermals, verändert, etablieren. Dann ist das Faustische ein (camouflierendes) Signum für das Scheitern der deutschen Hybris, dann ist Shylock das reine kreatürliche Opfer, auf das sich die deutsche Identität – in negativer Symbiose – entwerfen kann.6 In der europäischen Literatur haben Juden häufig das Bild des schlechthin Anderen abgeben müssen. Sie stehen für Fremdheit, Missachtung, Ausschluss. Marginalisiert blieb ihnen das antisemitische Klischee zugewiesen (wie bei Shakespeares The Merchant of Venice) oder aber die philosemitische Überfigur entgegengesetzt (wie bei Lessings Nathan der Weise). Oftmals haben sich die nationalen Identitäten an diesen Ausgeschlossenen definieren wollen. So sind die europäischen Phantasmen des Juden indirekt beteiligt an den Selbstzuschreibungen im Zuge der Nationenbildung seit dem 15. und 16. Jahrhundert.7 Aus der Differenz erwächst das Eigene. Die Schuld wird beim ausgeschlossenen Anderen festgemacht. Die Venezianer erkennen das christliche Konzept der Gnade durch die Unnachgiebigkeit der Racheforderungen
4
Vgl. den Band: Mythenkorrekturen. Zu einer paradoxalen Form der Mythenrezeption. Hg. von Martin Vöhler und Bernd Seidensticker. Berlin – New York: de Gruyter 2005. Hier vor allem die Einleitung der Hgg.: Zum Begriff der Mythenkorrektur: S. 1–18. 5 Siehe dazu meinen Beitrag: Medea fiam! Rezeption, Korrektur und Widerlegung eines Mythos. Von Euripides über Apollonios Rhodios bis Tom Lanoye. In: Mythen der sexuellen Differenz. Mythes de la différence sexuelle. Übersetzungen – Überschreibungen – Übermalungen. Hg. von Ortrun Niethammer, Heinz-Peter Preußer und Françoise Rétif. Heidelberg: Winter 2007. S. 199–214. 6 Dan Diner: Negative Symbiose. Deutsche und Juden nach Auschwitz. In: Ist der Nationalsozialismus Geschichte? Zu Historisierung und Historikerstreit. Hg. von dems. Frankfurt/M.: Fischer 1987. S. 185–197. Siehe auch Heinz-Peter Preußer: Reden nach Auschwitz. In Ders: Shoah, Nationalsozialismus und deutsches Leid. Zur Transformation des Erlebten in Autobiografie und Roman, in Fotografie und Geschichtsschreibung. Materialien und Ergebnisse aus Forschungsprojekten des Instituts für kulturwissenschaftliche Deutschlandstudien an der Universität Bremen. Heft 16. September 2004. S. 9–20. Hier: S. 14. Der Begriff der negativen Symbiose geht auf Hannah Arendt zurück. 7 Vgl. Dietrich Schwanitz: Das Shylock-Syndrom oder: Die Dramaturgie der Barbarei [1997]. München – Zürich: Diana 1998. Passim und insb. S. 30f.
339 Shylocks.8 Ahasver, nach der Legende der frühen Neuzeit (1602), kommt durch eigenes Fehlverhalten in die Verdammnis des stetig Umherirrenden.9 Von diesem Bild des ewig wandernden Juden wiederum leitet sich die Selbstbeschränkung irdischer Zeitlichkeit als Erlösung ab, welche die Christenheit auszeichnet. Klabund etwa bringt das 1927 zum Ausdruck: Ahasver. Ewig bist du Meer und rinnst ins Meer, Quelle, Wolke, Regen – Ahasver … Tor, wer um vertane Stunden träumt, Weiser, wer die Jahre weit versäumt. Trage so die ewige Last der Erde und den Dornenkranz mit Frohgebärde. Schlägst du deine Welt und dich zusammen, aus den Trümmern brechen neue Flammen … Tod ist nur ein Wort, damit man sich vergißt … Weh, Sterblicher, daß du unsterblich bist!10
Stefan Heym hat das Mythologem ebenfalls für das 20. Jahrhundert adaptiert, die “menschgewordene Unruhe” allerdings als “Symbolfigur” der “Unzufriedenheit mit den bestehenden Verhältnissen”, als personifizierten Motor der Revolution gedeutet.11 Nathan, die Figur des 18. Jahrhunderts schließlich überbietet alle Formen des schuldhaften Juden, indem er selbst zur Idealfigur des aufgeklärten Europa sich aufschwingt. Der Weise nutzt die Toleranzangebote, die die drei monotheistischen Religionen bereithalten, um aus gleichsam göttlicher Warte die Versöhnung unter dem einen Gott zu predigen.12 8
William Shakespeare: Der Kaufmann von Venedig / The Merchant of Venice. Zweisprachige Ausgabe. Neu übers. aus d. Engl. von Frank Günther. Gesamtausgabe. Bd. 16. Cadolzburg: ars vivendi 2003. S. 158–159. IV, 1, Verse 181–199. Nachfolgend im Text nur Angaben von Akt, Szene und Vers- bzw. Zeilenzählung nach dieser Ausgabe. 9 Vgl. Elisabeth Frenzel: Stoffe der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte. Stuttgart: Kröner. 10. Aufl., unter Mitarbeit von Sybille Grammetbauer 2005. S. 19–27. Hier vor allem S. 19f. Der Text von Chrysostomus Dudulaeus, Kurtze Beschreibung und Erzehlung von einem Juden mit Namen Ahaßverus, findet sich gedruckt in Bautzen von Wolffgang Suchnach 1602 [Druckort und Drucker wahrscheinlich fingiert]. Als Faksimile auch im Sammelband Ahasvers Spur. Dichtungen und Dokumente vom “Ewigen Juden”. Hg. von Mona Körte u.a. Leipzig: Reclam 1995. 10 In: Klabund [d. i. Alfred Henschke]: Die Harfenjule. Neue Zeit-, Streit- und Leidgedichte. Berlin: Die Schmiede 1927. S. 63. Erneut in ders.: Werke in 8 Bdn. Hg. von Christian v. Zimmermann. Hier: Bd. 4. Gedichte. Teil 2. Heidelberg: Elfenbein 2000. S. 975. Hiernach zit. Der Kommentar vermerkt auf S. 1014f., die Gedichte seien “ohne Zeilenfall an den Versenden” gedruckt worden, um dem Buch von 1927 “einen populären Anstrich zu verleihen”. 11 Stefan Heym: Ahasver. Roman [1981]. Frankfurt/M.: Fischer 1984. S. 181f. Im Folgenden: (A). 12 Gotthold Ephraim Lessing: Nathan der Weise. In: Ders.: Werke. Bd. 2. Hg von Herbert G. Göpfert u.a. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1996. Hier: S. 280, III/7, Verse 518–537. Nachfolgend im Text nur Angaben von Akt, Auftritt und Verszählung nach dieser Ausgabe.
340 Diese europäischen Phantasmen des Juden sollen im Folgenden nicht verstanden werden als Fremdheitsaneignung oder -ausgrenzung, sondern im Sinne einer weiter gefassten Transkulturalitätsforschung. Es geht nicht darum, das Andere zu begreifen, ein geeignetes Muster seiner Beschreibung zu entwickeln oder die ‘Dritten Räume’, durch Migration, Kriege, Handel oder Kolonialismus entstanden, als utopischen Fluchtpunkt zu markieren. Vielmehr soll gezeigt werden, wie der Gegensatz von Kulturen, ihr konfliktgeladenes Aufeinandertreffen, die Selbstzuschreibungen erst hervortreibt, die späterhin für Identitäten genommen werden. Opfer wie Täterrollen dienen dazu gleichermaßen.
II. Europa transkulturell rekonstruieren13 Europa hat keine Identität.14 Europa ist ein Konglomerat von Zuschreibungen. Es ist zudem Folge der Erosion von Nationalstaaten, die ihre Legitimität abtreten an eine übergeordnete und überbordende Bürokratie.15 Aber Europa ist auch und vor allem der Ausgangspunkt einer Jahrhunderte andauernden Universalisierung. Das Paradigma Weltliteratur ist eine primär europäische Fiktion.16 Die Innensicht und Selbstbeschreibung Europas werden programmatisch charakterisiert durch Stichworte wie Aufklärung, Menschenrechte, Autonomie des Individuums, Toleranz, Wissenschaft, Bildung oder Partizipation. Deren Kehrseiten sind Kolonialismus, Zwangsmissionierungen, Uniformität in den kulturellen Normen oder schlicht der Dünkel der Überlegenheit.17 Europa, das sich oft in Verklärungen und Mythisierungen flüchtet, um den Mangel an identitärer Zuschreibung zu kompensieren, schwankt also zwischen dem Ideal der Selbstbestimmung und einer häufig gewalttätigen Praxis.18
13
Das nachfolgende Kapitel geht zurück auf Entwürfe zu einem Doktorandenkolleg Europa transkulturell lesen an der Universität Bremen, für das Sabine Broeck und Christoph Auffarth neben dem Verfasser (und weiteren Trägern) verantwortlich zeichneten. 14 Siehe Bassam Tibi: Europa ohne Identität? Leitkultur und Wertebeliebigkeit [1998]. München: Siedler. 3. aktualisierte Aufl. 2002. 15 Das erfordert Gegenbewegungen. Vgl. dazu z. B. Bernhard Molitor: Deregulierung in Europa. Rechts- und Verwaltungsvereinfachung in der Europäischen Union. Tübingen: Mohr 1996. 16 Dazu Manfred Koch: Weimarer Weltbewohner. Zur Genese von Goethes Begriff “Weltliteratur”. Tübingen: Niemeyer 2002. Hier vor allem S. 14, 18, 23f., 44, 243. 17 Vgl. Die Ordnung der Kulturen. Zur Konstruktion ethnischer, nationaler und zivilisatorischer Differenzen 1750–1850. Hg. von Hansjörg Bay und Kai Merten. Würzburg: Königshausen & Neumann 2006. Passim und aus der Einleitung der Hgg. S. 13. 18 Vgl. dazu Tibi: Europa ohne Identität? [wie Anm. 14]. S. 33–58.
341 In den Außenkontakten Europas haben sich transkulturelle Bezugssysteme ausgebaut als mehr oder weniger freiwillige Begegnungen,19 etwa durch Reisen, durch Migration, die oftmals wirtschaftlicher Not folgt, oder durch den Sendungsauftrag der Mission. Die Sklaverei ist deren deutlich gewaltförmige Entsprechung.20 Kulturen verändern sich unter dem Druck des Austausches, vermeintlich verbindliche Werte zerfallen oder durchmischen sich mit neuen Erfahrungen. Europa trägt deshalb nicht eine ungebrochene Idee von sich in die Welt, sondern entsteht in diesem permanenten Prozess, den es freilich maßgeblich prägt durch die Zielgerichtetheit des eigenen Wollens.21 Krisen und Konflikte, die in seinen agierenden Einzelstaaten, in gesellschaftlichen Gruppen und kulturellen Institutionen, ja selbst im Individuum ausgetragen werden, können so nach außen projiziert werden und entsprechende Dynamiken entfalten. Dieses grob umrissene Modell setzt Europa als Zentrum, das sich in eine Peripherie entfaltet. Was noch Rand ist, würde demnach im Geschichtsverlauf integriert in das Eigene. Die Geschichte der Europäisierung der Juden wäre ein Beispiel über Jahrhunderte hinweg. Aber dieses Zentrum existiert nicht reell, sondern ist eine heuristische Konstruktion. Transkulturationsprozesse laufen in seinem Inneren ebenso ab wie an der Peripherie.22 Die Ränder selbst definieren sich nicht mehr allein durch ihren Bezug auf das entworfene Zentrum. Expansion und Integration sind deshalb untaugliche Beschreibungsmuster. Außerdem unterschlägt das Modell die Rückwirkungen, die durch den Blick und die Handlungen von den Rändern auf das gedachte Zentrum entstehen. Europa transkulturell lesen bedeutet auch, diesen peripheren Blick einzunehmen. Peripherie ist also primär eine strukturelle Kategorie, keine geographisch-regionale. Und Europa wird vermutlich erst in den Rekonstruktionen konstruiert.
19
Vgl. Zwischen Kontakt und Konflikt. Perspektiven der Postkolonialismus-Forschung. Hg. von Gisela Febel u.a. Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 2006. Siehe auch: Grenzüberschreitende Familienbeziehungen. Akteure und Medien des Kulturtransfers in der Frühen Neuzeit. Hg. von Dorothea Nolde und Claudia Opitz-Belakhal. Köln – Weimar – Wien: Böhlau 2008. 20 Dazu Sabine Broeck: White amnesia – black memory? American women’s writing and history. Frankfurt/M.: Lang 1999. Dies.: Der entkolonisierte Körper. Die Protagonistin in der afroamerikanischen weiblichen Erzähltradition der 30er bis 80er Jahre. Frankfurt/M.: Campus 1988. 21 Siehe z. B. in historischer Perspektive: Das Europa der Aufklärung und die außereuropäische Welt. Hg. von Hans-Jürgen Lüsebrink. Göttingen: Wallstein 2006. 22 Vgl. Differenzen anders denken. Bausteine zu einer Kulturtheorie der Transdifferenz. Hg. von Lars Allolio-Näcke u.a. Frankfurt/M.: Campus 2005.
342 Differente Kulturen treffen aufeinander, vermischen sich, können aber in Zukunft als neue identitäre Kulturen gedeutet werden.23 Dabei geht nicht einfach die kleinere in der größeren Formation auf, wie es der Begriff der Assimilation nahe legt.24 Das Fremde wird immer neu projiziert, um an ihm die Selbstvergewisserung zu betreiben. Hier zeigen sich einerseits Freiräume für neue Bilder der Identifizierung, ihre Medien, ihre Protagonisten, andererseits aber auch die kognitive Tendenz zur konzeptuellen Verfestigung. Transkulturelle Prozesse unterlaufen also bestehende identitäre Zuschreibungen.25 Sie werden aber zugleich zur Bildung neuer Identitäten wie deren Legitimation benötigt und herangezogen. Europa rekonstruiert sich selbst demgemäß immer neu und muss deshalb von außen, in historischer Perspektive, stets neu gelesen werden. Die aktuelle Relevanz der Reformierung Europas impliziert eine historische Tiefendimension. Die Idee der Universalisierung ist selbst eine genuin europäische Konstruktion,26 die sich philosophisch und diskursiv artikuliert und in juristische, religiöse, sprachliche, soziokulturelle, administrative, technologische und ökonomische Bereiche ausstrahlt. Die Faktizität des Verhaltens, aber auch die Differenzierung der Ideen etwa zur Frage der Rassen, lassen das weltweit rezipierte Projekt Aufklärung schnell als Ideologie erscheinen, die es zu entlarven gilt. In transkultureller Perspektive wäre diese vielfach durchgefochtene Kritik nicht zu perpetuieren, sondern Universalisierung als notwendige Rückkoppelung von Kulturdifferenz zu beschreiben. Sie ist ein faktisch praktizierter Anspruch im Kampf der Kulturen,27 auch wenn der selbst zuweilen so nicht genannt wird. Im Gegenzug lässt sich konstatieren: Ideen werden nicht konsequent gelebt; sie werden nicht einmal stringent gedacht. Hier zeigt sich
23
Zur Problematisierung des Begriffs vgl. Lutz Niethammer, unter Mitarbeit von Axel Doßmann: Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2000. Hier vor allem S. 460–500. 24 Vgl. dazu Incorporating Diversity. Rethinking Assimilation in a Multicultural Age. Hg. von Peter Kivisto. Boulder (CO) – London: Paradigm 2005. 25 Siehe dazu Stuart Hall: Die Frage der kulturellen Identität. In: Ders.: Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften Bd. 2. Hamburg: Argument. 2. Aufl. 2000. S. 180–222. 26 Vgl. Oliver Kozlarek: Universalien, Eurozentrismus, Logozentrismus. Kritik am disjunktiven Denken der Moderne. Frankfurt/M.: Verlag für Interkulturelle Kommunikation 2000. S. 17, 25, 49f., 69f., 85f., 87, 126f., 213, 238. 27 Das Stichwort The Clash of Civilizations gab Samuel P. Huntington: Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert [1996]. Übers. aus d. Am. von Holger Fliessbach. München – Wien: Europaverlag. 6. Aufl. 1997. Hier vor allem S. 291–296.
343 der blinde Fleck der europäischen Rationalität selbst.28 Die Vernunft allein, der rationale, herrschaftsfreie Diskurs gar im Sinne von Habermas, sind Fiktionen des Abendlandes. Aufklärerische Universalisierung kommt nicht aus ohne Gewalt. Die offiziellen idealistischen Diskurse von Freiheit und Autonomie wurden untergründig, vor allem aber ökonomisch getragen vom modernen System der Versklavung. Auch die europäischen Phantasmen des Juden sind einerseits durch Gewalt definiert. Über sie wird verstärkt seit dem 16. Jahrhundert geregelt, wer von den Gesellschaften Europas ausgeschlossen werden soll, wer oder was als Fremdes oder Fremder figuriert, etwa in den Inkarnationen des Shylock und des Ahasver. Andererseits werden über die Figur des Nathan die Werte der Aufklärung selbst aufgerufen. Freiwilligkeit und Gewalt sind also auch hier nicht deutlich zu trennen. In der jüdischen Assimilation beispielweise kann man beide Formen ausmachen. Und aus dieser doppelten Einbindung erklärt sich wiederum die Motorfunktion, die gerade Gruppen von gesellschaftlichen Opfern für die Modernisierung übernehmen. Gegenüber einer idealistischen Perspektive, die eine mythische Einheit und Universalität Europas als Telos konstituiert, wähle ich die transkulturelle Situation zum Gegenstand meiner Untersuchung, um zu zeigen, dass sie ihrerseits für Europa bestimmend wurde und ist. Kulturkonflikte müssen nicht als Hemmnisse der Einheit und Vereinheitlichung, sondern können auch als produktive Prozesse des Aushandelns neuer kultureller Formen und Kompetenzen wirksam werden. Mit Homi Bhabha etwa Transkulturalität als ‘Dritten Raum’ zu definieren,29 in dem das in-between primär ein kreativer Übersetzungsprozess und eine Aufhebung von Alterität ist, hat sich als Utopie erwiesen. Eine bisher noch nicht festgelegte Form der kulturellen Vielfalt und Vermischung (‘Hybridität’, ‘Kreolisierung’), Multiple Identitäten (deren Widersprüchlichkeiten und das Management derselben), Deterritorialisierungen, differenzieller Umgang mit den “transkulturellen Zumutungen”, strategische Kulturalisierung etc.:30 Dies alles ließe sich, möglicherweise, sinnvoller mit dem Konzept des ‘Habitus’ beschreiben, im Anschluss an Bourdieu und das darin wirkende Machtgefälle nach Foucault.
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Über diese Ambivalenz gibt ein Spielfilm sinnfällig Auskunft. Vgl.: Jefferson in Paris. USA 1995. Regie: James Ivory. Nick Nolte spielt den US-amerikanischen Außenminister (und späteren Präsidenten), Verfasser der Unabhängigkeitserklärung sowie Sklavenhalter zur Zeit der Französischen Revolution. 29 Homi K. Bhabha: The Location of Culture [1994]. London: Routledge 2007. S. 55–56. 30 Vgl. etwa Hans-Jürgen Lüsebrink: Kulturraumstudien und Interkulturelle Kommunikation. In: Konzepte der Kulturwissenschaften. Hg. Nünning u.a. [wie Anm. 3]. S. 307–328. Hier vor allem S. 322–325.
344 III. Shylock Häufig konstruieren Mythen neue Identitäten, beharren auf scheinbar etablierten, verhärten die schon befestigten Selbstbilder. Sie beziehen sich auf Heteroimagines, um von diesen sich umso klarer abheben zu können. Die Verklärung dieser neuen Identitäten besteht vor allem im Versuch der expliziten Abwehr oder in der Leugnung des je schon erfolgten transkulturellen Austauschprozesses. Evident wird das unmittelbar an den Mythen der sexuellen Differenz31 und ihrer Verwendung zur Etablierung von Nationaldiskursen, insbesondere im 19. Jahrhundert.32 Sie gehen dann ein in Gründungsnarrative und Sinnbilder, Denkmäler etc. innerhalb von Europa, etwa in Frankreich und Deutschland.33 So gibt es eine Fülle homomorpher Personifikationen, die doch das zutiefst Eigene allegorisch ausdeuten sollen. Im Bild des Juden hingegen ist der Ausschluss vorprogrammiert. Realhistorisch hatte er längst statt. Zur Zeit Shakespeares etwa waren die Juden aus Großbritannien längst vertrieben, auch aus Spanien z. B., im Zuge der Reconquista.34 Der Schauplatz des Kaufmanns von Venedig belässt den Juden nur ihr Ghetto. Man schneidet und meidet sie öffentlich, wo es eben geht. Signifikant ist die Szene der Ausgrenzung, die als Eingang für den neueren Film mit Al Pacino und Jeremy Irons dient.35 The Merchant of Venice (1596/97) ist ein sperriges, umstrittenes Stück Shakespeares, das sich, wie etwa auch Troylus and Cressida, eindeutigen (Gattungs-)Zuordnungen entzieht;36 neben Hamlet war und ist kaum ein anderes so vielen Deutungsversuchen ausgesetzt.37 Manche Teile haben märchenhafte und genuin komödiantische Züge,38 während vor allem die Peripetie tragische 31
Vgl. dazu Mythen der sexuellen Differenz.[wie Anm. 5]. Vgl. dazu Marie-Claire Hoock-Demarle: Hermann ou Germania? Les deux corps du mythe national dans l’Allemagne du XIXe siècle. In: Mythos und Geschlecht. Mythes et différences des sexes. Hg. von Françoise Rétif und Ortrun Niethammer. Heidelberg: Winter 2005. S. 19–34. 33 Vgl. Deutsche Gründungsmythen. Hg. von Matteo Galli und Heinz-Peter Preußer. Heidelberg: Winter 2008 (Jahrbuch Literatur und Politik. Band 2). 34 Vgl. Schwanitz: Das Shylock-Syndrom [wie Anm. 7]. S. 44: seit 1290 aus England, seit 1394 aus Frankreich, seit 1492 aus Spanien. 35 Im Stück Shakespeares wird die Szene, in der Antonio auf das Gewand des Shylock spuckt, nur von diesem berichtet und später eingeführt: I, 3, Vers 109. 36 Vgl. Shakespeare-Handbuch. Hg. von Ina Schabert. Stuttgart: Kröner. 3. Aufl. 1992. S. 466–472. Hier: S. 467. 37 Zum Spektrum der Interpretationen vgl. z. B.: Wolfgang Weiß: “Spielt das Stück nicht mehr!” Über die Schwierigkeiten im Umgang mit einer Komödie. In: Shakespeare: Der Kaufmann von Venedig [wie Anm. 8]. S. 257–275. 38 Siehe etwa Lawrence Danson: The Harmonies of “The Merchant of Venice”. New Haven – London: Yale University Press 1978. Hier vor allem S. 170–195. 32
345 Dimensionen erreicht.39 Entwickelt wird die Geschichte der Brautwerbung Bassanios, die von seinem Freund Antonio, dem Kaufmann von Venedig, durch eine großzügige Geldgabe unterstützt wird. Da dessen gesamtes Kapital aber in Schiffe investiert ist, deren kaufmännischer Erfolg erst noch eingebracht werden muss,40 leiht sich Antonio das nötige Geld bei dem ihm verhassten Juden Shylock. Der Vertrag sieht vor, dass Antonio, sollte er nicht in der Lage sein, den Betrag zum gesetzten Termin vollständig zurück zu erstatten, dem Geldleiher das Recht verpfändet, ein Pfund seines Fleisches, nah bei dem Herzen, herauszuschneiden. Die Handelsflotte Antonios nun wird durch einen Unglücksfall nahezu vollständig vernichtet, das Kapital scheint verloren und damit das Leben des Kaufmanns dem Shylock und dessen Rechtsbegehren überantwortet. Der Jude klagt vor Gericht auf Einlösung des Vertrages, will auch keine spätere, höhere Zahlung akzeptieren. Es geht ihm um persönliche Rache. Die Lösung bringt der Richterspruch des vierten Aktes, der den Kläger Shylock unversehens zum Angeklagten werden lässt. Das grausame Recht, das er einfordert, wird ihm in letzter Sekunde verwehrt und er selbst zum Verurteilten. Es ist die komplex gezeichnete Figur des Juden,41 die immer wieder den Konflikt der Interpretationen hervortreibt und zur Aktualisierung des Stoffes auf den Bühnen der Gegenwart reizt. In Deutschland hat vor allem die Frage nach dem Antisemitismus des Stückes oder seines Verfassers die Gemüter beschäftigt.42 Shylocks Rache ist motiviert, daran besteht kein Zweifel: Antonio hat ihn zuvor verhöhnt, auf seinen Mantel gespuckt und ihn beschimpft. Anders als Shylock leiht der Kaufmann Geld ohne Zins an befreundete Christen, was dem Ersten das Geschäft verdirbt. Zudem verliert Shylock während eines
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Die gattungstypologische Zweiteilung wird unterstützt durch die völlig konträre Dramaturgie von Zeit und Ort in Belmont und Venedig. Siehe Thomas Kullmann: William Shakespeare. Eine Einführung. Berlin: Erich Schmidt 2005. S. 78–86. 40 Dazu die ökonomische Lektüre von Christian Enzensberger, die den Seehandel ins Zentrum rückt und als Utopie ausstellt: Literatur und Interesse – eine politische Ästhetik mit zwei Beispielen aus der englischen Literatur [1977]. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1981. S. 305–378. Hier vor allem S. 328, 356, 359, 363. 41 Zur Stoffgeschichte siehe Hermann Sinsheimer: Shylock – Die Geschichte einer Figur. München: Ner-Tamid-Verlag 1960. Kurz dazu auch Frenzel: Stoffe der Weltliteratur [wie Anm. 9]. S. 843–846. 42 Vgl. etwa Georg Hensel: Spielplan. Schauspielführer von der Antike bis zur Gegenwart [in 2 Bdn.]. Frankfurt/M. u.a.: Büchergilde. Erw. und überarb. Aufl. 1986. Hier: Bd. 1. S. 184–188. Ausführlich Jörg Monschau: Der Jude nach der Shoah – Zur Rezeption des “Kaufmann von Venedig” auf dem Theater der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik 1945–1989. Heidelberg: Univ. Diss. 2003.
346 Geschäftsessens, das er widerwillig akzeptiert, seine heiß geliebte (und übermäßig bewachte) Tochter Jessica an den Tunichtgut und Christen Lorenzo, der sie dem väterlichen Haus entführt. Selbst sein Diener Lanzelot Gobbo verlässt ihn, um bei Bassanio anzuheuern, dem Freund des Kaufmanns Antonio. Shylock also verliert alle, die ihm wert sind oder sein Haus bevölkern. Dennoch ist der Vertrag maßlos wie die Konsequenz, mit der die Einhaltung betrieben wird. Das Stück will offenkundig das Alte Testament des “Auge um Auge, Zahn um Zahn”, gegen das Neue Evangelium ausspielen, dessen Idee die Gnade ist.43 Dazu dient die Gerichtsszene. Shylock wird mit den eigenen Mitteln geschlagen. Weil er dem Buchstaben mehr vertraut als dem Herzen, findet er in der verkleideten Portia den besseren Sophisten vor. Ein Pfund Fleisch aus dem Leib des Kaufmanns zu schneiden, wird ihm zugestanden. Allerdings darf er dabei keinen Tropfen Blut vergießen, weil der Vertrag genau das nicht regelt. Juristisch ist das Argument höchst fragwürdig. Es zeigt vielmehr an, dass Recht spricht, wer die Macht dazu hat. Der Vertrag war sittenwidrig, könnten wir sagen. Aber die höchstrichterliche Interpretation ist klare Rechtsbeugung. Die Hälfte von Shylocks Vermögens fällt an den Staat Venedig, die andere bekommt Antonio zu treuen Händen, um sie, nach dem Tode des Juden, an Lorenzo zu geben, eben jenen, der Shylock die Tochter aus dem Hause gestohlen hat. Nur wenn er sich taufen lässt, so die Forderung Antonios, soll ihm der Staatsanteil der Buße gelassen werden (IV, 1, Verse 350–353, 367–369, 378–382). Mit dem Tod aber verfällt auch dieser Teil an Lorenzo (und die Tochter, 385–387). Shylock, gebrochen, akzeptiert auch das. Allein: Ihn als gebrochenen Menschen zu sehen, der unser Mitleid verdient, ergibt sicher keine historisch stimmige Lesart. Eher noch könnten die Schmähreden des Gratiano, ergebener Freund des Bassanio, die Stimmungslage des elisabethanischen Publikums ausgedrückt haben. Heute klingen sie wie rassistische Hetze. Erst nach dem Holocaust ist der Kaufmann eine Tragödie: nicht die des Antonio, sondern die des Shylock.44 Philosemitische Tendenzen gab es schon im 18. Jahrhundert.45 Man hat die berühmte Rede im dritten Akt, 1. Szene, als Appell an die allumfassende, klassen- und rassenüberschreitende Menschlichkeit lesen wollen. I am a Jew. Hath not a Jew eyes? hath not a Jew hands, organs, dimensions, senses, affections, passions? fed with the same food, hurt with the same means, warmed and 43
Shakespeare arbeitet hier mit binären Oppositionen. Vgl. die entsprechende Tabelle bei Schwanitz: Das Shylock-Syndrom [wie Anm. 7]. S. 138. 44 So Graham Holderness: Comedy and “The Merchant of Venice”. In: New Casebooks. “The Merchant of Venice”. William Shakespeare. Hg. von Martin Coyle. S. 23–35. Hier: S. 27. 45 Der Schauspieler Edmund Kean hat bereits 1814 Shylock als tragische Figur gegeben. Holderness: Comedy and “The Merchant of Venice” [wie Anm. 44]. S. 32.
347 cooled by the same winter and summer as a Christian is? – if you prick us do we not bleed? if you tickle us do we not laugh? if you poison us do we not die? and if you wrong us shall we not revenge? (III, 1, Zeilen 50–58)
Faktisch aber entscheidet der Text gegen die Idee der kreatürlichen Gleichheit. Shylock muss froh sein, der christlichen Gnade teilhaftig zu werden. Durch die Zwangstaufe steht ihm nun das Himmelreich offen, das ihm als Jude verwehrt geblieben wäre. Er verliert scheinbar alles – wahrhaft aber nur die irdischen Güter. Wenn er geschlagen von der Bühne abtritt und die Szene sich zum heiteren fünften Akt öffnet, bleibt für die Christenheit kein bitterer Rest zurück.46 Man hat obsiegt – scheinbar mit Mitteln des Rechts – und allen, selbst dem Unterlegenen, ein glückliches Ende bereitet. Drei Paare sind gestiftet: Bassanio und Portia, Lorenzo und Jessica – sowie, weil wir nun in der Komödie sind,47 auch die Untergebenen Gratiano und Nerissa, die Kammerfrau Portias. Tragisch könnte man nur Antonio ausdeuten, der den Freund verliert, zu dem ihn mehr zieht als distanzierte Männerfreundschaft.48 Shylock hingegen verschwindet, taucht nicht mehr auf. Sein Fall ist erledigt. Er hat, sagt das Stück, erhalten, was er verdient und mehr: Er hat die Christen zum Einbekenntnis der Gnade bewogen. Sie deuten sich nun als überlegen gegenüber dem Alten Testament. Sie entwickeln die Idee der Humanität an ihm. Shylock ist, anders gesagt, die Folie, von der die Projektion des universalistischen Christentums ausgeht, das Fremde, an dem das Eigene sichtbar werden soll. Der Konflikt der Transkulturalität, die Vermischung der Wertsphären, bringt erst hervor, was bewahrenswert sein soll. Wie das Judentum beschränkt bleibt als Religion des auserwählten Volkes, wie es begrenzt ist in der Wörtlichkeit der Schriftfixierung,49 so versteht sich das Christentum als missionarisch, in die Welt ausgreifend, vom Geist mehr beseelt als vom toten Buchstaben.50 Es ist genau dieses Selbstverständnis, das dem Stück und seinem Autor den Vorwurf des Antisemitismus eingetragen hat. Das ist sicher überzogen. Christopher Marlowes Jew of Malta und andere Vorgänger 46
Das gilt, selbstredend, nur für die Perspektive der Christen. Wechselt man die Betrachterseite, dann ist die “Konversion Shylocks […] nur das freundlichere, sanftere Verfahren der Komödie, ihn abzuschlachten”. So Stephen Greenblatt: Will in der Welt. Wie Shakespeare zu Shakespeare wurde [2004]. Übers. aus d. Am. von Martin Pfeiffer. Berlin: Berlin-Verlag 2004. S. 331. 47 Vgl. Holderness: Comedy and “The Merchant of Venice” [wie Anm. 44]. S. 31. 48 Vgl. Schwanitz: Das Shylock-Syndrom [wie Anm. 7]. S. 128. 49 Vgl. ebd. S. 145. 50 Siehe die berühmte Stelle in den Paulusbriefen, 2. Korinther 3.6: “der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig”. Text nach der Ausgabe des Neuen Testaments: Die Bibel. Die Heilige Schrift des Neuen Bundes. Dt. Ausg. mit den Erläuterungen der Jerusalemer Bibel. Freiburg/Breisgau: Herder 1968. S. 310.
348 waren gröber in ihren Karikaturen des Juden.51 Aber Shylock hat mythische Qualitäten. An ihm machen sich Identitäten fest, wenn auch primär durch Abgrenzung. Der Entwurf des Eigenen braucht die dichotome Konstruktion, sonst könnte er nie die Prägnanz erhalten, die doch angestrebt sein muss. Mit der binären Opposition erst wird deutlich, was Identität sein soll.
IV. Nathan Nach dem Holocaust ist ein komödiantischer Merchant of Venice nicht mehr möglich, am wenigsten in Deutschland. Das Rechtbehalten wird schal vor dem Tod der Millionen, die von den Nationalsozialisten ermordet wurden nur, weil sie Juden waren. Unter Max Reinhardt hatte Kortner 1924 gegen die Intention der Komödie angespielt, ohne sie verhindern zu können.52 1943 inszenierte Lothar Müthel den Kaufmann als rassistische Produktion,53 wenige Jahre nach Filmen wie Jud Süß oder Die Rothschilds.54 Nach dem Krieg war das Stück Shakespeares aus verständlichen Gründen nicht aufführbar, in der DDR sogar bis in die 1980er Jahre. Ernst Deutsch, selbst Jude und Emigrant wie Kortner, brachte den Shylock, fast ein Jahrzehnt nach der Shoah, wieder auf eine deutsche Bühne. Seine philosemitische Interpretation verstand sich als “fundamentale Kritik am deutschen und im weiteren Sinne am europäischen oder christlichen Antisemitismus”.55 Deutsch hatte zuvor vielfach und umjubelt den Nathan gegeben: 1954 bis 1957 in mehreren Städten unter der Regie von Karl-Heinz Stroux, dann 1958, ‘60, ‘62, ‘63 und zuletzt 1967.56 Sein Shylock von 1957, ebenfalls inszeniert von Karl-Heinz Stroux, gab genau das 51
Vgl. Greenblatt: Will in der Welt [wie Anm. 46]. S. 328f. und S. 338. Kortner hat das späterhin an Reinhardt kritisiert. Vgl. Fritz Kortner: Aller Tage Abend. München: Kindler 1959. S. 378–380. Auch mit Bezügen auf weitere Inszenierungen des Kaufmanns von Viertel und Fehling. 53 Dazu Lothar Müthel selbst: Zur Dramaturgie des “Kaufmanns von Venedig”. In: Neues Wiener Tagblatt vom 13. 5. 1943. Zit. bei Monschau: Der Jude nach der Shoah [wie Anm. 42]. S. 75. Vgl. auch zum Nachfolgenden ebd. S. 68–79. 54 Bayerdörfer: “Shylock” auf der deutschen Bühne nach der Shoah [wie Anm. 2]. S. 262. Zu den Propagandafilmen von Veit Harlan: Jud Süß (D 1940), Erich Waschneck: Die Rothschilds (D 1940), sowie Fritz Hippler: Der ewige Jude (D 1940) vgl. auch Ralf Klausnitzer: “Überstaatliche Mächte”. Verschwörungsphantasien und -theorien in Publizistik, Literatur und Film des ‘Dritten Reiches’. In: Reflex und Reflexionen von Modernität 1933–1945. Hg. von Erhard Schütz und Gregor Streim. Bern u.a.: Lang 2002. S. 125–171. Hier vor allem S. 153–157. 55 Bayerdörfer: “Shylock” auf der deutschen Bühne nach der Shoah [wie Anm. 2]. S. 264f. 56 Vgl. Bettina Dessau: Nathans Rückkehr. Studien zur Rezeptionsgeschichte seit 1945. Frankfurt/M. u.a.: Lang 1986. Zu Ernst Deutsch: S. 69 und S. 98f. Abb. nach S. 98. Siehe auch den unpaginierten Anhang “Inszenierungsstatistik” [S. 280–288]. 52
349 Bild des Juden, das nun, im besiegten und besetzten Deutschland, zulässig war. Weitere Interpretationen folgten 1963 unter Piscator und 1964.57 Dafür aber muss der Widersacher des Kaufmanns von Venedig verbogen, seine zerstörerischen Anteile rückgeführt werden auf motivierte Rache, der es an eigensinniger Aggressivität und Habgier mangelt. Schon Heinrich Heine deutete Shylock als tragischen Helden.58 Kortner sieht in der Figur, Ende der 1960er Jahre, eine Reaktion “auf die tausendjährige Verfolgung der jüdischen Minderheit, die im Nazi-Holocaust kulminiert”.59 Die kapitalismuskritische Deutung der Linken sucht die Entlastung der Figur durch Rückführung auf ökonomische Strukturen.60 Shylock also muss zum Nathan werden: So lautet das grobe Muster nach 1945. Verstöße dagegen, etwa in den mehrfachen Inszenierungen des Juden und Emigranten Peter Zadek – oder von George Tabori –, werden immer und ausschließlich als Provokation aufgefasst.61 Was aber macht den Nathan so kostbar, dass er als “zeitgemäß supranationales Wiedergutmachungsstück” durchgehen konnte?62 Ist der Weise gar die personifizierte Versöhnung des “Wucherer[s] Shylock mit seinem Opfer” Antonio, wie Walter Jens den deutschen Aufklärer Lessing selbst sagen lässt? “Diese beiden in einer einzigen Figur zu vereinen […] war mein Ziel. […] Am Beispiel Nathans, des erlösten Shylock, eine Welt vorwegzunehmen, in der Jud so viel wie Christ gilt, Frau so viel wie Mann. Das Zauberreich der Toleranz”.63 57
Vgl. Monschau: Der Jude nach der Shoah [wie Anm. 42]. S. 181-200 und S. 516–521. Heine verteidigt die Figur selbst an den schwierigsten Stellen, etwa in Bezug zur Tochter Jessica. Heinrich Heine: Shakespeares Mädchen und Frauen. In: Ders.: Werke in 3. Bdn. Bd. 3. Textrevision Jost Perfahl. München: Winkler o. J. S. 652–666. Hier vor allem S. 657. Vgl. auch Schwanitz: Das Shylock-Syndrom [wie Anm. 7]. S. 235. George Tabori hingegen hat die Verwünschung des Vaters zum Titel seiner Bearbeitung gemacht: Ich wollte, meine Tochter läge tot zu meinen Füßen und die Juwelen in den Ohren – Improvisationen über Shakespeares Shylock. Dokumentation einer Theaterarbeit. München: Hanser 1979. 59 Bayerdörfer: “Shylock” auf der deutschen Bühne nach der Shoah [wie Anm. 2]. S. 267. 60 Zur Dichotomie Seehandel vs. Wucher vgl. Enzensberger: Literatur und Interesse [wie Anm. 40]. S. 311–316 und S. 319f. Der Autor sieht offenbar nicht, dass er hier antisemitische Klischees reproduziert. 61 Zadek: Ulm 1961 – Bochum 1967 – Wien 1988. Vgl. insb. zur letzten Inszenierung Bayerdörfer: “Shylock” auf der deutschen Bühne nach der Shoah [wie Anm. 2]. S. 272–275. Dort (S. 276–278) auch Hinweise zur Bearbeitung von Tabori von 1978: Ich wollte, meine Tochter läge tot… [wie Anm. 58]. 62 Lessings “Nathan”. Der Autor, der Text, seine Umwelt, seine Folgen. Hg. von Helmut Göbel. Berlin: Wagenbach 1977. S. 8. 63 Walter Jens: Der Teufel lebt nicht mehr, mein Herr! – Ein Totengespräch zwischen Lessing und Heine. In: Die Deutsche Bühne. Theatermagazin 50 (1979). Heft 5. S. 57–63. Hier: S. 62. 58
350 Anders als der Kaufmann war das Stück in der NS-Zeit verboten.64 Ab 1945 gehörte es dann zum Programm einer geistigen und erzieherischen Erneuerung, der sich das Nachkriegstheater verpflichtet fühlte und in zahlreichen Inszenierungen dokumentierte.65 Gervinus nannte – in seiner Geschichte der poetischen National-Literatur der Deutschen – “das Buch neben Goethe’s Faust das eigenthümlichste und deutscheste, was unsere neuere Poesie geschaffen hat”.66 Holt etwa der Holocaust den Nathan ‘heim ins Reich’? Trotz dieser ‘deutschen Einschätzung’ bleiben die Quellen europäische. Wie beim Kaufmann geht auch für den Text Lessings die erste direkte Rezeption auf Boccaccio zurück und auf die Geschichtensammlung der Gesta Romanorum.67 Im Dekameron wird die Figur des Weisen gleichen Namens eingeführt (10.3) und die Ringparabel, wenn auch in anderem Kontext, ohne den Nathan, erzählt (1.3).68 Boccaccio lässt den Juden einen geizigen Geldleiher sein, hier mit Namen Melchisedech, bei dem Saladin,69 der Sultan von Babylon, um einen Kredit anfragt. Eine List soll den Juden ins Hintertreffen bringen und dem Ersuchen Nachdruck verleihen: Welche der drei Glaubensgemeinschaften die
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Nach der so genannten Machtergreifung kam es nur noch zu einer Inszenierung im Rahmen des Kulturbundes deutscher Juden, hier zur Eröffnung des Berliner Kulturbundes am 1. Oktober 1933; “Nathan der Weise blieb für einige Zeit im Repertoire”. Andere Inszenierungen folgten nicht. Ab 1939 wurden sämtliche deutsche Autoren (also auch Lessing) für den Kulturbund deutscher Juden verboten, der bis 1941 fortbestand. Vgl. Barbara Fischer: Nathans Ende? Von Lessing bis Tabori. Zur deutsch-jüdischen Rezeption von “Nathan der Weise”. Göttingen: Wallstein 2000. S. 124–129 und S. 136. 65 Dazu Dessau: Nathans Rückkehr [wie Anm. 56]. S. 29–69. Hier vor allem S. 30f. Vgl. auch Monschau: Der Jude nach der Shoah [wie Anm. 42]. S. 88, 96 (SBZ), 98f., 103. 66 Georg Gottfried Gervinus: Geschichte der deutschen Dichtung [ Geschichte der poetischen National-Literatur der Deutschen]. Bd. 4. Hg. von Karl Bartsch. Leipzig: Engelmann. 5. Aufl. 1873. S. 459. 67 Frühes 14. Jahrhundert. Lessing benutzte den Druck einer alten deutschen Bearbeitung (Augsburg 1489) in der Wolfenbütteler Bibliothek. Vgl. Erläuterungen und Dokumente. Gotthold Ephraim Lessing. “Nathan der Weise” [1972]. Hg. von Peter von Düffel. Stuttgart: Reclam 1979. S. 73f. Die Ringgeschichte findet sich aber schon früher. Siehe Étienne de Bourbon [gest. um 1261]: Anecdotes Historiques, Légendes et Apologues. Verweis ebd.. S. 73. 68 Giovanni Boccaccio: Das Dekameron [1349–1353]. Übers. aus d. Ital. von Karl Witte [1952]. Ottobrunn bei München: Franklin Bibliothek 1981. Hier: S. 35–37 und S. 562–567. 69 Zur historischen Gestalt des Saladin hatte Lessing mehrere Quellen, vor allem Marins Geschichte Saladins. Vgl. Hendrik Birus: Poetische Namengebung. Zur Bedeutung der Namen in Lessings “Nathan der Weise”. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1978. S. 134-139. Daneben u.a. Voltaire. Vgl. Erläuterungen und Dokumente. Düffel Hg. [wie Anm. 67]. S. 78–87.
351 wahre sei, wolle er von dem weisen Juden erfahren. Der erkennt die Falle und antwortet mit dem bekannten Gleichnis der drei Ringe. Ein Vater vererbt einen Ring an denjenigen, der ihm der liebste unter den Söhnen ist. Das geht, bis die Reihe an einen kommt, der sich zwischen drei Nachfahren nicht entscheiden kann. Er lässt zwei Duplikate fertigen, beschenkt alle, und keiner kann erkennen, wer im Besitz des rechten Ringes ist. Der Jude schließt: So sage ich Euch denn, mein Gebieter, auch von den drei Gesetzen, die Gottvater den drei Völkern gegeben und über die ihr mich befraget. Jedes der Völker glaubt seine Erbschaft, sein wahres Gesetz und seine Gebote zu haben, damit es sie befolge. Wer es aber wirklich hat, darüber ist, wie über die Ringe, die Frage noch unentschieden.70
Lessing übernimmt weite Teile der Parabel, ergänzt sie aber um einen wesentlichen Teil. Der Ring habe “die geheime Kraft, vor Gott / Und Menschen angenehm zu machen” (III, 7, Verse 399f.). Der Zwist der Brüder um den rechten Ring treibt sie bis vors Gericht. Der Richter entsinnt sich der – von Lessing ergänzten – näheren Bestimmung und urteilt also: Wenn jeder nur auf seinen Vorteil bedacht sei, keiner aber den anderen liebe, seien alle drei offenkundig “Betrogene Betrieger”, keiner der Ringe sei echt, denn der, “Vermutlich[,] ging verloren. Den Verlust / Zu bergen, zu ersetzen, ließ der Vater / Die drei für einen machen” (III, 7, 509-512). Der Wahrheitsanspruch der einzigen Religion also ist selbst eine Fiktion. Die drei Glaubenssysteme sind Konstruktionen, sagt die Parabel Lessings, die keine letztbindende Substanz haben. Ihre Gültigkeit müssen sie immer neu erweisen, sie müssen um den Zuspruch werben, der sie legitimieren soll. Nathan als Figur verspricht, das Eigene nicht mehr aus dem Gegenüber des Anderen ableiten zu müssen, sondern aus dem gleichen Erkenntnisvermögen allgemeiner Rationalität. Das ist im besten Sinne aufklärerisch und pragmatisch gedacht.71 Damit zieht das Ideendrama die Grenze der Exklusion aber nur weiter, ohne diese noch im Blick zu behalten.72 Das Andere zu Europa sind nun 70
Boccaccio: Das Dekameron [wie Anm. 68]. S. 36. In der Sekundärliteratur wird standardisiert, aber zu Recht, immer wieder auf den kurzen Text Immanuel Kants verwiesen: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? [1748]. In: Ders.: Was ist Aufklärung? Aufsätze zur Geschichte der Philosophie. Hg. von Jürgen Zehbe. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. 2. erw. und verb. Aufl. 1975. S. 55–62. Hier als Eingangspassage das Diktum, Aufklärung sei “der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit”. Ebd. S. 55. Hervorh. im Original. 72 Das gilt durchgängig auch für die Erläuterungen von Karl-Josef Kuschel, der das Stück “als ein proislamisches, genauer: ein promuslimisches” auffasst. Kuschel: “Jud, Christ und Muselmann vereinigt”? Lessings “Nathan der Weise”. Düsseldorf: Patmos 2004. S. 19. Vgl. auch ebd. S. 96–124. 71
352 nicht mehr primär die nahestehenden Offenbarungsreligionen des Judentums oder des Islam, sondern diejenigen, die keine Referenz auf den biblischen Gründungstext des Alten Testaments haben.73 Das betrifft große religiöse Gemeinschaften wie Hinduismus, Schintoismus, Buddhismus, Konfuzianismus, Taoismus oder alle Formen des Paganismus.74 Die Muslime werden eingemeindet durch den Juden, der bereits das Prinzip Aufklärung repräsentiert. Europa rekonstruiert sich nun aus dem Geist des Monotheismus, mit Bezug auf denselben Schöpfergott, nicht mehr aus dem Vormachtdenken des Christentums. Und es universalisiert den Anspruch, auf das Ganze der Welt zu wirken, weil es nur nach scheinbar unstrittigen Maximen, denen des besseren Arguments, verfährt. Wenn Nathan also “die Insignien des heutigen Europas trägt”, wie Navid Kermani mit kritischem Bezug auf die Inszenierung Peymanns im Berliner Ensemble schreibt, dann betriebe er in der Tat “die Bejahung des Eigenen, die Affirmation”: “Peymanns Inszenierung [hat] die Toleranz verwestlicht”.75 Bei genauerem Hinsehen allerdings ist die postulierte Gleichheit im Stück auf keiner Ebene erreicht. Dafür stehen Figuren wie der Patriarch von Jerusalem, der Nathan dem Scheiterhaufen übergeben will, weil der eine Christin zur Ziehtochter genommen hat (IV, 2, 159, 168f.).76 Der Tempelherr denunziert (halb ungewollt) den Weisen (IV, 2, 116–223), redet zudem schlecht von Recha, die er aus den Flammen des väterlichen Hauses gerettet hat, weil es ja nur eine Jüdin gewesen sei (I, 6, 778f.; II, 5, 424–433). Die Verwunderung ist denn auch groß, als er bemerkt, sich in ein Judenmädchen zu verlieben (III, 2, 118–123; III, 8, 610–615; III, 10, 762). Umso größer scheint die Erleichterung, dass sie eine Christin ist. Doch wird die Freude gleich wieder eintrübt durch 73
Vgl. Was jeder vom Islam wissen muß. Hg. vom Lutherischen Kirchenamt der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands und vom Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland. Gütersloh: Bertelsmann. 6. Aufl. 2001. Hier das Kapitel Bibel und Koran. S. 154–163. Der Koran verweist zudem auf das Neue Testament. 74 Vgl. etwa Mircea Eliade und Ioan P. Couliano: Handbuch der Religionen [1990]. Übers. aus d. Frz. von Liselotte Ronte. Zürich – München: Artemis 1991. Zur (hoch problematischen) Konstruktion einer Linie vom jüdischen Eingott über die Aufklärung zum Logozentrismus vgl. meinen Beitrag: Monotheismus, Aufklärung und Judaismus. Fundamentalkritik an Religion aus dem Geist des Antirationalismus bei Ludwig Klages und Alfred Schuler. In: Religionskritik in Literatur und Philosophie nach der Aufklärung. Hg. von Carsten Jakobi, Bernhard Spies und Andrea Jäger. Halle/Saale: Mitteldeutscher Verlag 2007. S. 121–142. 75 Angelika Overath, Navid Kermani und Robert Schindel: Toleranz. Drei Lesarten zu Lessings Märchen vom Ring im Jahre 2003. Göttingen: Wallstein. 2. Aufl. 2004. Kermani S. 33–45. Hier: S. 40f. 76 “Am Patriarchen wäre er [Nathan] gescheitert”. Aber im Stück kommt es zu keiner direkten Konfrontation, schreibt Angelika Overath in Toleranz [wie Anm. 75]. S. 21–31. Hier: S. 28.
353 Aversionen gegen Nathan, der sich erlaubt habe, “die Stimme der Natur so zu / verfälschen” (III, 10, 843f.) und die Christin als Jüdin zu erziehen.77 “Der tolerante Schwätzer ist entdeckt! / Ich werde hinter diesen jüd’schen Wolf / Im philosoph’schen Schafspelz, Hunde schon / Zu bringen wissen, die ihn zausen sollen!” (IV, 4, 401-404). Saladin, Sultan von Ägypten, der den Kreuzfahrern 1187 Jerusalem entriss und dadurch den Dritten Kreuzzug auslöste,78 ist bei Lessing in erster Linie der typologische Despot, der neunzehn von zwanzig gefangenen Templern hinrichten lässt und unsere Hauptfigur, den Tempelritter, nur deshalb am Leben erhält, weil er verblüffend seinem verschollenen Bruder Assad ähnelt (I, 5, 576-591, 699-701). Das ist so willkürlich, wie sich der Patriarch als Machtpolitiker gebärdet und als dogmatischer Fanatiker das Negativbild des Christen schlechthin abgibt (IV, 2, 153–199). Nathan hat gegen diese Arroganz und offenkundig stärkere Macht nur sein Geld und die Kraft der Überzeugung (II, 2, 260–280). Das eine ist das bekannte Stereotyp, das andere die einzige Waffe des strukturell Unterlegenen. Und auch damit bestätigt das Stück eine typologische Erwartungshaltung, wie sie durch Realfiguren der Zeit – etwa Moses Mendelssohn – untermauert wird.79 Nathan ist ein Vorgeschmack auf Habermas, was die Utopie des herrschaftsfreien Diskurses anbelangt.80 Der Patriarch, der Tempelritter, Sittah, des Sultans Schwester und auch Saladin selbst zeigen hingegen, wie der Diskurs von Machtverhältnissen abhängt.81 Naturgemäß lässt Lessing die Aufklärung 77
Monika Fick macht darauf aufmerksam, dass diese Negativzeichnung strategisch zu verstehen sein könnte, denn die Tempelritter seien “Vorläufer der Freimaurer” gewesen, die “im 18. Jahrhundert für die Toleranzidee” einstehen. “Im Augenblick der höchsten Intoleranz, im Zeitalter der Kreuzzüge, so lautete dann die geschichtsphilosophische Botschaft, seien die Keime der Toleranz gesät worden: in dem Orden gesät, der am hitzigsten sich für das Christentum einsetzte”. Monika Fick: LessingHandbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart – Weimar: Metzler 2000. S. 405. 78 Vgl. Der Große Ploetz. Die Daten-Enzyklopädie der Weltgeschichte. Daten. Fakten. Zusammenhänge. Begründet von Carl Ploetz, bearb. von 80 Fachwissenschaftlern. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. 32. neubearb. Aufl. 1999. S. 401 und S. 405f. 79 Bekanntlich war Mendelssohn Vorbild für den Nathan – so wie Goetze auf das schurkische Gegenstück, den Patriarchen, referiert. Dazu Timotheus Will: Lessings dramatisches Gedicht “Nathan der Weise” und die Philosophie der Aufklärung. Paderborn u.a.: Schöningh 1999. S. 9-20 und vor allem 14f. Siehe auch Birus: Poetische Namengebung [wie Anm. 69]. S. 151. 80 Ohne Habermas zu nennen, aber in diesem Sinne Dieter Hildebrandt: Lessing. Biographie einer Emanzipation [1979]. Frankfurt/M. u.a.: Ullstein 1982. S. 455. Ebenso zu Toleranz und kommunikativem Handeln Dominik König: Natürlichkeit und Wirklichkeit. Studien zu Lessings “Nathan der Weise”. Bonn: Bouvier 1976. S. 28f. und S. 141. 81 Vgl. König: Natürlichkeit und Wirklichkeit [wie Anm. 80]. S. 136f.
354 obsiegen. Das Finale ist dennoch einigermaßen unwahrscheinlich, ja fast grotesk. Recha und der Tempelherr sind Geschwister (V, 8, 599f.). Beide sind Kinder des Assad aus einer Verbindung mit der (namentlich nicht genannten) Schwester Conrad von Stauffens, damit Nichte und Neffe des Saladin. Wolf von Filneck,82 wie sich Assad, der konvertierte Bruder des Saladin später nennt, hat also Recha zur Tochter, die von Geburt her Blanda von Filneck heißt, und den Tempelherrn zum Sohn. Der trägt nicht, wie er zeitlebens glaubte, den Namen Curd von Stauffen, sondern Leu von Filneck (V, 8, 612–620).83 Dass damit das Inzesttabu die Liebenden trennt, kommt nicht weiter in den Blick. Es wird kaum noch als Opfer erwähnt. Statt dessen fallen beide sich in die Arme, als hätten sie je nur Geschwister sein wollen (V, 8, 654f.) und nie an Heirat gedacht.84 Problematischer für die Idee der Toleranz der Religionen ist aber, dass die Aussöhnung nur erwirkt wird durch Familienbande: Als reichten die Wahlverwandtschaften nicht aus, die Grenze der Kulturen zu überschreiten,85 flüchten sich die Akteure in die trauliche Idylle der Blutsverbindungen. In dieser Vereinigung torpedieren die dramatis personae den Universalitätsanspruch, der sie erst zueinander führt. Der Bogen schließt sich, statt sich in die Welt zu öffnen. Die Figuren haben einander und brauchen den Rest nicht. Diese Selbstgenügsamkeit im Nukleus verrät ein Ideal der Aufklärung, die, nach dem französischen Wort, eine Verbreitung des Lichtes ist (la diffusion des lumières). Sie strahlt aus dem Zentrum heraus, will aber die letzte Finsternis noch erhellen.
V. Ahasver Der Ahasver hat, nach dem Holocaust, eine noch prekärere Situation zu gewärtigen als Shylock, stand er doch im Nationalsozialismus für die Karikatur der jüdischen Weltverschwörung ein. Die Idee des rastlosen, ewig wandernden86 82
Siehe Birus: Poetische Namengebung [wie Anm. 69]. S. 142f. Ebd. S. 172–175. 84 Dazu bereits Friedrich Theodor Vischer: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen [3. Theil, 2. Abschnitt]. Stuttgart: Mäcken 1857. S. 1429f.: “In seinem Nathan vergißt Lessing, welchen schweren Conflict zwischen dem Fanatismus des Christenthums und der reinen Humanität er angelegt hat, und schließt die Handlung schlecht im Sinne des bürgerlichen Familienstücks”. 85 In diesem Sinne ist die Renaissance des Nathan auf deutschen Bühnen nach dem 11. September 2001 zu erklären. Vgl. Kuschel [wie Anm. 72]. S. 9–13, 203, 227. 86 Das Englische, das Französische und Italienische betonen den Charakter des Unsteten, das Deutsche hingegen dessen Unsterblichkeit: The Wandering Jew, Le Juif errant, Ebreo errante, Der Ewige Jude. Vgl. etwa Galit Hasan Rokem: L’image du Juif errant et la construction de l’identité européenne. In: Le Juif errant. Un témoin du temps. Catalogue. Musée d’art et d’histoire du Judaïsme (26. 10. 2001–24. 2. 2002). Paris 2001. Siehe auch das Nachwort der Hgg. in Ahasvers Spur [wie Anm. 9]. S. 237–249. Hier vor allem S. 244–247. 83
355 und unerlösten Juden wurde parallelisiert mit den weltweiten Netzen des Großkapitals in jüdischer Hand (A 184f.). Die Ortlosigkeit hatte ihr mythisches Bild (A 178, 181), das gegen Heimat, gegen Blut und Boden profiliert werden konnte. Der Jude ist dann der negativ gezeichnete Erbe jener Aufklärung, die magische Rituale bekämpft durch die Strahlkraft der reinen Vernunft. Er ist, anders gesagt, ein Vertreter der Moderne oder zieht eben die Projektionen auf sich, die für modern gehalten werden können,87 wenn man selbst es nicht sein will. Die bereits genannten Filme Jud Süß von Veit Harlan, Der ewige Jude von Fritz Hippler und Die Rothschilds greifen diese Muster auf und besetzen sie mit antisemitischen Stereotypen. Die Diskurse sind freilich älter und machen auch vor den größten Denkern nicht halt: Der ewige Jude Ahasverus ist nichts Anderes, als die Personifikation des ganzen jüdischen Volks. Weil er an dem Heiland und Welterlöser schwer gefrevelt hat, soll er von dem Erdenleben und seiner Last nie erlöst werden und dabei heimatlos in der Fremde umherirren. Dies ist ja eben das Vergehn und das Schicksal des kleinen jüdischen Volkes, welches, wirklich wundersamerweise, seit bald zweitausend Jahren aus seinem Wohnsitze vertrieben, noch immer fortbesteht und heimatlos umherirrt,
schreibt etwa Schopenhauer; “parasitisch” existiere “diese gens extorris” “auf [!] den andern Völkern und ihrem Boden”, dennoch mit einem “Patriotismus sine patria” ausgestattet: “sie sind und bleiben ein fremdes, orientalisches Volk”.88 Der Ausgangspunkt der zahlreichen Bearbeitungen und Bilddarstellungen des Ahasver ist die Leidener Legende aus dem Jahr 1602. Sie erzählt von einem Schuster, der zur Zeit Christi in Jerusalem lebt und an dessen Verurteilung maßgeblichen Anteil hat. An seinem Haus in der Via Dolorosa muss Jesus dann vorbei auf dem Weg nach Golgatha, sein Kreuz tragend. Erschöpft bittet er den Ahasverus, er möge ihm eine Rast in seinem Haus gewähren. Der aber weist ihn von der Schwelle seiner Tür. Darauf entgegnet Jesus: “Ich will stehen und ruhen. Du aber sollst gehen!”. Und gleich nach der Kreuzigung macht sich Ahasver auf den Weg, verlässt Frau und Kinder und kehrt der Stadt Jerusalem den Rücken. In ganz Europa will man ihn gesehen haben seither, vom 16. bis ins 19. Jahrhundert unter anderem in Hamburg 1547, dann in Spanien, Wien, Lübeck, Prag, Brüssel, Leipzig, Paris, Schweden, Stamford in England, Stuttgart, München, Newcastle und sogar in den USA, in Salt Lake City 1868. Ahasver ist, anders gesagt, ein Kosmopolit, wenn auch nicht aus freiwilligen 87
Dazu Alfred Bodenheimer: Wandernde Schatten. Ahasver, Moses und die Authentizität der jüdischen Moderne. Göttingen: Wallstein 2002. S. 7–18. 88 Arthur Schopenhauer: Parerga und Paralipomena. Kleine philosophische Schriften. Bd. 2. In: Ders.: Sämtliche Werke. Hg. von Frhr. von Löhneysen. Bd. 5. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2004. S. 309f., 312 ( § 132).
356 Stücken (A 93). Er hat aber auch seine unheimliche Seite: Untote sind den Menschen ein Graus. Sie scheinen sie mehr zu fürchten als den Tod selbst. Die Konjunktur des Grafen Dracula und seine vielfältigen Adaptionen könnten gleich Evidenz verschaffen für diese These.89 Sie haben den Rang von Dämonen, wenn sie nicht gar mit dem Teufel selbst identifiziert werden. Das geschieht auch mit Ahasver. In der Fassung von Stefan Heym, der ausführlich das Volksbuch zitiert – Kurtze Beschreibung vnd Erzehlung von einem Juden / mit Namen Ahaßverus (A 139f., 179, 183) – stürzt er gemeinsam mit Luzifer aus dem Himmel, verstoßen schon am sechsten Tag der Schöpfung, weil sie dem Gott das Nein sagten, das der doch selbst, ohne es wahr haben zu wollen, benötigt (A 7, 100f., 136f.). Seither wandert Ahasver einher mit dem gefallenen Engel und verschmilzt am Ende gar mit Jesus von Nazareth, bei den Hebräern genannt Reb Joshua. Leuchtentrager heißt der Gefährte – etymologisch korrekt übertragen –, mit dem Ahasver die Reformatoren Paulus von Eitzen, Philipp Melanchton und Martin Luther aufsucht. Letzterer wettert gegen die Juden, als wolle er Himmler vorgreifen: Ich will euch meinen treuen Rat geben: erstlich, daß man Ihre Synagogen und Schulen mit Feuer anstecke und ihnen nehme ihre Betbüchlein und Talmudisten und ihren Rabbinen verbiete zu lehren, und zum anderen, daß man den jungen starken Jüden in die Hand gebe Flegel, Axt und Spaten und sie arbeiten lasse im Schweiß ihrer Nasen; wollen sie’s aber nicht tun, so soll man sie austreiben mitsamt ihrem ewigen Jüden, haben sich alle versündigt an unserm Herrn Christus und sind so verdammt wie jener Ahasver. (A 35)
Luther will dieselbe Reinheit wie Gott. Das aber geht nicht im irdischen Leben. Ahasver und Leuchtentrager lassen das zumindest den Eitzen spüren. Es kommt zu allerlei Verwicklungen in Liebesdingen, die für den Geistlichen hochnotpeinlich enden. Margriet, der er nachsteigt, verhöhnt ihn vor allem Volk: “’s ist wahrhaftig eine schlimme Zeit, wenn sogar die Herren Pfarrer am hellichten Tag schon geil sind wie die Ziegenböck und sich auf die unschuldigen Weiber stürzen” (A 176). Ahasver, der die Magd für sich gewinnen konnte und den Eitzen immer wieder vorführt, wird schließlich verurteilt zu achtmaligem Spießrutenlauf. Immer wollte der Reformator an diese Frau, “die ihn sein Leblang gelockt und verführt”. Nun kommt es zum Handgemenge, das dem renitenten Revoluzzer Ahasver gilt. Der wird verletzt, die Frau aber tödlich 89
Vgl. Mona Körte: Die Uneinholbarkeit des Verfolgten. Der Ewige Jude in der literarischen Phantastik. Frankfurt/M.: Campus 2000. S. 36. Die Vampire sind Untote, unvollkommen Tote also. Ahasver hingegen lebt ewig, “was sich auf sein literarisches Schicksal auswirkt. Denn wer den Tod nicht kennt, weiß auch vom Leben nichts”. Zu diesem Thema auch Ronald Hochhausen: Der aufgehobene Tod im französischen Populärroman des neunzehnten Jahrhunderts. Ewiger Jude – Vampire – Lebenselixiere. Heidelberg: Winter 1988. S. 18, 20f., 91–94.
357 getroffen. Was bleibt von ihr, lässt ihn erschauern: “eine hölzerne Kugel, mit einem Flederwisch dran als Haar und Löchern für Augen und Nas und Mund, und daneben ein Strohbund in Fetzen gehüllt, wie ihn Bauern aufs Feld stellen, die Vögel zu scheuchen” (A 199). Als Ahasver unter den Spießrutenschlägen scheinbar stirbt, verflucht er den Eitzen, der Teufel werde ihn alsbald holen (A 207). Genau das geschieht. Leuchtentrager waltet seines Amtes (A 235). Eitzen ist ein zweiter Faust, der den Pakt mit dem Teufel allerdings nicht selbst betreibt (A 66, 87, 123f., 129, 235). Er verschenkt seine Seele, ohne den rechten Lohn zu erhalten (A 239). Luzifer hilft ihm in Amt und Würden und zu seiner Frau Barbara (A 124f., 130-134, 144f.), aber Befriedigung verschafft ihm das nicht. Margriet – die Nähe zu Margarethe, Fausts Gretchen ist offensichtlich gewollt – wird ihm vom Juden Ahasver abspenstig gemacht (A 164, 233). Margarethe heißt auch Eitzens erste Tochter, versehen mit dem Hinkefüßchen und dem Puckelchen des Leuchtentrager, der den in dieser Hinsicht recht naiven Eitzen auch an seiner Ehefrau hintergangen hat (A 133f., 148). So bleibt ihm nur das Amt des Pastoren und Superintendenten von Hamburg, gegen alle “Jüden” zu agitieren, um dadurch Rache zu nehmen (A 145). Wie im Kaufmann lässt der fromme Christ nur die Bekehrung zu, “ihre jammervolle Existenz zu verbessern” (A 147, 150). Der Wandernde Jude hingegen redet zuweilen wie der Nathan aus Lessings Stück (A 158f.). Ahasver selbst ist das revolutionäre, ja anarchistische Pendant zu Leuchtentrager, dem großen Verneiner (A 137).90 Im Warschauer Ghetto wird der Ewige Jude Zeuge, “wie die mehr als 350 000 Menschen, die da hineingepfercht worden waren, gequält und vernichtet wurden”. Denen war unmöglich, sich vorzustellen, was Ahasver voraussah: “daß Wesen, die ihnen nach Körperstruktur und Fortbewegungsweise ähnelten, es sich vorgenommen haben sollten, sie total auszurotten, sie verhungern zu lassen […] oder ins Gas zu deportieren” (A 118). Der Appell an die Kreatürlichkeit – wir erkennen reziprok die Argumente des Shylock wieder – verfängt nicht mehr. Dennoch – oder gerade wegen dieses Schreckens – “glaubt er an eine Veränderbarkeit der Welt” und flößt dadurch selbst den Sterbenden “neuen Mut” ein (A 119, 161). Im Aufstand des Ghettos verkehrt sich das Bild der ewig flüchtigen Juden, die nun angreifen und kämpfen. Schließlich nimmt Ahasver, wie Christus, doch den Opfertod an: Er übergießt sich mit Benzin, um Leuchtentrager im Ghetto vor dem Zugriff der SS zu retten. Man sieht ihn wieder in Jerusalem, in der Via Dolorosa vor seinem Schuhgeschäft, “das er als seinen Besitz erkannte und von Grund auf renovierte, nachdem jener Stadtteil im Gefolge des SechstageKriegs für Juden zugänglich wurde” (A 120). Heyms Schlussbild ist dennoch getragen von einem kosmologischen Hierogamos. In seiner Apokalypse stachelt derselbe Ahasver sogar Jesus an 90
Vgl. Bodenheimer: Wandernde Schatten [wie Anm. 87]. S. 191, 195, 198.
358 zum Aufstand gegen den eigenen Vater. Nicht mehr Luzifer, sondern Jesus, der Rabbi, stürzt mit Ahasver “durch die Endlosigkeit des Abgrunds” (A 240; 243) und korrigiert damit die Eingangsszenerie (A 5): “Und wir vereinten uns in Liebe und wurden eines. / Und da er und GOtt eines waren, ward auch ich eines mit Gott, ein Wesen, ein großer Gedanke, ein Traum” (A 244, 157). Das ist, nach der Shoah, schon fast optimistisch. Ahasver, der ewig Verfolgte wird also zum Nathan wie zuvor der Shylock. Die Tragik des Wandernden Schattens würde also am Schluss doch sinnvolle Tragik sein, die Rebellion (A 288) geschichtsphilosophisch legitimiert in der großen Versöhnung von Christentum und Judentum, die beide den Eingott ihres Glaubens nicht mehr benötigen – und darum in ihm aufgehen. Heym wäre demgemäß ein metaphysischer Materialist und ein skeptischer Utopist.91 Pessimistischer sehen Nelly Sachs und Gertrud Kolmar die Figur des Ahasver. Sachs reiht sich ein in den Chor der Wandernden: “Unser Tod wird wie eine Schwelle liegen / Vor euren verschlossenen Türen”, mahnen die Stimmen derer, die nur “mit einem Fetzen des Landes[,] darin wir Rast hielten[,]” bekleidet sind. Und Kolmar antizipiert dies: “Ach, das Zeichen, gelbes Zeichen, / Das ihr Blick auf meine Lumpen näht”.92 Der fremde Blick macht den Anderen zum Fremden und heftet den Stern an, scheint diese Klage zu sagen. Aber aus dem, was er an Verwüstung hinterlässt, formt sich wieder eine neue, vielleicht eine europäische Identität. Auch sie braucht die Phantasmen des Juden, dessen vielfältige Mythisierungen nicht abschließbar scheinen, so prekär sie auch sein mögen.
91
Vgl. Hans Peter Ecker: Poetisierung als Kritik. Stefan Heyms Neugestaltung der Erzählung vom Ewigen Juden. Tübingen: Narr 1987. S. 246 und S. 254. 92 Gertrud Kolmar: Ewiger Jude [1933]. Nelly Sachs: Chor der Wandernden [1946]. Beide in: Ahasvers Spur. [wie Anm. 9]. S. 156f.f. Zit. S. 157 und S. 159. Vgl. auch das Nachwort der Hgg. ebd. S. 237–249. Hier vor allem S. 249.
Autoren Terry Albrecht lehrt im Bereich neuere deutsche Literatur- und Medienwissenschaft an der Fern-Universität Hagen. Wichtigste Veröffentlichungen: Rezeption und Zeitlichkeit des Werkes Christoph Heins, 2000 [Diss.]. Jahrbuch der ungarischen Germanistik 2004–2006 (Mithrsg.). Voker C. Dörr ist Privatdozent am Institut für Germanistik, Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft der Universität Bonn. Wichtigste Veröffentlichungen: “Reminiscenzien”. Goethe und Karl Philipp Moritz in intertextuellen Lektüren, 1999 [Diss.]; Mythomimesis. Mythische Geschichtsbilder in der westdeutschen (Erzähl-)Literatur der frühen Nachkriegszeit (1945–1952), 2004 [Habilschrift]; Friedrich Schiller. Leben – Werk – Wirkung, 2005; Weimarer Klassik, 2007. Maha El Hissy ist Doktorandin im internationalen Promotionsprogramm “Kulturbegegnungen” der Universtität Bayreuth mit Promotion zum Thema “Ästhetische Darstellung des Karnevalesken in Literatur, Film, Fernsehserien und Kabarett von deutsch-türkischen MigrantInnen in Deutschland”. Karl Esselborn ist Lehrbeauftragter im Bereich DaF und interkulturelle Germanistik an der Ludwig-Maximilians-Universität Universität München mit Lehraufträgen an den Universitäten Montreal, Bamberg und Bayreuth. Themenschwerpunkte: deutsche Gegenwartsliteratur, Literatur der Interkulturalität (Migrationsliteratur, Reiseliteratur usw.), interkulturelle Literaturdidaktik. Zahlreiche Veröffentlichungen zum Thema. Ernst Grabovszki ist Lehrbeauftragter am Institut für Europäische und Vergleichende Sprach- und Literaturwissenschaft der Universität Wien. Habilitationsprojekt zum Thema “Rezeption fremdsprachiger Literatur in Zeitungen und Zeitschriften der DDR”. Außerdem Tätigkeit als Verlagslektor und Journalist. In Vorbereitung: A Literary History of the German Democratic Republic, 1949–1990 (Camden House), Vergleichende Literaturwissenschaft für Einsteiger (Böhlau/UTB). Hans-Joachim Hahn ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Simon-DubnowInstitut für jüdische Geschichte und Kultur e.V. an der Universität Leipzig. Arbeitsschwerpunkte: Jüdisch-europäische Literatur, Kulturund Erinnerungstheorien, Migrationsliteratur und Literarischer Antisemitismus. Wichtigste Veröffentlichungen: Repräsentationen des Holocaust. Zur westdeutschen Erinnerungskultur seit 1979, 2005 [Diss.]; Gerhart Hauptmann und ‘die Juden’. Konstellationen und Konstruktionen in Leben und Werk (Hrsg.),
360 2005; Transitraum Deutsch. Literatur und Kultur im transnationalen Zeitalter (Hrsg. zus. mit Jens Adam, Lucjan Puchalski und Irena S´wiat l⁄owska), 2007. Aigi Heero ist Außerordentliche Professorin (Associate Professor) für deutsche Literatur an der Universität Tallinn. Forschungsschwerpunkte: Intermedialität der Literatur, Literatur und Musik, Rezeptionsgeschichte und Transkulturalität in der Gegenwartsliteratur. Wichtigste Publikationen: Robert Schumanns Jugendlyrik, 2003. Zahlreiche Aufsätze zum Thema interkulturelle Literatur. Michaela Haberkorn unterrichtet am Institut für Germanistik, Deutsch als Fremdsprachenphilologie der Universität Regensburg. Wichtigste Veröffentlichungen: Naturhistoriker und Zeitenseher. Geologie und Poesie um 1800. Der Kreis um Abraham Gottlob Werner (Goethe, A.v. Humboldt, Novalis, Henrik Steffens, G.H. Schubert), 2004 [Diss.], Aufsätze zu Johannes Kepler und zur Geologie in der Literatur um 1800. Jürgen Joachimsthaler lehrt nach wissenschaftlichen Lehr- und Verlagstätigkeiten in Deutschland und Polen am Seminar für Deutsch als Fremdsprachenphilologie der Universität Heidelberg. Wichtigste Buchveröffentlichungen: Philologie der Nachbarschaft. Erinnerungskultur, Literatur und Wissenschaft zwischen Deutschland und Polen, 2007; S l⁄ownik wspól⁄czesnych pisarzy niemieckoje˛zycznych. Pokolenia powojenne. [Lexikon deutschsprachiger Gegenwartsautoren. Die Nachkriegsgeneration] (Mithrsg.), 2007; Zwischeneuropa – Mitteleuropa. Sprache und Literatur in interkultureller Konstellation (Mithrsg.), 2007; Poetik vs. Grammatik (mit Martin Grimberg), 2008. Jim Jordan ist Associate Professor for German Studies an der University of Warwick, England. Forschungsschwerpukt: deutschsprachige Diaspora-Literatur. Autor verschiedener Aufsätze zum Thema, sowie Herausgeber von zwei Sammelbänden: Migrants in German-speaking countries, 2000 und Crossing Boundaries, ein Sonderband von German Life and Letters, 4/2006. Margaret Littler ist Professorin für zeitgenössische deutsche Kulturwissenschaft an der University of Manchester, England. Wichtigste Veröffentlichungen: Gendering German Studies (Hrsg.), 1997 und Contemporary Women’s Writing in German: Changing the Subject (Hrsg. mit Brigid Haines), 2004. Zahlreiche Aufsätze u.a zu Feridun Zaimog˘lu und Emine Sevgi Özdamar. Alexandra Lübcke ist Lehrbeauftragte an der Universität Hamburg und arbeitet in der wissenschaftlichen Weiterbildung. Arbeitsschwerpunkte: Kulturtheorien, Interkulturalität, Identität und Geschlecht, Migration und Arbeit. Zur Zeit Vorbereitung eines Forschungsprojektes vor zum Thema Erzählte und
361 erfahrene Räume: Zeitgenössische literarisch-künstlerische Repräsentationen als Erinnerungspraktiken. Christoph Meurer ist Doktorand im Fach Neuere Deutsche Literatur in Bonn. Arbeit als freier Journalist sowie als Referent für DaF im Auftrags des Goethe-Instituts Brüssel. Kathrin Molnár studierte Germanistik, Vergleichende Literaturwissenschaft und Theaterwissenschaft in Leipzig und Zürich. 2004–2007 Doktorandin im Graduiertenkolleg “Prozessualität in transkulturellen Kontexten: Dynamik und Resistenz” der Universität Bremen; 2005–2007 Promotionsstipendium der Universität Bremen; seit November 2007 freiberufliche Journalistin und Videojournalistin. Heinz-Peter Preußer ist Juniorprofessor am Fachbereich 10 der Universität Bremen und Leiter des Instituts für kulturwissenschaftliche Deutschlandstudien (IfkuD), ebd. Forschungsschwerpunkte: Literaturgeschichte, -theorie und Ästhetik des 20. Jh. Neuere Publikationen: Mythos als Sinnkonstruktion. Die Antikenprojekte von Christa Wolf, Heiner Müller, Stefan Schütz und Volker Braun, 2000; Letzte Welten. Deutschsprachige Gegenwartsliteratur diesseits und jenseits der Apokalypse, 2003. Als Herausgeber: Krieg in den Medien, 2005; Weiblichkeit als politisches Programm? Sexualität, Macht und Mythos (mit Bettina Gruber), 2005; Kulturphilosophen als Leser. Porträts literarischer Lektüren (mit Matthias Wilde), 2006; Mythos Terrorismus. Vom Deutschen Herbst zum 11. September, 2006 und Deutsche Gründungsmythen, 2008 (beide mit Matteo Galli). Boris Previs˘ic´ arbeitet als Konzertflötist, Projektleiter sowie Assistent am Lehrstuhl Honold in Basel mit einem vom Schweizerischen Nationalfonds unterstützten Postdoc-Projekt “Poetik der Grenzen – Balkan als Reflexion europäischer Identität”. Daneben Leitung unterschiedlicher Kulturprojekte in sämtlichen Ländern des ehemaligen Jugoslawien (www.pre-art.ch). Wichtigste Veröffentlichungen: Hölderlins Rhythmus, 2008 [Diss.], Aufsätze zu Hölderlin, zur Lyrik und Übersetzung Celans und zur deutschen Balkanliteratur. Helmut Schmitz ist Associate Professor am German Dept der University of Warwick, England. Forschungsschwerpunkte: Nachkriegs- und Gegenwartsliteratur sowie Erinnerungskultur. Wichtigste Buchpublikationen: Der Landvermesser auf der Suche nach der poetischen Heimat. Hanns-Josef Ortheils Romanzyklus, 1997 [Diss.]; On Their Own Terms. The Legacy of National Socialism in Post-1990 German Fiction, 2004. Als Herausgeber: Entgegenkommen. Dialogues with Barbara Köhler (mit Georgina Paul), 2000;
362 German Culture and the Uncomfortable Past, 2001; A Nation of Victims? Representations of German Wartime Suffering from 1945 to the Present, 2007. Sandra Vlasta ist Doktorandin am Institut für Europäische und Vergleichende Sprach- und Literaturwissenschaft der Universität Wien mit Thema “Deutschund englischsprachige Literatur im Kontext von Migration”. Seit 2007 Lehrbeauftragte am Institut. Karin E. Yes‚ilada ist Lehrbeauftragte an der Ludwig-Maximilians-Universität München (Interkulturelle Germanistik), freie Publizistin und Literaturkritikerin für “Funkhaus Europa – Cosmo” des Westdeutschen Rundfunks. Verschiedene Publikationen zur Migrationsliteratur, nter anderem einen zusammen mit Tom Cheesman edierten Studienband zu Zafer S‚enocak, 2003.
r o d o p i [email protected]–www.rodopi.nl
Making Strange Beauty, Sublimity, and the (Post) Modern ‘Third Aesthetic’
Amsterdam/New York, NY, 2008 XIII-172 pp. ⫹16 colour ill. (Postmodern Studies 42) Paper € 40 / US$ 60 ISBN: 9789042024335
Herbert Grabes
This compact, indispensable overview answers a vexed question: Why do so many works of modern and postmodern literature and art seem designed to appear ‘strange’, and how can they still cause pleasure in the beholder? To help overcome the initial barrier caused by this ‘strangeness’, the general reader is given an initial, non-technical description of the ‘aesthetic of the strange’ as it is experienced in the reading or viewing process. There follows a broad survey of modern and postmodern trends, illustrating their staggering variety and making plain the manifold methods and strategies adopted by writers and artists to ‘make it strange’. The book closes with a systematic summary of the theoretical underpinnings of the ‘aesthetic of the strange’, focussing on the ways in which it differs from both the earlier ‘aesthetic of the beautiful’ and the ‘aesthetic of the sublime’. It is made amply clear that the strangeness characteristic of modern and postmodern art has ushered in an entirely new, ‘third’ kind of aesthetic – one that has undergone further transformation over the past two decades. Beyond its usefulness as a practical introduction to the ‘aesthetic of the strange’, the present study also takes up the most recent, cutting-edge aspects of scholarly debate, while initiates are offered an original approach to the theoretical implications of this seminal phenomenon.
USA/Canada: 295 North Michigan Avenue - Suite 1B, Kenilworth, NJ 07033, USA. Call Toll-free (US only): 1-800-225-3998 All other countries: Tijnmuiden 7, 1046 AK Amsterdam, The Netherlands Tel. +31-20-611 48 21 Fax +31-20-447 29 79 Please note that the exchange rate is subject to fluctuations
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Migratory Settings Edited by Murat Aydemir and Alex Rotas
Migratory Settings proposes a shift in perspective from migration as movement from place to place to migration as installing movement within place. Migration not only takes place between places, but also has its effects on place, in place. In brief, we suggest a view on migration in which place is neither reified nor transcended, but ‘thickened’ as it becomes the setting of the variegated memories, imaginations, dreams, fantasies, nightmares, anticipations, and idealizations of both migrants and native inhabitants that experiences of migration bring into contact with each other. Migration makes place overdetermined, turning it into the mise-en-scène of different histories. Hence, movement does not lead to placelessness, but to the intensification and overdetermination of place, its ‘heterotopicality.’ At the same time, place does not unequivocally authenticate or validate knowledge, but, shot-through with the transnational and the transcultural, exceeds it ceaselessly. Our contributions take us to the migratory settings of a fictional exhibition; a staged political wedding; a walking tour in a museum; African appropriations of Shakespeare and Sophocles; Gollwitz, Germany; Calais, France; the body after a heart transplant; refugees’ family portraiture; a garden in Vermont; the womb.
Amsterdam/New York, NY, 2008 276 pp. (Thamyris 19) Paper € 55 / US$ 80 ISBN: 9789042024250
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Writing and Filming the Painting Ekphrasis in Literature and Film
Amsterdam/New York, NY, 2008 243 pp. (Internationale Forschungen zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft 117) Paper € 49 / US$ 76 ISBN: 9789042024571
Laura M. Sager Eidt
This innovative interdisciplinary study compares the uses of painting in literary texts and films. In developing a framework of four types of ekphrasis, the author argues for the expansion of the concept of ekphrasis by demonstrating its applicability as interpretive tool to films about the visual arts and artists. Analyzing selected works of art by Goya, Rembrandt, and Vermeer and their ekphrastic treatment in various texts and films, this book examines how the medium of ekphrasis affects the representation of the visual arts in order to show what the differences imply about issues such as gender roles and the function of art for the construction of a personal or social identity. Because of its highly cross-disciplinary nature, this book is of interest not only to scholars of literature and aesthetics, but also for scholars of film studies. By providing an innovative approach to discussing non-documentary films about artists, the author shows that ekphrasis is a useful tool for exploring both aesthetic concerns and ideological issues in film. This study also addresses art historians as it deals with the reception of major artists in European literature and film throughout the 20th century.
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Ford Madox Ford Literary Networks and Cultural Transformations Edited by Andrzej Gasiorek and Daniel Moore
The controversial British writer Ford Madox Ford (1873-1939) is increasingly recognized as a major presence in early twentieth-century literature. This series of International Ford Madox Ford Studies was founded to reflect the recent resurgence of interest in him. Each volume is based upon a particular theme or issue; and relates aspects of Ford’s work, life, and contacts, to broader concerns of his time. The present book is part of a large-scale reassessment of his roles in literary history. This volume includes twelve new essays on Ford’s engagement with the literary networks and cultural shifts of his era, by leading experts and younger scholars of Ford and Modernism. Two of the essays are by well-known creative writers: the novelist Colm Tóibín, and the novelist and cultural commentator Zinovy Zinik.
Amsterdam/New York, NY, 2008 285 pp. (International Ford Madox Ford Studies 7) Paper € 57 / US$ 86 ISBN: 97890420243737
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