Sean Beaufort
Panik
auf der „Discoverer"
Vieles deutete darauf hin, daß die Passagiere der „Discoverer"
ein böse...
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Sean Beaufort
Panik
auf der „Discoverer"
Vieles deutete darauf hin, daß die Passagiere der „Discoverer"
ein böses Schicksal erwartete. Halbdunkel und stinkende Enge herrschten unter Deck,
Ungeziefer und ein Essen, das schlimmstenfalls als „Fraß" bezeichnet werden
konnte, waren die niederschmetternden Eindrücke. Die Auswanderer fieberten dem
Augenblick entgegen, an dem sie wieder auf festem Land standen,
gleichgültig, wie es aussah und welchen Namen es hatte.
Aber der Weg dorthin war weit, beschwerlich und voller Gefahren. Der Atlantik,
der zuerst das Symbol der Freiheit und Hoffnung gewesen war, zeigte sein
wahres Gesicht. Wind und Wellen trieben ihr Spiel mit der Galeone - und mit den
Eingeschlossenen. Im Knarren der Verbände, in dem Stampfen und Krängen des
Schiffes glaubten sie jedesmal, ihr letztes Stündchen hätte geschlagen.
Und da waren Mannschaft und Kapitän Granville. Lauter rohe, brutale Männer?
Oder taten sie nur so, die bärtigen Seeleute und der Koch, dessen ungenießbares Essen
trotzdem das einzige Mittel war, zu überleben?
Was als Flucht aus ärmsten Verhältnissen angefangen hatte, schien im Tod
und in der Hölle zu enden - in der Hölle auf dem Auswandererschiff...
Die Hauptpersonen des Romans: Robert Granville - der Kapitän der „Discoverer" versteht es meisterhaft, seine Geldkatze aufzufüllen - zum Beispiel mit schmutzigen Tricks beim Kartenspiel. Harris - Granvilles Erster Offizier hat zum Kartenspiel keine Zeit, sondern alle Hände voll zu tun, um das Leiden der Auswanderer an Bord zu erleichtern. Bruce Watts - der Bootsmann auf der „Discoverer" hilft seinem Kapitän, betuchte Passagiere zu schröpfen. David Fletcher - der Riese von Schmied ist entschlossen, seine Frau und seine drei Kinder heil und gesund in die Neue Welt zu bringen. Philip Hasard Killigrew - dem Seewolf wird allmählich klar, daß er etwas gegen Kapitän Granville unternehmen muß, bevor ein Unglück geschieht.
1. Am weitesten entfernt segelte die „Discoverer" unter Kapitän Gran ville. Sie war gerade noch am westli chen Horizont zu sehen. An Steuer bord von der Galeone, näher an der Schebecke, stampfte die „Pilgrim" Drinkwaters in den Wellen des Atlan tik. Kapitän Toolans „Explorer" schien im Augenblick am weitesten zurückgefallen zu sein und versuchte Backbord voraus, keine vier Seemei len entfernt von der Schebecke, nach Luv zu gelangen. Das gleiche versuchten auch die Seewölfe, nämlich hoch am Wind nach Luv zu segeln. Kapitän Philip Hasard Killigrew suchte auch den achterlichen Horizont mit dem blo ßen Augen und lange durch das Spek tiv ab. Schließlich ließ er den Kieker sinken und schüttelte den Kopf. „Nein", sagte er entschieden. „Das alles gefällt mir ganz und gar nicht." Die Kerle auf der Karavelle ver standen ihr Handwerk recht gut. Sie befanden sich seit etwa einem halben Tag in derselben Entfernung und ver loren den weit auseinandergezogenen Schiffsverband - besonders die Sche becke der Seewölfe - nicht aus den
Augen. Aber sie segelten auch nicht näher heran. „Und am wenigsten gefällt mir das Meer." Hasards Überlegungen gingen wei ter und tiefer, als es Ben Brighton schien. Beide Männer standen ach tern und fingen mit federnden Knien die Stöße ab, mit denen der scharfe Bug der Schebecke in die Wellen ein setzte. Der Wind aus dem nordwestli chen Quadranten hatte aufgefrischt. Noch hob und senkte sich die Dünung in langgezogenen Wellen, aber die Schaumkronen wurden breiter und häufiger. In der Takelage pfiff und heulte der Wind. „Mir gefällt's auch nicht, Sir", sagte der Erste. „Seit dem Ablegen in London är gere ich mich mit den vier Schiffen herum. Vor allem mit denen, die ich auf den Schiffen gesehen habe", sagte der Seewolf. Er sagte es nicht zum erstenmal. Er wußte genau, daß er es bis zum Ende dieser Fahrt noch häu figer sagen würde. Wahrscheinlich würde er dabei fluchen müssen. „Unsere drei Gäste, Ben?" Hasards Frage glich einem ärgerlichen Knur ren. „Sie haben keinen Grund, sich schlecht zu benehmen", erwiderte der
5 Erste. „Aber keiner von ihnen bringt sich um, wenn es um die Bordarbeit geht." „Auch das war schon auf dem Weg themseab zu bemerken", meinte Ha sard. „Noch vor Sonnenuntergang werden es die Kolonisten und Pilger mit der nackten Angst zu tun haben. Ich möchte nicht unter Deck sein, dort drüben." Der Seewolf zeigte kurz zur „Explorer". „Keiner von uns, Sir", stimmte Ben ohne eine Spur von Begeisterung zu, „würde mit den armen Teufeln auf den Galeonen tauschen. Soll der Kurs gehalten werden?" „Ja", erwiderte der Seewolf, ohne nachzudenken. „Wir sind dann in der Nacht schneller bei ihnen, wenn es nötig wird." „Geht klar, Sir." Ob nun der Kapitän der „Discove rer" sehr viel an den Auswanderern verdient hatte, die er auf seine über füllte Galeone gepfercht hatte, war unwichtig. Hasard und seine Crew nahmen den Befehl der Königin, so ernst wie jeden anderen in einer sol chen Lage. Und daß keiner von ihnen die Karavelle der Kerle achteraus aus den Augen ließ, verstand sich von selbst. Ärger gab es, wohin man schaute. Nur der Atlantik, seine Winde und Wellen, verhielt sich, wie es sich für einen Ozean gehörte. Die Seewölfe konnten genau abschätzen, welche Schwierigkeiten sie mit ihm haben würden. Aber, wenn sie lange und richtig nachdachten, konnten sie sich auch recht gut vorstellen, welche Pro bleme sie mit den vier Schiffen haben würden. Nicht mit den meisten See leuten, aber mit den Offizieren und Kapitänen, und mit den drei Galgen vögeln, die an Bord der Schebecke waren und sich aufspielten, als wären sie die Schiffseigner. Bei den Gedanken an Godfrey, Da
venport und Morris winkte der See wolf ab. Soviel Ärger, wie er wegstek ken konnte, er und seine Crew, konn ten die unheiligen Drei gar nicht ver ursachen. Dan O'Flynn, ebenfalls achtern, er riet die nächste Frage des Seewolfs und kam ihr zuvor. „Der Wind, sagt jeder, wird bis Mitternacht noch mehr auffrischen. Wenn er zum Sturm werden sollte, dann erst nach Mitternacht. Oder um die Mitte der Nacht." „Bist du sicher?" fragte Hasard. Seit Stunden segelte die Schebecke so hart wie eben möglich am Wind nach Nordwesten. Mit weitaus weniger Er folg versuchten es die Kerle auf der Karavelle achteraus. „Ziemlich sicher, Sir." „Ich auch. Also, noch gibt es keinen Grund, etwas zu ändern. Vielleicht sollten die Segel noch etwas dichter geholt werden, Ben." „Aye, Sir." Während der Erste einige knappe Befehle gab, dachte der Seewolf über seine Befürchtungen nach. Er war es, der die absolute Befehlsgewalt über die Schiffe hatte. Wenn die drei Kapi täne Fehler zuließen oder selbst da für verantwortlich waren, würde er sie ausbaden müssen. Nach einem langen, prüfenden Blick, der das gesamte Schiff, die Wellen und besonders die Sonne und die Wolken am Himmel umfaßte, en terte Hasard den Niedergang und setzte sich vor die Karten, die Dan O'Flynn ausgebreitet hatte. Bis die langsamen Galeonen mit ih rer verzweifelten Pilgerschar das si chere Ufer nahe der Kolonie errei chen würden, verging noch viel Zeit. Und jeder Tag brachte seine Überra schungen. Meist waren es böse Über raschungen.
6 Schon seit der Einschiffung hatte sich die Familie des frommen Schmiedes David Fletcher von vielen anderen Auswanderern, wenn nicht von allen, stark unterschieden. Inmit ten der Menschenmenge bildeten sie eine Zone der Ruhe und Zuversicht, und das zeigten sie auch, indem sie fast stets zusammenhockten. „Alles wird gut enden. Glaubt mir", sagte David immer wieder. Er war ein breitschultriger, schwarzhaariger Riese mit schwerem Körperbau und massigen Muskeln. Nichts schien den Dunkeläugigen, in dessen Bart sich einige graue Sträh nen mischten, erschüttern oder aus der gelassenen Ruhe bringen zu kön nen. Die Fletchers schienen es gut ge troffen zu haben. Sie befanden sich im Batteriedeck, zwischen den Kano nen und Pulverfässern, und saßen oder lagen auf Taurollen und den Bündeln zusammengeschlagener Se gelleinwand. Meist konnten sie sich gegen die Planken lehnen. Durch ei nen Spalt in der Stückpforte drang frische Seeluft herein, und oft spritzte auch Wasser hindurch und lief am Holz entlang, feuchtete die Planken und das Segeltuch an. Fast genau in der Mitte zwischen Ankerspill und Großmast waren die Fletchers untergebracht worden. Dennoch spürten auch sie die Enge im Schiff. Die „Discoverer" wäre hoffnungslos überladen, hatte Vater Fletcher gesagt. In den Stunden nach dem Ablegen und den ersten Tagen auf See hatte die Mannschaft noch keine Zeit, sich mit den Auswanderern zu beschäfti gen und ihnen zu antworten. „Wir müssen Geduld haben, Sa rah", tröstete Susan Fletcher ihre zwölfjährige Tochter. Die drei Kin der der Fletchers fingen an, sich zu langweilen.
„Ich will nach draußen", maulte Roebuck. „Das geht jetzt nicht", antwortete der Vater brummig. „Bleib sitzen. Du siehst doch, daß kein Platz ist." „Aber es stinkt hier, Daddy!" „Das geht vorbei, Roe." Die Mutter versuchte den Fünfjäh rigen zu beruhigen und zu trösten. Die Auswanderer saßen, lagen und kauerten zwischen den Lasten. Die Mannschaft hatte darauf geachtet, daß genügend freier Platz blieb. Ständig stiegen Seeleute nach unten, holten etwas oder führten irgend welche Arbeiten aus. Die Landratten versuchten, zu verstehen, was dabei vor sich ging. Es war mehr als mühsam, durch die Decks und über die Treppen - hier nannte man sie „Niedergänge" - zu tappen und zu stolpern, wenn sich das Deck bewegte und der Magen langsam in den Hals zu klettern be gann. Vorn, neben dem Bug, konnten sich die Auswanderer erleichtern. Wenn sie hoch über den schäumen den Wellen kauerten und sich krampfhaft festklammerten, dann packte sie der kalte Schrecken. „Wann ist das Schaukeln vorbei, Mom?" wollte Roebuck wissen. Die Mutter streichelte seinen Kopf und zuckte mit den Schultern. „Ein paarmal mußt du noch schla fen, Roe", erklärte der Schmied. Unentwegt knarrten und ächzten, krachten und knisterten die vielen hundert Holzteile des Schiffes. Ebenso andauernd wie diese Ge räusche waren die Schläge, mit denen die Wellen, kleine oder große, an die Planken schlugen. Das Sausen und Wimmern des Windes in der Take lage hörte niemals auf und war eine schaurige Begleitmusik zu dieser Fahrt in die Ungewißheit eines frem den Landes.
7 Nach einer Weile sagte Little John weinerlich: „Es stinkt wirklich, Dad." „Das sind nicht die Auswanderer, die Pilgrims", erklärte der Vater des vierzehnjährigen Jungen mit dem wuscheligen blonden Haar. „Es riecht von unten, aus dem tiefsten Punkt der Galeone herauf. Sie nennen das die ,Bilge'. Dort sammelt sich alles die Feuchtigkeit, das Wasser und die anderen, üblen Sachen. Wahrschein lich sind dort auch ein paar Ratten." „Ratten?" flüsterte Susan Fletcher entsetzt. „Auf jedem Schiff sind Ratten", murmelte ihr Mann. „Nur größte Sau berkeit hilft gegen Ungeziefer und Ratten. Aber die Galeonen sind alles andere als neu oder sauber." „Das haben wir gesehen", stimmte Sarah zu. Die zwölfjährige Tochter der Familie schien mit den Aufregun gen, dem Bordleben in der drangvol len Enge und dem schlechten Essen noch am besten fertigzuwerden. „Und die Seeleute! Sie sind dreckig und fluchen immer." Die Habseligkeiten - die Packen, Ballen und Bündel, die letzten wert vollen Besitztümer der vielen Aus wanderer - bildeten auf den Planken und an vielen Stellen der Decks un durchdringliche Stapel. Dazu gesell ten sich die Vorräte, die das Schiff schon vor der Ankunft der Auswan derer an Bord genommen hatte. Die Fletchers und viele andere Gruppen kannten jeweils nur einen kleinen Teil des dickbäuchigen Schif fes, aber an anderer Stelle mußte es ebenso aussehen. Jetzt krochen ein starker Geruch und dünner Rauch von der Kochstelle des fetten Kelvin Bascott durch die Hohlräume. Hinter dem dicken Schaft des Mastes er brach ein Auswanderer laut und qualvoll. Wütende Stimmen wurden laut. Susan und David wechselten einen
langen, stummen Blick. Wenn sie über ihre Angst sprechen wollten, mußten sie warten, bis die Kinder eingeschlafen waren. Jedenfalls litt unter den fünf Köpfen seiner Fami lie, sagte sich David nicht ohne Stolz, noch keiner an der gefürchteten See krankheit. Aber bisher waren die Wellen auch nicht so hoch gewesen, wie es viele befürchtet hatten. Noch nicht. Der Geruch nach Essen und Rauch, der aus der Kombüsenluke vor dem Mastschaft hochquirlte, wurde stär ker. Die Auswanderer kramten nach ihren Näpfen. Aber zuerst, das war ihnen schnell klargeworden, empfing die Mannschaft ihr Essen. Susan Fletcher ließ sich wieder zu rücksinken, lehnte den Kopf gegen ein Kleiderbündel und schloß die Au gen. Durch das Heben und Senken des schweren, feuchten Schiffsrump fes hindurch fühlte sie, wie sie ruhi ger wurde und sich die angsterfüllten Gedanken und Vorstellungen beru higten. Sie konnte wirklich einschla fen.
Kelvin Bascott stierte mit gelbli chen Augen in den großen Kessel, der an der rußigen Kette über der Glut pendelte. Bei dem wenigen Licht, das es in der Kombüse gab, konnte nie mand erkennen, was sich außer Was ser wirklich in der Brühe befand. Er, Kelvin, wußte es: alles, was schnell verdarb. Seine beiden jungen Helfer wisch ten sich die schmierigen Finger an den Schürzen ab. Das Tuch war nicht viel weniger schmutzig als ihre Hände. Er blinzelte im beißenden Rauch den einen Helfer tückisch an und zeigte auf den Salzfisch, der steif wie Holz am Haken baumelte. „Du hast genau das zusam
8 mengeschnipselt, was ich dir gegeben Geld, das sie für die Passage gezahlt habe?" fragte er und watschelte zum hatten, hatten sie keine Extra-Be Tisch hinüber. „Und wie ist das mit handlung zu erwarten. „Die Butter war schon ranzig, als dem Essen für unseren Kapitän?" „Ich warte drauf, daß er brüllt", er sie noch der Händler hatte", be widerte der Jungsmutje mürrisch. merkte Taylor. „Du weißt, was das „In den Finger habe ich mich auch ge heißt, Bascott?" schnitten." „Na klar." Der Profos, der Proviantmeister Er steckte den Finger in den Mund, saugte an der Schnittwunde und ver und der Kapitän steckten höchst zog angewidert das Gesicht. Halb wahrscheinlich unter einer Decke. schattenhaft im engen Schlund der Sie stellten einwandfreie Ware in Kochstelle bewegten sich die Män Rechnung, zahlten dem Schiffsausrü ner. Ein zweiter Kessel wurde gerade ster für minderwertiges Zeug, und hereingewuchtet. Das Wasser den Unterschied schoben sie in die ei schwappte über den Rand und lief in genen Taschen. Ob die Mannschaft mit dem Fraß zufrieden war, interes die, Stiefel Taylors. „Paß auf, du Blödian!" knurrte er. sierte sie nicht sonderlich. An die Pil Sie hatten es satt, dem verschlage ger und die Kinder dachte keiner. nen Koch zu helfen. Hier unten gab es Daß es in der Kapitänskammer ein nicht einmal eine Extraration für sie. Sortiment erstklassiger Weine und Gemüsestücke, faseriges Fisch guten Proviant gab, war unter den fleisch, Gräten und Fettaugen Offizieren ein offenes Geheimnis. schwammen auf der Suppe. Bascott hatte bisher noch keine Mög Sie war schwach gesalzen, das ein lichkeit gefunden, sich mit irgendwel zige Maß, das Bascott einhielt. Denn chen leckeren Sachen einzudecken. wenn die Suppe zu stark gewürzt Er kochte seine Suppen so schlecht oder gar versalzen war, würde jeder oder gut, wie er konnte. zum Wasserfaß rennen und trinken. „Bist du bald fertig?" schrie er und Dann war der gebunkerte Vorrat frü rührte mit dem großen Holzlöffel in her zu Ende als gedacht. Und - abge der Suppe herum. „Das ist ja nicht sehen vom Durst im Schiff - Gran auszuhalten." ville fragte nicht lange und war Der Junge hatte die Brotkanten in schneller mit der Peitsche zur Hand Körbe gezählt und schaute traurig als jeder andere Kapitän. die Reste des Vorrats an. Die Brot „Die Butter ist schon jetzt ranzig!" laibe schienen auf wundersame fluchte Bascott und knallte das Fäß Weise kleiner zu werden und weniger chen zwischen die Hölzer des Stau dazu. Das hatte wenigstens den Vor teil, daß sie aufgegessen waren, bevor fachs zurück. Immerhin ließ er sich herab, zwei sie ganz verschimmelten. faustgroße Stücke in den Kessel rut „Was willst du?" schen zu lassen. Der Junge versuchte, Der Junge hatte angefangen, die das Brot in einigermaßen gleichgroße eckigen Stücke des Schiffszwiebacks Teile zu zerschneiden. Leise zählte er auf dem Brett zu klopfen. Hin und vor sich hin. Es gab jedesmal Ärger, wieder fiel ein kleiner Wurm heraus wenn ein Stück fehlte oder sich einer und bewegte sich über das Holz in aus der Crew benachteiligt fühlte. eine Ritze. Das Klopfen des krümeli Die Auswanderer riskierten nicht, gen Zwiebacks marterte die Ohren sich zu beschweren. Für das bißchen des Kochs.
9 „Beeil dich mit der Klopferei. Die Kerle sollen die Würmer ruhig fres sen. Dann haben sie wenigstens Fleisch zu ihrer Suppe!" schrie Bas cott und wischte sich mit der fettigen Hand über die Glatze. Der Junge hob die mageren Schul tern und klopfte weiter. Erst merkten sie es nicht, aber dann schob sich eine Gestalt in die Kombüse, von der sie nur den Rücken sahen. Als er sich umdrehte, erkannten sie Mister Har ris.
Die meisten Crewmitglieder nann ten ihn nur „Harris mit den Falten". Der Spitzname kennzeichnete den Ersten Offizier sehr gut, denn die tie fen Querfalten auf seiner Stirn zeig ten deutlich, daß er seine eigenen Ge danken über Schiff, Mannschaft und Passagiere hatte. Harris nahm seine Aufgabe sehr ernst. Stundenlang spazierte er an Deck herum, kletterte in alle Lade räume und Lasten hinunter, schwieg und betrachtete das dichtgepackte Durcheinander mit ruhigen Augen. Wenn er seine Befehle gab, dann in überlegener Ruhe und fehlerfrei. Er schiern alles zu sehen. Hin und wieder schenkte er einem Auswanderer ein zögerndes, aufmunterndes Lächeln, das sein Gesicht völlig veränderte. Langsam hob er die Schultern und den Kopf, warf einen Blick zur rußi gen Decke und blickte in die merk würdig gelben Augen des Kochs. „Was hast du an wohlschmecken den Überraschungen da im Kessel?" erkundigte er sich mit ausdruckslo ser Miene. „Ich hoffe, ein Löffel da von bringt mich nicht um?" Der Koch grinste bereitwillig. Um seinen Mund bildete sich ein fettes Lächeln, das Harris nur als tückisch deuten konnte. Er hütete sich, es dem
Fetten zu sagen. Am Ende dieser At lantiküberquerung würde auch der Koch eine Figur wie eine Rahstenge haben. „Hier, Sir. Man kann es essen und davon satt werden. Ich kann nur mit dem kochen, was ich habe." „Begreiflich." Der Erste, den viele fürchteten, weil er in seinen Handlungen nicht so berechenbar war wie der Finsterling, der Kapitän, nahm einen Löffel, drehte ihn prüfend vor den Augen und tauchte ihn vorsichtig in die Suppe, die Bascott diensteifrig um rührte. Dann nahm er ebenso zurück haltend eine Kostprobe des bräunli chen Gebräus, das dampfend in dem Kessel schwappte. Er schluckte und gab Taylor den Löffel zurück. „Ich bin sicher, daß die Suppe bes ser sein könnte", sagte er kühl und nahm sich vor, die Proviantlast noch einmal genauer zu inspizieren. „Da ich aber nicht weiß, womit sie sich verbessern läßt, gebe ich diesmal kei nen Rat. Schließlich wollt ihr die Mannschaft nicht umbringen, wie?" „Auf keinen Fall, Sir. Wie ich schon erklärt habe ...", begann der Koch. Harris winkte ab und sagte in un überhörbarer Schärfe: „Das Schiff ist schwer beladen. Es sind zu viele Men schen an Bord. Alles muß unternom men werden, um Krankheiten zu ver meiden. Ich will nicht auf einem To tenschiff segeln." „Sir", wandte Bascott ein, und sein verschlagenes Grinsen vertiefte sich, „ich habe meine Befehle. Ich ver suche, für jeden an Bord zu kochen, was die Last hergibt. Ich habe nichts anderes. Ich schmecke alle paar Stun den das Wasser ab, damit es die Leute nicht krank werden läßt." „Es wird sich zeigen", brummte der Erste, nickte den Männern zu und en terte aus der Kombüse. Auch ihn stör ten der Rauch und der Gestank, aber
10 er konnte bei diesem unruhigen See gang nicht riskieren, alle Luken zu öffnen. Als die ersten Züge seine Lun gen mit Seeluft füllten, fing er zum drittenmal an, die Auswanderer zu bedauern. Er begab sich auf den Weg hinauf zur Kampanje und zur Hecklaterne. Das Wetter verhieß nicht viel Gutes. Obwohl an einigen Stellen die Plan ken rott zu werden schienen, war die „Discoverer" kein schlechtes Schiff. Seine Befürchtungen würden sich beim ersten heftigen Sturm als falsch oder richtig erweisen. Sorgfältig kontrollierte er die Se gelstellung, das laufende Gut und den Kurs. Im schwindenden Licht des frü hen Abends suchte Harris mit dem Spektiv die Horizonte ab und sah die anderen Schiffe, meist noch weit un terhalb der Kimm. Auf der Kuhl wurde zum Backen und Banken gerufen. 2. Der Wein gluckerte mit einem ver trauten Geräusch in den silbernen Becher, der mit schwarz eingelegten Ätzornamenten verziert war und ei nen schmalen Goldreif am oberen Rand aufwies. Sorgfältig verschloß Kapitän Robert Granville das Wein fäßchen und überprüfte die Knoten der festgebändselten Sicherung. „Für ein Spielchen wird heute auch keine Zeit sein", sagte er verdrossen. „Ich sollte zusehen, daß schnell ge gessen wird. Mein Essen, Kerl!" Die letzten Worte brüllte er. Die Tür seiner Kammer öffnete sich, und der Seemann Allan streckte den Kopf durch den Spalt. „Das Essen, Sir? Reichlich oder nur ein Häppchen?" fragte er schnip pisch. Granville blaffte: „Nicht viel. Und
wehe, wenn ich dich erwische, daß du von meinen Schinken frißt!" „Aye, Sir." Die Tür schloß sich. Aus den Vorrä ten des Kapitäns, die in Seekisten mit massiven Schlössern gesichert wa ren, stellte Allan einen kleinen Imbiß zusammen. Einige Scheiben Braten, etwas feingepökelten Schinken, gutes weiches Brot, gesalzene Butter und zwei Äpfel, die er sorgfältig schälte und entkernte. Für den Wein sorgte Granville selbst. Allan klopfte an die Tür, servierte das Tablett und erntete ein mürrisches Kopfnicken. Dann wagte er zu sagen: „Schlechte Nachrichten, Sir. Das Wetter hält nicht. Harris und die anderen Offi ziere sind sicher, daß es Sturm geben wird - spät nachts." „Weiß ich selbst." „Wollte es nur gesagt haben." Granville war der wichtigste Mann an Bord - betonte er selbst. Deswe gen war und blieb es wichtig, daß er bis zum Ende der Fahrt nicht nur ge nug zu trinken und essen erhielt, son dern auch das Beste davon. Die Händ ler wußten, was zu tun war: besta chen sie ihn nicht mit Sonderlieferun gen, dann kaufte er bei ihnen auch nichts fürs Schiff. So einfach war das. Außerdem wußte Granville, wie man die Passagiere dazu brachte, ih ren Besitz auf gute Weise zu verklei nern. Es war wichtig, mit geringem, leichtem Gepäck zu reisen, auch wenn es sich um Geld handelte. Der Kapitän hatte, wie stets, alles klug ge plant und eingerichtet. Er saß am Ru der, am längeren Hebel. Er brauchte nur zu warten. Er spießte den letzten Brocken des gut gewürzten Bratens auf die Mes serspitze, kaute und goß mit Wein nach. Die Zeit war noch nicht reif. Seine Stunde würde unzweifelhaft kommen. Spätestens nach dem Sturm würde sein Plan aufgehen.
11 „Also", sagte er zu sich, stand auf und setzte seinen Hut auf. „Bringen wir's hinter uns." Als er das erhöhte Achterdeck er reichte, hatte die Nacht schon ange fangen. Die „Discoverer" hatte ihre Lichter gesetzt. Er holte schweigend das Spektiv hervor und suchte die Umgebung ab. Der verdammte Kil ligrew, der Seewolf, segelte gut in Luv. Die anderen Lichter bewiesen, daß sich die kleine Flotte weit ausein andergezogen hatte. Der Wind heulte, und die Wellen stiegen höher. Sie tru gen gischtende Schaumkronen und überschlugen sich. Es drohte eine lange, harte Nacht. Der Erste, Harris, einer von diesen trockenen Kerlen, die nicht soffen und spielten, stieg den Niedergang hinauf. „An Deck alles klar, Sir. Wir erwar ten Sturm und schwere See." In der Dunkelheit war nicht viel mehr als die Segelstellung zu erken nen. Die „Discoverer" lag gut auf Kurs, auch wenn er stark nach Süd west führte, obwohl am Anfang der Reise ein klarer Westkurs besser ge wesen wäre. Das auseinanderlau fende Dreieck des Kielwassers schäumte schwach leuchtend in der Nacht. Es gab keine Sterne zu sehen. Scharfe, kurze Kommandos ertönten aus allen Richtungen. Die Decks wache arbeitete zuverlässig: Bruce Watts, der Bootsmann, und Gordon Tibbs, der Decksälteste, sorgten un barmherzig dafür. „Es wird vermutlich eine harte Nacht", sagte Granville und ver suchte, besonders leutselig zu sein. „Wenn die Auswanderer aufsässig werden, müssen sie beruhigt werden, klar?" „Aye, Sir. Sie sind weniger aufsäs sig als verängstigt. Die meisten jeden falls." „Die Mutigen und Heiteren werden
sich bald bei mir vorstellen", erklärte grinsend der Kapitän. „Wer hat den Pilgern erlaubt, an Deck zu sein?" „Ich, selbstverständlich. Besonders die Kinder leiden unter der schlech ten Luft. Solange wie möglich sollen sie frische Luft haben." Auf der Kuhl, nicht weit vom Nie dergang entfernt, stand eine Gruppe von einigen Dutzend Auswanderern. Die kleinen Kinder hielten sich an ih ren Eltern fest. Jeder klammerte sich ans Schanzkleid oder an ein Tau. Die Menschen schwankten im Seegang hin und her und bildeten eine graue, fast gesichtslose Masse. „So bald wie möglich nach unten!" befahl Granville. „Wir sind nicht in der Karibik, Harris!" „Aye, Sir",' antwortete Harris knapp und mit unbewegtem Gesicht. Er trat zum Niedergang, legte die Hände an den Mund und rief einen Befehl. Die Mannschaft begann, nachdem Tibbs, der Decksälteste, den Befehl bestätigt hatte, die Aus wanderer zu drängen und zu schie ben. Einer nach dem anderen enterte wieder den Niedergang hinunter und verschwand in der halbdunklen Tiefe. Der Bug der Galeone hob sich, schien viel zu lange zu warten, dann krachte er schwer in die erste der stei len Wellen. Wie ein Chor schrien die Passagiere auf und stolperten wild durcheinander. „Das habe ich gemeint. Lauter ver dammte Landratten!" schnarrte Granville. Harris dachte: du verdammter kor rupter Hundesohn! Er glitt den Nie dergang hinunter und lief auf die Luke zu. „Brecht euch nicht die Knochen. Vorsicht! Einer hilft dem anderen!" rief er drängend. „Danke, Mister!" rief eine junge Frau zurück.
12 „Und unter Deck müßt ihr euch festhalten. Wir kriegen noch einen starken Wind heute nacht", fuhr er fort. „Tibbs!" „Sir?" Der Decksälteste, ein stämmiger Kerl mit einer zerdroschenen Platt nase, trat näher und nickte. Er hielt einen Belegnagel in der Hand und fuchtelte damit herum. „Willst du damit den Passagieren den richtigen Weg weisen, Tibbs?" fragte der Erste und sah weiter zu, wie sich die Auswanderer in vernünf tiger Geschwindigkeit zurückzogen. Aus der Luke drangen Lärm, Stöh nen und Gestank. Es roch noch schlimmer als vor einigen Stunden. „Richtig. Keiner unter ihnen, der die Sprache nicht versteht", sagte der Decksälteste brutal. „Zum letztenmal, Tibbs: Diese Leute haben dafür bezahlt, daß wir sie nach Virginia bringen, so schnell und gut, wie wir es schaffen. Wenn ich dich erwische, daß du einen schlägst, melde ich dich. Du weißt, was Granville dann mit dir anstellt." „Verstanden, Sir", antwortete der Decksälteste, grinste verstohlen und schluckte diesen Verweis. Harris hatte immerhin so leise gesprochen, daß es kaum ein anderer gehört und verstanden hatte. „Wie sieht es unten aus?" wollte Harris wissen. „Viel zu voll." „Kranke?" „Ich habe noch nichts gehört. Der Feldscher ist in jedem Fall unter Deck." Harris sah zu, wie einige Männer den Frauen und Kindern den steilen Niedergang hinunterhalfen. Als sich unten die Leute verteilten, war er für den Augenblick beruhigt. Wieder re gistrierte er, daß der Wind zugenom men hatte. Die Galeone stampfte schwer in den Wellen. Vom Bug her
flogen bei dem pfeifenden Wind Spritzer und Gischtflocken. Harris nickte und sagte zu Tibbs: „Laßt ein paar Luken zwei Handbrei ten weit offen. Sichert sie gut. Sonst ersticken die Passagiere. Die Crew übrigens auch." „Aye, aye, Sir." Noch drei Stunden dauerte es, bis Harris auf Freiwache ging. Er sah, wie die Deckswache die schweren Lu ken mit Spaken sicherten und ver zurrten. Er ging wieder nach achtern, dann setzte er an Backbord seinen Rundgang fort. Aus dem harten Wind wurde im Lauf der nächsten Stunde ein böiger, kalter Sturm. Die „Discoverer" stampfte und schüttelte sich, holte schwer über und rammte den Bug in Wellen, Gischt und Finsternis. Wenn die Anzeichen richtig waren - und er wußte, daß er nicht irrte -, fing der höllische Tanz jetzt an. Das würde vielleicht sogar den Kapitän aus seiner gemütlichen Kammer treiben, weit weg von sei nem gefüllten Weinbecher.
Als das erste Dutzend der schmet ternden, krachenden Erschütterun gen vorbei war, klammerten sich alle fünf Fletchers fest aneinander. Das kleine Stück Deck, zwischen den oberen und unteren Planken, das die Auswanderer überblicken konnten, verwandelte sich schrittweise in eine Hölle im Halbdunkel. Die blakenden Lampen schwangen wild hin und her. Jedesmal, wenn eine Erschütterung durch das Schiff ging, rüttelten die schweren Kanonen an ihrer Verzur rung. Die breiten, eisenbeschlagenen Räder der Lafetten dröhnten auf das Deck, die Brooktaue ächzten wie ge peinigte Todkranke. Gepäckstücke rissen sich los und polterten nach
13 vorn, dann wieder zurück, zur Seite Little John und Sarah in die halb und in die Höhe. dunkle Ecke, in der sich undeutlich „Daddy, ich habe Angst!" wim die Gestalten bewegten. Drei Crew merte Roebuck und klammerte sich mitglieder drängten sich schreiend an die Beine des Vaters. Eine Suppen und fluchend zwischen den Auswan schüssel wirbelte wie ein Geschoß derern hindurch und benutzten ir durch die Dunkelheit und zerbarst gendwelche Tauenden dazu, um sich einen Weg freizuprügeln. klirrend. Susan und David Fletcher konnten „Das ist bald vorbei", brummte Da vid und zog den Kleinen an seine nichts tun, nicht helfen. Sie klammer Brust hoch. „Weißt du, draußen gibt ten sich an den dicken, rissigen Tauen es große Wellen, und das Schiff tanzt fest, die vor Stunden von der Mann schaft entlang der Bordwände ge auf dem Wasser." „Aber die Seeleute schreien vor spannt worden waren. An die Eltern Angst!" rief Sarah und versuchte im wiederum klammerten sich die Kin mer wieder, ihren aufgegangenen der. Wenn ein Auswanderer wagte, aufzustehen oder sich auch nur auf Zopf neu zu flechten. „Das ist der Wind!" rief ihr Bruder. zurichten, dann schleuderte ihn der nächste Stoß des Schiffes ohne Halt „Der Wind heult und kreischt!" Bis hier ins Deck war tatsächlich irgendwohin. das schauerliche Geräusch des Win Die meisten Passagiere waren in des zu hören, der sich im Holzwerk, zwischen seekrank. Sie würgten und im stehenden und laufenden Gut fing, erbrachen sich, holten stöhnend Luft, der aus unergründlicher Ferne wehte rissen dem Nachbarn den ledernen und ohne Pause zu schreien und zu Eimer aus den Händen und leerten klagen schien. die Suppe hinein. Oft trafen sie nicht. Die Landratten kannten diese Die Planken zwischen den Gruppen Laute nicht. Die Seeleute unterschie der hilflosen Menschen verwandelten den nur die einzelnen Stärken und er sich in stinkende und schmierige Flä kannten daraus die Stärke des herr chen, schlüpfrig wie Schlamm. schenden und die zunehmende Kraft Es hörte nicht auf. Das Schiff tau des erwarteten Sturms. Wieder brach melte weiterhin durch die Wogen. ein Tampen. Das Netz, das Ausrü „Feldscher! Wo bleibt der Arzt? stungsgegenstände und verschnürte Wir brauchen Hilfe!" schrie ein stäm Bündel festhalten sollte, sprang aus miger Mann mit brustlangem wei einander. Die Ballen und Packen pol ßem Bart. „Wir haben doch bezahlt, terten nach achtern. damit wir betreut werden." Eine kleine Truhe vollführte einen Der Seemann drehte sich nicht ein Satz von zehn Fuß Länge und traf ei mal um, während er das Netz zu flik nen Mann genau ins Knie. Er stieß ei ken versuchte. nen markerschütternden Schrei aus, Er brüllte: „Halt's Maul, Alter! Der der jedes andere Geräusch übertönte. Doktor hat auch nur zwei Hände!" Blut strömte am Strumpf entlang, In der qualvollen Enge, mitten im der Auswanderer sackte zusammen Gestank, ohne frische Luft und im und schwieg einige Sekunden, dann ständigen Hagel der kleinen Gepäck ging sein Geschrei in grelles Wim stücke hockten und kauerten die Aus mern über. wanderer und glaubten daran, daß Mit großen Augen, aus denen fas am Morgen alles besser sein würde. sungsloses Entsetzen sprach, starrten Aber jedes einzelne Geräusch wurde
14 lauter und durchdringender. Alles nahm eine bedrohliche Bedeutung an. Der kreischende Orkan dort drau ßen, von dem nur ein winziges Lüft chen durch Spalten und Ritzen ein drang und sich mit dem ekelerregen den Gestank vermischte, würde die Segel und Taue zerfetzen, die Rahen und die Masten zersplittern. Die Wel len, die mit dem Dröhnen von Artille riegeschützen gegen die Bordwand donnerten, würden bald die Planken in Kleinholz und Splitter verwan deln. Längst hatte die Todesangst die Auswanderer gepackt. Säuglinge kreischten und wimmer ten durchdringend. Die kurze Angst schreie der älteren Kinder mischten sich in den murmelnden Chor der be tenden Pilger. Keiner würde jemals Virginia erreichen. Gott hatte sich ab gewandt. Die Schmerzensschreie von Frauen und Männern gingen im allge meinen Lärm unter. In Krämpfen wälzten sich mindestens zwei Dut zend Männer oder Frauen auf den Planken hin und her. Einige Auswanderer halfen den Crewmitgliedern, das Netz auszubes sern, und schleppten die losgerisse nen Kisten und Ballen in die hintere Ecke des Unterdecksraumes. Auf den glitschigen Planken rutschten sie aus und schlugen sich Köpfe, Ellbogen und Knie blutig. Eine Ratte huschte im Zickzack, kurze, grelle Pfiffe ausstoßend, zwi schen den Frauen hindurch und ver schwand wieder in der Finsternis ei nes Winkels. Kreischende Entset zensschreie begleiteten den Weg des Nagetiers. Eine weitere Stunde ging vorbei. Sie dauerte eine Ewigkeit. Endlich hatten die Männer die umherpoltern den und sich überschlagenden Ge päckstücke wieder eingefangen und
verstaut. Die Seeleute schlugen die letzten Knoten und packten das näch ste Spanntau. „Kann jemand sein Knie verbin den?" brüllte ein flachgesichtiger blonder Waliser. „Wenn man mir Waser und Binden gibt. Ich kann's", meldete sich ein junger Mann aus London, der unter einem Haufen Kinder hervorkrab belte und den Kopf ins Licht schob. Ein paar Leute, mit denen die ande ren nur wenige Worte gewechselt hat ten, rührten sich überhaupt nicht mehr. Sie lagen in den Winkeln zwi schen Bordwand und Spanten, neben den Geschützen und zwischen den Pulverfässern, die mit ihrer wuchti gen Vertäuung aus doppelt fingerdik ken Enden und wulstigen Knoten wie überwucherte Riesensteine aus den schottischen Hügeln aussahen. „Ich habe ein sauberes Tuch!" schrie ein anderer und fing an, das Tuch in handbreite Streifen zu zerrei ßen. „Wasser!" „Bringt ihm einen Schnaps. Mitten in die Wunde. Das hilft!" „Ich habe Rum." Für eine kurze Zeit erfaßte eine Welle von selbstverständlicher Hilfs bereitschaft die etwa fünfzig Men schen. Die Crewmitglieder schoben sich wieder in die Richtung des Luks am Mast und verschwanden in einem anderen Raum unter Deck, der sicher ebenso überfüllt war, ebenso stank und die gleichen Zustände zeigte wie dieser Ausschnitt aus dem uner gründlichen Gefüge des großen Schif fes. Eine Flasche aus Metall, dick mit ei ner Kordel umwickelt, wurde weiter gereicht. Der Mann mit dem zertrüm merten Knie, der nur noch stöhnte und ächzte, nahm einen langen Schluck. Ihm schien der Rum zu hel fen, aber dann fing er wie ein Ertrin
15 kender zu husten an. Die Hose wurde mit einem kurzen Dolch aufgetrennt, das Blut abgewaschen und abgetupft. Ein schauerlicher Schrei gellte durch den Raum, als eine Frau tat sächlich den scharfen Rum über die blutende Wunde schüttete. Das Knie sah seltsam aus, kantig und flach an Stellen, wo es rund sein sollte, und bis hinauf zum Oberschenkel hatte die metallbeschlagene Kiste die Haut bis auf den Knochen bloßgelegt. Der Mann sackte zusammen. Er hatte das Bewußtsein verloren. Schnell wurde er verbunden und mit zwei Tauenden an einem Spant fest gebunden, nachdem man ihm Segel tuch in den Rücken geschoben hatte. Unangetastet ging die Rumflasche zurück an den Besitzer. Die Auswan derer beteten noch immer. Nichts hatte sich geändert, nicht einmal zum Schlechteren. Nur Zeit war vergangen. Wie viele Minuten oder Stunden, das konnte niemand abschätzen. Es waren zwar immer wieder Glockenschläge oder doppel tes Klingeln zu hören, aber vermut lich waren es Metallgegenstände, die gegeneinanderschlugen. Die Galeone kippte schwer nach Steuerbord, wälzte sich unter ständi gem Ächzen in einer schier endlosen Bewegung nach Backbord zurück, und während die Brecher gegen die „Discoverer" hämmerten, hob sich der Bug und schien, ehe er mit einem Schlag, der die Zähne aufeinander drosch, wieder zurückfiel, eine halbe Stunde dazu zu brauchen. „Da kann niemand schlafen", stöhnte David Fletcher und bemerkte im selben Augenblick, daß Roebuck auf seinem Schoß tatsächlich einge schlafen war. Er schlief mit weit offe nem Mund, und die Griffe der kleinen Finger lösten sich mehr und mehr. David legte seinen Arm quer über die
Brust des Kleinen und zog Susan fe ster zu sich heran. „Du wirst sehen, Sue. Wir schaffen es. „Ich bete darum. Aber wenn das Schiff untergeht?" flüsterte sie in sein Ohr. Er schüttelte den Kopf und ant wortete gegen seine eigene Meinung: „Die Seeleute verstehen ihr Geschäft. Sie vertragen das Schlingern und Stampfen. Die Galeone hat schon ein paar Stürme hinter sich. Schlimmer kann es nicht mehr werden." „Warum nicht?" „Wir sind mitten im Atlantik. Weit draußen auf dem Meer. Ich habe von schlimmeren Stürmen niemals etwas gehört." Little John und Sarah schliefen nicht, aber sie dösten ein und schreck ten bei besonders lauten oder harten Schlägen wieder auf. Als sie die Ge sichter ihrer Eltern blinzelnd erkann ten, fielen ihre Köpfe wieder auf die Brust, und sie versuchten, zu schla fen. „Wie lange noch, Dave?" fragte Sue mit feuchten Augen und weißem Ge sicht. Noch hielten sie sich alle ausge zeichnet. Aber der Gestank, der ste chend wie bitterer Rauch in der Luft hing, reizte sie. Immer schafften sie es im letzten Augenblick, ihre Übel keit zu überwinden und den Brech reiz in der Kehle herunterzuschluk ken. „Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich hat Mister Harris recht, der Erste Of fizier. Er sagt, daß es meist am Mor gen aufhört." In jedem Fall würde der Ritt noch einige Stunden dauern. Jetzt wurde es aber schlimmer. Vielleicht hatte das Schiff seinen Kurs geändert, denn in den gewohnten Chor des Lärms mischte sich ein neues, schreckliches Geräusch.
16 Ein helles Klatschen. Und schon lief in breiten Bahnen Wasser entlang der Stringer und platschte auf die Körper und in die Gesichter der Stöhnenden, Betenden oder Schlafenden. Die kleinen Flam men der Lampen waren in dem grau gelben Dunst nur noch rußende schwache Kugeln aus bernsteinfarbe nem Licht. Jetzt rann das Wasser auf eine Lampe zu, erreichte sie, und knackend sprangen die dicken Glä ser. Wieder schlug eine riesige Welle an Deck, an den tiefsten Punkt, den die Seeleute „Kuhl" nannten. Ein zweiter Wasserguß brach über das Lukensüll nach unten und schreckte endgültig jeden auf, der noch schlummerte oder schlief. Das Murmeln der Gebete riß ab, Flüche und Geschrei unterbrachen die Betenden. An Deck ertönten Kommandos. Jemand brüllte Be fehle. Eine riesige Welle packte die „Discoverer", hob sie hoch, rüttelte sie bis in die letzten Verbände und schien sie in einen Abgrund zu schmettern. Am Luk wurde hantiert. Harte Schläge waren durch den allgemei nen Lärm zu hören. Dann zischte ein riesiger Wasserfall an Deck und brei tete sich nach allen Seiten aus. Ein Teil davon erreichte die Öffnung und ergoß sich durch die Luke fast unge hindert ins Innere. Diesmal bildete sich eine kleine Welle, die unter die Taubündel kroch, die Kleidung tränkte und die Lein wand durchfeuchtete. Das Erbro chene, das halbwegs getrocknet gewe sen war, hatte sich längst wieder in eine stinkende Schmiere verwandelt. Dann krachte die schwere Holzplatte zu. Riegel kreischten, und die Außen geräusche wurden eine Spur leiser. Nur ein Teil Wasser hatte die zu sammengedrängte Familie Fletcher
erreicht. Die Menschen bildeten in mitten der anderen einen Klumpen aus Leibern, Kleidungsstücken und Tauwerk. Sechs Fuß vor Davids Au gen schwankte und pendelte die Lampe wie wild. Noch brannte sie und verbreitete spärliche Helligkeit. Es war sinnlos, aufzustehen und vor der Nässe zu flüchten. Es gab kei nen anderen Platz, und die Auswan derer hatten gelernt, sich nicht zuviel zu bewegen. Jeder Schritt würde sie stürzen lassen und in hilflose Bündel aus Beinen und Armen verwandeln, die wie tote Puppen irgendwohin ge schleudert wurden, sich und andere verletzten. Keiner der vielen Auswanderer glaubte jetzt noch daran, daß die Ga leone die Küste der Neuen Welt errei chen würde. Die Nacht schien ewig zu dauern. Die Zeit kroch dahin. Einige schliefen vor Erschöpfung ein. Draußen heulte weiterhin der Sturm aus Nordost und Nord und türmte die Wellen immer höher. 3. In der Finsternis schüttelte Edwin Carberry den Kopf. Roger Brighton erriet die Bewegung. Das Licht der Buglaterne tanzte auf und ab. „Ich hab's schon ein paarmal ge sagt!" rief der Profos durch das Gur geln und Heulen. „Aber jetzt möchte ich nicht um alles unter Deck sein dort drüben, in den überladenen Ga leonen!" Ab und zu tauchte für wenige Au genblicke ein schwaches Licht auf. Die Schebecke segelte mit Sturmbe segelung weitab an Steuerbord der Auswandererschiffe. „Hast recht. Nicht um eine Kiste voll Gold. Die armen Kerle." „Und dazu die Rübenschweine an
17 Bord. Das ist eine Mannschaft, wie man sie wirklich lange suchen muß. Dazu die Kapitäne - ich hätte sie schon allein wegen ihrer Visagen kiel holen lassen." „Eine fröhliche Seefahrt wird es nicht", sagte Piet Straaten. Er hatte Jan Ranse vor einer Stunde abgelöst und steuerte die Schebecke durch die Wellen. Er meinte, daß jetzt, drei Stunden vor Morgengrauen, die Wut des Sturms halbwegs gebrochen wäre. Die anderen merkten nichts davon. Sie hatten die wasserfesten langen Jacken bis zum Kinn geschlossen und waren mit Sorgleinen gesichert. Nie mand wagte sich zum Vorschiff. Die Freiwache hatte sich in ihren Kojen ebenfalls festgebunden. „Für uns ist sie auch nicht gerade fröhlich. Unsere drei Hochwohlgebo renen?" „Liegen unten und kotzen sich wahrscheinlich die schwarzen Seelen aus dem Leib", entgegnete Roger Brighton. „Hoffentlich. Dann benehmen sie sich morgen besser. Am schönsten wär's, wenn sie den ganzen Tag tief pennen würden." Wahrscheinlich wurden die See wölfe mit dem Sturm am besten fer tig. Die Crew Hasards war bestens vorbereitet, das Schiff hätte schwer lich in einem besseren Zustand sein können. Ob die drei Galeonen und die fremde Karavelle achtern beim Ta geslicht noch seetüchtig waren, stand dahin. Niemand hatte dagegen gewet tet, aber auch keiner war dafür einge treten. „Wir werden sehen. Vor einer Stunde waren jedenfalls noch alle da", sprach Roger Brighton die Über legungen seiner Freunde aus. Das Großsegel war eingeholt und festgelascht. Die Großrah war längs belegt. Mit den drei kleineren Segeln
lief die Schebecke fast schon zuviel Fahrt. Sie hielt sich gut, nur wenig Wasser kam über, wenn sich der Klü verbaum in eine Welle bohrte. Der Wind war noch immer kalt, aber er wechselte mehr und mehr, blieb kräf tig und wehte häufiger aus West zu Nordwest. Im Windschutz des Schanzkleides kauerte die Wache und hielt sich dick vermummt. Auch im ersten Drittel des Juni zeigte der Atlantik, wie we nig er mit sich scherzen ließ. „Ich meine, wir sollten uns die ,Dis coverer' etwas genauer ansehen. Sie ist am meisten überladen!" rief Car berry. „Und diesem Affenarsch von Kapitän traut ohnehin keiner was zu." „Sag's Hasard. Er hat möglicher weise etwas anderes vor", antwortete der Rudergänger. Weder Mond noch Sterne waren sichtbar. Dunkle Wolken bedeckten den Himmel. Nur schwach war der kochende Schaum zu sehen, der von den Wellen davongewirbelt wurde. An Backbord tauchte ein Licht auf, versank wieder hinter den Wellen, blinkte wieder und blieb dann für eine längere Weile in Sicht. „Das müßte Granvilles Schiff sein", sagte der Takelmeister. Es war kein Vorteil, jetzt das Spek tiv zu benutzen. Sie mußten warten. Aber die Beobachtung hatte ihnen ge zeigt, daß sie den richtigen Kurs ge halten hatten. Die Zeit verrann lang sam. Es war nicht damit zu rechnen, daß Mac Pellew und der Kutscher bei diesem höllischen Seegang mehr zu wege brachten als bestenfalls einen heißen Tee.
Im Osten hob sich die schwarz graue Wolkendecke zwei Handbrei ten über die Kimm. Waagrechte Son
18 nenstrahlen zuckten über das Wasser und zeigten den Seewölfen die aufge wühlte graugrüne Fläche des Atlan tik. Der Sturm hatte aufgehört. Wind aus West ließ für die Galeonen in die ser Stunde nur knapp einen Südwest kurs zu. Der Wind war kräftig und stetig geblieben. Hasard, der gerade das Deck betrat, tief Luft holte und sich umsah, überlegte, ob das Großse gel wieder gesetzt werden sollte. Zu erst dehnte er seine Muskeln, dann zog er das Spektiv und musterte schweigend, gründlich und lange die Galeone an Backbord. Von der Schebecke aus waren Heck und Steuerbord zu sehen. In den Wanten und auf den Rahen arbeite ten Mannschaften und ersetzten Blöcke und ein Rahsegel. Ohne Eile stieg der Seewolf auf das Grätingsdeck, wünschte etwas brum mig einen guten Morgen und zeigte zu der Galeone. „Sie haben überlebt", stellte er fest und zeigte keinerlei Überraschung. „Es war zu vermuten. Sind also doch gute Seeleute. Ob das Schiff auch gut geführt wird, davon werden wir uns in den nächsten Stunden überzeu gen." „An Steuerbord der ,Discoverer' anlegen?" fragte der Rudergänger. Sie wußten, daß er hin und wieder grimmige Scherze zu machen pflegte. Hasard nickte bedächtig und hob wieder das Fernrohr. An Deck der Galeone wimmelten viel zu viele Menschen herum. Er wandte sich zu Piet um und sagte: „Zuerst gehen wir in die Nähe. Aber wir legen noch nicht an. Erst wenn ich mir ein Urteil bilden kann, sprechen wir mit Granville und sei nen Leuten. Da geht etwas vor, was mich mißtrauisch stimmt." „Schließlich hast du die Verantwor tung über alles und jeden", stimmte
der Profos zu. „Hast du verstanden, Piet?" Straaten stemmte sich gegen die Pinne und erwiderte: „Aye, Sir. War deutlich genug." Während sich die Schebecke von achtern auf die Galeone zupirschte, entdeckten die Seewölfe nach und nach die drei anderen Schiffe. Sie hatten den nächtlichen Sturm offen bar ohne größere Schäden überstan den. Die Auswanderer-Galeonen la gen nicht tiefer im Wasser als ge stern. Selbst achtern die Karavelle lief gute Fahrt, und alle Crews ver suchten, den Südwestkurs zu verlas sen und noch höher an den Wind zu gehen. Mac Pellew und der Kutscher brachten frisch aufgebrühten, heißen Tee an Deck. Die Crew stürzte sich darauf, zumal das Gebräu schwach nach Rum roch. „Die Affenärsche der ,Discove rer' ", dröhnte die Stimme des Profos vom Backbordschanzkleid. „Sie scheuchen die Auswanderer wie die Schafe hin und her. Außerdem holen sie ständig Wasser an Bord. Die Püt zer gehen auf und nieder." „Sauberkeit an Bord", brummte Hasard und ließ sich einen zweiten Becher geben. „Sehr lobenswert." Die Schebecke, die viel höher an den Wind gehen konnte; hielt nicht nur die Geschwindigkeit der Galeone, sondern war trotz des nicht gesetzten Segels schneller. Es dauerte nicht lange, bis beide Schiffe ein paar Ka bellängen voneinander entfernt auf gleicher Höhe segelten. Mindestens drei Spektive richteten sich von Bord der Schebecke auf das Geschehen dort drüben. Ben Brighton stieg zu Hasard hinauf, nachdem er sich vom Zustand der Segel und des Tauwerks überzeugt hatte. Die Wolkendecke hatte sich wieder geschlossen. Die Sonnenstrahlen, die
19 Meer, Wellen und Schiffen wieder frische Farben verliehen hatten, ver steckten sich hinter den treibenden, tiefhängenden Wolken. Die Sicht blieb ausgezeichnet. Hasard sagte plötzlich: „Der Tag ist kurz. Bringen wir es hinter uns. Wurf leinen klar, Freunde! Hinüber zum liebenswerten Kapitän Granville von der ,Discoverer', Piet!" „Aye, aye, Sir," Die Schebecke glitt und stampfte näher an die Galeone heran. Der Ka pitän und einer seiner Offiziere wur den endlich darauf aufmerksam und grüßten viel zu freundlich herüber. Ruhig erwiderte der Seewolf den Gruß, aber als er hinüberbrüllte und in bestimmten Worten darum bat, zur Inspektion an Bord kommen zu dür fen, blieben die Mienen nicht mehr lange freundlich.
Erst als die Luken aufgerissen wur den, die Crew herumpolterte und die Kommandos und das Geschrei so laut wurden, daß die ersten Auswanderer aufwachten, begriffen sie, daß die meisten tatsächlich in den letzten Stunden vor Erschöpfung eingeschla fen waren. Helles Licht fiel in den Raum. Fast augenblicklich drangen Kälte und frische Luft ein. Ein paar rauhe Stimmen schrien: „Los! Raus mit euch allen! An Deck! Frische Luft schnappen!" „Schnell! Nehmt auch die Kinder mit." Zur Aufmunterung schüttete ein Seemann eine Pütz voller Seewasser in die Öffnung des Luks. Die Auswanderer gelangten müh sam auf die Beine. Das schauerliche Schwanken der Galeone hatte aufge hört, aber das Deck bewegte sich noch immer. Einer nach dem anderen
kletterte, halb schwindlig, mit dröh nendem Schädel, schwankend und kraftlos die Stufen des Niederganges hinauf. Die Kinder schrien, die Erwachse-, nen fluchten. Aus dem offenen Schacht drang ein unbeschreiblicher Gestank. Der erste Mann schwankte zum Schanzkleid, fiel schwer dage gen und keuchte. Ein Seemann schrie: „He! Schnel ler! Der Koch teilt gleich den Tee aus!" Die Auswanderer torkelten aus der Luke des Batteriedecks. Ihre Gesich ter zeigten das ganze Elend. Stoppel bärtig, grau und voller Schmutz, schweißnaß und mit allen Zeichen des Schreckens und des Elends. Sie hatten Hunger und quälenden Durst. Einige Männer, die besser bei Kräf ten waren, halfen den Frauen und den Kindern. Die frische Kühle des Morgens traf sie wie ein Faustschlag. Die kleinen Kinder jammerten und wimmerten. Die Mütter tauchten die Rockenden in eine Salzwasserpütz und wischten die Kinder sauber - so sauber, wie es ging, unter diesen Um ständen. „Dort hinüber! Steht nicht im Weg, Leute." Die meisten Seeleute waren von polternder Gutmütigkeit. Sie halfen den Auswanderern und schoben sie vom Luk weg. Einer der letzten Männer rief nach oben: „Da liegen noch ein paar! Sie rühren sich nicht!" Die Auswanderer aus dem Batterie deck waren nur eine erste Gruppe. Aus der Segellast oder anderen Kam mern schleppten sich weitere Men schen an Deck. David Fletcher sah, daß Susan und die Kinder leidlich in Ordnung waren, und kletterte zusam men mit einer Handvoll Crewmitglie der nach unten. Zwei von ihnen legten gerade dem
20 Londoner, dem nachts das Knie zer schmettert worden war, dicke Tauschlingen um die Brust und zogen sie unter den Schultern durch. „Hoch mit ihm!" An Deck wurde der Bewußtlose auf eine schmale Bahre gelegt. Eine Frau kühlte sein Gesicht mit kaltem See wasser. In den Geruch des Wassers, den Gestank aus der Tiefe der Ga leone drang plötzlich etwas ein, das die Lebensgeister aller Auswanderer neu erweckte. Es roch nach kräftigem Tee. Einige junge Frauen brachen zu sammen und blieben bewegungslos auf den Planken liegen. Die Seeleute und die kräftigsten Auswanderer schleppten nacheinander drei Körper aus dem Luk. Sie waren steif, naß und rochen unbeschreiblich - eine magere, grauhaarige Frau und zwei Männer, die keine Familie hatten. Oder ihre Angehörigen befanden sich auf den anderen Galeonen. Vom Achterdeck schrie der Kapi tän: „Untersteht euch! Ein einfaches Seemannsgrab tut es auch. Wir haben keinen Fetzen Leinwand zuviel." Die Toten wurden schnell auf das Vordeck geschleppt und neben dem Schanzkleid roh auf die Planken ge worfen. Die Mannschaften schütteten Wasser in die Kammern unter Deck. Sie versuchten mit Besen und Lap pen, die Dreckschichten wegzukrat zen und aufzuwischen. Tief unten im Schiff arbeitete keu chend eine schwere Bilgepumpe und spie einen dicken Strahl aus brau nem, gelbem und schäumendem Was ser außenbords. Auch David Fletcher beteiligte sich an den Arbeiten unter Deck. Er ver suchte, die wenigen trockenen Ausrü stungsstücke irgendwie höher zu be festigen. Die schmierige Brühe, zu de ren Beseitigung sehr viel Wasser ge braucht wurde, floß durch lange
Spalten an den Seiten der Beplan kung ab. Die Unordnung war bemerkens wert, und die Seeleute brachten wei tere Tauenden, um wenigstens die schweren und größeren Packen bes ser befestigen zu können. Die Brook taue der Geschütze wurden neu ver zurrt. David wandte sich an einen See mann. „Der Sturm war furchtbar heute nacht." „Noch lange nicht schlimm", ant wortete der und wich einem weiteren Wasserguß aus. „Wartet nur, bis wir mitten im Atlantik sind." Er lachte grob, aber David fand kei nen Grund, an der Richtigkeit der Antwort zu zweifeln. Eine Stunde später war dieser Teil einigermaßen gereinigt und aufgeklart. David, der sich seine Hände an Deck dreimal wusch und an den Jackenschößen zu trocknen versuchte, empfing nur noch lauwarmen Tee. Aber er trank ihn, als wäre es teuerster Brandy oder Portwein. Der Koch und die Helfer teilten Schiffszwieback und dünnen, mit Wasser vermischten, sauren Wein nur für die Männer - aus. Die unaus geschlafenen Auswanderer froren und schlotterten. Wo ihre Kleidung im Wind zu trocknen anfing, bildeten sich feine Salzkristalle. Little John zog seinen Vater zum Schanzkleid und deutete nach rechts. Die Seeleute sagten „Steuerbord" dazu, fiel David ein. „Da ist wieder das schöne Schiff,Dad!" Der Schmied erkannte die Sche becke Und wünschte sich im nächsten Moment nichts sehnlicher, als mit sei ner Familie dort drüben an Bord zu sein. Die Männer, die am Tauwerk und an den Segeln hantierten, sahen ausgeschlafen, wohlgenährt und gut mutig aus. Ihre Kleidung war den
21 Gegebenheiten auf See hervorragend angepaßt. Und das Schiff sah elegant und stattlich aus - welch ein Unter schied ! „Sie segeln näher. Es ist der See wolf mit seinen Leuten", sagte der Va ter und blickte zum Bug der Galeone. Vom Heck her schleppte man einen weiteren reglosen Körper. An Deck drängelten sich jetzt mehr als hun dert Menschen in jedem Alter. „Er wird nachsehen, ob wir noch alle leben, ob es uns gut geht", meinte Susan Fletcher. Roebuck kaute mit vollen Backen an dem krümeligen Schiffszwieback. Er schien mit der Höllennacht noch am besten fertig geworden zu sein. Aber er war ebenso müde und mitge nommen wie jeder andere. Oder fast jeder andere. Zwei junge Frauen schienen ihr Entsetzen bereits vergessen und über wunden zu haben, denn sie schäker ten so lange mit den Seeleuten, bis der Decksälteste seine Leute anbrüllte. Die Kübel, voll von Erbrochenem und den Ausscheidungen der Kinder, wur den an Tauen hochgezogen und so lange außenbords nachgeschleppt, bis sie sauber waren. " Das Knarren, Heulen, Summen und Ächzen war hier oben auf der Kuhl für die Auswanderer zu einem bedeu tungslosen Geräusch geworden. Es klang nicht im mindesten so schauer lich wie in der Dunkelheit unter Deck. „In vier Stunden gibt's wieder fette Suppe", verkündete der Koch und schleppte den leeren Kessel wat schelnd zum nächsten Niedergang. „Drei oder vier hungrige Mägen sind's weniger." Susan schob ihren Arm unter den ihres Mannes. „Es wird alles gut enden, Dave", sagte sie leise. „Ich würde gern etwas tun, irgendwo helfen. Aber ich weiß nicht, wo."
„Kommt schon noch", antwortete Dave und streichelte Sarahs Kopf. Ihre Zöpfe waren inzwischen wieder glatt und neu geflochten. Die kleinen Bändchen hingen feucht herunter. „Wie lange dauert die Fahrt, Dad?" wollte Little John wissen. Neugierig, wie alle anderen, die am Steuerbord schanzkleid der „Discoverer" standen und ständig von den Seeleuten her umgestoßen wurden, sah er zu, wie sich die Schebecke näherte. „Man sagte uns, daß wir mit drei Wochen rechnen müßten bis Virgi nia", erklärte David wahrheitsge mäß. „Aber das Meer hat keine Stra ßen. Es kann auch länger dauern." Inmitten der vielen Menschen an Deck bildeten sich vorn und achtern dichtere Gruppen. Der Profos unter suchte die Taschen der Toten, nahm zusammengefaltetes Papier heraus, das Geld oder andere Besitztümer, kritzelte etwas in ein zerfleddertes Buch und verstaute die Habseligkei ten in ein Säckchen, das er in seinen Gürtel steckte. Nacheinander legten die Seeleute die Körper auf ein schmales Brett. Sie hievten es auf das Schanzkleid, scho ben es weit nach vorn und blieben ei nige Augenblicke lang starr stehen, als beteten sie für die unbekannten Toten. Dann kanteten sie das Brett an. Die starre Leiche rutschte, kippte vornüber und fiel mit einem schwa chen Aufklatschen ins Meer. Leise fragte Sue Fletcher ihren Mann: „Warum sind sie gestorben? Ich habe nichts bemerkt, heute nacht. Weißt du es, Dave?" Sarah antwortete halblaut: „Ich hab's gesehen. Der alte Mann ist im mer dagesessen und hat leise geredet. Oder gebetet. Ganz plötzlich hat er so ausgesehen, als kriege er keine Luft mehr. Er ist einfach umgekippt." „Natürlich hat ihn niemand umge bracht", sagte David. „Sie waren
22 wohl so krank, daß sie es selbst nicht als einige Seeleute eine große Rolle aus Brettern und Seilen heran wußten." Vor dem Besanmast gab es Aufre schleppten. „Platz da! Der Admiral will an gung. Von hier aus war nicht genau zu erkennen, was dort vor sich ging. Bord!" rief ein Seemann. Das Bündel entpuppte sich als eine Flüsternd gaben es die Auswanderer weiter, und schließlich verstanden Jakobsleiter mit hölzernen Quer auch Sarah, Dave und Susan. sprossen. Sie rollte nach außenbords „Sie peitschen einen Seemann aus." auf und klapperte gegen die Planken. Kaum hatten alle Auswanderer Von Deck der Galeone wurden ein verstanden, daß ein Mann bestraft paar mit Sand gefüllte Segeltuchbeu werden sollte, glitt die Schebecke nä tel hinuntergelassen, während die her heran. Ein großer, schwarzhaari Schebecke mit dickeren Tauen heran ger Mann - Philip Hasard Killigrew, gezogen und dann belegt wurde. der Seewolf - hob die Hände an den Die Säcke verhinderten, daß die Mund und rief laut und sehr gut ver Planken der Schiffe aneinander rie ständlich den Kapitän an. ben oder gar zerbrochen wurden, wie „Er will an Bord!" rief jemand. David seinem Sohn erklärte. Drei „Das haben wir auch verstanden", Männer, etwa gleichgroß, mit breiten sagte ein anderer grimmig. „Deswe Schultern und Pistolen in den Gür gen kriegen wir auch kein besseres teln, packten die Sprossen und klet Essen." terten an der niedrigsten Stelle der Kuhl an Deck. „Und auch nicht mehr Platz." Sie nickten den Auswanderern Kapitän Robert Granvilles Stimme war nicht weniger laut und deutlich freundlich zu. Der Hüne mit den eis als die des anderen Kapitäns. Jetzt blauen Augen, das war der Seewolf. drängten sich noch mehr Auswande Ohne daß ein Wort gefallen wäre, rer an der Steuerbordseite der Ga bildete sich in der Masse der Passa leone zusammen, schoben sich gegen giere und der Crew eine schmale seitig vom Schanzkleid weg und woll Gasse. Die drei Männer gingen ten zusehen, wie die hellen Segel und schweigend auf das erhöhte Achter das fast trockene Deck größer wur deck zu und blieben dort stehen, wo den, näher heranglitten, wie der der Seemann mit nacktem Rücken an scharfe Bug des langgestreckten den Besanmast gebunden war. Schiffes durch die Wellen schnitt. Hasard zog die Schultern hoch und Die Auswanderer versuchten, die enterte den Niedergang. Neben dem Kommandos richtig zu verstehen und Kapitän erkannte er den Ersten Offi die Ausführung zu begreifen. Dünne zier, der Ruhe und Zuverlässigkeit Leinen mit Lederbeuteln an den En ausstrahlte. den wirbelten von der Schebecke hin Die Begrüßung war kurz und ge über zum Bug und Heck der „Disco rade noch höflich. Die Männer wur verer". den einander vorgestellt. „Willkommen an Bord, Kapitän Aufgeregt redeten die Auswande Killigrew. Es ist mir eine Ehre!" rer miteinander. Es war nicht zu ver schrie Granville. stehen, was sich die Kapitäne zu sa David Fletcher, der Schmied, gen hatten. glaubte ihm kein Wort, aber er schwieg und zog die Seinen zur Seite,
23 Hasard starrte auffordernd in die Streit und auch kein Unglück wäh rotgeränderten dunklen Augen Gran rend der Sturmnacht, Sir." ville's. Sie stachen aus einem runden, „Und die beiden anderen?" fragte fettigen Gesicht. Der Seewolf ver Hasard. suchte, seine Abneigung nicht zu zei „Zwei jüngere Männer", erwiderte gen. Harris. „Sidemont! Kapitän Killi „Es scheint nötig zu sein, für Ord grew fragt, woran die beiden jünge nung zu sorgen?" fragte er und fuhr ren Männer gestorben sind. Du hast mit der Musterung seiner Umgebung den Fall untersucht." fort. Der Gestank, der aus den Luken Sidemont übergab Robert Gran drang, war ihm sofort aufgefallen, ville den Leinensack, den er im Gür auch die Tatsache, daß zwei Crewmit tel getragen hatte. Er kratzte sich im glieder an der Leckpumpe schufte Genick und zuckte mit den Schultern. ten. „Habe sie untersucht, Sir. Kein „Ich bin für äußerste Disziplin", er Blut, keine Wunden. Der eine - übri klärte Granville. „Der Mann hat sich gens jung waren sie alle nicht mehr, an die Frauen der Auswanderer her eher schon recht betagt -, der eine angeschlichen. Wollte mit einer Pint hatte blasigen Schaum vor den Lip Rum handeln, die er dem Koch ge pen. Gestunken haben sie alle wie die Marder. Und der letzte hatte ein blau stohlen hatte." Ein schneller Blick in Harris' be es Gesicht und blaue Haut. In dem herrschtes Gesicht zeigte dem See Sturm haben die anderen natürlich wolf und Ben Brighton, daß es sich nichts gesehen. War eine hübsche mehr oder weniger so verhielt, wie Wuhling unter Deck, die ganze Nacht hindurch." der Kapitän erklärt hatte. In einem Tonfall, der andere Män „Was mich zur nächsten Frage ner gewarnt hätte, sagte er weiter: bringt", sagte Hasard. „Mein Erster „Ich verzichte darauf, eine Zählung wird mit Mister Harris die Vorräte durchführen zu lassen. In jedem Fall für die Kombüse inspizieren. Jeder ist die ,Discoverer' überfüllt. Daß weiß, daß eine lange Schiffsreise, be nach dem Ablegen noch zusätzliche sonders für die vielen Landratten, Passagiere übernommen worden nur mit bester Ernährung, übergro sind, Kapitän Granville, ist notiert ßer Sauberkeit und einem trockenen worden. Wir haben vier Tote gezählt. Quartier ohne Opfer abgeht. Ist dafür Todesursache?" Sorge getragen, trotz der Überfül Harris, der dem Profos winkte, lung der Kammern und Lasten?" setzte zu einer Erklärung an. Dan „Überzeugt euch selbst", sagte O'Flynn ging unruhig hin und her Granville und dachte sich sein Teil. und hörte zu. Er beobachtete die Aus Ben Brighton folgte dem Ersten un wanderer und studierte mit dersel ter Deck. Auch er sah vorläufig kei ben Genauigkeit, die er seinen Kar nen wirklichen Grund zum Eingrei ten und Standortbestimmungen wid fen. Die Mannschaft war mürrisch mete, die Gesichter der Mannschafts und schien unzufrieden zu sein. Ob es mitglieder. daran lag, daß sie sich um viel zu „Eine alte Frau und ein alter Mann viele Auswanderer, deren Kinder sind offensichtlich an Herzschwäche und Gepäck zu kümmern hatten, war gestorben oder an Entkräftung. Der nicht zu erfahren. Aber die Blicke Profos hat sie untersucht und die und die eindeutigen Gesten, mit de Auswanderer befragt. Es gab keinen nen sie die Mädchen, die jungen
24 Frauen und die hübschen Ehefrauen cher Anzeichen gesehen. Und ich bin bedachten, hätte auch ein Halbblin noch nicht lange auf dem Schiff." „Ich tue, was ich kann", erwiderte der genau erkannt. Jeder weitere Schritt zeigte Ha Harris halblaut. Beide Männer wuß sards Erstem Offizier eine Wuhling ten, ohne sich darüber unterhalten zu von zuviel Ausrüstung und Auswan haben, was sie von der Lage und derergepäck sowie das Fehlen von voneinander zu halten hatten. „Zu einigermaßen menschenwürdigen meinem Leidwesen, Sir, bin ich nicht Unterlagen oder Liegemöglichkeiten. Erster Offizier auf Ihrer Schebecke." Diese Wuhling, wie er sie in vielen „Stimmt allerdings." Ben Brighton Jahren auf See niemals in einem grinste kühl. „Bei uns hätten Sie's solchen Ausmaß gesehen hatte, und weitaus einfacher." der deutlich sichtbare Schmutz wa „Das weiß ich. Hier entlang, Sir." ren zu einer gefährlichen Mischung Harris winkte kurz und führte Ben geworden. Überall stank es. Er hörte weiter, durch das Halbdunkel und die das Pfeifen von Ratten, sah aber Wuhling anderer Kammern und La keine. deräume. Ausnahmslos jeder Raum Er blieb stehen und nahm eine Frau War von Ausrüstungsteilen und den mit grauem Gesicht und müden Au Habseligkeiten der Auswanderer gen kurz am Arm. überfüllt. Alles hätte mit mehr Fleiß „Geht's gut, Mütterchen?" fragte er und einer strafferen Schiffsführung halblaut und lächelte die Frau an. längst sehr viel besser aufgeklart sein Sie zog erschrocken den Arm zu können. rück und zuckte zusammen. Der Gestank, der aus der Bilge „Gut?" fragte sie vorwurfsvoll zu aufstieg, nahm Ben den Atem. In der rück. „Hier? Auf den Planken? Mit Kombüse, wo der feiste Koch mit einem nassen Tau als Kissen? Ihr seinen Helfern arbeitete, roch es nur scheint keine Ahnung zu haben, Mi um wenige Grade besser. Harris ver ster Admiral." langte den Schlüssel für die Vorrats „Deshalb frage ich ja", sagte Ben last, enterte vor Ben einen Nieder ruhig. „Es ist also nicht so, wie euch gang abwärts und schloß, nachdem er versprochen wurde?" die Lampe an einen Haken gehängt „Der Fraß von diesem fetten Koch hatte, das Schott auf. war noch schlimmer als der Sturm Ein Deck unterhalb der Kombüse letzte Nacht." lag der leidlich aufgeräumte Lade Die Frau funkelte ihn an, als habe raum. Ben ließ seine Blicke über die er die Verantwortung für Wetter und Tonnen und Fässer, die Truhen und Wellen und auch alle anderen mißli Kisten, die aufgehängten Pökel chen Vorfälle. Sie zuckte mit den fleischstücke und den Stockfisch glei Schultern, vollführte eine wegwer ten. Das Licht geisterte über die fende Bewegung und schlurfte ge Waren. bückt davon. „Das ist alles?" fragte Ben Brigh Ben sagte ruhig, aber deutlich war ton und schätzte die Mengen ab. Er nend, zu Harris: „Reichlich zwanzig verzog sein Gesicht. Tage haben wir noch vor uns, wahr „Mehr haben wir nicht. Es kann scheinlich wird ein Monat daraus. sein, daß Kapitän Granville noch ein Kann die ,Discoverer' tatsächlich Fäßchen Rum in seiner Kammer hat. diese Zeit überstehen? Für das Ge Aber ich weiß von nichts anderem." genteil habe ich eine Menge deutli „Ich schätze, ihr kriegt ernste
25 Schwierigkeiten", erklärte Ben. „Und wenn der Koch sich herabließe, den Schimmel von den letzten Broten ab zukratzen, werden weniger Leute da von krank." Er hielt die Lampe über die weni gen Körbe, in denen die Brotlaibe durcheinanderlagen. Deutlich sahen sie den gelben und grünlichen Schim mel. Daß es überhaupt noch etliche Vorräte an Brot gab, fand Ben bemer kenswert. Allerdings änderte diese Menge auch nichts an seiner Überzeu gung, daß einfach zu wenig für die vielen Menschen hier gelagert war. „Ich kümmere mich darum", versi cherte Harris, drehte sich um und brüllte: „Bascott! Hierher, schnell!" „Sofort, Sir." Es dauerte viel zu lange, bis der dicke Glatzkopf heranwatschelte. Er schaute mit dem Grinsen eines un schuldigen Kindes von Harris zu Ben Brighton und dann auf die Brot körbe. Harris hob die Lampe. Als der Lichtstrahl zwischen zwei Säcken auf die staubigen Planken fiel, leuchteten stechend die Augen einer Ratte auf. Das Tier pfiff und verschwand blitz schnell, als Ben einen Schritt hart nach vorn setzte und mit dem Stiefel aufstampfte. Nicht sehr laut, aber schneidend scharf fuhr Harris den Koch an: „Das Brot verschimmelt. Ratten zerfressen die Säcke. Der Stockfisch da hinten ist naß geworden. Sieht so eine or dentliche Vorratskammer aus, Bas cott? Das Zeug verdirbt, und du mußt es wegwerfen. Das heißt, daß wir alle weniger zum Löffeln haben. Ich bin in drei Stunden wieder hier, und wenn hier nicht vorbildliche Ord nung geschaffen und aufgeklart wurde, stehst du nach Ronay am Mast." „Ronay, Sir? Ronay? Ich verstehe nicht..."
„Granville läßt ihn auspeitschen. Er hat Frauen unter die Röcke gegrif fen." Der Koch war erschrocken. Sein feistes Grinsen verschwand. Er schüt telte den Kopf und versprach stot ternd: „Selbstverständlich, Sir. Nach dem Essen, wenn ich mit der Suppe fertig bin, räume ich hier auf. Aber wo soll ich das Brot stauen? Überall ist es feucht, im ganzen Schiff." „Dann teile an die Familien einen bestimmten Vorrat aus. Sie werden, wenn es sich um ihr Essen handelt, mit dem Brot besser umgehen als du", sagte Harris und gab dem Koch den Schlüssel. „Zufrieden, Sir?" „Solange ich nicht an Bord dinieren muß", versuchte Ben einen grimmi gen Scherz, „kann ich schwerlich et was dagegen haben. Allerdings kann das Schiff der Seewölfe keiner Ga leone mit Vorräten aushelfen. Klar?" „Verstanden. An Deck zurück?" „Ich bitte darum." Immerhin entdeckte Ben einige Spuren der Bemühungen, den Schmutz unter Deck zu beseitigen. Unablässig fauchte und gurgelte die Pumpe in der Bilge. Inzwischen waren einige Auswanderer in ihre harten Quartiere hinuntergeklettert und versuchten, sich etwas bequemer einzurichten, indem sie die Gepäck berge umstapelten und die finsteren Ecken mit dem losgerissenen Gerüm pel aufklarten. Einige Besatzungs mitglieder halfen ihnen. Ben atmete tief durch, als er wieder auf der Kuhl stand und die Schreie hörte. Ronay empfing seine Peit schenhiebe. Ben winkte Harris zur Seite und versuchte, ihm seine Meinung zu er klären, ohne die Ehre des Offiziers zu verletzen. „Ich spreche nicht über meine Ver mutungen, Mister Harris", sagte er so leise, daß nur Harris es verstand.
26 „Aber ich bin ebenso sicher wie Kapi mit Granville. Ben stellte sich ans tän Killigrew, daß alle drei Schiffe Schanzkleid, winkte hinunter zur binnen nicht allzu langer Zeit in gro Schebecke und sah, daß die Seewölfe ßen Schwierigkeiten sein werden. sich an Deck drängten und mit den Nicht, daß sie schlecht gesegelt wer Seeleuten der „Discoverer" laute Be den. Aber es wird Schwierigkeiten merkungen austauschten. Aber sie zwischen der Besatzung und den Aus scherzten auch mit den Mädchen und wanderern geben, wahrscheinlich einigen Frauen der Aussiedler. weitere Kranke und Tote. Ist einer Dan O'Flynn stellte sich zu ihm und unter Deck krank, schlägt die Anstek stieß ihn an. kung zu, und dann packt die Krank „Keine gute Stimmung an Bord. heit auch die Mannschaft. Darauf Der Mann, den sie ausgepeitscht ha sollte Granville seine Aufmerksam ben, ist so gut wie unschuldig. Gran keit richten. Nach meiner Meinung ville zeigt seine Stärke gegenüber den sind in zwei Wochen die Vorräte zu Schwächsten. Das gibt Stunk, und Ende. Die Sauberkeit könnte größer zwar bald, sage ich dir." sein. Wenn Kapitän Killigrew wirk „Glaube ich auch", gab Ben zurück. lich einen Grund findet, einzugreifen, „Hasard, Sir? Fertig?" dann ist er, mit Verlaub, gnadenlos. „Ihr habt euch umgesehen?" fragte Ich denke, Sie haben verstanden, was er und zog sie zum Niedergang. ich meine, Sir. In aller Freundschaft Wieder wichen die Menschen auf und Zurückhaltung." der Kuhl bereitwillig zur Seite. Die Harris nickte mehrmals und blickte drei Seewölfe hangelten sich über die Ben unerschrocken in die Augen. Jakobsleiter hinunter auf das Deck „Ich habe verstanden. Aber ich der Schebecke. Einige Minuten spä führe nicht dieses Schiff, Mister ter waren die Leinen wieder an Bord Brighton." und wurden aufgeschossen. Die Sche „Nein. Ich weiß, wer die Verantwor becke steuerte nach Steuerbord. tung trägt." Ohne Eile setzten sie das Großsegel Ben sah schweigend zu, wie der und holten die Schoten durch. Ausgepeitschte weggebracht wurde, „Also, Freunde", sagte der Seewolf und studierte aufmerksam die Ge und zeigte ein ratloses Gesicht, „es sichter der Kerle. Mürrisch gehorch wird in ein paar Tagen Ärger geben. ten die Männer den Kommandos. Sie Dieser Granville versteckt sein mie wirkten ungepflegt und schienen we ses Verhalten nur schlecht. Der ein der den Kapitän noch diejenigen zu zige Mann, der einen guten Eindruck mögen, von denen sie die Befehle erweckt, unter den Offizieren, meine empfingen. ich, scheint Harris zu sein." Dachten sie an Meuterei, fragte Der Erste sah zu, wie der Profos das sich Ben Brighton. Nein, sicher noch Segelmanöver ausführen ließ. Der nicht. Die Stimmung würde erst dann Schiffsrumpf schüttelte sich, als der umschlagen, wenn die Seeleute über Wind in die riesige Dreiecksleinwand fordert wurden - durch zu schlechtes fuhr. Backbord voraus segelte die Essen und im Sturm, oder wenn sich „Explorer", das Schiff hatte ein we ungewöhnliche Vorfälle wiederhol nig zu den anderen aufschließen kön ten und häuften. nen. Er nickte dem Ersten verständnis „Ja, Harris ist ein guter Mann. Er voll zu und stieg aufs Achterdeck. Ha wünscht sich, bei uns sein zu kön sard beendete gerade sein Gespräch nen", erklärte Ben. „Harris tut, was
27 er kann. Aber, wie er richtig sagt, Granville ist der Kapitän. Unter Deck ist es gerade noch auszuhalten, aber viel zu eng. Es sind eben zu viele Menschen an Bord. Die Vorräte wer den ganz sicher nicht reichen. Der Koch ist ein fetter Kretin, der wahr scheinlich das gute Essen an seine Freunde verteilt oder verkauft. Wenn uns der Kutscher oder Mac jemals ei nen solchen stinkenden Fraß vorset zen würden, wie ich ihn in der Kom büse dort drüben gesehen und leider auch gerochen habe, dann ..." Er ließ offen, welches schauerliche Schicksal er den Köchen zugedacht hatte. „Mit Granville wird es bald Ärger geben", wiederholte der Seewolf. „Ich spüre es. Diese beiden Kerle in seiner Nähe, Bootsmann Watts und der Decksälteste Gordon Tibbs, sie pas sen zu ihm." „Davon gibt's noch einige", stimmte Dan zu. „Segel und Takelage sind in Ordnung. Wenn da etwas Ernstes passiert, liegt es nicht daran, daß Granville etwa nicht segeln könnte. Mir bereiten die Auswande rer die meisten Sorgen. Habt ihr ge merkt, wie sie uns angesehen haben?" „Natürlich", erwiderte Hasard be kümmert. „Arme Leute. Sie dachten, wir wären die Rettung aus Seenot." Dan winkte ab und sah zu, wie sich die Galeone entfernte. Wenn der Wind anhielt und etwas mehr aus dem östlichen Quadranten wehte, würden sie vielleicht wirklich nur zwanzig Tage brauchen. „Dazu wird es, wenn wir Pech ha ben, auch noch kommen." Auf der Kuhl der Schebecke saßen die drei adeligen Gäste der Seewölfe und aßen. Leise sprachen sie mitein ander. Während des nächtlichen Sturms hatten sie sich zum Erstau nen der Seewölfecrew tatsächlich wie echte Seefahrer und Abenteurer ver halten. Insgeheim wußte jeder, daß
sie ihren wirklichen Charakter wäh rend der Überfahrt noch zeigen wür den. Hasard entschied sich, mit ihnen zu sprechen. Er stand auf und sagte zu Ben und Dan: „Wir sind vorbereitet, wenn an Bord der ,Discoverer' wieder eine Panik ausbricht oder noch Schlimmeres passiert. Warten wir ab. Sonst irgendwelche Fragen, Ed?" „Nein, Sir", erwiderte der Profos. „Wir sind ja nicht die ,Discoverer' zum Glück." „Das will ich meinen", stimmte ihm Dan zu. Unter dem bedeckten Himmel, langsamer als die niedrigen Regen wolken, aber schneller als die ande ren Schiffe, suchte die Schebecke ih ren Kurs über den Atlantik. In eini ger Entfernung, wie ein hungriger Wolf, folgte ihnen die Karavelle. 4. Unvermittelt war Susan Fletcher hellwach. Sie wußte nicht, wie viele Stunden sie geschlafen hatte, aber es mußte noch mitten in der Nacht sein. Im gelben, schwachen Licht der Fun zeln erkannte sie, daß auch einige an dere Schläfer aufgewacht waren. „Was war das?" flüsterte sie. Ihr zweiter Blick galt den Kindern und David. Auf feuchten Decken, auf Se geltuch und den weicheren Bündeln lagen ihre Leute, zusammenge krümmt, fröstelnd, aber im tiefsten Schlaf. Überall auf den Stoffteilen bildete sich eine dünne Salzschicht. Es stank noch immer, sie schmeckte es, weil durch die offene Luke immer wieder ein Hauch frische Luft herein wehte. Sie war feucht und kalt, aber sie verminderte den grausigen Ge stank. Ein Dutzend Männer und mehr bildeten einen Chor, der laut und ab wechslungsreich schnarchte.
28 Susan fing einen langen, wachsa men Blick von Hether auf, einer älte ren Frau, die ihr gegenüber sich eben aufrichtete. „Hast du auch etwas gehört?" fragte sie. Susan nickte. „Ich weiß aber nicht, was es war." Sie zuckten alle zusammen, als ein kreidiges, überhelles Licht durch den breiten Spalt des Luks eindrang. Fast gleichzeitig dröhnte ein furchtbarer Donnerschlag, der das gesamte Schiff zu erschüttern schien. Der nächste Blitz, der sehr viel länger flackerte, mußte in den Mast eingeschlagen ha ben, dachten beide Frauen und auch die anderen, die aus der Tiefe des Schlafes hochgeschreckt wurden. „Ein verdammtes Gewitter!" fluchte jemand im Hintergrund. Ein Blitz folgte dem anderen. Die Donnerschläge wurden lauter und hielten länger an. In die schmettern den und dröhnenden Geräusche mischte sich binnen kurzer Zeit das anschwellende Heulen des Sturms, dann das Rauschen des Regens und das Plätschern von Wasser, das über die Planken lief und an den Kanten des Sülls, wo das Holz ausgebrochen war, in den halbdunklen Raum rann. Oben, an Deck, ertönten laute Kom mandos. Füße trappelten schnell über die Planken. Dann kreischten Blöcke und irgendwelches Tauwerk. Das Schiff legte schwer über. Die schlafenden Auswanderer und Ge päckstücke rutschten von Steuerbord nach Backbord und zurück. Jetzt wurden sie alle fast gleichzei tig wach. Schreie gellten auf, das Schnarchen riß ab, Männer fluchten, und die Kinder fingen erschreckt zu weinen und zu plärren an. Die Was sergüsse aus den Süllecken wurden breiter und stärker. Draußen heulte der Gewittersturm. Das Seegewitter schien die „Disco
verer" nicht mehr loslassen zu wol len. Die vielen überlauten Geräusche mischten sich und bildeten einen chaotischen Lärm, in dem das Schiff immer stärker gierte, sich hob und senkte und auseinanderzubrechen schien. Das glaubten jedenfalls die Aus wanderer, die noch mehr Angst aus standen als beim letzten Sturm. Planken und Spanten, Stringer und jedes andere Teil schienen sich von einander lösen zu wollen. Grauenhaf tes Knarren und Knirschen durchlief vom Bug bis zum Heck unaufhörlich den bauchigen Rumpf der Galeone. Die Decks schienen sich hochzubie gen. Wieder rissen sich leichte und schwere Gepäckstücke los und rutschten über die Planken. Niemand schlief mehr, alle klam merten sich aneinander fest, krallten sich an die Haltetaue und meinten, ihre letzte Stunde habe geschlagen. Die Galeone tanzte auf den Wellen, wurde von den Wogen geschüttelt und wie wild herumgeschleudert. Aber zwischen den flackernden Blitzen und dem Donner, der sie alle taub werden ließ, richtete sich die Ga leone immer wieder auf und ruckte, stieß und bockte, wenn der Sturm in die Segel fuhr. Unentwegt lief das Wasser in den Laderaum, gurgelte hierhin und dorthin und durchnäßte alles und jeden. Menschen und Gepäckstücke bilde ten eine einzige, schreiende Masse, die auf den glatten, nassen Planken rutschte, ohne sich halten zu können. Sie folgten den Bewegungen des Schiffes, verkeilten sich ineinander und lösten sich wieder auf. Jeder ver suchte, irgendeinen Halt zu erreichen und sich aus dem Durcheinander zu befreien. Der eine schaffte es, der an dere nicht. Jeder geriet, so schien es, einmal unter den dicken Was serstrahl, der sich wie ein Pendel be
29 wegte, kurz abriß und wieder nach unten plätscherte. Es war ein Wunder, aber die beiden Lampen brannten noch immer. Das Wasser lief durch unbekannte Ritzen oder Löcher langsamer ab, als es von oben kam. Ein Kind verschwand kreischend unter einem Berg losgerissener Ge genstände. Als die Galeone sich wie der aufrichtete und in die andere Richtung krängte, gelang es der Mut ter, den schmächtigen, triefenden Körper aus dem Wirrwarr herauszu zerren. Der Kleine rührte sich nicht mehr. Und der Sturm hörte nicht auf, ob wohl die Blitze mit schwächerem Zucken und in größeren Abständen aufleuchteten. Auch der Donner ver lor sein erschreckendes, lähmendes Dröhnen und wanderte von der Ga leone weg in eine andere Richtung. Das Heulen veränderte nicht nur seine Lautstärke, sondern schwoll an, wurde greller und schneidender. An Deck ertönte dreimal hintereinander ein gräßliches Knallen, unmittelbar darauf folgten die Laute brechender Hölzer. Die Auswanderer begriffen nicht, was geschehen war, aber jedes ungewohnte Geräusch bedeutete für sie einen zusätzlichen Schrecken. „Helft uns!" wimmerten sie. Niemand hörte sie - und wenn doch, dann kümmerte es ihn nicht. Sie waren allein und sich selbst über lassen. Alles, was sie bisher erlebt hatten, war weniger schlimm als diese Sturmnacht. Sie hatten sich schon gerettet gefühlt, weil den Tag über das Meer ruhig gewesen war und sich die Galeone so wenig bewegt hatte, daß fast niemand seekrank ge worden war. In der Dunkelheit griff die See krankheit wieder wahllos nach ihren gepeinigten Opfern. Die heillosen Schrecken verhinder
ten, daß jemand einen klaren Gedan ken faßte. Sie waren allem ausgeliefert. Es gab kaum einen unter den vielen Aus wanderern, der in das Geschehen ein greifen konnte, und sei es nur, um sich einen winzigen Vorteil zu ver schaffen. Sie hatten alle damit zu tun, sich festzuhalten. Die Seekranken spien sich die Seele aus dem Leib, würgten und spuckten weißen Schleim und schaumigen, blutigen Speichel. Diejenigen, die von der Krankheit etwas spürten, fühlten gleichzeitig ihre Körperkräfte schwinden. Vor ih ren Augen drehte sich alles. Immer wieder verloren sie das Bewußtsein, aber ein anderer Schmerz brachte sie wieder zu sich, wenn ihnen ein Stiefel in die Rippen krachte oder ein Ge päckstück ihre Haut aufriß oder die Knochen ramponierte. David Fletcher wußte, daß er riesi ges Glück mitten im allgemeinen Un glück hatte. Die ersten Sprünge des Schiffes hatten ihn und seine Familie zwi schen ein Geschütz und eine Reihe von fest verzurrten Pulverfässern ge schleudert. Die Fässer rührten sich nicht, die Taue hielten, als wären sie aus Schmiedeeisen. In diesem toten Winkel klammerten sich die Eltern an die Brooktaue und an das längs ge spannte Haltetau. Die Kinder klam merten sich an ihre Eltern. David hatte einen zweiten Leibgurt gefun den, ihn um seine Schulter befestigt und Roebuck damit festgebunden. Der Kleine drückte ihm zwar den Atem ab, aber er rutschte nicht aus dem breiten Lederband. Sarah und Little John hielten sich an den Händen, hatten die Füße um hölzerne Streben geschlungen und faßten mit der freien Hand nach der Mutter, die sich hinter dem wuchti gen Rad der Lafette eingekeilt hatte.
30 Vor dieser winzigen Nische spielte sich das ganze, grauenvolle Gesche hen ab. Frauen und Männer taumel ten vorbei, rutschten wieder zurück, andere traten bei den nächsten Schlingerbewegungen an ihre Stelle. In das Regenwasser mischten sich dicke Blutspuren, die schnell ver dünnt wurden und schließlich ver schwanden. „Wir müssen alle sterben!" schrie eine männliche Stimme. Eine Frau antwortete mit einem langgezogenen Schrei. Er riß ab oder wurde von dem krachenden Schmet tern eines furchtbaren Donnerschla ges übertönt. Gleichzeitig mit dem blendenden Blitzfeuer schlug der Donner zu. Er ließ die Ohren klingeln und scheppern. Nichts hörte man mehr, an Deck oder unter den Plan ken. Und plötzlich, noch erschrecken der, trat eine ebenso betäubende Stille ein. Auf seltsame Weise, als wäre ihnen ihr Gehör neu geschenkt worden, un terschieden die Auswanderer wieder nacheinander die einzelnen Ge räusche des Schiffes, an die sie sich gewöhnt hatten. Der Wasserstrahl wurde dünner, riß schließlich ab und verwandelte sich in ein stetiges Trop fen. Das Schiff glitt offensichtlich durch eine Zone der völligen Stille. Auch die zerstörerischen Bewegun gen, dieses weite Krängen und Stampfen, hörten auf. Aber jetzt setzten das Wimmern und Heulen, Würgen, Fluchen und Stöhnen in voller Lautstärke wieder ein. Ein Geschrei drang aus jedem La deraum, in dem sich die zusam mengepferchten Auswanderer auf hielten. Wieder gab es harte Kom mandos, dann ertönten die vertrau ten Laute der Lenzpumpe. „Mein Gott! Was müssen wir denn
noch alles aushalten?" keuchte Susan Fletcher auf. „Ist es jetzt vorbei?" „Gehen wir unter?" fragte Sarah angstvoll. Ihre Augen waren weit aufgerissen. Über der Stirn blutete eine fin gerlange Schramme. Ihre Mutter lok kerte den Griff der verkrampften Finger. Roebuck hielt sich an der Schulter des Vaters fest und weinte in dessen Bart. „Nein. Wir gehen nicht unter", sagte David und öffnete die Schnalle des Gurtes. „Das kann ich nicht mehr länger ansehen. Es muß vieles ganz anders gemacht werden." Das Schaukeln der Öllampen, das schon allein vom Hinsehen seekrank werden ließ, hatte auch aufgehört. Die Geräusche der Wellen schienen zu beweisen, daß die Galeone mit ho her Geschwindigkeit segelte. David schenkte seiner Frau ein aufmuntern des Lächeln, dann stand er auf und kroch aus der Nische. Er mußte den Kopf einziehen, um nicht an die Decksbalken zu stoßen. „Hört zu!" rief er durch das Chaos und den Wirrwarr von Dutzenden Stimmen. „Wir müssen uns selbst hel fen, sonst gelangt keiner von uns le bend nach Virginia." „Womit helfen? Wie helfen? Was können wir denn unternehmen?" schrien sie aus den Ecken. Hinter David polterten Schritte den Niedergang hinunter. „Mister Harris!" staunte David. „Was ist draußen los?" Harris winkte ab und erwiderte: „Nichts, was uns aufhalten kann. Ein paar Rahen zersplittert, etliche En den gerissen, ein Segel zerfetzt. Und ihr hier?" „Seht selbst." Harris, ebenso durchnäßt und zer schrammt wie sie selbst, schaute sich einige Augenblicke prüfend um. Langsam entwirrten sich die Haufen
31 aus Gepäck und Körpern. Weinend wiegte eine Frau das tote Kind in den Armen, dem der Brustkorb zerdrückt oder zertreten worden war. „Dein Name?" „David Fletcher, Sir", erwiderte der Schmied. Harris nickte. Er legte Dave die Hand auf die Schulter und erklärte: „Bascott versucht gerade, einen kräf tigen Tee zu kochen, mit Zucker und Rum. Wir haben ihn alle nötig. Das Gewitter hat uns hart erwischt. Die anderen Schiffe nicht, soweit wir es wissen. Es bleibt ruhig." „Das hören wir gern", antwortete David und spürte seine Prellungen und Abschürfungen. „Wir brauchen Körbe, Säcke und Seeleute, die uns helfen. Und dünnere Taue. Gibt es nichts an Bord, das wir auf die Plan ken legen können?" „Laß mich nachdenken. Ein paar Spaken und Spieren. Tauwerk haben wir genügend. Wir könnten ein paar Reservesegel aus der Last herbrin gen, falten und auslegen. Und davor, dahinter und darüber - ja, das müßte gehen. Ich lasse leere Körbe und Säcke holen. Und ihr räumt eine Hälfte des Raumes leer. Alles hinüber nach Steuerbord. Dann sehen wir wei ter. Ist jemand verletzt?" David zuckte mit den Schultern. „Wahrscheinlich nichts Ernstes. Das findet sich bald. Gut, ich kümmere mich darum. Viel Rum in den Tee, bitte. Wann wird es hell?" „In zwei Stunden schon", sagte Har ris, wandte sich um und enterte die Stufen auf. Oben rief er einige Män ner zusammen und gab ihnen klare, laute Befehle. David klatschte in die Hände und schrie: „Also, ihr habt es alle gehört. Räumt das Zeug hinüber nach Steuer bord, dorthin", er zeigte nach rechts. „Sammelt ein, was euch gehört. Wir kriegen Körbe, Säcke und Segel."
Die Männer gehorchten ihm tat sächlich. Nach und nach beruhigten sich die Kinder, das Geschrei hörte auf, es wurde ein wenig Ordnung in dem Wirrwarr geschaffen. Ein Fuß breit nach dem anderen leerte sich der Boden an der Backbordseite. Die aufgegangenen Bündel wurden neu geschnürt, aber fast alles war durch und durch naß. Das Luk wurde völlig hochgewuchtet und blieb offen. Zwei Crewmitglieder warfen leere Säcke nach unten und ließen sich in einandergestapelte Körbe abnehmen, in denen trockene Taurollen lagen. Schließlich, als man mit Lumpen und einer zerrissenen Decke die Hälfte der Planken leidlich trockengewischt hatte, wurden die zusammengeroll ten Segeltuchbündel nach unten ge reicht. Sie wurden gefaltet zwischen den Geschützen ausgebreitet und mit Tauenden an den Boden gezurrt. Zwi schen den einzelnen Abschnitten spannten sich bald die Tauenden. Ei nige Seeleute stiegen ins Deck und halfen den Auswanderern, die seltsa men Knoten zu schlagen. „Die nassen Fetzen schichtet ihr am besten in den Korb. An Deck sind sie in ein paar Stunden knochentrok ken", lautete der nächste gute Rat schlag. Auch die größeren Kinder beteilig ten sich am Einsammeln der unzähli gen Gegenstände. Little John fand eine Münze, fragte dreimal nach dem, der sie verloren hätte, und als er keine Antwort erhielt, steckte er sie grinsend in die eigene Tasche. Noch immer verhielt sich das Meer so ruhig, als wolle es den Auswande rerschiffen beweisen, daß es ihr be ster Freund sei. David und ein anderer Mann, der die Stunden ebenso gut überstanden hatte, schleppten die schweren Körbe hinaus. Die Frau, der man den klei
32 nen Leichnam aus den Armen wand, stellte mit einem trockenen Husten ihre Tätigkeit ein. In den Wanten und folgte ihnen an Deck. David Fletcher hatte vergeblich in gefährlicher Haltung nahe des Ma versucht, herauszufinden, wie viele stes waren Seeleute dabei, die zerbro Auswanderer tatsächlich an Bord der chenen Rundhölzer mitsamt dem zer „Discoverer" waren. In London, bei rissenen Tauwerk zu bergen. der Einschiffung, hatte er hundert „Seemann ist wirklich der einzige eins Leute gezählt, war aber nicht si Beruf, den ich nicht ausüben cher, ob diese Zahl wirklich stimmte. möchte", brummte David. Der Unterschied konnte aber nicht Nur noch etwas kannte er, das groß gewesen sein. schlimmer war: Auswanderer in die Dann, auf See, kamen noch weitere Kolonie zu sein, deren Name der Frauen, Kinder und Männer mit Ge jungfräulichen Königin geweiht war. päck an Bord, und von da an hatte Am Horizont - an der Kimm, wie wahrscheinlich nur noch der Kapitän man sagte - bewegten sich zwei einen klaren Überblick. Und wahr schwache Lichter. scheinlich der Koch, der die Schiffs „Segelt dort der Seewolf?" fragte zwiebacke und die Kanten des ver Little John und rubbelte sein feuch schimmelten Brotes abzählte. tes Haar. Auch der Junge fing zu frie Die Auswanderer ließen sich zei ren an. gen, wie man mit dünnem Garn die „Ja. Wahrscheinlich ist es Killi Mäntel und Decken an das Schanz grew mit seinen Leuten", entgegnete kleid knotete, um sie trocknen zu las der Vater. „Schnell, unter Deck, sonst sen. Die Seeleute, die froh waren, daß bist du morgen krank. Ich bin gleich die Auswanderer selbst arbeiteten, bei euch." erlaubten ihnen auch, einige Stücke Der Vierzehnjährige warf einen seitlich in die Wanten zu knoten. Das letzten Blick zu den Lichtern, schnüf tote Kind wurde in einen Fetzen Tuch felte in Richtung des Hecks und gewickelt. Ein hagerer Mann hielt die schob sich dann zwischen den Grup Bibel in der Hand und sagte einige pen der Auswanderer zum Luk. Auch Verse auf, ohne in das Buch zu blik aus den anderen Laderäumen waren ken. sie nach oben geklettert und erholten Der kleine Leichnam verschwand sich von ihrem Schrecken. Mittler in der Dunkelheit und in den Wellen. weile hatte sich herumgesprochen, „Dad, schau dorthin, der Mond, und daß das Gewitter nur knapp eine viele Sterne!" rief Little John und Stunde lang getobt hatte. In ein paar zupfte ihn am Ärmel. Stunden würde man wissen, ob es David erwachte aus seinen nach auch die anderen Schiffe erfaßt denklichen Überlegungen und fing zu hatte. frösteln an. Auch seine Kleidung David wußte jetzt, warum sein trocknete im kalten Wind. Sohn ein solch verzweifeltes Gesicht „Du hast recht", sagte er nach einer gezogen hatte. Weile. „Der Himmel scheint völlig Von achtern, trotz des Windes, klar zu sein." drang der Geruch, den David aus teu Trotz der vielen Lampen, die an ren Schenken und Gaststätten Deck brannten, sahen sie deutlich die kannte. Es roch nach frischem Brot Sterne und einen bleichen Mond, der und gutgewürztem, fettem Braten. ein Drittel seines nächtlichen Weges Auch der Geruch von dunklem Wein zurückgelegt hatte. Die Lenzpumpe wehte über Deck. David hörte zu sei
Vom Buddelschiffbauer und ehemaligen Mariner H D Str. , 4150 Krefeld (siehe auch Forum in SW-Nr. 584) erhielten wir wieder einen Brief, den wir hier gern veröffentlichen. Er schreibt: An die Redaktion Seewölfe! Moin - Moin! Sehr geehrte Seewölfe-Redaktion, sehr ge ehrte Seewölfe-Autoren! Mein Enkel, F H , hat sich sehr über das geschenkte Buch „SEEFAHRT A-Z" gefreut und sagt hiermit dem Autor und ehemaligen Seeoffi zier Davis J. Harbord ein recht herzliches DANKESCHÖN! Nun ein anderes Problem! - „Opa" hat wie der ein „Ding" gedreht und sein 150. Bud delschiff gebaut (siehe beigefügte Reporta ge des ,,Krefelder Stadtanzeigers"). Zur aufwendigen Methode möchte ich mei nen, daß es ein paar ehemalige ,,Sailors" gibt, die es noch besser können. (Anmerkung der Redaktion: Herr D bezieht sich hier auf einen Absatz in der ge nannten Reportage, in dem es heißt: „60 Ar beitsstunden und eine besonders aufwen dige Methode waren die Voraussetzungen, dieses Schiff- die „Santa Maria" - sozusa gen vom Stapel zu lassen, was mir als Gast und interessierter Zuschauer mit dem Ver korken der 28er-Öffnung ehrenvoll gestat tet war. Zur symbolischen Taufe gab es dann ein Schlückchen . . . " ) . Irrtümlich taucht wieder mal in der Repor tage die Bezeichnung ,,Kolumbus-Karavel le" auf, was ich dem fähigen Reporter nicht übelnehme. Er war auch bei der ehemaligen K. M. (Kriegsmarine), kann aber nicht alles
wissen!
Beim ,,Krefelder Stadtanzeiger" gibt es kei
ne Seefahrt-Experten - aber bei den Seewöl
fen!!!
die ,,Santa Maria", fuhr fünf Segel, könnte eine ,,Nao" (lateinisch = navis) gewesen sein?!? Aber, das ist schon lange her, und „Opa" ist erst „65"! - kann nicht alles besser wissen als die Seewölfe!!! Bitte hiermit freundlichst um evtl. Richtig stellung! Mit A. K. voraus - wünscht H D . P.S.: Selbstverständlich ist die Redaktion ,,Seewölfe" nicht verpflichtet, für eine ande re Zeitung eine Richtigstellung loszulassen, es würde nur meinem persönlichen Wunsch entsprechen. Herzlichen Dank für den Brief sowie das Dankeschön vom Neffen, lieber Herr D . D. J. Harbord hatte schon Sorge, das Buch sei verlorengegangen. Aber nun zur „Santa Maria". Da hat Herr D , der Ver fasser der Reportage „Schiff ahoi - .Santa Maria' - Hans D , ein Bastei-Reeder vom Niederrhein", ein feines Böckchen ge schossen, denn die „Santa Maria" war mit Sicherheit keine Karavelle, Dazu schreibt der sehr kompetente Björn Landström in seinem Werk „Das Schiff (Bertelsmann Vertag, Gütersloh 1973) auf S. 102: „... Was wir sicher wissen, ist, daß sie keine Karavel le war ... Kolumbus selbst spricht meist von ,la nao', also vom ,Schiff im Gegensatz zu ,los carabelas', den Karavellen ,Pinta' und ,Nina'. Sachverständige von heute meinen übereinstimmend, sie sei eine Karacke ge wesen. Zumindest war sie eine kleine Ka racke ..." Soweit das Zitat aus dem Land ström-Werk. Gegen den Karavellentyp spricht ganz klar die Besegelung der „Santa Maria", denn im Gegensatz zu den lateiner getakelten Karavellen war sie mit Ausnah me des Besansegels mit Rahsegeln ausge stattet. Alles klar?
Meine Meinung: Zur Kolumbusflotte gehör ten die mit je 3 Segeln fahrenden Karavel len ,,Nina" und ,,Pinta". Das Flaggschiff,
Mit herzlichen Grüßen Ihre SEEWÖLFE-Redaktion und die SEEWÖLFE-Autoren
Auf den beiden vorigen Seiten stellen wir unseren Lesern einen der berühmten Tee-Klipper vor - die „Cutty Sark", die sich der Kapitän John Willis 1868/69 auf einer Werft in Dumbarton (Schottland) bauen ließ, um dem Teufel ein Ohr abzusegeln. Das heißt, er war entschlossen, mit ihm die Tee-Rennen zu gewin nen. Wer - von China kommend - in London seine Teeladung zuerst auf den Markt brachte, konnte ein Vermögen verdienen. „Cutty Sark" bedeutet soviel wie „kurzes Hemdchen" - ein solches pflegten, nach den damalilgen viktorianischen Moralbegriffen, nur die „Damen" der Halbwelt zu tragen. Den Kapitän Willis focht das nicht an. Ihn inspirierte die Nannie, eine Hexenfigur aus der schottischen Ballade „Tam O'Shanter": Da nach kehrte Tam O'Shanter nach nächtlicher Zecherei heim und passierte, et was angeduselt, einen Kirchhof, auf dem der Teufel einer Hexenschar zum Tanz aufspielte. Eine der Hexen war jung und verführerisch und trug das „kurze Hemdchen", eben jene Nannie aus der Ballade. Dem guten Tam wurde es ganz warm ums Herz, aber als Nannie ihn so knapp geschürzt verfolgte, riß er aus Nannie hinter ihm her. Doch Tam konnte sich gerade noch retten. Diese nannie mit ihrem „Cutty Sark" ließ Kapitän Willis als Galionsfigur für seinen Klipper schnitzen - eine knapp bekleidete hübsche Frauenfigur, deren linker Arm voraus in die Ferne weist, Sinnbild für den Wettlauf um Tod, Leben und Seelenheil, eine Mischung aus Frivolität und tiefer Symbolik. 1872 segelte die „Cutty Sark" gegen die „Thermopylae", einen anderen schnel len Tee-Klipper, von China nach England, um die erste Teeladung der neuen Ernte nach London zu bringen. Beide Klipper liefen am selben Tag von Shang hai aus. Die „Cutty Sark" hatte 1303000 Pfund Tee geladen, die „Thermopy lae" 1196460 Pfund Tee. Die „Cutty Sark" übernahm zweimal die Führung, und es sah ganz nach Sieg aus. Dann verlor sie in einem Sturm ihr Ruder. Sie stand das Rennen mit einem Notruder durch, erreichte London jedoch eine Woche nach der „Thermopylae", die diese Reise in 115 Tagen bewältigt hatte. Immerhin: Die „Cutty Sark" hatte in Ehren verloren. Was in ihr steckte, zeigte sie dann auf ihren Reisen als Woll-Klipper auf der Route Sydney-London. In den Jahren 1887/88 schaffte sie diese Strecke in nur 71 Tagen. In derselben Saison brauchte die „Thermopylae" für diese Fahrt 79 Tage: Die Ehre war wiederhergestellt. Am Flaggenkopf des Großmastes führte sie seitdem ein goldbesticktes Nachthemdchen. Die „Cutty Sark" war ein Vollschiff (full-rigger), das heißt, sie hatte drei voll getakelte Masten mit Rahsegeln. Bei einer Länge von 65 m und einer Breite von ca. 11 m konnte sie eine Segelfläche von 2976 Quadratmetern Tuch tragen. Auf unserer Zeichnung fährt sie am vorderen Mast, dem Fockmast zusätzlich (ganz rechts) auch noch drei sogenannte Leesegel, mit denen bei günstigem Wind die Rahsegel verbreitert werden konnten. Man setzte sie an Leesegelspie ren, mit denen die Rahen verbreitert wurden. Der Rumpf der „Cutty Sark" war schwarz, das Schanzkleid weiß, die Reling aus Messing (da mußte viel geputzt werden!). Wie die berühmte „Victory" Nelsons landete die „Cutty Sark" nicht auf dem Schiffsfriedhof, sondern überlebte. Nach wechselvollem Lebenslauf wurde sie nach dem zweiten Weltkrieg restauriert und 1954 in einem eigenen Dock an der Themse als britisches Nationalheiligtum für Besucher ausgestellt.
37 nem Erstaunen auch durchdringen des Gelächter: mehrere Männerstim men und mindestens drei Frauen, die sich köstlich zu amüsieren schienen. Verwirrt schüttelte er den Kopf und machte sich eigene Gedanken über den Kapitän und die Offiziere, die ihre Kammern im Heckaufbau der Galeone hatten. Dort herrschte offensichtlich ein munteres Treiben in angenehmer Gesellschaft. Je weniger er damit zu tun hatte, entschied er für sich und seine Fami lie, desto besser für sie. Wieder hat ten sie schlimme Stunden überlebt. Die Angst, daß sie krank werden könnten, schnürte ihm für eine Weile die Kehle zu, aber als er unter Deck weiterarbeitete und bemerkte, daß Susan dem Feldscher half, beruhigte er sich wieder. Er fing an zu zählen und schaute in alle Gesichter. Von allen Auswande ren, die sich in den ersten Tagen in diesem Teil des Geschützdecks zu sammengedrängt hatten, waren noch drei Dutzend übrig. Er zählte ein zweites Mal: nicht mehr als sechs unddreißig. Auch die beiden jungen Frauen, die noch vor zwei Stunden vor Angst ge zittert und geschluchzt hatten, fehl ten.
Als der Koch endlich den heißen Tee verteilte, hatten David Fletcher und einige besonnene Männer es ge schafft. Mehr oder weniger trocken, in einer weitaus größeren Ordnung, lagen die Kinder und die älteren Leute auf der neu gefalteten Unter lage. Viele Körbe waren von den See leuten so festgezurrt worden, daß sie nicht umkippen konnten. David reichte seiner Frau einen vol len Becher und probierte den ersten Schluck.
„Zufrieden, Sue?" fragte er und schaute sich um. Roebuck lag schon wieder in tiefem Schlaf, mit einer leidlich trockenen Decke bis zum Kinn. Aus den trocknenden Klei dungsstücken stieg leichter Dampf auf und zog durch das Luk ab. „Oha! Der Tee - wahrscheinlich müssen wir dafür extra bezahlen." Entweder war der Koch abgelöst worden, oder Harris hatte die Zuta ten eigenhändig in den Kessel ge schüttet. Der Tee war mit Honig ge süßt und roch nicht nur nach Rum. „Jeden Tag kriegen wir bestimmt nicht solchen Tee", bemerkte Susan und mußte lachen, als sie sah, wie Sa rah und Little John an dem heißen Tee nippten, die Gesichter verzogen und dann, als der Inhalt kälter gewor den war, die Becher fast gierig leer ten. „Schon allein deswegen nicht", stimmte David zu, „weil die Vorräte nicht reichen, wenn es jeden Tag diese Köstlichkeit gibt." „Du wirst sehen, alles wird gut aus gehen", meinte Susan. „Aber es dauert endlos lang, Dave." „Wir haben es vorher gewußt, Sue", murmelte er. „Aber die ,Discoverer' ist ein tüchtiges Schiff. Im letzten Sturm ist nur ein kleines Segel zerris sen." Er nahm ihr den leeren Becher aus den Fingern, stand auf und versuchte, den Hilfskoch zu finden. Aber es gab keinen Tee mehr. In ein paar Stun den, hieß es, würden Mannschaft und Auswanderer ein Essen erhalten. Die meisten Passagiere, die sich noch an Deck befanden, spürten nach den aus gestandenen Schrecken ihre Müdig keit. Einer nach dem anderen schüttelte sich vor Kälte, gähnte und ver schwand unter Deck. Auch die Frei wache, die beim Aufklaren und Repa rieren geholfen hatte, verzog sich wie
38 der in ihre Kammern. Eine Stunde später schienen sie alle zu schlafen, man hörte das Schnarchen und die schweren Atemzüge. Aber David Fletcher, der lange nicht einschlafen konnte - obwohl der Schlaf das einzig Vernünftige war, in dem er nichts von seiner Lage sah und spürte -, hörte auch das Äch zen und Stöhnen der ersten Kranken, die sich auf ihren Lagern herumwälz ten. Er konnte nur hoffen, daß die Krankheit nicht auch nach seiner Fa milie griff.
Gegen Mittag, als die Sonne die meiste Kraft entfaltete und die letz ten Feuchtigkeitsspuren aus den Planken und der Leinwand trocknete, lehnte sich Hasard zurück und hoffte, daß ihn keiner seiner drei hochwohl geborenen Passagiere auf dem Grä tingsdeck aufsuchte - oder besser heimsuchte. Noch saßen Sir William Godfrey und seine beiden verdammten Freunde auf der Kuhl, an Steuerbord im Windschatten des Schanzkleides, und redeten miteinander. „Das muß ein teuflisches Seegewit ter gewesen sein, heute nacht", sagte Pete Ballie, der am Ruder stand. „Gut, daß wir nichts abgekriegt ha ben.'' Sie hatten erst bei Tageslicht erfah ren, daß als einziges Schiff die „Dis coverer" mitten durch den Gewitter sturm gesegelt war. Oder daß sich der Sturm ausgerechnet diese Galeone auf seiner Bahn ausgesucht hatte. Im Gegensatz zum vergangenen Tag bil deten die Schiffe eine weit auseinan dergezogene Linie. An der achteren Kimm waren gerade noch die Segel der Karavelle zu sehen. „Das hat nicht viel zu sagen, Pete",
sagte der Seewolf bedächtig. „Das kann uns in ein paar Stunden ebenso passieren. Da gibt es keine Regel. Du hast es selbst oft genug erlebt." „Richtig, Sir." Alles in allem schien es ein ruhiger Tag zu werden. Eine Hälfte war schon fast vergangen. An Bord der Sche becke gab es keinerlei größere Pro bleme. Höchstens für Dan O'Flynn, der über seinen Karten hockte und versuchte, so genau wie möglich den gegenwärtigen Standort zu ermitteln. Die Schebecke lag fast genau auf Westkurs. Batuti enterte auf das Grätingsdeck und setzte sich neben den Seewolf. „Böse Nachrichten von den Geister schiffen, Sir?" erkundigte er sich mit breitem Grinsen. „Ausnahmsweise nicht, Batuti", er widerte Hasard. „Nur unsere Verfol ger bereiten mir Sorge." „Sie tun doch gar nichts", sagte der Gambiamann überrascht. „Gerade deswegen", entgegnete Ha sard. „Ich kann mir nicht vorstellen so wie ich die wüsten Kerle dort ein schätze -, daß sie die Absicht haben, friedlich hinter uns bis an den Anker platz vor Virginias Küste herzuse geln." „Meinst du, Sir, daß sie die Pilger und Auswanderer, diese armen Hunde von Passagieren, überfallen und ausplündern wollen? Die haben doch nicht ein einziges Goldstück in der Geldkatze." „Ich bin sicher, daß keiner von uns diese Möglichkeit ausschließen kann", erwiderte Hasard ernst. „Wir haben schon alles miterlebt und er fahren. An uns werden sie sich wahr scheinlich nicht heranwagen. Hier wäre das meiste für sie zu holen. Nein, sie werden keinen Kampf gegen eine Galeone anfangen, allein deswegen, weil es dort nichts zu erbeuten gibt. Das glaube ich nicht."
39 Mit einem kalten Lächeln setzte er jedoch hinzu: „Aber es ist ebenso wahrscheinlich, daß ich irre." Ihre Körper paßten sich den Bewe gungen des schnellen Schiffes an. Im Nordosten änderte sich allmählich die Färbung der Wolken. Von dort wehte der Wind, der jetzt überra schend warm blieb. Der Himmel war voller weißer Wolken, über der Kimm wurden sie grau und schwarz. Es drohten Regen und Sturmböen, aber kein Gewitter. Dennoch konnten sich auch diese Verhältnisse sehr schnell ändern. Dan O'Flynn tauchte aus dem Ach terdeck auf und wurde von den drei Gentlemen mit lärmender und unech ter Freude begrüßt. Er grüßte kurz zurück und trat zu Batuti und Ha sard. „Neunzehn Tage bei gutem Wind?" begrüßte ihn Hasard. Alec Morris, der junge Schnösel mit seinem vorlauten Mundwerk, stand auf und stieß ein wieherndes Geläch ter aus. Er konnte nicht verstanden haben, was Hasard gesagt hatte. „Ich bin sicher", erwiderte Dan. „Vielleicht schaffen wir es, wenn wir womöglich scharfen Ostwind krie gen, sogar in fünfzehn Tagen und Nächten. Aber das halte ich für ein Gerücht." Würden sie allein segeln und kei nerlei Rücksicht auf die drei langsa men Galeonen zu nehmen brauchen, dann lägen die Buchten der Neuen Welt wahrscheinlich in noch kürzerer Zeit vor ihnen. Aber da sie gezwun gen waren, wie ein wachsamer Schä ferhund die Schafherde zu umkrei sen, konnten sie nicht schneller sein als das langsamste Schiff. Und das war im Augenblick die „Discoverer". Auch Frank Davenport stand auf und rückte seinen Degen zurecht. „Achtung", warnte der Seewolf mit unbewegtem Gesicht. „Laßt euch
nicht provozieren. Sie drängen uns ihre Unterhaltung auf." „Ich bin wortkarg", sagte Batuti mit seiner trockenen Baßstimme. „Und ich bleibe einsilbig", mur melte der Rudergänger. Bisher waren die drei ehrenwerten Gentlemen nur wegen der Menge ih res umfangreichen Gepäcks aufgefal len und dadurch, daß sie ständig alles besser wußten oder hochtrabend über den Ausbau der Kolonie fasel ten. Nicht einmal über das Essen hat ten sie sich beklagt, und stimmungs fördernde Getränke führten sie in ih ren Taschen und Kisten mit sich. Sie rückten, auf dem trockenen Deck leicht schwankend, aufs Achter deck und das Grätingsdeck zu. Die Crew an Deck warf ihnen verächtli che Blicke nach. Frank Davenport, ein Mann in mitt leren Jahren mit dem Gesichtsaus druck eines mürrischen Raubvogels und einem grauen Bart, hob die Hand und sagte: „Nun, Commander Killi grew, steht schon fest, wann wir die Kolonie erreichen? Wir sind ganz un glücklich, zum Nichtstun gezwungen zu sein." Hasard erwies ihnen genau den nö tigen Grad an Höflichkeit und Entge genkommen und erwiderte: „Es dauert noch eine Weile, bis wir die er sehnten Küsten erreichen, Gentle men. Und ich bin nicht Commander, sondern, wie jedermann weiß, Kapi tän. Aber wenn Sie an Langeweile lei den - der Kutscher und Mac Pellew, unsere Köche, suchen einen Helfer. Einer von Ihnen könnte den Ruder gänger ablösen." Die drei Männer lachten, am laute sten Alec Morris, der mit nachlässi ger Gebärde auf bestimmte Stellen des Schiffes deutete. „Wissen Sie", sagte Davenport, „wir würden nur Unruhe und Verär gerung hervorrufen. Wir sind keine
40 Seeleute. Ihre Leute können das bes ser. Wir fiebern dem Moment entge gen, an dem wir die Neue Welt betre ten und dort unsere Fähigkeiten zei gen. Sie liegen auf anderen Gebie ten." „Auf welchen, Sir?" fragte Dan O'Flynn scheinheilig. „Wir werden mithelfen, die Kolonie aufzubauen, eine prächtige Stadt gründen..." Auch Hasard blieb todernst, als er fragte: „Wenn ich recht verstehe, dann formen und brennen Sie Ziegel, brechen Steine, fällen Bäume und schlagen Balken zu? Und die anderen Gentlemen jagen im Wald und su chen Beeren sowie Pilze, damit die Siedler etwas Abwechslung im Spei sezettel haben?" „Nun, Sir", sagte William Godfrey und rieb seine rote Säufernase, „es ist mehr an die Verwaltung gedacht. An Schreibarbeit, an eine ordentliche Re gistratur, das Einführen von neuen Erfindungen, mit deren Hilfe es sich besser lebt. Ich denke da an eine treff liche Maschine, eine macchina, mit der man schnell gleichmäßige Gräben ziehen kann. Ich habe sie konstruiert, müssen Sie wissen." Das durfte doch nicht wahr sein! Sie schienen keine Ahnung zu haben, wie eine solche Kolonie aussah. „Ohne Eisen - die Kolonisten ha ben sicher noch kein Eisenbergwerk in Betrieb - läßt sich keine macchina bauen. Ob es eine Schmiede gibt, ist fraglich. Was gebraucht wird, sind Männer, die zupacken, die auch här teste körperliche Arbeit nicht scheuen, die schnell und sicher schie ßen und hauen, wenn die Siedler ver teidigt werden müssen. Leute, die sich vorstellen, in Virginia liege das Gold klumpenweise im Flußsand, sto ßen sehr schnell an ihre eigenen Grenzen und bringen sich selbst ins Verderben."
„Das große Abenteuer ist in der Neuen Welt überall zu finden", er klärte Alec Morris von oben herab. „Hinter dem nächsten Felsen. Ich werde es Ihnen beweisen, Kapitän, was ein entschlossener junger Mann vermag." „Ich sehe mir das alles in Ruhe an", versicherte der Seewolf mit einem Grinsen, das seine Freunde zur Ge nüge kannten. „Aber Hospitäler gibt es in Virginia nicht. Vielleicht einen Feldscher, der tagein, tagaus dem lie ben Vieh hilft." „Rechnen Sie damit, daß wir uns ernsthaft verletzen?" erkundigte sich Davenport mit schriller Stimme. „Tatsächlich?" Hasard sagte ernst: „Ich rechne wie jeder vernünftige Mensch damit, daß eine Kolonie ihre Schwierigkeiten hat. Eingeborene greifen an, was ich nicht weiß, aber was denkbar ist. Un bekannte Tiere gibt es. Das Land ist wild und unerschlossen. Keine Stra ßen, keine Plätze, keine Gasthäuser, Gentlemen. Wenn Sie ein Dach über dem Kopf brauchen, müssen Sie es sich selbst zimmern. Damit rechne ich." „In der Tat", sagte Sir William God frey bekümmert. „Man sollte einmal gründlich darüber nachdenken." „Besser mehrmals als einmal, Sir", riet Dan O'Flynn und nickte bekräfti gend. „Verhungerte Abenteurer tau gen nichts. Schreibkunst gilt nichts in der Wildnis. Und auch edlen Wein findet man dort nicht." „Wirklich nicht?" fragte der grau haarige Adelige und rieb wieder seine rote Nase. Seine Augen blinzel ten, als sei er überrascht. Die Seewölfe dachten gleicherma ßen, daß wahrscheinlich diese drei Männer entweder zu den ersten Opfern der Siedlung gehörten oder mit dem nächsten Schiff die Heim reise antreten würden. In England
41 war man allerdings froh, sie endlich in weiter Ferne zu wissen. „Nein, ganz bestimmt nicht", schloß Hasard. „Und wenn noch im mer Langeweile herrscht, denken Sie auch über meine hochherzigen Ange bote nach, Sir. Jede Hand ist auf ei nem Schiff willkommen. Auf Wunsch bringen wir Sie auch zu einer der Ga leonen. Dort brauchen mehr als drei hundert Aussiedler tätige Hilfe." Dieser Vorschlag scheuchte die drei Hochwohlgéborenen zurück auf die Kuhl, wo sie aufgeregt die neuen Er kenntnisse besprachen. Verblüfft fragten sich die Seewölfe, ob diese drei Gents wirklich so dämlich waren oder nur so taten. Oder ob sie in Vir ginia tatsächlich nichts anderes er warteten als eine Stadt, so groß und wohlversorgt wie London. Dan O'Flynn faßte ihre Gedanken zusammen und erklärte: „Da haben wir wirklich die seltensten Vögel von ganz England aufgesammelt, Sir. Die sind genau aus dem Holz, aus dem man Helden schnitzt." Hasard stimmte ein lautes, herzli ches Gelächter an. Alle Köpfe an Deck wandten sich um und richteten sich auf das Grätingsdeck. „Du sagst es, Dan. Auf solche Hel den wartet die Neue Welt!" 5. Rodney Campbell, einer der Heil kundigen aus der „Discoverer"-Crew, kannte sein schauerliches Gewerbe, hatte fast alles gesehen und glaubte, daß ihn nichts mehr erschüttern könne. Vor einigen Tagen hatte er sei nen einundfünfzigsten Geburtstag in der Zurückgezogenheit seiner Kam mer erlebt. Ein Becher Rum vom Hilfskoch hatte mitgeholfen, den Tag schnell zu vergessen. Als Campbell seine Medizinkiste
wieder zuklappte und die Schlösser sicherte, war seine Miene bedenklich geworden. „Beten wird nicht viel helfen", mur melte er. „Und was ändert's, wenn ich diesen Halunken Granville beschimp fe?" Seine Binden und sauberen Lap pen, die Tinkturen, Pasten und Sal ben würden nicht ausreichen. Für hundert Aussiedler reichten sie viel leicht, aber nicht für diese Menge Menschen, die sich an Bord befanden. Mit dem Geld, das er hatte ausgeben können, erhielt man einfach nicht mehr - und nichts Besseres. „Früher oder später holt ihn der Teufel", fuhr Campbell in seinem Selbstgespräch fort. „Hoffentlich frü her. Ich ahne, sehr viel später." Wieder fing eine der vielen Nächte auf See an. Im Schiff war es inzwi schen ruhig geworden. Alle größeren Wunden waren gereinigt, ausge brannt und mit Salbe bestrichen wor den. Die neuen Verbände lagen fest an, womöglich hatten die Verletzten auch weniger Schmerzen. Die schweren Brüche gingen bis zur Stunde nicht mit Wundbrand einher. Das lag daran, daß sich Rodney an den Ratschlag eines weißhaarigen Wissenschaftlers gehalten hatte. In London hatte er ihn einst vor einer Hafenschenke getroffen. Zuerst hatte er nicht verstanden, was ihm der Fremde erzählte, aber dann sah er ein, daß der Mann recht hatte. Auch wollte er es glauben, denn er hielt verständlicherweise nichts da von, sich anzustecken. Al cohol, das Süße, so nannten die Mauren und Moslems jene Flüssig keit, die im Bier, Wein und Brannt wein enthalten war und die Sinne, meist angenehm, benebelte. Daß sich ein Mensch am anderen ansteckte, mit fast jeder bekannten Krankheit, wußte Rodney als Feldscher genau.
42 Daß jene Säfte, die aus Wunden aus traten, sich mit dem Schweiß der Haut vermischten oder als eitrige Ausscheidungen aus den Wunden quollen, die Krankheit von Mann zu Frau, von Kind zu Mann weiterga ben, erschien höchst logisch. Wenn diese verderbliche Kette un terbrochen werden konnte, dann nur mit Hilfe von diesem Alkohol, der aus Branntwein oder anderen Bränden stammte. Rodney hatte in London zwei Kupferflaschen voll kaufen kön nen. Für mehr hatte das Geld nicht gereicht. Campbell rieb nicht nur seine Arme und Finger damit ein, sondern auch das Gesicht und mitunter auch die Haut der Verletzten. Um seinen Vor rat zu strecken, verwendete er den gallebitteren Rum, den ihm der Koch gab. Aber erst, nachdem Mister Har ris, der Erste Offizier, diesem Scheu sal Bascott das Auspeitschen ange droht hatte, erhielt der Feldscher sei nen Kranken-Rum. „Diese Nacht wird gefährlich, Rod ney", sagte er sich und versuchte, ein paar Stunden zu schlafen. Sorgfältig löschte er den Docht der Kerze mit Daumen und Zeigefinger. Bevor er einschlief, dachte er an den vergangenen Tag, und die Sorgen nahmen wieder zu. Um Mittag herum hatte die Sonne überraschend heiß herunterge brannt. Der Wind war warm gewe sen, und an Deck breitete sich Hitze aus. Die vielen Menschen mit ihren Ausdünstungen verhinderten, daß unter den Planken das Innere der Ga leone austrocknete. Dumpfe, stin kende Hitze und Feuchtigkeit herrschten zwischen den Decks und ließen sich nicht vertreiben. Anders wäre es in der Karibik gewesen. Aber sie segelten mitten auf dem kalten Atlantik. Wärme, Schweiß und Unsauber
keit, Feuchtigkeit und die qualvolle Enge waren die Auslöser für eine ganze Reihe schlimmer Krankheiten. Viele davon waren tödlich. Trotzdem konnte der Feldscher einige Stunden tief und ohne Alpträume schlafen, bis ihn jemand wachrüttelte.
Susan Fletcher hörte zu, was ihr Mann flüsterte. Je länger er sprach, desto besorgter wurde sie. Aber sie sagte kein Wort, sondern versuchte zu verstehen, was er meinte. „Wir sind gesund", erklärte er und schaute sich immer wieder um. Er wollte keine neugierigen Zuhörer. „Noch sind wir gesund. Aber ich habe mich umgehört, bevor wir einge schifft wurden. Auf einer solch lan gen Fahrt sterben viele Menschen. Viel zu viele." Dann fuhr er fort, der staunenden Sarah, dem trotzig dreinschauenden Little John und Sue zu erzählen, was mit den Soldaten und Seeleuten ge schehen war, die nach dem großen Sieg der Engländer über die spa nische Armada die Häfen Harwich, Margate und andere Häfen nahe der Themsemündung angelaufen hatten. Nicht nur die Schiffe waren in ei nem bemitleidenswerten Zustand ge wesen. Auch die Mannschaften hat ten unter tödlichen und schmerzvol len Krankheiten gelitten. „Warum? So nahe am Ufer? So dicht vor den Häfen?" fragte Sue ver ängstigt und streichelte das strubbe lige Haar des schlafenden Roebuck. „Weil es nicht genug Nahrungsmit tel gab. Das Wasser war faulig. Es war kein Koch mehr da, der es ab kochte. Die Lebensmittel waren ver fault. So wie unser verschimmeltes Brot." Er legte eine Pause ein und dachte nach, wie er den Begriff der Seuchen
43 richtig schildern könne. Dann flü sterte David weiter. „Es war zu eng. Jeder hockte viel zu nahe am anderen. Deswegen will ich, daß wir fünf zusammenbleiben und nur hier, an dieser Stelle, liegen und schlafen. Habt ihr das verstanden?" Sie hatten sich wieder einen Winkel zwischen Pulverfässern und der Ka none herausgesucht. „Habe verstanden, Daddy", flü sterte Sarah. „Das Ungeziefer, die Läuse zum Beispiel, und natürlich die Ratten, bringen Krankheiten. Wenn man an dere Leute anfaßt, wird man krank davon, natürlich nur, wenn die ande ren auch krank sind. Schmutz macht ebenfalls krank. Deswegen waschen wir uns im Seewasser, auch wenn die Haut rot wird. Wir müssen hier blei ben, mitten in der Enge." Immerhin gab es in diesem Teil des Batteriedecks größere Abstände zu den Nachbarn. „Und was ist damals passiert, mit den Seeleuten?" fragte Little John aufgeregt. „Sie starben zu Dutzenden", er klärte sein Vater. „Sie tranken saures Bier. Der Speck ging zu Ende, es gab nur verdorbenes Essen. Sie erkrank ten an einem Tag, und am übernäch sten waren sie tot. Keiner konnte hel fen. Sie haben in der Hitze gefroren, sie kriegten ein hitziges Fieber, und auf ihren Bäuchen bildeten sich rote Flecken. Ihr Kot war so dünn wie Suppe oder Tee, müßt ihr wissen. Ihr Stuhlgang war blutig, und man sagt, ihre Körper wären innerlich ganz vol ler Geschwüre gewesen. Das hat sie umgebracht. Sie waren so schwach geworden, daß sie nicht mehr krie chen konnten. Deswegen konnten sie auch die Schiffe nicht mehr in den Hafen steuern oder an Land setzen. Was lernen wir daraus, Sue?" „Lieber nichts essen und hungern",
gab sie völlig richtig zur Antwort, „und kein dreckiges Wasser trinken. Wird es uns auch so gehen, Dave?" Er schüttelte mit Bestimmtheit den Kopf. „Nein. Schließlich haben wir einen Koch und seine Helfer. Der Feldscher und Mister Harris sorgen schon da für, daß er das Wasser abkocht. Die Mannschaft schlägt ihn tot, wenn er sie krankwerden läßt." Sue und David blickten einander ernst an. Sie waren einfache Men schen und versuchten, sich mit ihrem wenigen Wissen so zu verhalten, daß sie lebend und, wenn irgend möglich, auch gesund die Neue Welt erreich ten. David war entschlossen, zuerst für seine Familie und für sich zu sorgen, trotz der vielen Ungeschicklichkeiten der anderen, die er sah und zu behe ben versuchte. Sie mußten durchhal ten. Noch einen Tag und noch einen insgesamt vielleicht zwanzig Tage, et was mehr oder weniger. Es galt, durchzuhalten, was immer passieren mochte. Daß die Galeone sank oder im näch sten, noch härteren Sturm kenterte, glaubte David inzwischen nicht mehr, obwohl er wieder genauso Angst haben und zittern würde wie stets, wenn es sich anhörte, als ob die Planken auseinanderbrächen. Durchhalten, David, sagte er sich immer wieder. Nichts anderes: nur durchhalten. An Land war alles, aber auch alles, viel, viel einfacher. Sue dachte über jedes Wort nach, das Dave gesprochen hatte. Sie er faßte die Bedeutung der Ratschläge und verglich sie mit den Einzelheiten des Lebens, das sie bisher geführt hatten. Nichts war wirklich neu oder anders. Sie konnten sich, auch mit Schwierigkeiten, so verhalten, wie es sinnvoll war. Sie wisperte in Daves Ohr: „Du
44 hast recht. Ich passe auch auf, daß wir uns nicht anstecken. Hast du noch etwas zu essen?" „Nichts", sagte er kurz. „Und ich bin froh, daß wir von dem verschim melten Brot nicht krank geworden sind." „Wir sollten schlafen", meinte Sue. „Und ihr beiden, Sarah und Little John, ihr bleibt bei uns. Morgen früh setzen wir uns irgendwo aufs Deck und sehen zu, ob wir ein paar trok kene Tücher kriegen. Ihr riecht gar nicht gut, meine kleinen Lieblinge." Little John verzog sein Gesicht und streckte sich aus. Das gefaltete Segel und die klammen Decken waren nicht hart. Er hatte schon auf härte rem Boden geschlafen. Aber diese Fahrt ließ keinen an Bqrd wirklich müde werden. Es blieb ein ständiger Wechsel zwischen ein wenig Essen, Schlafen und Luftschnappen. Doch das würde sich alles ändern, wenn sie in weniger als drei Wochen die Küste erreichten. Bevor die Kinder einschliefen, ver suchten sie sich vorzustellen, was sie erwartete. In jedem Fall würde es abenteuerlich sein.
Rodney Campbell schrak auf, als vor seinen Augen ein Licht auf tauchte und er den Druck von Hän den an den Schultern spürte. „Wer - warum - was ist los?" gur gelte er. Er taumelte aus der schwar zen Tiefe des Schlafes hoch wie ein Ertrinkender. „Aufwachen! Da wimmern ein paar Kranke!" „Wie?" Mühsam wurde er wach. Er sah vor sich im schwachen Licht die kanti gen, beherrschten Gesichtszüge des Ersten Offiziers Harris. Der gute, pflichtbewußte Harris! Auf ihn
konnte man sich verlassen. Er stemmte sich in die Höhe und rieb seine Augen. „Sir?" „Du mußt nachsehen, Rodney", sagte der Erste ruhig. „In der Segel kammer gibt es Aufregung. Ich hoffe, es ist nur eine Kolik. Wenn nicht, müssen wir die Kranken wegbringen. Ich weiß noch nicht, wohin. Sieh bitte genau nach, klar?" Rodney Campbell stand auf, krachte mit dem Kopf gegen die. Decke und entzündete seine Laterne. Beim dritten Versuch brannte der Docht gleichmäßig und mit heller Flamme. „Die Schiffskrankheit, Sir?" fragte er leise. „Ich fürchte, daß es anfängt, Rod. Sieh nach und vermeide Panik. Das hat uns gerade noch gefehlt." „Ein übles Quartier, Sir, diese Se gelkammer. Auch wenn sie so gut wie ohne Segel ist", sagte der Feldscher und packte zusammen, was er zu brauchen glaubte. „Sonst alles in Ordnung?" „Steter Wind und gute Fahrt", erwi derte der Erste. „Ich bin in meiner Kammer. Granville zecht mit irgend welchen Kumpanen. Sieht nicht gut aus. Tu, was du kannst, Rodney." „Verlaß dich drauf", sagte der Feld scher und zerrte die Stiefel über die Waden hoch. „Ich berichte dir nach her, wie mein Befund ist." „In Ordnung." Die schwere Tasche in der Linken, die Laterne hoch in der rechten Hand, arbeitete sich Campbell halbwegs durch den Bauch des Schiffes, bis er am Fuß des letzten Niederganges die Segelkammer erreichte, zwei Decks über dem Steinballast der Bilge. Er erschrak nicht mehr, als er das Bild vor sich sah, er kannte derlei. Rodney Campbell wußte, daß in diesem Abschnitt dreißig Frauen,
46 Kinder und Männer untergebracht waren. Trotzdem empfand er den An blick als einen ersten, warnenden Schock. Durchdringender Gestank schlug ihm entgegen. Fünf oder sechs Aus wanderer lagen keuchend und stöh nend in der Nähe des Niederganges auf ihren Decken. Einige von ihnen fieberten so stark, daß er nicht ein mal ihre Stirnen zu berühren brauchte, um das Fieber festzustel len. Andere lagen bewegungslos da . und litten Schmerzen. „Alles wird gut", sagte er halblaut und kniete sich zwischen ihnen auf die Planken. Er zog den Verschluß aus der Fla sche, rieb seine Hände und Unter arme mit dem stechend riechenden Branntwein ab und knöpfte die Klei dung des Mannes auf, der in seiner unmittelbaren Nähe lag. Über die Schulter sagte er zu einer Frau in mittleren Jahren, die so aus sah, als würde sie es verstehen: „Geh zum Koch, in die Kombüse. Sage ihm, daß ich dich schicke. Er soll einen Brei kochen. Einen guten Brei, ohne Salz, mit guten Zutaten. Für sieben Leute. Wenn er sich weigert, suche den Ersten Offizier, Mister Harris, und sage ihm, was ich brauche." „Wird der Brei helfen?" fragte die Frau. Sie schien davon noch nichts gehört zu haben. „Ja. Tu, was ich dir sage. Ich brauche noch ein paar andere, die mir helfen", erwiderte er und rückte die Lampe näher. Der Mann unter seinen Händen fie berte und schüttelte sich im Frost. Er blinzelte den Feldscher an und stöhnte. Seine Haut war trocken und heiß. Auf der Haut des Bauches und am unteren Teil der Brust entdeckte Rodney einen Ausschlag aus wenigen blassen, roten Flecken. Also doch! sagte er sich. Er hatte es
befürchtet, aber noch nicht erwartet, so wenige Tage nach Anfang der Schiffsreise. Mit seinem Branntwein rieb er dem Stöhnenden den Bauch ab, dann tat er ein wenig schwarze Salbe auf die kleinen Geschwüre. Er fragte den Kranken, ob er innerliche Schmerzen habe. Aus der halb gelallten Antwort er kannte er, daß der Mann dumpf und benommen war. Jetzt bestand für den Feldscher keinen Zweifel mehr, daß es sich um die gefürchtete Krankheit handelte, die auf langen Schiffsreisen auftrat. Er winkte zwei Frauen heran. „Bis der Brei gebracht wird, den der Koch zusammenrührt", sagte er drängend, „braucht jeder Kranke eure Hilfe. Dreht ihn auf den Bauch, zieht ihm die Beinkleider herunter und reinigt ihn. Ich sage an Deck Be scheid, daß man euch Wasser holt." „Aber - wir haben das noch nie...", fing die jüngere Frau an. Sie wirkte robust und unentschlossen. „Die Kranken brauchen eure Hilfe", sagte er im Befehlston. „Wollt ihr etwa hilflos liegenbleiben, wenn ihr krank seid? Nein? Also helft ihm. Und den anderen. Es könnten eure Väter oder Brüder sein." Er vergaß den durchdringenden Geruch des Durchfalls und gab den Kranken nacheinander einen beruhi genden Trunk, der das Fieber senken sollte. Sie stöhnten nach Wasser. Er schüttelte den Kopf und befahl ihnen, auf den heißen Brei zu warten. „Ihr müßt euch, wenn ihr sie um bettet, kräftig waschen", erklärte er seinen Helferinnen. „Warum?" „Damit ihr nicht auch krank wer det", sagte er geduldig. Seine Botin kehrte zurück und sagte: „Der Koch war nicht zu finden. Aber ein anderer kocht den Brei. Har ris hat es ihm befohlen."
47 Campbell hatte selbst erlebt daß Der Feldscher kletterte aus dem stin Ruhe und Sonnenschein, langer kenden Laderaum an Deck und Schlaf und gute Pflege die Kranken sorgte mit Hilfe des Ersten Offiziers heilten. Sie mußten von hier wegge dafür, daß die Wache ein paar Pützen bracht werden, anderenfalls gras Seewasser hochholte und nach unten sierte die Schiffskrankheit in rasen schaffte. „Vielleicht gehst du noch einmal der Schnelligkeit unter den zusam mengepferchten Auswanderern. Wo hinunter", brummte Campbell und sog die gute Luft tief in seine Lungen, hin sollte er sie schaffen? Während er die Leute untersuchte „und befiehlst den Leuten, daß sie und seine Arznei austeilte, merkte er, sich um die Kranken kümmern. daß sein erster Patient eingeschlafen Wenn nicht, haben wir bald das Schiff voller Siecher. Auf dich hören war. „Gutes Zeichen", murmelte er im sie eher als auf einen verdammten Selbstgespräch. „Das verspricht eine Feldscher." „Tue ich, Rod. Was hältst du da rasche Heilung." Er glaubte es selbst, aber er wußte von?" „Wird böse werden", erwiderte der auch, daß die Schwächeren unter den Feldscher mürrisch. „Es ist die be Kranken vielleicht sterben würden. Zu den schläfrigen Auswanderern, rüchtigte Schiffskrankheit. Noch ha die ihm ziemlich gleichgültig zusa ben wir kein Nervenfieber. Aber das hen, sagte er mit Nachdruck: „Wenn kann noch kommen. Wir müßten die ihr nicht auch krank werden wollt, ersten Kranken wegbringen, in einem müßt ihr denen hier helfen. Sie sollen Raum, nur für sie." in der Nähe des Niederganges liegen. Der Erste überlegte und lehnte sich Frische Luft, ihr versteht? Morgen neben Campbell schwer auf das bringt ihr sie an Deck, verstanden?" Schanzkleid. Sie starrten hinaus in Die meisten waren und blieben die Dunkelheit über der See. gleichgültig. Er untersuchte alle, die „Es gibt keinen leeren Raum im sich krank fühlten. Als er fast fertig Schiff. Alle Kammern und Lasten war, erschien ein Hilfskoch mit einem sind voll. Schließlich kann ich die ar Kessel, dessen Inhalt einigermaßen men Leute nicht in der Jolle achtern gut roch. hinterher schleppen." „Hast du Löffel? Für jeden einen?" „Nein. Kannst du nicht." fragte der Feldscher. An Land - wie damals die Überle „Ich? Löffel? Du mußt mich mit benden der königlichen Flotte - wür dem Kapitän verwechseln." den die Kranken schnell wieder ge Auch dieses Problem ließ sich lö sund werden, das wußte der Feld sen. Die Aussiedler hatten einige Löf scher. Wenn diese ersten Frauen und fel. Er tauchte sie nacheinander in Männer, die fiebernd unten lagen, die den Napf, in den er sein Rum-Brannt Vorhut einer Seuche sein sollten, wein-Gebräu schüttete. Dann wies er dann lag die tödliche Gefahr schon die Frauen an, die Kranken zu füt auf der „Discoverer". tern. Sie aßen lustlos, aber sie erbra Nach einer Weile fragte der Erste chen es nicht wieder. Er zog die gähnend: „Kann ich helfen?" Schultern hoch und hoffte, daß seine „Sie haben etwas zu essen, sie wer stundenlange Arbeit helfen würde. den gewaschen, man braucht saubere Widerwillig halfen zwei ältere Tücher. Und wenn du sie morgen ir Frauen mit, die Kranken zu säubern. gendwo oben an Deck liegen lassen
48 kannst, hilft ihnen das auch. Mehr können wir nicht tun." „Ist klar", sagte Harris. „Ich spreche mit Granville. Hoffentlich haben wir eine ruhige Nacht." „Das hoffe ich auch", murmelte der Feldscher, hob seine Tasche auf und tappte zurück unter seine warmen Decken. Die ersten Anzeichen der Seuche? fragte er sich. Er schwankte zwischen Furcht und Hoffnung und wußte selber nicht, was die nächsten Tage bringen würden.
Kapitän Granville faltete die Hände über dem Bauch, lehnte sich weit zurück und grinste zufrieden. Erst in zwanzig Tagen würden sie die Küste der Neuen Welt erreichen. Das gab Zeit genug für jede Unterhal tung, die ein rechter Kapitän brauchte. Er hatte gut und reichlich gegessen. Der eigene Vorrat schrumpfte noch lange nicht. Braten und Speck, geräu cherte Würste und dunkles Brot, in ei ner Kiste versiegelt, dazu kühles Bier. Glücklicherweise ging es zur Neige, denn es schmeckte schon et was schal. Robert Granville rülpste lautstark, langte nach dem Krug und schüttete seinen kostbaren Becher voll. „Und jetzt noch ein Spielchen", brummte er. „Wo nur Watts mit den verehrten Gästen bleibt?" Auf dem Tisch der Kapitänskam mer, auf dem auch Weinkrug und Be cher standen, lagen die Kartenspiele und die Würfel. Vor dem Kapitän reihten sich kleine Stapel von Far things, Pennies, Sixpence und einige kleine Goldmünzen, um die Mitspie ler zu reizen. „Sollen sie doch alle zum Teufel fahren", sagte Granville im Selbstge spräch und meinte seine Schutzbe
fohlenen, die Pilger und Auswande rer, von denen die meisten arm wie die Kirchenmäuse oder Bettel mönche waren. Edmond Melrose und Terry Tom son waren nicht arm. Vor der Tür wurden Schritte laut. Dann klopfte jemand hartnäckig ans Holz. Granville tat, als wäre er mit ei ner Seekarte beschäftigt und rief: „Herein!" Watts schob seine grobe Visage durch den Spalt. Er grinste und zeigte die schwarze Zahnlücke im Oberkie fer. Mit seiner gewohnt pfeifenden Stimme sagte er halblaut: „Zwei Gentlemen wollen's wagen. Sie haben gehört, daß unser Kapitän einem Spielchen nicht abgeneigt sei." „Sollen eintreten!" rief Granville. Der Satz bedeutete die vereinbarte Losung. Da waren ihnen also zwei Hühnchen ins Netz gelaufen, die gol dene Eier legten, wenn er und Watts es geschickt anstellten. Er stand auf, verbeugte sich und deutete auf Tisch und Sitze. „Willst du mitspielen, Boots mann?" fragte er scheinheilig. „Ich habe mir sagen lassen, daß du eine gute Hand hast? Einen Becher Wein, Gentlemen?" „Gern", antwortete der stämmige Edmond Melrose mit dem breiten Le dergurt und der vergoldeten Schnalle. Er war Kaufmann aus Co ventry. Der Kapitän hatte alles in der Passagierrolle gelesen. Watts hatte einen günstigen Augenblick abgewar tet, nachdem er auch diese Männer lange genug belauert hatte. „Mit Vergnügen", entgegnete Terry Tomson, der eine Ladung Werkzeug nach Virginia begleitete, sie dort ge winnbringend verkaufen und neue Bestellungen entgegennehmen woll te. Er setzte sich, ebenso wie Watts und der Kapitän. „Gib den Gentlemen einen kräfti
49 gen Schluck, Watts", befahl der Kapi tän und plierte nach der Kleidung der beiden Kaufleute. Sie war teurer und besser als sein eigenes Zeug. Die Gentlemen hatten sogar Zeit gefun den, sich zu rasieren. Wein gluckerte in die Becher. Neu gierig schauten sich die Passagiere in der Kammer um. Sie schienen über rascht, an Bord einen so großzügigen Raum zu finden, ein krasser Gegen satz zu der Enge überall, eingeschlos sen die Laderäume. „Hat doch Vorteile, wenn man Ka pitän ist", brummte Tomson. Er war der Hagere von den beiden und trug große Ringe an den schlan ken Fingern. Granville war nicht si cher, ob sie die reichsten Männer auf dem Schiff waren, aber er würde sie tüchtig schröpfen. „Auf eine geruhsame Seefahrt", stießen die beiden an. Granville tat ihnen Bescheid und antwortete: „Man muß es nehmen, wie's kommt. Es ist Ihnen sicher lang weilig geworden, Gentlemen? Nun, nicht jedermanns Sache, ohne Arbeit unter Deck zu schlafen." „Und zusammen mit all dem Pöbel. Sie stinken, die Leute. Sind aber meist brav und ruhig", erklärte Tom son affektiert und strich sein blondes Haar in den Nacken. Bruce Watts wischte sich den Schweiß aus dem Stiernacken und nahm einen zweiten Schluck. Der Wein war gut, der beste an Bord. Er würde sich dranhalten müssen. „Ein kleines Spiel?" schlug der Ka pitän vor. Drei Lampen brannten mit ruhigen Flammen und tauchten das Innere der Kammer in ein mildes Licht. Die „Discoverer" krängte leicht nach Backbord und wiegte sich in mittle rer Fahrt behäbig in den Wellen. Ach tern unter der Kammer, unter der
Heckgalerie, gurgelte das schäu mende Kielwasser. „Dazu sind wir hier. Auch zwei oder drei", sagte Tomson und lachte gutgelaunt. Er knotete einen reichlich faustgroßen Lederbeutel vom Gürtel, stellte ihn auf den Tisch und öffnete ihn. Dann rührte er mit dem spitzen Zeigefinger darin herum. „Mit oder ohne Einsatz?" Der Kapi tän tat, als sei es ihm gleichgültig. „Ein paar Pence kann ich riskie ren", sagte Watts. Seine braunen Augen hefteten sich auf die Münzen, die Tomson und Mel rose aus den Beuteln schütteten und aufstapelten. Da lag mindestens die Heuer für zwölf Monate auf dem Tisch. Er verschüttete roten Wein auf seine Jacke, als er mit zitternden Fin gern den Becher hob. „Ich auch." Der Kapitän hob die breiten Schultern. „Außerdem werde ich bei meinem sprichwörtlichen Un glück alles verlieren. Oder kennt Ihr etwa einen reichen Kapitän?" „Der, von dem ich meine Handels ware verschiffen lasse, hat drei Häu ser in Kent gebaut", sagte Melrose. „Mischst du, Terry?" „Wenn's denn sein muß." Tomsons flinke Finger mischten die Karten. Dabei untersuchte er mit den Fingerspitzen die Ecken der dik ken Blätter. Er war, das merkten Watts und Granville schnell, ein ge schickter Spieler. Zumindest wußte er mit den Karten umzugehen. Er gab und teilte rasch aus, verzählte sich nicht, legte ab und packte dann seine Hände flach auf die blankgescheuer te Platte. „Also", sagte er. „Wer eröffnet?" Der Kapitän deutete auf Watts. „Schönheit geht vor Alter", sagte er leichthin. Watts brach in ein brüllendes Ge lächter aus und schlug sich auf den Oberschenkel. Dann nahm er die Kar
50 ten auf und sah, daß er kein schlech tes Blatt hatte. Ohne daß es die ehrbaren Kauf leute wußten, war er der Lockvogel und spielte mit dem Kapitän zusam men. Die Beute wurde geteilt - zwei Drittel für den Alten, diesen ver dammten Geizkragen. Eine Stunde lang gingen die Karten hin und her, krachten die Fäuste auf den Tisch, wechselten die Geldstücke hin und her. Fluchen und Gelächter waren zu hören. Nachdem zuerst Watts verloren und ein wenig gewon nen hatte, gewann jetzt der Kapitän. In der zweiten Pause füllte Watts den Weinkrug auf und schüttete die Becher wieder voll. Das Spiel ging weiter: hitziger und schneller, mit we niger Geschrei, aber mit mehr Verbis senheit. Die Münzstapel vor den Kaufleuten wurden kleiner. Sie spielten sehr gut, fast gerissen, aber gegen die schmut zigen Tricks der beiden Seeleute hat ten sie auf Dauer keine Chance. Vor Bruce Watts und dem Kapitän wuch sen die unordentlichen Haufen aus Kupfermünzen, Silber und wenigen Goldscheibchen. Es dauerte fast schon zu lange. Granville versetzte unter dem Tisch dem Bootsmann einen Tritt. Watts tat so, als horche er nach draußen. Dann nickte er bedächtig. Den bei den, die jetzt eine Pechsträhne hat ten, fiel nichts auf. Sie spielten weiter und verloren. Als hätte Gordon Tibbs genau auf gepaßt und ein Signal empfangen, griff er ein. Tritte trampelten den Niedergang hinunter, polterten über den Gang und hielten vor der Tür. Jemand klopfte und rief den Namen des Kapi täns. Hochrot vor Zorn, schrie Granville: „Wer stört mich? Ruhe dort draußen! Ich habe doch gesagt, i c h . . . "
Die Tür öffnete sich. Der Decksälte ste wedelte mit seinen überlangen Ar men und sagte aufgeregt: „Kapitän! Sie müssen sofort eingreifen, Sir! Im Vorschiff prügeln sich ein paar Kerle. Einer hat das Messer gezogen. Es ist wichtig, Sir. Nehmen Sie die Waffen mit. Los, Bootsmann, das geht dich auch an!" „In Ordnung, Decksältester", gab Watts zurück, warf seine letzte Karte offen auf den Tisch und strich das Geld zusammen. Auch der Kapitän war aufgesprungen und griff nach seinem Waffengurt. „Sie müssen entschuldigen, Gentle men", sagte er drängend. „Aber ich trage für alles an Bord die Verant wortung. Diese Kerle vor dem Mast immer gibt es Ärger. Um was ging's, Tibbs?" „Keine Ahnung. Jemand hat ein Weib in seine Koje geschmuggelt, habe ich gehört. Kann stimmen oder nicht. Weiß nicht, Sir." „Ich komme", versicherte Granville und schloß die Schnalle seines Gür tels. „Gentlemen, es tut mir leid. Das Spiel - morgen gebe ich Ihnen Re vanche. Heute geht nichts mehr. Ich habe Ihr Verständnis?" „Da ist wohl nichts zu ändern", murmelte Tomson. Melrose nickte und betrachtete trübselig seine dezimierte Barschaft. „Arbeit geht vor Vergnügen. Man wird sich wohl morgen wieder tref fen." „Mit dem größten Vergnügen", sagte Robert Granville und fuhr seine Leute an. „Und ihr steht noch herum? Los, schnell, nehmt euch einen Belegnagel und geht dazwischen. Wenn ich komme, will ich Ruhe vor dem Mast haben, klar?" Watts, der sein Geld in einer seiner weiträumigen Taschen verstaut hatte, lief hinaus. Der Decksälteste
51 folgte ihm. Granville nahm noch ei nen tiefen Schluck Wein, nickte sei nen beiden Gästen zu und stürmte hinterher. Sie rannten den Rudergän ger beinahe um, enterten das Deck und stürzten auf die Back zu. Von dem erwarteten Lärm war nichts zu hören. „Gut hingekriegt", sagte Granville leise zu Tibbs. „Hätte nicht später sein dürfen." „Irgendwie habe ich's erraten, Sir", versicherte der Stämmige, dessen Kennzeichen eine platte Nase war, die so aussah, als habe jemand eine Spiere an der falschen Stelle benutzt. Seine grauen Augen glitzerten. „Gut. Fast so gut wie Watts. Du warst ganz groß, Bruce", sagte der Kapitän und blieb hinter dem Bug spriet auf dem Oberdeck stehen. Er schaute aufs Meer hinaus. Selbstver ständlich lag im Vordeck alles in tie fem Schlaf. Nur die Wache hielt sich an Deck auf. „In einer Stunde treffen wir uns", sagte der Kapitän leise. „Wir haben einen schönen Schnitt erzielt. Aber da gibt es noch mehr solcher Para diesvögel zu rupfen." „Mindestens eineinhalb Dutzend", brummte der Bootsmann. „Und scharfe Weiber haben wir auch auf dem Schiff. Wartet nur, bis der Fraß knapp wird. Kelvin sorgt schon da für." „Er soll nicht übertreiben", sagte Granville. „Ihr verschwindet jetzt am besten. Ihr wißt, was ihr zu tun habt? Auch wenn dieser Satan Killigrew fragt. Seewolf - die Räude in sein Fell!" „Alles klar, Admiral", antwortete Tibbs grinsend und verschwand in seinem Quartier. Watts grub in seiner Tasche nach den Münzen, überlegte kurz und wollte hinter Tibbs her. Granville packte ihn am Kragen, drehte ihn herum und zischte: „Das
Geld her! Ich betrüge dich nicht, oder meinst du, es wird mehr, wenn du's zählst?" „Nein", stotterte der Bootsmann. „Gewiß nicht, Sir. Hab's verges sen." Während er den Inhalt seiner Ta schen in die Rocktaschen des Kapi täns umleerte, verfluchte er wieder den Alten. War doch ein gerissener Hund, der gelbzähnige Robby! Wie ein geprügelter Hund schlich er unter Deck und bemühte sich, seine die bische Freude nicht zu sehr zu zeigen. Die Tasche war nur scheinbar leer zwei silberne Sixpence steckten noch drin. Und die Fahrt war noch nicht zu Ende. Bruce Watts schlief tief und lange, denn seine Wache fing erst wieder am Mittag an. 6. „Ich bin ganz sicher", begann der Stückmeister der Schebecke grim mig, „daß ich gar nicht wissen möchte, was auf den drei Galeonen wirklich vor sich geht. Wahrschein lich würde ich verrückt vor Wut wer den. Wenn ich Hasard wäre, zumin dest." Er schüttelte sich und spähte durch Dans Spektiv hinüber zur „Pilgrim". „Du bist aber nicht der Seewolf", erklärte ihm Carberry. „Ärgert dich, daß du arbeitslos bist, wie? Mit leer geputzten Culverinen. Weit und breit keine spanischen Affenärsche, was?" Al Conroy zeigte mit dem Spektiv zur Kimm. Die Karavelle war nur als winziger Punkt zu erkennen. Ihre Se gel schienen direkt aus dem Wasser hervorzuwachsen. „Die Reise ist noch nicht beendet", sagte er. „Nein. Sie dauert noch eine Weile", stimmte der Profos zu. „Wir sollen
52 hinüber zu Drinkwater segeln. Hast du das begriffen?" „Nein", schnappte Al Conroy. „Ich bin nämlich taub, blind und blöde." „Das wissen wir. Deswegen habe ich auch zweimal gefragt." Sie standen nebeneinander auf der Back der Schebecke und betrachte ten, da sie nichts Besseres zu tun hat ten, die Wellen, die Wolken und die Schiffe, die mit ihnen segelten. Im Gegensatz zum vergangenen Tag war jetzt, gegen Mittag, der Himmel grau und wolkig verhangen. Der Wind war kühl, die Luft blieb überraschend trocken. Wie eine Messerschneide zischte der Bug unter ihnen durch die Wellen. „Jawohl, Mister Carberry", sagte AIlConroy in bester Laune, während sie beobachteten, wie der Rudergän ger die Schebecke immer näher an die Galeone heranbrachte. „Ich denke, Mister Carberry, daß ich meine geliebten Culverinen und viel leicht sogar die Drehbassen noch brauchen werde. Diese Lumpen in der Karavelle haben uns noch immer nicht aus den Augen verloren. Und genau dann, wenn keiner von uns dar an denkt, werden sie etwas unterneh men." „Nichts Gutes, Al", brummte der Profos. „Alles andere als das", gab ihm der Stückmeister recht. „Und deswegen halte ich mein Pulver trocken, die Kugeln warm und gar nichts von die sen Schnapphähnen. Dieser Drinkwa ter ist wohl ein ganz vernünftiger Kerl, wie?" „Im Gegensatz zu unserem Busen freund Robert Granville habe ich von Drinkwater nur Gutes gehört", erläu terte Carberry. „Wir werden gleich wieder einmal von ihm etwas Gutes hören." Die Schiffe dieses bunt zusam mengewürfelten Verbandes hatten in
den vergangenen vierundzwanzig Stunden ein gutes Etmal zurückge legt. Der Wind wehte aus Nordosten und war beinahe so gut, als hätten sie ihn herbeigewünscht. Kühl und gleichmäßig, ohne Böen oder Flauten schob er die schwerfälligen Galeonen in westliche Richtung. Fische sprangen aus den Wellen. Einmal waren fern die schwarzen, riesigen Buckel von Walfischen vor beigezogen. Obwohl bis auf die drei englischen Besserwisser jeder an Bord die riesigen, weißen Fontänen aus den Atemlöchern bereits kannte, hatten sie sich dieses Schauspiel nicht entgehen lassen. Zwei große, dunkle Vögel, vermutlich Albatrosse, schwebten einmal mit ausgebreiteten Schwingen lautlos zwischen den tief hängenden Wolken dahin. Sonne wechselte ab mit Dunkelheit und Nacht, der Wind kam und ging in gleichmäßiger Stärke, ebenso wie die Wellen und die wiegende Dünung. Für eine kurze Spanne hatten die See wölfe Ruhe gehabt. Immer dann, wenn diese Art der Stille eine bestimmte Zeit dauerte, wurden sie unruhig. Es war eine Art Fieber, ein kaltes Fieber, das sie packte. Sie wußten, daß diese Ruhe entweder sehr trügerisch und falsch oder binnen kurzer Zeit zu Ende war. Diese Stimmung herrschte jetzt. Das Heck, das große Ruder und die Galerie wurden größer. Schon wie die Kerls, die die Annäherung des schnit tigen Schiffes bemerkten, zu den See wölfen hinüberwinkten, bewies Ha sards Crew, daß die Stimmung auf der „Pilgrim" nicht schlecht sein konnte. „Nichts zu tun für dich und deine Kanonen, Al", bemerkte Carberry gutmütig grinsend. „Nicht bei Drink water." „Das hat auch niemand erwartet." Mit jeder Minute verkürzte sich der
54 Abstand zwischen den Schiffen. Von Steuerbord segelte die Schebecke heran. Es ließ sich bei diesem Manö ver nicht vermeiden, daß die Galeone für kurze Zeit abgedeckt wurde. Am Steuerbordschanzkleid der „Pilgrim" drängten sich die Auswanderer und starrten hinüber. Die Seewölfe waren diese aufmerk same Begeisterung gewohnt, winkten zurück und scherzten mit den Kin dern. Die Blicke der Crew gingen über die Gesichter der Auswanderer, über ihre Kleidung, die Gestik - sehr schnell konnten die Stimmung und das Wohlbefinden beziehungsweise das Gegenteil davon festgestellt wer den. „Wollen Sie an Bord kommen, Ka pitän Killigrew?" donnerte Drinkwa ter zur Schebecke hinüber, deren Deck tiefer lag als die Kuhl der Ga leone. „Nur dann", schrie Hasard zurück, „wenn es sein muß! Haben Sie Pro bleme, James?" Drinkwater stand auf der Heckga lerie, grüßte Al Conroy und Carberry mit gemessener Freundlichkeit und rief Hasard zu: „Keine Probleme! Ge nug Wasser, nur ein Dutzend Kranke, kein Wasser in der Bilge. Und auf der Schebecke? Alles klar, Sir?" Die Schiffe schlossen auf. Hasard ließ keine Leinen werfen, sondern be fahl dem Rudergänger, knapp an Steuerbord achtern zu bleiben. Das war die beste Entfernung für ein Ge spräch, bei dem man sich nicht die Lunge aus dem Leib brüllen mußte. „Keine Schwierigkeiten, Mister Drinkwater. Haben Sie von den ande ren etwas gehört? Notsignale oder ähnliche Überraschungen?" Hasard war grundsätzlich miß trauisch. Aber was er und seine Leute sahen, beruhigte ihn. Die „Pilgrim" war perfekt aufgeklart, lag nicht zu tief im Wasser, und auch die Crew
schien ihren Kapitän nicht zu hassen. Die wenigen Kinder, die ihre Köpfe über den Rand des Schanzkleides hochbrachten, lachten und hatten große, neugierige Augen. „Nichts. War eine ruhige Nacht, Sir", gab Drinkwater zurück. Auch er war ein erfahrener Kapitän, der sein Schiff und seine Crew mit harter Hand führte. Aber er hob sich wohl tuend gegen die beiden anderen ab. Vielleicht versuchte er auch, die Aus wanderer zu schröpfen, aber er ließ offensichtlich keinen verhungern oder freute sich, wenn ein Leichnam über Bord gekippt wurde. „Die nächste Nacht wird schwie rig!" rief Hasard. „Sturm? Wie kommen Sie darauf, Sir?" Hasard lachte und deutete in die Richtung der Kuhl. Dort gestikulierte Old Donegal. „Wir haben einen Wetterpropheten an Bord. Immer dann, wenn ihn die Holzknochen zwacken, gibt's Sturm. Sagt er. Aber in diesen Breiten ist ein plötzlicher Sturm alles andere als eine Seltenheit. Bereitet euch darauf vor. Ich denke, Old Donegals Holz bein sagt die Wahrheit." „Geht in Ordnung. Werde mich da nach richten." Bei diesem Wetter und dem gerin gen Wellengang war es eine kluge Entscheidung, alle Luken zu öffnen und auch die wenigen Stückpforten weit aufzureißen. Je mehr frische Luft ins Schiff drang, desto besser trocknete es, und die gefürchteten Krankheiten hatten weniger Chan cen. Abgesehen davon, daß es weni ger stank und für jedermann ange nehmer war. „Haben die Kerls von der Kara velle etwas von euch haben wollen?" erkundigte sich Ben Brighton erwar tungsvoll. Kopfschüttelnd antwortete der Ka
55 pitän: „Nein. Sie bleiben immer im großen Abstand hinter uns. Ich habe in der Nacht eine Wache aufgestellt. Letzte Nacht segelten sie ohne Lich ter." „Sie haben unsere Laternen als Wegweiser. Ich bin jedenfalls auf der Hut!" rief Hasard. „Bis später! Ich kümmere mich um mein Sorgenkind, die ,Discoverer'. Da sieht's nicht so rosig aus, denke ich." „Überladen, scheint mir." „Das auch. Gute Fahrt, Kapitän." „Euch auch, Sir." Die Schebecke fiel ab, nahm ach tern der Galeone Fahrt auf und rich tete den Bugspriet auf das Schiff Granvilles.
Am späten Nachmittag näherte sich die Schebecke im aufbrisenden Wind wieder der „Discoverer". An Deck der Galeone drängten sich Men schen. Weit hinter den Schiffen zeig ten sich die ersten Anzeichen für schweres Wetter, das die nächsten Stunden herrschen würde. „Seht euch mal die Figuren auf dem Achterdeck an. Das sind wohl die Freunde des Kapitäns", murmelte Hasard. Er musterte jedes Gesicht, das er über dem Schanzkleid erken nen konnte. Mitleid mit den Auswanderern überkam die Seewölfe, als sie den Zu stand der meisten Frauen und Kinder erkannten. „Auf dem Schiff hat keiner etwas zu lachen", sagte Carberry. „Ich setze über und räume auf, Sir. Oder hast du andere Vorstellungen?" Hasard erklärte mit Deutlichkeit: „Ohne daß Kapitän Granville nicht einen entscheidenden Fehler begeht, den ich ihm auch beweisen kann, un ternehme ich nichts. Noch nicht." „Das sehe ich ein", sagte der Pro
fos, ohne seine Enttäuschung zu ver bergen. „Wie willst du dem einen Fehler be weisen?" erkundigte sich Dan O'Flynn zurückhaltend. Die Beobachtungen wiederholten sich. Die Kinder wirkten hungrig und erschöpft, die Frauen niederge drückt, und aus den Gesichtern der Männer sprachen Verzweiflung, Hun ger und eine deutliche Wut, die noch unter Kontrolle gehalten wurde. Wenn diese aufgestauten Gefühle ex plodierten, dann war auf dem Schiff die Hölle los. Dann erst konnte Ha sard zeigen, welche Vollmachten er besaß. „Indem ich morgen oder nach dem Sturm an Bord gehe, zusammen mit ein paar Seewölfen und Waffen. Wir werden uns umhören und alles noch genauer kontrollieren. Die Auswan derer, wenn sie mit uns unter vier Au gen sprechen, erzählen uns alles." „Das denke ich auch", sagte Dan O'Flynn. „Sie sehen schon jetzt nicht sehr glücklich aus." Diesmal näherte sich die Schebecke der Backbordseite des anderen Schif fes. Die Wellen hatten bereits nied rige Schaumkronen. Beide Schiffe setzten schwer in die Wellen ein, Schaum und Wassertropfen hagelten über die Bugplanken. „Was nachts passiert", wandte Big Old Shane ein, „erfahren wir ohnehin nicht. Ich weiß, was alles versteckt werden kann - auf einer so großen Galeone, dazu noch, wenn sie überla den ist." „Das weiß ich auch", entgegnete der Seewolf. „Aber ich kann Gran ville nicht auf einen Verdacht hin ab setzen. Auch wenn wir alle einer Mei nung sein sollten." Am Heck und den Bordwänden zeigten sich die Spuren des Alters und der Abnutzung. Wieder erkann ten die Seewölfe an Deck eine Fami
56 lie, die ihnen schon ein paarmal auf gefallen war. Von den meisten ande ren hoben sich fünf Leute deutlich ab. Sie sahen gepflegter und entschlosse ner aus. In ihren Gesichtern waren mehr Hoffnung und Zuversicht zu er kennen als Niedergeschlagenheit. Der Mann, nicht kleiner als der See wolf oder Big Old Shane, hatte einen prächtigen schwarzen Bart. „Heute offensichtlich keine Toten", sagte der Kutscher. Es war nicht her auszuhören, ob er zufrieden war oder eine Bestätigung für ihre Befürchtun gen aussprechen wollte. „Wo ist Kapitän Granville?" rief Hasard zum Achterdeck der Galeone hinauf. „Ich will ihn sprechen." Der Erste Offizier Harris beugte sich weit übers Schanzkleid und gab zurück: „Einen Augenblick, Sir. Er ist sofort zur Stelle." „Danke", antwortete Hasard laut. „Haben Sie Probleme im Schiff? Kranke, Tote, Nahrungsmangel, wie steht es mit dem Wasser?" Harris erwiderte wahrheitsgemäß: „Die Nahrungsmittel reichen aus. Das Wasser ist nicht mehr das fri scheste, aber ich habe Anweisung er teilt, daß es gekocht wird. Der Feld scher kümmert sich um eine Hand voll Kranke. Es mögen ein Dutzend sein. Noch gibt es kein Nervenfieber. Wir haben die Kranken von den Ge sunden getrennt. Es i s t . . . " Robert Granville schob ihn mit der Schulter zur Seite und knurrte etwas, das keiner auf der Schebecke verste hen konnte. Aber die Bedeutung war ihnen klar. Granville war wütend. „Kapitän Killigrew. Ich fühle mich von Ihnen herausgefordert. Trauen Sie mir schlechte Schiffsführung zu?" Ungerührt gab Hasard zur Ant wort: „Ich führe nur die Anweisun gen unserer Königin Elisabeth aus. Sie übertrug mir die Verantwortung
auch für Ihr Schiff, Kapitän Gran ville. Oder haben Sie Angst vor unse ren wachsamen Augen?" Noch immer war die Schebecke et was schneller und auf jeden Fall leichter zu manövrieren als die schwerfällige Galeone. Sie schob sich, während beide Schiffe unter vol lem Zeug dahinstampften, Schritt um Schritt an der Backbordseite vorbei. Jetzt hatte der Bug etwa die Höhe des Großmastes erreicht. „Ganz sicher nicht, Kapitän Killi grew. Was soll der Besuch?" Auf der Kuhl gab es Gedränge und einen Wortwechsel. Das kleine Kind der bewußten Familie, ein etwa fünf jähriger Junge mit blonden Locken, wurde unruhig. Er riß sich los, stram pelte und winkte zur Schebecke. Was er rief, ging im Zischen und Plät schern der Wellen unter. „Ich sehe Ihr Schiff, Kapitän, und ich versuche mir vorzustellen, was zwischen den Bordwänden vorgeht. Was ich sehe, erfreut mich keines wegs!" schrie Hasard. Noch bevor Kapitän Robert Gran ville auf diese halb verhüllte An schuldigung reagieren konnte, riß sich der Kleine dort oben aus den Ar men der Mutter, kletterte aufs Schanzkleid und kippte, vor Angst schreiend und mit den Armen ru dernd, nach vorn. Zwischen den Bordwänden gab es fünfzehn Fuß Abstand. Das Kind fiel in die Wellen, ging aufklatschend un ter, und im selbem Moment schrie Hasard seine Befehle. Die Schebecke schwang nach Backbord, als Sven Nyberg hart das Ruder legte. Die Se gel killten. Aber im Nu schwang sich der Sohn jener Auswandererfamilie über das Schanzkleid, hielt sich die Nase zu und sprang seinem Brüderchen nach. An Bord der Schebecke handelten die Seewölfe blitzschnell und überlegt.
57 Zwei Wurfleinen flogen hinüber zu des Kleinen. Zwei lange Riemen wur der Stelle, an der die beiden Kinder den über dem Ruderblatt ausgerannt. eingetaucht waren. Noch brodelte das Tauschlingen hingen ins Wasser. Die Wasser, keiner von beiden war wie Rundung des Hecks war gesäumt von der zwischen den schäumenden Wel Seewölfen, die nur darauf warteten, len an der Oberfläche erschienen. zuzupacken. „Ich hole sie raus!" schrie Blacky, Während Blacky mit aller Kraft zog schnell die Jacke aus und stürmte schwamm und den Kleinen hinter entlang der Steuerbordseite zum sich herzerrte, achtete er darauf, daß Heck. dessen Kopf über dem Wasser blieb. Die Galeone rauschte und stampfte Das Kind verhielt sich ruhig, fast wie weiter. gelähmt. Das Heck und das Ruderblatt der Der andere hatte das dünne Tau ge Schebecke, die fast augenblicklich packt, sich um die Unterarme gewik Fahrt verloren hatte, deuteten etwa kelt und versuchte ebenfalls, das auf die Stelle, an der die beiden Kin Heck der Schebecke zu erreichen. Big der im Wasser verschwunden waren. Old Shane holte die Leine langsam, Blacky erreichte das Heck, packte Hand über Hand, ein. Blacky er das Ende der dritten Wurfleine und reichte die Schlingen zuerst, hielt sprang mit einem riesigen Satz dort sich an einer davon fest und bugsierte hin, wo eben der Kopf des älteren den Kleinen in die zweite Schlinge. Jungen auftauchte. Er schnappte hör Der Tampen spannte sich unter den bar nach Luft und vollführte mit dem Achseln nach hinten, und als die Män linken Arm Schwimmbewegungen. ner zu hieven anfingen, klatschten Noch im Sprung schrie Blacky: die Taue gegeneinander und zogen „Ich helfe euch!" den kleinen Körper fast senkrecht Der Kutscher enterte unter Deck aus dem Wasser. und bereitete trockene Decken vor. „Jetzt du", keuchte Blacky, der die Hasard und die Gruppe auf dem Grä Kälte des Wassers inzwischen am tingsdeck suchten dicke Tampen und ganzen Körper spürte. „Schneller!" hängten sie über das Schanzkleid. Die Kälte, die ihm die Kraft raubte, Mit schnellen Stößen, die Leine zwi würde den Jungen viel schneller er schen den Zähnen, schwamm Blacky lahmen lassen. Er griff zu, packte die auf die Kinder zu. Jetzt sah er auch nassen Haare und zog den Kopf zu den zweiten Kopf. Die Wellen hoben sich heran, einen Arm in der und senkten sich, das Heck der Sche Schlinge. Er ließ kurz los, hob beide becke war einmal unter und dann Arme des Jungen und wartete ab, bis wieder über den Schwimmenden. die nächste Welle sie beide in die Blacky schwamm links an den beiden Höhe schob. vorbei und trat Wasser. Er versuchte, Dann zog er die Arme auseinander, die Leine unter den Achseln der Kin blickte kurz in schreckerfüllte.Augen der hindurchzuziehen. und sagte: „Halte dich am Seil fest. „Kannst du schwimmen?" schrie er Nicht loslassen. Gleich bist du in Si prustend. cherheit." Der Ältere gurgelte: „Es geht. Aber Wieder strafften sich die Enden. es ist so k a l t . . . " Hasard und der Profos hatten keine „Gleich wird es wärmer", gab Mühe, den Jungen anzuhieven und Blacky zähneklappernd zurück, zog aus dem Wasser zu bringen. Er ge an der Leine und packte den Kragen langte auf das obere Ende des Ruder
58 blattes, stemmte sich ab und half ih jetzt zittern und glauben, ihre Kinder nen. Einen Atemzug später war er an seien ertrunken." „Wir haben sie bald wieder einge Deck, und sofort stürzten sich der Kutscher und Al Conroy auf ihn. Sie holt", antwortete der graubärtige schleiften und trugen den triefenden Riese und klarte die Enden auf. Jungen hinter seinem Bruder her und „Aber der Junge wird uns genau be waren Sekunden später unter Deck. richten, was auf dem Höllenschiff Halb erstarrt, aber noch immer wirklich vor sich geht." Hasard nickte lächelnd und be Wasser tretend, schlüpfte auch Blacky in die Seilschlinge und fühlte, kannte: „Daran habe ich tatsächlich wie er aus der nächsten Welle gezo nicht gedacht." Die Schoten wurden durchgeholt, gen wurde. und schon zeigte sich, daß Old Done Er schwang sich, eiskalt an Fingern und Zehen, über das Schanzkleid und gals Holzbein die richtige Prognose sagte schlotternd: „Der gute alte Iron abgegeben hatte. Der Wind frischte man hat's euch wieder gezeigt, nicht mehr und mehr auf. Die Schaumkro wahr? Verdammter Ozean! Saukalt." nen der Wellen gischteten, wuchsen Die Wurfleine wurde eingeholt, in die Höhe und wurden vom langsam während Sven die Pinne wieder in die einsetzenden Sturm davongewirbelt. entgegengesetzte Richtung stemmte Hinter der Schebecke zischte und und Hasard die Wurfleine hochholte gurgelte das Kielwasser und ver schmolz mit der dunklen Bahn, die und aufschoß. von der Galeone stammte. „Halt keine Volksreden!" schrie er „Tee ist bald fertig!" schrie Mac Blacky nach. „Sieh zu, daß du in trok kene Kleider kommst! Mac Pellew! Pellew von der Kombüse her. Im Heißen Tee. Und einen Rum für die schwankenden Kessel summte das Wasser. „Mit nautischer Verstär Retter." kung, Sir, oder ohne?" „Aye, Sir!" rief Mac Pellew zurück. Hasard hatte seinen freigiebigen Das unerträgliche Schlagen der Se Tag und erwiderte: „Bei dem bevor gel hörte auf. Der Wind fuhr in die stehenden Ärger mit Granville: kipp Leinwand, als die Schebecke wieder ruhig etwas Rum in die Brühe, Kom auf Kurs lag und den Bugspriet auf büsenmeister." das Heck der Galeone richtete. Die „Mit Vergnügen, Sir." „Discoverer" war weitergesegelt, Blacky trocknete und rubbelte sich während die Seewölfe ihr Rettungs selbst mit weißen Tüchern ab. Die manöver ausgeführt hatten. beiden Aussiedlerkinder lagen in den An der Stelle von Kapitän Gran Kojen, bis zum Kinn zugedeckt. Die ville, sagte sich der Seewolf, hätte er nassen Kleidungsstücke hingen an auch nicht anders gehandelt, denn den Haken des Kammerschotts. deutlich war zu erkennen gewesen, „Jetzt seid ihr getauft", erklärte daß die Seewölfe mit dem Problem Hasard lachend. „Jetzt kann euch ab allein, schnell und entschlossen fertig solut nichts mehr passieren." wurden. Es hätte nicht mehr als eine Der Kleine strahlte ihn schon wie seemännische Geste bedeutet, wenn der an. Granville die Jolle hätte ausfieren Sein Bruder ließ erkennen, daß ihn und bemannen lassen. seine Eltern gut erzogen hatten. Er „Soweit, so gut", sagte Hasard zu fror noch immer, aber er sagte heiser: Big Old Shane. „Die Eltern werden „Sir! Vielen Dank. Ich hab nicht
59 nachgedacht, als Roebuck ins Wasser gefallen ist." „Du hast ganz richtig gehandelt", lobte ihn Hasard und legte seine Arme auf die Schultern seiner beiden Söhne, die sich sofort um die triefen den Knaben gekümmert hatten. „Ich hätte es nicht besser gekonnt. Ich bin Kapitän Hasard. Und wie heißt du?" „Little John Fletcher, Sir. Mein Va ter ist Schmied. Was passiert jetzt mit uns?" „Wenn ihr trocken seid", nörgelte Old Donegal, „süffelt ihr einen Tee, und dann schmeißen wir euch wieder in den großen See. Ihr müßt dann der Galeone hinterherschwimmen. Keine Angst. Wir liefern euch wieder bei den Eltern ab. Wie alt bist du, Kleiner John?" Er verzog sein Runengesicht zu ei nem fröhlichen Grinsen. „Vierzehn, Sir." „Als ich so alt war, hab ich schon ein paar Schiffe versenkt"; erklärte der Alte zwinkernd. Hasard hob den Daumen und deu tete zum Schott. „Raus", sagte er. „Du erzählst sonst noch schlimmere Sachen." Kichernd bewegte sich Old Done gal aus der Kammer. Hasard nickte Little John freund lich zu und sagte: „Wir warten, bis euer Zeug wieder trocken ist. Viel leicht setzt der starke Wind schneller ein, als wir meinen. Dann bleibt ihr heute nacht bei uns. Wir versuchen, die ,Discoverer' zu erreichen, damit wir euren Eltern mitteilen können, daß ihr beide lebt. Sie sind in Sorge, denke ich. Aber wir sind schon auf dem Weg." „Danke, Sir", wiederholte Little John. „Mein Vater ist Schmied. Der beste, sagten sie im Dorf." „Glaube ich. Du wirst uns erzählen, was bei euch auf dem Schiff wirklich passiert."
Die dunkelblauen Augen des Jun gen schienen zu strahlen. Seine Aus sprache war noch immer undeutlich, weil sich sein Körper noch nicht wie der ganz erwärmt hatte. „Ich habe viel gesehen. Und viel ge hört, Sir. Das ist ein Teufelsschiff, sagt der Mann mit der Bibel, der bei uns hinter der Kanone schläft. Der Kapitän ist der Schlimmste. Und, Sir, ich glaube, der Kleine ist krank." „Wir kümmern uns um ihn. Unser Feldscher ist auch der beste, wie dein Vater", sagte Hasard. „Und jetzt trink deinen Tee." Er nickte Little John zu und beweg te sich in den nächsten Raum. Der Kutscher mischte gerade ein Schlaf mittel löffelweise in den Tee für den Kleinen. „Kannst du etwas sehen, Kut scher?" fragte Hasard. „Sein Bruder meint, er sei krank. Schlimm kann es wohl nicht sein." „Aber es kann schlimm werden", sagte er Kutscher entschlossen. „Ner venfieber, Sir. Im ersten Stadium. Ich kann ihn heilen, aber er muß ein paar Tage an Bord bleiben." „Das läßt sich einrichten." Innerlich zuckte der Seewolf zu sammen. Ein kräftiger Tee, eine heiße und fette Suppe, viel Ruhe - da für stand der Kutscher gerade. Er würde den Kleinen richtig behan deln. In einer halben Stunde schlief Roebuck tief und traumlos. „Binde ihn fest. Heute nacht geht's wieder rund", murmelte Hasard. „Und dann sprechen wir über die ,Discoverer'. Wenn schon der Kleine hier sich am Nervenfieber angesteckt hat, dann breitet sich die Krankheit unter Deck vermutlich mit Riesen schritten aus." „Vermutlich. Später, Sir, ja." „Natürlich." Der Kutscher, ruhig und mit hochgezogenen Augenbrauen, füt
60 terte den Kleinen, der nach und nach zu zittern aufhörte. Er trank zwei Be cher von dem einschläfernden Tee. Leichtes Fieber, stellte der Feldscher fest. Und einige andere Anzeichen des beginnenden Nervenfiebers. Es war leicht, ganz am Anfang etwas da gegen zu tun und den Kleinen zu ret ten, als wäre nichts gewesen. Er wartete, bis Roebuck die Augen zufielen, dann deckte er ihn kurz auf und untersuchte die Bauchhaut: keine Flecken. Nur Flohbisse und ent zündete Stellen. In der Kleidung, die er untersuchte, nachdem er Roebuck verschnürt und festgebunden hatte, fand er schwache Spuren der suppen artigen Ausscheidung und wußte, daß er recht hatte. Er berichtete Hasard alles und hörte zu, was Little John den schwei gend zuhörenden Seewölfen erzählte. Wenn den eigenen Eltern bekannt ge wesen wäre, wie aufgeweckt und neu gierig der Vierzehnjährige wirklich war, hätten sie ihn vermutlich festge bunden. Mit schwindender Stimme, unter brochen von einem gewaltigen Gäh nen, das ihm die Tränen in die Augen trieb, erzählte Little John, was er in den vergangenen Tagen und in den ruhigen Nächten gesehen, gehört und erfahren hatte: Die Flüche und Verwünschungen der Kartenspieler, die in der Kapi tänskammer viel Geld verloren hat ten. Der fette Koch und sein Schlan genfraß, der nur dann etwas taugte, wenn sich Mister Harris darum küm merte. Die Seeleute, die hinter den Frauen her waren. Die Auspeitschun gen wegen irgendwelcher Vergehen, von denen an Bord niemand wußte. Die Ratten, die nachts sogar an Deck herumhuschten. Der Raum voller Kranker, deren Stöhnen man durch das halbe Schiff hörte. Der Gestank
und die Maden, die aus dem Zwie back fielen. „Ein Höllenschiff, Dad", flüsterte Hasard junior. „Die meisten Kranken müssen sterben, wenn das stimmt." Er wußte, daß jene Seuche nur mit Mitteln bekämpft werden konnte, die es an Bord der Galeone nicht gab. Sie müßten an Land gebracht werden, voneinander getrennt, mit wertvoller Nahrung versorgt und in peinlicher Sauberkeit gehalten. Das war auch seinerzeit für die Überlebenden der Armada-Kämpfer die einzige Ret tung gewesen, ebenso für andere, un zählige Seeleute, die in diesen Jahren auf den engen, dreckigen Schiffen fuhren. Little John schlief schon halb, aber er murmelte weiter. „Die Seeleute helfen. Nicht alle. Nur ein paar, die auf Mister Harris hören. Den Kapitän sieht man fast gar nicht. Und niemand kümmert sich im Sturm um uns. Wir haben viel Angst..." Er gähnte noch einmal und schlief ein. In seinem Tee war kein Beruhi gungsmittel gewesen. Er war einfach müde und fühlte sich hier völlig si cher und geschützt. Eine völlig an dere Umgebung als auf der Galeone. Hasard sah zu, wie unter der Koje dicke Tampen hindurchgeschlungen und verknotet wurden. Vom Achterdeck sang der Ruder gänger aus: „Galeone in Rufweite. Keine Eile. Der Wind wechselt zum Sturm." „Alles klar", brummte Hasard. „Be vor der Tanz losgeht, können wir viel leicht noch ein paar Worte von Deck zu Deck brüllen. Ich gehe hinauf, Freunde." Little John war ein guter Beobach ter. Die Verhältnisse auf der „Disco verer" trieben offensichtlich unauf haltsam einem schlimmen Höhe punkt entgegen. Warum sollte der
62 Junge lügen? So bald wie möglich mußte Granville in seine Schranken verwiesen oder sogar abgesetzt wer den. Er, Hasard, brauchte nur einige stichhaltige Beweise. Er würde also nach dem Sturm sein Augenmerk besonders auf die Vor gänge an Bord der Galeone richten und eingreifen müssen. Er hielt sich auf dem schwankenden Deck an den Manntauen fest, enterte aufs Grä tingsdeck und blickte zur „Discove rer" hinüber. Die meisten Auswande rer waren unter Deck gebracht wor den. Nur Vater, Mutter und Tochter der Fletcher-Familie standen in der Kuhl und blickten, eng aneinander gepreßt, der nähergleitenden Sche becke entgegen. Hasard wartete eine gute Weile, bis sich die Schiffe einander auf Ruf weite genähert hatten. Der Ruf des Rudergängers war verfrüht gewesen. „Fletchers! Versteht ihr mich? Eure Kinder schlafen bei uns. Sie sind wohlauf. Wir bringen sie zurück, wenn sich die Wellen beruhigt ha ben." Hasard hatte aus Leibeskräften ge brüllt. Durch das Heulen des Sturmes verstand er: „Danke. Verstanden. Der Kleine hat Fieber. Danke, Kapitän!" „Wir heilen sein Fieber!" schrie der Seewolf. „Festhalten! Wird eine üble Nacht." „Verstanden." Die Fletchers winkten erleichtert. Hasard winkte zurück. Er warf einen Blick auf den Kompaß und die See. Der Wind wehte zur Zeit klar aus Ost, in dieser Nacht würde er schwerlich umschlagen. Für alle Schiffe bedeu tete dieser Umstand eine schnelle, im schlimmsten Fall verlustreiche Fahrt. Wenn es keinen ernsten Zwi schenfall gab, würden sie morgen auf ein stattliches Etmal zurückblicken können. Möglicherweise waren sie einen
Tag früher als errechnet vor der Kü ste Virginias. Das galt leider auch für die be waffnete Karavelle.
Um Mitternacht erreichte der Sturm seine größte Stärke. Unter dem kalten Mondlicht gab es nur we nig zu sehen. Aber das Wenige reichte, um auch erfahrenen Seeleu ten das Fürchten beizubringen. Der heulende Ostwind, der den Gischt waagerecht durch die Luft fegte und wie einen Hagel gegen Planken und Segel schmetterte, blieb stetig und er folgte nicht in anschwellenden Stö ßen oder Böen. Auf jedem Schiff wur den stehendes und laufendes Gut, jede Handbreit Holz, die Leinwand und die Blöcke bis weit über ihre Be lastungsgrenze hinaus strapaziert. Mit diesem Wind hätte die Schebecke in sieben Tagen Virginia erreicht, aber der Seewolf ließ in den ersten Nachtstunden das Großsegel bergen. Die Kapitäne der Galeonen schlos sen die Luken und ließen sie verschal ken. Bei Wind aus Osten, mit voller Fahrt, rauschten die Galeonen mit strahlenden Laternen durch die Nacht. Der Himmel riß auf, der Mond und eine Myriade scharfer, strahlender Sterne blinkten nach unten. Die Wel len waren nicht so hoch, daß die Schiffe in Gefahr gerieten, aber das Wasser schien sich in harten Stein verwandeln zu wollen. Der Sturm sang kreischend und heulend und übertönte nahezu alle anderen Ge räusche. Auch das Schreien, Fluchen, Beten und Wimmern der Menschen unter Deck, in der stinkenden Dunkelheit, auf den feuchten Lagern, von denen sie immer wieder hochgeschleudert wurden, war nicht zu hören.
63 Panik und Entsetzen erfüllten die Minuten und die Stunden. Jeder neue Atemzug eröffnete neuen Schrecken. Im Morgengrauen, nach einer un endlich langen Nacht, in der keiner an Bord auch nur eine Stunde Schlaf gefunden hatte, versuchte sich David Fletcher auf der „Discoverer" durch halbdunkle Gänge und vorbei an speienden, todkranken, erschöpften und besudelten Menschen, durch Räume, in denen das Inferno herrsch te, zum Kapitän vorzukämpfen. Es gelang ihm nach einer Art Irrgang durch das gesamte Schiff. Erschöpft, mit wundgeschlagenen Knochen, hielt er sich am Rahmen der Tür fest. Kapitän Granville saß halb angezo gen auf seiner Koje. Aus verquolle nen Augen musterte er den Eindring ling. „Was willst du?" fragte er. „Du bist doch dieser - dieser...?" „Fletcher, Sir. Ich bitte Sie um trok kene Decken und um die Hilfe aller Seeleute." „Hilfe? Für was? Gegen was?" Granville entsprach dem Bild, das David von zahllosen Erzählungen mittlerweile kannte. Aus seinem Mund drang eine sauer riechende Wolke. Offensichtlich hatte er seinen eigenen Schrecken mit einem Rausch erfolgreich bekämpft. „Ich spreche nicht einmal von den Gesunden. Aber wir haben Dutzende von Kranken. Sie wälzen sich im eige nen Kot und Erbrochenen. Sie ster ben, wenn nichts passiert." „Der Feldscher", röchelte der Kapi tän, „er wird sich um alles küm mern." „Ein Feldscher allein für so viele Kranke? Die Leute sterben, Kapitän! Es ist das Nervenfieber." „Aha! Nervenfieber. Woher weißt du Landratte, was Nervenfieber ist?" „Ich habe viele daran sterben se hen", erklärte David, der sich noch
immer beherrschte. Er wollte nicht am Großmast ausgepeitscht werden wie die anderen, die sich darüber auf geregt hatten, daß der Kapitän keine Befehle gab. „Trockene Decken wird man kaum finden. Alles ist naß. Bei dem ver fluchten Seegang kann der Koch nichts zubereiten. Schaffen wir die Kranken an Deck, holt sie sich die nächste Welle. Was schlagen Sie vor, Mister Landratte?" David schluckte eine andere Ant wort hinunter und erwiderte: „Ich bitte, daß alle Seeleute unter Deck ge schickt werden und uns, den Auswan derern, helfen. Mit Seewasser, mit trockenem Zeug, ganz einfach, damit wir nicht vom Ballast erschlagen wer den. Ich habe bis hierher elf Leute ge zählt, die sich Arme und Beine gebro chen haben." „Recht geschieht ihnen. Hätten lie genbleiben sollen." „Wollen Sie die Armen liegenlas sen? Die Brüche müssen geschient werden, verbunden..." David fürchtete sich jetzt. Er hatte nicht geglaubt, daß seine Angst nach dem ersten Sturm noch steigerungs fähig wäre. Aber jetzt drohten unter schiedliche Gefahren. Die des Sturms, Mastbruchs und Kenterns und die unter den Decksplanken: Ver letzungen, Krankheit und Siechtum. „Schon gut. Gehe zum Feldscher. Mister Harris wird sich um alles küm mern. Meine Männer meutern, wenn sie euch waschen und in den Schlaf wiegen müssen. Helft euch selbst. Schließlich seid ihr erwachsene Men schen. Oder nicht?" „Sollen wir die Laderäume plün dern, damit wir Essen und Decken er halten?" fragte David Fletcher scharf. „Ich werde sehen, was sich tun läßt. Geh jetzt. Der Sturm hat noch lange nicht aufgehört."
64
Bevor er zuschlug und sich selbst in Gefahr brachte, drehte sich David um und ging. Er fand einen Niedergang und ein offenes Luk im Windschat ten. An Deck war er, abgesehen von einigen Wachgängern in wasserfester Kleidung, völlig allein. Er klammerte sich ans Schanzkleid und an ein Manntau und holte tief Luft. Lang sam beruhigte er sich. Er blickte über das Wasser, das kalt zu kochen
schien, suchte mit den Augen die drei eckigen Segel der Schebecke und wartete darauf, bis ihm Kapitän Kil ligrew die Kinder zurückbringen und diesem verfluchten Halsabschneider zeigen würde, wie man ein Auswan dererschiff führt. David Fletcher mußte lange war ten. Aber er wartete, letzten Endes, nicht vergeblich...
Nächste Woche erscheint SEEWÖLFE Band 624
Cholera an Bord
von Burt Frederick In den späten Nachmittagsstunden nahm das Verhängnis an Bord der „Explorer" seinen Lauf. Zuerst starb Missis Gibbs. Sie hatte den ganzen Tag über keinen Laut der Klage von sich gegeben. Den Helfern war es so erschienen, als ob sie den Tod herbeigesehnt habe. Sie war ohne Hoffnung gewesen, nachdem ihr Mann an der Cholera gestorben war. Zwei fellos hatte sie sich gewünscht, ihm zu folgen. Kaum eine halbe Stunde nach ihrem Tod schloß auch Hugh Flanagan die Augen. Beide Leichen wurden in aller Eile der See über geben - und noch ahnten die anderen Kranken nicht, welchen teuflischen Plan die Schiffs führung der „Explorer" ersonnen hatte, um sich nicht ebenfalls anzustecken. Zwar gab sich Kapitän Arnos Toolan als der Frömmste der Frommen, und an Gebeten ließ er es nicht mangeln, aber wenn es um die eigene Gesundheit ging, kannte er kein Erbarmen...
ex libris
KAPTAIN STELZBEIN 2010
März 1988