K. Schneider E. Brinker-Meyendriesch A. Schneider Pflegepädagogik Für Studium und Praxis
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K. Schneider E. Brinker-Meyendriesch A. Schneider Pflegepädagogik Für Studium und Praxis
K. Schneider E. Brinker-Meyendriesch A. Schneider
Pflegepädagogik Für Studium und Praxis
2. überarbeitete und aktualisierte Auflage
Mit 50 Abbildungen und 34 Tabellen
Prof. Dr. K. Schneider
Norderfeld 26 26919 Brake Dr. E. Brinker-Meyendriesch
Martinikirchhof 5–6 48143 Münster Dr. A. Schneider
Zerrennerstr. 32 75172 Pforzheim
ISBN-10 3-540-25599-0 Springer Medizin Verlag Heidelberg ISBN-13 978-3-540-25599-4 Springer Medizin Verlag Heidelberg Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Springer Medizin Verlag Ein Unternehmen von Springer Science+Business Media springer.de © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2003, 2005 Printed in Germany Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Planung: Barbara Lengricht, Heidelberg Projektmanagement: Ulrike Niesel, Heidelberg Titelbild: deblik, Berlin SPIN 11012566 Satz: K. Detzner, Speyer Gedruckt auf säurefreiem Papier 22/2122/UN – 5 4 3 2 1 0
V
Geleitwort Motto: Der Mensch wird am Du zum Ich (M. Buber).
Dieses Wort des Philosophen Martin Buber besitzt Gültigkeit in der Lebenserfahrung jedes Einzelnen von uns. Zugleich findet sich sein Sinngehalt auch in allen Humanwissenschaften wieder, am deutlichsten wohl in der Pädagogik, die sich mit den speziellen Interaktionsprozessen auseinandersetzt, welche das Lehren und Lernen bestimmen. Hier hat sich in den letzten eineinhalb Jahrzehnten ein Wandel vollzogen, der insbesondere die Person und Funktion des Pädagogen betrifft. Er ist nicht länger der wissenskompetente Experte, der seine Lerner »mit Lösungen wie mit einem Reiseproviant ausstattet«, sondern er soll sie »zum ‘Reisen’ ermutigen, sie befähigen, die Chancen und Gefahren zu erkennen,die auf sie warten,ihnen Maßstäbe geben und Zuversicht in die eigenen Möglichkeiten …« (v. Hentig 1996, S. 12). Als »Reiseangebot« kann das vorliegende Fachbuch gelten, das, über einen engen pädagogischen Bezug hinaus, die Leserinnen und Leser durch das Labyrinth der theoretischen Ansätze in den verschiedenen Referenzdisziplinen der Pflegepädagogik führt. Ihre spezifischen Verknüpfungen mit der Integrationswissenschaft Pflegepädagogik werden sowohl theoretisch-fachwissenschaftlich als auch handlungsbezogen aufgearbeitet. Damit wird ihre Bedeutung für die unterschiedlichsten pflegepädagogischen Aufgabenbereiche erkennbar, die die traditionellen Arbeitsfelder der Aus-, Fort- und Weiterbildung überschreiten und, in innovativer Weise, neue, erweiterte Perspektiven in den noch weniger erschlossenen Gebieten Beratung, Entwicklung und Forschung aus dem Handlungsfokus von Pflegepädagogen und Pflegepädagoginnen beleuchten. Als »Reiseangebot« lädt der Band dazu ein, zunächst die erprobten Wege pflegepädagogischen Denkens und Wirkens zu betreten, um von dort aus selbstständig weiter zu experimentieren und den traditionellen Routen in der eigenen Lehr-,Beratungs-,Entwicklungs- oder Forschungspraxis neue individuelle Pfade hinzuzufügen.Als Anbieter verschiedener Touren und der für sie benötigten Ausrüstungen erschließt das Buch seinen Leserinnen und Lesern Zugangswege, die sie jedoch selbst ausgestalten müssen. Hierin liegt die Herausforderung, aber auch der Reiz der neuen,noch wenig bewanderten Arbeitsfelder auf einem sich permanent verändernden Gesundheitsmarkt. Ein interessiertes Fachpublikum, das sich vertieft mit pflegepädagogischen Fragestellungen auseinandersetzen möchte, das nach Anregungen für die Entwicklung eines eigenen, veränderten und zukunftsorientierten Blicks auf die Aufgaben von Pflegepädagogen sucht, das sich aber auch über bereits beschrittene Wege zur Klärung brennender Fragestellungen informieren möchte, findet in dem vorliegenden Werk eine Fülle von Anregungen, die Traditionelles mit Neuem verbinden.
Andrea Zielke-Nadkarni
Münster, im September 2002
Hentig, v H (1996) Behaltet bitte die Nerven! In: Kuenheim v H (Hrsg) Lust und Leid der Schule. ZEIT-punkte. Sonderdruck aus DIE ZEIT. Hamburg, Heft 2: 10–12
VII
Vorwort zur 2. Auflage Die Raschheit, mit der nach nicht einmal 2 Jahren die 2.Auflage unseres Buches gedruckt werden muss, zeigt uns mindestens zweierlei an: 4 Das Interesse an Bildung in den pflegepädagogischen Kreisen ist groß. 4 Das Buch ist rezipierbar. Beides freut uns gleichermaßen.Von beidem wünschen wir uns, dass es fortdauern und auch für die 2. Auflage Gültigkeit haben möge. Für diese 2.Auflage sind alle Beiträge von den Autoren bzw.Autorinnen durchgesehen und überarbeitet worden. Keine Veränderungen sind in folgenden Kapiteln vorgenommen worden: 4 Kapitel 7: Führen und Begleiten von Lern- und Arbeitsgruppen (Hannelore Muster-Wäbs); 4 Kapitel 10: Wie sich Wissenschaft ihr Wissens schafft (Jens Clausen); 4 Kapitel 12: Identitätsentwicklung, Reifungsprozesse und Lebenszyklus (Märle Poser); 4 Kapitel 13: Systemisches Pflegemanagement mit wachsender Zukunftsunsicherheit (Manfred Muster); Kleinere Überarbeitungen, Ergänzungen und Neuerungen sind in folgenden Kapiteln vorgenommen worden: 4 Kapitel 1: Pflege im Spannungsfeld von Wissenschaftlichkeit und Beruflichkeit (Margot Sieger); 4 Kapitel 2: Geschichte der Pflege (Horst Rüller); 4 Kapitel 3: Biographieforschung und Pflege (Kirsten Sander); 4 Kapitel 5: Das Lernfeldkonzept – zwischen theoretischen Erwartungen und praktischen Realisierungsmöglichkeiten (Kordula Schneider); 4 Kapitel 6: Orientierungshilfen für die Einführung von Handlungsorientierung (Kordula Schneider); 4 Kapitel 8: Lernen: Erklärungsprinzip eines Beobachters (Beate Blättner); 4 Kapitel 9: Lernen in Theorie und Praxis (Elfriede Brinker-Meyendriesch); 4 Kapitel 17: Entscheidungsunterstützung mit Hilfe der Kosten-Nutzwert-Analyse – Auswahl eines EDV-gestützten Schulverwaltungsprogramms (Sigrun Schwarz). 4 Kapitel 15: Aufnehmen,Verarbeiten,Speichern und Abrufen: Grundlagen der biologischen Informationsverarbeitung am Beispiel von Gehirn und Immunsystem (Friederike Störkel); 4 Kapitel 11: Ethische Grundlagen unserer Gesellschaft (Veit Thomas); 4 Kapitel 14: Widersprüchliche Botschaften: Wie viel Gesundheitssoziologie brauchen Pflegepädagoginnen, Pflegeexpertinnen und Pflegende? (Simone Kreher); 4 Kapitel 16: Public Health in Deutschland – Entwicklungen in der Forschung,der Lehre und Transfer in die Versorgungspraxis (Ulla Walter). Das Kapitel 18, »Die Ausbildung in den Pflegeberufen – ein Sonderfall« (Alfred Schneider), hat durch die neuen Gesetze für die Berufe in der Krankenpflege und in der Altenpflege sowie durch die Ausbildungs- und Prüfungsverordnungen einer grundlegenden Überarbeitung bedurft.
VIII
Vorwort zur 2. Auflage
Das Kapitel 4,»Personenzentrierte Beratung« (Michael Wörmann),wurde durch einen Aufsatz – »Beratung in der Pflege« – von Martina Harking, der stärker die pflegewissenschaftliche Position betont, ersetzt.
K. Schneider, E. Brinker-Meyendriesch, A. Schneider
Januar 2005 Brake, Münster, Pforzheim
IX
Vorwort der Herausgeber Dieses Buch richtet sich an Studierende, Pflegepädagoginnen/Pflegepädagogen und Pflegelehrer bzw.Pflegelehrerinnen sowie Hochschullehrende und alle anderen Interessierten im Bildungs- und Gesundheitsbereich. Es soll einen weiteren Beitrag leisten für die sich seit etwa zehn Jahren entwickelnde Pflegepädagogik, die sich mit der Verwissenschaftlichung und Akademisierung der Pflege als eigene Teildisziplin auf der Nahtstelle von Pflegewissenschaft und Pädagogik/Berufsfelddidaktik herausgebildet hat. Unter dem Druck des Wandels im Sozial- und Gesundheitswesen und den Veränderungswünschen der Pflegenden und Pflegepädagogen selbst sind in den letzten Jahren zahlreiche pflegepädagogische Studiengänge entstanden mit je unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen.Entsprechend haben sich bis heute,eher praxis- und berufsgelenkt,verschiedene Arbeitsfelder von Pflegepädagoginnen und Pflegepädagogen herausgebildet. An erster Stelle ist der Bereich »Ausbildung« zu nennen.Nach der Altenpflege steht in neuerer Zeit auch die Eingliederung der Kranken- und Kinderkrankenpflege in das klassische Berufsbildungssystem zur Debatte. Es werden bundesweite Umwandlungen der Pflegeschulen bzw.Fachseminare in Berufsfachschulen bzw.Fachschulen diskutiert,wie es bislang in einigen Bundesländern schon der Fall ist.Andere Überlegungen gehen dahin,die Grundausbildung der Pflegeberufe an Fachhochschulen mit dem akademischen Grad »Bachelor« abzuschließen. Ferner hat die »Fort- und Weiterbildung« für in der Pflege Tätige einen hohen Stellenwert. Der Bedarf ist angesichts vielfältiger Veränderungen eklatant und durchzieht alle Teilgebiete der Pflege, der Pflegepädagogik selbst und des Pflegemanagements. Nicht erst seitdem der Wandel im Sozial- und Gesundheitswesen einen Anpassungsbedarf besonders dringlich belegt, messen auch Pflegende und Pflegepädagogen der Fort- und Weiterbildung einen hohen Stellenwert bei. Noch bis vor einigen Jahren wurde der Qualifikationsbedarf von Pflegenden innerhalb ihres gesamten Berufslebens nur auf diese Weise gedeckt. Arbeitsfelder, in denen es um Entwicklungsaufgaben, Forschung und Evaluation geht sowie um Beratungstätigkeiten, gehören eher zu den neueren und zukunftsorientierteren Aufgabenfeldern von Pflegepädagogen. Beratungen sind von jeher Aufgabe von Pflegepädagogen gewesen, insbesondere im Hinblick auf die lehrende Tätigkeit. Die Bedarfe gehen aber darüber hinaus, denn für die Zuschneidung neuer Aufgabensegmente und ihrer Institutionalisierung werden jetzt die Weichen gestellt.Diese vielgestaltigen Prozesse bedürfen beratender Begleitung durch ausgebildete und erfahrene Pflegepädagogen. «Ausbildung« sowie »Fort- und Weiterbildung« sind in der langen Tradition der Pflege als Arbeitsfelder bereits vor der Verwissenschaftlichung Gegenstandsbereiche gewesen. Daran kann die »neue und erweiterte« Pflegepädagogik anschließen. Diesen Anschluss gilt es, für die bereits Berufstätigen herzustellen und eine größere Partizipation der fachlichen sowie wissenschaftlichen Ressourcen der eigenen und naheliegenden Disziplinen zu befördern. Pflegepädagogisch zu wirken bedeutet somit, auf Hochschulebene mit den nachwachsenden Studierenden zukunftsorientiert und konstruktiv zu arbeiten und gleichzeitig bzw. gleichermaßen den Zusammenschluss mit den bereits pflegepädagogisch Tätigen zu forcieren. Insofern geht es hier um Innovation und Tradition gleichzeitig, denn Pflegepädagogik ist nicht losgelöst zu sehen von den Personen, die schon lange in den Arbeitsfeldern tätig sind und nun die rasante Entwicklung mit aufgreifen wollen, ja, sie eigentlich wesentlich mit angestoßen haben. Vor allem fordern die gegenwärtigen Entwicklungen die Innovationskraft der Pflegepädagoginnen und Pflegepädagogen dort heraus,wo es darum geht,fachlich fundierte Konzepte zu entwickeln,sie umzusetzen und zu legitimieren. Nur wenn die Berufsangehörigen der
X
Vorwort der Herausgeber
Pflege dies selbst und aus dem reflektierten Selbstverständnis ihres Berufes heraus tun, können sie ihre wichtige Stellung im »Chor« der anderen Berufe des Sozial- und Gesundheitswesens ausweiten und qualitätsvoll behaupten. Der Begriff Pflegepädagogik transportiert zwei Bedeutungen, die miteinander verbunden sind: Pflege und Pädagogik. Während die Pädagogik bzw. die Erziehungswissenschaft bereits über eine längere wissenschaftliche Tradition verfügt, befindet sich die Pflegewissenschaft im fortgeschrittenen Anfangsstadium, wenngleich sie schon vielerlei Ergebnisse und Erkenntnisse vorweisen kann. Die Pflegepädagogik kann somit von der bereits etablierten Erziehungswissenschaft und ihren Teilgebieten profitieren und gleichzeitig den noch weitgehend offenen Raum der Pflegewissenschaft mit gestalten und ausfüllen.Der Pflegepädagogik obliegt somit all das, was an Denk- und Arbeitsfeldern für sie vorstellbar ist und wessen sie sich zuwendet und annimmt. Beide Basiswissenschaften nutzen überdies hinaus weitere Bezugswissenschaften und deren Erkenntnisse und Technologien. Das vorliegende Lehrbuch beinhaltet 18 Themenfelder, wobei deren Abfolge der Darstellung in . Abb. 0.1 folgt. Zu Beginn wird der Fokus auf die Pflegewissenschaft mit vier zentralen Fragestellungen gelegt, gefolgt von der zweiten Basiswissenschaft Pädagogik/Berufsfelddidaktik mit fünf Aufsätzen von verschiedenen Autorinnen. Die verbleibenden neun Themengebiete sind den unterschiedlichen Bezugswissenschaften gewidmet, die wichtige Erkenntnisse und Beiträge für die Pflegepädagogik leisten. Das vorliegende Buch wurde von uns so konzipiert, dass es den fachwissenschaftlichen Standards entspricht, aber gleichzeitig eine handlungsorientierte Rezeption erlaubt. Dies war eine wichtige Richtlinie für uns, denn für die Aufnahme und Anwendung des Wissens ist es immer entscheidend, ob es gelingt, eine Brücke zur beruflichen Praxis zu schlagen. So hat uns der Gedanke getragen, dass es sich hier nicht lediglich um eine Sammlung von Aufsätzen mit Faktenwissen aus verschiedenen Fachgebieten handeln kann, sondern dass der Bezug zum Beruf erfahrbar wird. Diese Ansprüche haben wir eingelöst, einerseits mit einer bewussten
. Abb. 0.1. Aufbau des Buches
XI Vorwort der Herausgeber
Steuerung der Beiträge durch die Festlegung von Basis- und Bezugswissenschaften der Pflegepädagogik und andererseits durch eine von uns vorgegebene allgemeine Struktur der Beiträge selbst. In der sinnvollen Konsequenz hat diese Herangehensweise bedeutet, dass jeder der 18 Beiträge dieses Buches fachwissenschaftliche mit pädagogisch-didaktischen Aspekten in folgender Weise vernetzt: 4 Am Anfang eines jeden Beitrags stehen entweder ein Fall, ein Problem oder z. B. Thesen, die den gedanklichen Einstieg erleichtern. 4 Im nächsten Schritt formulieren alle Autoren und Autorinnen berufliche Handlungskompetenzen, die mit der Rezeption des jeweiligen Beitrags erworben werden können. Diese sind dabei untergliedert in die Basiskompetenzen: Fach-, Personal- und Sozialkompetenz und in die instrumentellen Kompetenzen: Methoden- und Lernkompetenz sowie kommunikative Kompetenz. 4 Anschließend folgt die Praxisrelevanz. Hier wird entweder von den Autoren die Bedeutsamkeit bzw. Brisanz der Thematik für die Praxis skizziert oder es werden Arbeitsfelder für die jetzt tätigen und zukünftigen Pflegepädagogen vergegenwärtigt. 4 Eine grafische Darstellung der kognitiven Struktur jedes Beitrages, die so genannte Verfahrensstruktur, wurde aufgenommen. Sie erlaubt und ermöglicht es dem Leser, den Gedankengang der Autorin/des Autors nachzuvollziehen und die innere Logik des gesamten Beitrags vor seinem geistigen Auge Revue passieren zu lassen. Hier kann es sich um unterschiedliche Formen der graphischen Darstellung wie z. B. Flussdiagramme, Mind Maps oder Ursache-Wirkung-Diagramme handeln. 4 Empfehlungen zum Weiterlernen werden gegeben. Dazu wird grundlegende, weiterführende oder spezielle Literatur empfohlen,die teilweise auch kommentiert wird.Des weiteren werden Internetadressen angegeben oder besonders empfehlenswerte Medien und Materialien herausgestellt. 4 Methodische Vorschläge für eine Seminargestaltung sind zu finden,welche beispielhaft zeigen, wie diese Thematik seminaristisch umgesetzt werden kann. 4 Die zuvor beschriebenen pädagogisch-didaktischen Aspekte finden sich in jedem Aufsatz wieder und binden sozusagen den zentralen fachwissenschaftlichen Teil eines jeden Beitrages ein. Dieser thematisch-fachliche Teil wird jedem Aufsatz in Form einer Gliederung vorangestellt. Am Ende des fachwissenschaftlichen Teils findet sich eine kurze und prägnante Zusammenfassung der Thematik. Beendet wird der Aufsatz durch ein Literaturverzeichnis, das die verwendete Literatur ausweist. Wir möchten Frau Hartmann vom Springer-Verlag für die sachkundige und konstruktive Begleitung und Beratung danken. Darüber hinaus möchten wir uns bei Herrn Elmar Burbank (Student der Pflegepädagogik, 5. Sem.) und Herrn Dipl.-Pflegepädagogen Stefan Albersmann für die Formatierung der Texte, ihre formale Zusammenführung und für Redigierungsarbeiten bedanken. Ebenso gilt unser Dank Herrn Heinz Rüller, der mit großer Sorgfalt die Texte Korrektur gelesen hat. In diesem Buch sind sprachlich die weibliche und die männliche Form genutzt worden. In beiden Fällen ist die jeweils nicht genannte Form mitgemeint.
K. Schneider, E. Brinker-Meyendriesch, A. Schneider
Brake, Münster, Pforzheim, 2002
XIII
Inhaltsverzeichnis 1
Pflege im Spannungsfeld von Wissenschaftlichkeit und Beruflichkeit . . . . . . . . . .
5 1
Margot Sieger 1.1
Pflege auf dem Weg zur Wissenschaft
1.2
Lern- und Handlungsfeldorientierung in den Pflegeausbildungen . . . . .
9
1.3
Von der Pflegesituation zum Lernfeld
11
2
Geschichte der Pflege . . . . . . .
19
2.1 2.2 2.3
3
79
Kordula Schneider
2 5.1 5.2
5.3
Horst Rüller
Das Lernfeldkonzept – zwischen theoretischen Erwartungen und praktischen Realisierungsmöglichkeiten . . . Entstehungshintergründe des Lernfeldkonzeptes . . . . . . . .
83
Der strukturelle und curriculare Zusammenhang zwischen Handlungsfeldern, Lernfeldern und Lernsituationen . . . . . . . . .
86
Perspektivenwechsel durch das Lernfeldkonzept . . . . .
88
Die vier wesentlichen Bestandteile des Lernfeldkonzeptes . . . . . . . .
90
Überlegungen zur Darstellung der Pflegegeschichte . . . . . . . . .
21
5.4
Sechs Entwicklungslinien einer thematischen Pflegegeschichte
23
5.5
Darstellung der Pflegegeschichte . .
25
Der Weg vom lernfeldstrukturierten Rahmenlehrplan bis zur didaktischen Umsetzung der Lernsituationen . . . 100
5.6
Probleme der verschiedenen Implementierungsebenen . . . . . . 102
6
Orientierungshilfen für die Einführung von Handlungsorientierung . . . . . . . . . . . . 115
Biographieforschung und Pflege
37
Kirsten Sander 3.1 3.2 3.3
4
Biographien als Forschungsgegenstand . . . . . . . . . . . . . .
39
Das biographisch-narrative Interview als Forschungsmethode . . . . . . .
43
Biographieforschung in der Pflege .
49
Beratung in der Pflege – Annäherungen an einen für das Handlungsfeld der Pflege spezifischen Zugang .
Kordula Schneider
59
6.1
Was ist handlungsorientierter Unterricht? . . . . . . . . . . . . . . 117
6.2
Welche Entwicklungsschritte bzw. Phasen sind für die Einführung von Handlungsorientierung wichtig?
7
Martina Harking 4.1
Beratung in der Pflege . . . . . . . .
4.2
Beratung – ein dehnbarer Begriff mit mehrdeutigem Inhalt . . . . . .
65
4.3
Komponenten von Beratung . . . . .
70
4.4
Beratung und Edukation . . . . . .
72
4.5
Rückblick und Ausblick . . . . . . .
74
126
Führen und Begleiten von Lernund Arbeitsgruppen . . . . . . . 147 Hannelore Muster-Wäbs
61 7.1
Menschenbild und Grundhaltung als Basis für die Begleitung von Gruppen . . . . . . . . . . . . . 148
7.2
Handlungsleitende Modelle und Konzepte für das Führen und Anleiten von Gruppen . . . . . 151
XIV
Inhaltsverzeichnis
7.3
Aufgaben der Leitung in den einzelnen Phasen der Gruppenentwicklung . . . . . . 157
11.3
Wer ist der Mensch: Anthropologie . 255
11.4
Die unvollendete Ethik unserer Marktgesellschaft: Der Liberalismus . . . . . . . . . . 258
11.5
Die Menschenwürde als höchstes Gut 260
11.6
Modelle ethischer Legitimation . . . 264
Beate Blättner
11.7
8.1
Wovon sprechen wir eigentlich, wenn wir von Pädagogik, von Lernen oder von Wissen sprechen? . . . . . 170
Ethische Lösungsfindung durch Herrschaftsfreiheit . . . . . . 265
11.8
Ethisch-rechtlicher Frageleitfaden für Handlungskonflikte . . . . . . . 266
8.2
Wie erklären sich Beobachter Lernen? . . . . . . . . . . . . . . . 182
11.9
Liste existierender ethischer Grundwerte . . . . . . . . . . . . . 266
8.3
Wie verändert sich die pädagogische Praxis durch theoretische Einsicht? . 192
12
Identitätsentwicklung, Reifungsprozesse und Lebenszyklus . . . . . . . . . 271
7.4
Persönliche Anmerkungen . . . . . 164
8
Lernen: Erklärungsprinzip eines Beobachters . . . . . . . . . 167
9
Lernen in Theorie und Praxis unter konstruktivistischer und systemtheoretischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . 197
Märle Poser 12.1
Auswahl der entwicklungspsychologischen Phasenmodelle . . 273
12.2
Entwicklungs- und Reifungsprozesse im Zeitverlauf . . . . . . . . . . . . 277
13
Systemisches Pflegemanagement mit wachsender Zukunftsunsicherheit . . . . . . . . . . . . 293
Elfriede Brinker-Meyendriesch 9.1
Strukturelle Gegebenheiten – Bildungssystem . . . . . . . . . . . 199
9.2
Lernen unter konstruktivistischer und systemtheoretischer Perspektive 200
9.3
Schwerpunkte theoretischen und praktischen Lernens – Ausblick
209
Manfred Muster 13.1
Systemisches Pflegemanagement als Handlungsstrategie . . . . . . . 295
Jens Clausen
13.2
10.1
Wissenschaftstheoretische Grundsätze . . . . . . . . . . . . . 217
Klärungsprozesse bei Führungspersonen . . . . . . . 302
13.3
10.2
Skizzen zu verschiedenen wissenschaftstheoretischen Ansätzen 226
Die Strategie der lernenden Organisation als Antwort auf die Dynamik sozialer Systeme . . . . . . 308
10.3
Hinweise zum wissenschaftlichen Arbeiten . . . . . . . . . . . . . . . 237
14
Widersprüchliche Botschaften: Wie viel Gesundheitssoziologie brauchen Pflegepädagoginnen, Pflegeexpertinnen und Pflegende? . . . . . . . . . . . . . 319
10
11
Wie sich die Wissenschaft ihr Wissen schafft . . . . . . . . . 215
Ethische Grundlagen unserer Gesellschaft . . . . . . . 247 Veit Thomas
11.1
Die philosophische Ethik . . . . . . 249
11.2
Ethik und Recht . . . . . . . . . . . 253
Simone Kreher 14.1
Gesellschaftliche Erwartungen und Haltungen gegenüber der Soziologie
321
XV Inhaltsverzeichnis
14.2
Interaktion mit Schwerkranken und Sterbenden (Grounded Theory)
17.7
Ermittlung der Kosten nach der Kostenvergleichsrechnung . 381
322
14.3
Was heißt denn schon Gesundheit? (Wissenssoziologische Ansätze) . . . 325
17.8
Entscheidung mit Hilfe der Dominanzbetrachtung . . . . . 384
14.4
Pflege und Pflegende in den Netzwerken flexibler Gesellschaften (Gesellschaftstheoretische Konzepte)
17.9
Durchführung von Sensitivitätsanalysen . . . . . . 385
17.10
Kritische Reflexion des Verfahrens . 385
18
Die Ausbildung in den Pflegeberufen – ein Sonderfall . 391
15
328
Aufnehmen,Verarbeiten, Speichern und Abrufen: Grundlagen der biologischen Informationsverarbeitung am Beispiel von Gehirn und Immunsystem . . . . . . . . 333
Alfred Schneider 18.1
Rechtliche Situation in der Pflegeausbildung . . . . . . . 392
18.2
Gesetzgebungskompetenz für die Ausbildung in den Pflegeberufen . . . . . . . . . 396
18.3
Das duale Bildungssystem . . . . . . 397
18.4
Gemeinsamkeiten und Unterschiede: Duale Ausbildung und Ausbildung in den Pflegeberufen . . . . . . . . . 397
18.5
Pflegeausbildung »sui generis« und ihre Problemfelder . . . . . . . 406
Friederike Störkel 15.1
Das Gehirn . . . . . . . . . . . . . . 336
15.2
Das Immunsystem . . . . . . . . . . 347
16
Public Health in Deutschland – Entwicklungen in der Forschung, der Lehre und Transfer in die Versorgungspraxis . . . . . 357 Ulla Walter, Martina Plaumann
16.1
Was ist Public Health? . . . . . . . . 358
16.2
Entwicklung und Konsolidierung von Public Health in Deutschland . . 362
17
Entscheidungsunterstützung mit Hilfe der Kosten-NutzwertAnalyse – Auswahl eines EDV-gestützten Schulverwaltungsprogramms . . 371 Sigrun Schwarz
17.1
Vorgehen der Kosten-NutzwertAnalyse . . . . . . . . . . . . . . . 373
17.2
Auswahl der Entscheidungskriterien
17.3
Bestimmung der Kriteriengewichte . 374
17.4
Suche nach relevanten Alternativen . 376
17.5
Bewertung der Alternativen . . . . . 378
17.6
Nutzwertermittlung . . . . . . . . . 380
374
Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . 411
XVII
Autorenverzeichnis Blättner, Beate
Plaumann, Martina
Sieger, Margot
Prof. Dr. phil. FH Fulda Fachbereich Pflege und Gesundheit Marquardtstr.35 36039 Fulda
Prof. Jägerstr. 3–5 45525 Hattingen
Dr. Martinikirchhof 5–6 48143 Münster
Dipl. oec. troph., MPH Medizinische Hochschule Hannover Prävention und Rehabilitation in der Systemund Versorgungsforschung Stiftungslehrstuhl Abt. Epidemiologie, Sozialmedizin und Gesundheitssystemforschung 30625 Hannover
Clausen, Jens
Poser, Märle
Melcherstr. 41 48149 Münster
Prof. Dr. Hochhauser Str. 25 26121 Oldenburg
Brinker-Meyendriesch, Elfriede
Störkel, Friederike
Prof. Dr. Fachhochschule Münster, Fachbereich Pflege 12 Röntgenstr. 7–9 48149 Münster Veit,Thomas
Walter, Ulla
Harking, Martina
Leopoldstraße 32 58089 Hagen
Rüller, Horst
Norderfeld 26 26919 Brake
Kreher, Simone
Prof. Dr. FH Neubrandenburg, Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit Brodaerstr. 2 17033 Neubrandenburg Muster, Manfred
Dipl.-Psych. Kirchenstr. 9 22848 Norderstedt Muster-Wäbs, Hannelore
Dipl.-Hdl. Kirchenstr. 9 22848 Norderstedt
Dr. Landgrafenstraße 105 50931 Köln
Sander, Kirsten
Mathildenstr. 92 28203 Bremen Schneider, Alfred
Dr. Zerrennerstr. 32 75172 Pforzheim Schneider, Kordula
Prof. Dr. Norderfeld 26 26919 Brake Schwarz, Sigrun
Prof. Dr. FH Münster Röntgenstr. 7–9 48149 Münster
Prof. Dr. Medizinische Hochschule Hannover Prävention und Rehabilitation in der Systemund Versorgungsforschung Stiftungslehrstuhl Abt. Epidemiologie, Sozialmedizin und Gesundheitssystemforschung 30625 Hannover
XIX
Kurzbiografie der Autoren Prof. Dr. phil. Beate Blättner
Prof. Dr. Simone Kreher
Studium in Erziehungswissenschaften mit Schwerpunkt Erwachsenenbildung in Bamberg (Dipl. päd.) und Hannover (Dr. phil.) 12 Jahre leitende Tätigkeiten in der Erwachsenbildung in Niedersachsen mit den Schwerpunkten Gesundheitspädagogik und Berufspädagogik für Gesundheitsberufe. Seit 2003 Professorin für Gesundheitsförderung und Studiengangsleitung für die Studiengänge Pflegemanagement, Gesundheitsmanagement und Public Health an der Fachhochschule Fulda.
Studium der Soziologie in Leipzig.Seit 1999 Professorin für Soziologie und Gesundheitssoziologie, Fachhochschule Neubrandenburg,Fachbereich soziale Arbeit und Gesundheit, Studiengänge: Pflegewissenschaft/Pflegemanagement und Gesundheitswissenschaften.
Dr. päd. Elfriede Brinker-Meyendriesch
Krankenschwester, Erziehungswissenschaftlerin; Lehramtsstudium,Promotionsstudium Soziologie; Tätigkeiten in Ausbildung,Fort- und Weiterbildung sowie Hochschulbildung der Pflege und Pflegepädagogik; Selbstständigkeit in Bildung, Forschung, Evaluation im Gesundheitswesen sowie wissenschaftliche Begleitung bei der Fachhochschule Münster im Rahmen von Projekten.
Manfred Muster
Diplom-Psychologe in den Fachgebieten Arbeitsund Organisationspsychologie, Kommunikationspsychologie und Wirtschaftsmediation. Geschäftsführer der IG Metall Bremen. Seit zwei Jahren als freiberuflicher Unternehmens- und Organisationsberater tätig. Hannelore Muster-Wäbs
Diplom-Handelslehrerin,Hauptseminarleiterin im Staatlichen Studienseminar für die Lehrämter an Hamburger Schulen – Abteilung Berufliche Schulen. Lehrbeauftragte an der Fachhochschule Münster im Fachbereich Pflegepädagogik für »Gruppenpädagogik«.
Jens Clausen
Studium der Germanistik, Geschichte und Erziehungswissenschaften in Hamburg, York (GB) und Freiburg i. Br.; Dozent für psychiatrische Pflege in Hamm/Westf. und an der Evangelisch-sozialpädagogischen Ausbildungsstätte in Münster; Lehrbeauftragter der FH Münster, Fachbereich Pflege.
Martina Plaumann
Dipl. Oecotrophologin, Postgraduiertenstudium zum Master of Public Health (MPH). Seit 2003 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Medizinischen Hochschule Hannover. Prof. Dr. phil. habil. Märle Poser
Martina Harking
Diplom-Pflegewissenschaftlerin (FH) Studienschwerpunkte: Pflegewissenschaft, Forschung und Beratung.Derzeit tätig als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Institut Pädea in Münster. Lehrerin für Pflegeberufe, Fachkrankenschwester für Intensivpflege und Anästhesie,Krankenschwester.Langjährige Berufstätigkeit in der stationären und ambulanten Pflege sowie in der pflegerischen Aus-, Fortund Weiterbildung.
Studium der Sozialpädagogik und der Sozialwissenschaften, Ausbildung als Psychoanalytikerin. Professorin für Personalwirtschaft an der Fachhochschule Münster im Studiengang Pflegemanagement. Horst Rüller
2. Staatsexamen für Sekundarstufe I/II, Münster, Geschichte und Geographie; Leiter des Bildungszentrums für pflegerische Berufe am Erwin-StaussInstitut in Bremen.Seit 1999 Leitung der Redaktion des Prodos-Verlages in Brake/Unterweser.
XX
Bibliografie der Autoren
Kirsten Sander
Prof. Dr. Friederike Störkel
Dipl.-Pädagogin, Schwerpunkt Erwachsenenbildung und Biographieforschung; Bremer Studienpreis 2000.Seit August 2000 wissenschaftliche Mitarbeiterin Universität Osnabrück.
Studium der Humanmedizin und der Gesundheitswissenschaften in Mainz und Düsseldorf und Promotion in Medizin.Professorin am Fachbereich Pflege der Fachhochschule in Münster. Lehrgebiete: Naturwissenschaftliche Grundlagen der Pflege; Gesundheitswissenschaften – Public Health.
Dr. jur. Alfred Schneider
Rechtsanwalt, Schwerpunkt Medizinrecht, Lehrbeauftragter an der Fachhochschule Münster, Fachbereich Pflege, Autor des Lehrbuches Staatsbürger-, Gesetzes- und Berufskunde für Fachberufe im Gesundheitswesen, Mitherausgeber der Loseblattsammlung Hygiene und Recht (HuR). Prof. Dr. phil. Kordula Schneider
Dipl.-Oecotrophologin und Berufsschullehrerin. Seit 1996 Professorin an der Fachhochschule Münster, Studiengang Pflegepädagogik mit dem Lehrgebiet: Erziehungswissenschaften. Prof. Dr. Sigrun Schwarz
Studium der Betriebswirtschaftslehre an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Seit Mai 1998 Professorin für Betriebswirtschaftslehre an der Fachhochschule Münster, Fachbereich Pflege. Prof. Margot Sieger
Jahrgang 1944, Krankenschwester, Lehrerin für Pflegeberufe, Dipl.-Pädagogin, Schwerpunkt Erwachsenenbildung von 1995 bis 2005 – Professorin für Pflegewissenschaft, Evangelische Fachhochschule Rheinland – Westfalen – Lippe in Bochum, Fachbereich Pflege.
Dr. phil. Veit Thomas
Jahrgang 1958,Studium der Philosophie,Germanistik, Geschichte; Promotion; Studium der Musik, Staatsexamen; Monographien zur Wirtschaftsethik der Menschenrechte, zur Rechtsphilosophie und Ethik der Menschenwürde. Lehrbeauftragter FH Dortmund – Lehrer für Philosophie. Univ. Prof. Dr. phil. Ulla Walter
2. Staatsexamen für Biologie und Geographie, Sekundarstufe II. Habilitation 2001, venia legendi in Public Health. 2004 Berufung auf den Stiftungslehrstuhl »Prävention und Rehabilitation in der System- und Versorgungsforschung” an der Medizinischen Hochschule Hannover.
1 Pflege im Spannungsfeld von Wissenschaftlichkeit und Beruflichkeit Margot Sieger 1.1
Pflege auf dem Weg zur Wissenschaft
1.1.1
Warum will Pflege Wissenschaft sein?
1.1.2
Impulse zur Entwicklung
1.1.3
Pflegewissenschaft und Alltagshandeln
1.2
Lern- und Handlungsfeldorientierung in den Pflegeausbildungen 9
1.2.1
Curriculare Entscheidung
9
1.2.2
Didaktische Orientierung
9
1.3
Von der Pflegesituation zum Lernfeld
1.3.1
Ziele
1.3.2
Eine begleitete Pflegesituation im Hospiz
1.3.3
Didaktische Bearbeitung
2
2
5 8
11
11 14
12
2
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Kapitel 1 · Pflege im Spannungsfeld von Wissenschaftlichkeit und Beruflichkeit
> Thesen 5 1. Das Fachgebiet der Pflege beeinflusst entscheidend die Perspektive der Lehre und die Auswahl der Themen in allen relevanten Fächern/Fachgebieten im Kontext pflegeberuflicher Bildung. 5 2. In einem curricularen Aufbau nach Lernbzw. Handlungsfeldern sind die Themen und Fragestellungen der Pflege der Schlüssel, der didaktisch die interdisziplinär zu bearbeitenden Themen erschließt. 5 3. Pflege braucht zum Aufbau der Wissenschaft die Ergebnisse von Forschung, aber auch die Erfahrungen der professionell Pflegenden. 5 4. In einem curricularen Aufbau pflegerischer Bildungsgänge nach Lern- bzw. Handlungsfeldern liegt die Chance, didaktisch auf den Erfahrungsschatz der Pflegenden zurückzugreifen und in der Abstraktion der Lernfelder eine Systematisierung zu leisten.
3 Berufliche Handlungskompetenzen 2
Fachkompetenz Den Entwicklungsstand der Pflegewissenschaft und der Pflegepraxis kritisch reflektieren, um daraus Handlungsoptionen für die Pflege zu entwickeln.
2
Personalkompetenz Die eigene Berufsidentifikation im Kontext von Handlungssituationen stärken, indem die Komplexität pflegerischen Handelns erschlossen wird.
2
Methodenkompetenz Den Transfer pflegewissenschaftlicher Erkenntnisse in das Pflegehandeln einleiten.
3 Praxisrelevanz Aufgrund der gravierenden Veränderungen im Gesundheits- und Sozialsystem stehen die Pflegeberufe unter einem enormen Modernisierungsdruck. Die pädagogisch Tätigen in den Schulen und Ausbildungsstätten sind gefordert, zukunftsweisende curriculare Veränderungen vorzunehmen. Dabei
nimmt das Fachgebiet der Pflege eine Schlüsselfunktion wahr.Hier zeigt sich,ob und in wie weit es gelingt, das zukünftige Profil der Berufe zu entwerfen, über dieses Fachgebiet die innere Bindung der Pflegenden an den Beruf zu stärken. Aber auch zu erreichen, dass die Balance zwischen Ansprüchen, die sich aus der Wissenschaftsentwicklung ergeben, und der Befähigung zum Alltagshandeln tragfähig wird. Langfristig wird daraus eine neue Struktur des Fachgebiets erwachsen. Hierin liegt der Reiz für die Lehrenden sich auf einen solchen Prozess der Veränderung einzulassen.
3 Verfahrensstruktur (. Abb. 1.1) 1.1
Pflege auf dem Weg zur Wissenschaft
1.1.1 Warum will Pflege Wissenschaft
sein? 4 Weil sie den umfassenden Handlungsbereich mit spezifischen Fragen erschließen und pflegerisches Handeln über wissenschaftlich fundierte Ansätze erklären und begründen will. 4 Weil sie sich von einem diffusen Beruf zu einer Profession mit einer klar umrissenen Zuständigkeit entwickeln will. 4 Weil sie, wie andere Berufe auch, Entwicklungschancen und Karriereoptionen braucht, um die Attraktivität des Berufes auch für die jungen Menschen zu steigern. 4 Weil die Pflegebedürftigen das Recht auf eine Pflege haben, die dem neuesten Stand der Wissenschaft entspricht. Über viele Jahrzehnte galt die Pflege in Deutschland als ein praktischer Beruf,der keinerlei Überhöhung durch eine Theorie bedurfte. Pflege war konzipiert zur Vor- und Nacharbeit sowie Assistenz einer sich rasant entwickelnden Medizin (Bischoff 1999; Mühlum et al. 1997). Diese Unterordnung der Pflege unter die Medizin vollzog sich mit der Einführung des ärztlichen Einheitsstandes 1852; dadurch wurde das Behandlungsmonopol der Medizin festgeschrieben (Mayntz 1988; Huerkamp 1985). Die Pflege war zu diesem Zeitpunkt religiös motivierte Pflege,sie ver-
3 1.1 · Pflege auf dem Weg zur Wissenschaft
1
. Abb. 1.1. Verfahrensstruktur
stand sich als Leib- und Seelenpflege und bedingte damit eine doppelte Unterordnung, einmal unter die Autorität des Arztes und zum anderen unter die Autorität des Geistlichen (Schaper 1987, S. 165; Sticker 1960). Damit erschöpft sich Pflege im handwerklichen Tun, ganz im Gegenteil, jedes
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Übermaß von Ausbildung und theoretischen Kenntnissen soll vermieden werden, zumal die Gefahr besteht, daß Krankenpfleger, die eine zu umfangreiche und zu vielseitige Ausbildung erfahren haben … zu Übergriffen in das Gebiet der Heilkunde neigen … (Drucksachen zu den Verhandlungen des Bundesraths des Deutschen Reiches, 1905, S. 2).
So sahen es die Gesetzgeber noch in ihren Beratungen zur ersten Prüfungsverordnung für Krankenpflegepersonen.Und da sich eh und je nicht ausreichend Menschen finden, die diesen Beruf erlernen wollen, muss die Eintrittshürde möglichst niedrig gehalten werden, so das politische Postulat (Drucksachen des Deutschen Reiches 1906; Bischoff 1999). Diese Argumentation, ausgehend von einem permanenten Personalmangel in den Pflegeberufen, bestimmt das Wechselspiel zwischen Qualifikationsanforderungen und Personalgewinnung bis heute.Vor dem Hintergrund dieser Argumentationen konnte in den Novellierungen zum Krankenpflegegesetz (1965/1985) eine Integration der Ausbildungen in das Regelbildungssystem der Länder nicht erreicht werden. Damit blieben auf der Bildungsentwicklungsseite der Pflege die normativen Möglichkeiten und Entwicklungen – ver-
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Kapitel 1 · Pflege im Spannungsfeld von Wissenschaftlichkeit und Beruflichkeit
bunden damit auch der gesellschaftliche Status – als Konsequenz einer weiterführenden Qualifizierung versperrt (Kurtenbach et al. 1986). Die jüngste Diskussion in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts um den Personalmangel in der Pflege hatte aber eine etwas andere Qualität. Neben der Feststellung des Missverhältnisses zwischen Personalmenge und erhöhtem Bedarf an Pflege konnte jedoch deutlich herausgearbeitet werden, dass es sich nicht ausschließlich um ein quantitatives Problem handelte, sondern mehr um ein qualitatives: Der Personalnotstand wurde prioritär als ein Bildungsnotstand identifiziert (Zander 1993). Damit wurden andere Antworten eingefordert als in den Jahren zuvor. Pflegende forderten Raum für eine eigene Entwicklung um den eigenen Handlungsbereich schärfer zu konturieren,um den gesundheitlichen Problemlagen der Bevölkerung mit einem fundierten Wissen begegnen zu können. Als eine zentrale Herausforderung für die Pflege sind die chronischen Krankheiten zu benennen, sie begleiten den Menschen ein Leben lang. Die phasenhaften Verläufe erfordern ganz unterschiedliche Formen von Pflege. Chronische Krankheiten ziehen oft andere Krankheiten nach sich, häufig als Nebeneffekt der Behandlung selbst (Hellige 2002, Corbin 1994). Eine solche Multimorbidität gerade im höheren Lebensalter verlangt ein höheres Maß an Begleitung, Beratung und Unterstützung der Pflegebedürftigen (Sieger 2001, Deppe 1980). Gerade der Bericht des Sachverständigenrates für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen weist sehr differenziert die Versorgungsdefizite nach und belegt eindrucksvoll die daraus resultierende Unter-,Über- und Fehlversorgung insbesondere chronisch Kranker (SVR 2000/2001). Nicht mehr zu ignorieren ist darüber hinaus die demographische Alterung, ein Prozess der Zunahme der Lebenserwartung bei gleichzeitiger Abnahme der Geburtenrate. Die Singularisierung der Gesellschaft damit einhergehend ein langsames Wegbrechen traditioneller Familienstrukturen,in Folge häufig auch ein Wegfall der gewohnten Pflegenetze. Damit rücken die Sicherung pflegerischer Versorgung von hochaltrigen und chronischkranken Menschen aus gesellschafts- und gesundheitspolitischer Sicht ins öffentliche Interesse, in Folge auch die Arbeit der Gesundheitsprofessionen, insbesondere auch die der Pflegenden. Der Strukturumbau
des Sozial- und Gesundheitssystems als politische Antwort auf diese Entwicklungen und auch als Antwort auf die ökonomischen Zwänge, denen sich die Gesundheitseinrichtungen ausgesetzt sehen, bringen die Pflege insgesamt unter einen Modernisierungsdruck. Sie verlangen von den Pflegenden eine erneute Reflexion über zukünftige Handlungsfelder, Handlungsbereiche, Arbeitsorganisation und Qualifikationen. Diese Vielfalt und Vielschichtigkeit der Entwicklungen mündete in eine enorme Aufbruchstimmung bei den Pflegenden, in einen produktiven Prozess der inneren Entwicklung, hier verstanden als beruflicher Reifeprozess und als Folge dieser öffentlich geführten Diskussion in eine politisch gewollte »Qualifizierungsoffensive« für die Pflegenden (Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales, NRW 1992; Mayntz 1989; Bock-Rosenthal 1999). Die neue Qualität in den Bildungsangeboten für Pflegende zeigte sich durch die Einrichtung von Pflegestudiengängen (Sieger 2001). Damit war für die Pflege ein Ort gefunden,die komplexe Problemlage in eine systematische Diskussion um eine wissenschaftliche Fundierung der Pflege, damit in einen Wissenschaftsaufbau und eine Wissenschaftsentwicklung zu überführen. Der Blick über die eigenen Landesgrenzen zeigt sehr deutlich den Entwicklungsrückstand der deutschen Pflege gegenüber einer Wissenschaftstradition von fast einem Jahrhundert in den USA, aber auch in anderen europäischen Ländern wie Großbritannien (1950–60er Jahren), Finnland, Dänemark, Norwegen, Niederlanden (Mischo-Kelling u. Wittneben 1995, Moers u. Schaeffer, 1993, 2000, und auch außereuropäischer Länder wie Island,die Philippinen, Ägypten (El Fouly, König u. Sieger,1998) und die Türkei (Sieger 2000). Im Zuge der politischen Anstrengungen, einen europäischen Hochschul- und Wirtschaftsraum zu forcieren, wird die Konfrontation mit dem Entwicklungsstand der Pflege in Europa für die deutsche Pflege noch schärfer ausfallen. Denn es ist geplant und vom Europäischen Rat bereits beschlossen die EU bis 2010 zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen. Dabei wird betont, dass derartige Veränderungen nicht nur eine tiefgreifende Umgestaltung der europäischen Wirtschaft, sondern auch ein ambitioniertes Programm für die
5 1.1 · Pflege auf dem Weg zur Wissenschaft
Modernisierung der Sozial- und der Bildungssysteme erfordert (Sieger u. Plenter 2005). Somit müssen die Fragen, wie und durch wen die Berufsfelder in Zukunft zu besetzen sind, auf breiter Ebene von Bildungsexperten,Wissenschaftlern und Praktikern erörtert werden. Ziel aller Verständigungsprozesse sollte dabei sein, den Pflegeberuf gemeinsam auf die zukünftigen Herausforderungen eines europäischen Bildungs- und Wirtschaftsraumes vorzubereiten.
1.1.2 Impulse zur Entwicklung
Der Drang der Pflege,sich von den Denkstrukturen und der Wissenschaftssystematik der Medizin zu distanzieren, ist groß. Zu lange und allzu deutlich bestand die Ignoranz der Medizin gegenüber den inhaltlichen und therapeutischen Ansprüchen der Pflege. Damit begründet sich ein erster Reflex zur Entwicklung einer eigenen Wissenschaft als Moment der Negation der erlebten Verhältnisse. Die Pflege kann beispielhaft beschreiben, worin genau die neue Qualität der wissenschaftlich fundierten Pflege besteht, welchen Nutzen die Gepflegten haben werden (Krohwinkel 1993). Aber ausgehend von der positiven Kraft des Negativen,oder von der »negativen Macht des Faktischen« (Wenzel 1995, S. 1) werden Pflegende in die Lage versetzt, neue Gedanken zu formulieren und neue Erkenntniswege zu beschreiten. Damit hat Pflege als wissenschaftliche Disziplin die Chance, sich theoretisch mit den Gegenständen zu beschäftigen, zu denen sie sich bekennt. In welcher Art und Weise Pflege sich zu einer eigenständigen Disziplin entwickeln kann, ist auch abhängig davon, wie sie neben der Entwicklung und Akkumulation eigenen Wissens auch eine gesellschaftliche Machtposition zur Absicherung des eigenen Status erreichen kann (Wenzel 1995, S. 6). Gesellschaftliche Macht bedeutet in einer vom Warenaustausch bestimmten Gesellschaft Marktmacht. Für die Entwicklung der Pflegewissenschaft bedeutet das, neben der Erweiterung des »body of knowledge« gleichermaßen auch in der Bearbeitung der Praxisprobleme die eigene Funktion im gesellschaftlichen Kontext zu reflektieren (Wenzel 1995, S. 7).
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Eine wesentliche strukturelle Voraussetzung für solche Prozesse sind die Einrichtung der Studiengänge und die Förderung von Pflegeforschung. 4 In der Studiengangsentwicklung sind in den letzten zehn Jahren Erfolge zu verzeichnen: Zur Zeit gibt es ca.50 Studiengänge an Hochschulen in 15 Bundesländern mit den Schwerpunkten: Management, Lehrerinnen und Lehrern für die unterschiedlichen Bildungseinrichtungen mit einem Diplom- aber auch mit dem Abschluss des 1. Staatsexamens, pflegewissenschaftliche Studiengänge mit einem Diplomabschluss aber auch mit dem Abschluss eines Masters und sog. grundständige Studiengänge, d. h. hier kann Pflege direkt mit einer Hochschulzugangsberechtigung studiert werden.Darüber hinaus besteht inzwischen an mehreren Universitäten das Angebot in Pflege zu promovieren. Neue Impulse zur Weiterentwicklung der Bildungsstrukturen gehen von Europa aus.Mit der Erklärung von Bologna ( 1999) sollen die Voraussetzungen geschaffen werden, um bis zum Jahr 2010 einen europäischen Hochschulraum zu realisieren.Zu diesem Zweck soll das System der akademischen Qualifizierungen strukturell verändert werden durch Einführung eines gestuften Systems von Studienabschlüssen wie Bachelor (BA), Master (MA) und Doktorgrad (PhD), eines Leistungspunktesystems (European Credit Transfer and Accumulation System, ECTS) und durch die Modularisierung der Curricula. Überträgt man diese hochschulpolitischen europäischen Entwicklungen auf die Pflegestudiengänge so zeigt der internationale Vergleich die Sonderstellung der Pflegeberufe in den Strukturen des Berufs- und des Hochschulbildungssystems (EU Richtlinien 1977, 1992, 2001, RennenAllhoff u. Bergmann-Tyacke 2000, Sieger u. Plenter 2005).Um Kompatibilität im internationalen Vergleich auch für die Pflegestudiengänge zu erreichen, sollte auch die Option eröffnet werden die pflegerische Erstausbildung auf der Hochschulebene zu erwerben. Einige Hochschulen haben diese Entwicklungen bereits aufgegriffen und in Form eines dualen Studiengangs kann sowohl der Abschluss einer Pflegeausbildung als auch ein Bachelorabschluss in Pflege erworben werden (Sieger 2001).
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Kapitel 1 · Pflege im Spannungsfeld von Wissenschaftlichkeit und Beruflichkeit
4 Ein zweiter wichtiger Impuls zur Erweiterung, zur wissenschaftlichen Fundierung des Wissens in der Pflege und zur Entwicklung von Konzepten für die Pflegepraxis bedarf es der Forschung. Auch auf diesem Gebiet sind enorme Entwicklungen zu verzeichnen. Von der Forschung über Pflege, hier insbesondere aus der Perspektive der Sozialwissenschaften in den 60er–70er Jahren, zur Forschung in der Pflege ab den 80er Jahren. Anfangs durch einzelne Forschungsprojekte (Bartholomeyczik 2000, Nauerth 2000), dann erweitert um die Qualifizierungsarbeiten der Studierenden und Promoventen der Pflegestudiengänge und Pflegende mit einem anderen Studienabschluss (beispielhaft Robert Bosch Stiftung 2002). Inzwischen haben sich mehrere pflegewissenschaftliche Institute gegründet. Wesentliche Impulse sind durch einen neuen Förderschwerpunkt »Angewandte Pflegeforschung« des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung (BMBF) zu erwarten. Im Rahmen des Programms Forschung für den Menschen wird damit die Grundlage für eine lange eingeforderte Pflege- und Hebammenforschung gelegt.Ziel der Förderung ist es,die Entwicklung der Pflegeforschung voranzutreiben und eine Infrastruktur aufzubauen. Vier Forschungsverbünde: Osnabrück-Hebammen,Bremen (Verbund Nord), Halle (Verbund MitteSüd) und NRW mit insgesamt 25 Projekten haben ihre Arbeit in 2004 aufgenommen. Die übergeordneten Themen der Verbünde widmen sich der Gesundheitsförderung im Geburtsprozess, der Optimierung des Pflegeprozesses durch neue Steuerungsinstrumente, der Evidence-basierten Pflege chronisch Pflegebedürftiger in kommunikativ schwierigen Situationen und der Optimierung der Bewältigung chronischer Krankheit.(Schaeffer 2003, Sieger 2005b). Das Nachvollziehen der Wissenschaftsentwicklung in den USA und Großbritannien, die Rezeption der vorliegenden Theorien, der Zugang zu den bislang vorliegenden Forschungsergebnissen hat die ersten Entwicklungsschritte der Pflegewissenschaft in Deutschland wesentlich bestimmt.Dabei kann zwischen mehreren Ebenen des Diskurses unterschieden werden:
4 Zum einen geht es wissenschaftssystematisch um die Position und die Bezüge der Pflege im Wissenschaftssystem, 4 eines möglichen Ordnungssystems für den Aufbau und die Struktur und zum anderen 4 um den Erklärungsgehalt pflegerischer Theorien für das Alltagshandeln 4 sowie um den Zugang zu den bereits vorliegenden Forschungsergebnissen und deren Nutzung in den bundesrepublikanischen Pflegekontexten. Die Diskussion zur wissenschaftssystematischen Positionierung zentriert sich um die Frage, inwieweit sich die Pflege eher im sozialwissenschaftlichen Paradigma denn im naturwissenschaftlichen ansiedeln will. Dabei kristallisiert sich schon jetzt heraus, dass dies kein entweder oder, sondern ein sowohl als auch ist, obwohl es sicher einen Spagat bedeutet, die beiden sehr unterschiedlichen Erklärungs- und Forschungsansätze zu verbinden (Bartholomeyczik 1999). Mit der Medizin teilt die Pflege den unmittelbaren Körperbezug, allerdings geht der dem Pflegehandeln zugrunde gelegte Handlungsbegriff über die naturwissenschaftlich medizinische Sichtweise weit hinaus. Mit den Sozialwissenschaften verbindet die Pflege die Bearbeitung des zentralen Gegenstands, die pflegerische Beziehung sowie die Problemstellungen, die sich aus der sozialen Kontextgebundenheit von Pflege ergeben.Geht es um das Erleben und Bewältigen von Einschränkungen und Krankheit, ist der pflegerische Zugang z. B. gegenüber der Psychosomatik und der klinischen Psychologie zu differenzieren. Eine weitere eher wissenschaftstheoretische Diskussion entzündete sich an der Frage, ob die Pflege eher eine Praxiswissenschaft oder eher eine theoretische Wissenschaft sei. Wenn Pflege stärker Praxisdisziplin ist, muss auch ihre Theoriebildung als Beitrag zur Problemlösung verstanden werden und kann es sich nicht leisten, rein wissenschaftsimmanenten Fragen nachzugehen (Moers in Schröck 1998).Die meisten Pflegetheorien sind ungeeignet für eine Praxisdisziplin, sie dienen eher der Existenzberechtigung der Pflegewissenschaft denn der Pflegepraxis. Dabei hat sich die Entwicklung universeller, umfassender Theorien als Sackgasse erwiesen. Sie eröff-
7 1.1 · Pflege auf dem Weg zur Wissenschaft
nen Perspektiven,doch sie lösen keine Probleme,so die konfrontative Formulierung bei Schröck (1998, S. 22–35). Demgegenüber stellen sich Dornheim u. a. die Frage, »ob professionelle, theoriefundierte Pflegepraxis nicht mehr als Praxiswissenschaft, sondern als Handlungswissenschaft zu verstehen« (1999, S. 73) sei. Ausgangspunkt ist dabei ein erweiterter Handlungsbegriff,der mehr ist als kausal erklärbare Handlung durch objektiv feststellbare und intersubjektiv nachprüfbare Ereignisfolge, sondern auch die bewusst initiierte,zielorientierte Tätigkeit (Seiffert u. Radnizky in Dornheim et al. 1999, S. 74) einschließt. Ein solcher Handlungsbegriff umfasst die Aspekte der Selbstdeutung und die normative Handlungsbegründung durch das handelnde Subjekt selbst (Görres 1998). Die komplexen subjektiven Bedeutungen von Krankheit und Pflegebedürftigkeit bedürfen entsprechend vielfältiger Erkenntniswege. Pflegewissenschaft muss diese Phänomene in ihrer Vielfalt sowohl in ihrer Praxisals auch in ihrer Theoriedimension aufnehmen,beschreiben und auch verstehbar machen.Ziel ist also eher eine, die Pflegepraxis reflektierende, analysierende und auf dieser Grundlage handlungsleitende Pflegewissenschaft (Dornheim et al. 1999, S. 74). Der zweite Aspekt,ob es sich eher um eine theoretische Wissenschaft oder um eine praktische handelt, wird von den Autorinnen dahingehend reflektiert, dass offen ist, ob eine solche Unterscheidung überhaupt sinnvoll ist,da auch die praktischen Wissenschaften sich den wissenschaftlichen Standardforderungen unterwerfen müssen, wie »auf der anderen Seite theoretische Wissenschaften ohne professionelles Denken und Handeln nicht auskommen« (Dornheim et al. 1999, S. 78). Somit erscheint es zum Jetzigen Zeitpunkt sinnvoll und angebracht die Entwicklung von gegenstandsbezogenen Theorien mit geringer Reichweite, wie sie sich als Ergebnis konkreter Forschungsfragen entwickeln lassen, zu favorisieren. Sie sollten der klinischen Anwendung und der Lösung von Praxisproblemen dienen. Die pflegewissenschaftliche Theoriebildung allerdings ausschließlich aus der Pflegepraxis heraus normativ zu entwickeln und weitgehend auf innerwissenschaftliche theoretische Diskurse zu verzichten, ist weder sinnvoll noch möglich. Theorien dienen, neben dem Gewinn an Wissen auch der kritischen Aus-
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einandersetzung mit anderen Theorieperspektiven (Friesacher u. Rux-Haase 1998; Moers et al. 1997). Diese kritische und wenn nötig auch kontroverse Diskussion muss in der pflegewissenschaftlichen »scientific community« ihren Platz und ihren Kulturrahmen finden (Stemmer 2004). Notwendig wird somit neben der problembezogenen Praxisforschung eine Verknüpfung von Theoriediskussion und Forschung zu erreichen (Moers u. Schaeffer 2000, S. 62). Dieser Schritt soll nach dem Vorliegen der Forschungsergebnisse aus den eingangs erwähnten Pflegeforschungsverbünden eingeleitet werden. Eine Ordnung des Gebäudes Pflegewissenschaft liegt zur Zeit noch nicht vor. Hilfreich erscheint aber eine Systematik pflegerischen Wissens wie sie von Kim 1990,2000) vorgeschlagen wird: Sie gliedert in ihrer Typologie pflegerisches Wissen in vier Bereiche: »Patient«, »Patient – Pflegende«, »Praxis« und »Umwelt«.»The typology is a conceptual map upon which the disciplin can plot its phenomena of interest in a systematic, organized fashion in order to develop scientific knowledge« (Kim 2000, S. 42). Da gerade die Pflegende – Patient Interaktion das zentrale Medium ist über das der Pflegebedürftige von den Pflegenden Unterstützung erfährt, in einem solchen Prozess Patientenerwartungen in professionelle Handlungsmuster transformiert werden, stellt dieser Bereich den Kern der Pflege dar (Deutscher Pflegerat 1998, Sieger 2001). Ihre Zentrierung in dem Typologiemodell von Kim entspricht dieser Einschätzung. Der Zugang zu den aktuellen Forschungsergebnissen wird neben dem Interesse an Ergebnissen als Voraussetzung weiterer Forschungsvorhaben in der Regel bestimmt von ihrem Nutzen für die Pflegepraxis. Dabei ist es das Ziel, das praktische Handeln auf evidence basierenden Forschungsergebnissen zu fundieren. Mit evidence, als englischer Begriff ist dabei gemeint »Fakten und Belege, die einen »nicht evidenten« (augenscheinlich, offensichtlich … Anm. der Autorin) Sachverhalt erhärten oder widerlegen«(SVR 200/2001, S. 135).Diese Prinzipien und Regeln einer,aus der Medizin stammenden,evidence ist im Laufe der Zeit von der Pflege und anderen Gesundheitsberufen weitgehend übernommen worden. Dabei ist eine wichtige Begriffserweiterung festzustellen: EBN (evidence based nursing) wird eher als Prozess definiert, … »in
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Kapitel 1 · Pflege im Spannungsfeld von Wissenschaftlichkeit und Beruflichkeit
dem Pflegende klinische Entscheidungen treffen auf der Basis der besten vorliegenden Forschungsergebnisse sowie ihrer eigenen klinischen Erfahrung, der Vorlieben der Patienten und den vorhandenen Mitteln« (Cullum 2000 in Grypdonck 2004, S. 35). EBN erfordert ein aktives Informationsmanagement und zwar in der Hinsicht, dass sich Pflegende um aktuelle und relevante Informationen aus unterschiedlichen Erkenntnisquellen und verschiedenen Forschungsarten bemühen Dieses gewonnen Wissen muß systematisch bewertet und genutzt werden (SVR 200/2001, S. 137, Grypdonck 2004,S.40).Als besonders gelungene Beispiele sind hier die nationalen Expertenstandards zu nennen und auch die ganze Bandbreite um die Qualität bzw. Klassifikation der jeweiligen Evidence lässt sich an der Diskussion um die Bewertung der Forschungsergebnisse gut nachvollziehen (Deutsches Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege (Hrsg.) 2004a,b,c, 2005, SVR 200/2001) Damit ist der Grundstein gelegt, um das Ziel, Pflegehandeln wissenschaftlich zu fundieren,zu erreichen und so hoffentlich auch, gemessen an der gesellschaftlichen Relevanz ihrer Forschungsergebnisse und des Pflegehandelns in der Praxis, den gesellschaftlichen Status zu stärken.
1.1.3 Pflegewissenschaft
und Alltagshandeln Im Anwendungsbereich gibt es erhebliche Schwierigkeiten. Die Pflegenden weisen nur in geringem Umfang Begründungskompetenz auf (Käppeli 1999, S. 155). Gemeint ist eine Kompetenz, die nicht nur auf eine reine Erläuterung von Handlungsabläufen zielt, sondern theoriegelenkte Bezüge herstellt und falls auffindbar auch Forschungsergebnisse berücksichtigt. In der Pflegepraxis geht nicht immer das Denken dem Handeln voraus (Käppeli 1999), das Gedankenmuster in der Problemwahrnehmung und Problemlösung folgt nicht primär pflegerischen Zugängen. Die Wahrnehmung und Bearbeitung einer komplexen Pflegesituation folgt eher monokausalen, häufig medizinischen Denkkategorien, als mehrdimensional die Ebenen des Pflegeanspruchs auszuweisen, den Zielen der Pflege verpflichtet zu sein (Felder u.Kerle 2001). Befragt man die Pflegenden direkt nach dem Handlungs-
repertoire und nach ihren Vorstellungen, wie sie komplexe Pflegesituationen wahrnehmen und welchen Begründungen ihre Interventionen folgen, so ist ein valides Erfahrungswissen festzuhalten (Knigge-Demal u.Sieger 1996; Käppeli 1999).Es bestimmt aber offensichtlich in der Situation nicht das Pflegehandeln. Erklärt wird dies mit einer Praxis,die auf der einen Seite aktive Schritte zur Deprofessionalisierung des Berufes unternimmt, z. B. weitergehende Fragmentierung der Arbeit, Einsatz von Hilfskräften etc. und auf der anderen Seite theoriegeleitetes und fundiertes Fachwissen einfordert, z. B. die Anforderungen im Pflegeversicherungsgesetz (SGBXI § 80, MDS 2000), aber auch die Anforderungen der neuen Berufsgesetze Pflegehandeln wissenschaftlich zu fundieren (KrPflG und KrPflAPrV 2003). Der Strukturumbau im Gesundheits- und Sozialwesen führte darüber hinaus zu erweiterten Handlungsfeldern und komplexeren Handlungsprofilen für die Pflegeberufe (Sieger 2001). Dazu ist die Veränderung des Pflegebedarfs sowohl qualitativ wie quantitativ und damit ein steigender Bedarf an professioneller Pflege in allen Tätigkeitsfeldern und bei allen Zielgruppen zu verzeichnen. Anknüpfend an die eingangs skizzierten Problemlagen wird deutlich, dass das derzeitige Profil den immer komplexer werdenden Pflegesituationen und Pflegebedürfnissen nicht mehr entspricht. Zu beachten ist auch, dass die Grenzen zwischen ambulanten und stationären Sektoren sich zunehmend verschieben,die Übergänge fließend sind,somit Konzepte gefordert sind,die die Klienten in den Mittelpunkt der Organisation der Arbeit stellen.. Die Reduzierung der Gesundheitspolitik auf die Krankenversorgung, wie es das Gutachten des Sachverständigenrates 2000/2001 eindrucksvoll belegt, führt dazu, dass Bereiche von Prävention, Gesundheitsförderung sowie zentrale Aspekte des gesellschaftlichen Umgangs mit Gesundheit und Krankheit nicht genügend Berücksichtigung finden. Die zunehmende Orientierung, z. B. der Krankenkassen an Markt- und Wettbewerbsprinzipien zeigen einen grundlegenden Paradigmenwechsel im Versorgungssystem auf, der kritisch zu betrachten ist: Dieser schleichende Paradigmenwechsel hin zu einer ökonomischen Ausrichtung als Wertmuster führt zu einer Stabilisierung der von Marktme-
9 1.2 · Lern- und Handlungsfeldorientierung in den Pflegeausbildungen
chanismen beherrschten und nach kurzfristigen Maßstäben strukturierten Verwaltung des Mangels, insbesondere in der Pflege. Sollte die Gesundheitspolitik in der Tendenz weiter der aktuellen Wirtschaftspolitik untergeordnet werden, so sind nicht nur die Klientel, sondern auch die im Gesundheitswesen abhängig Beschäftigten, zu dem die Pflege gehört, unmittelbar betroffen. Zudem gewinnt man den Eindruck dass die Absolventen der neuen Studiengänge, und hier insbesondere die Experten und Expertinnen für Pflegewissenschaft, nicht unmittelbar in den bestehenden Gesundheitseinrichtungen einen adäquaten Platz finden. Noch viel zu selten werden Pflegewissenschaftlerinnen und Pflegewirtinnen mit spezifischen Projekten einer Pflegedirektion beauftragt (beispielhaft Bredfeld 2002). Demzufolge ist eine Systematik,das Beherrschen wissenschaftlicher Arbeitsmethoden um im Sinne von evidence basiertem Handeln im Pflegealltag zu agieren deutlich erschwert. Dieses Transferproblem muss vordringlich gelöst werden und zwar primär im Sinne einer Patientenversorgung nach dem neuesten Stand der Wissenschaft.
1.2
Lern- und Handlungsfeldorientierung in den Pflegeausbildungen
1.2.1 Curriculare Entscheidung
Da zurzeit die beiden Prozesse, die der Wissenschaftsentwicklung und der Neubestimmung pflegerischer Ausbildung aufgrund der oben skizzierten Veränderungen parallel verlaufen, kann in der curricularen Arbeit nicht unmittelbar auf eine wissenschaftlich fundierte Antwort aus der Pflegewissenschaft zurückgegriffen werden. Aber es liegen ausreichend Arbeiten für eine zukunftsorientierte Pflegeausbildung vor (Ertl-Schmuck 2000; Oelke et al. 2000; Sahmel 2001; Sieger 2001; Mischo-Kelling u. Wittneben 1995). Lernfeldorientierung ist eine curriculare Voraussetzung,um die gesamte Ausbildung nach Aufgabenstellungen und Handlungsabläufen zu konzipieren (Dubs 2000). Dies kann in diesem Beitrag nicht geleistet werden. Somit kann auch die These 1 in ihren Konsequenzen für den Aufbau und die Ge-
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staltung des Curriculums lediglich beispielhaft belegt werden.Allerdings halte ich einen curricularen Ansatz, der vom realen Erfahrungsbezug ausgeht, für die Pflegeausbildungen als entscheidende Voraussetzung, um das zukünftige berufliche Profil zu konturieren und auch den Widerspruch zwischen dem Alltagshandeln und dem eigenen und kollegial wenig genutzten Erfahrungswissen durch eine curriculare Einheit von schulischer und berufspraktischer Ausbildung produktiv zu bearbeiten.
1.2.2 Didaktische Orientierung
In Konsequenz zur Lernfeldorientierung bei der curricularen Entscheidung sollte auch die didaktische Entscheidung für eine Bereichsdidaktik in Abgrenzung zur Didaktik des Faches sprechen, bzw. sich für eine Didaktik des Berufsfeldes Pflege entschieden werden. Da diese Didaktik zurzeit noch nicht in ausgereifter Form vorliegt, wird hier der Begriff Pflegedidaktik gewählt (Sieger 2001, S. 88 ff.). Um aber bereits heute schon spezifische didaktische Orientierungen herauszuarbeiten, die hilfreich erscheinen, um den Lehrenden und Lernenden einen Zugang zu den spezifischen Aufgaben-, Problem- und Sachbereichen der Pflegeberufe zu verschaffen, muss eine Entscheidung darüber getroffen werden, nach welchen didaktischen Kriterien ausgewählte Bereiche der Wirklichkeit in Lerngegenstände für Unterricht und Ausbildung überführt werden können (Kaiser u. Kaiser 1998 in Sieger 2001, S. 89 ff.). Der erste Filter zur Wahrnehmung der Wirklichkeit erwächst aus der curricularen Entscheidung für das Lernfeldkonzept. Damit ist der Blick auf die Handlungsfelder gerichtet, auf bestimmte Aufgabenkomplexe, aber auch auf bedeutsame Handlungssituationen, die didaktisch bearbeitet werden sowohl im Handlungsfeld selbst als auch durch den Prozess der Transformation in schulische Lernfelder (Bader u. Schäfer 1998). Für die Pflege präferiere ich aufgrund des aufgezeigten Entwicklungsstandes die folgenden didaktischen Prinzipen: 4 Wissenschaftsorientierung, 4 Handlungsorientierung und Handlungsbefähigung, 4 Situationsbezogenheit.
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Kapitel 1 · Pflege im Spannungsfeld von Wissenschaftlichkeit und Beruflichkeit
Das Prinzip der Wissenschaftsorientierung fordert ein, pflegerische Themen auf den Kenntnisstand der Pflegewissenschaft zu beziehen. Obwohl dieser Bezug unter dem didaktischen Fokus nicht unproblematisch ist (Abbilddidaktik), ist er doch für die Pflegedidaktik absolut erforderlich, um Lernprozesse an Inhalten und Verfahren der Wissenschaft auszurichten (Klafki 1994).Das kann im Einzelnen heißen: 4 Neben dem inhaltlichen Aspekt einen Zugang zu den Verfahren und Methoden zu verschaffen. 4 Dazu gehört aber auch die Reflexion der Möglichkeiten und Grenzen von Wissenschaft (Kaiser u. Kaiser 1998). Der kritische Umgang mit Wissenschaft verlangt,sich selbst eine Meinung zu bilden, mit der sinnlichen Alltagserfahrung abzugleichen und unter Umständen Gegenargumente zu dem Dargestellten zu finden (Sieger 2001, S. 93 ff.) 4 sowie mit absoluter Priorität zu lernen, in welcher Art und Weise, bis zu welchem Grad der Durchdringung pflegetheoretische Kenntnisse und Forschungsergebnisse in das Pflegehandeln integriert werden können. Wissenschaftsorientierung als didaktisches Prinzip verdeutlicht aber auch die Verantwortung der Lehrenden, mit einer hohen Sensibilität die Entwicklungen und Ergebnisse der Pflegewissenschaft zu begleiten. Über allgemeine und fachspezifische wissenschaftspropädeutische Übungen kann gerade in der Ausbildung der Dialog mit der Wissenschaft eingeleitet werden. Gemeint ist insbesondere der methodische Zugriff zur Identifizierung und Weiterentwicklung des Pflegewissens: 4 Begründetes und systematisches Vorgehen, 4 Arbeiten mit Texten, 4 lernen, Fragen zu stellen, 4 die jeweiligen, oft noch vagen Ausgangsfragen schrittweise zu differenzieren und zu präzisieren, sodass sie sich schließlich methodisch untersuchen bzw. diskutieren lassen. Oder auch 4 Beobachtungen nach bestimmten Gesichtspunkten, 4 gezieltes Erkunden, 4 Experimente durchführen, 4 Texte unter bestimmten Aspekten vergleichen, 4 Mitschülerinnen,Berufspraktikerinnen,Expertinnen gezielt befragen,
4 verschiedene Rollen durchspielen, 4 eine Sache aus verschiedenen Perspektiven darstellen. Die Lernenden können in abgestuften Graden in die Lage versetzt werden, sich eben dieser Wissenschaftsbestimmtheit bewusst zu werden und die Kenntnisse kritisch in das eigene Pflegehandeln aufzunehmen. Zum Prinzip der Handlungsorientierung: Hier ist gemeint, dass Lernende auf Situationen vorzubereiten sind, in denen später gehandelt werden soll,während Handlungsbefähigung den Wandel in Gesellschaft und Pflege im Blick hat,was am besten geeignet erscheint, der Komplexität der Berufssituationen gerecht zu werden. Da sich Handeln stets in konkreten Situationen konstituiert und umgekehrt auch die Eigenart einer Situation das konkrete Handeln bestimmt,ist es naheliegend, das zu erlernende Handeln in der Pflege in den Kontext der Berufssituation zu stellen oder auch aus der Situation heraus zu generieren. Demzufolge bietet es sich an, als drittes Prinzip das der Situationsorientierung aufzugreifen. Die Situationen sind in ihrer typischen Struktur objektiv (Kaiser 1985). Kaiser knüpft diese Typisierung an Merkmale wie die Rollenstruktur und die Handlungsmuster der agierenden Menschen, den Situationszweck und die Ausstattung. Solch eine Charakterisierung unterstreicht die Tatsache, dass sich das Individuum beim Handeln an vorfindlichen Gegebenheiten ausrichtet,diese in ihrem Zusammenhang und in ihrer Wirkung kennen muss, um erfolgreich handeln zu können (Kaiser 1985, S. 37 ff.). Diese Merkmale können nur zum Zwecke der Analyse getrennt werden, in der konkreten Situation sind sie in Beziehung zu bzw. in der Abhängigkeit voneinander zu sehen. Diese konstitutiven Merkmale sind stets die gleichen, sie stellen sich aber in unterschiedlichen Ausprägungen dar. Somit beruht auch das Handeln in Situationen nicht auf Gesetzen, sondern eher auf Wahrscheinlichkeiten.Vom Handelnden erfordert dies die Abwägung verschiedener Gesichtspunkte, unter denen die Situation betrachtet werden kann,sowie das Erfassen der Aspektvielfalt einer Situationskonstellation und damit die Aktivierung von unterschiedlichem, situationsspezifischem Wissen (Kaiser 1985, S. 43).
11 1.3 · Von der Pflegesituation zum Lernfeld
Gelenkt durch dieses Verständnis von Situationsorientierung lassen sich die konstitutiven Merkmale zur Bestimmung von Pflegesituationen herausarbeiten: 4 Die objektiven Pflegeanlässe, die den Pflegebedarf des Menschen begründen. 4 Die Rollenstruktur, die bestimmt ist von den Erwartungen, die in diesem Kontext die/der zu Pflegende und die Pflegeperson aneinander stellen. 4 Die Interaktionsstrukturen und das Interaktionsgefüge, die in diesem Kontext das Handlungsmuster entwerfen. 4 Die Tätigkeitsfelder, das soziale Setting, und ihre kontextuelle Einbettung, die die Ausstattung der jeweiligen Pflegesituation lenken (Ministerium für Frauen, Jugend, Familie und Gesundheit NRW 1999; Knigge-Demal u.Hundenborn 1999).
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Von der Pflegesituation zum Lernfeld
Da noch kein empirisch erhärteter Pflegebegriff vorliegt, man aber in der Bildungsarbeit von einem gemeinsamen Verständnis von Pflege ausgehen muss, wird hier ein Auszug aus dem ersten Beitrag der Pflege zur Gesundheitsberichterstattung für den Sachverständigenrat der konzertierten Aktion im Gesundheitswesen zugrunde gelegt. Dieser Text bringt einen breiten Konsens des Berufsfeldes Pflege zum Ausdruck.(Deutscher Pflegerat 1998; s.auch Müller 2001):
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1.3.1 Ziele
Da Ausbildung immer auf Zukunft gerichtetes Handeln ist, müssen die Ergebnisse dieser Überlegungen die aktuellen gesundheits- und berufspolitischen Entwicklungen antizipieren und mit Hilfe des curricularen und didaktischen Handwerkszeugs bereits heute die zukünftig Pflegenden primär aus der Perspektive der Pflege befähigen: 4 über ein Verstehen von Pflege zu verfügen, das eine pflegespezifische Analyse der Pflegesituation erlaubt; 4 eine Pflegesituation kriteriengelenkt zu bewerten; 4 zur angemessenen Intervention die zur Verfügung stehenden Erfahrungen reflektiert zu nutzen und deren Wirkungen zu evaluieren. Aber auch befähigt werden, sich Zugang zu Forschungsergebnissen zu verschaffen und diese Erkenntnisse in den Pflegealltag einzubringen; 4 den Kontext, in dem Pflege stattfindet, zu reflektieren und vor dem Hintergrund der berufs- und gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen zu bewerten.
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Pflege ist eine Dienstleistung für den pflegebedürftigen Menschen in seinen verschiedenen Lebenssituationen. Sie wird erbracht mit dem Ziel, die Selbstständigkeit des Pflegebedürftigen zu erhalten, so bald als möglich wieder herzustellen oder diesen zu befähigen, mit Einschränkungen in der eigenen Lebensgestaltung umzugehen bzw. trotz der Einschränkungen neue Lebensqualitäten für sich zu entdecken. Die Entscheidungsfähigkeit und Handlungsautonomie des Pflegebedürftigen gilt es zu sichern, seine emotionale Betroffenheit zu verstehen. Die Ziele der Pflege erschließen sich aus der Auseinandersetzung zwischen gesellschaftlichen Anforderungen und dem Bedarf an kompetenter Hilfe in den Lebenssituationen, in denen die eigene Kompetenz, die eigenen Kräfte nicht ausreichen, um Gesundheitsprobleme sowie körperliche und psychische Einschränkungen zu bewältigen. Ziele und Interventionen der Pflege sind jeweils ausgerichtet auf die individuelle Situation eines Menschen und auf die jeweils spezifische Problemlage. Durch die Begleitung in der Auseinandersetzung, Bearbeitung und möglichen Bewältigung von Krankheitsprozessen schaffen die Pflegenden Entlastung für das Individuum und ermöglichen eine Verbindung von Individuum und Gesellschaftlichkeit. Pflegerische Konzepte werden entwickelt mit und nicht gegen den Willen und die Bedürfnisse des Individuums. Dadurch wird die Compliance zwischen Betroffenen und Pflegenden entwickelt und gestärkt – die Hilfe wird effizienter. Pflegerische Arbeit wird sichtbar im unmittelbaren Handeln an der Person und in der handwerklichen Unterstützung des Pflegebedürftigen bei der alltäglichen Lebensbewältigung. Dieser sichtbare Anteil pflegerischer Arbeiten leitet sich ab aus dem Aufbau, der Entwicklung und Gestaltung einer professionellen Beziehung als Kern pflegerischer Arbeit.
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Kapitel 1 · Pflege im Spannungsfeld von Wissenschaftlichkeit und Beruflichkeit
Hilfe und Unterstützung werden dann notwendig, wenn die Selbstpflegekompetenz eingeschränkt ist durch körperliche Beeinträchtigung, durch Schmerz, Funktionseinschränkungen, durch psychische Veränderungen und/oder Prozesse des Alterns oder durch besondere Lebensereignisse. Dabei wird häufig das kulturell vermittelte und gelernte Verhältnis von Nähe und Distanz überschritten. Diese zeitweise notwendig werdenden Grenzüberschreitungen können nur mit der Notwendigkeit, unmittelbar Hilfe zu leisten und weitere Schädigungen zu verhindern, sowie durch eine berufsethische Verpflichtung dem Menschen gegenüber legitimiert werden. Um überhaupt angemessene Hilfen anbieten zu können, brauchen die Pflegenden Informationen über die Fähigkeiten des Pflegebedürftigen, seine Problemsicht, über seine eigenen Ziele auf dem Weg zur Gesundheit, über seine Vorstellungen von Lebensqualität und auch über seine Wahrnehmung des Bedarfs von Pflege. Dieser Position des Pflegebedürftigen stehen das Wissen über Gesundheit und Krankheit, über Gesundungsbedingungen und Gesundungsprozesse sowie das Können und die Fertigkeiten, den Pflegebedürftigen zu pflegen und dessen Belastungen zu mindern, gegenüber. Das Spannungsverhältnis von Bedürfnisäußerung und professionell bewertetem Bedarf bestimmt dieses dialogische Verhältnis. Vor diesem Hintergrund lässt sich das Spezifische der Pflege darin sehen, dass sich pflegerisches Handeln im Aushandlungsprozess zwischen den fachlichen Notwendigkeiten, den professionellen Ansprüchen und den Zielen und Möglichkeiten des Betroffenen entwickelt. Diese Balance zwischen Förderung zur Selbständigkeit, Akzeptanz der Lebenssituation und den Notwendigkeiten pflegerischer Unterstützung gilt es vor dem Hintergrund der körperlichen, geistigen und seelischen Möglichkeiten und der sozialen Konstellation des Individuums zu beherrschen. Auf der Basis dieser professionellen Beziehung begleiten und unterstützen die Pflegenden Menschen in der individuellen Auseinandersetzung mit Krankheit, Behinderung und Leiden bis hin zum Sterben und intervenieren im Notfall, ohne sich des Einverständnisses vergewissern zu können, zum Wohle des Betroffenen. Diese Fähigkeit, konstruktiv und partnerschaftlich Angebote auszuhandeln sowie das Recht auf selbstbestimmte Entscheidungen zu akzeptieren, bezieht sich gleichwertig auf die Zusammenarbeit mit An-
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gehörigen bzw. entsprechenden Bezugspersonen der Pflegebedürftigen. Um die Zusammenarbeit mit den Pflegebedürftigen systematisch, begründet und reflexiv zu gestalten, arbeiten die Pflegenden mit der Prozessmethode. Ausgehend von einer Erhebung des jeweils spezifischen Pflegebedarfs wird pflegerisches Handeln zielorientiert geplant, durchgeführt, dokumentiert und evaluiert. Damit ist der pflegerische Arbeitsprozess für alle an der Behandlung und Betreuung Beteiligten nachzuvollziehen. Die Form des Zusammenwirkens von Pflegendem und Gepflegtem bringt u. U. erhebliche psychosoziale Belastungen für die Pflegenden mit sich und beinhaltet auch die Gefahr, neue psychische Abhängigkeiten zu schaffen. Um sich selbst vor Gefährdungen und psychosozialen Verletzungen zu schützen, muss die Pflegekraft befähigt werden, diese berufliche Beziehung zu reflektieren und aufzuarbeiten. Damit wird sie auch in die Lage versetzt, mögliches abhängiges Verhalten frühzeitig zu erkennen und entsprechend zu handeln.
1.3.2 Eine begleitete Pflegesituation
im Hospiz Die Einschätzung der Pflegenden zum vordringlichen Pflegebedarf Vor Eintritt in die zu beobachtende Pflegesituation durch die Lehrerin erläutert die verantwortliche Pflegekraft den vordringlichen Pflegebedarf aus ihrer Perspektive nach dem eigenen Ordnungsschema. In einem zweiten Schritt wird dargestellt, welche pflegerische Intervention in dieser Situation im Vordergrund steht und welche Ziele damit verfolgt werden: Beispiel Zum Pflegebedarf Frau G., Geburtsjahr 1914, ist seit 14 Tagen im Hospiz. Die medizinischen Diagnosen vermerken Darm-CA, Refluxösophagitis, IIeus, Tumoranämie. Sie hat 30 kg an Körpergewicht verloren, demzufolge ist sie kachektisch, ist aber bei Bewusstsein und klar orientiert.
13 1.3 · Von der Pflegesituation zum Lernfeld
In der Körperpflege ist darauf zu achten, dass Frau G. eine Jod- und Cortisonallergie hat. Sie hat ein Dekubitalgeschwür im Analbereich und Beinödeme. Was die Bewegung betrifft: Frau G. kann einige Schritte im Zimmer laufen, sitzt sonst im Rollstuhl und erhält Schmerzmittel. Zum Essen werden ihr kleine Portionen angeboten. Beim Ausscheiden liegen die Probleme bei dunklen und übel riechenden Durchfällen. Zur sozialen Situation: Frau G. war über ein Jahr alleine zu Hause. Nach ihren eigenen Aussagen war es schrecklich, es gab nichts zu essen, das Waschen fiel schwer, sie erbrach häufig – Miserere. Im Mai sei sie operiert worden in R. – sie wollte eigentlich nach M. – habe dort als Krankenschwester gearbeitet, aber das ging so schnell, sie konnte das nicht beeinflussen. Die »Fürsorgerin« hat sich gekümmert, dass sie hierher ins Hospiz kam – »hier ist ein freundlicher Ort, ich fühle mich im siebten Himmel. Alle Pflegenden habe ich gern – ich lasse mich von den Händen gern anfassen – das ist wichtig, wer mich anfassen darf… Ich gehöre zu den Schönstätter Schwestern – habe alle meine Schlechtigkeiten Pater K. mitgeteilt – habe gebetet, dass er mich an einen sicheren Ort bringt, wo ich mich hinkuscheln kann – das ist so wichtig.« Frau G. beschäftigt sich mit den Besuchen der Verwandten, sie will nur bestimmte Menschen als Besuch. Sie wirkt nachdenklich und traurig, wenn sie von den Kindheitserinnerungen berichtet. Es existiert eine Patientenverfügung.
Geplantes Pflegehandeln In der beobachteten Pflegesituation soll Frau G. körperlich versorgt,falls möglich geduscht werden. Wichtig ist für die Pflegende den Stand des Dekubitalgeschwürs festzuhalten,eine entlastende Lagerung zu erreichen und die Wünsche nach der richtigen Kleidung (Angora) aufzugreifen und diesen Wünschen zu entsprechen.
Beobachtung während der Pflegesituation Frau G.ist wach und ansprechbar,sie ist in der Lage, sich selbst mit leichter Hilfe auf die Bettkante zu
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setzen und kann sich aufrecht halten,sie sitzt sicher. Beim Aufstehen braucht sie Hilfe,sie wird beim Gehen von hinten gestützt und läuft dann über den Flur ins Bad.Auf dem Flur registriert sie ein Teelicht vor einer anderen Tür – dies ist ein Zeichen dafür, dass ein Gast dieses Hauses starb – spricht aber nicht darüber. Bei der Körperpflege seift sie sich mit sicheren Bewegungen Hals, Ohren und Brust ein und bittet die Pflegekraft, ihr den Rücken und die Beine und Füße fest zu »rubbeln«. Beim Aufstehen sucht sie Halt an dem Griff, steht sicher, nimmt den Duschkopf in die Hand und braust sich selber ab. Dabei schaut sie aufmerksam an sich herunter und kommentiert: »Jetzt ist die Katzenwäsche vorbei,das war schrecklich.Ich bin schon voller geworden,fröhliche Menschen um mich herum machen viel aus.« Die Pflegekraft begutachtet die geschädigte Stelle am Steiß, Frau G. will wissen, ob eine Besserung eingetreten ist. Die Stelle wird pflegerisch versorgt. Frau G. putzt sich selbständig die Zähne und wählt kritisch die Creme fürs Gesicht, die sie selbständig aufträgt und »einklopft«. Beim Kämmen freut sie sich darüber, dass die Haare nicht mehr ausgehen und wertet dies als Zeichen, dass es besser wird. Sie wählt die Kleidung sorgfältig aus, bindet sich ein Halstuch um, legt Schmuck und Brille an und achtet insbesondere bei den Strümpfen darauf, dass sie nicht einschnüren wegen der Beinödeme. Zum Frühstück benennt sie detailliert ihre Wünsche, isst mit Lust und erbricht, zumindest während des Beobachtungszeitraums, nicht.
Reflexion nach der Pflegesituation Für die Pflegende war dies eine typische Pflegesituation. Frau G. lobt immer gern und verbreitet auch für Pflegende gute Stimmung, sie ist dankbar und kann sich erfreuen,z.B.an der Natur (Blick aus dem Fenster). Die eigenen pflegerischen Intentionen konnten umgesetzt werden.
Analyse der Pflegedokumentation Hier ist festzustellen, dass die eindrucksvollen klaren Aussagen zur Selbstbestimmung von Frau G. nicht erscheinen. Aussagen zur Mobilität, zur Selbstversorgungsfähigkeit sind nicht extra erhoben, obwohl sie deutlich den Pflegebedarf bestimmen. Zum Kommunikationsverhalten oder auch dem Kontaktbedürfnis und sozialen Netz finden
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Kapitel 1 · Pflege im Spannungsfeld von Wissenschaftlichkeit und Beruflichkeit
sich keine Informationen, obwohl diese Frau G. stark beschäftigen. Veränderungen im Ausscheidungsverhalten, der Stuhlqualität sind nicht nachvollziehbar.
1.3.3 Didaktische Bearbeitung
Charakteristika der Situation Eine mögliche didaktische Bearbeitung einer solchen Situation in einem Lernfeld der Pflege folgt dem oben dargelegten Verständnis von Pflege und verpflichtet sich der prinzipiellen Wertorientierung, alles pflegerische Handeln auf den individuellen Bedarf des Individuums zu beziehen. In der Charakterisierung der Situation (Knigge-Demal 1999) ergeben sich die objektiven Pflegeanlässe dadurch, dass Frau G. selbst den Wunsch geäußert hat, an »einen sicheren Ort« gebracht zu werden. Die Erwartungen, die die Pflegenden und Frau G. aneinander stellen, können anhand dieser Situation gut herausgearbeitet werden,z.B.»ich lasse mich von den Händen gern anfassen«.Die klaren Wünsche und Vorstellungen von Frau G. und ihre Entscheidungen für die eigene Lebenssituation,den Alltag, bestimmen das Interaktionshandeln. Bemerkenswert ist ebenfalls die Fähigkeit von Frau G., Lebensqualität zu erleben und als solche auszuweisen. Das soziale Setting ist bestimmt durch die allgegenwärtige Präsenz des Todes,mit dem sich Pflegende und Gepflegte auseinander setzen müssen.
Was sind die Aufgaben-, Problemund Sachbereiche der Pflege in dieser Situation? Pflegehandeln in der körperlichen Versorgung
Aus der Perspektive der Pflegenden können detailliert pflegerische Fertigkeiten herausgearbeitet werden, sei es in der Unterstützung bei der Mobilisation, sei es bei der Körperpflege und beim Ankleiden, sei es im Schutz vor Sekundärschäden, sei es in der Unterstützung bei der Ernährung, bei den Ausscheidungen im Kontext dieser spezifischen Situation.Hervorstechendes Moment ist aber die lindernde und wohltuende Komponente der körperlichen Berührung. Die Verknüpfung des Situationskontextes mit den Zielen der Pflege und eine
mögliche Fundierung durch Forschungsergebnisse kennzeichnen die Qualität einer daraus zu entwickelnden Unterrichtssequenz. Weiterführende Themen und ergänzende Perspektiven liegen primär in der Erweiterung des pflegerischen Handlungsrepertoires, im Umgang mit dem Körper aber auch mit der erweiterten Betrachtung auf die Dimension des Leibes sowie in einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Nähe und Distanz. An Fachgebieten sind gefordert die Pflege, pflegerelevante Aspekte der Sozialwissenschaften, der Anatomie und Physiologie und auch der Krankheitslehre. Konstrukt Lebensqualität
Die Nähe des Todes, die immer wieder neu zu bestimmende subjektive Befindlichkeit zwischen den Polen gesund und krank fühlen, machen es erforderlich sich mit diesem Konstrukt zu beschäftigen (Petermann 1996), deren Kriterien aus der Perspektive der Pflegewissenschaft zu identifizieren, aus dem Kontext des Beispiels eigene Fragen an die Wissenschaft zu entwickeln. Gleichermaßen sind weiterführend zu thematisieren: Belastungen für die Pflegenden, die sich aus der Arbeit in diesem Handlungsfeld ergeben.Es lassen sich Fragen der Berufsethik mit dieser Situation verknüpfen, aber auch gesundheitspolitische Fragen im Spannungsfeld zwischen Verpflichtung zur Humanität und Finanzierung. Daraus ergeben sich die Fachgebiete: Primär die Pflege, pflegerelevante Aspekte der Anthropologie und Ethik, der Gesundheitswissenschaften aber auch der Sozialwissenschaften und der Gesundheitspolitik. Arbeit mit dem Pflegeprozess
Unter dem Gesichtspunkt pflegespezifischer Arbeitsmethoden kann gut herausgearbeitet werden, wie die einzelnen Arbeitsschritte des Pflegeprozesses zu gestalten sind, wie sich eine Systematik erschließt und wie sich Ziele für den Pflegebedarf von Frau G. entwickeln, begründen und legitimieren lassen. Welche Konsequenzen es hat, wenn zwischen Dokumentation und erbrachter Leistung unterschieden wird. Hier sehe ich lediglich die Pflege als Fachgebiet gefordert.
15 1.3 · Von der Pflegesituation zum Lernfeld
Zusammenfassung Die Entwicklung der Pflege zu einer eigenständigen Disziplin, die sich von den Denkstrukturen der Medizin abhebt, erfordert die wissenschaftliche Fundierung der Pflege. Im Spannungsfeld von Theorie und Praxis, Sozial- und Naturwissenschaften zeichnet sich ab, dass die Pflegewissenschaft sowohl problembezogene Praxisforschung als auch den innerwissenschaftlichen theoretischen Diskurs leisten muss. Für die Weiterentwicklung des Profils der Pflegeberufe sind curriculare Veränderungen in den Pflegeausbildungen notwendig, damit die Pflegenden für die zukünftigen qualitativen Anforderungen vorbereitet sind. Aufbauend auf Lernfeldorientierung als curriculare Voraussetzung sind Wissenschaftsorientierung, Handlungsorientierung und Handlungsbefähigung und Situationsbezogenheit die drei wichtigsten didaktischen Prinzipien für die Pflegedidaktik. Abschließend wird angesichts einer Pflegesituation im Hospiz beispielhaft dargestellt, wie eine Pflegesituation analysiert und welche Ansätze sie für die Umsetzung in ein Lernfeld bietet.
3 Methodische Vorschläge für die Seminargestaltung Die methodischen Vorschläge beziehen sich auf die Generierung der Themen aus der oben geschilderten Handlungssituation. Da bei der Methodenwahl generell die Ziel-Inhalts-Methoden-Interdependenz bedacht werden soll, verstehen sich diese Vorschläge lediglich als Anregung. Ein Weiterdenken bzw. alternative Überlegungen sind ausdrücklich gewünscht. Für diese Unterrichtssequenz zum Pflegehandeln in der körperlichen Versorgung erscheint es mir als wichtigstes Ziel bei den einzelnen Themenbereichen, z. B. der Mobilisation, der Ernährung usw., einen neuen Betrachtungswinkel zu erreichen, durch Aufgreifen und Aktualisieren des vorhandenen Erfahrungswissens. Die Vielfalt repräsentiert sich, je nach Ausbildungsstand, durch die Menschen in der Lerngruppe (Gruppen- oder Part-
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nerarbeit) oder aber auch durch Befragung der erfahrenen Pflegekräfte. Nach vorher entwickelten Kriterien kann die Variabilität und Vielfalt der Handlungsabläufe in der Praxis erfasst (Beobachtungsaufgaben) und anschließend im Unterricht systematisiert werden. Die Methode zur Systematisierung der gewonnenen Erkenntnisse kann selbst zum Unterrichtsgegenstand gemacht werden.Gleichermaßen bietet es sich an, mit Hilfe des Pflegeprozesses die angebotenen Lösungen auf ihren Nutzen für den konkreten Bedarf von Frau G. zu prüfen und diese fundiert zu begründen. Dies kann exemplarisch im Plenum oder aber auch bei entsprechendem Kenntnisstand arbeitsteilig in Gruppen erfolgen. In der Phase des Einübens und Erprobens von Fertigkeiten sowohl im Demonstrationsraum oder auch direkt im Handlungsfeld sollte unbedingt darauf geachtet werden, nicht nur ein Verfahren einzuüben, sondern dass bewusst Handlungsalternativen entwickelt und erprobt werden. Der Transfer des Gelernten auf andere Handlungssituationen kann als Aufgabe für die Lernenden gestaltet oder im Lernfeld als Diskussion im Kontext einer anderen Situation geleistet werden. Zum Konstrukt Lebensqualität
Der Themenbereich kann über erzählte »Geschichten« aber auch über eine Auswahl lesbarer – in Abhängigkeit zum Ausbildungstand – Forschungsergebnisse erschlossen werden.Für eine Erweiterung und Vertiefung eignet sich eine Podiumsdiskussion mit Vertretern aus unterschiedlichen Fachgebieten, wobei die Lernenden unterschiedliche Rollen übernehmen, z. B. als Diskutant, als Moderator oder auch als Fragesteller aus dem Publikum in der Rolle des Patienten, des Politikers, des Arztes usw. In einer solchen Diskussion kann das Spannungsfeld eröffnet werden zwischen dem humanitären Anspruch und der politischen Bewertung der Finanzierung, zwischen den eingangs skizzierten Alltagsbedingungen in der Pflege und der individuellen Ausprägung von Lebensqualität und/oder der indikatorengestützten Berechnung von Risiken. Zum Pflegeprozess
Hier ist mit absoluter Priorität die Handlungsbefähigung zu verfolgen, da es bis heute erhebliche Probleme gibt, diese pflegerische Arbeitsmethode
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Kapitel 1 · Pflege im Spannungsfeld von Wissenschaftlichkeit und Beruflichkeit
im Alltag zu implementieren. Präferiert wird vor diesem Hintergrund die Leittextmethode,da sie die Handlungsbefähigung als Ziel deutlich ausweist. Entwickelt wird die Lernaufgabe aus den beruflichen Anforderungen im Handlungsfeld, hier der Pflegeplan von Frau G., entsprechend kann dann ein Arbeitsplan entwickelt werden. Die Leittextmethode stellt darüber hinaus eine gute Möglichkeit dar, das Lernen im Lern- und im Handlungsfeld über eine Aufgabe zu verbinden (Ertl-Schmuck 2001; Rottluff 1992).
3 Empfehlungen zum Weiterlernen Einen guten Überblick über den Stand der Pflegewissenschaft geben 4 Behrens J, Langer G (2004) Evidence – based Nursing. Huber, Bern 4 Nerheim H (2001) Die Wissenschaftlichkeit der Pflege. Huber, Bern 4 Rennen-Allhoff B,Schaeffer D (2000) Handbuch Pflegewissenschaft. Juventa, Weinheim München 4 Stemmer R (2001) Grenzkonflikte in der Pflege: Patientenorientierung zwischen Umsetzungsund Legitimationsschwierigkeiten. Mabuse, Frankfurt sowie das kontinuierliche Studium der Beiträge in: 4 Pflege. Die wissenschaftliche Zeitschrift für Pflegeberufe. Bern 4 Pflege und Gesellschaft. Duisburg Das Weiterlernen vollzieht sich auch im Diskurs mit den Kolleginnen und Kollegen sowie mit der relevanten Fachöffentlichkeit. Zu den Themen der curricularen und didaktischen Entscheidungen verweise ich auf die Beiträge von Oelke, Scheller u. Ruwe 2000, Sahmel 2001, Sieger 2001, s. Literaturverzeichnis, sowie auf 4 Wagner F,Osterbrink J (2000) Integrierte Unterrichtseinheiten. Eicanos, Bern
Literatur Bader R, Schäfer B (1998) Lernfelder gestalten. Vom komplexen Handlungsfeld zur didaktisch strukturierten Lernsituation. In: Die berufliche Schule 50. Jg. Heft 7–8: 229–234 Bartholomeyczik S (1999) Zur Entwicklung der Pflegewissenschaft in Deutschland. Pflege 12: 158–162 Bischoff C (1999) Frauen in der Krankenpflege. Campus, Frankfurt Bock-Rosenthal E (Hrsg) (1999) Professionalisierung zwischen Praxis und Politik. Huber, Bern Deppe HU (1980) Vernachlässigte Gesundheit. Kiepenheuer & Witsch, Köln Deutscher Pflegerat (Hrsg) (1998) Pflegerischer Fortschritt und Wandel – Beitrag zum Sondergutachten 1997 des Sachverständigenrates für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen. Göttingen Deutsches Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege (Hrsg) (2004 a) Expertenstandard »Decubitusprophylaxe in der Pflege«, Entwicklung – Konsentierung – Implementierung. Osnabrück Deutsches Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege (Hrsg) (2004 b) Expertenstandard »Entlassungsmanagement in der Pflege«, Entwicklung – Konsentierung – Implementierung. Osnabrück Deutsches Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege (Hrsg) (2004 c) Expertenstandard »Schmerzmanagement in der Pflege«. Osnabrück Deutsches Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege (Hrsg) (2005 in Vorbereitung) Expertenstandard, »Sturzprophylaxe in der Pflege«. Osnabrück Dornheim J, Maanen H v, Meyer JA, Remmers H, Schöninger U, Schwerdt R, Wittneben K (1999) Pflegewissenschaft als Praxiswissenschaft und Handlungswissenschaft. In: Pflege und Gesellschaft Heft 4/1999: 73–79 Dubs R (2000) Lernfeldorientierung: Löst dieser neue curriculare Ansatz die alten Probleme der Lehrpläne und des Unterrichtes an Wirtschaftsschulen? In: Lipsmeier A, Pätzold G (Hrsg) Lernfeldorientierung in Theorie und Praxis. Franz Steiner, Stuttgart, S 15–32 Drucksachen des Deutschen Reiches (1905) Drucksachen zu den Verhandlungen des Bundesraths des Deutschen Reichs. Bd 2. Von No 50 bis 105.Register Nr.101 – 160 nach der 100.Session. Berlin Drucksachen des Deutschen Reiches (1906) Drucksachen zu den Verhandlungen des Bundesraths. Bd I. Von Nr. 1 bis 78. Berlin Ertl-Schmuck R (2000) Pflegedidaktik unter subjekttheoretischer Perspektive. Mabuse, Frankfurt Ertl-Schmuck R (2001) Die Bedeutung der Methoden. In: Sieger M (Hrsg) Pflegepädagogik. Huber, Bern, S 147–166 Felder S, Kerle U (2001) Das Pflegeproblem Immobilität – von der Mobilität zur Immobilität. Seminararbeit WS 2000/2001. Seminar Sieger Evangelischen Fachhochschule RheinlandWestfalen-Lippe in Bochum, Fachbereich Pflege, Bochum Friesacher H, Rux-Haase A (1998) Der Paradigmabegriff in der Pflegewissenschaft 2. Teil. In: Pflege Heft 11/1998: 61–70 Görres S (1998) Das Nebenfach par exellence? Pflegewissenschaft und Soziologie. In: Soziologie Heft 3/1998: 31–38
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Huerkamp C (1985) Der Aufstieg der Ärzte im 19.Jahrhundert.Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen Käppeli S (1999) Was für eine Wissenschaft braucht die Pflege? In: Pflege. Heft 12: 153–157 Kaiser A (1985) Sinn und Situation.Klinkhardt,Bad Heilbrunn/Obb. Kaiser A, Kaiser R (1998) Studienbuch Pädagogik. Grund- und Prüfungswissen. Cornelsen, Berlin Klafki W (1994) Zum Verhältnis von Allgemeiner Didaktik und Fachdidaktik – Fünf Thesen. In: Meyer MA, Plöger W (Hrsg) Allgemeine Didaktik, Fachdidaktik und Fachunterricht. Studien zur Schulpädagogik und Didaktik. Bd 10. Beltz, Weinheim Basel, S 42–64 Knigge-Demal B, Hundenborn G (1999) Zum Begriff von Pflegesituationen und ihren konstitutiven Merkmalen. In: Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg): Arbeitsauftrag und Zwischenbericht der Landeskommission zur Erstellung eines landeseinheitlichen Curriculums als empfehlende Ausbildungstrichtlinie für die Kranken- und Kinderkrankenpflegeausbildung. Düsseldorf, S 27–47 Knigge-Demal B, Sieger M (1996) Pflegebedarfsorientierte Arbeitsorganisation in der stationären Krankenpflege. Forschungsprojekt im Auftrag der Universitätskliniken Münster. Projektbericht, Münster Krohwinkel M (1993) Der Pflegeprozeß am Beispiel von Apoplexiekranken. Schriftenreihe des Bundesministerium für Gesundheit. Bd 16. Nomos, Baden-Baden Kurtenbach H, Golombeck G, Siebers H (1986) Krankenpflegegesetz mit Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für die Berufe in der Krankenpflege. Kohlhammer, Stuttgart Mayntz R, Rosewitz B, Schimank U (Hrsg) (1988) Differenzierung und Verselbständigung. Zur Entwicklung gesellschaftlicher Teilsysteme. Campus, Frankfurt Medizinischer Dienst der Krankenversicherung MDS e.V. (2000) MDK – Anleitung zur Prüfung der Qualität nach § 80 SGB XI. Stationäre Pflege. Essen Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen (1992) Empfehlungen zur Durchführung von Modellstudiengängen für Lehr- und Leitungsfunktionen in der Pflege. Düsseldorf Ministerium für Frauen, Jugend, Familie und Gesundheit NRW (1999) Arbeitsauftrag und Zwischenbericht der Landeskommission zur Erstellung eines landeseinheitlichen Curriculums als empfehlende Ausbildungsrichtlinie für die Kranken- und Kinderkrankenpflegeausbildung Düsseldorf Mischo-Kelling M, Wittneben K (1995) Pflegebildung und Pflegetheorien. Urban & Fischer, München
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Moers M, Schaeffer D (2000) Pflegetheorien. In: Rennen-Allhoff B, Schaeffer D (Hrsg) Handbuch Pflegewissenschaft. Juventa, Weinheim, S 35–66 Moers M, Schaeffer D, Steppe H (1997) Pflegetheorien aus den USA – Relevanz für die deutsche Situation.In:Schaeffer D,Moers M, Steppe H, Meleis A (Hrsg) Pflegetheorien. Beispiele aus den USA. Huber, Bern, S 281–295 Müller E (2001) Leitbilder in der Pflege. Eine Untersuchung individueller Pflegeauffassungen als Beitrag zu ihrer Präzisierung. Huber, Bern Mühlum A, Bartholomeyczik S, Göpel E (1997) Sozialarbeitswissenschaft Pflegewissenschaft Gesundheitswissenschaft.Lambertus, Freiburg i. Br. Oelke U, Scheller I, Ruwe G (2000) Tabuthemen als Gegenstand szenischen Lernens. Huber, Bern Petermann F (1996) Lebensqualität und chronische Krankheit. Dustri, München-Deisenhofen Robert Bosch Stiftung (2002) Zehn Jahre »Pflege braucht Eliten«. Qualifizierung von Lehr- und Leitungskräften in der Pflege. Stipendiaten und Kollegiaten 1992–2002. Stuttgart Rottluff J (1992) Selbständig lernen. Arbeiten mit Leittexten. Beltz, Weinheim Basel Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen – SVR – (2000/2001): Bedarfsgerechtigkeit und Wirtschaftlichkeit. Bd II und III. Bonn Sahmel KH (Hrsg) (2001) Grundfragen der Pflegepädagogik. Kohlhammer, Stuttgart Schaper HP (1987) Krankenwartung und Krankenpflege. Leske & Budrich, Opladen Schröck R (1998) Des Kaisers neue Kleider? Bedeutung der Pflegetheorien für die Entwicklung der Pflegewissenschaft in Deutschland.In:Osterbrink J (Hrsg) Erster internationaler Pflegetheoriekongreß Nürnberg. Huber, Bern, S 22–35 Sieger M (2000) Educational opportunities in the professional field of nursing in the Federal Republic of Germany. In: Oktay S (ed) EMEK MATBAACILIK.Florence Nightingale College of Nursing. Istanbul Universitesi, Istanbul, S 9–18 Sieger M (Hrsg) (2001) Pflegepädagogik. Huber, Bern Sticker A (1960) Die Entstehung der neuzeitlichen Krankenpflege. Kohlhammer, Stuttgart Wenzel H (1995) Theorie und Praxis – zum epistemologischen Begründungszusammenhang der Pflegewissenschaft.Vortragsscript im Rahmen des 2. Symposiums Pflegewissenschaft an Fachhochschulen, Darmstadt Zander C (1993) Curriculumentwurf für einen Diplomstudiengang Pflege in der Fachrichtung Sozialwesen an einer Fachhochschule. In: Bartholomeyczik S, Mogge-Grotjahn H, Zander C (Hrsg) Pflege als Studium. Bochum, S 113–152
2 Geschichte der Pflege Horst Rüller 2.1
Überlegungen zur Darstellung der Pflegegeschichte 21
2.2
Sechs Entwicklungslinien einer thematischen Pflegegeschichte
2.3
Darstellung der Pflegegeschichte
2.3.1
Pflege von Menschen und christliche Karitas
2.3.2
Diätetik und Gesundheitsförderung
2.3.3
Pflege und Medizin
2.3.4
Spezialisierung in der Pflege
2.3.5
Pflege wird zum Beruf
2.3.6
Pflege professionalisiert sich
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Kapitel 2 · Geschichte der Pflege
> Thesen
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Schreiner, Maurer, Kaufleute und viele andere Berufe verzichten in der Ausbildung ihrer Nachwuchskräfte auf die Auseinandersetzung mit der Geschichte ihres Berufes. Beschreitet der Berufsstand Pflege mit seinen Inhalten zur Pflegegeschichte in Aus-,Fort- und Weiterbildung damit einen möglicherweise unnötigen Sonderweg? Auf die Frage, ob dieser Sonderweg vor dem Hintergrund einer in die Gegenwart hineinredenden Vergangenheit sinnvoll ist, und wie er beschritten werden kann, erhalten Sie im folgenden Beitrag wesentliche Entscheidungshilfen.
3 Berufliche Handlungskompetenzen 2
Fachkompetenz Die historisch gewachsenen Strukturen in der Pflege verstehen und auf dieser Basis mit Widerständen umgehen. Verlauf und Ursachen der Entwicklung des von medizinischem Denken geprägten Berufs wahrnehmen, um die Gratwanderung zwischen eigenständigen pflegerischen Entscheidungen und ärztlicher Weisungsbefugnis situationsgerecht zu leisten.
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Methodenkompetenz Durch die Analyse von Zeitzeugnissen den Umgang mit Texten zur Erschließung von Inhalten und Steigerung der Lesefähigkeit fördern. Problemlösende Ansätze zur Untersuchung von Sachverhalten anwenden.
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Kommunikative Kompetenz Zusammenhänge und Widersprüche sprachlich erfassen, Sachverhalte hinterfragen und sprachlich Entwicklungen und Zustandsberichte darstellen.
3 Praxisrelevanz Die Vorstellungen von dem, was Geschichte leisten kann und soll, haben sich im Laufe vergangener
Jahrhunderte, auch unter verschiedenen ideologischen Blickwinkeln,mehrfach gewandelt.Heute besteht unter Geschichtswissenschaftlern weitgehend Übereinstimmung darin, dass der Geschichte im Wesentlichen zwei Aufgaben zukommen (z. B. Carr 1974, S. 54): 4 Die eine besteht darin, ein Verstehen dessen zu erreichen, welche Motive die Menschen zu ihrem Handeln bewogen haben. 4 Die andere Aufgabe besteht in der Hilfe für eine Zukunftsbewältigung. Diese beiden Aufgaben sind naturgemäß eng miteinander verknüpft. So schreibt der englische Historiker Eward Hallett Carr in seinem Werk »Was ist Geschichte?«: »Die Vergangenheit wirft Licht auf die Zukunft und die Zukunft wirft Licht auf die Vergangenheit« (Carr 1974,S.120).Anders ausgedrückt liegen demnach die Aufgabe und damit der Sinn der Geschichte darin, Antworten auf die Fragen »Wohin gehen wir?« und »Wie kam es dazu?« zu suchen (Löwith 1974, S. 38 f). In diesem Sinne ist auch das eigene Pflegehandeln nicht losgelöst von pflegehistorischen Traditionen zu sehen, die immer auch in die Gegenwart reichen und Handeln damit unbewusst beeinflussen. Als Schlüssel für das Verständnis des gegenwärtigen Handelns im Pflegealltag ist die Praxisrelevanz einer »Pflegegeschichte« ein wichtiger Baustein. Erst mit dem Erkennen der Vergangenheitsspuren in der heutigen Berufssituation kann ein »Paradigmenwechsel« angestrebt bzw. nachvollzogen werden. Selbstverständlich genügt die Kenntnis der Entwicklungsstrukturen nicht, erforderliche Innovationen durchzusetzen, aber sie sind die Grundvoraussetzung, eine Einsicht in die Notwendigkeit zu erleichtern und Ansätze für Veränderungen zu entwickeln bzw. sie nachvollziehen zu können.
3 Verfahrensstruktur . Abbildung 2.1 beinhaltet im »inneren Kreis« die
Themen, die als Leitlinien zur Vermittlung einer Geschichte der Pflege tauglich sind (s. unter 2.3). Der »äußere Kreis« lässt den Bezug der didaktischen Ebene der Vermittlung erkennen, durch den erst das Erreichen wichtiger Kompetenzen möglich wird (s. unter »Methodische Vorschläge für die Seminargestaltung«).
21 2.1 · Überlegungen zur Darstellung der Pflegegeschichte
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. Abb. 2.1. Verfahrensstruktur
2.1
Überlegungen zur Darstellung der Pflegegeschichte
Die Darstellung einer Geschichte der Pflege ist wie alle anderen historischen Entwicklungen nie frei von gesellschaftlichen Einflüssen und Positionen: So hätte ein Ordensmitglied vor 100 Jahren die Bedeutung des Dienens in den Vordergrund gestellt. Ein Arzt oder Medizinhistoriker hätte vor 50 Jahren die enge Anbindung an die Entwicklung der Medizin hervorgehoben. Bis vor 10 Jahren gab es nur eine »Geschichte der Krankenpflege« (nicht der Pflege!), obwohl sich diese in ihrer Spezialisierung als ärztlicher Hilfsberuf erst ab dem 18.Jahrhundert langsam abzeichnete. Um eine Annäherung an eine möglichst objektive Betrachtung zu erleichtern, zeigt die . Tabelle 2.1 wichtige Ereignisse und Entwicklungen innerhalb der Pflege in ihrer Abhängigkeit/Zuordnung zu gesellschaftlichen Bedingungen und medizinischen Fortschritten. In der letzten Spalte erfolgt
eine Einschätzung des gesellschaftlichen Stellenwertes der Pflege. Die Übersicht (. Tabelle 2.1) geht hier bewusst nicht detailliert auf Jahreszahlen und Personen ein. Der Schwerpunkt liegt vielmehr in einer Verdeutlichung der Abhängigkeiten von Entwicklungen innerhalb der Pflege und gesamtgesellschaftlichen Vorgängen und Beurteilungen.Zum Aspekt »Medizin« wurde deshalb eine eigene Spalte eingerichtet, weil es hier immer besonders enge Verknüpfungen gab, die allerdings im Laufe der Jahrhunderte erheblichen Veränderungen unterworfen waren. Es muss hier nicht betont werden, dass die Übergänge im Verlauf der Jahrhunderte fließend waren und eine Reihe von Phänomen und Entwicklungen auch mehrere Jahrzehnte bzw. mehrere Jahrhunderte umspannten. Die Jahreszahlen ganz links können daher auch nur eine ungefähre zeitliche Einordnung des Beginns einer neuen Entwicklung markieren.
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Kapitel 2 · Geschichte der Pflege
. Tabelle 2.1. Pflegegeschichte in ihrem thematisch/chronologischem Verlauf
vor Christi Geburt
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Gesellschaftliche Bedingungen
Ereignisse/Entwicklungen der Pflege
Ereignisse der Medizin
Gesellschaftlicher Stellenwert der Pflege
Organisation in Familienund Stammesverbänden
Pflegende üben gleichzeitig Heilkunde aus
Priesterärzte/Ärzte der Antike entwickeln erste Diagnose- und Therapieformen
Heilkundliches Wissen und pflegerische Fürsorge sind Bestandteil familiärer Bindungen
Priesterärzte genießen eine herausgehobene Stellung Heilkunde und Religion sind untrennbar verbunden
1000
Die christliche Religion breitete sich verstärkt aus
Die christliche Religion wird zum staatstragenden Element der König- und Kaiserreiche in Europa
1500
Die sich entwickelnden Städte fördern den Bau von Hospizen
Reformation 1517 Thesenanschlag – in Teilen Deutschlands beginnt der Einzug von Kirchengütern und der Rückgang von Ordensgemeinschaften
1800
Landesfürsten übernehmen die Verantwortung für »Wohlfahrtspflege« und Gesundheit ihrer »Untertanen« Beginn der Industrialisierung mit ansteigenden Bevölkerungszahlen, Auflösung bestehender Familienstrukturen und beginnender Verelendung von altersbedingt oder gesundheitsbedingt gehandikapten Bevölkerungsteilen
Die Haltung der Pflegenden wird durch den karitativen Gedanken (im Hilfesuchenden Christus sehen, der Lohn für gute Taten ist nicht von dieser Welt) bestimmt
Pflege wird entsprechend der Werke der Barmherzigkeit allumfassend als Hilfeleistung jeder Art für Notleidende ausgeübt
Gedanken der Diätetik (besondere Speisen für Kranke zubereiten, eine angemessene Beschäftigung verschaffen u. a.) und der Säftelehre mit entsprechenden therapeutischen Praktiken wie Aderlass und Laxieren gehen in das Pflegehandeln ein, gleichzeitig werden überlieferte »Rezepte« der Volksmedizin angewendet
Die Erkenntnisse von Ärzten der Antike werden in den Klöstern tradiert
Erster »Pflegenotstand« aufgrund einer ungenügenden Anzahl qualifizierter bzw. motivierter Pflegekräfte
Die Medizin entwickelt sich zur einer Wissenschaft auf naturwissenschaftlicher Grundlage
Die Frau ist die geborene Pflegerin, eine fachlich fundierte Ausbildung wird als nicht nötig erachtet, die charakterliche Schulung der Aufopferung und Duldsamkeit wird betont, hauswirtschaftliche Fähigkeiten gehören zur Pflegeausbildung und Pflegeausübung Assistenz zur Unterstützung ärztlicher Heilkunst sowohl im Bereich der Behandlungsassistenz als auch im Sinne diätetischer Lebensführung
Systematische Versorgung bedürftiger Bevölkerungsgruppen mit pflegerischen und medizinischen Leistungen in Klöstern und Hospizen. Der karitative Gedanke übernimmt eine wichtige soziale Funktion
Mangelhafte hygienische Verhältnisse und fehlende Motivation der Kranken- Pflegekräfte führen hausregional zu einem ärzte Vertrauensschwund greifen verZunehmender Bedarf an mehrt Pflegekräften wird aus auf die untersten BevölkerungsUnterschichten rekrutiert stützung von Pflegekräften zurück
23 2.2 · Sechs Entwicklungslinien einer thematischen Pflegegeschichte
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. Tabelle 2.1. Fortsetzung Gesellschaftliche Bedingungen
Ereignisse/Entwicklungen der Pflege
Ereignisse der Medizin
Gesellschaftlicher Stellenwert der Pflege
Kriegerische Auseinandersetzungen werden zu »Massenkriegen«
Religiös motivierte Neubelebung der karitativen Pflegeorientierung durch Fliedner
Mediziner sehen in der Frau die ideale »Assistenzkraft«, da sie Voraussetzungen wie »Aufopferungsgabe«, »Unterordnung«, »Einfühlsamkeit« mitbringt
Der Bedarf an Pflege betten steigt auch infolge einer Zunahme älterer auf Pflege angewiesener Menschen
Die soziale Frage tritt politisch in den Vordergrund und führt zum Einstieg in die Sozialgesetzgebung
1900
Gewerkschaften etablieren sich Vor allem Frauen aus bürgerlichen Kreisen setzen sich für die Gleichberechtigung der Frau in der Gesellschaft ein Pflege ist einer der wenigen Frauenberufe
Rotkreuzschwestern unter humanitären und karitativen Leitmotiven Friedrich Zimmer gründet den Ev. Diakonieverein mit Ausbildungs- und Bildungschancen für Frauen
Pflegeausbildungen mit hohem Praxisanteil werden von den diversen Pflegeorganisationen angeboten
Gründung einer beruflich orientierten Pflegeorganisation (BO)
»Obrigkeitliches« Denken bestimmt das Handeln
1950
Nicht religiös gebundene Mutterhausschwestern, freiErster und zweiter Weltkrieg berufliche Pflegekräfte und erfordern eine gut organisozial abgesicherte Pflegesierte »Kriegskrankenpflege« kräfte (BO) nehmen zu
2.2
Die physiologische Betrachtung verdrängt zunehmend die ganzheitliche Betrachtung des Menschen
Der Eintritt in Pflegeorganisationen bringt für Frauen aus bäuerlichen Familien und benachteiligter Herkunft einen sozialen Aufstieg mit sich
»Messwerte« und phyBedarf in der Versorgung siologische Befunde ste- verwundeter Soldaten hen im Vordergrund wird für die Kriegführung bedeutender, in der Folge steigt der Stellenwert einer Krankenschwester
Arbeitszeit und Bezahlung geraten zunehmend in die Tarifvereinbarungen der Gewerkschaften
Sechs Entwicklungslinien einer thematischen Pflegegeschichte
Da derartige chronologisch orientierte Darstellungen wie in Tabelle 2.1 eng an Daten, Namen und bestimmte Ereignisse gebunden sind, geht mit ihnen der Nachteil einher, dass bestimmte zeitüberschreitende Entwicklungslinien nicht deutlich genug hervortreten können. Um dem entgegenzuwirken, orientiert sich die folgende Darstellung einer Pflegegeschichte an Entwicklungslinien, die in sich geschlossene thematische Einheiten ergeben. Daraus erwächst ein Orientierungsrahmen, der auf eine thematische
Pflegegeschichte hinausläuft. Unter diesem Gesichtspunkt zeichnen sich aufgrund der heutigen Quellenlage thematische Einheiten und Erkenntnisse ab, wie sie in der folgenden Übersicht aufgelistet sind. 5 Thema 1: Pflege wird seit fast zwei Jahrtausenden von Idealen der christlichen Nächstenliebe geprägt und getragen. 5 Thema 2: Pflege setzt Denkweisen der Diätetik um und praktiziert bis ins 18. Jahrhundert heilkundliches Wissen der Volksmedizin.
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Kapitel 2 · Geschichte der Pflege
. Tabelle 2.1. Fortsetzung
1950
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Gesellschaftliche Bedingungen
Ereignisse/Entwicklungen der Pflege
Ereignisse der Medizin
Wirtschaftlicher Aufschwung in Deutschland nach dem 2.Weltkrieg
Altenpflege wird zu einem sozialpflegerisch ausgerichteten Pflegeberuf
Die Fortschritte in der Medizin führen zu einer immer stärkeren Spezialisierung
In Europa strahlt der politische Integrationsprozess in viele Alltags- und Berufsbereiche aus
Zusatzausbildungen tragen dem medizinischen Spezialisierungsbedarf Rechnung
Demokratisierungsprozesse erfassen die Gesellschaft Der Kostendruck auf die Gesundheitseinrichtungen nimmt zu, Kostendämpfungsgesetze in der Krankenversicherung sind die Folge
Gegenwart
Der enorme Kostenanstieg in der Sozialhilfe durch Pflegeleistungen führt zur Etablierung der Pflegeversicherung Pflege beginnt sich als Wissenschaft zu etablieren Agrar- und Lebensmittelskandale lösen ein gesundheitsbewussteres Verbraucherverhalten aus
In den USA führt die Akademisierung der Pflege zur Entwicklung von Pflegetheorien, Deutschland bleibt hiervon zunächst unberührt
Das Gesundheitssystem wird nicht zuletzt wegen der rasant gestiegenen Diagnoseund Therapiemöglichkeiten immer teurer und droht unbezahlbar zu werden: medizinische und pflegerische Leistungen werden verstärkt in den ambulanten Bereich geleitet
Altenpfleger, Krankenund Kinderkrankenschwestern tragen personell im ambulanten wie im stationären Bereich das sozialpolitische Konzept einer umfassenden Gesundheitsversorgung
Während Kranken- und Kinderkrankenpflege zu einem relativ hohen gesellschaftlichen Ansehen gefunden haben, ringt die Altenpflege um Anerkennung; formal wird ihr diese durch die finanzielle Gleichstellung bei der tariflichen Eingruppierung zuteil
Ausweitung der Angebote in der ambulanten Pflege Geplante Pflege, weitere Pflegetheorien und Pflegeprozess nehmen inhaltlich Einfluss; Pflegeleitbilder orientieren sich an Pflegetheorien Über eine stärker an wissenschaftlichen Normen orientierte Pflegeausbildung halten neuere Pflegekonzepte Einzug in den Pflegealltag Pflegestudiengänge etablieren sich an deutschen Hochschulen
Gesellschaftlicher Stellenwert der Pflege
Die »Genmedizin« steht in ihren Anfängen
Mitarbeiter von Pflegediensten übernehmen Beratungsfunktionen
25 2.3 · Darstellung der Pflegegeschichte
5 Thema 3: Pflege wird seit dem 18. Jahrhundert in den Dienst der Medizin gestellt. 5 Thema 4: Pflege spezialisiert sich seit dem 19. Jahrhundert zur Kranken- und Kinderpflege, psychiatrischen Pflege und Altenpflege. 5 Thema 5: Pflege entwickelt sich seit ca. 100 Jahren zum Beruf. 5 Thema 6: Pflege erhält seit der Mitte des 20. Jahrhunderts inhaltlich neue Impulse.
Der folgende Text zur »Darstellung der Pflegegeschichte« bezieht sich auf die in der Übersicht angegebenen Entwicklungslinien, die in der . Tabelle 2.1 in ihrer gesellschaftlichen Einbindung wiedergegeben sind.
2.3
Darstellung der Pflegegeschichte
2.3.1 Pflege von Menschen und christliche Karitas Für mehr als 19 Jahrhunderte wurde die Pflege im Abendland durch die christliche Religion entscheidend geprägt. »Was ihr einem dieser meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.« (Matthäus 25, 40) Mit diesem Satz aus dem Weltgericht wird der Stellenwert der dort beschriebenen »Werke der Barmherzigkeit« für jeden unmissverständlich. Hier erhielt jeder Christ eindeutige Anweisungen, wie das Wort von der Nächstenliebe in Taten umsetzbar war. Die Werke der Barmherzigkeit stellten für einige hundert Jahre eines der Ideale christlichen Lebens dar. Nach jüdischer Tradition war vor allem die Hilfe für den Glaubensbruder wichtig; der Reformer, Jesus von Nazareth, sah diesen Anspruch im Alltag jedoch nicht realisiert und weitete ihn unter dem Gleichheitsanspruch vor Gott auf alle Menschen aus. Nach den Evangelisten waren es vor allem die sich in der ersten Hälfte des nachchristlichen Jahrhunderts gründenden Klostergemeinschaften, die diesen Teil der christlichen Botschaft, zum Teil durch Aufnahme in ihre Ordensregeln, weitertrugen. Die wohl bekannteste Ordensregel ist die von Benedikt von Nursia (480–547) verfasste Benedik-
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tinerregel.Das 36.Kapitel dieser Regel legt den Umgang mit kranken Menschen fest. Diese frühen »Pflegeregeln« sind in direktem Bezug zum Weltgericht und den Werken der Barmherzigkeit zu sehen. Heißt es doch in Satz 1 dieser Regel: »Die Sorge für die Kranken muss vor und über allem stehen: man soll ihnen so dienen, als wären sie wirklich Christus« (zit. n. Salzburger Äbtekonferenz 1996, S. 163).Zum Dienst an Christus kommt ein weiteres Prinzip, das die karitative Pflege kennzeichnet: Zwar wird von den zu pflegenden Menschen erwartet, dass sie keine »übertriebenen Ansprüche« stellen, aber wenn sie sich als schwierig erweisen, müssen sie »in Geduld ertragen werden; denn durch sie erlangt man größeren Lohn« (zit. n. Salzburger Äbtekonferenz 1996, S 163). Der in Aussicht gestellte Lohn bezog sich allerdings nicht auf irdische Güter, sondern auf das Leben nach dem Tod, dem Leben im himmlischen Paradies.Pflege ist also Dienst an Gott und wird nicht auf Erden entlohnt. Diese Pflegeideologie erwies sich als äußerst erfolgreich, bildete sie doch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein im christlich geprägten Abendland die herausgehobene Motivation für die Pflege verwaister Kinder, kranker Erwachsener und Kinder sowie alter gebrechlicher Menschen. Wie wichtig diese Grundlage war, erwies sich im 18. Jahrhundert, als mit der Reformation in einigen von Ordensgemeinschaften entblößten Gebieten der erste Pflegenotstand ausbrach. In protestantischen Gebieten konnten Pflegeleistungen in den neu entstehenden Krankenhäusern nicht mehr durch Mitglieder von Ordensgemeinschaften sichergestellt werden, so dass ein Rückgriff auf Menschen aus unteren sozialen Schichten erfolgte. Die Angehörigen dieser Schichten,die im Gegensatz zu den Mitgliedern der in der Regel aus adeligen oder anderen wohlhabenden Kreisen stammenden Ordensmitgliedern hart am Rand des Existenzminimums lebten, verrichteten die ihnen aufgetragene Arbeit in den Krankenhäusern aus materieller Not.Der nicht selten fehlende Eifer, aber auch die eigene Sozialisation hinsichtlich hygienischer und anderer materieller Lebensbedingungen führten in vielen Häusern zu Bedingungen, die ein Überleben in den Krankenhäusern zum Glücksspiel werden ließen. Hinzu kam natürlich die ärztliche Ohnmacht vor Krankheitserregern und Infektionen.
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Kapitel 2 · Geschichte der Pflege
Um die durch die Reformation entstandenen Lücken in der pflegerischen Versorgung zu schließen, wurden im 19. Jahrhundert neue Pflegegemeinschaften ins Leben gerufen. Eine der ersten dieser neuen Gemeinschaften war die von dem protestantischen Geistlichen Theodor Fliedner gegründete »Pflegerinnenanstalt« in Kaiserswerth bei Düsseldorf. Die Organisation gestaltete Fliedner nach dem Vorbild katholischer Mutterhausorganisationen wie dem Orden der Barmherzigen Schwestern. Das Mutterhaus sorgte in allen existentiellen Belangen für die eingetretenen Schwestern,die vom Mutterhaus an Krankenhäuser entsandt wurden oder in deren Auftrag ambulant tätig wurden. Das Mutterhaus schloss Verträge über die Arbeitsleistung und finanzielle Vergütung mit den Beziehern der Pflegeleistung ab.Die vereinbarte Vergütung erhielt das Mutterhaus, das seinerseits seine Angehörigen bei Krankheit, Invalidität oder altersbedingt aufnahm. Die Bezeichnung »Diakonisse« wurde von Fliedner in Anlehnung an das unter den frühen Christen geschaffene Ehrenamt des Diakons, der Diakonisse (neutestamentl. Griech.: diakonos = Diener) gewählt, die das Leben der frühen Christen in ihren Gemeinden unterstützen sollten. Der Dienst am kranken Menschen wurde von Fliedner demnach im urchristlichen Sinn definiert und um eine seelsorgerisch-werbende Komponente erweitert, so heißt es in § 26 seiner Haus- und Dienstanweisung:
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Da sie aber Mägde der Kranken sind, nicht um der Kranken willen, sondern nur um Jesu willen, haben sie ihnen alle Liebe und Geduld nicht in der Absicht zu erweisen, um von ihnen Lob zu erlangen, … sondern stets mit dem Endzweck, daß sie dem Herrn ihre Seelen gewinnen (zit. n. Sticker 1960, S. 250).
Vergleicht man diesen Anspruch mit dem Wert Autonomie, der für den modernen Menschen des 21. Jahrhunderts ganz weit nach vorn gerückt ist, wird begreiflich, welch schwieriger Umdenkungsprozess unter den Pflegenden in den letzten Jahrzehnten geleistet werden musste und immer noch zu leisten ist. Tragischerweise erschwerte es der über viele Jahrhunderte erfolg- und segensreiche Karitasgedanke der Pflege im späten 20. Jahrhun-
dert mit der gesellschaftlichen Entwicklung Schritt zu halten.Abgesehen von der lange quälenden Neuorientierung von der Berufung zum Beruf hat der christlich motivierte Dienst am Nächsten mit klar definierten gebenden und empfangenden Rollen auch die Zulassung partnerschaftlichen Agierens übersehen. So wundert es nicht, dass es noch heute vielen Pflegenden schwer fällt,in ihrer Arbeit einen Prozess zu sehen,der in enger Kooperation und Reflexion mit den Bedürfnissen des zu pflegenden Menschen geschieht.
2.3.2 Diätetik und Gesundheitsförderung Diätetik kommt aus dem Griechischen und bedeutet »Lebensweise«. Heute wird dieser Begriff in der Regel einseitig auf bestimmte Ernährungsformen angewendet, in der Antike und den nachfolgenden Jahrhunderten hatte er eine umfassendere Bedeutung, die das gesamte Leben umspannte. Die Erfahrung hatte die Ärzte der Antike gelehrt, dass Selbstheilungskräften des Menschen, auf die Mediziner in noch größerem Maße angewiesen waren, als dies heute der Fall ist, eine vorbeugende wie auch eine heilende Wirkung zukommt. Ausreichender Schlaf und hinreichende Bewegung zählten genauso zu den die Gesundheit und damit die Selbstheilungsfähigkeit fördernden Faktoren wie entspannende und körperpflegende Tätigkeiten und natürlich auch Regeln für eine gesunde Ernährung. Darstellungen über entsprechende Zusammenhänge finden wir unter anderem in den Werken des Hippokrates, beispielsweise in seinen Abhandlungen über die »Umwelt« (Hippokrates 1994, S.123–160) oder in »Die Regelung der Lebensweise« (Hippokrates 1994, S. 270–318). Nicht nur die Benediktinerregel oder die Abhandlungen der Äbtissin Hildegard von Bingen (1098–1179) belegen, dass die Gedanken der Diätetik im Mittelalter und bis weit in die Neuzeit fortwirkten.Im ausgehenden 18.und dem beginnenden 19. Jahrhundert propagierte der Arzt und Universitätsprofessor Franz Anton Mai (1742–1814) die Bedeutung günstiger Lebensbedingungen als vorbeugende und heilende Stütze gegen Krankheiten. Im Krankenhausbereich forderte er daher den Einbezug entsprechender Maßnahmen, die von Pflegenden, den Wärterinnen und Wärtern, umgesetzt
27 2.3 · Darstellung der Pflegegeschichte
werden sollten. Auf Mai geht eine der ersten Schulen für »Krankenpflegewärter« zurück. Angesichts der immer mehr auf messbare Werte zurückgreifenden Medizin gerät dieser Teil der Heilkunde allerdings spätestens seit dem 19. Jahrhundert immer weiter ins Hintertreffen. Erst mit der Definition der WHO von 1946, dass Gesundheit nicht nur das »Freisein von Krankheit und Gebrechen« darstellt, sondern »einen Zustand des vollkommenen körperlichen, sozialen und geistigen Wohlbefindens« darstellt, wurde wieder das subjektive Empfinden des Menschen in den Vordergrund gestellt. Gesundheit wird damit wieder als ein Prozess verstanden, der durch eine gesunde Lebensführung beeinflussbar ist. Eine entsprechende Gesundheitsförderung ist also auch ohne eine drohende mögliche Erkrankung wichtiger Bestandteil des täglichen Lebens und wird mittlerweile im Altenpflegegesetz wie im Krankenpflegegesetz als Ziel formuliert. Im Unterschied zur Gesundheitsförderung spricht man von sekundärer Prävention oder Prophylaxe, wenn ein bestimmtes Gesundheitsrisiko erkennbar wird, also z. B. eine Dekubitusprophylaxe. Während sich die Prävention bereits einen sicheren Platz im pflegerischen Denken gesichert hat, findet die Umsetzung der Gesundheitsförderung bislang nur zögerlich ihre Rückkehr in den pflegerischen Alltag.
2.3.3 Pflege und Medizin
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Da nahm die alte Königin das Wundheilkraut Diptam und warmen Wein und ein Stück blauen Linnens. Damit wischte sie die Blutstropfen aus den Wunden, wo welche waren, und sie verband ihn so, dass er genesen konnte (zit. n. Schipperges 1990, S. 139)
Dieser Auszug aus dem Werk Parzival von Wolfram von Eschenbach (etwa 1170/80–1220) ist ein Beispiel für die heilkundliche Tätigkeit von Frauen, die mit ihrer »Hausapotheke« geschickt umzugehen wussten. Die fachkundige Behandlung und Pflege des verwundeten Ritters der Tafelrunde, Parzival, gehörte allgemein zur Alltagsarbeit von Frauen bei Krankheiten und Verwundungen aller Art.
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Diese Fähigkeiten scheinen allerdings nicht auf Frauen beschränkt gewesen zu sein. So gibt es z. B. Darstellungen, auf denen der Held Achilles die Wunden seines Freundes Patroklos verbindet.Heilkundliches Wissen war Alltagswissen; als besonders heilkundig geltende Frauen wurden auch als »weise Frauen« bezeichnet.Heilkundliche und pflegerische Tätigkeiten gingen Hand in Hand. Neben den »Volksheilern« existierten die hoch angesehenen Priesterärzte, wie wir sie von den Ägyptern oder auch aus Griechenland in den Asklepios-Heiligtümern kennen.Daneben entwickelte sich ein »weltlicher« Ärztestand, der in Griechenland mit Hippokrates einen seiner bekanntesten Vertreter hervorbrachte. Nach dem Untergang der griechisch-römischen Kultur in der Völkerwanderung fand die ärztliche Tradition in Europa ein vorläufiges Ende. Träger und Bewahrer der medizinischen Kenntnisse aus dem Altertum waren die Klöster, in denen die antiken Schriften aufbewahrt, gelesen und abgeschrieben wurden. Einige gebildete Mönche hatten sich auf die Schriften berühmter Ärzte wie Galen (Galenus) verlegt.Vornehmliche Behandlungsmethoden bestanden entsprechend der Säftelehre im Aderlass oder dem Abführen.Zu jedem Kloster gehörte auch ein Kräutergarten zur Kultivierung verschiedenster Heilpflanzen. Außerhalb der Klöster waren es weitgehend die vielen heilkundigen Frauen, die weisen Frauen, die vorwiegend auf der profunden Kenntnis der Anwendung von Heilpflanzen eine medizinische Versorgung der Bevölkerung sicherstellten. Einer der Gründe, warum diese Frauen später zu den Opfern der Hexenverfolgung wurden,ist wahrscheinlich in der Anwendung überlieferter heidnischer Sprüche zu sehen. Diese die Heilung begleitenden Sprüche waren seit Generationen überliefert worden und wurden, da sie nicht an Gott gerichtet waren, als Zeichen einer Verbindung mit dem Teufel gedeutet. In dieser Erklärung ist allerdings nur ein Teilaspekt des Phänomens »Hexenverfolgung« zu sehen. Änderungen hinsichtlich ärztlicher Aktivitäten traten in Deutschland ab dem späten Mittelalter mit einem vermehrten Auftreten von »studierten« Ärzten ein.Vom arabischen Raum hatte sich über Süditalien ärztliches Wissen auch an deutschen Universitäten etabliert. Neben dem Begriff »medicus« galt vor allem die Bezeichnung »physicus« als Eh-
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Kapitel 2 · Geschichte der Pflege
rentitel für Ärzte, die mit dem Wissen der hochgeschätzten arabischen Medizin vertraut waren. Da Ärzte nicht nur für die meisten Menschen unbezahlbar waren, sondern auch als eher theoriebelastet denn praktisch heilkundlich galten, wurde die Volksmedizin weiterhin von weisen Frauen und den Badern sowie den nicht studierten, als Handwerker geltenden Wundärzten ausgeführt. Der Chirurgenstand ist auf das kirchliche Verbot chirurgischer Eingriffe durch Klosterärzte zurückzuführen: Die Hand, die Hostien reichte, sollte als Vertreter Gottes kein Blut vergießen. Staatliche Regelungen über Studium, Prüfung oder Zulassung und die Vereinheitlichung des Ärztestandes wurden in verschiedenen deutschen Staaten erst im 19. Jahrhundert erlassen, in Preußen im Jahre 1852. Etwa die Hälfte der Ärzte wurde öffentlich angestellt und unter anderem zur Behandlung Bedürftiger verpflichtet. Nach und nach war es den Ärzten gelungen, die alleinige Behandlungsbefugnis durchzusetzen. Eine der letzten nichtärztlichen Bastionen hielten die Hebammen,deren Behandlungsprivilegien erst etwa ab dem 17. Jahrhundert durch zahlreiche Verordnungen mehr und mehr eingeschränkt wurden. An den ab dem 18. Jahrhundert vermehrt gebauten Krankenhäusern waren zunehmend mehr Ärzte hauptamtlich angestellt worden. Neben ihnen gab es dort weiterhin die in Orden organisierten Frauen oder die Arbeit wurde von den als »Krankenwärterin« in Dienst genommenen, in der Regel in der Volksheilkunde bewanderten Frauen, durchgeführt. Kompetenzgerangel zwischen Ärzten und »Laien« schienen an der Tagesordnung gestanden zu haben: So beklagte der Arzt und Universitätslehrer Franz Anton Mai,der 1781 eine Krankenwärterschule eröffnet hatte, dass sich viele der Krankenwärterinnen »über Heilarten rechtschaffener Ärzte« lustig machten, »abergläubische Mittel und allerhand Quacksalbereien« anwendeten und den Arzt »zum Nachteile des Kranken« hintergingen (zit. n. Rüller 1999a, S. 140). Aber auch gegenüber Pflegekräften aus Ordensgemeinschaften schien es Ressentiments gegeben zu haben. So erscheint 1856 in der Zeitschrift Wiener Medizinische Wochenschrift Kritik an den eben erst für das Wiener Allgemeine Krankenhaus gewonnenen Barmherzigen Schwestern, unter anderem die Kritik, dass sie alternative Heilmethoden gegenüber Me-
dikamenten bevorzugen würden und außerdem die Tendenz aufwiesen, über die Leitung des Hauses mit der Ärzteschaft in Konflikt zu geraten (Seidl u. Walter 1998, S. 226 f). Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts schienen die Kompetenzen nicht völlig geklärt,heißt es doch in § 2 eines Vertrages zwischen einem Krankenhaus und dem den Pflegedienst stellenden Diakonissenmutterhaus: »Diese [die Diakonissen] haben den Anordnungen der Direktion unbedingt, den Anordnungen der Ärzte in Beziehung auf die Pflege und Behandlung der Kranken unbedingt Folge zu leisten« (Stadtarchiv Oldenburg 136 Nr. 5039, zit. n. Rüller 1999a, S. 58). Während Krankenwärterinnen und Ordensschwestern promovierte und nicht promovierte Ärzte mit Anspruch auf Weisungsbefugnis gegenüberstanden, entwickelte sich eine dritte Gruppe im Gesundheitswesen des 19. Jahrhunderts, der Stand der »Heildiener« bzw. der »Heilgehilfen«. Es handelte sich um Berufsgruppen, die sich auf der »Männerseite« weitgehend auf die Aufgabenstellung der Bader konzentrierte,auf der »Frauenseite« auf die der Hebammen. In den »Vorschriften über die Prüfung und Beaufsichtigung der staatlich geprüften Heilgehilfen und Masseure vom 18.Februar 1903«, veröffentlicht im Ministerialblatt für Medizinangelegenheiten von 1903, wurden Aufgaben und Stellung geregelt:
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13. Die »staatlich geprüften Heilgehilfen usw.« sind verpflichtet, auf Anordnung des Arztes diejenigen Verrichtungen vorzunehmen, auf welche ihr Befähigungsausweis lautet, sie haben hierbei Weisungen des Arztes unbedingt Folge zu leisten (zit. n. Steppe 1998, S. 31).
Hier wie auch einige Jahre später bei der Verabschiedung des Krankenpflegegesetzes in Preußen wird die Unterscheidung zwischen ärztlichen und nichtärztlichen Heilberufen klar gezogen, wobei alle »eigenständigen Anteile nach und nach ausschließlich der Medizin zugeordnet werden« (Steppe 1998, S. 35). Innerhalb von weniger als 200 Jahren war aus der heilkundlich und pflegerisch eigenverantwortlichen Frau die ausschließlich auf Anweisung pflegende Frau geworden.
29 2.3 · Darstellung der Pflegegeschichte
Bei dieser Entwicklung hatte sicherlich eine wichtige Rolle gespielt, dass der Medizin vor allem im 19. Jahrhundert gewaltige Fortschritte gelungen waren: Mit Pasteur (1822–1895) und Koch (1827– 1912) wurde die Bakteriologie der Medizin nutzbar gemacht,Lister (1827–1912) hatte das »antiseptische Prinzip« eingeführt. Die Frau war mit diesen und anderen immensen Fortschritten der Medizin zur »Gehilfin« des Arztes geworden. Die Schwestern hatten dabei »wesentliche Dienste« beim Aderlassen, Schröpfen, Ansetzen von Blutegeln und anderen Hilfen bei jetzt ausschließlich ärztlichen Tätigkeiten zu leisten; geschätzt wurde dabei vor allem ihre »praktische Gewandtheit, Ausdauer, Unerschrockenheit und das zarte sanfte Benehmen derselben im Umgang mit den Kranken …« (Joseph Buß 1844, zit. n. Sticker 1960, S. 170).
2.3.4 Spezialisierung in der Pflege Im Abschn.2.3.3 klang bereits die assistenzärztliche Funktion der Schwester an.Der auch heute noch gebräuchliche Begriff »Schwester«, mit denen weibliche Pflegekräfte in Altenheimen, Kranken- und Kinderkrankenhäusern angesprochen werden, hat seinen Ursprung in den christlichen Gemeinden und Ordensgemeinschaften. Dort verstand man sich als Bruder und Schwester vor dem Herrn. Die Schwester des Mittelalters und der frühen Neuzeit leistete ihre oben beschriebene umfassende Hilfe vor allem in Hospizen, die von kirchlichen oder weltlichen Stiftern gegründet und unterhalten wurden. Solche Hospize umfassten manchmal nur wenige Betten,andererseits konnten sie die Größe riesiger Hallen mit 50 und mehr Betten erreichen. Für die Aufnahme war nicht eine bestimmte Erkrankung entscheidend, sondern in der Regel eine Hilflosigkeit, die nicht aus eigener Kraft überwunden werden konnte. Diese Hilfsbedürftigkeit reichte vom Findelkind über den erkrankten Reisenden und gebrechlichen alten Menschen bis hin zu denen, die aufgrund eines zeitweiligen oder dauerhaften psychischen oder physischen Schadens nicht in der Lage waren, ihren Lebensunterhalt zu erbetteln.Da die überwiegende Mehrzahl der Menschen im Notfall auf eine Einbindung in verlässliche Familienbande vertrauen konnte, hielt sich die Anzahl der benötigten Hospizplätze in überschau-
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baren Größenordnungen.Dies änderte sich erst mit Beginn der Industrialisierung, die ein gewaltiges Anwachsen der Städte mit lockerer werdenden Familienstrukturen zur Folge hatte. Die Anzahl verwaister Säuglinge und Kinder nahm rapide zu, so dass erste Spezialhäuser wie das 1802 eröffnete »l’hôpital des enfants malades« in Paris oder die 1830 gegründete Kinderkrankenabteilung in der Charité in Berlin eröffnet wurden. Insgesamt setzten sich spezielle Kinderkrankenhäuser nur zögerlich durch. Anders verhielt es sich beim Krankenhausbau, der sich den Regierenden als dringende Aufgabe auch im Sinne einer qualifizierten und organisierten Ausbildung von Medizinern stellte. Die bisherigen Hospize,Armenbaracken oder Siechenhäuser übernahmen mehr und mehr die Funktion von Altenheimen, während Kranke in den neu errichteten Krankenhäusern aufgenommen wurden. Die spezialisierten Institutionen,dazu zählten auch spezielle Häuser für psychisch Kranke, wiesen bereits Ende des 19. Jahrhunderts klare Konturen auf. Konsequenterweise folgten spezialisierte Ausbildungen und Berufsbezeichnungen. Die erste gesetzliche Regelung für die Krankenpflegeausbildung wurde in Preußen im Jahre 1907 erlassen; die gesetzlich geschützte Berufsbezeichnung für die Kinderkrankenschwester wurde erstmalig im Krankenpflegegesetz von 1957 festgeschrieben; die staatlich geschützte Berufsbezeichnung Altenpfleger, Altenpflegerin wurde erst im Jahre 2000 mit dem Altenpflegegesetz erlassen (z. Z. der Drucklegung wegen einer Verfassungsbeschwerde des Landes Bayerns noch nicht in Kraft), bis zur Inkraftsetzung wird der Beruf der Altenpflege von den einzelnen Bundesländern in ihren bereits bestehenden Ausbildungsordnungen geregelt.
2.3.5 Pflege wird zum Beruf Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts hatten Angehörige katholischer Ordensgemeinschaften und der Mutterhausorganisationen durch ihre qualifizierte Mitarbeit wieder zu vermehrter gesellschaftlicher Anerkennung der Pflegetätigkeit beigetragen; diese Entwicklung wurde durch die zunehmend professioneller werdende ärztliche Behandlung in den Krankenhäusern und der Bedeutung Pflegender als wichtige ärztliche Assis-
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Kapitel 2 · Geschichte der Pflege
tenzkraft begünstigt. Für viele Zeitgenossen gab es keinen Zweifel daran, dass »gründliche Kenntnis der Religion und tiefer religiöser Sinn« die Bedingung ist, ohne die eine Krankenpflegerin ihre Arbeit nicht versehen kann. (Johannes Evangelista Gossner um 1837, zit. n. Sticker 1960, S. 186). Es gab jedoch auch andere Stimmen wie die des Berliner Pathologen, Rudolf Virchow (1821–1902), der in einer Rede aus dem Jahre 1869 deutlich zum Ausdruck brachte, dass Pflegetätigkeit nicht mehr aus christlicher Liebestätigkeit, sondern als Aufgabe bürgerlicher Wohlfahrtspflege zu betrachten sei (Seidler 1966, S. 165). Neben der auch weiterhin weitgehend geforderten religiösen Anbindung der Pflegenden war es vor allem das erfolgreiche Mutterhausmodell, das zunächst die Ausübung von Pflegetätigkeiten als normale berufliche Betätigung verhinderte.Sowohl christliche Motivation als Liebesdienst wie auch die Organisationsform widersprachen einer Bezahlung von Pflegetätigkeit.Viele Frauen ertrugen die Enge der Mutterhaushierarchien mit der als unangemessen empfundenen eingeschränkten Bewegungsfreiheit nicht. So schrieb die damalige Probeschwester eines Rot-Kreuz-Verbandes,Agnes Karll, im Jahre 1887 in einem Brief an ihren Onkel: »Die hiesigen Verhältnisse sind einfach unhaltbar, weil Frau Oberin durch ihre grenzenlose Heftigkeit, Strenge und Hochmut es dahin bringen wird, dass auch nicht eine Schwester im Haus bleibt« (Sticker 1994, S. 33). Neben dem Konfliktfeld Mutterhausschwestern/Freie Schwestern soll nicht unerwähnt bleiben, dass es auch Anzeichen für einen »Kriegsschauplatz« zwischen den Krankenwärterinnen aus der Unterschicht und den Schwestern aus dem bürgerlichen Milieu gab. So weist Hilde Steppe (1998) in ihrem Aufsatz »Mrs. Gamp und die Folgen – Von der Wärterin zur Krankenschwester« darauf hin, dass nicht nur im angloamerikanischen Raum Verdrängungstendenzen der Krankenwärterin, im Roman von Charles Dickens über die unsympathische Figur der Mrs. Gamp personalisiert, sondern auch im deutschsprachigen Raum zu vermuten sind (Steppe 1998, S. 24 f). Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Zeit dann reif für eine von Mutterhausstrukturen gelockerte Organisation der Pflegearbeit.Da eine rein
freiberufliche Pflegetätigkeit nicht denkbar war, unter anderem auch deshalb, weil jegliche soziale Absicherung gefehlt hätte, wurde unter Federführung der inzwischen »Wilden Schwester«, d. h. nicht mutterhausgebundenen Schwester Agnes Karll, die »Berufsorganisation der Krankenpflegerinnen Deutschlands sowie der Säuglings- und Wohlfahrtspflegerinnen«, kurz BO, im Jahre 1903 ins Leben gerufen. Die BO schloss für ihre Mitglieder privatrechtliche Krankenversicherungen ab und vermittelte ihren Mitgliedern Arbeitsverträge mit Krankenhäusern. Die Arbeitsbelastung der Schwestern blieb aufgrund der traditionellen Aufopferungswilligkeit mit der Folge eines verkürzten Verbleibs im Beruf sehr hoch. Erst ab dem Jahre 1927 wurde eine 11-stündige Arbeitszeit durchgesetzt! Vor allem war es dem beharrlichen Wirken der Gewerkschaften zu verdanken,dass auch gegen den Widerstand der Mutterhausorganisationen nach und nach arbeitsphysiologische und rechtliche Verbesserungen erreicht wurden,die den Beruf der Schwester/des Pflegers für eine ausreichende Anzahl junger Menschen hinreichend attraktiv werden ließ.
2.3.6 Pflege professionalisiert sich Heute verstehen wir unter Professionalisierung die qualifizierte Ausführung einer beruflichen Tätigkeit. Im Sinne dieser Definition verbietet sich eine entsprechende Betrachtung für zurückliegende Epochen. In der folgenden Betrachtung soll der Professionalisierungsgedanke allerdings zunächst frei vom Kriterium »berufliche« Tätigkeit betrachtet werden, da es auch bei der heutigen Professionalisierungsdebatte weniger auf den formalrechtlichen Berufsstatus ankommt, sondern vielmehr auf die Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität, die von Angehörigen der Pflegeberufe geleistet wird. Betrachten wir einige Stationen der Pflegegeschichte unter diesem Blickwinkel, dann handelt es sich um keine Errungenschaft der Gegenwart, sondern um einen weit zurückverfolgbaren Prozess. Gehen wir auf diesem Weg zurück ins Mittelalter,so begegnet uns beispielsweise die bereits in Abschn.2.3.1 erwähnte Benediktinerregel.Darin heißt es in Kapitel 36, Satz 8:
31 2.3 · Darstellung der Pflegegeschichte
7
Man biete den Kranken sooft es ihnen guttut, ein Bad an; den Gesunden jedoch und vor allem den Jüngeren erlaube man es nicht so schnell. Die ganz schwachen Kranken dürfen außerdem zur Wiederherstellung ihrer Gesundheit Fleisch essen. Doch sobald es ihnen besser geht, sollen sie alle nach dem gleichen Brauch auf Fleisch verzichten (zit. n. Salzburger Äbtekonferenz 1996, S. 165).
Ein Bad zu nehmen, war im Mittelalter mit einem hohen Aufwand verbunden: Wasser musste vom Brunnen zum Badezuber transportiert, Feuerholz zur Erwärmung des Wassers herbeigeschafft werden. Auch gehörte das Fleisch nicht jeden Tag auf den Tisch, sondern war Festtagen vorbehalten. Bei Bedarf wurden also außergewöhnlich hohe Anstrengungen unternommen, um zu einer Steigerung des Wohlbefindens und damit zur Heilung beizutragen. Wir würden heute von individueller ganzheitlicher Pflege sprechen, die hinter diesen Vorschriften zu sehen ist. Ein anderes Beispiel für Professionalisierungsbestrebungen,diesmal aus der Neuzeit,können wir beispielsweise der Anleitung zur Krankenwartung des Arztes Johann Friedrich Dieffenbach (1792– 1847) entnehmen: Die Gestaltung äußerer Bedingungen wird hier genauso geschildert wie qualifizierte pflegerische Hilfen z. B. gegen das »Durchliegen« oder die erwartete Unterstützung ärztlicher Tätigkeit.Dieffenbach betont immer wieder,dass es sich um eine zu erlernende differenzierte Tätigkeit handelt, auf die er immer wieder hinweist:
7
Es sind viele hundert Kleinigkeiten mehr, die eine gute Krankenwärterin wissen muß, und man sollte billig keinem den Zutritt zu Kranken gestatten, der nicht vorher in dieser Kunst wohl unterrichtet worden wäre (zit. n. Sticker 1960, S. 91).
War es im Mittelalter das religiöse Motiv, das auch die Pflege erfasste, oder in der Neuzeit die Ärzteschaft als treibende Kraft einer sich weiter qualifizierenden Pflegearbeit, so ist diesen Professionalisierungsbestrebungen ein von außen initiiertes
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Handeln gemeinsam. Hier ist der eigentliche Unterschied zur Gegenwart zu sehen, in der von Angehörigen der in der Pflege Tätigen oder ehemals Tätigen eine innere Qualifizierung angestrebt wird. Die erste aus dem Kreis der Pflegenden, die in der Pflege mehr sah, als »die Verabreichung von Medikamenten und die Anwendung von Umschlägen« war die Engländerin Florence Nightingale (1820– 1910); ihr war klar, dass »die eigentlichen Elemente« der Pflege noch auf ihre Entdeckung warten und daher weiter professionalisiert werden müssen (Rüller 1999a, S. 62). Das Denken und Umsetzen einer Pflegetätigkeit als Prozess, die Orientierung am Grad der Unterstützungsbedürftigkeit oder die Bedeutung der Biographie und der Autonomie eines Menschen, wie sie uns von diversen Pflegemodellen und Pflegetheorien nahegebracht werden,stehen in der Praxis erst am Beginn, das Pflegehandeln maßgeblich zu beeinflussen oder gar zu prägen. Zu den behindernden Strukturen zählen sicherlich traditionelle hierarchische Strukturen ebenso wie die dogmatische Verteidigung eines funktionalistischen Schemas der Pflegearbeit, das die Sicherheit einer formal erledigten Arbeit vermittelt. Ein äußerlicher Zwang, wie er durch die im Krankenpflegegesetz wie im Altenpflegegesetz geforderte prozessorientierte und gesundheitsfördernde Pflege verlangt wird, hat diese Denk- und Handlungsmuster jedenfalls auch nach 15 Jahren nicht beseitigen können. Erleichtert wurde dieses beharrliche »weiter so, wie wir es immer gemacht haben« sicherlich auch durch das markwirtschaftlich untypische konkurrenzfreie Nebeneinander bei Krankenhäusern wie bei Altenheimen. Andererseits gibt es objektiv noch keinen Grund in Ungeduld zu erstarren, da sich neue Gedanken noch nie in wenigen Jahren durchgreifend verbreitet haben. Auch dies lehrt uns die Geschichte. Zusammenfassung Die Entwicklung des Pflegeberufs ist mehrdimensional zu betrachten, wenn die verschiedenen Facetten sichtbar werden sollen. Um diesem Anspruch einerseits übersichtlich, andererseits didaktisch um-
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Kapitel 2 · Geschichte der Pflege
setzbar nachgehen zu können, erfolgte die Darstellung der Pflegegeschichte nicht in der gewohnten chronologischen Abfolge, sondern über sechs »Entwicklungslinien«, die eine thematische Herangehensweise impliziert. Jede der sechs Entwick lungslinien wird von seinen Anfängen bis hin zu heutigen Auswirkungen bzw. Veränderungen dargestellt. Dadurch ist gewährleistet, dass Geschichte einen Beitrag zum Verständnis der Gegenwart leisten kann. Diese Herangehensweise wird auch für die Vermittlung der Gesamtthematik vorgeschlagen, da hierdurch auch im Unterricht leichter Entwicklungen und Begründungszusammenhänge erschlossen werden können. Außerdem bietet diese Herangehensweise den Vorteil,das Interesse und die Motivation für Geschichte der Pflege zu erhalten, da statt eines Dschungels von Zahlen und Ereignissen Zusammenhänge nachvollzogen und eigene Schlussfolgerungen gezogen werden können.
3 Methodische Vorschläge für die Seminargestaltung Geschichtsdidaktik
Geschichtsdidaktik bemüht sich darum, wichtige Erkenntnisse der Geschichtswissenschaft auf ein dem zeitlichen Rahmen von Unterricht angepassten Niveau zu vermitteln. Dabei kommen ihr im Wesentlichen zwei Aufgaben zu: 4 1. Den Erkenntnisstand der Geschichtswissenschaft in seiner Qualität zu erhalten. Dies ist in der Regel nur durch eine sinnvolle Auswahl von Phänomenen möglich. Eine Wiedergabe möglichst sämtlicher Ereignisse in gekürzter Form wäre für die Grundausbildung völlig ungeeignet, da der Unterricht dann nur unwesentlich über die Rezeption von Fakten hinausgehen könnte. 4 2.Methoden zu kreieren,die dazu geeignet sind, den Lernenden zu Erkenntnissen zu führen,die das Verstehen der Vergangenheit und die Einschätzung der Gegenwart ermöglichen.
Beiden Ansprüchen wird eine Unterteilung der Pflegegeschichte in thematische Einheiten in hohem Maße gerecht, so dass für die inhaltliche Auswahl die im vorangegangenen Kapitel vorgestellten Inhalte relevant sein können.Damit es auch hierbei nicht zu einer undurchschaubaren Datenfülle, sondern zur Konzentration auf die wesentlichen Aussagen/Erkenntnisse kommen kann, wird eine exemplarische Herangehensweise vorgeschlagen,wie sie von Wagenschein (1991) und Klafki (1993) propagiert werden. Exemplarität bedeutet hier z. B., dass der Karitasgedanke an der Klosterpflege im Mittelalter oder auch an der Biographie Elisabeths von Thüringen verdeutlicht werden kann. Des weiteren wird hier als eine Methode,die ein handlungsorientiertes Vorgehen ermöglicht, das entdeckende Lernen vorgeschlagen. Medien sind Quellenauszüge mit möglichst hohem Motivationsgrad und möglichst hoher Repräsentanz für einen erkenntnisorientierten Lernzuwachs; für die Klosterpflege gewährleistet dies beispielsweise das 36. Kapitel aus der Benediktinerregel. Phasenkonzept
Das im folgenden vorgestellte Phasenkonzept ist am entdeckenden Lernen orientiert. Entdecken bedeutet hier die eigenständige Auseinandersetzung mit den historischen »Fakten«, die in Form von Quellen untersucht werden. Ein näheres Eingehen auf den »Akt der Entdeckung« erfolgt in der sich anschließenden Erläuterung des in fünf Schritten vorgestellten Phasenmodells zum entdeckenden Lernen (. Tabelle 2.2). Das Phasenschema zielt zudem auf exemplarisches Lernen. Zwar gibt es in der Geschichte keine exakt gleichartigen Erscheinungen,dennoch lassen sich einige übergeordnete Einsichten festmachen, die sich an den Leitlinien der Übersicht in Abschn.2.2 orientieren.Insgesamt verbergen sich hinter der vorliegenden Phasierung drei didaktische Schwerpunkte: 4 1. die Planungsbeteiligung der Lernenden, 4 2. das entdeckende oder forschende Lernen, 4 3. die Entwicklung von Haltungen/Einsichten. Zu Punkt 1. Eine Planungsbeteiligung von Lernen-
den ist möglichst häufig anzustreben, da hierdurch wichtige Lern- und Methodenkompetenzen wie die
33 2.3 · Darstellung der Pflegegeschichte
. Tabelle 2.2. Phasenschema zum entdeckenden Lernen. (Aus Rüller 1999, S. 9) Unterrichtsphasen
Lernschritte
Kommentare
Einstieg/ Materialimpuls
Bekanntgabe des Themenbereichs
Dient der Groborientierung über den Unterrichtsinhalt
Über Bilder/Texte (bei historischen Themen möglichst Primärquellen) / Urkunden oder andere Materialimpulse werden die Lernenden mit dem Inhalt oder Teilaspekten des Themas konfrontiert.
Der Einsatz von Originalmaterial ermöglicht einerseits die vertiefte Beschäftigung mit der Thematik, andererseits erhalten Lernende die Möglichkeit der eigenen Prüfung von Sachverhalten (erfolgt ohne vorangehende Erläuterung, da sonst kein Entdecken möglich ist). Die Begegnung mit dem Inhalt kann durch den Lehrenden über Anschauungsmaterial eingeleitet werden. Dies sollte nur dann der Fall sein, falls ein gewisses Vorverständnis geschaffen werden muss, dies kann vor allem bei historischen Themen (soziale, kulturelle oder politische Situation) der Fall sein.
Fragebildung
Planungsgespräch
Die Lernenden artikulieren ihr Interesse an einzelnen Aspekten des Lerngegenstandes.
Falls es zu keinen Fragestellungen durch die Lernenden kommt, kann diese vom Lehrenden eingebracht werden. In jedem Fall muss es sich um Fragen handeln, die durch die Bearbeitung bereitgestellter Texte, Bilder oder andere Medien geklärt werden können.
Eine oder mehrere Leitfragen werden fixiert.
Ist in jedem Fall erforderlich, um jederzeit eine Transparenz über die Fragestellung(en) zu ermöglichen.
Lehrende bieten Möglichkeiten zur Lösung/Bearbeitung der Problemoder Fragestellung an. Lernende können eigene Vorstellungen über Lösungsstrategien einbringen, einschließlich arbeitsteiliger oder arbeitsgleicher Verfahren.
Die Präsentation der zur Bearbeitung geeigneten Medien eröffnet den Lernenden die Möglichkeit, z. B. über die Sozialform mitzuentscheiden. Darüber hinaus können die Lernenden über eigene Recherchen (Interview, Erkundung, Einladung von Zeitzeugen, Experten, Bibliothek, Internet) ihre Methodenkompetenz fördern sowie sich an der Planung der Ergebnispräsentation beteiligen. Falls das Thema eine breit gestreute Palette von Fragen in sich trägt, muss an dieser Stelle evtl. eine Unterrichtsunterbrechung eingeplant werden, um die nötigen medialen Voraussetzungen zu ermöglichen.
Bearbeitung
Anhand eigener Untersuchungen, Textanalysen, Bildinterpretation oder anderer Quellen (bei historischen Themen möglichst Primärmaterial) werden Lösungsansätze (selbstständig oder frontal) entwickelt und nachvollziehbar dargestellt.
Bei Texten oder anderen Quellen erhalten die Lernenden nach erster Lektüre die Möglichkeit, unbekannte Begriffe oder unverstandene Sachverhalte zu erfragen. Der Lehrende hat diese Fragen in der Regel vorhergesehen und sich entsprechend vorbereitet. Die Präsentation/Auswertung der Materialinhalte kann frontal im Klassenverband geschehen, einzeln in Gruppen besprochen werden oder von Gruppen im Plenum vorgestellt werden.
2
34
Kapitel 2 · Geschichte der Pflege
. Tabelle 2.2. Fortsetzung
2
Unterrichtsphasen
Lernschritte
Kommentare
Transfer/Beurteilung
Historische wie gegenwärtige Tatbestände werden hinsichtlich eigener Erfahrung befragt. Ähnlichkeiten/ Unterschiede werden erfasst.
Diese beiden Phasen sind in der Regel nicht trennbar, da bei einer Rückbesinnung auf die eigene Situation fast immer auch gleichzeitig eine Bewertung erfolgt. Auch ein anderes als das erwartete Ergebnis muss akzeptiert werden!
Die eigene Berufssituation wird vor dem Hintergrund der vorangegangenen Analyse bewertet.
Beide Phasen sind äußerst wichtig, da sie den Aufbau eigener Grundhaltungen und Beurteilungskriterien fördern. Bei unzureichend empfundener Situation kann eine eigene Zielsetzung mit möglichen Umsetzungsstrategien erfolgen.
Planung von Arbeits- und Lernprozessen oder systematische Vorgehensweisen gefördert werden. Zu Punkt 2. Entdeckendes oder forschendes Lernen
ist mit dem ihm innewohnenden Transfergedanken untrennbar mit selbstständigem Handeln verbunden.Aktives selbstständiges Lernen wird durch die eigenständige Auseinandersetzung (Entdeckung) mit den Inhalten gefördert, die im Geschichtsunterricht medial überwiegend durch Textund Bildmaterial repräsentiert werden. Dieses Entdecken der Inhaltlichkeit wird durch den Materialimpuls im Einstieg eingeleitet und durch die folgenden Bearbeitungsschritte weitergeführt. Nach Jerome S. Bruner, einem der Päpste des »entdeckenden Lernens«, ist »Entdeckung nicht auf den Akt (beschränkt), durch den man etwas herausfindet,das der Menschheit vorher unbekannt war,sondern (es sind) fast alle Formen des Wissenserwerbs mit Hilfe des eigenen Verstandes« eingeschlossen. Weiter heißt es: »Stets werde ich von der Annahme ausgehen, dass Entdeckung ihrem Wesen nach ein Fall des Neuordnens oder Transformierens des Gegebenen ist« (Bruner 1973, S. 16). Vorteile des Entdeckens werden von Bruner wie von anderen Didaktikern gleich in mehrfacher Hinsicht gesehen. Die folgende Aufzählung ist nicht hierarchisch zu verstehen: 4 Durch die intensive geistige Auseinandersetzung mit einem Inhalt kann das Gedächtnis die neuen Informationen besser speichern. 4 Die erhöhte geistige Aktivität trainiert und erhöht die intellektuellen Fähigkeiten.
4 Das Vermögen,systematisch Informationsquellen zu nutzen, wird gefördert. 4 Durch den auf eigenes Denken zurückführbaren Lernerfolg nimmt die Lernfreude (intrinsische Motivation) insgesamt zu. Zwei Vorgehensweisen können sich dabei eröffnen: 4 Der Materialimpuls führt zu Fragestellungen, die nicht mit diesem Material beantwortbar sind. Ein anschließendes Planungsgespräch führt zur Bearbeitung mit weiterem Material und damit zum Transfer/zur Beurteilung. 4 Der Materialimpuls führt zum Gespräch über die Inhalte dieses Materials unter einer Fragestellung. Ein anschließendes Planungsgespräch führt zur vertieften Bearbeitung des bereits verwendeten Materials und damit zum Transfer/zur Beurteilung. Zu Punkt 3. Transfer und die dem Transfer innewohnende oder ihm folgende Bewertung bilden die Voraussetzung für die Erreichung übergeordneter Ziele, nämlich der Erzeugung von Haltungen und Einstellungen in der »Berufskunde« zum eigenen Beruf und seiner Ausübung. Diesem Anspruch kann ein systematischer Wissensaufbau nicht gerecht werden. Zudem widerspräche eine versachlichte Vermittlungsebene nicht nur den individuellen Erlebniswelten von Auszubildenden, sondern auch dem Anspruch von Schule und Ausbildung, den beruflichen Alltag einschließlich seiner mitmenschlichen Beziehungsebenen in lernfördernder Weise einzubinden.
35 2.1 · Darstellung der Pflegegeschichte
In der Vermittlung von Pflegegeschichte sind daher möglichst immer Anknüpfungspunkte zwischen historischen oder gegenwärtigen Sachverhalten zur Erlebniswelt der Auszubildenden in einem Gegenwartsbezug zu suchen.Bei historischen Themen ist der Gegenwartsbezug der Transfer, der wiederum eine eigene Beurteilung durch die Lernenden provoziert.
3 Empfehlungen zum Weiterlernen Die weitere Einarbeitung ins Thema kann auf zwei Ebenen erfolgen: 4 a) der inhaltlichen Vertiefung der Pflegegeschichte, 4 b) der Auseinandersetzung mit Möglichkeiten zur Vermittlung.
2
Reihe wichtiger Dokumente, die das Bild der Pflege bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts deutlich werden lässt. Ein wichtiges Werk ist auch das von Claudia Bischoff (1992), das die Pflege in ihrer Eingebundenheit zwischen gesellschaftlicher Rolle der Frau und der Entstehung eines Berufs für Frauen im 19. und 20. Jahrhundert beleuchtet. Wer sich selber über Dokumente in Archiven ein genaueres Bild über Ausschnitte der Pflegegeschichte verschaffen möchte, für den sind Kenntnisse über historische Hilfswissenschaften unverzichtbar. Ein Standardwerk in dieser Hinsicht, das sich immer weiterer unveränderter Neuauflagen erfreut, ist das von Ahasver von Brandt, Werkzeug des Historikers, Kohlhammer/Urban Taschenbücher.
Zur inhaltlichen Vertiefung
Die hier erwähnte Literatur ist im Literaturverzeichnis enthalten,daher erfolgen die Angaben hier nur unter Nennung des Autors,der Autorin und des Erscheinungsjahres wie im Literaturverzeichnis angegeben,zum Teil sind inzwischen neuere Auflagen erschienen. Um die Lektüre weiterführender Literatur in überschaubaren Grenzen zu halten, möchte ich lediglich auf einige Werke verweisen, die eine spezielle Ausrichtung aufweisen. Die nach wie vor wichtigste Sammlung von Quellenstücken ist die von Sticker (1960) betriebene Sammlung. Manko dieser Sammlung ist allerdings, dass sie in der Mitte des 19. Jahrhunderts endet. Eine Fortführung wartet noch auf entsprechende Bearbeiterinnen. Wer sich für Pflegegeschichte aus der Sicht einer engen Verbindung mit der Medizin interessiert, dem ist das Werk von Eduard Seidler (1980, weitere Auflagen) Geschichte der Pflege des kranken Menschen zu empfehlen. Im Anhang werden einige für die Pflegegeschichte wichtige Quellen bzw. Quellenauszüge abgedruckt. Anna Paula Kruse (1987) hat mit ihrem Werk über die Krankenpflegeausbildung seit der Mitte des 19.Jahrhunderts,die sie in ihrer Einbindung vor allem religiöser gesellschaftlicher Bedingungen und Entwicklungen darstellt, ein auch heute noch wichtiges Werk geschaffen. Sehr speziell, dafür aber nicht unwichtiger ist die Krankenpflege im Nationalsozialismus von Hilde Steppe (1993). Auch dieses Werk enthält eine
Zur Vermittlung
Die Tradition einer Didaktik für Pflegegeschichte ist noch sehr jung.Aber zu wesentlichen Fragen der Bedeutung, Zielsetzung sowie didaktischen Ansätzen kann hier auf eine Reihe von Werken zur Geschichtsdidaktik verwiesen werden: Dazu gehören: 4 Bergmann K et al. (Hrsg) (1997) Handbuch der Geschichtsdidaktik, 5. Aufl. Kallmeyersche Verlagsbuchhandlung, Seelze 4 Reinisch L (Hrsg) (1974) Der Sinn der Geschichte, 5. Aufl. Beck, München 4 Rohlfes J (1971) Umrisse einer Didaktik der Geschichte, 4.Aufl.Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 4 Süssmuth H (Hrsg) (1980) Geschichtsdidaktische Positionen. Bestandsaufnahme und Neuorientierung. Schöningh, Paderborn Bibliographien zu Themen wie: Bearbeitung/Interpretation schriftlicher Quellen im Geschichtsunterricht,problemorientierter Geschichtsunterricht, handlungsorientierter Geschichtsunterricht,Bilder im Geschichtsunterricht und andere mehr sind im Internet beispielsweise über die Adresse http:// www.phil.uni-erlangen.de/~plges/geschichtsdidaktik/bibliographien/body_bibliogra abrufbar. Eine der wichtigen Zeitschriften ist die Geschichte in Wissenschaft und Unterricht (GUW). Ich möchte an dieser Stelle jedoch nicht versäumen, auf eigene Beiträge zu verweisen, die sich sehr konkret mit der Auswahl von Inhalten wie mit
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2
Kapitel 2 · Geschichte der Pflege
der Vermittlung durch exemplarisches/entdeckendes Lernen beschäftigen. Hier wäre zum einen Exemplarisches Lehren und Lernen – im Berufskundeunterricht (Rüller 1996) zu nennen.Zum anderen gibt es in der Zeitschrift Unterricht Pflege (ISSN 1615–1046) Heft 1/1999, Schwerpunkt »Geschichte der Pflege und ihre Didaktik«, den Aufsatz »Geschichte der Pflege im Unterricht« (Rüller) sowie einen »Unterrichtsentwurf zum entdeckenden Lernen – am Beispiel Gemeindepflege« (Steinhorst).In einem weiteren Aufsatz dieser Zeitschriftenausgabe werden im Beitrag »Arbeitsaufträge zur Pflegegeschichte« Aufgabentypen für den Unterricht in ihrer Abhängigkeit von Unterrichtsphasen vorgestellt.
Literatur Bischoff C (1992) Frauen in der Krankenpflege. Zur Entwicklung von Frauenrolle und Frauenberufstätigkeit im 19. und 20. Jahrhundert. Campus, Frankfurt a. M. New York Brandt A v (1973) Werkzeug des Historikers. Eine Einführung in die historischen Hilfswissenschaften, 7. Aufl. Kohlhammer, Stuttgart Berlin Köln Mainz Bruner JS (1973) Der Akt der Entdeckung. In: Neber H (Hrsg) Entdeckendes Lernen. Beltz, Weinheim Basel, S 15–27 Carr EH (1974) Was ist Geschichte, 4. Aufl. Kohlhammer, Stuttgart Köln Mainz Hippokrates (1994) Ausgewählte Schriften. Aus dem Griechischen übersetzt und herausgegeben von Hans Diller. Reclam, Stuttgart
Klafki W (1993) Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Zeitgemäße Allgemeinbildung und kritisch-konstruktive Didaktik, 3. Aufl. Beltz, Weinheim Basel Kruse AP (1987) Die Krankenpflegeausbildung seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Kohlhammer, Stuttgart Berlin Köln Mainz Löwith K (1974) Vom Sinn der Geschichte. In: Reinisch L (Hrsg) Der Sinn der Geschichte, 5. Aufl. Beck, München, S 31–49 Rüller H (Hrsg.) (1994) Pflege gestern und heute. Prodos, Brake Rüller H (1996) Exemplarisches Lehren und Lernen – im Berufskundeunterricht. In: Martens M, Sander K, Schneider K (Hrsg) Didaktisches Handeln in der Pflegeausbildung. Prodos, Brake, S 162–175 Rüller H (Hrsg) (1999a) 3000 Jahre Pflege.Von den ersten Schritten zum Pflegeprozess, 3. Aufl. Prodos, Brake Rüller H (1999b) Geschichte der Pflege im Unterricht. Unterricht Pflege Heft 1: 2–13 Salzburger Äbtekonferenz (Hrsg) (1996) Die Benediktusregel, 2. Aufl. Beuroner Kunstverlag, Beuron Schipperges H (1990) Die Kranken im Mittelalter. Beck, München Seidl E,Walter I (1998) Pflege im Wiener Allgemeinen Krankenhaus zwischen 1856 und 1913. In: Pflegewissenschaft heute, Bd 5. Maudrich, Wien München Bern, S 223–257 Seidler E (1980) Geschichte der Pflege des kranken Menschen, 5. Aufl. Kohlhammer, Stuttgart Berlin Köln Mainz Steppe H (1998) Mrs. Gamp und die Folgen – Von der Wärterin zur Krankenschwester. In: Pflegewissenschaft heute, Bd 5. Maudrich, Wien München Bern, S 23–41 Sticker A (Hrsg) (1960) Die Entstehung der neuzeitlichen Krankenpflege. Deutsche Quellenstücke aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Kohlhammer, Stuttgart Berlin Köln Mainz Sticker A (1994) Agnes Karll: die Reformerin der deutschen Krankenpflege, 3. Aufl. Kohlhammer, Stuttgart Berlin Köln Mainz Wagenschein M (1991) Verstehen lernen. Genetisch – sokratisch – exemplarisch, 9. Aufl. Beltz, Weinheim Basel
3 Biographieforschung und Pflege Kirsten Sander 3.1
Biographien als Forschungsgegenstand 39
3.1.1
Differenzierung des Gegenstandsbereichs »Biographie« 40
3.1.2
Biographie als soziale Konstruktion 42
3.2
Das biographisch-narrative Interview als Forschungsmethode 43
3.2.1
Eigenschaften einer Erzählung 44
3.2.2
Durchführung eines biographisch-narrativen Interviews 46
3.2.3
Prozessstrukturen des Lebensablaufs (Fritz Schütze) 47
3.3
Biographieforschung in der Pflege 49
3.3.1
Analyse- und Handlungsfelder 50
3.3.2
Studie: Leben im Altenheim als biographische (An-) Passung 50
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Kapitel 3 · Biographieforschung und Pflege
Beispiel Ein biographisches Portrait:
3
»Frau Sophie Schaumburg« (98 Jahre) Frau Sophie Schaumburg wird 1899 als Jüngste von sechs Kindern geboren. Sie wächst in einem großbürgerlichen Haushalt mit Kinderfräulein und Dienstmädchen auf. Der älteste Bruder ist zum Zeitpunkt ihrer Geburt bereits Kaufmannslehrling in London;ein anderer Bruder ist Kapitän der Handelsschifffahrt. Die Familie lebt im Sommer auf ihrem Gut in A-Dorf und im Winter in einer Villa in E-Stadt:»Und das war so schön,das glauben Sie gar nicht«. Es ist immer Besuch im Haus. Aufgrund einer Bürgschaft verliert der Vater 1909 das ganze Vermögen; die Mutter erkrankt und kann sich nicht mehr selbst um die Kinder kümmern. Der »Kladderadatsch« führt dazu,dass der ganze Besitz verkauft und das Personal entlassen werden muss. Die Familie zieht in ein kleineres, angemietetes Haus in E-Stadt.Ein Kinderfräulein bleibt bei der Familie und wird zur »zweiten Mutter« für das Mädchen.Als Schulmädchen mag sie nicht still sitzen und Handarbeiten machen. Auf eigenen Wunsch kann sie mit 16 Jahren mit anderen Mädchen »aus landwirtschaftlichen Kreisen« auf einer Landwirtschaftsschule alles lernen,was man benötigt,um dem »Chef in der Landwirtschaft« mit dem »Köpfchen« zu helfen.Bei ihrer ersten Anstellung als »Gutshofsekretärin« in Hinterpommern kann die junge Frau gemeinsam mit einem Inspektor auf einem großen Gutshof »ein bisschen aufräumen.« Sie hat auf dem »Hof das Sagen« und erteilt »Befehle« an Arbeiter.Ein Stellenwechsel auf einen kleineren Hof in Ostfriesland, auf dem sie eher für die praktische Arbeit zuständig ist, missfällt ihr: Dort war es »nicht großzügig genug … da konnt’ ich nicht mit zurechtkommen.« Sie wechselt erneut die Stelle zu einem Hof in Schleswig-Holstein und übernimmt wieder Aufsichts- und Koordinationstätigkeiten »Da konnt’ ich denn wirken, wieder wirken«. Bei einem Urlaubsaufenthalt lernt sie 1928 ihren Mann kennen. Durch die Vermittlung einer Tante wird die Eheschließung möglich. »Ein Jahr Verlobung, dann Hochzeit und von da an Glück«. Frau Schaumburg beschreibt ihren Mann als »rührend«. Das Ehepaar lebt in der Wohnung der Schwiegereltern. Es gibt nur ein kleines Zimmer für die Eheleute mit einer Wohnecke.Die »befehlsgewohnte« Schwiegermutter teilt der jungen
Ehefrau die Küche zu. Für sie ist Hausarbeit sehr ungewohnt und »furchtbar langweilig … Ich war ja immer im Kontor gewesen«. Das Zusammenleben mit der Schwiegermutter ist »sehr, sehr schwierig« und muss »zehn Jahre ausgehalten« werden. 1942 zieht das Ehepaar nach E-Stadt, zurück in die Villa ihrer Kindheit,die inzwischen vermietet und in einer Etage von der Familie bewohnt wird. Der Ehemann erkrankt und wird in der Nachkriegszeit von Frau Schaumburg gepflegt,er verstirbt 1972.Mieterwechsel im Haus und zu viele Pflichten veranlassen Frau Schaumburg zu einem Umzug in ein kleines Apartment des Altenheims. Sie lebt zum Zeitpunkt der autobiographischen Erzählung bereits über zehn Jahre dort. Zum Leben im Altenheim schildert Frau Schaumburg u. a. folgendes: »Erst musst ich mich auch sehr,sehr gewöhnen.Also will mal sagen,man ist ja eingebettet in den Betrieb, nich. Ne gewisse Ordnung muss ja sein. Also pünktlich zum Essen runter.« »Ich hatte mir n’ extra kleines Bett ausgesucht, ich bin ja klein und brauch’ nicht so viel Platz – so dass ich da in dem Zimmer etwas Raum gewinne.Das ist sowieso: Bett, Schr-, Bett, Nachtisch, Schrank – aus. Aber es reicht – es reicht, nich. Man muss sich nur dran gewöhnen, wenn man weitläufiger gewöhnt ist, nicht…. Ich meine, – das kleinste Zimmer, was wir hatten [in der Villa],das war vielleicht – von hier bis da und so – [zeigt die Abmaße im Raum] – das war das kleinste Zimmer.« »Die Angestellten sind also ganz reizend hier – ganz reizend.Da kann ich nicht – kein einziges böses Wort drüber sagen.Das hat man selten,nich? – Ich möchte beinahe sagen, man ist mit den Angestellten direkt ein bisschen befreundet. Weil die – weil die auch auf einen eingehen und die sehen, was einem Not tut und denn bewerkstelligen sie das – jedenfalls für mich, also.« 5 Wie interpretieren Sie die Aussagen von Frau Schaumburg zum Leben im Heim anhand der Informationen, die Sie über sie aus dem biographischen Portrait erhalten haben? Wie versteht Frau Schaumburg ihr Leben im Altenheim? 5 Was ist für die Pflege dieser alten Dame Ihrer Meinung nach besonders wichtig? Formulieren Sie übergeordnete Prinzipien.
39 3.1 · Biographien als Forschungsgegenstand
3 Berufliche Handlungskompetenzen
3 Verfahrensstruktur (. Tabelle 3.1)
2
3.1
Fachkompetenz Theoretische Grundlagen der Biographieforschung nachvollziehen und den Gegenstand »Biographie« differenzieren. Fragehorizont zum Zusammenhang von Biographie und Pflege entwickeln, die in zukünftigen Forschungsvorhaben umgesetzt werden könnten.
2
Personal- und Sozialkompetenz Sich auf die Subjektperspektive als biographisches Konstrukt einlassen und sich im Fremdverstehen anhand von biographischen Erzählsegmenten üben.
2
Methodenkompetenz Die Phasen eines biographisch-narrativen Interviews unterscheiden und die jeweiligen Aktivitäten von Erzählerin und Interviewerin analysieren. Beispielhaft eine biographieanalytische Studie in ihrem Aufbau, ihren Zielsetzungen und den Ergebnissen nach ihrer Relevanz für die Pflege und Pflegebildung bewerten.
3 Praxisrelevanz Biographieforschung kann für die Lehr-/Lernforschung wie für die Interventionsforschung im Gesundheitssektor einen wichtigen Zugang eröffnen. Die Analyse und Interpretation von Biographien kann die Sinngehalte von Gesundheit und Krankheit, Pflegen und Gepflegtwerden rekonstruieren und dazu beitragen, dass sowohl Lehr-/Lern- wie Interventionsangebote sich verbessern. Biographieforschung, als ein an Bedeutung in der qualitativen Sozialforschung zunehmender Forschungsansatz,kann für die Zukunft der Pflegewissenschaft und -bildung wichtige Erkenntnisse zu einer an Selbstkompetenzentwicklung orientierten Pflege liefern.Die folgenden Ausführungen können auch als eine Hilfestellung verstanden werden, um sich für oder gegen eine qualitative Forschung mit Biographien zu entscheiden.
3
Biographien als Forschungsgegenstand
Biographieforschung ist heute eine etablierte Form qualitativer Sozialforschung. In unterschiedlichen Fachdisziplinen wird der Ansatz in Konzepten und methodologischen Entwürfen ausformuliert. Neben der in den 70er Jahren in der Soziologie entwickelten Biographieforschung hat sich im bundesdeutschen Kontext eine pädagogische und psychologische Biographieforschung etabliert. Als gemeinsamer Ursprung wird die von den Chicagoer Soziologen William Isaac Thomas und Florian Znaniecki bereits 1919/1920 durchgeführte Studie The Polish Peasant in Europe and America verstanden. Thomas und Znaniecki analysierten die Selbstbeschreibung eines immigrierten Polen, um die sozialen Probleme der Migration und die mit der Migration verbundene Individualisierung der Lebensführung zu erfassen (Fuchs 1985). Die Forscher entwickelten die Vorstellung, dass für eine Erklärung sozialer Phänomene sowohl subjektive als auch objektive Faktoren berücksichtig werden müssen. In der Chicagoer School wurde die Vorgehensweise aufgegriffen und evozierte eine Vielzahl von biographischen Forschungen (Fuchs-Heinritz 1999, S. 3 f.). Ansatzpunkte und Zielsetzungen der Biographieforschung sind eng mit den gesellschaftlichen Wandlungsprozessen verbunden. In der Moderne wurde und wird die biographische Selbstbeschreibung zunehmend bedeutsamer. Die durch die Auflösung von Gruppenzugehörigkeiten bedrohte Identitätsbildung und -sicherung lässt sich nur noch in biographischen Selbstbeschreibungen herstellen. Das soziologische Identitätskonzept kann diese fortlaufenden Prozesse der Selbstverortung nicht umfassend beschreiben (Fischer-Rosenthal u. Rosenthal 1997, S. 408).Wir sind aufgefordert, trotz bestehender und neuer institutioneller Ordnungsdimensionen unseren Lebensablauf,und damit das potentielle Scheitern oder Glücklichwerden darin, selbst in die Hand zu nehmen.Mit der Bezeichnung »Risikogesellschaft« wurde diese Zeitdiagnose zugespitzt: Die zunehmende »Individualisierung« des Lebensablaufs birgt Gefahren in sich (Beck 1986). Zwischen der in den Sozialwelten vorgegebenen
40
Kapitel 3 · Biographieforschung und Pflege
. Tabelle 3.1. Verfahrensstruktur
3
Biographie als Forschungsgegenstand
Biographisch-narratives Interview
Biographieforschung in der Pflege
Fragerichtungen
– Welche Ziele verfolgt Biographieforschung? – Wie ist der Gegenstand definiert? – Was kennzeichnet Biographien aus der Forschungsperspektive?
– Warum ist das Erzählen in der Biographieforschung wichtig? – Wie wird ein biographischnarratives Interview erhoben? – Was lässt sich an diesem Datenmaterial analysieren?
– Welche Ansatzpunkte bietet die Biographieforschung für die Pflege? – Wie können mit Biographieforschung Pflege- und Krankheitsverläufe analysiert werden? – Welche Relevanz hat die Biographie für das Leben im Heim?
Zielsetzungen
– Ein theoretisches Verständnis von Biographien als Forschungsgegenstand erhalten
– Die qualitative Forschungsmethode »narratives Interview« in ihren Verfahrensschritten kennen lernen
– Biographieforschung als einen systematischen Zugang für Fragestellungen in Pflege- und Gesundheitswissenschaften erörtern
Schwerpunkte
– Biographien als Konstruktionen von Wirklichkeit
– Methode der Erhebung, Analyse und Auswertung von autobiographischen Erzählungen
– Forschungsbeispiele, in denen mit Biographien Pflege- und Krankheitshandeln analysiert wurde
Geordnetheit und den multioptionalen Wahlmöglichkeiten liegt eine Widersprüchlichkeit, die auf der Ebene des Subjekts in einer Biographie beantwortet werden muss.Biographieforschung kann als theoretische und methodische Konzeption die biographischen Strukturierungen des gesellschaftlichen Wandels erfassen. Als zentrale Analyseperspektiven der Biographieforschung können folgende Fragestellungen formuliert werden:
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Welchen Sinn und welche Bedeutung hat Biographie für Gesellschaftsmitglieder im Laufe sozialisatorischer und sozio-historischer Entwicklungen erlangt? Welche Funktionen nimmt sie ein auf der lebensweltlichen Ebene des sozialen Handelns und welche im Gesamtgesellschaftlichen? Wie werden biographische Strukturen erzeugt, erhalten und verflüssigt? (Fischer-Rosenthal 1990, S. 13, Hervorhebungen des Verf.)
3.1.1 Differenzierung des
Gegenstandsbereichs »Biographie« Der Forschungsschwerpunkt Biographie ist ein in sich zu differenzierender Gegenstandsbereich,welcher mit unterschiedlichem Erkenntnisinteresse befragt werden kann.Schulze (1997) schlägt vor,die Perspektiven auf den Begriff Biographie wie folgt zu unterscheiden: Mit dem Begriff Biographie meinen wir die Geschichte eines einzelnen Menschen, die sich erzählen oder beschreiben lässt.Der Begriff umfasst hier Biographie als Text. Wir meinen mit Biographie auch das Leben selbst, welches in dieser Geschichte in Teilen dargelegt wird.Der Begriff umfasst hier Biographie als Leben. Beides setzt voraus, dass es ein biographisches Subjekt gibt, einen Biographieträger, der in der Geschichte als Hauptfigur vorgestellt wird. Das Erkenntnisinteresse an der Biographie als Leben kann sich u. a. auf den Lebenszyklus, d. h. die biologischen und psychologischen Entwicklungen,
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auf den Lebenslauf, d. h. auf Laufbahnen, gesellschaftliche Vorgaben und Regelungen und auf die Lebensgeschichte, d. h. auf die individuellen Erfahrungen beziehen. Weitere Unterscheidungen des Gegenstandsbereichs liegen in der Präsentationsform der Biographie als Text: Eine Biographie kann mündlich oder
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schriftlich dargestellt werden,sie kann von anderen oder vom Biographieträger selbst in Form einer Autobiographie präsentiert werden.An biographischen Materialien können neben Interviews und schriftlichen Lebensbeschreibungen auch Briefe und Fotos ausgewertet werden (Schulze 1997, S. 323 f), vgl. . Abb. 3.1.
. Abb. 3.1. Differenzierung des Gegenstands »Biographie«. (Vgl. Schulze 1997, S. 14)
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Kapitel 3 · Biographieforschung und Pflege
3.1.2 Biographie als soziale Konstruktion
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Die Begriffe Biographie und Lebenslauf werden alltagssprachlich oft synonym verwendet.Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive ist eine Unterscheidung notwendig und sinnvoll: Biographien sind subjektive Selbstbeschreibungen. Im Unterschied zu einem Lebenslauf, der »ein Insgesamt von Ereignissen, Erfahrungen, Empfindungen usw. mit unendlicher Zahl von Elementen ist« macht in der Biographie »ein Individuum den Lebenslauf zum Thema« (Hahn 2000, S. 101). Die Differenz zwischen Lebenslauf und Biographie ist unaufhebbar. Eine Biographie ist nicht das Spiegelbild des Lebenslaufs, sondern eher ein gemaltes, in Prozessen des Erzählens oder Schreibens gestaltetes Selbstbild. Biographische Selbstpräsentationen zeigen nicht, was wirklich »wirklich« ist, sondern das, was als wirklich erfahren und erinnert wird. In einer Biographie wird höchst selektiv die persönliche Entwicklung über Raum und Zeit gegenwärtig und als lebensgeschichtliche Erfahrung präsentiert.Damit sind zwei grundlegende theoretische Perspektiven auf Biographien bereits angedeutet.Sie sollen im Folgenden erörtert werden.
Biographie als Wirklichkeitskonstruktion Biographien sind immer erst das Ergebnis von (Re-)Konstruktionsarbeit durch das Selbst. Wie stark diese Erinnerungsarbeit von eigenen Empfindungen geprägt ist, zeigt sich sehr leicht dann, wenn wir uns gemeinsam mit anderen an einen geteilten Lebensabschnitt erinnern.Im Erinnern liegt auch immer das Vergessen.Nur durch Relevanzsetzung und Marginalisierung lassen sich Ereignisse zu biographischen Erfahrungen verdichten.
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Die eigentliche Leistung der Lebenserfahrung besteht darin, dass sie aus der unübersehbaren Menge der Lebensmomente einige auswählt und mit Bedeutung versieht. Die erinnerten Erlebnisse erzeugen Kraftzentren und Kraftfelder der Anziehung, Abneigung und Gleichgültigkeit. Sie bilden im Subjekt ein Potential von Sinnressourcen, aus dem die Biographie hervorgeht (Schulze 1997, S. 326).
Erst der retrospektive Blick auf das gelebte Leben konstruiert ein Ganzes, in dem wir uns als »selbstgleiche Person« (Goffman 1967,S.73) erkennen.Jegliche Form biographischer Konstruktion ist im Sinne einer Selbstgestaltgebung nicht nur reflexiv wirksam, sondern ermöglicht uns eine Orientierung, eine Selbstvergewisserung für das zukünftige Leben. In der Biographie liegt ein Sinnüberschuss, der in lebenslangen Prozessen des Konstruierens, des Umdeutens und Neuverstehens Entwurf wie Verwerfung ermöglicht. Um Kontinuität und Identität zu sichern,müssen ständig Anschlussleistungen erbracht werden, »die Vergangenes mit Gegenwärtigem,Altbewährtes mit Neuem, Struktur mit Handlung verbinden« (Egger 1995, S. 53). Der reflexive Bezug auf ein biographisches Selbst,in dem wir uns wiedererkennen, ermöglicht trotz Umbrüche und Veränderung ein »Und-so-weiter« (ebd. S. 51). Können oder müssen wir uns nun beständig neu erfinden? Biographische Konstruktionen sind keine freien kognitiven Leistungen, sondern eng mit den subjektiven Erfahrungen, Kontexten und konkreten Bedingungen verbunden, in denen sie stattfinden und auf die sie sich beziehen.Sie sind an Situationen, Zeit und Raum gebunden und ziehen Konsequenzen nach sich (Dausien 1996, S. 573). Der Prozess der Individualisierung als Beschreibung von gesellschaftlichen Veränderungen lässt sich aus der Subjektperspektive als »Biographisierung« von Lebens- und Alltagswelten beschreiben. Mit dem Begriff »Biographisierung« wird deutlich, dass das Individuum mit der lebenslangen Herausforderung von Integrations- und Identitätsleistungen konfrontiert ist (Alheit u.Dausien 1999, S. 417). Es besteht die Notwendigkeit, selbst einen sinnvollen Zusammenhang zu »erfinden«, der das Gestern mit dem Heute und Morgen, die strukturellen Bedingungen mit den subjektiven Potentialen biographisch vereint. Die erforderliche biographische Konstruktionsarbeit muss Anschlüsse herstellen, die immer wieder neue Auslegungen und Deutungen für unser Leben ermöglichen. Alheit (1992) bezeichnet die hierfür notwendige Kompetenz als »Biographizität«:
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Biographizität bedeutet, dass wir unser Leben in den Kontexten, in denen wir es verbringen (müssen), immer wieder neu
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auslegen können, und dass wir diese Kontexte ihrerseits als »bildbar« und gestaltbar erfahren (Alheit 1992, S. 77).
Biographie als Synthese von Struktur und Subjektivität Biographische Konstruktionen sind in einem sozialen Raum und einer historischen Zeit eingebettet.Sie lassen sich nicht ohne diesen Bezugsrahmen darstellen und/oder analysieren. Die Außenseite, die in der Innenseite und durch sie miterinnert wird, generiert die Verbindung zwischen dem sozial-historischen Kontext und dem individuellen Erleben. Biographien – und das macht sie für die sozialwissenschaftlichen Analysen besonders wertvoll – sind Synthesen zwischen gesellschaftlichen Strukturen und den darin (er-)lebenden Subjekten. Die für die Analyse von Wirklichkeit ansonsten zusammengeführten Erfahrungs-,Handlungs- und Strukturaspekte sind in der sozialen Konstruktion einer Biographie bereits integriert (Fischer u.Kohli 1987, S. 31).
7 Eine Biographie ist einerseits die soziale »Hülle« des Individuums, eine Art äußerliches Ablaufprogramm, ohne das eine moderne Lebensführung unmöglich geworden ist, und andererseits eine ganz spezifische und intime Binnensicht des Subjekts, die Synthese einer einzigartigen Erfahrungsaufschichtung (Alheit 1992, S. 59).
In Lebensgeschichten wird das Wechselverhältnis zwischen dem eigenen, individuellen Entwurf und den gesellschaftlichen Möglichkeiten deutlich. Neben den höchst unterschiedlichen Selbsteinschreibungen offenbaren sich auch immer die in einem spezifischen sozialen und historischen Rahmen verinnerlichten Fremdeinschreibungen. Die soziale Struktur wird durch die individuelle Struktur der Akteure beständig reformuliert, verflüssigt und verfestigt. Das Individuum
7 setzt sich selbst, seine eigene Vergangenheit rekonstruierend durch biographische Konstruktionen in Bezug zur Gesellschaft, und gesellschaftliche Institutio-
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nen entwickeln Lebenslaufschemata, denen der einzelne folgen kann oder muss (Fischer-Rosenthal u. Rosenthal 1997, S. 406).
Dausien (1996) hat dieses spannungsreiche Wechselverhältnis an Lebensgeschichten von Frauen herausgearbeitet. In ihrer Analyse wird z. B. deutlich, dass Frauen ihr Leben »anders« erzählen als Männer. Die eigenen lebensgeschichtlichen Entwürfe sind stark in Beziehung zu setzen und zu modifizieren.Sie zeigen die im Widerspruch von »doppelter Vergesellschaftung« liegenden Konflikte zwischen Erwartungen des sozialen Umfeldes und eigenen biographischen Perspektiven z.B.als »Kampf um das eigene Leben« (Dausien 1996, S. 136 ff).
3.2
Das biographisch-narrative Interview als Forschungsmethode
In der Biographieforschung hat sich das biographisch-narrative Interview als eine wichtige Form der Erhebung und Auswertung von Lebensgeschichten etabliert. Diese Interviewform ermöglicht einen weitgehend hypothesenfreien Zugang zu lebensgeschichtlichen Selbstpräsentationen. Ausgangspunkt ist die durchaus voraussetzungsreiche Annahme,dass die befragte Person trotz aller Wechsel, Brüche und grundlegenden Veränderungen über Raum und Zeit, ihr Leben als eine Geschichte erzählen kann. In einem sehr bekannt gewordenen Artikel kritisiert der französische Soziologe Pierre Bourdieu diese Grundannahme der Biographieforschung als ein überholtes und normatives gesellschaftliches Konstrukt, welches lediglich Ausgestaltungsformen einer in der Erzählung erst hergestellten »biographischen Illusion« befördere (Bourdieu 1990). Die Erhebung und Auswertung von biographisch-narrativen Interviews ist anspruchsvoll und erfordert komplexe methodologische Überlegungen, die Erhebungs- wie Auswertungsschritte mit einem theoretischen Forschungskonzept verbinden. Prämisse der mit dieser Interviewform verknüpften Forschungshaltung ist, dass wir die »Dimensionen der Wirklichkeit« vorab nicht kennen. In der Lebensgeschichte wird nicht eine individu-
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Kapitel 3 · Biographieforschung und Pflege
elle Variante der bereits bekannten, sondern eine bisher fremde Realität dargelegt (Dausien 1994, S. 148). Ein methodologisches Rahmenkonzept zur Erhebung und Auswertung der Interviews liefert die von Glaser und Strauss entwickelte Grounded Theory (Glaser u. Strauss 1967; Strauss 1991). Zur Entwicklung einer auf den Gegenstand – hier der Biographie – bezogenen Theorie mittlerer Reichweite wird der Forschungs- und Erkenntnisprozess als eine spiralförmige Hin- und Herbewegung zwischen der Empirie und der Theorie gestaltet (Strauss 1991; Corbin u. Strauss 1998). Eine biographische Erzählung folgt häufig nicht einem linearen, der zeitlichen Abfolge der Ereignisse folgenden Aufbau.Vielmehr ist der »Text« (lat. Gewebe, Geflecht) im wahrsten Sinne als ein Gewebe zu verstehen, welches Vordergründiges mit Hintergründigem, Ereignis mit Erleben verbindet. Rückgriffe,Vorgriffe und Querbindungen folgen einer eigenen biographischen Konstruktionslogik. Im Gegensatz zu einem an einem Leitfaden orientierten Interview bestimmt die erzählende Person Inhalte und Reihenfolge der Selbstpräsentation.Die autobiographische Erzählung fordert zur autonomen Gestaltentwicklung auf (Fischer-Rosenthal u. Rosenthal 1997, S. 415). Mit einem biographisch-narrativen Interview sollen Erzählungen erhoben werden. Autobiographisches Erzählen – so die grundlegende Annahme – erzeugt eine eigene konstitutive Wirklichkeit, die sich von reflexiven Selbstbeschreibungen, Argumentationen und Interpretationen grundlegend unterscheidet. Eine autobiographische Erzählung verweist auf den subjektiven Sinngehalt. Der Sinn ist mit der zeitlichen Struktur, in der die Erfahrungen gebildet wurden, verbunden. Diese Auffassung geht auf die Soziologen Alfred Schütz und Thomas Luckmann und ihre in der Theorie der »Lebenswelt« (Schütz u. Luckmann 1979) geprägte Wirklichkeitsvorstellung zurück:
7 Der »Sinn« menschlicher Erfahrungen ist, wie Schütz verdeutlicht, ganz wesentlich zeitlicher Natur. Zeitliche Strukturen der Erfahrungsbildung sind es auch, die die soziale Fundierung unserer Wirklichkeit begründen.Wie Schütz u. Luckmann (1979, 1984) ausführen, vollzieht sich die Konstitution von Erfahrungen grund-
sätzlich in der rückschauenden Vergegenwärtigung, über eine nachträglich erfolgende reflexive Erfassung subjektiv bedeutsamer Erlebnisabfolgen (Appelsmeyer 1999, S. 232, Hervorhebungen des Verf.).
In der Biographieforschung wird die Konstitution von Erfahrungen anhand der autobiographischen Erzählungen rekonstruiert. Die in der Rückschau auf das gelebte Leben vollzogene Vergegenwärtigung wird durch eine eigene Konstruktionslogik strukturiert, die sich als »kognitive Figuren« (Schütze 1984) analysieren lassen.
3.2.1 Eigenschaften einer Erzählung
Erzählen (lat. narrare) hat spezifische Eigenschaften. Um erkennen zu können, wann in einem Interview erzählt, wann eher beschrieben oder argumentiert wird, müssen die Merkmale der Textgattung bekannt sein. Eine Erzählung weist eine Kette von Ereignissen auf. Diese Kette wird entlang einer Zeitachse aufgebaut. Durch sprachliche Hinweise wird der Zeitfluss markiert,z.B.durch »und dann«,»schon«, »bereits« oder »plötzlich«. Zudem werden die Ereignisse verknüpft, z. B. durch »weil« oder »dagegen«. Die Geschichte zeigt eine Abfolge von Zustandsveränderungen, wobei innere und äußere Veränderungen dargestellt werden können. In beiden Fällen gibt es immer einen Zustand des »Vorher« und des »Nachher«. Innerhalb der Geschichte gibt es eine oder mehrere handelnde Personen, Gegenstände bzw. sog. soziale Einheiten, z. B. einen Betrieb.Diese sind mit Eigenschaften gekennzeichnet und eingeführt. Eine Geschichte wird durch eine spezifische Situation gerahmt. Die als sozial-räumlicher Schauplatz ausgestaltete Szene ermöglicht den Aufbau eines Spannungsbogens (Glinka 1998, S. 53; Schütze 1984).
7 Als Minimalanforderung an das Erzählen einer Geschichte muss sichergestellt sein, dass 1. Die Handlungsträger (soziale Einheiten) eingeführt werden, 2. In der
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Abfolge von Ereignissen die Zustandsänderungen dieser sozialen Einheiten dargestellt wird, und dass 3. Situationshöhepunkte herausgearbeitet werden (Glinka 1998, S. 60).
Eine Erzählung folgt einer eigenen dramaturgischen Logik. Kallmeyer und Schütze (1977) definierten die Regeln als »Zugzwänge des Erzählens«. In jeder Narration – nicht nur der autobiographischen – können diese nicht »ungestraft« übergangen werden. Als Zugzwänge wirken der Gestaltschließungszwang, der Detaillierungszwang sowie der Relevanzfestlegungs- und Kondensierungszwang (Kallmeyer u. Schütze 1977, S. 188 ff.; Alheit 1994). In einer »gelungenen« Erzählung wird eine einmal begonnene Geschichte zu Ende erzählt, sie nimmt eine Gestalt an. Um die Zuhörer zufrieden zu stellen, muss der Erzähler »auf den Punkt kommen«, d. h. das einmal Angefangene muss zu einem sinnvollen Schluss kommen.Zudem muss erkenntlich werden, worum es eigentlich gehen soll. Eine Gestalt eröffnet sich durch die Einleitung der Geschichte mit einer Erzählpräambel; sie verdeutlicht, um was für eine Art Geschichte es sich handelt, z. B. »Ja, also da fällt mir noch ein – das war eher noch eine komische Sache.« In der Geschichte selbst wird dargelegt, was eigentlich geschah.Am Ende wird in Form einer Ergebnissicherung die Geschichte abgeschlossen,z.B.»Also – ich war dann froh,dass ich da so durchgekommen bin.« Mit einem bewertenden Kommentar kann eine weitergehende Gestaltgebung vorgenommen werden,beispielsweise »Das ist dann eigentlich immer so geblieben« (Glinka 1998, S. 148 f.). Die erzählerisch dargestellte Handlung soll für die Zuhörer nachzuvollziehen sein oder es sogar ermöglichen, sich in die Geschichte »hineinzuversetzen«. Die hierfür eingebrachten Details zeigen Vorder- und Hintergrundinformationen zum eigentlichen Ereignis, unterschiedliche Akteure und deren Eigenschaften, Orte und Gegenstände, die das Geschehen verdeutlichen. Eine grobe Skizze oder Beschreibung dessen, was passierte, reicht für eine Erzählung nicht aus. Um sich jedoch nicht in diesen Details zu verlieren, ist ein Erzähler gezwungen, Schwerpunkte
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zu setzen, Vordergründiges muss von Hintergründigem zu unterscheiden sein. Erst durch Relevanzfestlegungen und Kondensierungen können die einzelnen Erzählsegmente gerahmt und in einen Zusammenhang zur Gesamterzählung gesetzt werden. Nur so lässt sich die Aufmerksamkeit der Zuhörer über eine längere Zeit erhalten (Alheit 1994). Beispiel Beispiel für ein Erzählsegment »Na ja und dann bin ich – hatte ich einen Unfall. Ich hatte – wir hatten zusammen sieben, acht Jahre bei der Bahnhofsmission gearbeitet. Und dann hatt’ ich’s mal furchtbar eilig zum Zug zu kommen und irgendwen zu betreuen und bin dann da die Steintreppe runtergerauscht. Und hab mir meinen linken Fuß total zertrümmert, das Fußgelenk und hab dann ein viertel Jahr in der St. Annaklinik gelegen und da – (2 Sekunden). Ja, da konnte ich ja nun nicht mehr da oben im zweiten Stock wohnen bleiben. Das Haus gehörte ‘n jungen Ehepaar, von denen konnte ich nicht erwarten, dass die mich nun betreuen. Und dann bin ich – äh – nach einem Jahr, ich weiß nicht mehr recht, wie dies Jahr eigentlich rum gegangen ist, bin ich hier in die »Stiftung für Altenbetreuung« gezogen.Weil ich ja schon – äh – vorausgezahlt hatte«. (Aus einem autobiographischen Interview mit Frau Elisabeth Busse, 87 Jahre) 4 1. Analyse der Struktur des Erzählsegments: Wie wird der/die Handlungsträger eingeführt? Welche Worte markieren den Zeitfluss? Welche Zustandsänderungen des/ der Handlungsträger werden verdeutlicht? In welchem Erzählsatz liegt der Situationshöhepunkt der Geschichte? 4 2. Analyse der Zugzwänge im Erzählsegment:Wie öffnet bzw.schließt die Erzählerin eine Gestalt? Welche Aussagen bewerten Sie als Details, die die Geschichte ausschmücken? Welche Sätze sind hintergründig, welche vordergründig wichtig, um die Geschichte zu verstehen?
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Kapitel 3 · Biographieforschung und Pflege
3.2.2 Durchführung eines biographisch-
narrativen Interviews
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Die grundlegende Voraussetzung für das Gelingen eines biographisch-narrativen Interviews ist der Aufbau einer Vertrauensbeziehung. So möglich, sollte ein paar Tage vor dem eigentlichen Termin in einem telefonischen oder besser face-to-face stattfindendem Vorgespräch das Anliegen, das Prozedere sowie der Zeitumfang erörtert werden. Es ist wichtig, vorher mit der Interviewpartnerin zu besprechen, dass während der Erzählung der Lebensgeschichte zunächst keine Rückfragen gestellt werden. Entsprechend unseren gewöhnlichen Kommunikationsmustern, in denen Nachfragen oder Kommentare häufig unmittelbar an Erzählungen angeschlossen werden, ist dieses sowohl für die interviewte Person als auch für die Interviewerin eine neue Erfahrung. Es sollte zudem deutlich werden, wofür das Interview erhoben wird und dass es aufgenommen werden soll. Die Anonymisierung der Aufzeichnung muss gewährleistet werden. Entscheidend für eine weitere Bearbeitung der Interviewaufzeichnung ist eine gute Aufnahmequalität. Sie soll über das entsprechende technische Gerät sowie über einen ruhigen, ungestörten Raum sichergestellt werden. Wichtig ist, zunächst keine engen Zeitvorgaben zu haben, häufig dauert ein biographisches Interview weit über zwei Stunden. Sollte die zur Verfügung stehende Zeit nicht ausreichen, kann ein weiterer Termin vereinbart werden. Das unmittelbar vor dem Interview stattfindende Vorgespräch wird bereits mit aufgezeichnet. Es zeigt später grundlegende Interaktionsmuster zwischen Interviewten und Interviewerin.Auch für das gegenseitige Fragen und Informieren, das Berichten von Alltäglichem als »warming up« soll sich Zeit genommen werden.Eine möglichst ruhige und entspannte Atmosphäre ist wichtig: Erzählen, zumal biographisches, braucht Muße. Das Interview beginnt mit der Erzählaufforderung durch die Interviewerin. Die idealtypische Form einer erzählgenerierenden Eingangsfrage kann z. B. wie folgt lauten: »Ich möchte Sie bitten, mir Ihre Lebensgeschichte zu erzählen, all die Erlebnisse, die Ihnen einfallen. Sie können sich dazu soviel Zeit nehmen wie sie möchten« (Fischer-Rosenthal u. Rosenthal 1997, S. 414).
Entscheidend für den eigentlichen Erzählbeginn ist die Ratifizierung der Erzählung durch die Interviewpartnerin (Alheit 1994, S. 6). Durch eine Erzählkoda wird verdeutlicht,dass die befragte Person einverstanden ist und mit der autobiographischen Erzählung beginnt z. B. sagt: »Ja, dann fang ich mal an.« Diese Einverständniserklärung gleicht einem Vertrag. Ab hier beginnt die Haupterzählphase,die (idealtypisch) in der Form eines erzählerischen Spannungsbogens ausformuliert wird. Die Interviewerin hält sich in dieser Phase völlig zurück.Durch gestische und mimische Reaktionen oder auch durch parasprachliche Ausdrücke wie »hm« und »ja?« kann der Erzählfluss positiv unterstützt werden. Zudem macht sie sich zu einzelnen Aussagen Stichpunkte. Erst nachdem die interviewte Person durch das Setzen einer eindeutigen Schlusskoda, z. B. mit »Das war’s eigentlich soweit«,ihre Erzählung beendet hat, beginnt die Phase des erzählgenerierenden Nachfragens anhand der Stichpunkte. Nachfragen können sich auf die dargestellten Lebensphasen beziehen, auf einzelne Erzählsätze, bei denen nach der Geschichte darin gefragt wird und auf Argumente, die mit Belegerzählungen weiter ausgeführt werden können (Fischer-Rosenthal u. Rosenthal 1997, S. 418). Ein Beispiel: »Sie sagten vorhin, dass Sie erst eine andere Ausbildung begonnen hatten, können Sie davon bitte noch ausführlicher erzählen?« Erst im Anschluss an diesen Nachfrageteil werden forschungsbezogene Fragen formuliert, z. B. »Erzählen Sie mir bitte von Ihren ersten Erlebnissen auf einer Pflegestation«. Grundsätzlich ist es wichtig, dass narrationsgenerierende Fragen gestellt werden, d. h. es werden Fragen gestellt, die zur Wiederaufnahme des Erzählvorgangs, nicht zur argumentativen oder evaluierenden Darstellung auffordern (Schütze 1983, S. 285). Der Nachfragephase kann sich – wenn dieses für das Forschungsanliegen sinnvoll erscheint – eine Deutungsphase anschließen, in der die interviewte Person explizit nach ihren Einstellungen und Haltungen zu bestimmten, im Interview thematisierten, Erfahrungen befragt wird. Erst in dieser Phase des Interviews sind theoretische WarumFragen erlaubt. Es wird vom Erzählmodus zur Argumentation gewechselt.
47 3.2 · Das biographisch-narrative Interview als Forschungsmethode
In jedem Fall soll ein Feedback zur Interviewsituation ermöglicht werden. Dieses fällt leichter, wenn das Tonband bereits abgestellt ist. Die Rückschau auf das eigene Leben, die Bilder der Erinnerung bringen oftmals vieles in Bewegung.Es ist deshalb angebracht, einen weiteren Kontakt anzubieten und ggf. nach Tagen oder Wochen noch mal über das Interview zu sprechen (. vgl. Abb. 3.2).
3.2.3 Prozessstrukturen
des Lebensablaufs (Fritz Schütze) Für die Analyse und Interpretation von biographisch-narrativen Interviews eröffnen die »Kognitiven Figuren des autobiographischen Stegreiferzählens« von Fritz Schütze (Schütze 1984) einen systematischen Zugang. Schütze geht davon aus, dass eine frei durch den Biographieträger bestimmte autobiographische Erzählung durch formale sowie inhaltliche Strukturen der Erfahrungsrekapitulation bestimmt wird. Die eine Erzählung als »elementarsten Orientierungs- und Darstellungsraster« (Schütze 1984, S. 80) strukturierenden kognitiven Figuren sind homolog zur »Ordnung der Erfahrung«. Erzählen ist in diesem Sinne eine »Als-ob-Handlung« (Alheit 1990, S. 22), sie ist strukturidentisch mit den darin erinnerten Erfahrungen. Die spannende These lautet, dass wir ent-
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sprechend der in der Erzählung erinnerten Erfahrungen die Erlebnisse schildern.Ausgegangen wird also von einer »Korrespondenz der Erzählstruktur mit den Erlebensstrukturen,der Strukturen der Erfahrungsaufschichtung mit denen des Erzählaufbaus«, nicht aber – und hier liegt ein Missverständnis, welches eine kritische Diskussion auslöste (Nassehi 1994) – »eine Homologie von Erzählten und Erlebten« (Fischer-Rosenthal u. Rosenthal 1997, S. 411). Die kognitiven Figuren bilden einen Schlüssel für das Verständnis der in der Erzählung liegenden biographischen Erfahrungsaufschichtung (Schütze 1984, S. 81). An dieser Stelle soll mit den »Prozessstrukturen des Lebensablaufs« (Schütze 1981, 1984, S. 93 ff.) nur ein besonders weitreichender Aspekt der Erfahrungsrekapitulation thematisiert werden. Die Prozessstrukturen zeigen die grundlegende Haltung des Biographieträgers gegenüber den in der Erzählung zusammengefügten Erlebnissen. Im Fluss einer autobiographischen, spontanen Erzählung offenbaren sich die mit den Ereignissen verbundenen Erfahrungshaltungen. Es sind – so die Annahme – vorrangig nicht unsere an Alltagstheorien und idealisierten Selbstbildern orientierten Auslegungen zu bestimmten Ereignissen und/oder Lebensphasen, die die Erzählung strukturieren, sondern die mit der Erzählung verbundenen Haltungen des Biographieträgers: Sie
. Abb. 3.2. Verlauf eines biographisch-narrativen Interviews
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Kapitel 3 · Biographieforschung und Pflege
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ordnen systematisch Phasen der Lebensgeschichte unter generelle Erfahrungsprinzipien. … Die Lebensphase, die in den zeitlichen Grenzen der so gestalteten Erzählstruktur dargestellt wird, soll Prozessstruktur des Lebensablaufs genannt werden (Schütze 1984, S. 93, Hervorhebung des Verf.).
Eine Aufdeckung und Analyse der Prozessstrukturen erfordert eine sequenzierende, mehrschrittige Rekonstruktion am Text (Schütze 1983, 1984). Für Schütze (1983) sind die von dem Biographieträger selbst produzierten Deutungsmuster und Interpretationen erst im Zusammenhang mit den vom Forscher rekonstruierten Prozessstrukturen ein Erkenntnisgewinn:
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Die Fragestellung »Wie deutet der Biographieträger seine Lebensgeschichte?« ist meines Erachtens erst dann zufriedenstellend zu erklären, wenn der Forscher die interpretierenden theoretischen Anstrengungen des Biographieträgers in den Zusammenhang faktischer Prozessabläufe seines Lebens einbetten kann (Schütze 1983, S. 284).
Es wird an dieser Stelle deutlich, warum in einem biographisch-narrativen Interview zunächst nach Erzählungen gefragt wird und erst in der letzten Phase des Interviews Selbstdeutungen und Argumentationen zur eigenen Lebensgeschichte in den Vordergrund rücken. Das entsprechend den gesellschaftlichen Konventionen formierte Selbstbild, z.B.die Erfahrung einer unbeschwerten und glücklichen Kindheit, ist die Folie, auf der sich lebensgeschichtliche Erfahrungen erzählen lassen. Jenseits dieser gesellschaftlich präformierten Deutungsmuster können im Erzählen von Erlebnissen aus der Kindheit auch andere Erfahrungshaltungen strukturgebend wirken. Es werden vier Formen der grundlegenden Erfahrungshaltung unterschieden: »Biographische Handlungsschemata«, »institutionelle Ablaufmuster«, »Verlaufskurven« und »Wandlungsprozesse« (Schütze 1984,S.92 ff.).Die formale Analyse der autobiographischen Erzählung ermöglicht eine Glie-
derung des Textes entsprechend der Erfahrungshaltung des Biographieträgers in sog. Suprasegmente (ebd., S. 108). Durch die Analyse der in unterschiedlichen Lebensphasen »wirksamen« Prozessstrukturen, ihrer Dominanz und Kombination über den Verlauf der Lebensgeschichte eröffnet sich eine systematische Analyse und Interpretationsperspektive auf autobiographische Erzählungen (. Abb. 3.3). Das Verständnis von Krankheitsprozessen als »Verlaufskurve« oder »trajectory« wurde insbesondere von Corbin und Strauss (Corbin 1994; Corbin u. Strauss 1998) anhand von Untersuchungen der Bewältigungsstrategien bei chronischer Krankheit entwickelt. Die unterschiedlichen Trajectory- und Managementphasen wurden von Corbin und Strauss (1998) als Pflegemodell ausformuliert (Woog 1998; Sander u. Schneider 2001). Höhmann (1999) nutzt für eine empirische Studie die Trajectory-Phasen,um Interviews mit chronisch Kranken zu analysieren, die in unterschiedlichen Einrichtungen des Gesundheitswesens die Chronifizierung ihrer Leiden erlebten.Ziel der Studie ist es, in Kenntnis der Verlaufskurve die spezifischen Aufgaben der Gesundheits- und Pflegeberufe zu bestimmen und so die Kooperation zwischen den unterschiedlichen Professionellen zu verbessern (Höhmann 1999). An dieser Stelle sollen die Stadien der Verlaufskurve in Anlehnung an Schütze (1999) nur kurz aufgeführt werden: 5 Aufschichtung des Verlaufskurvenpotentials, z. B. durch das Leben mit einer chronischen Erkrankung 5 Plötzliches Ereignis löst Verlaufskurve aus, z. B. plötzliche Verschlechterung 5 Versuch ein labiles Gleichgewicht aufzubauen, z. B. mit veränderten Aktivitäten 5 Erschöpfung der Handlungskapazität 5 Entwicklung von Problemen »zweiter Ordnung«, z. B. Sekundärerkrankungen 5 Entstabilisierung: das labile Gleichgewicht gerät »ins Trudeln« 5 Zusammenbruch der Alltagsorganisation und Selbstorientierung (Sander u. Schneider 2001).
49 3.3 · Biographieforschung in der Pflege
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Das gelebte Leben (und / oder ein Lebensabschnitt) wird als planbar erfahren. Eigene Potentiale können in die Verwirklichung oder den Versuch zur Verwirklichung von Plänen eingebracht werden. Der Biographieträger hat den Eindruck, das Leben selbst ,in der Hand‘ zu haben.
Das gelebte Leben (und/ oder ein Lebensabschnitt) wird durch übermächtige Ereignisse erfahren. Die Ereignisse lähmen den Biographieträger und führen zu Kontrollverlusten. Das Leben gerät ,in’s Trudeln‘. Impulse zur Gegenwehr müssen entwickelt werden (siehe unten).
. Abb. 3.3. Prozessstrukturen des Lebensablaufs. (Nach Schütze 1981, 1984)
Fragen
4 1. Biographische Selbstreflexion: Mit welchen Ereignissen oder Phasen Ihres Lebens verbindet sich in Ihrer Selbstsicht eine besonders handlungsschematische Haltung? 4 2. Übertragung »Verlaufskurve«: Formulierung von beispielhaft idealtypischen Stadien einer Verlaufskurve. Welche Bewältigungsstrategien eines Menschen mit einer chronischen Krankheit,deren Auswirkungen Sie kennen (z.B.Diabetes mellitus), könnten in den unterschiedlichen Stadien deutlich werden? Welche Aufgabe
käme der professionellen Pflege zu,um ein weiteres »Trudeln« zu verzögern oder sogar zu verhindern?
3.3
Biographieforschung in der Pflege
Die am Anfang des Aufsatzes als grundlegende Fragehorizonte der Biographieforschung vorgestellten Perspektiven lassen sich in gesundheits- und pflegewissenschaftlichen Themenfeldern konkretisieren. Ein Beispiel: Das im Laufe der (beruflichen)
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Kapitel 3 · Biographieforschung und Pflege
Sozialisation angeeignete Pflegeverständnis zukünftiger Pflegepädagoginnen könnte unter folgenden Fragestellungen Gegenstand einer biographieanalytischen Untersuchung von Studentinnen sein: 4 Sinn: Welche Bedeutung haben die biographischen Erfahrungen, z. B. eigene Gesundheitsund Krankheitserfahrungen und Bildungserfahrungen, für das Verständnis von Pflege? 4 Funktionen: Wie wirken sich die eigenen biographischen Erfahrungen auf die Vorstellungen von Lehrtätigkeiten in der Fachpraxis und Theorie der Pflege aus? 4 Strukturen: Welche biographischen Strukturen (z. B. Dispositionen, Haltungen, Präskripte) sind durch die berufliche Weiterentwicklung zur Pflegepädagogin in Frage gestellt oder modifiziert, welche sind verfestigt oder bestätigt?
3.3.1 Analyse- und Handlungsfelder
Eine weitere Auffächerung von möglichen Fragehorizonten lässt sich durch die Dimensionen der Selbst-, Mit- und Umwelt verdeutlichen. Biographieforschung setzt zunächst an der Selbstwelt der Akteure an. Durch Selbstbeschreibungen der Pflegenden oder Gepflegten wird eine biographische Perspektive ermöglicht. Die spezifischen Fragestellungen können sich auf die unterschiedliche Mitwelt der Akteure, z. B. auf die Pflegebeziehung zwischen Eltern und Kindern oder Patienten und professionell Pflegenden sowie auf die unterschiedliche Umwelt,in denen die Interaktion stattfindet, z. B. auf das Altenheim oder das Krankenhaus beziehen (. Abb. 3.4). Zur Verdeutlichung sollen hier einige Beispiele bereits umgesetzter Forschungen, die die biographische Selbstwelt der Pflegenden oder Gepflegten zum Ausgangspunkt ihrer Fragestellungen nehmen, kurz benannt werden: Dunkel (1994) untersucht in einer qualitativen Studie die Berufstätigkeit von Altenpflegerinnen als Bestandteil ihrer Lebensführung (Dunkel 1994). Fragestellungen, die sowohl die Berufsgruppe, z. B. Auszubildende und Berufserfahrene, als auch spezifische Aspekte des professionellen Handelns, z. B. Konflikte und Selbstverständnis, unterscheiden, könnten sich anschließen. Auch ein Vergleich der Erkenntnisse aus dem Altenheim mit anderen Pfle-
gesystemen wie z. B. der ambulanten Altenpflege wäre möglich. Kölkebeck (2000) wendet sich in ihrer an der Universität Bielefeld entstandenen Diplomarbeit dem Bereich der häuslichen Laienpflege zu. Anhand von biographischen Fallstudien wird das Erleben und Handeln von pflegenden Töchtern untersucht. Es wird deutlich, wie die Pflegesituation durch das eigene Leben der Tochter und die lebensgeschichtliche Verwobenheit der Biographien mit dem pflegebedürftigen Elternteil bestimmt wird (Kölkebeck 2000). Eine Weiterführung der Untersuchung mit biographischen Interviews der gepflegten Elternteile wäre denkbar. Die an der Selbstwelt der Gepflegten ansetzenden Studien untersuchen das spezifische Krankheits- und Gesundungserleben. Zwei Beispiele: So untersucht Griesehop (2003) anhand biographischnarrativer Interviews die Lebensgestaltung von Multiple-Sklerose-Erkrankten. Hanses (1996) untersucht die Erkrankungs- und Gesundungsprozesse von an Epilepsie erkrankten Menschen als eine biographische Konstruktion. An die grundlagentheoretischen Arbeiten, die ein biographisches Verständnis von Krankheit und Gesundheit eröffnen, lassen sich für die Pflege Fragen der biographischen Erfassung von Hilfs- und Pflegebedürftigkeit anschließen. In einem Forschungsprojekt in Gloucester/UK wurde von Gearing und Coleman (1996) ein Interviewverfahren entwickelt, welches in der Gemeindepflege einen biographischen Zugang zu verwirrten, alten Menschen ermöglichen soll. Es wird als »Biographical Assessment in Community Care« (Gearing u. Coleman 1996) vorgestellt. In einem Überblick erörtert Pitzschke (1990) Möglichkeiten wie Grenzen der biographieorientierten Erfassung von Pflege- und Hilfsbedürftigkeit im Alter (Pitzschke 1990).
3.3.2 Studie: Leben im Altenheim
als biographische (An-) Passung Eine von der Autorin selbst durchgeführte biographieanalytische Studie soll im Folgenden ausführlicher vorgestellt werden. Die Analyse setzt vor allem an der Selbstwelt der Gepflegten an. Durch biographische Selbstpräsentationen wird die Inter-
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3
. Abb. 3.4. Analyse- und Handlungsfelder »Biographieforschung in der Pflege«
aktionsordnung der Institution Altenheim untersucht.Auch hier wären vergleichende Fragestellungen für das Krankenhaus oder die ambulante Pflege möglich. Die Studie wurde als Diplomarbeit an der Universität Bremen in den Erziehungs- und Gesellschaftswissenschaften angefertigt. Sie trägt den Titel »Biographie und Interaktion in der Pflege« (Sander 2003). In den letzten Jahren etablierte sich in der professionellen Altenpflege die Idee, dass Kenntnisse über die Lebensgeschichte der Bewohnerinnen für die Qualität der Pflege bedeutsam sind. Unter anderem mit sog. »Biographiebögen« in den Dokumentationssystemen soll die »Jetztzeit« durch die Vergangenheit aufgeschlüsselt und in der alltäglichen Pflege berücksichtigt werden. Die Bewohnerinnen sollen bei der Fortführung ihres individuellen Lebens unterstützt werden, sie sollen sich im besten Fall bald »wie Zuhause« fühlen können.
Dieses positive Anliegen professioneller Altenhilfe ist voraussetzungsreich, es soll mit der Studie genauer geprüft und kritisch hinterfragt werden. Eine grundlegende theoretische Annahme der Untersuchung versteht das Altenheim als eine Institution, in der ein spezifischer Interaktionsrahmen unabhängig von den einzelnen Bewohnerinnen und Mitarbeiterinnen vorgegeben ist. Der Interaktionsrahmen ist durch Eigenschaften gekennzeichnet, die das bisherige biographische Selbstverständnis der Bewohnerinnen herausfordern, in Frage stellen und potentiell bedrohlich oder sogar zerstörerisch wirken. In der Studie wird genauer nach den durch die alltägliche Interaktion verursachten Bedrohungen für das biographische Selbst der Bewohnerinnen gefragt. Der für das Vorhaben gewählte Blick auf die Biographie einzelner Bewohnerinnen ermöglicht die Analyse von biographisch geprägten Ressourcen wie auch Verletzungsdispositionen, die die Ein- und Anpassungen
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3
Kapitel 3 · Biographieforschung und Pflege
von neuen Heimbewohnerinnen an die vorgegebene Ordnung der Institution gestalten. Folgende Fragestellungen waren für das Vorhaben zentral: Welche Erlebnisse sind für die Bewohnerinnen beim Einzug in das Heim bedeutsam? Mit welchen Deutungsmustern interpretieren die Bewohnerinnen die Erlebnisse im Heim? Übertragen sie ihre biographischen Erfahrungen auf die institutionelle Welt »Altenheim«? Gelingt ihnen eine biographische (An-) Passung an die Institution »Altenheim«? Wie lässt sich dieser Prozess aus biographischer und institutioneller Perspektive rekonstruieren? Und: Wie verstehen Altenpflegerinnen die von den Bewohnerinnen geschilderten Situationen? Mit welchen Deutungsmustern interpretieren sie das darin stattfindende alltägliche Interaktionsgeschehen? Der empirischen Studie liegen biographischnarrative Interviews mit drei Bewohnerinnen eines Altenheims sowie mit drei Altenpflegerinnen und einem Altenpfleger zugrunde. Die Interviews wurden vollständig transkribiert, anonymisiert und in Verlaufprotokollen segmentiert. Die Dauer der Interviews betrug zwischen einer und drei Stunden. Die einzelnen Segmente, die für die Fragestellungen bedeutsam erschienen, wurden im Rahmen einer Forschungswerkstatt mit explorativen Interpretationsverfahren ausgewertet. In der weitergehenden systematischen Feinanalyse wurde vor allem das Interview einer Bewohnerin bearbeitet und mit Aussagen aus dem Interview einer Altenpflegerin kontrastiert. Für die Feinanalyse wurde ein rahmenanalytisches Kodierparadigma entwickelt,welches es zuließ,sowohl die biographische Selbstkonstruktion der Befragten wie auch die Interaktionsordnung des Altenheims zu analysieren. Die Ergebnisse wurden auf zwei weitere Interviews mit Altenheimbewohnerinnen übertragen. Die Studie greift auf das umfangreiche theoretische Programm des amerikanischen Soziologen Erving Goffman (1922–1982) zurück. Es wird im theoretischen Teil der Arbeit ausführlich vorgestellt. Das für die Forschungsarbeit entwickelte Kodierparadigma verwendet zentrale Konzepte Goffmans für die Auswertung der Interviews. Einige Beispiele: Die alltäglichen Interaktionen innerhalb der Institution »Altenheim« werden als »totale Institu-
tion« analysiert. Die »Welt der Insassen bzw. Bewohnerinnen« wird grundlegend von der »Welt des Personals« unterschieden (Goffman 1972). Die autobiographische Erzählung wird mit der Goffman’schen Identitätskonzeption als Ausdruck eines Identitätsmanagements (Goffman 1967) verstanden und aufgeschlüsselt. Sie wird in Szenen rekonstruiert, in denen sich die Erzählerin selbst als »Darstellerin« auf unterschiedlichen »Bühnen« ihres Lebens vorstellt. Dieses Vorgehen nutzt die von Goffman für die Interaktionsanalyse entwickelte Theateranalogie (Goffman 1969). Für die Auswertung der Erzählsegmente, die sich unmittelbar auf das Leben im Heim beziehen, wird insbesondere die Konzeption »Territorien des Selbst« (Goffman 1974) genutzt. In der Feinanalyse der lebensgeschichtlichen Erzählung von Frau Schaumburg wird deutlich, dass die Bewohnerin in den Erlebnisschilderungen, die sich auf das Leben im Heim beziehen, zentrale biographische Deutungsschemata aus ihrer Kindheit und ihrem Berufs- und Eheleben integriert.Einige bereits in Teilen am Beginn des Aufsatzes dargestellte Sequenzen aus ihrer Lebensgeschichte sollen hier als Ausschnitte wiederholt und mit den von mir vorgenommenen Interpretationen als biographische Ressourcen bzw. biographische Verletzungsdispositionen vorgestellt werden: Beispiel Die inzwischen seit zehn Jahren im Altenheim lebende, fast hundertjährige Frau Schaumburg nimmt nach wie vor die gemeinsamen Mahlzeiten mit anderen Bewohnerinnen als eine Einschränkung wahr, die nicht mit ihrem Verständnis von sich selbst übereinstimmt.Sie begegnet dieser – sowie anderen ihr unangenehm und bedrohlich erscheinenden – Reglementierungen mit der Wahrnehmung und Deutung des »Altenheims als Betrieb«. So sagt sie z. B.: »Erst musst ich mich auch sehr, sehr hier eingewöhnen. Also will mal sagen, man ist ja eingebettet in den Betrieb, nich. Ne gewisse Ordnung muss ja sein«. Nach einer überstandenen Krankheit will sie sich zum Essen »wieder unten einreihen«. In der Erzählung lassen sich biographische Erfahrungen auffinden, die das Leben und Arbei-
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ten in einem größeren Betrieb mit Sinngehalt füllen: Die Erzählerin stellt sich in besonders aktiver,handlungsschematischer Haltung (s.unter 3.2.3) als leidenschaftliche Gutshofsekretärin dar. Die junge Frau ist bis zu ihrer Heirat auf großen landwirtschaftlichen Betrieben für die gesamte Arbeitsorganisation verantwortlich, z. B. erzählt sie: »Hatt’ ich auch wieder ‘ne große Hofaufsicht, musst ich sehen, ob der Schmied die Arbeit fertig hatte, die er machen sollte. Und so bin ich denn immer über den Hof ge- gestolpert und hab gekuckt –. Hier gekuckt und da gekuckt, damit die Arbeit da flüssig wurde.« Mit der Übernahme der Perspektive auf das Altenheim als einem bestimmten Handlungszwängen unterliegenden Betrieb kann Frau Schaumburg an eine wichtige biographische Sinnressource anknüpfen. Ein zweites Beispiel: Frau Schaumburg gelingt es, die Rolle der Altenpflegerinnen in ihre Sinnwelt einzubinden. »Und hier im Hause – hab ich lauter Freunde. Also ich kann nich sagen, dass ich irgendwelche Schwierigkeiten hier habe. Die Angestellten sind also ganz reizend hier, – ganz reizend. Da kann ich nicht – kein böses Wort drüber sagen. Das hat man selten, nich?« Diese sicherlich nicht unmittelbar im Einklang mit dem professionellen Selbstverständnis von Altenpflegerinnen stehenden Bedeutungszuschreibungen verbindet ebenfalls eine biographisch sehr positiv besetzte Zeit mit dem Heute: Frau Schaumburg wächst in einem großbürgerlichen Haushalt auf. Als die Erzählerin neun Jahre alt ist, zerbricht plötzlich die als glücklich erlebte großbürgerliche Welt durch eine hohe Verschuldung des Vaters;die Mutter wird krank, zudem muss das Personal der Großfamilie entlassen werden.In dieser dramatischen Situation wird eine Angestellte zur Bezugsperson des Mädchens: »Und von da an, da hatten wir noch ein Kinderfräulein, das ich also heiß geliebt habe, und die ist uns treu geblieben«. In ihrer lebensgeschichtlichen Erzählung ist es ein Kinderfräulein, mit dem die Erzählerin eine Freundschaft verbindet, heute sind es Altenpflegerinnen, de-
nen sie die gleiche Position zuerkennt. Die Benennung der Altenpflegerinnen als »reizende Angestellte« verknüpft die positiven Erfahrungen mit dem »treuen Kinderfräulein«, das dem hilflosen Kind beistand, mit dem Heute, in dem die hochaltrige Bewohnerin zunehmend auf Hilfestellungen durch das Pflegepersonal angewiesen ist. Das dritte Interpretationsbeispiel soll zeigen, wie neben der dargestellten Anknüpfung an biographische Ressourcen die mitgebrachten Verletzungsdispositionen das Leben im Heim bestimmen können: Immer wieder schildert Frau Schaumburg die räumlichen Einschränkungen, die für sie mit dem Umzug in das Heim verbunden sind. Im Rückgriff auf ihre Kindheit sagt sie: »Das kleinste Zimmer was wir hatten, das war vielleicht genauso groß wie das ganze Apartment hier«. Mit dem Vergleich der Räume wird das Gestern mit dem Heute verbunden.Ein Anschluss an die Lebensgeschichte ist möglich. Frau Schaumburg weist auf ihre mitgebrachten Möbel, die aus der Zeit des großbürgerlichen Reichtums ihrer Familie stammen und auf ein Gemälde. Sie sagt: »Das waren die Wiesen vor unserem Gütchen. Das war so schön, das glauben sie gar nicht«. Es wird deutlich,dass sich ihr biographisches Selbst,das »Jemand-von-einer-Art« (Goffman 1967,S 74) sein, besonders mit dem Raum und dessen Ausstattung darstellen lässt. Die Maße des Apartments sind existenziell, sie sind Umrisse eines »Territorium des Selbst« (Goffman 1974). Als die Altenpflegerinnen aufgrund einer kurzfristigen Bettlägerigkeit ein Spezialbett mitten in den Raum stellen,durchlebt die Bewohnerin eine existenzgefährdende Grenzüberschreitung. Sie kann diese nur durch einen völligen Rückzug in sich selbst durchhalten. In den Ausschnitten aus dem Interview der Altenpflegerin wird deutlich,dass in der Logik der Institution das Apartment als Nutzungs- und Versorgungsoberfläche definiert ist. Die Brutalität dieser Logik ergibt sich weniger aus einem mangelhaften Pflege- und Betreuungsverständnis Einzelner als vielmehr aus den Merkmalen der totalen Institution. In ihnen sind die Bewohnerinnen eben weniger als Subjekte son-
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Kapitel 3 · Biographieforschung und Pflege
dern als Versorgungsobjekte definiert. Der Raum wird entsprechend der Versorgungsanforderungen optimal gestaltet, wogegen die Frage nach dem biographischen Sinn des Territoriums keine hohe Priorität aufweist. Ein weiteres Beispiel aus einem anderen autobiographischen Interview mit einer Bewohnerin: Die Heimbewohnerin Frau Förster ist als junges Mädchen im Kaiserswerther Schwesternverband zur Ausbildung. Kurz vor ihrer Aufnahme in den Verband als Diakonissin tritt sie durch die Kriegsumstände aus. Die heute fast völlig erblindete, stark schwerhörige Frau Förster kehrt in ihrer Erzählung in das »Sinnreich« (Goffman 1977) ihrer Jugend zurück. Bei den Diakonissinnen »war auch eine geistige – geistige Zucht und die behält man bis ins Leben«, sagt sie. Leben in einer die alltäglichen Abläufe ordnenden Institution ist für diese Bewohnerin mit den Erfahrungen als Schwesternanwärterin verbunden.Mit dem Leben im Heim ist so – trotz der eigenen Schwächen – ein diakonischer Auftrag gegeben,dem Frau Förster so gut sie kann nachkommt. Es ist ein wesentlicher Ausdruck ihres biographischen Selbst-Seins,sich nicht als Hilfsbedürftige, sondern als Helferin zu verstehen.
Die Analyse der biographisch-narrativen Interviews zeigt (An-) Passungsprozesse, die als biographische Sinntransformationen zu verstehen sind. Sie sind strukturell mit den im institutionellen Rahmen eines Altenheims liegenden Organisationsprinzipien gekoppelt. Die von den Bewohnerinnen geschilderten Szenen zum Leben im Heim lassen sich in Kenntnis der Lebensgeschichte tiefergehend verstehen.Sie verdeutlichen,wo biographische Ressourcen und Verletzungsdispositionen liegen und wie eine biographische An- bzw. Einpassung an die Institution »Altenheim« vollzogen wird.Es wird zudem deutlich, wie die in den alltäglichen Interaktionen liegenden Sinnsetzungen des Personals die biographische Existenz gefährden können. Biographiebögen können diese Gefahr nicht aufheben, sie verstärken sie meines Erachtens nur, da sie ausschließlich Lebenslaufdaten und -ereignisse fixieren. Es entsteht allzu leicht der Eindruck, dass man »mehr« oder sogar »Wichtigeres« über den Menschen weiß. Eine standardisierte Befra-
gung ist nicht geeignet, den in den Informationen liegenden biographischen Sinn zu erfassen. Das Auffinden von Sinnressourcen benötigt das offene, vertrauensvolle Gespräch,in dem Erzählen,Fragen, Zuhören im Dialog stattfinden kann. Voraussetzung hierfür ist das grundlegende Verständnis,dass sich biographischer Sinn über Zeit und Raum verändert. Soll ein biographischer Ansatz in der Pflegearbeit umgesetzt werden, so sind zunächst hohe Anforderungen an die Aus-, Fort- und Weiterbildung von Altenpflegekräften zu stellen. Kompetenzen wie das »sich Einlassen können«, das Zuhören und »interpretierende Verstehen« müssen immer wieder geübt werden, z. B. an erzählten Lebensgeschichten, in Praxisbegleitungen und Praxisreflexionen. Pflege,die innerhalb eines institutionellen Rahmens durchgeführt wird, ist durch die institutionelle Geordnetheit wesentlich bestimmt. Die Professionellen werden daher erkennen,dass die Institution, in der sie arbeiten, – ungewollt – einen die biographische Existenz potentiell bedrohenden Charakter hat. Sie werden ihre Handlungen dementsprechend hinterfragen. Die für die biographieorientierte Pflege benötigte berufliche Handlungskompetenz lässt sich als doppelseitige Rahmungskompetenz zusammenfassen: Einerseits müssen die Pflegenden die Rahmungen, d. h. die biographischen Sinnsetzungen, die die Pflegebedürftigen selbst vornehmen, dechiffrieren, andererseits müssen sie ihre Pflegehandlungen so rahmen, d. h. mit Sinn versehen, dass sie die biographische Existenz derjenigen, für die sie sein soll, so wenig wie möglich gefährden. Pflegerische Rahmungskompetenz ist somit sowohl eine reflexive als auch eine gestalterische Fähigkeit. Wichtig Vorschlag für die Praxis der Altenpflege: Ein »Lebensbuch« gestalten Statt der in den Aktenschränken verschwindenden Biographiebögen können »Lebensbücher« gemeinsam mit den Bewohnerinnen und/oder Angehörigen erstellt werden. Sie sollen bei den Bewohnerinnen bleiben und sie unterstützen, ihr biographisches Selbst
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anderen, z. B. neuen Mitbewohnerinnen oder Auszubildenden, vorzustellen. Hierin können Fotografien eingeklebt und Erlebnisse aufgeschrieben werden.Lebensorte in Bild und Text können durch Bilder und Anekdoten, z. B. von Reisen, ergänzt werden. Das Verwandtschaftsnetz oder ein Stammbaum kann aufgezeichnet und/oder mit Fotos bebildert werden. Dabei sollten keine Vorgaben, z. B. ein Bestehen auf Angaben zum Lebenslauf, den biographischen Rahmen strukturieren. Es kommt vielmehr darauf an, entsprechend der Möglichkeiten der Bewohnerin, der Angehörigen und der Pflegenden kreativ eine dauerhafte Darstellung des biographischen Selbst zu gestalten. Der besondere Wert dieses Buches liegt darin,dass die Bewohnerinnen es in Händen behalten oder aber neben sich liegen haben, um sich selbst und anderen die Möglichkeit zu geben, ihre biographische Selbstdarstellung zu Kenntnis zu nehmen.Dies wird insbesondere dann relevant, wenn die Fähigkeiten etwas von sich selbst zu zeigen, z. B. ausführlich zu erzählen, nachlassen.
3
chen Strukturen und subjektivem Erleben, die sich in Biographien auffinden lassen. Im zweiten Teil wird das biographisch-narrative Interview vorgestellt. Die qualitative Forschungsmethode wird in ihren Zielsetzungen erklärt. Hierfür müssen zunächst die Eigenschaften von Erzählungen dargelegt werden.Im Anschluss daran wird der Verlauf eines biographisch-narrativen Interviews erörtert. Es wird deutlich, dass die Durchführung dieser Interviewform eine sorgfältige Vorbereitung benötigt. Mit den Prozessstrukturen des Lebensablaufs von Fritz Schütze wird ein bedeutender Analyseund Interpretationsansatz für die Bearbeitung von biographischen Interviews vorgestellt. Im dritten Teil werden beispielhaft Studien genannt, in denen Biographieforschung im Gesundheitswesen bereits umgesetzt wurde. Eine von der Autorin selbst durchgeführte Studie wird ausführlicher vorgestellt, um zu verdeutlichen, welche Potentiale sich durch Biographieforschungen für die professionelle Pflege- und Pflegebildung ergeben könnten.
3 Methodische Vorschläge für die Seminargestaltung
Fragen
Teilnehmerinnenorientierter Einstieg
4 1. Diskussion der Ergebnisse der vorgestellten Studie: Welche Konsequenzen sind nach Ihrer Einschätzung daraus für die professionelle Altenpflege zu ziehen? 4 2. Bewertung der Nutzung von sog. Biographiebögen:Wie schätzen Sie die Vor- bzw.Nachteile dieser Dokumentationsform ein? 4 3. Entwicklung eines methodischen Vorschlags, wie sich in einem/Ihrem Praxisfeld eine biographieorientierte Perspektive einbringen lassen würde. Wo sehen Sie Möglichkeiten, welche Gefahren und Grenzen müssen bedacht werden?
Einen Einstieg in die Thematik ermöglicht die Methode »Lebenskurve«.Das selbstreflexive Vorgehen fordert eine Verdichtung/Verknüpfung von biographischen Ereignissen auf einer Zeitskala, wobei die Ereignisse eine positive oder negative Bewertung erhalten. Um den Frage- und Reflexionshorizont auf das Seminarthema zu beschränken, könnte die Einstiegsfrage z. B. lauten: »Welche Ereignisse kennzeichnen meine berufliche Pflegegeschichte?« oder »Welche Ereignisse kennzeichnen meine Lerngeschichte?« Die Auswertung der Skizze kann in Partner- oder Kleingruppenarbeit erfolgen und zur Frage nach der »Konstruktion« von biographischer Wirklichkeit überleiten. Ausführlicher zur Methode siehe Ruhe HG (1998) Methoden der Biographiearbeit. Lebensgeschichte und Lebensbilanz in Therapie, Altenhilfe und Erwachsenbildung. Beltz, Weinheim Basel, S. 26 f.
3 Zusammenfassung Der Aufsatz erörtert Biographien als einen spezifischen Forschungsgegenstand, der für die Pflegeund Pflegebildungsforschung von großem Interesse ist. Im ersten Teil wird nach einer Differenzierung des Begriffs die theoretische Perspektive auf Biographien als eine soziale Konstruktion erläutert.Der zentrale Punkt der Ausführungen umreißt die Wechselbeziehungen zwischen gesellschaftli-
Expertinnengespräche
Im Rahmen von Seminaren, die in die qualitative Sozialforschung einführen, können Biographiefor-
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3
Kapitel 3 · Biographieforschung und Pflege
scherinnen eingeladen werden, um ihre Fragestellungen, Erhebungsmethoden und Auswertungsverfahren vorzustellen. Kontakte lassen sich über Forschungswerkstätten herstellen z. B. durch das INBL (Interuniversitäre Netzwerk Biographie- und Lebensweltforschung, www.inbl.de). Textinterpretation
Als eine Einübung von hermeneutischen Verfahren können Ausschnitte aus biographisch-narrativen Interviews gemeinsam interpretiert werden. Die in der Auslegung der Textsequenzen produzierten »Lesarten« können genutzt werden, um ein eigenes Forschungsinteresse an den Zusammenhängen von Biographie und Pflege zu fördern. Als Ausschnitte können die in biographieanalytischen Studien zitierten Interviewpassagen genutzt werden. Dieses Vorgehen hat den Vorteil,dass die Studierenden die von den Autorinnen vorgenommene Interpretation nachlesen und den Kontext der Untersuchung kennen lernen können.
3 Empfehlungen zum Weiterlernen Krüger HH, Marotzki W (Hrsg) (1999) Handbuch er-
ziehungswissenschaftliche Biographieforschung. Leske & Budrich, Opladen Das Kompendium gibt einen guten Überblick zur erziehungswissenschaftlich orientierten Biographieforschung. Neben grundlegenden methodischen Fragen werden Ansätze der Biographieforschung zu unterschiedlichen Lebensphasen wie »Biographieforschung und Schülerinnenforschung« (Helsper u. Bertram), »Biographieforschung und Altersforschung« (Schweppes) und in unterschiedlichen Teildisziplinen der Pädagogik z. B. »Biographieforschung in der Erwachsenenbildung« (Alheit u. Dausien) und »Biographieforschung in der Berufspädagogik« (Harney u. Ebbert) erörtert. Woog P (Hrsg) (1998) Chronisch Kranke pflegen: Das Corbin-und-Strauss-Pflegemodell. Ullstein, Wiesbaden Das Buch bietet eine kurze Einführung von Juliet Corbin und Anselm Strauss in die Krankheitsverlaufskurve.Der Ansatz wird als ein Pflegemodell zur Bewältigung chronischer Krankheiten vorgestellt. Anhand von exemplarisch ausgewählten chronischen Pflegesituationen beschreiben USamerikanische Pflegewissenschaftlerinnen die
Umsetzung des Modells z.B.in der Pflege von Menschen mit Diabetes mellitus (Walker), Herzerkrankungen (Hawthorne) und Aids-Erkrankungen (Nokes). Um sich für eine Erhebung, Analyse und Interpretation von biographisch-narrativen Interviews gut vorzubereiten, könnten Sie mit anderen, erfahrenen Forscherinnen zusammenarbeiten, z. B. in Forschungswerkstätten.Eine gut lesbare Vertiefung der hier dargestellten Verfahrensschritte bietet Glinka HJ (1998) Das narrative Interview. Eine Einführung für Sozialpädagogen. Juventa, Weinheim München. Einblicke in die Biographieforschung der verschiedenen Fachdisziplinen bekommen Sie unter folgenden Internetseiten: 4 Interuniversitäres Netzwerk Biographie- und Lebensweltforschung: www.inbl.de 4 Zentrum für qualitative Bildungs-, Beratungsund Sozialforschung: www.zbbs.de 4 Kommission Erziehungswissenschaftliche Biographieforschung der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft: http://www.paedsem. gwdg.de/dozenten/alheit/biogra.shtml 4 Institut für angewandte Biographie- und Lebensweltforschung: www.ibl.uni-bremen.de
Literatur Alheit P (1990) Alltag und Biographie. Studien zur gesellschaftlichen Konstitution biographischer Perspektiven. Forschungsreihe des Forschungsschwerpunktes »Arbeit und Bildung«, Bd 4. Universität Bremen, Bremen Alheit P (1992) Leben lernen? Bildungspolitische und bildungstheoretische Perspektiven biographischer Ansätze. Werkstattbericht des Forschungsschwerpunkts »Arbeit und Bildung«, Bd 16. Universität Bremen, Bremen Alheit P (1994) Das narrative Interview. Eine Einführung. Voksenpädagogisk Teoriudvikling. Roskilde, S 4–12 Alheit P, Dausien B (1999) Biographieforschung in der Erwachsenenbildung. In: Krüger HH, Marotzki W (Hrsg) Handbuch erziehungswissenschaftliche Biographieforschung. Leske & Budrich, Opladen, S 407–432 Alheit O, Hanses A (2004) Institution und Biographie. Zur Selbstreflexivität personenbezogener Dienstleistungen. In: Hanses A (Hrsg) Biographie und Soziale Arbeit. Schneider Verlag Hohengehren. Baltmannsweiler, S 8–28 Appelsmeyer H (1999) »Typus und Stil« als forschungslogisches Konstrukt in der narrativen Biographieforschung. In: Jüttemann G, Thomae H (Hrsg) Biographische Methoden in den Humanwissenschaften. Beltz, Weinheim Basel, S 231–246
57 3.3 · Biographieforschung in der Pflege
Beck U (1986) Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Suhrkamp, Frankfurt a. M. Bourdieu P (1990) Die biographische Illusion. In: BIOS, 3. Jhg, Heft 1: 75–81 Corbin J (1994) Chronicity and the Trajectory Framework.Paper der Forschungsgruppe Gesundheitsrisiken und Präventionspolitik. Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), S 84–202 Corbin J, Strauss A (1998) Ein Pflegemodell zur Bewältigung chronischer Krankheiten. In:Woog P (Hrsg) Chronisch Kranke pflegen: Das Corbin-und-Strauss-Pflegemodell. Ullstein, Wiesbaden, S 1–30 Dausien B (1994) Biographieforschung als »Königinnenweg«? Überlegungen zur Relevanz biographischer Ansätze in der Frauenforschung. In: Diezinger, A et al. (Hrsg) Erfahrungen mit Methode. Wege sozialwissenschaftlicher Frauenforschung. Kore, Freiburg i. Breisgau, S 129–154 Dausien B (1996) Biographie und Geschlecht. Zur biographischen Konstruktion sozialer Wirklichkeit in Frauenlebensgeschichten. Donat, Bremen Dunkel W (1994) Pflegearbeit – Alltagsarbeit. Eine Untersuchung der Lebensführung von AltenpflegerInnen. Lambertus, Freiburg i. Breisgau Egger, R (1995) Biographie und Bildungsrelevanz. Eine empirische Studie über Prozessstrukturen moderner Bildungsbiographien. Profil, Wien Fischer W, Kohli M (1987) Biographieforschung. In: Voges W (Hrsg) Methoden der Biographie- und Lebenslaufforschung.Leske & Budrich, Opladen, S 25–49 Fischer-Rosenthal W (1990) Von der »biographischen Methode« zur Biographieforschung: Versuch einer Standortbestimmung. In: Alheit P, Fischer-Rosenthal W, Hörning E (Hrsg) Biographieforschung. Eine Zwischenbilanz in der deutschen Soziologie. Universität Bremen, Bremen, S 11–32 Fischer-Rosenthal W, Rosenthal G (1997) Warum Biographieanalyse und wie man sie macht. In: Zeitschrift für Sozialisationsforschung und Erziehungssoziologie, 17. Jhg, Heft 4: 405–427 Fuchs (1985) Möglichkeiten der biographischen Methode. In: Niethammer L (ed) Lebenserfahrung und kollektives Gedächtnis. Die Praxis der »Oral History«. Suhrkamp, Frankfurt a. M. Fuchs-Heinritz W (1999) Soziologische Biographieforschung: Überblick und Verhältnis zur Allgemeinen Soziologie. In: Jüttemann G, Thomae H (Hrsg) Biographische Methoden in den Humanwissenschaften. Beltz, Weinheim Basel, S 3–23 Gearing B, Coleman P (1996) Biographical Assessment in Communikty Care. In: Birren J et al. (eds) Aging and Biography. Explorations in Adult Development.Springer,New York,pp 265–282 Glaser B, Strauss A (1967) The discovery of grounded theory. Strategies for qualitative research. Aldine, New York Glinka HJ (1998) Das narrative Interview. Eine Einführung für Sozialpädagogen. Juventa, Weinheim München Goffman E (1967) Stigma. Über Techniken und Bewältigung beschädigter Identität. Suhrkamp, Frankfurt a. M. Goffman E (1969) Wir alle spielen Theater.Die Selbstdarstellung im Alltag. Pieper, München Goffman E (1972) Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Suhrkamp, Frankfurt a. M.
3
Goffman E (1974) Das Individuum im öffentlichen Austausch. Mikrostudien zur öffentlichen Ordnung. Suhrkamp, Frankfurt a. M. Goffman E (1977) Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen. Suhrkamp, Frankfurt a. M. Griesehop HR (2003) Leben mit Multiple Sklerose. Lebensgestaltung aus biographischer Sicht. VAS-Verlag für Akademische Schriften, Frankfurt a. M. Hahn A (2000) Konstruktionen des Selbst, der Welt und der Geschichte. Suhrkamp, Frankfurt a. M. Hanses A (1996) Epilepsie als biographische Konstruktion: eine Analyse von Erkrankungs- und Gesundungsprozessen anfallserkrankter Menschen anhand erzählter Lebensgeschichten. Donat, Bremen Hanses A (2004) (Hrsg) Biographie und Soziale Arbeit. Institutionelle und biographische Kostruktionen von Wirklichkeit. Schneider Verlag, Hohengehren. Baltmannsweiler Höhmann U (1999) Qualität durch Kooperation – Gesundheitsdienste in der Vernetzung. Mabuse, Frankfurt a. M. Kallmeyer W, Schütze F (1977) Zur Konstitution von Kommunikationsschemata der Sachverhaltsdarstellung.Exemplifiziert am Beispiel von Erzählungen und Beschreibungen. In: Wegner D (Hrsg) Gesprächsanalysen. Vorträge, gehalten anlässlich des 5.Kolloquiums des Instituts für Kommunikationswissenschaft und Phonetik, Bonn 14.–16. Okt. 1976. Hamburg, S 159–274 Kölkebeck A (2000) Frauen und familiale Pflege. Biographische Fallstudie zum Erleben und Handeln pflegender Töchter. Universität Bielefeld, Fakultät für Pädagogik (unveröffentlicht) Kraul M, Marotzki W (2002) Biographische Arbeit. Perspektiven erziehungswissenschaftlicher Biographieforschung. Lese & Budrich, Opladen Nassehi A (1994) Die Form der Biographie. Theoretische Überlegungen zur Biographieforschung in methodologischer Absicht. In: BIOS, 7. Jhg, Heft 1: 46–63 Pitzschke A (1990) Lebensgeschichte und Altersbewältigung: Möglichkeiten und Grenzen der Methode der Biographieforschung für gerontologische Fragestellungen. In: Bracker M, Meiswinkel P (Hrsg) Quantitative und Qualitative Methoden der Sozialforschung in der Sozialen Gerontologie – unter besonderer Berücksichtigung des Aspektes Hilfsbedürftigkeit im Alter. Kasseler Gerontologische Schriften 11. Kassel, S 207–260 Sander K (2003) Biographie und Interaktion in der Pflege. Lebensgeschichten im institutionellen Rahmen eines Altenheims. Eine empirische Studie.Werkstattberichte des Instituts für angewandte Biographie- und Lebensweltforschung/Bremen (IBL), Bd 13. Bremen Sander K, Schneider K (2001) Pflegemodelle, Pflegetheorien, Pflegekonzepte. In: Grundlagen der Pflege für die Aus-, Fort- und Weiterbildung. Heft 7, Prodos, Brake Schulze T (1997) Interpretation von autobiographischen Texten.In: Friebertshäuser B,Prengel A (Hrsg) Handbuch Qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft. Juventa, Weinheim München, S 323–340 Schütz A, Luckmann T (1979) Strukturen der Lebenswelt, Bd 1. Suhrkamp, Frankfurt a. M. Schütz A, Luckmann T (1984) Strukturen der Lebenswelt, Bd 2. Suhrkamp, Frankfurt a. M.
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3
Kapitel 3 · Biographieforschung und Pflege
Schütze F (1981) Prozessstrukturen des Lebensablaufs. In: Matthes J, Pfeifenberger A, Stosberg M (Hrsg) Biographie in handlungswissenschaftlicher Perspektive. Kolloquium am Sozialwissenschaftlichen Forschungszentrum der Universität Erlangen, Nürnberg Schütze F (1983) Biographieforschung und narratives Interview.In: Neue Praxis, 13. Jhg, Heft 3: 283–293 Schütze F (1984) Kognitive Figuren des autobiographischen Stegreiferzählens. In: Kohli M, Robert G (Hrsg) Biographie und soziale Wirklichkeit. Neue Beiträge und Forschungsperspektiven. Metzler, Stuttgart, S 78 –117
Schütze F (1999) Verlaufskurven des Erleidens als Forschungsgegenstand der interpretativen Soziologie. In: Krüger HH, Marotzki W (Hrsg) Handbuch erziehungswissenschaftliche Biographieforschung. Leske & Budrich, Opladen, S 191–224 Strauss A (1991) Grundlagen qualitativer Sozialforschung. Datenanalyse und Theoriebildung in der empirischen soziologischen Forschung. Fink, München Strauss A, Corbin J (1996) Grounded Theory. Grundlagen Qualitativer Sozialforschung. Psychologie Verlags Union, Weinheim Woog P (Hrsg) (1998) Chronisch Kranke pflegen: Das Corbin-undStrauss-Pflegemodell. Ullstein, Wiesbaden
4 Beratung in der Pflege – Annäherungen an einen für das Handlungsfeld der Pflege spezifischen Zugang Martina Harking 4.1
Beratung in der Pflege
61
4.1.1
Eine Beratungsszene aus dem Pflegealltag
4.1.2
Beratung in den Handlungsfeldern der Pflege – ein Situationsaufriss
63
4.2
Beratung – ein dehnbarer Begriff mit mehrdeutigem Inhalt
65
4.2.1
Zu den vielseitigen Verwendungsformen von Beratung
4.2.2
Annäherung an ein Verständnis von Beratung
4.2.3
Beratungstheorien
4.2.4
Transfer der Beratungsansätze in die Pflege
4.3
Komponenten von Beratung
4.3.1
Beratungsbeziehung und Beratungsmethode
4.3.2
Ziel von Beratung
4.3.3
Förderliche Beratungsinterventionen
4.4
Beratung und Edukation
4.4.1
Patientenedukation als neues Handlungsfeld der Pflege?
4.4.2
Der Stellenwert von Beratung
4.5
Rückblick und Ausblick
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Kapitel 4 · Beratung in der Pflege
> Thesen
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5 Beratung in der Pflege ist jederzeit und allerorts möglich.Entscheidend ist,dass Pflegende ein Bewusstsein dafür entwickeln. 5 Beratung ist in der Alltags- und Fachsprache ein häufig verwendeter, zuweilen diffuser Begriff. Ähnlich vielgestaltig und wenig geklärt ist die Verständigung über Beratung im Handlungsfeld der Pflege. 5 Beratung in der Pflege ist mehr als das freundlich zugewandte Wort und die Anwendung von Gesprächstechniken. Beratung ist ein Gestaltungselement der pflegerischen Beziehung, eingebettet in den Pflegeprozess. 5 Beratung und Edukation sind zwei ungleiche Schwestern. Es ist daher problematisch, die Begriffe und damit verbundene Aktivitäten synonym zu verwenden.
kollegialen Austausch oder durch Supervision). Persönliche Beratungsfähigkeiten durch Fortbildungen oder fachlichen Austausch weiterentwickeln und vertiefen.
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3 Berufliche Handlungskompetenzen 2
Fachkompetenz Theoretische Modelle menschlicher Kommunikation und Interaktion kennen und ihre Bedeutsamkeit für die Pflege prüfen. Die Komponenten einer professionellen Beratung verstehen und Beratungsanlässe in der Pflege entdecken.
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Sozialkompetenzen Professionelle Beziehungen aufnehmen, gestalten und beenden können. Die Entwicklung professioneller Beziehungsfähigkeit als fortlaufenden Prozess der Entfaltung stabiler und ethisch fundierter Werthaltung leben (Respekt,Akzeptanz, Ehrlichkeit, ausgewogenes Verhältnis zwischen Nähe und Distanz).
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Personalkompetenz Ein reflektiertes Engagement sich selbst und der Arbeit gegenüber entwickeln, indem eigene Belastungsgrenzen erkannt und ausgedrückt werden. Die Fähigkeit zur Reflexion von Beratungssituationen durch vorübergehende Distanz und Metakommunikation erwerben (z.B.im
Methodenkompetenz Die verbalen und nonverbalen menschlichen Ausdruckformen als individuelles Befindlichkeitskonzept verstehen und dessen Bedeutungsgehalt in den Kontext von Gesundheits- und Krankheitsprozesse stellen. Die im Beratungsprozess angewandten Methoden als Hilfsmittel auffassen, die Bewusstheit und Einsicht ermöglichen und die Entfaltung von Selbsthilfemöglichkeiten unterstützen.
Sprachkompetenz Beratung verstehen als Reflexionsarbeit, als Anleitung zur Selbst- und Fremdbeobachtung und als Prozess des Suchens und Entdeckens. Dazu ist ein waches Bewusstsein für die Wirkung von körperlichen und sprachlichen Ausdrucksformen bedeutsam.
3 Praxisrelevanz Worum handelt es sich, wenn von Beratung in der Pflege die Rede ist? Diese Frage wird in Pflegewissenschaft und Praxis seit Jahren vielfältig diskutiert.Obwohl Beratung in der Pflege mittlerweile zu einem anerkannten Thema geworden ist, herrscht viel Unsicherheit, wenn es darum geht, das Wesen von Beratung zu beschreiben. Das Verständnis umfasst ein weites Spektrum: angefangen vom einfachen Ratgeben und Informieren, über Patientenedukation und Anleitung bis hin zu entfalteten, theoretisch fundierten Beratungsansätzen. Die inhaltliche Diskussion um den Stellenwert von Beratung in der Pflege wurde durch die Sozialgesetzgebungen der 1990er Jahre angestoßen und pflanzt sich derzeit v. a. durch die Vorgaben der jüngst verabschiedeten Berufsgesetze (Krankenund Altenpflegegesetz) fort.Gegenwärtig stehen sowohl die Berufsangehörigen in der Pflegepraxis als auch diejenigen in den pflegerischen Ausbildungen und Studiengängen vor der Frage, wie sie ihren Beratungsauftrag wahrnehmen oder das Thema in
61 4.1 · Beratung in der Pflege
. Abb. 4.1. Verfahrensstruktur
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Beratung Annäherung an einen diffusen Begriff mit vielseitigen Verwendungsformen und mehrdeutigen Inhalten
Analyse der wesentlichen Eigenschaften Auslagerung weniger bzw. nicht zugehöriger Eigenschaften
Umgangssprachliches Verständnis
Fachsprachliches Verständnis
Zusammenführung der charakterisierenden Eigenschaften Annäherung an ein Verständnis von Beratung und Pflege
Seminaren und im Unterricht didaktisch behandeln sollen. Ziel des folgenden Beitrags ist es, den umfassenden Begriff »Beratung in der Pflege« zu erhellen und Chancen zur Entwicklung pflegerischer Beratungskompetenzen aufzeigen.
3 Verfahrensstruktur Siehe hierzu . Abb. 4.1.
4.1
Beratung in der Pflege
4.1.1 Eine Beratungsszene aus dem Pflegealltag
Wichtig These 1: Beratung in der Pflege ist jederzeit und allerorts möglich. Entscheidend ist, dass Pflegende ein Bewusstsein dafür entwickeln.
Frau Segert1, eine 55-jährige Patientin, soll sich derzeit auf einer chirurgischen Allgemeinstation von zahlreichen Darmoperationen erholen. Sie ist körperlich geschwächt und benötigt vielfältige pflegerische Unterstützungsleistungen. Ein großes Problem stellt die vorläufige Anlage eines Ileostomas dar, das in einigen Wochen zurückverlegt werden soll. Die inneren wie auch die äußeren chirurgischen Nahtstellen mussten mehrfach revidiert werden, sodass ihr Bauch mit vielen nässenden Wunden,Narben und Drainagen übersät ist.Zudem kann ihr Verdauungssystem die oral zugenommene Nahrung nur unzureichend verwerten, sodass sie über den Anus praeter große Mengen dünnflüssigen und übel riechenden Stuhls ausscheidet. Frau Segerts Stimmungslage ist labil. Sie ärgert sich über den »Gestank des Beutels« und den vollkommen »vermackten Bauch«. Sie klingelt häufig, damit der Beutel so schnell wie möglich entleert und der Inhalt so geruchlos wie möglich entsorgt wird. Inzwischen wählt sie Pflegende aus, die ihre 1
Der Name dieser Patientin ist frei erfunden, die Pflegesituation hat sich tatsächlich so ereignet.
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Kapitel 4 · Beratung in der Pflege
»Verbände ordentlich machen können« und verliert leicht die Fassung, wenn Abläufe ungeregelt, d.h.verzögert oder andersartig gestaltet,verlaufen. Ihre Stimmung schwankt zwischen offener und freundlicher Zugewandtheit, Weinen, Schimpfen, argwöhnischen Kommentaren sowie Rückzugsformen wie Schlafen oder Schweigen. Die Pflegenden haben größtenteils Verständnis für die unterschiedlichen Stimmungslagen und reagieren in Gegenwart der Patientin vielfach beherrscht,geduldig und zurückhaltend.Im Team tauschen sie sich über ihre Gefühle aus und wechseln die Zuständigkeit der Betreuung nach einigen Tagen ab. So zieht sich die Pflege der Patientin über mehrere Wochen hin. Eines Abends schreit Frau Segert die zuständige Pflegende beim Austeilen des Essens an: »Was ist das denn wieder für ‘ne Jauche!« Nun verliert auch die Pflegende ihre Beherrschung und entgegnet entrüstet: »Das ist doch die von Ihnen bestellte Wunschkost! Ich weiß nicht mehr,wie man es Ihnen Recht machen kann.Jetzt hab ich auch keine Lust mehr!« Erregt verlässt sie das Zimmer. Was ist hier passiert, und hätte eine beratende Intervention die Situation vielleicht frühzeitiger entspannen können? Sicherlich ist den Pflegenden zunächst nichts vorzuwerfen. Sie führten die Pflege gewissenhaft,fachlich korrekt und überdies höflich und beherrscht durch. Fachsprachlich könnte man sagen, der objektive Pflegebedarf – also all das, was aus pflegerischer Sicht begründbar, hilfreich und heilsam erschien – wurde erfüllt. Und wie steht es um die subjektiven Bedürfnisse der Patientin? Auch hier zeigte sich die Pflege sensibel und überaus flexibel, um den individuellen Wünschen der Patientin gerecht zu werden. Was könnte die kurze Eskalation beim Austeilen des Essens denn bedeutet haben? Nur eine Überempfindlichkeit der Patientin oder eine flüchtige Unbeherrschtheit der Pflegenden? Das folgende Gespräch gibt Aufschluss über die tiefer liegenden Probleme der Patientin. Die Pflegende betritt nach einer Weile das Zimmer der Patientin, um die Wunschkost für den nächsten Tag in Erfahrung zu bringen. In diesem Zusammenhang erkundigt sie sich eher beiläufig, wenn auch gezielt: »Was meinten Sie eigentlich eben mit Jauche?« Daraufhin beginnt die Patientin heftig zu weinen und erklärt, dass das Essen gar nicht so schlecht schmecke, aber dass die Wunschkost nicht erfüllt werde, und das ärgere sie maßlos.
Die Pflegende erkennt noch keinen Zusammenhang und fragt erneut nach dem Wort Jauche. Und nun erklärt die Patientin, dass alles, was sie esse, »wie Jauche aus ihr rauskommt« und sie sich innerlich »wie eine Jauchegrube fühlt«. Die Pflegende hat nun deutliche Zeichen der inneren wie äußeren Verfassung der Patientin erhalten. Es entwickelt sich ein längeres Gespräch über die begleitenden Sorgen und Nöte der Patientin,die von der Furcht vor der nahenden Operation und der Sorge um das Überleben gekennzeichnet sind. Die Pflegende versteht schließlich, dass das Essen lediglich eine Projektionsfläche für den inneren Unmut und die Nöte der Patientin war, und sie erkundigt sich, was der Patientin zu einem früheren Zeitpunkt hätte helfen können. Die knappe Antwort der Patientin lautet daraufhin: »Fragen Sie mich doch ganz einfach mal, wie es mir mit so einem ‘Ding’ geht oder wie es in mir aussieht.« In einem gemeinsamen Gespräch unter Kolleginnen erkennen die Pflegenden schließlich, dass sie die leisen und manchmal auch lauten Hilferufe dieser Patientin trotz intensiver Begleitung nicht hatten heraushören können oder auch wollen. Das Leid dieser Patientin war ihnen scheinbar so offensichtlich, ja so selbstverständlich geworden, dass sie es verpasst hatten, dieses gemeinsam mit der Patientin zum Thema zu machen. Gleichzeitig wurde die Pflegesituation für die Beteiligten derart angespannt und verstrickt, dass alle ein Vermeidungsverhalten entwickelten und das zentrale Thema aus den Augen verloren. Anhand dieses Fallbeispiels wird offenkundig, dass ein freundlich zugewandtes Wort allein keine Beratung ausmacht.In diesem Fall verschleierte die Geduld der Pflegenden sogar die Situation. Dennoch war die Qualität der Beziehung zwischen der Pflegenden und der Patientin so tragfähig, dass die Patientin ihre echten Gefühle zeigen konnte und schließlich auch an entscheidender Stelle von der Pflegenden wahrgenommen wurde. Die Pflegende knüpft schließlich,nach den zuvor ungehörten und übersehenen Fingerzeigen der Patientin, an eine deutlich leibliche Metapher an. In der Beratungssprache – wie im »Tetradischen Modell« (vgl. Kap. 3) ausgewiesen – dürfte es sich um die zweite Phase, die Aktionsphase, eines Beratungsprozesses handeln. Das eigentliche Problem präsentierte sich ohne Schleier und trat aus den
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mittlerweile schwierigen und verworrenen Zusammenhängen heraus. So konnte die Pflegende einen direkten Zugang zum gegenwärtigen Erleben der Patientin gewinnen. Sie stand der Patientin im entscheidenden Moment so nahe, dass sie ihre echten Sorgen verstehen konnte. Schließlich – so lassen sich die Phasen des Beratungsprozesses fortführen – hat ein aufmerksames und einfühlendes Gespräch die Patientin entlastet. Zwar löste sich damit das Problem der Patientin nicht völlig auf – die Sorge vor der nahenden Operation blieb. Dennoch hatte die Patientin ihre Befürchtungen ausdrücken können und benötigte keine Projektionsfläche mehr, um ihrem inneren Erleben Aufmerksamkeit zu verleihen. Gleichzeitig führte dieses Gespräch aus der inzwischen angespannten Situation zwischen Patientin und Pflegenden heraus,sodass sich auch auf Seiten der Pflege eine Entlastung einstellte. Nachdem nun eine Szene aus dem pflegerischen Alltag erste Einblicke in mögliche Beratungssituationen der Pflege gewährte – dessen Elemente in Kap. 3 vertiefend dargestellt sind –, soll zum derzeitigen Diskussionsstand zur Beratung in der Pflege übergeleitet werden. Hier zeigt sich ein weites Spektrum möglicher beraterischer Aktivitäten der Pflege, wobei das Verständnis von Beratung durchaus unterschiedlich ist. Daher wird im anschließenden Kapitel der Blickwinkel erweitert,um den Wesenskern von Beratung aufzuspüren. Dieses ist erforderlich, da Beratung offenbar ein häufig verwendeter Begriff für eine Vielzahl unscharf abzugrenzender Tätigkeiten ist.Anschließend werden die Komponenten einer professionellen Beratung vorgestellt,die als Orientierungslinie für den dynamischen Entwicklungsprozess beraterischer Kompetenzen in der Pflege dienen können.
4.1.2 Beratung in den Handlungsfeldern der Pflege – ein Situationsaufriss In pflegefachlichen Publikationen zum Thema – deren Zahl seit Jahren deutlich steigt – wird Beratung einerseits als besondere sozialkommunikative Kompetenz dargestellt, die Pflegende in den Handlungsfeldern der ambulanten und stationären Pflege täglich ausüben, die also integraler Anteil der pflegerischen Arbeit ist (Koch-Straube 2001; Zegelin-Abt u. Huneke 1999). Andererseits ist Beratung
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auch eine Spezialtätigkeit von Pflegenden in Einrichtungen oder neuen Handlungsfeldern der Pflege, wie Pflegeüberleitung oder Pflegeberatungsbüros, Patienteninformationszentren und im Bereich des Case-Managements. Daneben existieren zahlreiche Modellprojekte, die Beratungsansätze für eine spezifische Klientel konzipieren, wie die Beratung bei Wachkomapatienten (Prietz u. KochStraube 2004) oder die kultursensible Beratung (Piechotta 2004). In den Sozialgesetzgebungen – hier insbesondere im Sozialgesetzbuch (SGB), XI Buch – drückt sich ein Beratungsverständnis überwiegend in der Addition von Tätigkeiten aus, wie die Vermittlung von Sachinformationen,Anleitungs-,Aufklärungsund Koordinie- rungsaufgaben oder gar im Sinne einer Kontrollfunktion wie im »Pflegepflichteinsatz« des Pflegeversicherungsgesetzes (§ 37 Abs. 3 SGB XI) ausgewiesen. In den normativen Vorgaben der Berufsgesetze – hier exemplarisch das Krankenpflegegesetz – wird im Ausbildungsziel (§ 3 Abs. 2c) die »Beratung ... von Patientinnen und Patienten und ihrer Bezugspersonen in der individuellen Auseinandersetzung mit Gesundheit und Krankheit« ausgewiesen (Bundesgesetzblatt I,2003, 1442 ff). Eine vertiefende, inhaltliche Differenzierung dieser kommunikations- und interaktionsintensiven Kompetenz erfolgt jedoch nicht. Weiterhin wird Beratung im Zusammenhang mit einem für die deutsche Pflege und Pflegewissenschaft relativ jungen pflegerischen Handlungsfeld – die Patientenedukation – angeführt.Deutschsprachige Veröffentlichungen erklären Patientenedukation beinahe übereinstimmend mit den pflegebezogenen Aktivitäten des Informierens, Schulens und Beratens (Evers 2001; Müller-Mundt et al. 2000; Renneke 2000; Zegelin-Abt 1999, 2003a,b). Augenfällig ist, dass diese Veröffentlichungen keine einheitliche Begriffswahl erkennen lassen. Hier ist die Rede von »Patientenschulung« (Müller-Mundt u. Schaeffer 2001), »Patientenanleitung« (Evers 2001), »Patientenedukation« (MüllerMundt 2001) und »Beratungspflege« (MüllerMundt et al. 2000) sowie von »Patientenanleitung und -beratung« (Pinkert u. Renneke 2000). Diese Begriffe werden synonym und auch als Begriffskombinationen oder einzeln verwendet. In einem ähnlichen Verständnis reiht Georg (2004) Beratung in den Kontext des Pflegeprozesses ein und meint
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Kapitel 4 · Beratung in der Pflege
mit Beratung die Vermittlung von Wissen insbesondere bei der Pflegdiagnose »Wissensdefizit«. Äußern sich Pflegende darüber,was sie unter Beratung verstehen und ob sie Beratung als ihre Aufgabe anerkennen, zeigen die Untersuchungsergebnisse von Hösl-Brunner u. Herbig (1998) ein klares Gefälle zwischen der stationären und der ambulanten Pflege: Im stationären Bereich ist die Beratungsaufgabe weniger im Bewusstsein der Pflegenden verankert als in der häuslichen Pflege.Insgesamt zeichnet sich ab, dass Pflegende zum Zeitpunkt der Erhebung sprachlich weniger mit dem Beratungsbegriff operierten.Sie verstehen unter beraterischen Aktivitäten eher die Vermittlung von kognitiven Inhalten und manuellen Fähigkeiten, wie krankheitsspezifische Information, Aufklärung beispielsweise zur Wohnraumanpassung oder Anleitung von Angehörigen etwa zur Pflege im häuslichen Umfeld. Dabei orientiert sich das Thema »Beratung« häufig an der Einschätzung und den Sichtweisen der Pflegenden: »Pflegeberatung beinhaltet das, was die Pflegefachkraft für wichtig erachtet« (Hösl-Brunner u. Herbig 1998, S. 781). Zumeist wird die Beratung situativ und ungeplant gestaltet,d.h.intuitiv und »so aus’m Stehgreif heraus« (Hösl-Brunner u. Herbig 1998, S. 780). Auch Knelage u. Schieron (2000) belegen, dass Beratung nicht durchgängig als pflegerische Kompetenz anerkannt wird und je nach Tätigkeitsfeld unterschiedlichen Auffassungen unterliegt. In der stationären psychiatrischen Pflege, so Knelage u. Schieron,zeigt sich,dass Beratung als kommunikativer Aufgabenbereich akzeptiert und inhaltlich wie auch methodisch durch Fachweiterbildungen gestützt ist.Dennoch wird Beratung auch von den Befragten der psychiatrischen Pflege überwiegend als informatives Gesprächsangebot, als Tipp oder als Ratschlag verstanden.Nach Schieron ist den Berufsangehörigen der allgemeinen stationären Pflege der Beratungsbegriff kaum geläufig. Sie verstehen Beratung eher umgangssprachlich als »Schwätzchen halten,Hilfe geben oder auf den Patienten eingehen« (Schieron 2000, S. 7). Die Pflegenden der allgemeinen stationären Pflege haben entsprechende Fähigkeiten in ihrer pflegerischer Ausbildung schließlich nicht erworben, sondern fühlen sich aufgrund ihrer Lebens- und Berufserfahrung oder durch persönliche Veranlagungen dazu fähig. Ein übereinstimmendes Ergebnis der beiden letzt-
genannten Untersuchungen ist, dass Pflegende tiefer gehende Beratungssituationen – auch unter dem Druck von Arbeitsdichte und Arbeitsorganisation – als eher belastend erleben und zum Schutz vor Überforderung vermeiden möchten. Abgesehen von der begrifflichen Vielfalt und den unterschiedlichen Bedeutungszuschreibungen wird ersichtlich,dass Beratung in die deutsche Pflege und Pflegewissenschaft Einzug gehalten hat.Wie steht es aber um die methodische Gestaltung von Beratungssituationen? Wer ist für Beratung zuständig? Ist Beratung dasselbe wie Patientenedukation oder Patientenanleitung oder eben auch nur das freundliche zugewandte Wort? Gerade bei diesen Fragen ist ein Großteil der Pflegefachliteratur wenig aussagekräftig. Die Notwendigkeit, dieses pflegerische Handlungsfeld professionell zu erschließen, wird zwar eingehend und nachvollziehbar umrissen, und übereinstimmt wird der selbstbewusste, befähigte und kompetente Patient im Umgang mit seinen Gesundheits- und Lebensproblemen beschrieben – der Beratungsprozess als solcher bleibt aber eher dünn und schemenhaft. Grundlegend zum Thema »Beratung in der Pflege« äußert sich Koch-Straube (2001), die sich schon seit Jahren konzeptionell mit diesen Fragen beschäftigt. Sie versteht Beratung in Anlehnung an die integrative Beratung als einen »Lernprozess … der persönliches Wachstum und die Veränderung von als belastend erlebten oder unauflöslich erscheinenden Situationen zum Ziel hat« (KochStraube 2001, S. 114). Dieser Prozess ist in sich entdeckend, gestaltend und ergebnisoffen, d. h. weniger von lenkenden oder beeinflussenden Vorgaben der Gesundheitsexperten bestimmt. Im Zentrum einer Beratung stehen die gleichberechtigte und gemeinsame Suche sowie das Aushandeln und Gestalten einer Situation. Dabei ist der Berater verantwortlich für den Beratungsprozess, indem er eine hilfesuchende Person darin begleitet,Bewusstheit und Einsicht in ein Problem zu gewinnen und sie darin unterstützt, Veränderungsmöglichkeiten zu finden, abzuwägen und auszuprobieren. Die hilfesuchende Person wird als gleichberechtigter Dialogpartner anerkannt und bleibt Experte und verantwortlich für ihr Leben. Beratungsanlässe, die eine professionelle Unterstützungsleistung der Pflege erfordern, sieht Koch-Straube nicht nur in den offenkundig schwierigen Lebenskrisen eines
65 4.2 · Beratung – ein dehnbarer Begriff mit mehrdeutigem Inhalt
Menschen. Für sie ist Beratung vielfach in den alltäglichen, kleinen und oftmals unspektakulären Szenen der Pflege beheimatet. So zeigen die Ergebnisse ihrer Feldstudie »Fremde Welt Pflegeheim« (1997), dass die Interaktionen zwischen Bewohnern und Pflegenden häufig an der Oberfläche bleiben. Vielfach schenken Pflegende den sichtbaren, »handfesten« pflegerischen Tätigkeiten mehr Aufmerksamkeit als den »unsichtbaren« und die Gefühlsarbeit betreffenden. Die Szenen aus dem Pflegealltag legen nahe, dass es oftmals die kleinen Fingerzeige eines Patienten, Bewohners oder Pflegebedürftigen sind, die auf ein drängendes Problem verweisen.Diese leisen Hilferufe – die sich in einfachen »Tür-Angel-Gesprächen«, Gesten oder Widerständen äußern – stehen bei genauem Hinsehen, Hinhören und Hinspüren oftmals als Hinweis auf tiefer liegende Fragen, Zweifel, Sorgen und Ängste. Insofern bestünde der erste Schritt zur Entwicklung pflegerischer Beratungskompetenzen darin, dass Pflegende Beratung als ihren professionellen Auftrag verstehen. Nach dieser Standortbestimmung zum Verständnis von Beratung in der Pflege soll der Blickwinkel erweitert werden. Es geht um den Bedeutungsgehalt des Beratungsbegriffs. Dieser soll über eine Analyse alltagssprachlicher Verwendungssituationen hin zu fachsprachlichen Kontexten aufgedeckt werden.
4.2
Beratung – ein dehnbarer Begriff mit mehrdeutigem Inhalt Wichtig These 2: Beratung ist in der Alltags- und Fachsprache ein häufig verwendeter, zuweilen diffuser Begriff. Ähnlich vielgestaltig und wenig geklärt ist die Verständigung über Beratung im Handlungsfeld der Pflege.
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oder Verkaufsberatung die Rede. Zudem werden Begriffe wie »Consulting« und »Counseling« im Management oder in der Erwachsenenbildung verwendet (Stichwortrecherche Google 2004). Auch im Gesundheitswesen spielt Beratung als gesondert herausgestelltes Dienstleistungsangebot eine Rolle. So taucht der Begriff in den Gesundheitswissenschaften und in der Medizin auf – hier als Gesundheitsberatung (Brinkmann-Göbel 2001) –, zudem in Pflege und Pflegewissenschaft sowie in den Sozialgesetzgebungen (insbesondere SGB XI) als Patientenberatung oder Pflegeberatung. Diese Begriffskombinationen belegen, dass die Bandbreite von Beratungsaktivitäten weitläufig und sowohl in alltagssprachlichen als auch in fachspezifischen Zusammenhängen zu finden ist. Die unterschiedlichen Beratungsaktivitäten werden durch das Hinzufügen des betreffenden Dienstleistungsangebots, der Adressatengruppe oder einer menschlichen Zustandsform näher bestimmt. Die vielseitige Verwendung des Beratungsbegriffs deutet auf einen gestiegenen gesellschaftlichen Beratungsbedarf hin (Belardi et al.1999; Nestmann u. Engel 2002). Andererseits könnte der Begriff »Beratung« so offen und unverbindlich sein, dass er als Sammelbegriff bzw. Allgemeinplatz für eine Vielzahl unscharf abzugrenzender Aktivitäten dient. Problematisch ist dies dann, wenn Benutzer und Empfänger ihm eine unterschiedliche Bedeutung geben. Darunter leidet die Kommunikation. Fachbegriffe sollten möglichst genau geklärt und beschrieben, im Idealfall definiert werden. Eine derartige Normierung der Fachsprache ist für eine innerberufliche und interdisziplinäre Kommunikation unabdingbar (Oertle Bürki 1997). Mit Blick auf die in Deutschland noch junge Pflegewissenschaft ist festzustellen,dass es zahlreiche Beispiele für unscharfe Begriffsbestimmungen gibt. Auch der Begriff »Beratung« ist hier anzuführen.Es handelt sich, wie Koch-Straube (2001, S. 63) schreibt, um einen »multifunktionale[n] und schillernde[n] Begriff«.
4.2.1 Zu den vielseitigen Verwendungsformen von Beratung
4.2.2 Annäherung an ein Verständnis von Beratung
Beratung ist »in« – das zeigt schon ein flüchtiger Blick in die Zeitungen oder ins Internet. Hier ist von Farb- und Stilberatung, Immobilienberatung
Beratung im umgangssprachlichen Sinn Schon alltägliche Beratungssituationen geben Hinweise auf Reichweite und Grenzen des Beratungs-
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Kapitel 4 · Beratung in der Pflege
begriffs und die damit verbundenen Aktivitäten. Im Folgenden wird zunächst die etymologische Bedeutung des Begriffs erörtert, daran anschließend das Wesen von Alltagsberatung skizziert und am Beispiel einer alltäglichen Verkaufsberatung veranschaulicht. Im Herkunftswörterbuch (Duden 2001,S.652 ff.) wird der Bedeutungsgehalt der Wortbestandteile »be« und »Rat« folgendermaßen aufgeschlüsselt: Rat, ein altgermanisches Wort, meinte ursprünglich »Mittel, die zum Lebensunterhalt notwendig sind«. Aus diesem Verständnis von »Vorrat« oder »Hausrat« entwickelte sich der Begriff »beratende Versammlung«, die durch das Verb »ratschlagen« ausgedrückt wird und vom Mittelhochdeutschen »rätslagen«” stammt. Ratschlagen steht in dieser Zeit dafür, »den Kreis für die Beratung abg[zu]renzen« wie dies in Persona durch die »Ratsversammlung« oder rein äußerlich in einem »Rathaus« geschieht.In der heutigen Zeit bedeutet »Rat« bzw. »Beratung« schließlich der »gut gemeinte Vorschlag«, eine »Unterweisung« oder eine »Empfehlung«. Gleichermaßen interessant ist in diesem Zusammenhang die Bedeutung der Vorsilbe »be«, die in Verbindung mit Verben, Substantiven oder Adjektiven verwendet wird. So weist »be« sowohl auf eine räumliche Verhältnismäßigkeit hin, wie »die Richtung eines Vorgans«, z. B. sich einander begegnen,als auch auf die »zeitlich begrenzte Einwirkung auf eine Sache oder Person«,z.B.beginnen oder beenden. Die Vorsilbe »be« betont das »Versehen mit einer Sache oder das Zuwenden einer Fähigkeit« (Duden 2001, S. 75). Diese etymologische Betrachtung macht zweierlei deutlich: Erstens reiht sich der Wesenskern von Beratung um das Merkmal »sich einer Sache oder Person in besonderem Maße zuwenden«. Und obwohl der Gegenstand der Beratung nicht mehr so scharf umrissen ist wie zu früheren Zeiten, ist zweitens ersichtlich, dass über ein Thema, eine Sache oder eine Begebenheit ein Personenkreis ratschlagt, der dazu in besonderer Weise geeignet scheint. Alltagsberatung findet im täglichen Miteinander häufig statt: So drückt der gute Rat eines Freundes, der praktische Tipp einer Kollegin oder der wohlgemeinte Vorschlag eines Bekannten das Gefühl von Anteilnahme und Beistand aus. Diese Formen des Ratgebens bzw. Beratens sind weit verbreitet und werden im täglichen Miteinander so-
wohl sprachlich als auch inhaltlich selten hinterfragt. Zur Abgrenzung von Alltagsberatung und professioneller Beratung soll bereits an dieser Stelle auf zwei von Koch-Straube (2001, S. 66) identifizierte Merkmale verwiesen werden. Demnach ist Alltagsberatung eher »situativ und ungeplant«, während eine professionelle Beratung »zielorientiert und methodengeleitet« (Koch-Straube 2001, S. 66) stattfindet. Demzufolge stellen die oben angeführten pflegerischen Beratungsaktivitäten in der Untersuchung von Hösl-Brunner u. Herbig (1998) eher Formen der Alltagsberatung dar. Um das Spektrum des umgangssprachlichen Gebrauchs von Beratung zu erweitern, wird folgendes Beispiel konstruiert: Man stelle sich eine Verkaufsberatung in einem Haushaltswarengeschäft vor. In der Regel sucht der Kunde bzw.Verbraucher ein Fachgeschäft auf, um sich ein erstes Bild von einem gewünschten Artikel zu machen,ggf.möchte er diesen Artikel kaufen. Den Kunden interessieren beispielsweise Materialeigenschaften, Bedienungselemente und Vorzüge des Artikels im Vergleich zu anderen bis hin zu Preisauskünften. Üblicherweise ist diese Fachberatung nicht an einen Kaufzwang gebunden. Der Interessent kann das Fachgeschäft durchaus verlassen,ohne gekauft zu haben.Der Anspruch an eine Verkaufsberatung besteht zumindest aus Sicht des Kunden darin, Informationen zu erhalten, die ihm ein Abwägen ermöglichen und schließlich eine Entscheidungshilfe für den möglichen Kauf liefern. Dieses Beispiel zeigt, dass Beratung etwas mit Unverbindlichkeit,Freiwilligkeit und Entscheidungshilfe zu tun hat. Weiterhin reiht sich Beratung um die Aktivitäten des Auskunftgebens, Aufklärens,Zeigens und Informierens,mit dem Ziel, sich ein Bild zu machen. Demzufolge ist Beratung ein Sammelbegriff oder Oberbegriff für relativ unverbindliche Aktivitäten, die in der Regel ohne Entscheidungszwang einhergehen. Diese Feststellung ist wichtig, will man die Grenzen des Begriffs oder dessen, was ihm nicht zugehörig ist,erkennen.In diesem Zusammenhang empfiehlt es sich, das Gegenteil von Freiwilligkeit, Unverbindlichkeit und Wahlfreiheit anzuschauen: Dies sind Komplementärbegriffe wie »Zwang«,»Befehl«,»Gehorsam« oder »Druck«.Sie zeigen sich am ehesten in direktiven Verhaltensweisen,wie verordnen,verfügen,anweisen und auffordern.Im Fall eines Kunden-Verkäufer-Verhältnisses sind diese direkti-
67 4.2 · Beratung – ein dehnbarer Begriff mit mehrdeutigem Inhalt
ven Verhaltensweisen – wollen beide miteinander ins Geschäft kommen – wohl eher fehl am Platz. In welchen Fällen wird jedoch verordnet, angewiesen oder verfügt? In der Regel nur dann, wenn ein Autoritäts- oder Verantwortungsgefälle zwischen dem »Anordnenden« und dem »Befolgenden« besteht. Dies dürfte beispielsweise in einem erzieherischen Fürsorgeverhältnis zwischen Eltern und ihren minderjährigen Kindern der Fall sein. Ein gewisses Abhängigkeitsverhältnis besteht ebenso im Arbeitsverhältnis oder auch in einem Autoritäts- und Abhängigkeitsverhältnis, z. B. durch den Wissens- und Erfahrungsvorsprung von Experten gegenüber Laien.Dahingehend wird im Gesundheitswesen v.a. die Arzt-Patient-Beziehung als »paternalistischautoritativ« bezeichnet (Rosenbrock 2001, S. 25). Anhand dieser fiktiven Konstruktion von Gegensätzen dürfte klar geworden sein, was Beratung im weitesten Sinne nicht ist – nämlich die Aus-
. Tabelle 4.1. Systematisierung eines umgangssprachlichen Verständnisses von Beratung Anlass
Thema, Frage, Bedürfnis
Voraussetzungen
Kreis für die Beratung abgrenzen (geeigneter Personenkreis) »be«: sich einer Sache oder Fähigkeit in besonderer Weise zuwenden Freiwilligkeit, Unverbindlichkeit, freie Auswahl
Merkmale
Ungeplant und situativ Auskünfte geben, vergleichen, aufklären, informieren, Rat erteilen, gut gemeinten Vorschlag/ Empfehlung
Ergebnis
Sich ein Bild machen, Entscheidungshilfe geben, Beistand leisten
Ähnliche Begriffe und Aktivitäten, die offenbar nicht zugehörig sind Schwierige Voraussetzungen
Autoritäts- und Abhänhigkeitsverhältnis,Verantwortungsgefälle
Nicht zugehörige Aktivitäten
Direkte Verhaltensweisen, z. B. Zwang oder Druck
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übung von Zwang und Druck unter Verwendung direktiver Verhaltensweisen. Auch wurde anhand der Konstellation der Interakteure und ihrer Beziehungen zueinander klar, dass bei Autoritäts- und Abhängigkeitsverhältnissen die Entscheidungskompetenzen eher bei der autorisierten Person und weniger beim abhängigen Individuum liegen. Eine derartige Asymmetrie in der Beziehung ist keine gute Voraussetzung für ein gelingendes, d. h. auf Abwägen und Entscheidungsfreiheit beruhendes, Miteinander.Die Systematisierung eines umgangssprachlichen Verständnisses von Beratung ist in . Tabelle 4.1 dargestellt.
Beratung im fachsprachlichen Sinn Folgt man diesen umgangssprachlichen Überlegungen, ist es nahe liegend, für eine fach- oder berufsgruppenspezifische Beratung zu schlussfolgern, dass Beratung bestimmten Berufsgruppen Kraft ihrer Sachkunde zuzuordnen ist. So ist ein Steuerberater Experte seines Faches. Er wird von Mandanten aufgesucht, weil er in Steuerangelegenheiten spezielle Kenntnisse und Fähigkeiten besitzt. Dies gilt etwa auch für die Berufsberatung, die Finanzberatung usw. Ob diese Beratungen nun methodengeleitet stattfinden – ein Merkmal professioneller Beratung –, ist hier nicht zu behandeln. Vielmehr geht es um die sozialen bzw. helfenden Berufe, zu denen die Pflege gehört.
Beratung im Zusammenhang helfender/sozialer Berufe Wie steht es um den Beratungsaspekt, speziell bei den sozialen bzw. helfenden Berufen im Allgemeinen und in der Pflege im Besonderen? Sicherlich könnte das Beispiel der Steuerberatung auch auf die soziale Arbeit oder die Pflege übertragen werden. Ein Sozialarbeiter, der in der Drogenberatung tätig ist, kennt üblicherweise das Milieu, die Abläufe von der Drogenbeschaffung bis zur Abhängigkeit und schließlich Therapieansätze sowie Möglichkeiten der individuellen Begleitung.In der Pflege ist es ähnlich: Pflegende sind Experten ihres Faches und können in pflegefachlichen Angelegenheiten informieren und aufklären sowie in konkreten Lebenssituationen helfen, bestimmte Unterstützungsangebote zu prüfen und anzubieten. Soziale Berufe sind aber insbesondere dadurch gekennzeichnet, dass es sich um eine interaktions-
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Kapitel 4 · Beratung in der Pflege
intensive und damit zwischenmenschliche Dienstleistung handelt. Das Besondere liegt in der Ausgestaltung zwischenmenschlicher Begegnungen, den Interaktionsbeziehungen, die den Angehörigen sozialer Berufe besondere professionelle Kompetenzen abverlangen.Beratung stellt sich hier als »Oberbegriff für die Form der Interaktion zwischen HelferInnen und KlientInnen« dar und zieht sich »als ‘Querschnittsmethode’ durch nahezu alle anderen Hilfeformen wie Betreuung, Pflege, Einzelfallhilfe, Gruppen und Gemeinwesenarbeit, Bildungsmaßnahmen, Erziehung etc.« (Sickendiek et al. 1999, S. 13). Demzufolge ist Beratung in sozialen Berufen sowohl eine methodisch gestützte, professionelle Hilfe- bzw.Kommunikationsform als auch elementarer Bestandteil des professionellen sozialen Handelns.
4.2.3 Beratungstheorien In den Sozialwissenschaften liegen fundierte Beratungstheorien und Konzepte vor (Belardi et al.1999; Nestmann u. Engel 2002; Rahm 2004; Rahm et al. 1999; Sickendiek et al. 1999). Sie vermitteln eine breite Anerkennung beraterischer Kompetenzen in den jeweiligen beruflichen Handlungsfeldern. Den vielfältigen Beratungsdiskursen der Wissenschaftsdisziplinen ist zu entnehmen, dass es angesichts dieser professionellen Bedeutsamkeit weder eine allgemeingültige Definition von Beratung gibt (Tiefel 2004) noch dass sich die Beraterpraxis einer einzigen theoretischen Denkschule verpflichtet sieht (Belardi et al. 1999; Nestmann u. Engel 2002; Sickendiek et al. 1999). Belardi et al. (1999) sowie Nestmann u. Engel (2002) bezeichnen das multimethodische und integrative Einbinden unterschiedlicher Ansätze und Methoden als »pragmatischen Eklektizismus«. Dieser könne der Komplexität menschlicher Problemlagen und Verhaltensweisen eher gerecht werden als eine rigide Konzeptund Methodenbindung.Nachstehend ist eine Übersicht zu den wichtigsten Theorierichtungen und ihren Hauptvertretern aufgeführt (in Anlehnung an Koch-Straube 2001 und Hoh 2003): 4 tiefenpsychologische Konzepte: Psychoanalyse (Freud); 4 humanistische Konzepte: klientenzentrierte Beratung (Rogers), themenzentrierte Interak-
tion (Cohn), Gestalttherapie (Perls), integrative Therapie (Petzold), Psychodrama (Moreno), Transaktionsanalyse (Berne); 4 lern- und verhaltenswissenschaftliche Konzepte: Verhaltensanalyse und -modifikation (Skinner, Watson), kognitive Ansätze (Bandura); 4 systemtheoretische Konzepte: überwiegend eine Verbindung aus Theorieansätzen der Kybernetik (Bertalanffy), der Erkenntnistheorie (Glasersfeld), der Neurobiologie (Maturana und Varela) und der Soziologie (Luhmann),wie sie in der Paar- und Familienberatung, der Systemberatung und der Organisationsentwicklung genutzt werden. Bei den einzelnen Beratungsansätzen und Definitionen psychologischer, sozialer, sozialpädagogischer, pädagogischer und psychosozialer Beratung gibt es neben unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen auch zentrale Übereinstimmungen. Diese sind nach Koch-Straube (2001, S. 107) »die Lebenswelt- und Alltagsweltorientierung, Ressourcenund Kompetenzorientierung, Aufbau einer symmetrischen, offenen Beziehung, Vermittlung von Expertenwissen, Auseinandersetzung mit konkreten Fragestellungen im Hier und Jetzt« wie auch die Erhöhung von persönlicher »Autonomie und Mündigkeit«.
4.2.4 Transfer der Beratungsansätze in die Pflege Die professionelle Beziehung als Kern pflegerischer Arbeit Einem modernen Pflegeverständnis folgend steht im Zentrum der Pflege die pflegerische Beziehung mit den darin stattfindenden Aushandlungsprozessen zum Gesundsein wie auch zum Kranksein mit dessen möglicher Folge, der Pflegebedürftigkeit (Sieger u. Kunstmann 1998). Die pflegerische Beziehung »bildet das ‘Herz’ der pflegerischen Praxis und findet ihren Ausdruck in der Zuwendung und Anteilnahme an der individuellen Situation der zu betreuenden Menschen« (Zang 2003, S. 45). Pflegerisch-professionelles Handeln ist daher maßgeblich am Befindlichkeitskonzept eines Menschen orientiert; am individuellen Erleben, Fühlen und Denken.
69 4.2 · Beratung – ein dehnbarer Begriff mit mehrdeutigem Inhalt
Diese innerliche wie auch äußerliche zwischenmenschliche Verständigung ist als Dialog oder als »Wechselrede« zwischen Pflegenden und Gepflegten zu verstehen. Wenn es Pflegenden gelingt, am individuellen Bedeutungsgehalt von Kranksein, Behindertsein oder Eingeschränktsein der zu pflegenden Menschen anzuknüpfen,können die tatsächlichen Bedürfnisse nach pflegerischer Hilfe und Unterstützung ermittelt und schließlich als ein wirksames und pflegerisch begründbares Unterstützungsangebot vermittelt werden.Das hier erwähnte Aushandlungsgeschehen gestaltet sich im Sinne des Pflegeprozesses als einvernehmliches Abwägen und Abstimmen der Sichtweisen des zu pflegenden Menschen mit denen der Pflegenden. In diesem – von Pflegenden initiierten – Abstimmungs- oder Aushandlungsprozess finden sowohl die Einstellungen und Erfahrungen des pflegebedürftigen Menschen als auch die der professionell Pflegenden (berufliches Wissen, Können und Erfahrung) Berücksichtigung. Erst durch eine gleichberechtigte Integration beider Sichtweisen und durch die Einbindung aller Facetten menschlichen Erlebens und Handelns können der individuelle Pflegebedarf erfasst und ein auf Verständigung ausgerichtetes, sinnvolles Pflege-Arrangement geplant, durchgeführt und ausgewertet werden.
Der Leibbezug von Pflege Pflegerisch-professionelle Beziehungsarbeit kommt dem Wesen professioneller Beratungsarbeit sehr nahe. Grosse (2004, S. 83) deckt zentrale Gemeinsamkeiten beider Beziehungen auf und stellt fest, »dass Beratung ein Gestaltungselement für die pflegerische Beziehung sein kann«. Mit Blick auf die vorstehenden Beratungstheorien und Ansätze ist zunächst festzustellen, dass diese vornehmlich eine sprachgebundene Kommunikationsform bzw. Unterstützungsleistung darstellen. Die Pflege unterscheidet sich von anderen sozialen Berufen v. a. dadurch, dass sie ein berührungsintensiver Beruf ist. Die zwischenmenschlichen Begegnungen sind von einer besonderen körperlichen Nähe, ja, von einem legitimierten Zugang zur Körperlichkeit des pflegebedürftigen Menschen geprägt. Damit ist pflegerisches »In-Beziehung-Sein« als äußerliches wie auch innerliches, Leib und Seele betreffendes Berühren und Berührtwerden zu verstehen. Ein
4
rein sprachgebundener Beratungsansatz würde die Besonderheit pflegerischer Interaktionen nicht ausreichend abbilden. An dieser Stelle soll daher eine Beratungstheorie skizziert werden, die für die pflegerische Beratungsarbeit bereichernd sein kann. Es handelt sich um die integrative Beratung. Eine ihrer zentralen Konzepte ist die Leiblichkeit.
Die integrative Beratung Die integrative Beratung knüpft an die Grundzüge der integrativen Therapie an, dessen theoretische Fundierung auf Petzold (1988) und Perls et al.(1979) zurückgeht. Die integrative Beratung zeichnet sich dadurch aus,dass sie eine Verbindung unterschiedlicher theoretischer Konzeptionen leistet und darüber hinaus das Beratungsgeschehen selbst als Integrationsprozess versteht. Integration bedeutet, belastende Situationen nicht nur als biographisches Ereignis anzunehmen, nach Defiziten oder Ursachen zu forschen oder gar durch alleiniges Hinzufügen eines neues Verhaltens zu verändern, sondern will den Menschen darin begleiten, das belastende oder krisenhafte Ereignis in das Lebensganze zu integrieren. Rahm et al. (1999, S. 75) beschreiben das (schwierig zu fassende) Konzept des Leibes als »der beseelte lebendige Körper« oder »der erlebende und sich selbst erlebende Körper«. In ihrem Verständnis ist es nicht möglich, menschliches Sein in körperliche, seelische oder geistige Dimensionen zu trennen, vielmehr bedingen diese einander. So ist der menschliche Körper mehr als ein anatomischer Zellverbund oder das physiologische Zusammenspiel von Organsystemen. Der Körper ist das Fundament aller Gefühle und Regungen, er ist die Voraussetzung, um sich selbst wie auch andere wahrzunehmen.Im so beseelten Körper verschränken sich Fühlen, Denken und Handeln zum Leib bzw. zur Leiblichkeit eines Menschen. So schreibt Milz (1992,S.173): »Unser Körper ist als Leib Versammlungsstätte unserer Gestimmtheiten, Gebärden und Gedanken, Mittelpunkt unseres subjektiven Erlebens und Orientierungspunkt unserer Wahrnehmungen. Mit ihm und durch ihn drücken wir uns aus und stellen Verbindungen zwischen uns und der Umwelt her. In ihm versammeln sich unsere Aufnahme- und Handlungsmöglichkeiten.Er vermittelt Botschaften von uns,über uns, für uns und für andere.«
70
Kapitel 4 · Beratung in der Pflege
Für die Pflege kann dieser Beratungsansatz hilfreich sein,zumal Pflegende tagtäglich mit Menschen in engen »zwischenleiblichen« Kontakten stehen. Über den Zugang zum menschlichen Leib stehen der Pflege vielfältige Wahrnehmungsoptionen zur Verfügung. Diese vermitteln ein tiefes Verständnis von der Gesamtsituation eines Menschen2.
4 4.3
Komponenten von Beratung Wichtig These 3: Beratung ist mehr als das freundlich zugewandte Wort und die Anwendung von Gesprächsführungstechniken. Beratung ist ein Gestaltungselement der pflegerischen Beziehung, eingebettet in den Pflegeprozess.
Um die Komponenten von professioneller Beratung darzustellen, wird im Folgenden auf bereits vorliegende Konzeptionen der Sozialwissenschaften zurückgegriffen. Diese bieten einen guten Orientierungsrahmen für die professionelle Gestaltung beraterischer Interventionen in der Pflege an.
4.3.1 Beratungsbeziehung und Beratungsmethode Die Beratung in sozialen Berufen betrifft ein weites Spektrum materieller, beruflicher, partnerschaftlicher,gesundheitlicher,psychischer und/oder sozialer Belastungen und Lebensprobleme. Häufig sind es drängende Fragen, unklare Probleme oder gar krisenhafte Situationen, die Menschen dazu veranlassen,professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Dieser Schritt wird häufig erst dann vollzogen, wenn die Notlage aus eigener Kraft nicht überwunden werden kann oder das informelle soziale Netzwerk mit der Hilfestellung überfordert ist. Personen, die professionell beraten, zeichnen sich nach Sickendiek et al. (1999, S. 22) dadurch aus, dass sie »über spezialisiertes inhaltliches Fachwissen ...und 2
Derzeit wird der leiborientierte Beratungsansatz von einer Arbeitsgruppe des Vereins »Beratung in der Pflege e. V.« auf Pflegerelevanz und Umsetzbarkeit geprüft.Näheres dazu:s.unter www.beratunginderpflege.de.
die kommunikativen oder methodischen Fähigkeiten des beraterischen Vorgehens« verfügen. Belardi et al. (1999, S. 37) ergänzt diese professionelles Handeln kennzeichnenden Merkmale um folgende Aspekte: »Erreichbarkeit, Uneigennützigkeit, Nichtverstrickung sowie Vermittlungsmöglichkeiten bezüglich weiterer Hilfsquellen«. Beratung als kommunikatives Handeln,das methodisch gestützt, d. h. unter Nutzung bestimmter kommunikativer Methoden und Techniken stattfindet, ergibt nur ein unvollständiges Bild. Ausschlaggebend für eine gelingende Beratung ist nicht allein das Beherrschen von Gesprächsführungstechniken oder das Bereitstellen von Fachwissen,sondern auch die Qualität der Beratungsbeziehung. Die Beratungsforschung zeigt, dass der entscheidende und überdauernde Wirkfaktor von Beratungsprozessen die Beratungsbeziehung ist (Sickendiek et al. 1999, S.113).Sie ist nach Rahm et al.(1999,S.351) »Rahmen, Basis und auch Medium des therapeutischen Entwicklungsprozesses«. Eine hilfreiche Beratungsbeziehung ist bis heute von den drei Basisvariablen Rogers’ (1983) gekennzeichnet: Empathie, Akzeptanz, Authentizität. Neben diesen Basisvariablen formulieren Belardi et al. (1999, S. 48) die »Konkretheit« und den »Gegenwartsbezug« als weitere Grundelemente der helfenden Beziehung.»Konkretheit« bedeutet in der Beratung,dass die hilfesuchende Person dabei unterstützt wird, die häufig als verstrickt erlebten Probleme zu sortieren und die vordergründig belastende Situation zu erkennen. »Gegenwartsbezug« kennzeichnet das Verweilen im »Hier und Jetzt« (vgl. auch Rahm et al. 1999, S. 139). Das aktuelle Erleben der Problemsituation sowie die begleitenden Gefühle, Einstellungen,Verhaltensweisen und Wahrnehmungen stehen im Zentrum der Beratungssituation.
4.3.2 Ziel von Beratung Ein zentrales Beratungsziel besteht darin, die hilfesuchende Person im Laufe des Beratungsprozesses so zu begleiten, dass sie Entlastung erfährt und schrittweise mit dem Problem selbst umzugehen lernt. Diese Hilfe zur Selbsthilfe – fachsprachlich auch »Selbstermächtigung« oder »Empowerment« – steht für die professionelle Anleitung zur weitgehenden Unabhängigkeit.Diesem Beratungsziel fol-
71 4.3 · Komponenten von Beratung
gend, kann das Selbstverständnis eines Beraters nicht davon geprägt sein, ein Problem stellvertretend für die hilfesuchende Person zu lösen,diese zu überreden, zu bevormunden oder gar zu belehren. Nestmann u.Engel (2002,S.170) schreiben,dass bei der psychosozialen Arbeit ein Spannungsfeld zwischen Machtausübung und Autonomiebestrebungen bestehe: »Beratungskonstellationen sind immer durch die mehr oder weniger große Ungleichverteilung von Einfluss und Macht geprägt.« Asymmetrien in der Beratungsbeziehung entstehen ihren Ausführungen zufolge bereits dadurch, dass Berater als professionelle Fachleute über drei wesentliche Machtfaktoren verfügen: Informationsmacht (sie besitzen Informationen und können entscheiden, ob sie diese weitergeben oder nicht), legitime Macht (aufgrund von Statuszuschreibungen, die ihnen Autorität verleihen) sowie Expertenmacht (spezialisiertes Wissen und Können). Allein die Tatsache, dass sich eine hilfesuchende Person dem Berater zuwendet, mache die hilfesuchende Person verletzlich, durchlässig und leicht beeinflussbar. Sie habe die eigene Stärke in Teilen ihres Lebensalltags verloren.Gleichwohl plädieren Nestmann und Sickendiek für die Beibehaltung des Beratungsziels »Empowerment«. Hierzu sei aber ein bewusster und kritisch-reflexiver Umgang mit Machtdifferenzen und Ungleichheiten in Beratungsbeziehungen erforderlich. Unter dem derzeitigen Druck von Ökonomisierung und Effizienzorientierung bestehe jedoch die Gefahr, dies aus den Augen zu verlieren.
4.3.3 Förderliche Beratungsinterventionen Ein förderliches Beratungsverhalten ist in erster Linie durch nichtdirektive Interaktionsformen gekennzeichnet, wie das Sich-Zurück-Nehmen, das Sich-Zurück-Halten,gleichzeitig das Aufmerksammachen und das Zu-Reflexionen-Anregen. Diese Interaktionsformen erfordern gleichwohl die ungeteilte Wachsamkeit des Beraters, um im richtigen Augenblick, am rechten Ort und mit der rechten Geste zur Stelle zur sein. Um es bildlich auszudrücken:Der Berater bleibt einen kleinen Schritt hinter der hilfesuchenden Person, er eilt ihr auch nicht voraus; denn die hilfesuchende Person ist Experte
4
für ihr inneres Erleben und ihre Lebenswelt, an die der Berater versucht anzuknüpfen und teilzuhaben. Die Gestaltungsmöglichkeiten von Beratungsprozessen sind vielfältig, wenn man bedenkt, dass Beratung ein »eklektisch-integratives« Handeln ist. Insofern liegt – je nach Problem- und Bedarfslage der hilfesuchenden Person, aber auch je nach Ausbildung des Beraters – häufig ein Methodenmix vor. Zentrale Intention dieser Methoden ist es, so KochStraube (2001, S. 119), »Bewusstheit und Einsicht über die eigene Situation zur fördern und Möglichkeiten und eigene Potenziale zur Veränderung der Situation zu entdecken.In erster Linie geschieht dies durch Methoden, die eine vorübergehende Distanz zur eigenen Situation herstellen, den Konflikt, das Problem sozusagen mit den Augen eines anderen betrachten (z. B. Perspektive des Konfliktpartners einnehmen durch Wechsel der Rollen) oder die unlösbar erscheinende Situation aus anderer räumlicher oder zeitlicher Perspektive anzuschauen (z. B. sich eine Situation vorstellen, wie sie in 10 Jahren gestaltet sein wird, welche Gedanken und Gefühle damit verbunden sind).«
Phasen eines Beratungsprozesses Um den Ablauf, die Struktur und die damit einhergehende Dynamik eines Beratungsprozesses zu veranschaulichen, wird hier das »Tetradische Modell« von Petzold vorgestellt. Seinen Ursprung hat dieses vier Schritte aufweisende Modell in der integrativen Therapie. Es wird mittlerweile in vielen Bereichen der Gestaltberatung genutzt (Rahm 2004; Rahm et al 1999). Es lassen sich vier Phasen abgrenzen: 4 Initialphase: Diese Phase umfasst das Kennenlernen, den Aufbau einer vertrauensvollen und tragfähigen Beziehung sowie die Eröffnung des belastenden Themas.Allein durch die Exploration des Themas (z. B. durch das ungefilterte Sprechen oder eine szenischen Darstellung) und insbesondere durch das Angenommenund Ernstgenommenwerden treten bereits erste entlastende Effekte bei der hilfesuchenden Person ein. So schreiben Rahm et al. (1999, S. 24), dass »Verstehen und das VerstandenWerden in sich selbst heilsam ist«. 4 Aktionsphase: In dieser Phase wird die alte Ordnung aufgebrochen und die problematische Situation entfaltet.Mit Hilfe erlebnisaktivieren-
72
4
Kapitel 4 · Beratung in der Pflege
der Methoden werden aufgestaute und widerstreitende Gefühle, verkrustete Erinnerungen wie auch eingefahrene Denk- und Verhaltensweisen aufgespürt und nacherlebt (zahlreiche Methodenbeispiele dazu in Rahm 2004). 4 Integrationsphase: In dieser Phase bilden prägnante Erfahrungen der Aktionsphase, Schlüsselszenen bzw. deutlich spürbare Nachwirkungen auf körperlicher,emotionaler oder kognitiver Ebener die Basis für eine Neuorientierung. In gemeinsamer Reflexion wird nach Veränderungsmöglichkeiten gesucht und eine Entscheidung vorbereitet. 4 Neuorientierungsphase: Diese Phase leitet eine Veränderung ein, indem die gewonnene Einsicht, die umgestaltete Ordnung durch neues Verhalten ausprobiert und abschließend reflektiert wird. Die so gewonnene Erfahrung lässt sich mit der vorherigen vergleichen und u. U. abwandeln,sodass schließlich eine heilsame Integration in Selbstbild und Lebensganzes möglich wird. Sicherlich sind diese Ansätze für die Pflege lohnend, um die vielen Pflegesituationen in ein auf Verstehen und Verständigung orientiertes Geschehen und schließlich in eine echte Hilfe zur Selbsthilfe zu überführen.Betrachtet man die vier Phasen des »Tetradischen Modells«, dürfte ein Vorzug der Pflege darin bestehen,dass das aktuelle Erleben bereits so augenfällig und präsent ist, dass pflegerische Beratungsinterventionen relativ direkt an der schwierigen Lebenssituation ansetzen können.Aus professioneller Sicht wird es bedeutend sein, wie die Beratung als pflegerische Intervention in den Pflegeprozess aufgenommen werden kann. Stellen der Beratungsprozess und der Pflegeprozess derzeit noch getrennte bzw. parallel verlaufende Aktivitäten dar, so sollten künftig beide Prozesse miteinander verbunden werden. Ähnlich verhält es sich mit der unzureichenden Verbindung von Lehr-LernProzessen und Pflegeprozess, wie der folgende Abschnitt zur Patientenedukation zeigt.
4.4
Beratung und Edukation Wichtig These 4: Beratung und Edukation sind zwei ungleiche Schwestern. Es ist daher problematisch, die Begriffe und damit verbundene Aktivitäten synonym zu verwenden.
4.4.1 Patientenedukation als neues Handlungsfeld der Pflege? Seit etwa fünf Jahren ist auch in deutschsprachigen Fachpublikationen von Patientenedukation – und in diesem Zusammenhang auch von Beratung – die Rede. Patientenedukation bedeutet, dass Patienten und ihre Bezugspersonen möglichst frühzeitig, planvoll und zielgerichtet lernen, ihre veränderte Lebenssituation weitgehend selbstbestimmt und unabhängig von den Gesundheitsexperten zu gestalten. Damit rückt ein Thema ins Blickfeld, das den Charakter einer pädagogisch gestalteten, pflegerischen Intervention hat (Harking 2004). Bereits seit vielen Jahren nehmen Pflegende im Ausland diesen pädagogischen Auftrag unter dem Stichwort »nursing is teaching« wahr. Pflegende verstehen sich insofern als Lehrende, als sie in Gruppen- oder Einzelkursen Unterricht zu ausgewählten pflegerischen Themen und dies in klinischen wie auch außerklinischen Settings (z. B. Schule, Arbeitsplatz, Community) anbieten. Bei näherer Betrachtung der vielfach zitierten angloamerikanischen Grundlagenwerke (Canobbio 1998; Klug-Redman 1996) entsteht der Eindruck, dass die edukativen Maßnahmen dazu dienen, Patienten an die Erfordernisse ihrer Krankheit anzupassen. Exemplarisch weist Canobbio (1998) konkrete Handlungsempfehlungen der Pflege für vielfältige, alphabetisch geordnete Krankheitsbilder aus. Diese sind in der Formulierung der Maßnahmen deutlich expektokratisch und häufig an medizinische Notwendigkeiten ausgerichtet. Dem läge jedoch eine erzieherische Absicht zugrunde, wonach ein Gesundheitsexperte bestimmt, was für den Betroffenen in seiner augenblicklichen Situation wichtig, richtig und angemessen ist. In der Medizin steht für eine solchermaßen anzustrebende Therapietreue der Terminus »Compli-
73 4.4 · Beratung und Edukation
ance«, in einem verengten pädagogischen Verständnis die »Edukation«,also die Erziehung.Demnach wäre der Begriff »Patientenedukation« wohl gewählt – ginge es um die Vermittlung schlichter therapeutischer und präventiver Maßnahmen –, wobei die Pflege gewissermaßen als verlängerter Arm der Medizin fungierte. An diesem Punkt wollen sich die deutschsprachigen Konzeptionen zur Patientenedukation von strikten, expektokratischen Verhaltensvorgaben oder rigiden klinischen Schulungsprogrammen absetzen, da diese vielfach nicht die wirklichen Bedürfnisse der Patienten und ihrer Lebenswelt träfen. So weisen die Protagonistinnen des Themas ausdrücklich darauf hin, dass Edukation in einem weiten Verständnis, nämlich als »Bildung« (Zegelin-Abt 2003b, S. 21) oder als “Unterstützung zum Selbstmanagement”, zu verstehen sei (MüllerMundt 2001, S. 94). Als Leitvorstellung dafür steht der Empowerment-Ansatz. Diese Vorstellungen von Patientenedukation sind weitgehend nachvollziehbar und sowohl für die Bestrebungen eines Patienten nach persönlicher Unabhängigkeit und Selbstbestimmung als auch für die Bestrebungen der Pflege nach Professionalisierung (z. B. in Form klarer Kompetenz- und Verantwortungsbereiche) begrüßenswert. Neben diesen idealisierten Auffassungen von Patientenedukation auf der Zielebene haben die vorgestellten Konzeptionen inhaltlich und methodisch aber noch einen anderen Ansatz. Die Einzelaktivitäten des Informierens, Schulens oder Trainings – hier z. T. als standardisierte Lernprogramme ausgewiesen – enthalten eng umrissene Qualifizierungsmaßnahmen im Sinne der Wissensvermittlung und des Fertigkeitentrainings. Zudem sind die derzeit veröffentlichten Inhalte vorwiegend am objektiven Bedarf bestimmter Krankheitsgruppen (z. B. »Epilepsiekranke und Kehlkopfoperierte«; Zegelin-Abt 2003a, S. 113) oder an spezifischen Verhaltensweisen ausgerichtet, die »häufig zu erlernen sind« (Zegelin-Abt 2000,S.58). Beispielhaft dafür sind die subkutane Selbstinjektion, der Umgang mit einem Dosieraerosol und die Anwendung von Kompressionsstrümpfen. Zwar sollen die Aktivitäten auf den individuellen Lernbedarf zugeschnitten sein, dennoch ist aus den derzeitigen Publikationen nicht ersichtlich,wie die Anbindung an die individuelle Lebenssituation
4
und v. a. an den professionell erhobenen Pflegebedarf erfolgt. Und genau an dieser Stelle wäre eine Integration beider Prozesse zu leisten, damit edukative Interventionen – verstanden als pflegerischpädagogisches Handeln – professionell ausgeübt werden. Nicht die Orientierung an einem Krankheitsbild oder die Ausrichtung an einem zuvor identifizierten Thema, wie z. B. eine häufig zu erlernende Tätigkeit, ist ausschlaggebend für die pädagogische Gestaltung einer Pflegesituation, sondern die Anbindung an den professionell erhobenen, individuellen Pflegebedarf.
4.4.2 Der Stellenwert von Beratung In den deutschsprachigen Veröffentlichungen erscheint die Beratungskomponente entweder als »weicher« Einzelaspekt edukativer Tätigkeiten, der insbesondere auf die psychosoziale Situation des Patienten gerichtet ist, oder als das andere Extrem: Die Begriffe »Beratung« und »Edukation« werden synonym verwendet, also beliebig austauschbar. Um hier Klarheit zu gewinnen, grenzt Zegelin-Abt die Einzelaktivitäten der Patientenedukation voneinander ab, wobei sie die Patientenedukation – je nach Bedürfnis – sowohl als eine Kombination der Einzelaktivitäten als auch als isoliertes Angebot versteht. Sie definiert Beratung als »ergebnisoffene[n], dialogische[n] Prozess, in dem eine individuelle und bedürfnisgerechte Problemlösung vorbereitet wird«. Unter Schulung versteht sie ein »zielorientiertes, strukturiertes und geplantes Vermitteln von Wissen/Fertigkeiten«. Die Information ist für sie »die gezielte Mitteilung, Bereitstellung verschiedener Medien, Vermittlung relevanter Adressen in einem offenen Angebot, Recherchehilfen« (Zegelin-Abt 2003a, S. 103). Anhand Zegelin-Abts Definition zur Schulung wird deutlich, dass diese auf ein intentionales, also absichtsvolles Geschehen abhebt. Die Lernprogramme sind von außen geplant und strukturiert. Insofern ist Beratung nicht mit Schulung oder Training gleichzusetzen; denn die Beratung orientiert sich an dem Thema, das eine hilfesuchende Person beschäftigt und ist v. a. durch das prägende Merkmal der Ergebnisoffenheit gekennzeichnet. Sowohl der Weg als auch das Ziel werden in einem gemeinsamen Prozess der Orientierung, Planung und Ent-
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4
Kapitel 4 · Beratung in der Pflege
scheidung gestaltet.Angesichts dieser Merkmale ist es ratsam, von getrennten Aktivitäten, nämlich von Edukation und Beratung, zu sprechen. Nicht weniger problematisch ist die Verwendung des Schulungsbegriffs. Er ist aus erziehungswissenschaftlicher Sicht wegen seiner zweckrationalen und funktionalen Ausrichtung umstritten (Ipfling 1974).Auch bei der pflegerischen Anleitung
. Tabelle 4.2. Systematisierung eines fachsprachlichen Verständnisses von Beratung Anlass
Beratungsbedarf: gesundheitliche, psychische und/oder soziale Belastungen und Lebensprobleme
Voraussetzungen
Professionelle Beziehungsfähigkeit Gleichberechtigter, partnerschaftlicher Dialog; Berater ist verantwortlich für den Beratungsprozess, hilfesuchende Person ist Experte und verantwortlich für ihr Leben; Basis: stabile Werthaltungen Kommunikative und interaktive Fähigkeiten des beraterischen Vorgehens Fachwissen und -können
Merkmale
4.5
Rückblick und Ausblick
Ergebnisoffen Zielorientiert und methodengeleitet Interaktiver, reflexiver Prozess
Ergebnisse
von Patienten und/oder ihren Bezugspersonen ist zu bedenken, dass eine instrumentelle Anleitung allein – ohne Berücksichtigung der Erlebensebene bzw. des sozialen wie auch des ökologischen Kontextes – wahrscheinlich zu keiner nachhaltigen Alltagskompetenz oder gelingenden Bewältigungsform führen wird. An dieser Stelle greift Beratung – verstanden als »biopsychosoziale« Beratung oder als leiborientierte Beratung weiter. Das »Plus« von Beratung in der Pflege ist nach Koch-Straube (2001, S. 35) die »Unterstützungsleistung bei der sinngebenden Integration von Krankheit und Behinderung ins Lebensganze, für den Prozess des persönlichen Wachstums,für die Übernahme von Verantwortung und den Erhalt der Selbstbestimmung«. Ein Beratungsprozess kann zwar informierende, aufklärende oder anleitende Elemente enthalten – deshalb besteht eine gewisse Nähe zur Patientenedukation –, er kann aber darüber hinaus in eine Beratungssituation überführen. Für sich allein genommen sind Information,Anleitung undAufklärung aber noch keine entfaltete Beratung im oben genannten Verständnis. Die Systematisierung eines fachsprachlichen Verständnisses von Beratung ist in . Tabelle 4.2 dargestellt.
Empowerment Veränderung von als belastend erlebten oder unauflöslichen Situationen Integration einer schwierigen Situation in das Lebensganze
Ähnliche Begriffe und Aktivitäten, die offenbar nicht zugehörig sind Alltagsberatung Direktive Verhaltensweisen Schulung,Training (Edukation) Auf Anpassung ausgerichtete Verhaltensweisen, z. B. Compliance
Anhand der eingangs geschilderten Falldarstellung dürfte der besondere Vorzug von Pflege mit Blick auf Beratungssituationen deutlich geworden sein. Pflege verfügt aufgrund ihrer Nähe zum Patienten/Pflegebedürftigen und des legitimen Zugangs zur Leiblichkeit über vielfältigste verbale und nonverbale Ausdrucksformen. Das Erleben dieser Menschen ist derart präsent, dass es in der Reichhaltigkeit und Fülle manchmal schwierig erscheint, an der richtigen Stelle innezuhalten, um dem Bedeutungsgehalt nachzugehen. Sicherlich möchte nicht jeder kranke oder pflegebedürftige Mensch über seine innere Verfasstheit sprechen oder er erlebt Situationen weniger problematisch. Dennoch sind es oftmals ganz einfache Fragen oder kleine Gesten, die auf ein echtes und tiefes Problem verweisen. In diesem Fallbeispiel verstrichen zahlreiche Gelegenheiten, um einen Beratungsbedarf zu erkennen und das entlastende Gespräch zu führen.
75 4.5 · Rückblick und Ausblick
Möglicherweise hätte eine umfassende Pflegebedarfserhebung frühzeitig das drängende Problem aufgedeckt. Vielleicht entwickelten sich die Sorgen auch schleichend und traten erst später an die Oberfläche. Sicher war die Aussage der Patientin hilfreich,um Ansatzpunkte für beratende Interventionen in der Pflege herauszuschälen: Das Verhalten dieser Patientin ermutigt Pflegende, bewusst nachzuspüren und nachzufragen, welche Bedeutung Kranksein für Patienten, Abhängigkeit für Behinderte oder Pflegebedürftigkeit für alte Menschen haben kann. Dazu bedarf es oftmals keiner großen Worte oder gar ausgefeilter Kommunikationstechniken, sondern eher eines wachen Geistes und eines sensiblen Gespürs für die Gesamtsituation eines Menschen. Beratung in der Pflege ist nicht etwas ganz Neues. Beratung ist aber mehr als das informierende Aufklären über pflegerische und medizinische Zusammenhänge oder die Auskunft über ein optimales Versorgungsangebot bzw.das »Schwätzchen halten«. Beratung ist nicht Edukation, Schulung oder Training. Beratung ist ein interaktionsintensiver Prozess, gekennzeichnet v. a. durch die Merkmale der Freiwilligkeit der Beratungsbeziehung, den partnerschaftlichen Dialog und ein ergebnisoffenes Geschehen.Beratung in der Pflege will den pflegebedürftigen Menschen darin begleiten, die belastende Situation zu verstehen, Wahlmöglichkeiten zu entdecken und das krisenhafte Erleben in das Lebensganze zu integrieren. Beratungsansätze für die Pflege müssen nicht völlig neu erarbeitet werden. Hier halten die Sozialwissenschaften bereits gut fundierte Konzepte bereit. Dennoch sollte die zukünftige Entwicklungsarbeit davon bestimmt sein, einen für das Handlungsfeld der Pflege spezifischen Zugang auszuweisen, um so Beratung als originäre pflegerische Aufgabe auszuweisen.
3 Methodische Hinweise für die Seminargestaltung Für eine Seminargestaltung zum Thema »Beratung in der Pfleg« bieten sich in erster Linie erfahrungsorientierte Methoden an; denn Beratungskompetenzen können nicht über ein Literaturstudium erworben werden. Zur theoretischen Einführung eignen sich kommunikationstheoretische Publikationen wie beispielsweise von Schulz von Thun, Watzlawik und Rogers. Diese sind überwiegend
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verständlich geschrieben und halten handlungsorientierte Elemente für die Unterrichtsgestaltung bereit. Das Wesen von Beratung in der Pflege ließe sich gut über eine kritische Analyse der zahlreichen Verwendungskontexte des Beratungsbegriffs in den diversen Handlungsfeldern der pflegerischen Praxis erarbeiten (Beispiel: gesetzliche Vorgaben oder Beratung in institutionalisierter Form, z. B. Pflegeüberleitung oder in Pflegeberatungsbüros). Zielführend sollte schließlich sein, mit der Formulierung eines enger umrissenen Beratungsverständnisses zu enden. Das Kernstück des Seminars stellt jedoch das eigene Erleben und Gestalten von Beratungssituationen dar. Hier bieten sich bereits alltägliche Szenen aus Unterrichtsgesprächen an, um die Grundregeln einer nichtdirektiven Kommunikation zu verstehen und anzuwenden. Von großer Bedeutsamkeit für die Entwicklung beraterischer Kompetenzen ist jedoch die fallorientierte Arbeit. Reale Fallbeispiele aus dem Pflegealltag lassen sich hervorragend durch Rollenspiele oder Imaginationsübungen in Szene setzten. Über das Wiedereintauchen in die erlebte Situation – unterstützt durch die aufmerksamen Beobachtungen der Gruppe wie auch das Ausdrücken begleitender Gefühle und Erfahrungen – können die Komponenten einer Beratungssituation erarbeitet und reflektiert sowie schwierige Passagen durch neue oder abgewandelte Verhaltensweisen erlernt werden. Vorsicht vor der Expertenfalle! Immer wieder sind Pflegende aufgrund ihres umfangreichen Fachwissens geneigt,einer hilfesuchenden Person eigene Annahmen, Lösungen, Tipps oder gar Verhaltensvorgaben nahezulegen. So definieren sie stellvertretend die Situation mit den anzustrebenden Zielen, während die hilfesuchende Person relativ passiv bleibt. Diese Ratschläge und Vorgaben sind jedoch fremde Antworten auf individuelle Problemlagen.Sie ändern an dem vorhandenen Problem wenig oder schaffen nur kurzfristig Entlastung. Deshalb ist eine auf Verstehen und Verständigung ausgerichtete Beratung eher sparsam, ja nahezu enthaltsam mit Worten (Fragen und Informationen). Will Beratung in der Pflege Patienten oder Pflegebedürftige zu einer reflexiven Auseinandersetzung mit ihren Erfahrungen, Wahrnehmungen und Bedürfnissen begleiten, ist Beratung die Kunst des atmosphärischen Verstehens,des sorgsamen und be-
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Kapitel 4 · Beratung in der Pflege
dachtsamen Einsatzes von Sprache und der bewussten Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen.
3 Empfehlungen zum Weiterlernen
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4 Belardi N, Akgün L, Gregor B, Neef R, Plütz T, Sonnen F (1999) Eine sozialpädagogische Einführung, 2. Aufl. Beltz, Weinheim Basel. Eine gut strukturierte und verständliche Einführung in die sozialpsychologische Beratung mit Anwendungsbeispielen aus 7 verschiedenen Beratungsfeldern. 4 Koch-Straube U (1997) Fremde Welt Pflegeheim. Huber, Bern Göttingen Toronto Seattle. Eine ethnologische Studie über den Alltag und die Qualität zwischenmenschlicher Begegnungen in einem Pflegeheim. Für Berufseinsteiger, Pflegende und Studierende eine sehr zu empfehlende, gehaltvolle Untersuchung. 4 Koch-Straube U (2001) Beratung in der Pflege. Huber, Bern Göttingen Toronto Seattle. Das erste grundlegende Werk, dass sich umfassend und gut verständlich mit der Gestaltung pflegerischer Beratungssituationen beschäftigt. Daneben leistet die Autorin sowohl eine pflegetheoretische als auch eine beratungstheoretische Fundierung. 4 Nestmann F, Engel F (2002) Die Zukunft der Beratung. dgvt, Tübingen. Renommierte Beratungsforscher stellen Zukunftsentwürfe der psychosozialen Beratung vor. Eher für Fortgeschrittene geeignet, die sich mit dem Thema »Beratung« kritisch-reflexiv auseinandersetzen möchten. 4 Rahm D (2004) Gestaltberatung. Grundlagen und Praxis integrativer Beratungsarbeit. Junfermann, Paderborn. Ein verständlich geschriebenes Buch über vielfältigste Aspekte der Beratungsarbeit mit anschaulichen Methodenbeispielen. 4 Rahm D, Otte H, Bosse S, Ruhe-Hollenbach H (1999) Einführung in die Integrative Therapie. Junfermann, Paderborn. Ein umfangreiches Werk für eine schulenübergreifende Beratungs- und Therapiearbeit. Darstellung wissenschaftlicher Hintergründe zur Vorstellung vom Menschen, wie das Leiblichkeitskonzept, Ko-respondenz und Bewusstheit. 4 Sickendiek U, Engel F, Nestmann F (1999) Beratung.
Eine Einführung in sozialpädagogische und psychosoziale Beratungsansätze. Am Thema »Beratung« Interessierte erhalten eine gut strukturierte und sprachlich leicht eingängige Einführung zu den wichtigsten Aspekten von Beratungstheorie und Beratungspraxis. 4 Verein Beratung in der Pflege e. V. (gegründet 2003). Die Gründer und Mitglieder dieses Vereins haben sich zum Ziel gesetzt, Beratung in der Pflege konzeptionell weiterzuentwickeln und in der Praxis zu verankern. Aktuelle Entwicklungen, Veranstaltungstermine und weiteren Aktivitäten finden sich unter www.beratunginder pflege. de.
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77 4.5 · Rückblick und Ausblick
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4
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5 Das Lernfeldkonzept – zwischen theoretischen Erwartungen und praktischen Realisierungsmöglichkeiten Kordula Schneider 5.1
Entstehungshintergründe des Lernfeldkonzeptes
83
5.1.1
Veränderte Arbeits- und Berufswelt
5.1.2
Veränderte Anforderungen an die Berufsausbildung
5.1.3
Schwachstellen der bisherigen schulischen Berufsausbildung
5.2
Der strukturelle und curriculare Zusammenhang zwischen Handlungsfeldern, Lernfeldern und Lernsituationen 86
5.3
Perspektivenwechsel durch das Lernfeldkonzept
5.4
Die vier wesentlichen Bestandteile des Lernfeldkonzeptes
5.4.1
Handlungskompetenz
5.4.2
Handlungsorientierter Unterricht
5.4.3
Fächerintegration
5.4.4
Teamarbeit
5.5
Der Weg vom lernfeldstrukturierten Rahmenlehrplan bis zur didaktischen Umsetzung der Lernsituationen 100
5.6
Probleme der verschiedenen Implementierungsebenen
83 83 85
88 90
90 94
96
98
102
80
Kapitel 5 · Das Lernfeldkonzept
3 Berufliche Handlungskompetenzen 2
5
2
2
Fachkompetenz Verschiedene Hintergründe zur Entstehung des Lernfeldkonzeptes ableiten und in den Kontext von verschiedenen berufspädagogischen Ansätzen einordnen. Theoretische Grundlagen des Lernfeldkonzeptes erfassen und nachvollziehen sowie die Sachverhalte methodengeleitet mit anderen anhand eines Strukturlegeplans erarbeiten. Sachtexte hinsichtlich ihrer Inhalte, Logik und Verwendung von Graphiken analysieren, interpretieren, kritisch beurteilen und in einen Gesamtkontext des Lernfeldkonzeptes einordnen.
2
Personalkompetenz
3 Praxisrelevanz
Die Methode der Verortung (Nähe bzw.Distanz zum Lernfeldkonzept) als Selbstreflexion nutzen, um die eigene Handlungsfähigkeit weiter zu entwickeln. Sich der Chancen und Probleme bewusst werden und eine eigene realistische Einschätzung in Hinblick auf Implementierung des Lernfeldkonzeptes vornehmen. Bereit sein, sich mit den kontroversen Standpunkten der Kolleginnen und Kollegen in Bezug auf das Lernfeldkonzept auseinander zu setzen sowie eigene und Interessen anderer in Einklang zu bringen.
Das Lernfeldkonzept ist nicht nur für die Berufsbildenden Schulen seit den »Handreichungen für die Erarbeitung von Rahmenlehrplänen« der KMK von 1996 und 2000 aktuell und brisant, sondern weist auch für zukünftige Pflegeausbildungen (s.Robert Bosch Stiftung 2000,Pflege neu denken), wichtige Hinweise und Postulate für curriculare und didaktische Konzepte aus. Dies zeigen bereits verschiedene Modelle und Initiativen von Pflegeschulen z. B.in Stuttgart,Hamburg und Bocholt,die entweder finanziell und wissenschaftlich begleitet werden oder auf Eigeninitiative eines Lehrerteams, das Lernfeldkonzept als Basis für die Gestaltung von verschiedenen Lern- und Lehrarrangements nutzen.Diese Modelle beschäftigen sich z.B.mit integrativen oder binationalen Pflegeausbildungen. Veränderte Arbeitsbedingungen veranlassen natürlich auch eine Veränderung und eine damit einhergehende Zielveränderung der Berufsausbildung. Das Leitziel der Berufsschule ist die Handlungskompetenz geworden. Damit zukünftige Arbeiternehmerinnen und Arbeitnehmer beruflich, gesellschaftlich und privat verantwortlich handeln können, werden aus diesen drei Lebensbereichen und dem Bildungsauftrag der Schule Lernfelder konstruiert, die es Auszubildenden ermöglichen, aufgrund der komplexen Aufgaben- und Problemstellungen betriebliche Abläufe zu abstrahieren,berufliche Prinzipien zu generieren und sich Wissen situiert anzueignen (. Abb. 5.2). Damit Lehrende
Sozialkompetenz Die Arbeit in Gruppen methodengeleitet (z. B. durch Vereinbarung von Gruppenregeln) gestalten und produktiv zu einem gemeinsamen Ergebnis kommen. Die Teamarbeit als eine wichtige Form der sozialen Beziehungen und Handlungen erkennen, sie weiter entwickeln und kultivieren.
2
Fähig werden, nach vorgegebenen Kriterien Lernsituationen selbst zu konstruieren.
Methodenkompetenz Anhand von vorgegebenen oder selbst entwickelten Heuristiken vorgegebene Lernsituationen kritisch bewerten und die Ergebnisse strukturiert präsentieren.
Lernkompetenz Individuelle Lerntechniken und Lernstrategien entwickeln, um die verschiedenen Informationsquellen (z. B. Texte, Internet, Fachzeitschriften) sachgerecht, zielorientiert und ökonomisch zu bearbeiten.
2
Kommunikative Kompetenz Verbale und nonverbale Äußerungen von anderen verstehen, sich selbst in Diskussionen und Arbeitsgruppen verständlich ausdrücken und Kommunikationsstrategien beherrschen und weiterentwickeln.
81
5
. Abb. 5.1. Ein Vergleich – bisheriger und zukünftiger Unterricht in Pflegeschulen?!
bzw. Teams diese Aufgabe erfüllen können, ist es notwendig, Lernfelder in Lernsituationen zu konkretisieren. Es werden drei Arten von Lernsituationen unterschieden: handlungssystematische, lernsubjektsystematische und fachsystematische (Muster-Wäbs u. Schneider 2001a, S. 201), wobei die handlungssystematische Lernsituation in den meisten Fällen die beiden anderen Arten integriert. Derartig vernetzte Lernsituationen folgen dem Prinzip der Fächerintegration, d. h., dass Problemstellungen zeitlich begrenzt von verschiedenen Perspektiven (Fächern und damit auch Lehrenden) erarbeitet werden.Dabei bestimmt die lernpsycho-
logische und/oder kasuistische Herangehensweise die Abfolge der Thematisierung. Der eigentliche Unterricht unterliegt bestimmten Merkmalen handlungsorientierten Unterrichts (s. hierzu Kap. 6) als auch einer Phasenstruktur (Artikulationsschema). Derartiger Unterricht gewährleistet, dass Lernende sich explizites und implizites Wissen aneignen können. Das bedeutet z. B., dass Lernende ihre Erfahrungen einbringen können; sie können durch selbstständiges Handeln lernen, indem Handlungen und Lernen reflektiert und generiert werden. Sie führen vollständige Handlungen aus, sei es, dass diese gedanklich vorgeplant und/oder
82
Kapitel 5 · Das Lernfeldkonzept
. Abb. 5.2. Verfahrensstruktur
5
nachvollzogen werden und bewerten dadurch kritisch berufliche Handlungen.Durch die Umsetzung des Lernfeldkonzeptes trägt die Berufsschule als dualer Partner der Berufsausbildung dazu bei, die »vorher erworbene allgemeine Bildung« (KMK 2000, S. 27) zu erweitern, aber auch den zukünfti-
gen Arbeitnehmer, die zukünftige Arbeitnehmerin für die »Aufgaben im Beruf sowie zur Mitgestaltung der Arbeitswelt und Gesellschaft in sozialer und ökologischer Verantwortung« (KMK 1999, S. 27) zu befähigen.
83 5.1 · Entstehungshintergründe des Lernfeldkonzeptes
3 Verfahrensstruktur (. Abb. 5.2) 5.1
Entstehungshintergründe des Lernfeldkonzeptes
5.1.1 Veränderte Arbeits- und Berufswelt
In den letzten Jahren haben sich die Anforderungen an berufstätige Menschen nicht nur stark verändert, sondern sind auch vielfältiger geworden. Grundlegende ökonomische Wandlungen, steigende Globalisierungsprozesse und zunehmende Bestrebungen der Internationalisierung verlangen dem Menschen zunehmend mehr Entscheidungen ab, andererseits eröffnen sich ihm aber auch vielfältige Möglichkeiten (GEW 2001, S. 5). Bei einigen Menschen führt dies zur zunehmenden Verunsicherung, andere entwickeln zunehmend Suchbewegungen (Krammers 2000, S. 397ff).Wie ein bunter Flickenteppich gestalten sich häufig Berufsbiographien von Menschen. Beck (1986) bezeichnet dies als Collage-Biographie. Der Mensch hat in seinem Leben nicht,wie es früher üblich war,einen Beruf ausgeführt, sondern die Lebensbiographie kennzeichnet sich durch mehrere Berufe (Rauner 1997b,S.7).Häufig sind Rationalisierungs- und Spezialisierungsprozesse dafür verantwortlich.Sie verlangen dem Berufstätigen sowohl ständige Flexibilität und Mobilität als auch den Erwerb von Zusatzqualifikationen ab. Darüber hinaus ist eine andere Tendenz zu beobachten, die vor allem für die Identifikation,die Arbeitszufriedenheit und die Corporate Identity entscheidend ist. Sie liegt in der sich verstärkenden Verarmung selbstständiger Aufgaben, indem komplexe Handlungen zergliedert und voneinander isoliert werden sowie der eigene Anteil bzw. die Möglichkeit der gestalterischen Beeinflussung nicht mehr ersichtlich oder verloren gegangen ist. Pflegekräfte sind von diesem Phänomen besonders betroffen, da die Funktionspflege bzw. »funktionelle Pflege« bis heute noch – vor allem im stationären Bereich – Bestand hat. Pflegende führen vereinzelte Tätigkeiten an mehreren Personen aus, die vor allem nach aufgaben- und verrichtungsbezogenen Schwerpunkten gegliedert sind. Diese »Rundenpflege« (z. B. Blutdruck messen, Getränke verteilen, Verbandswechsel) weist Parallelen zur Fließbandarbeit auf,bei der eine Zergliederung des gesamten Arbeitsprozesses erfolgt.
5
Dieses historisch gewachsene »Regelungsmuster der Arbeitsorganisation« (Elkeles 1997,S.51) verhält sich kontraproduktiv zu den Forderungen eines modernen Dienstleistungsunternehmens, das auf Patienten- bzw. Klientenorientierung setzt. Es besteht ein gravierender Unterschied darin, ob eine funktionalisierte Tätigkeit vollzogen wird oder selbstverantwortliche Aufgaben innerhalb eines eigenständigen Berufes zum Tragen kommen. Rauner (1997a, S. 7 ff.) weist darauf hin, dass der Beruf als eine »identitätsstiftende Institution« gesehen werden muss und eine kritische Auseinandersetzung mit dem Beruf persönlichkeitsbildend wirkt. Unsere »postindustrielle« Gesellschaft entwickelt sich zunehmend mehr in eine Dienstleistungsgesellschaft, zu der auch die Berufe im Gesundheits- und Pflegebereich beitragen. Damit stellt sie einen nicht zu unterschätzenden Wirtschaftsfaktor neben der Wissens- und Informationsgesellschaft dar.Nicht außer Acht bleiben darf, dass sich in dem Dienstleistungssektor ständig neue Arbeitsfelder eröffnen. Obwohl sich diese Erkenntnis sehr schleppend für den Pflegesektor abzeichnet, so besteht doch berechtigte Hoffnung, dass dieses Signal erkannt wird und alle Beteiligten sich längerfristig darauf vorbereiten werden. Aufgrund der gesellschaftlich bedingten Entwicklung entstehen gerade in diesem Sektor ständig neue Aufgabenbereiche, die gerade für die Pflegeberufe potentielle Chancen im Hinblick auf eigenständige Aufgaben ergeben. Damit würde der Entwicklung des eigenständigen Berufsbildes der Pflege enormer Vorschub geleistet werden.
5.1.2 Veränderte Anforderungen
an die Berufsausbildung Aufgrund der steigenden Anforderungen an die Mobilität der Arbeitnehmer (Wechsel von einem Tätigkeitsfeld zu einem anderen Tätigkeitsfeld) sowie der zunehmenden Flexibilisierungsprozesse (neue Aufgaben im selben Beruf) als auch der veränderten Arbeitsformen (z. B. Homeworking und Teamarbeit am Arbeitsplatz) und nicht zuletzt aufgrund von Rationalisierungen (z. B. im Altenpflegebereich die Reduzierung von Fachkräften bei gleichzeitiger Einarbeitung von Ungelernten) haben sich gravierende Einschnitte sowohl für den
84
5
Kapitel 5 · Das Lernfeldkonzept
Einzelnen als auch für die Gesellschaft und damit verbunden für die Berufsbildung ergeben. Der Balanceakt zwischen den Qualifikationsanforderungen des jeweiligen Arbeitsplatzes bzw. eines Betriebes und der Verantwortung sich selbst und der Gesellschaft gegenüber macht die Persönlichkeitsentwicklung aus (Lipsmeier 1998,S.489 f.). Zukünftige Berufstätige zu einer »reflektierten Meisterschaft« (Krammers 2000, S. 411) zu führen, muss ein vorrangiges Ziel beruflicher Bildung werden. Die Entwicklung zukünftiger Kompetenzen wird hauptsächlich darin bestehen, mit nicht mehr prognostizierbaren Entwicklungen – d. h. mit Unsicherheiten und Ungewissheiten – umzugehen und leben zu lernen. Die Berufs- und Erwachsenenpädagogik muss im Sinne der »Individualisierungsthese« (Beck 1986) zukünftige Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer darin stärken, selbstverantwortlich neue individuelle Lebens- und Berufsperspektiven zu entwickeln und zu gestalten, die sich dann in überlebenspragmatischen Strategien widerspiegeln. Nicht mehr die in rasanter Geschwindigkeit sich verändernden Bedingungen des Arbeitsplatzes stehen im Mittelpunkt von Qualifizierungs- und Bildungsmaßnahmen, sondern die typischen Arbeitszusammenhänge,die sich in dem »Arbeitssystemwissen« des jeweiligen Berufes widerspiegeln, müssen zum Ausgangspunkt neuer Berufskonzepte gemacht werden.Unter Arbeitssystemwissen versteht Schweres (1998, S. 159) sowohl das Wissen um den Arbeitsplatz als auch das Wissen um den Arbeitsprozess. Das Arbeitssystemwissen beschäftigt sich seiner Meinung nach mit der statischen Betrachtung der Elemente, Eigenschaften und Verknüpfungen, wohingegen der Arbeitsprozess eine dynamische Betrachtung vor allem der Ablauforganisation darstellt. Sloane (2000, S. 79) weist noch einmal darauf hin, dass Arbeitsprozesswissen nicht zwingend durch Fachwissen abgebildet wird. Sollte ein Arbeitsplatzwechsel erforderlich sein, was Rauner bildlich als »Wandern« bezeichnet, können Arbeitnehmerinnen und Arbeiternehmer ihre Schlüsselqualifikationen sozusagen »mitnehmen« und am neuen Arbeitsplatz ihre Gestaltungskompetenz unter Beweis stellen, indem sie die neuen komplexen Aufgaben meistern (Rauner 1997a, S. 9). Arnold (1998, S. 499) definiert dieses Leitbild einer zukunftsorientierten beruflichen Aus- und Weiterbil-
dung so, dass »nicht mehr die gewandelten Anforderungen als solche« im Mittelpunkt stehen, »sondern die Vorbereitung auf den konkret – inhaltlich immer weniger prognostizierbaren Wandel« vollzogen werden muss. Innerhalb der Diskussion um die erstrebenswerten Formen von zukünftigem Wissen bedeutet dies, dass nicht nur Faktenwissen im Zentrum von Aneignungsprozessen steht, sondern Handlungswissen, welches sich durch Begründungs-, Kontext- und Transferwissen auszeichnet (Schelten 1998,S.16,Klauser 2000,S.111 ff.). Faktenwissen, und damit sind in der Regel Informationen gemeint, unterliegt einer zu kurzen Halbwertzeit, als dass es sich lohnen würde, dieses als lebensrelevant und erstrebenswert zu bezeichnen. Die rasche Entwicklung von Wissen und seine hohe Alterungsgeschwindigkeit erzwingen eine neuartige Kultur des lebenslangen Lernens. Dies fordert von den Betroffenen, d. h. Auszubildenden, Lehrenden an Schulen und Hochschulen, eine Umstellung ihrer Mentalität,nämlich die Haltung »einmal Erlerntes reicht aus«, aufzugeben und gegen »Verlernen und ständiges Weiterlernen« einzutauschen.Wissen wird damit nicht zur Schlüsselqualifikation,sondern zur Schlüsselressource.»Bildung, als die Fähigkeit, Informationen zu Wissen zu verarbeiten,wird so wichtig wie Sauerstoff zum Atmen« (Glotz 1999). Für zukünftige Berufsausbildung bedeutet dies: Flexibilität, Modularität und Dualität. Ermöglichen Lehrende es Auszubildenden,sich Selbsterschließungskompetenzen (Arnold 1995) anzueignen, so werden sie über ein relativ dauerhaft bestehendes Schlüsselqualifikationsrepertoire verfügen. Für diese zukünftigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wäre es wahrscheinlich, dass sie längerfristig dazu in der Lage wären, die ständigen Applikationsprozesse von z. B. neuen Informationstechnologien besser zu bewältigen. Informationen stellen allerdings nur eine Vorstufe zum Wissen dar, denn der entscheidende Faktor liegt in der Anwendung und der Weitergabe von Wissen, einem Merkmal, das der Wissensgesellschaft zu Eigen ist. Konsequenterweise hat die Berufsausbildung nur dann eine Chance, wenn sie die zukünftigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einerseits auf einen Berufsweg vorbereitet und andererseits bereits schon bei der beruflichen Erstausbildung auf lebenslanges Lernen setzt (MusterWäbs u. Schneider 2000, S. 28).
85 5.1 · Entstehungshintergründe des Lernfeldkonzeptes
Diese Problematik wurde bereits 1991 von den Kultusministern aufgegriffen, indem sie der Berufsschule folgende zentrale Aufgabe zuschrieben: Auszubildende dazu zu befähigen,»Arbeitswelt und Gesellschaft in sozialer und ökologischer Verantwortung mitzugestalten« (Rauner 1997a, S. 13). In die gleiche Richtung ging die 1992 von dem damaligen Ministerpräsidenten des Landes NordrheinWestfalen Johannes Rau ins Leben gerufene Bildungskommission. In ihrer niedergelegten Denkschrift (1995) »Zukunft der Bildung – Schule der Zukunft« forderte sie neben der Wissensvermittlung das fachliche und überfachliche Lernen, gleichzeitig die Persönlichkeitsentwicklung sowie das Finden der eigenen Identität und Achtung der Integrität anderer (Bildungskommission NRW 1995,S.80).Um jedoch verbindlich und bundesweit den zuvor beschriebenen Anforderungen und Veränderungen der Berufs- und Arbeitswelt einerseits nachzukommen, andererseits den Bildungsauftrag der Berufsschule einzulösen, indem nicht nur Berufstüchtigkeit, sondern Berufsmündigkeit gefordert wird, legte die Kultusministerkonferenz (KMK) erstmals 1996 das Lernfeldkonzept in den Handreichungen für die Erarbeitung von Rahmenlehrplänen der Kultusministerkonferenz für den berufsbezogenen Unterricht in der Berufsschule vor (Pukas 1999, S. 84). Mit dem Gedanken des Lernfeldkonzeptes soll diesen vielfältigen Anforderungen Rechnung getragen werden.Es soll ein stärkerer Bezug zu den Geschäfts- und Arbeitsprozessen der beruflichen Handlungen gewährleistet sein. Ebenso greifen die Lernfelder Fragestellungen und Bewältigungsmuster bestimmter individueller Lebenssituationen auf (Muster-Wäbs u. Schneider 2001b, S. 45). Lernfelder werden präzisiert durch Zielformulierungen im Sinne von Kompetenzen und dienen letztendlich der Entwicklung von Handlungskompetenz.
5.1.3 Schwachstellen der bisherigen
schulischen Berufsausbildung Die folgende Kritik an der Gestaltung von schulischen Lernsituationen geht von einer Analyse aus, die Pätzold (1998, S. 8 ff.) für Berufsschulen festgestellt hat; gleichzeitig trifft diese meines Erachtens auch für die schulische Ausbildung von Pflegebe-
5
rufen zu. Die Kritikpunkte beziehen sich sowohl auf die inhaltliche Auswahl und Strukturierung als auch auf die didaktische Umsetzung. 4 Überbetonte Vermittlung von additivem Faktenwissen in einem disziplinenorientierten Unterricht,d.h.die Fachwissenschaften waren bislang Ausgangspunkt für die Strukturierung von Schulfächern und deren Inhalten. 4 Das vermittelte Fachwissen wird nicht zur Problemlösung in der Berufspraxis angewendet, obwohl es scheinbar vorhanden ist. In der Literatur wird in diesem Zusammenhang von »trägem Wissen« gesprochen (Mandl et al.1993, S. 64 ff.). Renkl (1996, S. 78 ff.) beschreibt hierfür drei Erklärungsmuster: 1. Metaprozesserklärungen.Sie gehen davon aus,dass das Wissen vorhanden ist, aber der Person das notwendige Wissen für den Zugriff bzw. die Steuerung fehlt. Die Anwendung wird ihm somit versagt. 2.Strukturdefiziterklärungen.Hier liegt das Defizit in der Anlage und dem Erwerb des Wissens selbst begründet. Das vorhandene Wissen erlaubt keine Anwendung. 3. Situiertheitserklärung. Wird Wissen nicht im Kontext von bestimmten Situationen gebunden, dann kann kein Transfer auf andere Konstellationen erfolgen. Diese Diskrepanz zwischen Wissen und Handeln ist ein Hauptproblem gegenwärtiger Schulen. Gerstenmaier u. Mandl (1995, S. 867) sehen die mangelnde Einbettung in den sinngebenden Kontext als Hauptursache an. Wissenskonstruktion, Wissenserwerb und Wissensanwendung müssen für schulische Prozesse neu überdacht werden. 4 Damit erfolgte eine Orientierung an den systemimmanenten Strukturen bzw. Fragestellungen der jeweiligen Fachwissenschaft; Schlüsselfragen aus der Berufs- und Arbeitswelt bleiben unberücksichtigt. 4 Das inhaltliche Spektrum der jeweiligen Wissenschaftsdisziplin wurde komplett und damit vollständig vermittelt, unabhängig davon, ob die vermittelten Inhalte überhaupt eine berufsrelevante Fragestellung implizieren. Die damit einhergehende Stofffülle zieht logischerweise eine ökonomische Vermittlung nach sich,die in einen lehrerzentrierten Frontalunterricht mündet.Die Wissenslastigkeit behindert exemplarisches Lernen.
86
5
Kapitel 5 · Das Lernfeldkonzept
4 Die dadurch entstandene Kluft zwischen wissenschaftssystematischen Fächern und betrieblichen Arbeitsprozessen verstärkte zunehmend die Praxisferne von Unterricht und führt ebenso zu mangelnder Motivation der Auszubildenden. 4 Stark lehrerzentrierte Vermittlung (Frontalunterricht),die darüber hinaus auch noch eine extreme Betonung der sprachlichen Vermittlung in den Vordergrund stellt, schränkt den aktiven Anteil der Lernenden am Unterrichtsgeschehen enorm ein. Damit erfolgt eine eindeutige Vernachlässigung der sozialen, methodischen und emotionalen Kompetenzen, eigentlich die Schlüsselqualifikationen, die für ein lebenslanges Lernen außerordentlich wichtig sind. 4 Leistungskontrollen beziehen sich extrem stark auf kognitive Aspekte, die auf die reine Wiedergabe von Fakten und Begriffen beschränkt bleiben (Dubs 2000, S. 15, Schopf 2001, S. 1).
5.2
Der strukturelle und curriculare Zusammenhang zwischen Handlungsfeldern, Lernfeldern und Lernsituationen (. Abb. 5.3)
Durch die Handreichungen der KMK von 1996 und 1999 wurde durch das Lernfeldkonzept eine stärkere Ausrichtung des Berufsschulunterrichts an berufliche Arbeitsprozesse und damit an die betriebliche Realität in Gang gesetzt. Die damit verbundenen Forderungen lösen die bislang auf Fachsystematik und Faktenwissen basierende, meist lehrerzentrierte sprachlich orientierte Vermittlungsform ab und verlangen handlungsorientierten Unterricht, der die Auszubildenden dazu befähigt, Arbeitsaufgaben selbstständig zu planen, durchzuführen und zu bewerten. Der Unterricht realisiert sich somit nicht mehr nach Fächern, sondern wird durch Lernsituationen gestaltet, die aus vorgegebenen Lernfeldern des Rahmenlehrplans konstruiert wurden. Diese didaktisch entwickelten Lernsituationen rekonstruieren typische Handlungssituationen aus dem Berufs- und Lebensalltag von Auszubildenden. Sie sind jedoch nicht deckungsgleich mit der Arbeitswelt, da sie auf der Basis des Bildungsauftrages der Berufsschule beru-
hen und demzufolge mit einer Bildungsabsicht verbunden werden.Damit kann der vielfältig geäußerten Kritik »Lernfelder bzw. Lernsituationen spiegeln die Betriebsrealität und sind somit Abbild des Betriebes« entgegengewirkt werden.
Handlungsfelder Handlungsfelder stellen komplexe Aufgabenbereiche dar, die entweder Problemstellungen aus dem Beruf, der Gesellschaft oder dem privaten Bereich aufgreifen. Sie sind nicht deckungsgleich mit betrieblichen Handlungsfeldern (Arbeitsprozessen), weil sie nicht nur gegenwärtige, sondern auch zukünftige Aspekte eines Berufes berücksichtigen. Darüber hinaus bestimmen die Ziele der beruflichen Bildung die Ausrichtung und den Bildungsgehalt eines Handlungsfeldes für ein Lernfeld.Handlungsfelder bilden somit die Grundlage für die Analyse, Reflexion und Rekonstruktion von Lernfeldern (Bader 1998, S. 211). Nicht jeder Arbeitsprozess wird somit automatisch zu einem didaktisch begründbaren Lernfeld. Berufliche Bildung orientiert sich damit nicht ausschließlich an Arbeitsprozessen, sondern berücksichtigt vor allem auch gesellschaftliche Schlüsselprobleme (Pangalos u. Knutzen 2000, S. 107 ff.). Durch eine didaktische Analyse »soll nach der Gegenwarts- und der Zukunftsbedeutung« (Klafki 1993a, S. 15) wie auch nach exemplarischem Lehren und Lernen (Klafki 1993b, S. 143 ff.) gefragt werden, so dass ein begründetes Lernfeld abgeleitet werden kann. Eine Berufsfeldanalyse vereinigt die Bestimmung fachlicher Qualifikationen für die jeweiligen Arbeitsprozesse mit den erforderlichen Kompetenzen,die sich aus den Schlüsselproblemen einerseits und der Persönlichkeitsentwicklung andererseits ergeben. Klafki (1993b, S. 56) kommt zu fünf epochaltypischen Schlüsselproblemen. Hierzu gehören: die Friedensfrage, die Umweltfrage, die gesellschaftlich produzierte Ungleichheit, die Gefahren und Möglichkeiten der neuen technischen Steuerungs-, Informations- und Kommunikationsmedien sowie die Subjektivität des Einzelnen und das Phänomen der Ich-Du-Beziehung (Klafki 1993b, S. 56 ff.). Ob diese und/oder darüber hinausgehende, für die Berufsausbildung spezifische Schlüsselprobleme als Basis dienen, kann zum jetzigen Zeitpunkt nicht beantwortet werden.
87 5.2 · Zusammenhang zwischen Handlungsfeldern, Lernfeldern und Lernsituationen
5
. Abb. 5.3. Zusammenhang zwischen Handlungsfeldern, Lernfeldern und Lernsituationen
Tätigkeitsfelder In den ersten Handreichungen der KMK von 1996 und 1999 werden Handlungsfelder als der Ausgangspunkt von Lernfeldern deklariert.Der Begriff Tätigkeitsfelder tritt erstmalig bei der KMK-Richtlinie vom 05.02.1999 auf (Kremer u. Sloane 2001, S. 13). Hierbei ist die Gefahr sehr groß, dass Tätigkeitsfelder mit den betrieblichen Handlungsfeldern gleichgesetzt werden.Auf diese Deckungsgleichheit zielt der Vorwurf, dass betriebliche Realität unkritisch gespiegelt wird und damit eine Anpassung an betriebliche Verhältnisse geleistet wird. Im Folgenden verwende ich deshalb den Begriff Handlungsfeld, um derartigen Gleichstellungen entgegenzuwirken. Außerdem könnten Tätigkeitsfelder zu schnell mit der Ist-Situation assoziiert werden.
Lernfelder
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Lernfelder sind didaktisch begründete, schulisch aufbereitete Handlungsfelder. Sie fassen komplexe Aufgabenstellungen zusammen, deren unterrichtliche Bearbeitung in handlungsorientierten Lernsituationen erfolgt (Bader u. Schäfer 1998, S. 229).
Die Grundlage für diese didaktisch konstruierten Lernfelder stellen komplexe Lebensräume der Auszubildenden in Betrieb und Gesellschaft dar. Charakteristisch ist ihre interdisziplinäre und mehrdimensionale Ausrichtung. Häufig generieren sie betriebliche Abläufe sowie Handlungsstrukturen und abstrahieren damit die betriebliche Wirklichkeit. Fächerinhalte unterliegen in diesen Lernfeldern einem »Anwendungszwang«, so dass es möglich wird, Wissen situiert zu erwerben (Sloane 2000, S. 81 f.). Somit knüpfen sie einerseits an berufliche Handlungssituationen an,andererseits berücksichtigen sie den Bildungsauftrag der Berufsschule. Hiermit leisten sie einen Beitrag zur Bewältigung der Handlungsfelder. Die Lernfelder sind so offen und allgemein formuliert, dass sie jederzeit aktuelle gesellschaftliche und berufliche Veränderungen integrieren können. Ebenso können lerngruppenspezifische und regionale Besonderheiten problemlos Berücksichtigung finden« (Muster-Wäbs u. Schneider 2001b, S. 11). Laut KMK (KMK 1999, S. 13 ff.) sollen Lernfelder nach einem einheitlichen Grundmuster folgende Merkmale aufweisen: 4 1. Zielformulierungen: Sie werden in Form von Kompetenzen beschrieben. Durch die Formu-
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Kapitel 5 · Das Lernfeldkonzept
lierung wird einerseits das Ergebnis bestimmt, das am Ende des Ausbildungsprozesses erwartet wird, andererseits wird auch etwas über den didaktischen Schwerpunkt ausgesagt. 4 2. Inhaltsangaben: Die Inhaltsangaben werden fächerintegrativ angegeben und sind daher sehr allgemein gefasst. 4 3. Zeitrichtwerte: Bei den Zeitangaben handelt es sich um empfohlene Werte, die je nach Rahmenlehrplan differieren können. Laut KMK (1999, S. 17) handelt es sich um Bruttowerte, »d. h. sie berücksichtigen die unterschiedliche Länge des Schuljahres sowie Differenzierungsmaßnahmen, Lernerfolgskontrollen etc.« Die gesamte Anzahl der Unterrichtsstunden sollte durch 20 teilbar sein. Der zeitliche Umfang von Lernfeldern sollte 40 Unterrichtsstunden nicht unterschreiten und 100 Unterrichtsstunden nicht überschreiten.In der Berufsschule beträgt die Anzahl der Lernfelder in einem Lehrplan 10–20 (Schopf 2000).Die Anzahl der Lernfelder erhöht sich entsprechend mit der Gesamtstundenzahl der Ausbildung.
Lernsituationen Lernsituationen stellen die konkretisierten kleinsten didaktisch aufbereiteten Einheiten von Lernfeldern dar. Diese curriculare Entwicklungsarbeit obliegt den Kollegen und Kolleginnen in den Schulen,um aus den meist sehr grob formulierten Lernfeldern konkrete Lehr- und Lernarrangements für die jeweiligen Bildungsgänge zu gestalten.Aus diesem Grunde sind in den einzelnen Schulen Bildungsgangkonferenzen entstanden, die diese Aufgabe wahrnehmen. Da Lernsituationen am Ende des Entwicklungsprozesses stehen,ist es wichtig,dass sie die relevanten und wichtigen Prozesse des jeweiligen Berufes widerspiegeln. Das bedeutet allerdings nicht, dass alle beruflichen Handlungsabläufe von den Lernenden »real durchlaufen« werden müssen, sondern vielmehr sollen Handlungen simulativ oder kognitiv erschlossen werden. Dabei wird das Fachwissen in den jeweiligen Lernsituationen reorganisiert. Hiermit ist gleichzeitig gewährleistet, dass in den Lehr- und Lernarrangements eine Verschränkung zwischen fach- und handlungssystematischen Strukturen stattfindet (KMK 2000, S. 10).
Muster-Wäbs und Schneider (2001a, S. 201) unterscheiden drei Arten von Lernsituationen: 4 handlungssystematische, 4 lernsubjektsystematische, 4 fachsystematische, wobei die handlungssystematische Lernsituation in den meisten Fällen die beiden anderen Arten impliziert. Die handlungssystematisch ausgerichtete Lernsituation spiegelt den Handlungszyklus.Der Handlungszyklus geht davon aus, dass jede Aufgabenbewältigung immer durch ein Ziel bestimmt ist und geplant durchgeführt wird. Der letzte Schritt im Handlungszyklus stellt die Bewertung dar. Diese vollständige Handlung,als bewusst gemachte Lernstruktur, deckt Handlungszusammenhänge auf und fördert vernetztes Denken (Muster-Wäbs u. Schneider 1999, S. 10). In lernsubjektsystematischen Lernsituationen bestimmen die Lernenden den Lernweg, den sie gehen wollen,um sich die beruflichen Handlungen zu Eigen zu machen.Die Aneignung der Kompetenzen orientiert sich an den subjektiven Aneignungsstrukturen der Lernenden (Muster-Wäbs u.Schneider 2001a, S. 201). Sloane (2000, S. 83) weist in diesem Zusammenhang darauf hin,dass bei der Gestaltung der komplexen Lehr-/Lernarrangements auf die Individualisierung der Lernprozesse zu achten ist. Denn schließlich und letztendlich ist der Lerner derjenige,der aufgrund seiner subjektiven Wissensstrukturen für sich den Suchprozess in Gang setzt. Eine fachsystematische Lernsituation spiegelt die jeweilige Fachwissenschaft,d.h.,die Inhalte unterliegen den systemimmanenten Strukturen der jeweiligen Fachdisziplin.
5.3
Perspektivenwechsel durch das Lernfeldkonzept
Durch die Ablösung der fächerorientierten Lehrpläne,die durch kasuistische Handlungsmuster der berufsspezifischen Handlungsfelder ersetzt wurden,ist eine gravierende Wende sowohl für die Curriculumentwickler als auch für die Konstrukteure der Lernsituationen in den Schulen eingetreten. Im Folgenden wird eine Gegenüberstellung von fachorientierten (eher geschlossenen) versus lern-
89 5.3 · Perspektivenwechsel durch das Lernfeldkonzept
feldstrukturierten (eher offenen) Curricula anhand verschiedener Marginalien skizziert. Die . Tabelle 5.1 beinhaltet sowohl Aspekte, die definitiv in den neuen Rahmenlehrplänen verankert sind als auch Konsequenzen,die nicht explizit genannt sind,aber
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eine logische Folge für die Umsetzung des Lernfeldkonzeptes darstellen. Es muss kritisch angemerkt werden,dass diese verkürzte Tabelle nur eine reduzierte Sichtweise dessen wiedergibt,was einerseits historisch über Jahrzehnte in dem Bewusst-
. Tabelle 5.1. Gegenüberstellung wesentlicher Aspekte aus den »alten« und »neuen« Rahmenlehrplänen. (Inhalte aus: Arnold u. Schüßler 1998, S. 122 ff., Kremer u. Sloane 2001, S. 17 ff., Muster-Wäbs u. Schneider 2001b, S. 40)
Rahmenlehrpläne/Aspekte
Bisherige (alte)
Heutige (neue)
Ordnungsschema
Lerngebiete: Inhaltsorientierte, stoffliche Einheiten, die auf der Grundlage von fachsystematischen Strukturen der jeweiligen Disziplin abgeleitet wurden
Lernfelder: Komplexe Aufgaben- und Problemstellungen, die exemplarisch sowohl aus der betrieblichen Realität als auch aus zukünftig beruflichen Perspektiven und/oder individuellen Lebenssituationen abgeleitet sind – Zielformulierungen in Form von Kompetenzen – Fächerintegrative Inhalte – Stoffreduzierung
– Lernziele – Lerninhalte – Stofffülle Übergeordnete Ziele
Förderung der Fähigkeiten und Fertigkeiten
Förderung der Handlungskompetenzen
Perspektive
Eher wissenschaftsorientiert (an den jeweiligen Strukturen der vorliegenden Wissenschaftsdisziplin)
Eher handlungsorientiert (an den Strukturen und Handlungen des jeweiligen Berufes orientiert, wie z. B. Geschäfts- und Arbeitsprozesse)
Problem- und Strukturprinzipien
Fachwissenschaftliche Inhaltssystematik (Fachlogik)
Vollständige Handlung anhand kasuistischer Ausgangsfragestellungen (Handlungslogik)
Qualitätskriterien
Vollständigkeit und Detailliertheit
Exemplarität
Didaktisches Prinzip
Fächerbezogenes Unterrichten
Fächerintegratives Unterrichten
Wissensarten
Explizites Fachwissen, häufig als »träges« Fachwissen
Explizites Fachwissen, Ermöglichung von implizitem Wissen Arbeitssystemwissen inklusive Fachwissen
Didaktisches Konzept
Vermittlungsdidaktik
Ermöglichungsdidaktik Aneignungsdidaktik
Vermittlungsformen
Lehrerzentriert Sprachlich orientiert
Teilnehmerorientiert und handlungsorientiert
Prüfungsformen
Prüfungsfächer mit überwiegendem Anteil von deklarativem Wissen
Aufgaben- und Problemstellungen mit prozeduralem Wissen als auch Kontextund Transferwissen
Teamarbeit
Eher informell und freiwillig
Eher Vorgabe und Notwendigkeit
Lehrerrolle
Eher Wissensvermittler und Bewerter
Lernprozessgestalter und -begleiter Wissensvermittler Moderator Bewerter
Schülerrolle
Eher Konsument
Eher Mitgestalter und Akteur
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Kapitel 5 · Das Lernfeldkonzept
sein vieler Lehrender gewachsen ist und andererseits noch nicht verinnerlicht bzw. umgesetzt wird. Die Tabelle 5.1 gibt diese Aussagen in verkürzter Form wieder.
5.4
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Die vier wesentlichen Bestandteile des Lernfeldkonzeptes
Mit der Umsetzung des Lernfeldkonzeptes sind unweigerlich vier Teilkonzepte verbunden: 4 Handlungskompetenz, 4 handlungsorientierter Unterricht, 4 Fächerintegration 4 und Teamarbeit Diese Teilkonzepte bedingen sich einerseits gegenseitig, andererseits stellen sie in sich geschlossene wichtige Aspekte innerhalb der Konkretisierung und Implementierung des Lernfeldkonzeptes dar.
5.4.1 Handlungskompetenz
Handlungskompetenz ist heute nicht nur zum Leitziel der Berufsschule und aller Schulformen des beruflichen Schulwesens geworden, sondern dient auch innerhalb der Fort- und Weiterbildung als Bezugsbasis für Bildungsprozesse (Bader u. Müller 2002, S. 176). Der Kompetenzbegriff ist keine temporäre Erscheinung. Der Deutsche Bildungsrat stellte bereits 1974 den Kompetenzbegriff in den Mittelpunkt seiner Überlegungen unter Rückgriff auf Heinrich Roth, der die Handlungskompetenz bereits in seinem Buch »Pädagogische Anthropologie« forderte (Vogel 2001, S. 37). Die Postulate seiner pädagogischen Anthropologie zielen auf Entwicklung und Förderung von Handlungskompetenzen.Dieses Konzept der Kompetenzentwicklung greift das Lernfeldkonzept auf und richtet damit sein Augenmerk auf den Erwerb von Handlungskompetenz. Damit überwindet dieses Konzept die bis dahin vorliegende Vermittlung von »Nur« Sachwissen und der damit einhergehenden Fachkompetenz. In der Literatur findet sich eine Fülle von verschiedenen Ansätzen, den Kompetenzbegriff näher zu definieren. Dies soll an dieser Stelle jedoch nicht vorgenommen werden.Als Auswahlkriterium für die Bestimmung des Kompetenzbegrif-
fes galt allerdings, dass Kompetenzen von Dispositionsbestimmungen ausgehen und in erster Linie subjektzentriert sind.Des Weiteren wurde von dem Verständnis ausgegangen, dass sich Kompetenzen in der Realisierung von Handlungen erschließen und damit evaluierbar sind (Erpenbeck u. Heyse 1999, S. 48). Bader u. Ruhland definieren berufliche Handlungskompetenz als »die Fähigkeit und Bereitschaft des Menschen, in beruflichen Situationen sachund fachgerecht, persönlich durchdacht und in gesellschaftlicher Verantwortung zu handeln sowie seine Handlungsmöglichkeiten ständig weiterzuentwickeln« (1996, S. 31). Ulrich (2001,S.30) differenziert den Erwerb der Handlungskompetenz in Handlungsfähigkeit und Handlungsbereitschaft. Dabei lehnt er sich an die Ausführungen von Staudt u. Kriegesmann (1999) an. Die . Abb. 5.4 wird stark verändert nach Staudt u. Kriegesmann (1999) vorgestellt. Die Handlungsfähigkeit eines Menschen wird maßgeblich durch das explizite und implizite Wissen bestimmt.Das explizite Wissen,auch als »Lehrbuch-Wissen« (Büssing et al. 2002, S. 6) bzw. »gelerntes Wissen« (Büssing et al. 2000, S. 292) bezeichnet, wird innerhalb von Bildungsveranstaltungen vermittelt und subjektiv verarbeitet. Über dieses Wissen kann schriftlich oder mündlich kommuniziert werden. Objektivierendes Arbeitshandeln baut sich einerseits durch explizites Wissen auf, andererseits wird es handlungsleitend durch reflexive Prozesse. Explizites Wissen ist allerdings nur ca. 20% dessen, was die Handlungsfähigkeit ausmacht (Ulrich 2001, S. 30). Weit wichtiger und wesentlicher für die Entfaltung von Handlungsfähigkeit wird in der Literatur das implizite Wissen gesehen.Auch wenn keine einheitliche Definition über implizites Wissen vorliegt, so soll folgender Versuch nach Büssing et al. (2000, S. 292 f., 2002, S. 3 ff.) unternommen werden. Implizites Wissen beinhaltet sowohl deklaratives (Wissen über Fakten und Begriffe = Was?) als auch prozedurales Wissen (Wissen über Strategien und Vorgehensweisen = Wie?). Damit liegt keine Beschränkung auf bestimmte Wissensgebiete oder Wissensmodalitäten vor (Büssing et al. 2000, S. 292). Aufgrund des subjektivierenden Arbeitshandelns baut sich neues implizites Wissen auf, das allerdings nicht über reflexive Prozesse entsteht
91 5.4 · Die vier wesentlichen Bestandteile des Lernfeldkonzeptes
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. Abb. 5.4. Individuelle Handlungskompetenz ermöglicht Handeln im Beruf und Alltag. (Inhalte aus: Büssing et al. 2002, S. 2–21; Renkl 1996, S. 78–92; Ulrich 2001, S, 23–34)
(Büssing et al.2002,S.3 ff.).Zusammenfassend lässt sich sagen, dass implizites Wissen im Beruf oder Alltag automatisch aktiviert wird, dieses Verhalten nicht bewusst erfolgt und in der Regel schwer verbalisierbar ist (Büssing et al. 2000, S. 292). Implizites Lernen ist »an den jeweiligen Wissensträger gebunden« (Ulrich 2001, S. 31). Somit lässt es sich nicht ohne weiteres auf andere Personen übertragen bzw. in andere Kontexte transformieren. Es
wird angenommen, dass implizites und explizites Wissen unterschiedlichen Systemen angehört, die unterschiedlichen Lerngesetzmäßigkeiten folgen (Renkl 1996, S. 83). Sowohl bei Ulrich (2001) als auch bei Staudt u. Kriegesmann (1999) werden die Bedingungen, die Handlungsbereitschaft beeinflussen, nicht näher erläutert.Wird jedoch auf die Definition der Handlungskompetenz von Erpenbeck u. Heyse (1999,
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Kapitel 5 · Das Lernfeldkonzept
S. 57) zurückgegriffen, so wird die Handlungsbereitschaft maßgeblich durch den Willen und die Werte des Handelnden realisiert. Diese interessanten und vielfältigen Erkenntnisse müssen zwangsläufig ihren Niederschlag in der Gestaltung von Lernsituationen wie in der Ermöglichung von Aneignungsprozessen der Lernenden in Bezug auf die beruflichen Handlungskompetenzen nach sich ziehen. In der beruflichen Ausbildung hat sich der Qualifikationsbegriff neben dem Bildungsbegriff etabliert. Laut KMK (2000, S. 28)
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wird unter Qualifikation der Lernerfolg in Bezug auf die Verwertbarkeit, d. h. aus der Sicht der Nachfrage in beruflichen, gesellschaftlichen und privaten Situationen verstanden (vgl. Deutscher Bildungsrat, Empfehlungen der Bildungskommission zur Neuordnung der Sekundarstufe II).
Jungblut (1998, S. 99) versteht darunter »die angemessene Bewältigung konkreter Anforderungen eines Tätigkeitsbereiches«. In Anlehnung an Erpenbeck u. Heyse (1999, S. 157) sind Kompetenzen im Gegensatz zu Qualifikationen Dispositionen (Anlagen,Fähigkeiten und Bereitschaften),die die Selbstorganisation von Handlungen eines Individuums bestimmen. Sie bestimmen
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den Lernerfolg in bezug auf den einzelnen Lernenden und seine Befähigung zu eigenverantwortlichem Handeln in beruflichen, gesellschaftlichen und privaten Situationen (KMK 2000, S. 28).
Reetz (1999, S. 245f) kommt zu folgender Auffassung: Aus pädagogischer Sicht
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zielt der Begriff der Kompetenz … auf menschliche Fähigkeiten, die dem situationsgerechten Verhalten zugrunde liegen und dieses erst ermöglichen.
Menschen mit hoch entwickelten Handlungskompetenzen ist es möglich, sich den ständig veränderten Leistungsanforderungen innerhalb der beruflichen Situation zu stellen und ihnen ständig ent-
sprechen zu können. Aus der Sicht des Beschäftigungssystems werden derartige Leistungsanforderungen als berufliche Qualifikationen bezeichnet.
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Die abgeforderten beruflichen Qualifikationen (stellen) nur einen aktualisierten Teil des Potentials (dar), das mit beruflicher Handlungskompetenz umschrieben wird (Reetz 1999, S. 245).
Die Kompetenz eines Menschen wird nach Erpenbeck u. Heyse (1999, S. 162 f.) durch Wissen und Erfahrung fundiert, durch Werte gebildet und getragen, als Fähigkeit angelegt und durch Willen verwirklicht. Die . Abb. 5.5 versucht, Kompetenz als ein Syntheseprodukt aus Qualifikation und Bildung herzuleiten. Um das Spektrum der gesamten Handlung (vor allem in diesem Kontext der beruflichen Handlungen), welches aus geistigen (z. B. kreative Denkprozesse), instrumentellen (z. B. manuelle Verrichtungen),kommunikativen (z.B.Gespräche führen) und reflexiven Anteilen (z.B.Selbsteinschätzungen vornehmen) besteht, zu bewältigen, sind unterschiedliche Kompetenzen erforderlich. Die folgenden Teilkompetenzen dürfen nicht isoliert und voneinander unabhängig betrachtet werden. Für fast jede Handlung müssen alle Kompetenzen zur Disposition stehen; es lassen sich jedoch häufig Schwerpunkte bestimmen, die die Entwicklung bestimmter Teilkompetenzen in den Mittelpunkt stellen.Die folgenden Definitionen der Teil- oder Subkompetenzen gehen auf Erpenbeck u. Heyse (1999, S. 157) zurück. Die Fachkompetenz, ist die Disposition eines Menschen, »geistig selbstorganisiert zu handeln, d. h. mit fachlichen Kenntnissen und fachlichen Fertigkeiten kreativ Probleme zu lösen, das Wissen sinnorientiert einzuordnen und zu bewerten« (Erpenbeck u. Heyse 1999, S. 157). Die Methodenkompetenz zeichnet sich dadurch aus, dass der Mensch instrumentell selbstorganisiert handelt und damit auch bestimmte Aufgaben- und Problemstellungen durch »geistiges Vorwegdenken« lösen kann. Die Sozialkompetenz bezieht sich auf die Dispositionen eines Menschen, die es ihm ermöglichen, »sich mit anderen kreativ auseinander- und
93 5.4 · Die vier wesentlichen Bestandteile des Lernfeldkonzeptes
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. Abb. 5.5. Kompetenz – eine Synthese aus Qualifikation und Bildung (Inhalte aus: Schneider u. Meyer-Dohm 1991, Vogel 2001)
zusammenzusetzen, sich gruppen- und beziehungsorientiert zu verhalten«,um gemeinsam neue Ziele und Pläne zu entwickeln. Die personale Kompetenz (vielfach auch als Human-, Selbst- oder Individualkompetenz bezeichnet) bezieht sich hauptsächlich auf persönlichkeitsbezogene Dispositionen wie z. B. Werthaltungen, Selbstbilder und Motive. Es geht darum, diese selbstkritisch einzuschätzen und sie im Rahmen von Arbeit und Freizeit weiter zu entwickeln. Diese Entfaltung eines realistischen Selbstkonzeptes wird durch Selbstwahrnehmung und Selbstlernen besonders gefördert. Diese Teilkompetenzen sind miteinander verwoben und stellen integrale Bestandteile der beruflichen Handlungskompetenz dar. Andere Autoren führen noch zwei weitere Kompetenzarten an: die kommunikative Kompetenz und die Lernkompetenz. Die kommunikative Kompetenz beinhaltet die Fähigkeit, »eigene Absichten und Bedürfnisse sowie die der Partner wahrzunehmen, zu verstehen und darzustellen« (Bader 2000, S. 211). Der Schwerpunkt liegt somit auf dem Verstehen und dem Gestalten von kommunikativen Prozessen. Die Lernkompetenz wird häufig der Methodenkompetenz zugeordnet, da keine eindeutige
Trennschärfe vorliegt. Nach Wolff (1996, S. 18) bezieht sich die Lernkompetenz auf die »Fähigkeit und Bereitschaft,Lerntechniken zu nutzen und entsprechend der individuellen Disposition weiterzuentwickeln«. Diese Handlungen sollen nicht nur alleine durchgeführt werden, sondern auch in Gruppen oder Teams. Hierbei geht es darum, Informationen nicht nur aufzuspüren und auszuwerten, sondern sie auch in geeignete Handlungsschemata (kognitive Strukturen) zu überführen. In den letzten Jahren wird häufig der Begriff der »emotionalen Kompetenz« in die Diskussion um die Handlungskompetenz eingeführt. Bislang liegen noch keine gesicherten Ergebnisse zur emotionalen Leistungsfähigkeit vor. So können keine Aussagen zu dem Zusammenhang zwischen Emotionen und den Effekten beim Handeln gemacht werden, ebenso sind die Möglichkeiten zur Nutzung von Emotionen im Berufsleben nicht ausreichend untersucht. Deshalb wird im Zusammenhang mit dem Lernfeldkonzept auf diese Dimension der Handlungskompetenz verzichtet. Für die konkrete Umsetzung des Lernfeldkonzeptes ist bei der Ausgestaltung der Lernsituationen wichtig, die einzelnen Dimensionen (Teilkompetenzen) zu bestimmen, damit eine entsprechende Förderung und Entwicklung derselben möglich ist.
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Im Folgenden wird ein vereinfachtes und von mir abgewandeltes Raster vorgestellt, in dem die drei primären Kompetenzen (Effert et al. 1996, S. 69f) – Fach-, Sozial und Personalkompetenz – mit den drei instrumentellen (Wolff 1996, S. 18) Kompetenzen – Methoden- und Lernkompetenz sowie kommunikative Kompetenz -,korreliert werden.Daraus lassen sich übergeordnete Fähigkeiten, Handlungen oder auch Methoden ableiten. Eine ähnliche Herangehensweise haben Bader u. Müller (2002, S. 179 ff.) gewählt. Die in . Tabelle 5.2 ermittelten Handlungen, Ziele bzw. Intentionen stellen eine Synthese aus den Ausführungen von Effert et al. (1996) und Bader u. Müller (2002) dar.
5.4.2 Handlungsorientierter Unterricht
Die Diskussion um die Handlungsorientierung ist nicht erst seit der Forderung nach »lebenslangem, selbständigem und handlungsorientiertem Lernen« der Bildungskommission NRW (1995) gestiegen, sondern vor allem aufgrund der KMK Richtlinien von 1996 und 2000. Unter dem Punkt »didaktische Grundsätze« fordert die KMK (2000, S. 29) die Gestaltung von handlungsorientiertem Unterricht,der folgenden Kriterien gerecht werden soll:
Sozialkompetenz
Fachkompetenz
. Tabelle 5.2. Analyseraster zur Ermittlung von Kompetenzschwerpunkten
Personalkompetenz
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Kapitel 5 · Das Lernfeldkonzept
– Methodengeleitete Sachverhalte, Konzepte u. Erkenntnisse erklären, ableiten und entwickeln – …
– Verbale und nonverbale Mittel zur Verständigung anwenden u. Fachtermini korrekt benutzen sowie diese in der Auseinandersetzung mit anderen kommunizieren – …
– Informationen (textliche und bildliche) beschaffen, strukturieren u. generieren – Subjektive Lerntechniken sich aneignen u. auf jetzige u. zukünftige Aufgabenstellungen (lebenslang) anwenden – …
– Arbeit in und mit Gruppen methodengeleitet gestalten und reflektieren – Teamregeln, -strukturen und -kulturen erstellen, anwenden u. generieren – …
– Kommunikationsregeln u. Strategien entwickeln, gemeinsam beschließen u. anwenden – Gruppenergebnisse gemeinsam präsentieren – …
– Lernprozesse in Gruppen verstehen, gestalten und leben – Soziale Beziehungen, kulturelle Unterschiede u. heterogene Lernvoraussetzungen erkennen, akzeptieren u. gemeinsame Ziele entwickeln – …
– Methoden der biographischen Selbstreflexion erarbeiten, situationsorientiert anwenden u. kritisch weiterentwickeln – Eigene Lebenspläne kritisch hinterfragen u. beurteilen – Unterschiedliche Berufswege in Abwägung verschiedener Bedingungsfaktoren bewusst machen u. zu einer subjektiv begründbaren Entscheidung kommen – …
– Die eigene Person als Kommunikator mit spezifischen Eigenschaften wie z. B. erklären, überzeugen, argumentieren usw. erkennen u. anwenden – Die eigene Sprachkultur bewusst in Interaktionen anwenden u. sich mit anderen Kommunikationsformen auseinandersetzen – …
– Eigene Lebensinteressen wahrnehmen u. sie entsprechend realisieren – Eigene Lernprozesse gestalten, um die Effizienz u. Zufriedenheit des Lernens zu steigern – …
Methodenkompetenz
kommunikative Kompetenz
Lernkompetenz
95 5.4 · Die vier wesentlichen Bestandteile des Lernfeldkonzeptes
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Didaktische Bezugspunkte sind Situationen, die für die Berufsausübung bedeutsam sind (Lernen für Handeln). 4 Den Ausgangspunkt des Lernens bilden Handlungen, möglichst selbst ausgeführt oder aber gedanklich nachvollzogen (Lernen durch Handeln). 4 Handlungen müssen von den Lernenden möglichst selbstständig geplant, durchgeführt überprüft, ggf. korrigiert und schließlich bewertet werden. 4 Handlungen sollten ein ganzheitliches Erfassen der beruflichen Wirklichkeit fördern, z. B. technische, sicherheitstechnische, ökonomische, rechtliche, ökologische, soziale Aspekte einbeziehen. 4 Handlungen müssen in die Erfahrungen der Lernenden integriert und in Bezug auf ihre gesellschaftlichen Auswirkungen reflektiert werden. 4 Handlungen sollen auch soziale Prozesse, z. B. der Interessenerklärung oder der Konfliktbewältigung, einbeziehen (KMK 2000, S. 29).
Ihrer Auffassung nach verschränkt das didaktische Konzept der Handlungsorientierung fach- und handlungssystematische Strukturen. Unterstützt wird diese Forderung durch die »Handlungsorientierte Ausbildung der Ausbilder«, die am 1. November 1998 in Kraft getreten ist (Koch 1998, S. 7). Schütte (1998, S. 91) bezeichnet Handlungsorientierung als ein »Konzept mittlerer Reichweite«, welches von »einem veränderten Verständnis von systematischem und kasuistischem Lehren und Lernen« ausgeht. In der Literatur wird dem Begriff »Handlungsorientierung« allerdings sehr unterschiedliche Bedeutung beigemessen; dies lässt den Begriffswirrwarr verständlicher werden, trägt jedoch nicht zur Klärung der Problematik bei.Die am häufigsten anzutreffende Position der Handlungsorientierung bewegt sich auf der methodisch-didaktischen Ebene. Hierunter verstehen sowohl Theoretiker als auch Praktiker sehr häufig schüleraktivierende Handlungsmuster wie z. B. das Rollenspiel, das Planspiel, die Fallarbeit, die Gruppenarbeit sowie die Projektmethode. Eine weitere sehr häufig anzutreffende Position, durch Söltenfuß
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(1983) veranlasst, stellt die Handlung als zentrale Kategorie dar.
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Handlung, praktische Handlung, Arbeitstätigkeit, praktisches Tun, Arbeitshandlung, etc. – in welcher Variante auch immer, Handlung ist der didaktische Schlüssel, Fragen der Bildungsinhalte, des Curriculums und der praktischen Unterrichtsarbeit effizienter als bisher zu behandeln. Mehr noch, Handlung wird auch zur erkenntnistheoretischen Kategorie (Achtenhagen 1998, S. 652).
Im Folgenden soll versucht werden, einige wichtige Positionen, die mit der Handlungsorientierung verknüpft werden, aufzuzeigen. Laut Czycholl (1999, S. 217 f.) lässt sich das Konzept der Handlungsorientierung auf drei Ebenen konkretisieren. 1. Bildungspolitische Leitbildebene. In den neuge-
ordneten Ausbildungsberufen (erstmals 1987 bei den industriellen Elektro- und Metallberufen) manifestiert sich die Handlungsorientierung in dem Richtziel »Berufliche Handlungskompetenz«, welches in den Ausbildungsordnungen und Rahmenlehrplänen fixiert ist. Die Bewältigung komplexer beruflicher Aufgabenstellungen vollzieht sich über den Dreier-Schritt: Planung, Durchführung und Kontrolle.Damit fand ein Leitbildwechsel in der beruflichen Ausbildung statt. Vereinfacht gesagt hat ein Wandel vom funktionsspezialisierten, nicht selbstständig und abhängig Handelnden zum flexiblen, selbstgesteuerten und selbst entscheidenden Mitarbeiter stattgefunden. 2. Didaktisch-curriculare Ebene. In den Mittelpunkt der Überlegungen wird der handlungsorientierte berufliche Situationsbezug unter Heranziehung des Persönlichkeitsprinzips, des Wissenschaftsprinzips sowie des Situationsprinzips gestellt. Damit ist die Basis für Rahmenrichtlinien gelegt, die sich ein erstes Mal in den Rahmenvereinbarungen von 1991 niederschlagen. Fortgesetzt wird dies in den von der KMK im Jahre 1996 herausgegebenen Handreichungen für die Erarbeitung von Rahmenlehrplänen. Die lernfeldstruk-
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Kapitel 5 · Das Lernfeldkonzept
turierten Lehrpläne orientieren sich dabei an beruflichen Aufgabenstellungen und Handlungsabläufen. Die Hoffnung, die unweigerlich mitschwingt, ist, dass ein ganzheitliches Lernen zukünftig stärker im Vordergrund steht und dass vor allem die Entwicklung von ganzheitlich-handlungsorientierten Prüfungen vorangetrieben wird. Bislang hat sich gezeigt, dass die Bundesländer die Realisierung des Lernfeldkonzeptes unterschiedlich umgesetzt haben. So präferiert Niedersachen die Handlungssystematik (unter Wegfall der Unterrichtsfächer),Baden-Württemberg bleibt bei der Fächerstruktur, wobei sie handlungsorientierte Themen integriert. Neu zu überdenken sind ebenfalls die Aufgaben und Ziele der beiden Lernorte Betrieb und Schule. Czycholl (1999, S. 218) schreibt ihnen folgende Funktionen zu: Wichtig Der Betrieb muss die betriebsindividuellen Begebenheiten mit entsprechenden Theorien des beruflichen Handelns miteinander verknüpfen. Die Berufsschule sollte in Form von authentischen, simulierten und/oder symbolisch repräsentierten Handlungen betriebliche Arbeitsabläufe wissenschaftssystematisch reflektieren, um damit eine curriculare Verbindung zwischen Theorie und Praxis herzustellen.
3. Didaktisch-unterrichtliche Ebene. Hier steht die handlungsorientierte Gestaltung mit dem gesamten Methodenrepertoire für Lehr-Lern-Situationen im Mittelpunkt der Betrachtung. Czycholl (1999, S.218) beschreibt fünf Bestimmungsgrößen,die auf Schelten (1994) zurückgehen: 4 Integrierter Fachraum,damit theoretischer Unterricht und praktische Erprobung zeitnah stattfinden können; 4 komplexe Aufgabenstellungen, die nur auf der Basis eines fächerintegrativen Unterrichts möglich sind; 4 innere Differenzierung, die es Lernenden erlaubt, aufgrund ihrer Leistungsfähigkeiten in Einzelarbeit oder Teams zu lernen; 4 verändertes Rollenverständnis der Lehrenden, die kaum noch nur Wissensvermittler und Be-
werter sind, sondern auch Lernbegleiter, Moderator und Gestalter; 4 handlungssystematisches Vorgehen,das sich an beruflichen Arbeitsaufgaben orientiert, welche hauptsächlich dem Handlungsregulationsschema unterliegen. Je nachdem, auf welcher dieser drei Ebenen das Verständnis bzw. die Zieldimensionen angesiedelt sind, werden andere Wege bzw. Vorgehensweisen verfolgt. Für das Lernfeldkonzept gilt es in Zukunft zu klären, welche dieser vorgestellten Ebenen verwirklicht werden sollen. Ebenso ist für die konkrete Unterrichtsumsetzung außerordentlich wichtig, vorab ein gemeinsames Verständnis von handlungsorientiertem Unterricht zu finden. Das folgende Kap. 6 beschäftigt sich vor allem mit der Frage »Wie kann handlungsorientierter Unterricht geplant, umgesetzt und bewertet werden, wenn es sich bei Lernern um Anfänger ihres eigenen Lernprozesses handelt?«
5.4.3 Fächerintegration
Sollen die Intentionen des Lernfeldkonzeptes ernst genommen werden, d. h.: 4 Auflösung des Fächerbezugs und damit Neustrukturierung der Inhalte, 4 Aufnahme von Handlungssystematik mit integrierter Fachsystematik, 4 Aneignung der Dimensionen beruflicher Handlungskompetenz und 4 Einbezug der Lernerperspektiven bzw. von Erfahrungswissen der Auszubildenden, dann bedeutet dies u. a., Strukturen des Lernens zu schaffen, die berufliches Alltagswissen bildungstheoretisch reflektieren, systematisieren und generieren. In der beruflichen Erstausbildung wird davon ausgegangen, dass die Entwicklung der Handlungskompetenz vor allem durch handlungsorientierte Lernsituationen gefördert wird. Eine wichtige und wesentliche Grundlage sieht man in fächerübergreifenden Unterrichten realisiert. Die Umsetzung dieser Forderung ist jedoch momentan nicht ohne weiteres leistbar. Pätzold (2000, S. 81) sieht eine der Ursachen im »Lehren als Vermitteln von situationsenthobenen Wissenspa-
97 5.4 · Die vier wesentlichen Bestandteile des Lernfeldkonzeptes
keten« begründet.Arnold Schüßler bezeichnet dies als »Erzeugungsdidaktik« (1998, S. 77). Das bestehende Fächersystem in Schulen geht allerdings auf eine lange Tradition zurück. So sind die Fächer an die jeweiligen Bezugswissenschaften angebunden, darüber hinaus stehen sie für Systematik, Überblickswissen, sachlogische Struktur und präzise Begrifflichkeit (Hansis 1996, S. 5). Peterßen (2000, S. 322) sieht in den folgenden drei Kernargumenten die Aufrechterhaltung des gefächerten Unterrichts: nämlich »erstens Heranwachsende zu systematischer Sicht und zweitens zu ebenso systematischer Bewältigung von Welt und Wirklichkeit« zu befähigen und drittens »zur Widerspiegelung des Erkenntnisvorgangs auf sich selbst« anzuleiten. Gegen die Fächerung wird jedoch, nicht nur im Zuge des Lernfeldkonzeptes, in den letzten Jahren immer mehr Kritik laut. Die Bildungskommission NRW (1995, S. 102) konstatiert u. a. folgende Kritik: unkoordiniertes Doppellernen, isolierte Wissensbestände, die nicht zusammengeführt werden, ein Übergewicht abstrakt-kognitiver gegenüber handlungsbezogen-praxisgerechten Zielen und fehlende Offenheit für gesellschaftliche Veränderungen. Der Fachunterricht lässt den Menschen laut Peterßen (2000, S. 323) im wahrsten Sinne des Wortes »im Regen stehen«, wenn es darum geht, komplexe Problem- und Aufgabenstellungen des Lebens zu beantworten bzw.zu lösen.Der Lernende muss sich die einzelnen Versatzstücke des häufig voneinander losgelösten und isolierten Unterrichts wie ein Puzzle zusammensetzen, um es auf die Problembewältigung anzuwenden. Dabei erhält er weder Hilfestellungen noch Rückmeldung. Im Konzept des »fächerübergreifenden Lernens« (was darunter zu verstehen ist, wird an späterer Stelle geklärt) wird eine Möglichkeit gesehen, Teilaspekte des Lernfeldkonzeptes zu realisieren. Dies beinhaltet eine enorme pädagogische Herausforderung an die Lehrer und Lehrerinnen,wenn sie nicht, wie häufig nach ersten Erfahrungsberichten zu beobachten ist, bisherige Inhalte einfach zu einem neuen Fach bündeln, sondern neue interdisziplinäre und organisatorische Strukturen schaffen, die komplexe Frage- und Aufgabenstellungen ganzheitlich bearbeiten lassen. Im Folgenden werden zwei Ansätze des fächerübergreifenden Unterrichts vorgestellt und ein Versuch der Systematisierung unternommen.
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Fächerübergreifender Unterricht im Modellversuch (nach Hüfner 1996) Dieses Modellvorhaben »Fächerübergreifender Unterricht in der Berufsschule« (FügrU) wurde von dem Staatsinstitut für Schulpädagogik und Bildungsforschung 1996 durchgeführt. Hüfner (1996) kommt dabei zu folgenden definitorischen Klärungen (in Kremer 1997, S. 97). Fachverbindender Unterricht
Hier wird ein Thema als Bindeglied bzw. als Strukturierungsprinzip für die einzelnen Fächer gesehen. Die Fächerstruktur und der »herkömmliche Stundenplan« bleiben dabei bestehen, vorausgesetzt wird allerdings eine Zusammenarbeit der Lehrenden, die darin besteht, inhaltliche Aspekte auf der Basis des Themas abzusprechen. Fächerübergreifender Unterricht
Hier werden die Unterrichtsfächer und der Stundenplan aufgelöst. Die Basis für den Lernprozess in einem derartigen Unterricht stellt der Ablauf einer vollständigen Handlung (Aebli 1983) dar. Dies setzt natürlich voraus, dass die beteiligten Lehrenden (mit den spezifischen Inhalten ihrer Fächer) gemeinsam an der Problem- bzw. Aufgabenstellung den Unterricht planen und im Teamteaching unterrichten. Das Ganze erfolgt in einem zeitlich abgesteckten Rahmen. Diese Form des Unterrichts wird auch als fächerübergreifender Unterricht im engeren Sinne bezeichnet. Treffender ist die Bezeichnung Fächerintegration (Anm. d.Verf.).
Fachübergreifender Unterricht (nach Buschfeld 1996) Buschfeld zeigt auf, dass sich hinter dem Begriff »fächerübergreifender Unterricht« eine Fülle von verschiedenen organisatorischen Varianten bzw. Konzepten verbirgt. Er geht von vier Kategorien aus: Thema (stellt die intentionale Ausrichtung eines Inhaltes dar), Fach (bildet eine sinnstiftende Einheit,die mehrere Perspektiven miteinander verschränken kann), Lehrer (als Planer, Entwickler und Gestalter) und noch einmal das Fach (als Planungseinheit).
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Fächer kennzeichnen also zweierlei: Prägende Perspektiven und Planstunden bzw. Stundenpläne. Beide bieten
98
Kapitel 5 · Das Lernfeldkonzept
ziert für die anderen Kollegen und Kolleginnen übernehmen konnten) als Grundlage für ein Teamkonzept, auch für andere Betriebe, genommen und benutzt (Weißbach 2001, S. 31).
einen Rahmen für das Thema, ohne dieses darüber abschließend zu determinieren (Buschfeld 1996, S. 49). . Tabelle 5.3 zeigt, welche Varianten sich mit fol-
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genden Kombinationen (Thema, Fach als Perspektive und Planungseinheit sowie Lehrer) dem Begriff »Fächerübergreifender Unterricht« zuordnen lassen. Die Ausführungen haben deutlich gemacht, dass es kein eindeutiges Verständnis von fächerübergreifenden Konzepten gibt. Was in allen Ansätzen jedoch übereinstimmend implizit gefordert wird,sind organisatorische,curriculare und didaktische Veränderungen, die aber vor allem ein verändertes Lern- und Lehrverständnis voraussetzen. Heimerer u. Schelten (1996, S. 314 ff.) stellen Empfehlungen für Organisation, Stundenpläne, Klassengrößen bzw.Klasseneinteilungen,Lehrereinsatz sowie Baulichkeiten und Ausstattung auf. Für die Umsetzung des Lernfeldkonzeptes bleibt zu überlegen, welche Formen des fächerübergreifenden Unterrichts sinnvoll und hilfreich sein können.Dies bleibt weiteren Modellversuchen vorbehalten, die vor allem die Fächerintegration als Fokus von Evaluationsstudien bestimmen.
5.4.4 Teamarbeit
Die Tradition der Teamarbeit kommt eher aus Nord- und Westeuropa bzw. aus den USA. So hat man in Deutschland lange Zeit die Gruppenarbeit der skandinavischen Automobilindustrie mit ihren Ansätzen »job rotation« und »job enrichment« (wo Arbeiter »fast« alle anfallenden Aufgaben qualifi-
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Ein Team, wenn es diesen Namen verdient und nicht bloß eine zusammengewürfelte Gruppe oder einen zerstrittenen Haufen darstellt, zeichnet sich durch das geordnete und sich ergänzende Zusammenspiel von Mitgliedern mit unterschiedlichen Qualitäten und Kompetenzen aus (Schulz von Thun 1998, S. 64f).
Für die Realisierung des Lernfeldkonzeptes stellt die Teamarbeit der Lehrenden eine wichtige Grundvoraussetzung dar.Teamarbeit erleichtert es, Lernsituationen fächerintegrativ und handlungsorientiert zu unterrichten, so dass Lernende effektiv die Möglichkeit haben,sich unterschiedliche berufliche Kompetenzen anzueignen. Man könnte glauben, dass dies keine besonders große Schwierigkeit darstellt,da in den letzten Jahren der Begriff Team in aller Munde ist. Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass von Teamfähigkeit die Rede ist, ohne genau zu wissen, welche Komplexität sich hinter diesem psychologischen Konstrukt verbirgt. So ergibt eine Gruppe von Menschen nicht zwangsläufig auch ein Team (Bungard 1995, S. 405ff). Deshalb soll die folgende Begriffsklärung dazu beitragen,Voraussetzungen und Merkmale erfolgreicher Teamarbeit zu definieren, damit zukünftige Lehrerteams wissen, auf welche Vor- und Nachteile sie sich einlassen.
. Tabelle 5.3. Varianten fächerübergreifenden Unterrichts (nach Buschfeld 1996, S 49, 58, 60) Einflussfaktoren/Unterrichtsarten
Thema
Fach (Perspektive)
Lehrer
Fach (Planungseinheit)
Fachunterricht
ein
eine
ein
eine
Fächerauflösender Unterricht
ein
mehrere
ein
eine
Gemeinsamer Unterricht
ein
mehrere
mehrere
eine
Fächervernetzender Unterricht
ein
mehrere
mehrere
mehrere
99 5.4 · Die vier wesentlichen Bestandteile des Lernfeldkonzeptes
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Ein Team ist eine aktive Gruppe von Menschen, die sich auf gemeinsame Ziele verpflichtet haben, harmonisch zusammenarbeiten, Freude an der Arbeit haben und hervorragende Leistungen bringen (Francis u.Young 1989, S. 10).
Dabei kann sich ein Team kontinuierlich oder punktuell konstituiert haben. Schulz von Thun (1998, S. 65) unterscheidet zwischen Teambildung und Teamentwicklung. Die Teambildung bezieht sich meist auf eine konkrete Situation bzw. Aufgabe. Hier übernimmt sehr häufig die Leitung das »Zusammenbringen der unterschiedlichen Mitglieder«.Die Teamentwicklung ist viel weitreichender und komplexer als die Teambildung. Hierzu gehören vor allem: Kommunikations- und Teamregeln, Kristallisierung des Wir-Gefühls bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung des Ich-Gefühls, Sanktionsmöglichkeiten usw. (Schulz von Thun 1998, S. 65).
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Teamentwicklung stellt somit eine (herausragende) Maßnahme der Organisationsentwicklung auf Gruppenebene dar (Hoss 1998, S. 39).
Wichtig ist bei der Bildung,aber viel stärker bei der Entwicklung eines Teams, dass die Mitglieder aus unterschiedlichen Hierarchieebenen rekrutiert werden, wenn es die Lösung eines Problems erforderlich macht. Die vertikalen Kommunikationsund Anweisungsstrukturen haben die hierarchischen Strukturen abgelöst. Denn ein Team profitiert von den unterschiedlichen Erfahrungen und Kompetenzen seiner Mitglieder, wobei eine Größe von fünf bis acht Personen optimal ist (Ratzki 2000, S.6 ff.).Was Teamarbeit ausmacht,lässt sich am besten durch ein Zitat von Henry Ford wiedergeben.
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Zusammenkommen ist der Anfang. Zusammenarbeiten ist der Erfolg.
Damit es dazu kommt, sind folgende Voraussetzungen zu schaffen bzw.wichtige Schritte zu klären (Schneider u. Sabel 1998, S. 14 ff.): 4 Das Team formuliert gemeinsame Ziele. 4 Das Team vergibt konkrete Arbeitsaufgaben.
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4 Im Team werden genaue Absprachen über die Vorgehensweise getroffen. 4 Das Team entwickelt eigene Regeln für den Umgang miteinander. 4 Es finden regelmäßige Teamsitzungen (-konferenzen) statt,die dem eigenen Procedere unterliegen. 4 Die Teammitglieder kennen ihre Stärken und Schwächen und unterstützen sich dabei gegenseitig. 4 Die Teammitglieder haben Freude und Spaß an der gemeinsamen Arbeit. 4 Die Teammitglieder entwickeln gemeinsam ihre Teamfähigkeit. Teamteaching ist eine besondere Form der Teamarbeit, indem zwei oder mehrere Lehrende eine Lerngruppe gemeinsam bzw. gleichzeitig unterrichten (Buschfeld 1999, S. 367). Voraussetzung dafür ist, dass der Unterricht gemeinsam geplant und evaluiert wird. Lehrende finden sich für die Unterrichtsform »Teamteaching« aufgrund unterschiedlicher Aspekte zusammen.Dazu gehören z.B. bildungsgangbezogene Gründe ebenso wie fächerintegrative Lernsituationen oder Einheiten, in denen eine starke Theorie-Praxisvernetzung wichtig ist. Innerhalb der Umsetzung und Implementierung des Lernfeldkonzeptes erhalten die Teams Kompetenzen und Entscheidungsbefugnisse, die erheblich über ihre bisherigen Aufgaben hinausgehen. So entwickeln sie z. B. schulinterne Curricula, erstellen Stundenpläne, organisieren Konferenzen und Fachgruppensitzungen, entwickeln Evaluationsinstrumente für die Selbst- und Fremdevaluation und vieles weitere mehr. Mit dieser größeren Selbstorganisation geht natürlich auch eine größere Verantwortung für sich,für das Team,für die Lernenden als auch für die gesamte Schule einher. Damit die Lehrenden allmählich in diese veränderten Rollen hineinwachsen können, muss eine »lernende Schule« dafür Sorge tragen, dass die Teamentwicklung sukzessive in ein Kollegium eingeführt wird und auch Teamverweigerer ernst genommen werden. Nicht zuletzt ist Teamarbeit ein wichtiger Bestandteil des veränderten Arbeitslebens geworden. Teamarbeit stellt in der jetzigen Arbeitswelt eine zwingende Notwendigkeit dar, ja sie ist überlebensnotwendig geworden,da die vielfältigen Pro-
100
Kapitel 5 · Das Lernfeldkonzept
zesse in der Berufswelt nicht mehr von Einzelpersonen und ihren Kompetenzen bewältigt werden können, sondern ein multiprofessionelles Team verlangen, das all seine vielfältigen Möglichkeiten und Ressourcen zur Lösung der Aufgaben- und Problemstellungen einsetzt. Genau auf diese Anforderungen müssen die Berufsschule und hier vor allem das Lernfeldkonzept vorbereiten.
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5.5
Der Weg vom lernfeldstrukturierten Rahmenlehrplan bis zur didaktischen Umsetzung der Lernsituationen
Der lernfeldstrukturierte Rahmenlehrplan stellt an alle in der Schule Tätigen wie Schulleitungen, Koordinatoren und Lehrende Anforderungen an eine höhere Handlungskompetenz, als dies bislang der Fall war. Beschränkte sich vor dem Lernfeldkonzept die pädagogische Kompetenz von Lehrenden häufig auf die Unterrichtsplanung, -durchführung und -bewertung, so kommen heute neue attraktive und verantwortungsvolle, aber auch belastende Aufgaben auf die Lehrenden zu. Hierzu gehören unter anderem: 4 erhöhter Arbeitsaufwand mit gleichzeitiger Verantwortung für curriculare Arbeit (z.B.Entwicklung eines Schulcurriculums auf der Basis des Rahmenlehrplans); 4 erhöhter Arbeitsaufwand mit gleichzeitiger Verantwortung für organisatorische und strukturelle Entwicklung von neuen Anordnungen und Gefügen im Schulalltag; 4 erhöhte Fachkompetenz der Lehrenden,die neben der Gestaltung von Lern- und Lehrarrangements sowohl die beruflichen und betrieblichen Arbeitsprozesse erfassen und analysieren als auch die fachsystematischen Inhalte mit dem Bildungsauftrag der Schule vernetzen müssen; 4 erhöhte Fachkompetenz der Lehrenden, die nicht nur gegenwärtige Handlungs- und Tätigkeitsfelder des jeweiligen Berufes erfassen,sondern zukunftsorientiert und perspektivisch neue Handlungsfelder diagnostizieren;
4 erhöhte Teamfähigkeit, um den gemeinsam geplanten Lernsituationen mit dem Anspruch der Fächerintegration, dem Teamteaching und der konstruktiven Weiterentwicklung von Lernsituationen gerecht zu werden; 4 erhöhter Arbeitsaufwand in Bezug auf die Lernortkooperation, um das gemeinsame Ziel der Handlungskompetenz besser über betriebliche und schulische Lernsituationen abzustimmen. . Abbildung 5.6 weist die vielfältigen Handlungen
und damit verbundenen Kompetenzen sowohl der Curriculumentwickler als auch der Lehrenden in der Schule aus. Da sich die Implementierung des Lernfeldkonzeptes auf verschiedenen Ebenen bewegt, erfolgt eine vertikale Betrachtung auf drei Ebenen: Die Makroebene (Lehrplanentwicklung und -gestaltung), die Mesoebene (Schulorganisation) und die Mikroebene (Unterrichtsgestaltung und -umsetzung). In der Horizontalen sind die Marginalien: Entscheidungs-, Realisierungs- und Produktebene angeordnet, die auf jeder Ebene entsprechend der jeweiligen Zielformulierung inhaltlich gefüllt werden. Des Weiteren befindet sich auf jeder Ebene ein neuralgischer bzw. ungeklärter Punkt,der exemplarisch für noch nicht gelöste Aufgaben innerhalb des Lernfeldkonzeptes steht; er ist durch einen Blitz gekennzeichnet. Die Makroebene, mit ihren beruflichen, individuellen und gesellschaftlichen Handlungsfeldern, stellt den Reflexionsgegenstand für die eigentliche Curriculumarbeit des Lernfeldkonzeptes dar. Bestimmt wird diese analytische Aufgabe maßgeblich durch den Bildungsauftrag der Berufsschule.Dieser Filter sorgt dafür,dass Lernfelder nicht spiegelbildliche Abbildungen der betrieblichen Handlungsfelder – bzw. Arbeits- und Betriebsabläufe – werden. Die wesentliche Aufgabe der Curriculumentwickler besteht darin, aus den zuvor reflektierten, analysierten und definierten Handlungsfeldern (berufliche, individuelle und gesellschaftliche Lebenswelten) Lernfelder zu rekonstruieren, so dass komplexe Aufgaben- und Problemstellungen auf der Basis des Bildungsauftrages abgeleitet werden können. Diese erkenntnisformulierten Produkte finden sich in Form von Lernfeldern in den Rahmenlehrplänen wieder. Lernfelder stellen somit komplexe Aufga-
101 5.5 · Der Weg vom lernfeldstrukturierten Rahmenlehrplan
. Abb. 5.6. Berufliche Handlungsfelder als Ausgangs- und Endpunkt didaktischer Konstruktion
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102
5
Kapitel 5 · Das Lernfeldkonzept
ben- und Problemstellungen dar, die durch Zieldimensionen in Form von Kompetenzen beschrieben werden und fächerintegrative Inhalte beinhalten. Das Problem, das sich auf dieser Ebene zeigt, ist, dass keine Konstruktionsprinzipien bzw.Qualitätskriterien für die Herleitung bzw. Rekonstruktion der Lernfelder aus Handlungsfeldern vorliegen bzw. thematisiert werden. Hierin liegt meiner Ansicht nach eines der größten Probleme begründet, die die Lernfeldimplementierung nicht zu dem Erfolg führen, den sie verdient hat. Die folgende Implementierungsphase, die Mesoebene, beschäftigt sich hauptsächlich damit, in der Schule vor Ort, per Bildungsgangkonferenzen, die schulinternen,curricularen und schulorganisatorischen Veränderungen zu entwickeln (selbstverständlich unter Mitbeteiligung der Lehrerteams). Aufgrund der vorgegebenen Lernfelder sind die Schulen bzw. die Bildungsgangkonferenzen und letztendlich die Lehrenden aufgefordert, aus den vorgegebenen Lernfeldern schulinterne Curricula zu entwickeln. Selbstredend kann dies nur im Kontext der Lernortkooperation der beiden Lernorte Betrieb und Schule stattfinden. Beide Kooperationspartner müssen gemeinsam Handlungskompetenzen definieren, die aufgrund der vorliegenden Lernfelder zu bestimmen sind und den originären Lernorten Betrieb und Schule zuzuordnen sind. Derartige curriculare Arbeit basiert auf entsprechenden Reflexionen und Rekonstruktionen der Lernfelder aus den vorgegebenen Handlungsfeldern.Erst wenn diese Klärung ausgehandelt wurde, ist es möglich, Lernsituationen für den schulischen Bereich zu bestimmen. Bei der curricularen Gestaltung der Lernsituationen ist zu berücksichtigen,dass handlungssystematische von lernsubjektsystematischen und fachsystematischen Lernsituationen unterschieden werden. Auf der Mesoebene zeichnen sich ähnliche Problemfelder wie auf der Makroebene ab. Es existieren wenige oder gar keine Hinweise bzw. Hilfestellungen für eine wissenschaftlich fundierte Empfehlung im Hinblick auf die Reflexion und Rekonstruktion (für beide Lernorte: Schule und Betrieb) von Lernfeldern aus Handlungsfeldern. Die Reflexion und Rekonstruktion von Lernfeldern stellt ein bis heute durchgängiges immanentes Problem der Lernfeldkonzeption dar.
Die nachfolgende und abschließende Mikroebene ist vor allem der unterrichtlichen Umsetzung gewidmet. Der Verantwortungsbereich liegt hauptsächlich bei dem Lehrerteam. Aufgrund der hergeleiteten Handlungskompetenz und der ausgewählten Lernsituation kann die eigentliche Ausprägung im didaktischen Sinne vorgenommen werden. Lehrende konstruieren aufgrund der vorgegebenen Lernsituation einen komplexen Fall bzw. ein authentisches Problem. Sie versuchen, alle relevanten Wissensstrukturen (implizites und explizites Wissen) in die jeweilige Lernsituation zu integrieren. Die besonders hohe Herausforderung der Lehrenden besteht darin, eine Reorganisation der ehemaligen Fachinhalte vorzunehmen. Um die Handlungssystematik mit der Fachsystematik zu verschränken, ist es erforderlich, die jeweilige Thematik nach den zentralen Wissensstrukturen aufzubereiten. Hier spielt vor allem die Ermöglichung von implizitem und explizitem Wissen eine Rolle. Lehrende müssen dafür Sorge tragen, dass Lernende die Möglichkeit erhalten,ihr erworbenes Wissen zu dekontextualisieren, d. h. den Fall oder die komplexe Aufgaben- bzw. Problemstellung mit entsprechenden Strategien zu lösen und vor allem für neue und andere berufliche Zusammenhänge zu generalisieren.Durch den Transfer in die eigentliche berufliche, individuelle und gesellschaftliche Realität ist es möglich, einen kritischen Abgleich zwischen dem Leitziel der Handlungskompetenz und dem wirklichen Handeln in Beruf und Alltag vorzunehmen.
5.6
Probleme der verschiedenen Implementierungsebenen
Die Implementierung des Lernfeldkonzeptes findet – wie bereits erwähnt – auf drei verschiedenen organisatorischen Ebenen statt, wobei sich jede Ebene mit anderen Schwerpunkten und Problemen konfrontiert sieht. Die Makroebene hat sich hauptsächlich mit der Lehrplanentwicklung und -gestaltung auseinander zu setzen,die Mesoebene richtet ihr Augenmerk auf die Schulorganisation und die letzte, die Mikroebene, sieht ihre Arbeit in der unterrichtlichen Umsetzung (Kremer u. Sloane 2001, S. 21 ff., Kremer u.
103 5.6 · Probleme der verschiedenen Implementierungsebenen
Sloane 2000, S. 75 ff.). Kremer u. Sloane (2001, S. 24 ff.) gehen aufgrund von Erfahrungen innerhalb des Modellversuches NELE (Neue Unterrichtsstrukturen und Lernkonzepte durch berufliches Lernen in Lernfeldern der Länder Bayern und Hessen) davon aus, dass sich die Probleme innerhalb der drei Ebenen hauptsächlich auf fünf zentrale Problemfelder beschränken. Zu ähnlichen Ergebnissen ist das Modellvorhaben SELUBA (Steigerung der Effizienz neuer Lernkonzepte und Unterrichtsmethoden in der dualen Berufsausbildung), ein Modellversuchsverbund der Länder Nordrhein-Westfalen und Sachsen-Anhalt,gekommen (Bader u. Müller 2002, S. 71 ff.). Ganz entscheidend ist die Einstellung und Haltung der Lehrkraft, denn sie bestimmt maßgeblich den Erfolg der Implementierung des Lernfeldkonzeptes in die Schule. In der Person, also der Lehrkraft, sehen die beiden Autoren die größten Probleme, die sich in Bezug auf ein verändertes Selbstverständnis der bisherigen Aufgaben und Möglichkeiten ergeben. Innerhalb der Schulorganisation müssen sich alle Beteiligten von den bisherigen starren Rahmenbedingungen verabschieden und diese gegen Strukturen »lernender Organisationen« (Senge 1996) einlösen. Das bisherige, meist sehr stark auf Fachsystematik basierende Curriculum, welches damit eher erkenntnisorientiert ausgerichtet ist, (Pahl u. Schütte 2001, S. 49) muss von hochkompetenten Lehrenden in Tätigkeits- und Handlungsfelder reorganisiert werden. Ein bislang noch nicht geklärtes Problem stellen die Prüfungsmodalitäten dar. Hier stehen sich Lernfeldintentionen und Prüfungsprocedere diametral entgegen.Eine letzte und nicht zu vernachlässigende Tatsache stellt der Lernende bzw.der Schüler selbst dar.Mangelnde Kompetenzen im Bereich der Methoden-,Lern- und Personalkompetenz behindern bzw.erschweren häufig die eigenständige Bearbeitung von berufsbezogenen Aufgabenstellungen.Nicht zuletzt sind es gerade die Schüler selbst, die einen stärker auf Frontalunterricht basierten Unterricht und damit ein passives Lernen vehement einfordern. Im Folgenden sollen kurz die einzelnen Ebenen des Implementierungsprozesses beschrieben werden. Auf der Makroebene erstellt die KMK (Kultusministerkonferenz) die Rahmenlehrpläne für alle
5
Ausbildungsberufe, die nach dem Berufsbildungsgesetz beziehungsweise nach der Handwerksordnung geregelt sind (Hermann 2001, S. 2 ff.). Damit regeln die Handreichungen und die für den jeweiligen Ausbildungsberuf vorgesehenen Rahmenlehrpläne den berufsbezogenen Unterricht für die Berufsschule. Für die betriebliche Ausbildung hingegen entwickeln Sozialparteien und der Bund Ausbildungsordnungen und Ausbildungsrahmenlehrpläne. Die aufeinander abgestimmten Ergebnisse finden sich in den Handreichungen der KMK wieder (KMK 15.09.2000, S. 24). Auf dieser Makroebene stehen vor allem Fragen nach der curricularen Lehrplanentwicklung und -gestaltung im Vordergrund.Momentan lassen sich folgende Probleme identifizieren (Kuklinski u. Wehrmeister 1999, S. 48 ff., Hahne 2000, S. 262 f., Kremer u. Sloane 2001, S. 21 ff.): 4 Für die Umsetzung benötigen die Schulen eine handlungslogische Struktur bzw. eine inhaltliche Differenzierung. Weder der Umfang noch die Vorgehensweise sind geklärt. 4 Bislang liegen keine Qualitätsstandards für lernfeldstrukturierte Rahmenlehrpläne vor. 4 Des Weiteren ist nicht offen gelegt, wer wie Lernfelder aus Handlungsfeldern konstruiert. 4 Das Verhältnis und die Integration von beruflichen Handlungssituationen und einer entsprechenden Fachsystematik sind nicht geklärt. 4 Bislang fehlt es an gesicherten instrumentellen Methoden,die eine Analyse der beruflichen Arbeitsprozesse belegen. 4 Prüfungen unterliegen bislang noch anderen Prinzipen, wie z. B. Multiple-Choice-Verfahren und folgen landeseinheitlichen Regelungen. Damit sind sie kontraproduktiv gegenüber dem Lernfeldkonzept. Die Mesoebene hingegen sieht sich hauptsächlich mit der Schulorganisation und Schulentwicklung konfrontiert. Dabei stehen Fragen der Implementierung von Bildungsgangkonferenzen ebenso im Mittelpunkt wie Fragen der Lernortkooperation, die sich mit der Abstimmung von schulischen und betrieblichen Lernsituationen beschäftigen,um gemeinsam das Ziel der beruflichen Handlungsfähigkeit zu erzielen (Kremer u. Sloane 2001, S. 22).
104
5
Kapitel 5 · Das Lernfeldkonzept
Bei der Lehrplananpassung in den einzelnen Bundesländern im berufsbildenden Bereich haben sich vor allem zwei Modelle bewährt (Schopf 2001, S. 79 ff.). Das Modell der Bündelung wird von den meisten Ländern favorisiert. Hier werden im Lernbereich I (berufsbezogene Fächer) für alle Lernfelder drei bis vier neue Fächer entworfen, die sich aus den arbeitsprozessbezogenen Bedingungen des jeweiligen Berufes ableiten und somit eine übergeordnete Funktion haben. Der Lernbereich II (sog. allgemeinbildende Fächer) bleibt mit seinen wissenschaftssystematisch orientierten Fächern (z. B. Deutsch,Politik) erhalten.Die Erleichterung liegt in dem vereinfachten Schreiben von Zeugnissen. Dieses Modell wird jedoch von dem Modell der Vereinigung um Wesentliches erweitert. Es werden beide Lernbereiche aufgehoben und insgesamt vier bis sechs neue Fächer gebildet. Hier findet eine Integration von wissenschaftssystematischen Inhalten in arbeitsprozessbezogene Lernfelder statt. Es wird deutlich,dass sich eine Verlagerung der bisherigen traditionellen Tätigkeiten eines Lehrers bzw.einer Lehrerin in Richtung curricularer Arbeit abzeichnet. Da Lehrer und Lehrerinnen bislang dafür nicht ausgebildet sind, weder im Studium noch in der zweiten Phase der Lehrerausbildung, müssen sie eine entsprechende Befähigung und Anleitung sowie Begleitung durch geeignete Einrichtungen wie z.B.Lehrerfortbildungsinstitute erhalten.Außerdem muss gewährleistet sein, dass für derartige neue Aufgaben auch geeignete Freiräume geschaffen werden (Hahne 2000, S. 262 f.). Die Mikroebene widmet sich ausschließlich der konkreten Unterrichtsumsetzung. Hier geht es um die Gestaltung von handlungsorientierten Lernsituationen, die es dem Lernenden ermöglichen, selbstgesteuert und aktiv unter Zuhilfenahme von bestimmten Methoden den eigenen Lernprozess nicht nur zu planen, sondern auch effektiv in Arbeitsgruppen durchzuführen und anschließend zu evaluieren, so dass für neue Lernprozesse entsprechende Erkenntnisse und Konsequenzen gezogen werden. Zu derartigen Gestaltungsaufgaben gehören die Berücksichtigung der Fächerintegration, die Realisierung der Teamarbeit und die Ausformulierung von Teilkompetenzen für die Lern- bzw.
Arbeitssituationen.Kremer u.Sloane (2000,S.81 f.) nennen folgende Merkmale zur Gestaltung von Lehr-/Lernarrangements: 4 Fälle, Problem- oder Aufgabenstellungen aus dem unmittelbaren Lebensraum der Auszubildenden (beruflicher, gesellschaftlicher und/ oder privater Bereich) werden in den Mittelpunkt des Lerngeschehens gesetzt. Durch die kasuistische Vorgehensweise verspricht man sich eine größere Affinität zu den subjektiven Vorerfahrungen der Lernenden. 4 Die unterschiedlichen Erfahrungsräume, die verschiedenartigen Wissensstrukturen und die kontrovers gemachten Lernerfahrungen der Lernenden und letztendlich auch der Lehrenden sind Ausgangspunkt für das gemeinsame Lernen. Die Lehrenden machen sich diese Individualisierungsprozesse zum Ausgangspunkt ihrer Planung. 4 Es liegt in der Eigenverantwortung der Lehrerinnen und Lehrer, welche wissenschaftlichen Erkenntnisse, Inhalte und Systematiken sie in die fallbezogene Arbeit integrieren. 4 Sich als Subjekt in dem Lernprozess zu sehen, eine kritische Distanz zu sich und seinen Fähigkeiten zu erhalten, aber auch das Vorgehen in einer Arbeitsgruppe kritisch zu reflektieren, sind wichtige Ziele metakognitiver Kommunikation. Dies benötigt Zeit und muss von den Lehrenden entsprechend berücksichtigt und angeleitet werden. Leider liegen für den konkreten Unterricht, aber vor allem für die einzelnen Ausbildungsberufe noch zu wenige pragmatische Unterrichtshilfen wie z. B. Unterrichtsmaterialien, Unterrichtsentwürfe und Erfahrungsberichte über die durchgeführten Lernsituationen vor (Zöllner 1999, S. 156). Hier erscheint es sinnvoll, durch geeignete Netzwerke Erfahrungsberichte und erprobte Unterrichtsmaterialien ins Netz zu stellen, die dann allen Unterrichtskräften zur Verfügung stehen. Inwieweit sich einzelne Bundesländer schon mit der veränderten curricularen Struktur auf der Grundlage der momentan vorliegenden APO (lernfeldstrukturierte Ausbildung) für die Altenpflegeausbildung auseinander gesetzt haben, kann aus
105 5.6 · Probleme der verschiedenen Implementierungsebenen
Platzgründen hier nicht dargestellt werden. Es ist jedoch möglich, den aktuellen Stand der Entwicklung auf den verschiedenen Umsetzungsebenen für die Altenpflegeausbildung nachzulesen (Schneider 2001, S. 2–11).
Zusammenfassung Das Lernfeldkonzept ist seit den Handreichungen der KMK (1996 und 1999), vor allem im berufsbildenden Bereich, in aller Munde.Die Einführung lernfeldstrukturierter Curricula hat in den Berufsschulen zu erheblichen persönlichen, strukturellen und organisatorischen Veränderungen beigetragen, die einerseits positiv bewertet wurden, andererseits aber auch zu Unsicherheiten und Problemen geführt haben. In diesem Aufsatz werden die Gründe für die Entstehung des Lernfeldkonzeptes arbeitsund berufspolitisch aufgezeigt und die sich daraus ergebenden Konsequenzen für die Berufsausbildung abgeleitet. Bisherige Schwachstellen, die durchgängig für alle Berufsausbildungen konstatiert werden, finden sich in einer Auflistung (s. unter 5.1.3) wieder,damit der Perspektivenwechsel, der durch das Lernfeldkonzept eingeleitet wurde, nachvollzogen werden kann. Um die Grundgedanken des Lernfeldkonzeptes zu verorten, wird ein Verständnis des Grundvokabulars gelegt. Besonderes Augenmerk erhalten die vier Säulen des Lernfeldkonzeptes: Handlungskompetenz, Handlungsorientierter Unterricht, Fächerintegration und Teamarbeit. Der abschließende Teil des Aufsatzes widmet sich den verschiedenen Implementierungsebenen (Makro-, Meso- und Mikroebene) des Lernfeldkonzeptes und richtet den Fokus dabei vor allem auf die Ziele und Erwartungen, die aus verschiedener Sicht formuliert werden, aber auch auf die vielfältigen Probleme, die zum Teil noch ungelöst sind.
5
3 Methodische Vorschläge für die Seminargestaltung In den . Tabellen 5.4 bis 5.8 sind Vorschläge für Ziele, Handlungsschritte, Methoden und Medien nach Unterrichtsphasen geordnet dargestellt. Leitfragen zur Überprüfung von Lernsituationen
4 1. Stellt die Lernsituation eine vollständige Handlung dar? 4 2. Ist die Lernsituation berufsorientiert? 4 3. Welche Kompetenzen werden in dieser Lernsituation besonders gefördert? 4 4. Sind die zu fördernden Kompetenzen relevant für das Handlungsfeld? 4 5. Wird die Berufsrealität ausreichend widergespiegelt? 4 6. Welche fächerintegrativen Inhalte gehören in den Erklärungszusammenhang der Lernsituation? 4 7. Ist die Aufgaben- und Problemstellung der Lernsituation ausreichend komplex? 4 8. Ist der zeitliche Umfang der Lernsituation angemessen? 4 9. Bietet die Lernsituation dem Lerner Identifikationsmöglichkeiten? 4 10. Welche berufsspezifischen Methoden kommen in der Lernsituation zum Tragen? 4 11. Ist die Lernsituation offen für Veränderungen und Ergänzungen? 4 12. In welcher Weise können regionalspezifische Besonderheiten berücksichtigt werden? 4 13. Repräsentiert die Lernsituation das Typische des jeweiligen Tätigkeitsfeldes? (Embacher u. Gravert 2000, Bader 1998 in Schneider et al. 2001, S. 30).
3 Empfehlungen zum Weiterlernen Im Folgenden werden einige Hinweise gegeben, welche Bücher, Aufsätze sowie Unterrichtsentwürfe für ein vertieftes Studium des Lernfeldkonzeptes hilfreich sind.
106
Kapitel 5 · Das Lernfeldkonzept
. Tabelle 5.4. Einstiegsphase Einstiegsphase
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Ziele (Sicht der TN und der Lehrenden)
Handlungsschritte: Lehrender
Handlungsschritte: Teilnehmer und Teilnehmerinnen
Methoden
Medien
Die Leitung erhält Kenntnisse über den Zugang (Vorwissen) der einzelnen TN
Welche Vorkenntnisse bzw.Vorerfahrungen besitzen Sie in Hinblick auf das Lernfeldkonzept?
TN erhalten einen Klebepunkt und punkten entsprechend ihrer Vorkenntnisse auf den vier vorgegebenen Skalen
– Einpunktabfrage
– Vier Moderationskarten mit folgenden Kategorien beschriften (sehr viel, viel, etwas, gar nicht) – Klebepunkte
An den eigenen Erfahrungen der TN ansetzen, um einen Bezug zur Entstehung des Lernfeldkonzeptes herzustellen
Wie haben Sie Ihre eigene Pflegeausbildung erlebt? Erinnern Sie sich an positive wie auch verbesserungswürdige Aspekte! (Augenmerk auf schulische Ausbildung)
TN reflektieren ihre eigene Pflegeausbildung, halten ihre Erinnerungen schriftlich auf Karten fest
– Kartenabfrage (jeweils zwei Karten)
– Grüne Karten: positive Aspekte – Blaue Karten: Verbesserungswürdige Aspekte
. Tabelle 5.5. Erarbeitungsphase I Erarbeitungsphase I Ziele (Sicht der TN und der Lehrenden)
Handlungsschritte: Lehrender
Handlungsschritte: Teilnehmer und Teilnehmerinnen
Methoden
Medien
Ein vertieftes Verständnis des Lernfeldkonzeptes erhalten
Den TN zur Erarbeitung Texte geben über: Handlungs-,Tätigkeitsund Lernfelder, Lernsituation, Handlungskompetenz, handlungsorientierter Unterricht, Fächerintegration, Teamarbeit usw.
TN lesen sich in EA in die Texte ein. Sie bilden Gruppen, schreiben die einzelnen Begriffe auf Moderationskarten und finden in der GA eine gemeinsame kognitive Struktur. Die Karten werden auf Metaplanpapier aufgeklebt,Verbindungslinien ziehen, Begriffe evtl. doppeln und eine Überschrift formulieren.
Einzelarbeit (EA)
– – – – – – –
Einen subjektiven, mentalen Zugang zu der Thematik eröffnen
In GA die Begriffe in eine kognitive Struktur legen, aufkleben und in ein Rahmenkonzept einbinden Der Graphik eine Überschrift geben Diskussionsleitung übernehmen, um die Ergebnisse zu verorten Hinweis: Es gibt weder richtige noch falsche Ergebnisse, sondern gruppenspezifische Produkte.
Die Produkte werden von den einzelnen Gruppen vorgestellt
Arbeitsgleiche Gruppenarbeit (aGA) Strukturlegeplan
Texte Moderationskarten Stifte Metaplanpapier Moderationswände Nadeln Klebestifte
107 5.6 · Probleme der verschiedenen Implementierungsebenen
5
. Tabelle 5.6. Erarbeitungsphase II Erarbeitungsphase II Ziele (Sicht der TN und der Lehrenden)
Handlungsschritte: Lehrender
Handlungsschritte: Teilnehmer und Teilnehmerinnen
Methoden
Medien
Bisherige Erkenntnisse anwenden und z.T. vertiefen
Beurteilen Sie folgende Lernsituation: »Pflege alter Menschen mit eingeschränkter Funktion von Sinnesorganen«.
TN besorgen sich über das Internet: http://www.nibis.ni. schule.de/haus/dez3
– Internetbenutzung – aGA – Präsentation
– PC mit Internetanschluss – Folien/Folienstifte
Einen unterrichtspraktischen Bezug erhalten
Benutzen Sie dazu die unten aufgeführten Leitfragen.
Materialien zu Lernfeldern. Sie greifen die auf Seite 17 dargestellte Lernsituation für die Berufsfachschule Altenpflege (Niedersachsen) heraus. In Gruppenarbeit beurteilen die TN anhand der Leitfragen die vorliegende Lernsituation. Ihre Ergebnisse halten sie schriftlich fest und stellen sie dem Plenum vor.
. Tabelle 5.7. Erarbeitungsphase III Erarbeitungsphase III Ziele (Sicht der TN und der Lehrenden)
Handlungsschritte: Lehrender
Handlungsschritte: Teilnehmer und Teilnehmerinnen
Methoden
Medien
Sich des Spannungsfeldes zwischen theoretischen Erfordernissen und praktischen Realisierungsmöglichkeiten bewusst werden
Welche Chancen bzw. Probleme/Risiken sehen Sie bei der Umsetzung des Lernfeldkonzeptes? – Für die Lehrenden, – für die Lehrerteams, – für die Auszubildenden, – und für die Institution Schule
Anhand des Aufsatzes können direkt und indirekt Chancen und Risiken abgeleitet werden.
– aGA – Präsentation
– Text (Aufsatz) – Moderationskarten (in vier Farben) – Vorgefertigte Wolken mit den Begriffen: Chancen und Probleme – Stifte – Nadeln – Moderationswände
Die TN erhalten Karteikarten in vier verschiedenen Farben. In aGA erarbeiten die TN für die vier Aspekte jeweils Chancen und Probleme. (Pro Aspekt sollten nicht mehr als drei Karten geschrieben werden). Die Ergebnisse werden dem Plenum vorgestellt.
108
Kapitel 5 · Das Lernfeldkonzept
. Tabelle 5.8. Auswertungsphase Auswertungsphase
5
Ziele (Sicht der TN und der Lehrenden)
Handlungsschritte: Lehrender
Handlungsschritte: Teilnehmer und Teilnehmerinnen
Methoden
Medien
Eine persönliche Haltung zum Lernfeldkonzept entwickeln und diese kommunizieren
Wie würden Sie sich in Bezug zum Lernfeld verorten?
Auf dem Boden ist ein Kreppband geklebt, an dessen einem Ende sich ein befindet, an dem anderen Ende ein .
– Selbstdarstellung und Selbstreflexion
– Kreppband – 2 Smilies /
Die TN nehmen entsprechend der Fragestellung auf der geraden Linie (mit ihrem Körper) eine Position ein. Jeder begründet nun, warum er dort steht.
Bücher Bader R, Müller M (2002) Vom Lernfeld zur Lernsi-
tuation. In: Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik. Bd 98, Heft 1: 71–85 Hierbei handelt es sich um einen der ersten Aufsätze, die einen Zwischenbericht über SELUBA (Steigerung der Effizienz neuer Lernkonzepte und Unterrichtsmethoden in der dualen Berufsausbildung), einen Modellversuchsverbund der Länder NRW und Sachsen-Anhalt, veröffentlicht haben. Bader u. Müller kommen aufgrund von systematischen Beobachtungen in Workshops zu unterschiedlichen Typisierungen bei der Transformationsarbeit des Lernfeldkonzeptes in Schulen. Der Aufsatz ermöglicht es Lehrern und Lehrerinnen, sich nach einer vorgegebenen Matrix selbst zu verorten wie auch Anregungen und Empfehlungen für die eigene Implementierung aufzunehmen. Clement U (2002) Lernfelder im ‘richtigen Leben’ – Implementationsstrategie und Realität des Lernfeldkonzeptes. In: Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik. Bd 98, Heft 1: 26–70 Dieser Aufsatz widmet sich zwei Fragestellungen innerhalb der Implementierung des Lernfeldkonzeptes. Der erste – theoretische – Teil stellt unterschiedliche Ansätze zur Erklärung von Innovationshemmnissen an Schulen dar.Der zweite Teil ist ein Erfahrungsbericht, der die Praxiserfahrungen des Schulversuches »Lernfeldkonzeption an gewerblichen Schulen in Baden-Württemberg« nach folgenden Kategorien vorstellt: Akzeptanz, Stun-
dentafel, Curriculare Umsetzung, Wissensvermittlung, Methodische Innovationen und Leistungsbeurteilung. Huisinga R, Lisop I, Speier HD (1999) Lernfeldorientierung. Konstruktion und Unterrichtspraxis. Verlag der Gesellschaft zur Förderung arbeitsorientierter Forschung und Bildung, Frankfurt a. Main Dieses sehr umfangreiche Buch (476 Seiten) beinhaltet sowohl Aufsätze von Autoren und Autorinnen, die das Lernfeldkonzept befürworten als auch solchen, die besondere Gefahren sehen sowie einigen, die den Handreichungen der KMK mehr als skeptisch gegenüber stehen.Ein wichtiges Anliegen der Autorenschaft ist es deshalb, rund um die Problematik der Lernfeldorientierung aufzuklären. Deshalb richtet sich das Buch an alle Betroffenen wie an Akteure, die an der Curriculumentwicklung beteiligt sind, dazu gehören auch die Ministerien und Landesinstitute für Lehrerfort- und -weiterbildung,an Lehrende von tertiären Einrichtungen wie Universitäten, Fachhochschulen und Studienseminaren.Des Weiteren richtet sich das Buch aber auch an alle Lehrerinnen und Lehrer, die mit der praktischen Umsetzung des Lernfeldkonzeptes bislang allein gelassen werden. Lipsmeier A, Pätzold G (2000) Lernfeldorientierung in Theorie und Praxis. Beiheft Nr. 15. Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik herausgegeben von Dubs R, Heid H, Lipsmeier A, Pätzold G. Franz Steiner, Stuttgart
109 5.6 · Probleme der verschiedenen Implementierungsebenen
Dies mit Fug und Recht erste umfangreiche Sammelwerk zum Lernfeldkonzept ist in vier übergeordnete Kapitel eingeteilt. Teil A beschäftigt sich mit Grundsatzfragen zur Lernfeldorientierung. Hier stellen verschiedene Autoren und Autorinnen unterschiedliche theoretische Sichtweisen zum Lernfeldansatz dar. Teil B: Begründung ist schwerpunktmäßig den historischen und theoretischen Wurzeln bzw. Hintergründen gewidmet. Der sich anschießende Teil C: Umsetzung zeigt einerseits Beispiele aus verschiedenen Ausbildungsberufen auf, andererseits werden aber auch erste Erfahrungen aus der Sicht der Lehrenden vorgestellt. Den Abschluss des Buches stellen vier Aufsätze dar, die sich den verschiedenen Stellungnahmen des Lernfeldkonzeptes widmen. Kremer HH u. Sloane PFE (2001) Lernfelder implementieren. Zur Entwicklung und Gestaltung fächer- und lernortübergreifender Lehr-/Lernarrangements im Lernfeldkonzept. Wirtschaftspädagogisches Forum, Bd 10. herausgegeben von Euler D, Sloane FE. Eusl, Paderborn Dieses Buch stellt eine befruchtende Verbindung zwischen anwendungsorientierter Forschung (Modellversuchsverbund NELE zur Implementierung des Lernfeldkonzeptes) und der Grundlagenforschung (Projekt: Fächer- und lernortübergreifender Unterricht, welches im Schwerpunktprogramm »Lehr-/Lernprozesse in der kaufmännischen Erstausbildung« der Deutschen Forschungsgemeinschaft verankert war) dar. Bader R u. Sloane PFE (Hrsg) (2000) Lernen in Lernfeldern. Theoretische Analysen und Gestaltungsansätze zum Lernfeldkonzept. Eusl, Markt Schwaben Dieses Buch von 240 Seiten ist das Ergebnis einer gemeinsamen Tagung der BLK-Modellversuche NELE und SELUBA, welche am 25. und 26. November 1999 in Madgeburg stattfand.Diese Tagung wurde sowohl von Praktikern als auch Wissenschaftlern getragen.Im Mittelpunkt standen vor allem Antworten und Lösungsansätze zu Fragen im Kontext der Implementierung des Lernfeldkonzeptes. Des Weiteren werden in dem Buch Chancen und Probleme im Kontext des Lernfeldkonzeptes vorgestellt, Aussagen zum Verhältnis von beruflichen Handlungsfeldern und wissenschaftlichen Systemen getroffen sowie Aspekte der Gestaltung
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von lernfeldstrukturierten Rahmenlehrplänen vorgestellt. Wer sich einen schnellen Überblick über die Fachtagung verschaffen möchte, sei auf den Aufsatz von Berger und Diehl hingewiesen. Pahl JP (2001) Arbeitsorientierte Lernfelder. Didaktisch-methodische Konzepte für Berufsschulen im Rahmen elektrotechnischer Erstausbildung. Donat, Bremen Die Autoren des Bandes stellen Beiträge zur Entwicklung eines arbeitsorientierten Lernfeldkonzeptes vor. Aus der Erprobung und Evaluation von arbeitsorientierten Lernfeldern werden aus unterschiedlicher Sicht verschiedene Probleme und Ergebnisse zusammengetragen. Das Buch richtet sich vor allem an Studierende und Berufsschullehrer,die sich mit der elektrotechnischen Grund- und Fachbildung an Berufsschulen befassen. Trotzdem kann dieses Buch auch zum vertieften Studium der allgemeinen Problematik mit dem Lernfeldkonzept empfohlen werden. Zeitschriften Berufsbildung (2000) bb-thema: Lernfeld-Konzept. 54 Jhg. Heft 61 Diese allgemein berufspädagogische Zeitschrift griff als eine der ersten Zeitschriften die Thematik des Lernfeldkonzeptes auf und widmete die Heft-Nr. 61 dem Schwerpunktthema »LernfeldKonzept«. Auf 40 Seiten versuchen unterschiedliche Autoren, der Leserschaft sowohl den theoretischen Hintergrund als auch praktische Beispiele aus verschiedenen Ausbildungsberufen näher zu bringen. Ebenso erfolgt eine bildungspolitische Verortung des Lernfeldkonzeptes. Berufsbildung (2001) bb-thema: Umgang mit Lernfeldern – erste Erfahrungen. 55 Jhg. Heft 70 Fast 1 1/2 Jahre später greift diese Fachzeitschrift die Problematik des Lernfeldkonzeptes noch einmal auf,setzt sie allerdings unter einer anderen Fragestellung fort, nämlich: Welche Erfahrungen positiver wie auch negativer Art wurden bislang in den unterschiedlichen Ausbildungsgängen bzw. Schulen gemacht? Den auf fast 30 Seiten dargestellten Erfahrungsberichten verschiedener Lehrerteams in unterschiedlichen Ausbildungsberufen wird eine kurze Zwischenbilanz und Literaturauswahl zur Lernfeldorientierung vorangestellt.
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Kapitel 5 · Das Lernfeldkonzept
Unterricht Pflege (2001) Schwerpunkt: Lernfeldkonzept – Teil 1. 6. Jhg. Heft 1. Prodos, Brake Bei dieser einschlägigen Zeitschrift für Lehrerinnen und Lehrer für Pflegeberufe sowie Pflegepädagogen stehen in der Ausgabe 1/2001 (März 2001) theoretische Grundlagen des Lernfeldkonzeptes im Vordergrund. Besonders hervorstechend sind die vielen graphischen Elemente, die versuchen, die theoretischen Grundlagen anschaulicher zu gestalten und auf die Pflegeausbildung zu transformieren. Des Weiteren wird ein handlungsorientiertes Konzept mit vielfältigen Methoden für die berufliche Ausbildung vorgestellt. Auch wenn für Pflegeschulen (Kranken- und Kinderkrankenpflegeschulen), mit Ausnahme der Berufsfachschulen für Kranken- und Kinderkrankenpflege in Bayern keine Verpflichtungen für die Umsetzung der Lernfeldorientierung existieren, greift diese Zeitschrift das zukunftsweisende Konzept auf. Für die Altenpflegeausbildung zeichnet sich diese Situation anders ab, wenn das Bundesaltenpflegegesetz demnächst verabschiedet wird. Unterricht Pflege (2001) Schwerpunkt: Lernfeldkonzept – Teil 2. 6. Jhg. Heft 2. Prodos, Brake Der Teil 1 des Lernfeldkonzeptes (Theoretische Grundlagen) wird durch den Teil 2 (praktische Erfahrungen) komplettiert. Neben einem Grundlagenaufsatz, der der veränderten Lehrerrolle im Lernfeldkonzept gewidmet ist, stehen Erfahrungen mit der Einführung des Lernfeldkonzepts in der Altenpflegeausbildung im Mittelpunkt.So wird unter anderem eine schulinterne Lehrerfortbildung an einer Altenpflegeschule zum Lernfeldkonzept vorgestellt, aber auch ein Leitfaden, der für Teams praktisch genutzt werden kann, wenn mit der Implementierung des Lernfeldkonzeptes begonnen werden soll. Unterricht Pflege (2001) Lernsituation: Pflege und Krankheitserleben von Menschen mit Bewegungseinschränkung – am Beispiel der chronischen Erkrankung Osteoporose. 6.Jhg.Heft 5.Prodos,Brake Diese Ausgabe begleitet ein zugeordnetes Grundlagenheft, welches eine ausgearbeitete Lernsituation mit kompletten Lernmaterialien für einen Pflegeunterricht darstellt. Das Lehrerheft beinhaltet zwei wesentliche Schwerpunkte.Zum einen werden Konstruktionsprinzipien zur Gestaltung von Lernsituationen vorgestellt, zum anderen werden zu der Thematik »Pflege und Krankheitserleben
von Menschen mit Bewegungseinschränkung – am Beispiel der chronischen Erkrankung Osteoporose« pflegewissenschaftliche Vertiefungsaufsätze angeboten (z.B.Pflegediagnosen,Osteoporose,Pflege von chronisch erkrankten Menschen). Ebenso erhält der Lehrende wichtige didaktische Hinweise für die unterrichtliche Umsetzung und Auflösungen zu den Lernaufgaben. Schneider K,Welling K (2002) Pflege und Krankheitserleben von Menschen mit Bewegungseinschränkung – am Beispiel der chronischen Erkrankung Osteoporose. Grundlagen der Pflege für die Aus-, Fort- und Weiterbildung. Heft 10. Prodos, Brake Das Grundlagenheft, das sowohl in der Aus-, Fort- und Weiterbildung eingesetzt werden kann, ist so konzipiert,dass es vom Rezipienten als Selbstlernmaterial genutzt werden kann.Der Lerner wird inhaltlich durch die Lernsituation geführt.Diese auf 44 Seiten konzipierte fallorientierte Handlungssystematik beinhaltet alle an sie gestellten theoretischen Prinzipien der Lernfeldorientierung. Der Einsatz des Heftes ist auch ohne Vorhandensein des Lernfeldkonzeptes für den Pflegeunterricht in Kranken- und Kinderkrankenpflegeschulen möglich. Internetadressen
http://www.lernfelder.schule-bw.de/ http://www.isb.bayern.de/bes/vorhaben/ modellversuche/nele/ http://www.seluba.de http://www.nibis.ni.schule.de/haus/dez3/index.htm http://www.kmk.org/beruf/home.htm http://fls.bonn.de/service/lernfeld.htm Literatur Achtenhagen F (1998) Schlüsselqualifikationen. In: Euler D (1997) Berufliches Lernen im Wandel – Konsequenzen für die Lernorte. Dokumentation des 3. Forums Berufsbildungsforschung 1997 an der Friedrich-Alexander-Universität, Erlangen Nürnberg, S 649–659 Aebli H (1983) Zwölf Grundformen des Lehrens, 1. Aufl. Klett, Stuttgart Arnold R (1995) Lebendiges Lernen – Auf dem Weg zu einer neuen Lernkultur. In: Neuland M (1995) »Schüler wollen Lernen« – Lebenslanges Lernen mit der Neuland-Moderation. Neuland, Eichenzell Arnold R (1998) Kompetenzentwicklung.Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik. Bd 94, Heft 4: 496–504
111 5.6 · Probleme der verschiedenen Implementierungsebenen
Arnold R, Schüßler I (1998) Wandel der Lern-Kulturen. Ideen und Bausteine für ein lebendiges Lernen.Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt Bader R (1998) Das Lernfeld-Konzept in den Rahmenlehrplänen.In: Die berufsbildende Schule. 50. Jhg. Heft 7–8: 211–234 Bader R (2000) Kommunikative Kompetenz. In: Die berufsbildende Schule. 52. Jhg. Heft 7–8: 211–212 Bader R, Müller M (2002) Vom Lernfeld zur Lernsituation. In: Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik. Bd 98, Heft 1: 71–85 Bader R, Müller M (2002) Leitziel der Berufsbildung: Handlungskompetenz.Anregungen zur Ausdifferenzierung des Begriffs. In: Die berufsbildende Schule 54. Jhg. Heft 6: 176–182 Bader R, Ruhland HJ (1996) Kompetenz durch Bildung und Beruf. In: Schaube W (Hrsg) Handlungsorientierter Unterricht für Praktiker. Ein Unterrichtskonzept macht Schule, 2. Aufl. Winklers, Darmstadt, S 30 – 33 Bader R, Schäfer B (1998) Lernfelder gestalten. Vom komplexen Handlungsfeld zur didaktisch strukturierten Lernsituation. In: Die berufsbildende Schule. 50. Jhg. Heft 7–8: 229–234 Beck U (1986) Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Suhrkamp, Frankfurt a. M. Bildungskommission NRW (1995) Zukunft der Bildung – Schule der Zukunft, Denkschrift der Kommission beim Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen. Luchterhand, Neuwied Kriftel Berlin Büssing A, Herbig B, Ewert T (2000) Intuition als implizites Wissen. Bereicherung oder Gefahr für die Krankenpflege? In: Pflege. 13. Jhg. Heft 5: 291–296 Büssing A, Herbig B, Ewert T (2002) Implizites Wissen und erfahrungsgeleitetes Arbeitshandeln. Entwicklung einer Methode zur Explikation in der Krankenpflege.In:Zeitschrift für Arbeitsund Organisationspsychologie. Bd 46, Heft 1: 2–21 Bungard W (1995) Team- und Kooperationsfähigkeit. In: Sarges W (Hrsg) Management-Diagnostik. Hans Huber, Göttingen Bern Toronto Seattle, S 405–415 Buschfeld D (1996) Versuchung und Versprechen – Thesen zum fächerübergreifenden Unterricht. In: Kölner Zeitschrift für Wirtschaft Pädagogik. 11. Jhg. Nr. 20: 45–64 Buschfeld D (1999) Teamteaching. In: Kaiser FJ, Pätzold G (Hrsg) Wörterbuch Berufs- und Wirtschaftspädagogik. Julius Klinkhardt, Bad Heilbrunn, S 365–366 Czycholl R (1999) Handlungsorientierung. In: Kaiser FJ, Pätzold G (Hrsg) Wörterbuch Berufs- und Wirtschaftspädagogik. Julius Klinkhardt, Bad Heilbrunn, S 216–219 Dubs R (2000) Lernfeldorientierung: Löst dieser neue curriculare Ansatz die alten Probleme der Lehrpläne und des Unterrichtes an Wirtschaftsschulen? In: Lipsmeier A, Pätzold G (Hrsg) Lernfeldorientierung in Theorie und Praxis. Beiheft 15, Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik, S 15–32 Effert K, Grundei K, Lange W (1996) Two Dys Kaizen Activity. Handlungsorientiertes Gestalten von Unterrichtsräumen. In: Schaube W (Hrsg) Handlungsorientierung für Praktiker. Ein Unterrichtskonzept macht Schule, 2. Aufl. Winklers, Darmstadt, S 69–72 Elkeles T (1997) Kritik an der Funktionspflege. In: Büssing A (Hrsg) Von der funktionalen zur ganzheitlichen Pflege. Verlag für Angewandte Psychologie, Göttingen Bern Toronto Seattle, S 49–63
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Erpenbeck J, Heyse V (1997) Der Sprung über die Kompetenzbarriere. Kommunikation, selbstorganisiertes Lernen und Kompetenzentwicklung von und in Unternehmen. Bertelsmann, Bielefeld Erpenbeck J, Heyse V (1999) Die Kompetenzbiographie. Strategien der Kompetenzentwicklung durch selbstorganisiertes Lernen und multimediale Kommunikation. Waxmann, Münster New York München Berlin Francis D, Young D (1989) Mehr Erfolg im Team. Ein Trainingsprogramm mit 46 Übungen zur Verbesserung der Leistungsfähigkeit in Arbeitsgruppen, 3. Aufl. Windmühle, Hamburg Gerstenmaier J, Mandl H (1995) Wissenserwerb unter konstruktivistischer Perspektive. In: Zeitschrift für Pädagogik. 41. Jhg. Heft 6: 867–887 GEW (2001) Das Lernfeldkonzept an der Berufsschule. Pädagogische Revolution oder bildungspolitische und didaktische Reformoption? Frankfurt am Main Glotz P (1999) »Warum lernen die Besten in Amerika?« Ein Plädoyer für mehr Investitionen in die Bildung. Hamburger Abendblatt vom 21.07.1999 Hahne K (2000) Die Lernfelddiskussion und der Bezug zum handlungsorientierten Lernen. In: Die berufsbildende Schule. 52. Jhg. Heft 9: 259–267 Hansis H (1996) Vom fachlichen und überfachlichen Lernen – Sinn und Grenzen des Prinzips der Fächerintegration. In: Kölner Zeitschrift für Wirtschaft und Pädagogik.11.Jhg.Heft 20: 5–17 Heimerer L, Schelten A (1996) Empfehlungen zur Einführung eines fächerübergreifenden und handlungsorientierten Unterrichts in der Berufsschule. In: Die berufsbildende Schule. 48. Jhg. Heft 10: 314–319 Hermann GG (2001) Zum Lernfeldkonzept in Rahmenlehrplänen der Kultusministerkonferenz.In:Unterricht Pflege.6.Jhg.Heft 1:2–9 Hoss D (1998) Teamentwicklung in der Berufsausbildung – Notwendigkeit oder Luxus? In: Berufsbildung 52. Jhg. Heft 53: 39–40 Jungblut HJ (1998) Kompetenz. In: Pahl JP, Uhe E (Hrsg) (1999) Betrifft: Berufsbildung. Begriffe von A – Z für Praxis und Theorie in Betrieb und Schule. Kallmeyersche Verlagsbuchhandlung, Seelze Klafki W (1993a) Die bildungstheoretische Didaktik im Rahmen kritisch-konstruktiver Erziehungswissenschaft. Oder: Zur Neufassung der Didaktischen Analyse. In: Gudjons H,Teske R,Winkel R (Hrsg) Didaktische Theorien,7.Aufl.Bergman und Helbig, Hamburg, S 5–26 Klafki W (1993b) Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Zeitgemäße Allgemeinbildung und kritisch-konstruktive Didaktik, 3. Aufl. Belz, Weinheim Basel Klauser F (2000) Deklaratives, prozedurales, strategisches Wissen und Metakognition als Leitkategorien der Lernfeldgestaltung. In: Bader R, Sloane PFE (Hrsg) Lernen in Lernfeldern. Theoretische Analysen und Gestaltungsansätze zum Lernfeldkonzept. Eusl, Markt Schwaben, S 111–122 KMK (Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland) (1999) Handreichungen für die Erarbeitung von Rahmenlehrplänen der Kultusministerkonferenz für den berufsbezogenen Unterricht in der Berufsschule und ihre Abstimmung mit Ausbildungsordnungen des Bundes für anerkannte Ausbildungsberufe.Stand 05.02.1999
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5
Kapitel 5 · Das Lernfeldkonzept
Koch J (1998) Handlungsorientierung als didaktisches Prinzip. In: Berufsbildung. 52. Jhg. Heft 54: 7–9 Krammers D (2000) Berufliche Bildung im gesellschaftlichen Wandel – Berufserziehung zwischen Krise und Aufbruch. In: Erziehungswissenschaft Beruf. 48. Jhg. Heft 4: 397–413 Kremer HH (1997) Curriculare Innovationen im Spannungsfeld zwischen Fachunterricht und fächerübergreifenden Unterrichtskonzepten.In:Kölner Zeitschrift für Wirtschaft und Pädagogik 12. Jhg. Heft 22: 87–111 Kremer HH, Sloane PFE (2000) Lernfelder implementieren. Zur Entwicklung und Gestaltung fächer- und lernortübergreifender Lehr-/Lernarrangements im Lernfeldkonzept. Wirtschaftspädagogisches Forum, Bd 10. Eusl, Paderborn Kremer HH, Sloane PFE (2001) Lernfeldkonzept – Erste Umsetzungserfahrungen und Konsequenzen für die Implementation.In:Bader R,Sloane PFE (Hrsg) Lernen in Lernfeldern.Theoretische Analysen und Gestaltungsansätze zum Lernfeldkonzept. Eusl, Markt Schwaben, S 71–83 Kuklinski P, Wehrmeister F (1999) Lernfeldstrukturierte Lehrpläne. Chancen und Risiken für die Berufsschule am Beispiel Sachsen. In: Die berufsbildende Schule. 51. Jhg. Heft 2: 47–53 Lipsmeier A (1998) Vom verblassenden Wert des Berufes für das berufliche Lernen. In: Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik. Bd 94, Heft 4: 481–495 Mandl H, Gruber H, Renkl A (1993) Das Träge Wissen. In: Psychologie Heute. September: 64–69 Muster-Wäbs H, Schneider K (1999) Vom Lernfeld zur Lernsituation. Strukturierungshilfe zur Analyse, Planung und Evaluation von Unterricht. Gehlen, Bad Homburg vor der Höhe Muster-Wäbs H, Schneider K (2000) Berufsschule im Wandel – Unterricht in Lernfeldern. Forum zum Hamburger Referendariat Heft 1: 28–33 Muster-Wäbs H, Schneider K (2001a) Die Umsetzung des Lernfeldkonzeptes mit der Strukturierungshilfe – eine Herausforderung an die Aus-, Fort- und Weiterbildung von Berufsschullehrerinnen und Berufsschullehrern. In: Die berufsbildende Schule 53. Jhg. Heft 6: 199–205 Muster-Wäbs H, Schneider K (2001b) Umsetzung des Lernfeldkonzeptes am Beispiel der handlungstheoretischen Aneignungsdidaktik. BWP. 30. Jhg. Heft 1: 44–49 Pätzold G (1998) Lernfelder und Kooperation. In:Verband der Lehrerinnen und Lehrer an Berufskollegs in Nordrhein-Westfalen (Hrsg) Beiträge zum beruflichen Lernen. Düsseldorf Pätzold G (2000) Lernfeldstrukturierte Lehrpläne – Berufsschule im Spannungsfeld zwischen Handlungs- und Fachsystematik. In: Lipsmeier A, Pätzold G (2000) Lernfeldorientierung in Theorie und Praxis. Beiheft 15, Zeitschrift für Berufs und Wirtschaftspädagogik, S 72–86 Pahl JP, Schütte F (2001) Lernfeldkonzept – Anstöße zur Curriculumrevision? In: Pahl JP (Hrsg) Arbeitsorientierte Lernfelder. Didaktisch-methodische Konzepte für Berufsschulen im Rahmen elektrotechnischer Erstausbildung. Donat, Bremen, S 43–60 Pangalos J, Knutzen S (2000) Möglichkeiten und Grenzen der Orientierung am Arbeitsprozess für die berufliche Bildung. In: Pahl JP, Rauner F, Spöttl G (Hrsg) Berufliches Arbeitsprozesswissen. Ein Forschungsgegenstand der Berufsfeldwissenschaften, 1. Aufl. Nomos, Baden-Baden, S 105–116 Peterßen W H (2000) Handbuch Unterrichtsplanung. Grundfragen
Modelle Stufen Dimensionen, 9. Aufl. Oldenbourg Schulverlag, München Pukas D (1999) Das Lernfeld-Konzept im Spannungsfeld von Didaktik-Relevanz der Berufsschule und Praxis-Relevanz der Berufsausbildung. In: Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik. Bd 95, Heft 1: 84–103 Ratzki A (2000) Teamarbeit – Zaubermittel oder Schreckgespenst? In: Lernende Schule. Heft 9/2000: 4–11 Rauner F (1997a) Reformbedarf in der Beruflichen Bildung.Vortrag anlässlich des Spitzengesprächs der Kultusministerkonferenz mit Vertretern der Bundesregierung, der Fachministerkonferenzen der Länder, der Wirtschaft, der Gewerkschaften und der Lehrerverbände zur Weiterentwicklung des dualen Systems der Berufsausbildung am 22./23. Mai 1997 in Wolfsburg Rauner F (1997b) Reformbedarf in der beruflichen Bildung? In:Welche Reform braucht die Berufliche Bildung? Fachkonferenz am 06.09.1997 in Hamburg Reetz L (1999) Kompetenz. In: Kaiser FJ, Pätzold G (Hrsg) Wörterbuch Berufs- und Wirtschaftspädagogik. Klinkhardt, Handwerk und Technik, Bad Heilbrunn/Obb. Hamburg, S 245–246 Renkl A (1996) Träges Wissen: Wenn Erlerntes nicht genutzt wird. In: Psychologische Rundschau. Heft 47: 78–92 Robert Bosch Stiftung (2000) Pflege neu denken. Zur Zukunft der Pflegeausbildung. Schattauer, Stuttgart, New York Schäfer B, Bader R (2000) Berufliche Arbeitsprozesse zu Lernfeldern gestalten – Entwicklung von Lernfeldern als Strukturierung für berufliche Curricula und ihre bildungstheoretische Reflexion. In: Pahl, JP, Rauner F, Spöttl G (Hrsg) Berufliches Arbeitsprozesswissen. Ein Forschungsgegenstand der Berufswissenschaften. Nomos, Baden-Baden, S 117–128 Schelten A (1998) Aufgaben der Berufsschule. In: Wirtschaft und Beruferziehung. 50 Jhg. Heft 9: 13–18 Schneider K (2001) Von Lernfeldern zu konkreten Lernsituationen – Konstruktionsprinzipien für die Entwicklung einer Lernsituation. In: Unterricht Pflege 6. Jhg. Heft 5: 2–11 Schneider, Meyer-Dohm (1991) Berufliche Bildung im lernenden Unternehmen. Neue Wege zur beruflichen Qualifizierung. Paul Kieser Verlag, Neusäß Schneider K, Buhl R, Gesell A, Stumpf-Parketny T (2001) Vom Lernfeld zum konkreten Unterricht – ein Leitfaden. In: Unterricht Pflege. 6. Jhg. Heft 2: 20–34 Schneider P, Sabel M (1998) Lernen und Arbeiten im Team, Bd 2: Handbuch »KoKoSS« – Kontinuierliche und Kooperative Selbstqualifikation und Selbstorganisation. Bertelsmann, Bielefeld Schulz von Thun F (1998) Miteinander reden. Das Innere Team und situationsgerechte Kommunikation (3). Rowohlt, Reinbek bei Hamburg Schopf M (2000) Wertigkeit eines eigenständigen Politikunterrichts im Lernbereich II (oder III) sowie geplante Veränderungen durch die Einführung des Lernfeldkonzeptes. Referat am 24.02.2000 im Studienseminar Hamburg Schopf M (2001) Lernfelder als curriculare Elemente in der Berufsschule: Von der Wissenschaftssystematik zur Orientierung an Arbeitsprozessen. http://www.hh.schule.de/g13/Berichte/ lernfelder.htm. Gesehen 15.02.2001 Schütte F (1998) Handlungsorientierung. In: Pahl JP, Uhe E (Hrsg) Betrifft: berufsbildung. Begriffe von A – Z für Praxis und Theorie in Betrieb und Schule. Kallmeyersche, Seelze, S 91
113 5.6 · Probleme der verschiedenen Implementierungsebenen
Schweres M (1998) Arbeitssystemwissen oder Arbeitsprozesswissen in der Berufsbildung? Arbeitsplatz und Arbeitsprozeß als Arbeitssystem. In: Die berufsbildende Schule. 50. Jhg. Heft 5: 159–164 Senge PM (1996) Die fünfte Disziplin. Kunst und Praxis der lernenden Organisation. Klett-Cotta, Stuttgart Sloane PFE (2000) Lernfelder und Unterrichtsgestaltung.In:Die berufsbildende Schule 52. Jhg. Heft 3: 79–85 Söltenfuß G (1983) Grundlagen handlungsorientierten Lernens. Dargestellt an einer didaktischen Konzeption des Lernens im Simulationsbüro. Klinkhardt, Bad Heinbrunn/Obb. Staudt E, Kriegesmann B (1999) Weiterbildung: Mythos zerbricht. Der Widerspruch zwischen überzogenen Erwartungen und Mißerfolgen der Weiterbildung (Berichte aus der angewandten Innovationsforschung, Nr. 178). Institut für angewandte Innovationsforschung, Bochum Ulrich JG (2001) Wissensanforderungen, Weiterbildung und Kompetenzsicherung der Erwerbstätigen in Deutschland – Ergebnisse aus der BIBB/IAB-Erhebung 1998/1999. In: BIBB:
5
Kompetenzentwicklung – Lernen begleitet das Leben. Ergebnisse, Veröffentlichungen und Materialien aus dem BIBB. Stand Mai 2001, S 23–34 Vogel T (2001) Kompetenzentwicklung – ein zukunftsorientiertes Konzept für die berufliche Aus- und Weiterbildung? In: Berufsbildung. 55. Jhg. Heft 71: 37–39 Weißbach B (2001) Die Teamarbeit – ein interkulturelles Leitbild? In: Frankfurter Rundschau. Nr. 197, 25.08.2001: 31 Wolff K (1996) Handlungsorientierter Unterricht. In: Schaube W (Hrsg) Handlungsorientierung für Praktiker. Ein Unterrichtskonzept macht Schule, 2. Aufl. Winklers, Darmstadt, S 17–19 Zöllner A (1999) Lernfelder in den Rahmenlehrplänen des Bundes und in den bayerischen Lehrplänen der Berufsschulen. In: Die berufsbildende Schule. 51. Jhg. Heft 4: 154–159
6 Orientierungshilfen für die Einführung von Handlungsorientierung Kordula Schneider 6.1
Was ist handlungsorientierter Unterricht?
6.1.1
Zielsetzung und Einordnung
6.1.2
Arbeitsdefinition
6.1.3
Erzeugungs- versus Ermöglichungsdidaktik
6.1.4
Merkmale handlungsorientierten Unterrichts
6.2
Welche Entwicklungsschritte bzw. Phasen sind für die Einführung von Handlungsorientierung wichtig?
6.2.1
117
117
128
Phase III: Lehrende führen eine gemeinsame Planung 133
Schwierigkeiten bei der sukzessiven Einführung von handlungsorientiertem Lernen
6.2.5
126
129
mit Lernenden durch 6.2.4
123
Phase II: Lehrende ermöglichen Partizipation der Lernenden
6.2.3
121
Phase I: Lehrende integrieren Basiselemente handlungsorientierten Unterrichts
6.2.2
117
135
Veränderte Rolle der Lehrenden und Lernenden
142
116
Kapitel 6 · Orientierungshilfen für die Einführung von Handlungsorientierung
> Thesen
6
5 Die folgenden Äußerungen, Definitionen und Statements stammen von Lehrerinnen und Lehrern aus dem Gesundheits- und Pflegebereich, die in den letzten zehn Jahren verschiedene meiner Fortbildungsveranstaltungen zu der Thematik »Handlungsorientierter Unterricht« besucht haben. 5 Handlungsorientierter Unterricht ist: 5 » ... Lernen, bei dem man einen gemeinsamen Start hat und ein gemeinsames Ziel verfolgt.« 5 » ... zirkuläres Lernen, bei dem alle Sinne (Kopf, Herz und Hand) beteiligt sind.« 5 » ... gemeinsames Lernen, wo Emotionen ihren Platz haben.« 5 » ... Lernen, das den ganzen Menschen berücksichtigt und ihn in seiner Entwicklung fördert.« 5 » ... momentan für mich ein Achtungsschild mit Baustelle.« 5 » ...dann erfüllt,wenn die Schüler im Demoraum z. B. eine Lagerung durchführen.« 5 » ...für die Lehrenden und Lernenden wie ein Überraschungspaket, beide wissen nicht, was auf sie zukommt.« 5 »Das Ziel kann im handlungsorientierten Unterricht auf unterschiedliche Weise erreicht werden.« 5 »Lehrer und Schüler sind gleichberechtigt und kommunizieren untereinander.«
3 Berufliche Handlungskompetenzen 2
Fachkompetenz Merkmale des handlungsorientierten Unterrichts aus den verschiedenen Ansätzen ableiten und Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausstellen. Die Entwicklung von der Erzeugungsdidaktik zur Ermöglichungsdidaktik erklären und durch geeignete didaktische Prinzipien belegen. Dem Lernprozess der Lernenden entsprechend den Einsatz verschiedener Planungsraster zur Einführung von Handlungsorientierung auswählen und begründen sowie die wesentlichen Unterschiede differenzieren.
2
Personalkompetenz Die eigene Position in Bezug auf die Einführung handlungsorientierter Bildungsprozesse finden und sich über Schwierigkeiten des Implementierungsprozesses klar werden.
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Sozialkompetenz Unterschiedliche Deutungsmuster der Handlungsorientierung in Gruppen austauschen, eigene Vorstellungen überdenken und ggf. neue Zugänge entwickeln.
2
Methodenkompetenz Die gestuften Planungsraster für die Einführung des handlungsorientierten Unterrichts einsetzen bzw. umsetzen und die damit erworbenen Erfahrungen konstruktiv bewerten und weiterentwickeln. Unterrichtliche Beispiele für die Merkmalsausprägungen handlungsorientierten Unterrichts entwickeln, sie methodisch einordnen und den Phasen der drei Planungsraster systematisch zuordnen.
2
Kommunikative Kompetenz Eigene Einstellungen, Vorurteile und Deutungen in Bezug auf handlungsorientierten Unterricht für sich definieren und mit Kolleginnen kommunizieren und reflektieren.
3 Praxisrelevanz Handlungsorientierung im Unterricht ist in der Berufsfelddidaktik als ein möglicher Weg zu sehen, der Lösungsmöglichkeiten für vielfältige Probleme innerhalb der Unterrichtsgestaltung bietet. Die theoretische Anerkennung des Konzeptes hat allerdings nicht dazu geführt, dass Handlungsorientierung sich im berufskundlichen Unterricht überall wiederfindet. Lehrende im Bereich Pflege stehen immer wieder vor der Herausforderung, handlungsorientierten Unterricht neu einzuführen bzw. weiterzuentwickeln. Der große Schritt von der theoretischen Erfassung der didaktischen Theorie bis zur Umsetzung im eigenen Unterricht soll durch die hier vorgestellten Planungsraster erleichtert werden. Sie helfen überdies, mit den Lernenden
117 6.1 · Was ist handlungsorientierter Unterricht?
schrittweise in den handlungsorientierten Unterricht einzusteigen. Die folgenden Ausführungen und Strukturierungshilfen richten sich an alle, die im Gesundheits- und Pflegebereich sowohl in der Aus- als auch in der Fort- und Weiterbildung diesen Ansatz mit Schülern und mit Teilnehmern der Erwachsenenbildung gestalten wollen. Berufserfahrene Lehrer und Lehrerinnen bzw. Dozenten und Dozentinnen können diese Planungsraster nutzen, um ihre eigenen Planungsroutinen zu überprüfen bzw. abzugleichen. Planungsraster skizzieren idealisierte Abläufe von Unterricht bzw. Seminaren; die Unterrichtsbzw. Seminarrealität sieht aber sehr häufig anders aus. Von diesen leidvollen Erfahrungen berichten Referendare und Referendarinnen, wenn sie die ersten Unterrichtserfahrungen gemacht haben. Bei allen Vorzügen der Planungskompetenz muss ebenfalls berücksichtigt werden,dass Prozesse bzw. Interaktionsprozesse zwischen Lehrenden und Lernenden nur bedingt planbar sind. Jede Lernsituation ist einmalig und nicht wiederholbar (Becker 1984, S 205). Außerdem kann die Umsetzung von Handlungsorientierung nicht nur durch rezeptologische Handlungsanweisungen gefördert werden, sondern vielmehr tragen eigenes Ausprobieren und kritische Selbstreflexion sowie Rückmeldungen der Lernenden bzw. Teilnehmer effizienter zur Implementierung von handlungsorientiertem Lehren und Lernen bei.
3 Verfahrensstruktur (. Abb. 6.1) 6.1
Was ist handlungsorientierter Unterricht?
6
Handlungskompetenz zu fördern. Die folgenden Ausführungen richten sich demzufolge vor allem an Lehrende,die sich bereits theoretisch mit der Handlungsorientierung auseinandergesetzt haben und der Überzeugung sind, dass sie dieses Konzept sukzessive in ihren Unterrichts- bzw. Seminaralltag integrieren wollen. Was ihnen vielleicht fehlt, ist eine konkrete Hilfestellung bzw. ein Planungsraster, wie mit Lernenden bzw.Teilnehmern,die sich zu Beginn ihrer Aus-,Fort- bzw.Weiterbildung befinden,handlungsorientiertes Lernen gestaltet werden kann. Ein Konzept der kleinen Schritte wird auch von Gudjons (1987, S. 36) empfohlen, denn »zielorientiert eingesetzt und langsam,aber stetig erweitert«, kann, so konstatiert er, eine innere Schulreform vorangetrieben werden. Da es sich beim handlungsorientierten Unterricht nach Meyer u. Paradies (1995, S. 30) um ein offenes Konzept handelt, das die aktuellen Geschehnisse des Schulalltags,der Gesellschaft und letztendlich der in ihr lebenden Subjekte ständig integriert, können keine überdauernden Kriterien bzw. Kennzeichen benannt werden. Um den eigenen Unterricht bzw. das Seminar jedoch einerseits richtig zu dimensionieren (Planungsaspekt) bzw. zu verorten und andererseits kritisch einschätzen zu können (Analyseaspekt),ist es wichtig, eine eigene Vorstellung von der »Reinform« handlungsorientierten Lernens zu entwickeln (Bönsch 2000). Die drei Entwicklungsschritte bzw. Phasen zur Einführung des handlungsorientierten Konzeptes stellen einen Versuch dar, sich der »Reinform« von Handlungsorientierung zu nähern und handlungsorientiertes Lernen einzuordnen. Dieser Versuch folgt dabei der These von Hilbert Meyer »Wege entstehen beim Gehen« (Motto der pädagogischen Woche an der Universität Oldenburg 1991).
6.1.1 Zielsetzung und Einordnung 6.1.2 Arbeitsdefinition
In der beruflichen Aus-, Fort- und Weiterbildung gilt heute unbestritten die Förderung der beruflichen Handlungskompetenz.Mit diesem Leitziel der »Handlungskompetenz« korrespondiert in der Berufsfelddidaktik der Ansatz des handlungsorientierten Unterrichts. Dieser Zusammenhang liegt darin begründet,dass Lernarrangements,die sich an schulischen aber auch beruflichen Handlungen orientieren, besonders prädestiniert sind, berufliche
In der Literatur findet sich eine Vielzahl von handlungsorientierten Ansätzen bzw. Konzepten, die entweder in der Schulpädagogik oder Berufspädagogik beheimatet sind. Diese unterschiedlichen Unterrichtskonzepte haben sich im Spannungsverhältnis zwischen Schulpädagogik und Berufsbildungsforschung entwickelt und gehen grundsätzlich auf drei Bezugstheorien zurück.
118
Kapitel 6 · Orientierungshilfen für die Einführung von Handlungsorientierung
6
. Abb. 6.1. Verfahrensstruktur
119 6.1 · Was ist handlungsorientierter Unterricht?
. Abb. 6.2. Die Einigungsphase – der neuralgische Punkt des handlungsorientierten Unterrichts
Handlungsprodukte (HP) können folgende Funktionen übernehmen (. s. Abb. 6.2) 5 HP sind gegenständlich-materielle, kognitive und/oder immaterielle Ergebnisse des gemeinsamen Unterrichts. 5 HP können einen schulischen, individuellen und/oder beruflichen Verwertungscharakter haben. 5 HP stellen ein Konglomerat von Lehr- und Handlungszielen dar, das vergegenständlicht wird.
5 HP sind sowohl Motor als auch Struktur der Produktions- bzw. Erarbeitungsphase. 5 HP ermöglichen den Abgleich zwischen Planung und Durchführung. 5 HP machen sich selbst zum Gegenstand der Reflexion und Evaluation. 5 HP erzeugen bei den Lernenden unterschiedliche Identifikationsmöglichkeiten. 5 HP ermöglichen bei ihrer Erstellung soziales Lernen.
6
120
Kapitel 6 · Orientierungshilfen für die Einführung von Handlungsorientierung
1. Die materialistische Tätigkeitstheorie der kul-
6
turhistorischen Schule sowjetischer Psychologie. Hier werden zwei große Richtungen unterschieden: a) die materialistische Lernpsychologie mit der kulturhistorischen Schule von Wygotski, der Ausarbeitung der Tätigkeitstheorie von Leontjew und der Lerntheorie, der Lehre von der etappenweisen Ausbildung geistiger Handlungen von Galperin. b) die Handlungsregulationstheorie; sie stellt eine Weiterentwicklung der Tätigkeitstheorie dar, die von Hacker in der Arbeitspsychologie aufgegriffen und von Volpert weiterentwickelt wurde (Schapfel 1995,S.113 ff.). 2. Der systemtheoretische Ansatz, der auch als Handlungsstrukturtheorie bezeichnet wird. Dieser Ansatz gehört zu einer Handlungstheorie, die aus den USA stammt und mit den Namen Miller,Galanter und Pribram verknüpft ist (Czycholl 1999, S. 218 f.). 3. Die kognitive Handlungstheorie, die auf entwicklungspsychologische Erkenntnisse von Piaget zurückgeht.Aebli,ein Schüler Piagets,hat diese Erkenntnisse in seine Handlungstheorie einfließen lassen (Pütz 1996, S. 20). Nach Aebli ist »Denken: das Ordnen des Tuns« (Titel eines zweibändigen Werkes von Aebli). Im Gegensatz zur Bezeichnung »Handlungsorientierter Unterricht«, die eher auf der kognitiven Handlungstheorie von Aebli fußt, wird mit der Bezeichnung »Handelnder Unterricht« häufig auf die materialistische Tätigkeitstheorie zurückgegriffen. Dennoch kann konstatiert werden, dass die derzeitig vorliegenden Ansätze keine scharfe Trennung mehr erkennen lassen, sondern dass vielmehr eine Verschmelzung der verschiedenen Theorien stattgefunden hat. Zwar liegen deutliche Trends für die Schulpädagogik in der lernpsychologischen und kognitionspsychologischen Begründung nach Aebli vor,doch in der Berufsbildungsforschung besteht eine stärkere Bevorzugung der Handlungsregulationstheorie nach Hacker u.Volpert. In den berufspädagogischen Ansätzen zur Gestaltung der schulischen und betrieblichen Ausbildung sind dagegen eher Mischformen wieder zu finden. Sie vereinigen folgende Ziele aus verschiedenen Theorien:
4 aus der Tätigkeits- und Aneignungstheorie die gesellschaftliche Fortentwicklung, 4 aus der Handlungsstrukturtheorie die kybernetische Betrachtung des Handelns und dessen Begründungszusammenhang 4 und aus der kognitiven Handlungstheorie die individuelle Förderung des Denkens und Handelns. Alle Ansätze werden jedoch durch die grundlegende Annahme miteinander verbunden, dass der Mensch aktiv und gezielt auf seine Umwelt einwirkt, sich mit ihr auseinandersetzt und für sich Erfahrungs- und Handlungsspielräume schafft,um zukunftsbezogen handeln zu können. Wichtig Deshalb möchte ich in diesem Text den Begriff »handlungsorientierter Unterricht« bzw. »handlungsorientiertes Seminar« verwenden. Hierunter ist ein offenes Konzept zu verstehen, das Schülern bzw. Teilnehmern einen handelnden Umgang mit Gegenständen, Inhalten,Fragen oder Aufgaben ermöglicht.Dabei bildet die Handlung den Ausgangspunkt des Lernprozesses. Eine Handlung wird als »eine zielgerichtete,bewußte,zwischen Alternativen entscheidende und auswählende Tätigkeit verstanden« (Schaube 1996, S. 17). Handlungsorientiertes Lernen ist meines Erachtens dann realisiert,wenn die Planung des Lernprozesses integrativer Bestandteil des Unterrichts- bzw. Seminargeschehens ist und die Lernenden gleichberechtigte Partner in der Planungs-, Durchführungs- und Evaluationsphase sind.
Um dieses Ziel zu erreichen, ist eine schrittweise Überführung von der Vermittlungs- bzw. Erzeugungsdidaktik zur Ermöglichungsdidaktik (Arnold u. Schüßler 1998, S. 120 ff.) nicht nur erstrebenswert, sondern auch sinnvoll und muss von Lehrenden gut angeleitet und begleitet werden.
121 6.1 · Was ist handlungsorientierter Unterricht?
6.1.3 Erzeugungs- versus
Ermöglichungsdidaktik Momentan erleben wir eine »subjektorientierte Wende in der Didaktik« (Arnold u. Schüßler 1998, S. 123), indem die Essentials der Reformpädagogik eine Renaissance erleben.
7
Es wird wieder entdeckt, dass pädagogisch erfolgreiches Handeln lediglich die Aneignungsprozesse der Lernenden ermöglichen kann (Muster-Wäbs u. Schneider 2001c, S. 20).
Deshalb muss »Lehren und Lernen (als) eine dialektische Einheit (gesehen werden), d. h. je mehr Führung ein Lehrender übernimmt, desto weniger kann ein Lernender selbsttätig agieren« (Schneider 2001, S. 30) und sich demzufolge auch weniger Erkenntnisse eigenständig und aktiv aneignen. Lehrende müssen deshalb geeignete Lernarrangements so konstruieren, dass die Lernenden angeregt werden, »ihre Konstruktion von Wirklichkeit zu hinterfragen, zu überprüfen, weiterzuentwickeln,zu verwerfen (oder) zu bestätigen« (Werning 1998, S. 39ff). Dieses Phänomen der gegenseitigen Abhängigkeit bzw. Bedingtheit haben Arnold u. Schüßler (1998,S.120ff) in einer dichotom angelegten Tabelle kontrastiert, indem sie entwicklungsfördernde mit entwicklungshemmenden Aspekten vergleichen. Sie stellen die Paradigmen des mechanistischen Lernens (Erzeugungsdidaktik) denen des systemischen Lernens (Ermöglichungsdidaktik) in einer Tabelle gegenüber. Dabei greifen sie auf Begriffe der humanistischen Psychologie wie »lebendiges Lernen« und »tötendes Lernen« zurück (Cohn u. Terfurth 1993, S. 388). Die Polarisierung, die in der . Tabelle 6.1 abgebildet ist, zeigt einen Paradigmenwechsel von der Erzeugungs- zur Ermöglichungsdidaktik auf. Diese pointierte Darstellung kann für die Gestaltung und Beobachtung von handlungsorientiertem Lernen sehr hilfreich sein. Um angemessene Übergänge von der Erzeugungs- zur Ermöglichungsdidaktik für Lernergruppen zu gestalten, müssen unterschiedliche Strategien im Bereich der inhaltlichen und methodischen Vorgehensweisen greifen.Eine Möglichkeit ist durch die von mir entwickelte »Methodentrep-
6
pe« gegeben (Schneider 2001, S. 32). Hier werden Möglichkeiten vom Lehrer-Schüler-Gespräch bis hin zur Projektarbeit aufgezeigt, die sowohl im Kontext der Erzeugungs- als auch Ermöglichungsdidaktik stattfinden können. Der Verlauf der Methoden,vom Lehrer-SchülerGespräch bis zur Projektarbeit, kann einmal durch die Brille der Erzeugungsdidaktik betrachtet werden und ein anderes Mal durch die Brille der Ermöglichungsdidaktik.Eindeutig lässt sich das Kontinuum der Handlungsorientierung erkennen: Die hier beispielhaft aufgeführten Methoden kommen sowohl innerhalb der Erzeugungsdidaktik (Instruktionslernen) als auch innerhalb der Ermöglichungsdidaktik (Handlungslernen) zum Tragen (Halfpap 1996b, S. 37 f.). Doch trotz dieser Übereinstimmungen existieren gravierende Unterschiede zwischen beiden Unterrichtskonzepten. Anhand der unterschiedlichen Gestaltung einer Gruppenarbeit möchte ich dies verdeutlichen. Bei der Vermittlungsdidaktik plant der Lehrende die Gruppenarbeit, er teilt sie inhaltlich, organisatorisch und zeitlich ein, bestimmt das Endprodukt und die Präsentation der Gruppenarbeit. Schüler arbeiten dann anhand von bereitgelegten Materialien selbsttätig und werden vom Lehrer begleitet (Schneider 2001, S. 31).Ganz anders sieht es bei der Ermöglichungsdidaktik aus.Auf der methodischen Ebene können Lernende zu Beginn mitentscheiden bzw. mitplanen. Bei zunehmender Kompetenz der Lernenden können diese auch bei den Inhalten bzw.Themen,bei den Bewertungskriterien und bei den organisatorischen Bedingungen mitentscheiden. Auf den ersten Blick scheint . Abb.6.3 das Gleiche wiederzugeben, doch bei näherem Hinsehen wird der Unterschied zwischen Anfängern und fortgeschrittenen Lernergruppen in Bezug auf handlungsorientiertes Lernen deutlich.
7
In der Ermöglichungsdidaktik werden »Laien«, d. h. Auszubildende, die über wenig Lernerfahrung mit handelndem Unterricht verfügen, sukzessive über die Methodenkomplexität zu einer Steigerung ihrer 5 Planungs-, Durchführungs- und Evaluationskompetenz
122
Kapitel 6 · Orientierungshilfen für die Einführung von Handlungsorientierung
. Tabelle 6.1. Paradigmenwechsel: Von der Erzeugungs- zur Ermöglichungsdidaktik. (Inhalte aus: Arnold u. Schüßler 1998, S. 125, Dubs 1997, Muster-Wäbs u. Schneider 2001c, S. 20 f.; Schneider 1997, S. 6 f., Schneider 2001, S. 31)
Grundannahmen des Lernens
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Mechanistisches Bild vom Lernen = »Totes Lernen« Erzeugungsdidaktik (entspricht eher der traditionellen Bildung)
Systemisches Bild vom Lernen = »Lebendiges Lernen« Ermöglichungsdidaktik (entspricht eher der konstruktivistischen Bildung)
Die Lernprozesse sind linear angelegt; Lernen erfolgt hauptsächlich nach dem Ursache-Wirkungsprinzip
Die Lernprozesse werden komplex und vernetzt dargeboten
Es erfolgt eine Vermittlung von engem berufsbezogenen Wissen
Neben der Ermöglichung von Fachkompetenz werden auch die anderen Kompetenzen wie Personal-, Sozial-, Methoden- u. Lernkompetenz sowie kommunikative Kompetenz gefördert
Es findet fremdorganisiertes Lernen statt
Es findet selbstorganisiertes Lernen statt Lernen ist ein von subjektiven Erfahrungen, Lernstrategien und Interessen abhängiger Prozess
Lernen unterliegt der Fachsystematik
Lernen unterliegt der Handlungssystematik
Didaktische Konsequenzen
Der Unterricht ist häufig fremd vorgeplant, stark strukturiert und auf Ergebnisse fixiert
Lernende formulieren ihre Ziele, erschließen sich selbstständig Wissen und organisieren ihren Lernprozess
Zieldimensionen
Es besteht die Illusion der Machbarkeit, dass Lernprozesse durch Planung vollständig beherrschbar sind
Eine Vielfalt von Lernwegen wird ermöglicht
Lehrerrolle
Lehrende sind Experten für die Motivation der Lernenden, für die Inhalts-, Methoden- und Medienauswahl
Lehrende sind Experten für das »Vorher« und »Nachher«
Schülerrolle
Der Schüler wird verplant, er ist passives Mitglied und »konsumiert« unterrichtliche Prozesse
Lernende eignen sich Selbsterschließungskompetenzen an, die sie befähigen, eigenständig zu planen, diese Planung durchzuführen und sie anschließend zu evaluieren
Interaktion
Es besteht eine schwache Wechselwirkung zwischen Lehrenden und Lernenden sowie zwischen Lernenden und Lernenden
Es finden intensive Kommunikations- und Abstimmungsprozesse zwischen allen Beteiligten statt
5 und ihrer Verantwortung für Ziel, Prozess, Ergebnis und Bewertung herangeführt. 5 Des Weiteren kommt es zu einer Steigerung der Kopf-, Herz- und Handbeteiligung im Unterricht und nicht zuletzt zu einer stärkeren Berücksichtigung von Erfahrungs- und Berufsbezug (Schneider 2001, S. 31).
Ziel einer jeden handlungsorientierten beruflichen Ausbildung sollte es sein, dass die Lernenden immer mehr die Kompetenzen der Lehrenden (wie Planung, Bewertung, Organisation und Koordination) übernehmen.
123 6.1 · Was ist handlungsorientierter Unterricht?
6
. Abb. 6.3. »Methodentreppe« im Kontext von Erzeugungs- und Ermöglichungsdidaktik
6.1.4 Merkmale handlungsorientierten
Unterrichts Handlungsorientiertes Unterrichten wird in der Literatur mit vielfältigen Begriffen wie »Merkmale«, »Prinzipien«,»Kennzeichen«,»Dimensionen« bzw. »Leitlinien« näher charakterisiert. Durch diese Klassifizierung wird handlungsorientierter Unterricht bzw. handlungsorientiertes Lernen zwar näher beschrieben, was für den Unterrichtspraktiker bzw. die Unterrichtspraktikerin von enormer Wichtigkeit ist, allerdings legitimieren und begründen Merkmale keine Handlungsorientierung (Gudjons 1997, S. 64). Sie helfen aber, sich anhand von bestimmten Kriterien zu verständigen sowie Unterrichte bzw.Seminare nach bestimmten Leitlinien zu planen, durchzuführen und zu evaluieren. Außerdem verhindern sie Beliebigkeit und ermöglichen den Erfahrungsaustausch. Darüber hinaus erheben die Merkmalslisten keinen Anspruch auf Vollständigkeit und sind somit offen für Weiterentwicklungen (Bastian 1995, S. 7). Trotz der unterschiedlich veröffentlichten Ansätze besitzen die
Merkmalsbeschreibungen weitgehend gleiche inhaltliche Aussagen,obwohl sie unterschiedlich hergeleitet sind und auch auf unterschiedliche Adressaten abzielen (z. B. Referendare und Lehramtsstudenten sowie Berufsschullehrer und Ausbilder in der Praxis,aber auch Lehrerinnen im allgemein bildenden Bereich). Im Folgenden werden sechs unterschiedliche Ansätze aus der Schul-, Berufs- und Arbeits- bzw. Betriebspädagogik vorgestellt. 4 Gudjons (1980, S. 344–349, 1981, S. 15–23, 1997, S. 65) entwickelte zehn Merkmale aus der Unterrichtswirklichkeit, wobei seine Analyse vorwiegend lernpsychologisch und soziologisch angelegt ist. 4 Jank u.Meyer (1991,S.355ff) entwickelten sieben Merkmale,die dem Unterrichtenden aufzeigen, in welche Richtung sich der herkömmliche Unterricht weiterentwickeln kann. 4 Halfpap (1996a, S. 22–25) formulierte fünf Grundsätze auf der Basis handlungsorientierten Lernens. »Sie werden aus der Lehrerperspektive präzisiert, erweitert und berufspädagogisch akzentuiert« (Halfpap 1996a, S. 22).
6 124
. Tabelle 6.2. Merkmale handlungsorientierten Unterrichts – eine Gegenüberstellung Jank u. Meyer (1991)
Halfpap (1996)
Bader (1995, 1997, 2002)
Arnold u. Müller (1993)
Laur-Ernst (1990)
Zehn Merkmale: (Auswahl: acht)
Sieben Merkmale: (Auswahl: sechs)
Fünf Grundsätze:
Zehn Ausprägungen: (Auswahl: sieben)
Zehn Thesen: (Auswahl: fünf)
Sieben Essentials:
Interessen der Schüler
Subjektive Schülerinteressen
Subjektorientiert und bildungsgangbezogen Erfahrungsraum der Lernenden
Erfahrungsorientiertes Lernen
Erfahrungsbezogen
Hand und Kopf
Erfahrungsbezogen und problemorientiert Ausgewogenheit von Kopf- und Handarbeit Schüleraktivität
Handlungsziele
Handlungsprodukt
Selbstständiges Handeln und aktives Tun Tätigkeitsstrukturiert und praxisbezogen
Produktorientierung
Vollständige Handlung (selbstständiges Planen, durchführen und kontrollieren bzw. bewerten beruflicher Arbeit) Berücksichtigung kognitionspsychologischer Theorien und/oder Handlungsregulationstheorien
Aktiv-konstruktiver Gestaltungsprozess Lernen durch planvolles Handeln
Arbeitsweltliche Realität (ganzheitliche, mehr dimensionale Aufgabenstellungen) Problembezogene Handlungssystematik
Orientierung an Handlungsfeldern Konkrete Handlungen, deren Ergebnis offen ist Offenheit des Unterrichts
Keine Einzelkämpfer
Offene, gestaltbare Lernumwelt
Öffnung der Schule
Interaktionsbetont und berufsbezogen
Kooperatives Lernen
Kapitel 6 · Orientierungshilfen für die Einführung von Handlungsorientierung
Gudjons (1980, 1981, 1997)
125
Entscheidungs- und Handlungsspielraum für den Lernenden
Lehrer als »individueller« Lernberater und Organisator
Selbstorganisiertes Lernen
Lehrer, die kaum noch (nur) lehren
Ganzheitliches Lernen Ganzheitlich Gesellschaftliche Praxisrelevanz (Handeln – wozu?)
Schülerbeteilung an Planung, Durchführung und Auswertung von Unterricht
Ganzheitlich und wissenschaftsorientiert
Gewonnene Erkenntnisse gesellschaftlich anwenden
Sieben Essentials: Zehn Thesen: Zehn Ausprägungen: Sieben Merkmale: Zehn Merkmale:
Fünf Grundsätze:
Laur-Ernst (1990) Arnold u. Müller (1993) Jank u. Meyer (1991) Gudjons (1980, 1981, 1997)
. Tabelle 6.2. Fortsetzung
Halfpap (1996)
Bader (1995, 1997, 2002)
6.2 · Entwicklungsschritte bzw. Phasen für die Einführung von Handlungsorientierung
6
4 Bader entwickelte zuerst (1995, S. 154) fünf Ausprägungen handlungsorientierter Lernprozesse für die berufliche Bildung. 1997 (S. 105–107) wurden diese spezifiziert und um zwei weitere ergänzt. 2002 legte er (S. 71–73) drei weitere Merkmalsausprägungen handlungsorientierten Unterrichts vor. Diese Erweiterung ist aufgrund von Literaturergebnissen und zahlreichen Gesprächen mit Lernortkooperationspartnern aus Schule und Betrieb entstanden und ein Zeugnis dafür, dass die Konzepte zur Beschreibung von handlungsorientiertem Unterricht sowohl offen als auch jederzeit ergänzbar sind. 4 Arnold u. Müller (1993) kommen innerhalb des Modellversuches »Ganzheitliches Lernen« zu zehn Ausprägungen handlungsorientierten Lernens in der Berufsschule. Sie sind sehr konkret formuliert und helfen, Unterricht zu gestalten und zu planen. 4 Laur-Ernst entwickelte sieben didaktische Leitlinien bzw.Essentials für die schulische und betriebliche Ausbildung (Laur-Ernst 1990,S.48ff). Sie orientieren sich sehr stark an der Handlungsregulationstheorie. Aus Gründen der Übersichtlichkeit werden die sechs Merkmalsbenennungen der verschiedenen Autoren in der . Tabelle 6.2 aufgeführt und gegenübergestellt. Auf eine detaillierte Einzelbeschreibung der Merkmale wird verzichtet. Die Tabelle ist so angelegt, dass Gemeinsamkeiten und Unterschiede auf den ersten Blick zu erkennen sind.Merkmale,die nur einmal in einem Ansatz erwähnt werden, finden sich in der Tabelle nicht wieder; sie werden gesondert aufgelistet. Die Tabelle 6.2 lässt drei Kategorien erkennen: 4 Kategorie I: Hierzu gehören Merkmale, die bei allen Autoren zu finden sind, jedoch mit anderen Begriffen belegt werden. 4 Kategorie II: In dieser Kategorie treten Merkmale auf, die bei fast allen Autoren, jedoch ebenfalls mit unterschiedlichen Begriffen, genannt werden. 4 Kategorie III: In diese Kategorie fallen alle Merkmale, die nur einmal in einem Ansatz eines Autors erwähnt werden.
126
Kapitel 6 · Orientierungshilfen für die Einführung von Handlungsorientierung
Zur Kategorie I gehören die Merkmale, die aus der
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Kognitions- oder Handlungsregulationstheorie resultieren.Hierzu gehören Handlungsziele,Handlungsprodukt, problembezogene Handlungssystematik, vollständige Handlung, Lernen durch planvolles Handeln, arbeitsweltliche Realität, Orientierung an Handlungsfeldern, konkrete Handlungen, deren Ergebnis offen ist,sowie das Merkmal »tätigkeitsstrukturiert« und »praxisbezogen«. Bei der Kategorie II sind es vor allem die Merkmale: Interessen der Schüler,ganzheitliches Lernen, Erfahrungsbezug, Ausgewogenheit von Kopf- und Handarbeit, Offenheit im Unterricht, selbstorganisiertes sowie kooperatives Lernen und Schüleraktivität, die bei vielen Autoren in ihrer Merkmalsaufzählung zum Tragen kommen. Hierbei handelt es sich hauptsächlich um didaktische Prinzipien. Aktivierung der Sinne und Grenzen durch Systematik eines Faches werden nur bei Gudjons (1980, 1981, 1997) genannt. Bader (2002, S. 71 ff.) hingegen benennt folgende Merkmale: Entwicklung und Vermittlung impliziten Wissens, unternehmerische Selbstständigkeit und Kompetenzentwicklung zur Bewältigung nicht voraussagbarer beruflicher, gesellschaftlicher und individueller Anforderungen. Arnold u. Müller (1993), die sehr praxisrelevante Merkmale für die Gestaltung von Unterricht aufgeführt haben, finden keine vergleichbaren Merkmale bei den anderen Autoren; sie fallen in die Kategorie III. Hierzu gehören: persönlichkeitsentwickelndes Lernen, Lernen in Lernschleifen, Lernen nach dem Feedback-Prinzip,Methodenmix und exemplarisches Lernen. Die Gegenüberstellung der verschiedenen Merkmale handlungsorientierten Unterrichts wurde deshalb ausführlich dargelegt, weil sich fast alle Merkmale in den verschiedenen Planungsrastern von handlungsorientiertem Unterricht wieder finden. Die folgenden drei Planungsraster (I, II u. III), realisieren in verschiedenen Phasen des Unterrichts unterschiedlichste Merkmale.Dabei nehmen die Merkmale verschiedene Funktionen wahr: 4 Sie dienen als Strukturierungshilfe für den Unterrichtsablauf, 4 sie definieren den Grad der Handlungsorientierung, 4 sie bestimmen die Intentionen der einzelnen Phasen,
4 sie beeinflussen die methodischen und medialen Entscheidungen, 4 sie tragen zur Bestimmung der Lehrer- und Schülerrollen bei und 4 sie tragen dazu bei, dass die Planung, Durchführung und Evaluation stringent verläuft.
6.2
Welche Entwicklungsschritte bzw. Phasen sind für die Einführung von Handlungsorientierung wichtig?
Aufgrund jahrelanger eigener Unterrichtserfahrung in verschiedenen Bildungsgängen des Gesundheitsund Pflegebereiches sowie aus Beobachtungen von Hospitationen und Lehrproben schlage ich folgenden Dreierschritt zur sukzessiven Einführung von handlungsorientiertem Unterricht vor: 4 Phase I: Lehrende integrieren Basiselemente handlungsorientierten Unterrichts: Dieser Unterricht ist insbesondere für Lernergruppen geeignet, die sich im Anfangsstadium ihres Lernprozesses befinden und über geringe Kompetenzen im Bereich des eigenständigen Arbeitens verfügen.Dementsprechend sollte der Lehrende den Unterricht vorbereiten, durchführen und evaluieren (s. hierzu 6.2.1). 4 Phase II: Lehrende ermöglichen Partizipation der Lernenden: Dieser Unterricht kann vom Lehrenden dann sinnvoll vorbereitet werden, wenn Lernergruppen bereits schon über gewisse Kompetenzen im Bereich des selbstständigen Lernens, der Gruppenarbeit und der Verantwortung für sich und den anderen gegenüber verfügen (s. dazu 6.2.2). 4 Phase III: Lehrende führen eine gemeinsame Planung mit Lernenden durch: Dieser Unterricht kann vom Lehrenden so vorbereitet werden, dass die eigentliche Planungsarbeit Bestandteil des Unterrichts wird. Diese Art von Unterricht ist für Lernergruppen geeignet, die gewohnt sind, Entscheidungen zu treffen, für diese verantwortlich zu sein und darüber hinaus über ein Repertoire von Lern-, Methodenund Sozialkompetenz verfügen (s. dazu 6.2.3). Die . Tabelle 6.3 charakterisiert diese drei Phasen handlungsorientierten Lernens und zeigt deutlich die Entwicklung des Lern- und Lehrprozesses von
127 6.2 · Entwicklungsschritte bzw. Phasen für die Einführung von Handlungsorientierung
6
. Tabelle 6.3. Das Stufenmodell des handlungsorientierten Unterrichts Phasen bzw. Entwicklungstufen/ Kennzeichnungen
Phase I Eher vermittelnder Unterricht
Phase II Eher Anbieten von handlungsorientierten Lernarrangements
Phase III Eher mitgeplanter und mitgetragener handlungsorientierter Unterricht
Lehrerhandlungen
Lehrende integrieren Basiselemente handlungsorientierten Unterrichts
Lehrende ermöglichen Partizipation der Lernenden
Lehrende führen eine gemeinsame Planung mit Lernenden durch
Lernstand der Schüler
Für Lernergruppen im Anfangsstadium ihres Lernprozesses
Für Lernergruppen im fortgeschrittenen Anfangsstadium ihres Lernprozesses
Für Lernergruppen im fortgeschrittenen Stadium ihres Lernprozesses
Planungsart
Fremdplanung unter starker Berücksichtigung der Handlungsinteressen der Schüler und ihrer Handlungsmöglichkeiten im Unterricht
Fremdplanung mit Partizipationsmöglichkeiten der Schüler.
Eigenplanung der Lernenden mit Unterstützung und Beratung der Lehrenden
Grad der Handlungsorientierung
Selbsttätigkeit der Schüler wird durch die Gestaltung des handlungsorientierten Unterrichts gefördert
Mitbestimmung und Mitplanung der Schüler bei verschiedenen Gestaltungsmöglichkeiten des Unterrichts
Selbstorganisation des Lernprozesses, Lernende übernehmen Verantwortung für ihren eigenen Lernprozess.
Ziele
Kompetenzzuwachs vor allem in den Dimensionen: Lern-, Methoden- und Sozialkompetenz sowie kommunikativer Kompetenz
Selbstständigkeit der Schüler und Schülerinnen, höhere Identifikation mit dem eigenen Lernprozess und Erweiterung des Kompetenzerwerbs
Emanzipation und Erweiterung der beruflichen Handlungskompetenz
Lernende entscheiden über Varianten wie z. B.: – Inhalte/Themen/ Lernsituationen – Methoden – Präsentationsmöglichkeiten – Bewertungskriterien
Persönlichkeitsentwicklung
einer Erzeugungs- zu einer Ermöglichungsdidaktik auf. Die drei Schritte bzw. Phasen sind als kontinuierliche Entwicklung von Lernergruppen zu sehen, die für jede Klasse individuell ist und vom Lehrenden mit den Lernenden kommuniziert werden muss. Die Kommunikation stellt über alle Handlungsvollzüge eine wichtige, wenn nicht sogar die wichtigste Rolle im handlungsorientierten Unter-
richt dar. Schließt man sich der Definition von Bader (2000, S. 211) an, so bedeutet kommunikative Kompetenz »die Fähigkeit und Bereitschaft, Sachverhalte und Befindlichkeiten auf dem Weg über verbale (gesprochene und geschriebene) und formale (Formeln, Grafiken...), aber auch über nonverbale Mittel (durch Gestik und Mimik) auszutauschen. Hierzu gehört es, eigene Absichten und Bedürfnisse sowie die der Partner wahrzunehmen, zu
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6
Kapitel 6 · Orientierungshilfen für die Einführung von Handlungsorientierung
verstehen und darzustellen. Es geht demnach um das Verstehen und Gestalten kommunikativer Situationen.« Sprache ist demzufolge »Mittel der Reflexion und zugleich Voraussetzung der anzustrebenden Kommunikation« (Köck 1996, 62). Die folgenden Planungsraster (I–III) sind so zu verstehen, dass sie auf einem Kontinuum von »planbaren« und »nicht planbaren« Elementen angesiedelt sind. Viele Aspekte ergeben sich erst im Prozess selbst; dies trifft vor allem bei der zweiten und dritten Phase handlungsorientierten Unterrichts bzw. Seminars. zu. Für Dozenten und Lehrer, die gerade mit der Umsetzung handlungsorientierter Seminare beginnen, kann eine Planung jedoch sehr hilfreich sein, da sie ihnen Sicherheit gibt und strukturbildend den »roten Faden« des Seminars bzw. Unterrichts aufzeigt. Da Schüler bzw. Teilnehmer »sich nun einmal nicht ohne weiteres verplanen lassen« (Becker 1984, S. 205), ist Flexibilität, Offenheit und Bereitschaft für Veränderung gegenüber den Interessen der Lernenden die Grundvoraussetzung für den Lern- und Arbeitsprozess im handlungsorientierten Unterricht. Bleibt diese Grundthese unberücksichtigt, können häufig Verweigerung und Opposition der Lernenden gegenüber dem geplanten Unterricht des Lehrenden beobachtet werden (Messner 1978, S. 145f). Derartige Unterrichte, die vom Lehrenden hypothetisch antizipiert werden, können im Sinne von Becker (1984, S. 206) nur vorbereitet und nicht geplant werden. Verschreibt man sich dem handlungsorientierten Unterricht,so bedeutet dies,»Abschied zu nehmen von dem Anspruch, alle Lernprozesse bis ins kleinste Detail vorplanen, vorstrukturieren und vorgeben zu wollen, damit die Schülerinnen und Schüler den Lernstoff wohlportioniert,‘durchoperationalisiert’und ‘kleingearbeitet’ vorgesetzt bekommen, und ihnen im wahrsten Sinne des Wortes nur noch das ‘Schlucken’ bleibt« (Jürgens 1995, S. 12). Die Wahrnehmungs- und Beobachtungstätigkeit der Lehrenden während des gesamten Lernprozesses ist unabhängig davon, in welcher Phase des handlungsorientierten Unterrichts sich eine Lernergruppe befindet. Der Lehrende hat weiterhin die wichtige Aufgabe und Verantwortung, während des Lernprozesses sowohl Schwankungen in der Lernbereitschaft sensibel wahrzunehmen als auch sporadisch auftretende Konflikte in der Grup-
pe zu thematisieren. Ein Planungsraster entlässt den Lehrenden hier nicht aus der Verantwortung. Deshalb kann eine Planung auch nur den Charakter des »Vorläufigen« haben.
6.2.1 Phase I:
Lehrende integrieren Basiselemente handlungsorientierten Unterrichts Auch wenn es sich nach der Klassifikation von Arnold u. Schüßler (1998, S. 125) um eine Vermittlungsdidaktik handelt, so können doch Elemente des handlungsorientierten Unterrichts integriert werden und damit der allmähliche Übergang zur Ermöglichungsdidaktik geschaffen werden. Die Umsetzung der Handlungsorientierung liegt hier vor allem in der Planungsphase begründet. Es geht darum, dass der Lehrende Handlungsinteressen und Bedürfnisse sowie individuelle Vorlieben und Abneigungen der Lernenden in der Vorbereitungsund Planungsphase beachtet. Darüber hinaus muss er nach Handlungsmöglichkeiten suchen, die kognitive (reflexive und prospektive) und emotionale Anteile beinhalten, sowie sozial-kommunikative wie auch gegenständlich-materielle Handlungsarten realisieren helfen (Muster-Wäbs u. Schneider 2001b, S. 200). Oberste Priorität ist, dass die »Selbsttätigkeit im Unterrichtsprozeß (nur) ...dann gerechtfertigt (ist),wenn sie einen Beitrag zur Selbständigkeit der SchülerInnen leistet« (Meyer u. Paradies 1995, S. 15). Vertreter der humanistischen Psychologie (wie z. B. Rogers 1999, Cohn 1989) fordern einerseits die Schaffung einer lernförderlichen Umgebung,andererseits wird für sie sinnvolles Lernen nur durch persönliches Lernen realisiert. Deshalb können Lernende nur über die Entwicklung ihres eigenen Lernprogramms sinnvoll für sich lernen.Diese Entwicklung muss vom Lehrenden methodisch unterstützt werden,einschließlich seiner eigenen Person (Jürgens 1995, S. 7). Diese selbstständigkeitsfördernden Handlungen können dann gezielt in die einzelnen Phasen des Unterrichts integriert werden. Dazu ist es allerdings im nächsten Schritt erforderlich, geeignete Methoden auszuwählen. Gudjons (1987, S. 36) formuliert dies in Form einer Leitfrage:
129 6.2 · Entwicklungsschritte bzw. Phasen für die Einführung von Handlungsorientierung
7
Wo und wie können Schüler/innen selbst aktiv werden, etwas tun, mit anderen Augen und Ohren; wo kann ich statt zu belehren und darzustellen z. B. Schüler/innen selbst etwas entdecken lassen?
Die Antizipation der Lernhandlungen zeigt auf, in welchem Grad Lernende ihren Lernprozess selbst steuern können und »wie deren Aneignung von Erkenntnissen über private, berufliche und gesellschaftliche Bereiche projektiert ist« (Muster-Wäbs u. Schneider 2001a, S. 5). Messner (1978, S. 147) sieht in der Planung eher den »Entwurf einer didaktischen Landkarte« realisiert, der es ermöglicht, dass die Lernenden unterschiedliche Lernwege gehen und dadurch eigene subjektive Lernerfahrungen machen. Auch wenn dem Lernenden damit zugetraut wird,eigene Lernwege und unter Umständen auch »Lernumwege« zu gehen, muss der Lehrende dafür Sorge tragen, dass Misserfolge und Versagensängste nicht wiederholt eintreten; denn hier besteht die Gefahr der Resignation und Entmutigung (Jürgens 1995,S.14). Jürgens (1995, S. 14) empfiehlt, diese Unterstützungsmaßnahmen nach dem »Prinzip der minimalen Hilfe« auszurichten. Auf die Problematik der handlungsorientierten Methoden wird nicht näher eingegangen. (Siehe hierzu auch: Brauneck et. al. 2000, Klippert 1999, Meyer 1987, Muster-Wäbs u Schneider 2001a).
Planungsraster I: Lehrende integrieren Basiselemente handlungsorientierten Unterrichts Das Planungsraster in . Tabelle 6.4 eignet sich für Lernergruppen, die sich im Anfangsstadium ihres Lernprozesses befinden. In den folgenden Tabellen der Planungsraster finden sich im Tabellenkopf die Bezeichnungen »Merkmale« und »Phasen«. Es ist selbstverständlich, dass sich diese Angaben auf handlungsorientierten Unterricht bzw. handlungsorientierte Seminare beziehen.
6
6.2.2 Phase II:
Lehrende ermöglichen Partizipation der Lernenden Nachdem im ersten Schritt die Berücksichtigung sowohl der Interessen der Lernenden als auch ihrer Handlungsmöglichkeiten im Unterricht stattgefunden hat, geht es im nächsten Schritt darum, die Handlungsorientierung insofern einzulösen, als die Schüler und Schülerinnen auf verschiedenen Ebenen der Unterrichtsrealisierung mitbeteiligt werden. Partizipation der Lernenden beschränkt sich dabei zunächst auf die Mitentscheidung, Mitbestimmung und Mitplanung unterschiedlicher Bestandteile des Lern-Lehr-Arrangements. Konkret erhalten die Lernenden die Möglichkeit, begründet über folgende Varianten mit zu entscheiden: 4 Varianten der inhaltlichen Erarbeitung (z. B. Themenauswahl, Qualität und Quantität der Themen bzw. Lernsituationen); 4 Varianten der methodischen Arbeitsschritte (z.B.Gruppenarbeit oder Partnerarbeit,Exkursion oder Expertengespräch); 4 Varianten der Präsentationsmöglichkeiten (z.B. mittels Moderationswand oder Overheadprojektor); 4 Varianten der Bewertungskriterien (z.B.mündliche Reflexionsrunden oder schriftlich fixierte Lerntagebücher mit entsprechenden Einzelberatungen). Die Mitentscheidung beschränkt sich zu Beginn eines Lernprozesses auf die vom Lehrenden vorgeplanten Elemente des Unterrichtsgeschehens.Hierbei wird die Planung des Lehrers »als eine Hypothese über ein möglicherweise geeignetes Angebot betrachtet, das erst während des wirklichen Kontaktes der Schüler mit dem Inhalt seine Tauglichkeit unter Beweis stellen kann« (Messner 1978, S. 149). Die Lernenden erhalten zu Beginn des Unterrichts die Gelegenheit, zum gesamten Unterrichtsplan ihre persönliche Meinung zu äußern bzw.Stellung zu beziehen. Darüber hinaus haben sie die Chance,Änderungsvorschläge mit allen Beteiligten zu diskutieren. Ergeben sich gravierende Veränderungen für den weiteren Verlauf des Unterrichts,ist es notwendig, den Unterricht zu unterbrechen, so dass der Lehrende genügend Zeit hat, die neu ver-
130
Kapitel 6 · Orientierungshilfen für die Einführung von Handlungsorientierung
. Tabelle 6.4. Lehrende integrieren Basiselemente handlungsorientierten Unterrichts Merkmale
Phasen
Subjektive Schülerinteressen (Gudjons, Jank u. Meyer, Halfpap)
I. Vorbereitungsphase Klärung der Bedingungen in Bezug auf: Lernsituation bzw.Themen (Rahmenrichtlinien, gesetzliche Vorgaben) Lernergruppe Lehrerteam Organisation Lernumfeld Handlungsablauf Lehrende bzw.Teams erstellen wie im herkömmlichen Unterricht eine Bedingungsanalyse. Hier wird jedoch besonderes Augenmerk auf die subjektiven Schülerinteressen, Sichtweisen u. möglichen Alternativen gelegt.
6
Lehrende planen im Vorfeld Möglichkeiten ein, die es Lernenden ermöglichen, durch Handlungserfahrungen eigene Interessen zu entwickeln. Didaktischer Kommentar Die Vorbereitung und die Durchführung werden überwiegend bzw. hauptsächlich vom Lehrer (Lehrerteam) getragen. Erst wenn Interessen bewusst geworden sind, können diese später in Handlungsziele umformuliert werden. Lehrer als »individueller« Lernberater und Organisator (Laur-Ernst)
II. Einstiegsphase – Ankommenssituation Handlungsablauf Lehrende bzw.Teams versuchen, über verschiedene Methoden bzw. Medien sich und den Lernenden den Kontakt mit ihrem »Ich«, zum Thema und zur Gruppe zu ermöglichen. Didaktischer Kommentar Der Lehrende übernimmt hier die Rolle des Organisators, indem er für eine fruchtbare und förderliche Lernumgebung sorgt. Dadurch wird das »Ankommen« in einer Lernsituation für alle Beteiligten erleichtert. Bei ausreichender Zeit muss kein thematischer Bezug bestehen.
Aktivierung der Sinne (Gudjons)
– Orientierungsrahmen Handlungsablauf Der Lehrende informiert die Lernenden über Ziele und Ablauf der Lernsituation. Dies sollte durch entsprechende Methoden und Medien unterstützt werden. Didaktischer Kommentar Bereits von Anfang an sollte ein ausgewogenes Verhältnis in der Ansprechbarkeit unterschiedlicher Lerntypen bestehen. Für die Lernenden sind Zieltransparenz und geplanter Ablauf deshalb von enormer Wichtigkeit, weil sie nicht nur einen Orientierungsrahmen und einen Überblick erhalten, sondern sich auch besser auf die Lerneinheit einstellen können. Dieses ist unabhängig von dem gewählten Einstieg.
131 6.2 · Entwicklungsschritte bzw. Phasen für die Einführung von Handlungsorientierung
6
. Tabelle 6.4. Fortsetzung Merkmale
Phasen
Ganzheitlichkeit (Jank u. Meyer, Halfpap, Arnold u. Müller)
– Ganzheitlicher handlungsorientierter Einstieg (z. B. erfahrungsorientiert, problemorientiert, informationsorientiert)
Erfahrungsbezug (Gudjons, Halfpap, Bader, Arnold u. Müller) Orientierung an Handlungsfeldern (Bader) Arbeitsweltliche Realität (Laur-Ernst) Ausgewogenheit von Kopf- und Handarbeit (Jank u. Meyer, Gudjons) Grenzen durch Systematik eines Faches (Gudjons)
Keine Einzelkämpfer (Gudjons) Kooperatives Lernen (Laur-Ernst) Selbstständiges Handeln und aktives Handeln und aktives Lernen durch planvolles Handeln (Arnold u. Müller) Interaktionsbetont (Halfpap) Schüleraktivität (Jank u. Meyer)
Handlungsablauf Der Lehrende organisiert und gestaltet die Unterrichtseröffnung, indem er sich, je nach Lernsituation und Bedingungen, für einen schüleraktiven u./o. lehreraktiven Einstieg entscheidet Als Basis für die Einstiege können die didaktischen Ansätze nach Ingo Scheller, Heinrich Roth und Jochen u. Monika Grell hilfreich sein. Didaktischer Kommentar Das Ziel des Einstiegs besteht darin, dass die Lernenden entweder die Möglichkeit erhalten, an ihren eigenen persönlichen u./o beruflichen Erfahrungen anzuknüpfen oder vor eine Aufgabe bzw. ein Problem gestellt werden, welches nach Möglichkeit aus der beruflichen Arbeitswelt stammt bzw. an berufliche Handlungsfelder anknüpft. Damit wird die konkrete Lebenssituation zum Ausgangspunkt des Denkens. Die sprachliche Auseinandersetzung darüber ermöglicht die Aneignung von Wirklichkeit. Ein handlungsorientierter Unterrichtseinstieg ist dann ganzheitlich realisiert, wenn er sowohl den personellen wie den inhaltlichen und methodischen Aspekt in sich vereinigt. Die Systematik des Faches wird zu Gunsten der Handlungssystematik aufgegeben. Darüber hinaus hat ein handlungsorientierter Unterrichtseinstieg die Aufgabe, den Lernenden Hilfestelllungen und Anregungen zu geben, damit sie sich dem Thema bzw. der Lernsituation annähern können. Eine Identifikation mit der Aufgabenstellung erleichtert die Bearbeitung und Auseinandersetzung. III. Erarbeitungsphase Übernahme der Aufgaben- bzw. Problemstellung Einführung von Beobachtungs- und Bewertungskriterien Selbsttätige Klein- oder Großgruppenarbeit Erstellung eines Arbeitsplans Evtl. fachsystematische Einschübe Handlungsablauf Der Lehrende formuliert den konkreten Auftrag bzw. das zu bearbeitende Problem und versichert sich, dass alle Lernenden arbeitsfähig sind. Er bestimmt die Bewertungskriterien und stellt sie der Lernergruppe vor. Darüber hinaus organisiert und gestaltet er die Arbeitsform, ebenso stellt er Informationsmaterial zur Verfügung. Evtl. gibt er einen Informationsinput. Er steht als Lernberater und Prozessbegleiter zur Verfügung.
Didaktischer Kommentar Lernen in der Gruppe zwingt förmlich die Kommunikation und Kooperation der Schüler untereinander heraus. Damit wird Lernen zum sozialen Geschehen. Gemeinsames Handeln Selbstorganisiertes führt zur Aufgabenbewältigung, dazu erstellen die einzelnen Gruppen einen Arbeitsplan. Lernen (Arnold u. Müller) Die Selbsttätigkeit ist hierbei die Grundvoraussetzung für Selbstständigkeit. Die LösungsLehrer, die kaum noch wege zur Erreichung des gesetzten Zieles bzw. Ergebnisses liegen in der Verantwortung der (nur) lehren, Lehrer als einzelnen Lernergruppen. Der Lehrende steht bei Bedarf zur Unterstützung bereit. »individueller« Lernberater und Organisator (Arnold u. Müller, Laur-Ernst) Lernen in Lernschleifen (Arnold u. Müller)
132
Kapitel 6 · Orientierungshilfen für die Einführung von Handlungsorientierung
. Tabelle 6.4. Fortsetzung Merkmale
Phasen
Lernen nach dem Feed-back-Prinzip (Arnold u. Müller)
IV. Auswertungsphase – Präsentation der Ergebnisse – Bewertung der Ergebnisse Handlungsablauf Der Lehrende moderiert die Präsentation der Arbeitsergebnisse. Die Ergebnisse werden nach den vorgegebenen Kriterien von den Lernenden und vom Lehrenden beurteilt. Didaktischer Kommentar Durch die Transparenz der Beurteilungskriterien fällt es Schülern leichter, die eignen und fremden Ergebnisse zu beurteilen. Jeder Schüler erhält Klarheit über seinen Lernstand, er wird dazu befähigt, sich selbst einzuschätzen.
6 Lernen nach dem Feed-back-Prinzip (Arnold u. Müller)
V. Evaluationsphase – Reflexion des Lernprozesses Handlungsablauf Lernende und Lehrende reflektieren gemeinsam den Lernprozess, d. h. sowohl das methodische Vorgehen als auch die Zusammenarbeit wird nach gelungenen und verbesserungswürdigen Aspekten analysiert. Didaktischer Kommentar Von didaktisch hohem Wert ist der Abgleich zwischen Selbst- und Fremdeinschätzung von Lernenden untereinander und Lernenden zu Lehrenden.
Ganzheitliches Lernen (Jank u. Meyer, Halfpap, Arnold u. Müller)
– Konsequenzen für den nächsten Lernprozess Handlungsablauf Lehrende ziehen unter Beteiligung der Lernenden Rückschlüsse bzw. Konsequenzen für die nächste Lernsituation. Gelungene Aspekte werden weiter vertieft, nicht gelungene verworfen. Didaktischer Kommentar Durch die kritische Rückschau auf den Arbeitsablauf als auch auf das Ergebnis kann eine Handlung verinnerlicht werden. Es hat Lernen stattgefunden.
einbarten Ergebnisse in eine weitere Planungsphase einmünden zu lassen und sich damit auf die veränderte Lernsituation einzustellen. Diese Unterbrechung können auch die Lernenden sinnvoll für sich nutzen, indem sie bestimmte Informationsaufgaben erhalten bzw. organisatorische Aspekte im Vorfeld klären können. Die Phase der Mitentscheidung gilt nach Grell u. Grell (1983, S. 103, 170) als gelungen, wenn der Lehrende 4 auf Mitbestimmungsmöglichkeiten hingewiesen hat, 4 Auswahlmöglichkeiten vorgestellt hat und
4 aufgrund der noch nicht komplett abgeschlossenen Planung Freiräume für die Lernenden existieren, die sie selber ausgestalten können. Nach Becker (1984, S. 97) »sind Schüler durchaus in der Lage, (über) Methoden zu diskutieren«, da sie für sich entscheiden können,welche methodischen Schritte hilfreich sind, welche sie eher am Lernen hindern oder welche ihnen sogar Freude und Spaß bereiten. Die methodische Mitbestimmung ist dann nicht angezeigt, wenn eine Methode neu eingeführt wird und damit die Methode selbst zum Gegenstand des Kompetenzerwerbs wird.
133 6.2 · Entwicklungsschritte bzw. Phasen für die Einführung von Handlungsorientierung
Diese auf Mündigkeit,Solidaritätsfähigkeit und Mit- bzw. Selbstbestimmung gerichteten erzieherischen Ziele können jedoch nur dann realisiert werden, wenn Aufwand und Nutzen in einem ausgewogenen Verhältnis stehen. Dies bedeutet, dass für Einzelstunden bzw. kurze Unterrichtssequenzen (im 45-Minuten-Takt) eine derartige Phase der vielfältigen Mitentscheidungen ohne Sinn erscheint.
Planungsraster II: Lehrende ermöglichen Partizipation der Lernenden Dieses Planungsraster eignet sich besonders für Lernergruppen, die sich im fortgeschrittenen Anfangsstadium ihres Lernprozesses befinden. Das heißt, sie verfügen bereits über gewisse Methodenund Lernkompetenzen und sind bereit, ihren eigenen Lernprozess mit zu verantworten. An dieser Stelle wird auf die Darstellung eines ausführlichen Planungsrasters verzichtet, da das Planungsraster I (für Lerner im Anfangsstadium ihres Lernprozesses) übernommen werden kann. Lediglich zwischen der Einstiegsphase und der Erarbeitungsphase ist ein weiterer Schritt, die Entscheidungsphase, einzuschieben. Je nachdem, zu welchem Entschluss die Lernergruppe in Absprache mit dem Lehrenden kommt, kann eine Unterbrechung der Lernsituation angezeigt sein.Die verkürzte Form des Planungsrasters gibt . Tabelle 6.5 wieder.
6.2.3 Phase III:
Lehrende führen eine gemeinsame Planung mit Lernenden durch
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In dieser Phase findet das »handlungsorientierte Lernen (seine) Ergänzung und Vollendung in der gemeinsamen Planung des Lernprozesses mit den Schülern (Hoffmann u. Langefeld 1996, S. 19).
Hier stellt sich zu Beginn die Frage, inwieweit die Lernenden bereits in der Planungsphase, die traditionell bislang den Lehrenden vorbehalten blieb, mitberücksichtigt bzw. zu gleichberechtigten Planungspartnern werden können.
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In dieser dritten Phase der Umsetzung handlungsorientierten Lernens ist das eigentliche Ziel der Handlungsorientierung, das Planen selbst zum Gegenstand des Unterrichts zu machen, um somit den Anforderungen des Modells einer vollständigen Handlung,die mit Handlungszielen und einem Handlungsplan beginnt, gerecht zu werden (Aebli 1983, S. 197 ff.,Aebli 1993, S. 148 ff.). Nicht nur die Inhalte bzw.Themen werden von Lernenden gemeinsam mit dem Lehrenden bzw. dem Lehrerteam geplant, sondern auch die Vorgehensweise (Verfahrensplanung), die Präsentationsformen sowie die Bewertungskriterien. Gerade der letzte Aspekt, die Leistungsbeurteilung, schafft Transparenz für die Lernenden, hilft Ängste abzubauen und zielt auf eine konstruktive Entwicklung des einzelnen Lernenden. Becker beschreibt die Partizipation in mehreren Bereichen.
7
Der Lehrer dokumentiert sein Interesse am Lernerfolg der Schüler, er macht deutlich, dass er keine ungerechtfertigten Leistungsansprüche stellen und die Schüler nicht unter Druck setzen will, und trägt so zu einer Verbesserung der Lehrer-Schüler-Beziehungen bei (Becker 1984, S. 97).
Der Unterschied zwischen der ersten und der letzten Phase des handlungsorientierten Unterrichts besteht darin, dass die Selbsttätigkeit durch die Selbstständigkeit der Schüler im Hinblick auf Planung, Durchführung und Evaluation von Unterricht abgelöst wird.Damit wird den Lernenden »als Subjekten ihrer Lernprozesse eine größere Verantwortung übertragen« (Gudjons 1997, S. 65). Die Schüler machen sich das unterrichtliche Anliegen zu Eigen. Hier genau ist die Gelenkstelle, an der die »didaktische Illusion der Machbarkeit« (Arnold 1992, S. 75) aufgelöst wird. Die Erzeugungsdidaktik wird um die Ermöglichungsdidaktik erweitert (Arnold u. Schüßler 1998, S. 120 ff.), das Instruktionslernen wird durch Handlungslernen ersetzt (Halfpap 1996b, S. 37). Bevor Lehrende diesen Schritt gehen, müssen sie sich darüber im Klaren sein, welche Spielräume im Hinblick auf die vom Rahmenlehrplan vorgese-
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Kapitel 6 · Orientierungshilfen für die Einführung von Handlungsorientierung
. Tabelle 6.5. Lehrende ermöglichen Partizipation der Lernenden Merkmale
Phasen
s.Tab. 6.4
I. Vorbereitungsphase II. Einstiegsphase – Ankommenssituation – Orientierungsrahmen – Ganzheitlicher handlungsorientierter Unterrichtseinstieg
6
Schülerbeteiligung an der Planung (Jank u. Meyer)
III. Entscheidungsphase – Themen / Inhalte / Lernsituationen – Methoden bzw.Vorgehensweise – Präsentationsmöglichkeiten – Bewertungskriterien Handlungsablauf Der Lehrende hat verschiedene Varianten in Hinblick auf Themen, Methoden / Vorgehensweise, Präsentationsmöglichkeiten und Bewertungskriterien vorbereitet. Diese stellt er der Lernergruppe vor. Die Lernenden erhalten die Möglichkeit, sich begründet und argumentativ in der Auseinandersetzung mit den anderen für eine oder verschiedene Möglichkeiten zu entscheiden. Didaktischer Kommentar Auch wenn im Sinne einer vollständigen Handlung die Planung des Lernprozesses nicht selbstständig erfolgte, so können die Lernenden immerhin durch die Mitplanung und damit Mitentscheidung einen wesentlichen Einfluss auf den weiteren Verlauf des Unterrichts nehmen. Gleichzeitig wird damit die Eigenverantwortung der Lernenden für ihren Lernprozess gefördert.
s.Tab. 6.4
Evtl. Unterbrechung des Unterrichtes Handlungsablauf Lehrende und Lernende können sich inhaltlich und methodisch auf die nächste Lernsituation vorbereiten. Didaktischer Kommentar Durch diese im voraus einzuplanende Unterbrechung erhalten Lehrende eine gewisse Sicherheit, nicht auf alle Eventualitäten vorbereitet sein zu müssen.
s.Tab. 6.4
IV. Erarbeitungsphase – Übernahme der Aufgaben- bzw. Problemstellung – Einführung von Beobachtungs- und Bewertungskriterien – selbsttätige Klein- oder Großgruppenarbeit – Erstellung eines Arbeitsplans – evtl. fachsystematische Einschübe
s.Tab. 6.4
V. Auswertungsphase – Präsentation der Ergebnisse – Bewertung der Ergebnisse
s.Tab. 6.4
VI. Evaluationsphase – Reflexion des Lernprozesses – Konsequenzen für den nächsten Lernprozess
135 6.2 · Entwicklungsschritte bzw. Phasen für die Einführung von Handlungsorientierung
henen Inhalte,Themen bzw.Lernsituationen bestehen. Zu Beginn wäre es empfehlenswert, den Lernenden einerseits einen Fundus von Lernsituationen vorzustellen, die unbedingt thematisiert werden müssen,andererseits kann ein Zusatzangebot bzw. Freiräume geschaffen werden, die die Lernenden unterschiedlich nutzen können (Becker 1984, S. 95). So erfahren bzw. lernen die Schüler von Anfang an, mit vorgegebenen Rahmenbedingungen konstruktiv und sinnvoll umzugehen. In dem Prozess der Vereinbarung kommt man dem Bildungsziel »Emanzipation« näher, denn
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entscheidend ist, daß eine entwickelte gesellschaftliche Handlungsfähigkeit immer zwei Komponenten einschließen muß, nämlich einmal die Fähigkeit zu einer einsichtigen und selbstverantwortlichen Identifikation mit wesentlichen Grundprinzipien und Anforderungen unserer Gesellschaft und zugleich die Fähigkeit, diese Prinzipien und Anforderungen immer wieder gemeinsam mit anderen auf ihren Sinn hin zu überprüfen und, sofern notwendig, an ihrer Fortentwicklung zu arbeiten (Messner 1978, S. 146).
Das hier formulierte Mündigkeitspostulat versucht, dem Anspruch der Emanzipation insofern gerecht zu werden, als Lehrende und Auszubildende »gemeinsam dirigistisches Verhalten abbauen und die unterrichtliche Struktur so verändern, daß ein zunehmend größeres Ausmaß an Selbständigkeit und Mitbestimmung der Schülerinnen und Schüler ermöglicht wird« (Wagner 1982, S. 28 zit. in: Jürgens 1995, S. 7). Um die gemeinsam vereinbarten Ziele, Handlungsprodukte und Bewertungskriterien ernst zu nehmen, muss im Regelfall nach einer Planungsphase ein Freiraum für alle Beteiligten gegeben werden,damit der Einstieg in die nächste Phase des Unterrichts, in die genannte Produktionsphase, effektiv und gezielt angegangen werden kann. Haben Lernende diesen dritten Schritt in ihrem Lernprozess erreicht,das heißt,sind sie in der Lage, gemeinsam mit dem Lehrenden ihre Ausbildung zu planen, durchzuführen und zu evaluieren, übernimmt der handlungsorientierte Unterricht keine
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»Orchideenfunktion« (Bönsch 2000) mehr, sondern wird zum Regelfall des Unterrichtsalltags.
Planungsraster III: Lehrende führen eine gemeinsame Planung mit Lernenden durch Dieses Planungsraster ist für Lernergruppen im fortgeschrittenen Stadium geeignet (. Tabelle 6.6). Derartige Lernergruppen sind bereits das selbstständige Arbeiten gewohnt, sie verfügen über ausreichende Lern- und Methodenkompetenzen und haben ein hohes Interesse an der Planung ihres Lern- bzw. Ausbildungsprozesses. Die folgende Verlaufsplanung basiert hauptsächlich auf dem von Muster-Wäbs u. Schneider (1999, S. 43) entwickelten Planungsraster »Handlungstheoretische Aneignungsdidaktik«. Es wurde im Zusammenhang mit der Einführung des Lernfeldkonzeptes in Hamburg an berufsbildenden Schulen entwickelt. In der Zwischenzeit wurde es mehrfach mit Studenten, Referendaren und Berufsschullehrern erprobt und überarbeitet.Das folgende Planungsraster ist das Ergebnis dieser dreijährigen Evaluation.
6.2.4 Schwierigkeiten
bei der sukzessiven Einführung von handlungsorientiertem Lernen Unabhängig von der jeweiligen Schülerklientel wäre jeder Auszubildende bzw. jeder Lernende überfordert, wenn er von Anfang an seinen Lernund Ausbildungsprozess planen, durchführen und bewerten sollte. Hier bedarf es der gezielten und gestuften Anleitung und Begleitung durch den Lehrenden. In der gestuften Einführung des handlungsorientierten Unterrichts sehe ich eine Möglichkeit realisiert, diesem Problem entgegenzutreten.Andererseits muss jedoch auch diese Phase der gemeinsamen Planung sukzessive vorbereitet werden. Der Prozess der Einigung stellt die schwierigste Phase des handlungsorientierten Unterrichts dar, weil hier sowohl den Lehrenden als auch den Lernenden hohe Kompetenzen im Bereich der Personal-, Sozial- und kommunikativen Kompetenz abverlangt werden. Zu Beginn des Lehr-Lernprozesses kommt es in den seltensten Fällen vor, dass
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Kapitel 6 · Orientierungshilfen für die Einführung von Handlungsorientierung
. Tabelle 6.6. Lehrende führen eine gemeinsame Planung mit Lernenden durch (s. auch Muster-Wäbs u. Schneider 1999, S. 43) Merkmale
Phasen
Subjektive Schülerinteressen (Gudjons, Jank u. Meyer, Halfpap)
I. Vorbereitungsphase Klärung der Bedingungen in Bezug auf: Lernsituation bzw.Themen (Rahmenrichtlinien, gesetzliche Vorgaben) Lernergruppe (hier vor allem hypothetisch formulierte Handlungsziele) Lehrerteam (Lehrziele) Organisation Lernumfeld
Handlungsziele (Gudjons)
Handlungsablauf Lehrende bzw.Teams erstellen wie im herkömmlichen Unterricht eine Bedingungsanalyse. Hier liegt jedoch das Augenmerk auf der Vorbereitung der Planungsphase im Unterricht Lehrende formulieren ihre Lehrziele, gleichzeitig formulieren sie hypothetisch Handlungsziele für die Lernenden.
6
Didaktischer Kommentar Die Vorbereitung vom Lehrer bzw. vom Lehrerteam besteht hauptsächlich darin, sich auf die gemeinsame Planungsphase mit den Lernenden vorzubereiten. Hier ist es wichtig, vorab schon den Radius der Gestaltungs- und Freiräume der Lernenden zu bestimmen. Lehrer als »individueller« Lernberater und Organisator (Laur-Ernst) Aktivierung der Sinne (Gudjons)
II. Einstiegsphase – Ankommenssituation Handlungsablauf Lehrende bzw.Teams versuchen, über verschiedene Methoden bzw. Medien sich und den Lernenden den Kontakt mit ihrem »Ich« zum Thema und zur Gruppe zu ermöglichen.
Ganzheitlichkeit (Jank u. Mayer, Halfpap, Arnold u. Müller)
Didaktischer Kommentar Der Lehrende übernimmt hier die Rolle des Organisators, indem er für eine fruchtbare und förderliche Lernumgebung sorgt. Dadurch wird das »Ankommen« in einer Lernsituation für alle Beteiligten erleichtert.
Erfahrungsbezug (Gudjons, Halfpap, Bader, Arnold u. Müller)
Hinweis! Die Entscheidung für die Gestaltung einer Ankommenssituation kann auch mit den Lernenden im Vorfeld abgesprochen werden, so dass u. U. dieser Schritt entfällt.
Orientierung an Handlungsfeldern (Bader)
– Orientierungsrahmen
Arbeitsweltliche Realität (Laur-Ernst)
Hinweis! Bei sehr komplexen Aufgabenstellungen oder bei Lernergruppen mit noch zu erweiternder Planungskompetenz kann es hilfreich sein, den Unterricht zu unterbrechen. Diese Phase wird von den Lernenden dazu genutzt, sich auf ihre Zielperspektive vorzubereiten. Handlungsablauf Der Lehrende informiert die Lernenden über das anstehende Thema bzw. die Lernsituation und die »mögliche« Abfolge des Unterrichtsgeschehens. Er weist vor allem darauf hin, dass zu Beginn eine gemeinsame Planung durchgeführt werden soll. Hier können entsprechende Methoden und Medien zur Unterstützung hilfreich sein. Meyer (1987, S 137f ) empfiehlt eine »Thematische Landkarte«. Didaktischer Kommentar Für die Lernenden sind Zieltransparenz und geplanter Ablauf von enormer Wichtigkeit, weil sie nicht nur einen Orientierungsrahmen und einen Überblick erhalten, sondern sich gezielt auf die Planungsphase, d. h., welche Bedürfnisse, Interessen und Handlungsziele sie zu dieser Thematik haben, einstellen bzw. vorbereiten können.
137 6.2 · Entwicklungsschritte bzw. Phasen für die Einführung von Handlungsorientierung
6
. Tabelle 6.6. Fortsetzung Merkmale
Phasen
Ausgewogenheit von Kopf- und Handarbeit (Gudjons, Jank u. Meyer)
– Ganzheitlicher handlungsorientierter Einstieg (z. B. erfahrungsorientiert, problemorientiert, informationsorientiert)
Grenzen durch Systematik eines Faches (Gudjons)
Hinweis! Es ist nicht immer ein Einstieg erforderlich (z. B. wenn Lernende keine Anregungen zur eigenen Zielfindung benötigen oder wenn größere Lerneinheiten vorliegen). Handlungsablauf Lehrende und/oder Lernende klären zu Beginn, ob sie einen Einstieg in die Thematik gestalten wollen. Didaktischer Kommentar Hier sollten besondere Wünsche bzw. Anlässe oder Situationen mitberücksichtigt werden. Ein Einstieg kann auch bei Fortgeschrittenen für ihre Entfaltung und Selbststeuerung förderlich sein. Der Einstieg kann häufig als Pool für aufgeworfene Fragen aus der Berufspraxis genutzt werden.
Handlungsziele (Gudjons)
III. Planungsphase – Zielvereinbarung
Produktorientierung (Gudjons, Jank u. Meyer)
Handlungsablauf Lehrende und Lernende stellen ihre unterschiedlichen Zielperspektiven (Lehr- und Handlungsziele) vor. In einer vom Lehrenden geführten Diskussion werden Möglichkeiten der Einigung gesucht.
Tätigkeitsstrukturiert (Halfpap) Exemplarisches Lernen (Arnold u. Müller) Entscheidungs- und Handlungsspielräume, aktiv-konstruktiver Gestaltungsprozess (Laur-Ernst) Lehrer, die kaum noch (nur) lehren, Lehrer als »individueller« Lernberater und Organisator (Arnold u. Müller, Laur-Ernst) Interaktionsbetont und berufsbezogen (Halfpap)
Didaktischer Kommentar Ziel dieses Handlungsschrittes ist es, zu einer einvernehmlichen Einigung zu kommen. Dieser Schritt benötigt sehr viel Zeit und vor allem Bereitschaft des Zuhörens sowie das Einlassen auf andere Zielvorstellungen. Für die Einigungsphase sind methodische Vorschläge des Lehrenden hilfreich. – Produktvereinbarung Handlungsablauf Lehrende initiieren den nächsten Schritt, indem die gemeinsam formulierten Ziele in ein anzustrebendes Produkt einfließen können. Gemeinsam werden Möglichkeiten, Ideen und Vorstellungen gesammelt, die den weiteren Arbeitsprozess bestimmen. Didaktischer Kommentar Die Produkte können für die Lernenden unterschiedlichen Verwertungscharakter haben (siehe hierzu Abb. 6.3). In dieser Phase übernimmt der Lehrende gerade zu Beginn dieser von ihnen selbst zu organisierenden Arbeitsphase eine wichtige begleitende und beratende Funktion. – Verfahrensplanung Handlungsablauf Hier erfolgt in gemeinsamer Absprache die Festlegung folgender Aspekte: inhaltliche Arbeitsschritte Arbeitsformen Zwischenmeetings organisatorischer Rahmen Präsentationsformen des Produktes
Zeitpunkt der Präsentation Beobachtungs- und Bewertungskriterien Beratungszeiten der Lehrenden usw.
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Kapitel 6 · Orientierungshilfen für die Einführung von Handlungsorientierung
. Tabelle 6.6. Fortsetzung Merkmale
Phasen
Vollständige Handlung (Bader)
Didaktischer Kommentar Lehrende und Lernende müssen sich darüber verständigen, wie die Produktionsphase zu gestalten ist. Hinweis! Es ist möglich, dass sowohl unterschiedliche Teilthemen bzw.Teilprodukte als auch unterschiedliche Arbeitsformen gewählt werden. Alles ist möglich, muss jedoch organisatorisch entsprechend berücksichtigt werden. Alle Vereinbarungen sollten schriftlich auf Moderationswänden fixiert sein, damit jeder jederzeit sowohl einen Überblick als auch einen Zugriff darauf hat.
6 Vollständige Handlung (Bader) Problembezogene Handlungssystematik, Berücksichtigung kognitionspsychologischer Theorien u./o. Handlungsregulationstheorien (Lauer-Ernst, Bader)
Keine Einzelkämpfer (Gudjons) Kooperatives Lernen u. aktiv-konstruktiver Gestaltungsraum (Laur-Ernst)
IV. Produktionsphase Hinweis! Diese Phase kann je nach Aufgabenstellung und Komplexität mehrere Stunden bis Tage dauern; ebenso kann diese Phase u. U. in Einzel-, Partner- oder Gruppenarbeit stattfinden. Die Produktionsphase stellt das »Herzstück« des h. o. U. dar, weil hier die Realisierung der Handlungsprodukte stattfindet. – Informationssammlung Handlungsablauf Die Lernenden besorgen sich Informationen, die der Erreichung des gemeinsam formulierten Ziels (Teilziels) bzw. Handlungsproduktes (Teilproduktes) dienen. Didaktischer Kommentar Hier sollten alle Möglichkeiten der Informationsbeschaffung genutzt werden. Liegt noch keine ausreichende Lern- bzw. Methodenkompetenz vor, stehen Lehrende begleitend und beratend zur Seite. Hinweis! Bei komplexen Aufgaben- und Problemstellungen kann sich bereits bei der Informationssammlung, aber auch später zeigen, dass weitere Quellen genutzt werden müssen. Dazu zählen z. B.: – eingeforderte fachsystematische Einschübe von Lernenden, die die Lehrenden durchführen – Einladung von Experten – Durchführung von Exkursionen – usw.
139 6.2 · Entwicklungsschritte bzw. Phasen für die Einführung von Handlungsorientierung
6
. Tabelle 6.6. Fortsetzung Merkmale
Phasen
Entwicklung und Vermittlung impliziten Wissens (Bader)
– Aufgabenbezogene Planung
Selbstständiges Handeln und aktives Tun (Bader) Schüleraktivität (Jank u. Meyer) Selbstorganisiertes Lernen (Arnold u. Müller) Methodenmix und Lernen in Lernschleifen (Arnold u. Müller)
Handlungsablauf Die Lernenden erstellen in ihrer Arbeitsgruppe einen Plan, der ihre weiteren Arbeitsschritte prospektiv festhält. Dabei entwickeln sie auch Handlungsalternativen. Didaktischer Kommentar Hinweis! Ist die Informationssammlung von den Schülern ohne die Unterstützung des Lehrenden geleistet worden, so kann es sein, dass sie bei der aufgabenbezogenen Planung auf informative Defizite stoßen, so dass jetzt die Hilfe in Bezug auf – Einschübe – Einladung von Experten – Durchführung von Exkursionen usw. erforderlich ist.
– Entscheidung Konkrete Handlungen, deren Ergebnis offen ist (Bader) Lernen nach dem Feed-back-Prinzip (Arnold u. Müller)
Lehrer, die kaum noch (nur) lehren, Lehrer als »individueller« Lernberater und Organisator (Arnold u. Müller, Laur-Ernst)
Handlungsablauf Lernende treffen in ihren Arbeitsgruppen begründete Entscheidungen für Alternativen und legen gemeinsam einen Lösungsweg fest. Didaktischer Kommentar Um zu einer Entscheidung kommen zu können, müssen die Lernenden über geeignete Lern- und Methodenkompetenzen verfügen. – Umsetzung Handlungsablauf Die Lernenden arbeiten gemeinsam an der Umsetzung des zuvor aufgestellten Handlungsplanes, um das Handlungsprodukt zu realisieren. Didaktischer Kommentar Bei der Umsetzung findet automatisch ein Abgleich des Handlungsplanes statt, so dass u. U. eine erweiterte Planung bzw. Neuplanung erforderlich ist, die allerdings zusätzliche Zeit in Anspruch nimmt. Hinweis! Ein Zwischenmeeting kann diese Problematik aufgreifen und für eine entsprechende organisatorische Umsetzung sorgen. – Präsentation Handlungsablauf Die einzelnen Arbeitsgruppen präsentieren ihre erstellten Handlungsprodukte dem Plenum. Didaktischer Kommentar Die Präsentation sollte nach einem zuvor vereinbarten Prozedere ablaufen, damit alle Beteiligten zu ihrem Recht kommen.
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Kapitel 6 · Orientierungshilfen für die Einführung von Handlungsorientierung
. Tabelle 6.6. Fortsetzung Merkmale
Phasen – Kontrolle Handlungsablauf Hier haben Lernende und Lehrende die Möglichkeit, sowohl die Handlungsprodukte als auch den Arbeitsprozess nach vereinbarten Kriterien zu kontrollieren. Hier erfolgt außerdem ein Ist- Soll-Abgleich. Die gemeinsame Kontrolle dient dazu, Ergänzungen,Verbesserungen bzw. Erweiterungen vorzunehmen. Didaktischer Kommentar Hier ist die Möglichkeit der Fehlerkorrektur gegeben. Ebenso ist es sinnvoll, eine Einordnung der Teilprodukte in die Gesamtfragestellung vorzunehmen. Außerdem erfolgt eine Generalisierung des Wissens.
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– Bewertung des Handlungsproduktes und des Arbeits-(Lern-)prozesses Handlungsablauf Die Bewertung erfolgt nach den gemeinsam vereinbarten Überprüfungskriterien, die sowohl die Präsentation des Handlungsproduktes als auch den Arbeits- bzw. Lernprozess berücksichtigen. Didaktischer Kommentar Lehrende müssen zu Beginn dafür sorgen, dass eine konstruktive Arbeitsatmosphäre für die Beurteilung des Handlungsproduktes bzw. des Arbeitsprozesses vorliegt. Bei Konflikten und Schwierigkeiten muss der Lehrende intervenierend eingreifen. Konkrete Handlungen, deren Ergebnis offen ist (Bader)
V. Evaluationsphase – Reflexion des gesamten Lernprozesses
Lernen nach dem Feed-back-Prinzip (Arnold u. Müller)
Handlungsablauf Lernende und Lehrende reflektieren gemeinsam den Lernprozess, d. h. sowohl das methodische Vorgehen als auch die Zusammenarbeit wird nach gelungenen und verbesserungswürdigen Aspekten analysiert.
Öffnung des Unterrichts (Gudjons, Jank u. Meyer, Laur-Ernst)
Didaktischer Kommentar Von didaktisch hohem Wert ist der Abgleich zwischen Selbst- und Fremdeinschätzung von Lernenden untereinander und von Lernenden zu Lehrenden.
Lernen nach dem Feed-back-Prinzip (Arnold u. Müller)
141 6.2 · Entwicklungsschritte bzw. Phasen für die Einführung von Handlungsorientierung
6
. Tabelle 6.6. Fortsetzung Merkmale
Phasen
Ganzheitliches Lernen (Jank u. Meyer, Halfpap, Arnold u. Müller)
– Konsequenzen für zukünftige Lernprozesse Handlungsablauf Lehrende ziehen unter Beteiligung der Lernenden Rückschlüsse bzw. Konsequenzen für die nächste Lernsituation.
Persönlichkeitsentwickelndes Lernen (Arnold u. Müller)
Gelungene Aspekte werden weiter vertieft, nicht gelungene verworfen.
Gesellschaftliche Praxisrelevanz (Handeln wozu?) (Gudjons)
Didaktischer Kommentar Durch die kritische Rückschau sowohl auf den Arbeitsablauf als auch auf das Ergebnis kann eine Handlung verinnerlicht werden. Es hat Lernen stattgefunden.
Kompetenzentwicklung zur Bewältigung nicht voraussagbarer beruflicher, gesellschaftlicher und »individueller« Anforderungen (Bader)
– Konsequenzen für den Arbeitsprozess Handlungsablauf Lehrende und Lernende ziehen gemeinsam Konsequenzen für jetzige und zukünftige Anforderungen. Didaktischer Kommentar Für diese Phase sollten Lehrende, vor allem wenn es sich um größere Sequenzen handelt, genügend Zeit einplanen, da hier ein wichtiger Theorie-Praxis-Transfer geleistet werden kann.
Lehrziele und Handlungsziele (aus Lehrersicht hypothetisch formulierte Ziele der Lernenden) übereinstimmen (Meyer 1987, S. 165, 406). Wie einigt sich jedoch eine gesamte Lernergruppe auf einen Themenkomplex bzw. wie entwickelt sich ein gemeinsames Interesse für ein Vorhaben? Hier ist der Lehrende doppelt gefordert, da er die »nur schwer miteinander zu verbindende(n) Ziele gleichzeitig zu verfolgen hat« (Meyer u. Paradies 1995, S. 34): nämlich einerseits die Verantwortung für die gesetzlichen Bestimmungen und die Realisierung der eigenen Lehrziele zu übernehmen, andererseits aber auch für die Verwirklichung der subjektiven Interessen und Handlungsspielräume der Lernenden Sorge zu tragen. Die Unterrichtsrealität hat gezeigt, dass es Einigungssituationen gibt, in denen die Wünsche, Bedürfnisse und Handlungsziele der Lernenden stärker im Vordergrund stehen, dann aber wiederum auch vorgegebene Rahmenbedingungen erfüllt werden müssen. Genau in diesem Abwägungsverhältnis zwischen Freiheiten und Grenzen liegt der hohe Erwerb der beruflichen Handlungskompetenz von Lernenden, aber auch manchmal der von
Lehrenden, wenn sie sich in Geduld und pädagogischer Gelassenheit zurückziehen müssen. Zu der Einigungsphase gehört jedoch ein weiterer neuralgischer Schritt: die Bestimmung des Handlungsproduktes. Die . Abb. 6.2, zeigt deutlich, welche Bedeutung das Handlungsprodukt für den gesamten Unterricht hat.Außerdem lässt sich sehr gut erkennen,dass in dem Handlungsprodukt die Lehrund Handlungsziele verifiziert sind. In jedem Fall können während der Einigungsphase mehrere Lernsituationen entstehen. So besteht die Möglichkeit, dass ein Mehrheitsbeschluss von allen akzeptiert wird; es ist aber auch möglich, dass es zu einer »Individualisierung« (Bönsch 1986, S. 15) der Arbeitsschritte im handlungsorientierten Unterricht kommt.Im Extremfall kann es sein,dass Lerner unterschiedliche Themen mit unterschiedlichen Methoden bearbeiten und präsentieren. Steht allerdings das soziale Lernen in Teams als Thema im Mittelpunkt, so können die Handlungsziele der Lernenden nur in diesem Rahmen realisiert werden. Für die Planungsphase sollte von Anfang an genügend Zeit eingeräumt werden, da erfahrungs-
142
Kapitel 6 · Orientierungshilfen für die Einführung von Handlungsorientierung
gemäß dieser Unterrichtsschritt am zeitintensivsten ist. Er kann je nach Methoden- und Sozial- bzw. Personalkompetenz der Lernenden eine oder bis zu mehreren Stunden in Anspruch nehmen (Becker 1984, S. 96). Dies hängt auch davon ab, welche Unterrichtseinheiten (eine Doppelstunde bis zu einem Wochenplan) entworfen werden sollen und welche Entscheidungen hinsichtlich der Methode,der Vorgehensweise und der Bewertung anstehen. 6.2.5 Veränderte Rolle der Lehrenden
und Lernenden
6
Grundsätzlich müssen sich Lehrende als Anbieter von Bildungs- und Lernprozessen verstehen. Montessori hat dies aus der Sicht des Kindes formuliert: »Hilf mir, das selbst zu tun«. Die bisherige Lehrerrolle verändert sich nicht automatisch im Kopf der Lehrenden wie der Lernenden. Während es Lernende bislang gewohnt waren, »daß an ihnen ‘gehandelt’ wird, daß sie sich in der mehr oder weniger komfortablen Rolle befinden,auf das zu warten, was ihnen im Unterricht ‘geboten’ wird, dass sie es sind,die lernen sollen,was Lehrerinnen und Lehrer lehren, daß sie sich darauf verlassen können, daß für sie ‘vorgedacht’und ‘vorgeplant’wird etc.,sollen sie sich nun auf ein völlig anderes Verhalten umstellen, das die Möglichkeit bietet, die eher ‘passive’ Schülerrolle mit der eher ‘aktiven’ zu tauschen, sie sollen also von der Objektrolle zur Subjektrolle« überwechseln (Jürgens 1995, S. 12). Lehrende waren es dagegen bislang gewohnt, Unterricht zu planen, zu strukturieren und den Lernprozess sowie das Ergebnis des Unterrichts genau zu fixieren. Diese veränderte Form des Lernens, d. h. von fremdgesteuerten zu selbstgesteuerten Prozessen im handlungsorientierten Unterricht,zieht zwangsläufig auch eine Veränderung der Rollen von Lehrenden nach sich. Neben der traditionellen Rolle als Wissensvermittler, die auch weiterhin im handlungsorientierten Unterricht erhalten bleibt und erhalten werden muss, gibt es vor allem die neue Rolle des »Coaching«. Diese neue Rolle vereinigt die Aufgaben eines Lernberaters mit denen eines Lernhelfers (learn-facilitators) (Hoffmann u. Langefeld 1996, S. 19). Darüber hinaus muss der Lehrende seine »Lehrmethode« zum Gegenstand des Unterrichts machen. Damit kann der Forderung »Der Schüler/
die Schülerin muß Methode haben!« (Meyer u. Paradies 1995, S. 14) nachgekommen werden. Sei es im offenen Unterricht, im handlungsorientierten Unterricht oder in konstruktivistisch angelegten Lernsituationen, Lehrende sind nicht nur Lernpartner für die Auszubildenden, sondern sie übernehmen gerade zu Beginn des Lernprozesses wichtige Aufgaben z. B. in der Orientierung, in der Vermittlung der geforderten Anforderungsprofile, in der Arbeitsorganisation und in der Ergebnissicherung (Messner 1978, S. 148). Dies bedeutet einerseits,den Schüler »freizugeben zu selbsttätigem und selbstverantwortlichem Lernen« (Jürgens 1995, S. 13), und andererseits die Lernenden sich »nicht selbst zu überlassen, sondern sie bei den Prozessen des Selbständig-Werdens zu unterstützen, zu ‘führen’ und ihnen über Hindernisse und Probleme wenn nötig hinwegzuhelfen« (Jürgens 1995, S. 13). Im handlungsorientierten Unterricht wird es ein ständiger Balanceakt für den Lehrenden sein, zwischen der Selbstständigkeit der Lernenden und seiner Führungs- und Leitungsaufgabe zu entscheiden. Häufig kommt es »auf den Lehrer an«, ob handlungsorientierter Unterricht eine Chance hat, umgesetzt zu werden. Im Folgenden sollen kurz die neuen Lehrerinnen- und Lehrerrollen vorgestellt werden, wobei in den Lernprozessen die einzelnen Rollen nicht immer scharf voneinander zu trennen sind. Die Rollenbezeichnungen gehen auf Muster-Wäbs (2001, S. 5) zurück. 1. Wissensvermittlerin/Wissensvermittler
Aufgrund des enormen Wissensvorsprungs, den Lehrende in der Regel haben, ist es sinnvoll, diese Ressourcen per fachsystematischen Einschub in allen Entwicklungsstufen des handlungsorientierten Unterrichts zu nutzen. Darüber hinaus können Lehrende jederzeit von den Lernenden gefordert werden, um ihr Spezialwissen zu bestimmten Fragestellungen kurz, ökonomisch und strukturiert in den Lernprozess einzubringen. 2. Lernprozessgestalterin/Lernprozessgestalter
Diese Aufgabe ist sehr vielfältig angelegt. Das Aufgabenspektrum reicht von der Gestaltung einer lernfördernden Umgebung über die Konstruktion von Lernsituationen bis zu organisatorischen Ge-
143 6.2 · Entwicklungsschritte bzw. Phasen für die Einführung von Handlungsorientierung
sichtspunkten sowie der Gestaltung von Zwischenmeetings und Bewertungsritualen (MusterWäbs 2001, S. 5). 3. Lernprozessbegleiterin/Lernprozessbegleiter
Während der selbstgesteuerten Aktivitäten übernimmt der Lehrende bestimmte Aufgaben. So ist er stets ansprechbar, kann individuelle Beratungen durchführen und Einzelnen, aber auch Gruppen entsprechende Rückmeldungen geben. Darüber hinaus übernimmt er während dieser eigenständigen Erarbeitung der Lernenden wichtige Beobachtungsaufgaben, die für den Prozess und das Ergebnis entscheidend sein können. 4. Moderatorin/Moderator
Da ein Moderator Experte für den Prozess und damit für die Methoden ist, kann diese Aufgabe im handlungsorientierten Unterricht nur eingenommen werden, wenn die Lernenden dazu in der Lage sind, eigenständig und selbstverantwortlich die Lerninhalte zu bestimmen. Dies bedeutet, dass die Moderatorenrolle hauptsächlich in der dritten Phase wahrgenommen werden kann.In der Phase I und II wird diese Rolle nur eingesetzt, wenn es darum geht, Vorwissen abzufragen, Fragen zu klären, methodische Schritte festzulegen und Präsentationsmöglichkeiten zu bestimmen (Muster-Wäbs 2001, S. 5). 5. Bewerterin/Bewerter
Von Anfang an ist es wichtig, egal in welcher Phase sich die Lernergruppe befindet, Bewertungskriterien für Prozess und Ergebnis entweder festzulegen oder gemeinsam mit den Lernenden zu entwickeln. Hier sind Offenheit und Transparenz die wichtigsten Leitgedanken. Zusammenfassung Zusammenfassend lässt sich sagen, dass handlungsorientierter Unterricht nicht nur mehr ergebnis- und damit zielorientiert ist, sondern auch den Prozess in den Mittelpunkt des Unterrichtsgeschehens stellt. In allen Schritten bzw.Phasen des handlungsorientierten Unterrichts sind Lehrende aufgefordert, die Erfahrungen, Interessen und Bedürfnisse der Lernenden stärker als bis-
6
her einzubinden, fächerintegrative komplexe Lernsituationen unter Beteiligung der Lernenden zu planen bzw.mitentscheiden zu lassen und grundsätzlich Planung, Durchführung und Evaluation von Unterricht zum Gegenstand von Unterricht zu machen. Lernende hingegen müssen sich zunehmend für selbstgesteuerte und selbstorganisierte Lernprozesse öffnen,für ihr Handeln verantwortlich zeichnen und bereit sein, soziale Beziehungen in Teams einzugehen (Becker et al. 1997, S. 154). Die Ablösung von einem eher stark lehrerzentrierten und damit verbunden sprachlich orientierten Frontalunterricht,in dem der Lehrende traditionelle Rollen einnimmt, hin zu einem aktiv-entdeckenden (Pätzold 1992, S. 23) und damit zu einem von Schülern bestimmten Unterricht, ist einerseits nicht einfach und andererseits auch nicht sofort umsetzbar. Sie bedarf der aktiven Förderung und Innovation sowohl der Verantwortlichen in der Schulorganisation als auch aller Akteure in der Aus-, Fortund Weiterbildung von Lehrerinnen und Lehrern.
3 Methodische Vorschläge für die Seminargestaltung 4 Als Einstieg könnte jeder Teilnehmer für sich eine eigene Deutung des handlungsorientierten Unterrichts entwickeln. Es wäre möglich, diese subjektiven Vorstellungen entweder als Bild bzw. Piktogramm oder als formulierte Äußerung auf einer Moderationskarte festzuhalten. Anschließend könnte eine Präsentation im Plenum folgen. 4 Als weiteren Schritt könnten die aus der Lernergruppe resultierenden Deutungsmuster mit den im Einstieg formulierten subjektiven Vorstellungen anderer Seminarteilnehmer und Seminarteilnehmerinnen verglichen werden.Hier würde sich eine Kleingruppenarbeit anbieten. Komprimierte Erkenntnisse könnten dem Plenum rückgemeldet werden. 4 Steht ausreichend Zeit zur Verfügung, so könnten sechs arbeitsteilige Gruppen (pro Gruppe ein Merkmalsansatz: Gudjons, Jank u. Meyer,
144
Kapitel 6 · Orientierungshilfen für die Einführung von Handlungsorientierung
Halfpap, Bader, Arnold u. Müller, Laur-Ernst) gebildet werden. Jede Gruppe würde jeweils für ihren Ansatz zu jedem Merkmal ein Unterrichtsbeispiel schriftlich formulieren und dies später dem Plenum vorstellen. Dabei könnten Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausgearbeitet werden.
6
Als umfassende Praxis- bzw. Erprobungsaufgabe sollten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer aufgefordert werden, die drei verschiedenen Planungsraster für unterschiedliche Lernergruppen anzuwenden. Dabei empfiehlt es sich, die vorgegebenen Planungsraster schriftlich auszufüllen, um danach die Unterrichts- bzw. Seminardurchführung zu gestalten. Die Evaluation des Unterrichtsbzw. Seminargeschehens sollte nach Möglichkeit mit den Lernenden gemeinsam vor Ort durchgeführt werden. Dabei können die Kategorien: gelungene Aspekte und verbesserungswürdige Aspekte sehr hilfreich sein. Ebenso wäre eine Gegenüberstellung von Selbstwahrnehmung (Schüler bzw. Teilnehmer) und Fremdwahrnehmung (Unterrichtender bzw.Dozent) empfehlenswert.Alle Erkenntnisse, die aus dieser Praxiserfahrung resultieren, sollten in einer anschließenden Seminarsitzung vorgestellt und diskutiert werden.
3 Empfehlungen zum Weiterlernen Schaube W (1996) Handlungsorientierung für Praktiker. Ein Unterrichtskonzept macht Schule. 2.Aufl., Winklers Verlag, Gebrüder Grimm, Darmstadt Dieser Praxis-Reader von nur 72 Seiten empfiehlt sich für Anfängerinnen und Anfänger, da er sowohl einen kurzen und knappen Überblick über einige wichtige theoretische Grundlagen der Handlungsorientierung aufgreift als auch vor allem auf praktische Orientierungshilfen und Umsetzungsmöglichkeiten in Schule und Ausbildung hinweist. Jank W, Meyer H (1991) Didaktische Modelle. 1. Aufl. Cornelsen Scriptor, Frankfurt a. M. Dieses Buch beschäftigt sich vor allem mit unterschiedlichen didaktischen Modellen und Unterrichtskonzepten,wobei unter anderem das Konzept der Handlungsorientierung nach Hilbert Meyer vorgestellt wird. Neben den Ursprüngen und den Merkmalen handlungsorientierten Unterrichts steht vor allem das von Meyer entwickelte Planungsraster im Mittelpunkt der Betrachtung.
Meyer H (1987) Unterrichtsmethoden II: Praxisband. Scriptor, Frankfurt a. M. Für alle diejenigen, die sich als Berufsanfänger wichtige Hinweise,Vorschläge und Anregungen im Bereich der handlungsorientierten Methoden aneignen wollen, ist dieses aufgelockerte Lehrwerk sehr hilfreich. Es liefert einen umfassenden Überblick über das vielfältige Methodenrepertoire, das vom Frontalunterricht bis zum Projektunterricht als einer Form des selbstorganisierten Lernens reicht. Muster-Wäbs H, Schneider K (2001) Theoretische Grundlagen und ausgewählte Methoden eines handlungstheoretischen Konzeptes zur Umsetzung des Lernfeldkonzeptes. In: Unterricht Pflege. 6. Jhg. Heft 1: 16–36 Dieser umfangreiche Aufsatz beschäftigt sich mit einem Planungsraster, das vor allem für fortgeschrittene Lernergruppen im Unterricht geeignet ist. Es entspricht dem Planungsraster III des vorliegenden Kapitels. Ein besonderer Schwerpunkt des Aufsatzes liegt darin, dass er eine Vernetzung von handlungsorientierten Methoden, den zu fördernden Kompetenzen bei Lernenden, der veränderten Lehrerrolle und vor allem den potentiell auftretenden Schwierigkeiten mit entsprechenden Lösungen herstellt, die in den einzelnen Phasen des Planungsrasters wieder zu finden sind. Zeitschriften Unterricht Pflege(2001) Schwerpunkt: Methoden-
repertoire. 6 Jhg. Heft 4 Dieses Schwerpunktheft beschäftigt sich auf über 40 Seiten mit verschiedenen (sehr ausgefallenen) handlungsorientierten Methoden, die sowohl dem Einstieg, der Erarbeitung als auch der Reflexion bzw. Evaluation von Unterricht zugeordnet sind.Zuzüglich werden Methoden zur Gruppenbildung und zur Entspannung bzw. Bewegung vorgestellt. Eingerahmt sind die Methoden durch einen Grundlagenaufsatz, in dem die besondere Bedeutung der Methodenkompetenz für Lehrende und Lernende herausgestellt wird. Unterricht Pflege (1996) Schwerpunkt: Handlungsorientierter Unterricht. 1. Jhg. Heft 1 Auf der Basis eines Grundlagenaufsatzes von Hilber Meyer zu Merkmalen handlungsorientierten Unterrichts und dem handlungsorientierten Planungsraster werden vier verschiedene Unter-
145 6.2 · Entwicklungsschritte bzw. Phasen für die Einführung von Handlungsorientierung
richtsentwürfe für den Pflegeunterricht vorgestellt. Alle Entwürfe sind nach dem Raster des handlungsorientierten Unterrichts von Meyer umgesetzt. Dabei handelt es sich um folgende Themen: Hilfestellung bei der Hustentechnik, Gedächtnisleistungen erhalten und fördern, Sexualität im Krankenhaus und Qualitätssicherungsmaßnahmen im Krankenhaus.
Literatur Aebli H (1983) Zwölf Grundformen des Lehrens. Eine Allgemeine Didaktik auf psychologischer Grundlage. Klett, Stuttgart Aebli H (1993) Denken: das Ordnen des Tuns,Bd I: Kognitive Aspekte der Handlungstheorie, 2. Aufl. Klett-Cotta, Stuttgart Arnold R (1992) Schlüsselqualifikationen – Ziele einer ganzheitlichen Berufsbildung. In: Kölner Zeitschrift für Wirtschaft und Pädagogik. 7. Jhg. Heft 13: 65–88 Arnold R, Müller HJ (1993) Handlungsorientierter Unterricht. Modellversuch »Ganzheitliches Lernen« in der Berufsschule. Außenstelle für berufs- und arbeitspädagogisches Lernen (ABAL), Lehrstuhl für Pädagogik der Universität Kaiserslautern. März, Pirmasens Arnold R, Schüßler I (1998) Wandel der Lern-Kulturen. Ideen und Bausteine für ein lebendiges Lernen.Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt Bader R (1995) Didaktische Konzepte und Entwicklungen in der Berufsbildung – Konkretisierungen für gewerblich-technische Berufsfelder. In: Dehnbostel P,Walter-Lezius HJ (Hrsg) Didaktik moderner Berufsbildung. Herausgegeben vom Bundesinstitut für Berufsbildung. Der Generalsekretär. Bertelsmann, Bielefeld, S 151–174 Bader R (1997) Handlungsorientierung – akzeptiert und variiert.In: Die berufsbildende Schule. 49. Jhg. Heft 4: 105–107 Bader R (2000) Kommunikative Kompetenz. In: Die berufsbildende Schule. 52. Jhg. Heft 7–8: 211 Bader R (2002) Handlungsorientierung in der Berufsbildung. Variantenreiche Ausprägung. In: Die berufsbildende Schule. 54. Jhg. Heft 3: 71–73 Bastian J (1995) Offener Unterricht.Zehn Merkmale zur Gestaltung von Übergängen. In: Pädagogik. Heft 12/1995: 6–11 Becker GE (1984) Planung von Unterricht. Handlungsorientierte Didaktik. Teil I. Beltz, Weinheim Basel Becker R,Bollgönn G,Kubina P,Sitzenfrei J (1997) Der neue Weg zur Handlungsfähigkeit. Neue methodisch-didaktische Grundsätze in den Lehrplänen der Kaufmännischen Berufsschule in Baden-Württemberg. In: Erziehungswissenschaft und Beruf. 45. Jhg. Heft 2: 151–160 Bönsch M (1986) Handlungsorientierter Unterricht. Vortrag im Rahmen der Pädagogischen Woche 1986 an der Universität Oldenburg am Abend des 30.09.1986 Bönsch M (2000) Variable Lernwege. Ein Lehrbuch der Unterrichtsmethoden, 3. Aufl., Schöningh, Paderborn
6
Brauneck P, Urbaneck R, Zimmermann F (2000) Methodensammlung. Anregungen und Beispiele für die Moderation, 5. Aufl. Landesinstitut für Schule und Weiterbildung.Verlag für Schule und Weiterbildung, Soest Cohn RC (1989) Themenzentrierte Interaktion. In: Stalman F (Hrsg) Lust an der Erkenntnis: Die Psychologie des 20. Jahrhunderts. Ein Lesebuch zur Psychotherapie. Pieper, München, Zürich, S 291–308 Cohn RC, Terfurth C (1993) Lebendiges Lehren und Lernen. TZI macht Schule, 2. Aufl. Klett-Cotta, Stuttgart, S 388 Czycholl R (1999) Handlungsorientierung. In: Kaiser FJ, Pätzold G (Hrsg) Wörterbuch Berufs- und Wirtschaftspädagogik. Julius Klinkhardt, Bad Heilbrunn/Obb., S 216–219 Dubs R (1997) Eröffnungsvortrag: Berufliches Lernen im Wandel? – Aktuelle Entwicklungstendenzen in der Berufsbildung. 3. Forum zur Berufsbildungsforschung Erlangen-Nürnberg, 23./24. September 1997 Grell J, Grell M (1983) Unterrichtsrezepte. Beltz, Weinheim Basel Gudjons H (1980) Handelnder Unterricht – handlungsorientierter Unterricht. WPB. 32. Jhg. Heft 9: 344–349 Gudjons H (1981) Handelnder Unterricht.In:Mann I (Hrsg) Schlechte Schüler gibt es nicht. Beltz, Weinheim Basel, S 7–23 Gudjons H (1987) Schritte zum handlungsorientierten Unterricht. Beispiele für Handlungsmöglichkeiten im Fachunterricht. WPB. 39. Jhg. Heft 5: 36–39 Gudjons H (1997) Handlungsorientiert Lehren und Lernen. Schüleraktivität – Selbsttätigkeit – Projektarbeit, 5.Aufl.Julius Klinkhardt, Bad Heilbrunn Halfpap K (1996a) Lernen lassen.Ein Wegweiser für pädagogisches Handeln. Winklers, Gebrüder Grimm, Darmstadt Halfpap K (1996b) Instruktionslernen – Handlungslernen. In: Schaube W (Hrsg) Handlungsorientierung für Praktiker. Ein Unterrichtskonzept macht Schule, 2. Aufl. Winklers, Gebrüder Grimm, Darmstadt, S 36–37 Hoffmann B, Langefeld U (1996) Methoden-Mix. Die Rollen der Lehrpersonen beim Handlungslernen im Methoden-Mix. In: Winklers Flügelstift, 2: 18–23 Jank W, Meyer H (1991) Didaktische Modelle. Cornelsen Scriptor, Frankfurt a. M. Jürgens E (1995) Lehrerverhalten und Lehrerrolle im schülerzentrierten Unterricht, 3. Aufl. Zentrum für pädagogische Berufspraxis,Heft 179/92.Carl von Ossietzky-Universität,Oldenburg Klippert H (1999) Methoden-Training. Übungsbausteine für den Unterricht, 10. Aufl. Beltz, Weinheim Basel Köck P (1996) Praxis handlungsorientierter Unterrichtsgestaltung. In: Schaube W (Hrsg) Handlungsorientierung für Praktiker. Ein Unterrichtskonzept macht Schule, 2. Aufl. Winklers, Gebrüder Grimm, Darmstadt, S 60 – 62 Laur-Ernst U (1990) Schlüsselqualifikationen – innovative Ansätze in den neugeordneten Berufen und ihre Konsequenzen für Lernen. In: Reetz L, Reitmann T (Hrsg) Schlüsselqualifikationen. Dokumentation des Symposiums in Hamburg »Schlüsselqualifikationen – Fachwissen in der Krise?« Materialien zur Berufsausbildung, Bd 3. Feldhaus, Hamburg, S 36–55 Messner R (1978) Planung des Lehrers und Handlungsinteressen der Schüler im offenen Unterricht. WPB. 30. Jhg. Heft 4: 145–150
146
6
Kapitel 6 · Orientierungshilfen für die Einführung von Handlungsorientierung
Meyer H (1987) Unterrichtsmethoden. II: Praxisband. Scriptor, Frankfurt a. M. Meyer H, Paradies L (1995) Handlungsorientierter Unterricht, 3. Aufl. Zentrum für pädagogische Berufspraxis, Heft 218/93. Carl von Ossietzky-Universität, Oldenburg Muster-Wäbs H (2001) Lehrerrolle im Lernfeldkonzept. In: Unterricht Pflege. 6. Jhg. Heft 2: 2–6 Muster-Wäbs H, Schneider K (1999) Vom Lernfeld zur Lernsituation. Gehlen, Bad Homburg vor der Höhe Muster-Wäbs H, Schneider K (2001a) Methodenkompetenz – zukunftsorientiertes Rüstzeug für Lehrende und Lernende. In: Unterricht Pflege. 6. Jhg. Heft 4: 2–9 Muster-Wäbs H, Schneider K (2001b) Die Umsetzung des Lernfeldkonzeptes mit der Strukturierungshilfe – eine Herausforderung an die Aus-, Fort- und Weiterbildung von Berufsschullehrerinnen und Berufsschullehrern. In: Die berufsbildende Schule.53. Jhg. Heft 6: 199–206 Muster-Wäbs H,Schneider K (2001c) Theoretische Grundlagen und ausgewählte Methoden eines handlungstheoretischen Konzeptes zur Umsetzung des Lernfeldkonzeptes. In: Unterricht Pflege. 6. Jhg. Heft 1: 16–36 Pätzold G (1992) Handlungsorientierung in der beruflichen Bildung.– Zur Begründung und Realisierung.In: Pätzold G (Hrsg) Handlungsorientierung in der beruflichen Bildung.Verlag der Gesellschaft zur Förderung arbeitsorientierter Forschung und Bildung, Frankfurt a. M., S 9–29
Pütz C (1996) Entwicklungs- und kognitionspsychologische Voraussetzungen des didaktischen Konzepts »Handlungsorientierter Unterricht«. In: Schaube W (1996) Handlungsorientierung für Praktiker. Ein Unterrichtskonzept macht Schule, 2. Aufl. Winklers, Gebrüder Grimm. Darmstadt, S 20–22 Rogers CR (1999) Die nicht-direktive Beratung. 9. Aufl. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main Schapfel F (1995) Kritische Rezeption der sowjetischen Tätigkeitstheorie und ihre Anwendung.Eine Einführung in theoretische Grundlagen zur Beurteilung von beruflichen Bildungskonzepten. Darmstädter Beiträge zur Berufspädagogik, Bd 15. Leuchtturm, Darmstadt Schaube W (1996) Handlungsorientierung für Praktiker. Ein Unterrichtskonzept macht Schule, 2. Aufl. Winklers, Gebrüder Grimm, Darmstadt Schneider K (1997) Neue Antworten auf alte Fragen. Vernetzung von betrieblichen und schulischen Handlungsfeldern – eine Möglichkeit der Professionalisierung in der Pflegeausbildung. Vortrag zur Essener Pflegefachtagung für Lehrerinnen und Lehrer für Pflegeberufe. 21. Oktober 1997, Essen Schneider K (2001) Handlungsorientiertes Lehren und Lernen. Ein zukunftsorientiertes Konzept auf dem Prüfstand. In: Pflegemagazin.2. Jhg. Heft 5: 25–35 Werning R (1998) Konstruktivismus.Eine Anregung für die Pädagogik? In: Pädagogik Heft 7–8/1998: 39–41
7 Führen und Begleiten von Lern- und Arbeitsgruppen Hannelore Muster-Wäbs 7.1
Menschenbild und Grundhaltung als Basis für die Begleitung von Gruppen 148
7.1.1
Gruppe
7.1.2
Menschenbild
150
7.1.3
Grundhaltung
150
7.2
Handlungsleitende Modelle und Konzepte für das Führen und Anleiten von Gruppen 151
7.2.1
Werte- und Entwicklungsquadrat
7.2.2
Themenzentrierte Interaktion
7.2.3
Eisbergmodell
7.2.4
Interaktionszirkel
7.2.5
Inneres Team
7.3
Aufgaben der Leitung in den einzelnen Phasen der Gruppenentwicklung 157
7.3.1
Entwicklungsphasen einer Gruppe
7.3.2
Ankommen – Auftauen – Sich orientieren
7.3.3
Gärung und Klärung
7.3.4
Arbeitslust und Produktivität
7.3.5
Ausstieg und Transfer
7.4
Persönliche Anmerkungen
149
151
152
153 154
155
157
159 161
163
164
158
148
Kapitel 7 · Führen und Begleiten von Lern- und Arbeitsgruppen
Es gibt nichts Praktischeres als eine gute Theorie (Kurt Lewin). (Cohn 1992, S. 10)
2
Als Leitung sowohl die Gesamtgruppe als auch die einzelne Person im Blick haben und als Vorbild kontextbezogen authentisch agieren.
> Thesen
7
5 Welche Erfahrungen haben Sie mit der Leitung von Gruppen gemacht? 5 Jeder hat Erfahrungen mit der Arbeit in Gruppen. Manchmal sind diese Erfahrungen mit Arbeitsfreude, Entlastung, Synergieeffekten, lustvollem Lernen und Wohlbefinden verbunden, zuweilen aber auch mit Drückebergertum, Belastung, Ersticken von Kreativität, Mobbing und Ängsten. 5 Denken Sie an eine Situation, in der Sie gerne in einer Gruppe gearbeitet haben und zu befriedigenden Ergebnissen gekommen sind. Welches Verhalten der Gruppenleitung hat Ihrer Meinung nach zu einer produktiven Arbeit beigetragen? 5 In welcher Situation haben Sie dagegen ungern in einer Gruppe gearbeitet und die Arbeit als belastend empfunden.Was hätten Sie sich von der Leitung in dieser Situation gewünscht?
3 Berufliche Handlungskompetenzen 2
2
Methodenkompetenz Methoden,die das Arbeiten in Gruppen fördern, professionell, d. h. kontextangemessen und situationslogisch einsetzen.
2
Kommunikative Kompetenz Den Einsatz von Methoden fachlich richtig und für die Gruppenmitglieder verständlich begründen.
3 Praxisrelevanz Studierende der Pflegepädagogik werden auf ihrem Berufsweg Gruppen führen und begleiten. Eine professionelle Anleitung und Begleitung von Gruppen basiert auf einem Verständnis von theoretischen Modellen und der Umsetzung dieser Modelle bei der Gestaltung der Praxis, wohl wissend, dass Modelle Erklärungsversuche der Wirklichkeit sind, diese aber in ihrer Komplexität nicht vollständig abbilden können.
Fachkompetenz Handlungsleitende Modelle, wie z. B. die Entwicklungsphasen einer Gruppe,die themenzentrierte Interaktion, das Eisbergmodell, das Werte- und Entwicklungsquadrat, die Interaktionszirkel oder das Modell vom Inneren Team,zur Erklärung der Dynamik in einer Gruppe nutzen, um das Arbeiten in der Gruppe bewusst und konstruktiv anzuleiten und zu begleiten.
2
Sozialkompetenz
Personalkompetenz Eigene Erfahrungen selbstkritisch reflektieren und Schlüsse für eigenes zukünftiges Verhalten daraus ableiten. Konflikte innerhalb der Gruppe oder mit der Leitung nicht als Ablehnung interpretieren, sondern als Entwicklungschance für die Gruppe und für sich konstruktiv nutzen.
3 Verfahrensstruktur (. Abb. 7.1) 7.1
Menschenbild und Grundhaltung als Basis für die Begleitung von Gruppen
Jede Person kommt mit Erfahrungen und darauf gegründeten Vorstellungen davon, wie Menschen sind und wie sie miteinander umgehen, d. h. mit einem bestimmten Menschenbild und einem eigenen Wertesystem, in eine Gruppe. Die persönliche Biografie prägt damit die Grundhaltung, mit der anderen Menschen begegnet wird. Dies gilt natürlich auch für die Leitung einer Gruppe. Menschenbild und Grundhaltung der Leitungsperson prägen in besonderem Maße das Arbeitsklima und tragen erheblich zum Erfolg oder Misserfolg der gemeinsamen Arbeit bei. Bevor die Begriffe Men-
149 7.1 · Menschenbild und Grundhaltung als Basis für die Begleitung von Gruppen
7
. Abb. 7.1. Verfahrensstruktur
schenbild und Grundhaltung als Basis einer Anleitung von Gruppen näher erläutert werden, wird zunächst der Begriff »Gruppe« skizziert.
7.1.1 Gruppe
Eine Gruppe besteht aus einer begrenzten Anzahl von Individuen, die für einen definierten Zeitraum aufgrund einer gemeinsamen Zielsetzung in unmittelbarem Kontakt und Austausch miteinander
150
Kapitel 7 · Führen und Begleiten von Lern- und Arbeitsgruppen
stehen. Gruppenmitglieder entwickeln ein Wir-Gefühl und agieren auf der Grundlage von akzeptierten Verhaltensweisen und Normen. Innerhalb der Gruppe gibt es bestimmte Rollenzuweisungen (Schneider 1996). Dieses Verständnis von Gruppe, von dem hier ausgegangen wird, trifft auf jede Lern- und Arbeitsgruppe zu, die längere Zeit, d. h. mehrere Tage, Wochen, Monate oder Jahre, miteinander arbeitet. Gruppen,die nur einen halben oder ganzen Tag bestehen, sollten natürlich auf derselben Grundlage geleitet werden; die Entwicklungsphasen einer Gruppe durchlaufen sie jedoch in der Regel nicht oder nur in kaum merklichen Ansätzen.
7 7.1.2 Menschenbild
Menschen entwickeln und verwirklichen sich immer im Zusammenhang mit ihrer Umgebung. Die Leitung einer Gruppe kann Wachstumspotenziale bei den Mitgliedern unterstützen, wenn sie selbst von einem Menschenbild ausgeht, das an positive menschliche Möglichkeiten zur Entfaltung glaubt, entsprechend mit Ermutigung arbeitet, den Menschen grundsätzlich Zutrauen in ihre Fähigkeiten und ihr Wollen entgegenbringt und die Schattenseite oder Mängelseite nicht übersieht.
7
Die humanistische Psychologie geht davon aus, dass die Möglichkeit der Destruktivität eine Realität des Menschen ist, und dass nur eine humane Ethik und eine konstruktive Handhabung ihr Einhalt gebieten kann (Langmaack 1994, S. 165).
zugehörig betrachtet und es gilt, sie zu bewältigen und daran zu wachsen. Mit einer solchen grundsätzlich lebensbejahenden Einstellung und dem Glauben an einen positiven Kern im Menschen kann eine Gruppenleitung das Klima in erheblichem Maße angstfrei und persönlichkeitsfördernd beeinflussen.
7.1.3 Grundhaltung
Aus dem Menschenbild ergibt sich eine bestimmte Grundhaltung des Lehrenden, die den Umgang miteinander in der Arbeitssituation bestimmt. Da Arbeiten und Lernen immer in sozialem Kontext stattfindet, ist die Bewusstheit über die Bedeutung von Grundhaltungen und das dahinterstehende Menschenbild von grundlegender Bedeutung. Grundhaltungen beinhalten einen persönlichen Ansatz in der Begegnung von Personen und bestimmen die Beziehung. Eine Grundhaltung, z. B. Achtung der Person, drückt sich in einer Verhaltensweise, z. B. Sensibilität, aus. Diese Verhaltensweise äußert sich in einer konkreten Handlung oder einer Tätigkeit, z. B. dem aufmerksamen Zuhören. Handlungen kennzeichnen den Umgang mit anderen Menschen und wirken sich auf die Beziehung aus (Miller 1991, S. 43). Miller hat auf der Grundlage der Erziehungspsychologie von Tausch / Tausch, verbunden mit seinen Erfahrungen als Lehrer, die folgenden Grundhaltungen formuliert:
7
4 Achtung der Person / Nichtwertung – Sich und den anderen als Person achten und respektieren.
– Wissen, dass auch ein unver-
Vertreter der humanistischen Psychologie sind z.B. Ruth C. Cohn, Carl Rogers, Fritz Pearls oder Eric Berne. Sie alle betrachten negatives oder zerstörerisches Verhalten als einen Teil menschlicher Äußerungen,die ihre Begründung,nicht ihre Rechtfertigung, in der jeweils subjektiven Wahrnehmung des Menschen von der Situation haben. Eine Gruppenleitung, deren Menschenbild auf diesem Anspruch basiert, nimmt die subjektive Wirklichkeit des Einzelnen ernst und gibt auch unangenehmen und wertlos erscheinenden Gefühlen ihren Raum. Schmerz,Leid und Konflikte werden als dem Leben
ständliches Anderssein seine guten Gründe hat. – Bedenken, dass nur Leistungen bewertbar sind, nicht aber der ganze Mensch. 4 Echtheit / Selbstkongruenz – Sich selbst ohne Bewertung annehmen. – Das eigene Denken, Fühlen und Handeln in Übereinstimmung bringen.
151 7.2 · Handlungsleitende Modelle für das Führen und Anleiten von Gruppen
4 Einfühlendes Verstehen / Wärme – Den eigenen Gefühlen vertrauen. – Einfühlendes Verstehen vermitteln. – An der inneren Welt des anderen, an seinen Gefühlen und Sichtweisen echt Anteil nehmen. 4 Nähe und Distanz – Eine Nähe vermitteln, die Halt und Geborgenheit gibt und eine Distanz, die die Selbständigkeit fördert (Miller 1991, S. 44).
Grundhaltungen sind keine Sozialtechniken, die trainiert werden können oder Methoden, deren Einsatz den Umgang mit den Teilnehmern einer Gruppe erleichtert. Sie drücken vielmehr das Selbstverständnis aus, mit dem anderen Menschen begegnet wird.Sie werden mit unserer Biografie erworben, sind jedoch nichts Feststehendes und Unabänderliches, sondern lassen sich durch die bewusste Auseinandersetzung mit dieser Thematik anreichern und/oder verändern.
7.2
Handlungsleitende Modelle und Konzepte für das Führen und Anleiten von Gruppen
Für die Leitung einer Gruppe ist das theoriegeleitete Verständnis von der Dynamik in Gruppen eine Entlastung. Dies gilt sowohl für die Planungsphase als auch für die Durchführung selbst, wenn die Leitungsperson oft blitzschnell Äußerungen einordnen oder auf Verhalten reagieren will, sowie für die Bewertung des Evaluationsergebnisses. Theoretische Modelle und Konzepte bilden eine komplexe Realität jedoch nicht vollständig ab. Sie heben aber wesentliche Aspekte hervor und sind eine Grundlage für das Verständnis von Situationen. Einige für mich wesentliche Modelle und Konzepte, die hilfreich sind, die Dynamik in Gruppen zu verstehen, werden nachfolgend dargestellt.
7.2.1 Werte- und Entwicklungsquadrat
Die skizzierten Grundhaltungen enthalten Werte für das Leiten von Gruppen,z.B.Nähe herzustellen,
7
mitzuschwingen und empathisch zu sein, andere Personen wertzuschätzen, ihre Autonomie zu respektieren,sich authentisch zu verhalten oder andere Menschen grundsätzlich zu akzeptieren.Aus der Erkenntnis, »dass im menschlichen Zusammenleben Werte (Qualitäten, Tugenden) nur dann eine konstruktive Wirkung entfalten, wenn sie in ausgehaltener Spannung zu einem Gegenwert gelebt und verwirklicht werden« (Schulz von Thun et al. 2001, S. 52), entwickelte Schulz von Thun (Schulz von Thun 1991) ein Werte- und Entwicklungsquadrat. Er bezeichnet darin den Gegenwert eines positiven Wertes als komplementäre »Schwestertugend«.Solche komplementären Tugenden sind z.B.Nähe und Distanz oder Fördern und Fordern.Das Werte- und Entwicklungsquadrat veranschaulicht, dass beide positiven Werte in einer dynamischen Balance zu halten sind, um nicht in eine »entwertende Übertreibung«(Schulz von Thun et al. 2001, S. 53) zu verfallen. Das soll an einem Beispiel veranschaulicht werden: Eine Leitungsperson, für die das Herstellen von Nähe von besonders großer Bedeutung ist, begibt sich in die Gefahr, mit den Lernenden zu verschmelzen und als Leitung nicht mehr erkennbar zu sein. Denkbar ist auch, dass sie mit ihrer Fürsorge, Bevormundung oder gar »Bemutterung« die Teilnehmer in ihren Entwicklungsmöglichkeiten einschränkt. Es wird deutlich, dass zu viel Nähe nicht mehr positiv ist.
7
Eine Leitungsperson hingegen, die einzig Wert darauf legt, die nötige Distanz zu wahren, nicht aus der »Rolle« zu fallen und als Leitung erkennbar zu bleiben, kann leicht den Kontakt zu den Menschen in der Gruppe verlieren (Muster-Wäbs 2000a, S. 6).
Sie hat von dem positiven Wert,»Distanz halten« zu können,zu viel und lässt so den Wert zu einem »Unwert« oder einer »entwertenden Übertreibung« verkommen. Beides, eine Nähe herzustellen, die Vertrauen erzeugt und Angst nimmt, und eine Distanz zu halten, die es den Lernenden erlaubt, auch eigene Wege zu gehen und ihnen Entwicklungsmöglichkeiten lässt,hat seinen Wert.Jeder Wert hat
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Kapitel 7 · Führen und Begleiten von Lern- und Arbeitsgruppen
seinen positiven Kern. Werden die Werte in einer dynamischen Balance gehalten, d. h. wird je nach Situation aus der Nähe oder der Distanz agiert, können sie ihre konstruktive Wirkung entfalten. Die Auseinandersetzung mit dem Werte- und Entwicklungsquadrat und das Umsetzen der Erkenntnisse in Leitungsverhalten sind bereichernd und entlastend. Hinzu kommt, dass auf dieser Basis ein anderer, menschlicherer Umgang mit den Lernenden möglich wird (. vgl. Abb. 7.2).
7.2.2 Themenzentrierte Interaktion
7
In Lern- und Arbeitsgruppen geht es vorrangig um die Bearbeitung eines Themas.Dieser zentrale Mittelpunkt des gemeinsamen Tuns gibt den Rahmen und das Ziel vor. Die produktive Auseinandersetzung mit dem Thema wird erleichtert, wenn die Teilnehmer sich auch als Individuen mit ihren Befindlichkeiten, ihren Bedürfnissen und ihren Wünschen angstfrei einbringen können.Auch die Gruppe als Ganzes, mit ihrem Beziehungsgeflecht, ihren Regeln, den herrschenden Animositäten und Zuneigungen, bestimmt, wie konstruktiv und effektiv ein Thema bearbeitet wird. Nicht zuletzt hat auch das Umfeld, d. h. die Arbeitszeiten, Räumlichkeiten,wichtige politische Ereignisse oder das System, in dem diese Lerngruppe sich befindet, Einfluss auf den Arbeitsprozess. Diese Zusammenhänge veranschaulicht Ruth C. Cohn (Cohn 1992) in ihrem Modell der themenzentrierten Interaktion (TZI).Cohn
. Abb. 7.2. Beispiele für Werte- und Entwicklungsquadrate
hat die Arbeit in psychotherapeutischen Gruppen mit der Arbeit von anderen Lerngruppen verglichen und dabei den Eindruck gewonnen,
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dass Gefühle im Klassenzimmer und in anderen Gruppen kaum einen angemessenen Platz finden. … Vielleicht könnte der Lehrer sowohl sich selbst als auch seinen Schülern das Recht auf die Bewusstheit der eigenen Gefühle zubilligen und an die Stelle einer heimlichen Sabotage von Gefühlen ein offenes Anrecht der Menschen auf Gefühle setzen. Schüler und Lehrer haben sowohl ein Anrecht auf die Realität ihrer Störungen als auch auf ihre schöpferischen Gefühle. Es erscheint mir weise, diese Wirklichkeit zu bestätigen und sie als Tatsache anzusehen, anstatt sie zu unterdrücken (Cohn 1992, S. 112).
Lerngruppen arbeiten themenzentriert an einer Aufgabe oder einem Thema, wobei an der Bearbeitung alle Gruppenmitglieder beteiligt sind, die in Interaktion miteinander treten (Langmaack 1994, S. 1). Cohn geht bei der themenzentrierten Interaktion davon aus, dass eine Gruppe dann arbeitsfähig ist, wenn eine dynamische Balance zwischen der Beschäftigung mit dem Thema (ES), der Gruppe (WIR) und der Persönlichkeit des Einzelnen (ICH) hergestellt wird und das Umfeld (GLOBE) ebenfalls seine angemessene Berücksichtigung findet. Die
153 7.2 · Handlungsleitende Modelle für das Führen und Anleiten von Gruppen
Gruppenleitung wird dies in ihrem methodischen Vorgehen steuern und je nach Situation nicht nur das Thema, sondern auch die einzelne Person, die Gruppe oder das Umfeld in den Vordergrund stellen. Cohn hat zwei Postulate geprägt: 1. »Sei dein eigener Chairman« (Cohn 1992,S.121).
Dieses Postulat steht für das Zutrauen in die Fähigkeit des Menschen, »sich selbst zu leiten oder zu organisieren, mehr und mehr die Verantwortung für sich selbst und andere zu übernehmen« (Langmaack 1994, S. 78). Dahinter steht die Aufforderung, sich selbst und andere wahrzunehmen und wertzuschätzen. Da das Chairman-Postulat für das Arbeiten in Gruppen gilt, beinhaltet es auch, dass jeder in der Gruppe autonom und interdependent ist. Die einzelne Person ist nicht völlig autonom und auch nicht vollkommen abhängig. Ihre Entscheidungen und ihr Handeln beschließt sie jedoch autonom. Die Auswirkungen treffen dagegen in der Regel auch andere. So gilt für jedes Gruppenmitglied, dass es in Verantwortung für sich und der Gruppe gegenüber handeln soll.Es muss eine Balance finden zwischen Autonomie und Interdependenz. Die Leitung hat die Aufgabe, die Autonomie jeder einzelnen Person zu fördern und zugleich den Blick auf das Ganze zu lenken. 2. »Störungen haben Vorrang« (Cohn 1992,S.122). Dieses Postulat ist eine Aufforderung an das einzelne Gruppenmitglied, Störungen anzumelden. Es ist auch eine Forderung an die Leitung, Störungen wahrzunehmen und sie angemessen zu kommunizieren. Auf diese Weise werden auch die unbeteiligten Teile einer Person oder einer Gruppe ins Geschehen hineingeholt und ihnen ein angemessener Platz gegeben (Langmaack 1994, S. 88). Aus diesen Postulaten hat Cohn Hilfsregeln für die Kommunikation abgeleitet.
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TZI ermöglicht es, nicht nur vordergründig auf einer intellektuellen Ebene miteinander umzugehen, sondern Kopf, Herz und Hand gleichermaßen zu beteiligen (Muster-Wäbs 2000a, S. 4).
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7.2.3 Eisbergmodell
Das Eisbergmodell verdeutlicht, dass sich die Beziehungen der Menschen zueinander (Beziehungsebene) auf die sachlichen Auseinandersetzungen (Sachebene) auswirken. In Gruppen wird auf zwei Ebenen miteinander kommuniziert. Auf der Sachebene geht es um das definierte Ziel oder die Aufgabe (Sachlogik) während die Beziehungsebene (Psychologik) bestimmt wird durch »alles,was zwischenmenschlichen Beziehungen Charme und Lebendigkeit gibt, aber eben auch Ärger und Hickhack« (Langmaack 1994, S. 20). Es gibt wie bei einem Eisberg eine sichtbare Ebene, in der es um die Aufgabe, die Sache, die Tagesordnung, die Zeiten, das angestrebte Ziel geht, und es gibt eine sehr viel größere verborgene Ebene, die alle auf die Kommunikation einwirkenden emotionalen und sozialen Faktoren umfasst (. Abb. 7.3). Hier wirken vage z. B. Erwartungen, Ängste, Sympathien, Antipathien, Werte, Konkurrenz, Abwertung, Ausgrenzung und Tabus auf die Themenbearbeitung ein. Allerdings beinhaltet diese Ebene auch Energie, Leistungswille oder Neugierde. So ist es möglich, auf der Sachebene, also »über der Wasseroberfläche«, eine von allen akzeptierte Kommunikation zu führen und zugleich »unter der Wasseroberfläche« die »Torpedos« abzuschießen (Philipp 1996, S. 49). In Sachdiskussionen wird oft nicht wirklich oder zumindest nicht ausschließlich um die Sache gerungen,sondern es wird zielorientiert und selektiv argumentiert, weil es für einige, viele oder gar alle Mitglieder nicht um das Thema, sondern um »Gewinnen und Verlieren«, Macht oder Vormachtstellungen geht. Es entwickeln sich in Gruppen in dieser verdeckten Kommunikation »heimliche Leiter«, die die Gruppe führen und ein Gegengewicht zur offiziellen Leitung bilden.Vor allem aber befinden sich unter der Oberfläche die »heimlichen Regeln«.Sie schreiben fest,was »man« in dieser Gruppe tut bzw. nicht tut. Dazu gehört häufig die Ablehnung der offiziellen Leitung und damit die Abwehr der Forderungen, die diese an die Gruppenmitglieder stellt. Dies kann sich beispielsweise darin äußern, dass »man« sich nicht auf private Kontakte oder Gespräche mit der offiziellen Leitung einlässt und unter Umständen sogar gesellschaftlich anerkannte Gesten der Höflichkeit unterlässt, um
154
Kapitel 7 · Führen und Begleiten von Lern- und Arbeitsgruppen
. Abb. 7.3. Eisbergmodell
7 nicht in den Geruch der Anbiederei zu geraten und in der Gruppe isoliert zu werden (Muster-Wäbs 2000a, S. 2 f.). Für das Leiten von Gruppen ist dieses Modell hilfreich, weil es eine Erklärung für ein eher diffuses Wahrnehmen einer nicht stimmigen Diskussion oder »Scheindiskussion« gibt. In solchen Situationen können gezielt mit der Gruppe die versteckten Bedürfnisse, Argumente oder Ziele aufgespürt und thematisiert werden.Vor allem aber macht dieses Modell deutlich, wie wichtig es ist, gleich zu Beginn einer neuen Gruppe schwer aussprechbare Erwartungen, Ängste oder mögliche Tabus zu thematisieren.
7.2.4 Interaktionszirkel
Störungen oder Konflikte in einer Gruppe lassen sich oft durch die Diagnose von bestehenden Interaktionszirkeln oder »Teufelskreisen« (Schulz von Thun 1991, S. 28 ff.) erklären. Diese systemische Betrachtung veranschaulicht die gegenseitige Bedingtheit von Aktion und Reaktion zwischen Personen oder Personengruppen: Eine Aktion von A ruft eine Reaktion von B hervor, durch die sich A in ihrer Aktion bestätigt sieht und diese wiederholt. Dabei werden vier Stationen unterschieden: 4 Eine Äußerung oder ein Verhalten der Person A: z. B. die Leiterin erteilt deutliche Anweisungen, gibt die Struktur und die Organisation als un-
veränderlich vor und fragt nicht nach den Interessen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer. 4 Diese Äußerung von A führt zu einer »Innerung« (Gefühle, Gedanken) bei B: z. B. fühlen sich die Lernenden nicht ernst genommen,sondern bevormundet, gegängelt, eingeschränkt und entmündigt. 4 Entsprechend seiner »Innerung«, also seiner Gefühle und Gedanken, verhält sich B (Äußerung): z. B. gehen die Lernenden mit kleinen Freiräumen destruktiv um, umgehen Anweisungen oder missachten sie, sind initiativlos und übernehmen keine Verantwortung. 4 Durch dieses Verhalten wird eine »Innerung« bei A ausgelöst: z.B.fühlt sich A darin bestätigt, dass die Lernenden eine »feste Hand« und Kontrolle benötigen. Sicher fühlt sie sich aber auch angestrengt und vielleicht in ihrem Bemühen nicht anerkannt. Ihre Schlussfolgerung ist, den Lernenden noch deutlicher Vorgaben zu machen. Der Kreis ist geschlossen. Einen solchen Zirkelschluss können die Beteiligten meist ohne fremde Hilfe nicht verlassen.Jeder fühlt sich als Opfer der Situation. Der Interaktionszirkel,bzw.das Modell der Teufelskreise,bietet einen guten Ansatz für die Analyse von Störungen.Diese lässt sich gut auch mit den Beteiligten durchführen,wobei die bloße Betrachtung der Zirkularität oft schon der erste Schritt ist, aus dem Teufelskreis herauszutreten. . Abbildung 7.4 zeigt einen häufig vorkommenden Teufelskreis,der
155 7.2 · Handlungsleitende Modelle für das Führen und Anleiten von Gruppen
7
. Abb. 7.4. Interaktionszirkel zwischen dominanten und zurückhaltenden Gruppenmitgliedern
zwischen dominanten und zurückhaltenden Gruppenmitgliedern entstehen kann. Die Interaktionszirkel/Teufelskreise zeigen einen
7
Aspekt der eigenartigen und niemals vollständig aufklärbaren »Chemie« zwischenmenschlicher Beziehungen: Dass wir im Umgang mit dem Mitmenschen X einen ganz bestimmten Teil unseres Selbst mobilisieren und im Umgang mit Y einen anderen Teil (Schulz von Thun et al. 2001, S. 41).
7.2.5 Inneres Team
Das von Schulz von Thun entwickelte Modell des »Inneren Teams« (Schulz von Thun 1998) verlebendigt die inneren Stimmen (Bestrebungen, Motive), die eine Person insbesondere in Konflikt- oder Entscheidungssituationen als innere Zerrissenheit empfindet. Dieses Modell veranschaulicht die in-
nere Vielstimmigkeit durch die eigenen »inneren« Teammitglieder. Zur Leitung seines inneren Teams wird man,indem man sie zu Wort kommen lässt,sie miteinander ins Gespräch bringt und als »Teamoberhaupt« entscheidet. Die Leitungsperson einer Gruppe könnte z. B., wenn sie in eine neue Gruppe kommt, die folgenden inneren Teammitglieder (Muster-Wäbs 2000b, S. 9) mit entsprechenden Botschaften haben: 4 Die Ängstliche: Wollen die Teilnehmer meine Botschaft? Bin ich gut genug vorbereitet? 4 Die Ökonomin: Ich will mit meinen Kräften haushalten. Aufwand und Ertrag müssen stimmen. 4 Die große Nummer 1: Ich möchte mit meinem Wissen und Können glänzen. Ich will zeigen, was ich kann. 4 Die Misstrauische: Kommen die Teilnehmer mit Widerstand? Können sie das, was ich hier tue, überhaupt wertschätzen? »Ein Miteinander und Gegeneinander finden wir nicht nur zwischen den Menschen, sondern auch
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7
Kapitel 7 · Führen und Begleiten von Lern- und Arbeitsgruppen
innerhalb des Menschen« (Schulz von Thun et al. 2001,S.45).Diese Zerrissenheit und eigene Unklarheit zeigt sich häufig in schwankenden oder nicht eindeutigen Reaktionen und löst als inkongruente Äußerung beim Gegenüber z. B. Verunsicherung, Verärgerung oder Unklarheit aus. Dies ist dann der Fall, wenn nur ein inneres Teammitglied das Sagen hat und die anderen lediglich als schlummerndes Unwohlsein wahrgenommen werden. Würde sich in unserem Beispiel allein die »große Nummer 1« durchsetzen, wäre das Agieren der Leitung davon bestimmt, sich selbst darzustellen. Auf die Bedürfnisse der Lernenden, ihre Fragen und ihre Themen würde keine Rücksicht genommen werden. Wenn auch die anderen inneren Teammitglieder zu Wort kommen und Einfluss auf das Handeln nehmen könnten, würde z. B. die Ängstliche dafür sorgen, sich selbst auch in Frage zu stellen, die Misstrauische nähme aufmerksam die Reaktion der Lernenden wahr und die Ökonomin wäre für die Balance zwischen Aufwand und Ertrag zuständig und schützte vor dem Ausbrennen. Werden zu einem Thema oder einer Situation also mehrere innere Lautgebungen, innere Stimmen, laut, so mag das zwar oft lästig sein, insbesondere, wenn die darin deutlich werdenden inneren Teammitglieder »zerstritten« sind. Es handelt
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sich dennoch nicht um eine seelische Störung, sondern um eine ganz menschliche und letztlich auch wünschenswerte ‘innere Pluralität’. Wenn es nämlich gelingt, aus dem ‘zerstrittenen Haufen’ ein ‘Inneres Team’ zu machen, dann können innere Synergieeffekte dazu führen, dass ich der Welt mit vereinten Kräften begegne und dass mein Verhalten angemessener ausfällt, als wenn nur eine Stimme ihre Weisheit beigetragen und allein das Sagen gehabt hätte (Schulz von Thun et al. 2001, S. 46).
Das Modell des »Inneren Teams« entlastet von der Vorstellung, in bestimmten Kontexten gäbe es nur eine richtige Reaktion. Vor allem aber entlastet es von dem Zweifel, unvollkommen, fehlerhaft oder als Persönlichkeit schwach zu sein, wenn man sich mit Entscheidungen schwer tut. Der bewusste Um-
gang mit den inneren Teammitgliedern kann zur Selbstklärung genutzt werden,indem vor einer Entscheidung oder einer Reaktion die innere Vielstimmigkeit wahrgenommen wird, d. h. die Teammitglieder angehört und vielleicht miteinander ins Gespräch gebracht werden. Da jeder Mensch geliebte und ungeliebte Teammitglieder hat, erleichtert es die Selbstakzeptanz, weil die nicht geliebten und oft auch gesellschaftlich nicht anerkannten Mitglieder im Zusammenspiel mit den anderen leichter zu ertragen sind. Zudem haben auch sie bei genauer Betrachtung einen durchaus ernst zu nehmenden positiven Kern (Muster-Wäbs 1999,S.17 f.). Die handelnde Person sollte sich sozusagen zum »Teamchef« der inneren Teammitglieder machen, indem sie anhört, abwägt und dann entscheidet. Dabei können auch durchaus mehrere Stimmen zum Tragen kommen, solange die handelnde Person noch nicht entschieden ist. Beim Gegenüber verhilft das zur Klarheit und ist förderlich für die Beziehung. Das bedeutet allerdings, die Teammitglieder zu kennen und auch die »Schattenseiten« an sich zu sehen. Werden die negativ besetzten Mitglieder »verbannt«, kann sich das in Arbeits- und Lebens- und damit in Kommunikationssituationen belastend auswirken (Muster-Wäbs 1999, S. 18), z. B.: 4 Die handelnde Person »verfolgt erbarmungslos« genau die von ihr nicht ausgelebten Seiten bei anderen Menschen. 4 Die handelnde Person hält mühsam die von ihr als negativ angesehenen Seiten »in Schach«, verbannt sie und hält eine Fassade gesellschaftlich anerkannter Verhaltensweisen im Übermaß aufrecht. Das kostet enorme Kraft und kann sich im Extremfall z. B. in Wochenenddepressionen, hohem Alkoholkonsum oder Krankheit im Urlaub auswirken. Denkbar ist auch ein vollständiger Zusammenbruch der Fassade verbunden mit einem Zusammenbruch der Person. Die Leitung einer Gruppe hat es daher immer mit zwei Teams zu tun: Mit dem eigenen inneren Team und dem äußeren Team, der Gruppe. Eine Gruppenleitung führt also zugleich zwei Teams.Ein professionelles Leiten wird erleichtert, wenn das innere Team bekannt ist und die Kommunikation auf dieser Ebene funktioniert.
157 7.3 · Aufgaben der Leitung in den einzelnen Phasen der Gruppenentwicklung
7.3
Aufgaben der Leitung in den einzelnen Phasen der Gruppenentwicklung
7.3.1 Entwicklungsphasen einer Gruppe
Lernen und Arbeiten von Menschen findet in der Regel in einem sozialen Kontext, einer Gruppe, statt. Jede Gruppe durchläuft einen sozialen Entwicklungsprozess, für den typische Phasen kennzeichnend sind (Langmaack u. Braune-Krickau 1993, S. 70 ff.): 4 Phase 1: Ankommen – Auftauen – Sich orientieren
Inhalte, Abläufe, Zeiten und Ziele werden geklärt. In dieser Phase werden ganz wesentlich die Grundlagen für das Klima der Zusammenarbeit gelegt und die Lernenden nehmen Kontakt miteinander auf. Die Strukturen und Organisationsformen der Arbeit werden festgelegt und die thematische Arbeit wird aufgenommen. 4 Phase 2: Gärung und Klärung Eine Phase, in der es verstärkt Störungen und Konflikte gibt, ist unvermeidlich. Zu diesem Zeitpunkt werden Widerstände,Konfliktpotenzial und Konkurrenzkämpfe deutlich. Klärungen, die Überprüfung der getroffenen Vereinbarungen und deren Änderung oder Ergänzung helfen, zur nächsten Phase zu kommen. 4 Phase 3: Arbeitslust und Produktivität Die thematische Arbeit erreicht in dieser Phase ihren Höhepunkt.Auf der Basis einer geklärten Beziehungsebene können Spannungen meist problemlos bearbeitet werden und die Energien sind für das Thema frei. 4 Phase 4: Ausstieg und Transfer Jede Lerngruppe besteht nur für eine bestimmte Zeit. Zu einem gelungenen Ausstieg gehört nicht nur die Bearbeitung von Themenresten, sondern auch die Evaluation und die Gelegenheit zu einem gegenseitigen Feedback. Diese Entwicklungsphasen einer Gruppe sind durch phasenspezifische Erwartungen, Gefühle, Bedürfnisse und entsprechendes Verhalten der Teilnehmerinnen und Teilnehmer bestimmt, die eine
7
Leitung bei der Planung und Durchführung von Lernveranstaltungen berücksichtigen sollte. Die Entwicklungsphasen sind nicht von gleicher zeitlicher Dauer. Sie sind auch in jeder Gruppe anders ausgeprägt. Das Modell zeigt das Typische jeder Phase auf, wobei die Phasen nicht wie eine Perlenkette aufgereiht sind, sondern oft eher schleifenartig verlaufen, d. h., dass es in der Phase der Arbeitslust durchaus wieder Störungen und Konflikte geben wird. Die Leitung einer Gruppe hat die Aufgabe, den Gruppenprozess so zu gestalten, dass aus den Einzelpersonen eine Gruppe wird und sich ein konstruktives und produktives Arbeitsklima entwickelt.
7
Diese Phasen können sich »urwüchsig« vollziehen, d. h. ohne bewusste Gestaltung und Einflussnahme der Leitung. Dann ist das Zustandekommen einer produktiven Zusammenarbeit dem Zufall überlassen und eher selten. Meist ist es für eine Gruppe nur sehr schwer oder gar nicht möglich, ihre Konflikte ohne Einflussnahme der Leitung zu bearbeiten und »Arbeitslust und Produktivität« zu erleben. Eine professionelle Gestaltung des Prozesses durch gekonnte Interventionen der Leitung führt in der Regel zu einem bewussten Erleben und der Reflexion des Prozesses. Eine so angeleitete Arbeitsgruppe kommt schneller in eine intensive Arbeitsphase (MusterWäbs 2000a, S. 8).
Die Grundlage für eine professionelle Anleitung von Gruppen bieten die handlungsleitenden Konzepte und Modelle. Im Folgenden werden für jede Phase zunächst typische Befindlichkeiten, Bedürfnisse und daraus resultierendes Verhalten skizziert. Zur Veranschaulichung dient das Modell des inneren Teams. Die Aufgaben und die Rolle der Leitung in jeder Phase wird im Anschluss daran unter Bezugnahme auf die handlungsleitenden Theorien präzisiert (Muster-Wäbs 2000b, S. 11 ff.). Abschließend wird eine erprobte Möglichkeit zur Strukturierung dieser Phasen in Schritten vorgestellt.
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Kapitel 7 · Führen und Begleiten von Lern- und Arbeitsgruppen
7.3.2 Ankommen – Auftauen –
Sich orientieren Die bewusste Gestaltung der Anfangsphase mit viel Ruhe und Zeit ist eine gute Grundlage für ein produktives und konstruktives Arbeiten, wenn es gelingt, eine angstfreie, offene und vertrauensvolle Atmosphäre zu schaffen. Beim Start einer Gruppe sollten sowohl die Sach- als auch die Beziehungsebene ihren angemessenen Raum erhalten.
Befindlichkeiten, Bedürfnisse und Verhalten in der Gruppe
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In der Anfangsphase einer Gruppe kommen die Lernenden mit unterschiedlichen und zum Teil auch widerstreitenden Bedürfnissen und Gefühlen, die in ihrem inneren Team z. B. als »Ängstlicher«, »Ökonom«, »Begeisterungsfähiger«, »Strukturierter«, »Selbstbewusster«, »große Nummer 1« und »Misstrauischer« unterschiedliche Botschaften senden. Da die jeweiligen Teammitglieder meist unterschiedlich durchsetzungsfähig sind, bestimmen diejenigen,die das Sagen haben,das Verhalten eines Gruppenmitglieds. Die Leitung hat es infolgedessen mit Teilnehmerinnen und Teilnehmern zu tun, von denen z. B. einige ängstlich, andere begeisterungsfähig sind und wieder andere im Mittelpunkt stehen wollen. Die Gefühle,die das Klima in einer Gruppe prägen sind z. B. Angst und Zweifel, aber auch Neugierde,Misstrauen,Freude,Begeisterung und Unsicherheit. Die Bedürfnisse erwachsen aus ihren Gefühlen.
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Die »Ängstliche« benötigt Sicherheit und Nähe. »Die Ökonomin« will zunächst wissen, welchen Ertrag sie aus dem Lernprozess ziehen kann. »Der Begeisterungsfähige« muss erfahren, dass er hier Neues lernen kann und dass Arbeiten hier auch Spaß bringen soll. »Die Strukturierte« braucht einen Überblick über den geplanten Ablauf. »Die Selbstbewusste« möchte die Sicherheit haben, sich in Ruhe einbringen zu können. »Die große Nummer 1« als »Glänzer« oder »Platzhirsch« braucht ihre Bühne, um sich darstellen zu können. »Der Misstrauische« benötigt Si-
cherheit darüber, dass er hier kompetent angeleitet wird und über sein Lernen und die Kontaktaufnahme zu anderen selbst bestimmen kann. Er möchte selbst nicht vereinnahmt werden und Dinge tun müssen, die er nicht will (Muster-Wäbs 2000b, S. 12).
Als Verhalten zeigen die Lernenden zunächst Höflichkeit und Freundlichkeit. Sie nehmen zurückhaltend Kontakt miteinander auf, testen aber auch schon aus, was in dieser Gruppe »erlaubt« oder »nicht erwünscht« ist.
Aufgaben und Rolle der Leitung Der Leitung kommt in dieser Phase die Aufgabe zu, Sicherheit zu schaffen und einen Rahmen vorzugeben, aber auch Freiräume zu kennzeichnen und selbst flexibel auf Gruppenwünsche einzugehen. Durch ihr Verhalten macht sie Vorgaben für die weitere Arbeit. Eine besonders wichtige Aufgabe besteht darin, die Gruppenmitglieder miteinander in Kontakt zu bringen und die Grundlage für ein offenes und angstfreies Arbeitsklima zu legen. Werte- und Entwicklungsquadrat. Die Leitung muss insbesondere die Balance finden zwischen Nähe und Distanz, zwischen Authentizität und diplomatischem Geschick und zwischen der Vorgabe von Strukturen und Flexibilität in der Gestaltung des Lernprozesses. Themenzentrierte Interaktion. Die Teilnehmerin-
nen und Teilnehmer sind aus thematischen Gründen in der Gruppe. Deshalb sollte das Thema (ES) auch am Anfang stehen, indem Klarheit über Inhalte, Ziele und Organisation hergestellt wird.Aber auch jede Einzelperson (ICH) muss anschließend ihren Raum bekommen, um sich ihrer Bedürfnisse und Gefühle bewusst zu werden und diese auch zu äußern. Das Entdecken von Gemeinsamkeiten, das Treffen von Vereinbarungen und viele wechselnde Gelegenheiten zum Austausch in Kleingruppenarbeiten führen zum Gruppengefühl (WIR). Eisbergmodell. Insbesondere in der Anfangsphase ist es wichtig und gut möglich,verdeckte und heimliche Erwartungen und Ängste zu thematisieren und somit an die »Wasseroberfläche« zu holen, um
159 7.3 · Aufgaben der Leitung in den einzelnen Phasen der Gruppenentwicklung
möglichst viele Störfaktoren auf der Beziehungsebene auszuschalten. Inneres Team. Eine Leitungsperson, die ihr inneres
Team gut kennt, kann sehr professionell leiten. Im Vordergrund dürfen bei der Leitung die »Selbstbewusste«,der »Begeisterungsfähige« und die »Strukturierte« agieren. Wegen ihrer Sensibilität, Empathie und ihrer Schutzfunktion können in Pausen und Reflexionsphasen die »Ängstliche«, die »Ökonomin« und die »Misstrauische« befragt werden. Die eigene »große Nummer 1« sollte sehr sorgfältig von der Teamchefin oder dem Teamchef eingesetzt werden. Im Zusammenspiel mit der »Begeisterungsfähigen« kann sie einen Prozess gut anschieben. Danach sollte sie jedoch zurückgehalten werden, weil sie dazu neigt, mit ihrer Power und auch ihrer Eitelkeit andere innere und äußere Teammitglieder zu überrollen. Die genaue Kenntnis des eigenen inneren Teams nützt auch noch in anderer Hinsicht: In der ersten Phase einer Gruppe macht sich nicht nur die Gruppe ein Bild von der Leitung, sondern die Leitung kommt ebenso zu einer Einschätzung der Gruppenmitglieder und der Gruppe als Ganzes. Als Hilfsmittel werden meist »virtuelle Schubladen« benutzt nach dem Motto: »So einer ist das also«. Die Einsortierung geschieht dabei der Einfachheit halber sehr oberflächlich nach äußeren Merkmalen wie der Statur,der Haltung,der Mimik und Gestik oder der Modulation. Es passiert leicht, dass eine Leiterin oder ein Leiter ein Mitglied der Gruppe in eine Schublade »UNGELIEBT« steckt,weil es gerade das verkörpert,was sie oder er bei sich nicht akzeptiert oder ausblendet.Wenn ich als Leitungsperson z. B. »hart daran gearbeitet habe, strukturiert zu werden, werde ich jemanden gnadenlos verfolgen, der mit freudigem ‘Chaotismus’ möglicherweise auch noch zu guten Ergebnissen kommt« (Muster-Wäbs 2000b, S. 12). Die Leitung übernimmt in dieser Phase eine deutlich lenkende Funktion und die Verantwortung für den Prozess.Sie bietet Identifizierungsmöglichkeiten,Schutz sowie Raum und wird auch meist wenig in Frage gestellt.
Strukturierung des Prozesses Für die Strukturierung des Prozesses hat sich aus meiner Sicht folgendes Vorgehen bewährt (MusterWäbs 2000b, S. 13 ff.):
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4 Kontakt mit der Situation herstellen: Hier wird Klarheit über die Situation, das System, die Ziele, Inhalte, Zeiten und die Organisation durch die Leitung geschaffen. Dies geschieht sinnvollerweise durch einen gut visualisierten Input. So wird Sicherheit und Transparenz geschaffen. 4 Ankommen: Dieser Schritt dient dazu, emotional anzukommen und sich auf die Lernsituation einzustellen. Hier bietet sich eine Besinnungsübung an. Es kann auch die Gelegenheit zu einer schriftlichen Reflexion unter bestimmten Fragestellungen gegeben werden. 4 Kontaktaufnahme der Gruppenmitglieder untereinander und Treffen von Vereinbarungen: Vorstellungsrunden oder Kennenlern-Übungen dienen in diesem Schritt dazu, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu entdecken und zu lernen, diese wertzuschätzen. Wechselnde Methoden zur Gruppenbildung bei der thematischen Arbeit helfen, mit anderen Mitgliedern positive Erfahrungen zu machen und Vorurteile abzubauen. Zu diesem Schritt gehört auch das Abfragen von Erwartungen und die Vereinbarung von Zielen und Regeln für die gemeinsame Arbeit. 4 Kontaktaufnahme mit dem Thema und Aufnahme der inhaltlichen Arbeit: Natürlich wird in dieser Phase auch schon am Thema gearbeitet,denn dies ist schließlich der Grund,weshalb die Teilnehmerinnen und Teilnehmer zusammengekommen sind.Eine gute Kontaktaufnahme mit dem Thema erfolgt immer durch einen möglichst ganzheitlichen und aktivierenden Einstieg in diese Phase.
7.3.3 Gärung und Klärung
Diese Phase,in der es verstärkt Störungen und Konflikte gibt, ist notwendiger Teil eines Gruppenentwicklungsprozesses, weil hier individuelle Bedürfnisse stärker artikuliert werden, sich abgegrenzt wird und Machtkämpfe ausgetragen werden. Die Gruppenmitglieder haben die Chance, ehrlich und intensiv miteinander in Kontakt zu kommen, sofern es gelingt, die auftretenden Auseinandersetzungen als Korrekturprozess mit Entwicklungspotenzial zu betrachten und nicht als Panne mit Zerstörungspotenzial.
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Kapitel 7 · Führen und Begleiten von Lern- und Arbeitsgruppen
Befindlichkeiten, Bedürfnisse und Verhalten in der Gruppe
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Wenn Störungen und Konflikte auftreten, sind oft vorrangig Gefühle wie Antipathie und Sympathie oder das Ringen um Anerkennung im Spiel, aber auch Unsicherheit, Ängstlichkeit, Ärger, Sensationshunger, Zweifel und Enttäuschung. In dieser Phase treten z. B. diejenigen, die eine »große Nummer 1« in ihrem inneren Team weit vorn haben, in einen Machtkampf um die Vormachtstellung in der Gruppe. Andere, die in der ersten Phase eher den »Ängstlichen« zu ihrem Teamoberhaupt gemacht haben und jetzt den »Selbstbewussten« vorn agieren lassen, wollen ebenfalls einen anderen Platz in der Gruppe erhalten.Zudem wird jetzt auch die Leitung in Frage gestellt. Einzelne kämpfen mit der Leitung um die Führungsrolle, andere möchten eine klarere Führung und mehr Schutz. Ihnen ist der Freiraum zu groß und sie fühlen sich allein gelassen. Wieder andere fordern mehr Entfaltungsmöglichkeiten und fühlen sich eingeengt. Die Bedürfnisse der Teilnehmerinnen und Teilnehmer bestehen einerseits darin, die eigene Individualität zu behaupten und nicht vereinnahmt zu werden, andererseits aber auch darin, ein WIR-Gefühl für die Gruppe zu entwickeln. Es geht um die Bindung an die Gruppe und die Autonomie des Einzelnen.Die Gruppenmitglieder möchten Sicherheit über die eigene Rolle erlangen, einige brauchen Ermutigung und Unterstützung, andere die Möglichkeit, sich abzugrenzen, sich selbst zu behaupten, und manche wollen sich profilieren. Das Verhalten der Gruppenmitglieder ist geprägt von der Durchsetzung eigener Interessen,der Polarisierung von Meinungen, Machtkämpfen und Konkurrenz, der Bildung von Gruppen, der Einnahme neuer Rollen und dem Widerstand gegen die Inhalte,die Organisation oder das methodische Vorgehen der Leitung.
Aufgaben und Rolle der Leitung Um als Leitung gelassen mit den Störungen umgehen zu können, ist es zunächst wichtig, sich zu verdeutlichen, dass diese notwendige Bestandteile des Gruppenprozesses sind. Zudem schaffen durchgestandene Konflikte Kontakt und Nähe und führen zu einer Akzeptanz von Unterschieden.Die Leitung muss die Konflikte kommunizierbar machen und dafür Raum zur Verfügung stellen.
Themenzentrierte Interaktion. Die Arbeit am Thema (ES) wird durch dominante Personen (ICHs) behindert und die Gruppe (WIR) dadurch belastet und gestört. Da Störungen Vorrang haben sollen, muss die thematische Arbeit sinnvollerweise hinter der Klärung der Störungen zurückstehen. Eisbergmodell.Die Störungen zeigen sich meist zuerst durch Scheingefechte auf der Sachebene, die gespeist sind durch eine konfliktbeladene Beziehungsebene. Die Aufgabe der Leitung ist es, »verdeckte« Themen kommunizierbar zu machen und vorher getroffene Vereinbarungen zu überprüfen und notfalls ändern zu lassen. Werte- und Entwicklungsquadrat. Bei der Wahr-
nehmung und Thematisierung von Störungen und Konflikten muss die Leiterin oder der Leiter die Balance zwischen Führen und Entfalten lassen halten. Einerseits benötigt die Gruppe für die Lösungsfindung eine Anleitung, andererseits gilt es, das Potenzial der Gruppe nicht durch Fürsorge zu ersticken, sondern durch Freiräume zur Entfaltung zu bringen. Der Umgang der Teilnehmerinnen und Teilnehmer untereinander sollte nach dieser Phase in einer ausgewogenen Balance zwischen Autonomie und Bindung bestehen. Dies kann die Leitung unterstützen, indem sie sich sowohl akzeptierend verhält als auch konfrontiert, wenn z. B. die Autonomiebestrebungen eines Gruppenmitglieds den Gruppenprozess belasten. Interaktionszirkel/Teufelskreise. Als Analyseinstrument für die Störungen eignet sich die systemische Betrachtung mit Hilfe der Interaktionszirkel bzw. der Teufelskreise. Meist besteht ein Zirkelschluss zwischen dominanten und zurückhaltenden Gruppenmitgliedern. Aber auch die Betrachtung der Interaktionszirkel innerhalb der dominanten Mitglieder hilft,den Konflikt zu bearbeiten. Eine professionelle Leitungsperson achtet auch darauf, den richtigen Zeitpunkt für die Thematisierung von Störungen auszuwählen, um nicht selbst in einen Teufelskreis mit der Gruppe zu geraten. Wenn die Leiterin oder der Leiter Störungen anspricht,die noch nicht virulent sind und von den Lernenden noch nicht bewusst als Problem wahrgenommen wurden, fühlen sich die Gruppenmitglieder vermutlich eher bedrängt, entmündigt,
161 7.3 · Aufgaben der Leitung in den einzelnen Phasen der Gruppenentwicklung
verstört, verunsichert oder nicht richtig wahrgenommen. Sie werden sich unter Umständen zusammenschließen, die Störung negieren, in Widerstand zur Leitung gehen sowie ihr Misstrauen und den Konflikt nicht bearbeiten.Eine Leitungsperson könnte sich durch dieses Verhalten der Gruppe darin bestätigt sehen,dass die Gruppe nicht in der Lage ist, den Konflikt »auf den Tisch« zu bringen und eine Verpflichtung empfinden, dies anstelle der Gruppe zu tun. Damit wären wir am Ausgangspunkt. Es wird deutlich, wie wichtig Gelassenheit und eine abwartende Haltung der Leiterin oder des Leiters sind, um die Gruppe nicht zu verschrecken und letztlich in einer verkrampften »Scheinharmonie« arbeiten zu müssen. Inneres Team. Die Moderation von Konflikten er-
fordert eine Leitung,die auch konfliktbereit ist und sich in ihrem eigenen Konfliktverhalten gut kennt. Bei der Aufstellung ihres inneren Teams sollte vor allem die »Selbstbewusste« in Ruhe und Gelassenheit agieren und die Situation zu verstehen versuchen. Unterstützung kann die »Strukturierte« bieten, indem sie sortiert und für den roten Faden sorgt.Beide gemeinsam haben als Team genug Distanz und Engagement für eine professionelle Anleitung. Die »Misstrauische« mit ihren Zweifeln und die »große Nummer 1« mit ihrem Hang zur Selbstdarstellung würden hier die Professionalität stören. Auch die »Begeisterungsfähige« muss zurückgehalten werden, weil sie zu schnell ist und vielleicht eher zu einer Konfliktvermeidung beitragen würde. Die »Ökonomin« sollte in Reflexionsphasen mit darüber befinden, ob der Einsatz lohnend ist. Die Leitung sollte hier zunächst die Rolle eines Beobachters oder einer Beobachterin übernehmen, die den Prozess in der Gruppe sehr aufmerksam wahrnimmt. Bei der Moderation der Konflikte leitet sie deutlich durch Strukturierung und methodische Vorgaben.
Strukturierung des Prozesses Der Umgang mit Störungen umfasst drei Schritte (Muster-Wäbs 2000c, 23 ff.): 4 Widerstände, Störungen und Konflikte werden deutlich: Die Leitung nimmt zu diesem Zeitpunkt zunächst nur den Gruppenprozess wahr
7
und analysiert das Wahrgenommene aus ihrer Sicht. Hierzu kann sie sich z. B. des Modells des Interaktionszirkels bzw.derTeufelskreise bedienen. 4 Analyse der Situation: Um die unterschiedlichen Sichtweisen und das unterschiedliche Erleben der Einzelpersonen transparent zu machen, wird die Situation mit der Gesamtgruppe betrachtet. Hierzu bietet sich z. B. die Moderationsmethode (Kartenabfrage) an. Sinnvoll ist auch die Entwicklung von Modellen von Teufelskreisen gemeinsam mit den Gruppenmitgliedern, um die Zirkularität zu verdeutlichen. Auch viele Evaluationsmethoden eignen sich zur Analyse der Situation. 4 Vereinbarungen treffen: In einem letzten Schritt werden die bisherigen Vereinbarungen oder Regeln für die Zusammenarbeit noch einmal unter die Lupe genommen und auf weitere Gültigkeit überprüft. Sie können ggf. ergänzt oder verändert werden.
7.3.4 Arbeitslust und Produktivität
In dieser Phase kann auf der Grundlage von Vertrauen produktiv gearbeitet werden. Die Energie und die Arbeitslust der Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind auf dem Höhepunkt. In dieser Phase noch auftretende Spannungen werden in der Regel schnell gelöst.
Befindlichkeiten, Bedürfnisse und Verhalten der Gruppe In dieser Phase dominieren Gefühle von Sicherheit, Zusammengehörigkeit,Geborgenheit und Vertrauen. Die Bedürfnisse der Teilnehmer sind auf die Auseinandersetzung mit dem Thema sowie den Einsatz und die Entwicklung der eigenen Fähigkeiten gerichtet. Zudem wünschen sie gute räumliche, zeitliche und materialgestützte Arbeitsmöglichkeiten, eine Orientierung durch die Leitung und ausreichend Möglichkeiten zur Selbststeuerung. Das Verhalten der Gruppenmitglieder ist überwiegend kooperativ,respektvoll und von Toleranz und Wertschätzung geprägt. Sie arbeiten zunehmend selbstständig, konzentriert und zielgerichtet (PillmannWesche 2000, S. 31).
162
Kapitel 7 · Führen und Begleiten von Lern- und Arbeitsgruppen
Das Geschehen wird durch innere Teammitglieder bestimmt, wie die »Selbstbewusste«, die »Strukturierte« und die »Ökonomin«. Die »Ängstliche« hat erfahren, dass Fehler gemacht werden dürfen und niemand isoliert wird. Die »große Nummer 1« hat erkannt, dass sie von der Gruppe auch akzeptiert wird, wenn sie nicht immer alles besser weiß, und es ist ihr nun möglich, auch die Beiträge der anderen zu würdigen. Der »Misstrauische« hat sich aus dem Zentrum des Geschehens etwas zurückgezogen, da bisher ja alles ganz gut gelaufen ist (Pillmann-Wesche 2000, S. 32).
Gruppe Fehler auch verzeiht. Die »Misstrauische« sollte ihren Kontrollzwang in Kleingruppenphasen zurückhalten. Die »große Nummer 1« hat jetzt ihre Rolle gespielt und würde für ein selbstgesteuertes Lernen, insbesondere in Kleingruppenphasen, nur störend sein. Die »Strukturierte«, die »Selbstbewusste« und die »Ökonomin« können gemeinsam für Strukturen, ein ausgewogenes Verhältnis von Aufwand und Ertrag und für die gelassene Begleitung der Lernprozesse sorgen. Die Rolle der Leitung ist nicht mehr so stark steuernd, sondern eher strukturierend, orientierend und unterstützend.
Aufgaben und Rolle der Leitung
7
Die Leitung hat jetzt schwerpunktmäßig die Aufgabe, den Lernprozess so zu gestalten, dass jedem ein Kompetenzzuwachs ermöglicht wird. Dazu gehört eine klare Aufgabenstellung,das Schaffen zeitlicher, organisatorischer und materieller Rahmenbedingungen und eine sinnvolle Ergebnissicherung und Evaluation. Themenzentrierte Interaktion. Jetzt steht das The-
ma (ES) eindeutig im Zentrum. Die Leitung sollte trotzdem wachsam sein, wann eine stärkere Beachtung des Einzelnen (ICH), der Gruppe (WIR) oder des Umfeldes (GLOBE) dennoch nötig ist. Eisbergmodell. Die Beziehungsebene ist weitgehend stimmig.Auf der Sachebene kann lustvoll und produktiv mit viel Energie kommuniziert werden. Die Leitung hat aber auch jetzt noch sensibel auf verdeckte Themen oder Stellvertreter-Themen zu achten. Werte- und Entwicklungsquadrat. Von besonderer Bedeutung für die Unterstützung zu einem selbstgesteuerten Lernen ist es für die Leitung, eine gute Balance zwischen Strukturvorgaben und Flexibilität zu halten. Dabei muss die Aufgabenstellung und Unterstützung so gewählt sein, dass die Lernenden einerseits gefordert werden und damit Entwicklungschancen erhalten und andererseits eine Förderung erfahren, um sich nicht überfordert zu fühlen und entmutigt zu werden. Inneres Team. Bei der inneren Teamaufstellung der
Leitung kann die »Ängstliche« sich beruhigen, weil die bisherige Entwicklung gut gelaufen ist und die
Strukturierung des Prozesses Die Strukturierung einer Veranstaltung, eines Projektes oder eines Arbeitstages sollte immer noch die Beziehungsebene berücksichtigen.Der Schwerpunkt liegt allerdings auf der Gestaltung des Arbeitsprozesses.Dafür hat sich die folgende Struktur bewährt (Pillmann-Wesche 2000, S. 34 ff.): 4 Klärung des sozialen Rahmens und Ankommens in der Gruppensituation: Zu Beginn einer Arbeitssitzung ist es sinnvoll, den Lernenden Gelegenheit zur Kontaktaufnahme mit den anderen und der Situation zu geben. So können Probleme,Fragen oder Reste angesprochen und Erfahrungen ausgetauscht werden. Hierzu eignet sich z. B. eine Anfangsrunde mit durchaus wechselnden Fragestellungen. 4 Klärung der Aufgabenstellung: In diesem Schritt ist es von besonderer Bedeutung, die Ziele der Arbeit zu verdeutlichen und die Ergebnisverwertung zu klären. Natürlich muss auch sichergestellt werden, dass alle die Aufgabenstellung und deren Sinnhaftigkeit verstanden haben.An dieser Stelle sollte gut visualisiert werden. Für ein gemeinsames Erarbeiten der Aufgabenstellung und der Ziele eignet sich z. B. die Moderationsmethode. Methodisch sind auch Vorgehen sehr hilfreich, die einen ganzheitlichen Zugang zum Thema gewährleisten. 4 Klärung der Organisation: Die Besprechung der Sozialform, eine sinnvolle Gruppenbildung, Zeiten, Räume, Materialien und eine grobe Besprechung der Arbeitsschritte sind meist an dieser Stelle angebracht. 4 Durchführung der Vorhaben: Ein Input der Leitung, ein Unterrichtsgespräch oder, insbeson-
163 7.3 · Aufgaben der Leitung in den einzelnen Phasen der Gruppenentwicklung
dere bei selbstgesteuertem Lernen,längere Phasen der Kleingruppenarbeit,kennzeichnen diesen Schritt. Unterstützend sind Meetings zur Prozessevaluation und zur Klärung von Fragen oder Übungen zur Aktivierung, wenn die Konzentration nachlässt. 4 Bewertung: Eine Präsentation, Dokumentation oder z. B. eine Podiumsdiskussion können die Ergebnissicherung einleiten, indem das in den Gruppen Erarbeitete zusammengeführt und bewertet wird. Eine Evaluation schließt die Arbeit ab.
7.3.5 Ausstieg und Transfer
Das Ziel dieser Phase ist es, allen einen guten Ausstieg und Übergang in neue Lebens- und Arbeitssituationen zu ermöglichen. Eine Reflexion des inhaltlichen und sozialen Prozesses und die bewusste Verabschiedung von den Menschen, mit denen eine Zeit lang intensiv gearbeitet wurde, erleichtern den Abschied und einen unbelasteten Neuanfang. Insbesondere für die Professionalisierung der Leitung ist auch die hier durchgeführte Evaluation wichtig.
Befindlichkeiten, Bedürfnisse, Verhalten in der Gruppe Eine Trennung aus einer vertrauten Situation ist immer mit Gefühlen von Angst, Zweifel, Unsicherheit,Erschöpfung und Trauer verbunden,aber auch mit Freude auf Neues und Stolz auf Geleistetes. Die Bedürfnisse der Gruppenmitglieder reichen von sich nicht trennen wollen über letzte Informationen einholen,praktische Tipps bekommen,sich auf die Zukunft einstellen bis hin zu einer schnelleren Herbeiführung der Trennung. Diese unterschiedlichen Bedürfnisse lassen sich gut veranschaulichen, wenn auch hier wieder das innere Team betrachtet wird und hier insbesondere das Teammitglied, das die Führung übernimmt: 4 Die »Ängstliche« hat das Bedürfnis, die Gruppensituation möglichst lange zu erhalten, weil sie hier Sicherheit erfahren hat. 4 Die »Ökonomin« möchte noch schnell ein Thema für sich zu Ende bringen und praktische Tipps, um die Zeit effizient zu nutzen.
7
4 Die »Strukturierte« hat eher das Bedürfnis, noch einmal in Ruhe zurückzuschauen und das Gelernte in Zusammenhängen zu sehen. 4 Möglicherweise schon ausgestiegen ist die »Begeisterungsfähige«, die sich schon mit Engagement einer neuen Sache zugewendet hat. 4 Dies kann auch für die »große Nummer 1« gelten. Für sie ist aber ebenso denkbar, dass sie die Gelegenheit nutzen will, um in dieser Gruppe ein letztes Mal aufzutrumpfen. 4 Die »Selbstbewusste« möchte die Gruppe reflektierend zu Ende bringen. 4 Schwer trennen kann sich die »Misstrauische«, weil sie vielleicht zweifelt, ob sie genug gelernt hat und ob Versprechungen über das Aufrechterhalten von Kontakten auch eingehalten werden.
Aufgaben und Rolle der Leitung Diese Phase ist zeitlich und inhaltlich von Anfang an von der Leitung einzuplanen. Mögliche Plakate, auf denen in der ersten Phase Ziele und Regeln festgehalten werden und die vielleicht in der zweiten Phase Änderungen aufnehmen, sollten als Grundlage für die Reflexion und Evaluation dienen. Themenzentrierte Interaktion. Das Thema (ES) sollte rund abgeschlossen werden.Dazu gehört Zeit für Reste, Nachfragen und Transferüberlegungen. Dabei ist es nicht sinnvoll, noch neue Aspekte oder gar Teilthemen anzureißen. Die Reflexion des Gruppenprozesses (WIR) und des Umfeldes (GLOBE) dient auch dazu, dass jedes einzelne Gruppenmitglied Schlussfolgerungen für sich ziehen kann, wie es zukünftig in Gruppen agieren will.Bei Rückmeldungen an Einzelpersonen steht das ICH im Vordergrund. Eisbergmodell. In der letzten Phase sollten auf keinen Fall noch neue Themen der Beziehungsebene problematisiert werden, weil die Zeit zur Bearbeitung in der Regel nicht reicht. Dennoch wird eine professionelle Leitung auch in dieser Phase die Kommunikation auf der Beziehungsebene anregen, z.B.durch Übungen zum Abschied,die persönliche Rückmeldungen ermöglichen. Werte- und Entwicklungsquadrat. Die Leitung hat in
dieser sensiblen Phase eine ausgewogene Balance
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Kapitel 7 · Führen und Begleiten von Lern- und Arbeitsgruppen
zwischen Authentizität und diplomatischem Geschick zu wahren. Sie sollte sich akzeptierend und nicht mehr konfrontierend verhalten und ganz entschieden die Autonomie des Einzelnen fördern. Inneres Team. Die Leitung muss ihren Umgang mit
7
Abschied kennen, damit sie ihn für die Gruppe gewinnbringend gestalten kann und nicht in eigene »Fallen tappt«, indem sie z. B. den Abschied hinauszögert,bis keine Zeit mehr dafür verbleibt,wie es beispielsweise die »Ängstliche« gern tut, weil sie sich in der Gruppe sicher fühlt und nicht weiß, was kommt. Außerdem schaut sie vielleicht dem Evaluationsergebnis mit gemischten Gefühlen entgegen.Den Prozessablauf und die Zeitgestaltung können die »Begeisterungsfähige«, die »Strukturierte« und die »Selbstbewusste« gut gemeinsam in die Hand nehmen. Sie werden dafür sorgen, dass auch der Abschied lustvoll und schön gestaltet wird,dass Zielklarheit und Transparenz herrscht und dass kritische Rückmeldungen als Lernanlass angenommen werden können. Die »Ökonomin« sollte sich auch hier wieder vor Verausgabung schützen. Die »große Nummer 1« hat in dieser Phase nicht aufzutreten, denn der Raum gehört den Teilnehmerinnen und Teilnehmern.Die »Misstrauische« kann hinzugezogen werden, wenn die Evaluationsergebnisse noch einmal allein betrachtet werden,um evtl. zwischen den Zeilen Gesagtes aufzuspüren. Die Leitung strukturiert diese Phase konsequent und moderiert.
Strukturierung des Prozesses Ein gelungener Ausstieg umfasst drei Schritte, die mit der Gruppe gemeinsam gegangen werden und einen, den die Leitung allein geht (Muster-Wäbs 2000d, S. 43 ff.). 4 Ausstieg aus der thematischen Arbeit und Bewertung: Die inhaltliche Arbeit wird abgeschlossen, offene Fragen werden geklärt und das Ergebnis des gemeinsamen Arbeitsprozesses wird hinsichtlich der Transfermöglichkeiten bewertet. Zudem wird der Lernprozess mit seinen Schritten und Umwegen reflektiert, ebenso wie der Gruppenprozess. 4 Rückmeldungen an die Leitung: Diese Rückmeldungen dienen der Professionalisierung der Leitung. Hier geht es um Feedback zum Leitungsverhalten, zur Strukturierung des Lern-
prozesses,zur Zeitgestaltung oder zum zur Verfügung gestellten Material. 4 Abschied von den Menschen: Mit entsprechenden Übungen zum Abschied wird eine persönliche Verabschiedung ermöglicht,die es zulässt, bisher Ungesagtes im persönlichen Gespräch auszudrücken. 4 Auswertung der Evaluationsgespräche durch die Leitung: Die Leitung sollte diesen Schritt zeitnah zur letzten Veranstaltung durchführen, um daraus Schlussfolgerungen für die weitere Arbeit zu ziehen.
7.4
Persönliche Anmerkungen
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass eine sorgsame theoriegeleitete Steuerung des Gruppenprozesses die inhaltliche Arbeit sehr erleichtert. Die unter 7.2 in Kurzform dargestellten handlungsleitenden Modelle und Konzepte lassen sich für eine fruchtbare Arbeit natürlich erheblich erweitern. Es ist eine von mir getroffene Auswahl unter den Gesichtspunkten oberster Prioritäten und Plausibilität. Mir ist bewusst, dass die Vorbereitung von Lernveranstaltungen damit zunächst viel komplexer erscheint. Es ist sicher auch mehr zu bedenken, als wenn man sich nur auf die Inhalte und Methoden beschränkt. Andererseits ist schon allein die Methodenauswahl, auf der Basis von Kenntnissen der Dynamik in Gruppen, gezielter möglich. Sicher gehört zunächst auch Mut dazu, Befindlichkeiten und Gefühle in Veranstaltungen zu Wort kommen zu lassen, deren Ziel die thematische Arbeit ist. Ermutigen möchte ich dennoch alle diejenigen Leiterinnen und Leiter von Lernveranstaltungen, die es ertragen können, dass Kognition und Emotion den Prozess bestimmen! Zusammenfassung Für Studierende der Pflegepädagogik ist eine professionelle Anleitung und Begleitung von Gruppen ein wichtiger Bestandteil ihrer zukünftigen beruflichen Arbeit. Das Verständnis von theoretischen Modellen und der Umsetzung dieser Modelle bei der Gestaltung der Praxis ist die Vorausset-
165 7.4 · Persönliche Anmerkungen
zung, um als Leitungsperson agieren zu können. Auf der Basis eines durch die humanistische Psychologie geprägten Menschenbildes entwickeln Leitungspersonen eine Grundhaltung, die den Umgang miteinander in Arbeitssituationen bestimmt. Die Auseinandersetzung mit handlungsleitenden Modellen und Konzepten für das Führen und Anleiten von Gruppen führt zu einem theoriegeleiteten Verständnis von der Dynamik in Gruppen und bietet die Grundlage für Planung und Reflexion des Geschehens.Jeder Gruppenprozess verläuft in bestimmten Gruppenentwicklungsphasen. Diese sind gekennzeichnet durch die dieser Phase entsprechenden Befindlichkeiten, Bedürfnisse und Verhaltensweisen der Gruppenmitglieder,auf die die Leitung durch die Wahrnehmung bestimmter Aufgaben und das Einnehmen einer angemessenen Rolle reagieren sollte. Dies geschieht, indem die Gruppenentwicklungsphase durchdacht und auf der Basis der handlungsleitenden Theorien und Konzepte strukturiert wird.
7
jeweiligen Phasen anzuwendende Methode vorstellen.
3 Empfehlungen zum Weiterlernen
4 Langmaack B,Braune-Krickau M (1993) Wie die Gruppe laufen lernt. Anregungen zum Planen und Leiten von Gruppen. 4. Aufl. Psychologie Verlags Union, Weinheim 4 Lumma K (1994) Die Teamfibel. Oder das Einmaleins der Team-& Gruppenqualifizierung im sozialen und betrieblichen Bereich. Ein Lehrbuch zum Lebendigen Lernen. Windmühle, Hamburg 4 Schulz von Thun F (1991) Miteinander reden 2. Stile, Werte und Persönlichkeitsentwicklung. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 4 Schulz von Thun F (1998) Miteinander reden 3. Das »innere Team« und situationsgerechte Kommunikation. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 4 Schulz von Thun F,Ruppel J,Stratmann R (2001) Miteinander reden. Kommunikationspsychologie für Führungskräfte. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 4 Unterricht Pflege (2000) Schwerpunkt: Arbeit in und mit Gruppen. 5. Jhg. Heft 2. Prodos, Brake
Literatur 3 Methodische Vorschläge für die Seminargestaltung 4 Als Einstieg ist ein Erfahrungsbezug sinnvoll, z. B. als Besinnung wie in der beschriebenen Ausgangssituation. 4 Die Grundhaltungen können aus dem Erfahrungsbezug abgeleitet und als »Haltung« in Standbildern dargestellt werden. 4 Das »Innere Team« der Leitung und auch der Teilnehmer kann als »Prototyp« mit den von mir verwendeten Teammitgliedern in jeder Phase von den Teilnehmern spielerisch dargestellt werden. Denkbar ist auch, nur die »Inneren Teammitglieder« der Gruppenmitglieder vorzugeben und den Teilnehmern einer Lehrveranstaltung die Gelegenheit zu bieten, unter Anleitung ihr eigenes »Inneres Team« zu erkunden. 4 In arbeitsteiliger Gruppenarbeit lassen sich die einzelnen Phasen erarbeiten und präsentieren. Sinnvoll ist es auch,dass die Gruppen die in den
Cohn RC (1992) Von der Psychoanalyse zur Themenzentrierten Interaktion, 11. Aufl. Klett, Stuttgart Cohn RC, Terfurth C (1993) Lebendiges Lehren und Lernen. TZI macht Schule, 2. Aufl. Klett, Stuttgart Langmaack B (1994) Themenzentrierte Interaktion. Einführende Texte rund ums Dreieck, 2. Aufl. Beltz, Weinheim Langmaack B, Braune-Krickau M (1993) Wie die Gruppe laufen lernt. Anregungen zum Planen und Leiten von Gruppen, 4. Aufl. Beltz, Weinheim Lumma K (1994) Die Teamfibel. Oder das Einmaleins der Team- & Gruppenqualifizierung im sozialen und betrieblichen Bereich. Ein Lehrbuch zum Lebendigen Lernen. Windmühlen, Hamburg Miller R (1991) Lehrer lernen: ein pädagogisches Arbeitsbuch für Lehreranwärter, Referendare, Lehrer und Lehrergruppen. Beltz, Weinheim Basel Muster-Wäbs H (1999) Menschenführung beginnt bei mir selbst »die bewusste Wahrnehmung und der bewusste Umgang mit meinem »inneren Team«. In: Unterricht Pflege. Schwerpunkt: Wahrnehmung und Beobachtung. 4. Jhg. Heft 3: 16–19 Muster-Wäbs H (2000a) Dynamik in Gruppen » ein Überblick«. In: Unterricht Pflege. Schwerpunkt: Arbeit in und mit Gruppen. 5. Jhg. Heft 2: 2–8
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Kapitel 7 · Führen und Begleiten von Lern- und Arbeitsgruppen
Muster-Wäbs H (2000b) Die Anfangssituation in einer Gruppe gestalten:Ankommen »Auftauen« Sich orientieren.In:Unterricht Pflege. Schwerpunkt: Arbeit in und mit Gruppen. 5. Jhg. Heft 2: 9–18 Muster-Wäbs H (2000c) Mit Störungen und Konflikten in einer Gruppe umgehen: Gärung und Klärung. In: Unterricht Pflege. Schwerpunkt: Arbeit in und mit Gruppen. 5. Jhg. Heft 2: 19–28 Muster-Wäbs H (2000d) Rückblick und Abschied einer Gruppe gestalten: Ausstieg und Transfer. In: Unterricht Pflege. Schwerpunkt: Arbeit in und mit Gruppen. 5. Jhg. Heft 2: S 39–46 Pillmann-Wesche R (2000) Eine gute Arbeitssituation gestalten: Arbeitslust und Produktivität. In: Unterricht Pflege. Schwerpunkt: Arbeit in und mit Gruppen. 5. Jhg. Heft 2: S 29–38
7
Philipp E (1996) Teamentwicklung in der Schule. Beltz, Weinheim Basel Schneider H (1996) Lexikon zu Team und Teamarbeit.Bachem,Köln Schulz von Thun F (1991a) Miteinander reden 1. Rowohlt, Reinbek b. Hamburg Schulz von Thun F (1991b) Miteinander reden 2. Stile, Werte und Persönlichkeitsentwicklung. Rowohlt, Reinbek b. Hamburg Schulz von Thun F (1998) Miteinander reden 3. Das »innere Team« und situationsgerechte Kommunikation. Rowohlt, Reinbek b. Hamburg Schulz von Thun F,Ruppel J,Stratmann R (2001) Miteinander reden. Kommunikationspsychologie für Führungskräfte. Rowohlt, Reinbek b. Hamburg
8 Lernen: Erklärungsprinzip eines Beobachters Beate Blättner 8.1
Wovon sprechen wir eigentlich, wenn wir von Pädagogik, von Lernen oder von Wissen sprechen? 170
8.1.1
Pädagogik: Eine Wissenschaft, die Praxis sein will?
8.1.2
Lernen: Aufnehmen und speichern von Information?
8.1.3
Beobachten:Wiedergeben von Wirklichkeit?
8.1.4
Wissen: Eigenschaft einer Person?
8.2
Wie erklären sich Beobachter Lernen?
8.2.1
Beobachtungsprinzip Nummer 1:
178
182
182
Beobachtungsprinzip Nummer 2: Autopoietische Systeme konstruieren ihre Wirklichkeit
8.2.3
Beobachtungsprinzip Nummer 3: Die Einheit der Differenz sozialer Systeme und ihrer Umwelt unterstellt Wissen
8.3
174
1808
Die Umwelt beeinflusst offene Systeme 8.2.2
170
189
Wie verändert sich die pädagogische Praxis durch theoretische Einsicht? 192
185
168
Kapitel 8 · Lernen: Erklärungsprinzip eines Beobachters
Lernen kann – wie Rauchen – der Gesundheit schaden.Vor allem aber: Es lohnt sich häufig nicht (Simon 1997, S 145).
> Beobachtungen in der Praxis Strategien des Nichtlernens
8
Irgendwann im Laufe Ihrer pädagogischen Praxis werden Ihnen wahrscheinlich ähnliche Situationen begegnen: 5 Sie erklären mit allen Ihnen zur Verfügung stehenden methodischen Tricks und vielen Visualisierungen ein komplexes Pflegemodell. Sie erläutern ausführlich die Bedeutung dieses Modells für eine veränderte Praxis der Pflege. Am Ende einer für Sie schweißtreibenden Veranstaltung erzählen Ihnen die Pflegenden, das sei nun wirklich nichts Neues gewesen, auch Orem hätte das in ihrem Pflegemodell ganz ähnlich beschrieben. 5 Sie waren in einer Ausbildungssituation hoch erfreut, wie interessiert und begeistert Ihre Pflegeschülerinnen und Pflegeschüler sich zum Thema Dekubitusprophylaxe beteiligt haben und wie aufgeschlossen sie dem neuen Lernstoff gegenüberstanden. Sie sind sicher, hier ein Beispiel für absolut gelungenen Unterricht geliefert zu haben. Bei einem Besuch der Schülerinnen und Schüler in der Praxis stellen Sie fest, dass diese dort nichts von dem bei Ihnen Erlernten umgesetzt haben. 5 Sie haben während einer Weiterbildung zur Stationsleitung auf Wunsch der Teilnehmenden das Thema Kommunikation aufgegriffen und bemühen sich, methodisch abwechslungsreich zu arbeiten und die Fortbildung interessant zu gestalten. Einige Ihrer Teilnehmenden lesen Zeitung, andere unterhalten sich, die dritten beschweren sich während der Gruppenarbeit zu Kommunikationssituationen, dass Sie schon wieder Gruppenarbeit machen und während Ihres kurzen Folienvortrags zu den vier Ebenen der Kommunikation darüber, dass Sie Frontalunterricht durchführen. 5 Sie haben für pflegende Angehörigen ein Kurskonzept entwickelt, das fachliche und psychosoziale Bewältigungsstrategien gleichermaßen trainiert. Da Sie wissen, dass es
für pflegende Angehörige schwer ist, an einem solchen Kurs teilzunehmen, haben Sie ehrenamtliche Kräfte motiviert, die Pflege während der Abwesenheit der Angehörigen zu übernehmen. Die Angehörigen nehmen den ehrenamtlichen Dienst in Anspruch,kommen aber nicht zum Kurs, sondern gehen stattdessen ins Kino. 5 Sie führen eine Fortbildung zu rückengerechtem Heben und Tragen in der Pflege durch. Die Fortbildung scheint Ihnen soweit ganz gut gelaufen zu sein. Sie haben sich extra viel Zeit für Übungen und für Diskussionen zur praktischen Umsetzung im Alltag auf der Station genommen. Umgesetzt wird dennoch wenig, wie Sie leider feststellen müssen. Eine Weile später hören Sie das Gerücht, dass einige der Teilnehmenden Sie für eine völlig ungeeignete Kursleitung halten, andere die Methode als völlig veraltet ablehnen. Einige Teilnehmenden schlagen vor, lieber eine Fortbildung zu Kinästhetik durchzuführen. Die Stationsleitung lehnt dies kategorisch ab, man würde ja an den Erfahrungen mit dem gescheiterten Kurs zum rückengerechten Heben und Tragen deutlich merken, dass Kurse zur Förderung der Gesundheit sowieso nichts bringen würden. Wer Rückenschmerzen habe, sei eben nicht für den Beruf geeignet. 5 Sie bieten Pflegekräften zu einem hochaktuellen und wichtigen Thema einen Bildungsurlaub an, aber keiner geht hin. Zufällig erfahren Sie, dass es schon einige,wenn auch überraschend wenig Pflegende gegeben hätte, die Interesse gehabt hätten. Einige davon hatten die Möglichkeiten ihrer Freistellung von der Arbeit auf der Station nicht ansprechen wollen. Zwei hatten es getan. Die eine hat von den Kolleginnen und Kollegen auf der Station Druck bekommen, dass sie keine Lust hätten, ihre Arbeit zu übernehmen, während sie sich bei einer Fortbildung ausruhen könne. Sie hatte daraufhin den Antrag zurückgezogen. Die andere hatte sich von der Stationsleitung fragen lassen müssen, ob sie denn so schlecht arbeite, dass sie eine Fortbildung benötige.Auch sie hat den Antrag zurückgezogen. 5 Sie führen im Auftrag der Leitung eine Fortbildung zum Qualitätsmanagement in einem
169 8.1 · Wovon sprechen wir eigentlich?
Krankenhaus durch und erfahren dort von den Pflegenden, dass die Qualität der Pflege in diesem Haus sowieso nicht verbessert werden kann. Ihr persönlicher Eindruck beim Blick auf die Pflegedokumentation ist ein ganz anderer. 5 Sie führen eine Fortbildung zur Einführung des »primary nursing« in einem Altenpflegeheim durch und werden gleich nach der Begrüßung mit der Aussage konfrontiert, »primary nursing« sei sowieso nicht umsetzbar. Diese Aussage wird von anderen Teilnehmenden regelmäßig wiederholt, auch nachdem Sie sich mit der Gruppe mit Fragen der Umsetzung ausführlich beschäftigt haben. Haben Sie sich über solche Situationen bisher geärgert? Haben Sie an Ihrer Fähigkeit zu lehren gezweifelt? Was würde passieren, wenn Sie die Situation einmal anders betrachten: Sie haben die Teilnehmenden bzw. die Einrichtung herausgefordert, sich ganz aktiv vor dem Lernen zu schützen. Da sich alles verändert, ist nicht das Lernen erklärungsbedürftig, sondern das Nichtlernen. Nehmen Sie Personen und Organisationen der Pflege in ihrem Bedürfnis ernst, nicht zu lernen, sondern Strukturen beizubehalten und Identität zu bewahren! Vielleicht haben Sie bisher immer gedacht,Lernen sei etwas grundsätzlich immer Willkommenes und Gutes, Lernen sei als Weiterentwicklung der Persönlichkeit grundsätzlich erstrebenswert? Auch ein schlechter Mensch zu sein oder auch nur so zu sitzen, dass es den Rücken belastet, ist etwas, das erlernt wurde. Wollen Sie bestreiten, dass Sie im Laufe Ihres Lebens schon vieles gelernt haben,das sich als wenig brauchbar, als unnütz, manchmal sogar als ausgesprochen hinderlich erwiesen hat? Gilt dies nicht auch für Lernerfahrungen in Ihrer beruflichen Praxis oder Ausbildung? Wenn Sie gute Gründe haben,nicht zu lernen,sind die besten Strategien des Nichtlernens, Situationen zu vermeiden, die irgendeine Veränderung mit sich bringen. Wenn dies nicht möglich ist, kann es hilfreich sein, Veränderungen nicht zur Kenntnis zu nehmen und die Wirklichkeit so zu konstruieren, als handele es sich dabei um absolut nicht Neues. Gehen Sie immer zu den gleichen
8
Orten, sprechen Sie immer mit den gleichen Menschen über die gleichen Themen und üben Sie jede Tätigkeit so aus, wie Sie es schon immer gemacht haben (Simon 1997, S. 157 f.). Wenn Ihnen irgendetwas anders erscheint als vorher, suchen Sie solange nach Ähnlichkeiten mit vertrauten Situationen, bis es Ihnen gelingt zu erkennen, dass sich nichts geändert hat.Eine andere erfolgreiche Strategie des Nichtlernens von Organisationen ist, die Ursachen für das Nichtlernen bei anderen zu suchen: Die Rahmenbedingungen wie Zeit, Geld oder Gesetze lassen es nicht zu oder aber es werden Personen ausfindig gemacht, die die Ursache dafür sind. Je nachdem sind es meist die Vorgesetzten oder die Mitarbeiter, die solche Lernprozesse verhindern. Wenn auch das nichts mehr hilft, kann die Ursache für das Nichtlernen noch in der lehrenden Person und ihrer pädagogischen Unfähigkeit gesucht werden, als letzter Ausweg gewissermaßen, zum Schutz vor Lernen.
3 Berufliche Handlungskompetenzen 2
Fachkompetenz Durch eine systemische Betrachtung von Lernen ein theoretisches Modell kennen lernen, das es ermöglicht, Lernen im Kontext der Pflegepädagogik neu zu verstehen und unterschiedliche Lerntheorien aus ihrer Sicht einzuordnen.
2
Personalkompetenz Auf theoretischer Basis das eigene professionelle Handeln in der Pädagogik reflektieren.
2
Sozialkompetenz Die Bedeutung von Kommunikation für soziale Systeme wie Teams oder Organisationen neu verstehen und sich in Kommunikation einbringen.
2
Methodenkompetenz Methoden pädagogischer Theorieentwicklung für die eigenen wissenschaftlichen Leistungen erfahren und die Bedeutung von Begriffsklärungen innerhalb der Theorieentwicklung verstehen.
170
Kapitel 8 · Lernen: Erklärungsprinzip eines Beobachters
3 Praxisrelevanz Ein neues theoretisches Verständnis von Lernen in der Pflegepädagogik ist einerseits notwendig, um die wissenschaftsorientierte Professionalisierung der Pflegepädagogik zu festigen. Andererseits erklärt diese Betrachtung Phänomene der pädagogischen Praxis und ermöglicht es, neue Formen der Förderung von Lernprozessen zu entwickeln oder neu in ihrer Bedeutung zu verstehen.
3 Verfahrensstruktur (. Abb. 8.1) 8.1
8
Wovon sprechen wir eigentlich, wenn wir von Pädagogik, von Lernen oder von Wissen sprechen?
8.1.1 Pädagogik: Eine Wissenschaft,
die Praxis sein will? Sofern es auf diesen Unterschied ankommt, ist Kindsein und Erwachsenensein ein Konstrukt (Luhmann 1997, S. 11).
Es gibt in den Erziehungswissenschaften und in der Praxis des erzieherischen Handelns ein Verständnis von Pädagogik als »die Praxis der zielgerichteten
. Abb. 8.1. Verfahrensstruktur
Veränderung von Menschen«. Wer mit Erwachsenen pädagogisch arbeitet, stört sich früher oder später an einer solchen Definition. Zu wenig stimmt sie mit den Erfahrungen überein: Erwachsene lassen sich ganz offensichtlich nicht zielgerichtet verändern. Da sie in den meisten Situationen eher freiwillig an Bildungssituationen teilnehmen, bleiben sie eben weg, wenn es ihnen nicht behagt.Wenn sie aus beruflichen Gründen teilnehmen, geben sie sich unter Umständen Mühe, nicht zu lernen. Sie sind störrisch, verstehen Dinge anders, als sie gemeint waren, widersprechen Ansichten, denken sich ihren Teil, wenn sie nichts dazu sagen möchten oder stimmen zu und handeln ganz anders als besprochen. Mit anderen Worten: Erwachsene erweisen sich als durchaus unbelehrbar und manchmal resistent gegen neue Erkenntnisse. Wenn Sie alle Zaubertricks der pädagogischen Trickkiste ausprobiert haben und im Erfahrungsaustausch mit anderen festgestellt haben, dass es nicht an Ihrer mangelnden pädagogischen Kunst liegt und es anderen Pädagogen keineswegs anders geht, dann fangen Sie möglicherweise an, darüber nachzudenken,ob sich Ihr Verständnis von Pädagogik wenigstens im Umgang mit Erwachsenen ändern sollte oder ob nicht der Begriff der Pädagogik,
171 8.1 · Wovon sprechen wir eigentlich?
der ja vom Wortsinn her meint, Kinder in das Erwachsenenalter zu führen, in der Erwachsenenbildung gänzlich deplaziert ist. Muss sich die Definition der pädagogischen Arbeit mit Erwachsenen von der mit Kindern unterscheiden? Ist das Lernen Erwachsener grundsätzlich anders als das von Kindern oder Jugendlichen? Wenn man versucht, Unterschiede zu beschreiben, dann findet man eher quantitative als qualitative Aussagen, also ein mehr oder weniger von etwas und keinen Unterschied in der Beschaffenheit: Erwachsene lernen manches langsamer als Kinder, vielleicht auch weil sie mehr nachfragen, nicht so unwidersprochen hinnehmen und noch stärker Verbindungen zu ihrer Lebenspraxis ziehen wollen.Erwachsenen ist es wichtiger zu wissen,warum sie etwas lernen sollen. Aber Kindern ist dies durchaus auch wichtig, sie fragen nur nicht immer nach. Keine der Methoden und Regeln, die für das Lernen von Erwachsenen gelten, sind für Kinder gänzlich ungeeignet. Im Gegenteil scheinen sich Kinder manchmal darüber zu freuen, als Erwachsene behandelt zu werden und Erwachsene scheinen sich gelegentlich zu freuen, wenn sie spielerisch lernen dürfen. Was sich zumindest auf den ersten Blick unterscheidet, sind die Rahmenbedingungen der pädagogischen Institutionen, die Lernen zu einer mehr oder weniger mit Zwang verbundenen Angelegenheit werden lassen. Aber auch Kinder lernen freiwillig, wenn man sie lässt und Erwachsene sind durchaus öfter in Situationen, in denen sie sich nicht dagegen wehren können, mit anderen Einsichten konfrontiert zu werden. Genau genommen erweisen sich auch Kinder als widerständig und störrisch gegenüber Erkenntnissen, die nicht in ihr Weltbild passen. In der kommunikativen Begegnung zwischen einer Kindermeinung und einer Erwachsenensicht steht durchaus nicht immer fest, was sich als die härtere Realität erweisen wird. Pädagogische Praxis kann auch an Kindern scheitern,unabhängig von den benutzten pädagogischen Werkzeugen. Kinder scheinen möglicherweise nur weniger Widerstandskraft gegen neue Erkenntnisse aufzubringen. Sie sind leichter zu beeindrucken und probieren lieber ab und zu etwas Neues aus. Gelegentlich verwenden sie ihre Energie darauf, Strategien zu entwickeln, eben heimlich das zu tun, von dem sie wissen, dass sie es nicht tun sollten.
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Lernen in unterschiedlichen Lebensaltern scheint sich demnach eher quantitativ zu unterscheiden, nicht qualitativ, auch wenn es für die Erziehungswissenschaft durchaus sinnvoll war, einen Schwerpunkt »Erwachsenenbildung« zu etablieren, um eine neue Sicht des Lernens und der Pädagogik möglich zu machen. Was den quantitativen Unterschied ausmacht, so wissen Erwachsene bereits mehr (über das Leben) und dies scheint sie neuen Lernerfahrungen gegenüber widerstandsfähiger zu machen. Wissen scheint so gesehen die Fähigkeit Neues zu lernen einzuschränken.
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Wissen und Lernen sind daher Gegensätze.Wo Wissen bewahrt wird, wird Lernen verhindert. Um es wiederum auf eine Formel zu bringen: Wissen macht dumm oder zumindest lernbehindert (Simon 1997, S. 156).
Es ist also sehr fraglich, ob eine zielgerichtete Veränderung von Menschen überhaupt möglich ist. Auch die Möglichkeit, Institutionen zielgerichtet zu verändern, darf bezweifelt werden. Die hier zugrunde liegende Theorie begründet, dass zielgerichtete Veränderung von außen nicht möglich sein kann. Die Pädagogik hat es mit operationell geschlossenen, autopoietischen Systemen zu tun, die ihren eigenen Strukturen folgen und von der Umwelt gestört, aber nicht bestimmt, nicht determiniert werden können. Der Begriff »Autopoiese« ist von Humberto Maturana und Francesco Varela (1991) geprägt worden. Er meint: sich selbst erzeugend.Das Kennzeichen solcher Systeme ist,dass sie alles, woraus sie bestehen, selbst hervorbringen, auch die Grenze, mit der sie sich von ihrer Umwelt unterscheiden. Operationell geschlossen meint, dass sich die Operationen, die Prozeduren, des Systems immer nur wieder auf andere Operationen des gleichen Systems beziehen können und daran anschlussfähig sein müssen. Wenn von Menschen gesprochen wird, handelt es sich nicht um ein autopoietisches System, sondern um eine strukturelle Kopplung dreier Systemarten,dem Organismus oder dem körperlichen System, dem psychischen und dem sozialen System. Sie haben sich miteinander entwickelt, sind für einander Umwelten und setzen sich wechselseitig voraus. Ohne Gehirn (Organismus) kann nicht
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Kapitel 8 · Lernen: Erklärungsprinzip eines Beobachters
gedacht werden und doch lassen sich Gedanken (psychisches System) weder mit Kontrastmitteln sichtbar machen noch durch organische Prozesse bestimmen.Ohne Gedanken gibt es keine Kommunikation (soziales System) und doch ist es keineswegs gesagt, dass das, was gesprochen wird, mit dem übereinstimmt, was von psychischen Systemen gedacht wird.Ein körperliches System entsteht durch Operationen, die Leben ausmachen, ein psychisches System durch Bewusstsein. Element sozialer Systeme ist Kommunikation. In der Kommunikation ist immer Zustimmung oder Ablehnung möglich, beide setzen Kommunikation gleichermaßen fort. Erziehung ist nach Luhmann (1994b, S. 330) »intensionalisiertes und auf Intention zurechenbares Handeln«. Erziehung ist nur über Kommunikation möglich und schließt damit die Möglichkeit ein, das Gegenteil des Erzielten zu erreichen. Als Kommunikation sozialisiert Erziehung, aber nicht unbedingt so, wie beabsichtigt.
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Vor allem sind alle Konkretisierungen pädagogischen Handelns aufgeladen mit Differenzen. Sie zeichnen etwa Erfolgslinien vor und begründen damit die Möglichkeit von Mißerfolgen. Lernen und Behaltenkönnen involviert Vergessen, Können wird in seinen Grenzen, wird als Nichtkönnen erfahrbar. Mit allen Konkretisierungen wird außerdem wahrscheinlicher, daß Erzieher und Zögling verschiedene Differenzschemata, verschiedene Attributionen, verschiedene Vorzugseinstellungen innerhalb von Differenzschemata zu Grunde legen. Beachtet man dies, ist es kaum noch möglich, Erziehung als erfolgswirksames Handeln zu begreifen. Man muß sich vielmehr vorstellen, daß Anhand von pädagogisch intentionalisierten und verstandenen Handlungen ein Funktionssystem besonderer Art ausdifferenziert wird, das Sozialisationseffekte eigener Art produziert (Luhmann 1994b, S. 330 f.).
Erziehung als zielgerichtete Veränderung ist nicht möglich, egal mit welchen pädagogischen Tricks.
Vereinfacht formuliert: Wer Menschen zu Nichtrauchern erziehen will, »bewirkt«, dass sie Nichtraucher werden oder dass sie Raucher werden. Wenn Pflegekräfte anderen Personen vermitteln wollen, dass Rauchen kein Beitrag zur Selbstpflege ist, sondern der Gesundheit schadet, so können die Personen daraufhin dieser Auffassung zustimmen – und weiter rauchen oder damit aufhören – oder die Auffassung ablehnen. Nur eines können sie nur sehr schwer: So tun,als hätten sie diese Aussage niemals gehört (Blättner 1998). Jemandem Schreiben oder Lesen beibringen zu wollen, schließt immer die Möglichkeit ein, dass Personen trotz dieser Erziehung Analphabeten bleiben. Aber sie sind nicht mehr die Gleichen wie vorher. Sie haben gelernt, dass sie lesen und schreiben nicht lernen. Sie sind als Analphabeten sozialisiert.
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Als Sozialisation wollen wir ganz pauschal den Vorgang bezeichnen, der das psychische System und das dadurch kontrollierte Körperverhalten des Menschen durch Interpenetration formt. Der Begriff übergreift damit mehrere Systemreferenzen, er übergreift positiv und negativ zu wertende Effekte, er übergreift erst recht konformes und abweichendes, krankhaftes (z. B. neurotisches) und gesundes Verhalten. Sozialisation ist in diesem Sinne kein erfolgsträchtiges Geschehen (das allenfalls mißglücken kann). Eine Theorie, die den Sozialisationsbegriff auf die Erzeugung von angepaßtem, erwartungskonformen Verhalten festlegt, könnte die Entstehung gegenteiliger Verhaltensmuster nicht erklären, und sie wäre auch hilflos gegenüber Feststellungen wie der, daß gerade Anpassung neurotische Züge tragen kann und daß es Steigerungszusammenhänge von Anpassung und Neurosen gibt (Luhmann 1994b, S. 326).
Neben diesen inhaltlichen Problemen der Pädagogik, die nicht sehen kann, dass sie das Gegenteil ihrer Intentionen immer mit einschließt, ist es ganz erstaunlich, dass sich in dem eingangs genannten Verständnis der Praxis zielgerichteter Veränderung
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eine wissenschaftliche Disziplin als »Praxis« beschreiben will. In den grundsätzlichen theoretischen Aussagen bedient sich die Pädagogik in der Tat oft den Erkenntnissen ihrer Bezugsdisziplinen, der Philosophie, der Psychologie oder der Soziologie, statt eigene Erkenntnisse zu entwickeln. Dieses Problem der Pädagogik geht letztlich auf Ideen des Neuhumanismus zurück, nach denen der Mensch durch Erziehung zur vernünftigen Sittlichkeit gelangen solle.Aus den Gesetzen der Sittlichkeit – also ethisch,nicht pädagogisch begründet – sollte abgeleitet werden, mit welchem Ziel erzogen werden sollte und die Kenntnis des Ziels müsse dann die Wahl der Mittel, der pädagogischen Methoden leiten (Horster, 1997, S. 181 ff.). Die Paradoxie der – zielgerichteten – Erziehung zur Mündigkeit, zur Selbstbestimmung und Eigenständigkeit, macht die Unmöglichkeit dieser Aufgabe besonders deutlich: Wer sich entscheidet, den Auftrag zu Eigenständigkeit anzunehmen, entscheidet nicht eigenständig. Von solchen Paradoxien abgesehen, wird die Pädagogik hier darauf reduziert, Mittel zu finden, die Zwecke anderer Wissenschaftsgebiete zu erfüllen: Ziele der Gesundheitspädagogik werden häufig aus medizinischen Erkenntnissen abgeleitet, die der Kindererziehung aus psychologischen Einsichten,die der Berufspädagogik z.B.aus Trends der Ökonomie. Gerade im Kontext der Pflegepädagogik,die für die fachgerechte Ausübung der Pflege qualifiziert, wird gleichzeitig deutlich, dass Pädagogik nicht in einem luftleeren Raum stattfindet, sondern in einem Funktionssystem der Gesellschaft. Berufliche Bildung, ob in Ausbildung, Weiterbildung oder Fortbildung, selektiert. Selektion ist ausdrücklich Aufgabe des Bildungssystems, ob es dies will oder ablehnt. Ziel kann es nicht sein, allen die Fähigkeiten zu vermitteln, die sie brauchen, um qualitativ gute Pflege auszuüben, denn das Gegenteil kann nicht ausgeschlossen werden. Aufgabe ist es vielmehr, diejenigen, die professionell pflegen können, von denen zu unterscheiden, die über diese Fähigkeiten nicht oder nicht im gleichen Umfang verfügen. Die Bildung unterscheidet Wissen und Nichtwissen. Dabei reicht die Tat. Die Kenntnis der Vorgänge psychischer Systeme ist nicht notwendig und nicht möglich. Wer Pflegedokumentation gelernt hat, von dem muss nicht erwartet werden, dass er die Pflegedokumentation in seinem Innersten liebt
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oder auch nur befürwortet,er muss sie lediglich anwenden können. Die Eigenständigkeit pädagogischer Theorieentwicklung darf nicht damit verwechselt werden, dass Pflegepädagogik nicht in allererster Linie Aufgaben innerhalb der Pflege und ihrer Institutionen zu erfüllen hat, im Interesse des Überlebens der jeweiligen Institution und im Interesse der zu Pflegenden. Für eine eigenständige pädagogische Wissenschaftsdisziplin,die sich ihrer Funktion bewusst ist und sich dennoch nicht fremder Unterscheidungsmerkmale anderer Wissenschaften bedienen muss, wäre es hilfreich, sie würde sich mit eigenständiger Theorieentwicklung beschäftigen. Dazu muss sie ihre Begriffe präzise klären und aufeinander beziehen oder aber aus der Empirie heraus neue Theorien generieren. Sie muss wissenschaftlich beobachten. Wissenschaft ist eine besondere Form der Beobachtung,die einen Unterschied zwischen wahr und nicht wahr macht. Eine pädagogische Wissenschaft muss diesen Unterschied auf pädagogische Fragestellungen beziehen, nicht auf die der Medizin, der Psychologie oder der Philosophie.
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Im Kontext einer allgemeinen Theorie autopoietischer Sozialsysteme beschreiben wir die Wissenschaft als ein Funktionssystem der (modernen) Gesellschaft, das sich unter historisch vorliegenden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu eigener operativer Geschlossenheit ausdifferenziert hat, also selbst diskrimiert, was wahr und was unwahr ist (Luhmann 1994a, S. 9).
Dabei muss deutlich bleiben,dass die Entscheidung über wahr oder nicht wahr keine ist, die allgemeingültig feststeht, sondern in der wissenschaftlichen Kommunikation ständig aktualisiert werden muss. Es ist eine prinzipiell nicht entscheidbare Frage. Solche Fragen haben den Vorteil, dass sie ständig neu beantwortet werden können.Andernfalls würden wir heute noch die Meinung vertreten,Aderlass sei die beste Medizin gegen alle Krankheiten und würden die Sichtweisen anderer Heilkulturen nicht kennen, weil wir die Erde für eine Scheibe halten würden und aus Angst herunterzufallen, die Grenzen Europas nicht verlassen hätten. Eine erste Arbeitsdefinition von Pädagogik als Wissenschaft kann demnach lauten:
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Kapitel 8 · Lernen: Erklärungsprinzip eines Beobachters
Wichtig
ken, dass sich das Handeln eines Menschen aufgrund dieser Erfahrungen vorübergehend oder dauerhaft ändert. Es handelt sich um einen Vorgang des Erkennens und Speicherns von Zusammenhängen, der zur Vermehrung von kognitivem und nicht-kognitivem Wissen führt.
Erziehungswissenschaft beobachtet die Möglichkeiten, Lernen zu fördern und zwischen Wissen und Nichtwissen zu unterscheiden. Sie beobachtet dies wissenschaftlich, d. h. sie unterscheidet zwischen wahr und nicht wahr.
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Das führt aber zu den nächsten Fragen: Was ist Beobachten und was ist Wissen? Was ist Lernen und wie kann man es überhaupt fördern, wenn man nicht zielgerichtet verändern kann? Wenn man an dieser Stelle bereits theoretische Aussagen vorweg nimmt, die am Ende dieses Kapitels deutlich geworden sein könnten, dann macht folgende Definition von Pädagogik Sinn: Wichtig Erziehungswissenschaft beobachtet mit der Unterscheidung wahr / nicht wahr die Möglichkeiten der Sozialisation, die es erlauben, in der Kommunikation gemeinsames Wissen zu unterstellen.
Pflegepädagogik schränkt ihren Beobachtungsraum diesbezüglich ein auf das Wissen,das im Kontext professioneller Pflege unterstellt werden muss.
8.1.2 Lernen: Aufnehmen und speichern
von Information? Ob jemand lernt oder nicht, entscheiden nicht so sehr die Prozesse in seinem Kopf oder Bauch, sondern die Konzepte des Beobachters (Simon 1997, S. 149).
Delius und Todt (1987, S. 11 f.) definieren Lernen auf eine Art und Weise, die dem alltäglichen Denken über Lernen gut entspricht:
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Unter Lernen werden in einem weiten Sinn alle Prozesse verstanden, bei denen Menschen aus ihrer Umwelt Informationen aufnehmen, speichern und später wieder verwenden. Lernen kann bewir-
Ein solcher Lernbegriff unterstellt eine den Erfahrungen vollständig zugängliche Welt. Gegenständlich gedachte Information kann aufgenommen oder vielleicht mittels des »Nürnberger Trichters« in die Köpfe von Lernenden hinein geschüttet werden wie Korn in einen Speicher. Abbilder der Welt können in den Verschaltungen von Nervenzellen gespeichert werden wie auf einer Festplatte. Die vorher leeren Köpfe sind hinterher wie eine Bibliothek – oder moderner – wie ein Datenspeicher voller Wissensbestandteile. Es ist den Konstruktivisten Ernst von Glasersfeld (1997), Heinz von Foerster (1997), Humberto Maturana und Francesco Varela (1991) zu verdanken, dass an dieser Sicht erkenntnistheoretisch erhebliche Zweifel angemeldet werden müssen.Autopoietische, lebende Systeme sind nicht in der Lage, irgendeine Welt von draußen in ihr Inneres aufzunehmen. Selbst wenn sie Informationen verspeisen könnten, müssten sie sie erst verdauen, um aus den Baustoffen eigenes Wissen zu konstruieren. Informationen oder Wissen scheinen nichts Gegenständliches zu sein. Lebende Systeme konstruieren vielmehr Wirklichkeit in dem sie handeln und während des Handelns nicht an Grenzen ihrer Wirklichkeitskonstruktion stoßen. Ihre Konstruktionen müssen sich lediglich als passend, als viabel erweisen.Nach Maturana und Varela ist es nahe liegend,
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Lernen als Ausdruck einer Strukturkoppelung zu verstehen, in der die Verträglichkeit zwischen der Arbeitsweise eines Organismus und des Milieus aufrechterhalten wird (Maturana u.Varela 1991, S. 188).
Was sich als Beschreibung der Lernprozesse von Bakterien,die durch Penicillin nicht vernichtet werden, sondern sich davon ernähren, anbietet, lässt
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sich andererseits nur mit Mühe auf Vorstellungen von dem übertragen, was sich in der Schule, dem Studium oder der Ausbildung abspielt. Solchermaßen verunsichert,ist es hilfreich sich mit Fritz B. Simon (1997, S. 147 ff.) daran zu erinnern, woran wir glauben, Lernen beobachten zu können, und dies auf bekannte Situationen der Praxis zu beziehen: Ein Pflegeschüler gibt z. B. auf die Frage nach den Möglichkeiten, einen Dekubitus zu verhüten, keine Antwort. Eine Woche später zählt er auf die gleiche Frage auf: So lagern, dass keine Druckstellen entstehen, häufig neu betten, die Haut gut pflegen usw. Dieses unterschiedliche Verhalten, das die lehrende Person bei dem Schüler zu zwei verschiedenen Zeitpunkten beobachtet, wird vom Lehrer als »gelernt« erklärt und abhängig von der Qualität des Gesagten als richtig oder falsch bezeichnet. Genauso gut wäre es möglich,sich diesen Unterschied des Verhaltens anders zu erklären, z. B. mit plötzlicher Eingebung, der Aufgabe von Trotz oder schlicht mit Frechheit.
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Wichtig an diesem Beispiel scheint mir, daß wir, immer wenn wir umgangssprachlich als Beobachter von »Lernen« reden, eine bestimmte Erklärung für Verhaltensänderungen eines lebenden Systems geben.Wir schreiben es ursächlich irgendwelchen Prozessen in seinem Inneren zu, die wir von außen nicht direkt beobachten können.Wir ver-
. Abb. 8.2. Ein Beobachter beobachtet unterschiedliches Verhalten zu zwei Zeitpunkten und erklärt den Unterschied mit Lernen
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knüpfen beobachtbare Phänomene, z. B.Verhaltensänderungen, mit nichtbeobachtbaren, hypothetischen Prozessen. Diese Kausalität ist konstruiert und abgeleitet aus dem Verhalten von Menschen in der Interaktion und Kommunikation mit ihrer belebten oder auch unbelebten Umwelt. Der Begriff »Lernen« beschreibt also keine wahrnehmbaren Phänomene, sondern er erklärt sie: Lernen ist ein Erklärungsprinzip (Simon 1997, S. 148).
Genaugenommen vergleicht der Beobachter – der Lehrer – nicht zwei verschiedene Formen des Verhaltens, sondern er vergleicht ein Verhalten mit der Erinnerung an ein früheres Verhalten oder eine Vermutung wie es gewesen sein könnte und erklärt diesen Unterschied mit Lernen (. Abb. 8.2). Das kann er aber immer nur aktuell.In dem Moment,in dem er das aktuell wahrgenommene Verhalten mit Lernen erklärt, verliert er notwendigerweise aus dem Blick, dass er dieses Verhalten von anderem, vermutetem früheren Verhalten, unterscheidet. Lernen ist demnach das Erklärungsprinzip eines Beobachters, der einen von ihm festgestellten Unterschied im Verhalten zu zwei verschiedenen Zeitpunkten im Nachhinein mit Lernen erklärt. Später wird noch zu sehen sein,dass es sich bei dem erklärten Verhalten nicht um Verhalten, sondern um Kommunikation handelt, die einer Person Wis-
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Kapitel 8 · Lernen: Erklärungsprinzip eines Beobachters
sen zuordnet. Im Vorgriff auf die später folgende Definition von Beobachtung lässt sich präziser formulieren: Wichtig Lernen ist das Erklärungsprinzip eines Beobachters, der den Unterschied zwischen etwas Bezeichnetem und dem Nichtbezeichneten mit Lernen erklärt. Bezeichnet wird Wissen.
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Aber was erklären sich Beobachter, wenn sie sich Lernen erklären? Unterschiedliches, je nach dem wie sie beobachten. Manche erklären Lernen mit der Verstärkung von Verhalten, andere erklären sich Lernen durch Einsicht,als die plötzliche Wahrnehmung von Beziehungen zwischen Elementen einer Situation. Die dritten erklären Lernen als das Resultat der Entstehung von Gedächtnisspuren, wieder andere als die Entdeckung von Ähnlichkeiten und Unterschieden oder als Anpassung an die Umwelt oder als Veränderung von Wirklichkeitskonstruktionen,die sich als nicht passend erwiesen haben. Ein konstruktivistischer Lernbegriff z.B.betont die Eigenständigkeit des Lernens:
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Wir entdecken nicht eine vorhandene Welt, sondern wir erfinden Welten und erfinden uns auch selbst. … Lernen heißt nicht,Vorgegebenes abbilden, sondern Eigenes gestalten (Arnold u. Siebert 1995, S. 89).
Für Luhmann ist es zunächst wichtig festzustellen, dass Lernen,aber auch Gedächtnis oder Intelligenz, Begriffe sind, die etwas beschreiben, was sich nicht beobachten lässt:
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»Intelligenz« ist die Bezeichnung dafür, daß man nicht beobachten kann, wie es zustande kommt, daß das selbstreferentielle System in Kontakt mit sich selbst die eine und nicht die andere Problemlösung wählt. »Gedächtnis« ist die Bezeichnung dafür, daß man nicht beobachten kann, wie der komplexe aktuelle
Zustand eines Systems in den nächsten übergeht, sodass man statt dessen auf ausgewählte vergangene Inputs als Indikatoren zurückgreifen muß. »Lernen« ist die Bezeichnung dafür, daß man nicht beobachten kann, wie Informationen dadurch weitreichende Konsequenzen auslösen, daß sie in einem System partielle Strukturveränderungen bewirken, ohne dadurch die Selbstidentifikation des Systems zu unterbrechen (Luhmann 1994b, S. 158).
Gregory Bateson (1985) unterscheidet vier Lernebenen. 4 Lernen 0 Diese Ebene bezeichnet die Datenaufnahme, die stereotype Reaktion ohne eigentliches Lernen, der auswendig gelernte Wissensstoff. 4 Lernen I Diese Ebene meint die Fähigkeit, innerhalb einer Menge an Alternativen eine Auswahl treffen zu können. Der Kontext bildet die Grenze der Veränderung. 4 Lernen II Auf dieser Ebene kann der Kontext verändert werden. 4 Lernen III Hier kann flexibel zwischen Kontexten gewechselt werden. 4 Lernen IV Diese Ebene wäre eine Verbindung von Ontogenese und Phylogenese (Entwicklung des Individuums und Entwicklung der Stammesgeschichte), die aber bei keinem ausgewachsenen lebenden Organismus stattfindet. Komplizierter wird der Vorgang dadurch, dass wir es, wenn wir von Menschen sprechen, die wir beim Lernen beobachten wollen, nach Luhmann (1994b, S. 15 ff.) nicht nur mit einer einzigen Systemart zu tun haben, sondern mit drei Systemarten, dem Organismus, dem psychischen System und dem sozialen System. Diese haben sich in der Evolution miteinander entwickelt, sich wechselseitig bedingt und sind strukturell gekoppelt, aber sie stellen für einander Umwelten dar und können nicht bestimmen, nicht determinieren, was in dem System passiert. Nun ist es nicht ungewöhnlich, von körper-
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lichen, psychischen und sozialen Aspekten des Menschseins zu sprechen – so definiert ja auch die WHO Gesundheit als körperliches,psychisches und soziales Wohlbefinden. Ungewöhnlich ist es aber, alle drei als operationell geschlossene, autopoietische Systeme zu betrachten, die füreinander Umwelten sind, sich nicht determinieren können, sondern allenfalls stören. Systemisch werden lebende Systeme durch die Operationen, d.h. die Vorgänge, die das System bestehen lassen. Das Systemische am Organismus sind nicht die Zellen, aus denen der Körper besteht,sondern die biochemischen Reaktionen, die biologisches Leben ausmachen und für die Entstehung der Zellen sorgen, d. h. die Interaktionen zwischen den Zellen. Das psychische System besteht ebenfalls weniger aus Gedanken oder Gefühlen als vielmehr aus den Operationen des Bewusstseins, die die Gedanken und Gefühle, Wirklichkeitskonstruktionen und Absichten, hervorbringen. Das Systemische an sozialen Systemen sind weder Gebilde wie Familien oder Teams noch gar die Personen, die zu solchen Familien oder Teams gehören, es ist Kommunikation. Die Personen sind Umwelt des sozialen Systems.Anders formuliert sind sie als Individuen nicht innen, nicht in der Gesellschaft, sondern draußen. Kommunikation wiederum ist nicht technisch zu verstehen als das Überbringen einer Nachricht von einem Sender zu einem Empfänger,sondern als Unterschied zwischen einer Information und einer Mitteilung, der im Verstehen vollzogen wird. Erst das Verstehen, das Unterscheiden zwischen Information und Mitteilung, lässt Kommunikation entstehen, unabhängig davon, zu welchem Zeitpunkt und in welcher Absicht eine Mitteilung erfolgte.Das Lesen eines Textes aus der Antike ist ebenso Kommunikation wie das Beobachten eines Joggers im Wald, wenn das durch den Wald laufen als Mitteilung, die sich von einer Information unterscheidet, verstanden wird. Anders formuliert wird dieser Text nicht dadurch Kommunikation, dass er die Gedanken der Autorin an die Leserin transportiert, sondern dadurch dass die Leserin sich fragt, was die Autorin mit diesem Satz eigentlich sagen wollte. Aus der Vielzahl der Gedanken entscheidet sich die Autorin, irgendeine Idee preisgeben zu wollen, die erste Selektion, das ist die Information. Aus der Vielzahl der Möglichkeiten entscheidet sie sich dann, einen
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konkreten Satz zu formulieren, die zweite Selektion, das ist die Mitteilung. Wird der Text nicht gelesen, findet dennoch keine Kommunikation statt. Die dritte Selektion, die Unterscheidung zwischen Information und Mitteilung, trifft die Leserin und versteht. Jetzt ist Kommunikation entstanden und kann Grundlage für weitere Kommunikation sein, in dem sich z.B. die Leserin entscheidet, einer Mitstudentin zu erzählen, der Text sei schwer verständlich.Vorweg gesagt,setzt die Leserin jetzt Wissen voraus,nämlich zumindest das Wissen,die Mitstudentin wüsste, von welchem Text überhaupt die Rede ist. Verstehen schließt dabei Missverständnisse als normal ein. Ohne Verstehen – als die Beobachtung einer Unterscheidung zwischen einer Information, einer Auswahl an Möglichkeiten, und einer Mitteilung, dem Treffen dieser Wahl, – kommt Kommunikation nicht zustande (Luhmann 1994b,S.191 ff.). Ein Beispiel:Wenn in der Fortbildung zum »primary nursing« eine Teilnehmerin sagt, »primary nursing« sei nicht umsetzbar, dann können Sie sich Gedanken darüber machen,warum die Teilnehmerin dies jetzt sagt: Vielleicht weil sie Zweifel an der Umsetzbarkeit hat, weil sie nicht an den Möglichkeiten der Umsetzung arbeiten will oder gerade doch, weil sie vom Thema ablenken will und keine Lust hat, etwas darüber zu lernen. Dass Sie grundsätzlich in der Lage sind – egal ob Sie es wirklich tun und mit ihren Vermutungen richtig liegen –, sich darüber Gedanken zu machen, warum dies gesagt wurde, ist ein Beleg dafür, dass Sie zwischen Information und Mitteilung unterscheiden und Kommunikation somit zustande gekommen ist. Dafür ist nicht erforderlich, dass Sie »richtig« interpretieren,was zu dieser Aussage geführt hat.Was die Mitteilung tatsächlich war, ist noch nicht einmal wirklich kommunizierbar, denn jede Bestätigung, die Annahme über die Mitteilung sei zutreffend, ist wiederum eine Information, die mitgeteilt wird und damit prinzipiell Zweifel zulässt. Umgekehrt kann sich natürlich jede Teilnehmerin grundsätzlich fragen, warum Sie genau jetzt die Information mitteilen, »primary nursing« sei machbar. Vielleicht, weil Sie eine Diskussion darüber entfachen wollen und selber Zweifel haben? Wenn aber Lernen ein Erklärungsprinzip eines Beobachters ist und wenn es um drei verschiedene Systemarten geht, dann hat der Beobachter die
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Kapitel 8 · Lernen: Erklärungsprinzip eines Beobachters
Möglichkeit, Lernen ganz nach seinem Belieben einem dieser drei Systemarten in der Differenz zu ihrer Umwelt zuzuschreiben, solange ihn keine wichtigen Gründe davon abhalten.Er kann der Meinung sein, die Ursache für Lernen läge in körperlichen Systemen, wie etwa der angeborenen Intelligenz, oder aber in der Umwelt dieses Systems, nämlich den Erziehern und ihren Methoden. Er kann der Meinung sein, Lernen ließe sich aus der Struktur psychischer Systeme heraus erklären oder aber aus den Vorgängen sozialer Systeme. Welche Meinung ein Beobachter diesbezüglich vertritt, erklärt sich vor allem aus seiner Art der Beobachtung und den Methoden, die er bei der Beobachtung benutzt (Simon 1995, S. 21–64). So gibt es unterschiedliche Theorien über Lernen, die man als jeweils die eine oder andere Form der Beobachtung bezeichnen kann. So kann z. B. der Behaviorismus in seiner klassischen Prägung als eine Form der Erklärung von Lernen aus der Umwelt eines Systems dienen, oder aber die Gestaltpädagogik, genauso wie die konstruktivistische Pädagogik, als eine Form der Erklärung von Lernen aus der Struktur psychischer Systeme. Wendet man die Systemtheorie von Luhmann an, so wird man zu einer Erklärung von Lernen aus den Eigenarten sozialer Systeme, aus der Kommunikation kommen. Diese Sichtweisen haben Auswirkungen auf Annahmen darüber, wie man Lernen fördern könnte. Wer glaubt, Gene bestimmen primär die Lernfähigkeit, wird nach genetischen Gesichtspunkten selektieren müssen. Wer glaubt, die Umwelt könne Lernen bestimmen, wird Lernende dressieren wollen, wie Skinner seine Tauben. Wer wie Piaget annimmt, Lernende setzen sich gemäß ihrer eigenen internen Strukturen durch Assimilation und Akkommodation mit ihrer Umwelt auseinander, kann nur die Umwelt abwechslungsreich gestalten und Lernende im Übrigen die Welt selbst erforschen lassen. Beobachter erklären sich demnach nicht nur Unterschiede im Verhalten als Lernen, sie suchen die Ursache in einer bestimmten Systemart und folgern daraus,wie Lernen gefördert werden kann.Sie erklären Lernen auf jeweils spezifische Art. Was aber ist ein Beobachter und was ist beobachtbar?
8.1.3 Beobachten: Wiedergeben
von Wirklichkeit? Alles, was beobachtet wird, ist mithin abhängig von der Unterscheidung, die der Beobachter verwendet (Luhmann 1994a, S. 82).
Wenn man von einem Beobachter oder einer Beobachterin spricht, denkt man meist an eine Person: Frau Schmidt, Schwester Stefanie oder Dr. Sommer haben etwas beobachtet – und darüber irgendwie mit jemandem kommuniziert, denn andernfalls wäre die Beobachtung unbekannt. Beobachter können neben psychischen Systemen aber auch soziale Systeme sein. Es ist noch nicht einmal ausgeschlossen, dass auch körperliche Systeme als Beobachter bezeichnet werden können, sofern sie Unterscheidungen treffen, die in diesem System einen Unterschied machen. Für den pädagogischen Kontext ist es relevant zu bedenken, dass nicht nur psychische sondern auch soziale Systeme beobachten können. Sie können dies auch wechselseitig und auf eine ähnliche Art: Der Lehrer beobachtet die Schüler. Schüler beobachten den Lehrer.Die Kommunikation in dieser Situation könnte Lehrer oder Schüler beobachten oder sich selbst. Der Lehrer könnte die Kommunikation beobachten, ebenso wie die Schüler dies auch könnten. Maturana und Varela (1991, S. 32) verweisen darauf, dass alles Beobachtete von jemanden beobachtet wird. Autopoietische Systeme beobachten immer gemäß ihrer eigenen Strukturen, Frau Schmidt anders als Schwester Stefanie oder Dr. Sommer. Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass diese eigenen Strukturen nicht nur die unterschiedlichen Wahrnehmungsfähigkeiten von Mücken, Mäusen und Menschen meinen, sondern auch die lebensgeschichtlichen Entwicklungen und professionellen Prägungen, die gemeinhin mit Lernen bezeichnet werden. Eine Patientin, eine Pflegende und eine Ärztin haben unterschiedliche Strukturen, die zu ihren unterschiedlichen Beobachtungen führen.Genauso unterschiedlich sind die lebensgeschichtlich entstandenen Strukturen einer Patientin und eines Patienten.Sie beobachten unterschiedliches, wenn sie die gleichen Phänomene sehen.
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Soziale Systeme und psychische Systeme beobachten auf ihre jeweils eigene Art: psychische Systeme in dem sie Operationen durchführen, die als Bewusstsein bezeichnet werden könnten und soziale Systeme durch Kommunikation. Unterschiedliche soziale Systeme beobachten wiederum gemäß ihrer eigenen Strukturen,Funktionssysteme gemäß der für dieses System leitenden Unterschieden: Das Gesundheitssystem unterscheidet nach krank oder nicht krank, die Wissenschaft nach wahr oder nicht wahr, das Bildungssystem nach wissend oder nicht wissend. Beobachten ist also mehr als Eindrücke von Sinneswahrnehmungen zu sammeln. Schon die Entscheidung, ob der Beobachter die Welt mit dem Mikroskop, dem Fernrohr oder seinen Augen beobachtet, ist eine Entscheidung des Beobachters über das, was er beobachten will. Beobachten ist nicht Aufnahme oder Spiegelung von Wirklichkeit. Es ist eine aktive Leistung, in der irgendetwas von anderem unterschieden wird. Dabei entscheidet der Beobachter, nicht das Beobachtete, wonach er unterscheiden will. Die beobachteten Eigenschaften sind durch die Wahl der Unterscheidung beim Beobachten bestimmt, nicht durch das Beobachtete. Die systemtheoretische Definition von Beobachtung bezieht sich auf Georg Spencer-Brown (1969) (Luhmann 1994a,S.63,Simon 1995,S.13–20): Wichtig Beobachten ist unterscheiden und bezeichnen. Etwas Bezeichnetes wird vom Nichtbezeichneten unterschieden.
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Wann immer ein Beobachter unterscheidet, zieht er eine Grenze, durch welche ein Raum, Zustand oder Inhalt auf der Innenseite der Grenze von einem Raum, Zustand oder Inhalt auf der Außenseite der Grenze getrennt wird. … Stets wird ein Phänomen selektiert und von seinem Kontext, seiner Umwelt, seinem Hintergrund unterschieden. Charakteristikum des Zeichens oder der Bezeichnung ist, daß sie die eine Seite der Unterscheidung bezeichnet und die andere nicht. … Die Merkmale der Unter-
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scheidung, die einer unterschiedenen Einheit zugeschrieben werden, sind keine Elemente der Einheit selbst, sondern ihres Kontextes (Simon 1995, S. 14 f.).
Der Beginn dieses Kapitels sollte verdeutlichen, dass es ein Gewinn an Erkenntnis sein kann,die andere Seite der Unterscheidung, den blinden Fleck der Beobachtung, das Nichtbezeichnete zu bezeichnen. In dem Augenblick, in dem etwas bezeichnet wird, ist es nicht gleichzeitig möglich, das Nichtbezeichnete zu bezeichnen. Für die Gesundheitswissenschaft war es hilfreich, die Frage nach der Entstehung von Gesundheit statt die Frage nach der Entstehung von Krankheit zu stellen. Für die Pädagogik ist es hilfreich, die Frage nach dem Nichtlernen zu stellen.Dies öffnet den Blick darauf, dass das Nichtlernen,die Abwehr von Veränderung in einer sich ständig verändernden Umwelt, eine wichtige Ressource zur Aufrechterhaltung von Systemen sein kann. Eine ununterbrochen lernende Organisation ist eine, die sich von ihrer Umwelt nicht mehr unterscheiden kann, also auflöst. Eine niemals lernende Organisation setzt sich allerdings dem Risiko aus, keine Bedingungen für ihr Überleben mehr vorzufinden. Eine Form von Beobachtung, die auf Unterscheidungen verzichtet,gibt es nicht.Wo ein Unterschied gemacht, eine Grenze gezogen wird, ist aber abhängig vom Beobachter – zur Erinnerung: Es muss sich dabei nicht um eine Person handeln,sondern kann sich auch um ein soziales System handeln, wie z. B. das Funktionssystem Wissenschaft. Eine systemtheoretische Beobachtung von Pädagogik, Lernen oder Wissen unterscheidet sich dadurch von anderen theoretischen Beobachtungen dieser Disziplin, dass sie andere Unterscheidungen zieht, nämlich die zwischen System und Umwelt. Fritz Simon erweitert auf dieser Basis die Erklärung von Beobachten als Unterscheiden und Bezeichnen, durch das Beschreiben, das Erklären und das Bewerten.
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Aus der Perspektive des Beobachters des Beobachters – eines »Beobachters zweiter Ordnung«, d. h. eines Beobachters, der sich selbst oder andere beim Beobachten beobachtet – läßt sich feststellen, daß Beobachter ihre subjektiven
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Kapitel 8 · Lernen: Erklärungsprinzip eines Beobachters
Wirklichkeitskonstruktionen als eine Art »innerer Landkarte« verwenden, an der sie sich orientieren. Sie liefern ihnen den Deutungsrahmen für ihre –Handlungen und eröffnen ihnen die Möglichkeiten, zwischen verschiedenen Verhaltensalternativen zielgerichtet zu wählen. Um dies tun zu können, braucht jeder Beobachter erstens einen Bewertungsmaßstab, ob bestimmte, von ihm unterschiedene und bezeichnete Phänomene für ihn erstrebenswert oder besser zu vermeiden sind; und zweitens muß er Modellvorstellungen darüber entwickeln, nach welchen Spielregeln die Welt funktioniert und wie er sich einmischen und mitspielen kann. Er kann es nicht bei der Beschreibung von sinnlich wahrgenommenen Phänomen belassen, sondern er muß Erklärungen für das Entstehen der von ihm erstrebten oder befürchteten Ereignisse konstruieren (Simon 1995, S. 17).
Wenn eine in der Pflegepädagogik lehrende Person Lernende beobachtet, dann lässt sich dieser Vorgang analytisch in folgende Aspekte trennen: 4 Die Beschreibung der beobachteten Phänomene als eine nur theoretisch bewertungsfreie Datenerhebung von Phänomenen, die zunächst sinnlos ist: Lernende geben Geräusche von sich oder führen andere Aktivitäten aus. 4 Die Erklärung, die genau genommen Ergebnis eines kommunikativen Einigungsprozesses ist, diese Geräusche als Antworten auf die Frage der lehrenden Person oder die Aktivitäten als Ausführung eines gemachten methodischen Vorschlages durch die lehrende Person zu betrachten. 4 Die Bewertung der Phänomene z. B. als korrekte Erfüllung eines Lernzieles. Diese inneren Landkarten,die bei der Beobachtung entscheidend sind und die über die Wahl der Unterscheidung mitentscheiden, sind gelernt. Das gilt für Pädagogen genauso wie für Lehrende oder für die Wissenschaft. Unterscheidungen setzen Wissen voraus, wonach unterschieden werden kann. Was aber ist Wissen?
8.1.4 Wissen: Eigenschaft einer Person? Etwas wissen kann, so meint man nach wie vor, nur der Mensch (Luhmann 1994a, S. 127).
Nach dem bisher Gesagten dürfte es einleuchtend sein, dass Wissen nicht einfach als gespeicherte Information oder als korrekte Abbildung objektiver Wirklichkeit verstanden werden kann. Ein konstruktivistischer Wissensbegriff (Arnold u. Siebert 1995,S.112 ff.,Siebert 1999,S.11 ff.mit Bezug auf Glasersfeld und Piaget) beschreibt Wissen als eine aktive Leistung einer Person in der Konstruktion von Wirklichkeit.
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Wissen dagegen ist eine Kategorie und Leistung des Subjekts.Wissen ist Bestandteil unserer Identität, unseres Selbst- und Weltbildes.Wissen verbindet das Subjekt mit der Umwelt. Auf diese Relation verweist auch die Umgangssprache: ich weiß etwas. Zum Wissen gehören ein Subjekt und ein Erkenntnisgegenstand (Arnold u. Siebert 1995, S. 112).
Wissen ist damit in dieser Sicht ein Teil des psychischen Systems, eine Eigenschaft einer Person, die sie sich durch Aktivitäten in der Auseinandersetzung mit der Umwelt aneignet und aufgrund von Erfahrungen und Lernprozessen zu Wissensnetzen verknüpft. Wissen muss sich in der Umwelt allerdings als passend, als viabel erweisen. Unterscheidet man zwischen System und Umwelt, aber nicht zwischen verschiedenen Systemarten,dann ist es konsequent,Wissen nicht der Umwelt, sondern dem System zuzuordnen. Die strukturlose Umwelt kann kein Wissen erzeugen, dies kann nur die ordnende Struktur eines Systems, in dem sie sich mit ihrer Umwelt – zu der Menschen genauso gehören wie die Natur – auseinandersetzt. Wissen kann nur im Inneren autopoietischer Strukturen entstehen. Die Zuordnung von Wissen zu Personen entspricht dem, was alltäglicher Beobachtung so scheint: Jemand weiß etwas oder weiß dies nicht, ein Prüfling wird auf sein Wissen geprüft, manche Menschen verfügen über umfangreiches Wissen,es gehört also zu ihnen. Wissen ist scheinbar das, was
181 8.1 · Wovon sprechen wir eigentlich?
in den Köpfen enthalten sein soll. Dennoch entspricht es auch alltäglicher Erfahrung, dass Wissen nicht durch Eingebung oder Prozesse des Nachdenkens von selbst im eigenen Gehirn entsteht.Der Prüfling weiß das, was er vorher in Büchern oder seinen Aufzeichnungen des Unterrichts gelesen hat. Man weiß meist deshalb,wo die Klinik zu finden ist, weil man vorher auf dem Stadtplan nachgesehen hat oder jemanden gefragt hat oder weil man ein Hinweisschild entdeckt hat. Man weiß, dass Rindfleisch BSE-Erreger enthalten kann und Bratkartoffeln Acrylamid, weil man es in den Nachrichten gehört hat. Man weiß, wie man den Verband wechselt, weil es einem jemand gezeigt hat. Das vermeintlich eigene Wissen ist durch Kommunikation entstanden. Allerdings ist man frei darin, das Wissen anzuzweifeln oder ihm zuzustimmen. In der Kommunikation kann daraus neues Wissen entstehen. Unterscheidet man die drei Systemarten, körperliches, psychisches und soziales System, herrscht schnell Einigkeit darüber, dass Wissen kein Element körperlicher Systeme ist. Die Zurechnung zu psychischen Systemen, deren innere Strukturen nicht bekannt sind,lässt sich bei genauerem Hinsehen allerdings ebenfalls nicht aufrechterhalten: Ohne Kommunikation ist Wissen nicht möglich. Wissen setzt immer voraus,dass etwas gesprochen, geschrieben oder gezeigt werden kann, also kommuniziert wird. Ob jemand etwas weiß, wird erst dann deutlich, wenn darüber kommuniziert wird, egal ob in der Prüfungssituation oder bei der Frage nach dem Weg zur Klinik. Selbst die Erkenntnis eines Forschers oder einer Wissenschaftlerin – beide sind aktuell sowieso selten Einzelwesen, sie sind schon für die Entdeckung der neuen Erkenntnis auf wissenschaftliche Kommunikation angewiesen und können diese Erkenntnis nur auf Basis vorhandenen Wissens gewinnen – wird erst dann zu Wissen, wenn er oder sie darüber schreiben oder wenigstens sprechen und diese Entdeckung somit Teil der wissenschaftlichen Kommunikation wird. Umgekehrt setzt Kommunikation immer schon ein Mindestmaß an gemeinsamem Wissen voraus, andernfalls wäre keine Kommunikation möglich.
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Das Bezugsfeld des Begriffs »Wissen« gehört zu den konstitutiven Merkmalen des Gesellschaftssystems, denn sprach-
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liche Kommunikation setzt gemeinsames Wissen immer schon voraus und käme mit ihrer Autopoiesis zum Stillstand, würde diese Voraussetzung scheitern. Ohne unterstellbares Wissen keine Kommunikation.Wir können deshalb vermuten, daß Wissen als Resonanz auf strukturelle Kopplungen des Gesellschaftssystems entsteht. Dabei handelt es sich allerdings nicht um einen feststellbaren Zustand der beteiligten psychischen Systeme (und wenn dies so gesehen wird, ist das schon eine Interpretation), sondern um eine Implikation des Kommunikationsvorganges selbst, um eine mittransportierte Unterstellung, um ein Merkmal des sozialen Autopoiesis.Wissen muß, wie Sprachstrukturen, als Voraussetzung mitlaufen und kann thematisch nie voll in der Kommunikation expliziert werden (Luhmann 1994a, S. 122).
Mit anderen Worten ist Wissen eine Voraussetzung für soziale Systeme, zu deren Umwelt auch psychische Systeme gehören. Wissen wird kommunikativ erzeugt,und damit ist gerade auch gemeint,dass die Entscheidung über den Wahrheitsgehalt des Wissens nicht schon vorgegeben ist. Zur Erinnerung: Kommunikation entsteht durch die Unterscheidung zwischen Information und Mitteilung, sie wird erst dadurch Kommunikation, dass jemand versteht,d.h.diese Unterscheidung zieht.Die Nachricht vom Acrylamid in Bratkartoffeln wird erst dadurch zur Kommunikation, dass prinzipiell in Frage gestellt werden kann, warum diese Nachricht und keine andere mitgeteilt wird oder warum jetzt und nicht zu einem anderen Zeitpunkt. Weiterhin kann gesagt werden, dass die Kommunikation Personen konstruiert, denen sie Wissen zuordnet: Ein Buch braucht einen Autor, eine Aussage jemanden, der sie ausgesprochen hat. Kommunikation braucht jemanden, dem das Wissen zugeordnet werden kann.Ohne psychische Systeme in der Umwelt sozialer Systeme,die ihre Komplexität zur Verfügung stellen, ist Kommunikation nicht möglich,aber die Personen,denen das Wissen zugeschrieben wird, sind kommunikativ konstruiert. Eine Autorin wird erst Autorin dadurch, dass
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Kapitel 8 · Lernen: Erklärungsprinzip eines Beobachters
dies kommuniziert wird. Der Inhalt des verfassten Textes ist nicht mit der Struktur des psychischen Systems identisch, dessen Komplexität notwendig war, um den Text zu schreiben. Das psychische System bleibt für den verfassten Text Umwelt. Es gibt noch nicht einmal eine Möglichkeit zu kommunizieren, dass dieses psychische System den Text genau so gemeint hat, wie er geschrieben ist. Jede Reflexion darauf, dass Zweifel ausgeräumt werden können, lässt neue entstehen. Das gleiche gilt für Leserinnen und Leser oder Lehrende und Lernende, für Pflegende oder Ärzte, sie sind dies, weil sie als solche in der Kommunikation konstruiert sind. Schließlich kann noch gesagt werden,dass Wissen auf Beobachtung, also Unterscheiden und Bezeichnen, zurückgeführt werden kann. Diese Beobachtung muss nicht ständig neu beobachtetet werden, sondern kann als gesichert, als wiederholbar gelten, muss aber jeweils neu aktualisiert werden. Was man weiß, weiß man eben, solange keine neue Beobachtung dagegen spricht. Auf diese Art kommt man zu folgender neuen Definition von Wissen: Wichtig Wissen entsteht durch Kommunikation. Kommunikation setzt immer schon voraus, dass gemeinsames Wissen unterstellt wird. Wissen ist wiedererkennbare und wiederverwendbare Beobachtung.
Ein solcher Wissensbegriff muss sich dann endgültig von Vorstellungen verabschieden, Wissen sei von Lehrenden an Lernende vermittelbar. Es muss, will man die Möglichkeiten des Lernens erforschen, nicht nur in der Unterscheidung System und Umwelt gedacht werden, sondern auch angegeben werden, von welcher Systemart gerade gesprochen wird. Um dann aber neu darüber nachdenken zu können, worin pädagogisches Handeln überhaupt bestehen kann, ist es sinnvoll, die Entstehung dieser Form der Beobachtung innerhalb theoretischer Annahmen über Lernen kurz zu streifen und für jede Form die ihr eigene Art der Folgerung für die Möglichkeiten, Lernen zu fördern, darzustellen.
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Wie erklären sich Beobachter Lernen?
8.2.1 Beobachtungsprinzip Nummer 1:
Die Umwelt beeinflusst offene Systeme Diese Überlegung führt auf die Frage, was wohl aus selbstreferentiellen Systemen wird, die laufend so behandelt werden, als ob sie Trivialmaschinen wären? Und vielleicht ist es eine sinnvolle Hypothese, … anzunehmen, daß sie … versuchen werden, sich auf ein Terrain möglicher Abweichung zu retten – sei es mit unerwartet guter Leistung, sei es mit Leistungsverweigerung, sei es mit Ironie und Witz (Luhmann 1987, S. 180).
Wissenschaftliche Theorien über Lernen sind spezifische Formen der Beobachtung. Ein Versuch der Analyse solcher Theorien ist eine Beobachtung von Beobachtern. Alle hier beobachteten Erklärungsprinzipien von Beobachtern für Lernen sind Erklärungen, die systemische Sichtweisen anwenden, die einen Unterschied zwischen System und Umwelt machen. Die Beobachter sind hier jeweils ein Teil der wissenschaftlichen Kommunikation über Lernen.Eine Möglichkeit,Erklärungsprinzipien für Lernen zu unterscheiden, ist die, ob die Ursache für Lernen in der Umwelt oder im System gesucht wird und welcher Systemreferenz Lernen zugeschrieben wird. Diese Beobachtungsform ist allerdings eine, die den beobachteten Erklärungsprinzipen eine Unterscheidung zuspricht, die sie selbst nicht trifft, da die Unterscheidung verschiedener Systemarten erst später kommuniziert wurde, und die sich insofern nicht direkt in den Beschreibungen der Erklärungsprinzipien zeigen kann. Sie wäre dennoch möglich und würde nicht zu grundsätzlich anderen Ergebnissen kommen, als die, die Folge der hier gewählten Beobachtungsart ist, nämlich die nach der Art des Systemverständnisses. Das erste Erklärungsprinzip entspricht im Wesentlichen den Prinzipien des Behaviorismus, und hier vor allem in seiner frühen Phase,Lernen zu erklären. Es geht von einer Theorie offener Systeme aus. Offene Systeme verfügen über interne Rückkopplungsschleifen, die von außen nicht direkt beobachtbar sind, aber von außen, d. h. von ihrer Um-
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welt,in ihren Reaktionen determiniert werden können. Beobachtungen des Verhaltens dieser Systeme lässt indirekt Rückschlüsse über die Regeln des Zusammenhangs von Umwelteinflüssen und Verhalten zu. Diese Regeln können dann genutzt werden, um ein bestimmtes Verhalten zu erzeugen. Es sind Input-Output-Systeme oder in der Begrifflichkeit von Heinz von Foerster (1997) triviale Maschinen. Triviale Maschinen folgen einem einfachen, berechenbaren Muster: Wenn A (input) ausgeführt wird, dann folgt B (output). Jederzeit ist eine Wiederholung möglich, ohne dass sich an dem Grundprinzip, der Regel, etwas ändert. Wenn die Wiederholung nicht funktioniert, dann muss die Maschine repariert werden, bis sie wieder wie eine triviale Maschine funktioniert.Wenn B nicht gewünscht ist, muss A geändert werden.Der Input A kann auch als Ursache mit der Wirkung B beschrieben werden. Im Sprachgebrauch des Behaviorismus wird der Input Stimulus (Reiz) und der Output Response (Reaktion) genannt. Prinzip der behavioristischen Sicht von Lernen, die am stärksten in der Frühphase dieser Theorieentwicklung ausgeprägt ist, ist die Überzeugung, Lernen sei von der Umwelt des Systems her determinierbar, wenn man die beobachteten Regeln des Zusammenhangs von Reiz und Reaktion beachtet. Welche Prozesse sich im Inneren des Systems ereignen, damit der gewünschte Output geleistet wird, gilt als nicht beobachtbar, aber auch nicht relevant für eine wissenschaftliche Erklärung von Lernen. Die Betrachtung des Inputs und der beobachtbaren Regelungen, wann ein bestimmter Input zum gewünschten Output führt, reichen diesem Erklärungsprinzip für Lernen völlig aus. Wie ist ein solches Beobachtungsprinzip entstanden? Diese Art der Lernpsychologie hat den Anspruch erhoben, objektive Wissenschaft zu sein und sich gegen die Tiefenpsychologie gerichtet, die versucht hat, die Strukturen der unzugänglichen Bereiche des Bewussten und Unbewussten zu erforschen. Die Logik dieses Beobachtungsprinzips lässt sich mit folgendem logischen Dreisatz beschreiben: Wissenschaft muss objektiv sein. Objektiv kann nur das Beobachtbare und Messbare sein. Beobachtbar ist Verhalten. Deshalb darf sich Wissenschaft nur mit Verhalten beschäftigen,nicht mit den unzugänglichen inneren Strukturen, der »black box«.
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Es ist angesichts der Forderung objektiver Beobachtbarkeit und Messbarkeit folgerichtig,dass zu Beginn der Theorieentwicklung Tierexperimente in Laborsituationen die bevorzugte Forschungsform gewesen sind: Laborbedingungen erlauben die vollständige Kontrolle der Umweltbedingungen,die in Situationen des Alltags nie möglich sind. Zwischen dem Lernverhalten von Tieren und dem von Menschen zu unterscheiden ist nicht nahe liegend, wenn das System selbst Lernen nicht beeinflusst,sondern die Umwelt Lernen bestimmt.In der Forschung ging es dann darum, verlässliche Regelungen dafür zu finden, wann eine gewünschte Reaktion zu erwarten ist und durch welche Reize aus der Umwelt die Reaktion bestimmt werden kann. Im aktuellen Stand der Theorieentwicklung werden diese Regeln allerdings auch in der Person (Kognition) gesucht, nicht nur in der Umwelt. Der Begriff des Verhaltens (behavior) wurde hier als Gegenbegriff zum Handeln (action) genutzt,da das Handeln immer mit Sinn oder Absicht in Verbindung gebracht wird und damit mit den nicht mehr beobachtbaren Operationen im Inneren der »black box«. Wichtig Der behavioristische Kernsatz über Lernen lautet: Verstärkung des Verhaltens durch die Umwelt bewirkt Lernen. Lernen wird definiert als eine Verhaltensänderung, die auf Erfahrungen (mit der Umwelt) beruht. Die entscheidende pädagogische Interventionsstrategie ist in der Folge,gewünschtes Verhalten zu verstärken und nicht erwünschtes Verhalten zu löschen.
Im Laufe seiner Theoriegeschichte hat der Behaviorismus dabei viele Phasen durchlebt. War es am Anfang ausschließlich die Umwelt, aus der heraus Lernen begründet wurde, so kamen nach und nach weitere Gesichtspunkte wie Kognition, genetisch bedingte Intelligenz und soziales Lernen (Modelllernen oder Imitationslernen) hinzu.Die erzieherischen Einflüsse aus der Umwelt sind in den moderneren Varianten weitgehend durch wirksamere Formen der Selbstbeobachtung und Selbstverstärkung abgelöst worden.
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Kapitel 8 · Lernen: Erklärungsprinzip eines Beobachters
Den frühen Behavioristen wird jener Anflug von Allmachtsfantasien nachgesagt,wonach sie aus jedem Baby den Menschen machen könnten, wozu sie ihn erziehen wollen, könnten sie die Umweltbedingungen vollständig kontrollieren. Dies ist eine für Pädagogen auch Furcht erregende Anmaßung. Im gleichen Moment der Beobachtung nämlich,indem Pädagogen somit die Macht zugesprochen wird, Menschen vollständig und umfassend erziehen zu können, könnten sie alle Umweltbedingungen kontrollieren, bleibt als Erklärung für das Scheitern der Erziehung nur noch die Pädagogik selbst.Sozial nicht erwünschtes Verhalten im Alltag oder der Berufspraxis fällt somit auf die Pädagogik zurück. Irgend etwas muss die Umwelt, d. h. die Eltern, die Erzieher, die Gesellschaft, falsch gemacht haben, dass dieser Mensch so geworden ist, wie ihn die Umwelt nicht will. Es ist an dieser Stelle nicht notwendig, die Schritte vom klassischen und dem operanten Konditionieren zu den modernen Varianten der kognitiven Verhaltenstherapie und dem Modelllernen und nachzuvollziehen, denn auch die verfeinerten Beobachtungsformen des Behaviorismus, weit entfernt davon Verstärkung mit Belohnung durch Süßigkeiten in Wort und Tat zu verwechseln, kommen auf den Kernsatz zur Erklärung von Lernen im Prinzip immer wieder zurück:Verhaltensänderung (Lernen) beruht auf Erfahrung,auf Verstärkung des Verhaltens. Dieser Kernsatz, verbunden mit der Idee der Messbarkeit, ist zugleich auch das, was diese Form der Beobachtung so erfolgreich gemacht hat: Sie ließ – als eine nicht pädagogische Theorie – die pädagogische Praxis so einfach durchführbar erscheinen.
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Um messen zu können, müssen die Kinder als Trivialmaschinen, im Sinne von Heinz von Foerster, aufgefaßt werden und nicht als selbstreferentielle Systeme. Selbstreferentielle Systeme sind nämlich Nichttrivialmaschinen. … Nichttrivialmaschinen, die psychische Systeme nun einmal sind, prüfen zunächst ihren eigenen Zustand, bevor sie funktionieren. Sie melden nach selbstreferentieller Prüfung ihren Zustand zurück, um dann ein variables Produkt zu präsentieren. Damit aber ein Erziehungssystem funktionieren kann, darf es nicht davon ausgehen,
daß Schülerinnen und Schüler tatsächlich nichttriviale Systeme sind, sondern es muß immer so getan werden als seien sie Trivialmaschinen, was allein schon durch die binäre Codierung gut/ schlecht im Erziehungssystem gefordert wird. Dieser Code erlaubt es nicht, etwas anderes als die gute oder schlechte Leistung zu beurteilen. Dies ist aber nur möglich, wenn die Schülerinnen und Schüler als Trivialmaschinen behandelt werden. Nur so ist ihr Output mit Hilfe dieses Codes zu bewerten (Horster 1997, S. 184 f.).
Die Kritik aus der Perspektive neuerer Systemtheorie an dieser Form,Lernen zu beobachten,richtet sich im Kern auf drei Aspekte: 4 Die Vorstellung einer objektiven Beobachtung verkennt, dass Beobachtung immer eine Unterscheidung und Bezeichnung eines Systems ist, die den Strukturen des beobachtenden Systems folgt und nicht objektive Wirklichkeit wiedergibt. Sie ignoriert, dass die Unterscheidung wahr/nicht-wahr eine Unterscheidung ist, die das Funktionssystem Wissenschaft trifft, die also kommunikativ getroffen wird, und nicht schon eine Eigenschaft ist, die dem Beobachteten zuzurechnen ist. Was als objektiv gilt, ist Konstruktion der Wirklichkeit im sozialen System Wissenschaft und muss sich lediglich als passend erweisen. 4 Die Vorstellung zielgerichteten Vorgehens durch die Umwelt bei dem Versuch, ein System durch Erziehung zu determinieren, lässt die Frage offen, wie eine Umwelt denn zielgerichtet vorgehen soll, wenn sie selbst kein System ist. Die Unterscheidung System / Umwelt ist immer damit verbunden, dass die Aufrechterhaltung von Strukturen in einer chaotischen Umwelt gerade die Eigenart lebender Systeme benötigt, eine Grenze zur Umwelt zu schaffen. Dies wird in der Beobachtungsform des Behaviorismus zwar als technische Frage gesehen – Laborbedingungen sollen das Chaos der Umwelt bewältigbar machen – aber nicht als Grundsatzproblem. Die Determinierung eines System durch die Umwelt würde erfordern, dass sich die Umwelt wie ein System verhält und das System nicht wie ein System, jedenfalls nicht wie ein operationell geschlossenes.
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4 Die Vorstellung eines offenen Systems, das Input-Output-Prinzipien folgt, hat sich weder in der Praxis ernsthaft aufrechterhalten lassen, noch ist es mit dem aktualisierten wissenschaftlichen Wissen über Systeme vereinbar. Faktisch verhalten sich lebende Systeme auf Störungen (Input) nach Gesetzmäßigkeiten,die nicht von außen beobachtbar sind. Ihnen bleibt auf eine Störung A die Möglichkeit, mit dem »Output«, dem Verhalten B, zu reagieren, oder mit Nicht-B oder auch mit einem sowohl als auch oder weder noch. Wann sie welches Verhalten zeigen,ist nicht vorhersehbar.Allerdings sind Verhaltensmuster möglich, die für ein bestimmtes System typisch sind. Dabei wird ein bestimmtes Verhalten wahrscheinlicher, aber nicht gewiss. Sie können jederzeit eine andere Variante wählen z.B.in einem anderen Kontext. Dies zeigt sich in der pädagogischen Praxis z.B. daran, dass es möglich ist, dass Pflegeschülerinnen und Pflegeschüler in der Schulsituation Wissen über Dekubitusprophylaxe oder über rückengerechtes Heben und Tragen richtig anwenden können, dies aber in der Praxis nicht tun oder es mal tun und dann wieder nicht. Der erste und letzte Kritikpunkt wird in der zweiten Form der Beobachtung von Lernen aufgegriffen.
8.2.2 Beobachtungsprinzip Nummer 2:
Autopoietische Systeme konstruieren ihre Wirklichkeit … Lernen setzt frühere Lernprozesse voraus, Wissen baut auf vorhandenem Wissen auf, Erfahrungen knüpfen an Erfahrungen an (Siebert 1999, S. 16).
Das zweite Beobachtungsprinzip entwickelt sich von der Gestaltpädagogik über Reformpädagogen wie Jean Piaget (1983), der auch als erster Konstruktivist bezeichnet wird, hin zu moderner konstruktivistischer Pädagogik wie sie vor allem von Siebert (1999) und Arnold (Arnold u. Siebert, 1995) für die Erwachsenenbildung entwickelt wird. Ihre Perspektive ist nicht die Umwelt eines Systems,son-
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dern das System selbst, das sich mit seiner Umwelt auseinandersetzt und dadurch lernt. Die Gestaltpädagogik beschäftigt sich vor allem mit den Gesetzen der Wahrnehmung und erklärt Lernen durch Einsicht. Dabei wird Einsicht verstanden als die plötzliche Wahrnehmung der Beziehung zwischen Elementen einer Situation,aus der sich eine Problemlösung ergibt. Ohne dass sich die Gestaltpädagogik mit Systemtheorie beschäftigt hätte, lässt sie sich so beobachten, als hätte sie Lernen aus der Struktur psychischer Systeme heraus erklärt. Die gestaltpädagogischen Gesetze der Wahrnehmung einer »guten Gestalt«, die Prinzipien der Ähnlichkeit,der Nähe,der Kontinuität und der Geschlossenheit ließen sich als die Idee zusammenfassen, dass psychische Systeme nach der Unterscheidung ähnlich/anders beobachten. Was als ähnlich erscheint, wird als ähnlich behandelt und mit bewährten Strategien des Handelns bedacht, was anders erscheint, erfordert neue Strategien der Problemlösung. Diese Idee evolutionärer Entwicklung psychischer Systeme wird bei Piaget (1983) aufgegriffen und zu einer Theorie des Lernens als allmählicher Entwicklungsprozess der Interaktion Person / Umwelt, als Anpassung an die Umwelt (Adaption) im Wechselspiel zweier komplementärer Muster, der Assimilation und der Akkommodation entwickelt. Assimilation bezeichnet die Reaktion auf die Umwelt in Form der früher gelernten Reaktionen, Akkommodation die Veränderung des Verhaltens.Auf Basis der Wahrnehmung der Umwelt erfolgt von der Person eine mentale oder physische Operation bekannter Art, die zum gewünschten Erfolg führt (Assimilation). Führt die Operation nicht zum Erfolg, wird die Operation variiert (Akkommodation).Assimilation und Akkommodation sind hierbei nicht von einander zu trennen, da immer auf bewährten Operationen aufgebaut wird, aber immer eine Anpassung an die Umwelt erfolgen muss.
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In Piagets Modell wird Lernen durch Akkommodation im Rahmen von Handlungs- und Denkmustern erklärt. Diese Muster (oder »Schemata«) sind dynamisch und bestehen jeweils aus drei Teilen: Ein wahrgenommene Situation; eine motorische Handlung oder mentale Operation, die mit der Situation assoziiert worden ist; und ein befriedigendes
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Kapitel 8 · Lernen: Erklärungsprinzip eines Beobachters
Ergebnis, das aufgrund gemachter Erfahrungen als Folge der Handlung erwartet wird. Die Begriffe von »Assimilation« und »Akkommodation« erhalten erst in diesem Zusammenhang ihren eigentlichen Charakter. Assimilation bedeutet, daß das handelnde Subjekt eine gegebene Situation als jene erkennt, mit der es eine bestimmte Handlung oder Operation assoziiert hat, obschon ein Beobachter die Situation als unterschiedlich betrachtet. Akkommodation hingegen bezeichnet eine Reaktion des Subjektes, die dann eintreten kann, wenn das Ergebnis der Handlung der Erwartung des Subjektes nicht entspricht. Die Überraschung oder Enttäuschung kann dann nämlich zu einer Änderung des Handlungsschemas oder zur Bildung eines neuen Schemas führen (Glasersfeld 1997, S. 168).
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Piaget arbeitet mit der Differenz Person / Umwelt, die einer systemischen Sichtweise durchaus entspricht. Lernen ist bei ihm nur denkbar als Eigenleistung, als Aktivität der Person in der Auseinandersetzung mit der Umwelt. Auch die Wahrnehmung ist für ihn nicht bloße Aufzeichnung,sondern aktive Eigenleistung. Dies führt zu pädagogischen Prinzipien, in denen die Personen zur eigenständigen Erforschung ihrer Umwelt angeregt werden. Pädagogische Aktivität besteht vor allem darin, die Umwelt abwechslungsreich und anregend zu gestalten und zu eigener Erforschung zu motivieren. Die Gruppenarbeit der Schüler wird zur bevorzugten Unterrichtsmethode. Auf Basis der konstruktivistischen Erkenntnistheorie von Maturana u. Varela (1991) hat die konstruktivistische Pädagogik – unter anderem von Glaserfeld (1997,S.53 ff.,159 ff.,177 ff.,195 ff.) und Arnold u. Siebert (1995, S. 45 ff.) – Piaget neu entdeckt und als Vorläufer gewürdigt.
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Jean Piaget war in unserem Jahrhundert der erste, der Wissen als Konstruktion betrachtete und sein theoretisches Modell der kognitiven Tätigkeit als Konstruktivismus bezeichnete. Der Grundgedanke dieses Modells läßt sich einfach ausdrücken: Die Funktion der menschlichen Vernunft ist nicht, eine
vom Wissenden unabhängige, reale Welt darzustellen, sondern Handlungsschemata und Begriffsstrukturen aufzubauen, die sich in Laufe der Entwicklung als brauchbar erweisen (Glasersfeld 1997, S. 166).
In der konstruktivistischen Pädagogik wird das zweite Erklärungsprinzip für Lernen besonders deutlich. Die Theorie autopoietischer Systeme als eine Theorie operationell geschlossener Systeme, die sich durch ihre Operationen von der Umwelt unterscheiden,die sich auf sich selbst beziehen und strukturdeterminiert agieren, wird von Maturana und Varela (1991) auch auf die Erkenntnisfähigkeit angewandt: Autopoietische Systeme können nicht passiv Informationen aufnehmen, sondern nur durch Handeln Wirklichkeit konstruieren. Was sie erkennen können, ist von der Struktur des Systems abhängig, nicht von den zu erkennenden »Objekten« der Wirklichkeit.Erkennen lässt sich die Grenze des Möglichen, nicht die Art des Möglichen. Die Umwelt kann Systeme »stören« (perturbieren), aber nicht bestimmen. Zu dieser Sicht von Systemen als operationell geschlossene Systeme, die Wirklichkeit nicht aufnehmen können, sondern nur passend konstruieren, gehört auch eine Sicht von Beobachtung, die mehr über den Beobachter sagt als über das Beobachtete, denn alles was beobachtet wird, wird von jemandem beobachtet. »Objektive« Beobachtung als eine Beobachtung, die unabhängig von den Beobachtern ist, ist nicht möglich. Für Lernen bedeutet dies, dass Lernen nur als eigenständige Aneignung in der Auseinandersetzung mit der Umwelt denkbar ist und dass Lernen in der jeweiligen Person, in ihren Strukturen, »anschlussfähig« sein muss. Es ist kein Vorgang, der sich nur in der Psyche abspielt und noch weniger ein Vorgang, der von der Umwelt bestimmt werden kann, es ist »kognitive Bearbeitung der Differenz von System und Umwelt« (Siebert 1999, S. 17).
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Niemand bestreitet, dass Menschen aus der Umwelt Informationen wahrnehmen, aber diese Wahrnehmung ist bereits eine Selektion und eine Interpretation. Unser Gehirn verfügt über einen Neuigkeits- und einen Relevanzdetektor, das
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heißt, es wählt aus der Fülle der möglichen Informationen diejenigen aus, die interessant und bedeutungsvoll erscheinen. Damit werden nicht alle Theorien des Verstärkungslernens und des Imitationslernens widerlegt, aber das Subjekt entscheidet, welche Verstärkung ihm wichtig ist und wen es in welcher Situation »imitieren« will. Entscheidend – dies ist eine unserer zentralen Thesen – ist die Bedeutung, die einer Person, einer Situation, einem Lerninhalt beigemessen wird (Siebert 1999, S. 19 f.).
Wichtig Lernen ist die Veränderung von Wirklichkeitskonstruktionen, die sich als nicht passend erwiesen haben. Lernen lässt sich auch verstehen als Selbstregulation eines kognitiven Systems (Kösel 1993, S. 45). Erkennen und Handeln sind nicht zu trennen. Wissen lässt sich nicht übertragen, erkennen kann das System nur selbst.
Wenn von den Konstruktivisten die Theorie der strukturellen Kopplung dreier Systemarten von Luhmann (1994b) bereits zur Kenntnis genommen worden ist, dann wird Lernen und Wissenserwerb eher als eine strukturelle Leistung psychischer Systeme betrachtet,wobei durchaus bedacht wird,dass Lehr-Lern-Prozesse ja nicht in den psychischen Systemen stattfinden. Daraus ergibt sich ein pädagogisches Dilemma der eingeschränkten Möglichkeit, überhaupt aktiv zu werden, da jede Lehraktivität reflektieren muss, dass sie die Lernprozesse in den psychischen Systemen nicht steuern, allenfalls »stören« kann. Dies hat für Pädagogen etwas ungemein Entlastendes – sind sie doch nicht mehr »schuld« wenn Lernen nicht oder nicht im gewünschten Maß oder der gewünschten Richtung stattfindet – und führt zu einer »Ermöglichungsdidaktik (Arnold u. Siebert 1995, S. 136):
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Einer professionellen, d. h. um ihre Konstruktivität »wissenden« Erwachsenenbildung kann es nämlich nicht um die Beschulung, Belehrung oder »Abrich-
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tung« von Erwachsenen gehen, vielmehr muß sie selbsttätige Aneignung von Wissen und Deutung sowie Fähigkeiten und Fertigkeiten initiieren, inGang-setzen und fördern. Ihre Interventionsformen sind weniger direkt als indirekt. Erwachsenenpädagogische Professionals »vermitteln« nicht, sondern »erschließen« und regen zu »Selbsterschließung« an. Dabei müssen sie gleichzeitig in der Lage sein, diese Aneignungsprozesse so zu arrangieren und zu begleiten, daß die lernenden Erwachsenen gleichzeitig ihre übergreifenden methodischen und sozialen Kompetenzen weiterentwickeln können. Die Förderung der Identitätsentwicklung und der methodischen Kompetenzen derer, die in der Erwachsenenbildung tätig sind, ist dabei selbst ein zentraler Bestandteil einer erwachsenenpädagogischen Professionalität (Arnold u. Siebert 1995, S. 136).
Die daraus resultierenden didaktischen Prinzipien des Lehrens und Lernens waren bereits zu diesem Zeitpunkt eigentlich nicht neu, sie konnten aber theoretisch besser begründet werden. Die Aufmerksamkeit der Pädagogik verschiebt sich von der Konditionierung der Lernenden durch die Umwelt zur Gestaltung einer lernfreundlichen Umwelt. Im Wesentlichen geht es immer darum, dass die eigene Aktivität des Lernenden – zwangsläufig – im Mittelpunkt steht.Vier Aspekte lassen sich hervorheben: 4 Lernen muss innerhalb der Struktur der operationell geschlossenen Systeme anschlussfähig sein. Es macht daher z. B. Sinn, nach den kognitiven Landkarten zu suchen und über Mind Maps die Unterschiedlichkeit von Wissensstrukturen sichtbar zu machen, um nach den Anschlussstellen zu suchen. Auch biographisches Lernen erhält so eine neue Bedeutung. 4 Die Wahrnehmung der Systeme von ihrer Umwelt steht im Vordergrund.Wahrnehmungsorientiertes Lernen, wie es bereits von der Gestaltpädagogik geübt wurde, kann hier neu begründet werden. In Erweiterung dieser Perspektive wäre Differenzlernen als Lernen durch die
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Kapitel 8 · Lernen: Erklärungsprinzip eines Beobachters
Wahrnehmung von Unterschieden der Differenz ähnlich / anders zu sehen. 4 Erkennen ist nur durch Erfahrung möglich, durch aktive Auseinandersetzung mit der Umwelt. Formen des problemlösenden Lernens dürften sich hier als erfolgreich erweisen. Die Umgebung abwechslungsreich zu gestalten, Anregungen zur eigenständigen Aneignung zu geben, ist eine zentrale pädagogische Aufgabe. Erkennen und handeln lassen sich nicht voneinander trennen. Das in der Pflegepädagogik bekannte handlungsorientierte Lernen macht aus dieser Perspektive Sinn. 4 Glasersfeld (1997) betont darüber hinaus die Notwendigkeit der Begriffsbildung als Abstraktion von den eigenen Erfahrungen, die durch Sprache angeleitet werden und Richtungen weisen kann, aber nicht stellvertretend für andere übernommen werden kann. Dies erfordert die Reflexion über die eigenen Erfahrungen, ohne die wahrnehmungsorientiertes Lernen zur bloßen Wiederholung der Konstruktion von Sinneserfahrungen verkommen würde.
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Auch wenn sie es vielleicht nicht ausdrücklich formulierten, haben gute Lehrer seit jeher gewußt, daß man Schüler durch bloßes Reden nicht zum Verstehen führen kann.Verstehen ist das Ergebnis von begrifflichen Operationen, die von dem Lernenden selber ausgeführt werden müssen. Worte können dabei wohl als Anleitung dienen und die aufbauende Tätigkeit in gewisse Richtungen führen, aber das eigentliche Konstruieren von Begriffsverbindungen können sie dem Schüler nicht ersparen … Lehren hingegen soll im Schüler Verstehen hervorbringen – und Verstehen verlangt den Aufbau von Begriffsstrukturen, die sich nicht nur im gegebenen Erlebensbereich, sondern zumeist auch darüber hinaus erfolgreich anwenden lassen. Die Strukturen, die es da aufzubauen gilt, bestehen aus Begriffen, die durch bestimmte Beziehungen verbunden sind. Sprachliche Wortverbindungen können solche Begriffsstrukturen zwar bedeuten, doch sie können sie weder vermitteln noch erzeugen, denn die nötigen Begriffe und
Beziehungen müssen von jedem einzelnen Sprachbenutzer im eigenen Kopf aufgebaut werden. Da Begriffe im konstruktivistischen Kognitionsmodell nicht als Repräsentationen von Dingen-an-sich oder Verhältnissen-an-sich in einer vom wissenden Subjekt unabhängigen Realität betrachtet werden, sondern als Erzeugnisse der Anpassung, können sie nur aus Bestandteilen zusammengesetzt werden, die das Subjekt von seinen eigenen Erfahrungen abstrahieren kann. Erfahrung ist freilich nicht … auf Sinneswahrnehmungen beschränkt. John Locke … erklärte bereits vor dreihundert Jahren, daß unsere Ideen (Begriffe, Wortbedeutungen und Wissen schlechthin) aus zwei Quellen stammen: Einerseits von den Sinnen, andererseits von Reflexionen über unsere eigenen mentalen Operationen (Glasersfeld 1997, S. 167 f.).
Die systemische Kritik an der konstruktivistischen Form der Beobachtung setzt an dem Mangel einer klaren Systemreferenz von Lernen an. Lernen wird im Konstruktivismus letztlich als Eigenart psychischer Systeme in der Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt beschrieben, aber im Rückgriff auf biologische Beobachtungsformen begründet. Die Bedeutung sozialer Systeme für Lernen wird nicht erkannt. Lehr-Lern-Situationen werden als eigentümliches Nebeneinander von operationell geschlossenen Systemen beschrieben, die für einander Umwelten sind und sich allenfalls stören können.Wie es letztlich überhaupt zu Kommunikation kommen kann und wie Wissen gesellschaftlich tradiert werden kann, bleibt offen, auch wenn Siebert (1999) die Rekursivität pädagogischen Geschehens erkennt:
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Auch Pädagogik ist in mancherlei Hinsicht ein Konstrukt. Lehrer/innen nehmen Schüler/innen aus einer spezifischen Beobachterperspektive mit komplexitätsreduzierenden Unterscheidungen oft aufgrund binärer Codes (faul – fleißig) wahr. Untersuchungen zum Pygmalion-Effekt belegen, dass Schüler/innen sich so verhalten, wie sie beobachtet werden und wie es von ihnen erwartet wird. Aber auch Selbstbil-
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der und Fremdbilder der Lehrenden divergieren. Unterricht ist kein linearer SenderEmpfänger-Prozess, sondern Unterricht ist eine beobachtungsabhängige, zirkuläre, rekursive Interaktion mit Erwartungserwartungen, Komplexitätsreduktionen, mehr oder weniger begründeten Hypothesen, selektiven Wahrnehmungen etc. (Siebert 1999, S. 4).
Auch wenn Lernen als etwas gesehen wird, das durch die Struktur der operationell geschlossenen System und nicht durch die Umwelt determiniert wird, bleiben die Möglichkeiten, Lernen in irgendeiner Form zu fördern, Möglichkeiten, die sich in der Umwelt des Systems abspielen. Eben das ist ja das Dilemma konstruktivistischer Pädagogik. Diese Umwelt muss gestaltet werden,um Lernen als eigenständigen Prozess der Aneignung von Wissen zu fördern,wenn schon nicht zu bestimmen.Damit bleibt die Frage bestehen, von wem dem eine Umwelt psychischer Systeme gestaltet werden kann, wenn nicht von einem System. Die Gestaltung der Umwelt als Lernumgebung ist in der pädagogischen Praxis immer ein kommunikativer Vorgang. An diesem kommunikativen Prozess setzt das dritte Erklärungsprinzip für Lernen an.
8.2.3 Beobachtungsprinzip Nummer 3:
Die Einheit der Differenz sozialer Systeme und ihrer Umwelt unterstellt Wissen Die Lehre ist stets der eigentliche Lehrstoff (Simon 1997, S. 153).
Niklas Luhmann (1994b) benutzt den Begriff der Autopoiesis nicht wie Maturana und Varela (1991) in einer ausschließlich auf Leben im biologischen Sinn bezogenen Art, sondern er kennzeichnet damit die Eigentümlichkeit von auf sich selbst rückbezüglichen Systemen.Seine Systemtheorie ist eine Theorie der Einheit der Differenz zwischen System und Umwelt. Er macht drei Systemarten aus, die sich evolutionär miteinander entwickelt haben und strukturell gekoppelt sind, die sich wechselseitig voraussetzen und als autopoietisch bezeichnet werden können: Organismen, psychische System und
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soziale Systeme.Als Soziologe interessiert sich Luhmann prioritär für soziale Systeme, die wiederum Interaktionen, Organisationen oder Gesellschaften sein können, als soziale Systeme aber gleichermaßen auf Kommunikation beruhen.Eigenart moderner Gesellschaft ist, dass sie sich in Funktionssysteme ausdifferenziert, wie Wissenschaft, Bildung, Gesundheitssystem oder auch Wirtschaft und Politik, die jeweils nach ihrer eigenen Leitdifferenz agieren. Im Kontext der Pflegepädagogik macht es Sinn, sich mit allen drei Systemarten – Organismus, psychisches System, soziales System – zu befassen und z. B. mit Fritz B. Simon (1995) den Fragen nachzugehen, ob Gesundheit eine Eigenschaft von Organismen ist oder vielmehr ein Erklärungsprinzip von Beobachtern, das die Ursache für Beobachtetes im Organismus sucht; wie in Bezug auf Krankheit die Wechselwirkungen der drei Systemarten erklärt werden können oder wie eine therapeutische Interventionsstrategie in soziale Systeme aussehen könnte (Blättner 1998). Für im eigentlich Sinn pädagogische Fragestellungen ist der Blick auf zwei Systemarten relevant, die noch dazu die Gemeinsamkeit haben, sich auf das Medium »Sinn« zu beziehen, nämlich soziale und psychische Systeme. Dass autopoietische psychische Systeme nicht von außen determiniert werden können, sondern sich in der Differenz System / Umwelt eigenständig entwickeln, ist im Erklärungsprinzip konstruktivistischer Beobachtung beschrieben worden. Hier wird jetzt die These vertreten, dass Lernen sich in der Einheit der Differenz soziales System und Umwelt, zu der psychische Systeme gehören, erklären muss. Dazu ist zunächst notwendig zu sehen, dass soziale Systeme nicht aus Individuen bestehen. Individuen, psychische Systeme, sind Teil der Umwelt sozialer Systeme. Element sozialer Systeme ist Kommunikation. Damit soll nicht bestritten werden, dass die Anwesenheit von psychischen Systemen Voraussetzung für Kommunikation ist, aber eben als notwendiger Teil der Umwelt, wie die Luft zum Leben. Ein psychisches System kann den Fortgang der Kommunikation ebenso wenig determinieren, wie Kommunikation in der Lage ist, die Struktur psychischer Systeme zielgerichtet zu verändern. Kommunikation wurde schon als die Einheit der Differenz von Information und Mitteilung beschrieben, die durch das Verstehen erzeugt wird.
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Kapitel 8 · Lernen: Erklärungsprinzip eines Beobachters
Kommunikation geht weit über sprachliche Kommunikation hinaus, ist aber immer auch in Sprache fassbar. Wichtig Kommunikation und Wissen gehören zusammen. Kommunikation muss immer schon gemeinsames Wissen unterstellen. Wissen erfordert umgekehrt Kommunikation.
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Es mag Formen des Lernens geben, in denen ein Einsiedler in der eigenständigen Auseinandersetzung mit der Umwelt menschenleerer kanadischer Wälder, ohne ein Buch oder einen klugen Rat zur Seite zu haben, eine Möglichkeit erkennt, Lachse zu fangen.Er wird dies aber auf der Basis vorhandenen Wissens tun. Sein Leben als Einsiedler ist erst dadurch möglich, dass das Rad bereits erfunden wurde, Lachse als essbar kommuniziert wurden, Werkzeuge hergestellt wurden und das Wissen über den Umgang damit weitergegeben wurde. Wahrscheinlicher ist es aber, dass er die Art des Lachsfangs von anderen kanadischen Einsiedlern gelernt hat. Lernen erfordert daher immer Kommunikation,wenn auch in ganz verschiedenen Medien und zeitunabhängig.Die Gruppenarbeit der Schüler bei Piaget ist genauso Kommunikation wie das Lesen eines Lehrbuches, das Erstellen eines Mind Maps oder die Verhaltensverstärkung durch Lob.Ganz offensichtlich scheint diese Kommunikation psychische Systeme – wenn auch nicht zielgerichtet – verändern zu können. Sie sozialisiert sie. Genau genommen konstruieren soziale Systeme Personen, indem sie Unterschiede beobachten. Sie konstruieren aber keine psychischen Systeme, die bleiben unzugänglich. Wichtig Lernen bezeichnet die Sozialisation, die es ermöglicht, gemeinsames Wissen zu unterstellen. Lernen ist nur durch die Differenz sozialer Systeme zu einer Umwelt möglich, zu der auch andere Sinnsysteme, andere autopoietische Systeme gehören.
Eine Erklärung von Lernen aus der Differenz sozialer Systeme und ihrer Umwelt bringt zunächst einmal einige Vorteile mit sich: Spekulationen über Bewusstseinssysteme und die Möglichkeit der Intervention in solche unzugänglichen Systeme ist nicht notwendig. Die logischen Widersprüche der anderen Beobachtungsformen von Lernen, wie denn die Umwelt Lernen beeinflussen, wenn schon nicht bestimmen kann, wenn sie kein System ist, sind gelöst. Zwischen dem Lernen von Institutionen und Personen muss nicht unterschieden werden, beide sind gleichermaßen sozial konstruiert. Die gesellschaftliche Funktion von Lernen, von Wissen und von Pädagogik kann beschrieben werden. Einige Schlussfolgerungen für pädagogisches Handeln sind sofort möglich: Überwiegend, aber nicht ausschließlich, steht sprachliche Kommunikation im Mittelpunkt, denn Kommunikation verändert sich durch und nur durch Kommunikation. Soziale Systeme lernen, verändern sich, in dem sie die Kommunikation verändern. Einstellungen von Personen können nicht direkt oder zielgerichtet verändert werden. Es kann nur darüber kommuniziert werden. Die Methode, die Art, wie kommuniziert wird, ist der eigentliche Lehrinhalt. Diese Vorteile und Folgerungen erklären noch nicht, wie Sozialisation überhaupt möglich ist, wie soziale System in der Lage sein sollen, psychische Systeme irgendwie zu beeinflussen. Luhmann (1994b, S. 327) argumentiert, dass Sozialisation erst durch die Differenz von System und Umwelt möglich wird. Ein System kann erst dadurch von einem anderen System »lernen«, dass es sich von ihm unterscheidet.
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Sozialisation ist immer Selbstsozialisation: Sie erfolgt nicht durch »Übertragung« eines Sinnmusters von einem System auf andere, sondern ihr Grundvorgang ist die selbstreferentielle Reproduktion des Systems, das die Sozialisation an sich selbst bewirkt und erfährt. … Es hat im Übrigen nicht viel Sinn zu fragen, ob das System oder die Umwelt wichtiger ist in der Bestimmung des Resultates der Sozialisation; denn es ist gerade diese Differenz, die Sozialisation überhaupt erst ermöglicht. Ferner ist
191 8.2 · Wie erklären sich Beobachter Lernen?
Sozialisation nur möglich, wenn es Differenzschemata gibt, die das psychische System der Umwelt zuordnen und auf sich beziehen kann – z. B.: Zuwendung oder Abwendung einer Bezugsperson,Verstehen oder Nichtverstehen, Konformität oder Abweichung, Erfolg oder Mißerfolg (Luhmann 1994b, S. 327).
Die strukturelle Kopplung zweier sich von einander unterscheidender Systemarten,die Sozialisation ermöglicht,bezeichnet Luhmann (1994b,S.289 ff.) als »Interpenetration«. Der Begriff meint eine Besonderheit der System-Umwelt-Beziehung, in der es eine ganz entscheidende Rolle spielt, dass zur Umwelt des Systems ein anderes autopoietisches System gehört (nicht die Umwelt ein System ist). Systeme machen sich wechselseitig Komplexität zugänglich, in dem sie ihre Komplexität auf ein binäres Schemata (gesund / krank, patientenorientiert / funktionsorientiert, gut / schlecht usw.) reduzieren. Die Reduktion ist notwendig, um Zugänglichkeit zu ermöglichen, kann aber niemals komplexe Wirklichkeit wiedergeben. Die Integration liegt darin, dass die beteiligten Systeme dieselben Differenzschemata verwenden, um Informationen zu verarbeiten.Die Struktur des Geschehens ist auf beiden Seiten analog. Das ermöglicht die Interpenetration, aber auch, dass auf beiden Seiten mit Information unterschiedlich umgegangen wird. Ein Beispiel: Sie sprechen in einer Unterrichtssituation über die Bedeutung von »partnerschaftlicher Entscheidungsfindung« bei der Pflegeplanung. Es entsteht eine Diskussion darüber, ob zu Pflegende über Pflegemaßnahmen mit entscheiden wollen und dies können oder nicht. Sie haben keine Möglichkeit, den Verlauf der Diskussion zu determinieren, aber Sie haben in die Diskussion das Differenzschema partnerschaftlich / hierarchisch eingebracht. Die Diskussion entwickelt sich in der Zustimmung und Ablehnung anhand dieses Schemas.Soweit die Lernenden der Diskussion zuhören oder sich daran beteiligen,benutzen sie das gleiche Differenzschema, aber bilden sich ihre eigene Meinung. Sie haben keine Möglichkeit, die Lernenden davon zu überzeugen, dass eine partnerschaftliche Entscheidungsfindung in der Pflegeplanung sinn-
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voll ist. Aber die Diskussion sozialisiert die Lernenden insofern, als sie sich in der Zustimmung oder auch Ablehnung dieser Auffassung eine vorläufige Position bilden, auf die sie sich später (im zustimmenden oder ablehnenden Sinn, als gleiche Meinung wie früher oder andere Meinung) wieder beziehen können. Die Lernenden wissen, dass es die Forderung nach einer partnerschaftlichen Entscheidung gibt,unabhängig,wie sie dazu stehen.Es ist nicht nur möglich, sondern sogar wahrscheinlich, dass die gleichen Schemata in anderen Kontexten anders angewendet werden. In der pädagogischen Praxis spricht vieles für das zur Verfügung stellen der Komplexität vieler Personen, da neue Differenzschemata immer auch einen neuen Aspekt der Sozialisation bedeuten. Es spricht ebenfalls einiges dafür, pädagogische Interventionen in solchen Diskussionen entlang der Linie der Neutralität (Simon 1995, S. 151 ff.) zu führen, das heißt,das Ja oder Nein im Konfliktfall durch ein »Sowohl als auch« oder »Weder – noch« zu ersetzen,um veränderte Sichtweisen zu ermöglichen.Es ist aber auch wichtig zu sehen, dass diese Form der Beobachtung von Lernen einerseits die Verantwortung für das Einbringen von Differenzschemata,für die Beeinflussung der Lernsituation, der Kommunikation wieder annimmt, andererseits sich aus dieser Theorie heraus nicht schon bestimmte Methoden als grundsätzlich besser geeignet begründen lassen. Ein guter Vortrag kann genauso hilfreich sein wie eine visualisierte Moderation, eine Diskussion so hilfreich wie eine Wahrnehmungsübung, vorausgesetzt, man bedenkt, dass die Methode der eigentliche Lerninhalt ist. Über einen Vortrag Teamfähigkeit zu entwickeln, ist eher unwahrscheinlich, da die Methode lehrt, nur einer Person Aufmerksamkeit zu schenken. Umgekehrt ist es eher unwahrscheinlich, mit Hilfe der Moderationsmethode zu lernen, einen komplexen Gedankengang entwickeln zu können oder auch einen Verband korrekt anlegen zu können. In der Weiterentwicklung einer Theorie,die auf dieser Form der Beobachtung aufbaut, wird es zunächst noch nicht darum gehen, sofort didaktische Prinzipien zu entwickeln und neue Methoden zu erfinden, die sich dann auf die besonderen Gegenstände der Pflegepädagogik anwenden lassen. Es müsste zunächst darum gehen, eine Theorie der Pädagogik zu entwickeln, die sich als Sozialisation
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Kapitel 8 · Lernen: Erklärungsprinzip eines Beobachters
durch die Differenz sozialer Systeme zu ihrer Umwelt, zu der andere Systeme gehören, versteht, eine Theorie, die für das Lernen von Erwachsenen gleichermaßen zutrifft wie für das Lernen von Kindern. Eine solche theoretische Basis müsste zunächst nach dem Medium fragen, das das Erziehungssystem benutzt, um Formen zu bilden (Luhmann 1997, S.13).Sprache ist z.B.ein Medium,das heißt ein lose gekoppelter Zusammenhang von Elementen, den Wörtern, ein Medium, das eine ausreichend große Menge an Wörtern bereit hält, die nach Bedarf zu Sätzen kombiniert werden können. Die Form wäre in diesem Fall der konkret geschriebene oder gesprochene Satz, eine feste Kopplung von Wörtern, die das Medium Sprache zulässt. Luhmann schlägt vor,für eine Theoriebildung der Pädagogik den Begriff des »Lebenslaufes« als ein solches Medium anzusehen, aus dem sich durch Sozialisation die konkreten individuellen Formen herausbilden lassen (Luhmann 1997, S. 18ff).
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Zum sozialen Konstrukt »Erziehung« kann es erst kommen, wenn sich Interaktionssysteme bilden, denen das Medium Lebenslauf zugrunde gelegt wird. Dann beschreibt man die Situationen anhand eines Schemas, das einerseits retrospektiv angesetzt werden kann und zugleich für die Zukunft Möglichkeiten unterschiedlicher Formgewinnung offen läßt. Die Annahme, daß sich durch Lernen andere Möglichkeiten erschließen lassen, wirkt als »self-fulfilling prophecy«, und dies –unabhängig von der Frage ob die Annahme zutrifft oder nicht. Sie validiert sich selbst, indem sie ein Verhalten motiviert, das neue Bedingungen für weiteres Verhalten schafft. Ob Erziehung gesetzte Ziele erreicht oder nicht, ist eine zweite Frage, und bekanntermaßen kommt beides vor. Die erste und grundlegende Frage ist dagegen, wie das Erziehungssystem dazu kommt, in einem Kombinationsraum von Möglichkeiten, genannt Lebenslauf, Optionen zu sehen. … Das Problem liegt in der Lebenslaufrelevanz bestimmter Formen.Wir wollen solche
Formen als »Wissen« bezeichnen und darin einschließen das Wissen, daß man etwas kann (z. B. schwimmen) (Luhmann 1997, S. 26 f.).
Will man die Vorteile einer Beobachtung von Lernen als Teil sozialer Systeme nicht aufgeben, dann muss man mit dem Begriff des Lebenslaufes oder einem ihm ähnlichen Begriff allerdings einen Begriff schaffen, der sich nicht nur auf Personen bezieht, sondern gleichermaßen auf Organisationen und andere soziale Systeme. Vom Lebenslauf eines Pflegeheimes zu sprechen, sich damit sowohl auf die Vergangenheit als auf die Zukunft zu beziehen, und die kommunikative Konstruktion des Heimes zu meinen, wäre eine erhebliche fachsprachliche Entfremdung des Begriffes.Gerade die Praxisfelder der Pflegepädagogik machen aber deutlich, dass Pädagogik – jedenfalls sofern sie beruflich begriffen wird – meist dann am erfolgreichsten ist, wenn sie weniger Individuen als Institutionen sozialisiert. Das gilt für Arbeitsteams, Stationen, Betriebe oder auch Familien.
8.3
Wie verändert sich die pädagogische Praxis durch theoretische Einsicht?
Kommunikation, lieber Dr. Beben, Kommunikation kommuniziert, und sonst nichts (Fuchs 1992, S129).
Die Entwicklung einer solchen Theorie, in der sich die Pädagogik insofern als Sozialwissenschaft versteht, als sie spezielle Phänomene sozialer Systeme beobachtet, hat auf die Praxis der Pflegepädagogik insofern keine unmittelbaren Auswirkungen,als sie keine Rezepte anzubieten hat, wie die eingangs beschriebenen Situationen des scheinbaren Scheiterns pädagogischer Aktivitäten verhindert werden können. Sie erklärt vielmehr, dass solche Situationen möglich und wahrscheinlich sind. Autopoietische Systeme sind immer bemüht, ihre Strukturen aufrechtzuerhalten.Veränderung lässt sich aber nur dadurch vermeiden, dass die Umwelt konstant gehalten wird oder als konstant konstruiert wird.Wer nicht lernen will, muss vermeiden, mit neuen Situationen konfrontiert zu werden. Er muss über-
193 8.3 · Wie verändert sich die pädagogische Praxis durch theoretische Einsicht?
haupt schon die Gegenwart sozialer Systeme vermeiden, was aber nicht möglich ist, da sich soziale Systeme ständig neu aktualisieren. Wenn nämlich Lernen aus der Differenz soziales System / Umwelt erklärt wird, gibt es keinen Grund anzunehmen, nur bestimmte soziale Systeme wie Interaktion im Unterricht seien in der Lage so zu sozialisieren. Vielmehr sozialisieren berufliche und private Alltagserfahrungen, »Schwester Stefanie« im Fernsehen oder gesundheitspolitische Kongresse, das Gespräch mit dem Oberarzt und das mit einer Patientin, die Routinen des Schichtdienstes und eben auch die Fortbildung zur Pflegedokumentation. So gesehen ist es ein ausgesprochenes Glück, dass die Sozialisation immer Zustimmung oder Ablehnung ermöglicht und es ist mehr als nahe liegend, in unterschiedlichen Kontexten unterschiedlich zu agieren. Eine mögliche Folge für pflegepädagogisches Handeln ist es daher, Kontexte so konstant wie möglich zu halten. Das meint, Fortbildung in der Pflege in einen unmittelbaren Zusammenhang mit dem Pflegealltag zu stellen, den sie verändern soll. Es ist kurz gesagt möglicherweise sinnvoller, Pflegedokumentation mit den Kolleginnen und Kollegen auf der Station oder in dem Heim zu lernen, in dem diese Dokumentation auch angewandt werden soll; das erhöht zwar nicht die Wahrscheinlichkeit der Zustimmung oder Ablehnung, wohl aber die Wahrscheinlichkeit der Anwendung in dem Kontext, in dem sie angewendet werden soll. Wichtig Wenn Institutionen nicht anders lernen als Personen,spricht vieles dafür,Lernprozesse in den Institutionen zu initiieren, um die es geht.
Anwendung und Reflexion ist dabei aber nicht das Gleiche und auch nicht wechselseitig ersetzbar. Im Umgang mit verwirrten alten Menschen z. B. lernt man selbstverständlich eine Form des Umgangs mit verwirrten alten Menschen. Auch dieser Umgang beschreibt übrigens ein soziales System. Man lernt wahrscheinlich die Situation persönlich irgendwie zu überstehen, ohne sich selbst und ande-
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re in allzu große Gefahr zu begeben. Man lernt möglicherweise, in dem man das nachahmt, was andere einem vormachen oder das gerade nicht tut. Man lernt in solchen Situationen aber nicht das sozial konstruierte Wissen über verwirrte alte Menschen und einen gesellschaftlich akzeptierten Umgang damit,wieder unabhängig davon,ob man diesem Umgang zustimmt oder ihn ablehnt. Wenn man das lernen will – und aus professioneller Sicht wäre dies sicher hilfreich – dann wird man gut daran tun, ein Buch zur Hand zu nehmen oder eine Fortbildung zu besuchen, in der neben einer theoretischen Erörterung ein Rollenspiel gut veranschaulichen kann, um was es geht. Wodurch unterscheiden sich Lehr-Lern-Situationen von anderen Formen der Sozialisation? Sie unterscheiden sich zum einem durch die Bedeutung die ihnen in Bezug auf den Lebenslauf zugesprochen werden.Dabei ist diese Bedeutung ein soziales Konstrukt. Nimmt man aber den Lebenslauf oder einen vergleichbaren Begriff, der sich leichter auf soziale Systeme beziehen lässt, als Ausgangspunkt, werden schnell methodische Fantasien geweckt, wie es möglich sein kann, Lernen als Neuerzählen einer Vergangenheit oder befürchteten Zukunft zu behandeln. Wo komme ich her und wo will ich hin oder umgekehrt, wäre ein denkbares Differenzschema für methodische Planung. Ebenso wenig wie Gesundung nur innerhalb des Gesundheitssystems stattfindet, findet Lernen nur innerhalb des Bildungssystems statt. Aber nur für das Bildungssystem ist die Unterscheidung wissend / nichtwissend von gleicher Bedeutung wie für das Gesundheitssystem die Unterscheidung gesund / krank.Es sind Funktionssysteme der Gesellschaft, die diese Form der Beobachtung institutionalisiert haben, weil sie Auswirkungen auf die Gesellschaft haben. Das Erklärungsprinzip Krankheit führt zu anderen Folgen als das Erklärungsprinzip Lernen, andernfalls würde sich niemand für diese Unterscheidung interessieren.Wird Lernen unter der Unterscheidung gesund / krank beobachtet,ist das Gesundheitssystem aktiv – wird Gesundheit unter der Unterscheidung wissend / nichtwissend beobachtet,das Bildungssystem.Lehr-Lern-Situationen unterscheiden sich von anderen Formen der Sozialisation durch die Bedeutung, die der Unterscheidung wissend / nichtwissend beigemessen wird.
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Kapitel 8 · Lernen: Erklärungsprinzip eines Beobachters
Die Möglichkeit, gemeinsames Wissen voraussetzen zu können, hält Kommunikation im Gang. Kommunikation z. B., in die sich das Differenzschema Verantwortung einbringen lässt: Worin genau besteht die Verantwortung von Pflegepädagogen? Das hier vermittelte Wissen lässt die Aussage zu, die man ablehnen oder der man zustimmen kann, dass die Verantwortung nicht dafür übernommen werden kann, ob das autopoietische System zustimmt oder ablehnt.Aber sie kann für die in die Kommunikation eingebrachten Differenzschemata übernommen werden. Solche Schemata sind nicht nur die,die sich auf die Information beziehen, sondern auch die,die sich auf die Art der Mitteilung beziehen, denn die Unterscheidung zwischen Information und Mitteilung ist das, was Verstehen ausmacht. In diesem Kontext ist es sinnvoll daran zu erinnern, dass Kommunikation Sprache und mehr als Sprache umfasst. Die Genauigkeit der Sprachwahl im pädagogischen Kontext ist ebenso eine Verantwortung, die die Pädagogen tragen, wie die nichtsprachliche Kommunikation in Form von Gestaltung des Lehr-Lern-Settings. Auch Kinderstühle im Lernraum Erwachsener und Tische in Reihen können als Kommunikation verstanden werden, wenn zwischen Information und Mitteilung unterschieden wird. Eine andere Art, systemisches Denken in die Pädagogik einzubringen, lässt sich aus dem therapeutischen Kontext lernen (Simon 1995). Manchmal ist es kaum notwendig, unzugängliche psychische Systeme dazu zu motivieren, ihre Komplexität zur Verfügung zu stellen. Eine paradoxe Aufforderung wie »Strengen Sie sich bitte an, in den nächsten eineinhalb Stunden ganz sicher nichts zu lernen, aber bitte absolut nichts« kann es gelegentlich auch tun. Manchmal hilft es auch, den therapeutischen Rat, zum Gesund werden genau das zu tun, was einem bisher geholfen hat, aufzugreifen und auf die Frage nach der besten Lerntechnik zu antworten: »Lernen Sie am besten so, wie Sie es bisher erfolgreich gemacht haben«. Theorie über Lernen und Pädagogik ist Wissen, dem man zustimmen oder das man ablehnen kann, sie sozialisiert.Sie ist nicht das Gleiche wie die pflegepädagogische Praxis, aus der man auch lernen kann, aber Anderes.
Zusammenfassung Wenn Lernen als Veränderung verstanden wird, dann kann Nicht-Lernen als eine Strategie von Systemen verstanden werden, ihre Identität aufrecht zu erhalten. NichtLernen setzt die Fähigkeit von Systemen voraus, sich von ihrer Umwelt zu unterscheiden. Nicht-Lernen ist wie Lernen mit dem Risiko verbunden, dass das System in seiner Umwelt nicht überleben kann. Lernen kann als ein Erklärungsprinzip von Beobachtern beobachtet werden. Der Beobachter unterscheidet ein Phänomen X von Nicht-X. Das Phänomen X bezeichnet er als Wissen und unterscheidet es damit von Nicht-Wissen. Den Unterschied von Wissen und Nicht-Wissen erklärt er sich mit Lernen. Beobachtet man Beobachter beim Beobachten von Lernen, so kann man z. B. unterscheiden und bezeichnen, ob die Beobachter Lernen dem System oder der Umwelt zuschreiben. Die Bezeichnung der Umwelt als Erklärung von Lernen kennzeichnet das Beobachtungsprinzip des Behaviorismus, der die Objektivität der Beobachtung und die zielgerichtete Veränderung von Systemen durch die Umwelt als wahr bezeichnet. Die Bezeichnung des psychischen Systems als Erklärung von Lernen kennzeichnet den Konstruktivismus, der Wirklichkeit für eine Konstruktion von Beobachtern hält und Lernen für das Ergebnis der Konstruktion der Umwelt durch das System. Die Bezeichnung der Differenz soziales System und Umwelt, zu der psychische Systeme gehören, kennzeichnet die Systemtheorie, nach der Beobachter auch soziale Systeme sein können und Kommunikation das Element aus dem soziale Systeme bestehen. Kommunikation bezeichnet die Unterscheidung von Information und Mitteilung im Verstehen. Wenn Lernen der Einheit der Differenz soziales System und Umwelt zugeschrieben wird,dann ist es nicht mehr notwendig,zwischen dem Lernen von Personen und dem
195 8.3 · Wie verändert sich die pädagogische Praxis durch theoretische Einsicht?
von Institutionen zu unterscheiden und der Unterschied zwischen dem Lernen von Erwachsenen und dem von Nicht-Erwachsenen wird zur Konstruktion eines Beobachters. Lehr-Lern-Situationen unterscheiden sich von anderen Formen der Sozialisation durch die Bedeutung, die ihr in Bezug auf den Lebenslauf zugesprochen wird. Wer fragt, was diese Theorie der Praxis bringt, beobachtet einen Unterschied zwischen Theorie und Praxis und bezeichnet die Praxis.Er impliziert mit dieser Beobachtung, dass seine Frage berechtigter ist als die, was die Praxis der Pädagogik für die Entwicklung pädagogischer Theorie bringt.
3 Methodische Vorschläge für die Seminargestaltung 4 Möglich ist eine Eingangsrunde – bei Gruppen, die sich nicht kennen, eine Vorstellungsrunde – verbunden mit der Frage »Was möchten Sie heute auf keinen Fall lernen?« Nehmen Sie die Teilnehmenden in diesen Anliegen ernst. 4 Lassen Sie mit der visualisierten Moderation erarbeiten, welche Strategien die Teilnehmenden anwenden könnten, um nicht zu lernen. 4 Fragen Sie nach Vorschlägen, wie man Gedanken sichtbar machen kann, ohne zu kommunizieren. 4 Erarbeiten Sie anhand der Konzepte »Pathogenese« und »Salutogenese« welche Folgen es haben kann, das Nicht-Bezeichnete zum Bezeichneten zu machen und diskutieren Sie ethische Grenzen einer Orientierung am »Gesunden« anhand faschistischer Medizin und Pflege (Simon 1995, S. 191 ff.). 4 Mind Maps zu den Begriffen Wissen, Lernen, Pädagogik, die von Kleingruppen am Anfang der Arbeit am Lernfeld erstellt werden,spiegeln den Wissensstand der Kleingruppen zu diesem Zeitpunkt über dieses Thema. Wenn Sie am Ende der Beschäftigung mit diesem Lernfeld neue Mind Maps zu den gleichen Begriffen anfertigen lassen,können Sie vergleichen und den Unterschied mit Lernen erklären, wenn Sie möchten.
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4 Zeigen Sie anhand unterschiedlicher diagnostischer Herangehensweisen, welche Folgen unterschiedliche Erklärungsprinzipien von Beobachtern haben. 4 Erarbeiten Sie anhand von Pflegemodellen wie unterschiedliche Begriffsdefinitionen von Gesundheit, Pflege, Person und Umwelt zu unterschiedlichen Modellen führen und wie Begriffe aufeinander bezogen werden. 4 Üben Sie im pädagogischen Alltag mit den Lernenden, Begriffe präzise zu verwenden und zu definieren, und beobachten Sie die jeweiligen Unterscheidungen zwischen Information und Mitteilung und beobachten Sie das Beobachten. 4 Lesen Sie mit den Studierenden einige der Texte im Original (s. unter »Empfehlungen zum Weiterlernen«). 4 Hören Sie einige Originalreden mit der Gruppe auf Kassette (siehe Empfehlungen zum Weiterlernen). 4 Einige Spiele über Wahrnehmung und Konstruktion, die Sie mit der Gruppe ausprobieren können, finden Sie bei Fritz B. Simon (1995). 4 Probieren Sie systemisches Vorgehen in Bildungs- und Therapiesituationen anhand einer praktischen Übung zum Gesundheitsbild nach H.Merl (1997).Ein Video,wie Merl mit dem Gesundheitsbild arbeitet, ist im Carl-Auer-Systeme Verlag erhältlich. 4 Die Beobachtungsprinzipien lassen sich vertiefen, in dem Sie sich mit der Gruppe intensiv mit behavioristischen Lerntheorien und ihren neueren Varianten sowie mit konstruktivistischer Pädagogik befassen und beides aus systemischer Sicht kritisieren. 4 Kommunikationstheorie, vom einfachen Sender-Empfänger-Modell über Watzlawick, Schulz von Thun und die CMM-Theorie (Coordinated Management of Meaning), jeweils kritisiert aus Sicht des Luhmannschen Kommunikationsbegriffes, kann das Verständnis von Kommunikation festigen. 4 Lassen Sie in Arbeitsgruppen je ein gesundheitspädagogisches Kurskonzept erarbeiten, das einem der drei Beobachtungsmöglichkeiten von Lernen entspricht. 4 Lassen Sie Vorschläge entwickeln,wie ein systemisches Konzept von Lernen in dem Lernprozess einer Krankenpflegestation praktisch um-
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Kapitel 8 · Lernen: Erklärungsprinzip eines Beobachters
gesetzt werden kann. Anhand eines Fallbeispiels lässt sich dies handlungsorientiert durchführen.
3 Empfehlungen zum Weiterlernen Autobahnuniversität: Kassetten und Videos über Systemische Sichtweisen erhältlich bei Carl-AuerSysteme, u. a. von Fritz B. Simon, Niklas Luhmann und H. Merl. Literatur über Lernen, Wissen. Wissenschaft und soziale Systeme u. a. von Simon, Luhmann, Siebert und Arnold wie im Literaturverzeichnis angegeben. Literatur
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Arnold R, Siebert H (1995) Konstruktivistische Erwachsenenbildung. Von der Deutung zur Konstruktion von Wirklichkeit. Schneider, Baltmannsweiler Bateson G (1985) Ökologie des Geistes. Antropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven. Suhrkamp, Frankfurt a. M Blättner B (1998) Gesundheit läßt sich nicht lehren. Professionelles Handeln von KursleiterInnen in der Gesundheitsbildung aus systemisch-konstruktivistischer Sicht. Klinkhardt, Bad Heilbronn Delius JD, Todt E (1987) Lernen. In: Deutsches Institut für Fernstudien an der Universität Tübingen (Hrsg) Funkkolleg Psychobiologie. Studieneinheit 16. Beltz, Weinheim Basel, S 11–68 Foerster H (1997) von Abbau und Aufbau. In: Simon FB (Hrsg) Lebende Systeme. Suhrkamp, Frankfurt a. M., S 19–33
Fuchs P (1992) Niklas Luhmann – beobachtet. Eine Einführung in die Systemtheorie. Westdeutscher Verlag, Opladen Glasersfeld, E v (1997) Wege des Wissens. Konstruktivistische Erkundungen durch unser Denken. Carl Auer, Heidelberg Horster D (1997) Niklas Luhmann. Beck, München Kösel E (1993) Die Modellierung von Lernwelten.Verlag Laub,Elztal Luhmann N (1987) Soziologische Aufklärung 4: Beiträge zur funktionalen Differenzierung der Gesellschaft. Westdeutscher Verlag, Opladen Luhmann N (1994a) Die Wissenschaft der Gesellschaft. Suhrkamp, Frankfurt a. M Luhmann N (1994b) Soziale Systeme: Grundriß einer allgemeinen Theorie. Suhrkamp, Frankfurt a. M Luhmann N (1997) Erziehung als Formung des Lebenslaufs. In: Lenzen D u. Luhmann N: Bildung und Weiterbildung im Erziehungssystem. Suhrkamp, Frankfurt a. M, S 11–29 Maturana HR, Varela F (1991) Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens. Goldmann, Bern München Merl, H (1997) Das Gesundheitsbild. Videokassette, Heidelberg Piaget J (1983) Meine Theorie der geistigen Entwicklung. Fischer, Frankfurt a. M. Siebert H (1996) Didaktisches Handeln in der Erwachsenenbildung. Didaktik aus konstruktivistischer Sicht. Luchterhand, Neuwied Kriftel Berlin Siebert H (1999) Pädagogischer Konstruktivismus. Eine Bilanz der Konstruktivismusdiskussion für die Bildungspraxis. Luchterhand, Neuwied Kriftel Simon FB (1995) Die andere Seite der Gesundheit. Ansätze einer systemischen Krankheits- und Therapietheorie.Carl Auer,Heidelberg Simon FB (1997) Die Kunst,nicht zu lernen.Und andere Paradoxien in Psychotherapie,Management,Politik.Carl Auer,Heidelberg, S 145–159 Spencer-Brown G (1969) Laws of Form. Julian Press, New York
9 Lernen in Theorie und Praxis unter konstruktivistischer und systemtheoretischer Perspektive Elfriede Brinker-Meyendriesch 9.1
Strukturelle Gegebenheiten – Bildungssystem
9.2
Lernen unter konstruktivistischer und systemtheoretischer Perspektive
9.2.1
199
200
Ausgewählte Aussagen aus dem Konstruktivismus zum Lernen
200
9.2.2
Wissen und Handeln
202
9.2.3
Lernen
9.2.4
Resultate
9.3
Schwerpunkte theoretischen und praktischen Lernens – Ausblick 209
204 208
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Kapitel 9 · Lernen in Theorie und Praxis unter konstruktivistischer und systemtheoretischer Perspektive
> Thesen
9
5 Dem didaktischen Thema Lernen in Theorie und Praxis kommt aktuell im Zeichen der Neuorientierung des hochschulischen Bildungsbereichs eine herausragende Rolle zu. Dies trifft insbesondere für berufsorientierte BAStudiengänge zu, wo theoretische und praktische Studienphasen die Ausbildung konstituieren. 5 Lernorte der Theorie (Schule,Hochschule) und Lernorte der Praxis (Betrieb, Unternehmen) enthalten jeweils eigentümliche Lernmöglichkeiten. 5 Die Praxis kann und muss zu Lernzwecken nicht (hoch-)schulisch nachgebildet werden. 5 Die (Hoch-) Schule vermittelt Wissen, und das muss nicht »träge« sein. 5 Die Praxis enthält ausgezeichnete Lernmöglichkeiten, aber das Lernen erfolgt nicht wie von selbst. 5 Wenn die beteiligten Lernorte kooperieren wollen, muss der Wille zum Kommunizieren vorhanden sein.
3 Praxisrelevanz Wenn vom Lernen in Theorie und Praxis und von der Vernetzung zwischen (hoch-)schulischen und betrieblichen Lernorten die Rede ist, sind mindestens drei Perspektiven zu beachten, die hier aus Gründen der Analyse voneinander getrennt betrachtet werden: Inhaltliche, unterrichtliche und strukturelle Perspektiven. Zur inhaltlichen Perspektive
In Lernprozessen muss es eine inhaltliche Passung geben, d. h. das angeeignete Wissen aus der (Hoch)Schule muss eine Anschlussfähigkeit an die Praxis finden. Dem vorwegnehmenden Denkhandeln in der Hochschule folgt das reale Handeln in der Praxis. Zum Beispiel: Der theoretischen Auseinandersetzung mit didaktischen Modellen in der Lehrerausbildung folgen Unterrichtsentwürfe für die Praxis, die sich an die Bedingungen der jeweiligen Organisation Schule sowie an die curricularen Vorgaben und an die Kompetenzen des Lehrenden und der Lerngruppe anschließen. Zur unterrichtlichen Perspektive
3 Berufliche Handlungskompetenzen 2
Fachkompetenz Lernmöglichkeiten, die der Praxis (Betrieb, Unternehmen) bzw. der Theorie (Schule, Hochschule) zugerechnet werden, erkennen und gestalten. Vernetzungen von Theorie und Praxis in dualen und quasi-dualen Ausbildungen bewusst initiieren. Aussagen konstruktivistischer Theoretiker in konkreten Kontexten anwenden.
2
Methodenkompetenz Didaktische Unterscheidungen zwischen Lernen in der Praxis und Lernen in der Theorie treffen. Lernmöglichkeiten in der Theorie und in der Praxis systematisch eruieren und festlegen.
2
Kommunikative Kompetenz Die Bedeutung konstruktivistischer Begriffe erarbeiten und verwenden. Konstruktivistische Begriffe in Gesprächen einbringen.
Obgleich ein Lernen in den Lernorten (Hoch-) Schule und Betrieb / Unternehmen eigenen Gesetzmäßigkeiten folgt, sollen die Lernprozesse in den beiden Lernorten ein in sich geschlossenes Lernhandeln ermöglichen,wo sich theoretische Erkenntnis und praktische Aufgaben ergänzen und einen kognitiven Transfer enthalten. Die Didaktik hält dazu einige Konzepte bereit, die dies unterstützen und gewährleisten sollen. Hier sind insbesondere das Handlungs- und das Lernfeldkonzept zu nennen (s. Kap. 5 und 6). Zur strukturellen Perspektive
Damit die Theorie-Praxis-vernetzenden Aspekte zur Wirkung kommen können, muss es einen Informationsfluss vom theoretischen zum praktischen Lernort geben. Bezogen auf einen Lernprozess bedeutet dies,die (Hoch-) Schule muss mit der beruflichen Praxis interagieren, damit die Hochschule weiß, dass die berufliche Praxis zu der Theorie und die Theorie zu der beruflichen Praxis passen kann. Die Praxis hingegen muss sich in der theoretischen Vorbereitung der Lernenden »wiederfinden« und ein Lernen in ihrer Organisation zumindest ermöglichen. Diese Überlegungen finden sich wieder in dem Begriff Lernortkooperation.
199 9.1 · Strukturelle Gegebenheiten – Bildungssystem
3 Verfahrensstruktur (. Abb. 9.1) Die innere Struktur dieses Beitrags ist mit der Grafik veranschaulicht.
9.1
Strukturelle Gegebenheiten – Bildungssystem
Bislang ist das vorliegende Thema »Lernen in Theorie und Praxis« im Besonderen für duale berufliche Ausbildungen des sekundären Bildungsbereichs bearbeitet worden und hier schon immer ein wichtiger Gegenstand. Es liegen dazu didaktische Konzepte vor, die bis in die Reformpädagogik zurückgehen. Als neuestes Konstrukt ist hier das Lernfeldkonzept zu nennen. Aber auch für Hochschulen ist das Thema dringlicher geworden.Hervorzuheben sind ausbildungsintegrierte duale Studien, wo Ausbildungen in Unternehmen mit Studien an Hochschulen (auch Akademien) kombiniert werden. Das führt zu einem Berufsabschluss plus einen Studienabschluss. Phasen in der Ausbildungsstätte und der Hochschule wechseln sich ab.Auf hochschulischer Ebene können ein Diplom oder ein Bachelor erworben werden. Damit ist eine enge Verlinkung zwischen den Bildungssubsystemen Berufsbildung und Hochschulbildung gegeben.Dies ist ein erklärtes Ziel der EU (Prozess Kopenhagen 2002).
. Abb. 9.1. Verfahrensstruktur
9
Ohne nun vertieft in Stand und Diskussion einzusteigen, kann pauschal gesagt werden, dass Bachelorstudiengänge allgemein als erste Stufe einer Qualifizierung im Stufenmodell das Charakteristikum einer Berufsbefähigung aufweisen. Die Masterstudiengänge intensivieren die berufsbezogene Ausrichtung beziehungsweise konzentrieren sich auf eine vertiefte wissenschaftliche Qualifizierung. Insbesondere für die Bachelorstudiengänge ist durch die Berufsorientierung das dialogische Verhältnis zur Arbeitswelt konstitutiv. Auch pflegerische Hochschulstudien stellen sich zur Zeit auf die neuen Studienstrukturen um. Auf Bachelorniveau richten sich die Angebote zumeist an Personen, die neben den üblichen Vorgaben mindestens über eine grundständige Pflegeausbildung verfügen, somit also mit beruflichem Wissen und beruflichen Erfahrungen eintreffen. Daneben gibt es solche Studiengänge, wo darauf verzichtet wird. Im Sinne der EU-Richtlinien ist für primärqualifizierende pflegewissenschaftliche Studiengänge ggf. eine externe Prüfung in der Kranken- oder Altenpflege eingebunden (Sieger 2002, 28). Die Evangelische Fachhochschule Hannover etwa bietet einen dualen Studiengang an, wo Krankenpflegeschülerinnen und Krankenpflegeschüler einen Bachelor of nursing erwerben können. In allen der kurz umrissenen Varianten sind Anteil und Bedeutung eines Lernens in Hochschulen sowie den Berufsfeldern gegeben.Das erfordert
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Kapitel 9 · Lernen in Theorie und Praxis unter konstruktivistischer und systemtheoretischer Perspektive
eine enge organisatorische und inhaltliche Abstimmung zwischen den ausbildenden Betrieben und den Hochschulen. Infolgedessen ist das Folgende zu überdenken: 4 Das Lernen in Hochschulen und den Berufsfeldern und deren Steuerung. 4 Die Vernetzung des Lernens von der Hochschule im Sinne eines Zurück in den Betrieb und wieder Hinein in die Hochschule als zirkulärer Vorgang, und damit das: _ Lernen in der Hochschule, eingedenk des Anteils und der Bedeutung des beruflichen Lernortes, – Lernen im Betrieb,eingedenk des Anteils und der Bedeutung des theoretischen Lernortes.
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Es lässt sich also belegen,dass das vorliegende Thema einen hohen didaktischen Stellenwert einnimmt und ein tiefgehendes Nachdenken über das Lernen in Theorie und Praxis notwendig macht.Die genannten und weitere hier nicht aufgeführte Befunde sind darum der Anlass, dieser Aufgabe genauer nachzugehen.
9.2
Lernen unter konstruktivistischer und systemtheoretischer Perspektive
Dem Thema Lernen in Theorie und Praxis soll sich nun aus konstruktivistischer und systemtheoretischer Sichtweise genähert werden. Die soziale Systemtheorie ermöglicht ein Verständnis für die Lernortproblematik, d. h. sie gibt uns Aufschluss über die Frage, wieso die Kooperation zwischen der (Hoch-)Schule als Teil des Bildungssystems und dem Betrieb als Teil des Beschäftigungssystems sich oft schwierig gestaltet. Systemtheoretisch können Lernorte als Teilsysteme der Organisationssysteme (Luhmann 1984, 1991) Bildung und Beschäftigung gesehen werden (Brinker-Meyendriesch et al. 2001, S. 167–182, BrinkerMeyendriesch 2002, S. 57–59). Der Konstruktivismus, der sich auch mit Fragen des Wissenserwerbs und des Wissensaufbaus auseinandersetzt, kann dazu dienen, zentrale Fragen des Lernens in Theorie und Praxis zu erfassen. Er hat sich im didaktischen Bereich bereits als Handlungswissenschaft etabliert (z. B. Kösel 1995, Arnold u. Schüßler 1998).
9.2.1 Ausgewählte Aussagen aus dem
Konstruktivismus zum Lernen Theoretischer Hintergrund Der Konstruktivismus beschäftigt sich innerhalb verschiedener Wissenschaftsgebiete mit Wahrnehmung und Erkenntnis (z. B. Roth 1992, S. 277 ff.), und geht wesentlich auf neurobiologische Untersuchungen von Maturana und Varela (1987) zurück. Entscheidende Ergebnisse konstruktivistischer Untersuchungen / Überlegungen sind: 4 Das kognitive System ist selbstreferentiell, d. h. Erfahrung und Erkenntnis misst sich an bereits bestehender Erkenntnis und gemachter Erfahrung (Roth 1992, S. 279), und muss dort Anknüpfungspunkte vorfinden. 4 Alles Erkennen ist an das erkennende Subjekt gebunden und nicht im übergeordneten und allgemeinen Sinne wahr. Was als gültig anerkannt werden kann, ist somit überindividuelle Vereinbarung.Wie »Welt« gesehen wird, ist von den jeweiligen Erkennenden abhängig; was darüber hinausgeht, kann sich prinzipiell nicht erschließen. 4 Die interne Struktur des kognitiven Systems kommt durch Umgebungsreize in Bewegung. Die Umgebung vermag dabei lediglich anzuregen, nicht zu bestimmen. Umgebungsreize haben zwar eine Wirkung auf das kognitive System, jedoch sind diese unspezifisch und es ist nicht vorhersagbar, wie diese Reize intern ausgewertet werden. 4 Gleichwohl werden Umgebungsreize nicht – von außen betrachtet – beliebig ausgewertet, denn das kognitive System und seine Umgebung verfügen über Gemeinsamkeiten, z. B. den sozialen Kontext, in dem sich beide befinden. Beiderlei Gewissheiten sind aber gleichermaßen legitim und gültig (Maturana u. Varela 1987, S. 264). Sie koexistieren, indem sie sich um gegenseitiges Verstehen bemühen oder es ablehnen. 4 Reflexion, d. h. eigene Erkenntnis als subjektspezifisch zu überdenken und anzuerkennen, eröffnet den Raum für Koexistenz mit anderen und untersagt demzufolge die voreingenommene Negierung anderer Deutungen (ebd. S. 264). 4 Reflexion ist die Fähigkeit, zu sich selbst in eine Beobachterposition zu treten und sich somit vor allzu großer Selbstgewissheit zu schützen.
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Solcher Art Aussagen haben enorme Auswirkungen auf die Pädagogik gehabt. Kommt doch mit ihnen zum Ausdruck,dass Lernende viel stärker über ihr Lernen entscheiden als bis dato angenommen wurde. Sie machen auch deutlich, dass die intendierten Lerneffekte weit weniger voraussagbar sind als erwartet werden konnte. Vor allem belegen sie, dass Lernende im entscheidenden Maße die Verantwortung für ihr Denken und Handeln tragen und sie sich im Prozeß der Erkenntnis mit anderen – Lehrern, Mitlernenden – um Erweiterung der Perspektiven und um Gemeinschaftlichkeit bemühen müssen.
Konkretisierung Ein konstruktivistisches Nachdenken über das Thema Lernen ist, ob explizit herausgehoben oder implizit enthalten, mindestens bis zu Kant zurückzuverfolgen. Erst in jüngerer Zeit ist von »Konstruktivismus« die Rede. Anhand folgender Zitate soll sich im Weiteren dem Konstruktivismus mit der Perspektive auf das Thema Lernen genähert werden. Diese Zitate werden jeweils pointiert kommentiert und können als Ausgangspunkte zum Weiterlernen dienen:
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Der Konstruktivismus beschränkt sich nicht auf die kognitiven Aspekte des Lernens. Gefühle (Umgang mit Freuden und Ängsten) sowie persönliche Identifikation (mit den Lerninhalten) sind bedeutsam, denn kooperatives Lernen, der Umgang mit Fehlern in komplexen Lernsituationen, Selbststeuerung, das dem Lernen Dienstbarmachen der Eigenerfahrung verlangen mehr als nur Rationalität (Dubs 1995, S. 891).
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Die Betonung der unhintergehbaren Subjektivität allen Wissens führt in der Pädagogik und Didaktik zu der Grundüberzeugung, dass die Kunst des Lehrens darin bestehen muss, die Kunst des Lernens auszubilden, damit die Schüler selbst Wissen aufbauen können (Schmidt 1996, S. 12–13).
Wichtig Lernen soll ermöglicht werden: Ermöglichungsdidaktik.Die Kunst des Lernens wird unterstützt durch lernstarke, d. h. lernfördernde Umgebungen, welche in der beruflichen Praxis naturwüchsig enthalten sind, in der Schule jedoch konstruiert werden müssen.
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Alle subjektiven Strukturen des Wissens sind subjektive Konstruktionen, die als viable [passend, funktionierend, Anm. der Verfasserin] Modelle funktionieren, die durch Anpassungen an die Widerstände der »Welt« und durch Aushandeln in sozialer Interaktion gebildet worden sind (Bauersfeld 1998, S. 39).
Wichtig Mentale Konstruktionen bauen sich in Interaktion mit der Umwelt auf; die anderen in der Lerngruppe sind Umwelt, auch die Lehrenden.
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Bestraft man das Kind aber, wenn es Böses thut, und belohnt man es, wenn es Gutes thut, thut es Gutes, um es gut zu haben (Kant 1803, S. 84).
Wichtig Zu den beruflichen Handlungskompetenzen zählen fachliche aber auch persönliche wie Reflexionsfähigkeit und Wachheit für die Umgebung sowie soziale Kompetenzen, wie Gesprächsbereitschaft und Austausch mit anderen. Fehler können das Lernen fördern, sofern sie in einem sanktionsfreien Raum gestattet werden und sie Ausgangspunkt neuen Lernens sind.
Wichtig In Absetzung zum Behaviorismus:Das Kind kann den dahinterliegenden erzieherischen Sinn nicht erfassen. Es interpretiert seiner selbst gemäß. Insofern istErziehung, was der Erzieher für Erziehung hält.
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Lehrer müssen stets die Überzeugung hegen, dass Schüler in der Lage sind, selbstständig zu denken (Glasersfeld 1998, S. 291).
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Kapitel 9 · Lernen in Theorie und Praxis unter konstruktivistischer und systemtheoretischer Perspektive
Wichtig Lehrende können gelassen sein und nicht alle unerreichten »Lernziele« sich selbst zuschreiben. Sie vertrauen auf die Kräfte der Lernenden und sind ihnen dabei wohlwollende Begleiter und Berater.
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Die inhärente Unschärfe der Sprache macht jeden Unterricht schwierig, aber deshalb noch keineswegs unmöglich. … Sprache überträgt kein Wissen, sie kann aber sehr wohl das begriffliche Konstruieren des Empfängers einschränken und orientieren (Glasersfeld 1998, S. 293).
Wichtig
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Die Sprache im Unterricht markiert nur die gemeinsame Lernrichtung.Wenngleich die jeweiligen Auffassungen der sprachlichen Begriffe unterschiedliche Färbungen haben werden, sind Überschneidungsbereiche auszuweiten, indem Auseinandersetzungen stattfinden und Konsensbereiche gesucht werden. Wichtig: Die Bereitschaft zum Dialog.
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Nachhaltig wird nicht das gelernt, was in Lehrplänen und Schulbüchern steht, sondern das, was in biographische und soziale Kontexte eingebettet ist, was in die eigene Identität passt, was in Lebenssituationen verwendbar ist. … Die Theorie der »situierten Kognition« [Erkenntnis, die in einer bestimmten Situation erfolgt ist, Anm. der Verfasserin] bestätigt, dass ein Wissen, das kontextindifferent vermittelt wird, »träge« bleibt (Siebert 1996, S. 31).
Wichtig Ein Lernkontext kann aktuell erlebt, aber auch erinnert oder dinghaft vorgestellt werden, z. B. in Form einer Fantasiereise. Die Frage ist, was der Lernstoff mit der Person, ihrem Leben, ihrem Beruf zu tun hat?
9.2.2 Wissen und Handeln
Es hat sich erwiesen, dass Lernen optimiert werden kann, wenn es so gestaltet ist, dass es erstens soweit als möglich an die Erkenntnisse und Erfahrungen der Lernenden anschließt und zweitens mit einem handlungsorientierten Sinnkontext verbunden ist. Von Sinn und Situation abgelöstes Lernen dagegen ist weniger effektiv,vor allem,wenn das Lernen zum kompetenten beruflichen Handeln führen soll. Die Konstrukte Wissen und Handeln ergänzen sich und aktivieren sich somit gegenseitig, sie bilden eine »Koordinationseinheit« (Law 2000,S.268).Dass der Praxis oftmals ein besonderer Lernwert unterstellt wird, hat damit zu tun, dass hier Wissen und Handeln quasi naturwüchsig vonstatten gehen,wogegen Schule und Hochschule dies didaktisch konstruieren müssen. Das ist aber kein Nachteil, denn nicht alles Wissen und Handeln in der Praxis ist lernhaltig und bedeutungsvoll. Die (Hoch-) Schule dagegen kann die maximale Lernhaltigkeit, die Ausrichtung nur auf den Lerner und Lernerfolg, entwerfen. Der Dualität der theoretischen und praktischen Lernorte – sie verfolgen andersgeartete Ziele und bieten unterschiedliche Lernmöglichkeiten – wird bei oberflächlicher Betrachtung eine Dualität von Wissen und Handeln unterstellt. Danach obliegt dem theoretischen Lernort traditionsgemäß die Wissensvermittlung, dem betrieblichen Lernort dagegen das konkrete Handeln. Diese Zuweisung greift allerdings zu kurz: Die Praxis verfügt ebenfalls über Wissen, aber in stärkerem Maße über ein spezielles Faktenwissen,vor allem aber über ein generalisiertes Verfahrens- und Bedingungswissen (siehe von Cranach u.Bangerter 2000,S.239 zu Wissensarten). Sie konzentriert sich somit auf die Anwendung ihres Wissens, das in den Personen und Dokumenten gespeichert ist. Insofern sind in der Praxis Wissen und Handeln miteinander verbunden und benötigen sich gegenseitig.An diesen speziellen Wissens- und Handlungsprozessen kann der Lernende teilhaben. Aber auch die (Hoch-) Schule muss sich nicht mit dem Vermitteln von Faktenwissen begnügen, das kontextlos im Raume steht. Sie kann (hoch-) schulische Wissens- und Handlungsprozesse didaktisch konstruieren. Bloße Faktenvermittlung begünstigt nicht ein Handeln-Können in einer realen oder vorgestellten Handlungssituation.
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Um die Problematik Dualität von Wissen und Handeln (insbesondere Law 2000, S. 253 ff.) ansatzweise zu belegen, finden sich im Folgenden einige Präzisierungen von Reetz,Arnold und von Cranach u.Bangerter zu diesem Thema, die unter den Oberpunkten Dualität und Integration jeweils erfasst worden sind. Teilweise sind schlagwortartige Lösungsvorschläge von mir zugefügt, die für ein Weiterlernen aufgegriffen werden können:
Dualität Eine »Dualität von Wissen und Handeln« stellt sich für Reetz (1996) folgendermaßen dar:
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Das in schulischen oder schulähnlichen Lernprozessen vermittelte konzeptuelle (begriffliche) Wissen ist oftmals abstrakt und damit bedeutungsarm, anwendungsspezifisch und unverbunden (Reetz 1996, S. 175).
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Schulisches oder schulähnliches Lernen geschieht in der Regel unter den Bedingungen der Zersplitterung der Lerninhalte in einzelne Fächer (Reetz 1996, S. 176).
Wichtig Vorschlag: Die didaktischen Konzepte Lernfeldorientierung und berufliche Handlungskompetenzen integrieren die Lerninhalte einzelner Fächer und machen sie für Lernende sinnhaft erfahrbar.
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Im Beruf sind relevante Probleme meist so komplex, dass oft erst die Zusammenfassung von verschiedenen Fachvertretern zu einer wünschenswerten Lösung führt (Reetz 1996, S. 178).
Wichtig
Wichtig
Vorschlag: Induktives Vorgehen mit selbst erlebten oder anderweitig aufgezeichneten Fallbeispielen aus der beruflichen Praxis.
Vorschlag: Aus Sicht der Lernenden ist hier die Projektarbeit geeignet; auch kann Teamentwicklung unterstützend wirken, damit die Fachvertreter kooperieren können.Die Organisation kann sich als eine lernende verstehen und Raum für Experimente lassen.
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Es besteht ein Defizit an Handlungswissen (Reetz 1996, S. 176).
Wichtig Vorschlag: Über das deklarative Wissen hinaus (WAS muss ich wissen und parat haben?),können weitere Wissensarten erworben werden: Das prozedurale Wissen (WIE kann ich in diesem Falle vorgehen?), das konditionale Wissen (WANN finde ich optimale Bedingungen vor,WANN ist der richtige Moment,WANN muss ich was tun?).In einer Stufenfolge führt das im Lernprozess optimalerweise zum Verstehen, im Weiteren zum Aufgabenlösen, dann zu Generalisieren. Letzteres ist die höchste Verfügungsstufe, weil hier übergeordnete Prinzipien abgeleitet sind und angewendet werden können.
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Integration Eine Integration von Wissen und Handeln bedeutet dagegen:
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Wahrnehmung und lernende Erkenntnisbildung durch Selbstorganisation in einer zirkulären Verkettung von Handlung, Erfahrung und Erkenntnis mit hohem eigenen konstruktiven Anteil des Individuums (Reetz 1996, S. 178).
Reetz betont die Eigenaktivität des Lernenden und die »Ganzheitlichkeit« von Erfahrung, Wissen und Handlung. Desgleichen spricht Arnold von dem Wechsel
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Handlung – Deutung – Handlung und zurück (Arnold 1996, S. 170).
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Kapitel 9 · Lernen in Theorie und Praxis unter konstruktivistischer und systemtheoretischer Perspektive
. Abb. 9.2. Wechsel: »Handlung – Deutung – Handlung und zurück«. (Nach Arnold 1996, S. 170)
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Auch für ihn sind Handlung und Deutung nicht trennbar, sondern bedingen sich (. Abb. 9.2). Von Cranach und Bangerter betonen in gleicher Weise:
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Wissen steuert Handeln … Handeln bringt Wissen hervor. … Wissen und Handeln werden also als in Kreisprozessen miteinander verbunden vorgestellt, sie bilden funktionale Bestandteile des lebenden, selbstaktiven Systems »Mensch« (von Cranach u. Bangerter 2000, S. 222).
9.2.3 Lernen
Konstruktivismus Der Konstruktivismus und seine Vorläufer,wie beispielsweise Piaget (1969), beschäftigen sich neben Fragen der Erkenntnis (Glasersfeld 1998,Roth 1992) mit solchen der Modellierung von Wissen und ihrer Situierung (Neuer Konstruktivismus, z. B. Mandl et al. 1993, Siebert 1999) sowie mit Fragen des Wissenerwerbs (konstruktivistische Lehr- und Lernforschung,z.B.Roth 1992,Gerstenmaier u.Mandl 1994, Reetz 1996, Siebert 1999). In der konstruktivistischen Lehr- und Lernforschung sind Hinweise zu finden, die uns das Lernen in der Theorie und der Praxis präziser erfassen lassen. Dazu sind im Fol-
genden wichtige Aussagen von konstruktivistischen Theoretikern bzw. Didaktikern ausgewählt und überblicksartig wiedergegeben worden,um im Weiteren entsprechende Schlüsse zu ziehen und dem theoretischen bzw.praktischen Lernort das jeweilige Lernen möglichst exakt zuzuordnen. Von Glasersfeld (1998, S. 283–308) betont, dass die Aneignung von Wissen eine Aktivität des Lerners ist und eine direkte Wissensvermittlung vom Lehrer zum Lerner nicht möglich ist. Das zu vermittelnde Wissen stößt auf individuelle mentale Modelle und führt ergo zu individuellen Resultaten. Die Sprache, das weitaus gebräuchlichste Medium in Lehr-Lernprozessen, kann Wissen nicht deckungsgleich von A nach B transportieren. Sprache kann aber einen konsensuellen Bereich ausbilden, einen Bereich, über den größtmögliche Einigkeit besteht, wie auch Maturana und Varela (1987) hervorheben. Die Aussagen von von Glasersfeld werden auch von Roth gestützt, der bemerkt, dass neurobiologisch gesehen Wahrnehmungsinhalte wegen der »Unspezifität der Antworten der Sinnesrezeptoren gegenüber den spezifischen Umweltereignissen […] prinzipiell konstruierte Eigenschaften« sind (Roth 1992, S. 290). Die Antworten auf Umweltereignisse sind also, auch neurobiologisch gesehen, nicht vorherzusehen. Piaget (1969) unterscheidet Lernen – hier sehr grob umrissen – in Assimilation (Angleichung) und
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Akkomodation (Einstellung).Zu einer Akkomodation kommt es, wenn ein Geschehen nicht in die mentale Vorstellungswelt passt und dies Nicht-passen nicht mehr »bereinigt« werden kann (Siebert 1999, S. 23). Dagegen erfordert eine Assimilation weniger Änderungen der mentalen Strukturen, weil hier das Geschehen mit den bekannten Vorstellungen weitgehend übereinstimmt. Allerdings kann die bestehende »kognitive Landkarte« sich ggf. weiter verzweigen. Assimilation und Akkomodation geschehen meistens nicht trennscharf, d. h., beide geistigen Prozesse sind an der Bewältigung beteiligt, mit unterschiedlich hohen Anteilen. Für Lernen ist Akkomodation gegenüber der Assimilation der interessantere Part, weil Akkomodation stärker als Assimilation Lernen erzwingt.In der Begegnung mit der Berufspraxis beispielsweise müssen Handlungsmuster rekonstruiert werden, weil die Vorherigen sich nur in Grenzen als passend erwiesen haben und sie nicht nützlich sind. Den Vorgang des Ausgleichs im Sinne der Herstellung eines Gleichgewichtszustandes nennt Piaget Äquilibration (Anpassung). Ein weiterer Schlüsselbegriff Piagets ist Reflexion (Rückbezüglichkeit), »[…] Reflexion ermöglicht Selbsterkenntnis, selbstkritische Evaluation des eigenen Denkens, Fühlens und Handelns, auch Selbständigkeit und Verantwortung. Sie verhindert einen Egozentrismus, d. h. für Piaget einen Realitätsverlust und eine subjektive ‘Befangenheit’.« (Arnold u. Siebert 1997, S. 47–48) Kersten Reich (1996, S. 83 in Siebert 1999, S. 24) unterscheidet 3 Typen konstruktivistischen Denkens: 4 Konstruktion als Aufbau eigener kognitiver Schemata. Das bedeutet: Es wird ein Lernen initiiert, bei dem nicht nur Wissen additiv gesammelt wird, sondern welches gleichfalls eine Verknüpfung der Inhalte und somit den Aufbau von Begriffswissen erlaubt. (z. B. mittels Anfertigung eines Mind Maps). 4 Rekonstruktion als Rückgriff auf bestehende feste Vorstellungen und ihre Veränderung. Beispiel: In praktischen Studienphasen werden Erinnerungen aus der Vergangenheit wach, die zu Beeinträchtigungen der weiteren Entwicklung führen könnten. Hier müsste eine Auseinandersetzung die Sichtweise ändern und neue Erfahrungen zulassen.
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4 Dekonstruktion als radikales Überdenken bisheriger und einer Entwicklung anderer Vorstellungen. Das heißt in kurzen Worten, dass bisher feste Einstellungen und Werthaltungen verworfen werden und neuen und anderen Platz machen. Ein Beispiel für eine Dekonstruktion wäre eine Veränderung der Lehrerrolle, neben Wissensvermittler auch Lernbegleiter und -berater zu sein,der den Schülern persönliche Lernwege ermöglicht,Fehler nicht sanktioniert,sondern als Lernumweg in Betracht zieht. Für Siebert (1999) ist Lernen ein Erklärungsprinzip (er bezieht sich auf Foerster 1993, S. 16; s. auch den Beitrag von Blättner in diesem Buch) und nicht von anderen erfahrbar und bestimmbar. Lernen ist ein innerer Vorgang, eine kognitive Bearbeitung von einem System und seiner Umwelt. Damit schließt Siebert an Maturana und Varela an, für die »Lernen als Ausdruck einer Strukturkoppelung zu verstehen [ist], in der die Verträglichkeit zwischen der Arbeitsweise des Organismus und des Milieus aufrechterhalten wird« (Maturana u. Varela 1987, S. 188). Das bedeutet, der Organismus stellt einen Gleichgewichtszustand mit seinem Milieu (Umgebung) her. Diese Herstellung ist gleichbedeutend mit Lernen und kann von der Umgebung an einem veränderten Verhalten beobachtet werden. Lernen ist also ein äußerst persönlicher Vorgang, in den nur bedingt Einsichtnahme möglich ist. Lehrende können demzufolge nicht ermessen, was gelernt wurde,sondern nur mit Sicherheit feststellen, welche Prinzipien einer Erklärung sie herangezogen haben, womit sie im Resultat ebenso etwas über sich selbst, über ihre (professionellen) Maßstäbe aussagen. Die nächstgenannten konstruktivistischen Lehr-Lernansätze erscheinen mir für das TheoriePraxis-Problem in Lernprozessen die wirkungsvollsten Aussagen zu machen. Gerstenmaier und Mandl berufen sich auf zahlreiche empirische Untersuchungen und betonen mit vielen anderen Autorinnen und Autoren (Empirische Pädagogik,Instruktionspsychologie) »den Erwerb von Wissen in dem Kontext zu verankern, der ihm seine Bedeutung verleiht« (Gerstenmaier u. Mandl 1994, S. 867 ff.) und eine Unterrichtsphilosophie zu verfolgen, die auf Aktivität und Selbst-
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Kapitel 9 · Lernen in Theorie und Praxis unter konstruktivistischer und systemtheoretischer Perspektive
regulation der Lerner abzielt (ebd. S. 867). Dem gegenüber steht träges Wissen, »das heißt … Wissen, das zwar vorhanden, aber in Problemsituationen nicht abrufbar ist« (ebd. S. 875, auch Mandl et al. 1993). Diesem Problem kann z. B., so haben Untersuchungen ergeben, mit einem narrativen Anker (etwas, was erlebt ist und wovon erzählt werden kann) begegnet werden (Gerstenmaier u. Mandl 1994, S. 875). Das besagt, das Wissen ist mehr oder minder mit einer erlebten Situation im Gedächtnis verschmolzen.
. Abb. 9.3. Aspekte starker Lernumgebungen. (Nach Gerstenmaier u. Mandl 1994, S. 867 ff.)
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Aspekte starker Lernumgebungen (Gerstenmaier u. Mandl 1994) sind (. Abb. 9.3): 4 Authentizität und Situiertheit: Hierbei geht es um die Aneignung und Anwendung von Wissen und Handeln in echten und lebendigen Kontexten, also im Kontakt mit der Umgebung. »Denken und Lernen sind in Bedeutungen und Überzeugungen situiert, die zwischen Individuen und sozialen Gruppen differieren. … Individuen verfügen über stabile potentielle Fähigkeiten für kognitives Wachstum und sind
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zu komplexen und subtilen Prozessen der Wissens- und Bedeutungskonstruktionen und der Denkfähigkeit imstande« (Gerstenmaier u. Mandl 1994, S. 873, auf Greeno zurückgehend). 4 Multiple Kontexte: Damit soll gesichert werden, dass flexibel auf andere Problemlagen reagiert werden kann. Wird Wissen aus unterschiedlichen Kontexten gewonnen, entstehen Vorstellungen, welches Wissen für diese Sachlage und welches auch für andere Konstellationen geeignet sein kann. »Indem die Lernenden ihr Lernen aus unterschiedlichen Kontexten gewinnen, erfahren sie schon beim Wissenserwerb, welches Wissen auf andere Situationen übertragbar ist und welches Wissen situationsspezifisch ist« (ebd. S. 876). Dadurch kann sich auch ein Wissen über Wissen entfalten. 4 Multiple Perspektiven: Damit ist gemeint, dass eine flexible Anwendung des Wissens gefördert werden soll. »Dabei wird angenommen, dass bei der Wissensnutzung das Vorwissen nicht lediglich als geschlossene Einheit abgerufen wird, sondern dass in der Problemsituation mit den multiplen Konzeptrepräsentationen Wissen konstruiert wird, das zur Problembewältigung geeignet ist« (ebd. S. 876). 4 Sozialer Kontext: Hier ist das Ziel das kooperative Lernen und Arbeiten mit anderen, vor allem auch Experten (deren implizites,also wenig offenkundiges Wissen erst offengelegt werden muss). In Gruppen kann auf sich einander ergänzendes Wissen und Können zurückgegriffen und für die Lösung einer Aufgabe genutzt werden.Eine Expertin kann Lernenden als Modell zur Verfügung stehen oder den fortschreitenden Lernprozess mit Phasen der Artikulation und der Reflexion anreichern (Gruber et al.2000, S. 145). Die Teamfähigkeit wird gefördert, das Nachdenken über sich selbst und es wird in Gegenseitigkeit von dem gesamten Wissen profitiert (Sieger,Brinker-Meyendriesch 2004,S.118–121).
Soziale Systemtheorie Wenn über ein Lernen in Theorie und Praxis nachgedacht wird, ist sogleich gegenwärtig, dass daran verschiedene Organisationen beteiligt sind.Die Erfahrung zeigt,dass Organisationen sich oft schwerfällig und konservativ verhalten, und dass notwendige Initiativen in den Organisationen scheitern,
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obwohl es vernünftig wäre, sie umzusetzen. Ähnlich verhält es sich mit Lernortkooperationen, die von den Organisationen Beschäftigung – Lernort Betrieb – und Bildung – Lernort (Hoch-)Schule – geleistet und bewusst initiiert werden müssen. Lernortkooperationen sind unentbehrlich, wenn ein Lernen in Theorie und Praxis ernst gemeint ist und die damit verbundenen Chancen genutzt werden sollen. Es liegen zahlreiche Befunde vor (beispielsweise in Euler u. Sloane 1997), die belegen, dass Lernortkooperationen selten durchgeführt werden,vielfach sind es lediglich Koordinierungen. Mit der sozialen Systemtheorie (an dem Diskurs des Konstruktivismus ist auch diese Theorie beteiligt) lässt sich dieses Phänomen deuten und besser verstehen (Brinker-Meyendriesch et al.2001, S. 176–171, Brinker-Meyendriesch 2002, S. 57–59). Stark gekürzt stellt sich dies folgendermaßen dar: Das soziale System (Luhmannn 1984, 1991), wie auch das kognitive System (z. B. Glaserfeld 1998, Schmidt 1996) sind autopoietisch,d. h. sie erzeugen die Umstände ihrer Erzeugung immer mit, ähnlich einer Katalysatorwirkung. Soziale Systeme sind nach Luhmann gegen die Umwelt geschlossen und gleichzeitig im eigenen Sinne offen, nämlich, indem sie »auswählen«,was für ihren weiteren Erhalt und ihre Stabilisierung von Bedeutung ist und was nicht. Es können Anschlussstellen für die Umwelt ausgebildet sein, die eine Kommunikation ermöglichen. Damit diese Kommunikation stattfinden kann, müssen die eingehenden Informationen in den Sinn des sozialen Systems bzw.das Bewusstsein des kognitiven Systems passen. Jedes soziale System konstituiert sich durch seinen eigenen Sinn. Dieser Sinn grenzt das System zur Umwelt ab. Ziel des sozialen Systems ist Selbsterhaltung.Es ist gleichzeitig geschlossen und offen: Die Kommunikation, die aus der Umwelt an das System herankommt, vermag die Sinnstrukturen zu erschüttern, aber nicht gezielt zu verändern. Die Veränderung erfolgt nur nach eigener Maßgabe. Was in den Sinn aufgenommen wird, ist eine Selektion des sozialen Systems, dazu zählen auch Ablehnungen. Wird das System aus der Umwelt zu stark angefragt und hat es nicht eine ausreichende Kommunikation bzw.ausreichende Handlungsmöglichkeit entwickelt (was für Luhmann identisch ist), kann das die weitere Existenz des Systems bedrohen. Umgekehrt kann es auch durch eine zu starke
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Kapitel 9 · Lernen in Theorie und Praxis unter konstruktivistischer und systemtheoretischer Perspektive
Stabilität seinen Fortbestand vernichten, weil nicht mehr flexibel auf Umweltreize reagiert werden kann. Lernorte sind als soziale Teilsysteme der Organisationssysteme Bildung und Beschäftigung zu betrachten. Wichtig
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Mit Blick auf die Praxis als Lernort kann Nachstehendes gefolgert werden: 5 Die Praxis hat Kommunikation bzw. Handlungen für Arbeit entwickelt, aber nicht für Lernen. 5 Praxis ist um ihren Selbsterhalt bemüht. 5 Störungen, die sie nicht in ihren Sinn aufnehmen will, wehrt sie ab. 5 Für Kommunikation bzw. Handlungen des Lernens liegen in der Regel wenige Anschlussstellen vor.
. Abb. 9.4. Die Lernorte interagieren miteinander
tion bzw. Handlungen entstehen, besteht nach Luhmann ein Interaktionssystem. Dies existiert vorübergehend und quasi auftragsgebunden. Analytisch betrachtet beginnt dann eine Lernortkooperation, wenn willentlich Kommunikation bzw. Handlung mit Blick auf das andere Teilsystem erfolgt (. Abb. 9.4).
9.2.4 Resultate Wichtig Umgekehrt gilt für Schulen, aber auch für Hochschulen: 5 Sie sind gesellschaftlich und definitorisch konstruierte, keine »natürlichen« Lernorte. 5 Die (Hoch-) Schule ist um ihren Selbsterhalt bemüht. 5 Störungen, die sie nicht in ihren Sinn aufnehmen will, wehrt sie ab. 5 Für Kommunikation bzw. Handlungen des Tuns außer »Denktun« (s. Aebli 1993, S. 18–23) liegen wenige Anschlussstellen vor.
Nun ist die betriebliche Praxis,wenn nicht an erster, so doch an weiterer Stelle, dafür aufgeschlossen auszubilden, was sich an unterschiedlichen Realisierungen nachvollziehen lässt. Auch den Schulen bzw. Hochschulen ist, das habe ich anfangs thematisiert (s. 9.1), an einer Integration der Praxis gelegen, und es kann davon ausgegangen werden, dass Handlungspotentiale seitens der (Hoch-) Schulen vorliegen. Sobald nun eine Hinwendung zum jeweils anderen Lernort geschieht und daraus Kommunika-
Im Ergebnis bedeuten die Ausführungen zum Konstruktivismus und der sozialen Systemtheorie: Wichtig 5 Die Lernorte der Theorie und der Praxis
bestimmen sich aus den übergeordneten Sinnstrukturen der sozialen Teilsysteme Arbeit und Lernen. Als Lernorte sind sie für Kommunikation bereit und bilden dazu Interaktionssysteme aus. Mittels Kommunikation entdecken sie partiell ähnliche Interessen und stimmen sich ab, damit zielgerichtetes Lernen gelingen kann. 5 Lernen erfolgt, wenn das Neue an Vorhandenes anschließen kann, d. h., was die Lernenden in der Praxis als Lernmöglichkeit vorfinden, ist in der Theorie inhaltlich und didaktisch vorbereitet. 5 Vor allem berufsbiografisch erworbenes Wissen und Können sowie erworbene Haltungen werden ggf. in der Theorie oder in der Praxis rekonstruiert oder sogar dekonstruiert.
209 9.3 · Schwerpunkte theoretischen und praktischen Lernens – Ausblick
5 Durch orientierende Gespräche mit den
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Lehrenden und der Lerngruppe wird der konsensuelle Bereich zwischen allen ausgebildet, d. h., durch den Dialog bewegen sich die Gedanken der Lernenden in eine ähnliche Richtung. Lernen erfolgt dann, wenn für das Individuum Lernen notwendig wird und ein vorhandenes Handlungsschema zur Lösung nicht ausreicht.Es müssen neue und andere Schemata entwickelt werden. Dazu hat der Lernende Verfahren ausgebildet, die er in der Begegnung mit dem widerstehenden Objekt heranzieht. Lernen erfolgt besonders nachhaltig in lebendigen und in authentischen Situationen.Das ist mit eigenem Erleben und Handeln, aber auch Denkhandeln (z. B. Problemlösen) verbunden. Dies kann beispielsweise ein »Fall« sein, eine Aufgabe aus der Arbeits- oder Lebenswelt sowie ein erinnertes Erlebnis. Lernen erfolgt effektiver, wenn es als nützlich und brauchbar wahrgenommen wird. Dafür bietet Lernen in der Praxis ideale Möglichkeiten, wo Handlungen unmittelbar als bedeutend erlebt und unter pädagogischer Einflussnahme zum Lernen genutzt werden. Eine Begleitung der Lernenden durch Praxisanleiter in der Praxis ermöglicht eine Teilhabe an dem impliziten Wissen der Experten und gleichzeitig eine Einbettung in die originale Umgebung, die das Denken und Handeln sinnhaft macht. Lernresultate sind individuell. Erkenntnisse und Erfahrungen aus der Praxis können in reflexiven Auswertungsveranstaltungen innerhalb der Lerngruppe veröffentlicht werden und stehen für andere Perspektiven und damit für weitere Lernschritte zur Disposition. Gedanken werden durch Metakommunikation verlässlicher wiederverwertbar und auf andere Kontexte übertragbar.
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Schwerpunkte theoretischen und praktischen Lernens – Ausblick
Was sind nun die Schwerpunkte des Lernens in der Theorie bzw. die Schwerpunkte des Lernens in der Praxis. Was macht das Besondere aus? Der Lernort Praxis ermöglicht: 4 den Kompetenzgewinn durch die Aktivitäten der Experten; 4 das vorteilhafte Lernen in der originalen Verwendungssituation; 4 das authentische Handeln; 4 den Aufbau und die Anwendung von speziellem Wissen im Kontext seiner realen Bezüge; 4 das soziale Lernen und die Wissenspartizipation durch das Arbeiten mit Anderen. Die Aktivitäten der Lehrenden im Lernort Theorie ermöglichen: 4 Wissen aufzubauen; 4 Erkenntnisse und Erfahrungen aus der beruflichen Praxis zu reflektieren; 4 das (Lern)-Handeln aus der Praxisphase für weiterführendes Lernen verwertbar zu machen, also Arbeitshandeln und Lernhandeln
aufeinander zu beziehen; 4 das soziale Lernen und die Wissenspartizipation durch das Lernen mit Anderen. Resümierend könnte daraus gefolgert werden,dass: 4 die (Hoch-)Schule sich zu Recht auf Wissensaneignung spezialisiert hat; 4 die Praxis unisono und quasi beiläufig ein Lernen garantiert. In beiden Fällen handelt es sich um Trugschlüsse, wie bereits in dem Kapitel über die Dualität von Wissen und Handeln (s. 9.2.2) angeklungen. Die (Hoch-) Schule als Lernort ihrerseits kann in ihrer Lehre: 4 neben dem Faktenwissen auch weitere Wissensarten (z. B. Prozesswissen, Bedingungswissen und vieles mehr) vermitteln; 4 Lernsituationen mit Leben füllen; 4 eine berufliche Verwendung der Lerninhalte mitführen; 4 den Lerngewinn verlebendigen. Um ein Lernen in Theorie und Praxis zu integrieren und für eine Vernetzung Sorge zu tragen, wie auch
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Kapitel 9 · Lernen in Theorie und Praxis unter konstruktivistischer und systemtheoretischer Perspektive
ein Lernen in beiden Lernorten zu gewährleisten, muss die (Hoch-) Schule die didaktische Gestaltung vornehmen.Die Praxis stellt allein die vorteilhaften Lernbedingungen zur Verfügung.Sie verfügt in der Regel weder über die erforderlichen Kompetenzen (außer, sie wird für Ausbildung aktiv, siehe Sieger, Schönlau 1998), noch verfolgt sie originär pädagogische Ziele. Die didaktische Konstruktion des Lernens in Theorie und Praxis sowie die Vernetzung von Theorie und Praxis ist somit eine der Hauptaufgaben der (Hoch-) Schule. Die Praxis als Lernort ist also nur bedingt zuständig für das Lernen. Sie muss allerdings von der (Hoch-)Schule ausgehende didaktische Konstrukte auf ihre Durchführbarkeit und Kontabilität mit den eigenen Betriebsbedingungen und -zielen überprüfen und ein Lernen zulassen. Dazu ist es notwendig, mit der (Hoch-) Schule zu kommunizieren und hierbei die eigenen Ziele, erwünschten Vorteile und Möglichkeiten transparent zu machen. Der Praxis obliegt somit in stärkerem Maße die Ermöglichung als die Gestaltung des Lernens, nämlich (. Abb. 9.5):
4 die Teilhabe an Betriebsprozessen; 4 die Teilhabe an Betriebswissen; 4 ein Lernhandeln unter pädagogischer Einflussnahme; 4 ein reales Handeln; 4 das Bereitstellen von Experten im Sinne einer Lernbegleitung; 4 die Reflexionen der Lern- bzw.Arbeitsprozesse; 4 die Teilnahme an Gruppenprozessen (Teams u. ä.). Zusammenfassung Die Diskussion über Lernen in Theorie und Praxis nimmt im Kontext dualer beruflicher Ausbildungen und berufsorientierender Studiengänge einen hohen Stellenwert ein. Zu ihrer didaktischen Bewältigung liegt hinlänglich Wissen vor, das als Basis für didaktisches Handeln dienen kann. Mit dem Konstruktivismus lässt sich ein Lernen in Theorie und Praxis präzisieren. Dazu
. Abb. 9.5. Schwerpunkte theoretischen und praktischen Lernens
211 9.3 · Schwerpunkte theoretischen und praktischen Lernens – Ausblick
liegen Aussagen von konstruktivistischen Theoretikern bzw. Didaktikern vor. Vor allem wird deutlich, dass ein Lernen in lebendigen Bezügen viele Vorteile bietet. Dies ist durch den praktischen Anteil dualer Ausbildungen / Studien prinzipiell gegeben. Im Resultat ist festzustellen,welche Art von Lernen in erster Linie in der Theorie und welches in der Praxis erfolgen kann, und es kann abgeleitet werden, dass Wissen und Handeln nicht voneinander getrennt zu sehen sind sondern sich bedingen. Die soziale Systemtheorie nach Luhmann ermöglicht einen Transfer auf die Problematik der verschiedenen Lernorte in dualen und quasi-dualen Ausbildungen und Studiengängen. Auf diese Weise lässt sich besser verstehen, wieso die beteiligten Organisationen eher verhalten auf die notwendige Umsetzung einer Lernortkooperation reagieren.
3 Methodische Vorschläge für die Seminargestaltung Pflegeschülerinnen und Studierende der Pflegepädagogik haben (meistens) Erfahrungen in der
9
Praxis der Pflege gesammelt.Dieser Beitrag hat verdeutlicht, dass gemachte Erfahrungen einer individuellen sowie gemeinsamen Aufarbeitung bedürfen. Diese Aufarbeitungen finden in der Regel in dem Lernort der Theorie statt, der Schule oder der Hochschule. Im Folgenden findet sich ein Vorschlag, wie dies didaktisch gestaltet sein könnte (. Tabelle 9.1). Das Beispiel folgt den Phasen Einstieg, Erarbeitung und Ausstieg. Diesen Phasen sind Grobschritte und Feinschritte des Unterrichts zugeordnet.
3 Empfehlungen zum Weiterlernen Die didaktische Literatur bietet eine große Materialfülle, die Anhaltspunkte für selbstorganisierte Lernprozesse liefert. Beispielhaft genannt seien hier: Arnold, R (1996) Weiterbildung. Ermöglichungsdidaktische Grundlagen. Verlag Vahlen, München Ein tiefes Verständnis für die Thematik »Wissen und Handeln« garantiert das Werk in der Herausgeberschaft von Mandl und Gerstenmaier: Mandl H,Gerstenmaier J (Hrsg) (2000) Die Kluft zwischen Wissen und Handeln. Empirische und theoretische Lösungsansätze. Hogrefe Verlag für Psychologie, Göttingen Bern Toronto Seattle Wer sich näher mit der sozialen Systemtheorie auseinandersetzen möchte und im Sinne einer Ein-
. Tabelle 9.1. Methodische Vorschläge für eine Seminargestaltung Phasen
Grobschritte
Feinschritte
Einstieg
Problemaufriss
Positive und negative Erfahrungen mit der eigenen pflegerischen Berufsausbildung reflektieren, insbesondere unter Bezugnahme auf den theoretischen und die praktischen Lernorte in der Pflege
Erarbeitung
Problembewusstsein
Analyse der pflegerischen Berufsausbildung unter der Perspektive der Dualität der Lernorte Besonderheiten herausarbeiten, die die eigenen Erfahrungen erklären helfen
Problembearbeitung
Lösungsvorschläge entwickeln Dazu mit Hilfe des Konstruktivismus erarbeiten, was theoretisches und praktisches Lernen ausmacht
Problemlösung
Didaktische Konzepte für ein Lernen in Theorie und Praxis sowie ihre Vernetzung suchen und aufgrundlage der theoretischen Erarbeitung (Phase Problembearbeitung) bewerten
Ausstieg
212
9
Kapitel 9 · Lernen in Theorie und Praxis unter konstruktivistischer und systemtheoretischer Perspektive
führung in das umfassende Werk Luhmanns vorerst Sekundärliteratur bevorzugt, dem sei anempfohlen: Kneer G, Nassehi A (1997) Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme: Eine Einführung. 3. Aufl. UTB, München Der nachstehend aufgeführte Autor begleitet einen Modellversuch zur Umsetzung des Lernfeldkonzeptes. Dieser Vortrag gibt kurz und pointiert das Konzept und seine Implementierung wieder. Sloane PFE (2000) Implementierung von Lernfeldern in der Berufsschule. Vortrag auf dem Symposion Umsetzung von lernfeldorientierten Lehrplänen im Unterricht. 23. März, Mainz Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Lernfeldkonzept hat Lisop geleistet: Lisop I (1999) Bildungstheoretische und didaktische Dimensionen der Lernfeldorientierung – eine kritische Systematik. In: Huisinga R, Lisop I, Speier HD (Hrsg) Lernfeldorientierung. Konstruktion und Unterrichtspraxis. Verlag der Gesellschaft zur Förderung arbeitsorientierter Forschung und Bildung, Frankfurt a. M., S. 15–48 Die nachstehende Schrift beinhaltet Zukunftsvisionen für die Schulen, die immer noch aktuell sind. Die Inhalte schließen an neuzeitliche Ansätze über das Lernen an. Zukunft der Bildung – Schule der Zukunft (1995) Denkschrift der Kommission »Zukunft der
Bildung – Schule der Zukunft«. Ministerium des Landes Nordrhein-Westfalen / Bildungskommission NRW, Neuwied Berlin
Literatur Aebli H (1993) Das Ordnen des Tuns. Kognitive Aspekte der Handlungstheorie. Bd 1, 2. Aufl. Klett-Cotta, Stuttgart Arnold R (1996) Weiterbildung. Ermöglichungsdidaktische Grundlagen. Verlag Vahlen, München Arnold R, Schüßler I (1998) Wandel der Lernkulturen. Ideen und Bausteine für ein lebendiges Lernen.Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt Arnold R, Siebert H (1997) Konstruktivistische Erwachsenenbildung.Grundlagen der Berufs- und Erwachsenenbildung.Bd 4, 2. Aufl. Schneider Verlag, Hohengehren Bauersfeld H (1998) Interaction, construction and knowledge. In: Grouws DH, Cooney TJ (eds) Perspective on research on effecties mathematics teaching.National Council of Teachers of Mathematics, Reston Virginia. BIBB (Bundesinstitut für berufliche Bildung) (Hrsg) (2000) Duale Studiengänge – ein Beitrag zum Ausbau des beruflichen Bil-
dungsweges? Ergebnisse, Veröffentlichungen und Materialien aus dem BIBB, 3. Aufl. Bonn BIBB (2000) Pressemitteilung: Betrieb als Lernort dualer Fachhochschulstudiengänge anerkannt – Hauptausschuss des BIBB begrüßt Empfehlungen des Wissenschaftsrates. 11/7. In: BIBB (Hrsg) Duale Studiengänge – ein Beitrag zum Ausbau der beruflichen Bildungsweges? Ergebnisse, Veröffentlichungen und Materialien aus dem BIBB, 3. Aufl. Bonn, S 65 BIBB (2000) Impulse für die Berufsbildung BIBB-Agenda 2000plus. In: BIBB (Hrsg) Duale Studiengänge – ein Beitrag zum Ausbau des beruflichen Bildungsweges? Ergebnisse,Veröffentlichungen und Materialien aus dem BIBB. 3. Aufl. Bonn, S 80–86 Brinker-Meyendriesch E (2002) Theorie-Praxis-Vernetzung. Eine mehrperspektivische, formative Evaluation des Studienganges Pflegepädagogik an der Fachhochschule Münster. Europäische Hochschulschriften Reihe XI Pädagogik.Peter Lang, Frankfurt a. M. Berlin Bern New York Paris Wien Brinker-Meyendriesch E,Rustemeier-Holtwick A,Schönlau K (2001) Lernortkooperation – Von einer systemisch-theoretischen Betrachtung zu einer Gestaltung in den Pflegeausbildungen. In: Sieger M (Hrsg) Pflegepädagogik.Handbuch zur pflegeberuflichen Bildung. Hans Huber, Bern Göttingen Toronto Seattle, S 167–183 Cranach v M, Bangerter A (2000) Wissen und Handeln in systemischer Perspektive. Ein komplexes Problem. In: Mandl H, Gerstenmaier J (Hrsg) Die Kluft zwischen Wissen und Handeln. Empirische und theoretische Lösungsansätze. Hogreve, Göttingen, S 221–252 Dubs R (1995) Konstruktivismus. Einige Überlegungen aus Sicht der Unterrichtsgestaltung. In: Zeitschrift für Pädagogik 41: 889–903 Euler D, Sloane PFE (1997) Duales System im Umbruch. Eine Bestandsaufnahme der Modernisierungsdebatte. Wirtschaftspädagogisches Forum. Bd 2. Centaurus, Pfaffenweiler Foerster v H (1993) KybernEthik. Merve, Berlin Gerstenmaier J, Mandl H (1994) Wissenserwerb unter konstruktivistischer Perspektive (Forschungsbericht Nr.33).Ludwig-Maximilians-Universität Lehrstuhl für Empirische Pädagogik und Pädagogische Psychologie, München Glasersfeld v E (1998) Radikaler Konstruktivismus. Ideen, Ergebnisse, Probleme, 2. Aufl. Suhrkamp, Frankfurt a. M. Gruber H, Mandl A, Renk A (2000) Was lernen wir in Schule und Hochschule:Träges Wissen? In:Mandl H,Gerstenmaier J (Hrsg) Die Kluft zwischen Wissen und Handeln.Empirische und theoretische Lösungsansätze. Hogrefe, Göttingen Bern Toronto Seattle, S 139–156 Kant J (1803) Pädagogik. In: Kant’s Werke, Akademie Ausgabe, Bd. IV, Berlin, S 84 Kneer G, Nassehi A (1997) Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme: Eine Einführung, 3. Aufl. München KMK (1996) Handreichungen für die Erarbeitung von Rahmenlehrplänen der Kultusministerkonferenz für den berufsbezogenen Unterricht in der Berufsschule und ihre Abstimmung mit Ausbildungsordnungen des Bundes für anerkannte Ausbildungsberufe. Bonn Kösel E (1995) Die Modellierung von Lernwelten.Ein Handbuch zur Subjektiven Didaktik, 2. Aufl. Laub, Eltztal Dallau Landesrektorenkonferenz der Fachhochschulen des Landes Nordrhein-Westfalen (2001) Positionspapier, Mai 2001
213 9.3 · Schwerpunkte theoretischen und praktischen Lernens – Ausblick
Law L-Ch (2000) Die Überwindung der Kluft zwischen Wissen und Handeln aus situativer Sicht. In: Mandl H, Gerstenmaier J (Hrsg) Die Kluft zwischen Wissen und Handeln. Empirische und theoretische Lösungsansätze. Hogrefe, Göttingen Bern Toronto Seattle, S 253–287 Lisop I (1999) Bildungstheoretische und didaktische Dimensionen der Lernfeldorientierung – eine kritische Systematik. In: Huisinga R, Lisop I, Speier HD (Hrsg) Lernfeldorientierung. Konstruktion und Unterrichtspraxis. Verlag der Gesellschaft zur Förderung arbeitsorientierter Forschung und Bildung, Frankfurt a. M., S 15–48 Luhmann N (1984) Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Suhrkamp, Frankfurt a. M. Luhmann N (1991) Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Suhrkamp, Frankfurt a. M. Mandl H, Gruber H, Renkl A (1993) Das träge Wissen. In: Psychologie heute 20/1993: S 64–69 Maturana H, Varela F (1987) Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln der menschlichen Erkenntnis.Goldmann,Bern München Ministerium des Landes Nordrhein-Westfalen / Bildungskommission NRW (1995) Zukunft der Bildung – Schule der Zukunft. Denkschrift der Kommission »Zukunft der Bildung – Schule der Zukunft«. Luchterhand, Neuwied Berlin Piaget J (1969) Gesammelte Werke. Klett-Cotta, Stuttgart Reetz L (1996) Wissen und Handeln. – Zur Bedeutung konstruktivistischer Lernbedingungen in der kaufmännischen Berufsbildung. In: Beck K, Müller W, Deißinger T, Zimmermann M (Hrsg) Berufserziehung im Umbruch. Deutscher Studienverlag, Weinheim, S 173–188 Reich K (1996) Systemisch– konstruktivistische Didaktik. In: Voß R (Hrsg) Die Schule neu erfinden. Neuwied, S 70
9
Roth G (1992) Das konstruktive Gehirn: Neurobiologische Grundlagen von Wahrnehmung und Erkenntnis. In: Schmidt SJ (Hrsg) Kognition und Gesellschaft. Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus 2. Suhrkamp, Frankfurt a. M., S 277–336 Schmidt JS (Hrsg) (1996) Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus. Suhrkamp, Frankfurt a. M. Siebert H (1996) Bildungsarbeit – konstruktivistisch betrachtet. Wissenschaft in gesellschaftlicher Verantwortung. Bd 41. VAS Verlag für Akademische Schriften, Frankfurt a. M. Siebert H (1999) Pädagogischer Konstruktivismus. Eine Bilanz der Konstruktivismusdiskussion für die Bildungspraxis. Luchterhand, Neuwied Sieger M, Brinker-Meyendriesch E (2004) Der Rote Faden für die praktische Ausbildung in den Pflegeberufen. Brigitte Kunz Verlag Schlütersche GmbH u. Co.KG, Hannover, S. 118–121 Sieger M, Schönlau K (1998) Lernen und Arbeiten – ein Spannungsfeld. Erster Pflegetheorienkongress. In: Osterbrink J (Hrsg) Erster internationaler Pflegetheorienkongress. Huber, Nürnberg Bern, S 372–379 Sieger M (2002) Die Pflegeberufe und ihre Entwicklung.In: Klüsche W (Hrsg) Entwicklung von Studium und Praxis in den Sozialund Gesundheitsberufen.Schriften des Fachbereiches Sozialwesen der Hochschule Niederrhein. Band 34, S. 21–36 Sloane PFE (2000) Implementierung von Lernfeldern in der Berufsschule.Vortrag auf dem Symposion Umsetzung von lernfeldorientierten Lehrplänen in Unterricht. 23. März 2000 Mainz. http://www.bbs.bildung-rp.de/materialien/lernfelder/mz2311/vortrag.doc Gesehen 14.09.2001 Terhart E (Hrsg) (2000) Perspektiven der Lehrerbildung in Deutschland. Abschlussbericht der von der Kultusministerkonferenz eingesetzten Kommission. Beltz, Weinheim Basel
10 Wie sich die Wissenschaft ihr Wissen schafft Jens Clausen 10.1
Wissenschaftstheoretische Grundsätze 217
10.1.1
Wissenschaft und Pflegepädagogik 217
10.1.2
Zur Definition von Wissenschaft 219
10.1.3
Zur Aufgabe der Wissenschaftstheorie und Methodologie 220
10.1.4
Zum Begriff des Paradigmas 222
10.1.5
Zum Ringen der Wissenschaft(en) um Erkenntnis 223
10.1.6
Zu den Systematisierungsversuchen der Wissenschaften 225
10.2
Skizzen zu verschiedenen wissenschaftstheoretischen Ansätzen 226
10.2.1
Was ist Empirismus? Was ist Positivismus? 226
10.2.2
Was ist Phänomenologie? 227
10.2.3
Was ist Kritischer Rationalismus? 229
10.2.4
Was ist Hermeneutik? 220
10.2.5
Was ist Kritische Theorie? 231
10.2.6
Was ist Symbolischer Interaktionismus? 232
10.2.7
Was ist Handlungstheorie? 233
10.2.8
Was ist Konstruktivismus? 234
10.2.9
Was ist Systemtheorie? 235
10.2.10
Ausblick 236
10.3
Hinweise zum wissenschaftlichen Arbeiten
10.3.1
Einleitung
10.3.2
Begrifflichkeit, Reliabilität und Validität
10.3.3
Transparenz der Literaturfindung
10.3.4
Zitieren
10.3.5
Das Literaturverzeichnis
10.3.6
Phasen der Erstellung einer wissenschaftlichen Arbeit
237
237 238
239
240 241 243
216
Kapitel 10 · Wie sich die Wissenschaft ihr Wissen schafft
Beispiel Szene aus dem Studienalltag
10
Freitagabend:Alle in der Arbeitsgruppe sind genervt. Schon das dritte Treffen, und keine Einigung in Sicht.Katrin würde am liebsten aussteigen oder mit Heike ein eigenes Projekt auf die Beine stellen. Rainer und Petra beharren seit Stunden auf ihren Standpunkten. »Wenn wir so weitermachen, dann stehen wir am Ende mit leeren Händen da! Und wir haben nur noch drei Wochen!« meint Katrin und stopft ihre Projektskizzen und Kopien in den Rucksack. Der Hinweis auf die verbleibenden drei Wochen hat gesessen. »Nun wart’ doch mal!«, unterbricht Rainer. Aber Katrin lässt sich nicht mehr aufhalten: »Tut mir leid,ich muss zur Nachtwache,ich hab’s vorhin schon gesagt!« Da hat Heike den rettenden Einfall:»Wir teilen das Projekt einfach in drei oder vier Abschnitte auf, so dass jeder bei seinem Ansatz bleiben kann!« Ob das die Lösung ist? Und ob es wirklich an den »Ansätzen« liegt? Dabei ist die Projektidee ziemlich gut: Die Vier wollen ein Kurskonzept »Zur Pflege und Begleitung von Menschen mit Morbus Parkinson« erarbeiten. Wenn ihr Entwurf vom Seminar abgesegnet wird, möchten sie dem »Gesund- heitshaus« der Stadt M. dieses Konzept vorstellen und eine Studie oder einen Kurs mit Betroffenen und Angehörigen durchführen. Aber hier nun beginnt schon das Dilemma: empirische Studie oder handlungsorientierter Kurs, objektive Faktensammlung oder subjektive Gesprächserfahrung? Wie überhaupt ansetzen? Petra ist dafür, zunächst gesicherte Daten zu ermitteln, also zu erforschen, wer in dieser Stadt an der Krankheit leidet und welche pflegerischen Maßnahmen in Anspruch genommen wurden. Heike und Katrin hingegen möchten über Besuche bei Selbsthilfegruppen die subjektive Seite der Erkrankung erkunden.Rainer findet,dass sie die Pflegebegleitung von Parkinson-erkrankten Menschen umfassender angehen sollten:»Da spielen doch viele Ebenen eine Rolle, z. B. die Auswirkungen auf Familie, Beruf und Freizeit. Das müssen wir doch ganzheitlich betrachten!« »´Ganzheitlich’ sagst du immer, wenn du methodisch nicht mehr weiter weißt!« kanzelt Pe-
tra ihn ab.Wie Rainer denn das alles auf die Reihe kriegen wolle, welchen Forschungsansatz er denn da bitte hätte – sie jedenfalls möchte am Ende ein richtiges Ergebnis vorweisen und nicht nur »…rumsitzen und reden! Das mag ja für die Betroffenen wichtig sein, solche Gesprächsgruppen, aber das ist doch nicht wissenschaftlich!« »Für dich gelten nur knallharte Fakten als wissenschaftlich, oder wie?« geifert Rainer zurück. »Also, jetzt reicht’s!« ruft Katrin empört, schnappt sich ihren Rucksack und ist schon in der Tür: »Ruft mich an, wenn ihr euch geeinigt habt! Ich bin die ganze Nacht zu erreichen!«
Nichts ist praktischer als eine gute Theorie (Kurt Lewin). Wissen ist in einem elementaren und praktischen Sinn nichts anderes als strukturierte Erfahrung (Eugen J. Meehan).
3 Berufliche Handlungskompetenzen 2
Fachkompetenz Die Klärung von Definitionen und Theorien der Wissenschaft(en) für die Pflegepädagogik im Spektrum der akademischen Disziplinen verorten. Erkennen, welche Anforderungen aus den Wissenschaftstheorien heraus an das Fach gestellt werden und welche selbst bei der Bearbeitung wissenschaftlicher Fragestellungen erfüllt werden sollten.
2
Personalkompetenz Durch die Auseinandersetzung mit Wissenschaftstheorie das »System Hochschule« immer mehr verstehen. Unsicherheit und Befremdung gegenüber der »science community« mit eigenen akademischen Diskursen und Ritualen abbauen. Erkennen, auf welche Theorien die Lehrenden des eigenen Fachbereiches sich berufen und welche zur Grundlage des forschenden Arbeitens werden sollen.
217 10.1 · Wissenschaftstheoretische Grundsätze
2
Sozialkompetenz In Seminaren und Arbeitsgruppen wie auch im Pflegealltag in Zukunft den Kritikern des »Theoretisierens« entgegenhalten, dass im Grunde jedes Denken und Handeln neben einer intuitiven Vorderseite auch eine – theoriegeleitete – Rückseite besitzt. Den Skeptikern ein wenig von der Spannung vermitteln, die entsteht, wenn hinter die Kulissen von Aussagen und Konzepten, von Modellen und Theorien geblickt wird.
2
Methodenkompetenz Sich auf der Suche nach einer geeigneten Methode zur Lösung vorgegebener oder selbstgewählter Probleme und zur Darstellung wissenschaftlicher Sachverhalte – in Referaten und Projekten, Haus- und Diplomarbeiten – nicht mehr allein auf sein Gespür verlassen, welcher Weg der Erkenntnisgewinnung am meisten zusagt, sondern die Methodenwahl nun auch (wissenschafts-)theoretisch begründen.
3 Praxisrelevanz Die Auseinandersetzung mit (Wissenschafts-) Theorie(n) ist wie das Benutzen von Landkarten: Manchmal braucht es eine Weile, bis man sie richtig zu lesen versteht; manchmal merkt man schon sehr schnell, dass man ein allzu kompliziertes Exemplar in der Hand hält, das eher verwirrt als erhellt; manchmal ist es allzu simpel und grob und unterschlägt wichtige Details; aber immer ist klar: 4 Eine Karte muss – wie eine Theorie – abbilden, was die sog. Realität vorgibt; dabei muss sie selektiv vorgehen, muss laufend Entscheidungen treffen zwischen wichtig – unwichtig. 4 Eine Karte muss – wie eine Theorie – abstrahieren, muss mit Symbolen arbeiten, die definiert bzw. in der Legende erläutert werden. 4 Eine Karte muss – wie eine Theorie – auf ihre Exaktheit und Angemessenheit überprüft werden; beides sind Aspekte ihrer Qualität. 4 Eine Karte zeigt – wie eine Theorie – ihren praktischen Wert erst in der konkreten Anwendung, im zielgerichteten Gebrauch (Meehan 1992, S. 164).
10
In dem oben genannten Sinne ist es für Studierende wie auch Lehrende der Pflegepädagogik unverzichtbar, die (Wissenschafts-) Theorien hinter den (Pflege-) Theorien kennen- und verstehen zu lernen. Nur wenn wissenschaftstheoretische Hintergründe ansatzweise reflektiert werden können, ist eine praxisorientierte Anwendung von Theorien, Modellen und Konzepten der Pflegewissenschaft bzw. Pflegepädagogik gewährleistet.
3 Verfahrensstruktur (. Abb. 10.1) 10.1 Wissenschaftstheoretische Grundsätze 10.1.1 Wissenschaft und Pflegepädagogik
Auch wenn die Debatte um die Konstituierung der Pflege als Wissenschaft international schon seit mehr als fünfzig Jahren geführt wird (Steppe 2000, S. 92), so ist doch ihre Etablierung als anerkannte akademische Disziplin in Deutschland vergleichsweise jung. Und immer noch steht sie unter erhöhtem Legitimationsdruck: Lehrende wie Lernende der Pflegewissenschaft müssen sich der internen Diskussion wie den kritischen Anfragen von außen stellen, auf welchen Wegen sie zu ihren Theorien, Modellen und Konzepten gelangen und welches die erkenntnistheoretischen und methodologischen Grundlagen ihrer Forschung und Lehre seien. Grundsätzlich sind diese Fragen natürlich berechtigt und für das Profil einer akademischen Disziplin unverzichtbar. Aber manchmal kommt es einem doch vor wie ein Auftritt vor einem misstrauischen, bisweilen deutlich ablehnenden Publikum: »Was will die da oben?« »Kann die nicht bei ihrem Handwerk bleiben?« »Ist sie überhaupt ein legitimes Mitglied unserer Wissenschaftsfamilie?« Zum Glück muss man solche Anfeindungen der akademischen Zunft nicht allzu persönlich nehmen. Mit vielen jüngeren Disziplinen teilt die Pflegewissenschaft die Erfahrung, dass das Spektrum anerkannter Wissenschaften stets mit Skepsis auf die Ankunft neuer Sprösslinge reagiert.Interessanterweise sind es oft die zuletzt Geborenen, die, kaum des selbstständigen Laufens mächtig, bei Ankunft des Nachwuchses eine besonders bissige Abwehrstellung entwickeln.So äußern sich in Fachkreisen z. B. die jüngeren Sozialwissenschaften bis-
218
Kapitel 10 · Wie sich die Wissenschaft ihr Wissen schafft
. Abb. 10.1. Verfahrensstruktur
10
weilen kritisch, wenn es um die Anerkennung der Pflege als wissenschaftliche Disziplin geht. Es scheint also auch im Bereich exklusiver akademischer Kreise ein gewisses Revierverhalten zu geben, das offenbar dazu dient, die eigene Identität auf Kosten streitbarer Neulinge zu stärken und gegen sie zu verteidigen. Vor diesem Hintergrund ist es für die Etablierung der Pflege als Wissenschaft und für das Selbstverständnis der Pflegewissenschaftlerinnen und -wissenschaftler entscheidend, im wissenschaftstheoretischen Diskurs Profil und Kompetenz zu zeigen (Bartolomeyczik 1991). Für Lehrende gehört dies selbstverständlich zu ihrem professionellen Auftrag; aber genauso sollten Studierende Interesse daran entwickeln, was es mit Empirie, Phänomenologie,Hermeneutik,was es mit Kritischem Rationalismus und Symbolischem Interaktionismus, Konstruktivismus und anderen wissenschaftstheoretischen Ansätzen auf sich hat. Denn hier handelt es sich keineswegs um Debatten geheimer Zirkel, die sich in universitären Dachkammern treffen, in wel-
che man ohne höhere Weihen nicht gelangt. Es geht um das Studium von Basiswissen, von Landkarten der wissenschaftlichen Topographie gewissermaßen, die es jedem leichter machen, sich im akademischen Gelände zurecht zu finden. Nun ist Pflege als Praxisdisziplin erst seit relativ kurzer Zeit dabei ist,die Notwendigkeit von Forschung und Wissenschaft für sich zu entdecken (Schröck 1989). Dieser Prozess war und ist begleitet von Zweifeln, wie es denn wirklich um die Eigenständigkeit des Faches im Konzert der Nachbardisziplinen bestellt sei. Mit drei Fragen ist die Pflegewissenschaft hier konfrontiert: 4 1. Was ist der spezifische Gegenstandsbereich dieser wissenschaftlichen Disziplin »Pflege«? 4 2. Auf welcher methodologischen Grundlage wird »Pflege« beschrieben, begründet, untersucht und nachgewiesen? 4 3. In welchem organisatorisch-institutionellen Rahmen wird Pflege auf wissenschaftlicher Basis gelernt, gelehrt und ausgeübt? (Steppe 2000, S. 92)
219 10.1 · Wissenschaftstheoretische Grundsätze
Der Diskurs um eben diese Fragen ist an vielen Orten geführt worden (Meleis 1999) und hat Eingang in viele Kapitel dieses Lehrbuches erhalten. Dabei ist deutlich geworden,dass auch Lernende in ihrem Studienalltag der wissenschaftstheoretischen Reflexion nicht ausweichen können oder sollten: Gerade die Pflegewissenschaft, die wie kaum eine andere akademische Disziplin über einen ausgesprochen engen Praxisbezug verfügt, also ihr pflegewissenschaftliches Erkenntnisinteresse aus (akuten oder chronischen) Praxisphänomenen entwickelt und auch von dort ihre Forschungsfragen generiert (Burnard u.Morrison 1995),ist auf theoretische und methodische Vielfalt angewiesen. Und dennoch muss sie offensiv ihre Eigenständigkeit gegenüber Anthropologie und Medizin, Psychologie und Pädagogik,Soziologie und Ökonomie und viele andere mehr behaupten.Dies gelingt ihr um so besser, je deutlicher sie ihre wissenschaftstheoretischen Grundannahmen, Voraussetzungen und Ziele sowie ihre Begriffe, Postulate und Methoden formulieren kann. Was aber ist im eigentlichen Sinne Wissenschaft? Und wovon handelt Wissenschaftstheorie? In den folgenden Ausführungen,die den Bogen von der abstrakten Wissenschaftstheorie bis zum konkreten wissenschaftlichen Arbeiten schlagen wollen, soll der Frage nachgegangen werden, wie die Wissenschaften sich ihr Wissen schaffen, welche Theorien und Modelle zur Orientierungund Fundierung dienen, welche erkenntnisleitenden Interessen eine Rolle spielen und welche Anforderungen schließlich an Studierende der Pflegewissenschaft zu stellen sind, die erfolgreich an der Weiterentwicklung der Pflege als Wissenschaft partizipieren wollen.
10.1.2 Zur Definition von Wissenschaft
Bei der Suche nach einer überzeugenden Definition von Wissenschaft (griech.: episteme; lat: scientia), also bei der Klärung der Frage, was eigentlich die Wissenschaft und das wissenschaftliche Arbeiten ausmache, müssen wir erkennen, dass es sehr unterschiedliche Zugänge zum Wissenschaftsbegriff gibt. Drei ausgewählte Definitionen mögen dies verdeutlichen:
7
7
7
10
Wissenschaft stellt eine »architektonische Einheit« dar, ein nach Prinzipien geordnetes Ganzes von Aussagen, das der Erkenntnis dienen soll (Diederichsen 1972, S. 1). Wissenschaft ist das Streben nach systematisiertem Wissen durch Beobachtung. Der Begriff meint also eine Methode, nämlich die systematische Erhebung und Bewertung von Information. Er meint aber ebenso ein Ziel, nämlich die Entwicklung von Prinzipien, die die erhobene Information erklären (Davison u. Neale 1988, S. 139 f.). Wissenschaft ist dort, wo diejenigen, die als Wissenschaftler angesehen werden, nach allgemein als wissenschaftlich anerkannten Kriterien forschend arbeiten (Seiffert u. Radnitzky 1994, S. 391).
Wir sehen, dass sich Wissenschaft aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten lässt,je nachdem, ob auf das komplexe Wissenschaftssystem, auf den methodengeleiteten und zielgerichteten Wissenschaftsprozess oder auf die tätige Wissenschaftsinstitution fokussiert wird. Bei der ersten Definition (Diederichsen) schimmert noch etwas von der Tradition der Aufklärung durch, einer entscheidenden Epoche in der Wissenschaftsgeschichte, als es wichtig wurde, nicht nur das Geschwisterpaar »Mythos« und »Logos« voneinander zu lösen, sondern auch das Verhältnis von Wissenschaft und Philosophie zu präzisieren. Während in der Antike Philosophie und Wissenschaft als gleichbedeutend galten, fungierte im Mittelalter die Philosophie – und häufiger noch die Theologie – als Leitwissenschaft, der sich die Einzeldisziplinen unterzuordnen hatten.Spätestens im 18.Jahrhundert entwickelten dann die neuen, aufstrebenden Wissenschaften das Selbstverständnis, nicht mehr primär von den allgemeinen Prinzipien der Philosophie / Theologie auszugehen, sondern eigene, empirisch gestützte Theorien aufzustellen und daraus einzelne Gegebenheiten abzuleiten. Daraus erklärt sich ihr besonderes Bestreben,Wissenschaft als autonomes, den eigenen Normen und Maßstäben verpflichtetes System zu konstituieren.
220
10
Kapitel 10 · Wie sich die Wissenschaft ihr Wissen schafft
In der zweiten Definition (Davison u. Neale) klingt an,dass im 20.Jahrhundert die Emanzipation der Wissenschaft (bzw. der Wissenschaften) von der Philosophie vollzogen war und nun eine Grenzziehung zwischen Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft immer wichtiger wurde. Allein die Formulierung persönlicher Erfahrungen und die Abstrahierung zu einer Theorie – so das Postulat – stellt noch keineswegs einen wissenschaftlichen Vorgang dar; es kommt darauf an, unter Verwendung einer definierten Terminologie und anerkannter Beobachtungsverfahren den systematisch entwickelten Hypothesen und Theorien empirischen Gehalt zu verleihen und Schlussfolgerungen zu ziehen, die einer intersubjektiven Überprüfbarkeit standhalten. Die dritte Definition (Seiffert u. Radnitzky) überzeugt uns auf den ersten Blick vielleicht am wenigsten,weil sie – fast lapidar und nicht weit entfernt von Sartres existentialistischem Leitsatz »Der Mensch ist, was er tut« – allein auf den Ort und das Handeln der Wissenschaft rekurriert.Doch hier besticht im Grunde nicht die explizite Aussage, sondern die implizite Absage: Verzichtet wird darauf, die Wissenschaft als einheitliches System oder einheitlichen Prozess fassen zu wollen; konstatiert wird hingegen, dass die Wissenschaften gegenwärtig zwar sehr fruchtbar in der Vermehrung empirischer Einsichten und theoretischer Einheiten sind, sich jedoch auf keine kohärente, einheitliche Grundlage ihres Tuns mehr verständigen können. (Im Abschn. 10.1.4 wird darauf zurück zu kommen sein.) Andersherum ist die dritte Definition auch so zu verstehen:Wissenschaft lässt sich nicht losgelöst vom Ort ihres Geschehens bestimmen. Gemeint ist damit weniger die spezifische Forschungseinrichtung, Universität oder Hochschule, sondern vielmehr das Publikationsorgan und die Rezeption der publizierten Erkenntnisse innerhalb der »science community«.Zugespitzt findet sich dies in der Forderung, von einem Wissenschaftler nur dann zu sprechen,wenn er »zumindest in den beiden letzten Jahrgängen einer wissenschaftlichen Zeitschrift etwas veröffentlicht hat« (Seiffert u. Radnitzky 1994, S. 391). Versuchen wir nach all diesen Erkundungen und Abklärungen, ob denn nun Wissenschaft eher das System, den Prozess oder die Institution der
wissenschaftlichen Erkenntnis meint, ein summarisches Fazit zu ziehen, so können wir folgende Definition vorschlagen: Wichtig Wissenschaft soll hier verstanden werden als die Suche nach Erkenntnis und Wahrheit unter Anwendung definierter und reflektierter Systeme und Modelle;sie findet statt in wissenschaftlich anerkannten Institutionen und Organen.Vorläufiges – und immer wieder zu modifizierendes – Ergebnis des wissenschaftlichen Prozesses ist ein zusammenhängendes,folgerichtig aufgebautes Gebiet von Erkenntnissen der Einzeldisziplinen und ihre Verknüpfung mit Erkenntnissen benachbarter Disziplinen. Wesentlicher Bestandteil jeder Wissenschaft ist die planmäßige Darstellung, Begründung und Vermehrung der wissenschaftlichen Erkenntnis in Forschung und Lehre.
10.1.3 Zur Aufgabe
der Wissenschaftstheorie und Methodologie Wir haben gesehen, dass ein Verständnis von Wissenschaft nur möglich ist, wenn wir die »science community« nach übergeordneten Gliederungsgesichtspunkten begreifen und nicht nur in der Addition Hunderter von Teilbereichen und ihrer Ordnung nach Disziplinen und Fakultäten. Befassen wir uns jetzt mit der Frage, was die Wissenschaftstheorie kennzeichnet und worin ihre Aufgabe besteht. Wissenschaftstheorie hat die Wissenschaft(en) selbst zum Objektbereich. Sie analysiert die Grundlagen und die Methoden der Wissenschaften und steht in naher Verwandtschaft zur Erkenntnistheorie (Epistemologie), welche die Bedingungen der Möglichkeit wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung überhaupt erörtert. Während also die Erkenntnistheorie sich zuspitzen ließe auf die Frage, ob denn »objektive« Erkenntnis der Welt überhaupt möglich sei, klärt die Wissenschaftstheorie,was es zu beachten gilt,wenn man sich dar-
221 10.1 · Wissenschaftstheoretische Grundsätze
an macht, »ungeordnetes (mythologisches) Wissen in geordnetes, begriffliches, von systematischen Fragen, Hypothesen, Theorien und Urteilen geprägtes Wissen umzuwandeln« (Danzer 1995, S. 26). Wann immer Forscherinnen und Forscher ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse publizieren bzw. rezipieren, tun sie dies nicht nur auf der inhaltlichen Ebene; sie erläutern stets auch die Wege ihrer Erkenntnisgewinnung und ihrer Schlussfolgerungen, also die begriffliche und methodische Logik ihrer Forschung. Sie verpflichten sich zur Verwendung definierter Terminologien und systematischer Strategien der Hypothesen und Theoriebildung sowie zur intersubjektiven Überprüfbarkeit ihrer Forschungsergebnisse. Sobald sie eine – zur bislang vorherrschenden wissenschaftlichen Meinung konkurrierende – Theorie aufstellen, müssen sie sowohl mit methodologischer als auch mit wissenschaftstheoretischer Kritik rechnen. In diesem Sinne dienen Analysen auf der Ebene der Wissenschaftstheorie dazu, bestimmte Vorgehensweisen bei der Forschung zu klären,zur Entwicklung einer angemessenen Methodologie und einer arbeitsfähigen Methodik beizutragen und die Basispostulate bestimmter Wissenschaftskonzeptionen zu reflektieren (Esser et al. 1977, S. 27). Ob das immer funktioniert, sei dahingestellt. Manchmal drängt sich eher der Eindruck des »anything goes« auf, das der Philosoph Paul Feyerabend für das vorherrschende Prinzip der Wissenschaftspraxis hält.Aber Wissenschaft ist alles andere als eine chaotische Tätigkeit, auch wenn es grundsätzlich im Forschungsprozess immer um das sich wiederholende Zusammenspiel von kreativem Einfall und kritischer Prüfung geht. Zusammenfassend können wir feststellen: Wichtig Allgemeine Wissenschaftstheorie befasst sich mit der Reflexion des Wissenschaftsbegriffes und der Kriterien der Wissenschaftlichkeit.Spezielle Wissenschaftstheorie untersucht die Voraussetzungen, Ziele, Begriffe und Aussageformen der einzelnen Wissenschaft (Braun u. Radermacher 1978, S. 673).
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Sprechen wir nun von Methodologie (griech.: meta: zu etwas hin; hodos: der Weg) und machen gewissermaßen einen weiteren Schritt von der Wissenschaftstheorie hinein in das konkrete Arbeitsfeld der Forschung. Zur kritischen Begutachtung steht die Frage, welchen instrumentellen Wert eine bestimmte Methode, Hypothese oder Theorie für das angestrebte Forschungsziel besitzt. Die Entscheidung über solche Fragen könnte die Wissenschaftlerin / der Wissenschaftler intuitiv fällen. Zu den Anforderungen wissenschaftlichen Arbeitens gehört es aber, die eigenen methodologischen Entscheidungen zu reflektieren und transparent zu machen. Wenn wir unter Methodologie die kritische Prüfung der jeweils verwendeten Methoden zur rationalen Problemlösung im konkreten Erkenntnisbereich verstehen, dann deutet sich an, dass ein ganzes Methodenspektrum zur Verfügung steht, welches sich je nach Disziplin und Fragestellung als mehr oder weniger geeignet erweist. Theorien der physikalischen Messung, statistische Erhebungsverfahren, hermeneutische Textanalysen, projektive Diagnoseverfahren beispielsweise können nur dann zum angestrebten Erkenntnisfortschritt führen,wenn sie präzise zur jeweiligen Forschungsfrage »passen«.Insofern ist auf jedem Fachgebiet nicht nur inhaltliche, sondern auch methodologische Kompetenz gefragt: »Eine gute Methodologie ist für den Forscher eine wichtige Ressource.« (Seiffert u. Radnitzky 1994, S. 465) Bei der Wahl der Forschungsmethode ist nun auch zu berücksichtigen, ob nach den Prinzipien der deduktiven oder der induktiven Bewährung vorgegangen werden soll.Deduktion meint: die Ableitung des Besonderen aus dem Allgemeinen; aus wahren Prämissen (Obersätzen) sollen – per gültiger Schlussregel – wahre Konklusionen (Folgesätze) gewonnen werden. Ein deduktiver Schluss ist gültig, wenn alle Prämissen wahr und die Regeln des logischen Schließens korrekt sind. Induktion meint: die Ableitung des Allgemeinen aus dem Besonderen; aus der Beobachtung von wahren Einzelfällen wird – per Erweiterungsschluss – ein allgemeines Gesetz formuliert.Ein induktiver Schluss ist gültig, solange die gewonnene Gesetzesaussage nicht falsifiziert wird.Die Falsifikation bedeutet das Erbringen des Nachweises,dass eine Aussage falsch
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Kapitel 10 · Wie sich die Wissenschaft ihr Wissen schafft
ist, während demgegenüber die Verifikation den Wahrheitsnachweis meint. Beispiel Befragen wir 50 Studierende, ob ihnen das Gefühl der Angst vor Prüfungen vertraut sei, und antworten uns dann alle 50 mit »ja«, so gelangen wir auf dem Wege des Induktionsschlusses zu der Aussage: »Prüfungen lösen Angst aus!« Wir möchten nun unsere Schlussfolgerung verifizieren und befragen eine Kontrollgruppe mit weiteren 50 Studierenden;49 von ihnen äußern sich ebenfalls mit »ja«, bis der 50. uns »nein« zur Antwort gibt, womit unsere Aussage – in ihrer beanspruchten Allgemeingültigkeit – falsifiziert, also nicht mehr gänzlich haltbar ist und zumindest der Modifikation bedarf.
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10.1.4 Zum Begriff des Paradigmas
In der Wissenschaft wird gern gestritten.Innerhalb einzelner Teildisziplinen, zwischen diesen oder unter ganzen Wissenschaftsbereichen ist die Auseinandersetzung, der Streit die häufigere Erscheinung als der einvernehmliche Konsens.Manche beklagen das und verstehen nicht, wie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler täglich Tür an Tür forschen können und sich dann auf dem Flur geflissentlich aus dem Wege gehen.Was sich bisweilen zur persönlichen Animosität auswächst, ist ursprünglich oft nichts weiter als ein fachlicher Disput, eine gegensätzliche (z. B. wissenschaftstheoretische) Position. Bei ihren Auseinandersetzungen sind die Mitglieder des akademischen Betriebes natürlich nicht frei von Konkurrenz und Profilierung, in der Tiefe geht es aber meist um Grundlagenstreits, Theorienstreits oder Methodenstreits. Bei den wirklich bedeutsamen Disputen um die Grundlagen einer Wissenschaft geraten nun von Zeit zu Zeit sogar die fundamentalen Annahmen und Gesetze einer ganzen akademischen Disziplin ins Wanken. Keine Fakultät bleibt davon verschont. Der noch nicht lange verklungene Historikerstreit in der Geschichtswissenschaft oder der Grundlagenstreit in der Physik zu Beginn des 20. Jahrhunderts haben dies gezeigt und sind nur zwei Bei-
spiele eines grundsätzlichen Phänomens: Das ganze Wissenschaftsverständnis kann in Frage stehen, zumindest der Wahrheitsanspruch oder – im Falle der Methodenstreits – die Tatsache, dass allzu divergente Begriffe und Methoden zu einer Zersplitterung einer Wissenschaftsdisziplin führen können. In diesem Sinne gibt es also in der Wissenschaft mitunter fundamentale Brüche mit radikaler Änderung der vorherrschenden Denkweise oder Denkrichtung. Wenn man bereit ist zu konstatieren, dass wissenschaftliches Denken, Forschen und Lehren stets eingebunden ist in die sozialen und kulturellen Bedingungen der jeweiligen Zeit, sich also keineswegs in einem Elfenbeinturm abspielt, wie dies gern romantisch verklärt oder sarkastisch verurteilt wird, dann sind solche wissenschaftlichen Streits, Brüche und Wechsel nicht verwunderlich. Erst dadurch nämlich, dass jede Wissenschaft – die sich zur Aufgabe macht, eindeutiges Wissen zu schaffen – verkündet, ihre Erkenntnisse seien wahr und überprüfbar, entsteht ein überhistorischer, vom sozialen und kulturellen Umfeld unabhängiger Anspruch. Wenn nun in einer Wissenschaftsdisziplin alte Theorien und Erkenntnisse über Bord geworfen werden, um den neueren Forschungsergebnissen Platz zu machen,wenn also Wissenschaft sich weiterentwickelt, dann muss entweder die alte Theorie / die alte Erkenntnis falsch gewesen sein – oder die alte Wahrheit muss in der neuen Wahrheit aufgehoben sein. Unter dieser Problemstellung kommt dem Begriff des Paradigmas und besonders dem des Paradigmenwechsels eine besondere Bedeutung zu: Ein Paradigma (griech: Beispiel,Muster) ist – nach T.S. Kuhn (Kuhn 1976) – eine Menge von Grundannahmen, die das jeweilige Gebiet wissenschaftlicher Forschung eingrenzen,indem sie spezifizieren,welche Begriffe als legitim gelten und welche Methoden erlaubt sind, um Daten zu sammeln und zu interpretieren. Ein Paradigma hat tiefgreifenden Einfluss darauf,wie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu einem gegebenen Zeitpunkt vorgehen. Kuhn differenziert bei der Entwicklung der Wissenschaft zwischen Phasen der »normalen« und der »außerordentlichen« Wissenschaftsentwicklung. Eine »normale« Phase liegt vor, wenn sich ein Paradigma in der Wissenschaft durchgesetzt hat, d. h. wenn für die Forscherin / den For-
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scher ein kohärentes Normensystem existiert, das Aussagen darüber enthält, welche Theorien und Methoden aktuell als anerkannt gelten und welche Fragestellungen für relevant gehalten werden. Zwar sind solche Paradigmen Gegenstand des wissenschaftstheoretischen Diskurses, sie werden jedoch selten als Normensysteme explizit gemacht, keiner verkündet sie lauthals, denn das würde ja dem Anspruch der »freien«, nicht an Dogmen gebundenen Wissenschaft zuwiderlaufen.Gleichwohl sind diese Normensysteme unabdingbarer Bestandteil jeder Wissenschaft, also durchaus fest institutionalisiert. Sie finden ihren Niederschlag nicht zuletzt in der Ausbildung und in den Karrierekriterien. (So kann z. B. gegenwärtig kein(e) wissenschaftlich ambitionierte(r) Psychiaterin/Psychiater auf einen Lehrstuhl hoffen, die/der sich nicht der Neurotransmitter-Hypothese verschrieben hat,also der Annahme,dass psychische Krankheiten auf Störungen im Serotonin-, Dopaminoder sonstigen Transmitter-Haushalt zurückzuführen seien.) Erst wenn der Anteil der innerhalb des herrschenden Paradigmas unlösbaren Probleme – Kuhn spricht hier von »Anomalien« – größer wird, besteht die Chance, dass eine Periode der Unsicherheit, also der »außerordentlichen Wissenschaft« einsetzt, die zu einer wissenschaftlichen Revolution führen kann. In einer solchen Epoche entstehen dann innerhalb der Forschungsgemeinschaft in der Regel mehrere konkurrierende Paradigma-Kandidaten, bis schließlich ein siegreiches Paradigma die »science community« erneut für eine Periode »normaler Wissenschaft« auf die Lösung vorgegebener Probleme verpflichten kann.
10.1.5 Zum Ringen der Wissenschaft(en)
um Erkenntnis Tauchen wir für einen Moment noch etwas tiefer in die Wissenschaftsgeschichte ein, so stellen wir fest: Seit fast dreitausend Jahren stehen sich zwei Ringer – nennen wir sie Mythos und Logos – gegenüber und kämpfen im griechisch-römischen Stil um die Herrschaft unseres Denkens und Erkennens. Der Mythos (griech.: Ursprungswissen) ist – vom Anspruch der Wissenschaften her – natürlich der Unterlegene, der Lorbeerkranz gebührt dem Logos
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(griech.: Vernunftwissen). Lediglich der Theologie wird – wissenschaftstheoretisch – noch zugestanden, Offenbarungserkenntnis und Vernunfterkenntnis zusammen zu bringen, gewissermaßen mit den beiden Hälften eines Fernglases seelischgeistige Einsicht zu erlangen. Unter den soziokulturellen Bedingungen des Mittelalters konnte das nur bedeuten,dass Erkenntnis im eigentlichen Sinne allein in die Kompetenz der Theologie fiel. Im Zeitalter der Aufklärung hingegen traten Mythos und Logos, also das »von alters her« Geglaubte und das »aus Begründungen« Gewusste in einen Gegensatz zueinander. Das Prinzip der Vernunft bestritt den Geltungsanspruch des religiös-mythischen Denkens.Aus der Formel vom »Glauben und Wissen« als zweier sich ergänzender und aufeinander angewiesener Erkenntnisformen wurde die Alternative vom »Glauben oder Wissen«. Das beweisbare Wissen behauptete alleinigen Geltungsanspruch und ließ den Glauben als »bloß subjektives« und damit objektiv nicht begründbares Fürwahrhalten hinter sich (Menne u. Türk 1981, S. 103). In den letzten zweihundert Jahren konnte sich unser Ringer Logos als überzeugender Sieger fühlen, als Meister aller Klassen, denn seine strengen Prinzipien der systematischen Vernunfterkenntnis sollten für alle Wissensbereiche gelten; Kontrahent Mythos schien ein für alle Mal geschlagen. Nicht nur die Theologie, sondern auch die Philosophie, die sich über Jahrhunderte als Universalwissenschaft verstanden (und die »Universalien«, also die »ewigen Wahrheiten« zu ergründen versucht) hatte, geriet durch das naturwissenschaftliche Erkenntnisideal und den Alleinanspruch empirischer Verfahren in die Krise. Heute sind wir uns nicht mehr so sicher,ob wissenschaftliche Aussagen den behaupteten Anspruch auf absolute Geltung wirklich einlösen können. Zu häufig stellen wir fest, dass sie nur vorläufig »stimmen«, nur als Hypothesen angesehen werden können, bis sie ihren Erkenntniswert eingebüßt und neuen Hypothesen Platz gemacht haben. Folglich tauchen auch Zweifel an der Vernünftigkeit einer angeblich »objektiven« Vernunft auf: Das Vertrauen auf die Wissenschaft, erst recht das Vertrauen auf die Lösbarkeit aller menschlichen Probleme durch die Wissenschaft ist – trotz des enormen Erkenntniszuwachses – in letzter Zeit eher kleiner als größer geworden. Denn keiner
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Kapitel 10 · Wie sich die Wissenschaft ihr Wissen schafft
kann wohl ernsthaft die Augen davor verschließen, dass der mit dem wissenschaftlichen Fortschritt Hand in Hand gehende technische Fortschritt Folgeprobleme erzeugt, die den Sinn manch wissenschaftlicher Entdeckung infrage stellen, weil ihre Rückwirkungen die humane Existenzweise bedrohen. Aber bevor wir in eine allgemeine Klage über die Entzauberung der Welt durch Wissenschaft und Technik abgleiten, kehren wir zurück zu unserem Thema: Festzuhalten bleibt,dass eine Trennung von Wissenschaft einerseits und Alltagswelt oder Lebenswelt andererseits heute nicht mehr haltbar ist. Die Fragestellungen der Wissenschaft werden wesentlich durch lebensweltliche Zusammenhänge,ja durch eindeutige Forschungsaufträge industrieller oder öffentlicher Interessenten bestimmt, die Resultate der Wissenschaft(en) wirken zurück auf die Lebenswelt und gestalten diese fortwährend um. Der Biologe Jens Reich bemerkt in diesem Zusammenhang,
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dass die Aussagen der Wissenschaften in die Kultur der Gesellschaft hineingenommen werden und sie fundamental verändern. Ich würde wie viele andere Kollegen gern bei meinen Leisten bleiben, wo ich mich sicher fühle. Mein Problem ist, dass das nicht mehr durchhaltbar ist. Alle Naturwissenschaftler werden heute aus dem Schneckenhaus herausgeholt, ja energisch herausgerufen. Sie sollen Verbindliches zur Gefährdung durch Prione, zur Atomenergiepolitik, zum Kohlendioxydausstoß, zum Anstieg des Meeresspiegels, zur Umleitung des Golfstroms, zu Aids und zum Ozonloch sagen, und es soll nicht die vorsichtige Situationsbeschreibung des wissenschaftlichen Diskurses sein, sondern handhabbare Aussage, klare Handlungsanweisung (Reich 2000, S. 41).
Hier nun hat Wissenschaftstheorie eine Aufgabe, nämlich nicht nur die »internen« Verfahrensweisen der Akkumulierung empirisch wahren und logisch korrekten Wissens zu überprüfen,sondern auch die »extern« vorgegebene soziale Funktion der Wissenschaft zu reflektieren.Damit wird deutlich,dass
»die Sache selbst«, um die es im wissenschaftlichen Prozess geht, nicht nur gebietsmäßig in den verschiedenen Wissenschaften und Wissenschaftsgruppen jeweils eine andere ist; sie enthält auch in der Art ihrer wissenschaftlichen Befragung Rückverweisungen auf das fragende Subjekt, auf dessen Forschungsinteresse bzw. -auftrag und seinen lebensweltlichen Hintergrund. Folglich ist kein Forschungsobjekt »an sich« da und wartet nur darauf, von einem Forschungssubjekt aufgespürt und in seinen Eigenschaften wahrgenommen zu werden. Bei näherem Hinsehen erweist sich jedes Forschungsobjekt,jede »Sache selbst« als durchaus abhängig von der Art der Fragestellung und ihrer wissenschaftlichen Behandlung. Ebenso müssen wir uns wohl von dem Gedanken der einen Wissenschaft verabschieden.Wir hatten schon bei der Darstellung und Analyse verschiedener Definitionen erfahren, wie schwierig es ist, Wissenschaft als ein Ganzes zu begreifen und nicht von den Wissenschaften zu sprechen. Es scheint kaum mehr vertretbar, an solch einer monistischen Konzeption (in der philosophischen Lehre des Monismus ist alles Seiende auf ein einheitliches Prinzip zurückzuführen) von Wissenschaft festzuhalten; versuchen wir es doch, dann müsste es uns gelingen, so etwas wie eine Grundwissenschaft, ein Kerngehäuse aller Wissenschaften herauszuarbeiten. Von solch einer einzigen Wissenschaft (»science«) ist in der öffentlichen bzw.journalistischen Alltagssprache und auch in der politischen Entscheidungsfindung gern die Rede – besonders dann, wenn es nicht nur um Wissen, sondern auch um Macht geht: »Die Wissenschaft hat herausgefunden…«, solch ein Satz wirkt wie die Verkündigung einer unumstößlicher Wahrheit und ist in aller Regel verknüpft mit politischen oder kommerziellen Interessen. Auch im akademischen Betrieb selbst hat es immer wieder ernstzunehmende Versuche gegeben,von der einen Wissenschaft auszugehen,so etwas wie eine Basiswissenschaft zu konstituieren, also für die verschiedenen Disziplinen ein gemeinsames methodologisches Grundgerüst zu erstellen. Überzeugend ist das bisher nicht gelungen, weil jede »Unifizierung« der verschiedenen Wissenschaften nur um den Preis der Vernachlässigung feiner, jedoch wesentlicher Unterschiede in den Einzeldisziplinen gelingen kann (Ströker 1973,S.7).
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10.1.6 Zu den Systematisierungsversuchen
der Wissenschaften Seit mehr als 150 Jahren wird die akademische Landschaft von der dualen Gliederung in Naturund Geisteswissenschaften geprägt. Auch heute noch beherrscht sie unseren Sprachgebrauch, obwohl sie fachlich eigentlich nicht mehr haltbar ist und längst abgedankt haben müsste. Denn zwischen den Natur- und Geisteswissenschaften, zwischen den quantitativen und qualitativen Forschungsansätzen,
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zwischen den »harten« und den »weichen« Wissenschaften verläuft gerade nicht eine zusammenhängende, einheitliche Frontlinie, sondern wir haben eher ein komplexes Go-Brett vor uns, auf dem viele Spieler mit verschiedenen Kosmologien gleichzeitig spielen (Latour 2000, S. 47).
Schon in der zugrunde liegenden Dichotomie von »Natur« und »Geist« spiegelt sich ja ein Schichtenmodell des 19.Jahrhunderts wieder,in welchem das Bild des Aufstiegs vom Anorganischen über das Organische zum Psychischen und weiter bis hin zum Geistigen propagiert wurde. Ist eine Trennung von »Natur« und »Geist« aber heute noch stichhaltig,ist z. B. das Psychische mehr der Natur- oder der Geisteswissenschaft zuzuordnen? Es wäre wirklich an der Zeit, sich von dieser dualistischen Gliederung, die – wie gesagt – in die wissenschaftstheoretische Auseinandersetzung des 19. Jahrhunderts gehört, zu verabschieden. Für Jürgen Habermas bietet sich eher eine triale Gliederung an, die von den jeweiligen Erkenntnisinteressen der Wissenschaftsbereiche ausgeht. Seine Gliederung lautet daher: a) die empirischanalytischen Wissenschaften, die sowohl die »klassischen« Naturwissenschaften als auch die empirischen Sozialwissenschaften umfassen; b) die historisch-hermeneutischen Wissenschaften, die philosophisch-philologisch-kulturelle Gegenstände zum Thema haben und eher vergangenheitsorientiert sind; und c) die systematischen Handlungswissenschaften, zu denen die Soziologie und die Politologie, aber z. B. auch die Sozialarbeitswissenschaft oder die Pflegewissenschaft zu zählen wären (Ha-
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bermas 1973). Aus heutiger Sicht ergänzungsbedürftig ist zweifellos, dass mit d) die technischen Wissenschaften (oder: »Ingenieurswissenschaften«) in ihrer Anwendungsbezogenheit nicht als klassische Naturwissenschaften,sondern als eigenständiger Wissenschaftsbereich gerechnet werden sollten (Seiffert u. Radnitzky 1994, S. 344 ff. u. S. 394 ff.). Nun hat die Wissenschaftsgeschichte ausreichend gezeigt, wie schwierig bis unmöglich es ist, absolut stimmige Einteilungen der Wissenschaftsbereiche vorzunehmen.Jede Klassifikation ist so etwas wie ein Artefakt, ein künstlich herbeigeführter – und meist scheiternder – Versuch, in einen fließenden Strom Schleusen und Staumauern einzuziehen. Verbindliche Abgrenzungen der Wissenschaftsbereiche sind auch deswegen so schwer zu treffen,weil der Fokus der einen Klassifikation eher auf die methodologische Ebene abzielt,ein anderer eher auf die institutionelle Ebene, ein dritter von den Gegenstandsbereichen her seine Differenzierungen vornimmt. Da hier keine Einigung zu erwarten ist,soll zum Schluss lediglich der zuvor verwendete Begriff des Erkenntnisinteresses – allerdings in etwas anderem Sinne als bei Habermas – näher ausgeleuchtet werden. Im Grunde lassen sich drei unterschiedliche forschungsleitende Erkenntnisinteressen ausmachen: 4 a) Das phänomenale Erkenntnisinteresse: Hier steht die Frage nach den faktischen Gegebenheiten und ihren Merkmalen im Vordergrund. Dabei wird nicht nur die Oberfläche der Phänomene analysiert, sondern auch deren Wesensmerkmale, also sowohl der querschnittliche Zustand einer Erscheinung als auch ihr längsschnittlicher Verlauf.Die umgangssprachliche Frage würde hier lauten: »Was ist los?«, »Was geschieht?« 4 b) Das kausale Erkenntnisinteresse: Hier konzentriert sich die Betrachtung auf die Ursachen der Phänomene, so wie es dem menschlichen Denken immer zu eigen war,den »wahren« Hintergründen der Dinge auf die Spur kommen zu wollen.Umgangssprachlich könnte man fragen: »Warum ist das so?«, »Warum geschieht es?« 4 c) Das aktionale Erkenntnisinteresse: Hier steht die Frage nach den Möglichkeiten des Handelns im Mittelpunkt. Dies scheint ebenfalls ein
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grundsätzlich menschlicher Impuls zu sein, nämlich das Interesse an praktischer Intervention, an strategischer Beeinflussung der Phänomene. Hier könnten wir umgangssprachlich fragen: »Was ist zu tun?« (Eberhard 1999, S. 19) Mit diesen letzten Ausführungen schließen wir die Überlegungen zum Sinn und Verfahren von Wissenschaft und Wissenschaftstheorie ab und wenden uns spezifischen und konkreten wissenschaftstheoretischen Ansätzen zu. Deren Auswahl und Reihenfolge ist durchaus subjektiv und diskutierbar, wir meinen aber, dass es für Studierende wie auch Lehrende der Pflegepädagogik sinnvoll sein kann, ein möglichst breites Spektrum unterschiedlicher wissenschaftstheoretischer Perspektiven kennen zu lernen.
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Skizzen zu verschiedenen wissenschaftstheoretischen Ansätzen
10.2.1 Was ist Empirismus?
Was ist Positivismus? Studierende oder Lehrende sozialwissenschaftlicher Disziplinen müssen sich von den »empirischen Hardlinern« des Wissenschaftsbetriebes (z. B. aus der Physik, der Biochemie, vielleicht auch der Medizin oder anderen klassisch »naturwissenschaftlichen« Disziplinen) nicht selten die kritische Frage gefallen lassen, ob denn ihre Theorien, Hypothesen oder Aussagen eigentlich den strengen Maßstäben »objektiver« Wissenschaft genügen. Nach Auffassung des empirisch-analytischen Ansatzes nämlich sollte Wissenschaft stets bestrebt sein, nur solche allgemeingültigen Gesetze aufzustellen, die frei von jeglicher subjektiven Färbung sind. Ziel aller Erkenntnis und Fundament aller Theoriebildung müsse danach allein die »Welt der Tatsachen« sein. Die Erkenntnisse müssen sich unmittelbar aus dem Wahrnehmungsakt ergeben. Dafür stehen als legitime wissenschaftliche Methoden der Erkenntnisgewinnung nach Auffassung des Empirismus die Befragung, die Beobachtung und das Experiment zur Verfügung. Ursprünglich gehen die Anfänge des Empirismus zurück auf die Zeit der Aufklärung, als es er-
klärtes Ziel wissenschaftlicher und philosophischer Bestrebungen war, alle Metaphysik aus dem wissenschaftlichen Denken zu verbannen und empirisch richtige Gesetze allein aus der Beschreibung des Gegebenen abzuleiten.Als Vertreter dieser Wissenschaftsrichtung, quasi als Gründerväter von Wissenschaft überhaupt gelten in dieser Hinsicht John Locke, John Stuart Mill und Auguste Comte. Nach Comte emanzipiert sich die Menschheit nach einem »Drei-Stadien-Gesetz«: Im ersten Stadium herrscht noch das anfängliche »mythische Weltverständnis« vor; im zweiten Stadium tritt an die Stelle des Mythos die Metaphysik, also eine schon differenziertere Betrachtung jener Dinge und Sphären, die über die »reine Natur« hinausgehen (z. B. Gott, Freiheit, Unsterblichkeit u. ä.), bis die Metaphysik im dritten Stadium von den positiven Wissenschaften abgelöst wird, die sich auf Aussagen über das Gegebene beschränken. Eine Zeit lang wurde diese wissenschaftstheoretische Richtung auch als Positivismus bezeichnet. Nun hat der Begriff Positivismus natürlich nichts mit dem Gegensatzpaar positiv-negativ zu tun, sondern beschreibt das Bemühen, sich auf die Erkenntnis des Tatsächlichen, unzweifelbar Vorhandenen zu konzentrieren und dabei alles spekulativ Konstruierte, Metaphysische auszuschließen. Heute ist der Begriff des Positivismus im akademischen Betrieb recht negativ besetzt; nicht selten wird er von seinen Kritikern sarkastisch benutzt, um damit eine Wissenschaftspraxis zu bezeichnen, in welcher eine reine Tatsachenforschung ohne theoriegeleiteten und reflektierten Hintergrund betrieben werde. Wir stellen hier also begrifflich den Empirismus gegenüber dem Positivismus in den Vordergrund und fügen hinzu, dass die alten wissenschaftstheoretischen Grabenkämpfe (z.B.zwischen Empirismus und Hermeneutik, zwischen Naturund Geisteswissenschaften) nicht mehr die aktuellen Anforderungen an wissenschaftliche Erkenntnisprozesse widerspiegeln. Schließlich meint Empirie nichts anderes als: auf Erfahrung beruhende Erkenntnis. Nun wird niemand bestreiten, dass gerade in den Sozialwissenschaften – und für uns besonders wichtig: in der Pflegewissenschaft – »Erfahrungen« die Basis wissenschaftlicher Erkenntnis und Theoriebildung darstellen.Zu hinterfragen bleibt lediglich,auf wel-
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chem methodischen Wege Erfahrungen gewonnen wurden und wie sie ihren Niederschlag in der wissenschaftlichen Theoriebildung gefunden haben. Anders formuliert: Der Empirismus bzw. Positivismus verzichtet auf eine Analyse der Beziehung zwischen forschendem Subjekt und erforschtem Objekt, zumindest solange, wie methodisch – im Sinne des empirisch-analytischen Ansatzes – »sauber« gearbeitet wird.Erkenntnis ist somit durch die Leistung der Wissenschaften definiert und legitimiert, einer kritischen Reflexion des Erkenntnisprozesses selbst bedarf es nach Ansicht dieser Wissenschaftsrichtung nicht. Dem könnte man entgegenhalten, dass die aus kontrollierten Beobachtungen gewonnenen Erkenntnisse keine Abbildungen von Tatsachen an sich seien, sondern lediglich den Erfolg oder Misserfolg der ausgeführten Operationen zum Ausdruck brächten (Habermas 1981, S. 116). Verwenden wir also in kritischer Abwägung seiner Möglichkeiten und Grenzen den empirischen Ansatz bei der Bearbeitung pflegepädagogischer Fragestellungen, so sind einige Grundregeln zu befolgen: Von den empirisch ermittelten Wissenschaftssätzen wird verlangt, dass sie sich nach den Gesetzen der formalen Logik richten, für ihren Realitätsbereich Allgemeingültigkeit besitzen, keine subjektiven Einschätzungen und Wertungen enthalten und jederzeit an der Wirklichkeit überprüfbar sind. In der konkreten Forschungspraxis ist bei empirisch-analytischer Vorgehensweise eine klare Schrittfolge einzuhalten, die da lautet: 4 1. Formulierung des Forschungsproblems (Idee – Fragestellung – Hypothese – Auftrag) 4 2. Konstruktion des Erhebungsinstruments (Definitionen – Konzept – Operationalisierung) 4 3. Festlegung der Untersuchungsform (Untersuchungsebene – Kohorten-Design) 4 4. Test des Erhebungsinstruments (Definition der Population – Stichprobeverfahren) 4 5. Datenerhebung (Durchführung von Befragung – Beobachtung – Experiment) 4 6. Aufbau eines Datenfiles (Datenerfassung – Fehlerkontrolle – Fehlerbereinigung) 4 7. Datenanalyse (Bildung von Skalenwerten – Statistik – Zusammenhangsanalysen) 4 8. Umsetzung der Forschungsergebnisse (Forschungsbericht – praktische Vorschläge).
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Im Sinne einer präzisen Handlungsanleitung bei der Bearbeitung wissenschaftlicher Problemstellungen kann der empirische Ansatz also durchaus gewinnbringend auch im Bereich der Humanwissenschaften Einsatz finden (Dieckmann 1995). Als Wissenschaftstheorie, die sich beispielsweise in Form einer Wissenschaftslogik nichts Geringeres zur Aufgabe machte als die Formulierung einer Einheitswissenschaft, stieß der Empirismus an seine Grenzen und scheiterte nicht zuletzt daran, kein treffliches Kriterium angeben zu können für die Unterscheidung zwischen sinnvollen und sinnlosen Sätzen.
10.2.2 Was ist Phänomenologie?
Phänomenologie (griech. phainomenon: das Erscheinende) ist ein im philosophischen und wissenschaftstheoretischen Kontext,aber auch auf methodologischer und bisweilen vorwissenschaftlicher Ebene vielfältig verwendeter Begriff.Zunächst verstehen wir ja unter Phänomenen diejenigen Dinge, die sich unseren Sinnen zeigen. Wie diese nun in unser Bewusstsein dringen, ob sie »an sich« und »für sich« – also außerhalb unserer individuellen Wahrnehmung – überhaupt sind, wie sie von uns verstanden,verarbeitet und einsortiert werden, ob sie einen Wesenskern besitzen, all diese Fragen sind gerade in jenen wissenschaftlichen Disziplinen von besonderer Bedeutung, deren Thema das sinnhafte menschliche Erleben und Verstehen ist, also in der Psychologie, der Psychopathologie, der Pädagogik, der Pflegewissenschaft und ähnlichen Bereichen. Noch für Immanuel Kant (1724–1804) bedeutete Phänomenologie allein die Lehre von den empirischen Erscheinungen. Georg W. F. Hegel (1770– 1831) verstand unter Phänomenologie den dialektischen Erkenntnisprozess, der von der sinnlichen Naivität hin zum absoluten Wissen führt. Edmund Husserl (1859–1938) setzte sich kritisch von Kant und Hegel ab und gilt heute als wichtigster Vertreter der Phänomenologie. Seine Devise »zu den Sachen selbst!« erlebte in den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts eine Renaissance, wurde einerseits vom Existenzialismus – die französische Erkenntnistheorie des 20.Jahrhunderts sieht in Husserl den bedeutendsten Philosophen seit der
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Kapitel 10 · Wie sich die Wissenschaft ihr Wissen schafft
griechischen Antike (Seiffert u. Radnitzky 1994, S. 144) – aufgegriffen und im sozialwissenschaftlichen,vor allem im pädagogischen Bereich mit einer Hinwendung zur »Lebenswelt« verknüpft. Ausgangspunkt der Phänomenologie ist für Husserl »das Seiende«, wie es dem Bewusstsein ursprünglich erscheint – also das, was vor und trotz aller Theoriebildung selbst gegeben ist. Nichts soll mehr als wirklich wissenschaftlich gelten,was nicht durch vollkommene Existenz begründet ist – nur die unmittelbar gegebene Sache soll sprechen. Ziel aller Phänomenologie soll es sein, nüchternes und klar nachvollziehbares Arbeiten in beständigem Kontakt sowohl mit der unbefangenen Lebenserfahrung als auch mit der wissenschaftlichen Empirie zu ermöglichen. An dieser Stelle greift Husserl positivistische Ansätze auf und stellt fest:
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Sagt »Positivismus« soviel wie absolut vorurteilsfreie Gründung aller Wissenschaften auf das Positive, originär zu Erfassende, dann sind wir die echten Positivisten (ebd., S. 251).
Die Eigenart der phänomenologischen Methode besteht folglich darin, das Gegebene unvoreingenommen und so genau und vollständig wie möglich zu beschreiben, jedoch nicht bei der reinen Deskription stehen zu bleiben, sondern das allgemeine Wesen, die Idee einer Sache zu ergründen (Danner 1994). Hier nun verabschiedet sich die Phänomenologie bereits wieder vom empirischen bzw. positivistischen Ansatz, denn sie lehnt es ab, ihre Erkenntnisse auf bestimmte Vorannahmen zu gründen und theoriegeleitet vorzugehen; gerade solche Vorannahmen würden zu einer selektiven Wahrnehmung führen und der realen Welt und den in ihr lebenden Individuen nicht gerecht werden (Schoppmann u. Pohlmann 2000, S. 362). Theorien gefährden also – nach phänomenologischer Sichtweise – die Unbefangenheit des forschenden Subjekts,denn sie schieben sich zwischen die menschliche Erfahrung und »die Welt an sich« und verbauen den Blick auf »die Sache selbst«. Folglich möchte die Phänomenologie keineswegs nur empirisch gewonnene, theoriegestützte Beobachtungen gelten lassen, sondern auch sinnlichleibliche Erfahrungen, also »vorwissenschaftliche« Dimensionen berücksichtigen. Insofern ist der Er-
fahrungsbegriff Husserls entschieden weiter gefasst als der empirische. Für Husserl besitzt der Mensch die Grundfähigkeit, sich von etwas zu unterscheiden und sich damit darauf zu beziehen. Dies ist Voraussetzung dafür, überhaupt Probleme stellen zu können und an ihrer Lösung zu arbeiten. In seinen Schriften geht es ihm auch um die Frage, welche Bedingungen zwischen dem Ich und seiner Lebenswelt bestehen müssen, damit sich der Mensch der Welt und seiner selbst bewusst werden kann (Krüger 1999, S. 120). Die Lebenswelt rückt deswegen ins Zentrum seines Interesses,weil sie für Husserl nicht nur als elementarster Orientierungszusammenhang menschlicher Subjektivität angesehen werden kann, sondern auch als eine Form konkret überschaubarer Intersubjektivität, als erste und niederste Stufe der Vergemeinschaftung, wie Husserl es nennt (Seiffert u. Radnitzky 1994, S. 249). Die aktuelle Rezeption der Phänomenologie, die nicht nur von Edmund Husserl, sondern auch von so bedeutenden Philosophen wie Max Scheler, Nicolai Hartmann, Martin Heidegger, Karl Jaspers, Jean-Paul Sartre und Maurice Merleau-Ponty (Waldenfels 1992,S.9) geprägt wurde,hat mit der bereits erwähnten Rehabilitierung vorwissenschaftlicher Erfahrung gerade in den Sozial- bzw. Humanwissenschaften zu tun: Wissenschaftliche Forschung kann demnach auch bedeuten, an der Binnenperspektive der »beforschten« Menschen teilzunehmen,sie zu begleiten und sie erzählen zu lassen.Das Material, das so gewonnen wird, soll erst nachträglich reflexiv und systematisch bearbeitet werden mit der ausdrücklichen Intention, die darin steckende Lebendigkeit und Ursprünglichkeit zu bewahren. Auf diesem Wege erhalten gleichzeitig die Objekte der Forschung ihren Subjektstatus zurück, werden zum »Lehrmeister« der Wissenschaft, wie es der französische Philosoph Levinas ausdrückt; diesem »Anderen«, diesem »Lehrmeister« hat die Forschung nicht nur Respekt zu zollen, sie ist ihm letztendlich auch verpflichtet (Krüger 1999, S. 124). Kritisch bleibt zu hinterfragen, ob die vermeintliche »Sache selbst« der Phänomenologie,die Husserl zu ergründen suchte, nicht immer auch eine »historisch Gewordene« sei – ob also die Einbeziehung geschichtlicher und sozialer Hintergründe bei der Betrachtung eines Forschungsge-
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genstandes keine Blockierung der eigentlichen Sicht, sondern eine notwendige Fundierung darstellt. Ferner ist – vor dem Hintergrund der sich abzeichnenden Pluralität der Vernünfte und der Vielfalt der Subjektentwürfe – »die Vision eines einheitstiftenden Bewusstseins und eines in sich konsistenten Vernunftsubjektes« (ebd., S. 125) in Frage zu stellen.
10.2.3 Was ist Kritischer Rationalismus?
Wenn wir im Alltag rationale Entscheidungen treffen, so sprechen wir damit auf unser Denkvermögen, auf unsere Vernunft an – und kennen gleichzeitig die irrationale, nicht vernünftige, nicht abgewogene,undurchdachte Seite unseres Handelns.Im wissenschaftstheoretischen Zusammenhang meint Rationalismus etwas ganz ähnliches, nämlich die Auffassung, dass wir mit Hilfe unserer Vernunft in der Lage sind, die Wirklichkeit zu erkennen und diese Erkenntnisse angemessen in unser Tun und Handeln umzusetzen (Seiffert u. Radnitzky 1994, S. 177). Nun steht der Kritische Rationalismus in enger Beziehung zum bereits beschriebenen Empirismus und zum Klassischen Rationalismus und kann als Gegenbewegung zu diesem, aber auch als dessen Weiterentwicklung verstanden werden. Der Klassische Rationalismus ging davon aus, dass es dem Menschen möglich sei, sicheres Wissen zu erlangen, also mit Hilfe der Vernunft die Wirklichkeit zu erkennen; er baute auf die Gewissheit letzter, unmittelbar einleuchtender Gründe.Der Kritische Rationalismus setzt gegen solch eine totale Vernunft die (selbst)kritische Vernunft und ist sich der Fragilität des Erkennens und des Wissens jederzeit bewusst. Bereits Sokrates unterschied scharf zwischen dem echten Wissen und dem Meinen oder Glauben, wobei er echtes Wissen dadurch gekennzeichnet sah, dass es begründet und seine Wahrheit sichergestellt sei. Nach Aristoteles weiß man etwas, wenn man den Grund erkennt, warum es so ist, und damit Gewissheit hat, dass es nicht anders sein kann. Dieses aristotelische Erkenntnisideal hat das wissenschaftstheoretische Denken bis heute erheblich geprägt. Das Musterbeispiel für ein Wissen dieser Art ist seit dem Altertum die euklidische Geo-
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metrie, die als axiomatisch-deduktives System aufgebaut ist, d. h. als ein System, in dem aus den obersten Sätzen (den Axiomen oder Postulaten) alle anderen Sätze logisch gefolgert (deduziert), d. h. unter Verwendung logischer Regeln abgeleitet werden.Alle Sätze dieses Systems scheinen in ihrer Wahrheit gesichert zu sein, die obersten durch unmittelbare Einsicht,die anderen durch logische Ableitung (Seiffert u. Radnitzky 1994, S. 178). Zwar wiesen schon die sog. Skeptiker im Altertum darauf hin, dass die Einsicht in die Wahrheit der obersten Sätze auf Illusionen beruhen könnte und daher auch die sichere Unterscheidung zwischen Wissen einerseits und Meinen bzw. Glauben andererseits durchaus illusionär sei – dennoch hielten sich Aristoteles« Überlegungen bis in die frühe Neuzeit (16.-17. Jhdt.); erst mit dem Einsetzen der Aufklärung wurden sie (z. B. durch Hume und Kant) einer schärferen wissenschaftstheoretischen Kritik unterzogen, bis sie sich schließlich im 20. Jahrhundert als nicht grundsätzlich haltbar erwiesen (selbst für die Mathematik, die »letzte Bastion der Gewissheit« axiomatisch-deduktiven Wissens, konnten Einstein und Russell ihre Gültigkeit widerlegen). Karl Popper, Hauptvertreter des Kritischen Rationalismus, der sich mit seinen Überlegungen von seinen klassischen Vorläufern abgrenzte, suchte nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis und entwickelte eine Wissenschaftslehre, die eine neue Antwort auf die Frage geben sollte, wie wir aus der Erfahrung lernen können (Popper 1984). Für Popper ist die mit dem klassischen Wissensideal verbundene Forderung nach sicherer Begründung schon deshalb fragwürdig, weil jede Erkenntnis, die man für eine solche Begründung benutzen will, selbst wieder in Frage gestellt werden kann. Daher müsse die Forderung nach absoluter Begründung (und damit auch das alte Erkenntnisideal) aufgegeben werden, weil sie »utopisch« sei, d. h. ihre Erfüllung nicht im Bereich menschlicher Möglichkeiten liege.Keine Erkenntnis sei somit absolut sicher, immer seien Irrtümer denkbar, da der Mensch bei der Lösung seiner Probleme stets fehlbar sei. Ebenso wie Popper betrachtet Hans Albert all unser Wissen als hypothetisch, als Vermutungswissen, das prinzipiell der Falsifizierung auszusetzen ist,durch die Methode permanenter Kritik erhärtet
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Kapitel 10 · Wie sich die Wissenschaft ihr Wissen schafft
und der Wahrheit näher gebracht oder verworfen wird (Albert 1981). So sind und bleiben die Resultate wissenschaftlicher Forschung letztendlich Hypothesen,deren Wahrheit nie sicher ist,die wir aber dennoch strengen Prüfungen aussetzen müssen, damit sie sich bewähren können. Immer wieder müsse davon ausgegangen werden,dass eine Theorie (z. B. die Theorie Newtons) für lange Zeit als sicher und wahr angesehen werde, bis sie durch eine neue Theorie mit höherer Erklärungskraft (z.B.die Theorie Einsteins) abgelöst würde. Wir haben also Anlass, auch ihre Wahrheit nicht als gewiss anzusehen, sondern nur als »hypothetisch«. Im Kritischen Rationalismus wird die Suche nach inhaltlicher Erkenntnis und damit auch die Suche nach Wahrheit damit keinesfalls aufgegeben, wohl aber die Suche nach absoluten Begründungen und damit nach Gewissheit. Popper geht davon aus, dass am Anfang jeglicher Wissenschaft die Theorie steht und jede Beobachtung nur im Lichte einer Theorie Bestand hat. Man gewinnt – so Popper – auf der Erfahrungsgrundlage keine neuen Erkenntnisse, sondern diese ergeben sich nur durch die Aufstellung von Theorien. Theorien beanspruchen solange Gültigkeit (nicht »Wahrheit«), wie sie nicht falsifiziert werden, und haben so formuliert zu sein, dass sie allgemeingültig bleiben, also nicht abhängig sind von Zeit und Raum. Wenn Theorien Aussagensysteme über die Wirklichkeit sind, dann lassen sich folgende Merkmale von Theorien aufzeigen: Theorien sind Systeme von 4 in sich widerspruchsfreien Sätzen, 4 allgemeingültigen (universalen) Sätzen, 4 falsifizierbaren Sätzen, 4 wertfreien Sätzen, 4 nachprüfbaren Sätzen. Gerade am Aspekt der Wertfreiheit wissenschaftlicher Aussagesysteme oder -sätze, den der Kritische Rationalismus propagiert, entzündete sich eine rege Diskussion (u. a. mit Vertretern der Kritischen Theorie): Der Kritische Rationalismus räumte ein, dass Wertaussagen durchaus Gegenstand wissenschaftlicher Analysen sein können, zumal die Wissenschaft selbst in gesellschaftliche Verhältnisse eingebettet ist, in denen Normen und Werte institutionalisiert sind. Er beharrte aber darauf, dass in den Aussagesystemen der Wissenschaft keine Wert-
urteile vorkommen dürften, diese seien als unwissenschaftlich auszuschließen.
10.2.4 Was ist Hermeneutik?
Hermeneutik ist die Auslegekunst, die wissenschaftliche Theorie der Erklärung bzw. der Interpretation. M. Riedel nennt sie auch »die Lehre vom Verstehen und Sichverständigen« (Riedel 1978,S.9). Ihr geht es um einen methodisch orientierten Umgang mit sinnhaften Dokumenten. Ziel der Hermeneutik ist es, eine Wissenschaftstheorie oder zumindest eine Wissenschaftsmethode der interpretierenden Sinnvermittlung zu konstituieren,als ein eigenständiges Forschungs- und Erkenntnisvorgehen zu entwickeln,dass sich ganz auf Verstehen und Interpretieren konzentriert. Hermeneutisches Vorgehen zur Herstellung von Sinnerkenntnis ist vor allem in den klassischen geisteswissenschaftlichen Disziplinen wie Sprachwissenschaft, Geschichte, Theologie, Philosophie, Psychologie gefragt,aber natürlich auch in der Pflegewissenschaft, der Pädagogik, der Soziologie, der Rechtswissenschaft, ja eigentlich auch in der Medizin. Jede Äußerung einer Person, einer Gruppe, einer Gesellschaft oder einer Kultur,sei sie überliefert als mündliche Mitteilung, als gestisch-mimische Darstellung, als sprachlicher Text, als künstlerisch gestalteter Ausdruck, soll in ihrer Aussage und in ihrer Bedeutung erfasst und verstanden werden. Dabei haben wir es aber oft mit einem mehrfachen Sinn zu tun: 4 Rechtswissenschaftler z. B. fragen bei der Anwendung der Gesetze nach dem Willen des Gesetzgebers (»wie hat er dieses Gesetz, diesen Satz… gemeint?«),nach der Systematik oder inneren Logik des Gesetzes,nach der heutigen Bedeutung und Anwendungsmöglichkeit des Gesetzes. 4 Historiker suchen sowohl nach den »objektiven Fakten« einer historischen Situation (»wie war es wirklich?«) als auch nach den subjektiven Befindlichkeiten der historisch handelnden Personen, nach dem Sinn, den sie ihren Handlungen gaben. 4 Theologen studieren die Schriften und suchen nach dem »göttlichen Wort«, nach den Bedeu-
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tungen der Äußerungen der Evangelisten, nach der heutigen Anwendbarkeit der überlieferten Glaubensregeln. Berühmt im Verfahren der Sinnerschließung ist der sog. Hermeneutische Zirkel: Das Erfassen des Gesamten (Textes) setzt immer das Verstehen der Bestandteile voraus – das Verstehen der Bestandteile setzt immer eine Idee des Gesamtsinnes voraus.Anders ausgedrückt: Der Sinn eines Satzes setzt sich aus der Bedeutung der einzelnen Wörter zusammen, die Bedeutung der einzelnen Wörter ist aber ihrerseits nur im Lichte des Gesamtsinnes zu verstehen (Geldsetzer 1994, S. 137). Für Wilhelm Dilthey erhebt die Hermeneutik den Anspruch, durch die historisch-gesellschaftlichen und die individuellen Bedingungen hindurch den »allgemeinen Geist« zu erfassen (Dilthey 1900). So finden wir die Idee der identischen Reproduktion fremden Seelenlebens z.B.beim Schreiben einer Biographie: Wer über »Ruth Schröcks Beitrag zur Akademisierung der Pflege« referiert,der wird sich – möglichst auf der Basis von Originaltexten,Interviews, Gesprächsprotokollen usw. – in die Gedankenwelt der Protagonistin einarbeiten und den Kontext an persönlichen, institutionellen, gesellschaftlichen Bedingungen für ein tieferes Verständnis hinzuziehen. Nach Hans-Georg Gadamer müssen wir stets den Sinn-Horizont des aussagenden Subjekts (und seinen individuellen wie auch gesellschaftlichen und kulturellen Kontext) mit unserem Gegenwartsbewusstsein und den darin enthaltenen VorUrteilen konfrontieren (Gadamer 1986). Gelingendes Verstehen hieße, zu einer Horizontverschmelzung zu gelangen.Nach einer Bemerkung Kants hat die Hermeneutik den Anspruch,Aussagen und Texte besser zu verstehen, als die Urheber sich selbst verstanden haben. Unterschiedliche Kritikpunkte werden gegenüber der Hermeneutik geäußert: 4 Die empirisch-analytischen Wissenschaften werfen der Hermeneutik vor, unexakt, willkürlich, spekulativ zu sein und es niemals zu erreichen, exakte, formalisierte (verifizierte bzw. falsifizierte), wahre Erkenntnisse zustande zu bringen. 4 Die Psychoanalyse (selbst eigentlich eine hermeneutisch vorgehende Methode) wirft der
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traditionellen Hermeneutik vor, Gehalte des Unbewussten bei der Sinnerschließung von Aussagen und Texten zu wenig zu berücksichtigen. 4 Die Kritische Theorie verweist darauf,dass man Aussagen, Texte, Kommunikation überhaupt stets nur im Kontext von Interessen, von Herrschaft, von Macht verstehen kann, dass Kommunikation also nie zwanglos und herrschaftsfrei sei. Diese Vorwürfe, vor allem jener der mangelnden »Wahrheit«, sind für die Weiterentwicklung der Wissenschaftstheorie in Richtung »Systemtheorie« durchaus von Bedeutung gewesen. Zur Disposition steht die Frage nach der »Wahrheit« überhaupt, die letztendlich im »Konstruktivismus« radikal bezweifelt wird. Es lässt sich ja durchaus behaupten, dass keine hermeneutisch gewonnene Erkenntnis für sich beanspruchen kann, wahr zu sein. Denn jede Textauslegung, jede Horizontverschmelzung des produzierenden und des rezipierenden Sinnes kann als mehr oder minder gelungen und reflektiert, als fachgerecht oder stümperhaft, als zulässig oder unzulässig betrachtet werden, aber eigentlich nicht als wahr oder falsch.
10.2.5 Was ist Kritische Theorie?
Die Kritische Theorie der Frankfurter Schule stellt den Versuch dar, wissenschaftliche Forschung mit sozialphilosophischer Reflexion und gesellschaftskritischer Analyse zu verbinden.In Abgrenzung zur reinen Hermeneutik, die den Gegenstand ihrer Erkenntnis im ideengeschichtlichen Kontext verortet, und auch im Kontrast zur Empirie, die nur punktuelle Bereiche der Wirklichkeit in Augenschein nehmen kann, ist die Kritische Theorie darum bemüht, forschendes Handeln als gesellschaftliche Praxis zu erfassen und den Zusammenhang zwischen dem System Wissenschaft und dem System Herrschaft stets mit zu beleuchten. Ihre größte Resonanz erzielte die Kritische Theorie im Wissenschaftsbetrieb der 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts – stark beeinflusst von dem Versuch einer Aufarbeitung der Erfahrung totalitärer Herrschaft und ihrer gesellschaftlichen bzw. ökonomischen Begründungszusammenhän-
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Kapitel 10 · Wie sich die Wissenschaft ihr Wissen schafft
ge. Namen wie Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse und Jürgen Habermas stehen für diesen wissenschaftstheoretischen und gleichzeitig gesellschaftstheoretischen Ansatz. Der Begriff der Kritischen Theorie ist ursprünglich einem Aufsatz Horkheimers aus dem Jahre 1937 entnommen,in welchem dieser in Auseinandersetzung mit der empirisch-analytischen Verfahrensweise die Grundgedanken einer kritischen Gesellschaftstheorie formulierte. Empirisch-analytische Forschungen,von Horkheimer auch traditionelle Theorien genannt,geben nach Einschätzung der Kritischen Theorie lediglich vor, allein der Erweiterung unseres Tatsachenwissens zu dienen; sie richten sich, auch wenn sie den Menschen oder die Gesellschaft zum Gegenstand haben, ganz nach dem Vorbild naturwissenschaftlicher Theoriebildung. Ihre wissenschaftstheoretische Reflexion beschränkt sich auf das Auffinden jener normativen Verfahrensregeln, die das Überprüfen empirischer Hypothesen ermöglichen. Diese Regeln sind notwendigerweise rein formal, da sie für die Wissenschaften insgesamt Gültigkeit beanspruchen. Nun ist aber für die Kritische Theorie ein solches Verfahren deswegen einseitig und unvollständig, weil es die Zusammenhänge zwischen wissenschaftlich untersuchten Phänomenen und gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnissen unterschlägt. Denn nicht nur im Bereich der Sozialwissenschaften ist die Reflexion solcher Interdependenzen unverzichtbar: Auch in den sog. Naturwissenschaften muss kritisch hinterfragt werden, welches die erkenntnisleitenden Interessen dieses oder jenes Forschungsauftrages seien (Habermas 1973).Die Kritische Theorie nimmt also weniger Anstoß am Regelsystem des empirisch-analytischen Ansatzes als vielmehr an seiner verengten Sichtweise der Wirklichkeit. Anders formuliert: Indem die empirisch-analytische Wissenschaftstheorie sich darauf beschränkt, rein formal die Regeln einer allgemeinen Wissenschaftslogik aufzustellen, versäumt sie es nach Ansicht der Kritischen Theorie,die Frage nach der Einbettung des wissenschaftlichen Auftrages in die gesellschaftliche Wirklichkeit zu stellen. Denn es sei keineswegs angemessen, die wissenschaftliche Vernunft in die Position einer Gesamtvernunft zu heben. Vielmehr handelt es sich umeine sehr
partielle, interessengeleitete Vernunft, die darauf ausgerichtet ist, instrumentalisierbares Erfahrungswissen zu produzieren. Hiermit können zwar Menschen die Welt verändern, sie können sowohl im naturwissenschaftlichen als auch im sozialwissenschaftlichen Bereich Handlungsanweisungen für zielgerichtetes technisches Handeln formulieren.Aber das Ziel menschliches Handelns, konkret die Frage, ob ein angestrebter zukünftiger Zustand besser ist als der gegenwärtig vorhandene, bleibt nach Ansicht der Kritischen Theorie bei den rein empirisch orientierten Wissenschaftsdisziplinen außerhalb der wissenschaftlichen Rationalität.Ihre Handlungsziele werden vielmehr im vorwissenschaftlichen Raum der Gesellschaft formuliert und oft unreflektiert bzw. ohne eine vernünftige Kontrolle von den Wissenschaften akzeptiert und umgesetzt.
10.2.6 Was ist Symbolischer
Interaktionismus? Nimmt man die Intentionalität menschlichen Handelns in Augenschein, so stellt man recht bald fest, dass das Motiv für eine bestimmte Handlung nicht nur in der Individualität einer Person begründet liegt,sondern ebenso sehr im Erwartungshorizont, dem diese Person ausgesetzt ist.Die Partnerin oder der Partner, die Familie, die Gruppe, die Gesellschaft prägen unsere Handlungen und Interaktionen, und die Sozialpsychologie vor allem widmet sich der Untersuchung solcher Strukturen und Abhängigkeiten. In ihrem Blickwinkel ist »Leben« stets ein »Handeln in Gegenseitigkeitsbeziehungen«. Der Symbolische Interaktionismus ist nun eine wissenschaftstheoretische Richtung, die sich stark an die Sozialpsychologie anlehnt und sich vor allem auf die Schriften von G. H. Mead beruft. Ihm geht es um die Überwindung des Dualismus von Geist und Materie, Subjekt und Objekt; für Mead lässt sich der Erfahrungsbegriff nicht zerlegen in ein individuelles Bewusstsein einerseits und eine objektive Realität andererseits,sondern muss im Rahmen einer dynamischen Bezogenheit von erfahrendem Individuum und erfahrener Realität gesehen werden. Im Zentrum steht dabei ein Modell, in dem es um die Herstellung von Bedeutungen, um
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die Reaktion auf solche Bedeutungen und um die Gemeinsamkeit von Bedeutungen zwischen mehreren Handelnden geht. Handeln orientiert sich – nach Mead – an der antizipierten Reaktion des anderen; umgekehrt konstituiert die Möglichkeit der Übernahme der Rolle des anderen das eigene Selbst, die Vorwegnahme der eigenen Reaktion auf die vorweggenommene Erwartung des anderen. Mead unterscheidet Gesten (Handlungen, die beim anderen eine Reaktion unmittelbar auslösen) und Symbole (die Reaktion wird durch die Bedeutung der Handlung ausgelöst, nicht reflexartig, wie bei der Geste). »Signifikante Symbole« haben eine gemeinsame Bedeutung für beide Interaktionspartner. Die Orientierung am anderen erfolgt nur beim Kind an konkreten Personen, später an einem »generalisierten Anderen«, einer vorweggenommenen Erwartung an das eigene Handeln (Mead 1973). Meads philosophisch / handlungstheoretische Ansätze wurden später in zwei verschiedene Richtungen weiterentwickelt: Einerseits zu einer Persönlichkeits- und Sozialisationstheorie, andererseits zu einer gesellschaftstheoretischen Haltung,in der die »soziale Konstruktion der Wirklichkeit« im Vordergrund steht. Der symbolische Interaktionismus ist außerdem für die Soziologie wichtig geworden, weil von dieser Position aus die übliche Routine der empirisch-analytischen Sozialforschung grundlegend angezweifelt wurde. Der symbolische Interaktionismus selbst bevorzugt Beobachtungsmethoden und Interpretationen von Alltagsereignissen, um den Zugang zu den Bedeutungen zu bekommen, die die Handelnden selbst ihren Welten und ihrem Tun darin geben. Von diesem Ansatz her hat es im symbolischen Interaktionismus immer eine Neigung zur Betrachtung und Untersuchung von Lebensweisen als »Subkulturen« und damit auch von »abweichenden« Lebensweisen gegeben.Vom allgemeinen Gedanken ausgehend, dass es sich bei den »Eigenschaften« von Menschen um Zuschreibungen handelt, die mit Hilfe von Kontrollprozeduren (wie Prüfungen, ärztlichen, psychologischen, polizeilichen Untersuchungen) hergestellt werden, hat daher die aus dem symbolischen Interaktionismus stammende »Etikettierungstheorie« (der »labeling approach«) in demjenigen Zweig der Soziologie,die sich speziell mit abweichendem Verhalten befasst, große Bedeutung erhalten.
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Dieser Ansatzpunkt, der auch den Begriff der »sozialen Konstruktion der Wirklichkeit« geprägt hat und insofern erste Ansätze des Konstruktivismus aufscheinen lässt, gibt dem symbolischen Interaktionismus eine gewisse Affinität zu wissenschaftstheoretischen Fragestellungen, die sich kritisch mit der gesellschaftlichen Funktion von wissenschaftlicher (vor allem soziologischer und psychologischer) Begriffsbildung und Theorie befassen.Wenn sich nämlich sozialwissenschaftliches Wissen zur sozialen Kontrolle eignet und auch tatsächlich dazu verwendet wird, stellt sich unausweichlich die Frage, auf welcher Seite die Wissenschaftlerin / der Wissenschaftler im Prozess der gesellschaftlichen Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnis steht. Insofern handelt es sich beim symbolischen Interaktionismus um einen Ansatz, der einerseits zur Selbstreflexion zwingt, andererseits aber dabei seine eingeschränkte Reichweite erweist und den Einbau in umfassendere gesellschaftstheoretische Konstruktionen nahe legt.
10.2.7 Was ist Handlungstheorie?
Wenn wir heute von quantitativen und qualitativen Forschungsmethoden auch im Bereich der Erziehungswissenschaften, der Pflegepädagogik und in vielen anderen Disziplinen sprechen, dann rücken zwei wissenschaftstheoretische Begründungen ins Blickfeld, die diesen Richtungen zugrunde liegen und die sich vor 30 Jahren noch heftig befehdeten, während sie heute eine gelassene Form der Koexistenz – selbst innerhalb eines Fachbereiches, ja innerhalb einer Person – gefunden haben. Dem bereits besprochenen Empirismus, der als quantitative Forschung ja den Anspruch absolut objektivierter Verfahrenweise erhebt, stand bzw. steht die Handlungstheorie gegenüber, die nicht nur den Abschied von der »objektiven Forschung« billigend in Kauf nimmt, sondern in Form der Handlungsforschung / Aktionsforschung (»action research«) durchaus subjektiv, bewusst und zielgerichtet in den Forschungsprozess und in die Praxis handelnd einzugreifen versucht. Die Handlungstheorie, die gerade in den Bereichen der Pädagogik, der Soziologie und der Sozialpsychologie beheimat ist, kritisiert am Empirismus, dass dieser die Erkenntnisziele seiner Unter-
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Kapitel 10 · Wie sich die Wissenschaft ihr Wissen schafft
suchungen allein aus den Bedürfnissen der Theorie bzw.administrativer Auftraggeber herleite und den kommunikativen Diskurs mit den »beforschten« Menschen vermeide. So führe die Verwendung empirischer Methoden im Bereich der Humanwissenschaften dazu, dass die Versuchspersonen in einem Status der Unmündigkeit gehalten würden und weder am Forschungsauftrag noch am Forschungsprozess und schon gar nicht an der Auswertung der Forschungsergebnisse beteiligt würden. Im Gegensatz dazu setzt also die Handlungsoder Aktionsforschung auf die kommunikative Beteiligung aller am Forschungsprozess partizipierenden Personen; sie hebt damit die im Wissenschaftsbetrieb sonst übliche Trennung von Theorie und Praxis auf:
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und an ihre Stelle Aspekte wie »Transparenz« und »Stimmigkeit« der Funktionen, Ziele und Methoden gesetzt (Krüger 1999, S. 190 ff.). Ihnen ist es wichtig,ein (ziel-)offenes und innovatorisches Forschungskonzept anzuwenden und nicht vorab und unumstößlich, sondern erst während des Forschungsprozesses selbst die untersuchten Fragestellungen und die einzusetzenden Methoden zu entwickeln bzw. zu präzisieren. Im Sinne einer komplexen und dynamischen Betrachtungsweise des Untersuchungsfeldes ist damit die Handlungsforschung nicht mehr allzu weit von der systemischen Sichtweise entfernt, von der noch zu sprechen sein wird.
10.2.8 Was ist Konstruktivismus? Die Beteiligten analysieren das gemeinsam erlebte und handelnd beeinflusste Geschehen im Rahmen kollektiver Reflexionen (sog. Diskurse), nicht mit dem Anspruch allgemeingültige Erkenntnisse zu abstrahieren, sondern lediglich zur Steuerung der weiteren, wiederum reflexionsbedürftigen Praxis (Eberhard 1999, S. 51).
Nun sind allerdings – auf wissenschaftstheoretischer bzw. erkenntnistheoretischer Ebene – Handlungen nur schwer begrifflich zu fassen, denn in sie gehen eine ganze Reihe von Komponenten ein (Handlungen als Summe von Bewegungen, als unbewusst ausgeführte Impulse, als Willensakte, als gesellschaftlich tradierte Rituale usw.). So verstricken wir uns bei der Betrachtung von Handlungen in eine Vielzahl möglicher Perspektiven und Interpretationen,die zwar im Diskurs reflektiert werden können,aber theoretisch kaum aufzuarbeiten sind. Einen Beschreibungsrahmen, eine wissenschaftliche Kennzeichnung im Sinne einer verbindlichen Begrifflichkeit und eine Klassifikation von Handlungen lässt sich nicht exakt aufstellen. Einige Vertreter der Handlungsforschung haben daraus die Konsequenz gezogen, in ihren Projekten Methoden der Handlungsforschung mit empirischen und hermeneutischen Verfahren zu verknüpfen, andere haben sich von den klassischen Gütekriterien der Wissenschaft wie Objektivität, Validität und Reliabilität konsequent verabschiedet
Der Konstruktivismus hat die erkenntnistheoretische Auseinandersetzung zwischen realistischer und idealistischer Position neu belebt. Den Kernpunkt dieser Auseinandersetzung bildet seit jeher das erkenntnistheoretische Problem, inwieweit eine objektive, äußere Welt durch den Menschen erkannt werden kann und wie verlässlich eine solche Erkenntnis ist.Wie gestaltet sich das Verhältnis von Materie und Bewusstsein? Die realistische, antikonstruktivistische Position geht von einer erkennbaren Außenwelt aus,die im Prinzip durch Erfahrung (bzw. durch wissenschaftliche Bemühungen) angeeignet werden kann.Bewusstsein als Produkt des Zentralnervensystems wird letzten Endes als Widerspiegelung der materiellen Welt angesehen und besitzt insoweit keinen selbständigen Inhalt. Im Sinne des Konstruktivismus ist eine Erkenntnis der Welt »wie sie ist« jedoch nicht möglich. Das Verhältnis von Wissen und Wirklichkeit kann nicht als mehr oder minder bildhafte Übereinstimmung,sondern nur als Anpassung im funktionalen Sinne verstanden werden: Theorien sind Wirklichkeitskonstruktionen und müssen zur Umwelt »passen« (Kirchgässner 1994). Im Mittelpunkt des erkenntnistheoretischen Interesses des Konstruktivismus steht also das Problem der Wissenskonstruktion beim Menschen. Nach Ansicht der Konstruktivisten hat der Mensch keinen Zugang zu einer unabhängigen Realität. Als Erzeuger seiner Wirklichkeiten kann er seine Kognitionen nur im
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eigenen Erfahrungsbereich vergleichen. Erst über die Sprache ist er in der Lage, mit anderen eine gemeinsame »sprachliche« Wirklichkeit zu gestalten. Der Konstruktivismus bestreitet folglich die Möglichkeit, dass unser Erkennen in der Lage sei, unabhängige Gegenstände abzubilden bzw. dass eine Übereinstimmung von Erkenntnis und Gegenstand erreicht werden kann. Der Verzicht auf die Annahme, dass ein Zugang zu einer unabhängigen Welt möglich sei, führt dazu, das Streben nach einer absoluten Wahrheit aufzugeben. Objektivität als Kriterium des Wissens entfällt, sie wird durch kommunikative Brauchbarkeit ersetzt. Letztere kommt vor, wenn eine Erkenntnis den Menschen, die gemeinsame Ziele haben, ermöglicht, ihre Anstrengungen kommunikativ zu vereinbaren und das Ziel zu erreichen. Bezüglich der Forderung nach Wertfreiheit der Wissenschaft(en) vertritt der Konstruktivismus eine ganz andere Position als z. B. der Kritischen Rationalismus: Für die Frage, ob ein Satz im unvoreingenommenen Diskurs als wahr akzeptiert wird oder nicht, spielt es im Prinzip keine Rolle, ob dieser Satz Aussagen über Wirklichkeiten oder Werturteile beinhaltet. Die Verfahren zur Begründung theoretischer und praktischer Sätze fallen zusammen. Damit ist die prinzipielle Dualität zwischen Tatsachenaussagen und Wertbehauptungen aufgehoben (Kirchgässner 1994, S. 164). Kritisch muss hier allerdings angemerkt werden, dass in konstruktivistischer Perspektive jede Erkenntnis nur ein Akt isolierter Individuen sein kann. Der Erkenntnisprozess selbst wird ohne seine kulturelle Vermitteltheit beschrieben; insofern versäumt es der Konstruktivismus als Wissenschafts- bzw.Erkenntnistheorie,Aussagen zum kulturellen Vorrat an Wissen, Bildern, Medien usw. zu machen. Denn: Jedes Individuum wächst bereits in eine von Menschen für Menschen sinnhaft vorstrukturierte Wirklichkeit hinein und »erfindet«, also konstruiert substanzielle Einheiten von »Welt« nicht individuell jeweils neu. Und nicht nur Individuen, sondern auch Gesellschaften erzeugen bzw. übernehmen »Realität«. Insofern ist der Satz von H. V. Foerster, dass die Welt nicht gefunden, sondern erfunden wird, unseres Erachtens eine Verkürzung, da in dieser Aussage die gesellschaftliche Mit-Konstruktion allen menschlichen Lebens und Erlebens vernachlässigt wird.
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10.2.9 Was ist Systemtheorie?
Nicht nur im wissenschaftlichen Sprachgebrauch, sondern auch im Zusammenhang mit konkreten ökonomischen und sozialen Problemstellungen ist gegenwärtig die Benutzung von Begriffen wie Synergetik oder Selbstorganisation populär und selbstverständlich. Damit deutet sich an, dass Systemtheorie heute mehr ist als ein wissenschaftstheoretischer Ansatz. Es handelt sich durchaus um eine neue Art, die Welt zu begreifen und zu klassifizieren. In diesem Sinne hat die Systemtheorie in vielen Institutionen und Anwendungsbereichen der Wissenschaft Einzug gehalten. Ein Grundgedanke der Systemtheorie ist es nämlich, die Gemeinsamkeiten physikalischer, biologischer und gesellschaftlicher Systeme aufzudecken und damit die alte Trennung von Natur- und Geisteswissenschaften zu überwinden (Kriz 1999). Als Grundlage dieses Denk- und Handlungsmodells werden die Kybernetik, die Kommunikationstheorie und der Konstruktivismus angesehen. Großen Einfluss auf den systemischen Ansatz hatten die Arbeiten des Neurobiologen H. R. Maturana (Maturana 1982) und des Soziologen N. Luhmann (Luhmann 1984). Im Folgenden sollen einige Kernpunkte den systemtheoretischen Ansatz skizzieren: 4 Wir unterscheiden zwischen geschlossenen Systemen, die es nur in der unbelebten Sphäre geben kann, und offenen Systemen, zu denen alle biologischen, psychischen, sozialen und kulturellen Systeme zu zählen sind. In solchen offenen oder dynamischen Systemen herrscht Bewegung und gegenseitige Abhängigkeit. Dies bedeutet, dass die Beeinflussung einer Einheit (»Entität«) oder der Beziehung einer Einheit zu einer anderen das ganze System und alle seine Teile beeinflusst. 4 Systeme werden durch ihre Grenze zur Umgebung definiert. Alles innerhalb der Grenze gehört zum System, alles außerhalb nicht. Die Grenzen schützen die Systemstruktur und seine Funktionen. Systemgrenzen können rigide oder flexibel sein. Damit Systeme zufriedenstellend funktionieren, müssen die Grenzlinien klar und deutlich markiert, aber zugleich flexibel sein. Damit fördern sie die innere Stabilität und die notwendige Offenheit für Anpassung und Entwicklung aufgrund von Veränderungen
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Kapitel 10 · Wie sich die Wissenschaft ihr Wissen schafft
innerhalb oder außerhalb des Systems. Starre Grenzen verhindern den Austausch mit anderen Systemen und führen zu Isolation und Stagnation. Schwache und undeutliche Grenzen schaffen Unklarheit bezüglich Differenzierungen und Funktionen innerhalb des Systems. 4 Systeme sind autopoietisch, d. h. ihre Funktionen sind darauf gerichtet sich selbst zu erneuern, also ihre anabolischen (aufbauenden) und katabolischen (abbauenden) Kräfte zumindest im Gleichgewicht zu halten. 4 Systeme sind dynamisch, d. h. Bewegung, Interaktion und Wechselwirkung finden innerhalb der Systeme ständig und als Resultat der Interaktion mit der Umgebung statt.Die Prozesse innerhalb der Systeme sind zirkulär oder spiralförmig. Soziale Systeme sind also offen, ständig in Bewegung und befinden sich in einem fortwährenden Veränderungsprozess. 4 Wie biologische haben soziale Systeme eine Zielrichtung,sie sind intentional.Während sich die Systeme in einem konstanten Veränderungszustand befinden,müssen sie gleichzeitig ihre Identität gegenüber der Umgebung wahren. Systeme sind also nie statisch, sondern bewegen sich in ständig wechselndem Zusammenspiel zwischen verändernden und hemmenden Prozessen. Die Veränderungsanforderungen müssen jedoch so reguliert und korrigiert werden können,dass sie sich in das System integrieren lassen (Bernler u. Johnsson 1997). Wir merken an dieser Stelle schon: Die Aneignung der systemtheoretischen Sichtweise ist nicht ganz einfach, es stellt unser gewohntes Denken in Linearität und Kausalität in Frage. Das systemtheoretische Denken hingegen ist zirkulär,die Umwelt wird unter den Aspekten »Beziehungen«, »Interaktionen«, »Transaktionen« und »Zusammenhängen« betrachtet. «Die Gesamtheit« ist ein zentraler Begriff der Systemtheorie, auch er fordert unsere traditionelle Denkweise heraus. Es ist einfach zu sagen: »Alles hängt mit allem zusammen!«,aber viel schwieriger, Daseinszusammenhänge zu begreifen und die tatsächliche gegenseitige Beeinflussung verschiedener Teile bzw.Einheiten erkennen zu können.Soziogramme,Organigramme,Strukturbeschreibungen u. ä. reichen nicht aus, um die Beeinflussungs-
aspekte zu begreifen, da in ihnen die Prozesshaftigkeit der Interaktionen und Rückkopplungen kaum adäquat darstellbar sind. Von besonderer Bedeutung für die Pflegepädagogik wie für andere humanwissenschaftliche Disziplinen ist also die Abkehr von einem linearen Ursache-Wirkungsdenken zu einem zirkulären Systemmodell, nach dem die Wirklichkeit eines Individuums untrennbar mit seinem Kontext verbunden ist. Dies bedeutet, dass das Verhalten von Personen nur im Zusammenspiel der für sie wichtigen Beziehungen verstanden werden kann. Die Implikationen, die sich aus diesem Paradigma für das pädagogische wie auch das therapeutische Verstehen und Handeln ergeben, sind fundamental. Bleibt ein weiterer Aspekt der Systemtheorie zu erwähnen, der uns in ähnlicher Form schon von der Hermeneutik her vertraut ist und der ein gewisses Paradox darstellt: Wollen wir einen Gegenstand / eine Person im Sinne der systemischen Sichtweise näher betrachten und begreifen,so müssen wir die Gesamtheit von den Teilen her verstehen und die Teile aus der Gesamtheit – ja, wir können die Teile nur von der Gesamtheit her verstehen, in die sie eingehen. Aber: »Gesamtheit« erschließt sich durch die Analyse der Teile und deren innerer Wechselwirkung nie vollständig (das Ganze ist stets mehr als die Summe seiner Teile); ebenso besitzen die »Teile« durchaus Eigenschaften »an sich« und lassen sich insofern nicht vollständig reduzieren auf ihre Rolle und Funktion im größeren Zusammenhang.
10.2.10 Ausblick
Es wäre vermessen, die Skizzen zu den verschiedenen Erkenntnisansätzen im Bereich der Wissenschaft mit einem Fazit, einer Bewertung gar, zu beenden. Die Pflegepädagogik befindet sich auf dem Wege, ihre eigenen Forschungsfragen und Lehrkonzepte aufzustellen und die dazu notwendigen Theorien und Methoden zu entwerfen und zu prüfen; sie bedient sich dabei des Spektrums bestehender wissenschaftstheoretischer Ansätze, ohne deren Entstehung und Entwicklung noch einmal detailliert – quasi ontogenetisch und phylogenetisch – durchleben zu müssen.
237 10.3 · Hinweise zum wissenschaftlichen Arbeiten
Jede wissenschaftlich ambitionierte Forschungsarbeit in der Pflegepädagogik wird aber eine Entscheidung treffen müssen über die Anwendung quantitativer oder qualitativer Forschungsverfahren.Bei der Darstellung des Empirismus und des Kritischen Rationalismus wurde bereits erwähnt, welche Schrittfolge bei der Prüfung wissenschaftlicher Hypothesen zu beachten ist. Immer geht es, wenn wir uns für quantitative Forschung entscheiden,um solche forschungsleitenden Hypothesen, die einer Messung unterzogen und mit Hilfe statistischer Verfahren ausgewertet werden. Ziel dieses Vorgehens ist es,zu gesetzesartigen Aussagen zu gelangen, die allerdings – so folgen wir Popper – nicht prinzipiell verifizierbar sind, sondern immer nur vorläufige Geltung erlangen können. Begeben wir uns auf den Weg der qualitativen Forschung (»qualitativ« meint natürlich nicht die Qualität der Forschung – gerade die Vertreter der quantitativen Forschung würden hier Einspruch erheben und postulieren,dass ihre Erkenntnisse oft qualitativ wertvoller seien als die der qualitativen Forschung !), so gelangt die Lebenswelt, die Lebensgeschichte und das soziale Handeln in unser Blickfeld. Es geht also der qualitativen Forschung um einen möglichst unvoreingenommenen, unmittelbaren Zugang zum jeweiligen sozialen Feld unter Berücksichtigung der Weltsicht der dort Handelnden. Im Gegensatz zu dem streng theorie- und hypothesengeleiteten Vorgehen der quantitativen Forschung ist sie darum bemüht,Abstraktionen aus Erfahrung zu generieren und dabei einen Rückbezug auf diese Erfahrungen kontinuierlich aufrecht zu erhalten (Krüger 1999, S. 202). Bei der Darstellung der Phänomenologie, des Symbolischen Interaktionismus und vor allem der Handlungstheorie hatten wir ja bereits gesehen, dass einige wissenschaftstheoretische Ansätze nicht davor zurückschrecken, sich mit dem »zu beforschenden Objekt« auf gleiche Augenhöhe zu begeben, also von der »Verdinglichung« der Forschungsgegenstände – vor allem dann,wenn es sich dabei um einzelne Menschen oder Menschengruppen handelt – abzusehen und ihnen ihren Subjektstatus wiederzugeben. Qualitative Forschung legt ihren Schwerpunkt auf Lebensweltstudien und strebt eine möglichst authentische und komplexe Erfassung der Perspektiven der Handelnden an.
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Hinweise zum wissenschaftlichen Arbeiten
10.3.1 Einleitung
Damit wären wir bei den Anforderungen, die sich an die konkrete wissenschaftliche Arbeit stellen und folglich im Bereich der Pflegepädagogik wie in jeder anderen wissenschaftlichen Disziplin beachtet werden sollten. Wir wollen zu diesem Zweck über »präzise« und »konsistente« Begriffe nachdenken, Aspekte wie »Reliabilität« und »Validität« erörtern, zur Transparenz und Sorgfalt in der Literaturverwendung auffordern und die Prozesse bei der Erstellung einer wissenschaftlichen Arbeit skizzieren. Grundsätzlich bedeutet wissenschaftliches Arbeiten, neue Erkenntnisse unter Anwendung beschriebener Methoden so zu entwickeln und so darzustellen, dass die einzelnen Arbeitsschritte nachvollziehbar, begründet und belegt sind (Karmasin u. Ribing 1999). Zum wissenschaftlichen Arbeiten gehört, sich über die vorfindbaren Argumentationen und Untersuchungen zum betreffenden Thema umfassend zu informieren und die eigenen Methoden der Erkenntnisgewinnung zu dokumentieren, damit eine kritische Reflexion der Vorgehensweise gewährleistet ist.Eine solche Überprüfbarkeit wissenschaftlich erarbeiteter Aussagen kann nur gelingen, wenn die Hypothesen, Modelle und Theorien so eindeutig formuliert sind,dass ein gemeinsames gleiches Verständnis, also Intersubjektivität, hergestellt wird. Nun werden sich die Studierenden der Pflegepädagogik in den Themenstellungen ihrer Arbeiten sowohl mit Theorien und Erkenntnissen ihres spezifischen Wissenschaftsbereiches befassen als auch notwendige Erkundungen in anderen Einzelwissenschaften vornehmen. Pflegepädagogik kann – zumindest gegenwärtig – Erkenntnisse und Methoden benachbarter Wissenschaftsbereiche nicht unberücksichtigt lassen.Allerdings ist es schier unmöglich, dass die Studierenden der Pflegepädagogik sich in allen relevanten Nachbarwissenschaften auf neuestem Erkenntnisstand bewegen; dieser Anforderung werden die Lehrenden schon kaum genügen können.Um so wichtiger ist es,sehr genau zu dokumentieren, wann beispielsweise spezifisch pflegepädagogische Konzepte, Modelle und Theo-
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rien bearbeitet und in welchem Umfang und zu welchem Zweck inhaltliche und methodische Verbindungen zu anderen Wissenschaften geknüpft wurden.
10.3.2 Begrifflichkeit, Reliabilität
und Validität
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In unserem Alltag sparen wir uns die Mühe, ständig zu hinterfragen, was sich genau hinter diesem oder jenem Begriff verbirgt, wie ein spezifisches Wort im jeweiligen Kontext gemeint ist, welche Erfahrungen hinter dieser oder jener Aussage stecken. Sprache soll uns im Alltag dazu dienen,Situationen zu bewältigen, Gedanken und Erlebnisse auszudrücken, unser Verhalten sinnhaft zu begründen. Zwar stört es uns beim Brötchenkauf bisweilen, dass jede Bäckerei ein eigenes Namenssystem für ihr Angebot hat,aber wir beharren nicht darauf,die Definition von »Haferkrüstchen« oder »Dinkelvollwert« genannt zu bekommen. Und wir vermeiden auch sofortige Nachfragen über den Bedeutungsgehalt von Aussagen wie »Ich liebe dich!« – obwohl uns später dämmert,dass der Satz vielleicht doch anders gemeint war, als wir ihn in dem betreffenden Moment aufgefasst haben… Wir nehmen also im alltäglichen Sprachgebrauch Mehrdeutigkeit, Vagheit und Inkonsistenz von Begriffen und Aussagen in Kauf und hoffen darauf, dass sich Bedeutungen aus unserer Intuition, aus dem Situationskontext, aus gemeinsamen Erfahrungen und Ähnlichkeiten in der Weltanschauung ergeben. Im wissenschaftlichen Zusammenhang ist das grundsätzlich anders, hier stellt die Einigung über einen verbindlichen Sprachgebrauch die Voraussetzung dar für die Unterscheidbarkeit von wissenschaftlich begründeten Aussagen gegenüber reinen Phantasieproduktionen. Begriffliche Eindeutigkeit, Präzision und Konsistenz ist im akademischen Betrieb also unverzichtbar, wie überhaupt einige Grundsätze wissenschaftlicher Sorgfalt beherzigt werden sollten, zu denen konkret die folgenden Aspekte gehören:
Präzise und konsistente Begrifflichkeit Das Verfassen eines wissenschaftlich akzeptablen Textes, und darunter fallen nicht erst Diplomarbeiten und Dissertationen, sondern bereits Referate
und Hausarbeiten, setzt die Verwendung einer eindeutigen,klar verständlichen und brauchbaren Begrifflichkeit voraus. Verständlich im wissenschaftlichen Sinne sind Begriffe dann, wenn klar ist, was sie umfassen, also Eindeutigkeit darüber besteht, welche Gegenstände, Ereignisse, Elemente hinein gehören und welche nicht; die Brauchbarkeit von Begriffen ist an die Kriterien der Präzision und der Konsistenz geknüpft: Präzise ist ein Begriff, wenn ein Beobachter bei jedem Ereignis unterscheiden kann, ob es zum Begriff gehört oder nicht. Konsistent ist ein Begriff, wenn die Zuordnung von allen Beobachtern in übereinstimmender Weise vorgenommen wird. Und genau das ist – zumindest im vorwissenschaftlichen Feld – nicht immer gewährleistet: So erlebte die Behindertenhilfe z.B.eine Zeit lang die inflationäre Verwendung des Begriffs »autistisches Verhalten« mit sehr diffuser Beschreibung der angeblich dazugehörigen Merkmale. Oder die Gerontologie wird damit konfrontiert, dass der Begriff »Demenz« im öffentlichen und bisweilen auch im fachlichen Sprachgebrauch nicht mehr diejenige Präzision und Konsistenz besitzt, die für einen wissenschaftlichen Diskurs notwendig und unverzichtbar wäre.
Reliabilität Unter Reliabilität verstehen wir wissenschaftliche Zuverlässigkeit und betonen damit, dass man sich in der Wissenschaft auf publizierte Aussagen verlassen können muss. Reliabilität erfordert, alle wichtigen Daten und Erkenntnisse wirklich darzustellen und keine relevanten Fakten zu unterschlagen. Im Verlauf der Erstellung wissenschaftlicher Abhandlungen bedeutet dies auch, verschiedene Standpunkte einnehmen zu können und fremde Einsichten bzw. Konzepte nicht voreilig zu verwerfen. Am Ende sollte stets gewährleistet sein, dass die Ergebnisse einer Studie sorgfältig überprüft wurden,keine systematischen Fehler enthalten und weder gefälscht noch »geschönt« sind (Haefner 2000, S. 84 f.).
Validität Unter Validität verstehen wir wissenschaftliche Gültigkeit und verlangen damit konkret, dass ein Forschungsinstrument tatsächlich das misst,was es messen soll. Eine Studie, eine Haus- oder Diplomarbeit erfüllt dann das Kriterium der Validität,
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wenn man ihr attestieren kann, dass sie die aufgeworfene Forschungsfrage (Arbeitshypothese) mit den angegebenen Mitteln (Methoden) wirklich bearbeitet und beantwortet hat – und nicht am Ende eine Aussage B herauskommt, die mit der Ausgangsfrage A kaum etwas zu tun hat. Gemeint ist damit jedoch nicht, jede Forschungsfrage am Ende als gelöst darzustellen.Validität meint vielmehr, zu relevanten Aussagen in Hinblick auf die eingangs gemachte Arbeitshypothese zu gelangen, sie also entweder zu bestätigen, ihr zu widersprechen oder sie zu modifizieren (Haefner 2000, S. 10 f.).
10.3.3 Transparenz der Literaturfindung
Das – schier unüberschaubare – Ergebnis wissenschaftlichen Forschens und Lehrens findet sich in so unterschiedlichen Publikationsformen und Publikationsorten, dass die systematische Suche nach wissenschaftlich relevanter Literatur für das gewählte Thema eine große Hürde darstellt. Überwinden lässt sie sich nur, wenn man seine Schwellenängste abbaut und mutig genug ist, sich bei anderen Studierenden, bei den wissenschaftlichen Angestellten von Bibliotheken und Instituten und nicht zuletzt bei den eigenen Professorinnen und Professoren zu informieren und Rat zu holen.(Vielleicht nützt der Hinweis, dass selbst die anerkanntesten Autoren wissenschaftlicher Bücher häufig in ihrem Vorwort erwähnen, wie dankbar sie diesen oder jenen Hinweis einer Fachkollegin bzw. eines Bibliothekars aufgegriffen haben.) Wenn wir von Literaturrecherche sprechen, dann sollten wir im Wissenschaftsbereich unterscheiden zwischen Primär- und Sekundärliteratur. Die Primärliteratur stellt die Basis aller wissenschaftlichen Arbeiten dar; was in den jeweiligen Fachdisziplinen als Primärliteratur, als Quelle gilt, kann recht unterschiedlich sein: An erster Stelle sind dies eigene Erhebungen, an zweiter Stelle fremde Untersuchungen,die sich vor allem in Fachzeitschriften, zunehmend aber auch in wissenschaftlich anerkannten »Online-Gruppen« der unterschiedlichsten Fächer finden. Je nach Themenstellung können an dritter Stelle auch die Berichte von staatlichen Institutionen (z.B.dem Bundesamt für Statistik), von Forschungseinrichtungen (z. B. dem Max-Planck-Institut) oder von Wohlfahrts-
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verbänden (z.B.der Caritas) als Quellen angesehen werden; und schließlich gelten an vierter Stelle auch private Unterlagen als Quellen – im Fall der Pflegepädagogik könnten hierzu so unterschiedliche Daten und Texte wie Krankenhausstatistiken, Organigramme, aber auch Tagebücher u.ä. zählen. Die Stärke der Sekundärliteratur besteht darin, den aktuellen Stand eines Fachgebietes bzw. einer wissenschaftlichen Thematik gut zu präsentieren und die zahlreichen primären Arbeiten nach wissenschaftlichen Kriterien zusammenzufassen. Das geschieht vor allem in den eigentlichen Fachbüchern,die die Erforschung eines Wissensgebietes neuartig – in Form eigener Hypothesen, Theorien und deren Überprüfung – und sorgfältig – unter Verwendung der aktuellen Literatur – bearbeiten; ebenso in Übersichtsartikeln (Reviews), die auf der Basis von Originalpublikationen eine Sachgebiet umfassend darstellen; oder in Kongressbänden,die Artikel zu einem vorgegebenen Thema aus sehr unterschiedlichen Perspektiven enthalten. Ferner können wir auf Lehrbücher zurückgreifen, die meist von verschiedenen Autorinnen und Autoren unter der Regie eines oder mehrerer Herausgeber erarbeitet wurden. Die Basis solcher Lehrbücher bilden in der Regel nicht Quellentexte oder Zeitschriftenartikel, da hier die Bearbeitung einzelner Forschungshypothesen im Vordergrund steht; Lehrbücher haben vielmehr die als bedeutsam anerkannten Fachbücher und Reviews zur Grundlage. Das Internet ermöglicht eine Informationsrecherche in virtuellen Bibliotheken: Primär- und Sekundärliteratur kann hier angefordert werden, was in der Erkundungsphase die Recherche über themenrelevante Literatur und den Bestellvorgang erleichtern kann. Was das eigentliche »Surfen«, das Suchen und Bearbeiten von Internet-Texten angeht,die nur dort und in keiner anderen Form publiziert sind, so gelten hier zusätzliche Regeln: Verwendete Daten, zitierte Texte, sämtliche Informationen einer wissenschaftlichen Arbeit müssen ja so nachgewiesen werden,dass die Leserin/der Leser in der Lage ist, die Fundorte aufzusuchen und die Daten oder Texte kritisch zu überprüfen. InternetInformationen sind aber weder qualitätsgesichert noch beständig; ihnen fehlt – anders als einem Wissenschaftsverlag oder einer renommierten Fachzeitschrift – das wissenschaftlich anerkannte Lektorat. Internet-Daten und Texte sind flüchtig, kön-
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nen verändert oder herausgenommen werden und halten selten der Nachprüfung über einen längeren Zeitraum stand, auch wenn sie zum Zeitpunkt der Niederschrift einer Haus- oder Diplomarbeit als »available« markiert sind. Daher ist es notwendig, von diesem elektronisch gewonnenen Material einen Ausdruck in den Anhang der Arbeit aufzunehmen – zumindest aber für die Prüferin bzw. den Prüfer sowohl eine »Download-Datei« als auch einen jeweiligen Ausdruck bereitzuhalten (Theisen 2000, S. 68 ff.). Schließlich können zur Bearbeitung wissenschaftlicher Fragestellungen auch zugängliche Diplomarbeiten oder Dissertationen des jeweiligen Fachgebietes herangezogen werden, ferner Artikel seriöser Tages- oder Wochenzeitungen, ggf. auch populäre Sachbücher, die wissenschaftliche Zusammenhänge einem interessierten Laienpublikum zu vermitteln bestrebt sind. Als nicht zitierfähig gelten Publikumszeitschriften (Bäckerblume, Brigitte, Schöner Wohnen u. ä.). Gängiges Lexikonwissen (z. B. aus dem Brockhaus) muss nicht als Zitat gekennzeichnet werden.Auch können einschlägige Fachausdrücke verwendet werden, ohne jeweils das benutzte Wörterbuch (Pschyrembel o. ä.) zu nennen, es sei denn, es geht um eine Problematisierung eines Fachbegriff,der unterschiedlich definiert bzw. angewendet wird; in dem Fall muss die Herkunft der verschiedenen Begriffsbedeutungen natürlich angegeben werden.
10.3.4 Zitieren
Benutzt man nun die erwähnte Primär- und Sekundärliteratur, so ist möglichst vom allerersten Moment an darauf zu achten,jede Fundstelle genau zu markieren – die Nacharbeit kann sonst Tage und Nächte beanspruchen, wenn ganze Bücher – die sich vielleicht schon längst wieder in der Bibliothek befinden – auf der Suche nach einer einzigen zitierten Textstelle erneut durchforstet werden müssen.Denn natürlich ist zu gewährleisten,dass wörtlich oder sinngemäß übernommenes Material präzise belegt wird: 4 Ein Zitat ist die wörtliche Wiedergabe von Sätzen oder Satzteilen aus einem fremden Text. Es muss – in Form von Anführungszeichen – eindeutig kenntlich gemacht werden, wo ein Zitat
beginnt und wo es endet; und ist zu belegen,aus welcher Quelle es stammt. Dies geschieht am Ende des Zitats mit der Nennung der betreffenden Literaturstelle in Kurzform (Name, Erscheinungsjahr und Seitenzahl) innerhalb des fortlaufenden Textes; oder auf die Quelle wird per Fußnote in einer Anmerkung am unteren Ende der Seite oder am Ende der Arbeit verwiesen. Für die sofortige Nennung der Literaturstelle in Kurzform (in Klammern) spricht die flüssigere Lesbarkeit des Textes, für die Verwendung von Fußnoten spricht die Möglichkeit,darin auch zusätzliche Informationen oder Hinweise zu weiterführender Literatur unterzubringen. 4 Nimmt man Auslassungen innerhalb einer zitierten Textpassage vor, so ist mit (…) auf die Lückenhaftigkeit bzw. Kürzung hinzuweisen; zu Beginn und am Ende eines vollständig zitierten Satzes bedarf es solcher (…) jedoch nicht. Bei grammatikalischen Umstellungen, die gemacht werden, um den eigenen Textfluss nicht unterbrechen zu müssen, stehen die Abweichungen in eckigen Klammern […]. Beispiel: Der Satz von Hilde Steppe: »Der Gegenstandsbereich einer wissenschaftlichen Disziplin wird durch eine oder mehrere Theorien abgebildet« (Steppe 2000, S. 92) soll in den eigenen Text eingearbeitet werden, z. B. in Form der Aussage, dass nach Ansicht von Hilde Steppe der »Gegenstandsbereich einer wissenschaftlichen Disziplin […] durch eine oder mehrere Theorien abgebildet [wird].« (Steppe 2000, S. 92). 4 Das Aufgreifen von Gedanken und Argumenten fremder Autorinnen oder Autoren muss ebenfalls eindeutig dokumentiert werden,auch (und gerade) wenn auf wörtliche Zitate verzichtet wird. Paraphrasiert man also einen fremden Text, so ist am Ende der Ausführung (zum Bespiel mit dem Hinweis: Haefner 2000,S.122) auf die Quelle zu verweisen. 4 Zitate aus zweiter Hand sollten die absolute Ausnahme bleiben. Lassen sie sich nicht vermeiden, weil die Suche nach dem Originalzitat einen unverhältnismäßigen Aufwand darstellen würde, so ist der Hinweis »zitiert nach« (zit. n.) einzufügen. Beispiel: Die Autoren Susanne Schoppmann und Martin Pohlmann zitieren in
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ihrem Aufsatz »Erkenntnistheoretische Überlegungen zur phänomenologischen Pflegeforschung« (Schoppmann u.Pohlmann 2000) Aussagen von Martin Heidegger. Soll nun in einer wissenschaftlichen Arbeit ein Teil des dort verwendeten Heidegger-Zitats benutzt werden, so wäre zu schreiben: »Woher und wie bestimmt sich, was nach dem Prinzip der Phänomenologie als ‘die Sache selbst« erfahren werden muß?« (Heidegger 1969, S. 87, zit. n. Schoppmann u. Pohlmann 2000, S. 364).
10.3.5 Das Literaturverzeichnis
Jede wirklich wissenschaftliche Abhandlung sollte also – soviel ist bereits deutlich geworden – tief eingebettet sein in den umfangreichen Wissensstand des jeweiligen Forschungsgebietes. Die Impulse und Bezüge, die in dem konkreten wissenschaftlichen Text aufgegriffen und verwendet worden sind, müssen in einem umfangreichen Literaturverzeichnis dokumentiert werden. Das Literaturverzeichnis ist dabei nicht nur ein unverzichtbarer Bestandteil jeder wissenschaftlichen Abhandlung, sondern in gewissem Sinne auch das Aushängeschild des zurückgelegten Arbeitsprozesses. Daher lohnt es sich – manchmal schon vor der eigentlichen Lektüre einer Haus- oder Diplomarbeit – im Literaturverzeichnis zu blättern, um sich ein Bild davon zu machen, welcher wissenschaftstheoretische Kontext, welches Theorieverständnis, welche »wissenschaftliche Schule« hier zu erwarten ist. Das (ver-)führt manche zu dem Gedanken, sie könnten das wissenschaftliche Niveau ihrer Arbeit dadurch erhöhen, dass sie ein besonders umfangreiches,quasi »aufgepumptes« Literaturverzeichnis erstellen, um so ihrer Belesenheit Ausdruck zu verleihen.Vor solchen Ambitionen ist genauso zu warnen wie vor der mutwilligen »Unterschlagung« tatsächlich verwendeter, im Text oder im Literaturverzeichnis aber nicht sauber dokumentierter Quellen. Um es deutlich zu sagen:
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Ein Literaturverzeichnis ist die vollständige Zusammenstellung aller in einer wissenschaftlichen Arbeit verarbeiteten literarischen Sekundärmaterialien, welche in irgendeiner Form nachweislich
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… in der Arbeit berücksichtigt und zitiert worden sind; darüber hinaus darf keine weitere Literatur Eingang in das Literaturverzeichnis finden (Theisen 2000, S. 189).
Die – bei uns – noch immer vorherrschende Form der Auflistung verwendeter Arbeiten im Literaturverzeichnis beginnt mit Namen und Vornamen der Verfasserin / des Verfassers, notiert ggf. in Klammern, dass es sich um die Herausgeber handelt, setzt dahinter einen Doppelpunkt und nimmt dann den vollständigen Titel und auch den Untertitel auf, nennt den Erscheinungsort, den Verlag und das Erscheinungsjahr. Dazu einige Beispiele: 4 Hegemann, Thomas u. Salman, Ramazan (Hrsg.): Transkulturelle Psychiatrie. Konzepte für die Arbeit mit Menschen aus anderen Kulturen. Bonn: Psychiatrie-Verlag, 2001 4 Falkenstein, Dorothe: »Ein guter Wärter ist das vorzüglichste Heilmittel…«. Zur Entwicklung der »Irrenpflege« vom Durchgangs- zum Ausbildungsberuf. Frankfurt a.M.: Mabuse-Verlag 2001 4 Rennen-Allhoff, Beate u. Schaeffer, Doris (Hrsg.): Handbuch Pflegewissenschaft. Weinheim: Juventa 2000 Da bislang jedoch – national wie international – eine definitiv vereinbarte Norm der Anlage eines solchen Literaturverzeichnisses fehlt, kursieren eine Reihe unterschiedlicher Vorgaben bzw.Details; einzelne Fachbereiche oder Lehrende halten oft die von ihnen präferierte Version für die einzig mögliche und verbindliche, der sich die Studierenden anpassen müssen.Unterschiede bestehen vor allem in der Frage, ob die Namen fett gedruckt sein müssen,ob der Vorname vollständig oder abgekürzt erscheint,ob Herausgeber mit »Hrsg.« oder mit »Hg.« abgekürzt werden,ob das Erscheinungsjahr bereits in Klammern nach der Namensnennung oder erst am Schluss erwähnt wird und ob der Verlag genannt werden muss. Insofern könnte ein oben erwähnter Titel auch folgendermaßen verzeichnet werden: 4 Hegemann, Th. u. Salman, R. (Hg.)(2001): Transkulturelle Psychiatrie. Konzepte für die Arbeit mit Menschen aus anderen Kulturen. Bonn
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Kapitel 10 · Wie sich die Wissenschaft ihr Wissen schafft
Einige Verlage bzw. Fachzeitschriften, besonders jene, die international rezipiert werden, verlangen heute eine noch reduziertere Version,die auf Untertitel, Doppelpunkt und manches andere verzichtet: 4 Rennen-Allhoff B u. Schaeffer D (2000) Handbuch Pflegewissenschaft. Juventa, Weinheim. Einvernehmen herrscht darüber, dass das Literaturverzeichnis alphabetisch zu ordnen ist, dass es ggf. Angaben zur Auflage (abgekürzt »Aufl.«), zum jeweiligen Band (»Bd.«) bzw. bei Zeitschriften zum Jahrgang (»Jg.«),zur Heftnummer (»Heft«) und zur Seitenzahl (»S.«) enthalten muss. 4 Ahrens, Ruth: Erfahrungen mit intuitivem, praktischem und pflegetheoretischem Wissen. In: Pflegezeitschrift,53.Jg.,Heft 2,2000,S.91–94
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Auch bei der Aufnahme von Zeitschriftenartikeln kann auf den vollen Vornamen verzichtet und das Erscheinungsjahr vorangestellt werden: 4 Kesselring, A.(1992): Ethik und Forschung. In: Pflege, 5. Jg., Heft 1, S. 4-10 Nun kommt es bei Fach- und Lehrbüchern und besonders bei Zeitschriftenartikeln häufig vor, das eine ganze Anzahl von Autorinnen und Autoren beteiligt ist; man hat sich darauf geeinigt, maximal drei aufzuführen,ansonsten mit der Abkürzung »u. a.« (= und andere) oder »et al.« (= et alii) zu arbeiten. So wäre also der Beitrag »Unterrichtsreihe: Pflege von Menschen mit chronischer Demenz« von Bettina Duwendag,Marion Gravenkötter,Petra Lang, Ursula Ludmann und Sonja Steinbock aus der Zeitschrift Unterricht Pflege,5.Jahrgang,Heft 1, März 2000 aus dem Prodos Verlag in einem Literaturverzeichnis wie folgt aufzuführen: 4 Duwendag, M. et al. (2000): Unterrichtsreihe: Pflege von Menschen mit chronischer Demenz. In: Unterricht Pflege, 5. Jg., Heft 1, S. 5-16 Werden in einer wissenschaftlichen Arbeit mehrere Werke einer Verfasserin oder eines Verfassers berücksichtigt, so ist im Literaturverzeichnis jeder einzelne Titel – in der Reihenfolge des Erscheinungsjahres, mit dem ältesten beginnend – aufzuführen: 4 Luhmann,Niklas (1984): Soziale Systeme.Grundriss einer allgemeinen Theorie. Frankfurt: Suhrkamp
4 Luhmann, Niklas (1986): Ökologische Kommunikation. Opladen: Westdeutscher Verlag Anschließend sind jene Titel zu nennen, die der Autor mit anderen zusammen verfasst hat: 4 Luhmann, Niklas / Schorr, Karl E. (1979): Reflexionsprobleme im Erziehungssystem.Stuttgart: Klett-Cotta Beiträge in Sammelbänden enthalten neben dem Autorennamen und dem Titel auch Angaben zum Herausgeber – das kann bisweilen auch eine Institution sein: 4 Steppe, Hilde (1993): Entwicklung der Pflegewissenschaft – am Beispiel USA. In: Fachhochschule Frankfurt a.M. (Hrsg.): Pflege auf dem Weg zur Hochschule. Frankfurt a.M.: Fachhochschulverlag, S. 159–192 Bei Veröffentlichungen in Zeitschriften ist zusätzlich zur Autorin und zum Titel des Aufsatzes auch der Name der Zeitschrift, der Jahrgang und das Erscheinungsjahr, die Heftnummer und die erste und letzte Seite zu nennen: 4 Steppe, Hilde (1989): Pflegetheorien und ihre Bedeutung für die Praxis. In: Die Schwester / der Pfleger, 28.Jg., Heft 4, S. 255–262 Wissenschaftliche Veröffentlichungen, die ausschließlich ins Internet »gestellt« wurden, sind genauso ordnungsgemäß zu zitieren wie anderes Sekundärmaterial. Diese Texte verfügen über eine einheitliche, logische Adresse, den individuellen »Uniform Resource Locator« (URL) des einzelnen Internet-Users, über den sie auch angesteuert werden können.Von besonderer Bedeutung sind hier – wegen der Möglichkeit ständiger Veränderungen – die Datumsangabe, ggf. die Nummer der ins Netz gestellten Version und das Zugriffsdatum des Benutzers: 4 Zimmermann, Bernd: Online im Internet (4. 6. 2000), URL: http:\\www-kurs.de\download. htm (11.9.2000, 11:30 MEZ) (Theisen 2000, S. 198ff).
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10.3.6 Phasen der Erstellung
einer wissenschaftlichen Arbeit Die erste Frage,die Studierende vor dem Einstieg in eine wissenschaftliche Hausarbeit oder Diplomarbeit in der Regel stellen, ist die nach der geforderten Länge der Arbeit. Meist reagieren Lehrende auf diese Frage in der Sache unpräzise und im Ton leicht zerknirscht, würden sie doch ein Gespräch über mögliche Themenstellungen und Arbeitshypothesen, aktuelle Forschungsfragen und jüngste Veröffentlichungen an dieser Stelle vorziehen. Aus Sicht der Studierenden ist die Frage nach der geforderten Länge der wissenschaftlichen Arbeit natürlich berechtigt,kommt darin doch sowohl ein sachlicher Aspekt (»Wie viele Seiten? Worauf muss ich mich einstellen?«) als auch ein höchst emotionaler (»So viele Seiten? Wie soll ich die nur alle füllen ?«) zum Ausdruck. Fast alle Studierenden machen dann im Verlaufe ihres Schreibprozesses die Erfahrung, dass die Gefahr meist viel größer ist, die geforderte Seitenzahl zu über- denn zu unterschreiten. In der Vorbereitungsphase und in der Recherche tun sich nämlich in der Regel ständig neue Türen oder Fenster zu interessanten, oft überraschenden thematischen Bezügen auf, so dass es in der Strukturierungsphase wirklich darauf ankommt, den roten Faden der eigenen Fragestellung und Gedankenführung nicht aus den Augen zu lassen. Es bietet sich daher an, fünf Phasen bei der Erstellung einer wissenschaftlichen Arbeit zu unterscheiden und diese folgendermaßen zu präzisieren: 4 1. In der Vorbereitungsphase besteht die Aufgabe vorwiegend darin, sich ein Thema zu suchen, die Leit- oder Forschungsfrage(n) zu formulieren und eine Betreuung (eine Professorin / einen Professor) für die vorgesehene Arbeit zu gewinnen. 4 2. In der Erkundungsphase wird vor dem Hintergrund des Themas / der Fragestellung die wissenschaftliche Literatur befragt. Dazu werden Fachlexika, Lehrbücher, Monographien, Sammelbände, Fachzeitschriften und das World Wide Web genutzt. 4 3. In der Strukturierungsphase ist es wesentlich, das vorhandene Material mit der eigenen Fragestellung zu verknüpfen und die vorgese-
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hene Gliederung fortwährend zu überprüfen. Konkret heißt dies, nicht zwanghaft an der ursprünglichen Gliederung festzuhalten, denn diese entstand als erste Gedankenskizze ohne detaillierte Kenntnis des recherchierten Forschungsstandes. Zur erfolgreichen »Bewältigung« des Materials und des wissenschaftlichen Vorhabens gehört es aber,Gliederungen zu modifizieren oder gar umzuwerfen und die Prozesshaftigkeit des Forschens und Erkennens zu berücksichtigen. In dieser Phase sollte man bereits bestrebt sein,sich von unnötigen Ballaststoffen zu trennen. Manchmal ist der Abschied von der inhaltlichen Fülle der Exzerpte schmerzlich, denn Zeit und Mühe steckt in jeder Notiz, in jedem durchgearbeiteten Artikel, Aufsatz oder Buch.Aber wissenschaftliche Arbeitsfähigkeit zeigt sich nicht primär in quantitativer Aufblähung eines Themas, auch nicht in der Aufstellung endloser Literaturverzeichnisse, sondern in der präzisen, erkenntnisorientierten Ausrichtung bei der Beantwortung der zugrundeliegenden Fragestellung und in der Stringenz der Gedankenführung. 4 4. In der Schreibphase kommt es darauf an, tatsächlich wissenschaftlich »sauber« zu arbeiten, also Aspekte der Validität (Gültigkeit), der Reliabilität (Zuverlässigkeit) und der Exaktheit (z.B.bei der Angabe der benutzten Literatur,bei der Kenntlichmachung von Zitaten usw.) zu beachten. 4 5. In der Abschlussphase wird oft übersehen, dass die Reflexion der Gesamtarbeit im Schlusskapitel, dann das Korrekturlesen durch Fachkolleginnen / -kollegen und auch durch rechtschreibkundige Fehlerteufel-Spürhunde, die anschließende Umgestaltung der Arbeit bzw. das Layout der Endfassung und schließlich der Druck und die Bindung der Arbeit nicht in ein paar Stunden vor dem allerletzten Abgabetermin zu leisten ist. (Manche meinen zwar, der absolute Stress und die letzte »durchtippte« Nacht gehörten zu jeder Abschlussarbeit, aber Panik ist doch ein ungeeigneter Zustand bei der Fertigstellung eines so wichtigen Produktes!)
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Kapitel 10 · Wie sich die Wissenschaft ihr Wissen schafft
Zusammenfassung
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Als junge Wissenschaftsdisziplin muss sich die Pflegewissenschaft ihren Standort im Wissenschaftsbetrieb erst suchen und behaupten. Dabei ist es sinnvoll, von etablierten und reflektierten wissenschaftstheoretischen Grundlagen auszugehen und nicht alle Gedanken und Begriffe neu zu denken. Die verschiedenen theoretischen Ansätze wie Empirismus, Phänomemologie, Handlungstheorie und nicht zuletzt Konstruktivismus schließen sich nicht aus, sondern können sinnvoll je nach konkreter Ausrichtung der Forschungsvorhaben als Ausgangspunkt dienen. Auch die Pflegewissenschaft ist an die Anforderungen des wissenschaftlichen Arbeitens gebunden, auch wenn sie überwiegend einen direkten Handlungsbezug pflegt. Alle Arbeitsschritte müssen nachvollziehbar, begründet und belegt sein.
3 Methodische Vorschläge für eine Seminargestaltung Wer sich der Wissenschaftstheorie zuwendet, der sieht sich einem schier unüberwindbaren Berg an Texten, Theorien, Begrifflichkeiten und einer mehr als zweitausendjährigen Wissenschaftsgeschichte gegenüber. Soll man bei Aristoteles beginnen und im Eilschritt bis zum radikalen Konstruktivismus voranschreiten? Soll man den eigenen,favorisierten Ansatz wissenschaftlichen Denkens und Arbeitens (und wer ist schon frei von eindeutigen Prägungen und Präferenzen auf diesem Gebiet?) zum Ausgangspunkt der Erkundung eines Seminars machen? Macht es Sinn, eine Reihe von Arbeitsgruppen zu bilden und jedem Team einen wissenschaftstheoretischen Ansatz zur Erarbeitung und Darstellung aufzutragen; oder führt das zu dem häufig festzustellenden Ergebnis, dass jede Gruppe nur am eigenen Referat bastelt und kaum aufmerksam ist für die Ergebnisse der anderen? Wie viel eigene Recherche ist Studierenden im Lernfeld Wissenschaftstheorie überhaupt zuzumuten, ohne sie der Gefahr des Ertrinkens oder der frustrierten Verweigerung bei den häufig recht spröden, mühsamen Texten auszusetzen?
Nach Auswertung eigener Lehrerfahrungen hat es sich als sinnvoll erwiesen, zu Beginn eines solchen Seminars (durchaus auch zur Beginn jeder neuen Sitzung) ein Praxisbeispiel aus dem Bereich der Pflege bzw. der Pflegepädagogik voranzustellen, welches sich auf sehr konkreter Ebene mit der Frage nach den Bedingungen von Erkenntnis – Erforschung – Theoriebildung befasst, also z. B.: Beispiel Stellen wir uns folgendes Projekt vor: In der Stadt M. soll eine Umfrage zum Thema: »Sind die Kliniken auf die Behandlung von Menschen mit geistiger Behinderung ausreichend vorbereitet?« durchgeführt werden. Dazu sind – soweit möglich – betroffene Menschen und ihre Angehörigen,Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus Einrichtungen der Behindertenhilfe sowie Pflegekräfte und Ärztinnen / Ärzte in den Krankenhäusern zu befragen.
An solch einem Beispiel ist dann durchzuarbeiten (vielleicht auch: durchzuspielen), welche wissenschaftstheoretischen Ansätze (inklusive der jeweiligen methodischen Vorgehensweisen) geeignet sein könnten,die Projektidee zu verwirklichen.Dabei stellen sich ganz zwangsläufig Fragen nach Erkenntnisinteressen,überprüfbaren und verwertbaren Forschungsergebnissen,Handlungsorientierungen, Lebenswelten und Wirklichkeitskonstruktionen.
Empfehlungen zum Weiterlernen Wer nach der Lektüre der wissenschaftstheoretischen Grundsätze und Ansätze mehr Lust als Frust entwickelt hat, sich mit diesem Thema vertiefter zu beschäftigen, der wird in den Darstellungen von Gunnar Bernler u.Lisbeth Johnsson,Kurt Eberhard, Wilhelm Essler et al. und Hans Poser lesbare Aus-
führungen und Präzisierungen finden. Um Begrifflichkeiten und Hintergründe komprimiert zu erfahren, ist das Handlexikon der Wissenschaftstheorie von Helmut Seiffert u. Gerard Radnitzky unersetzlich. Zu empfehlen ist auch, sich in der Bibliothek einen ruhigen Platz zu suchen und die Nase in den einen oder anderen »Klassiker« der Wissenschaftstheorie zu stecken, also z. B. bei
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Dilthey zu stöbern, bei Gadamer, Habermas, Husserl, Luhmann, Mead oder Popper; dabei reicht
manchmal schon eine relativ kurze Lektüre,um ein Gefühl dafür zu entwickeln, ob dieser Autor/dieser Ansatz auf eine innere Resonanz stößt oder nicht. Von vorne bis hinten sind die wenigsten der angeführten Bücher zu lesen,und manch renommierter Wissenschaftler gibt offen oder hinter vorgehaltener Hand zu, Humberto Maturana nie zu Ende gelesen zu haben – vielleicht reichen ja auch schon die ersten 70 Seiten eines Buches, um vom »Baum der Erkenntnis« zu kosten. Literatur Albert H (1981) Konstruktion und Kritik statt Begründung. In: Menne E,Türk HJ (Hrsg) Erkenntnistheorie.Philosophisches Kolleg, Heft 7. Düsseldorf, S 92–98 Bartolomeyczik S (1991) Zur Konzeption praxisbezogener Pflegeforschung. In: Pflege. Bd 4, Heft 2: 120–138 Bernler G, Johnsson L (1997) Psychosoziale Arbeit. Eine praktische Theorie. Beltz, Weinheim u. Basel Braun E, Radermacher H (Hrsg) (1978) Wissenschaftstheoretisches Lexikon. Styria, Graz Wien Köln Burnard P, Morrison P (1995) Forschen in der Pflege. Aus dem Englischen von G. Rieforth. Lambertus, Freiburg i. Breisgau Danner H (1994) Methoden geisteswissenschaftlicher Pädagogik – Einführung in die Hermeneutik, Phänomenologie und Dialektik. Reinhardt, München Danzer G (1995) Psychosomatische Medizin. Konzepte und Modelle. Fischer, Frankfurt a.M. Davison GC, Neale JM (1988) Klinische Psychologie. Ein Lehrbuch. 3. Aufl. Psychologische Verlags Union, München Weinheim Dieckmann A (1995) Empirische Sozialforschung.Grundlagen,Methoden, Anwendungen. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg Diederichsen U (1972) Einführung in das wissenschaftliche Denken. 2. Aufl. Werner, Düsseldorf Dilthey W (1981) Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Gesammelte Schriften Bd 7. Suhrkamp, Frankfurt a.M. Eberhard K (1999) Einführung in die Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie.Geschichte und Praxis der konkurrierenden Erkenntniswege. 2. Aufl. Kohlhammer / Urban, Stuttgart Berlin Köln Esser H, Klenovits K, Zehnpfennig H. (Hrsg) (1977) Wissenschaftstheorie. Teubner, Stuttgart Essler WH, Labude J, Uesnay S (2000) Theorie und Erfahrung. Eine Einführung in die Wissenschaftstheorie. Alber, Freiburg Foerster H von (1984) Das Konstruieren einer Wirklichkeit.In:Watzlawick P (Hrsg) Die erfundene Wirklichkeit. Piper, München Gadamer HG (1986) Wahrheit und Methode.Bd 1:Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. 5. Aufl. Mohr, Tübingen Geldsetzer L (1994) Hermeneutik. In: Seiffert H, Radnitzky G (Hrsg) Handlexikon zur Wissenschaftstheorie. 2. Aufl. dtv, München, S 127 – 139
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Habermas J (1973) Erkenntnis und Interesse. Suhrkamp, Frankfurt a. M. Habermas J (1981) Die drei Wissensformen und ihre erkenntnisleitenden Interessen. In: Menne E, Türk HJ (Hrsg) Erkenntnistheorie. Philosophisches Kolleg Heft 7, Patmos, Düsseldorf, S 115–120 Haefner K (2000) Gewinnung und Darstellung wissenschaftlicher Erkenntnisse, insbesondere für universitäre Studien. Staatsexamens-, Diplom- und Doktorarbeiten. R. Oldenbourg, München Wien Husserl E (1954) Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. W. Biemel, Den Haag Karmasin M, Ribing R (1999) Die inhaltliche und formale Gestaltung wissenschaftlicher Arbeiten. Ein Leitfaden für Haus-, Seminar- und Diplomarbeiten sowie Dissertationen. WUV-Universitätsverlag, Wien Kirchgässner G (1994) Konstruktivismus. In: Seiffert H, Radnitzky G (Hrsg) Handlexikon zur Wissenschaftstheorie. 2. Aufl. dtv, München, S 164–168 Kriz J (1999) Systemtheorie für Psychotherapeuten, Psychologen und Mediziner. Eine Einführung. Facultas, Wien Krüger HH (1999) Einführung in Theorien und Methoden der Erziehungswissenschaft. 2. Aufl. Leske u. Buderich, Opladen Kuhn TS (1976, orig. 1962) Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. 2. Aufl. Suhrkamp, Frankfurt a. M. Latour B (2000) »Schnee von gestern. Es gibt keinen Kampf zwischen Humanisten und Genetikern. In: DIE ZEIT Nr.1, 28. 12. 2000: 47 Luhmann N (1984) Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie. Suhrkamp, Frankfurt a. M. Maturana HR (1982) Erkennen.Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit. Vieweg, Braunschweig Mead GH (1973) Geist,Identität und Gesellschaft.Suhrkamp,Frankfurt a. M. Meehan EJ (1992) Praxis des wissenschaftlichen Denkens. Ein Arbeitsbuch für Studierende. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg Meleis AI (1999) Pflegetheorie. Gegenstand, Entwicklung und Perspektiven des theoretischen Denkens in der Pflege. Aus dem Englischen von Elisabeth Brock. Hans Huber, Bern Menne E,Türk HJ (Hrsg) (1981) Erkenntnistheorie. Philosophisches Kolleg, Heft 7. Patmos, Düsseldorf Popper KR (1969, orig. 1934) Logik der Forschung. 3. Aufl. Mohr, Tübingen Poser H (2001) Wissenschaftstheorie. Eine philosophische Einführung. Reclam, Ditzingen Reich J (2000) Unruh in Mendels Garten. Ein Plädoyer für mehr Kooperation zwischen Geistes- und Naturwissenschaften.In:DIE ZEIT Nr.52, 20.12.2000: 41–42 Riedel M (1978) Verstehen oder Erklären? Zur Theorie und Geschichte der hermeneutischen Wissenschaften. Klett-Cotta, Stuttgart Schoppmann S, Pohlmann M (2000) Erkenntnistheoretische Überlegungen zur phänomenologischen Pflegeforschung.In: Pflege. 13. Jhg. Heft 6: 361–366 Schröck R (1989) Forschung als Grundlage für das Lernen und Lehren in der Krankenpflege. In: Pflege. Bd 2, Heft 1: 5–8 Seiffert H, Radnitzky G (Hrsg) (1994) Handlexikon zur Wissenschaftstheorie. 2. Aufl. dtv, München
246
Kapitel 10 · Wie sich die Wissenschaft ihr Wissen schafft
Steppe H (2000) Zur Situierung und Bedeutung von Pflegetheorien in der Pflegewissenschaft.In: Pflege.13. Jhg.Heft 2: 91–98 Ströker E (1973) Einführung in die Wissenschaftstheorie. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt
10
Theisen M (2000) Wissenschaftliches Arbeiten. Technik – Methodik – Form. 10. Aufl. Vahlen, München Waldenfels B (1992) Einführung in die Phänomenologie. W. Fink, München
11 Ethische Grundlagen unserer Gesellschaft Veit Thomas 11.1
Die philosophische Ethik
11.2
Ethik und Recht
11.3
Wer ist der Mensch: Anthropologie
11.3.1
Menschenbilder
11.3.2
Was Menschen nicht widerfahren soll:
253 255
255
Negative Anthropologie 11.3.3
249
256
Folgen der Versehrbarkeit des Menschen: eine abwägende Ordnung
257
11.4
Die unvollendete Ethik unserer Marktgesellschaft: Der Liberalismus 258
11.5
Die Menschenwürde als höchstes Gut
11.5.1
Die unantastbare, absolute Menschenwürde
11.5.2
Die antastbare, relative Menschenwürde
11.6
Modelle ethischer Legitimation
11.7
Ethische Lösungsfindung durch Herrschaftsfreiheit 265
11.8
Ethisch-rechtlicher Frageleitfaden für Handlungskonflikte 266
11.9
Liste existierender ethischer Grundwerte
260 260
262
264
266
248
Kapitel 11 · Ethische Grundlagen unserer Gesellschaft
> Thesen Der Vater einer Intensivpflegerin liegt seit Monaten an ihrem Arbeitsplatz als Patient im Koma. Herz und Lungenfunktionen werden künstlich aufrecht erhalten. Die Fachärzte prognostizieren einen letalen Verlauf der Erkrankung. Seine physiologischen Lebensfunktionen werden mit Geräten aufrechterhalten. Sollen die Geräte abgeschaltet werden? Wer entscheidet, ob und wann die Geräte abgeschaltet werden? Die ethischen Fragen, die in diesem Beispiel auftreten sind umfangreich.
3 Praxisrelevanz Die Kenntnis ethischer Grundlagen der Gesellschaft und im Speziellen derjenigen der Pflegesituation befähigt, existierende und mögliche Zielkategorien der Pflege zu erkennen und ggf. kritisch zu korrigieren. Der Pflegepädagogin erlaubt sie, eigene Unterrichtsreihen zur ethischen Problematik der Pflegeberufe und deren systematische Funktion und Sinnstruktur in gesamtgesellschaftlichen Handlungszielen vorzuführen.
3 Verfahrensstruktur (. Abb. 11.1) 3 Berufliche Handlungskompetenzen
Die Darstellung und die Kapitel (11.1–11.8) des Lernfeldes »Ethik« folgen dem Aufbau:
2
Fachkompetenz
Formale und analytische Differenzierung:
Mögliche moralische und rechtliche Muster des menschlichen Zusammenlebens und Handelns formal und werthaft erkennen und ihre soziale und gesellschaftliche Tragweite bestimmen. Die formale Verbindung von Ethik und Anthropologie (»Menschenbildern«) rational erfassen. Die Beziehung und Differenz von Ethik und Recht als »weiche« Handlungsmuster erkennen. Die existierenden Grundwerte und ethischen Widersprüche der Gegenwartsgesellschaft im Ansatz verstehen.
4 1. Die Systematik der Philosophischen Ethik und ihrer Differenzierung wird formal vorgestellt. 4 2. Der Bezug der beiden Ordnungssysteme des menschlichen Handelns, Recht und Ethik, wird beschrieben. 4 3. Es wird aufgezeigt, dass Ethik nicht ohne Anthropologie auskam und auskommt.Wer ist der Mensch, muss immer auch gefragt werden, wenn menschliche Zielkategorien beschrieben oder bestimmt werden sollen.
11
2
Methodenkompetenz Konkrete Pflegesituationen und -konflikte rational auf ethische Muster hin analysieren. Von bestehenden Handlungsmustern ausgehend normativ und kritisch berufliche Pflegesituationen und Institutionalisierungen bestimmen.
2
Kommunikative Kompetenz Ethische und rechtsphilosophische Grundlagen adäquat und sachgerecht benennen und auf ein Maß begrifflich komprimieren. Metierintern, aber auch gesellschaftskritisch – ethisch diskutieren.
Konkretisierung und Gegenwartsbezug:
4 4. Das ethische Doppelwesen des Liberalismus und der Marktgesellschaft wird kurz vorgestellt. 4 5. Der Begriff Menschenwürde als das höchste ethische Gut der abendländischen Kultur wird geschichtlich und in seiner Bedeutung als Grundrechtequelle vorgestellt. 4 6. »Wer bestimmt eigentlich,wer etwas bestimmen soll?« Es wird das bekannteste basisdemokratische Modell der ethischen Legitimation von Werten und Handlungszielen als Beispiel der Metaethik aufgezeigt. 4 7. Abschließend wird als Leitfaden eine Grundfragenliste bereitgestellt, anhand dessen eine ethische Konfliktsituation analysiert werden kann. Dazu soll auch der angefügte Wertekatalog ethischer Grundwerte unserer Gesellschaft dienen.
249 11.1 · Die philosophische Ethik
11
. Abb. 11.1. Verfahrensstruktur
11.1
Die philosophische Ethik
Im Folgenden möchte ich das System der philosophischen Ethik vorstellen., Das Wort Ethik stammt von griech.»Ethos«: Gewohnheit,Sitte,Brauch,Herkommen, negativ auch Unsitte. Die philosophische Ethik beschäftigt sich also mit den zur Gewohnheit gewordenen menschlichen Beziehungen und ihren Lebensmaximen (Lebensregeln). Sie sucht die Werte, die Normen und Ziele,die menschliches Handeln bestimmen. Sie fragt nach einem »gelingenden Leben« und will das menschliche Zusammenleben verbessern. Philosophische Ethik ist von ihrer Tradition her nicht elitär,nicht konfessionell gebunden oder einseitig klientelorientiert, obwohl in der Geistesgeschichte immer auch rationale Versuche unternommen wurden, eigene Interessen unter ethischen »Argumenten« als allgemeinnützlich auszugeben. Sie strebt Gesamtlösungen des Zusammenlebens an. Die philosophische Ethik fragt also einerseits nach bestehenden und anderseits nach den »bestmöglichen« menschlichen Beziehungen. Diese können sich als aktives Handeln oder als fest geschriebene »Verhältnisse« zeigen. Ein Beispiel dafür wäre etwa die Akzeptanz eines »gottgewollten« Armutsstandes im Mittelalter, oder die relative Armut in der westlichen Wohlstandsgesellschaft.
(Oexle 1986) Man unterscheidet im System der Ethik folgende Fragestellungen: 4 Die legitimatorische ethische Hauptfrage Wer entscheidet, wer soll entscheiden? Eine autorisierte oder autoritäre Einzelperson: Der Arzt, die Tochter, die Ehefrau, die diensthabende Person? Eine Gruppe, ein Expertenteam, das einen fachlichen Konsens anstrebt? Die Mehrheit aller auch nicht fachgebildeten Betroffenen nach demokratischer Abstimmung? Der Verwandtschaftsrang der Angehörigen als rechtliche Vertreter des willensunfähigen Komapatienten? Der physiologische Zufall, die Hoffnung auf das Unerwartbare, die Demut gegenüber der Natur des Lebens? 4 Die inhaltliche ethische Hauptfrage Nach welchem Prinzip wird und sollte gehandelt werden? Hier bietet die philosophische Ethik also zwei Instrumente. Sie analysiert als »beschreibende oder deskriptive Ethik« erstens das ethische Muster, das in jeder menschlichen Handlung bewusst oder unbewusst angewandt wird. Zweitens versucht sie als »normative Ethik« Leitwerte zu finden, durch die zukünftiges menschliches Handeln verbessert werden könnte. 4 Die rechtliche Frage Gibt es Handlungsanweisungen unseres internationalen Rechtssystems für die Pflegenden
250
11
Kapitel 11 · Ethische Grundlagen unserer Gesellschaft
und die Angehörigen, wie Pflichten und Gesetze, z. B. die Pflicht zur Hilfeleistung. Aber auch das Selbstbestimmungsrecht jedes pflegebedürftigen und abhängigen Menschen könnte auf seine Wirksamkeit befragt werden. 4 Die rechtsphilosophische Frage Sind die vorhandenen rechtlichen und legalen Mittel und Gesetze, wie etwa das Verbot der aktiven Sterbehilfe, auch ethisch zu legitimieren? 4 Die wirtschaftsethische Frage Was kostet die Intensivpflege im Verhältnis zum erwarteten Nutzen für den Komapatienten? Welchen Nutzen könnten die eingesetzten wirtschaftlichen Ressourcen für einen anderen Problemfall haben? Kann man sie besser, humaner für jemanden anderes einsetzen? Welchen Preis und welche ökonomische Bedeutung sollte Pflege haben? 4 Die anthropologische Frage Was ist der Mensch? Eine Maschine,die gepflegt werden muss? Ein soziales Wesen mit Sprache, Kommunikationsverlangen und Zukunftsdimension? Ein »interexistentielles« Wesen, für das andere Menschen Wesensteile seiner selbst sind und die deshalb auch mitentscheiden dürfen? Ein Wesen mit Würde und Autonomie, das nur selbst über sich bestimmen kann? Unser Fragen nach dem richtigen Handeln hat immer dann Sinn, wenn es bestimmen kann, was wir als unser Wesen zugrunde legen. Folglich ist es wichtig zu bestimmen, wer und was wir sind oder moralisch,kulturell und gentechnologisch werden wollen. Sinnvolles Handeln kann nicht ohne das Wissen um unsere Natur geschehen. Ungenannte Menschenbilder dienen oft der Begründung bestimmter Handlungs- oder Gesellschaftsentwürfe. Um die Beantwortung dieser prinzipiellen Fragen geht es in jedem Einzelfall,in denen Menschen nach Handlungsmustern suchen. Dabei gibt es grundsätzliches Rechts- und Ethikwissen, das lokal und historisch gerade praktiziert wird. Der Pflegende wird seinen vorliegenden Einzelfall aus der Sicht der rechtlich und ethisch geklärten allgemeinen Grundsätze beurteilen,um verantwortlich handeln zu können. Dies nennt man deduktives Vorgehen (Deduktion), vom Allgemeinen aus den Einzelfall beurteilen. Verantwortlich bedeutet dabei, eine
rechtlich oder ethisch vorhandene Antwort anzuwenden. Treten aber Situationen oder Pflegefälle auf,für die keine eindeutigen Handlungsgrundsätze existieren, weil sie einen bislang unbekannten ethischen oder rechtlichen Konflikt auslösen (etwa: ist das Leben eines natürlichen oder das eines gentechnisch veränderten Menschen wertvoller),dann kann der besondere Konfliktfall verlangen, über neue oder veränderte Grundsätze nachzudenken (Induktion).
Das System der philosophischen Ethik Mit einer Theorieschablone,die über den Einzelfall der Praxis gelegt werden kann, ist sicherlich nicht zu rechnen.Ethische Professionalisierung bedeutet, dass wir flexibel auf Entscheidungsprobleme und auf Veränderungen der Gesellschaft reagieren und Konfliktfälle unseres Arbeitsfeldes theoretisch differenzieren können.Theorie bedeutet ursprünglich betrachten, sehen, anschauen. Je differenzierter wir betrachten können, um so genauer wird die Analyse oder Erkenntnis dessen, womit wir es in einem Konflikt eigentlich zu tun haben. Wichtig Die philosophische Ethik ist durch die Erfahrung der menschlichen, sozialen und wertenden Ungleichheit motiviert. Auch Pflegesituationen sind oft von Ungleichheiten an Kompetenz, Macht, Kapital, Reputation, Beziehungen etc. geprägt.
Wie können wir zusammenleben, wenn erstens jeder und jede etwas anderes in seinem Leben will und alles verschieden bewertet? Wenn zweitens Menschen ungleich an Gesundheiten und Fähigkeiten, Widerstandskraft, Anpassungsvermögen, Talenten und Erbschaften sind oder durch das Umfeld geworden sind? Eine doppelte Ungleichheit geht jeder ethischen Überlegung voraus: Die des Erbes. Menschen unterscheiden sich durch ihr natürlich-biologisches und ihr sozial-kapitales Erbe. Menschen haben eine biologische und eine soziale Erbschaft. Jemand kann zu einer bestimmten handwerklichen Tätigkeit befähigt sein, während ein anderer besser abstrakt, planerisch arbei-
251 11.1 · Die philosophische Ethik
tet und die besseren Waffen oder Überlebensbedingungen entwickelt. Die soziale Geburt kann einen Menschen am Rand der Gesellschaft, in ihrer Mitte oder in privilegierten Positionen aufwachsen lassen und entsprechend in bestimmte Metiers drängen.Diese Ungleichheit kann ein quantitatives Mehr oder Weniger sein, also ein Stärker oder Schwächer oder ein qualitatives Anderssein. Wichtig Ist der alte oder zu pflegende Mensch ein schwächerer Mensch oder nur ein Mensch in einem anderen Lebenszyklus? Ist er also weniger oder anders?
Die zweite Ungleichheit zwischen Menschen besteht in der möglichen subjektiven Andersgestaltung und Andersbewertung aller Lebensbereiche. Menschen leben und bewerten verschieden. Respektiert die philosophische Ethik diese Tatsache, ergibt sich eine ihrer Hauptfragen: Wie können objektiv verschieden ausstaffierte, talentierte und auch noch subjektiv verschieden wertende Wesen zusammenleben? Unsere pluralistische Gegenwartsgesellschaft versucht ein Höchstmaß an menschlicher Verschiedenheit zu ermöglichen. Auch die »Ethik der Pflegeberufe« hat von einem in Gemeinschaften immer auftretenden Phä-
. Abb. 11.2. Die Systematik der Ethik
11
nomen auszugehen: Der Pflegeberuf hat per se mit Menschen in prekären und hilfsbedürftigen Lebenslagen zu tun. Er ist immer mit der Machtfrage zwischen Ungleichen, der Gleichberechtigung, der Abhängigkeit und dem Missbrauch der Hilfsbedürftigkeit, aber auch dem Missbrauch durch Mitleid und Opfermentalität konfrontiert. Sehen wir uns jetzt zuerst das System der philosophischen Ethik an (. siehe Abbildung 11.2), um zu wissen, wie wir die Grundlagen einer »Ethik der Pflege« finden können. Eine wichtige Unterscheidung innerhalb der philosophischen Ethik ist die zwischen Sozial- und Individualethik. Sie betrifft den Personenkreis. Die Individualethik fragt nach den persönlichen Lebensmaximen und Lebenszielen der/des Einzelnen. Strebt z. B. ein Mensch nach Macht, nach Wohlstand, nach Freundschaft, nach fun oder events, nach einem tugendhaften Leben? Die Sozialethik fragt nach den Grundsätzen der zwischenmenschlichen Handlungen. Etwa: Gibt es gemeinsame Ziele? Sollen Menschen gleich behandelt werden? Was geschieht mit den Schwachen? Soll Gleiches mit Gleichem vergolten werden oder wird ausgleichende Gerechtigkeit praktiziert? Die zweite Unterscheidung ist die zwischen Beschreibung einer Handlung und ihrer Wertung.Die »deskriptive Ethik« beschreibt die Grundsätze, nach denen in einer Gesellschaft tatsächlich gehandelt wird. Sie beschreibt auch die Werte, die
252
Kapitel 11 · Ethische Grundlagen unserer Gesellschaft
Menschen mit ihrem Handeln praktizieren. Sie ist also analytisch ausgerichtet und sucht nicht nach dem richtigen Leben oder Zusammenleben. Erst die »normative Ethik« wertet und sagt,wie wir handeln sollten. Um eine normative Wertung aber ernsthaft zu begründen, müssen »metaethische« Überlegungen angestellt werden. Die Metaethik versucht, hinter den spezifischen Wertungen die Begründungsebene zu suchen. Sie beschäftigt sich mit der Legitimation, der Rechtfertigung und der Hintergrundanalyse einer praktizierten oder einer geforderten Ethik. Eine weitere wichtige Unterscheidung ist die zwischen der sozialen Wirkdimension einer Handlung (1) und den eigentlichen Mustern und Inhalten ethischer Grundsätze (2). Für wen ist eine Ethik ausgelegt? Gilt sie für alle, oder für ein Teilsystem der Gesellschaft oder nur für eine Berufsgruppe? Diese sozialen Wirkdimensionen sind folgende: Zu 1: Soziale Wirkdimension einer Handlung
11
4 Eine universale Ethik sucht nach einem Handlungsmuster, das trotz aller kultureller, individueller und lokaler Unterschiede global für alle Menschen gelten könnte. Sie will den gemeinsamen Nenner trotz aller weltanschaulicher und religiöser Differenzen finden, d. h. eine »Ethik der Welt« (Wie es der Theologe Hans Küng in seinem Werk »Projekt Weltethos«, München 1990, versucht hat). 4 Eine partikulare Ethik (partikular = besonders, abgetrennt) beschäftigt sich dagegen nur mit speziellen Teilbereichen der Ethik, aus denen sich aber das Gesamtethos einer Gemeinschaft zusammensetzen soll. So kann eine Medizinethik völlig anderen Grundsätzen folgen als eine Wirtschaftsethik,eine »Ethik der Pflegeberufe« genau entgegengesetzte Grundsätze zur Börse oder dem Arbeitsmarkt entwickeln, weil für die Pflege der Wert eines Menschen absolut, für den Markt jedoch nur relativ ist. 4 Die Berufsethik versucht Kodizes zu erstellen und zu begründen, die die besonderen ethischen Anforderungen für ein Metier berücksichtigt.Wie etwa die »Ethik der Pflege«, die die besondere Situation der Pflegeabhängigkeit ausdifferenzieren muss.
Ob Sozial- oder Individualethik, immer stellt sich hier die Frage, ob eine subjektive Maxime oder die Ethik einer bestimmten Gruppe für alle, nur für mich oder für einen bestimmten Kreis gelten soll. Denn selbst der Individualethiker kann seine Handlungsmaximen (etwa stets egoistisch und profitorientiert zu sein) als seine Privatsache oder als allgemeine Privatsache ausgeben, indem er seine private Maxime für individuell oder für allgemeingültig hält. Zu 2: Muster und Inhalte ethischer Grundsätze
Die eigentlichen ethischen Inhalte werden in drei grundsätzliche unterschieden: 4 Formale Ethik: Es gibt ethische Regeln, die nur formal sind. Zum Beispiel »Handle so, dass Du wollen kannst, dass Dein Handeln allgemeines Prinzip werden kann.« (Kant 1929, S. 100) Hier ist nicht gesagt, wie ich genau handeln soll, ob menschenfreundlich,aggressiv oder egoistisch. Es wird nur empfohlen zu überlegen, ob ich für mich verlangen und erwarten kann, dass mein Handeln von anderen anders beantwortet wird. (Ich bin aggressiv, erwarte aber von anderen eine freundliche und friedliche Umgangsart.) Bekanntestes Beispiel ist die Goldene Regel: »Was Du nicht willst, was man Dir tut, das füge auch keinem anderen zu.« Eine individualethische Formalethik könnte lauten: Ich verhalte mich immer so, dass es mir am meisten nützt. Auch hier wird kein bestimmtes Handeln festgelegt, sondern nur die Formel meiner Handlungsweise: In diesem Beispiel: Ich bin opportunistisch, wenn es mir nützt. 4 Wertethik: Sie dagegen sucht bestimmte Handlungsnormen, wie Brüderlichkeit, Egoismus, Nächstenliebe,Machtsteigerung,Profitoptimierung, Lustgewinn, die einen bestimmten Wert und einen konkreten Inhalt haben. 4 Esoterik: Daneben gibt es noch mehr oder weniger unreflektierte ethische Deutungen, zu denen die Esoterik, die Ideologien, die Selbstdeutungen und Rationalisierungen eigenen Verhaltens zählen. Sie leiten ethische Handlungsanweisungen nicht selten aus dem offensichtlichen Interesse ab, die Komplexität unserer Wirklichkeit zu verkürzen und mit griffigen
253 11.2 · Ethik und Recht
Schablonen und Allerweltsbegriffen Erklärungen und Legitimationen zu bieten.Dazu nimmt man gerne als Quellen ein einziges Buch, die Sterne, ein Menschenbild, einen Naturbegriff, die »Normalität«, das »Immer-Schon« der Tradition,die Gewohnheiten,das »sichere Gefühl«, den »letzten Schrei« etc. Wichtig Im Handlungsfeld der Pflegeberufe werden die oben genannten Unterscheidungen fast ausnahmslos wirksam: Die Pflegenden brauchen für sich eine Individualethik, um die helfende Art ihres Berufes in ihre Lebensmaxime integrieren zu können. Sie benötigen eine Sozialethik, um den Umgang mit der Klientel, den Kollegen und den Institutionen zu gestalten. Sie werden als Kompetenz ihrer Professionalisierung in der Lage sein, die in der Praxis vorgefundenen rechtlichen und ethischen Muster und Wertungen zu analysieren. Daneben sind sie in der Lage,bestehende Praxismaßstäbe normativ zu kritisieren und ihre Kritik metatheoretisch im Team zu begründen. Die Dimension ihrer ethischen Werte wird sowohl universal angelegt sein als auch berufsethisch partikular. Das heißt, der Bezug zu den humanen Grundwerten, den Menschenrechten und Grundrechten ist der universale Anteil. Die soziale Besonderheit des Pflegeberufes wird das spezifische Berufsethos bilden. Als ethische Inhalte können sowohl formale Regeln (wie die »Goldene Regel«) als auch Werte (wie Toleranz, Wohlwollen, Nächstenliebe oder Egoismus und private Nutzenmaximierung) praktiziert werden.
11.2
Ethik und Recht
Angenommen, im einleitenden Beispiel will die Intensivschwester ihren Vater nicht leiden und deshalb ohne Intensivmedizin sterben lassen. Es entsteht unter anderem die Euthanasieproblematik. Welche rechtlichen Grenzen sind ihrem Handeln
11
gesetzt und welche ethischen Forderungen könnte sie entwickeln und damit die Praxis der Klinik und der Rechtsvorgaben kritisieren? Gibt es eine ethische Moralität, die auch die Rechtsvorgaben als zwar legal aber nicht legitim, weil inhuman, kritisieren kann? Rechtliche und ethische Handlungsleitlinien bestimmen unser Handeln. Wir suchen nach ihrer Beziehung zueinander. Große Aspekte zwischenmenschliche Handeln werden durch ethische Werte, Normen, aber auch durch Rechtsstrukturen gesteuert. Während ethische Werte und Normen als »schwache« Handlungsanleitungen zu beschreiben sind, bildet das Rechtssystem schon verbindliche, also »starke« Handlungsanleitungen. Diese unterliegen auch nicht der persönlichen Interpretation, sondern müssen meist von jedem Menschen befolgt werden. Gesetze, Gebote, Verbote, Rechtspflichten bilden einen festen Organisationsrahmen des menschlichen Handelns.Aus den zu Recht und Gesetz gewordenen Grundsätzen werden gesellschaftliche Institutionen, die Ordnung rechtlich verwalten. Moralische Gebote haben dagegen eine schwächere Verbindlichkeit und können auch je nach Personenkreis alternative Inhalte haben. Andererseits ist historisch zu sehen, dass Rechtsänderungen ein neues soziales Ethos bestimmt haben. Beispiele dafür sind Revolutionen. Mit der Entmachtung von Teilen der Gesellschaft wurden andere Werte eingeführt, neues Recht geschrieben und die Idee der Demokratie vorbereitet. Diese sprunghaften Rechtsänderungen waren oft Resultate von sozialen Machtkämpfen oder internationalen Kriege. Die »Allgemeine Erklärung der Menschenrechte« nach zwei Weltkriegen ist ein Beispiel für einen Quantensprung in der konsequenten gesellschaftlichen Einführung ideengeschichtlich schon lange vorhandener Normen. In nichtrevolutionären oder in friedlichen Zeiten vollzieht sich eine langsamere Wandlung ethischer Begriffe oder der realen Praxis einer Gesellschaft, die dann eine nachbessernde, reformierende Rechtsveränderung nach sich ziehen kann. Als etwa die vertragliche Ehe für partnerschaftliche Lebensgemeinschaften immer weniger üblich wurde, entstand in Deutschland das »eheähnliche Verhältnis« als Rechtsinstitut. Unverheiratete Paare wurden verheirateten in einigen Aspekten, z. B. dem Wohngeld, gleichgestellt.
254
Kapitel 11 · Ethische Grundlagen unserer Gesellschaft
Die Rechtsprechung folgt also oft den Veränderungen der Handlungs- und Lebensformen. Andererseits zeigt dieses Beispiel noch eine andere Tendenz im Verhältnis von praktizierter Ethik und Recht. Die Entstehung »eheähnlicher« Lebensgemeinschaften war eine gesellschaftliche Entmoralisierung dieser Lebensform,die es dem Gesetzgeber ermöglichte, längst existierende verfassungsmäßige Grundsätze, nämlich den Art. 2 und den Gleichheitsgrundsatz nach Art. 3 Grundgesetz auf die neue Entwicklung anzuwenden.
7
11
Art. 2 GG (Grundgesetz): Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.
Das heißt, aus vorhandenen Verfassungsgrundsätzen, hier der Gleichheit aller Menschen und des Rechts auf freie Lebensgestaltung, wird eine zivilrechtliche Konsequenz gezogen. Sofort stellt sich dabei die Frage: War die vormalige Ungleichbehandlung unverheirateter oder homosexueller Lebensgemeinschaften nicht verfassungswidrig? Nur »beschreibend« sei festgehalten, dass erstens Gesetzte und ethische Vorstellungen sich immer verändert haben und vorhandene Grundsätze und Rechte oft nicht in allen möglichen Konsequenzen in die Rechtspraxis umgesetzt wurden und werden. Ein zwar rechtlich gebundener, aber ethisch verantwortlicher Mensch ist stets gefordert, eine in seinem (Pflege-)Beruf vorgefundene rechtliche Handlungspraxis dreifach selbst zu hinterfragen. 4 1. Werden den Klienten in ihrem Alltag alle vorhandenen Rechte eingeräumt? 4 2. Werden seine / ihre Rechte konsequent angewandt? 4 3. Ist der Stand der geltenden Rechtssprechung angemessen, menschengemäß, verhältnismäßig und würdevoll? Bei der Dynamik und den Veränderungen zwischen ethischen und rechtlichen Handlungsrichtlinien können folgende Grundformen festgestellt werden:
4 Die Geschichte zeigt, dass sich Rechte und Gesetze immer geändert haben und auch zukünftig ändern lassen. Gründe dieser Rechtsentwicklungen waren neue Auffassungen von Staatsformen (z. B. vom absoluten Staat zum demokratischen Staat), Gesellschaftsformen (von der ständisch-hierarchischen zur pluralistischen Gesellschaft) und Legitimationsformen der Macht (z. B. durch den Souverän als Gott,als König,als Volk,als Naturrecht des Menschen, als Menschenrecht heute) und Menschenbildern (z. B. der Mensch als des Menschen Wolf oder als des Menschen Mensch). Diese Veränderungen folgten nicht unbedingt einem vernünftigen Prinzip, sondern entstanden oft durch Machtverschiebungen, Revolutionen und Kriegsergebnisse. Die Auffassung, dass sich Geschichte immer zum Guten und Menschlicheren hin verändert, ist eine wünschenswerte Hoffnung und ein kulturelles Endzeit – Erwartungsmuster, aber kein »Gesetz« der Geschichte. 4 Das Ethos als Praxis menschlicher Handlungen kann sich ändern.Dann folgen diesen Veränderungen oft neue Gesetze und neues Recht (siehe »eheähnliche Gemeinschaft«). 4 Bestehende, alte Gesetze oder Grundrechte können konsequent angewandt werden wie im Fall der Gleichbehandlung der Ehe zwischen Schwulen und Lesben.
Legal aber nicht legitim Der Motor einer gesellschaftlichen aber auch beruflichen Praxisänderung ist der Wandel in der Auffassung des ethisch und human Richtigen.Was heute rechtlich festgeschrieben ist, wird für legal gehalten. Ist es damit auch schon legitim? Die Legalität des Rechts lässt sich ethisch hinterfragen. Diese Unterscheidung zwischen Legalität und Legitimität ist für die klientenorientierte Praxis wichtig. Die Legalität einer Handlung orientiert sich an der Rechtmäßigkeit, den Gesetzen und den bereits vorhandenen Grund- und Menschenrechten. Die Frage nach der Legitimität einer Handlung überragt aber die Unabänderlichkeit und Verbindlichkeit allen Rechts.Wenn etwas zwar gesetz- oder rechtmäßig ist, sich aber als unmenschlich, unwürdig und unverhältnismäßig auf Klienten und Mitmenschen auswirkt, verliert es seine Legitimität
255 11.3 · Wer ist der Mensch: Anthropologie
und kann »legales Recht« kritisieren und abschaffen.Praktiziertes Recht kann insofern auch Unrecht sein! Das Halten von Sklaven, die Kinderarbeit, die Apartheid, die Rechtsprechung des Naziregimes, der totalitäre Absolutismus, die feudalen Privilegien, die Verbindung von Staat und Kirche, die Rechtlosigkeit der Frau, die Diskriminierung homosexueller Lebensgemeinschaften, die ungleiche Bezahlung gleicher Arbeit, die Besteuerung des Existenzminimums etc. waren einmal »geltendes Recht«. Nur durch die ethischen Frage nach der Legitimität dieses geltenden Rechts wurde diese praktizierte und legalisierte Unmenschlichkeit und Ungerechtigkeit überwunden.Wir können aus historischer und alltäglicher Erfahrung nicht davon ausgehen, dass dieser Prozess der Humanisierung des Rechts abgeschlossen ist. Damit wird auch die ethische Reflexion in der Praxis niemals enden können. Was sind aber die ethischen Kriterien,mit denen wir Rechtsstrukturen in der Praxis kritisieren können? Ändern sich diese Kriterien nicht ebenfalls? Menschengemäßheit und Menschenwürde werden als ethische Grundwerte angegeben, die den sozialen Umgang mit dem Klienten und auch die Einrichtung des Lebensraumes des Klienten prägen sollten. Was ist aber dem Mensch gemäß? Was entspricht seinem Wesen? Hilft hier der Begriff der Würde, der in unserer Verfassung (Art. 1 GG) und den Menschenrechtserklärungen seit 1949 das höchste Gut ist, das wir in der abendländischen Kultur besitzen. Wenn wir bestimmen wollen, was menschengemäß ist und auch der Würde des Menschen entspricht, gelangen wir an die anthropologische Frage (siehe oben) der philosophischen Ethik.
11.3
Wer ist der Mensch: Anthropologie
Bevor wir jetzt die Grundsätze suchen, »wie wir leben und handeln«, geht eines noch voraus. Wir müssen wissen, was wir als Spezies sind! Was ist der Mensch? Denn wir leiten immer wieder aus bestimmten Eigenschaften des Menschen auch ethische Folgerungen ab. Und umgekehrt werden Gesellschaftsmodelle gerne mit bestimmten Menschenbildern gerechtfertigt.Wenn wir also ethische Problemfälle lösen wollen, müssen wir offen legen,
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welches oft unbewusste Menschenbild wir hinter einer ethischen Vorstellung vorfinden. Auf die Gefahr,Menschenbilder für eigene ideologische Zwecke zu entwickeln, hat die »kritische Anthropologie« hingewiesen. Die totalitäre Gefahr von Menschenbildern ist sehr einleuchtend: Wer abweicht von diesem Bild, ist kein Mensch! Der Philosoph Adorno hatte deshalb geraten, ohne »Menschenbild« zu leben. Was macht dann aber philosophische Anthropologie aus (Löwith 1976, Diemer 1978, S 28–29, Plessner u. Bollnow 1978) ? Sie fragt trotz der Ideologiegefahr von Menschenbildern danach,ob es ein universales und allgemein gültiges Bild vom Menschen gibt, dass auch ethisch allgemein gültig sein kann. Sie sucht also etwas, das Menschen trotz ihrer willkommenen Verschiedenheit doch noch gemeinsam ist. Anthropologen haben immer wieder darauf hingewiesen, dass die ethischen und rechtlichen Institutionen dazu dienen, einen Mangel an festen tierischen Instinkten zu ersetzen, die die Weltoffenheit des Menschen ausmacht (Instinktmangeltheorien stammen etwa von Arnold Gehlen 1971/ 1986/1987, Bronislaw Malinowski 1949).
11.3.1 Menschenbilder
Was ist der Mensch? Es gab in der Geschichte der Anthropologie immer wieder Bestimmungsversuche, was der Mensch »ist«. Ihre Vertreter wollten den Menschen konstitutionell beschreiben,d.h.seine Natur noch vor der Sozialisation des konkreten Menschen in einer Gesellschaft bestimmen. Es hat Menschenbilder gegeben, die uns mit anderen Wesen vergleichen.Bekannteste Beispiele sind: 4 Die Gottesebenbildlichkeit, die sog. »Imagodei«- Vorstellung der jüdisch-christlichen Religion (»ihr werdet sein wie Gott und wissen,was gut und böse ist.« Genesis, 3,5) Der Nachteil: Andersgläubige sind keine richtigen Menschen. 4 Ein anderes Anthropologem (Das Anthropologem: Grundaussage über den Menschen) meint, der Mensch sei das »grausamste Tier«, ohne Tötungshemmung gegenüber seinen Artgenossen. Oder, wie Thomas Hobbes, Friedrich Nietzsche oder Alfred Adler es präzisiert haben, für den Naturzustand gelte,der Mensch sei »des
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Kapitel 11 · Ethische Grundlagen unserer Gesellschaft
Menschen Wolf«. Er strebe nach unbeschränkter Macht über andere. Der Mensch sei »Wille zur Macht«, der sich im Dauerkrieg aller gegen alle und in der permanenten Demütigung des Schwächeren durch den Stärkeren äußere. 4 Dann wieder seien wir ein »arrivierter Affe«, ein Emporkömmling. Im Vergleich mit dem Tier hat die Anthropologie uns als instinktunsicher,als Mängelwesen bezeichnet,was wir mit Kultur und Sprache im »sozialen Uterus« ausgleichen müssen. Wir seien eine »evolutionäre Frühgeburt« mit einer ungeheuer verlängerten Brutpflege. Das Soziale sei der Ausgleich für das,was uns an Instinkten fehlt.Wir werden viel zu früh geboren und müssen im »sozialen Uterus« leben, mit viel Hilfe durch andere. Wichtig
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Wenn wir davon ausgehen, dass wir »Frühgeburten« sind, die heute 20 Lebensjahre und mehr Unterstützung brauchen, um selbstständig leben zu können, dann wirft das auch ein anthropologisches Licht auf das Wesen der Pflegeberufe. Sie sind dann nur ein Spezialfall der Sozialisation. Eben Hilfe,Beratung,Therapie,Unterstützung,Erziehung bei der Menschwerdung. Hilfsbedürftigkeit und Hilfsfähigkeit ist dann ein wichtiges Anthropologem. Etwas, das den Menschen auszeichnet.Jede neue und jede alternde Generation ist abhängig von intergenerativer Hilfe, d. h. der Hilfe zwischen den Generationen.Der Mensch braucht zur Menschwerdung eine »Enkulturation«.Pflegesituationen sind im weitesten Sinne Teil dieser »Enkulturation«,d.h.eine werte- und normenvermittelnde Tätigkeit. In der philosophischen Anthropologie wird dies auch mit der »Interexistentialität« (Rentsch 2001) des Menschen bezeichnet. Sein Wesen ist als hilfsbedürftiges und hilfespendendes immer zwischen-menschlich. Wir Menschen können das Leben nicht allein bewältigen. Ein Mensch ist in seiner Daseinsform kein selbstständiges Individuum, sondern ein kommunizierendes Gemeinwesen.
11.3.2 Was Menschen
nicht widerfahren soll: Negative Anthropologie Eine »Anthropologie« hat sich besonders unter dem Eindruck der Gefahr von Menschenbildern heute durchgesetzt, nämlich der Typ des »negativen« Menschenbildes. Was heißt das? Negativ bedeutet hier nicht schlecht, sondern wir unterlassen Aussagen darüber, was der Mensch ist und definieren uns durch das,was wir nicht sind,oder nicht ertragen wollen. Das wird »negative Anthropologie« genannt. Sie macht Aussagen über etwas, von dem angenommen werden kann, dass es kein Mensch erleben will.Das gemeinte Phänomen ist deshalb in der Lage universal zu gelten. Es ist eine der wichtigsten anthropologischen Grundlagen der Pflegewissenschaften. Menschen wollen nicht vergeblich leiden. Leiden zu instrumentalisieren, um ein besseres oder späteres Lebensglück zu erreichen, zählt natürlich zu der menschlichen Fähigkeit, die Gegenwart zu überschreiten und mit dem Glauben, der Hoffnung oder der Gewissheit auf Besserung schlimme Lebensphasen zu überstehen und sogar einzuplanen. Nicht vergeblich physisch,seelisch,sozial durch Ausgrenzung,Abwertung, Demütigung, Entwürdigung leiden – diese Idee der Leidvermeidung oder Leidminimierung ist so alt wie die Weltreligionen und Utopien und so alt wie deren Erlösungs- und Heilslehren. Selbst die atheistische Religion des Buddhismus sucht in ihrer Weisheitslehre eine »Erlösung vom Leiden« (Khoury 1978). Wir andererseits haben die Idee der Leidreduzierung als Grundlage unserer Völkergemeinschaft säkularisiert, d. h. im Völkerrecht, in der Gründung der Vereinten Nationen verweltlicht. Ebenso in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Die Charta der Vereinten Nationen von 1945 spricht in ihrer Präambel, dem Vorwort, deshalb von dem »unsäglichen Leid«, das wir verhindern müssen. Wichtig Folgt aus der Anthropologie, dass Menschen nicht leiden wollen, für die Intensivschwester automatisch, dass sie ihrem Va-
257 11.3 · Wer ist der Mensch: Anthropologie
ter Sterbehilfe leistet? Gibt es noch andere Werte, die den Unwert des Leidens überragen und Menschen zur Erduldung jedes Leidens auffordern? Gehört es zur Würde des Menschen, auch sein Leiden selbstbestimmt anzunehmen oder abzulehnen?
Anthropologisch kann zunächst gelten: Durch die Fähigkeit, Schmerz, Angst oder soziale Not als solche wahrzunehmen,wird Leiden für den Menschen zum Korrektiv der Selbstbestimmung. Am Leitfaden einer Not können Menschen sich und ihre Gesellschaftsform gewissermaßen »negativ« bestimmen. Hier gibt die Anthropologie auch der Ethik der Pflegeberufe Entscheidungshilfen. Denn wenn wir ethisch aus Toleranz kein fixes Menschenbild festlegen wollen, sind wir in der Gefahr der Beliebigkeit, des Relativismus. Mit Relativismus wird philosophisch eine doppelte Aussage verstanden: Die positive Aussage lautet: Es gibt keine absolute oder totalitäre Wahrheit und Norm, der sich alle Menschen zu unterwerfen hätten. Dieser Relativismus ist damit die Basis unser Toleranz gegenüber der menschlichen Lebensund Glaubensvielfalt. Der negative Begriff des Relativismus meint eine Beliebigkeit, die glauben macht, alles sei erlaubt. Danach gäbe es keine humanen rechtlichen und ethischen Werte, kein Handeln, das zu ächten sei. Alles was Menschen widerfährt, wäre dann zu tolerieren. Wenn Menschen aber nicht leiden wollen, dann haben wir einen ersten ethischen Leitfaden, was nicht sein soll. Das meint »negative Anthropologie«: Menschen wollen nicht leiden. Und vom dem ausgehend können wir behutsam ethisch bestimmen, was im persönlichen, aber auch im beruflichen Leben nicht sein sollte. Menschliches Leiden ist wie der Wegweiser zu unserem Wesen.Ebenso kann die leidvolle menschliche Geschichte negativ den Weg weisen, was zwischenmenschlich nicht sein sollte. 11.3.3 Folgen der Versehrbarkeit
des Menschen: eine abwägende Ordnung Wenn ein Mensch nicht leiden will, warum aber sollte daraus folgen, einem anderen Menschen in
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einer leidvollen Situation zu helfen? Dies ist eine (pflege-) ethische Grundfrage. Warum soll sich ein Mensch um einen andern kümmern, dem es schlechter geht? Warum soll der Stärkere nicht andere unterjochen und für seine eigenen Interessen instrumentalisieren? Zur Beantwortung dieser Frage kann ein Beispiel aus der Rechtsgeschichte dienen: Die Fehde im Mittelalter.Es geht dabei um die Abwägung zwischen zwei ethischen Gütern: Um die Abwägung zwischen Freiheit und Leid. Beispiel Fehde, die vom 11.–16. Jahrhundert in Europa praktiziert wurde, meinte, dass private Racheakte gegen Feinde durchgeführt werden durften. Gängig war der allgemeine Bürgerkrieg und die Unsicherheit, aus heiterem Himmel überfallen,getötet oder verletzt zu werden.Um diesem Chaos und dem Risiko vorzubeugen, wurde es später Pflicht, die Fehdebrutalitäten erst nach allen anderen gütigen Versuchen anzuwenden.Man musste sie außerdem ankündigen, durch den Fehdehandschuh, den man als Kampfansage werfen musste. Später durfte man sich nur noch an bestimmten Tagen bekämpfen. Es gab kampffreie Tage, etwa den »Gottesfrieden« an Festen und schließlich den »Viertagefriede« von Mittwochabend bis Montagmorgen.
Was hier rechtsgeschichtlich entsteht, ist eine Abwägung. Die Freiheit zur Rache und Selbstjustiz wird abgewogen gegen die Sicherheit, nicht willkürlich umzukommen.Man übergab ein Stück persönlicher Freiheit dem Rechtssystem. Ein Teil der Freiheiten wurde eingeschränkt, um ein anderes Gut zu erhalten: das Abwehrrecht oder die Sicherheit gegen Gewalttaten und Willkür. Rechtsphilosophisch spricht man von der negativen Freiheit. Es ist die Freiheit »von« etwas. Ich bin frei von Gewaltübergriffen. Ich erhalte negative Schutzfreiheiten und gebe einen Teil meiner positiven Handlungsfreiheiten dafür ab. Ich darf dann nicht mehr töten, verletzen, tun und lassen, was ich will und meinen Nachbar endlich verprügeln. Um Unsicherheit, Gewalt und Leid abzubauen, entsteht
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Kapitel 11 · Ethische Grundlagen unserer Gesellschaft
die Idee der Rechtsordnung.Es werden Freiheit und Leid als ethische Güter miteinander abgewogen. In unserem Beispiel kann die negative Freiheit des Vaters, nicht leiden zu müssen, mit seiner positiven Freiheit und seinem Recht, zukünftig doch möglicherweise wieder autonom zu leben, abgewogen werden. Menschen wollen nicht vergeblich leiden.Dafür geben sie Freiheiten ab und erhalten Schutz und Sicherheiten. Private Lebenszielsetzungen werden mit solidarischen Zielen abgewogen. Gibt es auf dieser Waage zu viel positive private Handlungsfreiheit (rechtes Gewicht), wird das Leben immer unsicherer und risikoreicher. Gibt es aber (linkes Gewicht) zu viel Sicherheiten und Pflichten,nimmt die Handlungsfreiheit auf der rechten Seite der Waage immer mehr ab. Zwischen positiver Handlungsfreiheit und negativer Schutzfreiheit wird bis heute in unsere Rechtsprechung hinein abgewogen, z. B. in vielen Urteilen des Bundesverfassungsgerichts wie dem Kruzifixurteil (BVerfGE 91, 1). Wichtig
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Zwischenergebnis der Anthropologie: Menschen wollen nicht leiden. Sie leben in Interexistentialität und sind von Natur aus auf Hilfe anderer angewiesen.Deshalb entstand die ethische und juristische Idee der Abwägung von Gütern und Rechten.
11.4
Die unvollendete Ethik unserer Marktgesellschaft: Der Liberalismus
Seit den 90er Jahren des 20. Jahrhundert sieht sich die Pflegewissenschaft im Rahmen der »Ökonomisierung der Gesellschaft« auch mit dem KostenNutzendenken konfrontiert. Man spricht von einer »BWL-isierung« der sozialen Frage.Wichtig in diesem Zusammenhang werden Leanmanagement, Budgetierung, Sponsoring, Controlling, Kostendeckungsprinzip,Qualitätssicherung,Fundraising, also die Mittelbeschaffung.Soziale Berufe sollen an effizienten Umgang mit knappen Finanzressourcen gewöhnt werden.
Der »Liberalismus« bildet eine der wichtigsten ethischen Grundlagen unserer Gesellschaft. Er hat zwei Gesichter und Ausprägungen: den politischen und den wirtschaftlichen Liberalismus (. Abb.11.3). Zusammen bildet er eine widersprüchliche Gestalt, die zugleich soziale Probleme schafft und sie abzuschaffen versucht. Der Name ist Programm: Liberalismus will befreien. Das Ziel des politischen Liberalismus ist die Befreiung des Menschen von Fremdbestimmung. Der Engländer John Locke hat das am Ende des 17. Jahrhundert so ausgedrückt:
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Die natürliche Freiheit des Menschen liegt darin, von jeder höheren Gewalt auf Erden frei zu sein, nicht dem Willen der gesetzgebenden Gewalt einiger Menschen unterworfen zu sein … (John Locke: Zwei Abhandlungen über die Regierungen, II 4. Kap. § 27).
Das wird die Voraussetzung zur Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung (1776) und der Französischen Revolution (1789), bei der zum ersten Mal Menschenrechte verkündet werden (allerdings hatten nur Männer Menschenwürde,und auch nur diejenigen,die eine bestimmte Steuerhöhe aufbringen konnten). Der politische Liberalismus führt im 20. Jahrhundert zur Erklärung der Menschenrechte,den politisch-bürgerlichen Grundrechten in unserer Verfassung und zu unseren bürgerlichen positiven und negativen Grundfreiheiten. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1949 legt folgende Grundrechte fest:
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Art. 1 (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit): Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen. Art. 2 (Verbot der Diskriminierung); Art. 3 (Recht auf Leben und Freiheit); Art. 4 (Verbot der Sklaverei und des Sklavenhandels); Art. 5 (Verbot der Folter); Art. 6 (Anerkennung der Rechtsperson); Art 7 (Gleichheit vor dem Gesetz); Art. 8 (Anspruch auf Rechtsschutz).
259 11.4 · Die unvollendete Ethik unserer Marktgesellschaft: Der Liberalismus
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. Abb. 11.3. Der Liberalismus
Der politische Liberalismus sieht im Nebenmenschen die Garantie der Freiheit – als Solidarität.Von ihm stammt der Wärmestrom, die Ideen der Brüderlichkeit und Gleichheit.Er schafft die natürliche menschliche Ungleichheit durch politische Gleichstellung ab! Seitdem sind alle Menschen »frei und gleich an Würde und Rechten geboren«, wie es in der »Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte« der Vereinten Nationen von 1948 in Art. 1 heißt. Der wirtschaftliche Liberalismus versuchte im 18. Jahrhundert zunächst Vergleichbares, nämlich die Befreiung von wirtschaftlicher Bevormundung. Klerus und Adel bevormundeten im Merkantilismus durch Standesschranken,Privilegien,Handelsund Vertragsverbote die anderen Stände. Es gab Frondienste, Steuern, den Kirchenzehnten, die rechtliche Unfreiheit und Ausnutzung der Bauern und Landlosen im Feudalismus.Der wirtschaftliche Liberalismus versucht das staatsdirigistische Wirtschaften des Adels abzuschütteln,das zu Lasten des größten Teils der Bevölkerung ging. Wirtschaften heißt bis dahin Hofhaltung und Staatswirtschaft. Diese Wirtschaftsform wird auch Kameralistik genannt. Es ist die deutsche Richtung des Merkantilismus. Vorrangige Zielsetzung ist die Sicherung der Staatsfinanzen, wobei die Kameralistik als effektivstes Mittel die Förderung eigenständiger Produktivkräfte der Agrikultur, Textil- und Metallindustrie in großgewerbliche Betriebsformen gesehen hat.
Zu Beginn des 19. Jahrhundert (um 1810) zeigt sich auch eine reale Wirkung der wirtschaftsliberalistischen Idee (Smith 1978). Die Bauernbefreiung beginnt in Europa. Die Sklaverei wird langsam abgeschafft. Die Vertrags- und Handelsfreiheit wird eingeführt. Der politische Liberalismus hat die natürliche Ungleichheit der Menschen politisch ausgeglichen. Menschen haben gleiche Rechte erhalten. Der wirtschaftliche Liberalismus setzt dagegen auf die Konkurrenz der Kräfte, den Konkurrenzkampf. Er befreit wirtschaftlich Abhängige vom Druck der alten Privilegien,die sich Klerus und Adel bis ins 18.Jahrhundert hinein vorbehalten hatten. Diese Art der Befreiung führt zum Prinzip der freien Marktkräfte, des Lebenskampfes frei wirtschaftlich Handelnder. Der Andere ist und bleibt Konkurrent. Er konkurriert als Nebenmensch mit dem wirtschaftlichen Egoismus und den positiven Freiheiten des Anderen. Die wirtschaftliche Liberalisierung hat somit zur Abschaffung ungerechter Privilegien geführt. Sie findet aber keine humane Antwort auf die Frage, wie die natürliche oder wirtschaftshistorische Ungleichheit in eine Zivilgesellschaft ohne Wirtschaftskampf und Verlierer überführt werden kann. Es ist vielmehr offensichtlich, dass ohne eine rechtliche Gleichstellung ungleicher und ungleich ausstaffierter Wirtschaftssubjekte eine Gesellschaft entsteht, die den Schutz des »sozial« Schwächeren vor dem Missbrauch des Stärkeren nicht grund-
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Kapitel 11 · Ethische Grundlagen unserer Gesellschaft
rechtlich garantiert. Der wirtschaftliche Liberalismus tendiert nicht zu einer zivilen Wirtschaftsgesellschaft, in der auch der sozial Schwache die wirtschaftliche Grundrechtegleichheit erhält, die ihm der politische Liberalismus in Form der politischbürgerlichen Rechte längst geschaffen hat. Für den »reinen wirtschaftlichen Liberalismus« oder die »reine Marktwirtschaft« sind ausgleichende Gerechtigkeit und Freiheit unvereinbar. Ein Sozialstaat zerstöre die Freiheit und die Gerechtigkeit, sagen ihre Vertreter. Der Stärkere würde durch die ausgleichende Gerechtigkeit des Sozialstaates und seiner Dienste ungerecht behandelt. Mit diesem Doppelantlitz deklariert der Liberalismus einerseits die grundrechtliche menschliche Gleichheit und Brüderlichkeit und anderseits die Konkurrenz ungleich kapitalstarker Wirtschaftssubjekte. Was die Idee des politischen Liberalismus humanistisch eint, führt der wirtschaftliche Liberalismus zurück zur wirtschaftssozialen Hierarchisierung bzw. Exklusion. Beide ethischen Strömungen, die politisch-bürgerliche Gleichheit und Gleichwertigkeit aller Menschen und die wirtschaftssoziale Ungleichwertigkeit, treffen wir auch im Berufsalltag an. Menschen sind demnach »gleich an Würde und Rechten« geboren und zugleich mehr oder weniger wert auf der sozialen Werthierarchie des Marktes. So kann der im Koma liegende Vater als rein volkswirtschaftlicher Kostenfaktor und als unproduktives Wesen aufgefasst . Abb. 11.4. Die Menschenwürde
werden, »das« durch seine Unfähigkeit zu handeln, der Logik wirtschaftlicher Kalkulation »zugeführt« wird.
11.5
Die Menschenwürde als höchstes Gut
Beispiel Eine Studentin äußert in einem Ethikseminar zum Thema Menschenwürde, dass sie gesehen habe, wie ein Jugendlicher einem anderen mit einem Baseballschläger solange auf den Kopf geschlagen habe, bis dieser blutüberströmt zusammengebrochen sei.Für sie,sagt sie bewegt, habe dieser brutale Jugendliche keine Menschenwürde und verdiene keine Achtung mehr.
11.5.1 Die unantastbare, absolute
Menschenwürde Beispiel Aus dem politischen Liberalismus geht neben der Idee der Gleichheit aller Menschen auch die Idee der Menschenwürde hervor. Sie ist eine weitere ethische Grundlage der Pflegeberufe (. Abb. 11.4).
261 11.5 · Die Menschenwürde als höchstes Gut
Die alten Griechen und Römer kannten die Würde nur im Sinne des Würdenträgers, also verbunden mit einem Amt.In Amt und Würden sein,sagen wir heute noch. Würde war an einen sozialen Rang gebunden und ohne anerkanntes Amt hatte jemand auch keine Würde. Erst der antike Denker Cicero hat dem Menschen eine »dignitas«, d. h. Würde schlechthin, zugesprochen, die nicht an persönliche Leistung, an eine soziale Stellung und an das Ansehen durch Ämter gebunden war. Sie sollte alle Menschen gleich betreffen. Nachdem das frühe Christentum die Würde als göttliche Gabe verstanden hatte, löst in der Renaissance Pico della Mirandola die Idee der Würde wieder von aller Theologie.
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Du kannst den Platz, das Aussehen und alle die Gaben, die du dir selber wünschst, nach deinem eigenen Willen und Entschluss erhalten und besitzen (Pico della Mirandola 1997, S. 46).
Würde war zum ersten Mal an Selbstbestimmung gebunden. Die Idee der Autonomie, der Selbstbestimmung entsteht. Erst später und dann ganz typisch für unser Abendland wird Würde an die menschliche Fähigkeit des Denkens gebunden. Bei Blaise Pascal, im 17 Jahrhundert, findet sich der Satz:
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Der Mensch ist offensichtlich zum Denken befähigt; darin liegt seine ganze Würde und sein ganzes Verdienst; seine Pflicht ist richtig zu denken (Blaise Pascal, Pensées, Fr. 146).
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Es ist nämlich etwas in uns, was zu bewundern wir niemals aufhören können, wenn wir es einmal ins Auge gefasst haben, und dieses ist zugleich dasjenige, was die Menschheit in der Idee zur Würde erhebt, »Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst (Kant 1929, S 102).
Würde ist deshalb in jedem menschlichen Wesen vorhanden,weil sich in ihm oder in ihr die Menschheit repräsentiert. Das war der Clou. Menschenwürde ist eigentlich Menschheitswürde. Man solle im Menschen seine Menschheit würdigen, schrieb Kant. Die Präambel der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen von 1948 übernimmt diese Idee in ihrem ersten Satz: die »allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnende Würde«, formuliert sie, die Menschenwürde und die Menschenrechte seien »das Gewissen der Menschheit« (United Nations 1992). Erst jetzt ist auch jede Frau, jedes Kind, jeder ehemalige Sklave, jeder Behinderte, jeder Embryo, und wir würden heute auch sagen, auch das menschliche Genom, Träger der unveräußerlichen Menschheitswürde. Dies ist bis heute auch die Auffassung des Bundesverfassungsgerichts zu Art.1 des Grundgesetzes. Die Würde des Menschen sei unantastbar. Auch das Deutsche Sozialgesetzbuch gibt dem Staat in seinem Art. 1 den Auftrag, »ein menschenwürdiges Dasein zu sichern«.
Wichtig
Der kleine Nachteil bei Blaise Pascal ist deutlich. Wer nicht richtig denken kann,hat auch keine Würde.Einer schaffte es aber,eine Formel zu finden,die die Menschenwürde für jeden Menschen,ob krank, schwach,behindert oder ungeboren,gelten lässt.Er hatte damit die Formel gefunden,die heute noch als die sogenannte »Objektformel« im Verfassungsrecht und vom Bundesverfassungsgericht gebraucht wird: Den Menschen nicht zum Objekt machen, hatte er gesagt. Der Mensch sei immer Subjekt und Zweck seiner selbst. Es war der Philosoph Emmanuel Kant z. Z. der Französischen Revolution:
Unveräußerlich bedeutet: Kein Gesetz kann die Menschenwürde abschaffen. Kein Mensch kann seine Würde ablegen.
Heute gelten unsere Grundrechte und Grundfreiheiten als Definition der Menschenwürde.Wer versucht, die in unserer nationalen und internationalen Verfassung festgelegten Grundrechte im Umgang mit Menschen außer Kraft zu setzen, verstößt gegen die durch sie ausgedrückte Idee der Men-
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Kapitel 11 · Ethische Grundlagen unserer Gesellschaft
schenwürde. Das erste wichtigste Grundrecht unserer deutschen Verfassung, aus dem alle anderen inhaltlich hervorgehen, lautet: Art. 1: 4 (1) Die Würde des Menschen ist unantastbar.Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. 4 (2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerbaren Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Menschheit, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt. 4 (3) Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.
absoluten Wert haben? Warum soll es eine ethische Pflicht geben, zu helfen, wenn doch trotz größter Not und Leiden Menschen niemals ihrer Würde beraubt werden können? Das klingt nach Zweiwelten-Denken.Hier leidet ein Mensch in der gesellschaftlichen Wirklichkeit, sagen wir einmal unter relativer Armut,Verlassenheit, Alter oder Krankheit, und unabhängig davon hat er seine Würde und seinen Wert, die das alles nicht tangiert? Deutlich wird mit dieser Frage, dass Würde auch relativ, also in Bezug zu der Situation anderer zu verstehen ist. Ein Beispiel aus der neueren Rechtsprechung: Beispiel
Wichtig Der Mensch ist immer Zweck jeder Handlung, niemals Mittel. Keine Institution hat einen Selbstzweck, dem sich der Mensch unterwerfen müsste.
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Im Anfangsbeispiel darf der Vater im Koma niemals als »Störenfried« einer institutionellen oder strukturellen Routine gelten. Sein Intensivplatz wird nicht für einen anderen Menschen »besser gebraucht«. Zwischen Menschenleben wird grundsätzlich nicht abwogen.
11.5.2 Die antastbare, relative
Menschenwürde Menschenwürde wird damit als absoluter Wert etabliert, jenseits von allen Unterschieden von Rasse, des Geschlecht, Herkunft, Religion, Eigentum usw. Der absolute Wert jedes Menschen ist damit verfassungs- und menschenrechtlich gesichert. Diese Art der Würde kann absolute Würde heißen, weil sie jedem Menschen einen absoluten Wert zuspricht und vor der Willkür jeder Gesetzgebung schützt. Kein Parlament kann legitim die Menschenwürde per Gesetz abschaffen. Es fehlt aber damit etwas, was das Dilemma der sozialen Frage löst. Warum Menschen helfen und pflegen, wenn doch alle einen unhintergehbaren
Im SPIEGEL vom 14.8.00: Eine Mutter und Sozialhilfeempfängerin aus Delmenhorst wollte nicht akzeptieren, dass ihre Tochter einen minderwertigen Schulranzen zu 50,– DM vom Sozialamt bezahlt bekommen sollte, während alle anderen Kinder mit einem Lifestyle-Produkt ausgerüstet waren, das viel teuer ist. Die Mutter verklagte das Sozialamt. Das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht gab der Mutter recht. »Ein Billigranzen sei mit der Würde des Menschen nicht vereinbar. Die Schülerin dürfte mit dem Billigprodukt nicht als Sozialhilfeempfängerin erkannt werden.«
Dieses Urteil drückt den Keim einer Entwicklung des Würdebegriffs aus: die wirtschaftssozial entstandene Ungleichheit kann die Würde verletzen. Zu große wirtschaftssoziale Unterschiede verletzen die Menschenwürde, weil sozialer Wert und soziale Würde auch relative Begriffe sind.Würde kann verletzt werden. Dieses Kind leidet relativ an einer Differenz, dem wirtschaftlichen Unterschied. Dieses Leiden entsteht aus dem Vergleich, wie bei der relativen Armut. Es ist relatives Leiden. Die Lebenslage des Einen im Vergleich zum Anderen. In diesem Urteil sagt das Gericht ganz deutlich: relativ arm sein, Sozialhilfeempfänger sein,ist ein Stigma,das die Würde,also Art.1 des deutschen Grundgesetzes,verletzt. Wir finden in unserer Gesellschaft zwei zusammengehörige Würdebegriffe:
263 11.5 · Die Menschenwürde als höchstes Gut
Den absoluten Begriff der Würde, der jedem Menschen per Menschenrecht einen absoluten Wert zuspricht. Er ist wichtig, um Menschen vor Willkür und Beliebigkeit der Gesetzgebung und staatlicher Institutionen zu schützen. Menschenwürde und die aus ihr resultierenden Grundrechte unser deutschen, europäischen und globalen Verfassung können durch kein Gesetz und keine Regierung abschafft werden.Das Wesen dieser Würde wird durch unsere Grundrechte ausgedrückt. Und zweitens haben wir den marktwirtschaftlichen, wertrelativen Würdebegriff, durch den eine Person einen bestimmten sozialen Rang einnimmt, einen sozialen Wertgrad erhält. Erst vergleichbar ausgewogene Lebensverhältnisse schützen ethisch vor Demütigung, Herabwürdigung und Degradierungen, wie es der israelische Philosoph Margalit genannt hat (Margalit 1996, S 246). Menschliche Würde kann verletzt werden,wenn die menschlichen Lebenslagen und Lebensverhältnisse extrem und unverhältnismäßig ausfallen. Unser höchstes ethisches Gut der absoluten Würde und die liberalistische Idee der Gleichwertigkeit aller Menschen werden immer dann angetastet,wenn zwischenmenschliche Zeichen,Gesten, Symbole und Lebensunterschiede Verächtlichkeit bedeuten. Wichtig Die ökonomische Definition des relativen Würdebegriffs kann daher lauten: Ein Mensch hat nur so viel Würde, wie er für den Arbeitsmarkt wert ist.
Die Bedeutungen des relativen Würdebegriffs sind folgende: Das ethisch höchste Gut der Menschenwürde, als Gleichwürde aller Menschen, wird durch eine soziale Wertpraxis relativiert,d.h.verletzt oder zerstört. Es gibt solch große wirtschaftssoziale Wertunterschiede (Armut-Reichtum,Ohnmacht-Macht, Bedeutungslosigkeit-Bedeutung, arbeitsfähig/ jung-krank/alt) innerhalb einer Bezugsgesellschaft, dass Menschen auch verschiedene Würdegrade erhalten. Die großen sozialen Wertunterschiede relativieren die Menschenwürde. Sie wird
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durch wirtschaftliche und damit soziale Wertunterschiede zu einem nur relativen Begriff. Wollen wir die Würde aber nicht relativiert untergehen lassen, ergibt sich eine Folgerung: Der Würdewert eines Menschen hängt von der Situation und den allgemeinen Lebensverhältnissen auch der anderen ab. Die Lebenslage eines Menschen und eines zu Pflegenden kann erst im Vergleich mit dem wirtschaftssozialen Umfeld als würdevoll beschrieben werden.Die Verhältnisse (Proportionen) der Lebenslagen konstituieren Würde. Diese können demütigend, erniedrigend, herab- oder entwürdigend sein oder »Gleichwürde« als menschliche Gleichwertigkeit wollen. In der gesellschaftlichen Praxis wird Würde eigentlich erst durch bestimmte Verhältnisse gestiftet, sie verwirklicht sich nur in einer gegenseitigen Stiftung. Wichtig Würde auch relativ zu begreifen, ist eine weitere ethische Grundlage der Pflegewissenschaften.Die Bestimmung einer würdevollen Lebenslage hängt vom Vergleich mit der allgemeinen Norm ab.
So bestätigt das Gericht im Beispiel der Schultasche,dass das Kind würdeverletzt wird,wenn es für seine soziale Umwelt im sozialen Status des Sozialhilfehaushalts erkannt wird. Die Demütigung des Kindes liegt im Wertdenken der Gesellschaft begründet. Sie stuft den Menschen in relativer Armut als sozial minderwertig ein und lässt diese großen Unterschiede zwischen Reichtum und Armut praktisch zu. Die Idee der absoluten Würde ist unabdingbar, um nicht zurückzufallen in die Beliebigkeit des menschlichen Wertes. In der Idee der relativen Würde wird aber Menschsein und Wertsein erst sozial gestiftet.Menschsein ist dann Wertsein für andere und mit anderen. Der Begriff der relativen Würde meint also einen sozial wechselseitig gestifteten Wert. Wichtig Wir stiften erst mit der Würde des anderen auch unsere eigene.
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Kapitel 11 · Ethische Grundlagen unserer Gesellschaft
11.6
Modelle ethischer Legitimation
Neben der Frage, wie richtiges auch ethisch professionelles Handeln inhaltlich aussehen kann, muss immer auch die Frage beantwortet werden, wer zur Bestimmung dieses ethisch »Richtigen« autorisiert ist. Wir suchen neben handlungsorientierten ethischen Inhalten auch die Legitimation dieser Richtigkeit, d. h. das Verfahren, wie »Richtigkeit« bestimmt werden soll.Denn gerade in pluralistischen, demokratischen und nicht autoritären Gesellschaften verlagert sich das Problem der Bestimmung ethischer Inhalte mehr auf die Frage, wer diese bestimmt und für wen sie dann gelten sollen. Gerade weil wir heute das Ideal der persönlichen Selbstbestimmung (Art.2 Grundgesetz repräsentiert diesen Wert der individuellen Selbstbestimmung) als Freiraum des Einzelnen entwickelt haben, wird es bei zwischenmenschlichen Konfliktfällen wichtiger, über die Methode nachzudenken, wie Auffassungsunterschiede vermittelt werden sollen oder wie eine Einigung gefunden werden kann. Es geht dabei vorrangig nicht darum,was inhaltlich richtig ist und getan werden sollte, sondern welche Entscheidungsform ethisch vertretbar ist. Beispiel Bei der Ultraschalluntersuchung einer Schwangeren in der 39.Woche wird eine Querlage festgestellt. Der Arzt der Gynäkologie legt der Schwangeren wegen der möglichen Risiken nahe, das Kind sofort mit Kaiserschnitt zur Welt zu bringen. Die anwesende Hebamme rät davon ab und schlägt vor,noch zu warten.Weil die Schwangere einem Kaiserschnitt nicht zustimmt,nimmt sich der Arzt vor,seinen Chefarzt zu konsultieren, schweigt aber darüber. Die Schwangere verlässt verwirrt das Krankenhaus und erfährt extern, dass es in einer anderen Klinik einen Spezialisten gibt, der das Kind in die Geburtslage drehen könnte. Diesen konsultiert sie zusätzlich und lässt das Kind per Hand drehen. Nach zwei Tagen dreht sich das Kind jedoch wieder in die Fehllage zurück.
Wer soll bestimmen, was zu tun ist und was richtig ist? Gibt es absolute (Sach-) Wahrheiten oder
Autoritäten, an denen wir uns orientieren können? Dabei können wir zunächst autoritative und sachorientierte Lösungen eines Problems unterscheiden.Entscheidet der Arzt, kann es sich sowohl um eine autoritative Entscheidung handeln als auch um eine sachorientierte.In der Praxis werden sachliche Gründe und autoritative Herrschaft wechselseitig zur »Begründung« eingesetzt. Der Arzt vertritt sein der Hebamme überlegenes medizinisches Fachwissen zugleich mit der gesellschaftlich eingeräumten höheren Reputation und Autorität in der Klinik, obwohl die Hebamme mehr Schwangerschafts- und Geburtserfahrungen hat.Dem Arzt die Entscheidungsgewalt ohne Sachkritik zu überlassen, hieße hier auch, die Metier-Hierarchie (ArztHebamme) anzuerkennen. Aber auch wenn ein Mehrheitsbeschluss in einem Team getroffen wird, kann es sich um eine autoritative Entscheidung handeln. Mehrheitsentscheidungen können aus unbegründeten Einzelwillen bestehen oder aus qualifiziert begründeten Einzelwillen. Im ersten Fall entscheidet eine Mehrheit durch Votum. Im zweiten ein votierendes Expertenteam, das wiederum, wie im Beispiel, nicht miteinander vermittelt handelt.Das Fachwissen der einzelnen Spezialisten wird nicht zusammengeführt. Hinsichtlich des »Herrschens« einer Autorität (hier der Arzt) hat Max Weber drei Typen der Legitimation dieser Herrschaft unterschieden (Max Weber 1973, S 151–161): 4 1. Die legale Herrschaft durch Rechtssysteme Gehorcht wird nicht einer Person »kraft deren Eigenrechts«, sondern der gesetzten Regel.Auch der Befehlende gehorcht, auch wenn er der Vorgesetzte ist. Seine Herrschaft ist zugleich Amtspflicht. Dass der Arzt entscheiden würde, wäre eine Art »Betriebsdisziplin« des Krankenhauses. 4 2. Die patriarchalische Herrschaft Das Herkommen eines »Herrn« verleiht diesem eine »Eigenwürde«, die den »Untertan« zur »Pietät« des Gehorchens verpflichtet. Herrschaft dieser Art fällt Entscheidungen nach Inhalten,die traditionell nach Normen »von je her gelten«. Sie folgen der Gnade, der Willkür, der Zu- und Abneigung. 4 3. Die charismatische Herrschaft Kraft affektiver Hingabe an die Person des Herrn und seines Charismas folgt ihm der Un-
265 11.7 · Ethische Lösungsfindung durch Herrschaftsfreiheit
tertan. Es ist die Herrschaft der Propheten, Demagogen, Helden, Gurus, Führer. Das Pendant ist der hingebungsvolle »Jünger« und »Helfer«. Wenn es im Beispiel darum geht, auf welcher Grundlage wer die Entscheidung zur Handlungsmaßnahme fällt,gibt es neben der autoritativen den sachorientierte Entscheidungsprozess. Dabei kann die Sachentscheidung, was zu tun ist, argumentativ oder dezionistisch ausfallen, d. h. im ersten Fall soll das bessere Argument (möglicherweise die Statistik der Hebamme), im zweiten Fall die Entscheidung zu einer Handlungsnorm durch Wahl gefunden werden (Lübbe 1978, S 75–77). Während das Geltenlassen des Arguments scheinbar der Sachlage die Kompetenz gibt, zu entscheiden und einem »Sachzwang« unterliegt, will der Dezionismus die Entscheidungskompetenz nicht vom Subjekt ablösen. Trotz »zwingender« Sachlage soll einem Subjekt immer noch die Wahl bleiben, sich dem Argument zu stellen oder nicht. Vermieden wird damit der Untergang der persönlichen Wahlfreiheit unter der Diktatur der Sachlage. Die Schwangere könnte auch für den Fall, dass alle Experten sich einig wären, eine andersartige Entscheidung treffen.
. Abb. 11.5. Ergebnisse
11.7
11
Ethische Lösungsfindung durch Herrschaftsfreiheit
Von Jürgen Habermas stammt in Übereinstimmung mit Karl-Otto Apel die Ansicht, dass alle Entscheidungen und Handlungen zwischen Menschen durch einen herrschaftsfreien Diskurs (Sachgespräch zur Problemlösung) zustande kommen sollten, d. h. durch einen gleichberechtigten Argumentationskreis.Hebamme,Schwangere,Arzt,Chefarzt und der Spezialist wären an diesem Diskurs beteiligt. Für den herrschaftsfreien Diskurs gelten nach Habermas folgende Regeln: 4 1. Alle vernünftigen Subjekte dürfen gleichberechtigt am Diskurs teilnehmen. 4 2. Die Diskursbeiträge müssen verständlich und widerspruchsfrei formuliert sein. 4 3. Die Diskursteilnehmer müssen wahrhaftig und gutwillig auf einen (rational motivierten) Konsens hinarbeiten, also das bessere Argument anerkennen. 4 4. Außer dem »eigentümlich zwanglosen Zwang des Arguments« darf im Diskurs keinerlei innerer oder äußerer Zwang ausgeübt werden (Habermas 1973, S 257).
266
11
Kapitel 11 · Ethische Grundlagen unserer Gesellschaft
Für Habermas wäre die Expertenentscheidung durch den Arzt schon deshalb nicht ideal, weil sie nicht die Argumente aller Betroffenen integriert. Die Erfahrungen der Hebamme, der Schwangeren und des Spezialisten würden nicht berücksichtigt und kommunikativ mit einander verbunden. Habermas fragt also nicht danach, was richtig zu tun ist, sondern wie das ethisch richtige Verfahren sein muss, damit eine ethische gut legitimierte Entscheidung zustande kommt. Die Lösung ethischer,also rechtlich unregulierter Probleme im Pflegealltag kann demnach autoritativ oder kommunikativ angestrebt werden.Entweder man verlässt sich auf die Autorität der Grundrechte, der Menschenrechtskonventionen, der Gesetze,der Tradition,der Macht des Arztes,des Spezialisten etc. oder die Entscheidung wird durch die Beteiligten aller an einem sachorientierten Gespräch erzielt. Selbst die Schwangere dürfte an einem solchen Diskurs aus der Sicht ihres Letztbestimmungsrechts über sich und ihr Kind interessiert sein, da ihre Entscheidungsnot nicht durch einen sozialen Kompetenzkampf der Fachspezialisten erschwert wird (. Abb. 11.5).
11.8
Ethisch-rechtlicher Frageleitfaden für Handlungskonflikte
Um in Handlungskrisen nützliche Differenzierungen zur Lösungssuche praktizieren zu können,stellen wir hier einen kurzen Frageleitfaden vor: 4 Handelt es sich um ein individual- oder sozialethisches Problem,also ein privates oder ein öffentliches Problem? 4 Handelt es sich um ein nur rechtliches Problem? 4 Gibt es rechtliche Bestimmungen, die die ethische Abwägung einschränken bzw. entlasten. Bleibt Verantwortung zu eigener ethischer Reflexion? 4 Gibt es historische-ethische Normen, Werte oder Prizipien, die angewandt werden können? 4 Gibt es Willenserklärungen des Klienten? Sind diese rechtlich konform? 4 Wer entscheidet? 4 Was entscheidet, damit die Sachlage und nicht die subjektive Willenserklärung entscheidet?
4 Welcher Personenkreis sollte mitentscheiden? 4 Bei rechtlich und ethisch offenen Konflikten: Welche Tendenzen liegen in beiden Systemen und lassen sich diese Tendenzen verbinden?
11.9
Liste existierender ethischer Grundwerte
4 Toleranz und Pluralismus:Verschiedene Lebensformen sind möglich und menschengemäß. 4 Autonomie: Der Einzelne bestimmt sich und sein Leben möglichst weitreichend selbst. 4 Ethischer und kultureller Relativismus: Es gibt keine ethisch absolute Wahrheit. Verschiedene Lebens- und Kulturformen sind gleichberechtigt und zu akzeptieren. 4 Fundamentalismus: Es gibt eine einzig richtige Wahrheit, Religion, Ethik, Lebens- und Gesellschaftsform. 4 Autoritarismus: Es soll Autoritäten geben, die bestimmen, was richtig ist und sein soll. 4 Esoterik: Mächte,Kräfte,Personen,Geister oder der Kosmos bestimmen unserer Leben. 4 Werte des politischen Liberalismus: Das Gut der Menschenwürde und der politisch-bürgerlichen Menschen-, Grund- und Freiheitsrechte ist die Grundlage unserer Verfassung. Die ausgleichende Gerechtigkeit fordert die Gleichstellung der Schwächeren. Prinzipien sind: die sozialethischen Werte der Brüderlichkeit,Nächstenliebe und Fürsorge. Die soziale Selbstverwirklichung des Individuums. Das Prinzip der sozialen Verantwortung. 4 Werte des wirtschaftlichen Liberalismus: Die objektive Chancengleichheit aller Handelnden. Hilfe zur Selbsthilfe. Sozial, politisch und wirtschaftlich unbegrenzte Handlungsfreiheit des Einzelnen. Die »natürliche« Gerechtigkeit ergibt die Besserstellung des Leistungsstärkeren oder Mächtigeren.Es gelten die sozialethischen Werte der Konkurrenz, des Wettkampfes um Freiheiten,Ressourcen und Bedeutung.Die private Selbstverwirklichung des Individuums. Das Prinzip der persönlichen Verantwortung und der persönlichen Risiken.
267 11.9 · Liste existierender ethischer Grundwerte
11
Zusammenfassung Die liberalistische Tradition der Aufklärungsepoche des Abendlands hat die Ideen des kulturellen und ethischen Pluralismus entwickelt und verwirklicht. Verschiedene Weltanschauungen und Kulturen, aber auch verschiedene Meinungen und Lebensformen sollen gleichberechtigt neben- und miteinander existieren können.Es gibt keine Wahrheit der Lebensform und kein Recht, diese zu beanspruchen. Religion,Weltanschauung und Lebensformfragen sind weit möglichst privatisiert. Der Aufbau westlicher Gesellschaften ist individualistisch,d.h.er konstruiert das Zusammenleben über die Perspektive und Interessen des Einzelnen. Er beschreibt deshalb nicht die Bedürfnisse einer intakten Gemeinschaftlichkeit.Die westliche Gesellschaftsformation ist nicht über die Idee der Sozialität des Menschen definiert, sondern an die Idee der privaten Selbstbestimmung orientiert. Der individual konzipierte Begriff der Menschenwürde beschreibt das höchste Gut und den höchsten absoluten Wert allen Menschseins und -handelns. Die Menschen- und Grundrechte kommentieren und bestimmen den Würdegehalt. Dieser hat in seinem Kern die Abwehr- und die Freiheitsrechte. Leidminimierung und Freiheitsoptimierung sind ihre Zielkategorien. Gesellschaftliches Zusammenleben wird möglich,wenn Interessenkollisionen durch Rechtsgüterabwägungen ausgeglichen werden. Die zugrundeliegende Weltanschauung unserer Verfassungsordnung geht von einem Vorrang der Freiheit und nicht der sozialen Verantwortung aus.Zur Konflikt- und Gewaltreduktion wird eine Begrenzung von individualen Handlungsfreiheiten nur mit strengen Auflagen vorgenommen. (Falls Grundrechte und -freiheiten einer Person eingeschränkt werden sollen, müssen sie den Teilsätzen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit entsprechen.So bleibt im Anfangsbeispiel das Recht des Vaters
auf Leben und mögliche Selbstbestimmung ein sehr hohes Gut, das vom Hilfswunsch der Tochter (Euthanasie) sowohl rechtlich als auch moralisch nur mühevoll argumentativ überboten werden kann. Die Ethik westlicher Gesellschaften ist wertrelativistisch, d. h. sie privatisiert so weit wie konfliktorganisatorisch eben möglich die Handlungsinhalte und deren Wert und Zweckdienlichkeit.Die Gefahr der Beliebigkeit allen Handelns und des »anything goes« wird nur durch den Wesensgehalt der Menschen- und Grundrechte und besonders durch den Wesensgehalt der Idee der unveräußerlichen und unverletzbaren Würde zum Teil abgewendet. Das Wertsystem des Liberalismus stellt alle Menschen politisch-bürgerlich gleich, aber wirtschaftlich unter einen Wert-, Machtund Konkurrenzkampf. Das Prinzip der politischen Gleichheit und das wirtschaftssoziale Prinzip der Stärke, Macht und des Vorteils existieren vermittelt und unvermittelt zugleich. Die Idee der Würdegleichheit kann durch extreme wirtschaftssoziale Unterschiede (an Macht,Bedeutung,Anerkennung, Kapital, Lebensverhältnisse in relativer Armut etc.) verletzt werden.Würde und Wert des Menschen werden graduiert, d. h. es gibt ein soziales Mehr- und Wenigersein.Dieser Widerspruch zwischen der Idee der Gleichheit und Autonomie aller Menschen und ihrer tatsächlichen sozialen Wertposition und relativen Ohnmacht beschreibt einen ethisch ungelösten Widerspruch westlicher Gesellschaften und Demokratien. Wer entscheidet in ethischen Konfliktfällen nach welchen Prinzipien? In professionalen Situationen ist es wichtig, zwischen dem »Wonach« und dem »Wer« zu unterscheiden. Es gibt sachliche (des Arguments), dezisionistische (des Beschlusses) und autoritative (der Macht) Entscheidungsformen. Die Entscheidung einer Person oder Gruppe kann selbstbestimmend, an einer Autorität oder an einem Grundwert orientiert
268
Kapitel 11 · Ethische Grundlagen unserer Gesellschaft
sein. Die meisten ethischen Konfliktfälle werden durch subjektive, gerichtliche oder zeitgeisttypische Abwägungshandlungen gelöst. Die methodischen Gefahren auf der Intensivstation, das Schicksal des Vaters durch ärztliche Autorität, gewohnte Klinik-Praxis oder durch demokratischen, aber unsachlichen Beschluss zu entscheiden,sind erheblich.
3 Methodische Vorschläge zu Seminargestaltung
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4 1. Das System der Philosophischen Ethik wird differenziert. Es werden Übungen unternommen,Alltagsaussagen nach dieser Struktur einzuordnen. Ist zum Beispiel der Satz »Er arbeitet wenig« ein deskriptiver oder ein normativer Satz? Und ist die Feststellung »Jeder sollte möglichst machen, was er will« ein formal- oder ein wertethischer Satz? Es können Wahrnehmungsübungen zu wertendem, beschreibendem und legitimatorischem Alltagsverhalten gemacht werden. 4 2. Es werden Bestimmungsversuche unternommen, nach welchen, auch widersprüchlichen Grundsätzen und Maximen die Gegenwartsgesellschaft an den verschiedenen Praxisorten handelt (Pflege, Erziehung, Politik, etc.). 4 3. Es wird versucht, im Tätigkeitsfeld der gegenwärtigen Pflege ihre tatsächliche, ihre geglaubte und ihre intendierte Ethik zu unterscheiden. Dabei kann auch normativ-utopisch eine ideale Pflege entworfen werden. 4 4. Es werden Übungen an Alltagsbeispielen der Pflege unternommen, um die Analyse der ethischen Konflikte und ihrer Verwurzelungstiefe in den Grundlagen unserer Gesellschaft aufzudecken.Es können Veränderungsmöglichkeiten aber auch Aporien aufgezeigt werden (Aporie [griech.], Ausweglosigkeit; die in der Sache selbst liegende Unlösbarkeit eines philosophischen Problems). 4 5. Es wird an in der Praxis bereits gelösten Fallbeispielen nach deren angewandten ethischen Lösungsmustern gesucht.
3 Empfehlungen zum Weiterlernen Zur Vertiefung der Thematik kann folgende Literatur empfohlen werden: 4 Gehardt G (1992) Grundkurs Philosophie. Ethik, Politik. Bd 2. Bayerischer Schulbuch Verlag, München Eine Einführung in die philosophische Ethik, die keine Vorkenntnisse verlangt. 4 Kutschera F v. (1982) Grundlagen der Ethik. de Gruyter, Berlin New York Eine Einführung in ethische Fragestellungen aus mehr individualethischer Sicht. 4 Lay R (2004) Ethik in der Pflege. Berlin Ein Lehrbuch für die Aus-, Fort- und Weiterbildung. 4 Störig HJ (1978) Kleine Weltgeschichte der Philosophie. 2 Bände. Fischer, Frankfurt a. M. Eine historische Reise durch die Philosophie und ihre Systematik. 4 Arndt M (1996) Ethik denken – Maßstäbe zum Handeln in der Pflege. Thieme, Stuttgart Das Buch beschreibt die vorhandenen ethischen Gegenwartswerte, ohne sie kulturell zu relativieren. 4 Arend A van der und Gastmans Ch (1996) Ethik für Pflegende. Hans Huber, Bern Eine pflegespezifische, etwas weniger differenzierte Ethikeinführung.
Literatur Diemer A (1978) Elementarkurs Philosophie. Bd 3: Philosophische Anthropologie. Econ, Düsseldorf Wien Gehlen A (1971) Studien zur Anthropologie und Soziologie. Luchterhand, Neuwied Berlin Gehlen A (1986) Der Mensch, seine Natur und seine Stellung in der Welt. Aula, Wiesbaden Gehlen A (1987) Urmensch und Spätkultur. Aula, Wiesbaden Habermas J (1973) Wahrheitstheorien. In: H Fahrenbach (Hrsg) Wirklichkeit und Reflexion.Walter Schulz zum 60. Geburtstag. Neske, Pfüllingen, S 211–265 Löwith K (1976) Zur Frage einer philosophischen Anthropologie. In: Gadamer P u. Vogler P (Hrsg) Neue Anthropologie. Bd 7. Thieme, Stuttgart, S 330–342 Lübbe H (1978). Dezisionismus – eine komprimierte politische Theorie. In: ders. Praxis der Philosophie. Geschichtstheorie. Reclam, Stuttgart, S 124 Kant I (1929) Kritik der Praktischen Vernunft. Hrsg. von Vorländer K v. u. Meiner F unveränd. Nachdruck der 9. Aufl. v. 1929. Meiner, Hamburg
269 11.9 · Liste existierender ethischer Grundwerte
Khoury AT (1978) Einführung in den Buddhismus. Universitätsverlag, Münster Küng H (1990) Projekt Weltethos. Piper, München Malinowski B (1949) A scientific Theory of Culture an other Essays, North Carolina 1944, dt. Piper, Zürich Margalit A (1997) Politik der Würde. Über Achtung und Verachtung. Aus dem Amerikanischen von Gunnar Schmidt und Anne Vorderstein. Fest, Berlin Mirandola P della (1997) De dignitate hominis.Über die Würde des Menschen. Lateinisch / Deutsch. Reclam, Stuttgart Oexle G (1986) Armut, Armutsbegriff und Armenfürsorge im Mittelalter. In: Sachse Ch u. Tennstedt F (Hrsg) Soziale Sicherheit und soziale Disziplinierung. Fischer, Frankfurt
11
Plessner H, Bollnow OF (1978) Die philosophische Anthropologie und ihre methodischen Prinzipien. In: Philosophische Anthropologie heute. Bohlau, Wien, S 12 Rentsch T (2001) Gnosis oder die Frage nach Herkunft und Ziel des Menschen. Schöningh, Paderborn Smith A (1978) Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen. Hrsg. v. Horst Claus Recktenwald. dtv, München United Nations (1992) Human Rights.Teaching and Learning about Human Rights. A Manual for Schools of Social Work Profession. UN-Centre for Human Rights, Geneva Weber M (1973) Die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft. In: Winckelmann J (Hrsg) Soziologie, Universalgeschichtliche Analysen, Politik. Kröner, Stuttgart
12 Identitätsentwicklung, Reifungsprozesse und Lebenszyklus Märle Poser 12.1
Auswahl der entwicklungspsychologischen Phasenmodelle 273
12.2
Entwicklungs- und Reifungsprozesse im Zeitverlauf 277
12.2.1
Kindheit
12.2.2
Jugend
12.2.3
Erwachsenenalter
12.2.4
Das höhere Lebensalter
277 285 287 289
272
Kapitel 12 · Identitätsentwicklung, Reifungsprozesse und Lebenszyklus
> These Die großen Entwicklungstheorien von Freud, Erikson, Piaget und Kohlberg beeinflussen bis heute maßgeblich Forschung und Lehre, wobei sie sich in der Tendenz als einzelne Schulen etabliert haben. Dadurch zeigt sich eine einseitige Gewichtung der untersuchten Faktoren, mittels derer Entwicklungsgeschehen erklärt und beschrieben wird. Um die Komplexität von Entwicklungsund Reifungsprozessen im Zeitablauf zumindest annähernd erfassen zu können, bedarf es einer Synthetisierung der verschiedenen theoretischen Ansätze.
3 Berufliche Handlungskompetenzen 2
Fachkompetenz Wissen über die Voraussetzungen einer psychisch gesunden Entwicklung erwerben. Die Beeinträchtigungen psychischer Gesundheit herleiten. Spezifische Entwicklungsdimensionen in den Reifungsprozessen von Menschen mit anderem fachspezifischen Wissen verknüpfen.
2
Personalkompetenz Sich selbst in einem lebenslangen Reifungs- und Entwicklungsprozess begreifen und damit auseinandersetzen. Sich eigener Einstellungen, Werthaltungen und Motive, die das Arbeitshandeln beeinflussen, bewusst sein.
2
Sozialkompetenz Psychosoziale Faktoren bei der ganzheitlichen Pflege berücksichtigen. Den Abhängigkeits-Autonomie-Konflikt in der pflegerischen Beziehung als generellen und zentralen Konflikt von Reifung begreifen. Den Aspekt von Beziehungsgestaltung in die Tätigkeiten als Pflegepädagogin/ Pflegepädagoge integrieren, kommunikative und kooperative Verhaltensweisen entwickeln.
12
3 Praxisrelevanz Die Psychologie hat in den modernen westlichen Gesellschaften eine große Bedeutung erlangt und ist durch ein beständig expandierendes Wissen gekennzeichnet. Viele der Inhalte, Themen und Teildisziplinen, die im Grundstudium der Psychologie gelehrt werden, sind auch relevant für die Ausbildung von Pädagogen, hier speziell von Pflegepädagogen.Zu den Grundlagenfächern gehören unter anderen die allgemeine Psychologie I und II mit den Themenschwerpunkten Wahrnehmung, Gedächtnis, Lernen, Motivation, Emotion, Sprache und Denken, die Entwicklungspsychologie, die Sozialpsychologie, die Differenzielle Psychologie und Persönlichkeitsforschung sowie die Methodenlehre. Es würde den geplanten Rahmen dieser Ausführungen sprengen, auf die gesamte Bandbreite der genannten Schwerpunkte einzugehen und den Bezug zur Pflegepädagogik darzulegen.Wegen dieser notwendigen Eingrenzung des Themas werde ich im Folgenden die Teildisziplin der Entwicklungspsychologie näher darstellen. Die Entwicklungspsychologie beschäftigt sich mit der psychischen Entwicklung des Menschen von der Geburt bis zum Tod. Da sie verschiedene Entwicklungsdimensionen wie die Entwicklung der Emotion, der Wahrnehmung, des Lernens, der Sprache und des Denkens beschreibt, sind viele verschiedene Einzelthemen der Psychologie hier integriert. Welche Praxisrelevanz hat nun die Erforschung und Beschreibung der Entwicklung des Menschen für die spezifischen Handlungsfelder und Handlungskompetenzen von Pflegepädagogen? Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten und nicht etwa deshalb, weil der Anwendungsbezug nur schwer herstellbar wäre, sondern weil er auf vielen Ebenen notwendig ist und stattfindet und sich komplex mit anderen beruflichen Handlungskompetenzen von Pflegepädagogen verbindet.Klassische Handlungsfelder von Pflegepädagogen und Pflegepädagoginnen sind die berufliche Ausbildung sowie die Fortund Weiterbildung. Die Psychologie als Inhalt der beruflichen Aus- und Fortbildung von Pflegenden zielt auf den Wissenserwerb über eine psychisch gesunde Entwicklung bzw. über die Beeinträchtigungen von psychischer Gesundheit ab.Ressourcenorientierte Ansätze, wie sie in neueren Pflegemodellen vertreten werden, halten im Sinne einer
273 12.1 · Auswahl der entwicklungspsychologischen Phasenmodelle
ganzheitlichen Pflege die Berücksichtigung psychosozialer Faktoren für unabdingbar.Insbesondere H. Peplaus Werk über die interpersonellen Beziehungen (Peplau 1995) stellt die psychodynamischen Aspekte der Pflegebeziehung in den Vordergrund. Die Beziehungsgestaltung zwischen Pflegekräften und Patienten ist in besonderer Weise durch einen Abhängigkeits-Autonomie-Konflikt geprägt, da der Patient auf Hilfe und Unterstützung angewiesen ist.Der Abhängigkeits- Autonomie-Konflikt wird in verschiedenen entwicklungspsychologischen Ansätzen unabhängig von spezifischen Rollenkonstellationen als ein genereller,zentraler Konflikt innerhalb des Reifungsprozesses beschrieben, der sich in jeder Entwicklungsphase eines Individuums neu darstellt. Das heißt, auch die Pflegekräfte selbst sind im Zusammenhang mit ihrem eigenen lebenslangen Reifungs- und Entwicklungsprozess von diesem Konflikt betroffen. Dies gilt gleichermaßen für Ausbilder, Fort- und Weiterbilder, Berater oder Organisationsentwickler, um nur einige der vielen beruflichen Handlungsfelder von Pflegepädagogen zu nennen, die zum Teil auch nur mittelbar mit der Pflege von Patienten zu tun haben. Die Beziehungsgestaltung spielt jedoch in allen Handlungsfeldern von Pflegepädagogen eine herausragende Rolle, da sie immer eine dienstleistende Tätigkeit enthält, in der der Umgang mit Menschen im Mittelpunkt steht. Um die Beziehungsgestaltung im Hinblick auf die zu erbringende Leistung effektiv und förderlich gestalten zu können, darf sie sich nicht in der Wahrnehmung und Berücksichtigung der spezifischen psychosozialen Verfassung des Gegenübers erschöpfen; sie muss vor allem die wechselwirkende Beeinflussung in der Interaktion berücksichtigen, die maßgeblich durch den eigenen Umgang und die eigene Bewältigung des Abhängigkeits- Autonomie-Konflikts bestimmt ist. Damit sind spezifische Teilkompetenzen der beruflichen Handlungskompetenz von Pflegepädagogen angesprochen, die durch die Auseinandersetzung mit entwicklungspsychologischen Modellen gefördert werden sollen: die Fachkompetenz, die Sozialkompetenz und die personale Kompetenz. 4 Auf der Ebene der Fachkompetenz geht es um die Wissensvermittlung der spezifischen Entwicklungsdimensionen in den Reifungsprozessen von Menschen sowie um die Fähigkeit zur
12
Verknüpfung dieses Wissens mit anderen fachspezifischen Inhalten der Pflege. 4 Die Sozialkompetenz wird durch die Umsetzung des Fachwissens über Entwicklungs- und Reifungsprozesse in kommunikative und kooperative Verhaltensweisen sowie in die Fähigkeit zur beratenden Unterstützung gefördert. 4 Die Entwicklung und Förderung der personalen Kompetenz begründet sich schließlich in der Auseinandersetzung mit den allgemeinen Entwicklungs- und Reifungsstufen im Zusammenhang mit dem eigenen, individuellen Reifungs- und Krisenerleben sowie den daraus resultierenden Einstellungen, Wertehaltungen und Motiven, die das Arbeitshandel beeinflussen.
3 Verfahrensstruktur Im nachfolgenden Abschnitt werden zunächst ausgewählte entwicklungspsychologische Phasenmodelle kurz skizziert. Anschließend folgt eine Darstellung der Reifungsprozesse in den vier großen Lebensabschnitten Kindheit, Jugend, Erwachsenenalter und höheres Alter, in der die in den einzelnen Phasenmodellen unterschiedlich herausgehobenen Entwicklungslinien integriert und zusammengeführt werden.
12.1
Auswahl der entwicklungspsychologischen Phasenmodelle
Entwicklungstheorien beschreiben und erklären die Veränderungen von Individuen im Zeitablauf. Die Frage, welche Faktoren den Entwicklungsverlauf im Einzelnen bestimmen, wird von den verschiedenen Entwicklungstheorien unterschiedlich beantwortet. Allen Theorien gemeinsam ist aber die Auffassung, dass das Lebensalter den übergreifenden Bezugsrahmen für die Untersuchung von Veränderungsprozessen bilden muss. Hierbei wird das Lebensalter in die vier großen Lebensabschnitte Kindheit,Jugend,Erwachsenenalter und höheres Lebensalter unterteilt. Die einflussreichsten Entwicklungstheorien wurden von Freud, Erikson, Piaget und Kohlberg entwickelt. Sie sollen im Folgenden kurz skizziert und in einer Übersichtstabelle zusammenfassend dargestellt werden.
274
Kapitel 12 · Identitätsentwicklung, Reifungsprozesse und Lebenszyklus
. Abb. 12.1. Verfahrensstruktur
Freud: Psychoanalyse
12
Freud, der Begründer der Psychoanalyse, postulierte Triebbedürfnisse als den wichtigsten Motor für die Entwicklung des Individuums. Er entwickelte eine Phasentheorie,die sich an der Entwicklung des Sexualtriebes orientiert (Freud 1982). Unter Sexualität versteht Freud im weitesten Sinne körperliches Lustempfinden, welches auch für das Kleinkind relevant ist. Die Entwicklung der triebhaften Bedürfnisse beschreibt er in mehreren Phasen. In der oralen Phase, die von der Geburt bis zum Ende des 1. Lebensjahres dauert, dominiert die Mundzone. In der analen Phase, die die Zeit des 2. und 3. Lebensjahres umfasst, gehen die Körpersensationen vor allem von der Afterzone aus. Es folgt die phallische oder ödipale Phase, die etwa den Zeitraum des 4. bis 6. Lebensjahres umfasst, in der das Lustempfinden von der Genitalzone ausgeht. Zwischen dem 7. und dem 12. Lebensjahr findet eine Zeit relativer Triebruhe statt; Freud bezeichnet diese Phase als Latenz. Sie mündet ein in die fünfte Phase der Pubertät, die mit der Herausbildung der reifen Sexualität in das Erwachsenenalter überleitet. Mit seiner Phasentheorie postuliert Freud die Existenz von Partialtrieben, die zunächst im Bereich verschiedener Körperzonen als unreife Befriedigungsmöglichkeiten getrennt entstehen und die schließlich in die genitale Befriedigung des Erwachsenen integriert werden.
Es ist heute unstrittig, dass die erogenen Zonen sowie die dazugehörigen Befriedigungsmodi eine wichtige Rolle für die psychische Entwicklung spielen. Neuere Forschungen in der Psychoanalyse belegen jedoch, dass noch eine Reihe anderer Faktoren die psychische Entwicklung beeinflussen und die Sexualentwicklung nur eine Entwicklungslinie neben vielen anderen ist. Die Inhalte der von Freud benannten Phasen, deren Terminologie überwiegend beibehalten worden ist,wurden entsprechend erweitert. So werden z. B. mit dem Begriff der Oralität heute insbesondere Bedürfnisse nach Sicherheit, Geborgenheit, Bindung, Hautkontakt, Wärme etc. beschrieben. Insgesamt ist die Frage nach der Triebentwicklung um die Fragen nach der Ich-Entwicklung (z. B. Hartmann 1972), dem Bindungsverhalten (z. B. Balint 1997, Stern 1979), den Objektbeziehungen (z. B. Blanck u. Blanck 1974) und der Selbstentwicklung (z. B. Kohut 1973) erweitert und ergänzt worden. Die Ergebnisse dieser Forschung sind zum Teil in komprimierter Form in der Übersichtstabelle 12.1 dargestellt und finden in den Ausführungen zu der Entwicklung in den jeweiligen Abschnitten Berücksichtigung. Erikson: Psychodynamisches Entwicklungsmodell
Auf der Basis des psychodynamischen Entwicklungsmodells formuliert Erikson sein Modell der Identitätsentwicklung (Erikson 1973). Er berück-
275 12.1 · Auswahl der entwicklungspsychologischen Phasenmodelle
sichtigt hier die von Freud dargestellten psychosexuellen Entwicklungsphasen und ergänzt sie um psychosoziale Faktoren, wobei er über Freud hinausgehend die gesamte Lebensspanne von der Geburt bis ins hohe Alter einbezieht. Erikson geht davon aus, dass das gesamte Leben eines Menschen durch fortlaufende Reifungskrisen geprägt ist. Die Bewältigung dieser Krisen bzw. der in jedem Lebensabschnitt anstehenden Aufgaben ermöglicht dem Individuum das Erreichen der nächsthöheren Phase, die Nicht- Bewältigung führt zu innerpsychischen und sozialen Problemen, die sich auf alle weiteren Phasen auswirken. Erikson unterscheidet insgesamt acht Entwicklungsphasen: 4 1. Säuglingsalter: Urvertrauen gegen Ur-Misstrauen Bei konstanter »Bemutterung« bildet das Kind Urvertrauen als den wichtigsten Eckstein einer gesunden Persönlichkeit aus. 4 2. Frühe Kindheit: Autonomie gegen Scham und Zweifel Der Hauptakzent dieser Phase liegt in der durch die Reifung des Muskelsystems begünstigten Fähigkeit zur Koordination einer großen Anzahl komplizierter Akte wie »Festhalten« und »Loslassen«. Es entwickelt sich ein zunehmendes Gefühl von Getrenntsein und Handlungsfähigkeit. 4 3. Spielalter: Initiative gegen Schuldgefühl Die Hauptaufgabe dieser Phase lautet: die relative Sicherheit der dyadischen Beziehung (Zweierbeziehung) verlassen und das Wagnis der Dreiecksbeziehung auf sich nehmen. Dabei werden die Eltern nachgeahmt und das Kind will all das erlernen, was die bewunderten Eltern können. 4 4. Schulalter: Werksinn gegen Minderwertigkeitsgefühl In dieser Phase erweitert sich das soziale Gesichtsfeld des Kindes. Hauptaufgabe dieser Zeit ist die Erweiterung der sozialen Beziehungen, das Erlernen von Fertigkeiten und das Meistern von Situationen außerhalb der Familie. 4 5. Adoleszenz: Identität gegen Identitätskonfusion Die zentrale Aufgabe besteht in der Ablösung von den Eltern und in der Findung einer eigenen – auch sexuellen – Identität. Neuauflagen
12
der Konflikte vergangener Phase sowie körperliche Veränderungen stellen den Jugendlichen in dieser Zeit vor große Probleme. 4 6. Frühes Erwachsenenalter: Intimität und Distanzierung gegen Selbstbezogenheit Es geht in dieser Phase um die Gestaltung von intimen Beziehungen und um die Fähigkeit, sich selbst und den anderen in Beziehungen als getrennte Subjekte wahrzunehmen. 4 7. Mittleres Erwachsenenalter: Zeugende Fähigkeit gegen Stagnation Hauptaufgabe dieser Phase ist die Auseinandersetzung mit dem Wunsch, sich fortzupflanzen (Generativität). 4 8. Hohes Alter: Integrität gegen Verzweifelung und Ekel Im hohen Lebensalter geht es um die Annahme des eigenen Lebens und der Menschen, die im eigenen Leben wichtig waren und sind. In den psychosozialen Entwicklungsmodellen steht vor allem die emotionale Entwicklung im Vordergrund des Interesses. Die Entwicklung der Intelligenz und Kognition bleibt meist weitgehend unberücksichtigt. Das einflussreichste entwicklungspsychologische Phasenmodell unter hauptsächlicher Berücksichtigung der kognitiven Prozesse ist von Piaget erarbeitet worden (Piaget u. Inhelder 1971). Nach seiner Auffassung entwickeln sich die geistigen Strukturen des Kindes zum einen im Zusammenhang mit der Reifung des Hormonund Nervensystems sowie der Wahrnehmungsorgane und zum anderen in der handelnden Auseinandersetzung mit der Umwelt. Die Kognition betrachtet Piaget im Gegensatz zu den verschiedenen Vernunft- und Bewusstseinstheorien als eine biologische Funktion, die lebensgeschichtlich geprägt ist und ein für die eigenen Ziele und Entwicklungen viables Wissen und Erkennen von Konstruktionen und Bildern entfaltet. So ist beispielsweise die Erinnerung, bzw. das Gedächtnis, kein reiner Datenspeicher, sondern sie konstruiert die eigene Biografie in jedem Lebensabschnitt neu, um die Identität des Ich zu sichern. Piaget: Stufenmodell der kognitiven Entwicklung
In der Auseinandersetzung mit der Umwelt spielen nach Piaget zwei Funktionen eine große Rolle: die
276
12
Kapitel 12 · Identitätsentwicklung, Reifungsprozesse und Lebenszyklus
Assimilation und die Akkomodation. Die Assimilation bezeichnet die Anwendung von subjektiven Strukturen auf Gegenstände, die dabei diesen Strukturen angeglichen werden. Einfach ausgedrückt besagt dies, dass die Wirklichkeit so wahrgenommen wird,dass sie in die eigenen subjektiven Deutungsmuster passt, wobei die Wirklichkeit immer auch »eingepasst« werden muss. Die Akkomodation stellt gewissermaßen die Kehrseite der Assimilation dar, durch sie passen sich die angewandten Strukturen an die Besonderheit der Realität an. Akkomodation meint also die Anpassung von Menschen an ihre Umwelt, wobei die Anpassungsfähigkeit eine existenzielle Voraussetzung darstellt. Assimilation und Akkomodation ermöglichen die Herstellung eines Gleichgewichts zwischen den eigenen kognitiven Strukturen und den Umweltanforderungen. Piaget beschreibt diesen Prozess mit dem Begriff Äquilibration. Dieses Gleichgewicht sichert den Kontakt zur Wirklichkeit und bildet die Grundlage für ein kohärentes (zusammenhängendes) Handeln von Menschen. Die kognitive Entwicklung als Äquilibrationsprozess vollzieht sich dabei in einer ansteigenden Kurve. Piaget unterteilt insgesamt vier Stufen der geistigen Entwicklung: 4 1. die sensomotorische Entwicklung (von der Geburt bis zum 2. Lebensjahr) Das Kind entwickelt in dieser Zeit auf der Grundlage angeborener Handlungsreflexe erste Handlungsschemata zur aktiven Erkundung der Umwelt, die zur Entstehung erster grundlegender Denkschemata führen. So erwirbt das Kind beispielsweise im Umgang mit Objekten langsam eine Objektkonstanz, d. h., das Kind weiß um die Existenz von Dingen und Personen, auch wenn sie nicht zugegen sind. 4 2. Präoperationale Stufe (vom 2. bis zum 7. Lebensjahr) Wichtigster kognitiver Reifungsschritt ist der Erwerb von Sprache und die damit verbundene Symbolisierung der Umwelt. Nachahmung und Symbolspiele sind in dieser Zeit von besonderer Bedeutung für die Entwicklung des Kindes. Eingeschränkt ist jedoch noch die Fähigkeit, Abläufe und Sachverhalte aus der Perspektive anderer zu sehen. Piaget spricht hier von einem Egozentrismus des Kindes.
4 3. Konkretoperationale Stufe (vom 7. bis zum 11. Lebensjahr) Das Kind erwirbt auf dieser Stufe die Fähigkeit zur mehrdimensionalen Betrachtungsweise. Es ist z. B. in der Lage, das Konzept der Mengenkonstanz zu begreifen und kann so erkennen, dass das Umfüllen einer Flüssigkeit von einem hohen in ein breites Gefäß die Menge nicht verändert. 4 4. Formaloperationale Stufe (etwa ab dem 11./ 12. Lebensjahr) In dieser Phase wird unabhängig von konkretem Anschauungsmaterial das formal-abstrakte und das hypothetische Denkvermögen erworben. In der kognitiven Entwicklung bildet sich auch die moralische Entwicklung ab. Piaget untersuchte in diesem Zusammenhang Kinder im Alter von fünf bis zwölf Jahren und kam zu dem Ergebnis,dass die moralische Entwicklung dieser Kinder zweistufig verlief: von einer heteronomen, an äußeren Regeln orientierten Form der Moral hin zu einer autonomen, an der eigenen Entscheidung orientierten Moral. Kohlberg: Theorie der moralischen Entwicklung
Kohlberg knüpft explizit an diese Untersuchungen Piagets an und entwickelt dessen Theorie weiter, indem er die Moral im Jugendalter von 10 bis 16 Jahren erforscht (Kohlberg 1995).In seinem Modell differenziert er die Entwicklung des moralischen Urteils in sechs Stufen, die er zu drei Niveaus mit je zwei Unterstufen zusammenfasst: 4 1. Präkonventionelles Niveau Auf diesem Niveau ist für die 1. Stufe der moralischen Entwicklung die Orientierung an Bestrafung und Gehorsam charakteristisch. Bestrafung, Gehorsam und Autorität gelten als Werte für sich. Auf der 2. Stufe dominieren die eigenen Interessen, in denen Ansätze von Gerechtigkeit erkennbar sind, allgemeine Gerechtigkeitsprinzipien jedoch noch keine Berücksichtigung finden. 4 2. Konventionelles Niveau Das konventionelle Niveau der moralischen Entwicklung ist gekennzeichnet durch die Erhaltung wichtiger Sozialbeziehungen.
277 12.2 · Entwicklungs- und Reifungsprozesse im Zeitverlauf
12
Entwicklungsund Reifungsprozesse im Zeitverlauf
Die 3. Stufe beschränkt dabei die Problemlösung auf persönlich bekannte Personen. Auf der 4. Stufe findet eine Erweiterung auf übergreifende Systeme wie Staat und Religionsgemeinschaften statt. 4 3. Postkonventionelles Niveau Auf dem postkonventionellen Niveau der moralischen Entwicklung erkennen die Probanden die Notwendigkeit,Prinzipien und Werte unabhängig von der Autorität einzelner Gruppen oder Personen zu definieren. Die 5. Stufe ist durch das Verständnis charakterisiert, dass das System einen Gesellschaftsvertrag darstellt, der zwischen allen Beteiligten vereinbart werden muss und der veränderbar ist. Auf der 6. Stufe, die empirisch kaum nachgewiesen wurde, geht es um die Suche nach allgemein gültigen ethischen Prinzipien.
12.2
Kohlberg hatte ursprünglich angenommen, dass eine Einheit von moralischem Urteil, moralischer Motivation und moralischem Handeln existiert. Dies hat sich empirisch nicht bestätigt.Vielmehr ist durch eine Reihe weiterer Untersuchungen nachgewiesen worden, dass weder die Kenntnis der Norm noch die Normbegründung die Motivation sichert, diese Normen auch einzuhalten. Die Motivation ist vielmehr abhängig von Gefühlen wie Empörung, Schuld oder Mitleid, die die Grundlage für moralisches Handeln darstellen. Es ist im Rahmen der vorliegenden Ausführungen nicht zu leisten, die einzelnen entwicklungspsychologischen Phasenmodelle einer genaueren Kritik zu unterziehen. Dies wäre z. B. im Hinblick auf die fehlende Spezifizierung der Reifungsschritte in Bezug auf geschlechtsspezifische Besonderheiten wichtig (vgl. Mertens 1996, Gilligan 1984). Generell kann aber festgehalten werden, dass die Schwächen der vorgestellten Modelle vor allem in ihrer einseitigen Gewichtung der untersuchten Faktoren liegen,mittels derer Entwicklungsgeschehen erklärt und beschrieben wird.
Der Lebensabschnitt Kindheit wird in der Entwicklungspsychologie unterteilt in frühe Kindheit und mittlere Kindheit. 4 Die frühe Kindheit umspannt die Zeit von der Geburt bis etwa zum Ende des 3. Lebensjahres. 4 Die mittlere Kindheit umfasst etwa das Alter vom 4. bis zum 11./12. Lebensjahr.
Um ein komplexes Bild von den Entwicklungs- und Reifungsprozessen von Individuen im Zeitverlauf zu erhalten,ist es notwendig,die verschiedenen Ansätze zu synthetisieren.Dies soll – in der gebotenen Kürze – durch eine zusammenfassende Beschreibung des Entwicklungsverlaufs der einzelnen Lebensphasen erfolgen. . Tabelle 12.1 gibt einen Überblick über die Wachstums- und Reifungsprozesse im Zeitverlauf,wobei unterschieden wird zwischen der psychosozialen Entwicklung, der kognitiven Entwicklung, der moralischen Entwicklung und der biologischen Entwicklung.
12.2.1 Kindheit
Durch die noch sehr junge Säuglingsforschung (Stern 1979, Dornes 1993) hat sich das Bild vom Neugeborenen grundsätzlich verändert. Ein Baby verfügt über ein erstaunliches Verhaltensrepertoire, wobei Stern an erster Stelle das Blicken beschreibt und dessen überragende Bedeutung betont (Stern 1979). Als sensomotorisches System ist das Sehen von Geburt an gut ausgebildet.Der Säugling erkennt – wohl aus Gründen des Schutzes vor Überreizung – in etwa 20 cm Entfernung Dinge scharf und sieht damit am häufigsten das Gesicht bzw. die Augen der Mutter. Blickverhalten und visuell-motorisches System entwickeln sich schnell weiter mit entsprechenden Folgen für die Interaktionsfähigkeiten. Nach ca. sechs Wochen kann der Säugling die Augen der Mutter fixieren und am Ende des 3. Monats ist das visuell-motorische System bereits fast ausgereift.Verbunden mit weiteren Verhaltenselementen wie dem Abwenden, Drehen und Entgegenrecken des Kopfes,verschiedenen Gesichtsausdrücken und dem Lächeln, welches sich
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Kapitel 12 · Identitätsentwicklung, Reifungsprozesse und Lebenszyklus
. Tabelle 12.1. Überblick über Wachstums- und Reifeprozesse im Zeitverlauf SÄUGLINGSALTER Geburt
1 Monat
2 Monate 3
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Psychosoziale Entwicklung
ORALE PHASE – Körperliche Bedürfnisse, körpernahe Affekte – Entfaltung emotionaler Aufmerksamkeit – Asymmetrische Beziehungen
– Anfänge des körperlichen Ich – Differenzierung von Ich und Nicht-Ich – Objektsuchend – »Soziales Lächeln« – Bedeutung der Mundwelt
– Affektabstimmung zwischen Eltern und Kind – Aufbau und Ausbau des Bindungssystems – Bildung von Urvertrauen
Sprachentwicklung Erste Lallperiode
– Erste Reaktion auf Geräusche
– Laute
Kognitive Entwicklung
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Schreien
Geburt
– Blasreibelaute
Brabbeln – Rhythmische Silben
– Beginnt – 4 verschiedene die Laute emotionale Bedeutung von Worten zu verstehen
– 4 Silben – Versteht »nein«
Geistige Entwicklung – Modifikation von – Horcht Reflexen auf – Erste Koordination Musik von Schemata – Beobachtet bewegliche Gegenstände
1 Monat
2 Monate 3
– Erzielt Effekte in der Umgebung
4
zwischen der 6. Woche und dem 3. Monat bereits zu einem »sozialen Lächeln« entwickelt, bewirkt das Blicken eine zugewandte Reaktion der Mutter. Die angeborene sensorische und kognitive Aufmerksamkeit des Säuglings für das lebendige menschliche Gesicht und seine zunehmende Ausrichtung auf die Umwelt, die als Nicht-Ich erfahren wird,
– Blickt – Reagiert – Imitiert einfache Handherunauf Spielungen tergegelbild – Sitzt länger am Boden fallenen und spielt allein Objekten nach
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lässt sich als Intentionalität beschreiben. Nach dem 3. Monat ist das Kind »aufgewacht«. Es erforscht seine Umwelt mit den Augen,den Händen und dem Mund. Es kann allmählich optische und akustische Aufmerksamkeit fokussieren und lernt den Körper mehr und mehr motorisch zu steuern. Das Kind lernt Ich und Nicht-Ich zu unterscheiden, wobei
12
279 12.2 · Entwicklungs- und Reifungsprozesse im Zeitverlauf
. Tabelle 12.1. Fortsetzung SÄUGLINGSALTER Geburt
1 Monat
2 Monate 3
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Moralische Entwicklung
ORALE PHASE
Biologische Entwicklung
Laufalter Sitzalter Greifalter Krabbelalter
Vierfüßlerstand
Reflexe und Reaktionen
Geburt
1 Monat
2 Monate 3
4
sich die Welt der Objekte differenziert und sich die wichtigsten Objekte herausheben, indem positive Affekte mit ihnen verknüpft werden. Es bilden sich intrapsychische Repräsentanzen der wichtigen Objekte, ein Bindungsmuster beginnt zu entstehen und das Bild der wichtigsten Beziehungspersonen wird langsam internalisiert. Bei ausreichend guter Versorgung kann das Kind Urvertrauen (Erikson) in die verlässliche Zugewandtheit des anderen fassen und es lernt,in der frühen Beziehung sich selbst über den anderen zu lieben. Im 1. Lebensjahr sind die sensomotorischen Schemata die entscheidenden Triebfedern der geistigen Entwicklung. Piaget begreift sie als ein strukturiertes Verhaltensmuster, welches eine spezifische Form der Interaktion mit der Umwelt wider-
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spiegelt. Nach dem Greifen,Aufrichten, Stehen und Krabbeln im 1.Lebensjahr folgt die Fähigkeit zu laufen. Die visuell-motorische Koordination und die Beherrschung der Feinmotorik verbessern sich,die Sphinktermotorik kann willentlich kontrolliert werden. Mit der Entwicklung der Sprachfähigkeit wächst die damit verbundene Fähigkeit, die Symbolwelt zu erfassen. Nach Piaget findet zwischen dem 18. und dem 24. Monat ein Strukturwandel von der sensomotorischen zur symbolisch-repräsentationalen Intelligenz statt.Das Kleinkind beginnt im 2. Lebensjahr durch »Denken« zu Problemlösungen zu kommen.Es benennt Personen und Objekte,bildet Vorstellungswelten im Spiel und beginnt in rudimentärer Form seine Handlungen zu reflektieren. Die Denkoperationen sind noch magisch, d. h.,
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Kapitel 12 · Identitätsentwicklung, Reifungsprozesse und Lebenszyklus
. Tabelle 12.1. Fortsetzung KLEINKINDALTER 9
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Psychosoziale Entwicklung
– Steuert und imitiert Interaktionen – Zeigt Zuneigung und Ablehnung – Beginnende Autonomieentwicklung
12 Mon. 2 Jahre
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ANALE PHASE
PHALLISCHE PHASE
– Affektintensive Auseinandersetzung mit der Objektwelt – Wachsende Autonomiebestrebungen – Herausbildung eines Größenselbst – Konfrontation mit d. Regeln u. Normen d. sozialen Welt – Machtkämpfe, Trotzphase
– Relativierung der omnipotenten Selbstvorstellungen – Eindeutigkeit der geschlechtlichen Identität – Ödipale Triangulierung – Eindeutige Position im sozialen Netz – Entwicklung von sozialer Rücksicht und Loyalität – Erweiterung der Kontakte
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Sprachentwicklung Sprechen – Sagt »Mama« oder »Papa«
Kognitive Entwicklung
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– Spricht 2–3 klare Worte
– Wort- – Wort– 10–15 schatz schatz Satzbis zu bis zu bau20 Wör- 50 Wörpläne tern tern mit – Ein– 3-Wort250– WortSätze 3000 WortWörtern
– Beherrscht dialogisches Erzählen, antwortet auf Nachfragen – Wortschatz bis zu 24.000 Wörtern; aktiv: 5000
Geistige Entwicklung – Findet – Ver– Aktives – Wan- – MagiversuchsExperidel zur sches steckund Irrmensymbo- Dentes tumstieren lischken SpielProb– Spielt reprä- – Kann zeug lemmit sentaSpielwieder lemSpieltionazeug – Schaut zeug len InaufBilder tellischrauan genz ben
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12 Mon. 2 Jahre
– Symbolbildung und -verständnis – Anschauungsgebundenes Denken – Zuwachs der Merkfähigkeit – Malt Kopffüßler – Autobiografisches Gedächtnis – Erkennt die Strukturen von Ereignissen
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281 12.2 · Entwicklungs- und Reifungsprozesse im Zeitverlauf
. Tabelle 12.1. Fortsetzung KLEINKINDALTER 9
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12 Mon. 2 Jahre
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PHALLISCHE PHASE
Moralische Entwicklung
ANALE PHASE
4
– Heteronome, an äußeren Regeln orientierte Moralentwicklung
Biologische Entwicklung
kann sicher laufen
– Weiteres körperliches Wachstum und Entwicklung der Muskulatur
setzt sich alleine hin vollständiger Pinzettengriff kriecht koordiniert
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– Beherrschung der Sphinktermotorik
12 Mon. 2 Jahre
dass in der Vorstellung des Kindes Denken, Sprechen und Handeln gleichermaßen Fakten schaffen können. Die wachsenden Fähigkeiten im Bereich der Motorik, der Kommunikation und der Kognition im 2. und 3. Lebensjahr bewirken eine zunehmende Wahrnehmung des Kindes von seinem Selbst und sind verbunden mit immer stärker werdenden Autonomiebestrebungen, die von Größenvorstellungen und euphorischen Hochstimmungen getragen sind. Der wachsenden Explorations- und Expansionslust des Kindes steht jedoch das elterliche Normen- und Wertesystem gegenüber. Die eigenen Wunschvorstellungen von dem, was das Kind tun möchte,müssen sich den elterlichen Vorstellungen, was es tun soll, anpassen. Der Konflikt zwischen
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Autonomie und Gehorsam (Erikson) wird oft nicht ohne Traumatisierung und Fixierung überstanden. Bei ausreichender Sicherheit durch die Eltern kann ein Kind zwischen den neuen Bedürfnissen nach Selbständigkeit und den alten nach Bindung und Sicherheit je nach Situation hin- und herpendeln. Nach dem 3. Lebensjahr finden keine grundsätzlich neuen körperlichen Entwicklungen mehr statt. Das Sensorium ist ausgereift, die Körpermotorik kann gesteuert werden,wobei Größe,Kraft und Geschicklichkeit kontinuierlich weiterwachsen.Durch die Spiegelung der Bezugspersonen hat das Kind ein Bewusstsein seines Selbst erlangt,was Teil einer zunehmend differenzierten Erfahrung und gedanklichen Durchdringung der Welt ist.Hier gelten nun die Prinzipien der Logik, die nach Piaget von
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Kapitel 12 · Identitätsentwicklung, Reifungsprozesse und Lebenszyklus
. Tabelle 12.1. Fortsetzung MIT TLERE KINDHEIT 8 Jahre
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JUGENDALTER
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Psychosoziale Entwicklung
LATENZPHASE
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GENITALPHASE / ADOLESZENZ
– Kontinuierliche Entfaltung des Selbst – Sicherheit in der Primärfamilie – Überwiegend gemischte Gruppen – Intensiver Erfahrungswettbewerb
– Cliquen- – Nichtelterliche bildung Liebesobjekte, – Beginerste Liebe nende – Bildung sozialer (körperl.) Rangordnungen Distanzierung von der Familie – Selbstzweifel, Rollenprobleme
– Soziale Aktivitäten – Suche nach eigenen Werten – Aktives Sexualleben – Beginnende Lösung vom Elternhaus
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Kognitive Entwicklung
Sprachentwicklung
– Beherrscht die monologische Höhepunkterzählung
– Lernt Fremdsprachen Geistige Entwicklung
– Verständnis von Transformationen – Erwerb von Invarianzbegriffen, Klasseninklusion, Kausalverständnis – Überwindung des Egozentrismus
8 Jahre
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– Denken wird selbst zum Gegenstand der Reflexion – Hypothetisches Denken – Proportionales Denken – Vollständige und systematische Problemlösungen – Verständnis der wissenschaftlichen Methode
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Kindern im Alter zwischen drei und sieben Jahren jedoch erst partiell erfasst werden können. Sie sind zwar fähig, mentale Repräsentationen der Welt zu bilden, können jedoch diese Repräsentationen mental nicht manipulieren. Das Denken des Vorschulkindes ist noch an Anschauungen gebunden, seine perspektivische Wahrnehmung und Betrachtung selbstzentriert und es verfügt noch nicht über
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die Fähigkeit zur Klassenbildung sowie über die Begriffe Raum, Zeit und Kausalität. Mit zunehmender Realitätsprüfung relativieren sich die omnipotenten (Selbst)-Vorstellungen, die in der Phase der Autonomieentwicklung eine wichtige Bedeutung hatten.An die Stelle des magischen Wunschdenkens tritt langsam die Fähigkeit zur Antizipation der Wirklichkeit,womit gleichzeitig auch
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283 12.2 · Entwicklungs- und Reifungsprozesse im Zeitverlauf
. Tabelle 12.1. Fortsetzung MIT TLERE KINDHEIT 8 Jahre
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JUGENDALTER 12
– Übergang zur auto- – Instrunomen, an der eigementelnen Entscheidung ler orientierten Moral Zweck – Gehorund sam, AusStraftausch orien(der tierung Andere) (Egozentrismus)
8 Jahre
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GENITALPHASE / ADOLESZENZ – Interpersonelle Anerkennung, Harmonie (Beziehungen) – Soziale Anerkennung u. Systemerhaltung (Systemperspektive) – Sozialverträge, Nützlichkeit, individuelle Rechte (rationelles Subjekt)
– Wachstumsschub – Auftreten erster sekundärer Geschlechtsmerkmale – Menarche ungefähr ab 12 Jahre
Biologische Entwicklung
Moralische Entwicklung
LATENZPHASE
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die Ängste vor Ereignissen wachsen,die die körperliche Integrität verletzen könnten. Das Kind macht Erfahrungen von Grenzen und Begrenztheit und beschäftigt sich mit den großen Themen Liebe, Sexualität,Geburt und Tod.Die eigene geschlechtliche Identität wird in diesem Zusammenhang als eindeutig erfahren, wobei durch das Vorhandensein von zwei Geschlechtern (Mutter und Vater) eine trianguläre Struktur entsteht. Auf der gleichgeschlechtlichen Ebene findet die Identifizierung statt während die gegengeschlechtliche Beziehung Anklänge einer Erotisierung erhält, wobei dem Kind mehr und mehr bewusst wird, welcher Platz ihm in dem sozialen System Familie zugewiesen wird.Diese frühen Identifizierungen und Beziehungsmuster
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stellen eine Einübung in menschliche Bindungen dar und prägen grundsätzlich das spätere Beziehungsverhalten. Bis zum 6. Lebensjahr sind die Grundlagen der Persönlichkeitsentwicklung gelegt. In den folgenden Jahren wird das Erreichte kontinuierlich weiter entfaltet und ausgestaltet. Mit der Einschulung ist die Voraussetzung für einen intensiven Erfahrungswettbewerb gegeben. Wissen und Informationen werden gesammelt und strukturiert und Techniken im Umgang mit der Realität eingeübt.Die mentalen Operationen des Kindes im Alter zwischen sieben und elf Jahren erweitern sich und ermöglichen das Verständnis von Transformationen. Es erwirbt die Erhaltungsbegriffe (Invarianz der Menge,des Volu-
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Kapitel 12 · Identitätsentwicklung, Reifungsprozesse und Lebenszyklus
. Tabelle 12.1. Fortsetzung ERWACHSENENALTER
Psychosoziale Entwicklung
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– Streben nach wirtschaftlicher Unabhängigkeit – Hohe Mobilität – Lösung vom Elternhaus
Junges Erwachs.alter mittl. Erwachs.alter
– Partnerwahl – Aufbau einer Partnerschaft – »Intimität vs. Selbstbezogenheit« – Identitätsbildung
– Berufliche Entwicklung – Karriere – Elternschaft – »Generativität vs. Stagnation«
HÖHERES LEBENSALTER Übergang i. Rentenalter u. Rentenalter
– Wachsendes Anpassungsvermögen an veränderte Anforderungen – Mobilisierung von Reservekapazitäten – Bilanzierung des bisherigen Lebens – Gewinnung von Kontinuität im Erleben der eigenen Person – »Ich-Integrität vs.Verzweiflung«
– Wortschatz rund 80.000 Wörter Geistige Entwicklung – Ausbau der erfahrungsgebundenen, kristallinen Intelligenz
– Abnahme der fluiden Intelligenz und Zunahme der erfahrungsgebundenen (kristallinen) Intelligenz – Steigerung der fluiden Intelligenz durch Training von kognitiven Strategien möglich – Große Bandbreite an Kompetenzen, wenn das Umfeld leistungsdruckarm ist und ausreichend Zeit zur Verfügung steht
Biologische Entwicklung Moralische Entwicklung
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Kognitive Entwicklung
Sprachentwicklung
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Junges Erwachs.alter mittl. Erwachs.alter
Übergang i. Rentenalter u. Rentenalter
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mens und des Gewichts), beherrscht die Logik der Klassenhierarchisierung, bildet die Fähigkeit des Kausalverständnisses heraus und überwindet die selbstzentrierte perspektivische Wahrnehmung und Betrachtung. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung der kognitiven Fähigkeiten können alterstypische Lösungen im sozialen Lernen des Alltags erfolgen,der Prozess der sekundären Sozialisation schreitet voran. Er ist nach Erikson grundsätzlich durch den Konflikt zwischen Werksinn (Leistung) und Minderwertigkeitsgefühl geprägt. Trotz zunehmender Autonomie ist das Kind in dieser Entwicklungsphase noch sehr stark auf das zuverlässige Eingebundensein in die Primärfamilie angewiesen. Gleichzeitig wird der Gleichaltrige (»Peer«) zu einer wichtigen Bezugsperson,wobei die Interaktion mit Gleichaltrigen die Entwicklung des Sozialverhaltens bzw. die Entwicklung von sozialen Kompetenzen und die Auseinandersetzung mit Normen und moralischen Urteilen stark fördert.
12.2.2 Jugend
Das Jugendalter wird in vier Phasen unterteilt: 4 Die Zeit zwischen dem 11. und dem 12. Lebensjahr wird als Übergangszeit von der Latenz in die Adoleszenz beschrieben. 4 Die frühe Adoleszenz umfasst etwa das 13. bis 14. Lebensjahr. 4 Die eigentliche Adoleszenz umfasst das 15. bis 16. Lebensjahr. 4 Die Spätadoleszenz liegt zwischen dem 17. und 20. Lebensjahr (Mertens 1996). Im Jugendalter finden auf allen Ebenen Veränderungen statt, die eine Reihe von Entwicklungsaufgaben nach sich ziehen. Die wichtigsten sind: 4 die Auseinandersetzung mit der eigenen Körperlichkeit und die Identifikation mit der geschlechtsspezifischen Rolle, 4 die Ablösung der emotionalen Abhängigkeit von den Eltern und von anderen Erwachsenen, 4 der Aufbau eigener, intimer Beziehungen zu Gleichaltrigen, 4 die Entwicklung eines sozial verantwortlichen Handelns und entsprechender Werte und Normen,
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4 die Entscheidung für einen Ausbildungsberuf bzw. die Aufnahme von Aktivitäten, die eine ökonomische Unabhängigkeit möglich werden lassen. Die körperlichen Veränderungen sind im Jugendalter gravierend. Es findet zum einen ein Wachstumsschub statt, zum anderen entwickelt sich die Geschlechtsreife. Obwohl es zum Teil große individuelle Entwicklungsunterschiede gibt – insbesondere auch zwischen Jungen und Mädchen –, treten im Durchschnitt etwa ab dem 11. Lebensjahr erste sekundäre Geschlechtsmerkmale auf. Die Geschlechtsreifung dauert dann etwa bis zum 14. Lebensjahr an. Parallel findet ein Wachstumsschub statt, wobei die einzelnen Körperteile nicht synchron wachsen,was die Altersgruppe der elf- bis ca. 14/15-Jährigen häufig ungelenk wirken lässt. Vor allem im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Schönheitsidealen führen die körperlichen Veränderungen bei den Frühadoleszenten oft zu Selbstwertproblemen, die durch den äußeren wie auch selbsterzeugten Druck, sexuelle Aktivitäten aufnehmen zu müssen,noch verstärkt werden können. Mertens (1996) spricht von einer starken Stimmungslabilität in der Phase der Frühadoleszenz,die auf Grund eines dramatischen kognitiven Ungleichgewichts erfolgt. Nach Piaget wird etwa ab dem 12.Lebensjahr die Stufe des formal-operationalen Denkens erreicht, die durch die Fähigkeit charakterisiert ist, das eigene Denken selbst zum Gegenstand der Reflexion zu machen.Jugendliche beginnen,ihre Erkenntnisse selbst zu problematisieren und zu reflektieren, ob es eine absolute Gewissheit geben kann.Das formal-operationalistische Stadium bildet die Grundlage für alle komplexen geistigen Leistungen. Dieser Quantensprung in der Veränderung des Denkvermögens hat weit reichende Folgen für das psychische und emotionale Erleben. Mertens (1996) hebt hier insbesondere die Suche nach dem Selbst hervor, die Entwicklung eines Selbstbildes, welches sich von dem Bild, das die Eltern sich von ihrem Kind gemacht haben, unterscheidet. Dieser Prozess der Identitätssuche ist begleitet von einer hohen Kränkbarkeit und Kritikempfindlichkeit. Der Frühadoleszente kann und will auf Grund seiner körperlichen Veränderungen keine kindlichabhängigen Bedürfnisse mehr zulassen, er ist je-
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12
Kapitel 12 · Identitätsentwicklung, Reifungsprozesse und Lebenszyklus
doch auch noch kein »starker« Erwachsener. Die verstärkten genitalen Triebimpulse und das damit zusammenhängende Wiedererstarken der ödipalen Situation leiten dabei auch die allmähliche Loslösung von den Eltern als Liebesobjekte und die damit verbundene Entbesetzung von den elterlich vermittelten Über-Ich-Inhalten ein. In der Hauptzeit der Adoleszenz,zwischen dem 15. und 16. Lebensjahr, findet diese Entwicklung ihren Höhepunkt. Das Wiederaufleben von ödipalen Wünschen ist in dieser Zeit am intensivsten,wobei negative wie positive ödipale Strebungen sich nun zunehmend auf Gleichaltrige des eigenen und des anderen Geschlechts richten (Blos 1983); die Depressivität und die Selbstwertprobleme der vergangenen Jahre nehmen jetzt an Intensität ab. Die Bewältigung der Triebkonflikte bedeutet dabei insgesamt eine Stärkung der Ich-Funktionen. Nach Anna Freud (1988) lassen sich vor allem zwei Bewältigungsformen von Triebkonflikten unterscheiden: Die jugendliche Askese und die Intellektualisierung. Die Askese ist gekennzeichnet durch ein starkes Maß an Verdrängung von Triebimpulsen, die jedoch in der Regel einen – nach Anna Freud heilsamen – Umschlag in einen Triebexzess findet. Die Intellektualisierung ist eine Bewältigung des Triebkonflikts durch das Nachdenken auf hohem Niveau über Familie, Freundschaft, Religion, Politik etc. Piaget spricht in diesem Zusammenhang von einer jugendlichen Egozentrik, die sich in einer Art Sendungsbewusstsein äußert. Am Ende der Adoleszenz beginnen die grundlegenden Charakteristika der erwachsenen Männlichkeit und Weiblichkeit deutlich zu werden. Fragen nach dem eigenen Lebensentwurf und die gedankliche Auseinandersetzung mit erwachsenen Lebensrollen treten in den Vordergrund. Im Vergleich zu den in der mittleren Adoleszenz noch stark flottierenden Vorstellungen über die Zukunft werden Planungen jetzt realistischer und konkreter. In der heutigen Jugendforschung wird diese Zeit durchgängig als Zeit der beginnenden Identitätsfindung bezeichnet.Die Forschung knüpft dabei an die Theorie von Erikson an, in der die Identitätsbildung zwar als eine lebenslange Entwicklung dargestellt, zugleich aber als das zentrale Thema im Jugendalter begriffen wird. Erikson beschreibt die Jugend als »psychosoziales Morato-
rium«, »während dessen der Mensch durch freies Rollen-Experimentieren sich in irgendeinem der Sektoren der Gesellschaft seinen Platz sucht, eine Nische, die fest umrissen und doch wie einzig für ihn gemacht ist. Dadurch gewinnt der junge Erwachsene das sichere Gefühl innerer und sozialer Kontinuität, das die Brücke bildet zwischen dem, was er als Kind war und dem, was er nunmehr im Begriff ist zu werden. Eine Brücke, die zugleich das Bild,das er von sich selbst wahrnimmt,mit dem Bilde verbindet, unter dem er von seiner Gruppe, seiner Sozietät erkannt wird (Erikson 1973, 137f). Erikson beschreibt die Krise im Jugendalter mit dem Schlagwort »Identität gegen Identitätsdiffusion« und deutet damit die beiden möglichen Ergebnisse der Entwicklungsaufgabe an.Entweder es gelingt dem Jugendlichen, ein konsistentes Bild von sich aufzubauen und eine klare Zukunftsperspektive zu entwickeln, zu der vor allem auch der Aufbau von festen Bindungen zählt, oder er bleibt in einem Zustand der Verwirrung gefangen und Selbstzweifel und innerer Zwiespalt verhindern die weitere Entwicklung und den Aufbau der Ich-Identität. Die psychische Integration der verschiedenen Ebenen der Veränderung – des körperlichen Wachstums,der sich herausbildenden Geschlechtsidentität, der Loslösung von den Eltern, der Fähigkeit zu einer intimen Beziehung, der größeren Über-Ich-Autonomie, der reifer werdenden IchIdeale und der Entwicklung der abstrakten Denkfähigkeit – ist eine Entwicklungsaufgabe, die für viele Heranwachsende diese Zeit zur schwierigsten ihres Lebens werden lässt. Dass sich die Herausforderungen für männliche und weibliche Jugendliche dabei ganz verschieden darstellen, kann hier nur erwähnt werden. Ebenso kann an dieser Stelle nur darauf hingewiesen werden,dass auf Grund gesellschaftlicher Veränderungen das Ende der Adoleszenz nur schwer auszumachen ist. Generell ist bei der Betrachtung und Beschreibung des Jugendalters wichtig, dass Jugend nicht nur einen bestimmten Abschnitt im individuellen Lebenslauf darstellt, sondern dass sie inhaltlich auch für eine Generation steht, die durch eigene kulturelle Orientierungen, Wertehaltungen und Verhaltensweisen aus soziologischer Perspektive eine innovative Funktion für die Gesellschaft hat.
287 12.2 · Entwicklungs- und Reifungsprozesse im Zeitverlauf
12.2.3 Erwachsenenalter
In der Entwicklungspsychologie ist der Schwerpunkt der Forschung vor allem auf die Phase der Kindheit und Jugend gelegt worden. Das Erwachsenenalter und das höhere Alter sind im Vergleich dazu relativ vernachlässigte biografische Abschnitte in der Untersuchung von Entwicklungsprozessen im Leben des Menschen. Allerdings kann aus der Sozialpsychologie, der Arbeits-, Betriebs- und Organisationspsychologie sowie aus der Gerontopsychologie auf eine Fülle von Daten zurückgegriffen werden,die das Erwachsenenalter und das hohe Alter unter verschiedenen Gesichtspunkten beschreiben. Von den vier einflussreichen Entwicklungstheorien, die hier vorgestellt worden sind, bildet allerdings Erikson eine Ausnahme.Seine Darstellung der Krisen des Erwachsenenalters sowie verschiedene Untersuchungsergebnisse aus anderen Teilgebieten der Psychologie bilden die Grundlage für die folgenden zusammenfassenden Ausführungen zum Erwachsenenalter. Erikson geht davon aus,dass mit dem Eintritt in das Erwachsenenalter die Ich-Anteile deutlich hervortreten.Er unterscheidet beim Erwachsenenalter zwei Stadien. Das erste Stadium umfasst das junge Erwachsenenalter, in welchem die Krise »Intimität und Distanzierung gegen Selbstbezogenheit« bewältigt werden muss. Es geht um die Partnerwahl und um den Aufbau einer Partnerschaft, die ein zentrales Element in der Entwicklung von jungen Erwachsenen darstellt.Viele Untersuchungen über Partnerschaft gehen von der Heterogamie-Theorie aus, die als Voraussetzung von Partnerwahl das Moment der Komplementarität betont – oder wie es im Volksmund heißt: Gegensätze ziehen sich an. Insbesondere Willi untersucht die Dynamik des Zusammenwirkens psychischer Merkmale und die Komplementarität von Bedürfnissen in Paarbeziehungen (Willi 1982). Die Bedürfnisse können übereinstimmen (Ko-Evolution), sie können aber auch im Verlauf der Beziehung negativ korrelieren (Kollusion) und die Weiterentwicklung beider Partner entscheidend behindern. Wodurch Partner fähig werden, ihre Beziehung positiv zu gestalten und zu entwickeln, versucht das Altruismusmodell (Kirchler 1989) zu erklären. Danach ist eine gute Beziehung von der Bereitschaft und der Fähigkeit der
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Partner abhängig, die Gefühle und Bedürfnisse des Anderen wahrzunehmen und sich empathisch auf ihn zu beziehen. Konflikte können auf dieser Grundlage konstruktiv bearbeitet werden.In guten Partnerschaften gewähren sich die Partner gegenseitig »Kredit«, d. h., die Annehmlichkeiten, die sie dem anderen bereiten oder die sie selbst empfangen,sind nicht an die Erwartung geknüpft,Gleiches zur selben Zeit zurückzubekommen. Die Kontrolle von Geben und Nehmen tritt hinter Liebe und Altruismus zurück. Gelingt dieser Schritt, wird die für das Jugendalter noch charakteristische Bezogenheit auf sich selbst überwunden. Die von Erikson benannte Krise in diesem Stadium ist zu Gunsten der Intimität entschieden. Der junge Erwachsene ist auf der Basis einer entwickelten eigenen Identität in der Lage,eine enge sexuelle,soziale und emotionale Beziehung einzugehen. Gelingt dies nicht, droht nach Erikson eine Isolierung oder eine Verflachung und Formalisierung von Beziehungen, die die weitere Entwicklung des Menschen nachhaltig beeinträchtigt. Eine Reihe ineinander greifender gesellschaftlicher Veränderungen hat dazu geführt, dass die Bewältigung der Reifungskrise dieses biografischen Abschnitts schwieriger geworden ist. Die zunehmende Mobilität, die Veränderung des Geschlechterverhältnisses und der Rolle der Frau sowie der Wandel von Werten und Orientierungen – um nur einige von vielen Veränderungen zu nennen – begünstigen die Bereitschaft zum raschen Partnerwechsel und zur Singularisierung. Durch den herrschenden Jugendkult in unserer Gesellschaft nehmen junge Erwachsene diese Entwicklung überwiegend aber nicht als Defizit wahr. Zunehmende Isolierung und das Gefühl von fehlender Verbundenheit und sozialem Eingebundensein werden erst in späteren Lebensjahren spürbar. Das zweite Stadium des Erwachsenenalters umfasst nach Erikson das mittlere Erwachsenenalter. In dieser Entwicklungsphase steht die Bewältigung der Aufgabe einer möglichen Elternschaft im Vordergrund, die Erikson als Krise von »Generativität gegen Stagnation« bezeichnet. Er geht davon aus, dass Erwachsene nach der Phase der Identitätsfindung und -stabilisierung, die den Aufbau intimer Partnerschaften und die berufliche Entwicklung einschließt, den Wunsch haben, sich zu erweitern, generativ zu werden. Generativität fasst er als primäres Interesse an der Erzeugung und Erziehung
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Kapitel 12 · Identitätsentwicklung, Reifungsprozesse und Lebenszyklus
der nächsten Generation auf.Mit einem solchen Interesse tritt eine neue Qualität des Verhaltens von Erwachsenen auf: Sie richten ihre libidinöse Energie auf andere, insbesondere auf die eigenen Kinder, nehmen starken Anteil an deren Entwicklung und Reifungsprozesse und betrachten das eigene Wirken und das eigene Engagement zunehmend unter dem Aspekt der Relevanz,die es für die nächste Generation hat. Die oben angesprochenen gesellschaftlichen Veränderungsprozesse haben allerdings auch in Bezug auf diesen Entwicklungsabschnitt starke Auswirkungen. Seit den sechziger Jahren wird von Soziologen ein tief greifender Wandel der familiaren Formen des Zusammenlebens beschrieben und analysiert. Charakteristisch für diesen Wandel sind ein kontinuierlicher Geburtenrückgang, zurückgehende Heiratsziffern, eine Zunahme der unverheiratet zusammenlebenden Paare, steigende Scheidungsraten und eine veränderte Sexualmoral. Insgesamt ergibt sich das Bild einer Pluralisierung familiarer Lebensformen, die vor allem durch den zunehmenden (Arbeitsmarkt) Individualisierungsprozess der Frauen (Beck u. Beck-Gernsheim 1990), die Bildungsreform, die verstärkte Berufsorientierung der Frauen und die durch den gesellschaftlichen Wertewandel bedingten veränderten Lebensorientierungen begünstigt wurde (Nave-Herz u. Markefka 1989). Dennoch wird die Elternschaft von jungen Erwachsenen heute weiter angestrebt und bleibt ein zentraler Bestandteil in der Lebensplanung. Gegenüber den früheren Verläufen der Normalbiografie von Frauen und Männern differieren jedoch die Vorstellungen stark. So ist in vielen Untersuchungen dargestellt worden, dass sich die Anzahl der gewünschten Kinder auf zwei reduziert hat, wobei die tatsächliche Geburtenrate rechnerisch bei 1,3 Kinder pro Paar liegt. Verändert hat sich auch der Zeitpunkt, zu dem die Familienplanung realisiert werden soll. Dieser Zeitpunkt ist überwiegend gebunden an die Beendigung der Berufsausbildung der Frau bzw. an die Realisierung von Karrierewünschen und die Möglichkeit, diese mit einer Mutterschaft zu verbinden. Insbesondere bei Frauen, die ein höheres Bildungsniveau haben, ist das Durchschnittsalter der Erstgebärenden auf knapp 30 Jahre angestiegen. Eine grundsätzliche Entscheidung gegen eigene Kinder ist häufiger als früher anzutreffen, fällt jedoch mit ca. acht bis
zehn Prozent immer noch gering aus. Eine deutliche Zunahme ist indes bei den ungewollt kinderlosen Paaren zu verzeichnen. Die Reproduktionsmedizin hat in diesem Zusammenhang in den letzten Jahren eine große Bedeutung bekommen, und auch die steigende Anzahl adoptionswilliger Paare verdeutlicht den zentralen Stellenwert, den Kinder in der Lebensplanung von Erwachsenen haben. Anders als früher ist das Motiv für eine Elternschaft dabei heute viel weniger durch den Wunsch nach gesellschaftlicher Anerkennung und späterer Versorgung geprägt als vielmehr durch den Wunsch nach Sinnerfüllung. Kinder werden als emotionale Bereicherung erlebt, ihre bedingungslose Liebe wird zur Quelle individueller Glückserfahrung. Mit der Elternschaft sind weit reichende psychische und soziale Veränderungen verbunden.Die Versorgung und Erziehung des Kindes erfordert Zugewandtheit und Zeit, die Berufstätigkeit, die Hausarbeit und die Aktivitäten im Freizeitbereich müssen auf die neuen Erfordernisse abgestimmt werden. Trotz wachsender Bereitschaft der Männer, die Familienarbeit mit zu tragen, müssen die notwendigen Umstrukturierungsprozesse auch heute noch überwiegend von Frauen geleistet werden, wobei die gesellschaftliche Anerkennung von Hausarbeit und Kindererziehung nach wie vor gering ist. Immer mehr Frauen entscheiden sich für eine Verbindung von Beruf und Mutterschaft, um ebenfalls am gesellschaftlichen Leben teilnehmen und – wie Männer auch – eine berufliche Identität entwickeln zu können. Damit geht eine Doppelbelastung einher, die ein hohes Konfliktpotenzial in Partnerschaften darstellt. Neuere Untersuchungen belegen allerdings, dass Frauen unter Bedingungen der Doppel- und Mehrfachbelastung spezifische Formen des Copings entwickeln, die sie insgesamt in die Lage versetzen, zu reiferen Formen der Auseinandersetzung in der Partnerschaft und Elternschaft zu gelangen (Bodemann et al. 1996). Wird die Elternschaft als Herausforderung der Entwicklungsphase des mittleren Erwachsenenalters erfolgreich bewältigt, ist ein weiteres Wachstum der Persönlichkeit nach Erikson möglich. Hierbei ist nicht nur allein von Bedeutung, ob man tatsächlich ein Kind hat, sondern dass überhaupt die Bereitschaft entsteht,sich mit dieser Herausforderung auseinander zu setzen bzw. alternierende sinnstiftende Lebensaktivitäten zu entwickeln. Für
289 12.2 · Entwicklungs- und Reifungsprozesse im Zeitverlauf
viele gewollt oder auch ungewollt kinderlose Paare und Einzelpersonen rückt dann die berufliche Karriereentwicklung als ein fortgesetzter Prozess der Ausformung und Umsetzung des Selbstkonzepts in den Vordergrund. Gelingt es, das eigene Wirken und das eigene Engagement in einen übergeordneten Sinnzusammenhang einzuordnen, wird sich eine Verbundenheit in größerem Kontext herstellen. Kann die Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit den Herausforderungen dieser Reifungsphase auf Grund psychischer Blockaden und Fixierungen nicht entwickelt werden, droht nach Erikson die Stagnation und die Verarmung in zwischenmenschlichen Beziehungen. Häufig wird dann in der Lebensmitte die eigene Existenz als sinnlos empfunden und weiterführende Perspektiven nicht erkannt.
12.2.4 Das höhere Lebensalter
Es ist bereits darauf hingewiesen worden, dass ebenso wie das Erwachsenenalter auch das höhere und hohe Lebensalter zu den vernachlässigten Untersuchungsgebieten in der Entwicklungspsychologie zählen – lediglich Erikson berührt diesen Lebensabschnitt im Rahmen seiner Theorie der menschlichen Reifungskrisen. Diese Lücke ist von der noch recht jungen Gerontopsychologie gefüllt worden, die die besonderen psychischen und psychosozialen Probleme im letzten Lebensabschnitt untersucht. Im Vordergrund stehen dabei Fragen nach der Leistungsfähigkeit und Beanspruchbarkeit von älteren Menschen,nach der Gestaltung von Umweltbedingungen,die altersgerecht sind und soziale Einbindung möglich machen, und nach den therapeutischen Möglichkeiten, die das größtmögliche Maß an Selbständigkeit älterer Menschen fördern. Obgleich die Altersgrenze, ab der von älteren Menschen oder von hohem Lebensalter gesprochen wird, nicht eindeutig festgelegt ist, legen die meisten Untersuchungen den Zeitpunkt zu Grunde, ab dem das Rentenalter beginnt, üblicherweise also 65 Jahre. Grundsätzlich ist das herrschende Alltagsverständnis von älteren Menschen noch sehr stark mit Begriffen wie Verlust,Abbau und Krankheit assoziiert. Dieser Defizitannahme steht ein Kompetenzmodell gegenüber,welches durch viele Forschungs-
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ergebnisse begründet worden ist.Dabei steht weniger in Frage, dass Altern tatsächlich mit einer Reihe von Abbauerscheinungen und Verlusten verbunden ist; vielmehr wird betont, dass ältere Menschen eine Vielfalt von Fähigkeiten haben, mittels derer sie Anforderungen meistern und aktiv auf die Gestaltung ihrer Lebensbedingungen Einfluss nehmen. Als eine besondere Fähigkeit dieses Alters wird das wachsende Anpassungsvermögen beschrieben, welches insbesondere im Hinblick auf Krankheit und Behinderung eine wichtige Bedeutung hat. Trotz vieler Einschränkungen sind ältere Menschen in der Lage, erhöhte Belastungen und Anforderungen infolge ihres gesundheitlich eingeschränkten Zustandes zu bewältigen. Charakteristisch für die Entwicklungsfähigkeit im hohen Alter ist die Mobilisierung von Ressourcen, die bislang noch nicht für die erfolgreiche Bewältigung von alltäglichen Problemen benötigt wurden. Diese bislang ungenutzten Ressourcen werden auch als Reservekapazität beschrieben und bilden die Basis für Rehabilitationsansätze, die auf die Förderung und Nutzung der vorhandenen Kräfte abzielen und damit die Entwicklung im Alter als beeinflussbar und optimierbar betrachten (Baltes u. Baltes 1994). Da Entwicklungsfähigkeit immer etwas mit Lernen, Gedächtnis und Intelligenz zu tun hat, haben sich einige Untersuchungen speziell mit der Entwicklung der Intelligenz im Alter auseinander gesetzt. Unterschieden werden muss generell zwischen den flüssigen (fluiden) Intelligenzkomponenten und den kristallinen Intelligenzkomponenten. Erstere umfassen die Fähigkeiten zur Lösung von neuartigen kognitiven Problemen. Die kristalline Intelligenz umfasst das im Laufe der Biografie erworbene Wissen der Person und die Fähigkeit zum Umgang mit vertrauten kognitiven Problemen. Kruse (1989) kommt in einer gerontologischen Studie zu dem Ergebnis, dass die fluide Intelligenz im Alter leicht abnimmt und die erfahrungsgebundene (kristalline) Intelligenz konstant bleibt. Ältere Menschen besitzen ein ausgeprägtes Lebenswissen, Kenntnisse über Strategien der erfolgreichen Alltagsbewältigung, die Fähigkeit zur kontextuellen Einordnung einzelner Lebensereignisse und eine differenzierte Urteilsbildung, da sie die Fakten genau betrachten und prüfen. In der Studie von Kruse wird weiterhin die Frage aufgeworfen, unter welchen Bedingungen eine Steigerung der kogni-
290
Kapitel 12 · Identitätsentwicklung, Reifungsprozesse und Lebenszyklus
tiven Leistungsfähigkeit möglich ist. Er kommt zu dem Schluss, dass sich sowohl die erfahrungsgebundene als auch die fluide Intelligenz durch das Training kognitiver Strategien steigern lässt. Dabei ist es besonders effektiv, wenn selbständig neue Strategien zur Bewältigung von Problemen eingeübt und angewendet werden können. Wichtig Daraus folgen Konsequenzen für die Schaffung geeigneter Lernvoraussetzungen für ältere Menschen: 5 Sie benötigen mehr Zeit, 5 das Lernmaterial muss überschaubar und gut gegliedert sein, 5 Überforderungen sollten vermieden werden, 5 der Sinn des Lerninhaltes muss gut erkennbar sein und 5 die Lernmethoden sollten variieren und zu einem großen Teil selbst bestimmbar sein (Kreativmethoden, Selbststudium etc.).
12
Wie Kruse kommt auch Lehr zu dem Ergebnis, dass die kognitive Leistungsfähigkeit auch im höheren Alter erhalten bleibt und ältere Menschen über eine große Bandbreite an Kompetenzen verfügen,wenn das Umfeld leistungsdruckarm ist und ausreichend Zeit für die Bewältigung der Aufgaben zur Verfügung steht (Lehr 1991). Die Untersuchungen zeigen indes auch,dass ältere Menschen sich häufig nicht ernst genommen fühlen und ihnen auf Grund des fortgeschrittenen Alters die Kompetenz zur Bewältigung von – auch beruflichen – Anforderungen abgesprochen wird. Das hier zum Ausdruck kommende überholte gesellschaftliche Altersbild korrespondiert zum Teil durchaus mit dem Selbstbild älterer Menschen.Insbesondere nach dem Eintritt in den Ruhestand sehen sich viele von ihnen mit dem Problem konfrontiert, keinen wertvollen Beitrag mehr für die Gesellschaft leisten zu können; sie fühlen sich nutzlos und nicht mehr eingebunden in die soziale Gemeinschaft. Lehr und Kruse (1995, S 418ff) betonen allerdings, dass die Übergangsphase in die berufs-
freie Zeit zwar eine krisenhafte und labile Lebensphase darstellt, die mit einem Prozess der Neuorientierung verbunden ist,dass aber die Bewältigung der neuen Herausforderungen sehr stark abhängig ist von der Persönlichkeitsstruktur des älteren Menschen, seinem Bildungsniveau, Lebensstil, sozialen Status, seinen sozialen Netzwerken und finanziellen Ressourcen. Die gerontologische Forschung richtet ihr Interesse entsprechend mehr auf die unterschiedlichen Lebensformen im Alter und weniger auf die Lebensnormen. Die krisenhafte Entwicklung im Alter ist insbesondere auch von Erikson herausgearbeitet worden. Nach seiner Auffassung stellt sich dem älteren Menschen die Aufgabe,sein bisheriges Leben zu bilanzieren und zu integrieren. Integration bedeutet in diesem Zusammenhang »die Annahme seines einen und einzigen Lebenszyklus und der Menschen, die in ihm notwendig da sein mussten und durch keine anderen ersetzt werden können […] und die Bejahung der Tatsache, dass man für das eigene Leben allein verantwortlich ist« (Erikson 1973,S 118f). Gelingt die Bewältigung dieser Herausforderung, findet ein Übergang in eine stabile Ich-Integrität statt. Ein Mangel oder sogar Verlust dieser Ich-Integrität führt in die Verzweifelung darüber, dass die verbleibende Zeit zu kurz für einen Neubeginn ist, zu kurz für das Einschlagen anderer Wege, die eine Integrität ermöglichen könnten. Wichtig und hilfreich für die Gewinnung von Kontinuität im Erleben der eigenen Person sind soziale Beziehungen und ein gesellschaftliches Umfeld, in dem ältere Menschen nicht ausgegrenzt werden, sondern wo ihnen Respekt und Achtung entgegengebracht wird. Hier zeichnet sich langsam ein Wandel in den Einstellungen gegenüber älteren Menschen ab, da durch ihre zahlenmäßige Zunahme nicht nur eine quantitative demographische Veränderung stattfindet, sondern langsam auch ein qualitativer soziokultureller Wandel bewirkt wird. Die Verkürzung der Lebensarbeitszeit und die Verlängerung des Lebensabends bedürfen spezifischer Bewältigungsformen und institutioneller Regelungen, die sich allmählich herauszukristallisieren beginnen. Die Lebens- und Problemlösungsstrategien, die ältere Menschen heute entwickeln, sind für die nachfolgende Generation bereits von weit tragender Bedeutung und von großem Interesse.
291 12.2 · Entwicklungs- und Reifungsprozesse im Zeitverlauf
Zusammenfassung Viele Inhalte und Themen der Psychologie sind auch für die Ausbildung von Pflegepädagoginnen und Pflegepädagogen relevant. Der Aufsatz beschränkt sich auf die Teildisziplin der Entwicklungspsychologie, die viele verschiedene Einzelthemen der Psychologie integriert. Ausgehend von der Frage nach der Praxisrelevanz der Erforschung und Beschreibung der Entwicklung des Menschen werden für die Handlungsfelder und Handlungskompetenzen von Pflegepädagogen ausgewählte entwicklungspsychologische Phasenmodelle vorgestellt. Die einflussreichsten Entwicklungstheorien sind von Freud, Erikson, Piaget und Kohlberg entwickelt worden.Um ein komplexes Bild von den Entwicklungs- und Reifungsprozessen von Individuen im Zeitverlauf zu erhalten, ist es notwendig, die verschiedenen Ansätze zu synthetisieren. Dies erfolgt in einer zusammenfassenden Beschreibung des Entwicklungsverlaufs der einzelnen Phasen »Kindheit«,»Jugend«,»Erwachsenenalter« und »Höheres Lebensalter«.
3 Methodische Vorschläge für die Seminargestaltung In meinen Ausführungen habe ich die Praxisrelevanz der entwicklungspsychologischen Phasenmodelle für den Erwerb pädagogischer Handlungskompetenzen für jetzige und zukünftige Pflegepädagogen beschrieben. Ein Seminar zu dieser Thematik sollte diese Überlegungen an den Anfang stellen, sodass die nachfolgende Bearbeitung der theoretischen Grundlagen in einem sinnhaften Bezug zum zukünftigen beruflichen Handeln steht. Vieles von dem, was die Entwicklungspsychologie an Veränderungen und Reifungsprozessen von Individuen im Zeitverlauf beschreibt und erklärt, existiert als Alltagswissen. Das Ansetzen an dieses Alltagswissen fördert das Interesse der Seminarteilnehmer sowie die innere Beteiligung und Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit der eigenen Person als entscheidende Voraussetzung für eine kompetente und zugewandte Beziehung zu Pa-
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tienten und Klienten. Um die Kenntnisse und das Erfahrungswissen der Seminarteilnehmer in ein strukturiertes Arbeitsergebnis münden zu lassen, bedarf es zunächst einer kurzen Erläuterung der in den verschiedenen Entwicklungstheorien gängigen Einteilung von Lebensabschnitten sowie ihrer Schwerpunktsetzung auf verschiedene Entwicklungslinien. Diese Erläuterungen sollten auf Pinnwänden visualisiert werden. Horizontal wird das jeweilige Lebensalter eingetragen und vertikal werden die Entwicklungslinien notiert (psychosoziale Entwicklung, kognitive Entwicklung, moralische Entwicklung, biologische Entwicklung). Der Aufbau der Matrix kann sich dabei an Tabelle 12.1 orientieren. Ein erster Arbeitsauftrag an die Seminarteilnehmer lautet dann, in Kleingruppen die Entwicklungs- und Reifungsprozesse für den ersten Lebensabschnitt zu diskutieren und die Nennungen auf rechteckige Moderationskarten zu notieren (jeweils nur ein bis zwei Begriffe). Zur Einstimmung in das Lebensalter kann den Gruppen ein Text, ein Gedicht, ein Lied oder ein Bild zur Verfügung gestellt werden. Ist diese Arbeit abgeschlossen, präsentiert jede Gruppe ihr Ergebnis im Plenum, wobei die Moderationskarten in die vorbereitete Matrix geheftet werden. Es folgt ein Kurzvortrag der Seminarleitung, in dem die Forschungsergebnisse und Erkenntnisse der vier entwicklungspsychologischen Ansätze für diesen Lebensabschnitt dargestellt werden. Das Alltagswissen der Seminarteilnehmer wird so um die wissenschaftlichen Erkenntnisse ergänzt und erweitert. Ist die Perspektive der Betrachtung in diesem Schritt noch ganz auf eine gesunde Entwicklung ausgerichtet, so wird im nächsten Schritt die Aufmerksamkeit auf Entwicklungsdefizite und -verzögerungen gelegt. In Kleingruppen diskutieren die Seminarteilnehmer nun Besonderheiten in der Reifungsphase dieses Lebensalters, welche eine krisenhafte Entwicklung hervorrufen können. Hier ist es sinnvoll, neben der Reflexion der eigenen Entwicklungskrisen Kasuistiken aus der beruflichen Praxis zu diskutieren. Im Vordergrund stehen dabei Fragen nach den Ursachen für die Entwicklungsdefizite, nach der Ausprägung der Symptome und den möglichen Interventionsformen des beruflichen Handelns. Die Arbeitsergebnisse werden ebenfalls im Plenum präsentiert und gemeinsam dort bespro-
292
Kapitel 12 · Identitätsentwicklung, Reifungsprozesse und Lebenszyklus
chen.Wichtige Handlungskompetenzen und Handlungsstrategien werden auf einem Flip-Chart zusammenfassend visualisiert. Dieses vierschrittige Vorgehen wiederholt sich nun für alle weiteren Lebensabschnitte: 4 Erfahrungswissen in der Kleingruppe diskutieren, 4 Präsentation im Plenum mit nachfolgendem Kurzvortrag durch die Seminarleitung, 4 Diskussion von Entwicklungsdefiziten anhand von Kasuistiken aus der beruflichen Praxis, 4 Präsentation im Plenum und Herausarbeiten von wichtigen Handlungskompetenzen und Handlungsstrategien. Insgesamt muss mindestens ein Zeitraum von 20 Stunden zur Verfügung stehen. Ausführlicher und intensiver – vor allem in Bezug auf die Reflexion der eigenen Bewältigung von Entwicklungskrisen – wird der Arbeitsprozess und das Arbeitsergebnis, wenn 40 Stunden eingeplant werden können.
3 Empfehlungen zum Weiterlernen
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Zur Vertiefung der Thematik und zum Weiterlernen kann folgende Literatur empfohlen werden: 4 Mertens W (1996) Entwicklung der Psychosexualität und der Geschlechtsidentität. Bd II: Kindheit und Adoleszenz. 2. überarbeitete Aufl. Kohlhammer, Stuttgart 4 Mertens W (1992) Entwicklung der Psychosexualität und der Geschlechtsidentität. Bd 1: Geburt bis 4. Lebensjahr. Kohlhammer, Stuttgart 4 Oerter R, Montada L (Hrsg) (1998) Entwicklungspsychologie. Ein Lehrbuch. 4. korrigierte Aufl. Beltz, München Spezielle Literatur zur Säuglings- und Kleinkindforschung: 4 Dornes M (1993) Der kompetente Säugling. Die präverbale Entwicklung des Menschen. Fischer, Frankfurt a. M. 4 Mahler MS, Pine F, Bergmann A (1978) Die psychische Geburt des Menschen. Fischer, Frankfurt a. M. 4 Spitz RA (1959) Ursprünge menschlicher Kommunikation. Klett, Stuttgart
Literatur Balint M (1997) Die Urformen der Liebe und die Technik der Psychoanalyse. 2. Aufl. Klett, Stuttgart Baltes P, Baltes M (1994) Gerontologie: Begriff, Herausforderung und Brennpunkte. In: Baltes P, Mittelstraß J, Staudinger Z (Hrsg) Alter und Altern: Ein interdisziplinärer Studientext. De Gruyter, Berlin, S 1–34 Beck U, Beck-Gernsheim E (1990) Das ganz normale Chaos der Liebe. Fischer, Frankfurt am Main Blanck G,Blanck R (1974) Angewandte Ich-Psychologie.Klett,Stuttgart Blos P (1983) Adoleszenz: Eine psychoanalytische Interpretation. 3. Aufl. Klett, Stuttgart Bodemann G, Perrez M, Gottmann JM (1996) Die Bedeutung intrapsychischen Copings für die dyadische Interaktion unter Stress. Z Klin Psychol 25: 1–13 Dornes M (1993) Der kompetente Säugling. Die präverbale Entwicklung des Menschen. Fischer, Frankfurt am Main Erikson EH (1973) Identität und Lebenszyklus.Suhrkamp,Frankfurt am Main Ewert O (1983) Entwicklungspsychologie des Jugendalters. Kohlhammer, Stuttgart Freud A (1988) Wege und Irrwege in der Kinderentwicklung. Klett, Stuttgart Freud S (1982) Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. In: Freud S (1982) Studienausgabe. Bd 5: Sexualleben. Fischer, Frankfurt am Main, S 37–134 Gilligan C (1984) Die andere Stimme. Pieper, München Zürich Hartmann H (1972) Ich-Psychologie. Klett, Stuttgart Kirchler E (1989) Zufriedenheit unterm gemeinsamen Dach. In: Gruppendynamik 20: 75–94 Kohlberg L (1995) Die Psychologie der Moralentwicklung. Herausgegeben von Althof W. Suhrkamp, Frankfurt am Main Kohut H (1973) Narzissmus. Suhrkamp, Frankfurt am Main Kruse A (1989) Psychologie des Alterns.In:Kisker KP et al (Hrsg) Psychiatrie der Gegenwart. Bd 8: Alterspsychiatrie. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo, S 1–59 Lehr U (1991) Psychologie des Alterns. 7. Aufl. Quelle & Meyer, Heidelberg Lehr U, Kruse A (1995) Ältere Mitarbeiter. In: Rosenstiel L v, Regent E, Domsch M (1995) Führung von Mitarbeitern. 3. Aufl. Schäffer Poeschel, Stuttgart, S 418–491 Mertens W (1996) Entwicklung der Psychosexualität und der Geschlechtsidentität. 2. Aufl. Kohlhammer, Stuttgart Nave-Herz R, Markefka M (Hrsg) (1989) Handbuch der Familienund Jugendforschung. Bd I: Familienforschung. Luchterhand, Neuwied Peplau H (1995) Interpersonale Beziehungen in der Pflege. Recom, Basel Piaget J, Inhelder B (1971) Die Entwicklung des räumlichen Denkens beim Kinde. Klett, Stuttgart Stern DN (1979) Mutter und Kind. Die erste Beziehung. Klett, Stuttgart Willi J (1982) Die Zweierbeziehung. Rowohlt, Reinbek b. Hamburg
13 Systemisches Pflegemanagement mit wachsender Zukunftsunsicherheit Manfred Muster 13.1
Systemisches Pflegemanagement als Handlungsstrategie 295
13.1.1
Die Schwierigkeiten von Führungspersonen Reorganisationsprozesse anzustoßen
297
13.1.2
Merkmale systemischen Managements im Pflegebereich
13.2
Klärungsprozesse bei Führungspersonen
13.2.1
Widerstreitende Erwartungen und Strebungen gegenüber einer Führungsperson
302
302
13.2.2
Klärung des Reorganisationsbedarf als Führungsaufgabe
13.2.3
Reduzierung von Komplexität als Teil des Problems oder Teil der Lösung?
Grundprinzipien systemischen Managements
13.3
Die Strategie der lernenden Organisation als Antwort auf die Dynamik sozialer Systeme
308
309
Systemische Prozessgestaltung als Kommunikationsund Führungsaufgabe
13.3.3
308
Strategieentwicklung durch systemische Kommunikation und Führung
13.3.2
303
305
13.2.4
13.3.1
299
312
Systemische Personalentwicklung: Die lernende Organisation als Lernort für erfolgreiches Denken und Handeln
313
294
Kapitel 13 · Systemisches Pflegemanagement mit wachsender Zukunftsunsicherheit
> Thesen
13
Nicht nur bei den gegenwärtig beschäftigten Mitarbeitern der Pflegeeinrichtungen und den Patienten, sondern auch bei Studenten der Pflegepädagogik bestehen Unsicherheiten, wie sich das neue Vergütungssystem im Gesundheitswesen auf ihre Zukunft auswirken wird. Bis zum Jahr 2003 soll das AR-Patientenklassifikationssystem (Australian Refined Diagnosis Related Groups = AR-DRG) eingeführt werden, das auf einer auf Organgebiete bezogenen Differenzierung von Hauptdiagnosegruppen aufbaut und Schweregruppen (zur Berücksichtigung der Ressourcenintensität) sowie Begleiterkrankungen (Co-Morbiditäten) berücksichtigt. Es soll zwischen 600 bis 800 Fallgruppen umfassen. Die bisherige Krankenhausfinanzierung wird damit abgelöst, ein Mischsystem aus Pflegesatz und Preisen (Abteilungspflegesatz, Basispflegesatz, Fallpauschalen und Sonderentgelt für bestimmte Leistungen), das durch die Investitionszuschüsse der Träger, meist die Bundesländer, ergänzt wird. Hundert Prozent der stationären und teilstationären Leistungen sollen nach diesem System ab 2003 vergütet werden. Die Preise ergeben sich aus Punktzahlen für die einzelnen Fallgruppen, die bundesweit oder regional festgelegt werden. In einer Übergangsphase bis 2003 wird für jedes Krankenhaus ein individueller Punktwert ermittelt,der dann an den einheitlichen DRG-Punktwert herangeführt wird. Die Akteure der gesundheitspolitischen Rahmensetzung erwarten von dem DRG-System vereinheitlichte Wettbewerbsbedingungen und mehr Kostenkontrolle (Sachverständigenrat 2000/ 2001,Simon 2000/2001).Die für das Gesundheitswesen zuständige Gewerkschaft ÖTV, inzwischen mit anderen Gewerkschaften zur Vereinigten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di fusioniert,befürchtet ebenfalls negative Wirkungen (ÖTV 2001): 5 Die Durchschnittskosten der Fallpauschalen führen zu Gewinnern und Verlierern, weil sie nicht auf die unterschiedlichen betrieblichen Bedingungen eingehen. In einem Krankenhaus mit alter Bausubstanz führt die ungünstige Raumgestaltung beispielsweise zu längeren Wegezeiten und damit zu höherem Personaleinsatz. Krankenhäuser mit ungünsti-
geren Bedingungen in Folge unzureichender Modernisierungsinvestitionen werden aus dem Markt gedrängt, da die Fallpauschalen die Kosten nicht decken. 5 Der Versorgungsauftrag gerät in Gefahr,wenn Einrichtungen in strukturschwachen Regionen betriebswirtschaftlich nicht mehr mithalten können. 5 Die Verweildauer der Patienten verkürzt sich, was aber nicht zu einem geringeren Personalaufwand, sondern nur zu einem ungünstigeren Verhältnis der Personalkosten zu den anderen Kosten führt. 5 Es besteht die Gefahr der Leistungsminimierung und/oder Risikoselektion, indem sich Krankenhäuser und pflegerische Einrichtungen nur auf solche Fälle und Leistungen konzentrieren, die betriebswirtschaftlich günstig sind. Die Veränderung des Systems führt zu einem Veränderungsdruck auf die Strukturen (Einrichtungen) und wirkt darüber auf das Verhalten des Pflegepersonals und möglicherweise auch der Patienten. Wir stehen also vor einem Strukturwandel in der Gesundheitsversorgung, auf den sich das Pflegemanagement einstellen muss und der neue Unsicherheiten schafft. Unsicherheiten sind die typischen Bedingungen eines sektoralen Strukturwandels, der durch systemische Veränderungen ausgelöst wird.Diese betreffen den Markt,die darauf ausgerichteten Strukturen und Prozesse, die Qualifikationsprofile der Beschäftigten, den Organisationsaufbau sowie Betriebsgebäude und -technik und natürlich insbesondere den daran gebundenen Kapitalaufwand. Das Marktsystem beginnt in der Pflege jene Systemeigenschaften auszuprägen, die wir aus der typischen Marktökonomie des Handels und des produzierenden Gewerbes kennen: Kundenorientierung, Wettbewerb um Märkte und Kunden,Verdrängung nicht marktfähiger Unternehmen, Gewinnstreben, Innovationswettlauf und Hochleistungsorganisation. Die Managementanforderungen in der Pflege ähneln damit eher denen eines High-Tech-Unternehmens, dessen Produktpalette die Sättigungsphase überschritten hat und das nun die wissenschaftlich-technischen Innovationen und den Marktbedarf der nächsten Produktgeneration
295 13.1 · Systemisches Pflegemanagement als Handlungsstrategie
realistisch prognostizieren muss, um auf dieser Annahme systematisch die Investitionen in die humanen und ökonomischen Ressourcen vorzunehmen und für die Zukunft zu entwickeln. Das Strategiemanagement in den zu erwartenden Reorganisationsprozessen gehört damit im Pflegemanagement zur Überlebensstrategie der Einrichtungen. Es ist ein entscheidendes Lern- und Handlungsfeld der Zukunft sowohl in der Ausbildung als auch in der Praxis.Es geht mir darum, ein Verständnis für die Schwierigkeiten zu vermitteln, die mit komplexen Reorganisationsprozessen sachlich und menschlich einhergehen und Bewältigungsmöglichkeiten von Unsicherheiten, die notwendigerweise damit verbunden sind, zu beschreiben.
3 Berufliche Handlungskompetenzen 2
Fachkompetenz Strategiemanagement als Antwort auf veränderte Rahmenbedingungen des Gesundheitssystems verstehen und Wandlungsprozesse mitgestalten. Den Schwerpunkt auf das systemische Prozessdenken legen statt auf das konventionelle Denken in Funktionsstrukturen.
2
Personalkompetenz Die eigene Unsicherheit mit offenen Fragen klären, geduldig mit der Unsicherheit anderer umgehen.
2
Sozialkompetenz Wandlungsprozessen durch die aktive Beteiligung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mitgestalten.
2
13
werden müssen, welche die Zukunft der geführten Organisation betreffen. Die Zukunft lässt sich jedoch nicht mit Sicherheit prognostizieren. Zusätzlich müssen bei jeder Entscheidung für ein Teilsystem die Auswirkungen auf die anderen Teilsysteme und damit auf das Ganze bedacht werden.Anstöße für Entscheidungen entstehen meist durch veränderte Rahmenbedingungen der Umwelt, in dem sich das System bewegt (Systemumwelt).Daher soll hier skizziert werden, welche Schwierigkeiten und Unsicherheiten bei notwendigen Veränderungsprozessen in den Organisationen zu bewältigen sind (Unsicherheit kann nicht beseitigt, sondern nur bewältigt werden). Auch wird der Wert des »systemischen Managements« beschrieben. Weiterhin ist wichtig, dass eine Führungsperson, die Sachentscheidungen zu treffen hat, sehr unterschiedliche und zum Teil widersprechende Erwartungen integrieren muss und dabei die Beziehungsebene nicht aus dem Blick verlieren darf. Wesentlich geht es um die lernende Organisation als strategische Struktur für die Bewältigung von Unsicherheit im Umgang mit einem dynamischen Systemumfeld.An die Pflegepädagogik stellt die lernende Organisation die Anforderung, die Studierenden auf eine berufliche Realität vorzubereiten,in der ständiges Lernen ein Schlüsselprozess bleibt, von dem zukünftig sowohl die persönliche berufliche Weiterentwicklung als auch die ökonomische Überlebensfähigkeit der Pflegeeinrichtungen abhängig sind.
3 Verfahrensstruktur (. Abb. 13.1)
Methodenkompetenz Adäquate Analysemethoden einsetzen und die Kommunikation über die Schlussfolgerungen strukturiert und offen gestalten.
3 Praxisrelevanz Führungstätigkeiten sind wesentlich dadurch gekennzeichnet, dass heute Entscheidungen gefällt
13.1
Systemisches Pflegemanagement als Handlungsstrategie
Im Folgenden liegt der Fokus auf strategischen Reorganisationsprozessen, die eine systemische Betrachtungsweise erfordern, weil sie neu definierte Ziele für die langfristige Entwicklung einer Organisation verwirklichen sollen. Reorganisationsprozesse werden in immer kürzeren Abständen erforderlich, da sich die wirtschaftlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen der Pflege in Richtung einer stärkeren Marktorientierung verändern.Alle bisherigen politischen Versuche, die Kostenentwicklung in den Griff zu be-
296
Kapitel 13 · Systemisches Pflegemanagement mit wachsender Zukunftsunsicherheit
13
. Abb. 13.1. Verfahrensstruktur
297 13.1 · Systemisches Pflegemanagement als Handlungsstrategie
kommen,sind erfolglos geblieben.Wie auch bei anderen sozialen Sicherungssystemen,etwa dem Rentensystem, ist daher zu erwarten, dass das Prinzip, persönliche Lebensrisiken weitgehend gesellschaftlich abzufedern, durch stärkere Eigenbeteiligung auf der Grundlage einer Minimalabsicherung abgelöst werden wird. Mit der höheren Eigenbeteiligung werden die Patienten stärker als bisher selbst auf die Kosten für ihre Gesundheit achten und bei der Auswahl des Leistungsangebotes der Gesundheitseinrichtung die Leistungsfähigkeit stärker in Betracht ziehen.Die Patienten erwarten dabei,dass sie einen hohen Leistungsstandard zu günstigen Kosten erhalten. Um das zu gewährleisten, müssen Pflegeeinrichtungen noch stärker als bisher ihre Leistungserbringung rationalisieren.
13.1.1 Die Schwierigkeiten
von Führungspersonen Reorganisationsprozesse anzustoßen Jeder Reorganisationsprozess wirft bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern die Frage auf,warum ihre bisherige Arbeitsorganisation und Leistungserbringung nicht die Anforderungen der Zukunft erfüllen. »Das haben wir doch immer so gemacht und das hat sich doch bewährt. Warum sollen wir das denn jetzt ändern?« lautet die oft gestellte Frage. Eine solche Reaktion hat mit der menschlichen Eigenart zu tun, Veränderungen der Umwelt, die sich über längere Zeiträume entwickeln, nicht so wichtig zu nehmen wie Veränderungen, die rasch und deutlich auftreten. Peter Senge (1996, S 34) veranschaulicht diese Verhaltensneigung mit dem Gleichnis vom gekochten Frosch:
7
Wenn Sie einen Frosch in einen Topf mit kochendem Wasser setzen, wird er sofort versuchen herauszuklettern. Aber wenn das Wasser Zimmertemperatur hat und Sie den Frosch durch nichts erschrecken, bleibt er ganz ruhig sitzen. Steht der Topf nun auf einer Wärmequelle und wird die Temperatur allmählich erhöht, geschieht etwas sehr Interessantes.Während die Temperatur von 20 auf 30 Grad Celsius steigt, bewegt
13
sich der Frosch nicht. Er wird tatsächlich alle Anzeichen von äußerstem Wohlbehagen zeigen.Während die Hitze nach und nach zunimmt, wird der Forsch immer schlapper und schlapper, bis er unfähig ist, aus dem Topf herauszukraxeln. Obwohl der Frosch durch nichts gehindert wird, sich zu retten, bleibt er sitzen. Warum? Weil der innere Wahrnehmungsapparat des Froschs auf plötzliche Veränderungen in seiner Umwelt eingestellt ist und nicht auf langsam wachsende Bedrohungen.
Dieses Gleichnis lässt sich auch auf unsere Wahrnehmung anwenden. Eine der Schwierigkeiten, Reorganisationsprozesse in Unternehmen und Institutionen erfolgreich durchzuführen, besteht in unserer menschlichen Neigung, die Kontinuität des Alltäglichen als Stabilitätsbeweis und -garantie für ihre Existenz zu interpretieren. »Wir waren doch bisher erfolgreich, warum sollte das nicht auch in der Zukunft so sein?« Der Blick bleibt dabei stärker auf die Organisation selbst (auf das wohltemperierte Wasser) als auf die Umwelt (die Wärmequelle unter dem Gefäß) gerichtet. Viele Unternehmenszusammenbrüche resultieren aus der externen wie internen Wahrnehmung von scheinbarer Stabilität bei tatsächlicher Instabilität, die erkennbar gewesen wäre,aber nicht wahrgenommen wurde. Wie kommt es, dass Organisationen einer solchen Trägheit der Wahrnehmung erliegen? Soziale Organisationen wie Unternehmen, soziale Einrichtungen usw. sind auf ihre Systemumwelt ausgerichtet und von einem Mindestmaß an Stabilität abhängig, damit sie ihre gestellten Aufgaben erfüllen können.Ihnen liegen Deutungsmuster von der sie umgebenden Realität zu Grunde und Annahmen über die Tauglichkeit ihrer Organisationsmuster, die gestellten Ziele in ihrem Handlungsfeld zu erfüllen. Die Deutungsmuster haben die Funktion, Wirklichkeit zu interpretieren. Sie dienen der Identitätsbildung in einer Organisation, wodurch sie sowohl abgrenzend als auch ausgrenzend wirken. Sie erklären, was in einer Organisation als erfolgreich, leistungsfähig, kompetent usw. bewertet wird. Sie haben damit nicht nur erklärenden, sondern auch normativen Charakter. Deshalb werden sie nicht so leicht aufgegeben, selbst wenn
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Kapitel 13 · Systemisches Pflegemanagement mit wachsender Zukunftsunsicherheit
sich ihr Erklärungswert zunehmend als unzureichend herausstellt. Organisationen verändern sich im Laufe ihrer Existenz meist evolutionär, weil sie gelernt haben, sich den Änderungen ihrer Umwelt anzupassen – oder sie sind untergegangen, weil die erforderliche Anpassung zu spät erfolgte oder gar ausblieb. Erfolgreiche Anpassung resultiert aus erfolgreichem Lernen, die eigenen Deutungsmuster zu erweitern und zu präzisieren und Sichtweisen zu entwickeln, welche die Praxis erfolgreich verstehen und verändern helfen. Deutungsmuster sind hypothetische Interpretationen der Wirklichkeit, in denen positives Wissen ein Nischendasein führt. Das Gleiche trifft auf die aus ihnen abgeleiteten Organisationsmuster zu.Wir haben es also im Sinne des Konstruktivismus mit konstruierten Weltsichten zu tun und nicht mit mathematisch genau berechneten Abbildern der Wirklichkeit,die es im Übrigen in der Welt der Wirtschaft noch weniger gibt, als in den Naturwissenschaften (siehe dazu Arnold u. Siebert 1997, die einen Überblick über konstruktivistische Positionen geben). Wenn schon die vorhandene Realität nur die wahrgenommene und nicht die objektive ist, wie viel weniger festgelegt und ungenauer ist dann das Zukunftsbild, das wir uns mit Visionen malen? Immer dann, wenn sich Veränderungen der Rahmenbedingungen ankündigen, beginnt der Zweifel an der trügerischen Sicherheit des für die Gegenwart eingeschlagenen Weges zu nagen. Die Erkenntnis, mit den Mitteln der Vergangenheit und der Gegenwart in der Zukunft nicht mehr bestehen zu können, also das Gefühl des Mangels an Zukunftsressourcen,beginnt,den schwierigen Prozess der Strategiefindung allmählich in Gang zu setzen. Ein Prozess,bei dem der Mangel an Sicherheit über den erfolgreichen Ausgang der Suche, das Fehlen von mathematisch berechenbarer Vorhersagbarkeit zu Verzagtheit führen kann und damit zu verspätetem Handeln. Den Ersatz von Sicherheit liefern intuitive Visionen, welche die Funktion haben, Zukunftsbilder als hypothetisch inszenierte Sicherheit für zukunftweisendes Denken und Handeln zu sein.Sie sollen als Leitbild vor allem die Kraft geben,sich ins unbekannte Neuland zu wagen. Sie können aber auch in den Abgrund führen, wie spektakuläre Firmenzusammenbrüche immer wieder belegen. De-
ren Unternehmensführer verführten selbst faktenverliebte Banker mit visionären Entwürfen zu riskanten Krediten,obwohl das operative Geschäft bereits deutliche Symptome von Missmanagement und Ressourcenverschleiß zeigten. Solche Beispiele erschweren es dem redlichen Visionär auf die Zukunftssicherung hinzuweisen, denn wenig hat die visionäre Führungsperson ihren Mitarbeitern an Fakten über die Zukunft zu bieten, mehr daran, dass der Wandel unausweichlich ist. Hinsichtlich der Faktenlage über die Zukunft steht sie kaum mehr bekleidet da als der Kaiser in dem Märchen von Hans-Christian Andersen, der bekanntlich von einem Kind seiner Vision beraubt wurde, er trage Kleider, die nur von klugen Leuten erkannt werden könnten. Der Verantwortungsdruck auf Führungskräfte für den Fortbestand der Pflegeeinrichtung und ihrer Arbeitsplätze ist in einer solchen Situation enorm. Sie sind im operativen Geschäft gewohnt, aus der sicheren Domäne von Fakten,professioneller Erfahrung und Routine zu denken und zu handeln. Nun treten sie vor ihr Aufsichtsgremium und vor ihre Belegschaft und können gerade noch einige den Wandel auslösende Ursachen präzise und nur vage ihre möglichen Auswirkungen referieren. Bei dem, was die möglichen Lösungen sein könnten, sind sie gezwungen, aus der Welt der Fakten in das Reich der Vermutungen und Visionen zu treten. Hoffend, dass sie mit der von ihnen selbst konstruierten Plausibilität überzeugen können. Die Versuchung ist groß,die Zukunft mit Bildern der Vergangenheit und Gegenwart auf die Zukunft zu übertragen, um den verantwortlichen Gremien und den Mitarbeitern die Zumutung zu extremer Verunsicherung zu ersparen.Konfrontiert mit der Abwehr der Zuhörer in der Bandbreite von Verdrängung über Verleugnung bis hin zum Widerstand gegenüber den Herausforderungen zukünftiger Veränderungen gerät die Führungsperson leicht in die Versuchung, zum Teil des Problems zu werden (Stagge 1997, S 58 ff). Es geht hierbei um die Balance zwischen der Aufgabe, die Organisation zukunftsfähig zu machen, und der Notwendigkeit, als Führungskraft den Rückhalt in den Entscheidungsgremien und der Belegschaft zu haben. Dies kann sich zum handfesten persönlichen Zielkonflikt zwischen Loyalität zur Organisation und Loyalität zu Menschen stei-
299 13.1 · Systemisches Pflegemanagement als Handlungsstrategie
gern. Die entstehende Spannung sucht sich leider oft in mehr oder weniger undurchsichtigem Manövrieren und opportunistischen Taktieren Erleichterung zu verschaffen, was sich letztendlich in einer Serie von unerfüllten Versprechungen und verpassten Chancen rächen kann. Bekannte Hindernisse für notwendige Veränderungen in Organisationen 5 Verschiebung: »Das ist jetzt nicht so wichtig.Wir müssen erst mal sehen, wie sich das entwickelt.« 5 Verharmlosung: »Das wird nicht so heiß gegessen, wie es gekocht wird.« 5 Reduzierung: »Wir brauchen bloß die Personalkosten zu senken, dann haben wir das Problem gelöst.«
13.1.2 Merkmale systemischen
Managements im Pflegebereich Systemisches Pflegemanagement denkt und handelt nach den Erkenntnissen der Systemtheorie. Es ist hier nicht der Ort, die verschiedenen Entwicklungswege und die Entwicklungsgeschichte der Systemtheorie zu erörtern (Capra 1996). Vielmehr geht es hier darum zu beschreiben, was systemisches Management in einer bestimmten Problemkonstellation bedeutet, was es von nicht-systemischem Management unterscheidet und welcher Nutzen entsteht,systemisch zu denken und zu handeln. Am Beispiel der Veränderungen des Gesundheitssystems will ich die Topographie des Lernund Handlungsfeldes skizzieren und die Chancen und Schwierigkeiten beleuchten, bei komplexen Veränderungsprozessen erfolgreich zu handeln. Obwohl viele Manager von sich behaupten,vernetzt, ganzheitlich und zirkulär zu denken und zu handeln, fällt es schwer, eine so umfassende wie kurze Definition von systemischem Management zu finden. Offensichtlich gehen wir intuitiv und vor-begrifflich mit einem Ganzen um, dessen Teile wir nicht vollständig kennen und präzise definieren können. Es ist Aufgabe der wissenschaftlichen Theoriebildung, dieses Problem zu behandeln. Für Praktiker, die Wirklichkeit gestalten, muss einstweilen eine phänomenologische Beschreibung rei-
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chen, die sich aus den Ansätzen verschiedener Autoren speist (Capra 1996,Senge 1996,Vester 1978; vgl. dazu auch Clausen in diesem Band). Systemdenken wird an der Art und Weise deutlich, wie Probleme erkannt,interpretiert und gelöst werden. Die Systemtheorie unterscheidet zwischen Systemumwelt, System, Teilsystemen und Elementen. Für den Pflegebereich besteht die Systemumwelt aus der Gesellschaft und ihren politischen und institutionellen Akteuren, die Erwartungen an das Gesundheitssystem formulieren und in politische Rahmensetzung gießen. Dazu gehören auch die vorherrschenden gesellschaftlichen Normen und Einstellungen zur Gesundheit und zur Verpflichtung, kranken Menschen zu helfen, sowie die Lebensbedingungen und Lebensweisen, die zu bestimmten Krankheiten führen. Die Systemumwelt definiert den Versorgungsauftrag des Gesundheitssystems und seine Ressourcen in den Strukturen politischer Meinungsbildung und Normensetzung. Das System der Gesundheitsversorgung verhält sich einerseits reagierend, indem es die Anforderungen erfüllt, andererseits generierend, indem es etwa durch neue Therapien oder organisatorische Innovationen seine Leistungsfähigkeit steigert und damit neue Ansprüche der Systemumwelt hervorruft.Besonders innovative Teilsysteme (z.B.die Unfallchirurgie) können andere Teilsysteme (z. B. die nachfolgende Rehabilitation) positiv beeinflussen und sich gegenseitig verstärken. Der Eingriff in ein System erzeugt Rückkoppelungen, die das System stärken oder schwächen können.Die Menschen im Gesundheitssystem sind Elemente, die sich einerseits in Bezug auf das System und seine Strukturen reaktiv verhalten, andererseits können sie sich auch pro-aktiv verhalten und z. B. durch Einwirkung auf die Entscheidungsstrukturen eines sozialen Systems das System selbst verändern. Das ist möglich, wenn es ihnen gelingt, Hebelwirkungen zu erkennen und dort anzusetzen, wo sie wichtige Einflussfaktoren des Systems verändern können. Systeme, Teilsysteme und Strukturen sowie Elemente bilden ein komplexes Netzwerk von Wirkungen aufeinander.Die Organisation aller Systeme und Systemteile weist spezifische Muster auf, die sich auf deren Selbsterhaltung richten. Es handelt sich um ein Netzwerkmuster (Capra 1996, S 100):
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Kapitel 13 · Systemisches Pflegemanagement mit wachsender Zukunftsunsicherheit
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Die erste und offenkundigste Eigenschaft jedes Netzwerkes ist seine Nichtlinearität – es erstreckt sich in alle Richtungen. Somit sind die Beziehungen in einem Netzwerkmuster nichtlineare Beziehungen. Insbesondere vermag sich ein Einfluss oder eine Nachricht entlang eines kreisläufigen Pfades fortzupflanzen, aus dem eine Rückkoppelungsschleife entstehen kann. Der Begriff der Rückkoppelungsschleife ist eng mit dem Konzept des Netzwerkmusters verknüpft. […] So wird beispielsweise eine Gemeinschaft, die ein aktives Kommunikationsnetzwerk unterhält, aus ihren Fehlern lernen, weil sich die Konsequenzen aus dem Fehler durch das Netzwerk ausbreiten und entlang von Rückkoppelungsschleifen zum Ausgangspunkt zurückkehren. Daher kann die Gemeinschaft ihre Fehler korrigieren und sich selbst regeln und organisieren. Ja, man kann sagen, die Selbstorganisation ist zum zentralen Begriff der systemischen Anschauung vom Leben geworden.« (Capra 1996, S 101)
Da wir es bei unserem Thema mit sozialen Systemen zu tun haben, kommt noch ein weiterer wesentlicher Aspekt hinzu, der für unser Denken ebenso revolutionär wie schwer verdaulich ist. Auf Grund unserer westlichen Denktradition sind wir gewohnt, von objektiven Sachverhalten der äußeren Welt auszugehen und das,was wir sehen,für die objektive Realität zu halten. Doch das, was wir sehen, ist nur die wahrgenommene und nicht die objektive Wahrheit und »Kriterium unserer Wahrnehmung und Kognition ist nicht die Wahrheit, sondern Überlebensdienlichkeit und lebenspraktische Orientierung« (Siebert 1996, S 16). Wirklichkeit ist also immer nach Interessenlage, Gewohnheit,subjektiver Befindlichkeit und Zielen gedeutete Wirklichkeit.Die Deutungsmuster,mit denen wir die Umwelt interpretieren, sind Interpretationen und Verhaltensweisen, die sich bewährt haben und die wir deshalb auf gleiche oder ähnliche Situationen übertragen (Arnold 2000, S 81).
Daraus leiten sich wichtige Merkmale systemischen Managementhandelns ab: 5 Wechsel der Betrachtungsweise von den Teilen zum Ganzen. 5 Berücksichtigung von Rückkoppelungen bei Interventionen in Teile auf das Ganze. 5 Wechselnde Betrachtung verschiedener Systemebenen (vernetztes Denken). 5 Beschränkung auf Näherungswissen im Sinne konstruktivistischer Deutungsmuster. 5 Denken in kreisförmigen Prozessen, statt in Zuständen und Eigenschaften. 5 Erkennen von zentralen Kreisläufen / Prozessen. 5 Nutzen von Fähigkeiten der Selbstorganisation (Autopoiesis) von Systemen. 5 Lernen als zentraler Entwicklungsprozess. 5 Identifizierung von Schlüsselfaktoren für die Entwicklung von Systemen. 5 Identifizierung von Hebelwirkungen und Gegenkräften und ihre Zeitläufe bei Eingriffen in Systeme.
Das Systemmodell hat für die Erklärung von Lernen und Handeln in sozialen Systemen und für komplexe Probleme nicht nur eine erheblich größere Erklärungsreichweite (. siehe Tabelle 13.1), sondern es eröffnet auch größere Chancen für erfolgreiche Interventionen. Dörner (1989) belegt eindrucksvoll, wie lineare Erklärungsmodelle kläglich an der Komplexität von Systemen scheitern und kennzeichnet seine Befunde als »Logik des Misslingens«. An den oben dargestellten Veränderungen im Gesundheitssystem können wir das verdeutlichen. Der politisch beschlossene Wandel des Vergütungssystems (als Teilsystem des Gesundheitssystems) verändert die Grundlagen der Haushaltsführung der Krankenhäuser und pflegerischen Einrichtungen.Die Auswirkungen dieser Veränderung können für die Gesundheitsversorgung vielfältig sein: Es kann generell insgesamt schlechter,d. h.im Sinne des Versorgungsauftrages oder nur in Teilbereichen bzw. bestimmten Regionen weniger leistungsfähig werden. Es kann aber auch besser werden oder es kann Verschlechterungen sowie Verbesserungen geben.Tatsache ist,dass keiner,der an der politischen Entscheidung beteiligten Personen
301 13.1 · Systemisches Pflegemanagement als Handlungsstrategie
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. Tabelle 13.1. Erklärungsmodelle Erklärungsmodelle
Hauptthesen
Erklärungsreichweite für Lernen und Handeln in sozialen Systemen
Eigenschaftsmodell
Menschliches Handeln ist durch relativ stabile Eigenschaften geprägt. Persönlichkeitseigenschaften ermöglichen die Vorhersage des Verhaltens in einer bestimmten oder einer ähnlichen Situation. Persönlichkeitseigenschaften sind über lange Zeiträume stabil.
Dieses Modell reduziert menschliches Handeln auf dauerhafte Eigenschaften. Deshalb taugt es nicht für Interventionen in soziale Systeme. Sein Erklärungswert bleibt auf isolierte Einzelfakten beschränkt und ist damit für die Komplexität von Lernen und Handeln in sozialen Systemen weitgehend ungeeignet.
Maschinenmodell
Menschen funktionieren wie Maschinen und sind entsprechend steuer- und veränderbar. Man muss nur die entsprechenden Verhaltensgesetze kennen (Behaviorismus).
Was zwischen Reiz und Reaktion passiert bleibt in der »Black Box« verborgen. Dieses Modell hat einen sehr beschränkten Erklärungswert, weil es nur lineare Beziehungen zwischen wenigen Variablen erlaubt. Außerdem ist es vom Menschenbild her fragwürdig, weil es linear-mechanistisch ist.
Handlungsmodell
Menschen reagieren nicht bloß auf äußere Reize, sondern sie planen und steuern ihr Verhalten entsprechend ihrer Ziele, Absichten und Einstellungen. Sie haben ein »inneres Modell« von der Veränderung (Ziel), die sie mit der Handlung anstreben und vergleichen die Resultate jeder vollständigen Handlung durch ein operatives Abbildsystem (OAS) mit dem Ziel und seinen Teilzielen und lernen gezielt ihre Handlungsweisen zu optimieren. Menschen organisieren ihr Handeln sequentiell-hierarchisch, gesteuert durch sinnliche und kognitive Orientierungsprozesse. Zwischen Qualitätsmerkmalen der Analyse und Handlungsplanung und Qualitätsmerkmalen des Ergebnisses lassen sich lehrreiche Beziehungen herstellen, die sich für die Verstärkung von Lerneffekten nutzen lassen. Das Handlungsmodell geht von einer zirkulären Beziehung von Lernen und Handeln aus.
Das Handlungsmodell erklärt die Regulation sensomotorischer und kognitiver Prozesse als Regelkreis von Planung, Handlung und Rückkoppelung, von geistigen und äußeren Handlungen. Innere und äußere Handlungen werden als einheitliches System gesehen. Die geistige Vorstellung einer Handlung (Antizipation) wird als bewusst regulierter und zielorientierter Planungsprozess verstanden, in dem ein gedankliches Probehandeln stattfindet. Das Handeln wird durch Vergleichsoperationen mit dem vorgestellten Ziel abgeglichen und korrigiert, wobei unerwartete Abweichungen in die Ausführungsregulation integriert werden. Das Handlungsmodell erfasst komplexe Handlungen, z.B. bei Problemaufgaben. Daher wird es auch für die Gestaltung von Lernprozessen eingesetzt. Es ermöglicht die Diagnose von Handlungsqualitäten und hat damit ein großes Potenzial für Verbesserungsprozesse. Seine Beschränkung besteht in der Konzentration auf kognitive Prozesse. Die zirkuläre Dynamik von emotionalen Prozessen bleibt eher unberücksichtigt.
absehen kann, welche Vielfalt an unerwarteten Nebenwirkungen entstehen wird und auf welche Weise die weitere Entwicklung so gesteuert werden kann, dass das Gesundheitssystem bei höherer Qualität in den Leistungen kostengünstiger arbeiten kann. Die Frage zu beantworten, wie beide Ziele erreicht werden können,bleibt hauptsächlich den
einzelnen Einrichtungen, ihren Eigentümern und den politischen Entscheidungsträger im Versorgungsgebiet überlassen. Sie selbst müssen die Hauptarbeit leisten, sich auf die neuen politischen Rahmensetzungen einzustellen und ihre eigene Strategie für die Sicherung und Weiterentwicklung der Pflegeeinrichtung zu entwickeln.
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Kapitel 13 · Systemisches Pflegemanagement mit wachsender Zukunftsunsicherheit
. Tabelle 13.1. Fortsetzung Erklärungsmodelle
Hauptthesen
Erklärungsreichweite für Lernen und Handeln in sozialen Systemen
Systemmodell
Menschen handeln als Elemente sozialer Systeme (Familie, Betrieb usw.) auf der Grundlage von subjektiven Deutungen (Bildern von der Situation, den Menschen, mit denen sie kommunizieren und kooperieren) nach den formellen und informellen Regeln (den Werten und Zielen) des sozialen Systems (z.B. der Organisation, des Betriebes) im Rahmen der Interaktionsstrukturen des sozialen Systems (z.B. der Führungskultur) und beeinflusst durch die Systemumwelt (z.B. durch das Gesundheitssystem). Zwischen den Menschen als Elementen bestehen Wechselbeziehungen ebenso wie zwischen dem System und den Elementen, welche die Richtung und die Qualität ihrer Entwicklung beeinflussen.
Die Erkenntnis, dass Menschen die Wirklichkeit nach Mustern deuten und dass es sich bei der Wirklichkeit damit um ein selbst konstruiertes Deutungsmuster handelt und nicht um die Widerspiegelung des Objektiven. Das Wissen um die zirkuläre Dynamik der Interaktion von Mensch und Systemumwelt und von Mensch zu Mensch öffnet Möglichkeiten, die Kompetenzentwicklung der Menschen eines sozialen Systems umfassend weiter zu fördern und damit das soziale System zu stärken. Humanwissenschaftliche Systemmodelle haben Ermöglichungswissen für menschliche und professionelle Verständigung über gemeinsames Lernen und Handeln generiert, mit dem sich lernende Organisationen und damit nachhaltigere Chancen für Weiterentwicklung entfalten können.
13.2
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Klärungsprozesse bei Führungspersonen
Führungspersonen müssen Klärungsprozesse vornehmen, um Teil der Lösung und nicht des Problems zu werden. Sie müssen sich der widersprüchlichen Erwartung an ihre Führungsrolle bewusst sein. Ein Beispiel soll diesen Klärungsprozess veranschaulichen. Anschließend werden die klassischen Erklärungsmodelle hinsichtlich ihrer Tauglichkeit für das Lernen und Handeln in sozialen Systemen erläutert, um zu zeigen, wie probleminadäquate Erklärungsmodelle zu unzureichenden Lösungen führen.Diese Aspekte werden in den Disziplinen des systemischen Managements von Peter Senge (1996) integriert.
13.2.1 Widerstreitende Erwartungen
und Strebungen gegenüber einer Führungsperson Der Umgang mit Unsicherheit gehört allgemein zum menschlichen Leben. Besonders im Arbeitsleben einer Managerin/eines Managers ist er fester Bestandteil der Führungsaufgabe. In Zeiten immer schnelleren Wandels haben Führungspersonen im-
mer weniger Zeit, sich auf Veränderungen einzustellen und angemessene Antworten auf sie zu finden. Komplexität und Geschwindigkeit, mit der Manager mit neuen Problemkonstellationen konfrontiert werden,haben drastisch zugenommen.In gleichem Maße sind die Anforderungen an strategischer und operativer Kompetenz gewachsen.Dies spiegelt sich auch in den rapide angestiegenen psychosomatischen Störungen bei Führungspersonen und einem immer schnelleren »Heuern und Feuern« von Führungskräften wieder. Von der Führungsperson verlangen die Mitarbeiter Orientierung und von einer guten Führungsperson sagt man, sie habe feste Standpunkte, gebe klare Orientierung und wisse, wo es langgehe. Geht die Orientierung in die Irre und führen die Strategien des Managements geradewegs in das Verderben der Organisation, ist von den »Nieten in Nadelstreifen« (Ogger 1992) die Rede, von unfähigen Managerinnen und Managern und vor allem von Schuld. Führungspersonen und die von ihnen Geführten bilden ein System gegenseitiger Erwartung auf der Grundlage eines informellen Vertrages: Die Führungsperson gewährt durch ihre fachliche und persönliche Autorität jene Orientierungssicherheit, die Mitarbeiter von ihr erwarten. Ihre Orientierung, sei es durch Anweisung oder Ratschlag, be-
303 13.2 · Klärungsprozesse bei Führungspersonen
grenzt die eigene Verantwortung und damit die Unsicherheit über die Richtigkeit von Entscheidungen.Im Tausch für den Schutz vor Unsicherheit leisten die Mitarbeiter Gefolgschaft.Es handelt sich für die Mitarbeiter um einen Pakt gegen die Unsicherheit,welcher der Führungsperson wiederum die Sicherheit gibt, die Führungsrolle unangefochten auszuführen. Ihre Autorität steht und fällt mit der Gültigkeit dieses inoffiziellen Vertrages, der solange gilt,wie Managerinnen und Manager erfolgreich führen. Durch die Erwartungen der Mitarbeiter werden der Führungsperson die eigenen Zweifel an der Richtigkeit ihrer Annahmen,Strategien und Handlungsweisen scheinbar genommen, so dass sie mit zunehmender Dauer in der Führungsrolle immer mehr Sicherheit ausstrahlt und das Auftreten von jemandem annimmt,von dem man sagt,er oder sie sei eine »geborene Führungskraft«. Vom Management wird erwartet, die Probleme, die im Außenverhältnis und innerhalb des Unternehmens bzw. Betriebes auftreten, zu erkennen und zu lösen. Führungskräfte müssen die Systemumwelt verstehen und die richtigen Ziele und Strategien für das Unternehmen erarbeiten, durch die seine strategischen Erfolgsfaktoren langfristig weiterentwickelt werden. Die Eigentümer erwarten Rentabilität und die Kunden ein gutes Preis-Leistungs-Verhältnis der Dienstleistungen bzw. der Produkte. Die Mitarbeiter erwarten schließlich eine motivierende Personalführung und attraktive Arbeitsbedingungen. Da sich diese Erwartungen in Konkurrenz zueinander befinden,sind die Ressourcen zu ihrer Erfüllung strukturell knapp. Für die Eigentümer steht die betriebswirtschaftliche Rentabilität im Vordergrund,für den Kunden das bessere Angebot,für die Arbeitnehmer menschengerechte Arbeitsbedingungen und berufliche sowie soziale Weiterentwicklungsperspektiven.Das Management muss bei grundsätzlich knappen Ressourcen diese verschiedenen Erwartungen durch strategisch richtige Planung und effizient geführte operative Prozesse integrieren.Es bewegt sich dabei in der Welt der Sachlogik und der Welt der Psychologie, d. h. auf der Sach- und auf der Beziehungsebene. Eine sachlogisch ausgefeilte Strategie scheitert, wenn sie nicht von den Kunden, den Eigentümern und/oder den Arbeitnehmern getragen wird. (Ich schließe hier Patienten in den Begriff des Kunden ein, obwohl
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der Begriff im engeren Sinne die Beziehung zwischen Kunde und Lieferant dort begrenzt, wo der ökonomische Nutzen für einen der beiden oder beide Akteure wegfällt. Das geht natürlich im Gesundheitssystem ebenso wenig wie bei anderen rechtsstaatlichen Aufgaben, weil es der humanitären Ethik unseres Grundgesetzes widerspräche). Die Kunst des Managements ist die des Ermöglichens.Dabei können Managerinnen und Manager im Umgang mit den Sachen nur Erfolg haben,wenn sie es schaffen,erfolgreich mit Menschen umgehen, indem sie sie zu gemeinsamem Einsatz ihrer Ressourcen für Ziele motivieren,die für alle Akteure attraktiv sind.Dabei müssen Interessenkonflikte thematisiert, geklärt und gelöst werden. Das führt meist zu Kompromissen, über deren Akzeptanz Konsens besteht. Das aus dem lateinischen Wort »consens« abgeleitete Wort bedeutet »gemeinsame Sichtweise, gemeinsames Verständnis«, womit deutlich wird, wie sehr Managementhandeln auf den eigenen Sichtweisen basiert und gleichzeitig von denen anderer abhängig ist.
13.2.2 Klärung des Reorganisationsbedarf
als Führungsaufgabe Die Geschäftsführerin einer Pflegeeinrichtung will in einer Leitungsteambesprechung mit ihren Kolleginnen und Kollegen darüber reden, welche Chancen und Risiken die Fallpauschale nach dem DRGSystem für die Einrichtung haben wird. Sie nimmt sich vor, die nach ihrer Meinung wichtigsten Schlüsselfragen aufzuwerfen: 4 1. Welche betriebswirtschaftlichen Wirkungen hat das neue System für unsere Einrichtung? 4 2. Welche Auswirkungen hat das neue System auf die Leistungsressourcen unserer Einrichtung? 4 3. Welche Strategien müssen wir einschlagen, um unter den neuen Bedingungen überlebensfähig zu sein? 4 4. Welche Schritte müssen wir tun, um eine neue Strategie zu entwickeln? 4 5. Welche Stärken können wir mobilisieren,um die Einrichtung langfristig zu sichern? Sie weiß, dass über diese Fragen im Leitungsteam unterschiedliche Ansichten bestehen. Sie macht
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Kapitel 13 · Systemisches Pflegemanagement mit wachsender Zukunftsunsicherheit
sich Gedanken über Lösungsansätze, weil die Einrichtung in der Vergangenheit bereits in die betriebswirtschaftliche Verlustzone geraten ist. Außerdem hatte sie schon mehrmals versucht, Kosteneinsparungen durchzusetzen.Die Erfolge waren spärlich und wurden durch Kostensteigerungen in anderen Bereichen wieder aufgezehrt. Die Geschäftsführerin befürchtet nun, dass die Einführung des DRG-Systems die wirtschaftliche Lage noch verschlechtern wird. Ihr wird deutlich, dass nur solche Einrichtungen die Einführung der Fallpauschale überleben werden, die Überschüsse erwirtschaften, mindestens aber kostendeckend arbeiten. Sie beunruhigt der Stau unerledigter oder halbherzig zu Ende gebrachter Verbesserungsprojekte in der Einrichtung,weil klar wird,dass die unausweichliche Veränderung des Vergütungssystems tief greifende Reorganisationsprozesse erfordert. Sie sieht dabei ihre Führungsaufgabe darin, schnell jene Stellgrößen für nachhaltige Wettbewerbsfähigkeit zu finden, die auf den vorhandenen Stärken aufbauend, die wirksamsten betriebswirtschaftlichen Hebelwirkungen entfalten, um ihre Einrichtung zu sichern und weiterzuentwickeln. Somit will sie prüfen, ob es erforderlich sein wird, die Einrichtung auf neue, betriebswirtschaftlich profitablere Leistungsprofile umzuorientieren und den zu erwartenden höheren Wettbewerbsdruck durch Umgestaltung und Optimierung aller Prozesse vorzubereiten. Diesen Prozess zu planen, in Gang zu setzen und zu führen sieht sie als ihre Aufgabe an. Und ihr wird deutlich, dass ein solcher Prozess nur erfolgreich sein kann, wenn es ihr nicht nur gelingt, das Führungsteam für diese Aufgabe zu motivieren und anzuleiten, sondern die Beschäftigten für die aktive Mitarbeit an dem Reorganisationsprozess zu gewinnen.Da das bestehende Leistungsprofil möglicherweise bei einem Strategiewechsel stufenweise simultan abgelöst werden muss, sind alle Mitarbeiter in allen Funktionsbereichen und Hierarchieebenen erforderlich, um die Verlustrisiken der erforderlichen Veränderungen in den Organisationsund Arbeitstrukturen der Einrichtung zu minimieren.Schließlich kann es sich aus Verantwortung gegenüber den Patienten keine Einrichtung leisten, die Pflegequalität während eines Reorganisationsprozesses zu verschlechtern.Die Geschäftsführerin der Einrichtung nimmt an, dass es schon schwierig
genug sein wird, die sachlichen Fragen einer richtigen Strategie und optimierter Prozesse zu klären, auf die sie ja selbst noch weniger Antworten als Fragen hat. Noch schwieriger erscheint ihr die Aufgabe, mit den vielen Fragen, Befürchtungen, Zweifeln und Widerständen zunächst im Leitungsteam und schließlich in der Belegschaft so umzugehen, dass alle Seiten motiviert und effektiv an der Lösung der Probleme mitarbeiten, zumal es möglicherweise »Gewinner« und »Verlierer« geben kann. Ganz zu schweigen von der Diskussion, die ihr bevorsteht, wenn sie weiteren Entscheidungsträgern ein Konzept vorstellen soll. Welche Rolle soll sie einnehmen? 4 1. Vorschlagen, eine Beratungsfirma zu engagieren, die eine Lösung entwickelt, deren Umsetzung sie dann steuert? Wenn die Lösung auf wenig Akzeptanz stößt und/oder unzureichend sein sollte, kann sie das ja auf die Beraterfirma abschieben. 4 2. Sich selbst an die Spitze der Bewegung setzen, eine Lösung im »stillen Kämmerlein« ausarbeiten und diese dann von oben anordnen? Falls sich Widerstand regt, werden die entsprechenden Leute kalt gestellt oder zur Räson gebracht. Dabei kann sie sich als geniale Retterin der Einrichtung profilieren oder im Falle des Scheiterns die Unverstandene spielen, die mit ihrer Initiative »Perlen vor die Säue« geworfen hat. 4 3. Einen auf breite Beteiligung der Belegschaft angelegten Reorganisationsprozess in einer entsprechende Projektorganisation zu initiieren, in dem Strategiefindung, Gestaltungsentwicklung und Umsetzung an selbst organisierte und selbst gesteuerte Arbeitsformen an die Mitarbeiter delegiert wird und sie selbst mit dem Leitungsteam die Steuerung übernimmt? Einerseits könnte bei diesem Vorgehen das Expertenwissen der Betroffenen bessere Ergebnisse hervorbringen, andererseits besteht auch die Gefahr endloser Debatten mit halbherzigen Kompromissen, die am Ende nur Zeit gekostet haben und nichts bringen. Der innere Dialog der Geschäftsführerin verdeutlicht, dass ihre Überlegungen auf verschiedenen Systemebenen stattfinden (siehe dazu Schulz von Thun 1999):
305 13.2 · Klärungsprozesse bei Führungspersonen
4 1. Mit sich selbst Sie muss sich entscheiden, auf welche Weise sie die mit der Systemveränderung verbundenen Unsicherheiten kognitiv beantwortet, z. B. durch systematische Recherche und Analyse, und wie sie emotional mit den weiter bestehenden Unsicherheiten umgeht. Sie muss entscheiden,in welcher Rolle sie ihre Führungsfunktion gegenüber dem Leitungsteam und der Belegschaft sowie ihre Verantwortung gegenüber beispielsweise den Eigentümern der Einrichtung wahrnimmt. Wie sie sich entscheidet, wirkt auf alle anderen Systeme und ist für Erfolg oder Misserfolg relevant. 4 2. Mit den spezifischen Auswirkungen des DRG-Systems des Leistungssystems auf die Einrichtung Sie muss herausfinden, wie negative Auswirkungen durch Gegensteuerungsmaßnahmen aufgefangen werden können und welche Ressourcen sie dazu einsetzen kann.Da ihr dies nur näherungsweise gelingen kann, muss sie sich überlegen,wie Risiken der Übersteuerung kontrolliert werden können. Dies wiederum setzt voraus,dass Intensität und Zeitpunkt der Interventionen plausibel geplant und reversibel gestaltet werden können. Im Sinne eines angemessenen Risikobewusstseins sollten Maßnahmen immer so geplant werden, dass sie bis zur vollständigen Erreichung ihres Ziels umkehrbar sind, falls sich herausstellt, dass sie dieses nicht oder nur unzureichend erfüllen können. 4 3. Mit dem Leitungssystem Sie ist auf das Vertrauen und die Zusammenarbeit im Leitungsteam angewiesen. Wie sie in dieser Situation mit Kolleginnen und Kollegen im Leitungsteam agiert,beeinflusst maßgeblich die Führungsqualität in einem insgesamt sehr komplexen Prozess. 4 4. Mit den Beschäftigten Sie benötigt die Akzeptanz ihrer Vorschläge und Anweisungen und das Vertrauen der Beschäftigten, weil sie nur so bereit sind, an dem Reorganisationsprozess motiviert mitzuarbeiten und während seiner Dauer die Unsicherheiten und Schwierigkeiten mitzutragen. Sachebene und Beziehungsebene werden in der
Kommunikation und Führung des Reorganisa-
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tionsprozesses in enger Wechselwirkung stehen und die Qualität, in der beide aufeinander bezogen werden, sie sich ergänzen und verstärken, wird die Ergebnisse entscheidend beeinflussen. Systemisches Pflegemanagement bedeutet auf der Sachund Beziehungsebene Klärungsprozesse zu initiieren und zu leiten (. Tabelle 13.2).
13.2.3 Reduzierung von Komplexität
als Teil des Problems oder Teil der Lösung? Einerseits ist Reduktion von Komplexität für Managemententscheidungen nötig, um die Probleme überschaubar und damit handhabbar zu machen, andererseits hilft eine zu grobe Reduktion nicht, die Probleme zu lösen, sondern schafft eher zusätzliche. Menschlichem Handeln geht immer die Reduzierung von Komplexität voraus,um es steuerbar zu halten. Entsprechend ihres hierarchisch-sequentiellen Organisationsmusters (Volpert 1974) werden Problemeigenschaften entsprechend der Aufgabe bzw. des Ziels versuchsweise rückgekoppelt und an den Zielkriterien gemessen.Manche werden als besonders zielrelevant betrachtet, andere als weniger zielrelevant ausgeblendet.Wir nutzen dabei Modelle für die Beschreibung der Problemeigenschaften, die das Problem vereinfachen, verständlicher machen und damit überhaupt dazu führen,dass wir zu handeln beginnen und die Handlung bis zum Ziel durchführen. Zahlreiche Beispiele in unserer modernen Zivilisation zeigen, wie als Problemlösung gedachte Handlungen das Problem nicht lösen, sondern verschlimmern. Beispiel Denken wir beispielsweise an die Strategie der Thatcher-Regierung in Großbritannien, die durch Rückzug des Staates aus wesentlichen Versorgungsaufgaben per Privatisierung die Staatsausgaben entlasten wollte. Der Staat konnte zwar Ausgaben einsparen,aber die einst so vorbildliche Gesundheitsversorgung Großbritanniens weist so eklatante Mängel auf, dass britische Bürger sich inzwischen in Deutschland
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Kapitel 13 · Systemisches Pflegemanagement mit wachsender Zukunftsunsicherheit
. Tabelle 13.2. Klärungsprozesse auf der Sach- und Beziehungsebene
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intra-individuell (Selbstführung) Selbstklärung/ Selbstmanagement
inter-individuell (Führungsteam) Teamklärung
meso-sozial (Belegschaft) Teamklärung
makro-sozial (Markt) Klärung der Corporate Identity
Selbstklärung
Für welche Werte und Ziele stehe ich? Was kann ich mit meinen eigenen Fähigkeiten und Überzeugungen dazu beitragen? Wo liegen meine Stärken und Schwächen? Was will ich erreichen, was will ich vermeiden?
Auf welche Denk- und Verhaltensweisen, Persönlichkeiten,Wertvorstellungen reagiere ich positiv oder negativ und warum? Wie ermutige ich meine Kolleginnen und Kollegen zur Selbstklärung?
Wie schaffen wir ein akzeptierendes Klima, in dem jede(e) Mitarbeiter(in) die Leitbilder der Organisation in die eigenen Wertvorstellungen integrieren kann?
Wie bringen wir das Profil unserer Pflegeeinrichtung als unverwechselbare Identität »rüber«? Wie konfliktfähig sind wir dabei?
Werteund Zielklärung
Um welche Werte geht es dabei? Welche sachlichen und humanen Ziele sind möglich? Welche Wert- und Zielkonflikte sehe ich bei mir selbst?
Wie gelingt es mir,Wertund Zielkonflikte bei mir selbst und mit anderen anzusprechen, zu klären und zu bearbeiten?
Wie entwickeln wir gemeinsame Leitbilder, die wir in der Zusammenarbeit zwischen uns und mit den Patienten vertreten?
Welche Werte und Ziele kommunizieren wir mit dem Markt und mit den Trägern/Finanziers? Welche Leitbilder wollen wir als Führung verkörpern?
Systemklärung
Welche Systeme sind für unser Handeln relevant? In welchen Wechselbeziehungen stehen sie zueinander? Welche Einflussgrößen wirken wie auf die Systemeigenschaften und auf die Systemleistung?
Mit wem kann ich die Systemklärung weiterentwickeln? Wie kann ich was von anderen lernen?
Wie binden wir Wissen und Erfahrung der Belegschaft in die Systemklärung ein? Wie klären wir auf und initiieren Systemklärungs- und Strategiefindungsprozesse?
Welche Botschaften über den Nutzwert unserer Leistung, über unsere Stärken kommunizieren wir als Pflegeeinrichtung nach außen und überzeugen mit unserer Strategie?
Situationsklärung
Was ist in der jeweiligen Situation angemessenes und stimmiges Handeln? Wie handele ich situationslogisch und strategisch zugleich? Wie vermeide ich, mir durch situativ-momentane Handlungsweise strategische Fallen zu stellen?
Wie führe ich einen metakommunikativen Führungsstil zunächst im Führungsteam ein, um ihn dann auch nach außen zu praktizieren? Wie können wir Wahrheit und Klarheit der Situation in unserem Führungsstil situationslogisch richtig einsetzen?
Wie führe ich einen metakommunikativen Kooperationsstil in der Belegschaft ein? Wie können wir Bewusstheit für Wahrheit und Klarheit der Situation als situationslogisches Strukturprinzip nutzen?
Wie kommunizieren wir mit den Patienten und mit ihren Angehörigen? Wie treten wir in der Öffentlichkeit und im Umgang mit externen Instanzen erfolgreich auf?
Rollenklärung
Welche Rollen nehme ich gerne ein, welche vermeide ich lieber? Welche Persönlichkeitseigenschaften und Neigungen »bediene« ich mit meinen Rollenpräferenzen? Welche Rollenerwartungen stellen andere an mich und wie gehe ich (selbst-)kritisch damit um?
Wie leite ich die Rollenklärung im Führungsteam ein und an? Wie entwickeln wir im Führungsteam gemeinsam Rollenidentität und Rollenauthentizität? Wie klären wir Rollenkonflikte und wie gehen wir mit ihnen um?
Wie fördern wir die Entwicklung stimmiger Rollenidentitäten in der Belegschaft? Welche Unterstützung können wir bei Rollenkonflikten leisten?
Welche Rolle will unsere Pflegeeinrichtung in der Region mit seinen Versorgungsleistungen spielen?
307 13.2 · Klärungsprozesse bei Führungspersonen
operieren lassen. Entsprechende Vermittlungsagenturen kommen kaum nach, die Anfragen der zahlungskräftigeren Klientel zu erfüllen.Die Eingriffe haben zwar die Staatsausgaben im Gesundheitssektor gesenkt, zugleich aber besonders in den einkommensschwachen Bevölkerungsschichten die gesundheitliche Situation verschlechtert und damit in anderen Bereichen der Volkswirtschaft zu Problemen geführt und die soziale Differenzierung vergrößert.
Der Eingriff in Systeme setzt voraus, ihre Organisationsmuster und Funktionsstrukturen zu verstehen, die Wechselwirkungen auf benachbarte Systeme zu überschauen sowie die zeitlichen Verzögerungen (»Trägheitsmomente«, siehe FroschGleichnis) zu berücksichtigen. Da Systeme mehr oder weniger dynamische Eigenschaften haben, können die Auswirkungen von Interventionen sehr unterschiedlich sein.Besonders soziale Systeme haben eine komplexe, oft undurchschaubare Dynamik. Die Qualität von steuernden Eingriffen in die Systeme korreliert mit den Modellen (siehe Tabelle 13.1), die bei der Analyse, Planung und Durchführung herangezogen wurden. Die Leiterin der Einrichtung im oben genannten Beispiel bringt das Thema »Wie stellen wir uns auf das neue Vergütungssystem ein?« in die Leitungssitzung ein.Zunächst stellt sie das System vor, indem sie anhand der wichtigsten Fallgruppen der Einrichtung eine Prognose der prospektiven Aufwands- und Ertragsrechnung für die betriebswirtschaftliche Entwicklung abgibt. Es wird deutlich, dass bei der Mehrheit der wichtigsten Fallgruppen die Kostendeckung fraglich ist und bei dem Rest nur knapp erreicht wird.Im zweiten Schritt stellt sie die Kosten- und Ertragsstruktur der letzten fünf Jahre dar und weist darauf hin, dass diese schon unter dem bisherigen Vergütungssystem unbefriedigend war und zu mehrfacher Kritik seitens der Eigentümer geführt hat. Sie erinnert an die verschiedenen gescheiterten Versuche, die Kosten zu senken.Schließlich fordert sie im dritten Schritt alle Beteiligten zu Vorschlägen auf, die Ertragsleistung der Einrichtung zu verbessern. Der Finanzchef greift sich den größten Kostenblock, die Personalkosten, heraus und schlägt vor,
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dort zuerst anzusetzen. Das Personal müsse einen Sanierungsbeitrag leisten. Es habe sich in der Vergangenheit ein Besitzstandsdenken zu Eigen gemacht, das nicht mehr in die Zeit passe. In der Privatwirtschaft hätte sich das längst geändert, da würden die Mitarbeiter viel mehr Verständnis für die betriebswirtschaftlichen Sachzwänge haben.Er befürchte aber, dass ein Umdenken erneut vom Betriebsrat verhindert werde. Schließlich sei noch an die Patienten zu denken, die ebenfalls ein übertriebenes Anspruchsdenken hätten, was eben die Personalkosten nach oben treibe. Ihre Serviceerwartungen müssten eben auch geändert werden. Man müsse ihnen klarmachen,wo die Grenzen des Leistbaren lägen. Es werde notwendig, auch darauf zu achten, personalintensive Problemfälle möglichst schnell loszuwerden.Das wiederum würde Kostenbewusstsein der Mitarbeiter voraussetzen. Damit sich das entwickelt, stütze er sich auf zwei Vorschläge: Erstens müsse die Leitung ihnen vermitteln, welche Kosten sie verursachen.Das würde langfristig ihre Einstellung zu mehr Kostenbewusstsein ändern. Zweitens müsse man den Mitarbeitern einen Anreiz zum Sparen geben. Der könne darin bestehen, ihnen deutlich zu machen, dass entweder Personalabbau oder die Fremdvergabe bestimmter Leistungen, wie z. B. der Versorgungsabteilungen (Küche, Wäscherei, Instandhaltung usw.) die unvermeidlichen Folgen seien, wenn es nicht zu Einsparungen käme. Eventuell könne man das Entgeltsystem um eine Prämie ergänzen,die kostenbewusstes Verhalten abteilungsweise belohnt. Dann würden sich die Mitarbeiter gegenseitig zum Sparen anspornen und sie würden folglich aus Eigeninteresse schon selbst stärker darauf achten, kostenintensive Wünsche der Patienten »abzuwimmeln«. Der Finanzchef denkt zunächst in der Logik des Eigenschaftsmodells. Die Mitarbeiter sind nicht kostenbewusst. Als Intervention schlägt er im Sinne des Maschinenmodells vor, eine Kombination von Druck und Anreiz einzusetzen.Die Mitarbeiter würden schon aus Eigeninteresse (Sicherung des Arbeitsplatzes, Erhalt des Einkommens) die gewünschte Einstellung und damit ein kostenbewusstes Verhalten entwickeln,zumal sie sich dabei selbst anspornen.
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Kapitel 13 · Systemisches Pflegemanagement mit wachsender Zukunftsunsicherheit
Die Nebenwirkungen dieses Vorschlags können sein: 4 1. Die Mitarbeiter würden unter noch größeren Druck geraten. 4 2. Die Vorherrschaft des Kosten-Nutzen-Denkens widerspräche ihrer Ethik des Helfens. Ihre Arbeitsmotivation verringerte sich und nicht wenige reagierten mit »innerer Kündigung«. 4 3. Die Patienten würden unzufrieden mit den Leistungen sein und man würde ihnen nicht gerecht werden können. Das würde letztlich auch das Image der Einrichtung verschlechtern und die Zahl der Patienten verringern.
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Dieser Vorschlag verursacht auf Grund seiner Reduzierung des Problems auf wenige Beziehungen offenbar mehr unerwünschte Nebenwirkungen als Lösungen. Wichtige Ressourcen, wie die Mitarbeitermotivation, würden in ihrer Entwicklung gehemmt. Was könnte die Alternative sein? Menschen, die sich für die Arbeit in der Pflege entschieden haben, leisten einen Dienst an den Mitmenschen. Ein Teil ihres Lohnes für die Arbeit besteht in dem sinnstiftenden Gefühl der mitmenschlichen Solidarität,das bis zur Selbstaufgabe übertrieben werden kann. Zugleich kann es die Grenzen des berechtigten Interesses überschreiten, auch durch entsprechende materielle Gratifikation den Ausdruck gesellschaftlicher Wertschätzung zu erfahren. Die ethisch motivierte Berufswahl in den Pflegeberufen ist eine ausgezeichnete Grundlage, die Mitarbeiter in die ökonomischen Rahmenbedingungen der Pflegeeinrichtung einzubeziehen und mit ihnen darüber zu beraten, wie die Kostenstruktur und das Leistungsprofil verbessert werden können. Im Sinne der Fürsorgepflicht der Vorgesetzten müssen Belastungsaspekte der Mitarbeiter dabei einbezogen werden, so dass diese erkennen, dass ihr Einsatz wertgeschätzt wird. Konkrete Schritte sollten mit den Mitarbeitern in Zielvereinbarungen festgelegt werden. Die Beteiligung am Verbesserungsprozess bedeutet aber auch Beteiligung an den Ergebnissen. Die erwirtschafteten Einsparungen sollten immer auch zu einem fair ausbalancierten Anteil den Mitarbeitern zu Gute kommen. Das kann in Form einer Jahreserfolgsprämie geschehen, die das Management mit dem Betriebsrat jährlich entsprechend der Ergebnislage aushandelt.
13.2.4 Grundprinzipien systemischen
Managements Die Entwicklung einer neuen Strategie ist trotz vielerlei analytischer Überlegungen und ausgefeilter Methodik ein intuitiver und visionärer Prozess. Dennoch habenVisionäre im Management oft einen schweren Stand. Doch ohne Visionen gibt es keine Erneuerungsimpulse.Ohne Visionen verwalten Organisationen nur ihren gegenwärtigen Zustand und entwickeln sich nicht aus sich selbst heraus weiter.Stattdessen werden sie erst durch die Zwänge der Umwelt zum Reagieren gezwungen und verlieren dadurch ihre Wahlfreiheit zwischen Optionen.Die erste wesentliche Veränderung muss in den Köpfen des Managements stattfinden, bevor sich Organisationen verändern können. Die mentalen Modelle, mit denen Menschen die Wirklichkeit deuten, beeinflussen die Qualität der Analyse wie die der Interventionsstrategien ganz erheblich. Veränderungsprozesse in Organisationen sind nur so erfolgreich, wie die Fähigkeit, die Wechselwirkungen systemisch zu überschauen, die der Veränderungsprozess auslöst. Peter Senge (1996) nennt fünf Disziplinen, die zum systemischen Management gehören (. siehe Tabelle 13.3): Ob sich die fünf von Peter Senge entwickelten Disziplinen und ihre Potenziale entwickeln, hängt ganz entscheidend von der Kommunikations- und Führungskompetenz des Managements ab. Vor allem aber von dem Grad der Selbstklärung der Führungspersonen, ihre persönlichkeitsspezifischen Stärken und Schwächen in Entscheidungssituationen zu kennen.
13.3
Die Strategie der lernenden Organisation als Antwort auf die Dynamik sozialer Systeme
Im Folgenden wird erörtert, wie Unsicherheit der Zukunftsentwicklung durch Prozesse der Mobilisierung und Vernetzung der Humanressourcen reduziert werden kann und wie sich damit Näherungslösungen für komplexe Reorganisationsprojekte gewinnen lassen. Drei Kernprozesse der Kommunikation und Führung (Strategieentwicklung, Prozessgestaltung und Ressourcenoptimie-
309 13.3 · Die Strategien der lernenden Organisation
13
. Tabelle 13.3. Disziplinen des systemischen Managements Disziplinen
Beschreibung Peter Senge
Erläuterungen
Personal Mastery
Man lernt, sein persönliches Können stetig auszuweiten, um die Ergebnisse zu erzielen, die einem wirklich wichtig sind, und man schafft eine Organisationsumwelt, die alle Mitglieder ermutigt, sich selbst in die Richtung ihrer selbst bestimmten Ziele und Absichten zu entwickeln.
Die eigenen mentalen Grenzen durch systemische Analyse, Selbstklärung und kontinuierliches Lernen erweitern und durch ein positives und andere Menschen motivierendes Führungsverhalten für sich und andere fruchtbar machen.
Mentale Modelle
Man reflektiert über seine inneren Bilder von der Welt, bemüht sich um ihre kontinuierliche Klärung und Verbesserung und erkennt, wie sie die eigenen Handlungen und Entscheidungen beeinflussen.
Die unterschiedlichen individuellen Sichtweisen von der Wirklichkeit bewusst machen und die Chance eröffnen, aus den verschiedenen Perspektiven der beteiligten Menschen die Komplexität von Problemen adäquat zu erfassen und somit gemeinsam zu einem vollständigeren Verständnis der Realität zu gelangen.
Gemeinsame Visionen
Man fördert das Engagement in einer Gruppe, indem man gemeinsam Bilder von der angestrebten Zukunft entwickelt und indem man die Prinzipien und die wichtigsten Methoden klärt, mit deren Hilfe man diese Zukunft gestalten will.
Motivation zur gemeinsamen Arbeit an innovativen und professionell wie menschlich produktiven Alternativen (Visionen) erzeugen und zur Veränderung der bestehenden Strategie, Strukturen und Verhaltensweisen ermutigen.
Team-Lernen
Man entwickelt neue Kommunikationsformen und kollektive Denkfähigkeiten, die sicherstellen, dass das Wissen und Können einer Gruppe größer ist als die Summe der individuellen Begabungen.
Die individuellen Kompetenzen werden durch Team-Lernen und Teamarbeit vervielfältigt und damit die Human-Ressourcen der Organisation gestärkt.
Systemdenken
Man entwickelt eine Denkweise und eine Sprache, mit der man die Kräfte und Wechselbeziehungen, die das Verhalten des Systems steuern, begreifen und beschreiben kann. Diese Disziplin hilft uns zu erkennen, wie wir Systeme effektiver verändern können und wie wir in größerer Übereinstimmung mit den übergreifenden Prozessen der Natur und der Wirtschaft handeln können.
Durch vernetztes Denken wird die Ganzheitlichkeit und Relevanz von Analyse und Ergebnis gefördert und die Hebelwirkungen der eingesetzten Ressourcen und gefundenen Gestaltungslösungen gesteigert.
rung) werden in Handlungsstrategien konkretisiert
und veranschaulicht.
13.3.1 Strategieentwicklung
durch systemische Kommunikation und Führung Die Kernaufgabe jeden Managements besteht darin, die strategischen Erfolgsfaktoren für das Un-
ternehmen zu identifizieren und alle Wertschöpfungsprozesse für einen positiven Beitrag zu optimieren.Die Leistungen eines Unternehmens können auf dem Markt nur dann ökonomisch bestehen, wenn ihr Nutzen Preise zu erzielen vermag, die mindestens kostendeckend sind. In der gesellschaftlichen Diskussion hat die Einstellung zugenommen, dass dies auch öffentliche Einrichtungen bis zu diesem Grad tun müssen. Gleichzeitig wird trotzdem vernünftigerweise erwartet, dass das
310
Kapitel 13 · Systemisches Pflegemanagement mit wachsender Zukunftsunsicherheit
Sozialstaatlichkeitsgebot des Grundgesetzes (Artikel 20 Abs. 1 GG) als tragendes Verfassungsprinzip unseres Staates einen allgemeinen Versorgungsanspruch garantiert, damit sozial schwache Bevölkerungsgruppen in ihren Grundrechten nicht eingeschränkt werden.
7
Das Leitbild der ‘gerechten Sozialordnung’ ist das der gesellschaftlichen Gleichheit. Deshalb ist es Ziel des Sozialstaatsprinzips,‘die Gleichheit fortschreitend bis zu einem vernünftigerweise zu forderndem Maße zu verwirklichen’ (BverfG, BverfGE 5, 85, 206). So wird dem obersten Gebot des Grundgesetzes Rechnung getragen, den Menschen in den Mittelpunkt staatlicher Aktivitäten zu stellen. (Kittner 1999)
Es geht darum, das Sozialstaatlichkeitsgebot mit dem Gebot wirtschaftlicher Vernunft zu verbinden. Auf der Ebene einer Pflegeeinrichtung bedeutet das, die Ethik des Helfens und Heilens mit den Regeln kaufmännischen Handels zu vereinen. Beide Werte haben ihre eigene Logik, die zu der anderen
gegensätzlich sein kann. Um sie zu verdeutlichen, nutzen wir das Werte- und Entwicklungsquadrat (Schulz von Thun 1989) (. siehe Abb. 13.2). In der konkreten Diskussion über die Reorganisation einer Pflegeeinrichtung, werden die berufsethischen Aspekte mit denen der Betriebswirtschaftlichkeit häufig in Konflikt geraten. Deshalb muss dieser Wertekonflikt von der Führung thematisiert und mit den Mitarbeitern ausgetragen werden, bevor die Arbeit an der Entwicklung einer Strategie beginnt. Anderenfalls werden die nicht geklärten Konflikte im Umsetzungsprozess immer wieder auftreten und die Sacharbeit behindern. Management muss die humanen Werte des Helfens und Heilens mit denen der ökonomischen Rationalität verbinden. Die betriebswirtschaftliche Strategieplanung für eine Pflegeinrichtung muss die Schlüsselfaktoren (Gomez u. Probst 1999, S 47) bzw. strategische Erfolgsfaktoren für die folgenden Systeme abbilden (. siehe Tabelle 13.4; siehe auch Nagel 1999): 4 1. Marktsystem Produktportfolio, Angebot/Nachfrage, Wettbewerb, Kosten, Preise, Erlöse, Innovation, Investition, Marketing, Marktposition.
13
. Abb. 13.2. Werte- und Entwicklungsquadrat (nach Schulz von Thun): Humane Professionalität und Ökonomische Rationalität
311 13.3 · Die Strategien der lernenden Organisation
13
. Tabelle 13.4. Systeme und Erfolgsfaktoren Systeme
Erfolgsfaktoren
Ausprägung im Ist-Zustand
Strategische Neuorientierung
Maßnahmen/Projekte
Marktsystem
Versorgungsqualität
Mittel: z.B. lange Wartezeiten bei HNO-Fällen
Stärkung von Entwicklungspotenzialen der Kernkompetenzen
Engpassbereiche der regionalen Versorgung ausbauen
Unternehmensführung
Ressourcenbereitstellung
Gering: es wird zu wenig für Erneuerung investiert
Investitionen auf strategische Marktchancen konzentrieren
Beteiligungsmöglichkeiten zur Kapitalaufstockung prüfen, Allianzen anbahnen
Finanzsystem
Kostendeckung
Kritisch: seit 5 Jahren keine Kostendeckung
Kostentransparenz organisieren und Budgetverantwortung dezentralisieren
Kostenstrukturen durch kontinuierliche Verbesserungsprozesse optimieren
Organisationssystem
Leistungsqualität
Mittel: etliche Betriebsabläufe sind durch mangelnde Investition zu aufwendig
Teamorganisation und Teamlernen durch systematische Unterstützung weiterentwickeln
Betriebsabläufe durch organisatorische und technische Verbesserungen besonders an Engpassstellen optimieren
Produktionssystem
Patientenzufriedenheit
Mittel: häufig überlastetes Personal
belastungsorientierte Personaleinsatzplanung
Neueinstellungen durch vermehrte Anwendung von Teilzeitmodellen ermöglichen
Informations- und Wissenssystem
Bedarfsgerechtigkeit
Kritisch: EDV wird nur für administrative Abläufe genutzt, zu Wissensdatenbanken besteht kein durchgängiger Zugriff
Wissensmanagement einführen
beteiligungsorientierte Bedarfsermittlung und bedarfsorientierte Nutzung ermöglichen
4 2. Unternehmensführung Eigentümerschaft, Entscheidungsrechte, Entscheidungsstrukturen, Unternehmensziele, Strategien, Unternehmenskultur. 4 3. Finanzsystem Budgetierung, Controlling, Finanzierung, strategisches Finanzmanagement. 4 4. Organisationssystem Aufbau- und Prozessorganisation, Entscheidungsstrukturen,Führungsstil,Arbeitsstrukturen, Arbeitsbedingungen, Organisationsentwicklung,Personalentwicklung,Aus-,Fort- und Weiterbildung, Beteiligung der Arbeitnehmer an Entscheidungen und Ergebnissen, Arbeits-, Gesundheits- und Umweltschutz.
4 5. Produktionssystem Qualitätskriterien/Qualitätssicherung,Produktivität, Kundennutzen/Kundenzufriedenheit, Innovation, Flexibilität. 4 6. Informations- und Wissenssystem Verfügbarkeit relevanter Informationen, Wissensvermehrung, Informations- und Wissensmanagement. Für jedes System werden Schlüsselfaktoren entwickelt und in ihrem Ausprägungsgrad im Ist-Zustand bewertet. Aus den daraus erkennbaren Stärken und Schwächen lassen sich die Ziele strategischer Neuorientierung ableiten. Bewertungen und identifizierte Strategieorientierungen müssen na-
312
13
Kapitel 13 · Systemisches Pflegemanagement mit wachsender Zukunftsunsicherheit
türlich mit Fakten untermauert sein. Für die neuen strategischen Ziele können interne Projektgruppen Projektziele definieren und bearbeiten (siehe Tabelle 13.4). Die Vernetzung dieser Systeme wird näherungsweise durch eine Vernetzungsmatrix deutlich (Nagel 1999, S 35).An der Matrix in Tabelle 13.4 lassen sich bereits Zusammenhänge erkennen, etwa dass im Marktsystem dem hohen Bedarf an Leistungen im HNO-Bereich keine ausreichenden Kapazitäten gegenüberstehen,was auf fehlende Investitionen zurückzuführen ist. Die fehlende Kostendeckung hat eine schwache Kapitalausstattung verursacht und die Einrichtung in einen Teufelkreis getrieben. Investitionen für die Leistungserweiterung fehlen, selbst die vorhandene Leistungsqualität wird sich früher oder später ohne Investitionen verschlechtern. Patienten wie Mitarbeiter sind nicht völlig zufrieden. Betriebsabläufe sind nicht optimiert worden, was die Leistungsqualität und die Kostenstrukturen nicht verbessert. Es fehlt an Geld für die Einführung eines Wissensmanagements, was mittelfristig zur Verschlechterung der Kernkompetenzen führt. Im lebendigen Organismus einer Organisation sind die Wechselwirkungen so komplex vernetzt, dass es aussichtslos ist, sie wirklich vollständig zu überblicken. Dörner spricht deshalb von Intransparenz:
7
Viele Merkmale der Situation sind demjenigen, der zu planen hat, Entscheidungen zu treffen hat, gar nicht oder nicht unmittelbar zugänglich. Er steht also – bildlich gesprochen – vor einer Milchglasscheibe. Er hat Entscheidungen hinsichtlich eines Systems zu fällen, dessen augenblickliche Merkmale er nur zum Teil, nur unklar, schemenhaft, verwaschen sehen kann – oder auch gar nicht. […] Die Intransparenz ist eine weitere Quelle der Unbestimmtheit der Planungs- und Entscheidungssituationen.« (Dörner 1989, S 63f)
Entscheidungen von großer Tragweite müssen oft in relativ kurzer Zeit gefällt werden, so dass es sehr schwer ist, die Eingriffe in jedes Teilsystem für eine optimale Gesamtwirkung hinsichtlich Zeitpunkt
und Intensität zu kombinieren. Eine Strategie kann nur eine Annäherung für operatives Handeln leisten. Strategien liefern heuristische Regeln für das Handeln im Prozess, in dessen Verlauf bei jedem Teilschritt Merkmale der Ergebnisse gefunden werden, die denen des Gesamtzieles entsprechen. Strategien haben den Charakter systemischer Handlungslogik. Sie integrieren Handlungen in ein Handlungskonzept, das die Teilstrategien für die oben genannten Systeme aufeinander abstimmt.
13.3.2 Systemische Prozessgestaltung
als Kommunikationsund Führungsaufgabe Menschen erfüllen ihre Aufgaben in Organisationen innerhalb von Prozessen. Organisationen sind nur so leistungsfähig, wie die Gestaltung dieser Prozesse sowie die Menschen, die sie planen und ausführen. Prozesse können so unzureichend strukturiert und gestaltet sein, dass selbst die hoch qualifizierten Mitarbeiter keine befriedigende Leistung erbringen können. Ihre Qualität wird zusätzlich durch die Arbeitsmittel und Arbeitsbedingungen beeinflusst, ebenso durch das soziale Klima im Betrieb. Prozessbedingungen. Sie werden von den Fähigkeiten der Mitarbeiter und ihren Arbeitsbedingungen, von der Schwierigkeit der Aufgabe, den Betriebsmitteln und situativen Faktoren bestimmt. Prozesseigenschaften. Dazu gehören Bedeutung der Ziele des Ganzen, Problemhaltigkeit, Vorhersagbarkeit, Dynamik, Stabilität, Dauer und Komplexität. Sie spielen ebenfalls eine bedeutende Rolle. Heilprozesse verlaufen in Abhängigkeit vom Krankheitsbild,der Konstitution des Patienten und der Therapie sehr unterschiedlich. In der Literatur zu betrieblichen Reorganisationsprozessen wird häufig in der Standardisierung von Prozessen der Königsweg für hohe Prozessqualität gesehen. Das trifft sicherlich auf einen Großteil von Prozessen zu, die sich auf die Herstellung von Massengütern und einfacheren Dienstleistungen richten, aber kaum auf Kernprozesse im Heil- und Pflegebereich. Hier weichen viele Prozesse häufig von der Ideallinie ab, weil jeder Patient ein Unikat ist.
313 13.3 · Die Strategien der lernenden Organisation
Prozessgestaltung. In komplexen Aufgabenbereichen bedeutet das,die Mitarbeiter nicht nur auf den Regelprozess vorzubereiten,sondern gerade auf die Abweichungen, um die Qualitätsziele stabil zu erreichen. Prozesse müssen daher rückgekoppelt und reversibel gestaltet sein, um zu ermöglichen, dass bei unerwartet auftretenden Schwierigkeiten das Ziel trotzdem erreicht wird. »Lernende Organisation« bedeutet gerade in der Prozessgestaltung,sich nicht dem Risiko der Standardisierung auszusetzen, der trügerischen Sicherheit, alles laufe so wie geplant. Stattdessen werden durch Vernetzung mit anderen Prozessen und deren Trägern (Mitarbeitern) das Prozesswissen, die Prozessbedingungen und die Prozesse selbst ständig verbessert. Prozesse reversibel anzulegen bedeutet, sie so zu gestalten, dass bei unerwarteten Ereignissen (Störungen,Fehlern) die Folgen eingegrenzt werden können.(Aus gutem Grund sind deshalb z. B. alle Energieleitungen für Schlüsselprozesse eines Krankenhauses mit Notstromaggregaten abgesichert.) Natürlich gibt es Prozesse oder Prozessphasen, die nicht reversibel sein können, aber dort wo es möglich und sinnvoll ist, sollte Reversibilität ein Kriterium für systemische Prozessgestaltung sein. Was in Prozessen falsch laufen kann,ist Gegenstand einer gesonderten Risikoanalyse im Rahmen der systematischen Qualitätssicherung.
7
Fehler sind wichtig. Irrtümer sind ein notwendiges Durchgangsstadium für Erkenntnis. (Dörner 1989, S 308)
Der erste Schritt der Prozessgestaltung ist die Identifizierung von Kernprozessen oder Schlüsselprozessen, die durch die Funktionsbereiche ablaufen. Diese sind für die Leistungserbringung der Organisation von zentraler Bedeutung, weil sie unmittelbar auf den Kundennutzen und den Unternehmenszweck zielen.Ein Prozessgliederungsplan soll den Überblick über die Hilfsprozesse verschaffen und die Nahtstellen der Vernetzung aufdecken. Die Prozesse werden hinsichtlich ihrer Eigenschaften und Bedingungen beschrieben und klassifiziert. Im zweiten Schritt werden die Prozesse hinsichtlich ihrer Erfüllungsfunktion für die strategischen Schlüsselfaktoren analysiert und bewertet.
13
Das Ergebnis ist ein Stärken-Schwächen-Profil, aus dem sich Optimierungsmöglichkeiten ableiten lassen. Diese werden dann in Pilotprojekten einem Testlauf unterzogen, der systematisch ausgewertet wird. Erst danach können die verbesserten Prozesse nach einem Umsetzungsplan im dritten Schritt flächendeckend eingeführt werden. Für alle drei Schritte sind Projektteams aus allen Funktionsbereichen,die von dem Schlüsselprozess betroffen sind,verantwortlich.Für die Reorganisation der Nebenprozesse gilt die gleiche Vorgehensweise. Prozessgestaltung bleibt auch danach eine Regelaufgabe im Sinne kontinuierlicher Verbesserung.
13.3.3 Systemische Personalentwicklung:
Die lernende Organisation als Lernort für erfolgreiches Denken und Handeln Personal Mastery lässt sich als Leitbild (Arnold u. Schüßler 1998, S 222 ff) persönlicher Kompetenzentwicklung verstehen, das Meisterschaft in den Arbeitsaufgaben, Meisterschaft in der Zusammenarbeit mit anderen und Meisterschaft in der Selbstführung anstrebt.In einer lernenden Organisation, die ihre Fähigkeiten ständig weiterentwickeln muss, um hohen Kundennutzen zu stiften, ist Lernen ein strategischer Schlüsselprozess auf allen Hierarchieebenen, in allen Funktionsbereichen und in allen Prozessen,der mit den praktischen Arbeitsprozessen verbunden bleibt. Es geht nicht um Anhäufung von Faktenwissen, sondern um lebendiges Lernen an lebendigen Prozessen und ihren Problemstellungen, das die fachlichen, methodischen, sozialen und humanen Kompetenzen fördert. Es muss die Beteiligung der Mitarbeiter an Entscheidungen fördern, indem diese die strategischen Ziele und ihre systemischen Zusammenhänge verstehen, um kompetent mitreden zu können – in Analogie zum »mündigen Bürger« den »mündigen Mitarbeiter«. Das Konzept des »Open-BookManagement« geht geradezu offensiv mit der Beteiligung der Mitarbeiter an den strategischen Informationen des Unternehmens um:
314
Kapitel 13 · Systemisches Pflegemanagement mit wachsender Zukunftsunsicherheit
7
13
Die Überlebensfähigkeit der heutigen Unternehmen steht und fällt mit einer Art von koordiniertem Einsatz, zu dem nur Menschen fähig sind, die im Rahmen einer klaren, umfassenden Vision informiert und motiviert sind und eine gemeinsame Sprache sprechen, die ihnen eindeutige und schnelle Informationen vermittelt. Nur so können sie ihre Prioritäten rasch genug ändern, um auf Dauer die Bedürfnisse ihrer Kunden und die Herausforderungen des Wettbewerbs zu erfüllen. (Schuster et al., 1997, S 43)
Was sich für Vertreter konventioneller Organisationskulturen wie ein frommer Wunsch anhören mag, ist für die lernende Organisation zwingend erforderlich, weil sie auf Wissen, Erfahrung und Kompetenzen in einem umfassenden Sinne setzt und ihre Lernfähigkeit (im Sinne von hoher Anpassungsfähigkeit in einem dynamischen und komplexen Umfeld) darauf gründet. Aus der »Adlerperspektive« des strategischen Gesamtüberblicks lässt sich verstehen, wohin sich Wissen und Kompetenzen entwickeln müssen, um die Ziele zu erreichen. Der Kultur der lernenden Organisation mit ihren flachen Entscheidungshierarchien und ihren Prinzipien der Selbstorganisation und Selbststeuerung muss die Kultur des selbst bestimmten,an den lebendigen Prozessen und Problemen der Wertund Sachentscheidungen orientierten Lernens zur Seite gestellt werden (Arnold u. Schüßler 1998, S 3ff). Dafür muss die Führung die Rahmenbedingungen bereitstellen. Die Mitarbeiter sollen selbst ihre persönlichen und gemeinsamen Lernthemen und die Lernbedingungen bestimmen und regelmäßig ihren Lernplan mit den Führungskräften abstimmen. In Teambesprechungen sollte stets auch ein Lernanteil eingeplant werden.Lernberatung im Rahmen der Personalentwicklung soll helfen, die Integration von prozessabhängigen und Prozess unabhängigen Qualifikationen zu fördern, verschiedene Lernformen in geeigneter Weise zu kombinieren und die persönlichen Entwicklungsperspektiven aufzudecken. Die Lern- und Handlungsfelder systemischen Pflegemanagements (. siehe Tabelle 13.5)sind in
Zeiten raschen strukturellen Wandels auch für die Mitarbeiter gültig, weil Management nur so erfolgreich ist, wie es den Erfolg seiner Mitarbeiter organisiert. Zusammenfassung Führungstätigkeiten bedeuten ein Planen von Prozessen auf einer Basis von Vermutungen und Annahmen. Zudem ist es für das Management notwendig, die Realität vereinfacht zu betrachten, um das Wesentliche gegenüber Details hervorzuheben. Die Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Teilsystemen sind nicht immer überschaubar. Auf dieser Basis müssen andere vom Sinngehalt des Konstruierten überzeugt werden und eventuell für die Zukunft des Unternehmens ausschlaggebende Entscheidungen getroffen werden. Fehler und Irrtümer sind dabei nicht zu vermeiden. Widersprechende Erwartungen müssen berücksichtigt werden, die Beziehungsebene darf nicht außer Acht gelassen werden. Strategien als Antwort auf die Dynamik der Sozial- und Wirtschaftsysteme sind systemisches Management und die lernende Organisation. Auch für Pflegeeinrichtungen gilt, dass die Bewältigung der zukünftigen Unwägbarkeiten systemischer Führung, Kommunikation und Prozessplanung bedarf.
3 Methodische Vorschläge für die Seminargestaltung 4 In einem erfahrungsbezogenen Einstieg lassen sich zunächst in Einzelarbeit folgende Fragen schriftlich beantworten: Welche organisatorischen Veränderungsprozesse habe ich in meiner Berufstätigkeit erlebt? Welche Befindlichkeiten wurden bei mir dadurch ausgelöst? Welche Reaktionen habe ich bei Anderen wahrgenommen?«
315 13.3 · Die Strategien der lernenden Organisation
13
. Tabelle 13.5. Lern- und Handlungsfelder systemischen Pflegemanagements Handlungsfeld
Lernfeld
Handlungsanforderungen auf der Sachebene
Handlungsanforderungen auf der Beziehungsebene
Kommunikationsund Führungstechniken
Thematisierung des erforderlichen Wandels
Sich trauen,Visionen zu entwickeln und diese so zu kommunizieren, dass sie zu gemeinsamer Weiterarbeit einladen und motivieren, neue Wege zu gehen
Sich Klarheit verschaffen über die Veränderungen der Rahmenbedingungen (Makroebene) und ihre möglichen Auswirkungen auf die Einrichtung (Meso- und Mikroebene) und Information der Mitarbeiter
Ein glaubwürdiges Leitbild für einen partizipativen Reorganisationsprozess herstellen, bei dem humane wie ökonomische Effizienzkriterien transparent ausbalanciert werden
Vortrag und Diskussion z.B. auf Betriebsversammlungen,Teambesprechungen, einer speziell organisierten Zukunftsveranstaltung, Expertenrunden usw.
Projektmanagement
Die Kernthemen für die Projektarbeit ableiten, die geeigneten Ressourcen mobilisieren und die Einzelprojekte synergetisch vernetzen. Die Projektarbeit durch angemessenes Feedback unterstützen. Andere Sichtweisen als die eigene akzeptieren
Projektsteuerung und Koordination, Controlling, Informations- und Wissensmanagement, Organisation von Lernprozessen
Motivierung durch teilnehmende Wertschätzung und Förderung von Stärke, Stabilisierung und Förderung durch Qualifizierung und Mitarbeitergespräche, gegebenenfalls durch Coaching
Projektsteuergruppe, Masterplan, Projektgruppengespräche, Lern- und Entwicklungspläne, Beratung und Coaching, Budget-, Prozess- und Ergebnisverantwortung der Projektgruppe,Vernetzung der Projektgruppen, Bereitstellung von internem und externem Expertenwissen
Strategiemanagement
Lernen, Unsicherheiten bei sich selbst und anderen durch die gemeinsame systematische Generierung von Wissen und die Mobilisierung von Erfahrung reduzieren
Erschließung von Wissens- und Erfahrungsressourcen innerhalb und außerhalb der Einrichtung und ihre Synthese zu überprüfbaren Strategieoptionen
Konstruktiver Umgang mit Ziel- und Wertekonflikten bei sich selbst, mit anderen und zwischen anderen. Klärung von Konflikten mit humaner und sachlicher Kompetenz
Strategieworkshops, Systemanalyse, Kreativitätsmethoden, Szenario-Methoden, Zielklärung, Rollenklärung, Situationsklärung, Selbstklärung,Teamklärung, Konfliktklärung
Organisationsentwicklung
Das Organisationsmuster und sein System verstehen, seine Stärken und Schwächen identifizieren und für die zukünftige Weiterentwicklung oder Neuorientierung lernförderliche Organisationsmuster finden
Partizipative Entwicklung und Umsetzung von vernetzten Kommunikations- und Führungsmodellen, die hohe Produktivität und Ressourcenökonomie ermöglichen und flexibel bei unerwarteten Veränderungen sind
Raum und Unterstützung geben für die Bearbeitung von Unsicherheit,Widerständen und Konflikten. Einführung eines metakommunikativen Führungsstils
Organisationsanalyse, Kommunikationsanalyse, Arbeitsgestaltung, Teamentwicklungsseminare,Teamgespräche, Erweiterung des Handlungsspielraums der Teams,Teamvertretung
Changemanagement
Wege finden, die beschlossenen Veränderungsprozesse im laufenden Betrieb ohne Qualitätsverluste für die bestehenden und die neuen Prozesse umzusetzen
Ausarbeiten eines detaillierter Umsetzungsplan durch die Steuergruppe, Vereinbarungen treffen und Umsetzung koordinieren
Eine vertrauensvolle Atmosphäre schaffen, bei der Fehler und Schwächen offen und fair behandelt werden. Unterstützung bei Überforderung anbieten
Feedbackrunden, Krisenmanagement, Ansprechpartner, Controlling, Evaluation
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13
Kapitel 13 · Systemisches Pflegemanagement mit wachsender Zukunftsunsicherheit
In einem zweiten Schritt kann in Kleingruppen ein Austausch stattfinden mit dem Ziel, Gemeinsamkeiten und Unterschiede festzustellen. Dies wird zurück ins Plenum getragen. Danach wird gesammelt, was dazu beigetragen hätte oder hat, einen Veränderungsprozess in einer Organisation bzw. Institution als nicht oder zumindest wenig bedrohlich zu erleben. 4 Eine erste Annäherung an eine systemische Betrachtung von Organisationen lässt sich erreichen, indem z. B. für eine Pflegeeinrichtung das Systemumfeld, System, Teilsysteme und Elemente benannt werden. In Arbeitsgruppen lassen sich die Aufgaben und die jeweils aneinander gerichteten Erwartungen erarbeiten. Im Plenum kann ein Strukturbild für das Gesamtsystem erstellt werden. 4 Auf der Grundlage der Abschnitte 13.2.2 und 13.2.3 lässt sich ein Rollenspiel durchführen, in dem eine Führungsperson mit der Leitung der Finanzabteilung und dem Betriebsrat über Einsparmöglichkeiten verhandeln. Die Vorbereitung wird in Kleingruppen durchgeführt. Dabei sind die Interessen der Beteiligten herauszuarbeiten und in einem weiteren Schritt zu prüfen,wie diese miteinander abgeglichen werden können. 4 Im Anschluss werden anhand des Strukturbildes erwünschte und unerwünschte Wirkungen einer Lösung auf Teilsysteme oder Elemente konstruiert.
3 Empfehlungen zum Weiterlernen
4 Dörner D (1989) Die Logik des Misslingens. Strategisches Denken in komplexen Situationen. Rowohlt, Reinbek b. Hamburg 4 König E, Volmer G (2000) Systemische Organisationsberatung – Grundlagen und Methoden. 7. Aufl. Deutscher Studien Verlag, Weinheim 4 Schulz von Thun F,Ruppel J,Stratmann R (2000) Miteinander reden: Stile, Kommunikationspsychologie für Führungskräfte. Rowohlt, Reinbek b. Hamburg 4 Senge P (1996) Die fünfte Disziplin. Kunst und Praxis der lernenden Organisation. Klett-Cotta, Stuttgart 4 Stagge C (1997) Mit der Gans über den Weihnachtsbraten reden! Über den erfolgreichen Um-
gang mit schwierigen Situationen bei Veränderungsprozessen in Organisationen. Materialien aus der Arbeitsgruppe Beratung und Training. Bd 6. Herausgegeben von A. Redlich. Universität Hamburg, Hamburg
Literatur Arnold, R (2000) Das Santiago Prinzip. Führung und Personalentwicklung im lernenden Unternehmen. Deutscher Wirtschaftsdienst, Köln Arnold R, Siebert H (1997) Konstruktivistische Erwachsenenbildung. 2. Aufl. Schneider, Hohengehren Arnold R, Schüßler I (1998) Wandel der Lern-Kulturen. Ideen und Bausteine für ein lebendiges Lernen.Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt Capra F (1996) Lebensnetz. Ein neues Verständnis der lebendigen Welt. Scherz, Bern München Wien Dörner D (1989) Die Logik des Misslingens. Strategisches Denken in komplexen Situationen. Rowohlt, Reinbek b. Hamburg Gomez P, Probst G (1999) Die Praxis des ganzheitlichen Problemlösens. 3. Aufl. Haupt, Bern Stuttgart Wien Kittner M (1999) Arbeits- und Sozialordnung. Ausgewählte und eingeleitete Gesetzestexte. 24. Aufl. Bund, Frankfurt a. M. König E, Volmer G (2000) Systemische Organisationsberatung – Grundlagen und Methoden. 7. Aufl. Deutscher Studienverlag, Weinheim Nagel K (1999) Praktische Unternehmensführung. Analysen – Instrumente – Methoden. Bd 1. Verlag Moderne Industrie, Landsberg 1999 Ogger G (1992) Nieten in Nadelstreifen. Deutschlands Manager im Zwielicht. Knaur, München ÖTV (Hrsg) (2001) Neues Entgeltsystem für Krankenhäuser. ÖTVHauptverwaltung, Stuttgart Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen (2000/2001) Bedarfsgerechtigkeit und Wirtschaftlichkeit. Bd 2: Qualitätsentwicklung in Medizin und Pflege. http://dip.bundestag.de/btd/14/056/1405661.pdf 18.07.01 Schulz von Thun F (1989) Miteinander reden, Bd 2. Stile,Werte und Persönlichkeitsentwicklung. Rowohlt, Reinbek b. Hamburg Schulz von Thun F (1999) Miteinander reden, Bd 3. Das »Innere Team« und situationsgerechte Kommunikation. Rowohlt, Reinbek b. Hamburg Schulz von Thun F,Ruppel J,Stratmann R (2000) Miteinander reden: Stile, Kommunikationspsychologie für Führungskräfte. Rowohlt, Reinbek b. Hamburg Schuster J, Carpenter J, Kane MP (1997) Open-Book Management – Die neue Dimension der Mitarbeiterführung.Verlag Moderne Industrie, Landsberg Senge P (1996) Die fünfte Disziplin.Kunst und Praxis der lernenden Organisation. Klett-Cotta, Stuttgart Senge P et al. (1996) Das Fieldbook zur Fünften Disziplin. KlettCotta, Stuttgart Siebert H (1996) Bildungsarbeit konstruktivistisch betrachtet.Verlag für Akademische Schriften, Frankfurt a. Main
317 13.3 · Die Strategien der lernenden Organisation
Simon M (2000/2001) Einführung eines Fallpauschalensystems. Teil 1–3. In: Pflegezeitschrift Heft 11/2000, 12/2000 und 01/2001 Stagge C (1997) Mit der Gans über den Weihnachtsbraten reden! Über den erfolgreichen Umgang mit schwierigen Situationen bei Veränderungsprozessen in Organisationen. In: Redlich A
13
(Hrsg) Materialien aus der Arbeitsgruppe Beratung und Training Bd 6. Universität Hamburg, Hamburg Vester F (1994) Denken, Lernen, Vergessen. 21. Aufl. dtv, München Volpert W (1974) Handlungsstrukturanalyse als Beitrag zur Qualifikationsforschung. Pahl-Rugenstein, Köln
14 Widersprüchliche Botschaften: Wie viel Gesundheitssoziologie brauchen Pflegepädagoginnen, Pflegeexpertinnen und Pflegende? Simone Kreher 14.1
Gesellschaftliche Erwartungen und Haltungen gegenüber der Soziologie 321
14.2
Interaktion mit Schwerkranken und Sterbenden (Grounded Theory)
322
14.3
Was heißt denn schon Gesundheit? (Wissenssoziologische Ansätze) 325
14.4
Pflege und Pflegende in den Netzwerken flexibler Gesellschaften (Gesellschaftstheoretische Konzepte) 328
320
Kapitel 14 · Widersprüchliche Botschaften
> Thesen
14
Als Soziologin in einer »fremden Welt« mit widersprüchlichen Botschaften leben? Als ich im Frühjahr 1999 begann, in der Welt der Pflege- und Gesundheitsexpertinnen, der Sozialmedizinerinnen, Gesundheitsökonomen, Gesundheitspsychologinnen und Gesundheitspädagoginnen zu arbeiten, befand ich mich recht schnell in einer paradoxen Situation: Einerseits erfuhr ich Akzeptanz und Anerkennung der Soziologie als Wissenschaft, die beispielsweise in zahlreichen empirischen Studien wichtige Erkenntnisse über Gesellschaft produziert, andererseits war da mehr oder weniger offen die Haltung im Raum, dass die Soziologie den harten betriebs- oder volkswirtschaftlicher Kennziffern nur schwerlich gewachsen sein dürfte. Einerseits gaben mir die Studierenden zu verstehen, dass sie es als bedeutsam erachten, Gesundheit und Krankheit nicht vereinfacht als biomedizinische Phänomene unter Zuhilfenahme des naturwissenschaftlichen Paradigmas zu begreifen. Andererseits sei es für sie eine nicht leicht zu erbringende Abstraktionsleistung, Gesundheit und Krankheit als historisch wandelbare, soziale Konstruktionen und sozialwissenschaftliche Begriffe zu sehen. Einerseits sei es in der Praxis mehr denn je erforderlich, ganzheitliche Pflege und salutogenetische Konzepte zu verfolgen, andererseits blieben solche Ideen regelmäßig auf der Strecke,wenn die widrigen Bedingungen des Arbeitsalltags in Pflege- und Gesundheitseinrichtungen es einfach nicht zuließen, nachhaltig salutogenetisch zu denken und zu handeln. Was nützen also soziologische Theorien,wenn die Lücke zwischen theoretischer Ausbildung und erlebter Alltagspraxis so unermesslich groß erscheint? Was bedeutet es, wenn die Gesundheitssoziologie selbst solche Dilemmata herausarbeitet und sie künftigen Pflege- und Gesundheitsexpertinnen in ihrer ganzen Schärfe ins Bewußtsein rückt? Gesundheitssoziologisches Wissen – das wird der Text exemplarisch zeigen – stärkt Pflegepädagoginnen,Pflegeexpertinnen und Pflegende in ihrer Professionalität,es macht sie wahrnehmungsfähiger, diskurs- und handlungsfähiger.
3 Berufliche Handlungskompetenzen 2
Fachkompetenz Mit Hilfe gesundheitssoziologischen Wissens soziale Phänomene (Strukturen, Handlungen und Prozesse) in ihrer Komplexität, Widersprüchlichkeit, Veränderlichkeit wahrnehmen, verstehen und darüber kommunizieren. Anteil an wichtigen gesellschaftstheoretischen, gesellschaftspolitischen und gesundheitspolitischen Diskursen nehmen. Auf der Basis gesundheitssoziologischen Wissens Gesundheit und Krankheit als historische, kulturell geprägte und soziale Konstruktionen erfassen. Gesundheitsbezogenes Handeln der zu Pflegenden als routinisiertes, habitualisiertes Alltagshandeln verstehen und Pflegehandeln als routinisiertes, professionelles Handeln sehen, dass jeweils nicht kurzfristig zu verändern ist.
2
Personalkompetenz Selbstreflexivität und Sensibilität durch gesundheitssoziologisches Wissen erhöhen. Sich selbst als Akteure begreifen, die als Experten an der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit teilhaben. Möglichkeiten zur Veränderung des eigenen Handelns entdecken und realistischer einschätzen. Die Lücke zwischen theoretischer Ausbildung und erlebter Alltagspraxis theoretisch fundiert reflektieren.
2
Sozialkompetenz Die Übernahme einer anderen Perspektive als Voraussetzung, um den professionellen und empathischen Umgang mit Patienten, den zu Pflegenden und ihren Angehörigen in schwierigen, mitunter prekären Lebenssituationen zu beherrschen.
321 14.1 · Gesellschaftliche Erwartungen und Haltungen gegenüber der Soziologie
3 Praxisrelevanz Gesundheitssoziologisches Wissen, sei es nun als theoretisches Wissen oder als empirisches Wissen, wird für Pflegepädagoginnen, Pflegeexpertinnen und Pflegende in der Regel nicht unmittelbar, sondern als Orientierungswissen über verschiedene Bereiche von Gesellschaft (insbesondere ihre Praxis- und Berufsfelder) und unterschiedliche Ebenen der Konstitution des Sozialen wirksam. Dabei wird Soziologie, auch Gesundheitssoziologie, nicht in dem Sinne praktisch, als sie unmittelbar und kurzfristig zur Veränderung des Handelns von Individuen (Patienten, Angehörige, Pflege- und Gesundheitsexpertinnen oder Medizinerinnen), Gruppen (Professionsgruppen und ihre Interessenvertretungen) Organisationen (Krankenhäuser, Krankenversicherungen) und Netzwerken führt. Gesundheitssoziologisches Wissen hilft Pflegepädagoginnen, soziales Handeln verschiedener Akteure deutend zu verstehen und soziale Strukturen analytisch zu durchdringen, um an der Entwicklung gegenstandsbezogener, empirisch fundierter Theorien mitzuarbeiten.
3 Verfahrensstruktur (. Abb. 14.1) 14.1
Gesellschaftliche Erwartungen und Haltungen gegenüber der Soziologie
bare Aussagen über soziale Tatbestände treffen. Sie soll, zweitens, gesellschaftliche Wirklichkeit aus deren objektiven Bedingungszusammenhängen erklären und in ihren subjektiven Handlungszusammenhängen verstehen. Und sie soll, drittens, zum Selbstverständnis und zur Orientierung gegenwärtiger Gesellschaften sowie ihrer wahrscheinlichen (oder gar wünschenswerten) Zukunft maßgeblich beitragen (Friedrichs et al. 1998, S 9).
Je nachdem, welche Erfahrungen mit der Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft gemacht wurden, dürften sich unter den Pflegepädagoginnen, akademisch gebildeten Pflegeexpertinnen und examinierten Pflegenden auch entsprechend Protagonistinnen, konstruktive Skeptikerinnen und Puristinnen finden. Die Protagonistinnen vertrauen auf die Erkenntnisfähigkeit, das qualifizierte Methodenrepertoire und die prognostischen Potenziale, die sich aus empirischen Studien und theoretischen Ansätzen der Gesellschaftsanalyse ergeben. Die konstruktiven Skeptikerinnen halten sozialwissenschaftliche Analysen gesellschaftlicher Entwicklungen prinzipiell für notwendig und möglich, stehen bislang erreichten Leistungen, den empirischen Verfahren und den theoretischen Erklärungsmodellen jedoch kritisch gegenüber.
Was rechtfertigt es, Soziologie als eine der Bezugsdisziplinen der Pflege- und Gesundheitswissenschaften zu verstehen? Es spricht einiges dafür,die widersprüchlichen Botschaften, die der Soziologie seitens der Pflege- und Gesundheitsexperten, aber auch von den Vertreterinnen anderer Wissenschaftsdisziplinen und Praktikern entgegengebracht werden, als speziellen Ausdruck der Erwartungen und Haltungen zu verstehen, die in unserer Gesellschaft in Bezug auf die Leistungsfähigkeit der Sozialwissenschaften existieren.
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Die Soziologie als Fachwissenschaft ist mit drei zentralen Erwartungen konfrontiert. Sie soll, erstens, wahrheitsfähige, d. h. prinzipiell empirisch überprüf-
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. Abb. 14.1. Verfahrensstruktur
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Kapitel 14 · Widersprüchliche Botschaften
Die Puristinnen dagegen halten soziologische Analysen und theoretische Interpretationen »wegen der Komplexität gesellschaftlicher Zusammenhänge und der historischen Kontingenz gesellschaftlicher Entwicklungen« prinzipiell für problematisch und »raten der Soziologie zu größerer Bescheidenheit« (Friedrichs et al. 1998, S 10). Die Leserinnen des Kapitels mögen an dieser Stelle selbst entscheiden, zu welcher Haltung oder Position sie neigen und am Ende des Textes noch einmal zu dieser Frage zurückkehren. Möglicherweise haben sie dann einige Denkanstöße erhalten, finden die eigene Haltung in Frage gestellt oder sehen sie bestätigt. Zu Beginn soll eine Arbeitsdefinition von Soziologie mit auf den Weg gegeben werden, die ein für Pflege- und Gesundheitsexpertinnen praktikables Vorverständnis der Soziologie als empirisch arbeitender, so genannter Wirklichkeitswissenschaft begründet.
Wichtig
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Soziologie als Wissenschaft untersucht soziales Handeln und soziale Beziehungen individueller und kollektiver Akteure unter angebbaren gesellschaftlichen Bedingungen (Meier 1988, S 1). Sie will soziales Handeln in seinem Ablauf und in seinem subjektiv gemeinten Sinn deutend verstehen (Weber 1980, S 1) sowie die Strukturen, in denen gehandelt wird und die durch Handeln erzeugt bzw. reproduziert werden, empirisch fundiert beschreiben können. Soziologie können wir zunächst als System allgemeiner, spezieller und bereichsspezifischer Theorien sehr unterschiedlicher Reichweite sowie als methodische Verfahrensweisen verschiedenster Provenienz mit ihren professionell und akademisch institutionalisierten Arbeitsformen verstehen. Sie ist besonders charakterisiert durch: 5 Theorien unterschiedlicher Reichweite 5 Mehr-Ebenen-Modelle zur Analyse von Gesellschaft 5 Dialektik von empirischem und theoretischem Wissen
5 Qualitative und quantitative Paradig-
men in der Forschung 5 Hypothesengenerierende und hypo-
thesenprüfende methodische Verfahren.
Pflegepädagoginnen und die von ihnen ausgebildeten Pflegenden und Pflegeexpertinnen – so meine Behauptung – müssen nicht selbst Soziologinnen sein oder werden, aber einige allgemeine soziologische und bereichsspezifische Ansätze relativ genau kennen. Und sie müssen kommunikationsfähig sein mit Wirtschafts-, Politik-, Kultur- und Sozialwissenschaftlerinnen sowie den medizinischen Professionen. In der Diskussion einiger Beispiele aus der Praxis der Pflegenden bzw. aus der gesundheitswissenschaftlichen Forschung zeigt sich, dass die ein für allemal gültig erscheinende Zuschreibung soziologischen Wissens zu dieser oder jener speziellen soziologischen Theorie oder Bindestrich-Soziologie nicht möglich ist. Vielmehr stehen bereichs- oder gegenstandsbezogene soziologische Theorien immer in einer dialektischen Beziehung zu den allgemeineren, formalen soziologischen Theorien; beide befruchten und durchdringen sich gegenseitig (Glaser u. Strauss 1974, S 252ff).
14.2
Interaktion mit Schwerkranken und Sterbenden (Grounded Theory)
Ilka Caspari (Mitte 20, gelernte Krankenschwester und Studierende im Diplomstudiengang Pflege und Gesundheit) erzählt im November 2000 über eine Situation, die sie während ihrer Ausbildung stark beeindruckt hatte: Beispiel »Ja und ich sah die Frau – weil die Bettwäsche war dann auch so weiß gewesen – und hab gedacht ‘Oh Gott was liegt da vor dir?’ Die Patientin lag im Koma. Eigentlich hatte sie mal Brustkrebs gehabt, aber die Metastasen sind ins Gehirn gegangen, was meistens beim Brustkrebs vorkommt. Ja und mein Mentor hat immer zu
323 14.2 · Interaktion mit Schwerkranken und Sterbenden (Grounded Theory)
mir gesagt:‘Ilka, wenn Du eine Patientin siehst, die Dir überhaupt nicht gefällt oder zusagt,oder sonst da was, dann pflege doppelt so gut!’ Das habe ich mir auch zu Herzen genommen und hab die Frau wirklich sehr intensiv gepflegt,weil sich kein anderer mehr dazu bereit erklärt hat, dahin zu gehen. Ich hab dann die Frau gepflegt mit meinem Mentor zusammen, war alles dann immer ganz schön und alles gemacht und ich kam dann eines Morgens dann wieder zum Frühdienst und es hieß:‘Die Patientin ist wach!’ So, jetzt war es wieder ein neues Gefühl für mich, ich kannte die Frau ja nun schon, aber nur schlafend.Diese Frau war gar nicht verkabelt.Es wurde dreimal täglich Blutdruck gemessen, man hat nach der Atmung gesehen, wenn man ins Zimmer kam. Der Brustkorb senkte sich und hob sich, sie bekam jeden Tag Blut abgenommen, und es war auch so, es war jedem klar gewesen, dass sie stirbt. Also hat man gesagt, ehe wir jetzt überall Kabel anlegen und sonst was machen,lassen wir sie in Ruhe damit,weil es sowieso nichts bringt und sorgen lieber für eine andere Atmosphäre, also für eine bessere Atmosphäre. Es war ein wunderschöner Frühling gewesen,die Vögel zwitscherten schon,die Einzelzimmer hatten auch Balkons gehabt und so haben wir dann auch mal den Balkon aufgemacht, dass die Luft da rein kam. Auf jeden Fall kam ich dann zu ihr, hab sie dann begrüßt wie jeden Morgen, also ich hab immer mit ihr gesprochen auch als sie ‘schlief’ und da hat sie zu mir gesagt, sie hat fast alles mitbekommen, sie fand es auch schön, wie ich ihr gegenüber aufgetreten bin und das war ein Donnerstag im Frühdienst. Dann kam ich am nächsten Tag hin und die Schwester,ich hatte Spätdienst gehabt, die Schwester aus dem Frühdienst meinte, die Patientin sei wieder ins Koma gefallen. Dann hab ich – und mein Mentor meinte auch zu mir: ‘Mensch Ilka sei vorsichtig,wenn Du ins Zimmer kommst, sie sieht sehr, sehr schlecht aus!’ Und am gleichen Tag am Abend ist sie dann auch verstorben. Also sie wusste, dass sie stirbt und hat sich noch mal bei mir bedankt. Und das war für mich so’n Erlebnis gewesen,das ich mein Leben lang nicht vergesse und weshalb ich es liebe, Krankenschwester geworden zu sein.«
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Diese Arbeitssituation, die Ilka Caspari als Auszubildende außerordentlich beeindruckte, die für die Pflege Schwerstkranker jedoch eher alltäglich erscheint, kann auf der Grundlage gesundheitssoziologischen Wissens analysiert, reflektiert und theoretisch beschrieben werden. Eines der faszinierendsten und inzwischen schon klassischen Konzepte zu diesem Thema wurde von Anselm L. Strauss und Barney G. Glaser im Jahre 1965 veröffentlicht. Es behandelt die Kontexte des Wahrnehmens, die sie bei Patienten, Krankenhauspersonal und Angehörigen während des Sterbeprozesses in amerikanischen Krankenhäusern entwickelt haben:
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Was jeder Interagierende über einen bestimmten Zustand des Patienten weiß, sowie sein Wissen darum, dass die anderen sich dessen bewusst sind, was er weiß – also das Gesamtbild, wie ein Soziologe es zeichnen würde –, werden wir Bewusstheits-Kontext nennen. Es ist der Bereich, in dem diese Menschen interagieren während sie ihn ständig beobachten. Der Kontext ist komplex und kann sich im Lauf der Zeit verändern, vor allem, wenn der Zustand des Patienten sich verschlechtert und wenn der Todkranke mehr oder minder deutliche Hinweise versteht (Glaser u. Strauss 1974, S 16f).
Dynamik und strukturelle Bedingungen der Interaktion mit Sterbenden werden von Glaser und Strauss analysiert und den entsprechenden Kontexten des Wahrnehmens zugeordnet: 4 »Geschlossene Bewusstheit – der Patient ist ahnungslos; 4 argwöhnische Bewusstheit – der Patient verfolgt einen Verdacht; 4 Bewusstheit der wechselseitigen Täuschung – alle Beteiligten wissen Bescheid, gestehen es aber nicht ein; 4 offene Bewusstheit – der Patient kennt seinen Zustand und gibt es zu« (Glaser u. Strauss 1974, S 17f). In unserem Beispiel weiß Ilka Caspari ebenso wie ihre Kolleginnen und Kollegen, dass die von ihr zu
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Kapitel 14 · Widersprüchliche Botschaften
pflegende Patientin sterben wird und auch die Patientin selbst kennt ihren Zustand. Welche ihrer pflegerischen Handlungen die Patientin wahrgenommen hat, konnte sie jedoch von vornherein ebenso wenig wissen, wie zu welchem Zeitpunkt und inwiefern sich der Zustand der Patientin und deren Kontext des Wahrnehmens im Sinne von Glaser und Strauss verändert hatte oder noch verändern würde. Mit Hilfe der Theorie der Bewusstheits-Kontexte hätte Ilka Caspari ihr Handeln als Pflegende und die gesamte Interaktionssituation theoretisch reflektieren können. Aufgrund dieses analytischen Verständnisses,und entlastet vom Handlungsdruck in der Situation selbst, könnten Perspektivenübernahme und Empathie der am Pflegeprozess beteiligten Fachkräfte jenseits von Mitleid und Betroffenheit auf neuer Ebene erlangt werden. In unserem Beispiel agieren alle Beteiligten– wenn auch professionell und moralisch unterschiedlich zu bewerten – unbewusst in einem offenen Bewusstheits-Kontext. Nach der Lektüre des Buches von Glaser und Strauss argumentieren Studierende zumeist, dass Situationen des Sterbens wohl in der amerikanischen Gesellschaft zu dieser Zeit besonders tabuisiert gewesen seien. Die heute in Deutschland anzutreffenden Zustände stellten sich jedoch völlig anders dar; wir seien in der Regel mit offener Bewusstheit konfrontiert. Dreierlei macht mich da skeptisch: 4 1. Nachfragen an ausgebildete Pflegekräfte und Medizinerinnen, ob ihnen diese Konzepte in ihrem Arbeitsalltag jemals begegnet seien, laufen regelmäßig ins Leere.Vielmehr scheint auch die Besprechung so diffiziler Interaktionssituationen von allen Beteiligten eher vermieden zu werden.Pflegekräfte fühlen sich zudem von der (mitunter selbst) zugeschriebenen Alleinverantwortung für die Gestaltung des Interaktionsrahmens in Sterbesituationen oftmals außerordentlich stark belastet. 4 2. Es sind mir keinerlei Forschungen über die Struktur und Dynamik von Sterbesituationen in Deutschland bekannt. Es muss also offen bleiben,inwiefern und in welchem Ausmaß alle Bewusstheits-Kontexte empirisch tatsächlich auffindbar sind und welche Unterschiede es hier zur Situation in Amerika gibt.
4 3. Solange Ärztinnen Patientinnen zwar gern in Hospize »überweisen« würden,es ihnen jedoch äußerst schwer fällt, die Ziele dieser Einrichtungen offen zu legen, scheinen wir von einer Enttabuisierung des Sterbens und von der Chance, den Stil des Sterbens ebenso frei zu wählen wie den individuellen Lebensstil, noch weit entfernt. Die Leistungsfähigkeit des analytischen Konzeptes über Bewusstheits-Kontexte als strukturelle Bedingungen von Interaktionssituationen beschränkt sich zum einen nicht auf die Interaktion von Pflegenden mit den zu Pflegenden, sondern schließt andere Kolleginnen im Team, das medizinische Personal, andere Patienten sowie die Angehörigen mit in die umfassende Analyse und Gestaltung der Interaktionssituation ein. Zum anderen bleibt diese soziologische Theorie nicht auf die Sterbesituation beschränkt, sondern ist »in der ganzen Breite der sozialen Interaktion anzutreffen« und kann demnach von einer bereichsspezifischen zu einer systematischen formalen (oder generellen) Theorie der BewusstheitsKontexte fortentwickelt werden (Glaser u. Strauss 1974, S 254). Barney G. Glaser und Anselm L. Strauss selbst weisen darauf hin,dass ihr Paradigma dazu zwingt, »zwei wesentliche Eigenschaften der Interaktion zu beachten, die meist nicht ausreichend erfasst werden: Die eine ist der Entwicklungscharakter der Interaktion. Die zweite berührt den Bereich der sozialen Struktur, in dem die Interaktion stattfindet« (Glaser u. Strauss 1974, S 261). Gerade das macht solche soziologischen Ansätze für Pflegefachkräfte und Pflegeexpertinnen so bedeutsam und so fruchtbar. Sie erfahren doch tagtäglich,
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dass die Behandlung von Krankheit unter dem Blickwinkel der medizinischen Wissenschaft alle Anteile des Erlebens von Kranksein und Gesundwerden sowie die Begleitung und Unterstützung in der Auseinandersetzung mit Krankheit und Leiden nur unzureichend berücksichtigt (Sieger 2001, S 16).
Begreifen sie sich selbst als Gestalterinnen gesellschaftlicher Wirklichkeit, dann bieten solche inter-
325 14.3 · Was heißt denn schon Gesundheit? (Wissenssoziologische Ansätze)
aktionstheoretischen Konzepte nicht nur Chancen zu theoretischer Reflexion, sondern auch für Veränderungen im Pflegeprozess und Arbeitsalltag selbst.
14.3
Was heißt denn schon Gesundheit? (Wissenssoziologische Ansätze)
Beispiel Gesundsein und Gesundbleiben in einer »müden Gemeinschaft« (Lazarsfeld 1975). Es ist der 10.04.2001 gegen 10.30 Uhr. Das Wetter ist nicht schlecht, es regnet nicht, ab und zu scheint die Sonne,allerdings geht bei einer Temperatur so um die 8 Grad Celsius ein frischer Wind.Zwei Studierende des Studienganges Pflege und Gesundheit beobachten im Rahmen eines studentischen Forschungsprojektes zur betrieblichen Gesundheitsförderung eine Gruppe von sechs Personen, drei Männer und drei Frauen, die mit dem Aufschichten einer Trockenmauer aus Natursteinen auf einem alten Friedhof in einem kleinen Dorf beschäftigt sind. Mit einem Jutesack und einer Eisenstange als Hilfsmittel transportieren, d. h. schleifen, rollen und heben sie Feldsteine,die auf dem angrenzenden Areal liegen,auf die bereits 50 cm hohe Trockenmauer. Die Männer plagen sich mit den großen Steinen ab, die schon einmal ein bis zwei Zentner wiegen können,und die Frauen füllen die Innenräume der Mauer mit kleineren Steinen, die schätzungsweise zwischen 5 und 12 kg wiegen. Wenn alle vom »Steine hucken« ermüdet sind oder es zu stark regnet,ziehen sie sich in ihren alten Bauwagen zurück, essen die mitgebrachten Brote, den Rest Braten vom Wochenende oder einen Kassler vom Imbiss,trinken Tee und Kaffee aus ihren Thermoskannen und rauchen viel. Es wird gescherzt, auch viel über Privates und die katastrophale Arbeitsmarktsituation sowie die Tagespolitik geredet.Alle pflegen einen vertrauten Umgang miteinander, scheinen sich schon aus der frühesten Kindheit zu kennen. Eine der drei arbeitenden Frauen ist Frau Friedrichshof, ca. 37 Jahre alt und Mutter von vier
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Kindern. Sie hat in einem Thüringischen Großbetrieb Facharbeiterin für Feinoptik gelernt und begann danach zu studieren. (Alle Namen und Orte, die Rückschlüsse auf die Identität der Personen zulassen könnten,sind,wie in der qualitativen Sozialforschung üblich, maskiert). Als sie mit 18 Jahren schwanger wurde,ging sie zurück in ihre Heimat und arbeitete in einer Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG) als Sekretärin. Nach der Wende absolvierte sie eine Ausbildung zur Fachfrau für Bürokommunikation und war zuletzt im Nebenjob Busfahrerin für eine soziale Einrichtung. Nach 5 Jahren Arbeitslosigkeit erhält sie eine ABM-Stelle in einer Beschäftigungsgesellschaft des Garten- und Landschaftsbaus.Alle hier Beschäftigten wissen, sie dürfen nicht zu langsam arbeiten, die Fortschritte müssen für die Firma, den Projektleiter und die Dorfbewohner, die gelegentlich schon mal mit dem Fernglas auf sie schauen und vermeintlich zu lange Pausenzeiten monieren, sichtbar sein.Viel schwerer ist es jedoch nicht zu schnell zu arbeiten, um sich den Rücken, die Hände und sämtliche Gelenke nicht zu verletzen.
Stilisierung einer urbanen, arbeitszentrierten, genuss- und gesundheitsbezogenen Lebensform Es ist Dienstag,der 17.April 2001 so gegen 13.30 Uhr in Düsseldorf. Draußen regnet es in Strömen, es ist grau in grau. Soeben haben alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eines kleinen Institutes, das auf dem Gebiet der Arbeitsmarktforschung tätig ist, gemeinsam zu Mittag gegessen. Es gab Salat, eine Gemüse-Quiche, Brot,Wasser,Tee und Kaffee. Maria Clessens,eine Frau um die Vierzig,promovierte Sozialwissenschaftlerin – verheiratet und ohne Kinder – schließt ihre sonst immer offen stehende Bürotür,rollt eine Schlafmatte aus und hält für 20 Minuten Mittagsruhe. Obgleich das geschäftige Treiben in den Institutsräumen draußen nicht für einen Augenblick unterbrochen wird, die Kolleginnen und Kollegen hektisch weiterarbeiten, telefonieren und die Tastaturen ihrer Computer bearbeiten, versucht sie, dem Stress zu entkommen und für einige Au-
326
Kapitel 14 · Widersprüchliche Botschaften
genblicke zu entspannen. Gelernt hat sie diese Techniken in ihrem wöchentlichen Yogakurs und in einem kürzlich besuchten Seminar zum Zeitmanagement.
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Kontrastreicher als in diesem Auszug aus dem Beobachtungsprotokoll von Susanne Finck und Alexandra Rappolt (Studierende aus einem Projekt über betriebliche Gesundheitsförderung auf dem 2. Arbeitsmarkt, FH Neubrandenburg 2000) und meiner dichten Beschreibung der Mittagspause einer mit mir befreundeten Sozialwissenschaftlerin können sich Gesundheit und Gesundheitsvorstellungen kaum darbieten. Helga Friedrichshof kann auf ihren Körper und ihre Gesundheit relativ wenig Rücksicht nehmen. Ihre Familie ist auf das Einkommen aus der ABMTätigkeit angewiesen und sie war zunächst glücklich, überhaupt eine Tätigkeit gefunden zu haben. Die schwere körperliche Arbeit unter herbstlichen Witterungsverhältnissen führte zu andauernden Rückenschmerzen und Erkältungskrankheiten, bis sie im Dezember 2000 mit Herzbeschwerden ins Krankenhaus kam. Dennoch ist ihr der Führerschein ihres ältesten Sohnes – in einer strukturschwachen Region Mecklenburgs essentielle Voraussetzung für Chancen/Mobilität auf dem desolaten Arbeitsmarkt – wichtiger, als der Schaden, den ihre ‘angeknackste’ Wirbelsäule mit ihren abgenutzten Bandscheiben beim Bau der Trockenmauer nehmen könnte. Maria Clessens, die ihre inhaltlich befriedigende, sinnstiftende und selbstbestimmte Tätigkeit als Lebensinhalt begreift, die sich mit Yoga entspannt, genussvoll isst, mit Feng Shui Energie zu tanken versucht,praktiziert eine Lebensform,die sich nicht nur infolge ihrer Qualifikation und regionaler Disparitäten in der Lebensführung sehr deutlich von der Helga Friedrichshofs unterscheidet.Weder für die arbeitszentrierte, genuss- und gesundheitsbezogene, großstädtische Lebensform der Akademikerin noch für Wellness, Styling oder Bodycare, wie es uns bestimmte Hochglanzmagazine als Garantie für eine erfolgreiche Karriere empfehlen, gibt es in der Lebenswelt von Frau Friedrichshof anschlussfähige kulturelle Traditionen und Handlungsmuster.
Ihre Gesundheitsvorstellungen sind geprägt von der Alltagswirklichkeit, in einer strukturschwachen, ländlichen Region von MecklenburgVorpommern mit steigender Arbeitslosigkeit und sinkender Kaufkraft, die wiederum neue Arbeitslosigkeit erzeugt. Dabei entspricht auch die körperlich schwere Arbeit des Steineaufschichtens, der Entwilderung von Grünanlagen und des Wegebaus keineswegs ihrem ursprünglichen Lebensentwurf, etwa der Prüfung eines neu entwickelten Bauteiles mit geschultem Blick durchs Mikroskop und der Arbeit mit sensibler Hand, wie sie es aus der Forschungsabteilung des optischen Großbetriebes gewöhnt war. Vielmehr sorgt sie sich um ihre Gesundheit, indem sie den unmittelbaren Gefahren ihres Arbeitsalltags (sich nicht die Hände zwischen den Steinen zu quetschen, die Füße vor herunterfallenden Brocken zu schützen, sich beim Bücken und Heben nicht zu verheben) zu entkommen sucht,um weiter arbeitsfähig zu bleiben und die ökonomische Existenz ihrer Familie mit den vier Kindern zu sichern. Ihre Gesundheitsvorstellungen beziehen sich ganz unmittelbar darauf, überhaupt eine Arbeit zu haben, um die latenten, identitätsstützenden und gesunderhaltenden Funktionen von Arbeit (Jahoda zitiert nach Fleck 1994, S 31) zu erfahren, nicht arbeitslos und in der Identität und materiellen Existenz bedroht zu sein. Für protektives und selbstreflexives Gesundheitshandeln scheint in ihrem Leben kein Platz zu sein. Beobachtungsprotokolle oder dichte Beschreibungen als Protokolle von Interaktionssituationen ermöglichen nicht nur Analysen von subjektiven Theorien und Laienvorstellungen von Gesundheit, sondern auch die Analyse und Rekonstruktion sozialen Handelns, sowohl des Handelns in der Alltagspraxis – hier als Arbeiten in einer mehr oder weniger gesundheitsgefährdenden Arbeitswelt – als auch als gesundheitsbezogenes kommunikatives Handeln – hier im Sprechen über eingeschliffene, routinisierte und habitualisierte Praktiken der Lebensführung. Gesundheit (und Krankheit) nur als Zustand einer Person zu begreifen, geht nicht erst seit Antonovskys Konzept der Salutogenese (1997) fehl, wie an diesen Beispielen sehr deutlich wird.Gesundheit
327 14.3 · Was heißt denn schon Gesundheit? (Wissenssoziologische Ansätze)
auch als Ressource, als Potenzial, Prozess (BelzMerk 1995) oder soziale Konstruktion zu verstehen, trifft die Sache schon eher, ist jedoch aus soziologischer Sicht in jedem Fall durch empirische Analysen zu fundieren. Pflegepädagoginnen und die von ihnen ausgebildeten Pflegenden und Pflegeexpertinnen leisten dazu einen entscheidenden Beitrag. Sie benötigen dafür ein sozialwissenschaftlich fundiertes, theoretisches Wissen, d. h. Expertinnenwissen über Krankheit, Gesundheit, Leiblichkeit oder den Körper, das über Alltagswissen (insbesondere auch über normative Gang-und-Gäbe-Vorstellungen) hinausgeht.Es muss sowohl über das Alltagswissen von (informierten) Laien als auch über das Alltagswissen, das Soziologinnen über Krankheit und Gesundheit haben, hinausreichen. Dabei kommt es also darauf an, historisch konkret zu rekonstruieren (d. h. auch kulturell geprägt sowie geschlechts- und milieuspezifisch), wie Gesundheit – dieses als so selbstverständlich hingenommene, oft nur implizit thematisierte und dennoch so fragile Phänomen (Fischer-Rosenthal 1996, S 153f) – im Prozess der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit »hergestellt« wird. Was Gesundheit oder Krankheit für einen Menschen, für eine Familie oder eine Gesellschaft bedeutet, kann nicht vorab theoretisch entschieden werden, sondern muss durch empirisches Wissen aus quantitativen oder qualitativen Forschungen begründet werden. Da wir momentan weder über eine in der scientific community der Gesundheitswissenschaftlerinnen und Soziologinnen allgemein akzeptierte Definition von Gesundheit verfügen, noch Gesundheitssoziologie als Begriff etabliert ist (Hurrelmann 2000, S 8), möchte ich die folgende wissenssoziologisch fundierte Definition vorschlagen: Wichtig Gesundheitssoziologie hat alles das zu untersuchen,was in einer Gesellschaft als »Gesundheit« gilt.
Eine solche wissenssoziologische Definition von Gesundheit schließt alle Ebenen der Analyse von Gesellschaft ein.Von hier aus lassen sich sowohl struk-
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turelle, institutionelle und subjektbezogene Perspektiven einnehmen als auch handlungsbezogene, kognitive und emotionale Prozesse untersuchen. Gesundheitssoziologie mit ihrer disziplinären Perspektive kann so – wie Bernhard Badura und Petra Strodtholz (1993/1998) es vorschlagen – in ein interdisziplinäres Konzept von Gesundheitswissenschaften integriert werden. Diese Arbeitsdefinition von Gesundheitssoziologie knüpft an die für die Soziologie sehr bedeutsame wissenssoziologische Konzeption von Peter L. Berger und Thomas Luckmann (1969) an. Beide unterscheiden hier Wissen in dem großen Bereich des Alltagswissens, des »vortheoretischen, werktätigen Wissens« und dem des theoretischen Wissens, der »Ideen« und »Weltanschauungen«:
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Theoretische Gedanken,‘Ideen’, Weltanschauungen, sind so wichtig nicht in der Gesellschaft. Obwohl auch diese Phänomene in sie hineingehören, sind sie doch nur ein Teil dessen, was ‘Wissen’ ist. Nur ein begrenzter Kreis von Leuten ist zum Theoretisieren berufen, zum Geschäft mit ‘Ideen’ bestellt, zur Fabrikation von Weltanschauungen. Aber jedermann in der Gesellschaft hat so oder so Teil an Wissen […] Allerweltswissen, nicht ‘Ideen’, gebührt das Hauptinteresse der Wissenssoziologie, denn dieses ‘Wissen’ eben bildet die Bedeutungsund Sinnstruktur, ohne die es keine menschliche Gesellschaft gäbe (Berger u. Luckmann 1969, S 16).
Alltagswissen oder Allerweltswissen – so behaupten Berger und Luckmann – bildet den weitaus größeren und bedeutsameren Teil des Wissensvorrats der Menschheit. Unsere Vorstellungen über Krankheit und Gesundheit gehören zunächst auch zu diesem tief in der Wirklichkeit unserer Alltagswelt verwurzelten und »gewissen« Alltagswissen,das von uns in der Regel als gesichert und bewährt erlebt wird. Darüber hinaus bezieht sich die von mir vorgeschlagene Arbeitsdefinition auf die von Herbert Blumer formulierten »theoretischen Prämissen des symbolischen Interaktionismus«, der wiederum das Denken von Berger und Luckmann stark beeinflusste:
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Kapitel 14 · Widersprüchliche Botschaften
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Die erste Prämisse besagt, dass Menschen ‘Dingen’ gegenüber auf der Grundlage der Bedeutungen handeln, die diese Dinge für sie besitzen. Die zweite Prämisse besagt, dass die Bedeutung solcher Dinge aus der sozialen Interaktion, die man mit seinen Mitmenschen eingeht, abgeleitet ist oder aus ihr entsteht. Die dritte Prämisse besagt, dass diese Bedeutungen in einem interpretativen Prozeß, den die Person in ihrer Auseinandersetzung
erarbeiten und diese »Phänomene«, die im weitesten Sinne auch »Arbeitsgegenstände« für sie darstellen, in ihrer Historizität, in ihrer Widersprüchlichkeit und Veränderlichkeit erfassen. Methodisch anschlussfähig sind hier vor allem die qualitativen Forschungsstrategien (Strauss 1991), die sich dem Fallverstehen verpflichten (Hildenbrand 1983), mit offenen Interviewformen und text- oder diskursanalytischen Verfahren (FischerRosenthal 1996) sowie mit ethnographischen Ansätzen (Hirschauer 1996) arbeiten.
mit den ihr begegnenden Dingen benutzt, gehandhabt und abgeändert werden (Blumer 1973, S 81, Hervorhebungen der Verf.). Unter ‘Dingen’ wird hier alles gefaßt, was der Mensch in seiner Welt wahrzunehmen vermag – physische Gegenstände wie Bäume
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Pflege und Pflegende in den Netzwerken flexibler Gesellschaften (Gesellschaftstheoretische Konzepte)
oder Stühle; andere Menschen … Institutionen … Leitideale … Handlungen anderer Personen und solche Situationen, wie sie dem Individuum in seinem täglichen Leben begegnen (Blumer 1973, S 80).
Ich behaupte nun, diese Prämissen gelten auch für gesundheitsbezogenes soziales Handeln: Wichtig 5 Allgemein formuliert, handeln Men-
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schen gesundheitsbezogen auf der Grundlage der Bedeutungen, die Gesundheit als soziale Konstruktion (mit kognitiven, emotionalen und handlungsbezogenen Momenten) für sie hat. 5 Gesundheit erhält ihre Bedeutung aus der Interaktion und Kommunikation mit Mitmenschen. 5 Bedeutungen – auch die von Gesundheit – werden in einem interpretativen Prozess je nach Situation wahrgenommen, gehandhabt und verändert.
Pflegepädagoginnen, Pflege- und Gesundheitsexpertinnen können sich auf der Grundlage dieser theoretischen Ansätze Expertinnenwissen über Gesundheit und Krankheit, Körper und Leiblichkeit
Nicole Lauterbach (26 Jahre, gelernte Krankenschwester und Studierende im Diplomstudiengang Pflege und Gesundheit) erzählt über ihre erste Arbeitsstelle nach Beendigung ihrer Ausbildung: Beispiel »Ich kam rein in das Zimmer, es war ein Einzelzimmer, da war ein riesengroßes Pflegebett im Zimmer, das hatte ich noch nie gesehen irgend so ein ganz tolles, ganz besonderes Modell, da lag ein junger Mann drin, 29 Jahre alt. Total abgemagert, Rastalocken bis zum Po. Ringsrum sah es aus wie – kann ich nicht beschreiben – unaufgeräumt, schmuddelig nun einmal. Und da saß er drinnen und meinte:‘Hi ich bin Micha und wer bist Du?’ – ‘Ja Hallo ich bin die Nicole!’ Hin und her überlegt und es war ein sehr eigenwilliger Patient und an den mussten wir uns erst gewöhnen, denke ich mir einfach. Es war total Klasse, er hatte dann auch immer sehr eigenartige Vorlieben, würd’ich sagen, gehabt. Er hatte durchaus Drogen mit im Bett und durfte das auch.War halt voll im Endstadium der Aidserkrankung; ist daran auch verstorben. … Nee, nee er hatte auch noch nen Freund, der hat ihn auch mal besucht und ansonsten auch also Pizzadienst und seine Freunde, das ging alles ein und aus.
329 14.4 · Pflege und Pflegende in den Netzwerken flexibler Gesellschaften
Das war schon irgendwo ein Lernprozess denke ich mir gegenüber der Ausbildung, also ich bin gleich nach der Ausbildung dahin gekommen. Das erst mal so zu verarbeiten, dass so was halt auch geht, dass so was halt auch Pflege sein kann. Dass halt der Nachttisch aussehen darf, wie er das möchte,und dass man da nicht jeden Tag Staub wischen muss, sondern er kann da mit seinem Tee rummatschen und seine Milch da auskippen und ab und zu dann mal naja ‘Micha meinst du nicht – können wir da nicht doch mal putzen?’ Wir machen denn doch mal was.«
In diesem Beispiel wird sehr deutlich, dass eine so eben ausgebildete Krankenschwester mit ihrer professionellen Identität gefordert ist. Unmittelbar nach der Ausbildung trifft sie auf ein unübliches Pflegebett, das sie vorher noch nie gesehen hat, auf einen Patienten, der nur wenig älter ist als sie selbst und nicht ihren Erfahrungen mit Schwerkranken entspricht und schließlich auf eine für sie ungewohnte Pflegesituation, mit der sie sich erst einmal auseinander setzen muss. Sie wird mit den Gebräuchen des gesellschaftlichem Umgang mit Aids konfrontiert und mit allen sozialen Zuschreibungen,die den medialen Diskurs um die Immunschwäche prägen, die ihre eigenen Erfahrungen aus dem Alltags- und Berufsleben offensichtlich teilweise stützen, ihnen aber partiell auch widersprechen. Das Beispiel zeigt auch, dass für Nicole Lauterbach in dieser Situation über ihren Erfahrungshorizont hinausgehende Fragen im Raum stehen, die mit gesellschaftlichen Entwicklungen allgemeiner Art und demnach mit gesellschaftstheoretischen Problemen und soziologischen Erklärungsansätzen zusammenhängen: 4 1. Welchen Umgang, welche Versorgungsleistungen und welche Art von Pflege sehen moderne Gesellschaften im Falle sterbender AidsPatienten als angemessen an,was sind sie in der Lage zu leisten und wie kann ein gesellschaftlicher Konsens darüber gebildet werden? Bleibt ein einmal gefundener Konsens erhalten oder wird er in Krisenzeiten knapper Kassen, in Zeiten wirtschaftlicher Rezession sehr schnell wieder in Frage gestellt?
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4 2. Welche Netzwerke sozialer Beziehungen stehen Schwerkranken zur Erhaltung ihrer Lebensqualität und Wahrung der menschlichen Würde zur Verfügung? Halten transgenerationale, familiäre Beziehungen hier, was sie versprechen? Weshalb besuchen Eltern ihren erkrankten Sohn nicht? 4 3. Welche theoretischen Vorstellungen, welche Bilder von Aids, Drogen und Sexualität existieren in unserer Gesellschaft, die scheinbar ‘zwangsläufig’ zu Stigmatisierung, Diskriminierung und Ausgrenzung führen? Was kann und muss professionelle Pflege oder Gesundheitspolitik hier tun? Welche Konzepte und Modelle von Pflege als kultureller Leistung sind hier vonnöten? Wo zeigen sich Grenzen gesellschaftlicher Intervention? Zweifellos handelt es sich um Fragen, die Nicole Lauterbach in der Situation selbst kaum zu formulieren wagt, die sich ihr bei genauer Reflexion ihrer Erzählung jedoch stellen würden. Um diesen Fragen nicht ausweichen zu müssen, sich ihnen stellen zu können und die gesellschaftlichen Konstruktions-, Normierungs- und Zuschreibungsprozesse zu verstehen, konfrontieren sich Pflegepädagoginnen, Pflegeexpertinnen und Pflegende mit Fragen des sozialen Wandels, der Veränderung der Lebensverhältnisse. Dazu benötigen sie einen Zugang zu gesellschaftstheoretischen Modellen, die gesellschaftliche Veränderungen als komplex und in sich widersprüchlich begreifbar machen. Sie benötigen dazu soziologische Theorien, die gesellschaftliche Entwicklungen, seien sie nun globaler oder regionaler Art, nicht als stetige, lineare, durch deterministische oder einfache Kausalzusammenhänge geprägte Entwicklungen, darstellen. Nur so können Veränderungen, die das eigene Berufsfeld betreffen, leichter interpretiert und verstanden werden. Die Ambivalenzen, die widersprüchlichen Anforderungen des eigenen Handelns, können wahrgenommen und Interessenkonflikte mit anderen Akteursgruppen gedeutet werden. Beispielsweise sind Pflegepädagoginnen, Pflegeexpertinnen und Pflegende in dreifacher Weise von dem betroffen, was in der sozialwissenschaftlichen Fachdiskussion seit nunmehr etwa drei Jahr-
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Kapitel 14 · Widersprüchliche Botschaften
zehnten mit den Thesen von der Individualisierung und Flexibilisierung der Lebensverhältnisse (Beck 1997, Sennett 1998) beschrieben wird: 4 1. Vom Übergang von einer vorhersehbaren lebenslangen Berufslaufbahn hin zu kurzfristigeren, flexiblen Arbeitsverhältnissen und Jobs in der eigenen Arbeitswelt und den daraus erforderlichen Veränderungen des Berufs- und Lebensentwurfs. 4 2. In wachsendem Ausmaß von der Prekarisierung (Einsatz sogenannter ungeschützter Arbeitsverhältnisse wie Leiharbeit, befristete Verträge) der eigenen Arbeitsverhältnisse. Diese stehen im Widerspruch zum Anspruch einer auf den ganzen Menschen ausgerichteten Pflege und den Erhalt oder die Wiederherstellung seiner Autonomie, die ihrerseits auf dem erst langfristig entstehenden gegenseitigen Vertrauen in emotionale und pflegefachliche Kompetenzen beruhen. 4 3. Sie treffen auf Patientinnen und Klientinnen, die selbst unter anderen gesellschaftlichen Verhältnissen gelebt haben und auf Generationenverhältnisse vertraut haben, die längst nicht mehr gegeben sind im Zuge der Veränderung familiärer Netzwerke; mit Patientinnen und Klientinnen,die die Veränderungen in ihrer Alltagswirklichkeit kaum noch für sich deuten können, selbst wenn sie bei guter Gesundheit sind.
14
Gerade diese Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen, die biographisch und historisch verschiedene Erfahrungsaufschichtung der Pflegepädagoginnen, Pflegeexpertinnen und Pflegenden einerseits und der zu Pflegenden, der Patientinnen und Klientinnen andererseits, die sowohl durch langlebige kulturelle Muster als auch durch sehr kurzfristige gesellschaftliche Veränderungen, plötzliche Krisen und Brüche geprägt sind, erschweren die Kommunikation zwischen beiden Gruppen, erfordern sie jedoch zugleich. Richard Sennett beschreibt in seinem Buch »Der flexible Mensch.Die Kultur des neuen Kapitalismus« einen Übergang von einer eher langfristigen, auf Kontinuität angelegten Ordnung hin zu kurzfristigen, flexiblen Zeiten. Die etwa 30 Jahre andauernde Spanne der »stabilen Vergangenheit« mit wirtschaftlicher Ent-
wicklung,großen Unternehmen und Garantien des Wohlfahrtsstaates nach dem Zweiten Weltkrieg würde nun abgelöst werden von einem »neuen Regime der kurzfristigen Zeit«, das begleitet »ist von einem Wandel der modernen Unternehmensstruktur« (Sennett 1998, S 26). Auch die Unternehmen und Einrichtungen des Gesundheitswesens versuchen in diesem Zuge, Bürokratien abzubauen und flexiblere Organisationen mit netzwerkartigen, wandlungsfähigen Strukturen zu werden. Das hatte nach Sennetts Auffassung nachhaltige Wirkungen auf das Arbeits- und Gefühlsleben der Menschen. Zumeist wird angenommen, dass mit dem Wandel hin zu modernen institutionellen Netzwerken, die gerade »durch die Stärke schwacher Bindungen gekennzeichnet« seien, starke soziale Bindungen an Bedeutung verlieren würden und »flüchtige Formen von Gemeinsamkeit den Menschen nützlicher seien als langfristige Verbindungen« (Sennett 1998, S 28). Damit müssen sich Pflege- und Gesundheitsexpertinnen auseinander setzen, wenn ihre Patientinnen oder zu Pflegenden,die für ihr Alter oder im Falle einer Krankheit auf die generationenübergreifende Solidarität gebaut haben, sich nun mit völlig neuen Arrangements, der Erosion oder dem Wegfall sozialer Auffangnetze, konfrontiert sehen. Darauf werden sich Pflege- und Gesundheitsexpertinnen einstellen müssen,wenn sie seitens der Institutionen des Gesundheitssystems immer neuen Forderungen nach Ökonomisierung und Flexibilisierung der Versorgungsstrukturen gegenüberstehen. Solche Herausforderungen können Pflegepädagoginnen, Pflegeexpertinnen und Pflegekräfte besser bewältigen, wenn sie über empirisches und theoretisches gesundheitssoziologisches Wissen als Orientierungswissen verfügen. Ebenso unterstützend wirkt, wenn sie zum einen auf allgemeine soziologische Theorien zurückgreifen können, um bereichsbezogene Theorien für pflegeund gesundheitswissenschaftliche Fragestellungen zu entwickeln und wenn sie zum anderen an der Entstehung allgemeiner soziologischer Theorien teilhaben, indem sie ihre bereichs- und gegenstandsbezogenen Ansätze so fortentwickeln, dass formale Theorien daraus entstehen können (Glaser u. Strauss 1974, S 252ff).
331 14.4 · Pflege und Pflegende in den Netzwerken flexibler Gesellschaften
Zusammenfassung Als Soziologin in die Welt der Pflegepädagoginnen und Pflegenden zu kommen, bedeutet mit widersprüchlichen Botschaften konfrontiert zu sein: Einerseits wird die Soziologie als Leitwissenschaft für die sich auch im deutschsprachigen Raum etablierenden Pflegewissenschaften begriffen; andererseits wird sie als weiche, der harten Realität der Praxis nicht gewachsenen Wissenschaftsdisziplin teilweise ignoriert, mitunter nur mühsam toleriert. Daraus ergibt sich die Frage, wie viel gesundheitssoziologisches Wissen Pflegeexpertinnen und Pflegende für ihren Arbeitsalltag, für ihr Selbstverständnis und für ihr professionelles Standing in modernen Dienstleistungsgesellschaften tatsächlich benötigen, ohne sie selbst zu Soziologinnen qualifizieren zu wollen oder zu können. Auf der Grundlage von Beispielen aus der Pflege- und Forschungspraxis werden drei (vorläufige) Antworten gegeben: 1. Pflegepädagoginnen, Pflegeexpertinnen und Pflegende sollen sozialwissenschaftliche,d.h.empirisch fundierte Aussagen über soziales Handeln und soziale Strukturen im Bereich der Pflege und des Gesundheitssystems verstehen und für die eigene Tätigkeit nutzen können sowie selbst an der Entwicklung von pflege- und gesundheitswissenschaftlichen Konzepten mitwirken. 2. Sie sollen Gesundheit und Krankheit nicht ausschließlich als biomedizinisch definiert sehen, sondern auch als soziale Konstruktionen in ihrer Komplexität und Widersprüchlichkeit. 3. Auf der Grundlage gesundheitssoziologischen Wissens sollen sie Orientierungswissen über gesellschaftliche Entwicklungen, die für die Berufs- und Praxisfelder von Pflegenden bedeutsam sind, aufbauen.
3 Methodische Vorschläge für die Seminargestaltung Lesen Sie zunächst das Einleitungskapitel der »Einladung zur Soziologie« von Peter L. Berger (1969) als klassischen soziologischen Text und diskutieren Sie über die Vorurteile und stereotypen Vorstellun-
14
gen gegenüber der Soziologie. Arbeiten Sie heraus, was Soziologie alles nicht sein will und kann und erörtern Sie die Theorie-Praxis-Relation an Beispielen. Beispiel für den Aufbau eines Seminars, das persönliche Erfahrungen und Bedeutungen der Lernenden mit Theorien und Modellen verbindet
4 Seminarthema: Die Bedeutung von Gesundheit und Krankheit im Persönlichen und Beruflichen 4 Schwerpunkte: 1. Anfertigen eines Selbstbeobachtungsprotokolls Übergeordnete Selbstbeobachtungsfragen (beispielhafte Auswahl, beispielhafter Ablauf): Welche Lebenssituationen mit Bezug auf Gesundheit und Krankheit erinnere ich, die für mich explizit bedeutsam sind und in mein Leben hineinwirken? Wie erlebe ich mich selbst in Zeiten von Kranksein? Welche Bilder steigen in mir auf, welche Gefühle und Bedürfnisse herrschen vor? Welche Bilder habe ich im Laufe meines Lebens verinnerlicht, wodurch oder durch wen sind sie in welcher Weise geprägt worden? In welcher Weise wirken diese Bilder in meinen Beruf hinein? Wie helfe ich mir und pflege ich mich selbst, wenn ich gesund bin und wenn ich krank bin? Welche professionelle Haltung habe ich dagegen, wenn ich helfe und pflege, oder wenn ich lehre zu pflegen und zu helfen? Wie sehe ich mir anvertraute Patientinnen und Klientinnen im Kontext von Gesundheit und Krankheit (an prägnanten und möglichst selbst erlebten Fallbeispielen)? Wie zeigt sich nach außen einerseits meine persönliche Auffassung von Gesundheit und Krankheit und andererseits, was lenkt mein professionelles Handeln und wie wird dieses im Beruf sichtbar? 2. Eigen- und/oder Fremdanalyse des Protokolls nach bestimmten Gesichtspunkten/hermeneutischen Verfahren 3. Interpretationen und Vergleiche untereinander
332
Kapitel 14 · Widersprüchliche Botschaften
4. Rezeption verschiedener geeigneter gesundheitssoziologischer Modelle und Theorien 5. Überdenken der bisherigen Bilder/Haltungen/Verhaltensweisen bezüglich Gesundheit und Krankheit 6. Herausarbeiten der Bedeutungen für zukünftiges berufliches Handeln.
3 Empfehlungen zum Weiterlernen Methodische Hinweise finden Sie unter anderem bei: 4 Lüders C (2000) Beobachten im Feld und Ethnographie. In: Flick U, Kardorff E v., Steinke I (Hrsg), Qualitative Forschung. Ein Handbuch. Rowohlt, Reinbek b. Hamburg 4 Strauss AM (1991) Grundlagen qualitativer Sozialforschung. Datenanalyse und Theoriebildung in der empirischen soziologischen Forschung. Fink, München
Literatur
14
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Blumer H (1973) Der methodologische Standort des symbolischen Interaktionismus. In: Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hrsg) Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit. Rowohlt, Reinbek b. Hamburg, S 80–146 Fischer-Rosenthal W (1996) Strukturale Analyse biographischer Texte. In: Brähler E, Adler C (Hrsg) Quantitative Einzelfallanalysen und qualitative Verfahren. Psychosozial-Verlag, Gießen, S 147–209 Fleck C (1994) Sozialpsychologie der Politik und Kultur. Ausgewählte Schriften. Nausner & Nausner, Wien Friedrichs J, Lepsius MR, Mayer KU (1998) Diagnose und Prognose in der Soziologie. In: Friedrichs J, Lepsius MR, Mayer KU (Hrsg) Die Diagnosefähigkeit der Soziologie. Westdeutscher, Opladen, S 9–31 Glaser B, Strauss A (1974) Interaktion mit Sterbenden. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen Hildenbrand B (1983) Alltag und Krankheit. Ethnographie einer Familie. Klett-Cotta, Stuttgart Hirschauer S (1996) Die Fabrikation des Körpers in der Chirurgie.In: Borck C (Hrsg) Anatomien medizinischen Wissens. Medizin, Macht, Moleküle. Fischer, Frankfurt a. M., S 86–121 Hurrelmann K (2000) Gesundheitssoziologie. Eine Einführung in sozialwissenschaftliche Theorien von Krankheitsprävention und Gesundheitsförderung. Juventa, Weinheim München Jahoda M, Lazarsfeld PF, Zeisel H (1975) Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch. Suhrkamp, Frankfurt a. M. Lazarsfeld P (1975) Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch.Vorspruch zu neuen Ausgabe. In: Jahoda M, Lazarsfeld PF,Zeisel H (Hrsg) Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch. Suhrkamp, Frankfurt a. M., S 9–23 Lüders C (2000) Beobachten im Feld und Ethnographie. In: Flick U, Kardorff E v., Steinke I (Hrsg) Qualitative Forschung. Ein Handbuch. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek b. Hamburg Meier, Artur (1988). Das marxistische soziologische Paradigma. Zur Diskussion von Gegenstand und Struktur der soziologischen Wissenschaft.Institut für Soziologie,Humboldt-Universität zu Berlin. unveröffentlichtes Manuskript, Berlin Sennett R (1998) Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus. Berlin Verlag, Berlin Sieger M (Hrsg) (2001) Pflegepädagogik. Handbuch zur beruflichen Bildung. Hans Huber, Bern Göttingen Toronto Seattle Strauss AM (1991) Grundlagen qualitativer Sozialforschung. Datenanalyse und Theoriebildung in der empirischen soziologischen Forschung. Fink, München Weber M (1980) Soziologische Grundbegriffe. In: Winckelmann J (Hrsg) Wirtschaft und Gesellschaft. Mohr, Tübingen
15 Aufnehmen,Verarbeiten, Speichern und Abrufen: Grundlagen der biologischen Informationsverarbeitung am Beispiel von Gehirn und Immunsystem Friederike Störkel 15.1
Das Gehirn
336
15.1.1
Fallgeschichte
15.1.2
Hinführung
15.1.3
Bausteine des Nervensystems –
336
337
Struktur und Funktion von Nervenzellen 15.1.4
Übersicht über das zentrale Nervensystem
15.1.5
Horizontale Verbindungen im Großhirn –
338
die Großhirnrinde und die Großhirnhälften 15.1.6
338 340
Vertikale Verbindungen im Großhirn – die Großhirnrinde und das limbische System
341
15.1.7
Lernen und Gedächtnis
342
15.2
Das Immunsystem
15.2.1
Fallgeschichte
15.2.2
Hinführung
15.2.3
Das Immunsystem im Überblick
15.2.4
Infektionsabwehr am Beispiel der Immunabwehr von Viren
15.2.5
Analogien zwischen Gehirn und Immunsystem
347
347
348 348 352
350
334
Kapitel 15 · Aufnehmen, Verarbeiten, Speichern und Abrufen
> Thesen
Unter dem Begriff »Naturwissenschaftliche Grundlagen der Pflege« werden die naturwissenschaftlichen Grundlagenfächer Biologie, Chemie und Physik und die medizinischen Grundlagenfächer Anatomie, Physiologie, allgemeine und spezielle Krankheitslehre sowie Arzneimittellehre zusammengefasst. Anders als bisher üblich müssen diese Grundlagen zukünftig von den Pflegepädagogen erarbeitet und vor dem Hintergrund pflegespezifischer Fragestellungen reflektiert und gelehrt werden. Dies erfordert eine eigenständige Auseinandersetzung mit den grundlegenden biologischen Vorgängen des menschlichen Organismus. Der vorliegende Beitrag soll tätigen und zukünftigen Pflegepädagogen als Grundlage bei der Erarbeitung des Stoffes zu Themen auf den Gebieten Gehirn und Immunsystem dienen und sie anregen, über ein ergänzendes Eigenstudium Unterrichtsentwürfe zu entwickeln. Am Beispiel von Gehirn und Immunsystem wird beschrieben,wie ein menschlicher Organismus in Kontakt und Austausch mit der Außenwelt tritt und versucht, sein inneres Gleichgewicht zu erhalten oder wiederherzustellen. Grundlegende biologische Prinzipien und Ähnlichkeiten beider Organsysteme sowie das Strukturieren von Wissensgebieten werden exemplarisch dargestellt.
15
3 Berufliche Handlungskompetenzen 2
Fachkompetenz Grundprinzipien der biologischen Informationsaufnahme und -verarbeitung am Beispiel von Gehirn und Immunsystem verstehen und ihre Bedeutung für die Gestaltung des eigenen Arbeitsfeldes und für die Pflege Kranker ermitteln.
2
Personalkompetenz Vorgänge im menschlichen Organismus nicht nur kennen und verstehen,sondern darüber hinaus das eigene Verständnis
über sich und über andere erweitern sowie den Umgang mit sich und anderen überdenken. 2
Kommunikative Kompetenz Begriffe und inhaltliche Bedeutung in fachlichen Diskussionen sachgerecht verwenden.
2
Methodenkompetenz Die dargestellten naturwissenschaftlichen Grundlagen der biologischen Informationsaufnahme und -verarbeitung für die Erarbeitung pflegerelevanter Themen in Aus-, Fort- und Weiterbildung nutzen, z. B. bei den Themen Infektionsprophylaxe, Pflege dementer Menschen oder Lerntechniken/Lerntraining.
3 Praxisrelevanz Gehirn und Immunsystem sind übergeordnete Kommunikations- und Gleichgewichtsinstanzen des Organismus. Trotz aller Verschiedenheit ihrer Aufgaben arbeiten sie eng zusammen und in weiten Teilen nach ähnlichen Prinzipien. Sie tauschen beständig biochemische Signale aus, häufig entlang gemeinsamer Kommunikationsstrukturen und gemeinsamer Überträgerstoffe (Transmitter) sowie interzellulärer Mediatoren (Zytokine). Dies erklärt auch den Zusammenhang zwischen manchen psychischen Störungen bei körperlichen Erkrankungen und umgekehrt. In den Handlungsfeldern der Aus-, Fort- und Weiterbildung findet sich eine Vielzahl von Themen, die mit einem oder beiden Organsystemen in Zusammenhang stehen. Aufbauend auf die hier dargestellten Grundlagen können diese Themen erarbeitet werden. Exemplarisch aufgeführt seien: 4 Lernen: in Aus-, Fort- und Weiterbildung. 4 Lehren: Fähigkeitsstörungen und Behinderungen, z. B. Pflege von Menschen mit seniler Demenz vom Alzheimer-Typ sowie Beratung und Unterstützung der Angehörigen; ambulante und stationäre Pflege von Menschen mit Schlaganfall oder Schädel-Hirn-Verletzungen.
335 15.1 · Das Gehirn
Infektionserkrankungen, z. B. Vermeidung von nosokomialen Infektionen; Pflege von Menschen mit herabgesetzter Immunabwehr. Beeinflussung der Krankheitsabwehr durch psychische Faktoren, wie beispielsweise Stressreaktionen, z. B. unterstützende, nicht-medikamentöse Maßnahmen bei Menschen mit akuten oder chronischen Erkrankungen; gesundheitsförderliche Arbeitsplatzgestaltung in der Pflege.
3 Verfahrensstruktur Durch das Verstehen der Grundmuster der komplexen Organsysteme Gehirn und Immunsystem (. Abb. 15.1) gewinnt die inhaltliche und didaktische Darstellung sowie die praktische Bearbeitung einzelner Themen in den verschiedenen pflegerischen Handlungsfeldern an Qualität und Professionalität.
. Abb. 15.1. Verfahrensstruktur
15
Hilfen zum weiterführenden Erarbeiten und Verknüpfen von Wissensinhalten Die Arbeitshilfen sind für diejenigen Leser gedacht, die ausgehend von den hier dargestellten Inhalten weiterarbeiten wollen. Zu diesem Zweck enthält der nachfolgende Text der Abschn. 15.1 und 15.2 fortlaufend sowohl kursiv gedruckte Begriffe in Klammern als auch fettgedruckte Begriffe oder Satzteile. Die im Text erscheinenden kursiv gedruckten Begriffe in Klammern sind als Anknüpfungspunkte und Querverweise zum vorhandenen Wissen des Lesers zu verstehen. Beispiel: »Der Transport der Informationen geschieht durch elektrische Energie (Ruhe- bzw. Aktionspotenzial), die an den Synapsen in chemische Energie überführt wird (Neurotransmitter).«
336
15
Kapitel 15 · Aufnehmen, Verarbeiten, Speichern und Abrufen
Für das weitere Verständnis des Textes ist die hier genannte Information ausreichend. Möchte der Leser jedoch genauer nachvollziehen, wie die elektrische Energie an den Nervenzellen aufgebaut wird und sich im Rahmen eines Aktionspotenzials verändert, so kann er unter dem Stichwort Ruhe- bzw. Aktionspotenzial z. B in seinen eigenen früheren Arbeitsaufzeichnungen, in Lehrbüchern oder in Wissensbibliotheken online weitere Informationen abrufen. Die fett gedruckten Begriffe im fortlaufenden Text sind als Oberbegriffe innerhalb einer Wissenshierarchie aufzufassen.Von ihnen aus können, analog zur Netzwerkstruktur unseres Gehirns,Wissensdimensionen vertiefend erarbeitet werden. Beispiel: »Beim Betrachten des Gehirns fällt auf, dass es zwei symmetrische Großhirnhälften (Hemisphären) aufweist, die miteinander in Verbindung stehen…. Zunächst soll die äußere Schicht der Großhirnhälften, die Großhirnrinde (Cortex), ausführlicher beschrieben werden…. Die wichtigsten Aufgaben der Großhirnrinde liegen daher in der Verarbeitung von Sinneseindrücken und in der Steuerung unserer willkürlichen Bewegungen.« Für das weitere Verständnis des Textes ist die hier genannte Information ausreichend. Darüber hinaus kann jedoch vom Leser ein Netzwerk angelegt werden. Dieses Netzwerk enthält eine Oberflächenstruktur sowie verschiedene Schichten einer Tiefendimension des zu vernetzenden Wissens. So könnte anhand der im Beispiel genannten, fettgedruckten Begriffe zunächst die anatomische Hierarchie zwischen Großhirnhälften und Großhirnrinde und anschließend die Funktionen der Großhirnrinde grafisch dargestellt werden, z. B. in Form eines Graphen oder eines Mind Maps.
15.1
Das Gehirn
15.1.1 Fallgeschichte
Beispiel Im Dezember 1958 wurde bei einem 52-jährigen Mann im Royal Birmingham Eye Hospital in England an jedem Auge eine Hornhauttransplantation durchgeführt.Im Alter von zehn Monaten waren seine Hornhäute infolge einer Augeninfektion degeneriert und er war seitdem völlig blind gewesen. Die Operation galt als großer Erfolg und erregte in England beträchtliche öffentliche Aufmerksamkeit. Der »Daily Telegraph« brachte eine Artikelserie und berichtete, wie wenige Stunden nach der Operation die wiedergewonnene Sehkraft einsetzte.Diesen Bericht las auch der Psychologe Richard Gregory, der sich für Wahrnehmungsprozesse interessierte. Mit seiner Kollegin Jean Wallace begann Gregory zu untersuchen, wie die Welt aus der Sicht des Patienten beschaffen war,der in der wissenschaftlichen Literatur den Namen S. B. erhielt. S. B. war vor der Operation ein aktiver und lebensfroher Mensch gewesen, der viele Dinge beherrschte,die man Blinden gewöhnlich nicht zutraut. Er konnte (mit Hilfe eines Sehenden) Rad fahren, Werkzeuge benutzen und ohne Stock gehen. Er ertastete seine Umgebung und hatte zum Beispiel Spaß daran, das Auto seines Schwagers zu waschen, wobei er sich dessen Form vorstellte. Gregory berichtete,was nach der Operation geschah.»Als der Verband zum ersten Mal von seinen Augen entfernt wurde, so dass er nicht mehr länger blind war, hörte er die Stimme des Chirurgen. Er wandte sich in Richtung der Stimme,sah aber nichts als einen verschwommenen Fleck. Er stellte sich vor, dass dies wegen der Stimme ein Gesicht sein musste, denn sehen konnte er es nicht. S. B.nahm also nicht plötzlich die Umwelt wahr wie wir, wenn wir unsere Augen öffnen«. Als S. B. nach Ablauf weniger Tage seine Sehkraft zurückgewonnen hatte,konnte er Objekte wiedererkennen, die ihm durch Berührung ver-
337 15.1 · Das Gehirn
traut waren: Tiere, Autos, Buchstaben, Uhrzeiger usw. Er lernte sehr schnell zu zeichnen, jedoch mit seltsamen Fehlern. Einen Bus stattete er mit Speichenrädern aus, obwohl Busse keine Speichen mehr hatten – S.B.hatte als Kind einen Bus abgetastet, dessen Räder mit Speichen versehen waren. Der Mond überraschte S. B., da er sich den Viertelmond stets als Tortenviertel vorgestellt hatte. S. B. bediente sich Erinnerungen seines Tastsinns, um zu sehen und der Mond gehörte zu den Dingen, die er nicht betasten konnte. Als ihm eine Drehbank gezeigt wurde,sagte er,er könne sie nicht sehen.Als er sie berührte,schloss er die Augen, betastete sie, öffnete die Augen und sagte: »Jetzt, wo ich sie gefühlt habe, kann ich sie auch sehen«.Er konnte anfangs nur sehen, was der Tastsinn ihm vertraut erscheinen ließ. Die Geschichte von S.B.endete tragisch.Er starb ein Jahr nach der Operation in tiefer Depression. Es hatte ihn enttäuscht, die Welt zu erblicken,und er hatte abends oft bei gelöschtem Licht im Dunkeln gesessen. (Modifiziert nach Norretranders 1998)
Wichtig 1. Was erfahren Sie aus dem Text über die Möglichkeiten eines Menschen zur Aufnahme von Informationen aus der Außenwelt und über den Umgang mit diesen Informationen? 2. Welche Fragen nach Grundlagen, Hintergründen, Zusammenhängen, Haltungen/Einstellungen ergeben sich für Sie aus dem Text? 3. Welche Konsequenzen für die Pflege,im Sinne eines umfassenden Handelns zur Erhaltung, Anpassung oder Wiederherstellung der normalen physischen,geistigen und sozialen Funktionen und Aktivitäten des täglichen Lebens (Beske u. Hallauer 1999), würden Sie aus der Fallgeschichte ableiten? Sammeln und sortieren Sie Ihre Ideen und überlegen Sie in einem anschließenden Schritt die Formulierung von möglichen pflegerischen Zielen.
15
15.1.2 Hinführung
Wie erlebt und begreift man die Welt als Außenwelt und sich selbst als eigenständige Person? Wodurch und womit? Wie unterscheidet und wie verbindet der Mensch »außen« und »innen«? Am Beispiel der Fallgeschichte des blinden S. B. können für das Gehirn die wesentlichen Aspekte dieses Vorganges beleuchtet werden.Der Schwerpunkt der Betrachtungen liegt auf den hirnbiologischen Grundlagen dieses Vorganges. Das Gehirn hat zwei wesentliche Grundfunktionen: Zum einen die Organismus-Umwelt-Interaktion (»außen«) und zum anderen die Regulation der biologischen Lebensbedingungen im Körperinneren (»innen«). Auch das Immunsystem leistet eine fortwährende Abgrenzung zwischen außen und innen, zwischen »selbst« und »fremd«. Sowohl beim Gehirn als auch beim Immunsystem erleben wir die Schritte der Informationsaufnahme und -verarbeitung nicht bewusst, sondern spüren lediglich die Ergebnisse dieses Prozesses. Wir sehen beispielsweise den Mond,aber wissen nicht,wie wir von dem Sinnesreiz, den unsere Netzhaut empfangen hat, zu dieser bewussten Wahrnehmung gelangt sind. Wir erkranken an einer Infektionserkrankung, z. B. an Pocken oder an Influenza, aber wissen nicht, wie unser Immunsystem die Infektion vom Zeitpunkt der Infektion bis zum Ausbruch und schließlich dem Abklingen der Symptome wahrgenommen und verarbeitet hat. Wir vergleichen aufgenommene Informationen mit Bekanntem, wie in der Fallgeschichte von S. B. beschrieben, und das Ergebnis dieses Vergleiches beeinflusst unser aktuelles und zukünftiges Erkennen und Verarbeiten von Informationen und unsere Gefühlswelt. In sehr ähnlicher Weise vergleichen spezialisierte Zellen des Immunsystems neue Informationen von außen mit bereits (innen) abgelegten, ein Vorgang, auf dem auch die Wirkung einer Impfung beruht. Offensichtlich können Zellen des Immunsystems auch von angenehmen oder unangenehmen Erlebnissen eines Individuums beeinflusst werden, wie die Ergebnisse der seit Ende der siebziger Jahre sich entwickelnden Forschungsrichtung der Psycho- Neuro- Immunologie (PNI) zeigen.
338
Kapitel 15 · Aufnehmen, Verarbeiten, Speichern und Abrufen
15.1.3 Bausteine des Nervensystems –
Struktur und Funktion von Nervenzellen
15
Die vielfältigen Sinneseindrücke, die wir aus der Umwelt erhalten, müssen empfangen, aufgenommen, verarbeitet, gespeichert und abgerufen werden. Diese Aufgabe übernehmen die hochspezialisierten, miteinander vielfältig verknüpften Nervenzellen. Die Anzahl der Nervenzellen, nicht aber Zahl und Art ihrer Verknüpfungen, ist bereits bei Geburt festgelegt. Wachstum und Reifung, z. B. in der Entwicklungsphase vom Säugling zum Schulkind, bezieht sich somit nicht auf eine quantitative Zunahme von Nervenzellen, sondern auf den Zugewinn von Verknüpfungen (Synapsen).In den folgenden Abschnitten werden Struktur und Funktion von Nervenzellen sowie die wichtigsten Zentren des Gehirns dargestellt. Es schließen sich Überlegungen zum Thema Lernen,Wissenserwerb und Gedächtnis an. Strukturell werden die Verknüpfungen zwischen den Nervenzellen ermöglicht durch zwei Arten von Fortsätzen, die vom Zellkörper einer Nervenzelle (Neuron) ausgehen und ein unterschiedliches Erscheinungsbild und voneinander abweichende Funktionen haben: den von vielen Stellen des Zellkörpers ausgehenden, baumartig verzweigten Dendriten und dem von einer Stelle des Zellkörpers entspringenden, mehr strangartig erscheinenden, »nur« Seitenzweige abgebenden Axon, das eine beträchtliche Länge annehmen und gemeinsam mit anderen Axonen zu Nervenfasern gebündelt werden kann (markhaltige/marklose Nervenfasern). Beide Arten von Fortsätzen ermöglichen die Verknüpfung verschiedener Nervenzellen miteinander. Dabei berühren sich die zu verknüpfenden Fortsätze der Nervenzellen an den Kontaktstellen (Synapsen) nicht, sondern sie bleiben durch einen dünnen Spalt getrennt (synaptischer Spalt). Funktionell unterscheiden sich Dendriten und Axone darin,dass die Dendriten die eingehenden Informationen (Inputs) dem Zellkörper der Nervenzelle zuleiten, während Axone die von der Nervenzelle ausgesendeten Informationen (Outputs) weitertransportieren. Der Transport der Informationen geschieht durch elektrische Energie (Ruhe/bzw. Aktionspotenzial), die an den Synapsen in chemische Energie überführt wird (Neurotrans-
mitter). Zu Beginn der modernen neurowissenschaftlichen Forschung hoffte man, durch genaue Untersuchungen einzelner Nervenzellen und ihrer Verknüpfungen und den daraus gewonnenen Erkenntnissen zu biologischen Grundlagen geistiger Prozesse möglichst bald auch die komplexen Funktionen des Gehirns, wie abstraktes Denken, Emotionen, Gedächtnis, »Ich«-Bewusstsein usw., erschließen zu können. Diese Hoffnung erwies sich jedoch als nicht einlösbar,da das Gehirn als Ganzes offensichtlich weit mehr an Strukturen und Funktionen darstellt,als die Summe seiner einzelnen Bestandteile (Nervenzellen; Gliazellen; graue und weiße Substanz; Aufbau der Großhirnrinde). Der Begriff des Netzwerkes beschreibt die Komplexität und Struktur des Gehirns sowie die Funktion seiner mannigfaltigen Verknüpfungen. Um sich den Bauprinzipien von Netzwerken nähern zu können, ist es mit Hilfe von Elektronik und Computerwissenschaft möglich, in einigen Fällen plausible Modelle von Nervenfunktionen und Netzwerken des Gehirns zu erhalten bzw.Vorgänge zu simulieren.
15.1.4 Übersicht über das zentrale
Nervensystem Nach der feinstrukturellen Kenntnis der Bausteine des Nervengewebes ist eine Übersicht über das Nervensystem (. Abb.15.2) ein nächster Schritt,um die Lokalisation und den Zusammenhang der einzelnen Bereiche zu verstehen,in denen Informationen aufgenommen, bearbeitet, abgelegt und abgerufen werden. Der hierfür wichtigste Teil des Gehirns, auf den sich auch alle nachfolgenden Ausführungen beziehen, ist das Großhirn mit seinen verschiedenen Strukturen (die Großhirnrinde mit den entwicklungsgeschichtlich älteren Teilen des Palaeo- und Archicortex und dem entwicklungsgeschichtlich neueren Neocortex, dem Sitz höherer kognitiver Prozesse und die Basalkerne).
15.1 · Das Gehirn
. Abb. 15.2. Übersicht über das menschliche Nervensystem
339
15
340
Kapitel 15 · Aufnehmen, Verarbeiten, Speichern und Abrufen
15.1.5 Horizontale Verbindungen
im Großhirn – die Großhirnrinde und die Großhirnhälften
15
Beim Betrachten des Gehirns fallen zwei symmetrische Großhirnhälften (Hemisphären) auf,die miteinander in Verbindung stehen. Die Verbindung zwischen rechter und linker Hemisphäre wird durch den Balken (Corpus callosum) hergestellt und sichert einen fortwährenden Austausch zwischen beiden Hemisphären.Zunächst soll die äußere Schicht der Großhirnhälften, die Großhirnrinde (Cortex) ausführlicher beschrieben werden. In der Großhirnrinde wird das Wissen niedergelegt, das wir im Lauf des Lebens erwerben. Dies beinhaltet die Kenntnis der Umwelt und alle erworbenen Fertigkeiten, einschließlich der Sprache. Die Beschaffenheit und die Zusammenhänge der Außenwelt werden in der Großhirnrinde über die Aktivierung von miteinander verbundenen Neuronen dargestellt; d. h., was »außen« geschieht, entspricht in der Großhirnrinde bestimmten Abfolgen von Aktivitätszuständen der Neuronen. Unabhängig von der Außenwelt können wir aber auch »innere Geschehnisse« ablaufen lassen, die ebenfalls zu bestimmten Abfolgen von Aktivitätszuständen der Neuronen führen.Dieser Möglichkeit bedienen wir uns, wenn wir »denken«. Kenntnis der Umwelt und Erwerb von Fertigkeiten werden im weitesten Sinne durch die Verarbeitung von Sinneseindrücken und durch willkürlich ausgeführte Bewegungen erlangt. Die wichtigsten Aufgaben der Großhirnrinde liegen daher in der Verarbeitung von Sinneseindrücken und in der Steuerung der willkürlichen Bewegungen.(Sensoren und Sinnessysteme; zentrale sensorische Systeme – Motorische Systeme; Pyramidenbahn und extrapyramidale Bahnen). Sowohl die Verarbeitung von Sinneseindrücken als auch die Steuerung der willkürlichen motorischen Bewegungen erfolgt in spezialisierten Bereichen der Großhirnrinde, im so genannten sensorischen sowie im motorischen Rindenfeld. Sensorisches und motorisches Rindenfeld weisen spezialisierte Areale auf, denen jeweils ein bestimmter Teil des Körpers zugeordnet ist. Die Größe dieser Areale gibt nicht »maßstabgerecht« die Größe der jeweiligen Körperteile wieder, sondern hängt vielmehr von der jeweils erforderlichen Präzision einer motorischen Steuerung oder der jeweils benötigten
Sensibilität eines Sinnesorganes ab. So werden beispielsweise Gesicht und Hände auf ein weitaus größeres Areal der Großhirnrinde projiziert als Rumpf oder Beine (sensorischer und motorischer Homunkulus). Die Mehrzahl der verschiedenen Areale des sensorischen und des motorischen Rindenfeldes und damit der sensorischen und motorischen Funktionen finden sich symmetrisch auf jeder Hirnhälfte. Hierfür steht die Bezeichnung funktionelle Symmetrie. Im Laufe der Entwicklungsgeschichte wurden die sensorischen und motorischen Funktionen einer Großhirnhälfte der jeweils gegenüberliegenden Körperhälfte zugeordnet,so dass sich die meisten Nervenfasern, die von den Sinnesorganen zum Großhirn bzw. vom Großhirn zu den Muskeln ziehen, kreuzen (z. B. teilweise Kreuzung der Sehnerven). Funktionelle Asymmetrie bedeutet,dass einige Funktionen nur einer Hirnhälfte zugeordnet sind.In der linken Hirnhälfte befindet sich bei 98% aller Menschen das Sprachzentrum. Dies hat nichts mit der Händigkeit zu tun, da auch die meisten Linkshänder ihr Sprachzentrum in der linken Hirnhälfte haben. Weitere Unterschiede zwischen beiden Hirnhälften sind zum Beispiel die linksseitig lokalisierte Verbindung zum Bewusstsein und die rechtsseitig vorhandene Fähigkeit zur Bild- und Mustererkennung (spezifische Funktionen der Hemisphären; Experimente von Sperry an Split-Brain-Patienten; verschiedene Begriffe von Bewusstsein). In der Fachliteratur wird häufig von der linken Gehirnhälfte als der dominanten Hemisphäre und der rechten Gehirnhälfte als der subdominanten (untergeordneten) Hemisphäre gesprochen. Zweifellos sind Sprache, abstraktes Denken, Schreiben und Rechnen sowie die Kontrolle motorischer Vorgänge (bei Rechtshändern) die herausragenden Leistungen der linken Hemisphäre,aber der Begriff »dominant« lässt leicht den Schluss zu, dass die Leistungen der linken Gehirnhälfte bedeutsamer seien als die der rechten. Doch auch die rechte Gehirnhälfte stellt einen ebenso hoch entwickelten und spezialisierten Teil des menschlichen Gehirns dar und ist bei manchen Fähigkeiten, z. B. der Bildund Mustererkennung, der eindeutig überlegenere Teil.Die Verschiedenartigkeit beider Gehirnhälften und die daraus resultierende Vielfalt an Möglichkeiten, die Welt zu erschließen, lassen sich derge-
341 15.1 · Das Gehirn
stalt wertschätzen, dass wir die Begriffe dominante und subdominante Hemisphäre zu Gunsten des Begriffes komplementäre (sich einander ergänzende) Hemisphären abändern. Dies bedeutet auch, dass sich Lehrende bei der Planung und Gestaltung von Unterrichtsveranstaltungen überlegen müssen, mit welchen Unterrichtsanteilen sie die unterschiedlichen Fähigkeiten der Gehirnhälften ansprechen können, um ein (Lern-) Gebiet möglichst vielfältig zu erfassen. Betrachten wir erneut die Fallgeschichte von S. B., so könnte sie uns unter anderem dazu anregen, verschiedene Erfahrungen des Sehens bzw. Nicht-Sehens und des Tastens anhand praktischer Übungen zu erfahren. Diese und weitere eigene Erfahrungen können mit der Erarbeitung der Anatomie, Physiologie und Pathophysiologie des Sehens und des Tastens sowie mit unseren bisherigen Erlebnissen im Umgang mit Gepflegten verbunden und daraus ableitend Ziele für pflegerisches Handeln entwickelt werden. An dieser Stelle lässt sich leicht eine Brücke zum »Lernen« schlagen, denn zwangsläufig führt die Anmerkung zur Unterrichtsgestaltung zu der Frage, »wie« wir lernen. Doch zuvor ist ein weiterer Zwischenschritt erforderlich, um zu verstehen, wie Gefühl und Motivation mit den Leistungen der beiden Gehirnhälften verbunden sind und welche Strukturen, außer der Großhirnrinde, eine bedeutende Rolle bei der Entstehung von Gedächtnis spielen.
15.1.6 Vertikale Verbindungen
im Großhirn – die Großhirnrinde und das limbische System Zwischen den einzelnen Bereichen des Gehirns besteht eine komplexe Vernetzung. Neben der beschriebenen horizontalen Integration der beiden Großhirnhälften steht die Großhirnrinde mit »tieferen« (subcorticalen) Anteilen des Gehirns in Verbindung. Ein Beispiel für diese Art von Verbindung ist die zwischen Großhirnrinde und dem limbischen System (corticale und subcorticale Bestandteile des limbischen Systems; corticale Kontrollinstanzen des limbischen Systems). Gemeinsam mit der Großhirnrinde kommt dem limbischen System bei der Interaktion zwischen Organismus und Um-
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welt die wichtige Rolle der Zusammenstellung und Steuerung von Stimmungen und Handlungsbereitschaften zu. Motivation und Emotion sowie Schlüsselfunktionen bei Lern- und Gedächtnisprozessen gehen vom limbischen System aus. Aktuell aus der Umwelt aufgenommene Information wird im limbischen System mit Informationen,die in der Vergangenheit gespeichert worden sind,verglichen und erhält eine für den jeweiligen Organismus relevante Bedeutungszuweisung. Als Folge dieser »Bearbeitung« entsteht ein bestimmtes, von Emotionen geprägtes Verhalten, das sich für den Organismus als Reaktion auf seine Umwelt als bisher zweckmäßig und bewährt erwiesen hat. Das komplexe Zusammenwirken zwischen den Fähigkeiten der Großhirnrinde, den beiden Gehirnhälften und den subcorticalen Anteilen des limbischen Systems wird als vertikale Integration bezeichnet. Analog zu der Oberflächen- und Tiefenstruktur von Netzwerken besitzt das Gehirn als Ganzes dieses Verknüpfungsmuster, wie sich am Beispiel der horizontalen Integration der beiden Gehirnhälften und der vertikalen Integration von corticalen und subcorticalen Strukturen erkennen lässt. Die Fallgeschichte von S. B. zeigt, dass er trotz (oder wegen?) der wiedererlangten Sehfähigkeit in eine schwere Depression verfiel. Es wird deutlich, dass das »bloße« Aufnehmen und Verarbeiten von Eindrücken und Informationen aus der Außenwelt nur ein Mosaikstück ist, uns die Welt zu erschließen, die Bewertung und Bedeutungszuweisung ein weiteres. Richard L. Gregory schreibt, dass Depressionen bei Menschen, die das Sehen nach vielen Jahren der Blindheit wiedererlangen, fast immer auftreten und vermutet:
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Die Ursachen sind wahrscheinlich komplex, doch zum Teil scheinen sie durch die Erkenntnis bedingt zu sein, was ihnen [den Menschen; Anmerk. d.Verf.] alles entgangen ist – und zwar nicht nur im Bereich der visuellen Erfahrung, sondern auch an praktischen Möglichkeiten, die ihnen während der Jahre der Blindheit versagt waren. Einige Personen kehrten sogar sehr bald in ihr lichtloses Leben zurück und machten keinen weiteren Versuch zu sehen (Gregory 2001, S. 192).
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Kapitel 15 · Aufnehmen, Verarbeiten, Speichern und Abrufen
Neben der Steuerung von Stimmungen und Handlungsbereitschaften hat ein Teil des limbischen Systems, der Hippocampus, die Aufgabe bei der Ausbildung des Gedächtnisses mit den corticalen Strukturen (Großhirnrinde) zusammenzuarbeiten. Somit wird Gedächtnis und Lernen erst durch das Zusammenspiel beider Großhirnhälften, der Großhirnrinde und den subcorticalen Strukturen des limbischen Systems möglich, das heißt durch die horizontale und die vertikale Integration unserer Gehirnanteile (siehe auch Abb. 15.2).
15.1.7 Lernen und Gedächtnis
Lernen,Gedächtnis und Erinnerung befähigen uns, unser individuelles Verhalten den Bedingungen der Umwelt anzupassen.Ohne die Fähigkeit der neuronalen Netzwerke des Gehirns, Informationen aufzunehmen, zu speichern und abzurufen, wäre das Überleben von Individuen und von Gruppen nicht möglich. Lernen ist von Wachstum und Reifung zu unterscheiden, die als Voraussetzungen für Lernprozesse anzusehen sind. Wichtig Unter Lernen wird hier die Fähigkeit von Lebewesen verstanden, aufgrund von Informationen und Erfahrungen ein neues Verhalten zu erwerben,das in ihrem bisherigen Verhaltensrepertoire nicht vorhanden war.
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Um Lernen zu können, bedarf es neben äußeren Gegebenheiten auch »innere« Voraussetzungen des Nervengewebes: Durch genetisch gesteuerte Wachstumsprozesse reifen beispielsweise synaptische Verbindungen heran und es werden »Grobverbindungen« zwischen verschiedenen Bereichen des Nervensystems ermöglicht. Die genetisch gesteuerten Wachstumsprozesse bilden eine Grundlage, reichen jedoch alleine nicht aus, um Wahrnehmung, Verhalten und Lernen zu ermöglichen. Dazu erfolgt die Ausbildung spezifischer Verbindungen zwischen Neuronen bzw. zwischen Synapsen unter dem Einfluss biografisch früher Umweltauseinandersetzung.Eine lebenszeitlich frühe und angemessene Stimulation von Nervenzellen inner-
halb einer bestimmten, sogenannten »kritischen Entwicklungsperiode« ist somit die Voraussetzung für alle weiteren (Lern-) Erfahrungen im Laufe des Lebens. Werden beispielsweise nach der Geburt und in der frühen Kindheit bestimmte sensorische Kanäle (z. B. Sehen und Hören) oder motorische Aktivitäten nicht von außen angeregt, so bilden sich die synaptischen Verbindungen für eine bestimmte Fähigkeit nicht aus und das zugehörige Verhalten kann auch später nicht mehr erlernt werden. Diese Beobachtung konnte an zahlreichen Tierexperimenten bestätigt werden: Isoliert man junge Affen von ihrer sozialen Umgebung, so entwickeln sie eine dauerhafte und irreversible Störung ihres gesamten Sozialverhaltens und können dieses auch zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr erlernen. Beim Menschen seien hier die Berichte über Störungen nach dauerhafter Isolation (Kaspar Hauser) oder fehlenden sozialen Beziehungen (Beobachtungen an Waisenkindern von R.A.Spitz 1973) erwähnt (Assoziation, Hebb’sche Regel; Neuroplastizität). So ist auch in der Fallgeschichte von S. B. anzunehmen,dass durch die Erblindung in früher Kindheit das »Sehen lernen« nicht vollständig erfolgen konnte. Beim »Sehen lernen« werden die sensorischen Signale, die über das Auge aufgenommen und im Gehirn bearbeitet werden, zum Wissen über die »gesehenen« Objekte in Beziehung gesetzt. Es geht somit bei der Verarbeitung der sensorischen Signale im weitesten Sinne um das Erkennen und die Bedeutungszuweisung dessen,was wir »mit den Augen sehen«. Arbeiten die Augen »normal«, ist aber die Bedeutung der sensorischen Signale nicht vorhanden, so kann es, wie in der Fallgeschichte von S. B., dazu führen, dass trotz wiederhergestellter Sehfähigkeit zunächst Dinge nicht erkannt werden können. Obgleich verschiedene Sinneserfahrungen in unterschiedlichen,hoch spezialisierten Bereichen des Gehirns getrennt verarbeitet werden, kommen üblicherweise alle Sinneserfahrungen zusammen und ergeben eine einheitliche Wahrnehmung (Perzeption) eines Objektes. Die genauen Vorgänge,die dies bewirken,sind noch nicht vollständig erforscht. Die Geschichte von S. B. zeigt aber auch, dass ein »Wissenstransfer« von einem Sinnessystem zum anderen möglich ist, in diesem Fall vom Tastsinn zum (Seh-) Gesichtssinn: Er bediente sich seines Tastsinnes, um die Dinge
343 15.1 · Das Gehirn
wieder zu erkennen und zu »sehen«. Er hatte gelernt, wie man sieht, bevor er »sehen« konnte. Dass für S. B. Sehen, wenn auch mit den beschriebenen Einschränkungen und Folgen, überhaupt wieder möglich war, ist einem Phänomen zuzuschreiben, dessen Wichtigkeit im Alltag nur wenig beachtet wird: der neuronalen Plastizität. Unter neuronaler Plastizität wird die bemerkenswerte Fähigkeit des Gehirns verstanden, sich beständig den Herausforderungen seines Gebrauchs anzupassen. Dieser Fähigkeit liegen elektrochemische Veränderungen an den Dendriten und im weitesten Sinne Abänderungen der Verknüpfungen zwischen den Neuronen zugrunde. Das heißt, das Gehirn und hier insbesondere die Hirnrinde ist eine sehr anpassungsfähige und sich selbst beständig optimierende Struktur. Durch den besonderen Gebrauch des Tastsinns wird beispielsweise den Fingern im sensorischen Rindenfeld der Großhirnrinde ein größeres Areal zugeordnet. Ähnliches ist für Leser der Blindenschrift (Brailleschrift) bekannt.Ihrer rechten Zeigefingerkuppe ist im Gehirn ein größeres sensorisches Areal zugeordnet. Diese Anpassung erfolgt zeitlebens, wenngleich es, wie beschrieben, »kritische Entwicklungsperioden« gibt, in denen bestimmte Fähigkeiten vollständig erworben werden. Mit zunehmendem Alter läuft der Anpassungsvorgang langsamer ab. Daher verlangt diese einzigartige Fähigkeit unseres Gehirns eine bewusste Fürsorge. Der Psychiater Manfred Spitzer schreibt in der »Gebrauchsanweisung für Ihr Gehirn«:
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Plastizität ist selbst ein positiver Wert und lässt sich z. B. durch das Vermeiden von Eintönigkeit fördern. Sie mahnt jedoch auch, auf dem Menschen gemäße Erfahrungshorizonte zu achten. Um es drastisch zu formulieren: Wer täglich zwei Stunden Horror- und Gewaltfilme anschaut (oder, schlimmer noch, seine Kinder anschauen lässt), der sollte wissen, dass dies Veränderungen im Gehirn bewirkt, die entsprechendes Verhalten begünstigen und damit letztendlich zu mehr Horror und Gewalt in der realen Welt beitragen.Wir sind es gewohnt, sehr auf den Input für den Magen zu achten; im Hinblick auf unser wichtigstes Organ,
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das Gehirn, ist uns der Gedanke an eine Diät sehr fremd. Dabei ist unser Gehirn im Gegensatz zum Magen zeitlebens plastisch wie eine Wachstafel. Achten wir in Zukunft besser auf die Eindrücke! (Spitzer 2000, S. 335)
Die Plastizität des Gehirns ist somit eine Voraussetzung für das Lernen.Das Lernen selbst kann sich sowohl auf das Erlernen von Verhalten (implizites Lernen) als auch auf die Aneignung von Wissen (explizites Lernen) beziehen (. Abb. 15.3; Behaviorismus; kognitive Psychologie). Diese Trennung von implizitem und explizitem Lernen ist weitgehend eine analytische und sie ist bedingt durch die verschiedenen wissenschaftlichen Herangehensweisen und Forschungsgebiete, wie z. B. Neurophysiologie, Neuropsychologie, Pädagogik. Wie in den vorangehenden Abschnitten dargelegt und aus der Fallgeschichte abzuleiten, ist im Alltag der Erwerb von Wissen eng mit emotionalen und motivationalen Aspekten verbunden. Ebenso sind Lernen und Gedächtnis nicht voneinander zu trennen. Beide Begriffe bezeichnen den Vorgang der menschlichen Informationsverarbeitung, wobei Lernen die Prozesse der Aneignung und Gedächtnis die Vorgänge des Speicherns und Abrufens von Informationen meint.Analog zum Lernen werden zwei Arten des Gedächtnisses beschrieben, die in der Psychologie von verschiedenen Forschungsrichtungen untersucht werden: das explizite oder deklarative Gedächtnis, unter dem wir die bewusste Wiedergabe von Fakten und Ereignissen verstehen, und das implizite oder prozedurale Gedächtnis, welches beispielsweise für die Wiedergabe von Fertigkeiten und Gewohnheiten, Bewegungsfolgen und Regeln verantwortlich ist (siehe Abb. 15.3). Natürlich sind die Grenzen zwischen explizitem und implizitem Lernen und Gedächtnis fließend.Während Verhaltensweisen auch ohne Beteiligung des Bewusstseins erworben werden können, geschieht der Erwerb und die Wiedergabe von Wissen und Ereignissen bewusst. Es ist durch den Willen kontrollierbar und kann sprachlich ausgedrückt werden. Im Nachfolgenden soll auf das explizite Lernen und Gedächtnis eingegangen werden. Durch Wahrnehmung,Vorstellung,Denken,Urteilen und Sprache erlangt ein Mensch Kenntnis
344
Kapitel 15 · Aufnehmen, Verarbeiten, Speichern und Abrufen
. Abb. 15.3. Klassifikation und Lokalisation der Informationsverarbeitung. (Modifiziert nach Thompson 2001 und nach Schmidt 1998)
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von seiner Umgebung.Diese Vorgänge werden auch Kognitionen genannt und durch sie wird Wissen erworben.Der Wissenserwerb ist kein passiver Vorgang, bei dem analog des Bildes vom Nürnberger Trichter einem Menschen von außen Wissen eingetrichtert wird, sondern es wird ein vom Individuum, ein von »innen« ausgehender, aktiver Strukturierungsprozess in Gang gesetzt. Dabei wird nicht nur völlig Neues gelernt,sondern häufig findet auch ein »Umlernen« bzw. »Neuordnen« von bereits Erworbenem statt. Durch kognitive Prozesse schafft sich der Mensch nicht nur (s)ein Bild von der Umgebung, vielmehr beinhalten kognitive Prozesse die«inneren« geistigen Konstruktionen über die Umwelt.Die Schilderungen über S.B.verdeutlichen dabei die verschiedenen »Abbilder« von Wirklichkeit und ihren Einfluss auf die Existenz eines Menschen. Von den aus lernpsychologischer Sicht verschiedenen Aspekten des Wissenserwerbs sollen an dieser Stelle zwei hervorgehoben werden: Die Verankerung von neuem Wissens im Vorwissen wird in der Lernpsychologie als sinnvolles Lernen (Assimilation) bezeichnet. Als praktisches Beispiel zur
Assimilation wurden im vorliegenden Text für die Leser Verweise zu den bereits bekannten Wissensgebieten kursiv dargestellt. Umfangreiche Wissensgebiete können nur erfasst und langfristig behalten werden, wenn sie als Netzwerke abgespeichert wurden. Netzwerke zeichnen sich unter anderem durch eine hierarchische Organisation (siehe das Inhaltsverzeichnis dieses Lehrbuches!) aus. Im vorliegenden Text sind sowohl die kursiv- als auch die fettgedruckten Begriffe als Oberflächenstruktur eines Netzwerkes anzusehen,von der aus der Leser verschiedene Wissensdimensionen in die Tiefe erarbeiten kann. Ebenso wie der Wissenserwerb als ein aktiver, vom Individuum ausgeführter Strukturierungsprozess zu verstehen ist, ist das Gedächtnis kein passiver Speicher. Lernen und Gedächtnis steht für den Vorgang der menschlichen Informationsverarbeitung. Als Grundmodell lassen sich Aneignung, Speicherung und Abruf von Informationen analytisch voneinander trennen, deren konkrete Abgrenzung »in der Realität« nicht wahrgenommen werden (. Abb. 15.4).
345 15.1 · Das Gehirn
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. Abb. 15.4. Differenzierte Betrachtung von Lernen und Gedächtnis als Vorgang menschlicher Informationsverarbeitung
Auf die Wahrnehmung eines Außenreizes (Input) erfolgt die Informationsverarbeitung und die Informationsspeicherung.Dabei ist Gedächtnis nicht als ein Ort im Großhirn zu verstehen, sondern vielmehr als ein Zusammenwirken verschiedener anatomischer Strukturen. Die Speicherung von Gedächtnisinhalten erfolgt an verschiedenen Stellen. So sind beispielsweise Teile des Schläfen-
lappens für die Wiedererkennung von Bildern zuständig, Teile des Stirnlappens für die Speicherung der Reihenfolge der Bilder.Für den Erwerb von Fertigkeiten (implizites Lernen und Gedächtnis) ist vor allem die Funktionstüchtigkeit sensomotorischer Systeme und der Basalganglien des zentralen Nervensystems erforderlich. Bei der Aneignung und Speicherung von Sachwissen spielen das mediale Temporallappensystem (Hippocampus und umliegende corticale Strukturen) eine entscheidende Rolle (siehe auch Abschn. 15.1.6). Bei der Alzheimer-Erkrankung findet sich eine Atrophie (Gewebsverlust) im Bereich des Hippocampus und in Arealen des Cortex. Dies erklärt unter anderem den Verlust an kognitiven Fähigkeiten, den Menschen mit Alzheimer-Erkrankung erleiden. Verarbeitete und gespeicherte Informationen können ihrerseits die Aufnahme neuer Informationen beeinflussen. Ob gespeicherte Informationen erfolgreich abgerufen und als Output (Leistung) abgegeben werden können, hängt eng mit der Art der zuvor stattgehabten Informationsverarbeitung zusammen. Der Informationsfluss und die Speicherung von Informationen lassen sich über das Dreispeichermodell des Gedächtnisses (. Abb. 15.5) beschreiben: Das sensorische Gedächtnis nimmt Informationen der Sinne auf. Die Speicherdauer ist sehr
kurz (weniger als eine Sekunde), die gespeicherte Informationsmenge sehr hoch. Die gespeicherten Informationen werden nicht alle bewusst wahrgenommen und Informationen, denen wir keine Aufmerksamkeit zuwenden, gehen verloren. Das Kurzzeitgedächtnis enthält bereits bearbeitetes Informationsmaterial.Die Informationen werden für ca. 3–4 Minuten gespeichert.Durch verschiedene Kontrolltechniken, z. B. willentlich getätigte Wiederholungen von Worten oder Zahlen oder durch das aktive Bearbeiten (wie beispielsweise die Verknüpfung von neuem Wissen mit alten Gedächtnisinhalten) kann verhindert werden, dass Informationen vergessen werden. Im Unterschied zum sensorischen Gedächtnis hat das Kurzzeitgedächtnis nur eine geringe Kapazität. Bei einem einmaligen Informationsangebot können nur 7 Elemente behalten werden, wobei es sich überwiegend um Phoneme (sprachliche Einheiten) wie Buchstaben,Silben, Wörter, aber auch Zahlen handelt. Daraus ergibt sich, dass nicht mechanisches Wiederholen von Informationen, sondern vor allem die Organisation von Informationen – und damit von Lernmaterial im Rahmen des Studiums – eine bedeutsame Rolle spielen. Dabei ist es für das jeweilige Individuum ebenfalls von Bedeutung, ob die Informationen als Aussage,durch Bild und Sprache (d.h.analog),oder durch Handlungen repräsentiert werden. In das Langzeitgedächtnis abgelegte Informationen können dauerhaft, über die gesamte Lebensspanne hinweg behalten werden. Die Informationskapazität ist sehr hoch und umfasst alle Lebenserinnerungen und Kenntnisse. Eine umfangreiche und gut gegliederte Bibliothek mag hierfür als bildhafte Beschreibung dienen.
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Kapitel 15 · Aufnehmen, Verarbeiten, Speichern und Abrufen
. Abb. 15.5. Der Informationsfluss durch das Gedächtnis
Wichtig
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Informationen sind im Langzeitgedächtnis vor allem nach ihren Bedeutungen organisiert und abgelegt. Der Abruf von Informationen hängt eng mit der Verarbeitung zusammen, d. h. die Ähnlichkeit zwischen Lern- und Abrufsituation spielt bei der Gedächtnisleistung eine Rolle. Ebenso ist bekannt, dass das Wiedererkennen leichter gelingt als die aktive Reproduktion von Gelerntem und dass das Vergessen häufig auf nicht erfolgreich angewandte Suchmechanismen zurückgeführt werden kann (»es geht mir im Kopf herum, aber ich bringe es nicht auf die Zunge«).
Die einzelnen Gedächtnisspeicher müssen zusammenarbeiten, um die Informationsspeicherung bzw. den Informationsabruf zu gewährleisten: Die Einprägung in das Langzeitgedächtnis läuft stets über das Kurzzeitgedächtnis, die Wiedergabe von Informationen aus dem Langzeitgedächtnis über
das Kurzzeitgedächtnis (Arbeitsspeicher). Zur Überführung der Information vom Kurzzeitgedächtnis in das Langzeitgedächtnis (Konsolidierung von Lerninhalten) ist die Intaktheit des Hippocampus erforderlich. Bei einer Schädigung des
Hippocampus können Individuen keine neuen Informationen mehr speichern (anterograde Amnesie) und die Fähigkeit des expliziten Lernens ist gestört. Nachdem die Informationen im Hippocampus konsolidiert wurden,erfolgt ihre Weitergabe in das Langzeitgedächtnis, d. h. an die verschiedenen Areale der Großhirnrinde. Welche zellulären Prozesse liegen dem Dreispeichermodell zugrunde? Der Speicherprozess im Kurzzeitgedächtnis beruht nicht auf permanenten Änderungen der Verbindungen im Nervensystem wie z. B. der Ausbildung neuer Nervenbahnen oder neuer Synapsen.Es kommt stattdessen zu einer verstärkten Ausschüttung und damit erhöhten Aktivität der Neurotransmitter aus den Synapsen der am Lernen beteiligten Neuronen.Der Überführung von Inhalten vom Kurzzeit- in das Langzeitgedächtnis (Konsolidierung) liegen spezielle elektrophysiologische Vorgänge an den Neuronen (Lang-
347 15.2 · Das Immunsystem
zeitpotenzierung, LTP) zugrunde.Es kommt hier zu einer über Minuten bis zu Stunden andauernden erhöhten Erregbarkeit von Nervenzellen im Bereich des Hippocampus und des Cortex. Während dieser Zeit kann die Konsolidierung von Gedächtnisinhalten stattfinden. Die Informationsspeicherung im Langzeitgedächtnis beruht auf strukturellen Veränderungen an den Neuronen, wie z. B. einer größeren Anzahl von synaptischen Verbindungen zwischen zwei Neuronen oder einem größeren aktiven Areal einer Synapse. Im Lauf der Lernprozesse bleiben häufig benutzte Nervenverbindungen erhalten,während selten oder kaum benutzte reduziert werden.
15.2
Das Immunsystem
15.2.1 Fallgeschichte
Die am längsten bekannte Infektionskrankheit des Menschen sind die Pocken. Pockennarben finden sich bereits bei der aus dem Jahr 1160 vor Christus stammenden Mumie von Ramses V. Bis zum Ende des 18.Jahrhunderts waren die Pocken weltweit verbreitet und wegen ihrer hohen Letalität für 20% aller Todesfälle weltweit verantwortlich, da ca. 70% der Erkrankten starben. Beispiel 1772 kehrte der englische Arzt Eward Jenner nach Abschluss seiner Ausbildung zum Chirurgen aus London in seine Heimat Gloucestershire zurück und ließ sich als Landarzt nieder. Die Pocken, gegen die noch kein entsprechendes Mittel gefunden war, befielen auch die Region Gloucestershire und zahlreiche Menschen erkrankten und verstarben.Wie auch seine Kollegen kannte Jenner die so genannte »Variolation«, bei der gesunden Menschen der Eiter eines Pockenkranken geimpft wurde, um ihn mit Pocken – deren Harmlosigkeit man erhoffte, aber nicht nachweisen konnte – anzustecken und auf diese Weise für die nachfolgende Infektion (Reinfektion) zu immunisieren. Bei dieser präventiven Anwendung der Variolation zeigte sich allerdings, dass die Todesrate sehr hoch
15
war,da sie die Gefahr einer Ansteckung mit tödlichem Ausgang in sich barg. Jenner gab sich mit diesem gefährlichen Verfahren nicht zufrieden und begann,die in ländlichen Gebieten bekannte Tatsache, dass an Kuhpocken Erkrankte gegen (»Menschen«-) Pocken immun seien, zu untersuchen. Kuhpocken werden durch das Kuhpockenvirus, Pocken beim Menschen durch das Variolavirus hervorgerufen. Beide Virenarten gehören zur Familie der Pockenviren (Poxviridae), zu der auch das Vakziniavirus zählt, das heute zur Vakzinierung gegen Pocken verwendet wird. 1776 führte Jenner einen legendären Versuch durch, der in dieser Form aufgrund ethischer Vereinbarungen und Vorschriften heute nicht mehr möglich wäre. Beteiligt waren die an Kuhpocken erkrankte Magd einer Farm, Sarah Nelmes, und der junge, gesunde James Phipps. Jenner impfte den Inhalt einer Kuhpockenpustel von der Hand Sarah Nelmes in den Arm des gesunden Jungen. 10 Tage später erschien an der Impfstelle eine Impfpustel, die ohne Zwischenfälle abheilte. Anschließend wurde der weiterhin gesunde James mit dem Eiter eines Pockenkranken geimpft. Diese Impfung blieb ohne die befürchtete Nebenwirkung der Pockenerkrankung mit unter Umständen tödlichem Ausgang; ein Beweis dafür, dass der Knabe durch die zuvor erfolgte Impfung mit den Kuhpockenviren gegen die (»Menschen«-) Pocken immun war. Da er bewiesen hatte, dass Kuhpockenerreger von Mensch zu Mensch übertragen werden konnten und dabei ihre gegen die Pocken schützende Eigenschaft behielten, wurde Jenners Impfung 1800 in der englischen Armee angewendet.
Dies war die Grundlage für die weltweite Anwendung dieser Impfung. In zahlreichen Ländern wurde sie bis zur Ausrottung der Pocken 1980 zeitweise zur Pflichtimpfung erklärt (in Deutschland bis 1983). Mittlerweile gelten die Pocken weltweit als ausgerottet.In Deutschland wurde 1972 zum letzten Mal eine eingeschleppte Pockenerkrankung gemeldet. Zuletzt erkrankten 1977 in Somalia ca. 2000 Menschen an Pocken. Das 1967 von der WHO gestartete Ausrottungsprogramm der Pocken (Pro-
348
Kapitel 15 · Aufnehmen, Verarbeiten, Speichern und Abrufen
phylaxe durch Impfung) wurde am 8. Mai 1980 für erfolgreich beendet erklärt.Auch wenn die Pocken in diesem Jahrhundert nicht mehr zu den Hauptsorgen weltweiter Gesundheitsgefährdung zählen, darf nicht vergessen werden, dass wirkliche Ruhe vor Pocken tatsächlich nur in den Ländern mit hoch entwickelten wirtschaftlichen und sozialen Strukturen herrscht. 1997 trat in Zaire eine vom Affenpockenvirus verursachte Epidemie beim Menschen auf, die sich im Hinblick auf Übertragung,Verbreitung und Verlauf deutlich von allen bisher dokumentierten Pockenepidemien unterschied. Es stellt sich daher die Frage, ob Mitglieder der Familie der Pockenviren (Poxviridae; s. oben) über Tierpopulationen wieder den Weg in die menschliche Population nehmen können. (Für weitergehende und aktuelle Informationen hierzu: Robert-Koch-Institut in Deutschland: http://www.rki.de und Weltgesundheitsorganisation (WHO): http://www.who.ch) Wichtig
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1. Analysieren Sie die Fallgeschichte und beschreiben Sie den Weg von der Informationsaufnahme bis zur Reaktion des Körpers 2. Welche Fragen nach Grundlagen, Hintergründen und Zusammenhängen ergeben sich für Sie aus dem Text? 3. Verdeutlichen Sie die Hauptbestandteile des Immunsystems und ihre Beziehungen in einer graphischen oder schematischen Darstellung, wie Flussdiagramm, Mind Map o.ä. 4. Fügen Sie als weiteren Schritt in Ihr Bild praktische Beispiele aus der Pflege ein, die die Bedeutung des Immunsystems sowohl für Pflegende als auch für Gepflegte verdeutlichen.
dene Organsysteme unseres Körpers isoliert betrachtet und erforscht. Gerade bei Gehirn und Immunsystem zeigt sich, dass von Seiten der Naturwissenschaften das Begreifen von gemeinsamen Lebensprinzipien verschiedener Organsysteme sowohl für das wissenschaftliche Verständnis eines Organismus als auch für den praktischen Umgang mit dem Individuum ein entscheidender Beitrag zu einem ganzheitlichen Verständnis des Menschen ist. Damit wird auch ein Schritt zur Überwindung des kartesianischen Weltbildes möglich, das bis auf den heutigen Tag die Medizin und in Teilen auch die Pflege prägt. (Das kartesianische Weltbild umfasst die Lehre des französischen Philosophen René Descartes (1596–1650), die unter anderem von der Selbstgewissheit des Bewusstseins und dem LeibSeele-Dualismus gekennzeichnet ist.) Die Fallgeschichte beschreibt die Geburtsstunde der heutigen aktiven Impfung und ist vielen sicher bekannt. Anders als bei den Fragen zur ersten Fallgeschichte von S. B. sollten die Leserinnen und Leser durch diese Fallgeschichte dazu angeregt werden,sich die Bestandteile des Immunsystems nochmals in das Gedächtnis zu rufen (siehe auch Abschn. 15.1.7) und ein Netzwerk »Immunsystem« zu erarbeiten. Dabei kann . Abb. 15.6 als Anregung und Diskussionsgrundlage für die Erarbeitung der Fragen zur Fallgeschichte genutzt werden. Die einzelnen Bestandteile des Immunsystems werden in den nachfolgenden Abschnitten nicht mehr im Detail vorgestellt. Für die Auffrischung bereits bekannter Grundlagen sei der Leser auf die Hilfen zum weiterführenden Erarbeiten und Verknüpfen von Wissensinhalten verwiesen. Die folgenden Erörterungen zeigen auf, wie die einzelnen Bestandteile des Immunsystems miteinander kommunizieren und verweisen dabei auf die zentrale Eigenschaft des Immunsystems: die Kommunikation. Außerdem sollen Ähnlichkeiten mit der Informationsverarbeitung im Gehirn dargestellt und betrachtet werden.
15.2.2 Hinführung
15.2.3 Das Immunsystem im Überblick
In Abschn. 15.1 wurde bereits angedeutet, dass das Immunsystem hinsichtlich des Umganges mit Informationen bemerkenswerte Parallelen zu unserem Gehirn aufweist. Lange Zeit wurden verschie-
Für den menschlichen Organismus bedeutet der Begriff Immunität Abwehr von beziehungsweise Schutz vor Erkrankungen, zum Beispiel vor Infektionskrankheiten, wie in der Fallgeschichte darge-
15
349
. Abb. 15.6. Die Bestandteile des menschlichen Immunsystems
15.2 · Das Immunsystem
stellt.Als Immunsystem werden die Organe, Zellen und Botenstoffe bezeichnet, die für die Aufrechterhaltung der Immunität eines Organismus verantwortlich sind (angeborenes und erworbenes Immunsystem; zelluläre und humorale Bestandteile des angeborenen Immunsystems; zelluläre und humorale Bestandteile des erworbenen Immunsys-
tems). Ständig wirken Informationen aus der belebten und unbelebten Außenwelt, aber auch aus dem Körperinneren auf das Immunsystem ein (Antigene). Nach heutigem Verständnis wird die gemeinsame und nach vorgegebenen, strukturierten biologischen Abläufen stattfindende Reaktion des Immunsystems auf diese Informationen als Im-
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Kapitel 15 · Aufnehmen, Verarbeiten, Speichern und Abrufen
munantwort bezeichnet. Die Immunantwort besteht aus zwei Komponenten, der sogenannten unspezifischen (angeborenen) und der sogenannten spezifischen (erworbenen) Immunität.Bei der Verarbeitung von Informationen aus der Außenwelt und aus dem Köperinnern arbeiten das unspezifische und das spezifische Immunsystem zusammen, um so Veränderungen des immunologischen Gleichgewichts zu verhindern und Krankheiten abzuwehren.
15.2.4 Infektionsabwehr am Beispiel
der Immunabwehr von Viren
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Gehen wir zurück zur Fallgeschichte: Was geschieht, wenn sich ein Mensch mit Pockenviren infiziert und an Pocken erkrankt? Ähnlich wie bei der Informationsverarbeitung im Gehirn bedeutet eine Infektion, dass Informationen von der Außenwelt in den Organismus gelangen, die dieser weiter verarbeitet. Und ebenfalls den Vorgängen im Gehirn sehr ähnlich, wird auch hier überprüft, ob diese Information »völlig neu« ist oder bereits schon einmal »gespeichert« wurde. Dies ist eine Aufgabe des sogenannten immunologischen Gedächtnisses. Diese Gedächtnisfähigkeit ist eines der zentralen Charakteristika des Immunsystems (Gedächtniszelle, aktive Impfung). Ein weiteres Charakteristikum ist die Fähigkeit zwischen »selbst« und »nicht-selbst« zu unterscheiden. Das bedeutet,dass das Immunsystem zwischen den körpereigenen Zellen (selbst) und körperfremden Zellen oder Partikeln (z. B. Bakterien,Viren, Pilzsporen, Stauboder Asbestfasern) unterscheiden kann und nur Körperfremdes angreift und zerstört. Anders ist dies bei allen Autoimmunkrankheiten, wie z. B. rheumatoider Arthritis, Diabetes mellitus Typ I, Colitis ulcerosa oder M.Basedow,bei denen das Immunsystem mit den bislang als »selbst« erkannten, körpereigenen Zellen der Synovia, der Bauchspeicheldrüse, des Darmes oder der Schilddrüse durch noch nicht vollständig bekannte Prozesse plötzlich verfährt als seien sie »nicht-selbst«. Diese »Fehleinschätzung« führt zur Zerstörung der köpereigenen Zellen, analog der Zerstörung von körperfremden Bakterien oder Viren. Und anders als bei der Zerstörung von eingedrungenen Bakterien oder Viren wird nun der Zerstörungsprozess nicht
nach Beseitigung des Antigens beendet, sondern über unbestimmt lange Zeitintervalle fortgesetzt (Autoimmunerkrankungen). Wichtig Gedächtnis und Unterscheidung zwischen »selbst« und »nicht-selbst« sind entscheidende Charakteristika unseres Immunsystems.
Kehren wir zurück zu den in den Organismus eingedrungenen Pockenviren: Frei in der Blutbahn befindliche Pockenviren könnten an Antikörper gebunden werden und dann mit Hilfe des aktivierten Komplementsystems (Abb. 15.6, angeborenes Immunsystem) so verändert werden, dass sie nicht mehr fähig wären, menschliche (Wirts-) Zellen zu infizieren.Allerdings ist es ein Merkmal von Viren, dass sie sich in die Zellen und die Erbsubstanz (DNA) des Wirtsorganismus einschleusen und somit der Abwehr durch die Antikörper entgehen können. Wie aber geht das Immunsystem mit Zellen um, die zwar das Merkmal »selbst« tragen, aber von »nicht-selbst« infiziert sind (z. B. von Pockenviren; gleiches gilt aber auch für HIV und andere Viren)? Wie unterscheidet es beispielsweise die infizierten Haut- oder Schleimhautzellen im Falle einer Pockeninfektion von den nicht-infizierten Zellen? Hier zeigt sich ein weiteres Charakteristikum der Informationsverarbeitung im Immunsystem: Wenn Informationen erkannt und weiterverarbeitet werden sollen,müssen sie »nach außen«,»an die Oberfläche« gebracht werden.Die Oberfläche einer Zelle,die als Kontaktfläche nach außen dient,ist die Zellmembran.Das Präsentieren von Informationen an der Zellmembran ist ein Weg, wie das Immunsystem eine virusinfizierte Zelle des Wirtsorganismus erkennen kann. In den vergangenen Jahren wurden grundlegende Details der Struktur und Funktionsweise des Immunsystems erforscht, aus denen ein besseres Verständnis für die Entstehung und die Therapie einer Vielzahl von Erkrankungen (z. B. Autoimmunerkrankungen, chronischen Wunden und Infektionen, Allergien, Krebserkrankungen) abgeleitet wurde.Diese Grundlagen lassen sich vereinfacht wie folgt darstellen:
351 15.2 · Das Immunsystem
Um dem Immunsystem die Information zu geben, dass virusinfizierte Zellen im Körper vorhanden sind, bringen die infizierten Wirtszellen Virusteile an die Zelloberfläche und präsentieren sie den Zellen des Immunsystems. Die Präsentation geschieht mit Hilfe einer bestimmten, taschenähnlichen Struktur auf der Zelloberfläche, dem MHCKlasse I-Komplex (Major Histocompatibility Complex), in die das Viruspartikel »hineingeschoben« wird. Üblicherweise werden in den »Taschen« des MHC-Klasse I-Komplexes, der sich auf der Oberfläche aller kernhaltigen Zellen und den Thrombozyten befindet, körpereigene Partikel präsentiert, um so körpereigene Zellen gegenüber dem Immunsystem als »selbst« zu kennzeichnen. Dieser Vorgang ist vergleichbar mit einer Passkontrolle an einer Grenze. Die Zellen des Immunsystems haben eine Aufgabe analog der Aufgabe der Grenzschützer: Sie kontrollieren einen »Ausweis« (MHC-Klasse I-Komplex), der die Information »selbst« trägt. Zellen des Organismus, die diesen Ausweis »zeigen«, werden nicht durch das Immunsystem angegriffen (Ausnahmen sind die Autoimmunerkrankungen). Zellen die den Ausweis »nicht-selbst« (z.B.Teile eines Pockenvirus) zeigen,werden durch das Immunsystem angegriffen und zerstört. Durch die Zellzerstörung wird dem Virus buchstäblich die Lebensgrundlage entzogen – es kann sich auf Kosten der Wirtszelle nicht weiter vermehren. Bleibt genauer zu betrachten, wodurch und wie virusinfizierte Zellen zerstört werden. Hier kommen die Zellen des spezifischen Immunsystems zum Einsatz: Präsentiert eine virusinfizierte Wirtszelle im MHC-Klasse I-Komplex Viruspartikel (Virusantigene), so docken zytotoxische T-Zellen (. Abb. 15.6), die auf ihrer Oberfläche eine spezifische Antigenerkennungsstruktur, den T-Zellrezeptor, aufweisen, an den MHC-Klasse I-Komplex der Wirtszelle an und töten diese ab. Betrachten wir die Vielzahl von infizierten Wirtszellen bei einer Pockenerkrankung,so ist es einleuchtend,dass eine möglichst rasche und umfassende Zerstörung von virusbefallenen Zellen aus Sicht des Wirtsorganismus optimal wäre. Hier kommen die T-Helferzellen zum Einsatz: Auch sie können an einer Wirtszelle, die Viruspartikel als »nicht-selbst« im MHC-Klasse I-Komplex präsentiert, andocken. Dabei zerstören sie jedoch nicht unmittelbar die Wirtszelle. Vielmehr setzten sie Botenstoffe frei (z. B. verschiedene Interleukine),
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die über den Blutweg andere Zellen des spezifischen Immunsystems wie Makrophagen oder zytotoxische T-Zellen anlocken.Die so angelockten und aktivierten Zellen töten die virusbefallene Wirtszelle ab. Wie bei allen über den Blutweg in Gang gebrachten, komplexen Reaktionsabläufen (vergleiche z.B.auch das Blutgerinnungs- und Fibrinolysesystem oder das Hormonsystem), führt die Aktivierung der Makrophagen und der zytotoxischen T-Zellen zu einer kaskadenartigen Zunahme des gewünschten Effektes: Zytotoxische T-Zellen werden nicht nur angelockt, sondern vermehren sich auch durch die von den T-Helferzellen abgegebenen Botenstoffe und verstärken damit die Immunantwort. Trotz der beschriebenen Verstärkung der Immunantwort durch die T-Helferzellen könnte es geschehen, dass eine virusinfizierte Zelle nicht rechtzeitig erkannt und zerstört wird, sich die Viren vermehren,die Wirtszelle zerstören und über die Blutund Lymphbahnen durch den Körper wandern und neue Wirtszellen befallen. Welche Möglichkeiten hat der Organismus dann zu reagieren? Im Blut und in den verschiedensten Organen befinden sich die Makrophagen sowie die ortsständigen Zellen aus der Familie der antigenpräsentierenden Zellen (APZ) des angeborenen Immunsystems (. Abb.15.6).Sie nehmen das
Virus auf (Antigenaufnahme), bearbeiten es (Antigenprozession) und zeigen den anderen Zellen des Immunsystems (Antigenpräsentation) mit Hilfe des MHC-Klasse II-Komplexes, der sich ausschließlich auf den Makrophagen und den Lymphozyten befindet,Viruspartikel an der Zelloberfläche. Es ist das gleiche Prinzip wie bei dem erworbenen Immunsystem: Informationen, d. h. Kenntnisse über die Struktur des Antigens (z. B. des Pocken-Virus), werden – diesmal nicht von Wirtszellen, sondern von Immunzellen – in die Zelle aufgenommen und bearbeitet. Schließlich werden sie an die Zelloberfläche gebracht, um den anderen Zellen des Immunsystems präsentiert zu werden. Dadurch kann die Immunreaktion in Gang kommen. Im Falle der Antigenpräsentation durch die Makrophagen bzw. durch andere Mitglieder der APZ-Familie können die T-Helfer-Zellen des erworbenen Immunsystems an den MHC-Klasse II-Komplex andocken. Im weiteren Verlauf vermehren sich zytotoxische T-Zellen und zerstören noch im Organismus befindliche,
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Kapitel 15 · Aufnehmen, Verarbeiten, Speichern und Abrufen
infizierte Wirtszellen,die sich über den MHC-Klasse I-Komplex als virusinfiziert (»nicht-selbst«) zu erkennen geben. Über diesen Weg ist es möglich, die Immunantwort ebenfalls zu verstärken, so dass durch das Zusammenspiel zwischen den Zellen der APZ-Familie und der T-Zell-Familie (und somit des angeborenen und des erworbenen Immunsystems) eine höchst effektive Bekämpfung der in den
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Organismus eingedrungenen Erreger möglich ist. Nach erfolgter Bekämpfung der Erreger muss das Immunsystem vom aktivierten Zustand wieder in den »Normalzustand« überführt werden. Hierfür sorgen die T-Suppressorzellen, indem durch sie und über Botenstoffe die Aktivität der zytotoxischen T-Zellen und der T-Helferzellen herunterreguliert wird.Fände dieser Vorgang nicht statt,käme es zu einer andauernden Immunreaktion mit nachteiligen Folgen für den Organismus.An dieser Stelle sei darauf verwiesen, dass Arzneistoffe, die das Immunsystem unspezifisch »anregen«, unter Umständen gerade sinnvolle Vorgänge des Herunterregulierens des Immunsystems ungünstig beeinflussen können. Hier ist weitere Forschung und ein vorsichtiger Umgang mit verschiedenen, zum Teil frei verkäuflichen, oft pflanzlichen Substanzen, denen eine »Anregung« oder »Unterstützung« des Immunsystems nachgesagt wird, geboten. Doch die T-Helferzellen nehmen noch eine weitere Aufgabe wahr: Einmal aktiviert, »helfen« sie bei der Aktivierung der Zellen der B-Familie. Durch die von den T-Helferzellen ausgeschütteten Botenstoffe entstehen Plasmazellen und B-Gedächtniszellen; die Plasmazellen produzieren Antikörper, die in der Lage sind,freie Antigene (z.B.freie Viren) zu binden (Antigen-Antikörper-Reaktion). Eine ausreichende Anzahl von Antikörpern findet sich nach ca. 8 –10 Tagen; schwere Krankheitssymptome bei Infektionserkrankungen klingen meist nach 8–10 Tagen ab. Die produzierten Antikörper sind für das jeweilige Antigen spezifisch. Antigenspezifität, sowohl bei den Antikörpern als auch bei den T-Zellrezeptoren, ist ein weiteres Charakteristikum des Immunsystems. Somit konnte die Pockenimpfung von Jenner nur Erfolg haben, weil eine große Übereinstimmung in der Struktur des Antigens »Kuhpocken« und des Antigens »Menschenpocken« besteht und die Antikörper, die der Impfling auf die geimpften Kuhpocken bildete,auch zur Abwehr der
Menschenpocken dienen. Es sei an dieser Stelle angemerkt, dass viele Viren ihre Oberflächengestalt häufig verändern und so die durch Impfungen erzeugten Antikörper einen Impfling nur bedingt oder auch gar nicht schützen können. Dieser Sachverhalt ist beispielsweise in der Herstellung von wirksamen Impfstoffen gegen HIV relevant und erklärt, warum solche Impfstoffe derzeit noch nicht verfügbar sind. Die Gedächtniszellen, sowohl in der T- als auch in der B-Familie, dienen dazu bei erneutem Kontakt des Organismus mit einem bekannten Erreger die gesamte Reaktion des Immunsystems schneller und damit noch effektiver ablaufen zu lassen. Dabei kann es dazu kommen, dass bei einem zweiten oder weiteren Kontakt des Organismus mit einem Erreger ein subjektives Krankheitsgeschehen nicht mehr bemerkt wird, wie auch in der Fallgeschichte dargestellt. Als Charakteristika des Immunsystems bei der Informationsverarbeitung ergeben sich zusammenfassend: 4 Erkennen von »selbst« und »nicht-selbst«, 4 Spezifität (der T- und B-Zell-Reaktion) 4 Gedächtnis und 4 Kommunikation über Oberflächenstrukturen (MHC-I und II-Komplexe) und Botenstoffe.
15.2.5 Analogien zwischen Gehirn
und Immunsystem Betrachtet man sowohl im Nervensystem als auch im Immunsystem diejenigen Strukturen,die für die Aufnahme,Verarbeitung,Speicherung und den Abruf von Informationen verantwortlich sind, so ergeben sich faszinierende Ähnlichkeiten (. Abb. 15.7). Die Zellen des Gehirns und die Zellen des Immunsystems verfügen über zum Teil identische Kommunikationsmoleküle. Die biologischen Antworten auf Informationen aus der Außen- und Innenwelt des Organismus, die jeweils das Gehirn oder das Immunsystem oder beide Systeme gleichzeitig erreichen, können auf diese Weise äußerst differenziert abgestimmt werden. Spätestens hier zeigt sich, dass aufbauend auf die beiden dargestellten Organsysteme Gehirn und Immunsystem eine vertiefende Beschäftigung mit dem Zusam-
353
15
. Abb. 15.7. Analogien zwischen Gehirn und Immunsystem. (Mod. nach Zänker 1996)
15.2 · Das Immunsystem
menspiel von Gehirn und Immunsystem und den daraus resultierenden Auswirkungen auf unsere Gesundheit und auf den Verlauf verschiedener Erkrankungen ein lohnendes interdisziplinäres (Unterrichts-) Projekt sein kann. Die in diesem Beitrag dargestellten Informationen sollten als Grundlage
für solche zukünftigen Projekte dienen. In der weiterführenden thematischen und inhaltlichen Vorbereitung der Projekte können auch die in den letzten Jahren veröffentlichten Forschungsergebnisse aus dem Gebiet der Psycho-Neuro-Immunologie vielfältige Anregungen bieten (siehe auch Empfeh-
354
Kapitel 15 · Aufnehmen, Verarbeiten, Speichern und Abrufen
lungen zum Weiterlernen). Als Einstieg hierzu dienen folgende Fragen: 4 Welche Gemeinsamkeiten und welche Unterschiede in der Informationsverarbeitung von Gehirn und Immunsystem können Sie herausarbeiten? Nutzen Sie dazu auch die Abb. 15. 7. 5 Stellen Sie die Ergebnisse in einer Tabelle oder einer anderen grafischen Struktur gegenüber. 5 Welches Wissen und welche praktischen Konsequenzen können Pflegende für ihre unterschiedlichen Tätigkeitsfelder daraus ableiten? 5 Welche didaktischen Konsequenzen leiten Sie als Pflegepädagoge daraus für die Unterrichtsplanung,die Unterrichtspraxis und die Praxisanleitungen ab?
3 Zusammenfassung
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Die vielfältigen Eindrücke, die wir ständig aus der Umwelt erhalten,werden von unserem Organismus empfangen,aufgenommen,verarbeitet,gespeichert und abgerufen. Diese Vorgänge ermöglichen es »außen« und »innen« zu unterscheiden, uns abzugrenzen, aber auch Verbindungen zwischen »außen« und »innen« herzustellen und zu gestalten. Dies kann bewusst oder unbewusst, d. h. nicht willentlich herbeigeführt und bemerkt, geschehen. Ausgehend von je einer Fallgeschichte in Bezug auf das Gehirn und das Immunsystem wird dargestellt, wie die einzelnen Schritte der Informationsaufnahme und -verarbeitung vollzogen werden und auf Ähnlichkeiten beider Organsysteme in der Informationsverarbeitung eingegangen. Dabei werden immer wieder Verknüpfungen zu bereits vorhandenem Kontextwissen der Leserinnen und Leser aufgezeigt. Ganz im Sinne der biologischen Informationsverarbeitung in unserem eigenen Gehirn können bei der Lektüre des Kapitels von den Leserinnen und Lesern eigene Netzwerke zum Thema Gehirn und Immunsystem angelegt, bzw. bereits bestehende, erweitert werden. Diese Netzwerke ermöglichen auch Verknüpfungen zu anderen Grundlagenfächern wie Pädagogik, Psychologie oder Ethik. Beschäftigen wir uns auf eine solche Weise mit den naturwissenschaftlichen Grundlagen der Pflege, eröffnen wir uns die Möglichkeiten, uns selbst und andere besser zu verstehen und mit uns selbst
und anderen besser umzugehen – auch in der Ausübung unseres Berufes.
3 Methodische Hinweise für die Seminargestaltung 1. Fallgeschichten, praktische Übungen, Modelle, Medien
Sowohl für die Beschäftigung mit dem Gehirn als auch mit dem Immunsystem bilden Fallgeschichten oder praktische Übungen zum Lernen oder Wahrnehmen den besten Einstieg,um Neugier zu wecken und Wissen über pflegerelevante biologische Grundlagen zu vermitteln. Des Weiteren ist es hilfreich, Modelle selbst herzustellen, um anatomischräumliche Vorstellungen zu entwickeln und physiologische Vorgänge zu »begreifen«. Beispielsweise könnte eine Nervenzelle oder Synapse gezeichnet oder mit Ton bzw. ähnlichen Materialien plastisch dargestellt und eingefärbt werden, ebenso die einzelnen Zellen des Immunsystems. Dazu können Vorlagen aus Büchern genutzt werden. Neben der Aneignung von Wissen schärft die eigene Herstellung von Modellen den ästhetischen Sinn der Lernenden und gibt Sicherheit, um unter dem Einfluss der Medienflut bei der Auswahl neben einer möglichst naturgetreuen auch auf eine würdevolle Darstellung zu achten. Für Studierende der Pflegepädagogik würde sich an dieser Stelle eventuell ein fächer- oder fachbereichsübergreifender Exkurs im Aufsuchen und Bewerten von Lehr- und Lernmaterial verschiedener Anbieter, einschließlich frei verfügbarer Bilddateien im Internet, empfehlen. Ein weiteres Projekt zu einem jeweiligen Unterrichtsthema wäre es, einen Reader anzulegen mit Angaben, wo und wie das Thema in der Literatur, der Musik, der Malerei oder dem Film behandelt wird. 2. Planung und Verknüpfung weiterer verwandter Themen
Ausgehend von den hier dargestellten Grundlagen beider Organsysteme können fächerübergreifende Unterrichtseinheiten zu weiterführenden Themen geplant werden. Nach der Beschäftigung mit dem Thema Lernen könnte z. B. die senile Demenz vom Alzheimer-Typ besprochen werden. Dabei können die Lernenden in verschiedenen Arbeitsgruppen
355 15.2 · Das Immunsystem
die unterschiedlichen Aspekte der Erkrankung und Pflege der Betroffenen sowie die Probleme der Angehörigen erarbeiten.Dies kann durch Kontaktaufnahme zu örtlichen Selbsthilfegruppen, Interviews mit Angehörigen und Pflegenden der Altenpflege ergänzt werden. Die gesammelten Erkenntnisse können gemeinsam ausgewertet werden. Daran können sich Überlegungen zu Möglichkeiten und Grenzen anschließen, wie und wo Pflegende die Ressourcen von Betroffenen,von Angehörigen und von sich selbst stärken können. Des Weiteren kann überlegt werden, an welcher Stelle externe Experten einen Teilaspekt, z. B. über den personenzentrierten Ansatz von Tom Kitwood oder über Probleme der Pflegeversicherung bei Menschen mit Demenz, referieren können.
3 Empfehlungen zum Weiterlernen Lehrbücher bzw. populärwissenschaftliche Bücher über das Gehirn und die Neurowissenschaften
4 Fonds »Jahr des Gehirns 1999« (Hrsg) (1999) Das menschliche Gehirn. Aufbau, Funktionsweisen und Fähigkeiten eines erstaunlichen Organs. Christian Brandstätter, Wien, München 4 Herschkowitz N (2002) Das vernetzte Gehirn. 2. Aufl. Huber, Bern, Göttingen, Toronto, Seattle 4 Norretranders T (1998) Spüre die Welt. Die Wissenschaft des Bewusstseins. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 4 Schmidt RF (Hrsg) (1998) Neuro- und Sinnesphysiologie. Springer, Berlin, Heidelberg, New York 4 Spitzer M (2000) Geist im Netz. Modelle für Lernen, Denken und Handeln. Spektrum, Heidelberg, Berlin 4 Spitzer M (2002) Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens. Spektrum, Heidelberg, Berlin 4 Thompson RF (2001) Das Gehirn: von der Nervenzelle zur Verhaltenssteuerung. Spektrum, Heidelberg, Berlin Weitere Informationen und viele interessante Beiträge zu Forschungsergebnissen der Neurowissenschaften sind im Internet zu finden unter www.spektrum.de
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Ein vertiefendes Buch zum Thema Lernen
4 Edelmann W (2000) Lernpsychologie. 6. Auflage. BeltzPVU, Weinheim Bücher zum Thema »Konstruktivismus; Konvergenz von Naturund Geisteswissenschaften«
4 Maturana HR,Varela FJ (1987) Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln menschlichen Erkennens. Scherz, Bern München 4 Watzlawick P (Hrsg) (1985) Die erfundene Wirklichkeit. Wie wissen wir, was wir zu wissen glauben? Piper, München Zürich Populärwissenschaftliche Bücher über das Immunsystem und über Psycho-Neuro-Immunologie
4 Miketta G (1991) Netzwerk Mensch. Psychoneuroimmunologie: Den Verbindungen von Körper und Seele auf der Spur. Eine neue Wissenschaft revolutioniert unser medizinisches Weltbild. Thieme, Stuttgart 4 Zänker K (1996) Das Immunsystem des Menschen: Bindeglied zwischen Körper und Seele. Beck, München Weitere Informationen und interessante Beiträge zu Forschungsergebnissen der Immunologie und der Psycho-Neuro-Immunologie, auch in Verbindung mit Erkenntnissen aus der Stressforschung, sind im Internet zu finden unter www.spektrum.de Literatur Beske F, Hallauer JF (1999) Das Gesundheitswesen in Deutschland. 3. Aufl. Deutscher Ärzte-Verlag, Köln Edelmann W (2000) Lernpsychologie. 6. Aufl. BeltzPVU, Weinheim Fonds »Jahr des Gehirns 1999« (Hrsg) (1999) Das menschliche Gehirn. Aufbau, Funktionsweisen und Fähigkeiten eines erstaunlichen Organs. Christian Brandstätter, Wien München Gregory RL (2001) Auge und Gehirn. Psychologie des Sehens. Rowohlt, Reinbek Kitwood T (2000) Demenz. Der personenzentrierte Ansatz im Umgang mit verwirrten Menschen . Hans Huber, Bern Göttingen Toronto Seattle Maturana HR, Varela FJ (1987) Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln menschlichen Erkennens. Scherz, Bern München Miketta G (1991) Netzwerk Mensch. Psychoneuroimmunologie: Den Verbindungen von Körper und Seele auf der Spur. Eine neue Wissenschaft revolutioniert unser medizinisches Weltbild. Thieme, Stuttgart
356
Kapitel 15 · Aufnehmen, Verarbeiten, Speichern und Abrufen
Norretranders T (1998) Spüre die Welt. Die Wissenschaft des Bewusstseins. Rowohlt, Reinbek Schmidt RF, Thews G, Lang F (Hrsg) (2000) Physiologie des Menschen. 28. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Schmidt RF (Hrsg) (1998) Neuro- und Sinnesphysiologie. Springer, Berlin Heidelberg New York Spitz RA (1973) Die Entstehung der ersten Objektbeziehungen. 3. Auflage. Klett, Stuttgart
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Spitzer M (2000) Geist im Netz. Modelle für Lernen, Denken und Handeln. Spektrum, Heidelberg Berlin Thompson RF (2001) Das Gehirn: von der Nervenzelle zur Verhaltenssteuerung. Spektrum, Heidelberg Berlin Watzlawick P (Hrsg) (1985) Die erfundene Wirklichkeit.Wie wissen wir, was wir zu wissen glauben? Piper, München Zürich Zänker K (1996) Das Immunsystem des Menschen: Bindeglied zwischen Körper und Seele. Beck, München
16 Public Health in Deutschland – Entwicklungen in der Forschung, der Lehre und Transfer in die Versorgungspraxis Ulla Walter, Martina Plaumann 16.1
Was ist Public Health?
358
16.1.1
Inhalte und Felder von Public Health
16.1.2
Charakteristika von Public Health
16.2
Entwicklung und Konsolidierung von Public Health in Deutschland 362
16.2.1
Förderung von Public Health
16.2.2
Was wurde erreicht? Bilanz und Perspektiven
359
362
362 363
358
Kapitel 16 · Public Health in Deutschland
> Thesen
16
In der aktuellen Diskussion um das Gesundheitswesen in Deutschland stellen sich in der täglichen Versorgungspraxis wie auch für die Gesundheitspolitik viele Fragen, die nur gemeinsam und schrittweise gelöst werden können. Schlüsselfragen sind u. a. 5 Wie kann die Gesundheit der Bevölkerung verbessert bzw. gesichert werden? 5 Verbessert sich die Gesundheit der Bevölkerung in den kommenden Jahren weiter? Wie können die Krankheitsrisiken vermindert und die Gesundheitsressourcen gefördert werden? 5 Wie wirkt sich die (zunehmende) soziale Ungleichheit auf die Gesundheit der Bevölkerung aus? 5 Wie und in welchen Bereichen kann und sollte die Kompetenz und Selbstverantwortung der Bürger gestärkt werden? 5 Wie sieht die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen durch die Bevölkerung aus? Gibt es Unterschiede zwischen einzelnen Bevölkerungsgruppen? Haben Frauen,sozial Benachteiligte und Ältere hinreichenden Zugang zur gesundheitlichen Versorgung? Wie könnte dieser Zugang optimiert werden? 5 Wie wirkt sich der (gesellschaftlich gewünschte) demographische Umbau auf die gesundheitliche und soziale Versorgung aus? Wie kann der prognostizierte Zusatzversorgungsbedarf bewältigt werden? 5 Was bestimmt die Wirksamkeit von Gesundheitsleistungen? Wie kann diese gemessen werden? 5 Wie können die Gesundheitsleistungen wirksam und effizient erbracht werden? Wie lassen sich Über-, Unter- und Fehlversorgung verringern? 5 Welche Bedeutung haben Anreize beim Angebot und bei der Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen? Wie können sie gesteuert werden? 5 Welche Faktoren bestimmen die Kostensteigerung im Gesundheitswesen? Wie kann die Finanzierung von Leistungen des Gesundheitswesens am besten gewährleistet werden?
3 Berufliche Handlungskompetenzen 2
Fachkompetenz Inhalte und Themenfelder von Public Health aufzeigen. Charakteristika von Public Health benennen. Die Entwicklung von Public Health in Deutschland kennen und historisch einordnen. Möglichkeiten eines Transfers einer anwendungsorientierten »Disziplin« ermitteln und ihre Bedeutung beurteilen.
3 Praxisrelevanz Public Health ist mittlerweile auch in Deutschland ein zentraler Bestandteil der Gesundheitspolitik. Dementsprechend ist es für Pflegepädagogen unverzichtbar, Inhalte und Methoden von Public Health im eigenen Studium kennen zu lernen. Im zukünftigen Arbeitsfeld der Pflegepädagogen wird die Relevanz dieses Bereichs noch zunehmen, da Strukturveränderungen im Gesundheitswesen zur Generierung eines einheitlichen Qualitätsstandards und zur Sicherung der Finanzierbarkeit dringend geboten erscheinen. Dies betrifft nicht nur die Pflegeforschung,sondern auch die Lehre, da die zukünftigen Auszubildenden sich in den Strukturen des Gesundheitssystems zurechtfinden müssen.
3 Verfahrensstruktur Das Mind Map verdeutlicht, um was es sich bei »Public-Health« handelt (. Abb. 16.1). Dazu zählen zuvorderst verschiedene Charakteristika, eine Definition von Public-Health sowie ihre Inhalte und Felder. Im Wesentlichen geht es darum herauszustellen,welcher Entwicklungsstand in Deutschland zu verzeichnen ist, und was bis dato erreicht worden ist.
16.1
Was ist Public Health?
Public Health greift aktuelle Probleme zur Gesundheit der Bevölkerung sowie zentrale Fragen des Gesundheitssystems auf.Public Health versucht dabei
359 16.1 · Was ist Public Health?
16
. Abb. 16.1. Verfahrensstruktur
aus wissenschaftlicher Sicht die Situation zu analysieren, (alternative) Verfahren hinsichtlich ihrer Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit zu evaluieren und Lösungsansätze sowie vorausschauende Handlungsstrategien aufzuzeigen. Public Health hat sich in Deutschland erst in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts etabliert. Wörtlich übersetzt bedeutet Public Health öffentliche Gesundheit und weist damit auf den Bevölkerungsbezug hin. Aufgrund der Nähe dieser Übersetzung zum öffentlichen Gesundheitswesen wird die direkte Übersetzung allerdings kaum verwendet. Teilweise wird auch der Begriff »Gesundheitswissenschaften« in Anlehnung an den Terminus »Gesundheitswissenschaft« von Gottsein, Schlossmann und Teleky 1925 und in Abgrenzung zur Medizin als »Krankheitswissenschaft« verwendet (Hurrelmann u.Laaser 1998).Allerdings sind weder Public Health noch die Medizin ausschließlich gesundheits- bzw. krankheitsbezogen. Vielmehr ergänzt Public Health mit der vor allem auf die Bevölkerung bzw. Teilpopulationen gerichteten Perspektive die individuenbezogene Sichtweise z.B. der Medizin (und Psychologie) und geht mit der Systembetrachtung über die klinische Perspektive hinaus (zu Public Health und klinische Medizin siehe Raspe 2003, zu Public Health und Gesundheitspsychologie siehe Weitkunat et al. 1997). Dieses wird in der nachfolgenden Definition deutlich.
Wichtig »Public Health umfasst alle Analysen und Management-Ansätze,die sich vorwiegend auf ganze Populationen oder größere Subgruppen beziehen, und zwar organisierbare Ansätze bzw. Systeme der Gesundheitsförderung, der Krankheitsverhütung und der Krankheitsbekämpfung unter Einsatz kulturell und medizinisch angemessener, wirksamer, ethisch und ökonomisch vertretbarer Mittel.« (Schwartz 2003, S. 3)
16.1.1 Inhalte und Felder von Public Health
Entsprechend dieser Definition sind die Inhalte von Public Health vielfältig. Sie umfassen: 4 die Identifikation von Krankheitsrisiken und Gesundheitsressourcen, 4 die systematische Erfassung von Krankheiten, Gesundheitsstörungen und Behinderungen, 4 die Entwicklung von Strategien der Vermeidung von Gesundheitsstörungen/Krankheiten und der Verbesserung der Gesundheit, 4 die Analyse der gesundheitlichen Versorgung und die Optimierung des gesundheitlichen Outcomes sowie 4 die Analyse und Optimierung der Inputs und Prozesse zur Steuerung der Gesundheitsversorgungssysteme bzw. -subsysteme.
360
16
Kapitel 16 · Public Health in Deutschland
Die Ermittlung von Belastungen, die die Gesundheit der Bevölkerung bzw. von Teilgruppen häufig und nachhaltig beeinflussen, ist Gegenstand der Epidemiologie. Für die wichtigsten infektiösen und chronischen Krankheiten wurden im vergangenen Jahrhundert die wesentlichen Hauptrisikofaktoren identifiziert.Dabei zeigt sich für chronische Krankheiten wie z.B.Herz-Kreislauf-Erkrankungen,aber auch für Diabetes mellitus,Bronchialkarzinom und Atemwegserkrankungen, dass zahlreiche Risikofaktoren in soziökonomisch benachteiligten Gruppen oft ungünstigere Durchschnitts- bzw. Verteilungswerte haben als in der sozialen Mittel- bzw. Oberschicht (Mielck 2000, Brenner 1999). Grundsätzlich können folgende Faktoren diese Unterschiede mit erklären: Lebensbedingungen (Arbeitsbedingungen, Wohnumfeld, gesundheitliche Versorgung etc.), gesundheitsrelevantes Verhalten (Ernährung, Bewegung etc.), verfügbare Gesundheitsressourcen sowie soziodemographische Variablen (Bildung, beruflicher Status, Einkommen). Einen Überblick über die Gesundheit (und Krankheitshäufigkeit und -verteilung) der Bevölkerung und ausgewählter Teilgruppen gibt die Gesundheitsberichterstattung (GBE). Sie umfasst periodische Berichte auf kommunaler, Landes- und Bundesebene über die Gesundheit der Bevölkerung, über bedeutsame Gesundheitsrisiken und über erreichte oder angestrebte Strukturmerkmale, über Präventions- und Versorgungsziele sowie Leistungen und Ergebnisse des Gesundheitswesens. Sie ist damit nicht nur ein wichtiges Instrument von Public Health, sondern hilft auch, relevante Zusammenhänge aufzudecken. So sind Ziele der regionalen GBE die Verbesserung gesundheitlicher Versorgungsnetze, die Analyse von Versorgungslücken und die Gestaltung neuer Versorgungsstrukturen sowie die stärkere Hinwendung zu sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen (Bardehle u.Annuß 1998). In den 90er Jahren wurde die Gesundheitsberichterstattung in Deutschland erheblich verbessert und um wesentliche Themen und Indikatoren erweitert. Dennoch besteht in Deutschland im Vergleich z. B. zu Großbritannien und den skandinavischen Ländern ein erhebliches Defizit an bevölkerungsbezogenen Daten zur Morbidität. Prävention (Krankheitsverhütung) umfasst alle zielgerichteten Maßnahmen und Aktivitäten, die eine bestimmte gesundheitliche Schädigung ver-
hindern,weniger wahrscheinlich machen oder verzögern.Ziel der Prävention auf Bevölkerungsebene ist die Verringerung von vermeidbarer Krankheitslast (Senkung der Häufigkeit, Dauer und Schwere von Krankheitsereignissen, Erhöhung der Lebenserwartung mit krankheitsfreien Jahren) und Behinderung (Erhöhung der behinderungsfreien Lebensjahre) und damit die Vermeidung von vorzeitigem Tod. Dies schließt einen möglichst langen Erhalt der Selbstständigkeit im Alter ein. Die Erhöhung der Lebenserwartung und ihrer gesundheitlichen Qualität in den vergangenen Jahrzehnten ist nur zu 20–40% auf medizinische Maßnahmen zurückzuführen. Der größte Anteil entfällt auf Verbesserungen der Lebens- und Arbeitsbedingungen, Bildung, Hygiene, Ernährung, Verminderung der Umweltbelastungen u. a. (Sachverständigenrat 2001).Hier müssen auch zukünftig Präventionsmaßnahmen ansetzen. Bislang unausgeschöpfte Präventionspotenziale bestehen vor allem bei den weit verbreiteten und medizinisch nicht heilbaren chronischen Beeinträchtigungen sowie bei physiologischen Alterungsprozessen mit hoher Plastizität. Sie werden als zentraler Ansatzpunkt für mehr zukünftige Gesundheit,Unabhängigkeit und Mobilität angesehen (Walter u. Schwartz 2001). So betont die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in ihrem Jahresbericht 1998, dass der demographische Umbau und der damit einhergehende Zusatzversorgungsbedarf nur durch vermehrte Investitionen in Prävention als bisher bewältigt werden kann. Gesundheitsförderung im Sinne der Ottawa Charta der WHO (World Health Organization 1986) setzt vor allem bei der Analyse und Stärkung der Gesundheitsressourcen und -potenziale an. Dies bezieht sich zum einen auf den einzelnen Menschen (höheres Maß an Gesundheitskompetenzen und an Selbstbestimmtheit) und zum anderen auf alle gesellschaftlichen Ebenen (z. B. partizipative Veränderung der politisch-rechtlichen Rahmenbedingungen) mit dem Ziel, vor allem sozial- oder ausbildungsbedingte Ungleichheiten in der Gesundheits- und Lebenserwartung zu reduzieren. Der Ansatz der Gesundheitsförderung wird auch als salutogen bezeichnet. Er verwendet häufig den Setting-Ansatz, d. h. Maßnahmen, die auf den familiären, beruflichen oder gemeindebezogenen Kontext abzielen, in denen die Betroffenen leben
361 16.1 · Was ist Public Health?
(z. B. Kindergarten, Schule, Betrieb, Stadt, siehe Trojan u. Legewie 2001). Sowohl die krankheitsorientierte Herangehensweise der Prävention als auch der salutogene Ansatz der Gesundheitsförderung zielen letztlich – wenn auch aus unterschiedlichen Blickwinkeln und mit verschiedenen Strategien – auf die Gesundheit der Bevölkerung und sollten als einander ergänzend betrachtet werden. Das System der gesundheitlichen Versorgung setzt sich aus einer Vielzahl von Einrichtungen, Professionen und Trägern im präventiven, kurativen, rehabilitativen und pflegerischen Bereich zusammen, die zudem in einen ambulanten und stationären Sektor getrennt sind. Neben diesem professionellen System besteht das Laiensystem, das mit den Selbsthilfegruppen in den vergangenen Jahrzehnten bundesweite Strukturen aufgebaut hat. Hier stellen sich u. a. die Fragen, inwieweit der Informationsfluss innerhalb und zwischen den beteiligten Einrichtungen und Professionen gewährleistet wird und wie diese Schnittstellen optimiert werden können. Der demographische Wandel wird in den nächsten Jahrzehnten zu einem Zusatzversorgungsbedarf bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Erkrankungen des Bewegungsapparates, Krebserkrankungen, obstruktiven Lungenerkrankungen und Demenz führen. Ausgehend von der derzeitigen Morbidität steigt allein für den stationären Bereich der Versorgungsbedarf für Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems um fast 44%. Der Versorgungsbedarf bei den über 75-Jährigen erhöht sich bei Schlaganfall und Herzinsuffizienz um 77%, bei Oberschenkelhalsbruch um 63%,Diabetes mellitus um 69% und bei organischen Psychosen um 74% (Schulz et al. 2000). Dies erfordert eine rechtzeitige Anpassung des Versorgungssystems, die auch eine Hinwendung zu vermehrter Prävention einschließen muss. Mit der Steuerung des Gesundheitswesens und seiner Institutionen befasst sich die Gesundheitssystemforschung, die einen zentralen Bereich von Public Health darstellt. Im Mittelpunkt stehen Bedarf, Inanspruchnahme, Zugangsbarrieren, Anreize,Ressourcen,Strukturen,Funktionsweisen sowie Kosten und Erträge des Gesundheitswesens. Im Vergleich zur Gesundheitssystemforschung,die auf das Gesundheitssystem als Ganzes (Makroebene)
16
sowie auf Subsysteme wie Großeinrichtungen und regionale Strukturen (Mesoebene) fokussiert, untersucht die Versorgungsforschung die Versorgung einzelner Patienten und der Bevölkerung (Mikroebene) mit gesundheitsrelevanten Produkten und Dienstleistungen unter Alltagsbedingungen. Hierzu analysiert sie, wie Finanzierungssysteme, soziale und individuelle Faktoren sowie Organisationsstrukturen, -prozesse und Gesundheitstechnologien den Zugang zur Kranken- und Gesundheitsversorgung sowie deren Qualität und Kosten und letztendlich Gesundheit und Wohlbefinden beeinflussen. Die Beobachtungseinheiten umfassen Individuen, Familien, Populationen, Organisationen, Institutionen, Kommunen etc. Betrachtet werden 4 die zugrundeliegende Struktur (Input),die zum einen die Gesundheit der zu versorgenden Bevölkerung und ihren Zugang zum Gesundheitssystem (risikobezogener Input), zum anderen die finanziellen und personellen Ressourcen sowie die organisatorischen Strukturen umfasst, 4 die ablaufenden Prozesse (Throughput) und 4 die (oft für die Bewertung entscheidenden) mittel- bis langfristigen Ergebnisse, das gesundheitliche Resultat (Outcome). Das Outcome kann sowohl die Wirksamkeit (Effektivität) als auch die Wirtschaftlichkeit (Effizienz) von Systemen umfassen. Letztere ist Gegenstand der Gesundheitsökonomie, die sich mit Fragen der Ausgaben und Finanzierung,aber auch mit den Kosten und der Kosten-Nutzen-Bewertung einzelner gesundheitlicher Maßnahmen befasst (Schwartz u. Pfaff 1999, Schwartz u. Busse 1998). Inzwischen liegen mehrere Publikationen vor, die die Gesundheitssysteme verschiedener Länder vergleichen. Ein wichtiger Aspekt ist die Frage der Kosten. Neben der demographischen Alterung belastet vor allem die Technisierung der Medizin mit ihren gentechnischen, zellbiologischen und transplantationstechnischen Entwicklungen die Finanzierung des Gesundheitswesens. Dabei sind die Finanzierungsrisiken der gesetzlichen Krankenversicherung, dem größten Kostenträger im Gesundheitswesen, teilweise exogen durch die langfristige Schwäche des Arbeitsmarktes,die wachsenden und vorgezogenen Verrentungstendenzen und sozial-
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Kapitel 16 · Public Health in Deutschland
politischen Eingriffe zu Lasten der Krankenkasseneinnahmen bedingt. Als ein Ansatz zum Umgang mit der Knappheit von Ressourcen wird die Prioritätensetzung (Schwerpunktheft 32 (2001) des Public Health Forum: Prioritäten im Gesundheitswesen) gesehen. Hierzu muss nicht zuletzt der tatsächliche Bedarf bestimmt werden.Dieser schließt nicht nur subjektive, wissenschaftliche, professionelle und gesellschaftliche Urteile über die Behandlungsbedürftigkeit einer Krankheit, Gesundheitsstörung oder Behinderung ein, sondern auch hinreichende Informationen über den Nutzen von Behandlungsverfahren. Generell ist der individuelle Bedarf (need) von der Nachfrage (demand), die dem Wunsch des Patienten nach einer Leistung entspringt, und der tatsächlichen Inanspruchnahme bzw. Nutzung des Systems (utilization) zu unterscheiden. Der Nachfrage (demand) steht das Angebot einer Leistung (supply) gegenüber. Letzteres kann, muss aber nicht deckungsgleich mit der Nachfrage sein.Dem »subjektiven« Bedarf steht der professionell bestätigte »objektive« Bedarf gegenüber, der die objektivierende Feststellung einer Krankheit oder Funktionseinschränkung voraussetzt (Schwartz 2001). Bislang lagen allerdings nur unvollständige Informationen über die Bedarfsgerechtigkeit der Versorgung vor. Erstmals befasste sich der damalige Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen mit der Über-, Unter- und Fehlversorgung und den Möglichkeiten zur Ausschöpfung von Wirtschaftlichkeitsreserven.Hierzu wurden über 200 Stellungnahmen von Fachgesellschaften, Verbänden, Selbsthilfegruppen und Einrichtungen des Gesundheitswesens systematisch ausgewertet und in einem Gutachten zusammengefasst.Das Gutachten wurde Ende August 2001 der Öffentlichkeit vorgestellt (http://www.svr-gesundheit.de 10.01.2005).
16.1.2 Charakteristika von Public Health
Die umfassende Bearbeitung von Gesundheitsproblemen,ihrer Erfassung,der Entwicklung und Evaluation von Interventionen, der Analyse beeinflussender Faktoren im Gesundheitssystem auf der Mikro-,Meso- und Makroebene bis hin zum Trans-
fer von neuen Erkenntnissen in die Versorgungspraxis, ist erfolgreich nur durch ein Zusammenwirken von zahlreichen Disziplinen möglich. Ein derartiger multidisziplinärer Zugang gewährleistet zugleich die professionelle Anwendung einer Vielzahl von Methoden. Disziplinen, die einen wesentlichen Beitrag zu Public Health leisten, sind die Epidemiologie, Sozialmedizin, Umwelt-Hygiene, Soziologie, Sozialwissenschaften,Psychologie,aber auch die Ökonomie sowie die Politik- und Managementwissenschaften. Letztlich müssen alle Professionen einbezogen werden, die im Gesundheits- und Sozialwesen eine entscheidende Rolle spielen, um das Ziel, mehr Gesundheit für die Bevölkerung, zu erreichen. Hierzu zählen Lehrer, Sozialarbeiter und Sozialpädagogen,Pflegewissenschaftler und -pädagogen, aber auch Architekten und Juristen. Charakteristika von Public Health sind damit ein multidisziplinärer Zugang, die Anwendung einer Vielzahl von Methoden, der überwiegende Fokus auf die Bevölkerung und Subpopulationen, ein Fokus auf Strukturen und Systeme, ein angemessenes Management kollektiver Probleme, ohne individuelle Präferenzen und Bedürfnisse zu negieren, sowie ein hoher Anwendungsbezug.
16.2
Entwicklung und Konsolidierung von Public Health in Deutschland
Public Health ist in Deutschland – anders als in den angelsächsischen und skandinavischen Ländern – eine vergleichsweise junge »Disziplin«, die im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts ihren Ausgang fand. Im Folgenden wird die Entwicklung von Public Health in den 70er und 80er Jahren skizziert (zur historischen und aktuelleren Entwicklung im 20. Jahrhundert siehe Schwartz et al. 1999, Hurrelmann u. Laaser 1998, Kirsch 2004, Troschke 2000) und ein Überblick über den bislang erreichten Stand der Forschung,Lehre und den Transfer in die Versorgungspraxis gegeben.
16.2.1 Förderung von Public Health
Vor dem Hintergrund eines zunehmenden Problembewusstseins der Wirksamkeit und Wirt-
363 16.2 · Entwicklung und Konsolidierung von Public Health in Deutschland
schaftlichkeit des Gesundheitswesens wurde in den 70er Jahren des 20.Jahrhunderts ein Bedarf an wissenschaftlich fundierten Entscheidungsgrundlagen deutlich,um das Gesundheitswesen adäquat zu steuern. Allerdings standen hierfür damals in Deutschland nur sehr wenige Einrichtungen und Wissenschaftler zur Verfügung. In den 80er Jahren erfolgte deshalb zunächst eine Ist-Analyse der strukturellen Bedingungen zur Entwicklung der Public-Health-Forschung und -Lehre in Deutschland, bei der auch die Erfahrungen in den USA und Skandinavien einbezogen wurden. Diese von mehreren Trägern (u.a.Bundesforschungsministerium, Robert Bosch Stiftung,Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft,DFG) unterstützte Bestandsaufnahme reichte von der Einrichtung von Schools of Public Health (Schwartz u. Badura 1991) bis hin zu den Einflussmöglichkeiten einer Forschungsförderung (Braun 1990). Es wurden eine Arbeitsgemeinschaft zu Stand und Perspektiven der Forschung (Schwartz et al. 1991) eingerichtet, Experten zur Public-Health-Forschung in Deutschland befragt (Klein-Lange 1990), der Bedarf an Gesundheitssystemforschung analysiert (Schwartz et al. 1995) und Sachstandsberichte zur Förderung der Gesundheitsforschung (u. a. Wissenschaftsrat 1988) ausgearbeitet. Auf dieser Ausgangslage schlug der damalige Bundesforschungsminister 1989 vor, Gesundheitsforschung und -ausbildung gemeinsam mit den Ländern in einem Aufbauprogramm unter Beteiligung der Länder zu fördern. Public Health wurde als ein Schwerpunkt in das Programm Gesundheitsforschung 2000 aufgenommen. Da nach den bis dahin vorliegenden Erfahrungen der Forschungsförderung in einem neuen Forschungsbereich nachhaltige Fortschritte nur bei gleichzeitiger Verbesserung der Rahmenbedingungen und der Forschungsqualität möglich sind, erfolgte eine Förderung in Form regionaler und interdisziplinärer Forschungsverbünde. Fünf Forschungsverbünde wurden 1992/94 in Berlin, Norddeutschland, Nordrhein-Westfalen, Bayern und Sachsen an Standorten mit bereits bestehenden oder in absehbarer Zeit beginnenden PublicHealth-Postgraduierten-Studiengängen etabliert und bis 2001 vom Bundesforschungsministerium unterstützt (Bayerischer Forschungsverbund Public Health http://www.bfv.web.med.uni-muenchen.de,
16
Berliner Zentrum Public Health http://www.bzph. de, Norddeutscher Forschungsverbund Public Health http://www.mh-hannover.de/institute/epi/ ext/nfv/ index.html, Nordrhein-Westfälischer Forschungsverbund Public Health http://www.uniduesseldorf.de/medfak/ nwph,Forschungsverbund Public Health Sachsen und Sachsen-Anhzalt e. V. http://www.public-health.tu-dresden.de 10.01.2005). Ziel war der Aufbau und die langfristige Institutionalisierung von Public Health in Forschung, Lehre und Praxis. Im Laufe der Forschungsförderung wurde durch die Etablierung einer Methodenberatung und eines Qualitätsmanagements sowie durch die Fokussierung auf verbundspezifische Themenschwerpunkte die Public-Health-Forschung optimiert und zunehmend auf internationalen Standard gebracht. Zeitgleich förderte der Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft mit Mitteln der Fritz und Hildegard Berg-Stiftung ein Sonderprogramm »Gesundheitswissenschaften/Public Health«.Die in diesem Kontext gegründete Koordinierungsstelle sollte dabei eine Mittlerfunktion zwischen Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen sowie den Wissenschaftsorganisationen wahrnehmen, engen Kontakt mit den zuständigen Stellen des Bundes und der Länder halten und durch eigene Fördermaßnahmen die Bedingungen für die Entwicklung von Public Health/Gesundheitswissenschaften verbessern (http://www. medsoz.uni-freiburg.de/dkgw/welcome.htm 10.01.2005). Nach fast zehnjähriger Forschung erfolgte eine (Selbst-)Evaluation der Forschungsverbünde zum wissenschaftlichen Impact, zu Transferleistungen, zur Lehre, zum akademischem Nachwuchs und zur Weiterqualifizierung sowie zur strukturellen Nachhaltigkeit der Fördermaßnahme. Wesentliche Ergebnisse werden nachfolgend dargestellt.
16.2.2 Was wurde erreicht?
Bilanz und Perspktiven Nach zehnjähriger dynamischer Entwicklung weist die Public-Health-Forschung in Deutschland – wie die Evaluation der Public-Health-Forschungsverbünde zeigt (Deutsche Gesellschaft für Public
364
Kapitel 16 · Public Health in Deutschland
Health 2001) – dank der bundesdeutschen Förderung (von 1992 bis 2001) eine erfolgreiche Bilanz auf.An allen Standorten wurden zunächst Strukturen und Schwerpunkte geschaffen, die ein Potenzial für eine weitere Entwicklung boten. Zudem wurden neue Einrichtungen etabliert. So kam z. B. 1999 mit der Gründung des Bremer Zentrums Public Health ein weiteres Zentrum hinzu. Insgesamt hat sich eine beachtliche Scientific Community herausgebildet. Allerdings trugen der Abbruch der Förderung und das deutliche Fehlen hinreichender Drittmittelförderung bei gleichzeitigen erheblichen Einsparungen an den Universitäten an einigen Standorten Anfang des Jahrhunderts zu einer Stagnation und einem Strukturabbau bei. Die Wahrnehmung und Akzeptanz von Public Health in der Politik und in anderen wissenschaftlichen Disziplinen ist deutlich gestiegen. Inzwischen wurde selbst an einigen medizinischen Fakultäten Public Health als ein zukünftiger, hochschulspezifischer Forschungsschwerpunkt herausgestellt.
Forschung
16
Insgesamt wurden über 300 Forschungsprojekte in den Verbünden durchgeführt, von denen 200 vom Bundesforschungsministerium gefördert wurden. Einen Überblick über die Public-Health-Forschung und Schwerpunkte gibt vor allem ein 1999 erschienener Sammelband (Deutsche Gesellschaft für Public Health 1999), der themenspezifisch Forschungsergebnisse insbesondere der ersten Förderhälfte darstellt.Forschungsdatensätze stehen als Public Use Files interessierten Arbeitsgruppen zur weiteren Auswertung zur Verfügung. Ein Indikator für die internationale und nationale Präsenz von Forschungsgruppen ist die Publikation von Monographien und Zeitschriftenbeiträgen sowie ihre Aufnahme in Literaturdatenbanken. (Bislang existiert jedoch keine Datenbank, die alle Public-Health-Bereiche und Public-Health-relevanten Publikationsorgane umfassend berücksichtigt.) Allein im Zeitraum 1995–2000 wurden über 1000 Artikel von Mitarbeitern der Public-HealthForschungsverbünde in Peer-Reviewed Journals veröffentlicht.Mehrere Verlage (z.B.Juventa,Huber, Asgard) haben Buchreihen zur Publikation von
Lehr- und Handbüchern, Monographien und Forschungsberichten aufgelegt. 950 wissenschaftliche Buchbeiträge wurden 1995–2000 publiziert; hinzu kommen gut 1000 Public-Policy-orientierte Publikationen (Deutsche Gesellschaft für Public Health 2001). Die Forschungsergebnisse wurden 1995–2000 in über 1000 Vorträgen auf nationalen und 800 auf internationalen Tagungen präsentiert. Darüber hinaus wurden in den vergangenen Jahren zahlreiche Kongresse zu Public Health gemeinsam von den Verbünden und der Deutschen Koordinierungsstelle ausgerichtet (z. B. Internationaler Public-Health-Kongress 1999 in Freiburg, Einbindung von Public Health in den fast sechswöchigen Weltkongress Medicine Meets Millennium während der EXPO in Hannover). 2002 hat die Tagung der European Public Health Association erstmals in Deutschland (Dresden) stattgefunden. Mit der Public-Health-Förderung wurden zahlreiche Nachwuchswissenschaftler herangebildet, die sich durch ihre Sozialisation mit Public Health identifizieren und für die Inter- und Multidisziplinarität sowie Methodenvielfalt selbstverständlich sind. Für ihre wissenschaftliche Weiterqualifizierung besteht inzwischen an einigen Standorten die Möglichkeit, den Titel eines Dr. PH zu erwerben. Auch mehrere Habilitationen, z. T. mit der Vergabe der Venia Legendi in Public Health, liegen inzwischen vor. Zahlreiche Professuren an Fachhochschulen sowie einige Professuren an Universitäten, z. T. mit spezifischem Fokus auf Gesundheitssystem, Versorgungsforschung und Management, konnten mit Nachwuchskräften aus dem PublicHealth-Bereich besetzt werden. Seit 2004 gibt es in Deutschland erstmalig an der Medizinischen Hochschule Hannover eine Stiftungsprofessur für Prävention und Rehabilitation in der System- und Versorgungsforschung. Parallel hat sich mit der Einrichtung von über 30 gesundheitsbezogenen Studiengängen (siehe Abschnitt Lehre) sowie zugehörigen Professuren auch die Fachhochschullandschaft im Bereich Gesundheit erheblich verändert. Eine wesentliche Stärkung erfuhren die Gesundheitswissenschaften/Public Health sowie, infolge der Akademisierung, die Pflege (Management, Wissenschaft, Pädagogik). Auch die soziale Arbeit erweiterte ihr Spektrum um gesundheitsbezogene Aspekte. In
365 16.2 · Entwicklung und Konsolidierung von Public Health in Deutschland
einer Synopse stellen Mühlum, Bartholomeyczik und Göpel (1997) das jeweilige Selbstverständnis, die Berufsentwicklung, die wissenschaftliche Fundierung, den Entwicklungsstand und das Potenzial der drei »neuen Disziplinen« Sozialarbeitswissenschaften, Pflegewissenschaften und Gesundheitswissenschaften dar. Ihr Ziel ist es auch, einen gestaltenden Diskurs anzuregen, in der Hoffung der Entwicklung einer gemeinsamen Scientific Community. Mit der Einrichtung eines Förderschwerpunkts zur Pflegeforschung im Jahr 2003 sollen erstmals (regionale) Forschungsnetze auch unter Einbeziehung von Fachhochschulen zur bedarfsgerechten Versorgung Pflegebedürftiger eingerichtet und über einen Zeitraum von sechs Jahren unterstützt werden. Den Forschungsschwerpunkt »Versorgungsforschung« fördert das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) seit 2001 (bis 2007) mit den Zielen, versorgungs- und praxisrelevante Fragestellungen mit besonderem Bezug zur Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) zu untersuchen, die Umsetzung der erzielten Ergebnisse in die Regelversorgung voranzutreiben und dadurch eine gezielte Verbesserung der Patientenversorgung zu erreichen. Dadurch sollen die Qualität, die Wirtschaftlichkeit und die Bedarfsgerechtigkeit der medizinischen Versorgung optimiert werden. Das BMBF sieht zudem Prävention und Gesundheitsförderung als gesellschaftlich wichtiges Forschungsgebiet an und fördert die Weiterentwicklung der interdisziplinären, anwendungsorientierten Präventionsforschung für eine Laufzeit von 2004 bis 2007. Diese ermöglicht es, Hinweise und Ansatzpunkte für eine effektive und effiziente Präventionspraxis unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten zu erarbeiten und zu ihrer Evaluation und Qualitätssicherung beizutragen. Beide Förderschwerpunkte sind jedoch finanziell verhältnismäßig gering ausgestattet Die Bundesregierung förderte in Deutschland knapp 10 Jahre lang die Entwicklung der PublicHealth-Forschung mit dem Ziel ihrer institutionellen Verankerung.Diese gezielte Unterstützung trug insgesamt zu einer deutlich sichtbaren wissenschaftlichen Entwicklung, Professionalisierung und strukturellen Verankerung von Public Health in Deutschland bei. Die fehlende staatliche An-
16
schlussförderung macht sich – trotz erfolgreicher, aber aufgrund der potenziellen Förderer begrenzter Drittmittelförderung – bereits nach 2 Jahren durch Abwanderung des wissenschaftlichen Nachwuchses bemerkbar.Ausländische Erfolgsmodelle, wie z.B. in Großbritannien, den Niederlanden und Kanada, weisen auf die Notwendigkeit einer umfassenden Strategie hin, bei der neben einer langfristigen staatlichen Unterstützung der PublicHealth-Forschung die Gründung universitärer oder außeruniversitärer Forschungseinrichtungen erfolgte sowie eine ausgeprägte Überzeugung zentraler Leitungsträger im Gesundheitswesen besteht, dass durch Public-Health-Forschung die Aufgaben der Gesundheitspolitik besser gelöst werden könnten (Siegrist et al. 2001).
Lehre 1989–1995 wurden acht universitäre Postgraduierten-Studiengänge für Public Health an den Standorten Bielefeld, Hannover, Berlin, München, Dresden, Düsseldorf, Bremen und Ulm1 eingerichtet. Darüber hinaus besteht ein englischsprachiger Studiengang in Heidelberg mit Fokus auf Entwicklungsländer. Gemeinsam wurden für alle Studiengänge abgestimmte und verbindliche Mindeststandards entwickelt,die inzwischen für alle Fächer vorliegen. Insgesamt werden 300 Studierende pro Jahr aufgenommen,über 800 haben inzwischen die Studiengänge mit einem Master of Public Health absolviert. Die Studiengänge eröffnen den Absolventen neue Perspektiven in Einrichtungen des nationalen und internationalen Gesundheitssystems. Verbleibsforschungen bestätigen den »hohen Marktwert« der Absolventen (Dierks 2003). Eine Umfrage bei Arbeitgebern (n = 996) zeigt, dass 57% das (universitäre) Public-Health-Studium kennen (Schienkiewitz et al. 2001). Dieses sind vor allem Kostenträger und staatliche (Forschungs-) Einrichtungen. Weniger bekannt ist es (noch) den Leistungserbringern der Privatwirtschaft, die aber prinzipiell Einsatzmöglichkeiten sehen. Besonders bei Krankenkassen und Unternehmensberatungen wird ein steigender Bedarf gesehen. Insgesamt
1 Im Juli 2003 wurde die Aufhebung des Studienganges »Pu-
blic Health« zum Wintersemester 2003/04 beschlossen.
366
16
Kapitel 16 · Public Health in Deutschland
zeigt sich, dass die nachgefragten Inhalte den Lehrinhalten entsprechen. Neben diesen Public-Health-Studiengängen wird seit dem Jahr 2000 verbundübergreifend ein Master of Science-Programm für Epidemiologie angeboten. Darüber hinaus wurden weitere Aufbaustudiengänge mit Bezug zu Public Health an Universitäten und Fachhochschulen eingerichtet (z.B.Gesundheitsökonomie, Köln, Master of Hannover School of Health Management). Zahlreiche Fachhochschulen bieten grundständige Studiengänge zu Gesundheitswissenschaften (u. a. Magdeburg) und/oder Pflege an (wie Berlin, Münster, Bochum). Auch ein berufsbegleitender Fernstudiengang (Bielefeld/Magdeburg) hat sich etabliert. Seit 2004 kann in Bremen ein 3-jähriger Bachelor-Studiengang »Public Health/Gesundheitswissenschaften« belegt werden. In den vergangenen Jahren wurden über 30 verschiedene Studiengänge im Bereich Gesundheit eingerichtet. Insgesamt fanden Public-Health-Inhalte Eingang in zahlreiche Studiengänge. Nach einer Erhebung an deutschen Hochschulen ermittelten Kälble und Troschke 1997 knapp 200 gesundheitsbezogene Studienangebote mit über 60 verschiedenen Studienabschlüssen (Kälble u. Troschke 1998). Die vergangenen zehn Jahre sind auch charakterisiert durch eine zunehmende Akademisierung des Gesundheitssektors sowie eine gesundheitsbezogene Spezialisierung von Studiengängen, die bislang kaum in das Gesundheitswesen involviert waren, wie die soziale Arbeit und die Betriebswirtschaft. Die Institutionalisierung eines Faches zeigt sich auch in der Entwicklung von Lehrbüchern. 1998 erschien erstmals ein umfassendes Lehrbuch für Public Health (Schwartz et al.1998),in dem der Versuch einer eigenständigen Grundlagendarstellung von Public Health sowohl hinsichtlich Theorie als auch Praxisanwendung unternommen wurde. Das Lehrbuch liegt als Paperback-Ausgabe vor und ist im Jahr 2003 in der 2. erweiterten und überarbeiteten Auflage erschienen. In einem Handbuch wurden – ebenfalls mit Beteiligung zahlreicher Autoren verschiedener Verbünde – theoretische und methodische Grundlagen dargestellt und eine Übersicht über Strukturen und Bereiche des Gesundheitswesens gegeben (Hurrelmann u. Laaser 1998). Wichtige Fachbegriffe werden in einem ausführ-
lichen Glossar (Haisch et al. 1999) und in einem voraussichtlich Ende 2005 erscheinenden Lexikon erläutert.
Transfer Anwendungsbezug von Public Health bedeutet nicht nur das Aufgreifen und die wissenschaftliche Bearbeitung von Fragen der Versorgungspraxis. Er umfasst zugleich den Transfer von Erkenntnissen in die Politik und Versorgung sowie in die Aus-, Fort- und Weiterbildung. Mit der Vertretung von Public-Health-Experten in wichtigen Beratungsgremien wie dem Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen (seit 2004 Umbenennung in: Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen),dem Wissenschaftsrat,dem Runden Tisch des Bundesministeriums für Gesundheit, Beiräten für verschiedene Einrichtungen und Aufsichtsräten erfolgt ein Transfer in Entscheidungsgremien der Politik und Versorgungspraxis. Auch wenn die Einbindung von Public-HealthWissenschaftlern in Beratungsgremien beachtlich ist, so kann dennoch nicht von einer kontinuierlichen Nachfrage und Nutzung des vorhandenen Wissens seitens der Politik gesprochen werden. Eine begleitende systematische Information der Öffentlichkeit über gesundheitsbezogene Themen und damit die Förderung eines öffentlichen Bewusstseins sowie einer damit einhergehenden hohen Akzeptanz für Public Health in den Gesundheitsprofessionen und der Öffentlichkeit ist in Deutschland im Vergleich zu anderen europäischen Ländern (Großbritannien, Niederlande) nur unzureichend erfolgt (Siegrist et al. 2001). Der Transfer an der Versorgungsbasis erfolgt(e) teilweise projektbezogen. So wurden von den Forschungsverbünden beispielsweise 1995–2000 340 Veranstaltungen mit Practice-Policy-Impact durchgeführt. Hinzu kommen die bereits oben erwähnten gut 1000 auf die Versorgungspraxis gerichteten Veröffentlichungen. Die Aufgabe des Transfers wird auch von der vierteljährlich erscheinenden Zeitschrift Public Health Forum übernommen, die seit 1993 gemeinsam von den fünf Forschungsverbünden Public Health und der deutschen Koordinierungsstelle Gesundheitswissenschaften herausgegeben wird.
367 16.2 · Entwicklung und Konsolidierung von Public Health in Deutschland
Sie wendet sich mit aktuellen Themenheften an Entscheidungsträger und Mitarbeiter von Ministerien, Verbänden und Einrichtungen im Gesundheitswesen sowie an Studierende und Wissenschaftler im Public-Health-Bereich. Nach achtjähriger Förderung durch den Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft erscheint das PublicHealth-Forum seit Juli 2001 im Urban & Fischer Verlag, der seit Januar 2003 dem Wissenschaftsverlag Elsevier angehört. (Nähere Informationen zum Public-Health-Forum siehe http://www.elsevier.de 10.01.2005).
Innere Konsolidierung der »Multidisziplin« Public Health In den vergangenen zehn Jahren wurden fachwissenschaftliche sowie practice-policy-orientierte Publikationsorgane zu Public Health im deutschsprachigen Raum implementiert und weiter entwickelt. Hierzu zählen die Zeitschriften »Public Health Forum«, »Journal of Public Health/Zeitschrift für Gewundheitswissenschaften«,»Gesundheitswesen« sowie »Sozial- und Präventivmedizin«. Neben den bereits erwähnten Standardwerken wurden in den vergangenen Jahren Schriftenreihen zu Public Health inauguriert und weiterentwickelt sowie zahlreiche Bücher zu einzelnen Themen herausgegeben. Ausgehend von einer Arbeitsgemeinschaft der Forschungsverbünde und Postgraduiertenstudiengänge Public Health erfolgte 1997 die Gründung der Deutschen Gesellschaft für Public Health (DGPH e.V.). Ziel dieser Dachgesellschaft ist es, die nationale und internationale Kooperation zu fördern,den Austausch zwischen Wissenschaft,Praxis und Politik zu intensivieren und die Public-HealthForschung und Lehre weiterzuentwickeln. Mitglieder der Gesellschaft sind inzwischen 32 Fachgesellschaften, Berufsverbände und Organisationen im Gesundheitswesen (http://www.tu-berlin.de/bzph/ dgph/ 10.01.2005). Die traditionellen Fachgesellschaften wie die Deutsche Gesellschaft für Sozial- und Präventivmedizin (DGSMP) sowie die Deutsche Arbeitsgemeinschaft Epidemiologie (DAE) und ihre Tagungen boten für viele Mitarbeiter der Public-HealthVerbünde jahrelang die einzige wissenschaftliche Verortung mit der Möglichkeit einer persönlichen Mitgliedschaft (http://www.dgsmp.de 10.01.2005).
16
Im Jahr 2000 wurde die Gesellschaft zur Förderung der Public Health in Deutschland (GFPHD) gegründet. Ziel ist es, entsprechend der American Public Health Organisation (APHA) alle Personen in der Forschung,Lehre und Praxis in Public Health zusammenzuführen und eine gemeinsame, wirksame Interessenvertretung zu schaffen.Bereits 1992 entstand der Deutsche Verband für Gesundheitswissenschaften (DVGe) als Berufsorganisation. Im Dezember 2001 haben der GFPHD und der DVGe beschlossen,die Ressourcen unter der Bezeichnung »Deutscher Verband für Gesundheitswissenschaften und Public Health e. V. – German Association for Health Sciences and Public Health (DVGPH)« zu bündeln. Dies soll zu einer mitgliederstarken, professionsübergreifenden Public-Health-Gesellschaft führen. Ein zentrales Ziel dabei ist, die Deutsche Gesellschaft für Public Health (DGPH) als Dachverband in ihrer Arbeit zu unterstützen (www. dvgph.de 10.01.2005). Im Jahre 1997 gründete sich der Alumni-Verband PHAD (Public Health Absolventen Deutschland), der die Interessen der Public-Health-Absolventen vertritt (http://www.phad.de 10.01.2005). Zusammenfassung Ausgehend von einer kaum vorhandenen Struktur konnte Public Health, unterstützt u. a. durch Förderung des Bundesforschungsministeriums, in der deutschen Hochschullandschaft verankert werden. Die Einrichtung der Forschungsverbünde zog die Entwicklung und Etablierung weiterer Strukturen und Studiengänge an Universitäten und Fachhochschulen nach sich. Inzwischen liegt ein großes Potenzial an Know-how vor, mit dem aktuelle Probleme des Gesundheitssystems und der Gesundheit der Bevölkerung bearbeitet werden können. Dieses sollte zur notwendig gewordenen Optimierung der gesundheitlichen Versorgungspraxis und des Gesundheitssystems genutzt werden. Allerdings kann nur durch eine weitere Unterstützung der – in dem derzeitigen Forschungsprogramm der Bundesregierung nicht hinreichend vorgesehenen – Public-Health-For-
368
Kapitel 16 · Public Health in Deutschland
schung der bisher erreichte Forschungsstand gesichert sowie erweitert werden, der eine fundierte Basis für versorgungspraktische und gesundheitspolitische Entscheidungen darstellt und damit letztlich der Gesundheit der Bevölkerung zugute kommt.
3 Methodische Vorschläge für die Seminargestaltung Erarbeiten Sie in arbeitsteiliger Gruppenarbeit, in welcher Beziehung die Pflege (Pflegemanagement, Pflegepädagogik) zu Public Health steht und zu welchen Themen sich Kooperationen für die Forschung und Praxis ergeben.Erörtern Sie dabei,welche Inhalte bzw.Bereiche und Methoden von Public Health für die Pflege besonders relevant sind. Welche Themen und Erfahrungen kann die Pflege in Public Health einbringen? Wo erscheint eine Zusammenarbeit besonders wünschenswert?
3 Empfehlungen zum Weiterlernen Bücher
4 Deutsche Gesellschaft für Public Health (Hrsg) (1999) Public-Health-Forschung in Deutschland. Huber, Bern 4 Schwartz FW, Badura B, Busse R, Leidl R, Raspe H, Siegrist J, Walter U (Hrsg) (2003) Das Public Health Buch. Gesundheit und Gesundheitswesen. 2. Aufl. Urban & Fischer, München Zeitschriften:
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4 Public Health Forum. Elsevier; Information: http://www.elsevier.de 10.01.2005 4 Das Gesundheitswesen. Thieme 4 Journal of Public Health/Zeitschrift für Gesundheitswissenschaften. Springer Literatur Bardehle D,Annuß R (1998) Gesundheitsberichterstattung.In:Hurrelmann K, Laaser U (Hrsg) Handbuch Gesundheitswissenschaften. Juventa, Weinheim München, S 329–356 Braun D (1990) Die Einflußmöglichkeiten der Forschungsförderung auf strukturspezifische Probleme der Gesundheitsforschung in der Bundesrepublik – Zwischenbericht. MaxPlanck-Institut für Gesellschaftsforschung, Köln
Brenner H (1999) Epidemiologie: Die wichtigen und die weniger wichtigen Einflussfaktoren. In: Deutsche Gesellschaft für Public Health (Hrsg): Public-Health-Forschung in Deutschland. Huber, Bern, S 41–43 Deutsche Gesellschaft für Public Health (Hrsg) (1999) PublicHealth-Forschung in Deutschland. Huber, Bern Deutsche Gesellschaft für Public Health (2001) Selbstevaluation der fünf Forschungsverbünde. Zusammenfassender Bericht. Erstellt von der Redaktionsgruppe der Forschungskommission der DGPH, Düsseldorf Bielefeld Dierks ML (2003) Postgraduierte Public-Health-Ausbildung und Berufsfelder im Bereich von Public Health. In: Schwartz FW, Badura B, Busse R, Leidl R, Raspe H, Siegrist J, Walter U (Hrsg) Das Public Health Buch. Gesundheit und Gesundheitswesen. Urban & Schwarzenberg, München, S 772–782 Haisch J, Weitkunat R, Wildner R (Hrsg) (1999) Wörterbuch Public Health. Huber, Bern Hurrelmann K, Laaser U (1998) Entwicklung und Perspektiven der Gesundheitswissenschaften. Juventa, Weinheim München Hurrelmann K, Laaser U (1998) Entwicklung und Perspektiven der Gesundheitswissenschaften.In:Hurrelmann K,Laaser U (Hrsg) Handbuch Gesundheitswissenschaften. Juventa, Weinheim München, S 17–45 Kälble K, Troschke J (1998) Studienführer Gesundheitswissenschaften. Bd 9. Schriftenreihe der Deutschen Koordinierungsstelle für Gesundheitswissenschaften, Freiburg Kirch W (Hrsg) (2004) Public Health in Europe. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo Klein-Lange M (1992) Public-Health-Forschung in der Bundesrepublik. GSF-Projektberichte 3/90, München Mielck A (2000) Soziale Ungleichheit und Gesundheit. Empirische Ergebnisse, Erklärungsansätze, Interventionsmöglichkeiten. Huber, Bern Mühlum A, Bartholomeyczik S, Göpel E (1997) Sozialarbeitswissenschaft Pflegewissenschaft Gesundheitswissenschaft.Lambertus, Freiburg i. Breisgau Public Health Forum (2001): Prioritäten im Gesundheitswesen. Nr. 32 Raspe HH (2003) Public Health und klinische Medizin. In: Schwartz FW, Badura B, Busse R, Leidl R, Raspe H, Siegrist J, Walter U (Hrsg) Das Public Health Buch. Gesundheit und Gesundheitswesen. Urban & Schwarzenberg, München Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen (2001) Gutachten 2000/2001. Bedarfsgerechtigkeit und Wirtschaftlichkeit. Bd I: Zielbildung, Prävention, Nutzerorientierung und Partizipation. Nomos, Baden-Baden Schienkiewitz A, Lotz E, Martin S, Dierks ML (2001) Die berufliche Situation von Public-Health-Absolventen in Deutschland aus der Sicht von Arbeitgebern. In: Public Health Forum. 9. Jhrg. Heft 30: 22 Schulz E, König HH, Leidl R (2000) Auswirkungen der demographischen Alterung auf den Versorgungsbedarf im Krankenhausbereich.Modellrechnungen bis zum Jahr 2050.In:Deutsches Institut für Wirtschaftforschung.Wochenbericht 44 (67):739–759 Schwartz FW (1998) Public Health: Zugang zu Gesundheit und Krankheit der Bevölkerung, Analysen für effektive und effiziente Lösungsansätze.In:Schwartz FW,Badura B,Leidl R,Raspe H, Siegrist J (Hrsg) Das Public Health Buch.Gesundheit und Gesundheitswesen. Urban & Schwarzenberg, München, S 2–5
369 16.2 · Entwicklung und Konsolidierung von Public Health in Deutschland
Schwartz FW (2001) Bedarf und bedarfsgerechte Versorgung aus Sicht des Sachverständigenrates. Gesundheitswesen 63: 127–132 Schwartz FW, Badura B (1991) Public Health. Aufsätze zu Aufbaustudiengängen in Deutschland. – Erfahrungen aus dem Ausland. In: Robert Bosch Stiftung (Hrsg) Materialien und Berichte 36. Bleicher, Stuttgart Schwartz FW, Busse R (2003) Denken in Zusammenhängen. In: Schwartz FW,Badura B,Busse R,Leidl R,Raspe H,Siegrist J,Walter U (Hrsg) Das Public Health Buch. Gesundheit und Gesundheitswesen. Urban & Schwarzenberg, München, S 516– 545 Schwartz FW,Pfaff A (1999) Analyse komplexer Strukturen und monetärer Aspekte: Gesundheitssystemforschung und Gesundheitsökomonie. In: Deutsche Gesellschaft für Public Health (Hrsg) Public-Health-Forschung in Deutschland. Huber, Bern, S 359–361 Schwartz FW, Badura B, Brecht JG, Hofmann W, Jöckel K-H,Trojan A (Hrsg) (1991) Public Health. Texte zu Stand und Perspektiven der Forschung. Springer, Berlin Schwartz FW, Badura B, Blanke B, Henke KD, Koch U, Müller R unter Mitarbeit von Hofmann W, Haase I (1995) Gesundheitssystemforschung in Deutschland. Denkschrift. Deutsche Forschungsgemeinschaft. VCH-Verlagsgeselllschaft, Weinheim Schwartz FW, Badura B, Busse R, Leidl R, Raspe H, Siegrist J, Walter U (Hrsg) (2003) Das Public Health Buch. Gesundheit und Gesundheitswesen. Urban & Schwarzenberg, München Schwartz FW,Troschke J v.,Walter U (1999) Public Health in Deutschland. In: Deutsche Gesellschaft für Public Health (Hrsg) PublicHealth-Forschung in Deutschland. Huber, Bern, S 23–32
16
Siegrist J, Ebert M, Huber M et al. M (2001) Selbstevaluation der Forschungsverbünde Public Health (1992–2000). Kurzfassung des zusammenfassenden Berichts (Teil B) und der fünf Teilberichte der Forschungsverbünde Public Health (Teil A) vom Juni 2001, erstellt für den Wissenschaftlichen Ausschuss des Gesundheitsforschungsrates. Düsseldorf Trojan A, Legewie H (2001) Nachhaltige Gesundheit und Entwicklung. Leitbilder, Politik und Praxis der Gestaltung gesundheitsförderlicher Umwelt- und Lebensbedingungen. VAS, Frankfurt Troschke J (2000) Gesundheitswissenschaften dienen der Public Health. In: Psychomed 12/2: 72–76 Walter U, Schwartz FW (2001) Gesundheit der Älteren und Potenziale der Prävention und Gesundheitsförderung. In: Deutsches Zentrum für Altersfragen (Hrsg) Expertisen zum Dritten Altenbericht. Bd I Personale, gesundheitliche und Umweltressourcen im Alter. Leske+Budrich, Leverkusen, S 153–261 Weitkunat R, Haisch J, Kessler (Hrsg) (1997) Public Health und Gesundheitspsychologie. Huber, Bern Wissenschaftsrat (1988) Empfehlungen des Wissenschaftsrates zu den Perspektiven der Hochschulen in den 90er Jahren. Wissenschaftsrat, Köln World Health Organization (1986) Ottawa Charta for Health Promotion. First International Conference on Health Promotion, Ottawa [http://www.who.int/hpr/archive/docs/ottawa.html 18.08.2002] World Health Organization (1998) The World Health Report 1998. Life in the 21st century. A vision for all. Report of the Director General, Geneva
17 Entscheidungsunterstützung mit Hilfe der Kosten-Nutzwert-Analyse – Auswahl eines EDV-gestützten Schulverwaltungsprogramms Sigrun Schwarz 17.1
Vorgehen der Kosten-Nutzwert-Analyse
17.2
Auswahl der Entscheidungskriterien
17.3
Bestimmung der Kriteriengewichte
374
17.4
Suche nach relevanten Alternativen
376
17.5
Bewertung der Alternativen
17.6
Nutzwertermittlung
17.7
Ermittlung der Kosten nach der Kostenvergleichsrechnung
373
374
378
380
381
17.8
Entscheidung mit Hilfe der Dominanzbetrachtung
17.9
Durchführung von Sensitivitätsanalysen
17.10
Kritische Reflexion des Verfahrens
385
385
384
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Kapitel 17 · Entscheidungsunterstützung mit Hilfe der Kosten-Nutzwert-Analyse
> Fragen Eine Vielzahl von Entscheidungen sind täglich zu fällen. Häufig wird intuitiv entschieden – und dies nicht nur bei Entscheidungen im persönlichen Umfeld, sondern auch bei kostenintensiven Entscheidungen in Einrichtungen, die Auswirkungen auf eine Vielzahl monetärer, aber auch qualitativer Aspekte haben. Immer wieder führt dies zu Fehlentscheidungen, aber auch zur Verärgerung der beteiligten und betroffenen Personengruppen: Wieder einmal standen Machtverhältnisse statt rationaler Entscheidungskriterien im Vordergrund,wieder einmal wurde die Entscheidung nicht mit den wirklich Betroffenen abgestimmt. In dem hier diskutierten Beispiel erwägt eine Pflegeschule ein EDV-gestütztes Schulverwaltungsprogramm zu beschaffen, das Funktionen zur Administration und Planung enthält. Die Hersteller bieten Produkte mit unterschiedlichem Leistungsumfang zu sehr unterschiedlichen Konditionen an. Einerseits sind bei der Auswahl eines geeigneten Programms die angebotenen Programmmodule möglichst umfassend zu bewerten, andererseits sind die Kosten der jeweiligen Alternative in die Entscheidung einzubeziehen. Eine Entscheidung muss u. a. folgende Fragestellungen berücksichtigen: 5 Welches Programm erfüllt die geforderten Leistungsmerkmale am besten? 5 Ist für die Schule eine Einzelplatzversion oder ein lokales Netzwerk besser geeignet? 5 Soll die Wartung durch Mitarbeiter vor Ort vorgenommen oder vom Hersteller über Fernwartung garantiert werden?
17
Wie wären Sie selbst vorgegangen? Haben Sie sich nicht auch schon einmal gefragt, ob komplexe Entscheidungen durch den Einsatz von Methoden unterstützt werden können?
2
Fachkompetenz Multikriterielle Investitionsmethoden, insbesondere die Kosten-Nutzwert-Analyse,nutzen,um Entscheidungen anhand aller verfügbaren Informationen transparent und nachvollziehbar für alle Interessensgruppen eines Unternehmens bzw. Projektbeteiligten (Stakeholder) zu fällen. Wesentliche Leistungsmerkmale von Schulverwaltungsprogrammen als Entscheidungsgrundlage kennen lernen.
2
Personalkompetenz Eigene Entscheidung im Hinblick auf Motivation und Berücksichtigung wesentlicher Entscheidungskriterien selbstkritisch reflektieren und Schlüsse für eigenes zukünftiges Handeln daraus ableiten.
2
Sozialkompetenz Als Entscheidungsträger eine Gruppe zu rationalem Handeln anleiten. Dies beinhaltet die Leitung der Zieldiskussion und die Unterstützung der Gruppe bei der Ableitung wesentlicher Kriterien für die Entscheidung.
2
Methodenkompetenz Methoden der Entscheidungsunterstützung sachgerecht einsetzen.
2
Kommunikative Kompetenz Den Einsatz der Methoden fachlich richtig und für die Gruppenmitglieder verständlich begründen.
3 Praxisrelevanz 3 Berufliche Handlungskompetenzen Multikriterielle Investitionsentscheidungen für alle Beteiligten und Betroffenen transparent und unter Zuhilfenahme von Methoden der Investitionsentscheidung durchführen.
In Schulen, Ausbildungsstätten, aber auch in Einrichtungen des Gesundheitswesens sind eine Vielzahl von Investitionsentscheidungen fundiert zu treffen. Immer wieder werden diese jedoch intuitiv getroffen, statt die einzelnen Aspekte im Hinblick auf die angestrebten Ziele gegeneinander abzuwägen. Die Wirtschaftswissenschaften stellen Verfahren zur Verfügung, die eine Entscheidungsfindung unterstützen können.
373 17.1 · Vorgehen der Kosten-Nutzwert-Analyse
Während Entscheidungen im Allgemeinen und als Forschungsobjekt der Psychologie im Besonderen nicht notwendig rational begründet sein müssen, wird in den Wirtschaftswissenschaften davon ausgegangen, dass Entscheidungen rational getroffen werden. Das heißt, dass eine Handlungsalternative gewählt wird, die im Hinblick auf ein angestrebtes Ziel oder Zielsystem die benötigten Ressourcen möglichst optimal einsetzt. Nur dadurch lassen sich Effizienz und Effektivität einer Investitionsentscheidung sicherstellen. Überträgt man das Rationalprinzip auf das skizzierte Beispiel, bedeutet dies, dass ein EDV-Programm nicht gewählt wird, wenn ein anderes Programm mit gleichem Leistungsumfang und geringerem Preis zur Verfügung steht oder ein Programm mit besseren Leistungen zu gleichem Preis. In Dienstleistungsbetrieben sind meist Alternativen zu bewerten, die bei jeweils unterschiedlichen Kosten eine Vielzahl verschiedener Zielkriterien verschieden gut erreichen. Ein Teil der Ziele sind nichtmonetärer Art und mit unterschiedlichen Skalen zu messen. Für diese Entscheidungssituationen ist die Kosten-Nutzwert-Analyse ein geeignetes Instrument der Entscheidungsunterstützung.
. Abb. 17.1. Verfahrensstruktur
17
3 Verfahrensstruktur Ziel des Beitrags ist es,ein Vorgehen zur fundierten Entscheidungsunterstützung vorzustellen. . Abbildung17.1 zeigt die Struktur des Artikels auf.
17.1
Vorgehen der Kosten-NutzwertAnalyse
Die Kosten-Nutzwert-Analyse ist eine Methode,die angewendet wird, wenn verschiedene Alternativen sowohl hinsichtlich quantifizierbarer, monetärer Größen wie Kosten und Erlöse zu bewerten sind als auch qualitative Kriterien wie Personalzufriedenheit und Planungsqualität einzubeziehen sind. Nutzwerte und Kosten werden in separaten Schritten ermittelt und anschließend gegenübergestellt. Die Ermittlung der Nutzwerte entspricht dem Vorgehen der Nutzwertanalyse. Ihr Begründer Zangemeister definiert die Nutzwertanalyse als »Analyse einer Menge komplexer Handlungsalternativen mit dem Zweck, die Elemente dieser Menge entsprechend der Präferenzen des Entscheidungsträgers bezüglich eines multidimensionalen
374
Kapitel 17 · Entscheidungsunterstützung mit Hilfe der Kosten-Nutzwert-Analyse
Zielsystems zu ordnen« (Zangemeister 1976, S. 45). Dabei werden Alternativen mit dem Ziel bewertet, die qualitativen Aspekte in einer synthetischen Kennzahl zu erfassen (Oppitz 1995, S. 379). Hierzu gehören beispielsweise technische,psychologische, soziale oder ökologische Tatbestände (Däumler 2000, S. 34).
17.2
Auswahl der Entscheidungskriterien
Wichtig Wer nicht weiß, wo er hin will, ist immer richtig – kommt aber nie zum Ziel.
Der erste Schritt hin zu einer fundierten Entscheidung ist die Festlegung der Entscheidungskriterien in Abstimmung mit dem Leitbild und dem Zielsystem der Einrichtung. Zu den Kriterien gehören quantitativ erfassbare wie auch qualitative Aspekte.Insbesondere die Kosten wie Investitionskosten, Schulungskosten und Personalkosten sind quantitativ erfassbar. Qualitative Kriterien sind beispielsweise die Güte des erstellten Stundenplans und der Grad der Unterstützung bei der Planung. Damit alle Stakeholder bei der Entscheidung angemessen berücksichtigt werden, sind die Kriterien gemeinsam von Beteiligten und Betroffenen zu diskutieren.Das Team kann zum Beispiel aus der Schulleitung, dem Schulsekretariat und den Unterrichtskoordinatoren gebildet werden. Die Kriterien müssen vollständig sein,das heißt,alle für die Beteiligten und Betroffenen relevanten Kriterien umfassen.
17
Formulierung operationalisierbarer Zielkriterien Die Zielkriterien müssen »operational formuliert werden« (Götze u. Blöch 1993, S. 134). Es muss möglich sein, jedes Kriterium hinsichtlich seiner Erreichung zu messen (siehe Kap.17.5).Häufig ist die Angabe von übergeordneten Kriterien für eine Bewertung nicht ausreichend. In diesem Fall ist ein Zielbaum aufzustellen,in dem die Kriterien hierarchisch weiter untergliedert werden. Die Konkretisierung der Kriterien und damit auch die Messbarkeit nehmen mit abnehmender Hierarchieebene
zu. Dabei ist aus methodischen Gründen darauf zu achten, dass die einzelnen Kriterien vergleichbar detailliert aufgeführt werden. Eine Mehrfacherfassung von Kriterien sollte vermieden werden. Zudem ist eine weitgehende Nutzenunabhängigkeit der Zielkriterien zu gewährleisten. »Nutzenunabhängigkeit ist gegeben, wenn die Erreichung eines Zielkriteriums möglich ist, ohne dass dies die Erfüllung eines anderen Kriteriums voraussetzt.« (Götze u. Blöch 1993, S. 134) Für das gewählte Beispiel wird der in . Abb.17.2 dargestellte Baum der Entscheidungskriterien angenommen.Für die einzelnen Kriterien sind exemplarisch Unterkriterien angegeben.Zur vereinfachten Nachvollziehbarkeit der Berechnungen werden in den folgenden Kapiteln jedoch nur die übergeordneten qualitativen Kriterien weiter verwendet. Erläuterung zu Abb. 17.2: Unter dem Punkt 5d wird das Controlling einschließlich geeigneter Ausnahmeberichte und graphischer Darstellung der Ergebnisse bewertet. Die Unterstützung der Stundenplanerstellung (Punkt 6b) fragt nach unterstützenden Funktionen wie der Meldung bei Überschneidungen hinsichtlich Klassen,Räumen,Personal und Unterrichtsmaterial sowie einer automatischen Berücksichtigung von Richtlinien und gesetzlichen Vorgaben. Selbsterklärungsfähigkeit (Punkt 7a) misst, inwieweit ein Programm selbsterklärend ist bzw. umfangreiche Schulungen benötigt.
Datensicherheit als K. o.- Kriterium Eine Vielzahl vertraulicher Daten ist in einem Schulverwaltungsprogramm abgelegt. Datensicherheit (Punkt 3, Abb. 17.2), beispielsweise durch einen passwortgeschützten Daten- und Programmzugriff, ist daher bei der Programmauswahl ein K.o.-Kriterium. Programme, die diese Anforderung nicht erfüllen können, werden nicht als Alternative in Betracht gezogen. In die weitere Bewertung ist dieses Kriterium daher nicht einbezogen.
17.3
Bestimmung der Kriteriengewichte
Wichtig Einzelne Kriterien haben im Hinblick auf den Nutzwert unterschiedliche Bedeutung.
375 17.3 · Bestimmung der Kriteriengewichte
. Abb. 17.2. Baum der Entscheidungskriterien
17
376
Kapitel 17 · Entscheidungsunterstützung mit Hilfe der Kosten-Nutzwert-Analyse
Die Stakeholder werden den einzelnen Kriterien im Hinblick auf den Nutzwert der zu beurteilenden Projekte unterschiedliche Bedeutung beimessen. Diesem Aspekt wird bei der Vergabe von Gewichtungen Rechnung getragen. Eine Möglichkeit besteht darin, die Gewichte mit einer normierten Summe von 100% oder 1 als Ergebnis eines Einigungsprozesses frei auf die Kriterien zu verteilen. Die Abstände sollen die Präferenzunterschiede der Stakeholder widerspiegeln. Dabei ist es auch möglich, dass Kriterien als gleich wichtig eingestuft werden und die gleiche Gewichtung erhalten. Bei einem mehrstufigen Kriterienbaum erfolgt die Gewichtung für alle Hierarchieebenen. Innerhalb jedes Zweiges wird die normierte Summe von 100% oder 1 vergeben. Der Prozess der Zuordnung beliebiger Zielgewichte ist für eine Gruppe meist sehr schwierig. Einfacher ist die Vergabe von Rangfolgen (Götze u. Blöch 1993, S. 135). Jedes Kriterium enthält entsprechend seiner Bedeutung einen aufsteigenden Rang zugeordnet, wobei das wichtigste Kriterium den höchsten Rang erhält. Falls davon ausgegangen werden kann, dass zwischen den einzelnen Rangplätzen jeweils gleiche Präferenzunterschiede bestehen, lassen sich die Ränge in Gewichte umrechnen.Auch hierbei wird eine normierte Summe von 100% oder 1 vergeben. In . Tabelle 17.1 ergibt die Summe der aufsteigenden Ränge 21. Um für die einzelnen Ränge die Gewichtung in Prozent zu berechnen, ist der Rang
. Tabelle 17.1. Zielgewichtung durch Ränge Kriterien
17
Rang
Gewichtung (%)
1. Personalzufriedenheit
3
3 : 21 = 14,3
2. Gute Verwaltungsprozesse
4
4 : 21 = 19,0
3. Planungsverbesserung
5
5 : 21 = 23,8
4. Gute Ergonomie d. Produkts
2
2 : 21 = 9,5
5. Service
1
1 : 21 = 4,8
6. Investitionssicherheit
6
6 : 21 = 28,6
21
100
Gesamt
durch 21 zu dividieren. Damit ergibt sich für die Personalzufriedenheit beispielsweise 3 : 21 = 14,3%. Eine weitere Möglichkeit für die Vergabe von Gewichtungen ist die Durchführung eines paarweisen Kriterienvergleiches, auch Matrixverfahren genannt, das den Einigungsprozess unterstützt (Henning 1998,S.134).Auf dieses Verfahren soll hier jedoch nicht weiter eingegangen werden. Wichtig Die Zielgewichtung hat entscheidenden Einfluss auf das Ergebnis.
Eine freie Vergabe der Gewichte kann zu erheblich abweichenden Werten von der Zielgewichtung durch Ränge führen. Da die Gewichtung wesentlichen Einfluss auf die ermittelten Nutzwerte und damit das Ergebnis hat, ist offensichtlich entscheidend, dass die Gewichte die Präferenzen der Stakeholder richtig wiedergeben. Es muss also eine adäquate Methode zur Bestimmung der Zielgewichtung ausgewählt werden.
17.4
Suche nach relevanten Alternativen
Informationsbeschaffung Die Informationsbeschaffung für eine Investitionsentscheidung ist möglichst umfassend durchzuführen. Hierfür steht neben Produktbroschüren, den Veröffentlichungen in Fachzeitschriften und dem Besuch von Fachmessen heute insbesondere das Internet zur Verfügung. Wichtig Durchsuchen Sie mit Hilfe von Suchmaschinen die Internetseiten nach geeigneten Produkten. Beachten Sie dabei eine passende Wahl von Schlüsselworten. Diese ist von entscheidender Bedeutung für den Sucherfolg. (Mit den Schlüsselworten »Schulverwaltungsprogramm« und »Krankenpflege« konnten für das Fallbeispiel bei mehreren Suchmaschinen gute Erfolge erzielt werden.)
377 17.4 · Suche nach relevanten Alternativen
Von einigen Herstellern werden Demoversionen angeboten, die es ermöglichen, sich selbst ein Bild von der Funktionalität der Programme zu machen. Weitere Informationen insbesondere über die Benutzerfreundlichkeit, den Schulungsaufwand und den Service des Softwareherstellers erhält man durch die Befragung oder den Besuch von Referenzeinrichtungen,die diese Programme einsetzen.
Leistungsumfang angebotener Programme Schulverwaltungsprogramme bieten eine Vielzahl verschiedener Programmmodule mit unterschiedlicher Funktionalität. Hierzu gehören insbesondere: 4 Verwaltung der Aus-, Fort- und Weiterbildungslehrgänge für verschiedene Fachrichtungen bzw. Lehrgänge einschließlich Hinterlegung von Richtlinien und gesetzlichen Vorgaben für die Lehrgänge (Anzahl der Stunden, Anzahl der Leistungsnachweise etc.), Verwaltung eines Lehrplans/Curriculums je Lehrgang mit Lerninhalten, Lernzielen, Medienhinweisen, Zielen, Kompetenzen und den Möglichkeiten zu Auswertungen und Berichten. 4 Allgemeine Verwaltungsfunktionen Teilnehmerverwaltung einschließlich Rechnungserstellung, Dozenten-/Referentenmanagement einschließlich Bewerberverwaltung, Modul zur Personalentwicklung sowie Abrechnungserstellung, Bücher und Medienverwaltung, Kostenplanung. 4 Organisatorische Planung des Unterrichts Stundenplanerstellung unter Berücksichtigung der zur Verfügung stehenden Zeit, Lehrkräfte und Räume meist anhand einer grafischen Oberfläche, teilweise mit automatischer Erstellung eines Ausgangsstundenplans anhand des Curriculums, Möglichkeiten Prüfungswochen, Theorie und Praxis-Blöcke,Projektwochen und Kurszusammenlegungen zu berücksichtigen, Darstellung der Stundenpläne für unterschiedliche Perioden und Kurse. 4 Organisatorische Planung der Praxiseinsätze Planung von Praxisanleitung/fachpraktischem Unterricht, 3-Jahres-Ansicht.
17
4 Einsatzverfolgung Dokumentation der Abweichungen vom Stundenplan einschließlich Darstellung von Fehlzeiten, Ausdruck von Klassenbüchern, Dokumentation der praktischen Einsätze. 4 Prüfungsrelevante Funktionen wie Verwaltung der Leistungsnachweise. 4 Controlling- und Berichtsfunktionen. Neben den genannten Funktionen ist es wünschenswert, Daten in gängige Marktprodukte von Textverarbeitung, Tabellenkalkulation und Grafikprogrammen exportieren zu können,um beispielsweise Serienbriefe oder eigene Listen erstellen zu können.
Alternativen im Fallbeispiel Die einzelnen Alternativen für das Fallbeispiel können im Folgenden nur kurz charakterisiert werden. Um die spätere Bewertung genau begründen zu können, wäre eine sehr detaillierte Beschreibung erforderlich,die hier den Rahmen sprengen würde. Im Fallbeispiel stehen folgende Alternativen zur Auswahl: Beispiel Alternative A: Alternative A ist die Ist-Situation der Pflegeschule. Diese Alternative wird ebenfalls beleuchtet, da ein Programm nur eingesetzt werden soll, wenn dadurch Qualitätssteigerungen oder Kostensenkungen erreicht werden können. In der derzeitigen Situation wird kein durchgängiges Schulverwaltungsprogramm eingesetzt; die administrativen Tätigkeiten werden über handelsübliche Textverarbeitungs- und Tabellenkalkulationsprogramme unterstützt. Die Stundenplanung erfolgt manuell und für die Verwaltung der Medien wird ein eigenes Programm eingesetzt. Es kommt immer wieder zu Fehlplanungen und Verzögerungen in der Informationsweitergabe, was alle Betroffenen verärgert.
378
Kapitel 17 · Entscheidungsunterstützung mit Hilfe der Kosten-Nutzwert-Analyse
Alternative B:
Alternative E:
Die Alternative B sieht den Einsatz eines Schulverwaltungsprogramms als Einzelplatzlizenz vor. Ein Zugriff auf das Programm ist somit nur von einem Rechner aus möglich.Der Leistungsumfang beinhaltet die meisten der genannten Verwaltungsfunktionen, nicht jedoch die automatische Erstellung von Stundenplänen und die Einsatzverfolgung. Beides wird von dem Hersteller des Produktes nicht angeboten. Die Sekretärin wird in der Bedienung geschult und übernimmt alle damit verbundenen Eingaben. Auf ergonomische Aspekte wurde bei diesem Produkt besonderer Wert gelegt. Die Ergebnisse können allen Beteiligten gedruckt zur Verfügung gestellt werden.
Ein weiteres Konkurrenzprodukt enthält über den Leistungsumfang des Produkts der Alternative C bzw. D weitere Funktionen wie die Medienverwaltung und den Export der Daten. Im Rahmen der Lizenz können fünf Arbeitsplätze eingerichtet werden. Die Programme unterscheiden sich zudem in der Gestaltung der Benutzeroberfläche. . Tabelle 17.2 stellt die Alternativen mit ihren wesentlichsten Leistungsmerkmalen im Überblick noch einmal dar.
Alternative C: Alternative C ist der Einsatz einer Einzelplatzversion eines Konkurrenzproduktes, das ebenfalls am Arbeitsplatz der Sekretärin eingesetzt werden würde. Der Leistungsumfang beinhaltet alle genannten Verwaltungsfunktionen einschließlich einer automatischen Erstellung von Stundenplänen und der Einsatzplanung. Bei einem späteren Umstieg auf die Mehrplatzlizenz (Alternative D) wird der Preis der Einzelplatzversion auf den Kaufpreis angerechnet.Da das Produkt zudem auf einer gängigen Datenbanklösung aufbaut, ist Investitionssicherheit gewährleistet. Die Ergebnisse können allen Beteiligten gedruckt oder per Email zur Verfügung gestellt werden.
. Tabelle 17.2. Leistungsmerkmale der Alternativen Funktionen
Alternativen A
B
C
D
E
×
×
×
×
Stundenplanmodul
×
×
×
Einsatzverfolgung
×
×
×
Grundfunktionen Verwaltung
×
Medienverwaltung Controlling/Berichtswesen
×
×
×
×
Datenexport Einzelplatzlizenz
×
×
×
Mehrplatzlizenz
×
×
Alternative D:
17
Das Programm der Alternative C wird als Mehrplatzlizenz für fünf User eingerichtet.Die Schulleitung, die Sekretärin und die Koordinatoren erhalten unterschiedliche Rechte hinsichtlich Planung und Administration. Für alle Lehrkräfte ist ein PC im Aufenthaltsraum verfügbar, der eine Vielzahl von Abfragen den Nutzerrechten entsprechend online ermöglicht und die Informationsweitergabe sowie die Einsatzverfolgung unterstützt. Die Lehrkräfte werden über ein Multiplikatorenmodell am PC ausgebildet.
17.5
Bewertung der Alternativen
Jede der Alternativen ist hinsichtlich der relevanten Kriterien zu bewerten. Als Methoden kommen hierbei in Abhängigkeit von den untersuchten Kriterien experimentelle Analysen, Beobachtungen sowie Befragungen zur Anwendung. Um die weiteren Rechenoperationen durchzuführen, ist eine Skalierung zu verwenden, die kardinale Eigenschaften erfüllt.
379 17.5 · Bewertung der Alternativen
Skalierung
Die Messvorschrift, wie empirische Tatbestände in den reellen Zahlen abgebildet werden sollen und welche Relationen dabei erhalten bleiben, bezeichnet man als Skala. Empirische Eigenschaften werden durch numerische Eigenschaften repräsentiert. Je mehr Eigenschaften der reellen Zahlen Verwendung finden, desto höher ist das Skalenniveau. Folgende Skalenniveaus werden unterschieden:
17
tisch, man kann jedoch nicht sagen, dass 2°C doppelt so warm ist wie 1°C. Das Verhältnis der Zahlen ist also nicht interpretierbar. Verhältnisskala. Eine Verhältnisskala zeichnet sich
durch einen natürlichen Nullpunkt aus. Daher ist auch das Verhältnis der numerischen Eigenschaften interpretierbar.Dies ist beispielsweise bei EURBeträgen der Fall. Der Quotient der Werte besitzt Aussagewert. 2 EUR ist doppelt so viel wie 1 EUR.
Nominalskala. Sie teilt Merkmale in Klassen ein,die
nur zwischen gleich und ungleich unterschieden werden können. Zwischen den Klassen gibt es keine Größenrelationen. Ein Beispiel ist »Farbe« mit den Merkmalen »rot«, »grün«, »gelb« etc. Rechenoperationen können in dieser Skala nicht durchgeführt werden. Ordinalskala. Merkmale, die in eine Rangfolge gebracht werden können, werden durch eine Ordinalskala dargestellt. Der Abstand zwischen den Rängen ist jedoch nicht interpretierbar.So kann bei der Olympiade zwar eindeutig festgestellt werden, dass Platz 1 besser ist als Platz 2 und Platz 2 besser als Platz 3 und es kann daraus der Schluss gezogen werden, dass Platz 1 auch besser ist als Platz 3. Um wie viel der jeweilige Athlet jedoch besser ist, kann nicht abgeleitet werden. Aussagen wie »… ist doppelt so gut wie …« sind nicht möglich. Auch Noten sind ordinal skaliert,da die Abstände zwischen den Noten nicht identisch sind, sondern ebenfalls nur die Aussage »ist besser als« zulassen. Eine Addition der Ränge oder eine Mittelwertberechnung ist nicht zulässig. Kardinalskala/metrische Skala. Bei Kardinalskalen,
auch metrische Skalen genannt, ist auch der Abstand der Merkmale von Bedeutung und wird in den numerischen Eigenschaften repräsentiert. Es werden Intervall- und Verhältnisskalen unterschieden. Intervallskala. Der Abstand der Werte ist interpre-
tierbar. Addition, Subtraktion und Mittelwertbildung sind erlaubt, die Werte selbst können jedoch nicht zueinander ins Verhältnis gesetzt werden.Die Temperatur gemessen in Grad Celsius ist beispielsweise intervallskaliert. Der Abstand zwischen 0°C und 1°C sowie zwischen 1°C und 2°C ist zwar iden-
Die Rechenoperationen, die mit numerischen Eigenschaften durchgeführt werden dürfen, sind vom Skalenniveau abhängig.So darf mathematisch gesehen aus ordinal skalierten Werten kein Durchschnitt oder gewichteter Durchschnitt gebildet werden, da die Abstände nicht interpretierbar sind. Für die Kosten-Nutzwert-Analyse hat dies zur Folge, dass die Alternativen bezüglich der Entscheidungskriterien anhand einer Verhältnisskala gemessen werden müssten.Eine derart exakte Nutzenschätzung ist zum einen sehr schwer handhabbar, zum anderen können die Entscheider den Nutzen zu diesem Zeitpunkt selten so genau bestimmen. Daher werden meist ordinal einzustufende Skalen verwendet.Wichtig ist,dass die Skala für alle Kriterien einheitlich sein sollte (Götze u. Blöch 1993, S. 135). Der Zielerreichungsgrad der Kriterien ist gegebenenfalls auf diese Skala zu transformieren. Wenn also für einige Kriterien nur eine Rangfolge erstellt werden kann, ist auch für die anderen Kriterien eine Rangfolge aufzustellen, selbst wenn bei diesen eine genauere Messung möglich wäre. Im einfachsten Fall werden die Alternativen in eine Rangfolge gebracht. Dabei entspricht die Anzahl der zu vergebenden Ränge der Anzahl der Alternativen. Der niedrigste Rang ist im Fallbeispiel die beste Bewertung. Werden zwei Alternativen gleich gut bewertet, wird der mittlere Rang vergeben. Im Beispiel sind die Alternativen A und B gleich schlecht hinsichtlich des Kriteriums Planungsverbesserung. Rang 4 und 5 wären zu vergeben, somit erhalten beide Alternativen den mittleren Rang, also 4,5 (. siehe Tabelle 17.3). Bei diesem Verfahren gehen jedoch Informationen über die Abstände der Alternativen verloren. Dies lässt sich am einfachsten anhand der Bewertung einer Klassenarbeit verdeutlichen, bei der der Leistungsbeste mit 98 Punkten die Note 1 bekom-
380
Kapitel 17 · Entscheidungsunterstützung mit Hilfe der Kosten-Nutzwert-Analyse
Wichtig
. Tabelle 17.3. Bewertung der Alternativen
17
Kriterien/Alternative
A
B
C
D
E
1. Personalzufriedenheit
5
4
3
1
2
2. Verwaltungsprozesse
5
4
3
2
1
3. Planungsverbesserung
4,5
4,5 2
2
2
4. Gute Ergonomie
2
1
4,5
4,5 3
5. Service
5
3
3
3
1
6. Investitionssicherheit
4
5
2
2
2
men würde, der Zweitbeste mit 96 Punkten die Note 2 und der Drittbeste mit 65 Punkten die Note 3. Statt der Vergabe von Rängen können die Alternativen mit Noten bewertet oder bepunktet werden. Dem genaueren Ergebnis steht ein höherer Aufwand zur Bewertung der Alternativen durch die Gruppe entgegen. Für das Ergebnis ist wesentlich, dass die Zielerreichung der einzelnen Kriterien korrekt gemessen und in der verwendeten Skala repräsentiert wird. Dabei sollte beachtet werden, dass die Wahl der Skala die Güte der verwendeten Daten berücksichtigt. Liegen der Bewertung Schätzungen zugrunde, führt eine Benotung mit zwei Stellen nach dem Komma nur zu einer Scheingenauigkeit des Ergebnisses. Für das Beispiel werden Ränge vergeben, da die angegebenen Informationen eine differenziertere Bewertung nicht erlauben (siehe Tabelle 17.3). Die Vergabe der Ränge baut auf den im Kapitel 17.4, Abschnitt Alternativen im Fallbeispiel, angegebenen Leistungsumfang der Alternativen auf. In die Reihung der Kriterien Personalzufriedenheit, Ergonomie, Service und Investitionssicherheit sind darüber hinaus zusätzliche Annahmen eingeflossen, die für den Leser so nicht offensichtlich sein werden. Eine ausführliche Darstellung der Alternativen, die eine eindeutige Eingruppierung nachvollziehbar machen würde, geht jedoch über den Rahmen dieser Arbeit weit hinaus.
Bewerten Sie die in Ihrer Recherche selbst gefundenen Alternativen anhand aller verfügbaren Informationen und führen Sie auf dieser Grundlage die Methode der KostenNutzwert-Analyse mit den folgenden Schritten durch.
17.6
Nutzwertermittlung
Die Ermittlung des Nutzwertes erfolgt in zwei Schritten. Zunächst werden die Gewichtungen der einzelnen Kriterien mit den Bewertungen der jeweiligen Alternativen multipliziert.Für das Beispiel werden die Gewichtungen aus Tabelle 17.1 verwendet. So wurde beispielsweise die Alternative B hinsichtlich der Personalzufriedenheit mit der Note 4 bewertet (siehe Tabelle 17.3). Das Kriterium Personalzufriedenheit ist mit 14,3% am Gesamtergebnis beteiligt (siehe Tabelle 17.1). Die Multiplikation der Note mit dem Gewicht ergibt 4 · 14,3% = 0,57 (. siehe Tabelle 17.4). In der Zeile »Summe« sind die Teilnutzwerte addiert. Dies ist die gewichtete Note für die einzelnen Alternativen. Das Vorgehen entspricht der Berechnung eines gewichteten Notendurchschnitts. Das Ergebnis zeigt, welche Alternative die festgelegten qualitativen Kriterien am besten erfüllt. Alternative E mit einem Nutzwert von 1,86 erfüllt die geforderten qualitativen Aspekte somit am besten. Bei einem mehrstufigen Kriterienbaum wird mit der Ermittlung der Teilnutzwerte auf der untersten Hierarchieebene begonnen.Für das Beispiel des Kriterienbaums in Abb. 17.2 ist zunächst der Teilnutzwert für die Personalzufriedenheit aus der Bewertung und Gewichtung der Unterkriterien »rasche Verfügbarkeit der Informationen«, »Übersichtlichkeit der Ergebnisse« und »gute Schulung« gemäß der Schritte der Kapitel 17.3, 17.5 und 17.6 zu ermitteln. Die jeweiligen Ergebnisse der Berechnungen für alle Teilnutzwerte der einzelnen Zweige werden mit der festgelegten Gewichtung der nächsten Hierarchieebene zu dem Teilnutzwert für die nächste Hierarchieebene verdichtet.Dieses Verfahren wird fortgesetzt, bis der Nutzwert der Alternativen ermittelt ist.
17
381 17.7 · Ermittlung der Kosten nach der Kostenvergleichsrechnung
. Tabelle 17.4. Nutzwertermittlung Kriterien/Alternative
Gewichtung der Kriterien (%)
A
B
C
D
E
1. Personalzufriedenheit
14,3
0,72
0,57
0,43
0,14
0,29
2. Verwaltungsprozesse
19,0
0,95
0,76
0,57
0,38
0,19
3. Planungsverbesserung
23,8
1,07
1,07
0,48
0,48
0,48
4. Gute Ergonomie
9,5
0,19
0,10
0,43
0,43
0,29
5. Service
4,8
0,24
0,14
0,14
0,14
0,05
28,6
1,14
1,43
0,57
0,57
0,57
100,0
4,31
4,07
2,62
2,14
1,86
6. Investitionssicherheit Gesamt
17.7
Ermittlung der Kosten nach der Kostenvergleichsrechnung
Die Kosten werden in diesem Verfahren separat betrachtet.Hierfür stehen verschiedene monokriterielle Verfahren zur Verfügung. Einfach zu handhaben ist die Kostenvergleichsrechnung, die im Folgenden vorgestellt werden soll. Dieses Verfahren kann angewendet werden, falls die Erlöse unabhängig von der gewählten Investitionsalternative sind, wie dies im Fallbeispiel gegeben ist. Die Kostenvergleichsrechnung berücksichtigt explizit nur eine Periode der Nutzungsdauer bzw. Laufzeit, also beispielsweise ein Jahr. Entweder handelt es sich hierbei um eine Periode, die als repräsentativ für den Zeitraum angesehen werden kann,oder um eine Durchschnittsperiode (Götze u. Blöch 1993,S.152).Für das Beispiel wird eine Durchschnittsperiode verwendet. Es werden sowohl die Investitionskosten als auch die Betriebskosten berücksichtigt (. siehe Abb. 17.3). Die Investitionskosten enthalten die Kosten für Hard- und Software, soweit sie für diese Investition anzuschaffen sind, zuzüglich der Kosten für die Installation der Systeme. Die Kosten können weitgehend den Angeboten der Hersteller entnommen werden. Im Fallbeispiel wird davon ausgegangen, dass die Hardware an der Schule bereits vorhanden ist. Getätigte Investitionen,hier die anzuschaffende Software, stehen der Einrichtung nicht nur in dem
Jahr zur Verfügung, in dem diese angeschafft werden,sondern über mehrere Jahre.Daher sind die Investitionskosten über die Abschreibungen einzubeziehen. Die Abschreibung der Investition einer Periode, in der Regel ein Jahr, steht für den Werteverlust in dieser Zeit. Falls damit gerechnet werden kann,dass nach der geplanten Nutzungszeit die getätigte Investition verkauft werden kann, ist der Verkaufserlös abzüglich eventueller Kosten für die Beendigung der Nutzung (Entsorgungskosten etc.) in die Rechnung einzubeziehen. Die durchschnittlichen Abschreibungen werden ermittelt,indem der abzuschreibende Betrag auf die Perioden der Nutzungsdauer verteilt wird. Somit ergibt sich der Abschreibungsbetrag durch folgende Formel: Ab =
I0 – Ln n
Erläuterung der Formel: Ab I0
n Ln
Abschreibung Investition, die zum Zeitpunkt 0 (Beginn des Einsatzes der Investition) getätigt wird Nutzungsdauer (Perioden) Liquidationserlös nach n Perioden = Verkaufserlös nach n Perioden – Kosten für Beendigung der Nutzung
Zu den Anschaffungskosten der Investition gehören neben dem Anschaffungspreis die Anschaf-
382
Kapitel 17 · Entscheidungsunterstützung mit Hilfe der Kosten-Nutzwert-Analyse
. Abb. 17.3. Kostenpositionen
fungsnebenkosten, z. B. Frachtkosten und Errichtungskosten. Im Beispiel ist davon auszugehen, dass ein Verkauf der Software im Anschluss an die Nutzungsdauer nicht möglich ist. Am Beispiel der Alternative B ermittelt sich die Abschreibung wie folgt: I0 n Ln
Ab =
17
4.000 EUR 4 Jahre 0, da Verkaufserlös nach vier Jahren nicht erzielt werden kann. 4.000 [EUR] – 0 [EUR] 4 [Jahre]
= 1.000 [EUR]
Die Investitionskosten einschließlich der Installationskosten für die Alternativen sind in . Tabelle 17.5 dargestellt. Der Investitionsbetrag ist zudem maßgeblich für die Höhe des gebundenen Kapitals. Das gebundene Kapital steht während der Investitionszeit nicht für andere Investitionen zur Verfügung bzw. kann während der Zeit keine Zinsen erbringen. Dies wird über die Ermittlung kalkulatorischer Zinsen einbezogen. – I0 + Ln K= 2
Erläuterung der Formel: – K durchschnittlich gebundenes Kapital Für die Alternative B ergibt sich als durchschnittlich gebundenes Kapitel: – 4.000 [EUR] + 0 [EUR] K= = 2.000 [EUR] 2 Der kalkulatorische Zins wird ermittelt mit der Formel: Zkalk =
p 100
– ·K
Erläuterung der Formel: Zkalk p
kalkulatorische Zinsen Zinsfuß
Der Zinsfuß p gibt an, welche Zinsen für eine Investitionssumme von 100 in einer Periode, üblicher Weise ein Jahr, gezahlt werden. Der Zinsfuß muss sich am jeweiligen Marktzins orientieren.Wird ein Zinsfuß von 8 für das Beispiel der Alternative B zugrunde gelegt, ergibt sich der kalkulatorische Zins wie folgt: Zkalk =
8 · 2.000 [EUR] = 160 [EUR] 100
17
383 17.7 · Ermittlung der Kosten nach der Kostenvergleichsrechnung
. Tabelle 17.5. Investitionskosten Kostenart/Alternative
A
B
C
D
E
Investitionskosten (einschließlich Installation)
–*
4.000 EUR
4.000 EUR
7.500 EUR
7.000 EUR
Abschreibung (bei Nutzungsdauer von 4 Jahren)
–*
1.000 EUR
1.000 EUR
1.875 EUR
1.750 EUR
* Entfällt, da Produkt vorhanden ist und auch für andere Einsatzgebiete benötigt wird.
Die Betriebskosten werden ebenfalls als jährlicher Durchschnittswert angegeben. Hierzu zählen folgende Kosten: 4 Personalkosten für die Schulverwaltung, 4 Kosten der Schulung/Nachschulung der Mitarbeiter für das Produkt, 4 Wartung, soweit dies nicht in den Investitionskosten enthalten ist.
Wichtig Versuchen Sie die Kosten für die von Ihnen gefundenen Alternativen möglichst genau zu ermitteln.
Wichtig
Falls weitere Kostenpositionen signifikant voneinander abweichen, sind diese ebenfalls einzubeziehen. . Tabelle 17.6 enthält alle Kostenpositionen.Für das Beispiel sind die Abschreibung und die kalkulatorischen Zinsen entsprechend der obigen Berechnung in die Tabelle übernommen.Dabei ist ein Zinsfuß von 8 zugrunde gelegt.Die Personal-,Schulungs- und Wartungskosten sind entsprechend der Angaben aus Kapitel 17.4 fiktiv bestimmt.
Berechnen Sie die einzelnen Alternativen, wenn bisher nur das Sekretariat einen PC zur Verfügung hat. Gehen Sie davon aus, dass die für Alternative D und E benötigten vier zusätzlichen PCs zu einem Preis von je 3000 EUR inklusive Wartung beschafft werden können und ebenfalls auf vier Jahre abgeschrieben werden.
. Tabelle 17.6. Durchschnittliche Gesamtkosten Kostenart/Alternative
A
B
C
Abschreibung (s.oben)
–
1.000 EUR
1.000 EUR
1.875 EUR
1.750 EUR
Kalkulatorische Zinsen
–
160 EUR
160 EUR
300 EUR
280 EUR
Personalkosten für Verwaltung/Planung
18.000 EUR
14.000 EUR
8.500 EUR
8.000 EUR
8.000 EUR
Schulungskosten
–
800 EUR
800 EUR
Wartung
–
–
Durchschnittliche Gesamtkosten je Periode
18.000 EUR
15.660 EUR
500 EUR
D
Inkl.
E
200 EUR
400 EUR
9.860 EUR
11.375 EUR
– 10.830 EUR
384
Kapitel 17 · Entscheidungsunterstützung mit Hilfe der Kosten-Nutzwert-Analyse
Die bisher dargestellten Kosten sind Fixkosten der Investition. Das heißt, sie sind unabhängig von der Anzahl der mit Hilfe der Investition erbrachten Leistung. Falls Kostenbestandteile abhängig von der Anzahl der zukünftig erbrachten Leistungen sind, die zudem, wie auch die Anzahl der Leistungen zwischen den einzelnen Alternativen, unterschiedlich sein kann, ist die Höhe der Leistungen zu schätzen und die Kosten als variable Kosten einzubeziehen. Für das genannte Beispiel könnten variable Kosten die benötigte Energie für die Geräte sein,die entsprechend der Arbeitsstunden einzubeziehen ist. Da dies jedoch nur einen verschwindend geringen Teil der Gesamtkosten ausmachen würde, werden diese Kosten hier selbstverständlich nicht einbezogen. Bei der Investitionsentscheidung »Autokauf« ist der Faktor »benötigte Energie« anders zu bewerten. Die variablen Kosten, die durch unterschiedlichen Benzinverbrauch auf 100 km verursacht werden, sind wesentlich für die Investitionsentscheidung. Das Ergebnis ist abhängig davon, ob ein Auto für Langstrecken oder kurze Distanzen beschafft werden soll.
. Abb. 17.4. Dominanzbetrachtung
17
17.8
Entscheidung mit Hilfe der Dominanzbetrachtung
Die Entscheidung, welche Alternative gewählt werden soll, kann sehr gut durch eine graphische Gegenüberstellung der Nutzwerte und der Kosten unterstützt werden. Dies ist Grundlage für eine Dominanzbetrachtung der Alternativen. Für das Beispiel ergibt sich das in . Abb. 17.4 dargestellte Bild. Alternative C dominiert die Alternativen A und B, da sie sowohl besser als auch günstiger ist. Daher können Alternativen A und B bei der Entscheidung außer Betracht bleiben.Auch Alternative D kommt nicht in Frage, da sie schlechter und teuerer ist als Alternative E. Somit ist eine Entscheidung zwischen den Alternativen E und C zu fällen. Die Mehrplatzvariante E würde vielen Nutzern mit sehr umfangreichen Funktionen zur Verfügung stehen, ist jedoch auch vergleichsweise teuer.Alternative C dagegen ist eine vergleichsweise günstige Variante, bei der jedoch zum einen nur ein Arbeitsplatz zur Verfügung steht, zum anderen die Medienverwaltung und der Datenexport nicht angeboten werden. Die Entscheidung zwischen den Alternativen C und E kann durch diese Methode nicht weiter unterstützt werden, da der höhere Nutzwert der Al-
385 17.10 · Kritische Reflexion des Verfahrens
ternativen auch zu höheren Kosten führt. Die Entscheidung hängt damit sowohl von dem angestrebten Nutzen der Investition als auch von den Budgetrestriktionen ab. In realen Entscheidungssituationen kann die Methode zum Ausschluss eines Großteils der Alternativen führen und damit die Entscheidungsfindung deutlich erleichtern. Weitere Alternativen können ausgeschlossen werden, falls ein Mindeststandard für die qualitativen Kriterien festgelegt wurde, der nicht von allen Alternativen erreicht wird. Das gilt auch, wenn nur ein begrenztes Budget zur Verfügung steht, das von einigen Alternativen überschritten wird.
17
riengewichtung und der Alternativenbewertung vertreten und eine Einigung im Team nicht möglich ist. Durch die Berechnung alternativer Szenarien wird ersichtlich, welchen Einfluss die unterschiedlichen Gewichtungen auf das Ergebnis haben. Im günstigsten Fall ändern sich die absoluten Werte oder auch die Reihenfolge der in Betracht zu ziehenden Alternativen, nicht jedoch die zu präferierenden Alternativen und die auszuschließenden Alternativen. In diesem Fall kann die Entscheidungsfindung bereits deutlich erleichtert werden.
17.10 Kritische Reflexion des Verfahrens Einfaches Verfahren bei Mehrzielproblemen
17.9
Durchführung von Sensitivitätsanalysen
Bei Investitionsentscheidungen wird versucht, die zukünftigen Auswirkungen von Investitionen vorwegzunehmen. Dies bedeutet jedoch auch, dass eine Vielzahl von Daten für das Verfahren geschätzt werden müssen. Das Ergebnis der Berechnungen ist aber nur so genau wie die geschätzten Daten. Um diese Ungewissheit in dem Verfahren angemessen zu berücksichtigen, werden Sensitivitätsanalysen durchgeführt. Dazu werden verschiedene Szenarien erstellt,das heißt,das Verfahren wird mit unterschiedlichen Datensätzen durchgerechnet. So können die Investitionskosten meist den Angeboten entnommen werden, während die Betriebskosten beispielsweise zum Investitionszeitpunkt noch sehr ungenau sind. Wichtig Führen Sie das Verfahren mit einer realistischen, einer optimistischen und einer pessimistischen Schätzung der Werte durch. Ist das Modell in dem Tabellenprogram Excel erstellt, ist am Ergebnis sofort ersichtlich, ob sich die Rangfolge der Nutzwerte dadurch verändert.
Weitere Szenarien können berechnet werden,wenn die beteiligten und betroffenen Personengruppen unterschiedliche Standpunkte bezüglich der Krite-
Die Kosten-Nutzwert-Analyse ist ein vergleichsweise einfaches und gut nachvollziehbares Verfahren zur Entscheidungsunterstützung bei Mehrzielproblemen. Die Berechnungen und damit auch die Ergebnisse für alternative Szenarien können mit Hilfe eines einfachen Excel Spreadsheets ermittelt werden. Transparenz als Grundlage für eine offene und fundierte Sachdiskussion
Wesentlicher Vorteil des dargestellten Verfahrens ist die systematische Strukturierung der Entscheidung. Die Entscheidungskriterien sind für alle Beteiligten und Betroffenen transparent und können auf ihre Vollständigkeit überprüft werden. Die Gewichtung der Entscheidungskriterien wird ebenfalls transparent. Falls bezüglich der Gewichtung unterschiedliche Standpunkte bestehen, kann dies im Rahmen von Szenarienrechnungen einbezogen werden. Die unterschiedlichen Ergebnisse können bei der weiteren Entscheidungsfindung berücksichtigt werden. Das Verfahren legt damit die Grundlage für eine offene und fundierte Sachdiskussion bei Investitionsentscheidungen. Reduzierung der Entscheidungsalternativen
Für den Einsatz der Kosten-Nutzwert-Analyse spricht zudem, dass die zur Verfügung stehenden Alternativen für die Entscheidung auf eine handhabbare Zahl reduziert werden. Aus Sicht des Entscheiders werden eindeutig schlechtere Investitionsalternativen ersichtlich und können ausgeklammert werden.
386
Kapitel 17 · Entscheidungsunterstützung mit Hilfe der Kosten-Nutzwert-Analyse
Ergebnis abhängig von Wertvorstellung der Entscheider
Das Verfahren kann hinsichtlich der Nutzwerte jedoch kein objektives Ergebnis ermitteln. Die Bestimmung der Zielgewichte und die Bewertung der Alternativen sind von den einzelnen Wertvorstellungen der Entscheider abhängig und damit subjektiv (Oppitz 1995, S. 379). Es gibt keine verbindlichen Regeln für die Festlegung von Detailzielen und Gewichtungen.Die Ermittlung der subjektiven Einschätzung durch eine Gruppe ist zudem mit deutlichem Aufwand verbunden. Da über die Festlegung der Kriterien und Gewichte das Ergebnis wesentlich beeinflusst werden kann, besteht die Gefahr, dass das Verfahren zur »wissenschaftlichen Verbrämung« von Entscheidungen genutzt wird, die zuvor bereits gefallen sind. Methodische Schwächen
Das Verfahren hat zudem einige methodische Schwächen. Wie oben erläutert, ist es, um die erforderlichen Rechenoperationen durchzuführen, erforderlich, dass die Skalierung der Bewertungen kardinale Abstandseigenschaften erfüllen muss. Aus pragmatischen Gründen werden jedoch meist als ordinal einzustufende Skalen verwendet. Die Durchführung der erläuterten Rechenoperationen ist aus mathematischer Sicht dann jedoch eigentlich unzulässig. Die in Kap. 17.2 Auswahl der Entscheidungskriterien erwähnte weitgehende Nutzenunabhängigkeit der Kriterien ist ebenfalls kritisch zu prüfen. Aufgrund der dargestellten Vorteile ist das Verfahren als wesentliche Hilfestellung für multikriterielle Investitionsentscheidungen zu werten.
17
Zusammenfassung Investitionsentscheidungen werden, selbst wenn sie mit größeren Beträgen verbunden sind, häufig intuitiv getroffen. Dies kann sowohl zu Fehlinvestitionen als auch zur Verärgerung der beteiligten und betroffenen Personengruppen, deren Meinung nicht ausreichend einbezogen wurde, führen. Die Betriebswirtschaftslehre bietet eine Vielzahl von Methoden, um
mono- und multikriterielle Investitionsentscheidungen zu unterstützen. Der Beitrag stellt die Kosten-Nutzwert-Analyse als Vertreter der multikriteriellen Methoden anhand eines Beispiels vor. Bei aller Güte und Ausgefeiltheit der verwendeten Methoden können diese dem Entscheider die Wahl jedoch nicht abnehmen. Sie dienen aber wesentlich zur Entscheidungsunterstützung, indem sie Transparenz schaffen und die Konsequenzen einer Entscheidung verdeutlichen.
3 Methodische Vorschläge für die Seminargestaltung Das Fallbeispiel kann in einem Rollenspiel erarbeitet werden. Im Plenum wird zunächst über den möglichen Leistungsumfang eines Schulverwaltungssystems diskutiert und auf dieser Grundlage die Stakeholder festgelegt. Die Studierenden übernehmen die Rollen der einzelnen Stakeholder in Gruppen von drei bis maximal fünf Teilnehmern. In der Gruppe erfolgt zunächst die Zieldiskussion, dann die Zielgewichtung. Die einzelnen Gruppen stellen die Ergebnisse im Anschluss vor. Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Gruppen werden diskutiert.Die weiteren Schritte werden auf der Grundlage der jeweiligen Zielgewichtung der Gruppen durchgeführt. Ein interessantes Ergebnis ist meist, dass auch bei abweichenden Zielgewichtungen die gleichen Alternativen aus der Entscheidung herausfallen. Dies ist auch ein mögliches Vorgehen in realen Entscheidungssituationen, in denen in der Gruppe kein Konsens über die Zielgewichtung erreicht werden kann (siehe Kap. 17.9 Durchführung von Sensitivitätsanalysen). Soweit entsprechende Möglichkeiten zur Verfügung stehen, sollten die Informationen über die Leistungen der auf dem Markt angebotenen Schulverwaltungssysteme über eine Internetrecherche erhoben werden. Falls die Studierenden noch nicht mit Suchmaschinen im Internet vertraut sind, bietet sich an, dies als Lerneinheit mit aufzunehmen. Alternativ können vor der Unterrichtseinheit im Rahmen eines Messebesuchs ausführliche Infor-
387 17.10 · Kritische Reflexion des Verfahrens
mationen eingeholt oder Prospektmaterial von Herstellern angefordert werden. Die Zielerreichung der einzelnen Alternativen wird anhand der Produktinformationen von den einzelnen Gruppen bewertet. Auch wenn das Rechnen mit der Ordinalskala problematisch ist, empfiehlt sich diese Variante aufgrund der einfacheren Bewertung. Die Gruppen sollten ihre Grafik der Dominanzbetrachtung präsentieren. Das Vorgehen der Sensitivitätsanalyse kann anhand der unterschiedlichen Ergebnisse der einzelnen Gruppen verdeutlicht werden. Die Berechnungen sollten nach Möglichkeit in Excel durchgeführt werden. Die Tabelle lässt sich leicht in Excel übertragen, da sich die benötigten Rechenoperationen auf die Grundrechenarten beschränken.In einem Punktdiagramm kann die grafische Darstellung der Kosten und Nutzwerte erfolgen.Vorteil der Berechnung in Excel ist es,dass jede Gruppe ohne zusätzlichen Rechenaufwand verschiedene Szenarien erstellen und deren Auswirkungen auf das Ergebnis beobachten kann. Zudem kann das erstellte Rechenmodell Grundlage für den späteren Einsatz der Methode in der Praxis sein. Die Methodik der Kosten-Nutzwert-Analyse ist auf alle Investitionsentscheidungen übertragbar,
17
bei denen nicht nur monetäre Auswirkungen zu berücksichtigen sind,sondern auch qualitative Unterschiede der zur Verfügung stehenden Alternativen relevant sind. Stehen Entscheidungen aktuell zur Diskussion, wie zum Beispiel die Einführung eines Qualitätsmanagementsystems, Outsourcing verschiedener Leistungen, die Durchführung einer Schulungsmaßnahme zum Thema Hygiene oder die Entscheidung für ein Pflegedokumentationssystem, sollte dies als Anwendungsbeispiel in der Unterrichtseinheit zur Kosten-Nutzwert-Analyse genutzt werden.
3 Empfehlungen zum Weiterlernen Multikriterielle Verfahren sind universell einsetzbar. Sie werden, zum Teil unbewusst, von den meisten von uns gelegentlich genutzt. Däumler gibt als Beispiel aus dem Alltag eine Partnerwahl mittels Nutzwertanalyse an (Däumler 2000, S. 34). In Risikoanalysen finden multikriterielle Verfahren ebenfalls ihren Einsatz (Däumler 2000, S. 35), Henning gibt ein Fallbeispiel für Outsourcing (Henning 1998). Die Betriebswirtschaftslehre nutzt verschiedene Methoden (. siehe Abb. 17.5), um zur Wahl stehende Investitionsalternativen miteinander zu vergleichen. Es gibt eine Vielzahl von verständlichen
. Abb. 17.5. Auswahl von Methoden zur Unterstützung von Investitionsentscheidungen
388
17
Kapitel 17 · Entscheidungsunterstützung mit Hilfe der Kosten-Nutzwert-Analyse
Büchern und Artikeln zu diesem Themengebiet. In jeder Bibliothek der Wirtschaftswissenschaften finden sich gute Lehrbücher zu diesem Thema. Die Verfahren können nach der Anzahl der einfließenden Kriterien unterschieden werden. Wird nur ein Kriterium für die Entscheidung herangezogen, in der Regel sind dies die Kosten oder Gewinne,kommen monokriterielle Verfahren zur Anwendung. Zu unterscheiden sind die klassischen Verfahren der Investitionsrechnung und die Kosten-Nutzen-Analyse (Lücke u. Bloech 1991, S. 292). Zum Teilbereich der statischen Investitionsrechnung gehört die oben dargestellte Kostenvergleichsrechnung.Weitere statische Modelle sind die Gewinnvergleichsrechnung (Götze u. Blöch 1993, S. 60 ff), die Rentabilitätsvergleichsrechnung (Götze u. Blöch 1993, S. 63 ff) sowie die statische Amortisationsrechnung (Götze u. Blöch 1993, S. 66 ff). Alle statischen Verfahren berücksichtigen Durchschnittsgrößen und sind damit eine vereinfachte Schätzung. Sie eignen sich für die Bewertung der monetären Aspekte nur dann, wenn die Zahlungen über den entsprechenden Zeitraum weitgehend stabil bleiben.Tatsächlich zeichnen sich viele Investitionen jedoch dadurch aus, dass am Anfang der Investition das Geld in der gesamten Höhe bereitstehen muss und etwaige Rückflüsse (Einzahlungen) über die Zeit hinweg in unterschiedlicher Höhe erfolgen. Um dies genauer in der Investitionsrechnung zu berücksichtigen, wurden dynamische Modelle entwickelt, die auf der Zinseszinsrechnung basieren. Hierzu gehören die Kapitalwertmethode (Götze u. Blöch 1993, S. 73 ff), die Methode des internen Zinsfußes (Götze u. Blöch 1993, S. 90 ff), die Annuitätenmethode (Götze u. Blöch 1993, S. 87 ff) sowie die Methode der dynamischen Amortisationsrechnung (Götze u.Blöch 1993, S. 100 ff). Bei der Kosten-Nutzen-Analyse werden alle Vor- und Nachteile einer Alternative monetär bewertet. Es erweist sich jedoch als sehr schwierig, qualitative Kriterien monetär zu bewerten. Die Kosten-Nutzwert-Analyse ist eines von mehreren multikriteriellen Verfahren, also Verfahren, die mehrere Kriterien bei der Entscheidungsunterstützung einbeziehen. Die multikriteriellen Verfahren werden in qualitative Verfahren und quantitative Verfahren unterschieden. Ein einfa-
ches, aber wenig differenziertes qualitatives Verfahren ist die Erstellung einer Argumentenbilanz (Staehelin 1993, S. 28 f).Alle Argumente für und gegen eine Alternative werden in einer Tabelle gegenübergestellt. Versucht man, Pro und Contra gleich detailliert auszuarbeiten, ist ein Ungleichgewicht der Bilanz ein Indiz dafür, ob die Alternative zu befürworten ist oder nicht. Bei den quantitativen multikriteriellen Verfahren lassen sich klassische Verfahren, zu denen auch die Nutzwert-Analyse gehört, von entscheidungstechnologischen Ansätzen unterscheiden (Götze u. Blöch 1993, S. 129). Bei den klassischen Verfahren wird von der Existenz einer Ordnung ausgegangen, d. h. dass der Entscheider über genügend Informationen verfügt, die ihm erlauben, die Alternativen in eine Ordnung zu bringen.Dies setzt auch voraus, dass die einzelnen Kriterien kompensierbar sind. Am Beispiel bedeutet dies, dass auch eine Alternative in Frage kommt, die bezüglich der Investitionssicherheit sehr schlecht abschneidet, soweit der Gesamtnutzwert zu einem guten Ergebnis führt. Weitergehende klassische Verfahren sind Analytic Hierarchy Process (AHP) (Götze u. Blöch 1993,S.141 ff),das MAUT-Verfahren (Götze u.Blöch 1993, S. 159 ff) und SMART (Henning 1998, S. 130 f). Die entscheidungstechnologischen Ansätze dienen in erster Linie dem Selektieren, Sortieren und Ordnen von Alternativen, wenn nicht genügend Informationen vorliegen, um eine Ordnung zu erstellen. Eine unvollständige Kompensierbarkeit der Kriterien wird dabei berücksichtigt.Zu den Verfahren zählen u. a. PROMETHEE (Götze u. Blöch 1993, S. 171 ff) und ELECTRE (Henning 1998, S. 160) sowie darauf aufbauende Verfahren (u. a. Stummer 2001, Stummer 1998). Einen Überblick über die Verfahren bietet Henning (Henning 1998). Eine weitergehende Einteilung der Methoden nach der Art der vorhandenen Informationen finden sich bei Götze und Blöch (Götze u. Blöch 1993, S. 129 ff). Andere Autoren gehen insbesondere auf Investitionsentscheidungen unter Risiko ein (u. a. Pflaumer 1992) oder berücksichtigen im Rahmen der Methode Inflation oder Steuern (u. a. Staehelin 1993). Die Verfahren sind mathematisch vergleichsweise anspruchsvoll und daher nur für »Fortgeschrittene« geeignet.
389 17.10 · Kritische Reflexion des Verfahrens
Literatur Däumler KD (2000) Grundlagen der Investitions- und Wirtschaftlichkeitsrechnung:mit Aufgaben und Lösungen,Tests und Tabellen. Anwendersoftware auf CD-Rom. Neue WissenschaftsBriefe, Herne Berlin Götze U, Bloech J (1993) Investitionsrechnung, Modelle und Analysen zur Beurteilung von Investitionsvorhaben.Springer,Berlin Heidelberg New York Henning S (1998) Out- und Insourcing im Krankenhaus: Potentiale und entscheidungsunterstützende Verfahren. Schriftenreihe von Prof. Meyer in Eigenverlag. Nürnberg
17
Lücke W , Bloech J (Hrsg) (1991) Investitionslexikon. Vahlen, München Oppitz V (1995) Gabler Lexikon Wirtschaftlichkeitsrechnung. Gabler, Wiesbaden Pflaumer P (1992) Investitionsrechnung. R. Oldenbourg Verlag, München Wien Staehelin E (1993) Investitionsrechnung. Rüegger, Chur Zürich Stummer C (2001) Faire Gruppenentscheidungen in der Investitionsplanung. In: OR-Spektrum 23/4: 431–443 Stummer C (1998) Projektauswahl im betrieblichen F&E-Management. Gabler, Wiesbaden Zangemeister C (1976) Nutzwertanalyse in der Systemtechnik.Wittemannsche Buchhandlung, Berlin
18 Die Ausbildung in den Pflegeberufen – ein Sonderfall Alfred Schneider 18.1
Rechtliche Situation in der Pflegeausbildung
18.1.1
Formale Strukturen
18.1.2
Berufszulassungsgesetze für die Pflegeberufe
18.1.3
Reformansätze 2003 in den Pflegeberufen
18.2
Gesetzgebungskompetenz für die Ausbildung in den Pflegeberufen 396
18.3
Das duale Bildungssystem
18.4
Gemeinsamkeiten und Unterschiede: Duale Ausbildung und Ausbildung in den Pflegeberufen 397
18.4.1
Berufsbildungsgesetz und Krankenpflegegesetz
18.4.2
Anerkennung der Länderhoheit im Schulrecht
18.4.3
Berufsschule oder Berufsfachschule –
392
392 394
397
länderrechtliche Sonderregelung
399
18.4.4
Rechtsstatus des Schülers/der Schülerin
18.4.5
Anforderungen an die Schulen
18.4.6
Gesamtverantwortung für die Ausbildung
18.5
Pflegeausbildung »sui generis« und ihre Problemfelder 406
18.5.1
Lernortvernetzung
400
18.5.2
Praxisanleitung und Praxisbegleitung
18.5.3
Curriculare Planung
404
407 407
393
407
405
397 398
392
Kapitel 18 · Die Ausbildung in den Pflegeberufen – ein Sonderfall
> Thesen Trotz innovativer Reformen durch das Krankenpflegegesetz 2003 einerseits und das Inkrafttreten eines bundeseinheitlichen Altenpflegegesetzes im gleichen Jahr andererseits stellt sich Interessierten die Frage, warum es im Gegensatz zu anderen Berufsfeldern bisher nicht gelungen ist,eine einheitliche Pflegeausbildung für Deutschland zu etablieren. Es muss kritisch hinterfragt werden, warum es im Bereich »Pflege« so viele Sonderregelungen und Ausnahmen gibt. Dieser Artikel stellt die rechtliche Situation aus Sicht ihrer historischen Entwicklung und ihre Problematik hinsichtlich zukünftiger weiterer Reformnotwendigkeiten dar.
3 Berufliche Handlungskompetenzen 2
Fachkompetenz Die rechtliche Situation der pflegerischen Ausbildungen im föderalen System erkennen und einordnen. Gemeinsamkeiten, Überschneidungen und Unterschiede in den pflegerischen Ausbildungen sowie zu anderen (dualen) Berufsausbildungen erkennen und bewerten. Aufgrund der rechtlichen Situation Konsequenzen für die Pflegeausbildung und damit für Lernende und Lehrende ableiten.
3 Praxisrelevanz
18
Studierende,Absolventen und Hochschullehrer im Bereich der Pflegewissenschaften finden in den verschiedenen Pflegeausbildungen von einander abweichende und komplexe rechtliche Grundlagen vor. Um die Problematik zu verstehen, ist es wichtig, die verschiedenen Rechtsvorschriften aus Grundgesetz,Bundesgesetzen und Ländergesetzgebung als unverzichtbare Grundlage für die diffizile Situation heranzuziehen. Erst die Kenntnis der im Folgenden dargestellten, nicht unproblematischen rechtlichen Verhältnisse und Zuständigkeiten bietet die Möglichkeit, weiterhin notwendige Reformen zu formulieren und beim richtigen Ansprechpartner einzufordern.
3 Verfahrensstruktur Die Problematik der rechtlichen Situation der Pflegeausbildung wird in der zweiteiligen Verfahrensstruktur visualisiert. Das Mind Map (. Abb. 18.1) geht von den einzelnen Beteiligten aus, . Tabelle 18.1 stellt die strukturellen Unterschiede zwischen Ausbildungen des dualen Bildungssystems und den Pflegeausbildungen dar.
18.1
Rechtliche Situation in der Pflegeausbildung
18.1.1 Formale Strukturen Die Ausbildung in den Berufen der Krankenpflege hat eine weit zurückreichende Geschichte, die in Europa im Wesentlichen ihren Ursprung im karitativen Wirken christlicher Schwestern- und Ordensgemeinschaften hat und von daher auch grundlegend geprägt wurde. Nach einzelstaatlichen Länderregelungen in Deutschland folgten das erste reichseinheitliche Krankenpflegegesetz von 1938 sowie bundeseinheitliche Krankenpflegegesetze von 1957,1965 und 1985 bis zum derzeit gültigen Gesetz, das im Jahre 2003 verabschiedet wurde. Wie das geltende Krankenpflegegesetz stellen auch das Hebammengesetz aus dem Jahre 1985 und das Altenpflegegesetz aus dem Jahre 2000 Bundesgesetze dar. Die Ausbildung in der Gesundheits- und (Kinder-)Krankenpflege und in der Altenpflege sowie die Ausbildung zur Hebamme und zum Endbindungspfleger umfassen sowohl einen theoretischen als auch einen praktischen Ausbildungsteil. Damit werden der Lernort Schule (theoretische Ausbildung) und der Lernort Betrieb (praktische Ausbildung) angesprochen. Bemerkenswert ist, dass die Schulen nach dem Krankenpflegegesetz nach wie vor in Verbindung mit einem Krankenhaus stehen müssen (§ 4 Abs. 2 KrPflG). Dies mutet widersprüchlich an,da das Gesetz verpflichtend vorsieht, dass Teile der praktischen Ausbildung in ambulanten Pflegeeinrichtungen abzuleisten sind. Mit der gesetzlichen Regelung besteht das Risiko, dass die Lehrenden an Krankenpflegeschulen den (organisatorischen) Vorgaben des Krankenhauses verpflichtet sind, das Schulträger ist. Dies könnte v. a. für die Verwendung gesetzlich ausgewiesener Stun-
393 18.1 · Rechtliche Situation in der Pflegeausbildung
18
. Abb. 18.1. Verfahrensstruktur
denfreiräume zutreffen, die vom Ausbildungsträger, an dem die Schule angesiedelt ist, beansprucht werden.
18.1.2 Berufszulassungsgesetze für die Pflegeberufe Für viele Gesundheitsfachberufe sind sog. Berufszulassungsgesetze maßgeblich, und zwar i. d. R. für den jeweiligen Beruf das entsprechende Bundesgesetz. Als relevante Berufszulassungsgesetze (nebst Ausbildungs- und Prüfungsverordnung) für Pflegeberufe sind folgende zu nennen: 4 Gesetz über die Berufe in der Krankenpflege vom 16.07.2003 (BGBl. I, 1442 ff) einschließlich der Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für die Berufe in der Krankenpflege vom 10.11.2003 (BGBl. I, 2263 ff). Geschützt werden die Berufsbezeichnungen Gesundheits- und Krankenpfleger/-in, Gesundheits- und Kinderkrankenpfleger/-in. 4 Gesetz über die Berufe in der Altenpflege vom 17.11.2000 (BGBl. I, 1513 ff) einschließlich der
Ausbildungs- und Prüfungsverordnung vom 26.11.2002 (BGBl. I, 4418 ff). Geschützt wird die Berufsbezeichnung Altenpfleger/-in. 4 Gesetz über den Beruf der Hebamme und des Entbindungspflegers vom 04.06.1985 (BGBl. I, 902 ff) einschließlich der Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für Hebammen und Entbindungspfleger vom 16.03.1987 (BGBl.I,929 ff). Geschützt wird die Berufsbezeichnung Hebamme und Endbindungspfleger. Die Berufsbezeichnungen »Krankenpflegerhelfer/-in« und »Altenpflegerhelfer/-in« können zukünftig allenfalls noch länderrechtlich geregelt werden. Wichtig Krankenpflegegesetz, Hebammengesetz und Altenpflegegesetz sind also Bundesgesetze, die die Zulassung zur Berufsausübung und Führung der Berufsbezeichnung regeln, nicht aber die Inhalte der späteren Berufsausübung.
394
Kapitel 18 · Die Ausbildung in den Pflegeberufen – ein Sonderfall
. Tabelle 18.1. Verfahrensstruktur Duales Bildungssystem
Pflegeausbildungen
Betrieb Berufsschule
Krankenhaus/unterschiedliche ambulante, stationäre Pflegeeinrichtungen, Reha-Einrichtungen Krankenpflege-, Hebammen- und Altenpflegeschulen
Vertragspartner
Betrieb
Ausbildungsträger
Verantwortlich für die Ausbildung
Betrieb
Schulen
Gesetzliche Regelung
Berufsbildungsgesetz
Krankenpflegegesetz (Berufszulassungsgesetz) Altenpflegegesetz (Berufszulassungsgesetz) Hebammengesetz sowie die entsprechenden Prüfungs- und Ausbildungsverordnungen
Rechtsstatus des Lernenden
Auszubildender
Schüler (mit Charakter eines Auszubildenden) In Bayern: – für theoretischen Unterricht: Schulrecht, – für praktische Ausbildung: Arbeitsrecht
Probezeit
Mindestens 1 Monat, maximal 4 Monate
6 Monate
Beendigung des Ausbildungsverhältnisses
Arbeitsverhältnis endet nach bestandener Prüfung
Ausbildungsverhältnis endet mit Ablauf des Ausbildungsvertrages nach 3 Jahren, auch bei an einem früheren Termin bestandener Prüfung Ausnahme: mit bestandener Prüfung, wenn vorgeschriebene Stundenzahl erbracht wurde
Mitbestimmungsrechte
Betriebs-/Personalrat oder sonstige Mitarbeitervertretung
In der Regel wie bei dualer Ausbildung, mit Ausnahme schulrelevanter Aspekte
Status der Lehrer
Berufsschullehrer (Studium)
Lehrhebamme bzw. -entbindungspfleger (HebG, Weiterbildung bzw. Studium der Pflegepädagogik) (Pädagogisch) qualifizierte Fachkraft mit abgeschlossener Hochschulausbildung (KrPflG, AltPflG)
Lernorte
18.1.3 Reformansätze 2003 in den Pflegeberufen
18
Mit der Novellierung des Krankenpflegegesetzes im Jahre 2003 und dem »Durchbruch« zur Verabschiedung eines bundeseinheitlichen Altenpflegegesetzes wollte der Gesetzgeber gesellschaftlichen, v. a. demographischen Veränderungen ebenso Rechnung tragen wie auch – in erster Linie mit dem Krankenpflegegesetz – Veränderungen sozialrechtlicher, insbesondere pflegeversicherungsrechtlicher Vorschriften, aber auch den Entwicklungen der Pflegewissenschaft.
Erstmalig werden in der Krankenpflege Gesundheit und Pflege kranker Menschen miteinander verknüpft, nach außen verdeutlicht durch die neuen Berufsbezeichnungen. Es werden hierdurch neue Ausbildungsakzente gesetzt und neue Handlungsfelder erschlossen. Die Gesundheits- und (Kinder-) Krankenpflegeausbildung berücksichtigt neben dem – früher schwerpunktmäßig behandelten – kurativen Aspekt vermehrt präventive, gesundheitsfördernde, rehabilitative und palliative Elemente, die auch sozialrechtlich intensiver in den Vordergrund getreten sind.
395 18.1 · Rechtliche Situation in der Pflegeausbildung
Zugunsten einer inhaltlichen Differenzierung wird die bisherige Teilung der Ausbildung in Kranken- und Kinderkrankenpflege aufgehoben, wenngleich es bei zwei Berufsbildern mit unterschiedlicher Berufsbezeichnung bleibt. Die grundsätzlich 3-jährige Ausbildung (in Teilzeitform 5 Jahre) sieht einen generalisierenden Teil vor sowie eine sich daran anschließende Phase der Spezialisierung. Ausdrücklich weisen in diesem Zusammenhang die Gesetzesmaterialien auf eine Kooperation der Berufe in der Krankenpflege einerseits und in der Altenpflege andererseits hin. Die gesetzliche Regelung räumt den Ländern Modellversuche ein,die auf eine Weiterentwicklung der Pflegeberufe unter Berücksichtigung berufsfeldspezifischer Anforderungen abzielen (§ 4 Abs. 6 KrPflG). Damit berücksichtigt der Gesetzgeber u. a. Studien, die eine hohe Schnittmenge zwischen den einzelnen (Kranken-, Kinderkrankenund Altenpflege-)Ausbildungen festgestellt haben. Beim Erlass der jeweiligen Ausbildungs- und Prüfungsverordnung wird ein abgestimmtes Vorgehen der jeweils zuständigen Bundesressorts gefordert (§ 8 Abs. 1 S. 1 KrPflG). Zudem spiegelt sich – jedenfalls zum Teil – der Gedanke einer umfassenden Pflege in unterschiedlichen Versorgungskontexten in der Formulierung des Ausbildungsziels für die Gesundheits- und (Kinder-)Krankenpflegeberufe wider (§ 3 KrPflG). Unter Berücksichtigung einschlägiger europäischer Vorgaben und Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wird in eigenverantwortliche, mitwirkende und interdisziplinäre Aufgabenbereiche der Krankenpflege differenziert. Insbesondere der auf Eigenverantwortlichkeit abzielende Bereich in der späteren Berufsausbildung, der v. a. die Feststellung des Pflegebedarfs bis hin zur Evaluation der Pflege (Pflegeprozess), die Sicherung und Entwicklung der Pflegequalität sowie – neu – Beratung, Anleitung und Unterstützung von zu pflegenden Menschen und ihrer Bezugpersonen umfasst, ist ein wichtiger Schritt hin zur Autonomie des Gesundheits- und (Kinder-)Krankenpflegeberufs. Darüber hinaus weist das Ausbildungsziel einer interdisziplinären Zusammenarbeit mit anderen Berufsgruppen – etwa im Bereich der ambulanten Pflegeeinrichtungen,wie überhaupt im integrierten Versorgungssystem auch mit Hausärzten,
18
mit (Alten-)Pflegeheimen und weiteren Einrichtungen des Gesundheitswesens – auf die Entwicklung berufsübergreifender Lösungen von Gesundheitsproblemen hin. Dem erklärten Ziel, die Ausbildungen in den Pflegeberufen auf eine gemeinsame Grundlage zu stellen, trägt u. a. das Krankenpflegegesetz 2003 bereits Rechnung. Wichtig Das neu formulierte Ausbildungsziel verlangt zur Umsetzung in den Pflegealltag entsprechende Umgestaltungen von Organisations- und Führungsstrukturen innerhalb der einzelnen Berufsgruppen im Krankenhaus.
Als unterstützend sollte hierbei die Einführung des sog. DRG-Systems (DRG: »diagnosis-relatedgroups«/diagnoserelavante Gruppen) angesehen werden.Die Einführung dieses Entgeltsystems wird zu einer Neustrukturierung und Optimierung betriebsinterner Abläufe führen. So gesehen kann den Pflegeberufen als Folge der Neuordnung der Pflegeausbildung gemeinsam mit der Einführung des DRG-Systems eine Art »pflegerischer Organisationshoheit« zukommen. Wünschenswert wäre in diesem Zusammenhang jedoch eine weitere Anpassung auch in der Sozialgesetzgebung (Sozialgesetzbuch), die nach wie vor die Begriffe »Grundpflege« und »Behandlungspflege« verwendet (z. B. § 37 Abs. 1 SGB V). Diese dürften angesichts der Neuausrichtung in der Pflegeausbildung zukünftigen Tätigkeitsfeldern der Pflege nicht mehr entsprechen. Ausdrücklicher als in der Altenpflege (§ 3 AltPflG) soll die Vermittlung krankenpflegerischer Kompetenz auf »dem allgemeinen Stand pflegewissenschaftlicher, medizinischer und weiterer bezugswissenschaftlicher Erkenntnisse« basieren (§ 3 Abs. 1 KrPflG). Damit entfernt sich die Ausbildung in der Krankenpflege ein Stückweit von dem früheren, eher »medizinlastigen« und auf Erfahrungswissen gründenden Ausbildungskonzept. Dem entspricht die Ausbildungs- und Prüfungsverordnung – ähnlich der Altenpflege – mit einem neuen Stundenverhältnis zugunsten der theoretischen Ausbildung (früher 1600 Stunden, jetzt
396
Kapitel 18 · Die Ausbildung in den Pflegeberufen – ein Sonderfall
2100 Stunden). Hiermit realisiert der Gesetzgeber die Forderung, Pflegetätigkeit auf die Basis einer wissenschaftlich fundierten theoretischen Ausbildung zu stellen. Nicht ganz auszuschließen ist jedoch, dass die Verwirklichung dieser Anforderung in der praktischen Ausbildungssituation zunächst problematisch sein kann, da es – worauf zutreffend hingewiesen wird – schwierig sein dürfte, das erworbene theoretische Wissen in der praktischen Ausbildung einzuüben. Die ausbildenden Pflegeeinrichtungen sind somit besonders gefordert, ebenso wie die in der Praxisbegleitung und Praxisanleitung eingesetzten Personen (§ 4 Abs. 5 KrPflG, § 4 Abs. 4 AltPflG). Wichtig Mit der Praxisanleitung und -begleitung werden die Vernetzungsstrukturen von schulischer und praktischer Ausbildung verdeutlicht. Sie sollen zu einer wesentlichen Verbesserung der Ausbildungsqualität beitragen.
18
Die Sicherstellung der Praxisbegleitung ist gesetzliche Pflicht der Schulen. Ihre Aufgabe besteht in der Betreuung der Schüler während der praktischen Ausbildung in den Einrichtungen sowie in der Beratung der für die Praxisanleitung zuständigen Fachkräfte. Die Praxisanleitung erfolgt durch geeignete Fachkräfte, die von der ausbildenden Einrichtung zu stellen sind.Aufgaben der Praxisanleiter sind die schrittweise Heranführung der Schüler an die eigenverantwortliche Wahrnehmung der beruflichen Aufgaben sowie die Gewährleistung der Verbindung mit der Schule. Mit der Vermittlung krankenpflegerischer Kompetenz in eigenverantwortliche, mitwirkende und interdisziplinäre Bereiche folgt der Gesetzgeber dem Konzept einer Präzisierung des Ausbildungsverfahrens, das auf Handlungs- und Lernfelder ausgerichtet ist nicht, jedoch in der Ausbildung zur Altenpflege, zur Hebamme und zum Entbindungspfleger eingeführt ist. Dementsprechend unterscheidet sich auch der pädagogische Ansatz. Stellt dieser in den letztgenannten Berufsbildern auf die Vermittlung von
Kenntnissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten ab, bezieht er sich in der Gesundheits- und (Kinder-) Krankenpflege zukünftig auf die Vermittlung fachlicher,personaler,sozialer und methodischer Kompetenzen, pflegewissenschaftlich untermauert.
18.2
Gesetzgebungskompetenz für die Ausbildung in den Pflegeberufen
Die Zuständigkeit zum Erlass von Gesetzen (Gesetzgebungskompetenz) regelt sich nach der Verfassung, d. h. nach dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Danach liegt die Gesetzgebungskompetenz grundsätzlich bei den Ländern, soweit nicht ausdrücklich der Bund für zuständig erklärt ist (Artikel 70 GG). Die Abgrenzung zwischen Landes- und Bundeszuständigkeit erfolgt nach den Vorschriften des Grundgesetzes über die ausschließliche und die konkurrierende Gesetzgebung (Artikel 70 Abs. 2 GG). »Konkurrierende Gesetzgebung« heißt, dass die Gesetzgebungsbefugnis bei den Ländern liegt, soweit nicht der Bund von seinem Gesetzgebungsrecht Gebrauch macht (Artikel 71 GG). Dieses Gesetzgebungsrecht des Bundes besteht jedoch nur dann, wenn ein Erfordernis zu einer bundeseinheitlichen Regelung vorliegt.Gegenstände der konkurrierenden Gesetzgebung, für die das Grundgesetz eine bundeseinheitliche Regelung vorsieht, sind im Katalog des Artikels 74 GG aufgezählt. Darunter fällt z. B. die Zulassung zu ärztlichen und anderen Heilberufen (Artikel 74 Nr. 19 GG). Demgegenüber ergibt sich aus der Kompetenzverteilung des Grundgesetzes, dass – vorbehaltlich eines Zusammenwirkens von Bund und Ländern bei der Bildungsplanung (Artikel 91 b GG) – ausschließlich die Länder für das Schulrecht (Schulgesetzgebung/Schulverwaltung) zuständig sind. Der Bund hat auf diesem Gebiet weder Gesetzgebungsnoch Verwaltungsbefugnis. Der schulische Teil der Pflegeausbildungen ist daher durch die aus dem föderativen Staatsaufbau der Bundesrepublik Deutschland folgende verfassungsrechtliche Kompetenzzuweisung grundsätzlich durch die Länder zu regeln. Die Länder besitzen insoweit die Gesetzgebungshoheit, von der jedoch nur einige Bundesländer Gebrauch gemacht
397 18.4 · Gemeinsamkeiten und Unterschiede
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haben (z. B. Bayern, Mecklenburg-Vorpommern). Das erklärt die unterschiedlichen Ausbildungsstrukturen in Teilen der Bundesrepublik und die Schwierigkeit,hinsichtlich des schulischen Teils der Pflegeausbildung eine Einheitlichkeit in Deutschland herbeizuführen. Es bestand und besteht Konsens darüber, dass die Gesundheits- und (Kinder-)Krankenpflegeberufe sowie der Beruf der Hebamme und des Entbindungspflegers zu den »anderen Heilberufen« im Sinne des Grundgesetzes zählen. Umstritten war diese Zuordnung für den Beruf der Altenpflege. Dieser wurde – v. a. aus Ländersicht – den sozialbezogenen Pflegeberufen zugeordnet. Diese Zuordnung verhinderte bis in die Mitte des Jahres 2000 die Anerkennung einer Gesetzgebungskompetenz des Bundes zur Verabschiedung eines bundeseinheitlichen Ausbildungsgesetzes für die Altenpflege. Die Differenzierung der Einzelberufe nach gesundheitspflegerischen oder sozialpflegerischen Bereichen konnte jedoch mit dem Altenpflegegesetz vom 17.11.2000 im Wesentlichen beigelegt werden.So leitet denn auch der Bundesgesetzgeber seine Gesetzgebungskompetenz für ein Gesetz über die Berufe in der Altenpflege aus Artikel 74 Abs. 1 Nr. 19 GG her. Bestätigung fand diese Auffassung in einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 24.10.2002. Zudem wird zutreffend auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG hingewiesen, wonach dem Bund die Gesetzgebungskompetenz für Regelungen über Ausbildungsverhältnisse zusteht.
tenden Ausbildungsaufgabe hat jeder der zwei Lernorte seine eigene rechtlich vorgegebene Verantwortung. Soweit die Ausbildung im Betrieb stattfindet, basiert das dual-betriebliche System auf dem Berufsbildungsgesetz (BBiG in der Fassung vom 23. März 2005). Das Berufsbildungsgesetz legt insbesondere die Regelungen über die Begründung des Berufsausbildungsverhältnisses durch den Ausbildungsvertrag fest, regelt den Inhalt des Berufsausbildungsverhältnisses durch Festschreibung von Pflichten des Ausbildenden und des Auszubildenden, legt die Berechtigung zu Einstellung und Ausbildung fest, trifft weiter Regelungen über die Ausbildungsvergütung sowie den Beginn und die Beendigung des Berufsausbildungsverhältnisses und reglementiert die Überwachung der Berufsausbildung und vieles mehr.
18.3
18.4
Das duale Bildungssystem
Trotz vieler Sonderregelungen ähneln die Pflegeausbildungen dem dualen Bildungssystem. Die Berufsbildung im dualen System ist die älteste Form der Berufsausbildung.Der Begriff »duales System« wurde in den 1960er Jahren durch den deutschen Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen (1953–1965) für einen Sachverhalt festgelegt, den es allerdings schon lange vorher gab. Der Begriff »duales System« kennzeichnet die Zusammenarbeit von Betrieb und Berufsschule bei der beruflichen Erstausbildung. Die Ausbildung findet an zwei Lernorten statt: im Betrieb und in der Berufsschule.Innerhalb der gemeinsam zu leis-
Wichtig Die dual-betriebliche Struktur ist im Wesentlichen durch den betrieblichen Teil der Ausbildung gekennzeichnet.Der Betrieb ist Vertragspartner für den Auszubildenden und verantwortlich für die Ausbildung. Ergänzend zur betrieblichen Ausbildung tritt der an Berufsschulen vermittelte theoretische Teil der Berufsausbildung. Der Lernort Berufsschule hat seine Rechtsgrundlage in den Schulgesetzen der Länder.
Gemeinsamkeiten und Unterschiede: Duale Ausbildung und Ausbildung in den Pflegeberufen
18.4.1 Berufsbildungsgesetz und Krankenpflegegesetz Bis zum Inkrafttreten des Krankenpflegegesetzes im Jahre 1985 mussten sich Gerichte vielfach mit der Frage auseinandersetzen,inwieweit das Berufsbildungsgesetz subsidiär neben dem Krankenpflegegesetz aus dem Jahre 1965 Anwendung fand. Diese Streitfrage wurde im Jahre 1993 durch einen Beschluss des Gemeinsamen Senats der Obersten
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Kapitel 18 · Die Ausbildung in den Pflegeberufen – ein Sonderfall
Gerichtshöfe des Bundes dahingehend entschieden,dass bei einem »überwiegend arbeitsrechtlichbetrieblich ausgestalteten Ausbildungsverhältnis in der Krankenpflege« der Anwendung des Berufsbildungsgesetzes neben den Vorschriften des Krankenpflegegesetzes aus dem Jahre 1965 nichts entgegensteht. Eine der Voraussetzungen für diese Entscheidung war die Feststellung, dass es sich bei der Krankenpflegeausbildung um eine überwiegend arbeitsrechtlich-betriebliche, d. h. um eine nichtschulische Ausbildung gehandelt hat. Ähnlich urteilte das Bundesarbeitsgericht im Jahre 1990 zur Frage der Ausbildung zur Altenpflegerin. Unter anderem aus verfassungsrechtlichen Gründen scheiterte zwischenzeitlich der gesetzgeberische Versuch, die Ausbildungen in der Krankenpflege (sowie zur Hebamme) weitgehend in das System des Berufsbildungsgesetzes zu integrieren, so wie schon Versuche, die Krankenpflegeausbildung rein schulisch zu regeln, Mitte der 1970er Jahre gescheitert waren. Bereits mit Verabschiedung des Krankenpflegegesetzes im Jahre 1985 hat der Gesetzgeber die zuvor durch die subsidiäre Anwendung des Berufsbildungsgesetzes entstandene Rechtsunsicherheit dadurch beseitigt, dass bestimmt wurde, dass eine Anwendung der Vorschriften des Berufsbildungsgesetzes ausgeschlossen ist. Bei dieser Regelung blieb es auch im Krankenpflegegesetz 2003 (§ 22) und gleichlautend im Altenpflegegesetz sowie im Hebammengesetz. Diese Regelung konnte getroffen werden, nachdem der Gesetzgeber den nach alter Rechtslage ungeregelten Rechtsstatus der Schüler vornehmlich in Abschnitt III (Ausbildungsverhältnis) des Krankenpflegegesetzes eigenständig geregelt hat. Die Vorschriften dieses Abschnittes sind den entsprechenden Regelungen des Berufsbildungsgesetzes angeglichen, indem sie insbesondere Form und Inhalt des Ausbildungsvertrags, Rechte und Pflichten der Schulen und Schüler, den Anspruch des Schülers auf Ausbildungsvergütung, die Probezeit und die Kündigung regeln.In gleicher Weise verhält es sich mit den gesetzlichen Ausbildungsregeln für die Berufe in der Altenpflege, zur Hebamme sowie zum Entbindungspfleger. Auch für diese Ausbildungssysteme findet das Berufsbildungsgesetz keine Anwendung (§ 26 HebG, § 28 AltPflG).
Wichtig Die Ausbildung zu den Berufen der Gesundheits- und (Kinder-)Krankenpflege und der Altenpflege sowie zu Hebamme und Entbindungspfleger sind eigenständige Ausbildungen – das Berufsbildungsgesetz findet keine Anwendung.Trotzdem ist der Rechtsstatus der Schüler dem des Auszubildenden nach dem Berufsbildungsgesetz angeglichen.
18.4.2 Anerkennung der Länderhoheit im Schulrecht Die Klarstellung des Rechtsstatus des Schülers bzw. der Schülerin in den Ausbildungssystemen der Pflegeberufe findet allerdings keine Entsprechung bei der Frage nach Status und Charakter der Ausbildungsstätten für den theoretischen Unterricht. In diesem Zusammenhang ist in den einzelnen Berufszulassungsgesetzen von »Schulen« (§ 4 KrPflG), von »Hebammenschulen« (§ 6 HebG) und von »Altenpflegeschulen« (§ 4 Abs. 2 AltPflG) die Rede. Als nähere Bestimmung wird lediglich auf die Voraussetzung »staatliche Anerkennung« und ggf. auf einzelne personelle, sächliche und räumliche Bedingungen verwiesen, die zur staatlichen Anerkennung erfüllt sein sollen. Verglichen mit den Schulgesetzen der Länder, die sehr viel detailliertere Bestimmungen für berufliche und andere Schulen enthalten, wird hier ein Regelungsmangel deutlich.Vor allem fällt auf,dass an keiner Stelle von der »pädagogischen Freiheit« oder der »pädagogischen (Selbst-)Verantwortung« der Lehrkräfte an den schulischen Ausbildungsstätten die Rede ist. Die Begründung hierfür liegt in der Verfassung. Wie bereits eingangs ausgeführt, liegt im Schulrecht die Gesetzgebungskompetenz bei den Ländern. Damit war es dem Bundesgesetzgeber verwehrt, in den in Rede stehenden Gesetzen zur Ausbildung in den Pflegeberufen nähere Ausgestaltungen zum Schulwesen zu treffen. Diese überlässt der Bundesgesetzgeber – ausweislich der Gesetzesmaterialien zu den einzelnen Ausbildungssystemen – ausdrücklich den Bundesländern (z. B.
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§ 4 Abs. 2 KrPflG, § 5 Abs. 1 AltPflG). Auch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Geltung des Altenpflegegesetzes als Bundesgesetz bestätigt in seinen Entscheidungsgründen diese Kompetenzverteilung (BVerfG, Urteil vom 24.10. 2002). Ob die Länder von dieser Organisationsmöglichkeit Gebrauch machen, liegt in deren Entscheidungskompetenz. Diese Entscheidungskompetenz betrifft nicht nur die Frage, ob die Bundesländer von dieser Regelungskompetenz Gebrauch machen wollen, sondern auch die Frage, in welcher Schulform der theoretische und der praktische Unterricht in der Pflegeausbildung zu erfolgen haben. Es bleibt den Ländern überlassen, ob sie diese Entscheidungskompetenz nutzen oder nicht. Die Uneinheitlichkeit der Pflegeausbildungen, soweit es den schulischen Teil betrifft, überrascht unter diesen Voraussetzungen nicht.
18.4.3 Berufsschule oder Berufsfachschule – länderrechtliche Sonderregelung Das Krankenpflegegesetz – und diesem entsprechend folgend das Hebammengesetz und das Altenpflegegesetz – spricht ausdrücklich von einer »Schule«. Das deutet darauf hin, dass der Gesetzgeber an den herkömmlichen Begriff der »Schule« als eine auf gewisse Dauer, unabhängig vom Wechsel der Lehrer und Schüler,in überlieferten Formen organisierte Einrichtung der Erziehung und des Unterrichts mit planmäßiger und methodischer Unterweisung in einer Mehrzahl allgemeinbildender oder berufsbildender Fächer angeknüpft hat. Berufsschulen haben die Aufgabe, die Allgemeinbildung zu vertiefen sowie eine fachtheoretische, berufsfeldbezogene und berufliche Fachbildung zu vermitteln. Die Berufsschulen werden i. d. R. in Teilzeitform (möglich ist auch Blockunterricht) nach Erfüllung der Schulpflicht, d. h. nach 9- oder 10-jährigem Schulbesuch, von denjenigen Schülern besucht, die in einem Berufsausbildungsverhältnis mit Ausbildungsvertrag stehen. Berufsfachschulen dagegen sind Vollzeitschulen, die die Berufsausbildung vermitteln und die Allgemeinbildung fördern. Eines der Bundesländer, die von der Entscheidungskompetenz Gebrauch gemacht haben, ist Bayern. Hier wird die Organisation des Unterrichts
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durch eine Berufsfachschulordnung für Krankenpflege und Hebammen länderrechtlich geregelt. Die betreffende Schulordnung hat der Bayrische Verwaltungsgerichtshof als verfassungskonform angesehen. Er hat im Wesentlichen in seiner Entscheidung darauf abgestellt,dass der Bund nach Artikel 74 Abs. 1 Nr. 19 GG keine Regelungen treffen könne, die unmittelbar die Organisation und den Unterrichtsbetrieb von (Fach-)Schulen betreffen. Wenn der Bund im Grundsatz eine schulmäßige Ausbildung festlege, könne er daher diese Ausbildung nicht gleichzeitig zur einheitlich betrieblichen, nur dem Arbeitsrecht unterworfenen Ausbildung durchführen, sondern müsse für die Anwendung landesrechtlicher Normen schulrechtlicher Art den Bundesländern Raum lassen,da ihm – dem Bund – solche Regelungen versagt seien. Mit Rücksicht auf diesen begrenzten Kompetenzbereich – so das Gericht weiter – bezeichne die Gesetzesbegründung bewusst die Krankenpflegeschulen als »Einrichtungen im Bereich zwischen dual-betrieblicher Ausbildung nach dem Berufsbildungsgesetz einerseits und den schulischen Ausbildungsgängen andererseits«. Nur die der Regelungskompetenz des Bundes aus Artikel 74 Abs. 1 Nr. 12 GG unterliegende praktische Ausbildung konnte und sollte arbeitsrechtlich geregelt werden, während der schulrechtliche Ausbildungsteil für eine schulrechtliche Normierung durch den dafür allein kompetenten Landesgesetzgeber offen gehalten werden musste. Auch mit der – durchaus strittigen – Frage, ob die z. B. in Bayern gewählte Schulform der Berufsfachschule gesetzeskonform sei, hat sich der bayrische Verwaltungsgerichtshof auseinandergesetzt. Hinsichtlich der Krankenpflegeschulen in Bayern kommt das Gericht zu dem Ergebnis, dass mit der einheitlichen schulischen und praktischen Ausbildung in den Krankenpflegeschulen im Ergebnis tatsächlich »Vollzeitunterricht« erteilt wird. Damit hat das Bundesland Bayern die Krankenpflege- und Hebammenschulen als Berufsfachschulen dem ländereigenen Schulrecht eingegliedert und damit die sich aus Krankenpflegegesetz und Hebammengesetz ergebende schulrechtliche Regelungslücke geschlossen. Andere Bundesländer sind dem Beispiel Bayerns – ähnlich auch in Mecklenburg-Vorpommern – nicht gefolgt. So sind etwa in Nordrhein-Westfa-
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Kapitel 18 · Die Ausbildung in den Pflegeberufen – ein Sonderfall
len die Krankenpflegeschulen und sonstigen Ausbildungseinrichtungen für Heilberufe und Heilhilfsberufe ausdrücklich von der Geltung des Schulverwaltungsgesetzes ausgenommen (§ 37 Schulverwaltungsgesetz NRW). Wichtig
Auf den i. d. R. zwischen Schüler und Träger der Ausbildung geschlossenen Ausbildungsvertrag sind grundsätzlich die ausbildungs- und arbeitsrechtlich relevanten Rechtsvorschriften und Rechtsgrundsätze anzuwenden,soweit sich aus den Ausbildungsgesetzen und sonstigen Rechtsvorschriften nichts anderes ergibt.Dies bedeutet auch, dass die »Schüler und Schülerinnen« sozialversicherungsrechtlich so gestellt sind wie Auszubildende nach dem Berufsbildungsgesetz und damit Kranken-, Unfall-, Renten- und Arbeitslosenversicherung bestehen. Inhalt des Ausbildungsvertrags, 18.4.4 Rechtsstatus des Schülers/ Pflichten der Ausbildungsvertragsparteien, Beginn der Schülerin und Beendigung des Ausbildungsverhältnisses sowie die Verpflichtung zur Zahlung einer AusbilDer Rechtsstatus des Schülers/der Schülerin in den dungsvergütung sind im Wesentlichen Inhalt der Ausbildungen der Pflegeberufe ist zwar dem der jeweiligen Abschnitte zur Regelung des AusbilAuszubildenden nach dem Berufsausbildungs- dungsverhältnisses. gesetz angeglichen worden, es bestehen aber weiDie Angleichung dieser Vorschriften an das Beterhin Unterschiede. Der Rechtsstatus wird im - rufsbildungsgesetz erfolgt jedoch unter besondeWesentlichen bestimmt durch die Vorschriften rer Berücksichtigung der Ausbildung in der Pflege. über den Inhalt der Ausbildungsverhältnisse. Dies So ist beispielsweise die Dauer der Probezeit mit sind: jeweils 6 Monaten (§ 13 KrPflG, § 18 AltPflG, § 16 4 §§ 9–18 KrPflG, HebG) gegenüber dem Berufsbildungsgesetz 4 §§ 11–21 HebG sowie (§ 13 BBiG: mindestens 1 Monat, maximal 4 Mona4 §§ 13–23 AltPflG. te) wesentlich verlängert. Im Gegensatz zum Berufsbildungsgesetz (§ 14 Abs. 2) endet das AusbilAnders stellt sich die Situation für das Ausbil- dungsverhältnis im Fall des Bestehens der vorzeitidungsverhältnis von Schülern und Schülerinnen gen Prüfung erst mit Ablauf der Ausbildungszeit dar, die Diakonissen, Diakonieschwestern oder (§ 5 Abs. 1 KrPflG, §§ 17 Abs. 1, 6 Abs. 1 HebG, Mitglieder geistlicher Gemeinschaften sind (§ 18 § 19 Abs. 1 AltPflG). Nach dem KrankpflegegeKrPflG, § 21 HebG, § 23 AltPflG). Hier findet sich setz 2003 endet das Ausbildungsverhältnis – nach eine der oben angekündigten Ausnahmen, deren neuer Regelung – mit erfolgreicher Ablegung der Gründe in der historischen Entwicklung der Pfle- Prüfung,sofern die vorgeschriebenen 4006 Ausbilgeberufe in Deutschland zu finden sind. dungsstunden vollständig erbracht wurden. Aus verfassungsrechtlich begründetem Gleichbehandlungsgrundsatz dürfte dies auch für die BeendiWichtig gung der Ausbildung für die Berufe der AltenpfleBei Diakonissen, Diakonieschwestern oder ge sowie zur Hebamme und zum EntbindungsMitgliedern geistlicher Gemeinschaften pfleger gelten. Insofern hat sich auch hier eine werden die Vorschriften über das AusbilAngleichung an das Berufsbildungsgesetz ergeben. Damit wird deutlich, dass es sich bei den Ausbildungssystemen in der Pflege weder eindeutig um eine Berufsausbildung im dualen System noch um eine rein schulische Berufsbildung handelt.Es handelt sich um eine Berufsbildung zwischen der dualbetrieblichen Ausbildung einerseits und den schulischen Ausbildungsgängen andererseits.
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dungsverhältnis durch das rechtliche Pflichten- und Ordnungsgefüge des besonderen Rechtsverhältnisses ihrer Gemeinschaft ersetzt.
401 18.4 · Gemeinsamkeiten und Unterschiede
Im Berufsbildungsgesetz sowie in den in Rede stehenden Ausbildungsgesetzen ist allerdings gleichermaßen geregelt, dass eine Beschäftigung unmittelbar im Anschluss an das Ausbildungsverhältnis ein Arbeitsverhältnis auf unbestimmte Zeit begründet, jedenfalls dann, wenn nicht ausdrücklich Gegenteiliges vereinbart ist. Und schließlich befähigt eine bestandene Prüfung nicht automatisch (wie nach dem Berufsbildungsgesetz) zum Zugang zum entsprechenden Beruf. Hierzu bedarf es zusätzlich einer entsprechenden Erlaubnis (§ 1 Abs. 1 KrPflG, § 1 HebG, § 1 AltPflG). Auch kann – wiederum im Gegensatz zu anderen Berufen nach dem Berufsbildungsgesetz – die erteilte Erlaubnis unter bestimmten, gesetzlich formulierten Voraussetzungen zurückgenommen bzw. widerrufen werden. Die staatliche Zulassung zum Beruf lässt sich in der besonderen Vertrauensposition der Pflegekräfte begründen.Im Gegensatz zu den Berufen des dualen Systems besteht hier die Notwendigkeit, auch nachträglich noch eine (neu aufgetretene) mangelnde Eignung zum Beruf berücksichtigen zu können. Besteht der Schüler die staatliche Prüfung in der Ausbildung zur Pflege bzw. Altenpflege nicht, kann er – wie bisher – die Prüfung einmal wiederholen (§ 19 Abs.2 AltPflG,§ 14 Abs.2 KrPflG).An die genannten Vorschriften hat sich nunmehr durch das Berufsbildungsreformgesetz (BerBiRefG vom 23.März 2005) auch das neue Berufsbildungsgesetz angepasst. Nach § 21 Abs. 3 BBiG verlängert sich auch in der gewerblichen Wirtschaft das Berufsausbildungsverhältnis bis zur höchstmöglichen Wiederholungsprüfung, höchstens um ein Jahr, wenn die Abschlussprüfung nicht bestanden wurde. Schlussendlich wurde mit dem Krankenpflegegesetz 2003 klargestellt, dass auch Lehrbücher zu den Ausbildungsmitteln gehören, die dem Schüler kostenlos zur Verfügung zu stellen sind (§ 10 Abs. 1 Nr. 2 KrPflG). Hierbei handelt es sich um einen Überlassungsanspruch; kostenlos bedeutet die leihweise Zurverfügungstellung. Das somit nach arbeitsrechtlichen Grundzügen ausgestaltete Ausbildungsrecht in den Pflegeberufen wird zumindest in den Bundesländern, in denen die Ausbildung im theoretischen und praktischen Unterricht in einem öffentlich-rechtlichen Schulverhältnis organisiert wird (z. B. Bayern),
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durch schulrechtliche Vorschriften ergänzt. Damit hat der Schüler bzw. die Schülerin einen doppelten Rechtsstatus: Die praktische Ausbildung unterliegt Regeln des Arbeitsrechts, der theoretische und der praktische Unterrichtsteil werden durch Schulrecht bestimmt. Wichtig In Bundesländern, die von ihrer Kulturhoheit im Schulrecht im Rahmen der Ausbildungssysteme für Pflegeberufe keinen Gebrauch gemacht haben, bestimmt sich der Rechtsstatus der Schüler ausschließlich nach arbeitsrechtlichen Grundsätzen. Es kann aber auch zusätzlich ein öffentlichrechtliches Schulverhältnis bestehen,wenn ein Bundesland (wie z. B. Bayern) seine rechtlichen Regelungsmöglichkeiten nutzt.
Diese Situation zweier unterschiedlich ausgestalteter Rechtsbeziehungen kann durchaus Probleme aufwerfen. Trifft beispielsweise eine geltende Schulordnung Regeln über Entlassungen aus der Schule, so beträfe dies formal ausschließlich das öffentlichrechtliche Schulverhältnis, nicht gleichzeitig und automatisch auch das arbeitsrechtlich ausgestaltete Ausbildungsverhältnis. Neben einer schulrechtlich wirksamen Entlassung müsste demnach eine arbeitsrechtliche Kündigung ausgesprochen werden.Wollte der Betroffene gegenüber der einerseits schulrechtlichen, andererseits arbeitsrechtlichen Maßnahme Rechtsschutz suchen, deutete dies auf zwei hierfür unterschiedliche Gerichtsbarkeiten hin: die Verwaltungsgerichtsbarkeit für die schulische Angelegenheit und die Arbeitsgerichtsbarkeit für die arbeitsrechtliche Maßnahme. Beide Gerichte könnten zu unterschiedlichen Beurteilungsergebnissen kommen. Ein derartiges Ergebnis wäre zwar weitgehend dadurch zu vermeiden, dass in einem sowohl arbeitsrechtlich als auch schulrechtlich ausgestalteten Ausbildungsverhältnis durch sorgfältige Überprüfung ein übereinstimmendes Ergebnis für die Entlassungs-/Kündigungsgründe erzielt wird – zumal eine schulrechtliche Entlassung i. d. R. einen »sonstigen wichtigen Grund« zur außerordentli-
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Kapitel 18 · Die Ausbildung in den Pflegeberufen – ein Sonderfall
chen fristlosen Kündigung des Ausbildungsverhältnisses darstellen dürfte –, dennoch verbliebe dem Betroffenen ein nicht unerhebliches Prozessrisiko. Vieles spricht dafür, einen entsprechenden Rechtsstreit ausschließlich der Zuständigkeit der Arbeitsgerichte zuzuordnen.Dies setzt voraus,dass der Betroffene »zu seiner Berufsausbildung Beschäftigter« im Sinne des § 5 Abs. 1 Nr. 1 des Arbeitsgerichtsgesetzes ist. Der Begriff der »zu ihrer Berufsausbildung Beschäftigten« wird im Arbeitsgerichtsgesetz nicht näher definiert.Was unter »Berufsausbildung« zu verstehen ist, bestimmt § 1 BBiG. Nach dem Berufsbildungsgesetz ist die Berufsausbildung ein Teilbereich der Berufsbildung. Zu dieser zählen ferner berufliche Fortbildung und berufliche Umschulung. Für die drei Bereiche der Berufsbildung kommen nach § 2 Abs. 1 BBiG je drei Orte der Durchführung in Betracht. Das Berufsbildungsgesetz unterscheidet zwischen: 4 Berufsbildung in Betrieben, durchgeführt in Betrieben der Wirtschaft oder in vergleichbaren Einrichtungen außerhalb der Wirtschaft, insbesondere des Öffentlichen Dienstes, der Angehörigen freier Berufe, und in Haushalten (betriebliche Berufsbildung), 4 Berufsbildung in berufsbildenden Schulen (schulische Berufsbildung), 4 Berufsbildung in sonstigen Berufsbildungseinrichtungen außerhalb der schulischen und betrieblichen Berufsbildung (außerbetriebliche Berufsbildung).
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»Beschäftigte« im Sinne des § 5 Abs. 1 Nr. 1 Arbeitsgerichtsgesetz können grundsätzlich auch Auszubildende in berufsbildenden Schulen und sonstigen Berufsbildungseinrichtungen sein. Ausschlaggebend für die Stellung als Beschäftigter sind – so das Bundesarbeitsgericht – weder der jeweilige Lernort gemäß § 2 Abs. 1 BBiG noch die jeweilige Lernmethode als solche.Entscheidend ist nicht, wo und wie die Ausbildung erfolgt, ob in Betrieb, Schule oder sonstiger Einrichtung, ob überwiegend praktisch innerhalb eines laufenden Produktions- oder Dienstleistungsprozesses oder überwiegend theoretisch, systematisch geordnet oder lehrplanmäßig außerhalb eines solchen Prozesses. Maßgeblich soll stattdessen sein – wie für
das Vorliegen eines Arbeitsverhältnisses auch –, welche vertraglichen Rechte und Pflichten die Parteien des Ausbildungsvertrags für die Durchführung des Ausbildungsverhältnisses begründet haben. Bestehen aus dem Ausbildungsvertrag wechselseitige Pflichten über die mit dem unmittelbaren Leistungsaustausch verbundenen hinaus – ist insbesondere der Auszubildende weitergehenden Pflichten und Weisungen unterworfen –,kann nach der Rechtsprechung der für eine Beschäftigung notwendige Bezug zum Arbeitsverhältnis gegeben sein. Dies ist etwa anzunehmen, wenn der privatrechtliche Ausbildungsvertrag eine Pflicht des Auszubildenden zum Schulbesuch festlegt, deren Nichteinhaltung kündigungsbewährt ist, wenn er Ordnungs- und Verhaltensmaßregeln vorsieht, die über den Charakter einer reinen Hausordnung hinaus gehen,wenn er die Teilnahme an Zwischenprüfungen vorschreibt oder wenn er bestimmte Verpflichtungen für die Zeit nach dem Ende der Ausbildung vorsieht. Hier schuldet nicht nur der Ausbildende die Lehre, sondern auch – und sei es mittelbar – der Auszubildende das Lernen. Für Auszubildende besteht nicht nur Anwesenheitspflicht (entsprechend der Schulpflicht für Schüler), sondern auch die Verpflichtung zu lernen (entsprechend der Pflicht eines Arbeitnehmers zu arbeiten). Unter Zugrundelegung dieser Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts dürfte die ausschließliche Zuständigkeit der Gerichte für Arbeitssachen auch dort begründet sein, wo das Ausbildungsverhältnis z. T. landesrechtlich schulischen Charakter trägt. Der verfassungsrechtlich vorgegebene Ausbildungscharakter wirkt sich u. a. auch im sog. kollektiven Arbeitsrecht, z. B. den Mitbestimmungsrechten des Betriebs-/Personalrats oder sonstiger Mitarbeitervertretungen, aus. Das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats beschränkt sich grundsätzlich auf Arbeitnehmer im Sinne des § 5 Abs. 1 Betriebsverfassungsgesetz als Mitglieder der vom Betriebsrat repräsentierten Belegschaft. Arbeitnehmer in diesem Sinne sind auch die zu ihrer Berufsausbildung Beschäftigten. Die Verwendung des Begriffs »Schüler/Schülerin« sowie die Bestimmung der Nichtanwendung des Berufsbildungsgesetzes könnten den Schluss
403 18.4 · Gemeinsamkeiten und Unterschiede
nahe legen, dass die Betroffenen aus dem betriebsverfassungsrechtlichen/personalvertretungsrechtlichen Bereich auszunehmen seien. Auch wenn auf die Pflegeausbildung nicht unmittelbar zu übertragen,könnte zur Stützung dieser Annahme eine Vorschrift aus dem Bundespersonalvertretungsgesetz herangezogen werden, wonach Auszubildende definiert werden als Beschäftigte, die in einem Berufsausbildungsverhältnis nach dem Berufsbildungsgesetz stehen. Das aber ist gerade nach den Ausbildungssystemen für Pflegeberufe ausgeschlossen. Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung zählen zu dem Personenkreis, »die zu ihrer Berufsausbildung« beschäftigt werden,auch solche Auszubildenden, die nicht aufgrund eines Berufsausbildungsvertrags im Sinne des Berufsausbildungsgesetzes beschäftigt werden. Voraussetzung ist jedoch, dass es sich um eine betriebliche Ausbildung im Unterschied zu einer nur schulischen Ausbildung handelt. Beschäftigung setzt eine Eingliederung in den Betrieb voraus. In dieser Frage könnten sich durch die Neuregelung der Einbindung von Pflegeeinrichtungen außerhalb des Krankenhauses in die Ausbildung Probleme ergeben, da das Krankenpflegegesetz ebenso wie das Altenpflegegesetz nicht klarstellt, wie die Einbindung der »anderen Einrichtungen« erfolgen soll. Problemlos ist die Einbindung – und damit auch die betriebliche Eingliederung –, wenn der Ausbildungsträger selbst z. B. ambulante Einrichtungen betreibt; andernfalls muss er Kooperationsverträge schließen. Wird im letzteren Fall die Ausbildung in der Pflegeeinrichtung mit Personal der Hauptausbildungsstätte durchgeführt, dürfte eine Zuordnung, d. h. eine betriebliche Einbindung des Schülers zur Pflegeeinrichtung,nicht stattfinden.Wird der Schüler jedoch durch das Personal der Pflegeeinrichtung angewiesen, verhält es sich anders: Es bestehen Mitwirkungsrechte des Betriebs-/Personalrats der aufnehmenden Pflegeeinrichtung. Es darf schließlich nicht nur eine schulische, sondern es muss auch eine betrieblich-praktische Unterweisung erfolgen, in der der Auszubildende beruflich aktiv tätig ist. Findet jedoch eine Ausbildung ausschließlich in Form rein schulischer Unterrichtung statt,kann von einer betrieblichen »Beschäftigung« zum Zweck der Berufsausbildung nicht gesprochen werden. Da die Vorschriften zur
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Ausbildung in den Berufen der Gesundheits- und (Kinder-)Krankenpflege und der Altenpflege sowie zur Hebamme und zum Entbindungspfleger eine praktische Ausbildung vorsehen,ist damit zugleich auch eine Beschäftigteneigenschaft im Sinne der Mitbestimmungsgesetze gegeben. Wichtig Trotz der Bezeichnung »Schüler/Schülerin« werden also die Auszubildenden der Pflegeberufe von den Mitwirkungs- bzw. Mitbestimmungsrechten einer Personalvertretung bei allen personellen und sozialen Angelegenheiten mit erfasst (etwa bei Einstellungen, Kündigungen sowie dem Festlegen von materiellen Arbeitsbedingungen).
An dieser rechtlichen Einordnung der Ausbildung ändert auch die nach Landesrecht mögliche Einordnung der Schulen in das Schulrecht der Länder nichts. Auch die Reduzierung der Stundenzahl für die praktische Ausbildung von 3000 auf 2500 Stunden beeinflusst nicht die frühere Rechtslage. Diese wird vielmehr durch die gesetzliche Klarstellung einer Nichtanrechnung von Freistellungsansprüchen, z. B. als Jugendvertretung, auf Unterbrechungszeiten (§ 7 KrPflG) bekräftigt. Durch die Aufteilung in einen schulischen und einen betrieblichen Anteil der Pflegeausbildungen sind jedoch Mitbestimmungsrechte der Personalräte begrenzt. Auch wenn die Krankenpflegeschule und der betriebliche Einsatzort, das Krankenhaus, den gleichen Träger haben, gelten hier vorrangig die Vorschriften der jeweiligen Ausbildungsgesetze bzw.Ausbildungs- und Prüfungsverordnungen.Soweit die Berufsausbildung gesetzlich festgelegt ist, kann sich das Mitbestimmungsrecht nur auf die Anpassung an die betrieblichen Verhältnisse erstrecken. Das Mitbestimmungsrecht entfällt beispielsweise dort, wo die Ausbildung durch besondere gesetzliche Regelungen festgelegt ist. Dabei ist auch zu beachten, ob es im Rahmen der gesamten Berufsausbildung um den theoretischen und praktischen Unterricht einerseits und die praktische Ausbildung andererseits geht.Es verbleibt also kein Raum für eine Anpassung oder die Ausfüllung der
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Kapitel 18 · Die Ausbildung in den Pflegeberufen – ein Sonderfall
betrieblichen Gegebenheiten, soweit es um die Durchführung des Unterrichts geht,der in staatlich anerkannten Schulen an Krankenhäusern vermittelt wird. Für den Bereich des theoretischen und praktischen Unterrichts liegt i. d. R. eine Ausbildungsverordnung vor, die im Einzelnen den Gang und die Inhalte der Ausbildung festlegt. Aus diesem Grund hat ein Betriebsrat auch im Rahmen der Durchführung beispielsweise von projektorientierten Unterrichtseinheiten kein Mitbestimmungsrecht. Bei derartigen Maßnahmen handelt es sich nicht um eine besondere betriebliche Ausbildungsveranstaltung, sondern um normalen Unterricht. Ein Projektunterricht wird nicht zu einer besonderen betrieblichen Ausbildungsveranstaltung, nur weil dieser Unterricht nicht zu den regulären Unterrichtszeiten, für jede Klasse getrennt und nicht nach dem normalen Lehrplan angeboten wird.
mehrjähriger Berufserfahrung oder einem abgeschlossenen pflegepädagogischen Studium besetzt sein. Zwar fordert ebenso das Krankenpflegegesetz (§ 4 Abs. 3 Nr. 1) für die Schulleitung eine qualifizierte Fachkraft mit abgeschlossener Hochschulausbildung; die Frage der pädagogischen Qualifikation bleibt – da nicht angesprochen – allerdings offen. Demgegenüber wird von Lehrkräften in der Krankenpflege eine Hochschulqualifikation gefordert (§ 4 Abs. 3 Nr. 2 KrPflG), was in der Altenpflege wiederum nicht der Fall ist (§ 5 Abs. 2 Nr. 3 AltPflG). Wichtig Trotz dieser »Ungereimtheiten« ist festzustellen,dass gegenüber dem bisherigen Regelungsstand die Anforderungen an die Schulleitung und an die Lehrkräfte mit dem grundsätzlichen Erfordernis einer Hochschulausbildung gestiegen sind.
18.4.5 Anforderungen an die Schulen
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Die (Pflege-)Ausbildung wird an staatlich anerkannten (Altenpflege-/Hebammen-)Schulen durchgeführt (§ 4 KrPflG, § 5 AltPflG, § 6 HebG). Die staatliche Anerkennung erfolgt, wenn die entsprechenden gesetzlichen Mindestanforderungen erfüllt sind. Bei grundsätzlich ähnlichen Anforderungen an die Vorraussetzungen der Geeignetheit fallen allerdings auch Unterschiede in den Mindestanforderungen der genannten Ausbildungssysteme besonders auf. Weitgehend stimmen die Anforderungen an erforderliche Räumlichkeiten, sowie ausreichende Lehr- und Lernmittel, die Sicherstellung der praktischen Ausbildung und den Nachweis einer ausreichenden Zahl – auch pädagogisch – qualifizierter Fachkräfte im Verhältnis zu den Ausbildungsplätzen überein. Unterschiedliche Anforderungen werden jedoch an die jeweilige Schulleitung bzw. die Lehrkräfte gestellt.So muss nach dem Altenpflegegesetz (§ 5 Abs.2 Nr.1) die hauptberufliche Leitung der Altenpflegeschule durch eine pädagogisch qualifizierte Fachkraft mit abgeschlossener Berufsausbildung im sozialen oder pädagogischen Bereich und
Einrichtungen, die bereits nach den früheren Regelungen anerkannt waren, genießen Bestandsschutz (§ 24 KrPflG). Mit den höheren Anforderungen an die Schulen sollen die Pflegeausbildung aufgewertet und dem Fortschritt der Pflegewissenschaft Rechnung getragen werden. Angesichts der verfassungsrechtlich gewährleisteten Länderhoheit im Schulwesen verdeutlichen Krankenpflege- und Altenpflegegesetz, dass durch Landesrecht,z.B.Schulrecht,sowohl über die Mindestanforderungen hinausgehende Anforderungen geregelt werden können als auch Näheres zu den Mindestanforderungen länderrechtlich bestimmt werden kann. Im Hinblick auf die Hochschulqualifikation für Schulleitungen und Lehrkräfte werden die Länder zudem ermächtigt, durch Rechtsverordnungen Regelungen zur Beschränkung der Hochschulausbildung auf bestimmte Hochschularten, z. B. Fachhochschulen oder Universitäten, und bestimmte Studiengänge zu treffen. Wird die staatliche Anerkennung erteilt,handelt es sich bei den Schulen um Schulen besonderer Art. Sind sie länderrechtlich in das Schulrecht einge-
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bunden, handelt es sich i. d. R. um Berufsfachschulen, mit der Folge, dass entsprechende Lehrkräfte die Befähigung zum Lehramt haben. Dies ist eine Voraussetzung, die von den Ausbildungssystemen für die Pflegeberufe nicht gefordert wird. Infolge der abweichenden Bestimmungen des Altenpflegegesetzes von den vergleichbaren Vorschriften des Krankenpflegegesetzes und des Hebammengesetzes ist zusätzlich denkbar, dass Altenpflegeschulen im Sinne des Schulrechts vom Altenpflegegesetz abweichende Leitungsstrukturen haben können. Unabhängig von ihrer – ländergesetzlich beeinflussbaren – Organisation und Struktur wird in den Schulen theoretischer und praktischer Unterricht vermittelt.Ebenso trägt die Schule die Verantwortung für den praktischen Teil der Ausbildung – und damit die Gesamtverantwortung, gleichgültig ob sich – z. B. nach dem Krankenpflegegesetz – die Schule an einem Krankenhaus befindet, also der Träger der Schule das Krankenhaus ist, oder ob es sich – nach neuer Regelung – um Verbundschulen oder Schulzentren handelt. Letztere sind Schulen, die organisatorisch und räumlich nicht unmittelbar »an Krankenhäusern« angesiedelt sind; sie können damit in »freier Trägerschaft« (§ 4 Abs. 2 KrPflG) stehen. Auch nach dem Altenpflegegesetz trägt die Schule die Gesamtverantwortung für die Ausbildung (§ 4 Abs. 4), obwohl der Ausbildungsvertrag hier i. d. R. mit dem Träger der praktischen Ausbildung geschlossen wird (§ 13). Wichtig In den Ausbildungssystemen der Pflegeberufe hält somit – anders als bei der Ausbildung im dual-betrieblichen System – die Schule die Fäden für die Ausbildung an den Lernorten Schule einerseits und Krankenhaus/sonstige (Pflege-)Einrichtungen anderseits in der Hand.
Der »Betrieb« Krankenhaus/sonstige Einrichtung spielt also eine grundlegend andere Rolle als in der dualen Ausbildung nach dem Berufsbildungsgesetz.
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18.4.6 Gesamtverantwortung für die Ausbildung Die – nunmehr gesetzliche – Festschreibung der Gesamtverantwortung der Schulen für die theoretische und praktische Ausbildung im geltenden Krankenpflegegesetz und Altenpflegegesetz hat Auswirkungen auf Rechte und Pflichten der Schule, ihre Leitung und ihre Lehrkräfte. Ähnliches gilt – auch ohne gesetzliche Festschreibung – für die Hebammenschulen. Rechte und Pflichten können durch Individualverträge – wie etwa den Ausbildungsvertrag – oder durch Gesetz begründet werden. Aufgrund des mit dem Ausbildungsträger, z. B. dem Träger des Krankenhauses, geschlossenen Ausbildungsvertrags ist dieser dem Schüler gegenüber zur umfassenden Ausbildung nach der jeweiligen Ausbildungs- und Prüfungsverordnung verpflichtet. Diese Verpflichtung überträgt der Ausbildungsträger der Schule, der wiederum vom Gesetzgeber die Gesamtverantwortung überantwortet wird. Die Pflicht zur umfassenden Ausbildung erfolgt damit gegenüber dem Schüler ebenso wie gegenüber dem Träger der Ausbildung. Zu den Pflichten zählt die planmäßige,zeitliche und sachliche Gliederung der gesetzlich vorgegebenen Ausbildungsinhalte, etwa durch Aufstellung eines Lehrplans für den Unterricht ebenso wie durch die Planung der praktischen Ausbildung.Die Schule,namentlich die Schulleitung,trägt die Überwachung der Ausbildung und ist zugleich verantwortlich für den ordnungsgemäßen Prüfungsablauf. In diesem Zusammenhang ist neu, dass der Vorsitz im staatlichen Prüfungsausschuss an Pflegeschulen der Schulleitung als »geeigneter Person« im Auftrag der Fachaufsichtsbehörde übertragen werden kann. Mit der Gesamtverantwortung der Schule geht ein Weisungsrecht gegenüber den Schülern einher. Auch im Fall der Entsendung des Schülers in eine (Pflege-)Einrichtung zur praktischen Ausbildung bleibt die Ausbildungsverantwortung bei dem Träger der entsendenden Schule. Gegebenenfalls kann das Weisungsrecht der empfangenden Einrichtung im Innenverhältnis übertragen werden. Weisungsbefugt ist die Schulleitung auch gegenüber den sog. Praxisanleitern.Die Sicherstellung der Praxisanleitung obliegt den Einrichtungen, in denen die prak-
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Kapitel 18 · Die Ausbildung in den Pflegeberufen – ein Sonderfall
tische Ausbildung erfolgt; die geeigneten Fachkräfte sind von der Einrichtung zu stellen.Sie sind – wie etwa die früheren Mentoren – für Anleitung und Begleitung der Schüler in der praktischen Ausbildungszeit partiell von ihren sonstigen (pflegerischen) Tätigkeiten freizustellen. Während ihrer »Ausbildertätigkeit« sind die Praxisanleiter nicht ihrem eigentlichen Arbeitgeber unterstellt.Dies gilt im Übrigen auch für die Pflegedienstleitung und sonstige mit der Ausbildung befassten Personen. Diese unterstehen bei Tätigkeiten zu Zwecken der Ausbildung der Schulleitung. Insoweit besteht ein weiterer Unterschied zur dualen Ausbildung nach dem Berufsbildungsgesetz, wonach der Ausbilder dem ausbildenden Betrieb untersteht. Der für die Ausbildung verantwortliche Träger muss die rechtlichen Folgen sowohl von Fehlleistungen seiner Krankenpflegeschule als auch von Fehlleistungen seiner Schüler tragen. Bildet beispielsweise der für die Ausbildung Verantwortliche nicht umfassend aus und erleidet der Schüler hierdurch einen Schaden, indem beispielsweise die Abschlussprüfung nicht bestanden wird, so kann der für die Ausbildung Verantwortliche schadenersatzpflichtig gemacht werden. Beweispflichtig für eine ordnungsgemäße Ausbildung ist stets der Träger der Ausbildung. Die Haftung des Ausbildungsträgers kann auch dann begründet sein,wenn er einen Dritten (z. B. die Schule) mit der Durchführung der Ausbildung beauftragt und dieser Dritte dem Schüler bzw. der Schülerin schuldhaft einen Schaden zufügt. Es ist also notwendig, die ordnungsgemäße Ausbildung nicht nur durchzuführen, sondern sie auch beweiskräftig zu dokumentieren.Dies ist eine Situation, die Pflegepädagogen aus ihrem früheren Beruf vertraut sein dürfte. Auch gegenüber Dritten (z. B. Patienten) kann sich eine Schadenersatzpflicht des Ausbildungsträgers daraus ergeben, dass er seine Pflicht zur Beaufsichtigung verletzt hat. Dabei beschränkt sich die Aufsichtspflicht grundsätzlich auf den räumlichen Bereich der Ausbildungsstätte und der Ausbildungszeit, soweit nicht der Schüler auf Anordnung weisungsberechtigter Personen darüber hinaus tätig geworden ist. Ferner kann eine Schadenersatzpflicht entstehen, wenn der Schüler in Erfüllung einer vertraglichen Verpflichtung des Ausbildungsträgers Dritten
(z.B.Patienten) gegenüber eingesetzt wird.Das Verschulden des Schülers gegenüber dem Patienten hat der Ausbildungsträger in diesem Fall genauso zu vertreten wie eigenes Verschulden.Schließlich kann Dritten (Patienten) gegenüber eine Haftungspflicht des Ausbildungsträgers auch entstehen, wenn er den Schüler zu einer Verrichtung bestellt und dieser in Ausführung der Verrichtung einem Dritten (Patienten) widerrechtlich Schaden zufügt, z. B. bei nicht sachgerechter Verabreichung einer Injektion im 3.Ausbildungsjahr.Hier spielt das Schulrecht der Länder keine Rolle. Für das Haftungsrecht sind die Verträge zwischen den Schülern und den Trägern der Ausbildung entscheidend.
18.5
Pflegeausbildung »sui generis« und ihre Problemfelder
Die komplexen rechtlichen Voraussetzungen in den Ausbildungen der Pflegeberufe führen zu einer Sonderstellung der Pflegeausbildungen im deutschen Berufsbildungssystem. Wichtig Die derzeitigen Ausbildungssysteme für die Pflegeberufe sind weder dem dual-betrieblichen noch dem ausschließlich schulischen System eindeutig zuzuordnen. Es handelt sich vielmehr um ein Ausbildungssystem »sui generis« (eigener Art).
Die Pflegeausbildungen sind auf keinen Fall schulische Ausbildungen,dazu ist der zeitliche Anteil an Praxiseinsätzen im Betrieb Krankenhaus bzw. Altenheim zu groß. Als »normale« duale Ausbildung können sie auch nicht gelten, dazu hat die Ausbildungsstätte Schule eine zu dominierende Rolle in der Ausbildungsgestaltung.Diese Sonderkonstruktion hat nicht nur Vorteile. Insbesondere die vom Gesetzgeber angestrebte Vernetzung von theoretischer und praktischer Ausbildung,v.a.durch die Institutionalisierung von Praxisbegleitung und Praxisanleitung (§ 4 Abs. 5 KrPflG, § 4 Abs. 4 AltPflG) mit dem Ziel einer Qualitätsverbesserung der Ausbildung, kann in der praktischen Umsetzung problematisch werden.
407 18.5 · Pflegeausbildung »sui generis« und ihre Problemfelder
18.5.1 Lernortvernetzung Die gesetzliche Vorgabe von Praxisbegleitung – gewährleistet durch die Schule – und Praxisanleitung – sichergestellt durch die für die praktische Ausbildung gewählte Einrichtung – ist grundsätzlich zu begrüßen. Zur Umsetzung der Vorgabe bedarf es jedoch entsprechender organisatorischer Maßnahmen. Wichtig Ausbildungsträger wie auch ausbildungsbeteiligte Einrichtungen müssen arbeitsorganisatorische sowie dienst- bzw. arbeitsrechtliche Rahmenbedingungen schaffen, die den gesetzlichen Forderungen entsprechen.
Vor allem muss gewährleistet sein,dass der Schüler in den Praxisstellen der Einrichtungen ausbildungsgemäße Arbeitsabläufe in Überstimmung mit dem theoretischen Kenntnisstand vorfindet. Maßgeblich werden hier die Schulen gefordert sein, denen die inhaltliche und organisatorische Abstimmung der theoretischen wie auch der praktischen Ausbildung zukommt (§ 4 Abs. 5 KrPflG, § 4 Abs. 4 AltPflG). Es sind deshalb Organisationsund Kooperationsmodelle zu finden,die den Transfer von Theorie und Praxis im Sinne des Gesetzgebers sicherstellen. Dabei ist ein Ausgleich zwischen den – möglicherweise – divergierenden Interessen der Beteiligten – hier Erfüllung des Ausbildungsziels (Schule), dort Abrufen einer Arbeitsleistung (Einrichtung) – herbeizuführen. Wenig hilfreich scheinen in diesem Zusammenhang jedenfalls die – nach wie vor – auf Arbeitsleistung abstellenden Finanzierungsvorgaben für die Pflegeausbildung zu sein, selbst wenn die Anrechnung der Schüler auf den Stellenplan des Krankenhauses mit einem verbesserten Verhältnis von 9,5 Schülern zu einer vollbeschäftigten examinierten Pflegekraft neu definiert wurde. Die strukturelle und zugleich inhaltliche Verknüpfung der unterschiedlichen Lernortbereiche stellt eine große Herausforderung dar. Diese besteht u. a. darin, große Teile der Ausbildung zu vereinheitlichen sowie generalistische Ausbildung und
18
Spezialisierung sinnvoll lernortbezogen miteinander zu verbinden.
18.5.2 Praxisanleitung und Praxisbegleitung Die Praxisanleitung erfolgt durch geeignete Pflegekräfte der an der praktischen Ausbildung beteiligten Einrichtungen. Die Eignung erfordert nach der Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für die Berufe in der Krankenpflege (KrPflAPrV) neben einer mindestens 2-jährigen Berufserfahrung als examinierte Pflegekraft eine berufspädagogische Zusatzqualifikation von mindestens 200 Stunden (§ 2 Abs.2).Nach der entsprechenden Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für den Beruf des Altenpflegers/der Altenpflegerin (AltPflAPrV) wird der Umfang der Fort- bzw. Weiterbildung in der berufspädagogischen Qualifikation des Praxisanleiters nicht bestimmt, bleibt also offen (§ 2 Abs. 2). Zuzustimmen ist den kritischen Anmerkungen, die darauf verweisen, dass »eine wissenschaftlich basierte Praxis in diesem Zeitraum kaum vermittelt werden kann«. Dies gilt v. a. vor dem Hintergrund der neuen Ansätze in der Ausbildung der Gesundheits- und (Kinder-)Krankenpflegeberufe, sowie der Altenpflege. Zudem muss sich der Praxisanleiter, wiewohl grundsätzlich Mitarbeiter des Pflegeteams der an der Ausbildung beteiligten Einrichtung, als »verlängerter Arm« der Schule verstehen,als Bindeglied an der Nahtstelle zwischen Theorie und Praxis.Diese Einbindung auch in curriculare Planungen der Schule erfordert ein hohes Maß an Abstimmung mit der Schule in Bezug auf das spezifische Lernangebot des Ausbildungsplatzes. Und nicht zuletzt steht der Praxisanleiter im Spannungsfeld zwischen den Arbeitserfordernissen seines Arbeitgebers einerseits und dem Ausbildungs- und Lernbedarf des Schülers andererseits. Hierbei können und sollen ihm die Praxisbegleiter zur Seite stehen.
18.5.3 Curriculare Planung Nicht nur die Gesamtverantwortung der Schule für die theoretische und praktische Ausbildung sowie
408
Kapitel 18 · Die Ausbildung in den Pflegeberufen – ein Sonderfall
deren Vernetzung durch Praxisbegleitung und -anleitung wirkt sich u. a. auf die curriculare Planung der Schule aus.Dies gilt insbesondere aufgrund der erfolgten neuen Ausbildungsstruktur nach Kompetenzbereichen beziehungsweise Lernfeldern. Erforderlich ist ein Curriculum, das theoretische und praktische Ausbildung gemeinsam umfasst. Damit sind – anders als bisher – alle am Ausbildungsprozess Beteiligten einzubeziehen. Es bedarf intensiver Abstimmungsvorgänge und eines kontinuierlichen Austausches. Eine besondere Herausforderung im Rahmen der curricularen Planung dürfte die Berücksichtigung der neu eingeführten »Differenzierungsphase« (Unterricht) bzw. des »Differenzierungsbereichs« (praktische Ausbildung) darstellen. Und schließlich fordert die Umstellung vom traditionellen Fächerkatalog zur Vorgabe von Themenbereichen in der Ausbildung zur Gesundheits- und (Kinder-)Krankenpflege unter Beachtung pflegewissenschaftlicher Erkenntnisse bzw. zur Vorgabe von Lernfeldern in der Altenpflege eine Neuausrichtung nicht nur bei der curricularen Planung, sondern gleichfalls im Rahmen der Unterrichtsgestaltung, der Schulorganisation und nicht zuletzt im Prüfungswesen.
Zusammenfassung
18
In den Pflegeberufen haben sich eigenständige Bildungssysteme herausgebildet,die nicht in das Berufsbildungsgesetz integriert wurden. Aus verfassungsrechtlichen Gründen handelt es sich bei diesen Bildungssystemen um Ausbildungsgänge »eigener Art«, die eine Anwendung des Berufsbildungsgesetzes ausdrücklich ausschließen. Die Novellierung des Krankenpflegegesetzes (2003) nähert sich jedoch – ähnlich wie das nunmehr bundeseinheitliche Altenpflegegesetz – weitgehend den Vorschriften des Berufsbildungsgesetzes an,sodass frühere »Schlechterstellungen« des in der Pflege Ausgebildeten gegenüber dem in der Wirtschaft Ausgebildeten vermieden werden.
Die Herausbildung unterschiedlicher Ausbildungssysteme lässt sich durch die historische Entwicklung und die föderale Struktur als wesentliche Grundlage bundesdeutscher Gesetzgebung erklären. Um in Zukunft notwendige Änderungen formulieren und durchsetzen zu können, ist es notwendig, dass Studierende, Absolventen und Hochschullehrer mit der aktuellen Gesetzeslage vertraut sind und erkennen können, was veränderbar und was durch das Grundgesetz festgelegt ist.
3 Methodische Vorschläge zur Seminargestaltung Das Thema eignet sich besonders zur Bearbeitung in arbeitsteiliger Gruppenarbeit. Nach einer Einführung in die Gesetzgebungskompetenzen des Bundes bzw. der Länder auf Grundlage des Grundgesetzes kann eine getrennte Beschäftigung mit dem Berufsbildungsgesetz einerseits (Gruppe 1) und den Vorschriften für die Systeme in der Pflegeausbildung andererseits (Gruppe 2) erfolgen. Im anschließenden Vergleich der Gruppenergebnisse sollten sich die Unterschiede in den Ausbildungsregelungen und deren rechtliche Relevanzen auch in Bezug auf schulrechtliche und arbeitsrechtliche Abweichungen zeigen.
3 Empfehlungen zum Weiterlernen Zur Vertiefung des Stoffes empfiehlt sich die Beschäftigung mit den Schulverwaltungs- und Schulordnungsgesetzen der einzelnen Bundesländer. Dabei ist die Auseinandersetzung mit den entsprechenden grundgesetzlichen Regelungen unerlässlich. Unter berufspolitischen Aspekten sollten die unterschiedlichen Vorschläge der relevanten gesellschaftlichen Gruppen (etwa Berufsverbände, Gewerkschaften, wissenschaftliche Institutionen, Gesetzgebungsorgane) zu deren Reformvorstellungen verfolgt werden.Hierzu eignet sich v.a.die Lektüre von Fachzeitschriften sowie entsprechender Dokumentationen betroffener Verbände und Institutionen, wie sie u. a. aus dem Literaturverzeichnis ersichtlich sind.
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Literatur Bayerischer Verwaltungsgerichtshof (1992) Urteil vom 08.04.1992 – 7 N 89.370 Bundesarbeitsgericht (BAG) Beschluss vom 25.10.1989 – 7 ABR 1/88. In: Der Betrieb 43. Jhg. Heft 23: 1192–1193 Bundesarbeitsgericht (BAG) Urteil vom 07.03.1990 – 5 AZR 217/89. Erfurt Bundesarbeitsgericht (BAG) Beschluss vom 28.07.1992 – 1 ABR 22/92. In: Der Betrieb 46. Jhg. Heft 14: 740–743 Bundesarbeitsgericht (BAG) Beschluss vom 24.02.1999 – 5 AZB 10/98. In: Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht (NZA) Heft 10/1999: 557–560 Bundesverfassungsgericht (BverfG) Urteil vom 24.10.2002 – 2 BvF 1/01 Deutscher Bundestag Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit- und Soziale Sicherung. BT-Drucksache 15/805 vom 08.04.2003 Deutscher Bundestag Entwurf eines Gesetzes über die Berufe der Hebamme und des Entbindungspflegers. BT-Drucksache 10/3070 vom 25.03.1985 Deutscher Bundestag Entwurf eines Gesetzes über die Berufe in der Altenpflege. BT-Drucksache 14/1578 vom 10.09.1999
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Deutscher Bundestag Entwurf eines Gesetzes über die Berufe in der Krankenpflege. BT-Drucksache 10/1062 vom 24.02.1984 Gemeinsamer Senat der Obersten Gerichtshöfe des Bundes Beschluss vom 27.01.1983 – GmS – OGB 2/82 Karlsruhe Gemeinsamer Senat der Obersten Gerichtshöfe des Bundes, Beschluss v.27.1.1983 – GmS – OGB 2/82 mit Anm.von A.Schneider. In: Arbeitsrechtliche Praxis (AP) Nr. 4 zu § 14 BBiG, AP 1984, H. 7–10, Bl. 379–385 Kurtenbach H, Golombeck G, Sievers H (1992) Krankenpflegegesetz, 3. Aufl. Kohlhammer, Stuttgart Opolony B (2004) Das Krankenpflegegesetz 2004. In: Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht (NZA) Heft 1/2004 : 18–23 Schneider A (2003)Staatsbürger-, Berufs- und Gesetzeskunde für die Fachberufe im Gesundheitswesen, 6. Aufl. Springer, Heidelberg Berlin New York Tokyo Schneider A (2004) Das neue Krankenpflegegesetz. In: Heilberufe Heft 1: 10–13 Schneider G (2001) Die Neuregelung der Altenpflege durch das Altenpflegegesetz. In: In Neue Juristische Wochenschrift (NJW) Heft 14/2001 : 3226–3230 Stöcker G (2003) Wie innovativ ist das neue Krankenpflegegesetz? In: Die Schwester/Der Pfleger Heft 8/2003 : 618–624 Stöcker G (2004) Pädagogisierung der Pflegepraxis durch Theorie–Praxisvernetzung, Praxisbegleitung–Praxisanleitung. In: Pflegeaktuell Heft 1/2004 : 53–57
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A–B
Stichwortverzeichnis A Abhängigkeits-Autonomie-Konflikt 273 Abschreibung 381f – Betrag 381 action 183 Adaption 185 Akkomodation 185, 205 Aktionspotential 338 aktiver Strukturierungsprozess 344 Alltagswissen 327 Alltagsberatung 66 Altenpflegegesetz 31 Altenpfleger 29 Aneignung 186 Aneignungsstruktur, subjektive 88 Anschaffungskosten 381 Antigenpräsentation 351 Antigenspezifität 352 Antikörper 352 Äquilibration 205 Arbeitshandeln 90 Arbeitsprozess 83ff, 86 Arbeitsrecht 401 Arbeitssystemwissen 84 Arbeitswelt 82, 85 Arbeitszusammenhänge 84 Arnold, Rolf 125 Artikulationsschema 81 Assimilation 185, 204, 344 Aufgabenstellungen 9 – komplexe 80 Aufklärung 64 Aufsichtspflicht 406 Ausbilder 95 Ausbildungs- und Prüfungsverordnung 403 – für die Berufe in der Krankenpflege vom 10.11.2003 393 – für Hebammen und Entbindungspfleger vom 16.03.1987 393 – vom 26.11.2002 393 Ausbildungsgesetze 400, 403 Ausbildungsverhältnis 398, 401 Ausbildungsverhältnis, Regelung 400ff Ausbildungsvertrag 400ff, 405 Ausbildungsziel 395 Auswertungsphase 108, 134 Authentizität 206 Autobiographie 41 Autoimmunkrankheiten 350
Autonomie 281 – bestreben 71 – entwicklung 282 Autopoiese 171, 189 autopoietisch 236 autopoietische Systeme 186 – operationell geschlossen 171
B Bachelor (BA) 5 Bachelorstudiengänge 199 Bader, Reinhard 125 Bateson, Gregory 176 Baum der Entscheidungskriterien 375 Bedarfsgerechtigkeit der Versorgung 362 Bedingungswissen 202 Begründungswissen 84 Behandlungspflege 395 behavior 183 Behaviorismus 178, 201 Benediktinerregel 30 Beobachter 175, 186 Beratung 60–74 – berufsgruppenspezifische 67 – fachgruppenspezifische 67 – Gesundheits- 65 – integrative 69 – methodengeleitete 66 – zielorientierte 66 Beratungsanlässe 64 Beratungsansatz 70 Beratungsbedarf 65 Beratungsbeziehung 70f Beratungsdiskurs 68 Beratungspflege 63 Beratungsprozess 64 Beratungsprozess, Phasen 71 Beratungssituation 65 Beratungstheorie 68 Berne 150 Berufsalltag 86 Berufsausbildung 397 – dualer Partner 82 Berufsbildende Schulen 80 Berufsbildungsforschung 120 Berufsbildungsgesetz 397, 400ff Berufsbiographie 83
Berufsethos 253 Berufsfachschule 399 Berufsfeldanalyse 86 Berufsfelder 5 Berufsmündigkeit 85 Berufspädagogik 117 Berufsschule 399 Berufstüchtigkeit 85 Berufswelt 85 Betrieb 102, 210, 397, 405 Betriebskosten 383, 385 Betriebspädagogik 123 Betriebsprozesse 210 Betriebswissen 210 Bewerter 143 Bewertung 180 Bewusstheit 324 – argwöhnische – der wechselseitigen Täuschung – geschlossen – offen Bewusstheits-Kontexte 324 Beziehung 152 – Ich-Du- 86 – pflegerische 68 – professionelle 68 – Vertrauens- 46 Beziehungsebene 153, 306 Beziehungsverhalten 283 Bildung 84, 208 Bildungsauftrag 87 Bildungskommission 85 Bildungskonferenzen 102 Bildungsplanung 396 Bildungssystem 193 – duales 397 binäres Schema 191 Biographical Assesment in Community Care 50 Biographie 42 – Bögen 51 – Forschung 39 – Handlungsschemata 48 – Konstruktionen 42 – Sinntransformation 54 Biographieträger 47 Bischoff, Claudia 35 black box 183 Bologna 5 Botenstoffe 351 Botschaften, widersprüchliche 321 Bürgerliche Wohlfahrtspflege 30
412
Anhang
C Capra, Fritjof 299 Case-Management 63 Chairman-Postulat 153 Chicagoer School 39 Christliche Liebestätigkeit 30 Cohn, Ruth 150 Compliance 72 consens 303 Corporate Identity 83 curriculare Arbeit 9 curriculare, didaktisch-, Ebene 95 curriculare Entscheidung 9 curriculare Planung 407f
D Deduktion 221 deklaratives Gedächtnis 343 Dekonstruktion 200 – Konstruktivismus 200, 233, 298 demographischer Wandel 361 Denken, formal-operationales 285 Deprofessionalisierung 8 Detailierungszwang 45 Deutsche Gesellschaft für Public Health 367 Deutscher Verband für Gesundheitswissenschaften und Public Health 367 Deutungsmuster 143, 297f, 300 Dezionismus 265 diagnosis-related-groups (s. DRG-System) Diakonisse 26 Diätetik 23 Didaktik – Abbild- 10 – Aneignungs- 89 – Bereichs- 9 – Berufsfeld- 117 – Ebene 20 – Entscheidung 9 – Ermöglichungs- 89, 120 – Erzeugungs- 97, 120 – Orientierungen 9 – Vermittlungs- 120 didaktisch-curriculare Ebene 95 didaktische Illusion der Machbarkeit 133 didaktische Landkarte, Entwurf 129 didaktischer Kommentar 136 Didaktisch-unterrichtliche Ebene 96
Dieffenbach, Johann Friedrich 31 Dienstleistungsbetriebe 373 Dienstleistungsgesellschaft 83 Dienstleistungssektor 83 Dienstleistungsunternehmen 83 Differenz – Person/ Umwelt 186 System/ Umwelt 190 Differenzierungsphase 408 Differenzlernen 187 Differenzschemata 191 Dilthey,Wilhelm 231 Diskurs 233 – herrschaftsfreier 265 Dispositionsbestimmung 90 Doktorgrad (PhD) 5 Dreierschritt 126 Dreispeichermodell des Gedächtnisses 345 DRG-System 303f, 395 Dualität 203 – von Wissen und Handeln 202
E Eigenschaftsmodell 301 Einstiegsphase 106 Emanzipation 135 Emotion 341 emotionale Anteile 128 emotionale Entwicklung 275 Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation 395 empirisch-analytische Vorgehensweise 227 empirisch-analytische Wissenschaften 225, 231 Empowerment 70 Entscheidungsebene 100 Entscheidungsunterstützung 373 Entwicklungsphasen 157, 275 Entwicklungstheorien 273 Epidemiologie 366 Epistemologie 220 Erarbeitungsphase II 107 Erfahrungsaspekt 43 Ergebnisoffenheit 73 Erikson, Erik H. 274, 287 Erinnerungsarbeit 42 Erkennen und Verarbeiten von Informationen 337 Erkenntnis 200, 220, 227, 234 Erkenntnisinteresse, aktionales 225 Erkenntnisinteresse, kausales 225 Erkenntnisinteresse, phänomenales 225
Erklärungsprinzip 189 Erwachsenenbildung 171 Erzählung 44 – Erzählkoda 46f – Erzählmodus 46 – Erzählsegment 45 – Haupterzählphase 46 Erzählen, autobiographisches 44 Erzählen, Stehgreif- 47 Erzeugungsdidaktik 97 Erziehung 172 Erziehungswissenschaft 174 ES 152 Esoterik 252 Ethik – deskriptive Ethik 251 – formale Ethik 252 – Berufsethik 252 – Individualethik 251 – normative Ethik 251f – System der Ethik 249 – Wertethik 252 Etikettierungstheorie 233 EU-Richtlinien 5 Europäischer Bildungsraum 5 Europäischer Hochschulraum 5 Europäischer Rat 4 Europäischer Wirtschaftsraum 5 European Credit Transfer and Accumulation System 5 Euthanasie 253 Ev. Diakonieverein 23 Evaluation 99 Evaluationsphase 134 Evidenz-basierte Pflege 6 Existenzialismus 227 Expertenfalle 75 Expertengespräche 55
F Fächerintegration 81 Fächerorientierung 81 Fachhochschulen 366 Fachsystematik 86 Fähigkeiten – kommunikative 70 – methodische 70 Faktenwissen 84ff, 202 Falsifikation 221 Feedback 47 Fliedner,Theodor 26 Forschung 6, 221 Fort- und Weiterbildung 117 Frankfurter Schule 231 Freiwilligkeit 75
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C–I
Stichwortverzeichnis
Fremdevaluation 99 Freud, Sigmund 274 funktionelle Asymmetrie 340 funktionelle Symmetrie 340 Funktionspflege 83 Funktionssysteme 173, 189 Funktionssysteme der Gesellschaft 193
Globalisierungsprozess 83 Grounded Theory 44 Grundhaltung 150 Grundpflege 35 Grundrechte 261f grundsätzliches Rechts- und Ethikwissen 249 Gruppe 149 Gruppenleitung 156 Gudjons, Herbert 125
G Gadamer, Hans Georg 231 Ganzheitlichkeit 131 Gedächtnis – prozedurales 343 Gedächtnisinhalte 345 Gedächtnisspeicher 346 Gedächtniszellen 352 Gefühle 158 Gehirn 334, 338ff, 352f – Hemisphären 340 – Hippocampus 346 Gehorsam 281 – vier Stufen 276 Generativität 287 Gerontopsychologie 289 Gesamtverantwortung der Schule 405f Gesellschaft zur Förderung der Public Health 367 Gesetz über den Beruf der Hebamme und des Entbindungspflegers vom 04.06.1985 393 Gesetz über die Berufe in der Altenpflege vom 17.11.2000 393 Gesetz über die Berufe in der Krankenpflege vom 16.07.2003 393 Gesetzgeber 395 Gesetzgebung, konkurrierende 396 Gesetzgebungshoheit 396 Gesetzgebungskompetenz 396 Gestaltpädagogik 178, 185 Gestaltschließungszwang 45 Gesundheitsberichterstattung (GBE) 360 Gesundheitsförderung 8, 27, 359f, 365 Gesundheitsforschung 363 Gesundheitsökonomie 361 Gesundheitspädagogik 173 Gesundheitspolitik 8 Gesundheitssoziologie 327 Gesundheitssystem 2, 358 Gesundheitssystemforschung 361 Gesundheitsversorgungssubsysteme 359 Gesundheitsversorgungssysteme 359 Gesundheitswesen 360, 363 Glaser, Barney 324
H »Handreichungen für die Erarbeitung von Rahmenlehrplänen« der KMK 80 Habermas, Hürgen 225, 265f Haftungsrecht 406 Halfpap, Klaus 125 Handeln 69 – eklektisch-integratives 71 Handlung 7 – Abläufe 8f – Alltagshandeln 8 – Befähigung 9 – Begründung 7 – berufliche 117 – komplexe 83 – orientierte Ansätze 117 – Orientierung 9 – Plan 133 – Produkte 119 – Profile 8 – Repertoire 8 – Schritte 106 – schulische 117 – vollständige 81, 88 – Ziele 133 Handlungsalternativen 373 Handlungsarten – gegenständlich-materielle 128 – sozial-kommunikative 128 Handlungsaspekt 43 Handlungsbereitschaft 91 Handlungsfähigkeit 91 Handlungsfelder 2, 86, 394 Handlungsfreiheit 258 Handlungskompetenz 85, 90 handlungsleitende Theorien 157 Handlungsmodell 301 Handlungsmuster 10 – kasuistische 88 Handlungsorientierter Unterricht 90, 94 Handlungsorientierung 95 Handlungspraxis, rechtliche 254 Handlungsregulationsschema 96
Handlungsregulationstheorie 120 Handlungsschema 209 Handlungsstrukturtheorie 120 handlungstheoretische Aneigungsdidaktik 135 Handlungszyklus 88 Hebamme 28 Heilberufe 400 Heilgehilfe 28 Heilhilfsberufe 400 Heilkunde 27 Herangehensweise, kasuistische 81 Hermeneutik 230f hermeneutischer Zirkel 231 Heterogamietheorie 287 Hilfsbedürftigkeit 256 Hilfsfähigkeit 256 Hippokrates 26 historisch-hermeneutische Wissenschaften 225 Hochschulqualifikation für Schulleitungen und Lehrkräfte 404 Horkheimer, Max 232 humanistische Psychologie 128, 150 Humanressourcen 308 Humanwissenschaften 228 Husserl, Edmund 227 Hypothesen 223
I ICH 152 Ich-Du-Beziehung 86 Ich-Integrität, stabile 290 Identität 286 Identitätsbildung 39 Identitätsentwicklung 274 Identitätskonzept 39 Identitätskonzeption 52 Identitätsleistung 42 Identitätssicherung 39 Identitätssuche 285 Imitationslernen 183 immunologisches Gedächtnis 350 Immunsystem 334, 337, 348ff, 352f – angeborenes 351 – spezifisches 351 Individualisierung 330 Individualisierungsprozess der Frauen 288 Induktion 221 Informationsverarbeitung 345, 350 – menschliche 344 inkongruente Äußerung 156 Input-Output-Systeme 183 Integration 203
414
Anhang
– vertikale 341 Integrationsleistung 42 Intellektualisierung 286 Intelligenz, symbolisch-repräsentationale 279 intentional 236 Interaktion 189, 324 – Gefüge 11 – nichtdirektive 71 – Strukturen 11 Interaktionssysteme 192, 208 Interaktionszirkel 154 Internationalisierung 83 Interpenetration 191 Interview 43 – biographisch-narratives 43 Investitionsentscheidung 373, 376 Investitionskosten 381, 385 Investitionsrechnung, statische 388
J Jank,Werner 125 Jugendalter 285 jugendliche Askese 286
K Kaiserwerth 26 Karitas, Gedanke 26 Karitativer Gedanke 21 Karll, Agnes 30 Klafki,Wolfgang 86 Klasse-I-Komplex 351 Klientenorientierung 83 Koch, Robert 29 Kognition 281, 344 Kognitionspsychologie 120 kognitive Entwicklung, Stufenmodell 275 Kognitive Figuren 47 kognitive Handlungstheorie 120 kognitive Leistungsfähigkeit 290 kognitive Schemata 205 kognitiver Transfer 198 kognitives System 200, 207 Kommunikation 172, 177, 190, 207f, 281 Kommunikationstheorie 235 Kompetenz 8, 20, 396 – emotionale 86, 93 – Erwerb 132 – Fach- 92 – kommunikative 93
– Lern- 32f – Methoden- 32, 92 – personale 93 – Sozial- 92 – sozialkommunikative 63 – Teil- 92 Kompetenzbegriff 90 Konditionieren 184, 187 Konsolidierung von Gedächtnisinhalten 347 Konstruktivismus 200, 233, 298 – neuer 204 konstruktivistische Erkenntnistheorie 186 konstruktivistische Lehrund Lernforschung 204 konstruktivistischer Wissensbegriff 180 konsueller Bereich 204, 209 Kooperation 200 kooperatives Arbeiten 207 kooperatives Lernen 131, 207 Kosten 374 Kosten-Nutzwert-Analyse 385 Krankenpflegegesetz 3, 27, 392, 397, 405 Krankenpflegeschule 403 Krankheitsbekämpfung 359 Krankheitsverhütung 359 krisenhafte Entwicklung 290 Kriterienbaum 380 Kritische Theorie 231 Kuhn,Thomas S. 222 Kündigung 401 Kurzzeitgedächtnis 345f Kybernetik 235
L Langzeitgedächnis 345f Laur-Ernst, Ute 125 lebende Systeme 184 Lebensalltag 86 Lebensbedingungen, biologische 337 Lebenslauf 42 Lebensraum 104 Lebenswelt 44, 228 Lebenszyklus 40 Lehrarrangement 88 Lehrkraft 103, 404 Lehr-Lern-Prozess 72 Lehr-Lern-Situationen 193 Lehrplan, Rahmen- 86 Lehrplanentwicklung 100, 103 Lehrplangestaltung 100 Leistungsbeurteilung 133 Lern- und Gedächtnisprozesse 341
Lernarrangement 88 Lernbegriff, konstruktivistischer 176 Lernberater 130 Lernebenen, vier 176 Lernen 168, 174, 201, 342 – mit Anderen 209 – entdeckendes 34 – Ermöglichung 210 – exemplarisches 85, 126 – fächerübergreifendes 97 – Feed-back-Prinzip 126 – forschendes 34 – Gruppen 133 Lernen, in Lernschleifen 126 – kooperatives 126, 131 – lebendiges 121 – lebenslanges 84 – persönlichkeitsentwickelndes 126 –selbstorganisiertes 126 – tötendes 121 lernende Organisation 313 Lernerperspektive 96 Lernfelder 2, 81 Lernfeldkonzept 199 – arbeitsorientiert 109 Lernort 102, 198 – Betrieb 392 – Schule 392 Lernortkooperation 102, 198, 207 Lernprozess Lernprozessbegleiter 89 Lernprozessgestalter 89, 143 Lernpsychologie 120 Lernsituation 81, 88 – fachsystematische 81, 88 – Lernsituation, handlungssystematische 81, 88 – Lernsituation, lernsubjektsystematische 81, 88 Lernumgebung 189 – starke 206 Lernwege 129 Lernzuwachs 32 limbisches System 341 Logos 223 Lösungen – autoritative 264 – sachorientierte 264 Luhmann 176, 189, 200, 207, 235
M Mai, Fran z Anton 26 Makrophagen 351 Mandl, Heinz 205 Masterabschluss 5
415
J–P
Stichwortverzeichnis
Masterstudiengänge 199 materialistische Tätigkeitstheorie 120 Maturana 171, 189, 205, 235 Mead, Georg Herbert 232 Mehrplatzvariante E 384 Mehrzielprobleme 385 Menschenbild 148 Menschenwürde 255 Metakommunikation 209 Methode, erfahrungsorientierte 75 Methoden 106 Methodenmix 126 Methodentreppe 121 Methodologie 221 MHC-Klasse-II-Komplex 351 Mitbestimmung 132 Mitwirkungsrechte 403 Modell der Bündelung 104 Modell der Vereinigung 104 Modelllernen 183 Modellversuch NELE 103 Moderatorin/ Moderator 143 monistische Konzeption 224 monokriterielle Verfahren 388 Montessori 142 Motivation 341 multiple Kontexte 207 multiple Perspektiven 207 Mündigkeit 133, 135 Mutterhausmodell 30 Mythos 223
N Nähe und Distanz 151 narrativer Anker 206 negative Schutzfreiheit 258 Nervenfasern 338 Nervensystem 338 Nervenzellen 338 Netzwerkmuster 299 neuronale Netzwerke 342 Neuroplastizität 342 Neurotransmitter 346 Nichtlernen 168 Nichtwertung 150 Nightingale, Florence 31 nursing is teaching 72 Nutzenschätzung 379 Nutzwertanalyse 373
O Objektformel 261 offene Systeme 182, 185 Offenheit des Unterrichts 124 Offenheit im Unterricht 126 Ökonomisierung der Gesellschaft 258 Ontogenese 176 Open-Book-Mangement 313 Oralität 274 Organisationen 189 Organisationssysteme 200, 208 Organismus-Umwelt-Interaktion 337 originale Verwendungssituation 209 orientiertes Lernen 124 Ottawa Charta der WHO 360 Output 338
P pädagogische Freiheit 398 Paradigmen 223 Pasteur, Louis 29 Patientenanleitung 63 Patientenedukation 63, 73 Patienteninformationszentrum 63 Patientenorientierung 83 Patientenschulung 63 Pearls, Fritz 150 Peplau, Hildegard 273 Personal Mastery 313 Personalvertretung 403 Persönlichkeitsentwicklung 85, 283 perturbieren 186 Pflege – Anlässe 14 – Aufgabenbereiche 14 – Problembereiche 14 – Sachbereiche 14 Pflegeausbildung 9, 400f – Erstausbildung 5 Pflegebedarf 12, 395 Pflegebedarfserhebung 75 Pflegebedürftigkeit 7, 68 Pflegebegriff 11 Pflegeberatung 63 Pflegeberufe 395 Pflegedidaktik 9 Pflegedokumentation 13, 193 Pflegeforschung 5, 365 – angewandte 6 Pflegehandeln 6, 8, 13
Pflegenotstand 21 Pflegepädagogik 173 Pflegepflichteinsatz 63 Pflegeprozess 6, 63, 15, 395 Pflegequalität 395 Pflegeregeln 25 pflegerische Beziehung 6 Pflegeschulen 110 Pflegesituation 13, 256 – komplexe 8 Pflegestudiengänge 4 Pflegetheorien 6, 24 Pflegeüberleitung 63 Pflegeversicherungsgesetz (SGBXI) 8 Pflegeversorgung 26 Pflegeverständnis 68 Pflegewissenschaft 6, 217, 404 pflegewissenschaftliche Erkenntnisse 408 Phasen 47f, 211 – Deutungsphase 47 – Haupterzählphase 47 – Nachfragephase 47 – Vorbereitungsphase 47 Phasenkonzept 32 Phasenstruktur 81 Phasentheorie 274 Piaget, Jean 185, 204, 275 Planung 95 – aufgabenbezogene 139 Planungsgespräch 34 Planungsraster 117, 126 Pluralisierung familiarer Lebensformen 288 Popper, Karl 229 Postulate 153 Pragmatischer Eklektizismus 68 Präsentationsmöglichkeiten 129 Prävention 8, 365 – sekundäre 27 Praxisanleiter 209 – Qualifikation 407 Praxisanleitung 396, 405 Praxiseinsätze 405 Praxisphänomen 219 Priesterärzte 27 Prinzip der minimalen Hilfe 129 Problem – Lösung 8 – Wahrnehmung 8 Problemstellungen, komplexe 80 Produktebene 100 Produktorientierung 124 Produktvereinbarung 137 Professionalisierung 30 Prozessbedingungen 312 Prozesseigenschaften 312 Prüfungsverordnung 3
416
Anhang
Prüfungswesen 408 psychisches System 172 Psychoanalyse 231, 274 psychodynamisches Entwicklungsmodell 274 Psychologie 272 Psychologik 153 Psycho-Neuro-Immunologie 337 psychosoziale Faktoren 275 psychosoziales Moratorium 286 Public-Health-Forschung 363f Public-Health-Forum 366
Q Qualifikation 4 – berufliche 92 Qualifikationsbegriff 92 Qualität – Entwicklung in der Pflege 8 – Ergebnis- 30 – Prozess- 30 – Struktur- 30 qualitative Forschung 237 quantitative Forschung 237
R Raum der Lernenden 124 Realisierungsebene 100 Realität 234 Rechtsstatus der Schüler 398ff Reflektierte Meisterschaft 84 Reflexion 10, 193, 200, 205, 285 – gesamter Lernprozess 140 Reformpädagogik 121 Rehabilitationsansätze 289 Reich, Kersten 205 Relativismus 257 Reliabilität 237 Reorganisationsprojekte 308 Reorganisationsprozess 304 Reservekapazität 289 Robert Bosch Stiftung 6, 80 Rogers, Carl R. 150 Rolle 142 – Objekt 142 – Subjekt 142 Rotkreuzschwester 23 Rückkoppelung 299 Rückkopplungsschleifen 182 Ruhepotential 338
S Sachebene 153, 306 Sachlogik 153 Sachverständigenrat für die Konzentrierte Aktion im Gesundheitswesen 4, 362 Säftelehre 27 Salutogenese 326 Säuglingsforschung 277 Schadenersatzpflicht 406 Schemata, sensomotorische 279 Schlüsselproblem 86 Schlüsselqualifikation 84 Schlusskoda 47 Schule 63, 102, 399, 404 Schulgesetze der Länder 397 Schulleitung 405f Schulordnung 399 Schulorganisation 100, 103, 408 Schulrecht der Länder 403, 406 Schulträger 392 Schulungsprogramme 73 Schulverwaltungsprogramm 374 Schulz von Thun, Friedemann 151 science community 220 Seidler, Eduard 35 Selbstakzeptanz 156 Selbstbeschreibung 44 Selbstbezogenheit 287 Selbsterhaltung 207 Selbstermächtigung 70 Selbsterschließungskompetenz 84 Selbstevaluation 99 Selbstkongruenz 150 Selbstorganisation 203, 235 Selbstpräsentation 43 Selbstverstärkung 183 Selektion 173 SGBXI (s. Pflegeversicherungsgesetz) Siebert 205 Singularisierung 287 Sinn 50, 189, 207 Sinnerkenntnis 230 Sinneseindrücke 338, 340 Sinnkontext 202 Sinnvermittlung 230 Situationen, authentische 209 Situationsbezogenheit 9 Situiertheit 206 Skalierung 379 Software 381 Softwarehersteller 377 soziale Konstruktion der Wirklichkeit 233 soziale Organisationen 297
soziale Systemtheorie 200 sozialer Entwicklungsprozess 157 sozialer Kontext 207 soziales Lernen 285 soziales System 171 Sozialethik 251 Sozialgesetzbuch 395 Sozialgesetzgebung 60, 63 Sozialisation 50, 172 Sozialisationstheorie 233 Sozialpsychologie 232 Sozialsystem 2 Sozialethik 251 Sozialwissenschaften 228 Sprache 192, 202, 204, 235 Sprachentwicklung 278 staatliche Anerkennung 398, 404 staatliche Zulassung 401 Stakeholder 373, 376 Steppe, Hilde 30 Sterbende 323 Stifteverband für die Deutsche Wissenschaft 367 Stimmungslabilität 285 Strategiefindung 298 Struktur 50, 179 – systemimmanente 85 Strukturaspekt 43 Strukturdefiziterklärungen 85 strukturdeterminiert 186 strukturelle Kopplung 171, 174, 191, 205 strukturelle Leistung 187 Studiengänge 366 Stufenmodell des handlungsorientierten Unterrichts 127 subjektorientierte Wende 121 Subkulturen 233 Symbole, signifikante 233 Synergetik 235 System – biologisch 235 – geschlossen 235 – körperlich 181 – kulturelle 235 – offene 235 – psychische 235 – soziale 235 – visuell-motorisch 277 systematische Handlungswissenschaften 225 Systemgrenzen 235 systemisches Management 309 systemisches Pflegemanagement 315 Systemreferenz 188 systemtheoretischer Ansatz 120 Systemtheorie 231, 299
417
Q–Z
Stichwortverzeichnis
T Tätigkeitsfelder 8, 11, 87 tätigkeitsstrukturiert 126 Tausch/ Tausch 150 Teamarbeit 90, 98 Teambildung 99 Teamentwicklung 99 Teamregeln 99 Teamsitzung 99 Teamteaching 99 technische Wissenschaften 225 teilnehmerorientierter Einstieg 55 Teilnutzwerte 380 Tetradisches Modell 62 Teufelskreis 154 T-Helferzellen 351 Theorie – der moralischen Entwicklung 276 – Merkmale 230 – -Praxis-Transfer 407 Tiefenpsychologie 183 träges Wissen 206 Training 75 Trajectory 48 Transparenz 234 trianguläre Struktur 283 Triebimpulse 286 triviale Maschinen 183 Typen der Legitimation 264 T-Zellrezeptor 351
U Umgang mit Unsicherheit 302 Umwelt 177, 182, 205 Umweltauseinandersetzung 242 Ungleichheit 249 Unterricht – fachübergreifender 97 – fachverbindender 97 – handelnder 120 – handlungsorientierter 90, 94 Unterrichtsgestaltung 75, 100, 408 Unterscheidung System/ Umwelt 184 Ursache-Wirkungsdenken, lineares 236 Urvertrauen 279
V Validiät 237 Varela, Francisco 171, 189, 205 Verhalten (s. behavior) Verhältnisskala 379 Vermittlung, lehrerzentrierte 86 Versorgung, gesundheitliche 359 Versorgungsforschung 365 Versorgungspraxis 366 Versorgungsstrukturen 330 Verstärkung 184 Verstehen 177, 189, 193 – einfühlendes 151 Virchow, Rudolf 30 Vollzeitschule 399 von Bingen, Hildegard 26 von Eschenbach,Wolfram 27 von Foerster, Heinz 174, 235 von Glasersfeld, Ernst 174, 204
W Wahrnehmung 342 Werte 151, 235 Werte- und Entwicklungsquadrat 151, 310 Wertekonflikt 310 Wertfreiheit 230 Wertschöpfungsprozesse 309 WHO 27 Wilde Schwester 30 WIR 152 WIR-Gefühl 160 Wirklichkeitskonstruktionen 187 Wissen 340, 343 – explizites 81, 90 – implizites 81, 90, 209 – prozedurales 89 – situiertes Erwerben 87 – träges 85 Wissenskontext 84 Wissenstransfer 84, 89 Wissensverfahren 202 Wissenschaft – Aufbau 4 – Entwicklung 4, 6 – objektive 226 – Tradition 4 Wissenschaftsorientierung 9 Wissenserwerb 344 Wissensvermittler 142 Wissensvermittlung 202
Z Zeitrichtwerte 87 Zieldimensionen 102 Zielerreichungsgrad 379 Zielformulierung 87 zirkuläres Systemmodell 236