Springer-Lehrbuch
Ernst Kircher · Raimund Girwidz · Peter Häußler Editors
Physikdidaktik Theorie und Praxis Zweite Auflage
123
Prof. Dr. Ernst Kircher 97080 Würzburg Deutschland
[email protected]
Prof. Dr. Raimund Girwidz Inst. Physik u. Physikdidaktik PH Ludwigsburg Reuterallee 46 71602 Ludwigsburg Deutschland
[email protected] Prof. Dr. Peter Häußler 24113 Kiel Deutschland
ISSN 0937-7433 ISBN 978-3-642-01601-1 e-ISBN 978-3-642-01602-8 DOI 10.1007/978-3-642-01602-8 Springer Heidelberg Dordrecht London New York Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. c Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2007, 2009 Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Einbandentwurf: WMX Design GmbH, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem Papier Springer ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media (www.springer.de)
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Vorwort zur 2. Auflage „Physikdidaktik – Theorie und Praxis“ In den 10 Jahren seit dem Erscheinen von „Physikdidaktik – eine Einführung“ hat sich in der bundesdeutschen Bildungspolitik Vieles, auch Relevantes für den naturwissenschaftlichen Unterricht verändert. Aus unserer Sicht gehen die Änderungen in eine wünschenswerte Richtung, - z.B. eine gewisse Vereinheitlichung von Lehrplänen und Prüfungsanforderungen in den Bundesländern, insgesamt eine stärkere positive Wahrnehmung der Naturwissenschaften und des naturwissenschaftlichen Unterrichts in der Öffentlichkeit. Daran haben auch Fachverbände der Naturwissenschaften, z.B. die Deutsche Physikalische Gesellschaft (DPG), der Fachdidaktiken (GDCP, GDF) und Lehrerverbände, insbesondere MNU beigetragen. Durch die Formulierung von Standards sowohl für die Lehrerbildung als auch für den Unterricht wurde ein notwendiger, grundsätzlich sinnvoller Reformweg eingeschlagen. Dieser Weg wird nicht leicht sein an den Hochschulen und in Schulen. Es mag bei der Umsetzung von Standards Irrungen und Wirrungen geben; es kommt auf gute Kommunikation und Kooperation von Lehreraus- und Lehrerfortbildung sowie der dazugehörigen Forschung an. Wir versuchen die anstehenden Reformen zu unterstützen, wohl wissend, dass Gelingen oder Misslingen dieser Bildungsreformen vor allem in den Fachkollegien der Schulen entschieden werden. Die vier neuen Aufsätze dieser 2. Auflage des Gesamtbandes wurden zur Unterstützung dieses Reformweges ausgewählt; sie befassen sich in unterschiedlicher Weise mit den Bemühungen zur Verbesserung des Physikunterrichts: „Standards und Physikaufgaben“, „Professionswissen und Fortbildung von Physiklehrern“, „Lehrerausbildung und Lehrerfortbildung – nach ´Bologna` und PISA“ und „Schülerlabore: Lernen durch Forschen und Entwickeln“. Natürlich wurden auch Beiträge aktualisiert, diejenigen, die von den Reformen betroffen sind (z.B. Kap. 2 „Ziele und Kompetenzen“) oder Neuerungen für die Schulpraxis („E-Learning“ in Kap. 5). Zur weiteren Verbesserung von „Physikdidaktik – Theorie und Praxis“ setzen wir weiterhin auf Kommunikation mit Ihren Vorstellungen, Erfahrungen und neuen Ideen: Ernst Kircher:
[email protected] Raimund Girwidz:
[email protected] Wir verwenden hier die weiblichen und männlichen Formen von Lernenden und Lehrenden der verschiedenen Ausbildungsphasen. Aus sprachlichen und aus Platzgründen werden nicht in jedem Falle beide Ausdrücke verwendet. Unser herzlicher Dank gilt den Autorinnen und Autoren für die kritische Durchsicht ihrer Beiträge, Dr. Johannes Günther sowie der Fachabteilung Physik des Springer Verlags für die Unterstützung bei der Fertigstellung der Druckvorlagen und der Gestaltung des Buches. Würzburg, Juni 2009
Ernst Kircher und Raimund Girwidz
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Teil I: Physikdidaktik 0
Einführung: Was ist Physikdidaktik?......................................................................... 3 0.1 Was ist Physik? ...................................................................................................... 4 0.2 Was ist Didaktik?................................................................................................... 6 0.3 Physikdidaktik: Forschung und Lehre über Physikunterricht ................................ 8 0.4 Studienziele – physikdidaktische Kompetenzen .................................................. 12 Literatur ........................................................................................................................ 14
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Warum Physikunterricht? ......................................................................................... 15 1.1 Bildungstheoretische und pragmatische Begründungen – ein Rückblick ............ 16 1.1.1 Zur Bildungstheorie und zu ihrem Einfluss auf den Physikunterricht.... 16 1.1.2 Pragmatische Schultheorie und naturwissenschaftlicher Unterricht....... 23 1.1.3 Zusammenfassende Bemerkungen ......................................................... 29 1.2 Die physikalische Dimension des Physikunterrichts............................................ 30 1.2.1 Zur Entwicklung und zum Aufbau der Physik ....................................... 30 1.2.2 Zusammenfassung .................................................................................. 35 1.2.3 Über die Natur der Naturwissenschaften lernen ..................................... 36 1.2.4 Zusammenfassende Bemerkungen ......................................................... 41 1.3 Die gesellschaftliche Dimension des Physikunterrichts....................................... 43 1.3.1 Die moderne technische Gesellschaft..................................................... 43 1.3.2 Veränderte Einstellungen zur Technik – Wertewandel .......................... 46 1.3.3 Technik- und Wissenschaftsethik ........................................................... 48 1.3.4 Naturwissenschaftlicher Unterricht und das Prinzip Verantwortung ..... 50 1.3.5 Umwelterziehung und Bildung der Nachhaltigkeit ................................ 51 1.3.6 Zusammenfassende Bemerkungen ......................................................... 54 1.4 Die pädagogische Dimension des Physikunterrichts............................................ 55 1.4.1 Die übergangene Sinnlichkeit im Physikunterricht – eine Kritik ........... 56 1.4.2 Schulphysik als Umgang mit den Dingen der Realität ........................... 58 1.4.3 Begegnung mit den Dingen der Realität in der Schulphysik.................. 61 1.4.4 Schülervorstellungen und humanes Lernen............................................ 63 1.4.5 Zusammenfassung .................................................................................. 66 1.5 Grundlagen dieser Physikdidaktik ....................................................................... 67 1.5.1 Dimensionen der Physikdidaktik............................................................ 67 1.5.2 Leitideen, physikdidaktische Dimensionen und methodische Prinzipien.................................................................... 71 1.5.3 Perspektiven des naturwissenschaftlichen Unterrichts ........................... 73 1.6 Ergänzende und weiterführende Literatur............................................................ 76 Literatur ........................................................................................................................ 78
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Ziele und Kompetenzen im Physikunterricht........................................................... 83 2.1 Wie kommt man zu Zielen? ................................................................................. 84 2.1.1 Die didaktische Analyse im Physikunterricht......................................... 84 2.1.2 Gesichtspunkte für die Inhaltsauswahl – Fragenkatalog für die didaktische Analyse............................................. 88 2.2 Lernziele über Lernziele ...................................................................................... 91 2.2.1 Verschiedene Zielebenen........................................................................ 92 2.2.2 Zielklassen und Anforderungsstufen ...................................................... 95 2.3 Physikdidaktische Zielklassen ............................................................................. 97 2.3.1 Konzeptziele (Begriffliche Ziele)........................................................... 98 2.3.2 Prozessziele (Fähigkeiten und Fertigkeiten)........................................... 98 2.3.3 Soziale Ziele........................................................................................... 99 2.3.4 Ziele über Einstellungen und Werte ....................................................... 99 2.3.5 Zusammenfassung ................................................................................ 101 2.4 Bildungsstandards und Kompetenzen................................................................ 101 2.4.1 Allgemeine administrative Festlegungen ............................................. 101 2.4.2 Ausführungen zu den Kompetenzbereichen......................................... 102 2.4.3 Erwartungshorizont von Aufgaben....................................................... 106 2.4.4 Anmerkungen zu den Bildungsstandards für den Physikunterricht...... 108 2.5 Sachstrukturdiagramme – Lernzielformulierungen ........................................... 111 2.5.1 Sachstrukturdiagramme........................................................................ 111 2.5.2 Wie werden Lernziele formuliert?........................................................ 112 2.6 Ergänzende und weiterführende Literatur.......................................................... 112 Literatur ...................................................................................................................... 113
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Elementarisierung und didaktische Rekonstruktion ............................................. 115 3.1 Elementarisieren – didaktisch rekonstruieren: Wie macht man das?................. 116 3.1.1 Pestalozzis Traum – nicht nur historische Bemerkungen.................... 116 3.1.2 Kriterien der didaktischen Rekonstruktion........................................... 118 3.1.3 Heuristische Verfahren der didaktischen Rekonstruktion .................... 121 3.2 Didaktische Rekonstruktionen von begrifflichen und technischen Systemen.... 124 3.2.1 Ein Grundmuster des Physikunterrichts ............................................... 124 3.2.2 Vereinfachung durch Experimente....................................................... 127 3.2.3 Vereinfachung durch ikonische Darstellungen..................................... 128 3.2.4 Vereinfachung durch symbolische Darstellungen ................................ 130 3.2.5 Elementarisierung technischer Systeme ............................................... 133 3.3 Elementarisierung durch Analogien................................................................... 134 3.3.1 Was sind Analogien?............................................................................ 134 3.3.2 Beispiel: Die Wasseranalogie zum elektrischen Stromkreis ................ 135 3.3.3 Notwendige Bedingungen für Analogien im Physikunterricht............. 137 3.3.4 Zusammenfassung: Analogien im Physikunterricht .................................. 138 3.4 Über die Elementarisierung physikalischer Objekte und Methoden.................. 141 3.4.1 Zur Elementarisierung physikalischer Objekte .................................... 141 3.4.2 Elementarisierung physikalischer Methoden........................................ 142
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3.5 Zusammenfassung und Ausblick ....................................................................... 145 3.6 Ergänzende und weiterführende Literatur.......................................................... 147 Literatur ...................................................................................................................... 147 4
Methoden im Physikunterricht................................................................................ 149 4.1 Methodische Großformen .................................................................................. 151 4.1.1 Offener Unterricht – Freiarbeit............................................................. 151 4.1.2 Spiele im Physikunterricht ................................................................... 154 4.1.3 Das Projekt ........................................................................................... 160 4.1.4 Die Unterrichtseinheit – der Kurs......................................................... 166 4.2 Unterrichtskonzepte des Physikunterrichts.......................................................... 169 4.2.1 Exemplarischer Unterricht.................................................................... 169 4.2.2 Genetischer Unterricht.......................................................................... 171 4.2.3 Entdeckender Unterricht....................................................................... 174 4.2.4 Darbietender Unterricht........................................................................ 176 4.3 Artikulationsschemata – wie eine Unterrichtsstunde gegliedert wird ................ 178 4.3.1 Übersicht über einige Artikulationsschemata ....................................... 178 4.3.2 Die Phase der Motivation ..................................................................... 181 4.3.3 Zur Phase der Erarbeitung .................................................................... 185 4.3.4 Zur Phase der Vertiefung...................................................................... 187 4.4 Sozialformen im Physikunterricht...................................................................... 190 4.4.1 Gruppenunterricht................................................................................. 191 4.4.2 Individualisierter Unterricht ................................................................. 197 4.4.3 Frontalunterricht................................................................................... 198 4.5 Ergänzende und weiterführende Literatur.......................................................... 200 Literatur ...................................................................................................................... 200
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Medien im Physikunterricht .................................................................................... 203 5.1 Begriffe und Klassifikationen ............................................................................ 205 5.1.1 Medium, Medienpädagogik, Mediendidaktik....................................... 205 5.1.2 Klassifikationsschemata für Unterrichtsmedien ................................... 206 5.2 Grundlagenwissen zum Medieneinsatz.............................................................. 210 5.2.1 Wahrnehmung und Gedächtnis ............................................................ 211 5.2.2 Symbolsysteme und kognitive Repräsentation ..................................... 215 5.2.3 Bildhafte Darstellungen........................................................................ 217 5.3 Bilder und Texte im Physikunterricht ................................................................ 220 5.3.1 Die Funktion von Bildern ..................................................................... 220 5.3.2 Zum Instruktionsdesign mit Bildmedien .............................................. 224 5.3.3 Texte im Physikunterricht .................................................................... 225 5.4 Die klassischen Medien ..................................................................................... 229 5.4.1 Die Wandtafel....................................................................................... 229 5.4.2 Das Arbeitsblatt .................................................................................... 230 5.4.3 Das Schulbuch...................................................................................... 233 5.4.4 Der Arbeitsprojektor............................................................................. 236 5.4.5 Weitere Projektionsgeräte..................................................................... 239
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Inhaltsverzeichnis 5.4.6 Film- und Videotechnik - DVD und Videodisk ................................... 239 5.4.7 Weitere Medien .................................................................................... 243 5.5 Experimente im Physikunterricht....................................................................... 244 5.5.1 Experiment, Schulversuch und Medium .............................................. 244 5.5.2 Funktionelle Aspekte............................................................................ 245 5.5.3 Klassifikation physikalischer Schulexperimente.................................. 250 5.5.4 Empfehlungen für die Unterrichtspraxis .............................................. 253 5.5.5 Schülerexperimente .............................................................................. 259 Literatur ...................................................................................................................... 261
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Wie lässt sich der Lernerfolg messen? .................................................................... 265 6.1 Allgemeine Kriterien und Verfahren zur Messung des Lernerfolgs .................. 266 6.1.1 Gütekriterien zur Messung des Lernerfolgs ......................................... 266 6.1.2 Was kann und soll mit der Messung des Lernerfolgs bezweckt werden? ................................................................................ 269 6.1.3 Welche unterschiedliche Typen von Bewertungsverfahren gibt es? .... 272 6.2 Wie misst man den Lernerfolg im kognitiven Bereich? .................................... 274 6.2.1 Wie erfasst man kognitive Leistungen?................................................ 274 6.2.2 Schriftlichen Verfahren zur Bewertung kognitiver Leistungen............ 276 6.2.3 Lückentextaufgaben ............................................................................. 277 6.2.4 Multiplechoice- und Zuordnungsaufgaben........................................... 277 6.2.5 Begriffsnetze (Concept maps) .............................................................. 280 6.2.6 Aufgaben mit freier Antwort ................................................................ 283 6.2.7 Aufsätze................................................................................................ 284 6.2.8 Sammeln von Evidenzen (Portfolio-Methode)..................................... 286 6.2.9 Sieben Fehler bei der Formulierung schriftlicher Aufgaben ................ 289 6.3 Wie misst man den Lernerfolg im nichtkognitiven Bereich?............................. 295 6.3.1 Typen von Messverfahren .................................................................... 295 6.3.2 Messung von Kooperation vs. Konkurrenz .......................................... 301 6.3.3 Messung der motivierenden Wirkung des Unterrichts ........................ 302 6.3.4 Messung von Interessen ....................................................................... 303 6.3.5 Messung von Einstellungen.................................................................. 305 6.3.6 Messung des emotionalen Gehalts von Begriffen ................................ 306 6.3.7 Verfahren, die auf Beobachtung beruhen ............................................. 307 6.4 Zusammenstellung der beschriebenen Verfahren .............................................. 309 Literatur ...................................................................................................................... 310
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Planung und Analyse von Physikunterricht ........................................................... 311 7.1 Unterrichtsplanung............................................................................................. 312 7.1.1 Planungsmodelle .................................................................................. 312 7.1.2 Der Unterrichtsentwurf......................................................................... 315 7.1.3 Vorüberlegungen .................................................................................. 317 7.1.4 Die Unterrichtsskizze ........................................................................... 321 7.1.5 Schritte offener Unterrichtsplanung ..................................................... 323
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7.2
Analyse einer Unterrichtseinheit........................................................................ 326 7.2.1 Unterrichtsbeobachtung........................................................................ 327 7.2.2 Nachbesprechung – es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen.... 330 7.2.3 Analysekriterien für die 2. Phase der Lehrerbildung ............................ 332 7.2.4 Abschließende Bemerkungen ............................................................... 335 Literatur ...................................................................................................................... 336
Teil II: Physikdidaktik in der Praxis 8
Aktuelle Methoden I – Projekte............................................................................... 339 8.1 „Die Sonne schickt uns keine Rechnung“ – eine Projektwoche ........................ 340 8.1.1 Physikalische und technische Grundlagen............................................ 340 8.1.2 Überblick über das Unterrichtsprojekt.................................................. 344 8.1.3 Projektverlauf ....................................................................................... 346 8.1.4 Schülerexperimente .............................................................................. 350 8.1.5 Zusammenfassung ................................................................................ 352 8.2 Projekt „Induktionsmotore“ ............................................................................... 354 8.2.1 Fachliches – Ideen für Schüleraktivitäten............................................. 354 8.2.2 Lernvoraussetzungen für das Projekt.................................................... 357 8.2.3 Schüleraktivitäten in den Gruppen ....................................................... 360 8.2.4 Abschließende Bemerkungen ............................................................... 368 Literatur ...................................................................................................................... 369
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Aktuelle Methoden II – Lernzirkel.......................................................................... 371 9.1. Lernzirkel „Einführung in die Akustik“............................................................. 372 9.1.1 Ziele, Lernbereiche und Stationen........................................................ 372 9.1.2 Fachliche Grundlagen........................................................................... 375 9.1.3 Unterrichtsmaterialien .......................................................................... 380 9.1.4 Zur Evaluation des Lernzirkels............................................................. 383 9.2. Lernzirkel „Laser“ ............................................................................................. 386 9.2.1 Lernvoraussetzungen, Inhalte und Organisation ................................. 386 9.2.2 Elementarisierung und didaktische Rekonstruktion des Lasers............ 387 9.2.3 Die Stationen des Lernzirkels............................................................... 392 9.2.4 Erfahrungen bei der Durchführung....................................................... 400 9.2.5 Anhang: Neue Laserschutzklassen ....................................................... 401 Literatur ...................................................................................................................... 402
10 Aktuelle Methoden III – Spiele ............................................................................... 403 10.1 Gespielte Physik – spielerische Physik .............................................................. 404 10.2 Konstruktionsspiele – technische Kreativität..................................................... 404 10.3 Gespielte Analogien – modellhaftes Lernen ...................................................... 410 10.4 Sinnhafte Spiele – ursprüngliches Verstehen..................................................... 416 Literatur ...................................................................................................................... 421
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11 Neue Medien und Multimedia ................................................................................. 423 11.1 Der Computer im Physikunterricht .................................................................... 424 11.2 Multimedia......................................................................................................... 426 11.3 Das Internet........................................................................................................ 435 11.3.1 Schwierigkeiten bei Internetrecherchen ............................................... 436 11.3.2 Information ordnen, Wissen vorstrukturieren....................................... 437 11.3.3 Aufgabenkultur für Internetrecherchen ................................................ 440 11.3.4 Grundstrategien für Internetrecherchen................................................ 441 11.4 E-Learning und Web 2.0.................................................................................... 442 11.4.1 Blended Learning ................................................................................. 443 11.4.2 Web 2.0 ................................................................................................ 445 11.4.3 Resümee ............................................................................................... 449 Literatur ...................................................................................................................... 449
Teil III: Moderne Teilgebiete des Physikunterrichts 12 Quantenphysik .......................................................................................................... 455 12.1 Vorbemerkungen ............................................................................................... 455 12.2 Experimente der Quantenphysik........................................................................ 456 12.2.1 Experimente, die mit Quantelung erklärt werden können .................... 456 12.2.2 Experimente, die man stochastisch beschreibt ..................................... 457 12.2.3 Experimente, die man mit Interferenz erklärt....................................... 458 12.2.4 Experimente zum Komplementaritätsprinzip ....................................... 460 12.3 Vorstellungen zur Quantenphysik...................................................................... 461 12.3.1 Quantenobjekte als kleine Kügelchen .................................................. 461 12.3.2 Quantenobjekte als Wellen................................................................... 463 12.3.3 Welle oder Kügelchen, je nach Experiment ......................................... 463 12.3.4 Etwas verteiltes Stoffliches .................................................................. 464 12.3.5 Die Kopenhagener Interpretation ......................................................... 465 12.3.6 Unbestimmtheit und Schrödingers Katze ............................................. 466 12.3.7 Zur Nichtlokalität ................................................................................. 467 12.4 Formalismen für Vorhersagen ........................................................................... 468 12.4.1 Der verbale Formalismus für Interferenz und Komplementarität......... 469 12.4.2 Der Zeiger-Formalismus ...................................................................... 472 12.4.3 Der Formalismus mit den Wahrscheinlichkeitspaketen ....................... 474 12.4.4 Lösen der stationären Schrödingergleichung........................................ 476 12.5 Fazit ................................................................................................................... 477 Literatur ...................................................................................................................... 478 13 Elementarteilchenphysik in der Schule................................................................... 479 13.1 Elementarteilchenphysik im Überblick.............................................................. 480 13.1.1 Die elementaren Teilchen..................................................................... 481 13.1.2 Die vier fundamentalen Kräfte ............................................................. 483 13.1.3 Neutrinos: Exoten unter den Elementarteilchen ................................... 489 13.1.4 Die Suche nach dem Higgs-Boson ....................................................... 495
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13.2 Unterricht zur Elementarteilchenphysik ............................................................ 496 13.2.1 Fachdidaktische Hinweise .................................................................... 496 13.2.2 Vermittlung der Teilchenphysik in verschiedenen Elementarisierungsstufen ..................................................................... 501 13.2.3 Punktuelle Behandlung teilchenphysikalischer Themen ...................... 505 Literatur ...................................................................................................................... 507 14 Astronomie im Physikunterricht ............................................................................. 509 14.1 Astronomische Entfernungsmessung ................................................................. 512 14.2 Übersicht über die Messmethoden ..................................................................... 513 14.3 Messung der Sonnenentfernung nach Aristarch................................................. 514 14.4 Messungen mit einem Sextanten........................................................................ 515 14.4.1 Diskussion der Messergebnisse ............................................................ 516 14.4.2 Vergleich mit Computerberechnungen................................................. 517 14.4.3 Methodische und didaktische Empfehlungen ....................................... 517 14.5 Die Entfernung des Mondes.............................................................................. 519 14.5.1 Kooperatives Projekt zur Messung der Mondparallaxe........................ 519 14.5.2 Beispiel: Der Mond zwischen Saturn und Jupiter ................................ 520 14.5.3 Auswertung .......................................................................................... 521 14.6 Abstandsverhältnisse im Sonnensystem ........................................................... 522 14.6.1 Bestimmung der Bahnradien ................................................................ 522 14.6.2 Bestimmung des Radius der Marsbahn ................................................ 523 14.7 Internet-Projekt: Auswertung des Venustransits am 8. Juni 2004 ..................... 524 14.7.1 Die parallaktische Verschiebung von Venus und die Entfernung der Sonne.............................................................................................. 525 14.7.2 Schlussfolgerungen............................................................................... 526 14.8 Astronomisches Schlechtwetter-Praktikum ....................................................... 527 14.8.1 Beispiel: Die Rotation der Sonne und die Astronomische Einheit ....... 527 14.8.2 Beispiel: Die Entfernung von Barnards Pfeilstern................................ 528 Literatur ...................................................................................................................... 529 15 Chaos und Strukturbildung ..................................................................................... 531 15.1 Deterministisch und unvorhersagbar.................................................................. 532 15.2 Chaotische Schwingungen ................................................................................. 534 15.2.1 Das exzentrische Drehpendel ............................................................... 534 15.2.2 Das chaotische Überschlagspendel....................................................... 536 15.2.3 Der chaotische Prellball........................................................................ 537 15.2.4 Elektromagnetische Schwinger ............................................................ 537 15.2.5 Chaotisches Wasserrad......................................................................... 538 15.2.6 Der tropfende Wasserhahn ................................................................... 539 15.3 Dissipative Strukturen........................................................................................ 540 15.3.1 Bénardkonvektion als dissipative Struktur ........................................... 542 15.3.2 Sand als dissipative Struktur................................................................. 543 15.3.3 Dissipative Strukturbildung bei der Entstehung von Flussnetzwerken ............................................................................ 544
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15.4 Fraktale .............................................................................................................. 545 15.4.1 Elemente der fraktalen Geometrie........................................................ 546 15.4.2 Fraktale als physikalische Objekte ....................................................... 549 15.4.3 Fraktale als nichtlineare Systeme ......................................................... 551 15.4.4 Fraktale als Thema des Physikunterrichts ............................................ 551 Literatur ...................................................................................................................... 555 16 Wege in die Nanowelt ............................................................................................... 557 16.1 Mikro, Nano & technologischer Wandel ........................................................... 557 16.1.1 Bilder eines komplexen Nanokosmos .................................................. 558 16.1.2 Reisen in die Nanowelt: Skalierungen.................................................. 559 16.1.3 Ertaste die Nano-Wirklichkeit.............................................................. 560 16.1.4 Erfühle die molekulare Komplexität .................................................... 562 16.1.5 Kreative Potenziale fördern.................................................................. 563 Literatur ...................................................................................................................... 564 16.2 Nanotechnologien für maßgeschneiderte Materialien und Bauelemente ........... 565 16.2.1 Potenziale der Nanotechnologie ........................................................... 566 16.2.2 Realisierungsformen von Nanostrukturen ............................................ 569 16.2.3 Herstellungsverfahren .......................................................................... 570 16.2.4 Anwendungen....................................................................................... 574 Literatur ...................................................................................................................... 578
Teil IV: Aktuelle Beiträge zur Physikdidaktik 17 Mädchen im Physikunterricht ................................................................................. 583 17.1 Einleitung........................................................................................................... 583 17.2 Ein erster Überblick ........................................................................................... 584 17.2.1 Die besondere Situation der Mädchen im Physikunterricht ................. 584 17.2.2 Einige Ursachen ................................................................................... 584 17.2.3 Ansatzpunkte, um den Mädchen besser gerecht zu werden ................. 587 17.3 Fachdidaktische Beiträge zur Förderung der Mädchen im Physikunterricht ..... 588 17.3.1 Konkrete Unterrichtsvorschläge ........................................................... 588 17.3.2 Die Interessenstudien des IPN.............................................................. 588 17.3.3 Der BLK-Modellversuch...................................................................... 591 17.3.4 Die Schweizer Koedukationsstudie ...................................................... 594 17.3.5 Fehlende sinnstiftende Kontexte .......................................................... 600 17.4 Fazit ................................................................................................................... 602 Literatur ...................................................................................................................... 603 18 Alltagsvorstellungen und Physik lernen.................................................................. 605 18.1 Beispiele für Alltagsvorstellungen..................................................................... 605 18.1.1 Vorstellungen zu Phänomenen und Begriffen...................................... 605 18.1.2 Vorstellungen über die Physik und über das Lernen ............................ 609 18.1.3 Lehrervorstellungen.............................................................................. 610
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18.2 Vorstellungen und Lernen.................................................................................. 610 18.2.1 Vorunterrichtliche Vorstellungen berücksichtigen............................... 610 18.2.2 Lernen................................................................................................... 611 18.2.3 Zur Rolle von Vorstellungen beim Lernen........................................... 613 18.2.4 Konzeptwechsel.................................................................................... 615 18.3 Unterricht auf der Basis von vorunterrichtlichen Vorstellungen ....................... 616 18.3.1 Anknüpfen – Umdeuten – Konfrontieren ............................................. 617 18.3.2 Unterrichtsstrategien, die Konzeptwechsel unterstützen ...................... 618 18.3.3 Wärme – Temperatur – Energie ........................................................... 619 18.3.4 Vorstellungen zum Teilchenmodell...................................................... 623 18.4 Anmerkungen und Literaturhinweise................................................................. 627 18.4.1 Abschließende Anmerkungen............................................................... 627 18.4.2 Literaturübersicht zu Alltagsvorstellungen........................................... 628 Literatur ...................................................................................................................... 629 19 Neue Medien unter lernpsychologischen Aspekten................................................ 631 19.1 Multimodalität, Multicodierung, Interaktivität .................................................. 632 19.2 Theorien zum Lernen mit multiplen Repräsentationen...................................... 635 19.2.1 Theorie zum Multimedialernen von Mayer.......................................... 635 19.2.2 Das integrierte Modell des Text- und Bildverstehens nach Schnotz und Bannert .................................................................... 637 19.2.3 Darstellungsvielfalt und Lernen in Physik ........................................... 639 19.3 Kognitive Belastungen und Maßnahmen ........................................................... 641 19.3.1 Cognitive load berücksichtigen ............................................................ 641 19.3.2 Supplantationkonzept und Kohärenzbildung........................................ 645 19.3.3 Adaptive Programme............................................................................ 646 19.4 Komplexes Lernen und Multimedia................................................................... 647 19.4.1 Hilfen zum Aufbau mentaler Modelle.................................................. 647 19.4.2 Kognitive Flexibilität fördern............................................................... 650 19.4.3 Situiertes Lernen und Wissensverankerung.......................................... 652 19.4.4 Wissensstrukturierung und Vernetzung................................................ 654 Literatur ...................................................................................................................... 658 20 Standards und Physikaufgaben ............................................................................... 663 20.1 Aufgabeneinsatz in Unterricht und Test ............................................................ 663 20.2 Qualität von Aufgaben....................................................................................... 665 20.3 Merkmale von Aufgaben ................................................................................... 667 20.3.1 Offenheit von Aufgaben ....................................................................... 668 20.3.2 Art der Lösungswege............................................................................ 669 20.3.3 Curricularer Bezug ............................................................................... 669 20.3.4 Antwortformat ...................................................................................... 670 20.3.5 Experimenteller Anteil ......................................................................... 670 20.3.6 Anforderungsmerkmale ........................................................................ 671
XVI
Inhaltsverzeichnis
20.4 Aufgabenmerkmale und Lernprozesse............................................................... 672 20.4.1 Bezug zu Lernprozessen....................................................................... 672 20.4.2 Kontextualisierung ............................................................................... 673 20.4.3 Einsatz von Hilfen ................................................................................ 674 20.4.4 Bezug zu Schülervorstellungen ............................................................ 674 20.4.5 Umgang mit Fehlern............................................................................. 675 20.4.6 Beziehung zu anderen Aufgaben.......................................................... 676 20.4.7 Verfügbarkeit des Fachwissens ............................................................ 677 20.5 Kompetenzmodelle ............................................................................................ 677 20.5.1 Kognitive Prozesse ............................................................................... 677 20.5.2 Komplexität.......................................................................................... 678 20.5.3 Kompetenzstufen.................................................................................. 679 20.6 Kompetenzen in anderen Bereichen .................................................................. 680 20.6.1 Kompetenzbereich Kommunikation..................................................... 680 20.6.2 Kompetenzbereich Bewertung ............................................................. 681 20.6.3 Lesekompetenz..................................................................................... 681 20.6.4 Statistische Kennwerte ......................................................................... 682 20.7 Aufgabenbeispiele ............................................................................................. 683 20.8 Abschließende Bemerkungen ............................................................................ 686 Literatur ...................................................................................................................... 687 21 Professionswissen und Fortbildung von Physiklehrern......................................... 689 21.1 Professionswissen und Unterrichtsqualität ........................................................ 689 21.2 Forschungsansätze zum Professionswissen von Lehrern................................... 693 21.2.1 Operationalisierung des Fachwissens................................................... 694 21.2.2 Operationalisierung des fachdidaktischen Wissens.............................. 696 21.2.3 Zusammenhang zwischen Fachwissen, fachdidaktischem Wissen und Unterricht ...................................................................................... 697 21.2.4 Pädagogisches Wissen.......................................................................... 698 21.2.5 Implikationen für die Aus- und Fortbildung......................................... 700 21.3 Lernprozessorientierte Fortbildung.................................................................... 700 21.3.1 Lernprozessorientierte Fortbildung zum Proffessionswissen ............... 700 21.3.2 Auswahl des Fortbildungsthemas......................................................... 701 21.3.3 Wichtige Basismodelle für den Physikunterricht ................................. 702 21.3.4 Verlauf der Fortbildung........................................................................ 703 21.4 Ergebnisse der Fortbildung ................................................................................ 704 21.5 Zusammenfassung ............................................................................................. 704 Literatur ...................................................................................................................... 705 22 Lehrerausbildung und Lehrerfortbildung – nach „Bologna“ und PISA ............. 709 22.1 Lehrerausbildung ............................................................................................... 709 22.1.1 Die Vereinbarung von Bologna: Bachelor und Master ........................ 709 22.1.2 Lehrerausbildung und Unterrichtskompetenz....................................... 712 22.1.3 Reform der Studieninhalte.................................................................... 714 22.1.4 Schulpraktische Studien ....................................................................... 718
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XVII
22.2 Die zweite Phase der Lehrerbildung .................................................................. 719 22.2.1 Ausbildungsstandards........................................................................... 719 22.2.2 Reformvielfalt in den Bundesländern................................................... 721 22.3 Fortbildung von Lehrerinnen und Lehrern......................................................... 721 22.3.1 Lernen im Beruf ................................................................................... 721 22.3.2 Kriterien für erfolgreiche Lehrerfortbildung ........................................ 723 22.3.3 Bundesweite Fortbildungsprogramme.................................................. 724 22.3.4 Regionale Lehrerfortbildung ................................................................ 726 22.3.5 Schulinterne Lehrerfortbildung ............................................................ 727 22.3.6 Unterrichtsvideos in der Lehrerbildung................................................ 730 22.4 Zusammenfassung und Ausblick ...................................................................... 731 Literatur ...................................................................................................................... 732 23 Modellbegriff und Modellbildung in der Physikdidaktik...................................... 735 23.1 Erläuterungen und Festlegungen zum Modellbegriff......................................... 735 23.1.1 Zweckmäßigkeit und Konventionen..................................................... 735 23.1.2 Eingrenzung des Modellbegriffs .......................................................... 736 23.1.3 Erläuterungen zum Modellbegriff ........................................................ 737 23.1.4 Formale Darstellung des Erkenntnisprozesses und Modelldefinition ............................................................................ 738 23.1.5 „Analogien“ zwischen Modell und Objekt........................................... 739 23.2 Beziehungen zwischen Modell und Objekt........................................................ 741 23.2.1 Das Abbildungsmerkmal ...................................................................... 741 23.2.2 Das Verkürzungsmerkmal .................................................................... 742 23.2.3 Gegenständliche Modelle: Strukturmodelle, Funktionsmodelle, gestaltähnliche Modelle........................................................................ 743 23.3 Eigenschaften von Modellen.............................................................................. 745 23.3.1 Anschaulichkeit von Modellen............................................................. 745 23.3.2 Einfachheit von Modellen .................................................................... 747 23.3.3 Transparenz von Modellen ................................................................... 749 23.3.4 Vertrautheit von Modellen ................................................................... 750 23.3.5 Produktivität von Modellen .................................................................. 751 23.3.6 Bedeutsamkeit von Modellen ............................................................... 752 23.4 Funktionen von Modellen .................................................................................. 753 23.4.1 Erklärungen durch Modelle .................................................................. 754 23.4.2 Prognosen durch Modelle..................................................................... 755 23.4.3 Lernen durch Modelle .......................................................................... 757 23.5 Klassifikation von Modellen.............................................................................. 758 Literatur ...................................................................................................................... 761 24 Über die Natur der Naturwissenschaften lernen.................................................... 763 24.1 Über die Natur der Naturwissenschaften lernen – Ziele und Inhalte ................. 764 24.1.1 Naturwissenschaften und Wirklichkeit................................................. 764 24.1.2 Was sind Naturwissenschaften? ........................................................... 767 24.1.3 Technik- und wissenschaftsethische Aspekte....................................... 770
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24.2 Standardmethoden der Naturwissenschaften ..................................................... 774 24.2.1 Zur induktiven Methode ....................................................................... 774 24.2.2 Zur hypothetisch-deduktiven Methode................................................. 778 24.3 Historische Beschreibungen naturwissenschaftlicher Theoriebildung............... 780 24.3.1 Naturwissenschaftliche Revolution und Normalwissenschaft.............. 780 24.3.2 Naturwissenschaften als historische Tradition ..................................... 786 24.3.3 Naturwissenschaften als abstrakte und historische Tradition ............... 788 24.4 Theoriebildung in der Physik – Modellbildung im Physikunterricht................. 790 24.4.1 Über Theoriebildung in der Physik ...................................................... 790 24.4.2 Über Modellbildung im Physikunterricht............................................. 793 24.4.3 Über die Bedeutung von Experimenten in der Physik und im Physikunterricht ....................................................................... 794 24.5 Ergänzende und weiterführende Literatur.......................................................... 797 Literatur ...................................................................................................................... 797 25 Schülerlabore: Lernen durch Forschen und Entwickeln ...................................... 799 25.1 Labore als außerschulische Lernorte: Erfolgsgeschichte einer Bildungsinnovation ................................................................................... 799 25.2 Komplexe Lernumgebung: Einheit in der Vielfalt von Schülerlaborkonzepten................................................................................ 801 25.2.1 Gemeinsame Ziele und Gestaltungsmerkmale ..................................... 801 25.2.2 Fachspezifische Differenzierungen der Angebote................................ 802 25.2.3 Balance von Instruktion und Konstruktion........................................... 803 25.3 Wirkungsforschung: Die kontraintuitive Effektivität der Laboraktivitäten ....... 805 25.4 Unterrichtsentwicklung: Renaissance des erfahrungsbasierten Lernens............ 808 25.4.1 Arbeitsweisen erfahrbar machen: Lehr-Lern-Zyklen ........................... 808 25.4.2 Kreative Prozesse erfahrbar machen: Experimente als Werkzeuge und Flügel des Geistes.......................................................................... 809 25.4.3 Wissen verkörpern: Handlungsmuster & Abstraktionen ...................... 810 25.4.4 Gestaltung von Laborprojekten: Gelingenskriterien für forschendes Lernen ......................................................................... 811 25.4.5 Lernen durch Experimentieren: Ist-Zustand......................................... 813 25.4.6 Forschend lernen: Unterrichtsmuster verändern................................... 814 25.5 Die Hefe im Teig: Brauchen wir auch künftig Schülerlabore? .......................... 816 Literatur ...................................................................................................................... 817 Stichwortverzeichnis ....................................................................................................... 819
144 2 45 3 46 4 47 5 48 6 49 7 50 8 51 9 52 10 53 11 54 12 55 13 56 14 57 15 58 16 59 17 60 18 61 19 62 20 63 21 64 22 65 23 66 24 67 25 68 26 69 27 70 28 71 29 72 30 73 31 74 32 75 33 76 34 77 35 78 36 79 37 80 38 81 39 82 40 83 41 84 42 85 43 86
Autorenverzeichnis Udo Backhaus, Prof. Dr. Universität Duisburg-Essen, Didaktik der Physik Borowski, Andreas, Dr. Gymnasiallehrer Universität Duisburg-Essen, Didaktik der Physik AG Fischer Reinders Duit, Prof. Dr. Universität Kiel (IPN), Didaktik der Physik Manfred Euler, Prof. Dr. Universität Kiel (IPN), Didaktik der Physik Hans E. Fischer, Prof. Dr. Universität Duisburg-Essen, Graduiertenkolleg „ Naturwissenschaftl. Unterricht“ Helmut Fischler, Prof. Dr. FU Berlin, Didaktik der Physik Alfred Forchel, Prof. Dr. Universität Würzburg, Physikalisches Institut Thomas Gessner, Gymnasiallehrer Gymnasium Hößbach und Didaktik der Physik Universität Würzburg Raimund Girwidz, Prof. Dr. PH Ludwigsburg , Physik und Physikdidaktik Ellen Guenther, Grundschullehrerin Grundschule Rothenbuch Johannes Günther, Dr. Gymnasiallehrer Gymnasium Karlstadt German Hacker, Dr. 1. Bürgermeister der Stadt Herzogenaurach (ehem. Seminarlehrer Gymnasium) Herzogenaurach Peter Häußler, Prof. Dr. Kiel Helmut Hilscher, Prof. Dr. Barbing b. Regensburg Alexander Kauertz, Prof. Dr. PH Weingarten, Physik und Physikdidaktik Ernst Kircher, Pof. Dr. Würzburg Josef Küblbeck, Dr. Seminarleiter Gymnasium Gymnasium Ludwigsburg
XX Peter Labudde, Prof. Dr. PH Basel/ Schweiz Daniela Lieb, Realschullehrerin Realschule Hößbach Volkhard Nordmeier, Prof. Dr. FU Berlin, Didaktik der Physik Wolfgang Reusch, Akad. Direktor Universität Würzburg, Physikalisches Institut Joachim Schlichting, Prof. Dr. Universität Münster, Didaktik der Physik Thomas Wilhelm, Dr. Gymnasiallehrer Universität Würzburg, Didaktik der Physik Rita Wodzinski, Profin Dr. Universität Kassel, Didaktik der Physik
Autorenverzeichnis
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Ernst Kircher
0 Einführung: Was ist Physikdidaktik? Sie haben sich entschlossen Physiklehrer zu werden und kommen nun mit einem Fach, der Physikdidaktik in Berührung, das Sie in der Schule nur auf implizite Weise kennen gelernt haben, nämlich durch die Art und Weise, wie Ihre Lehrer Physik unterrichtet haben. Als Motto beginnen wir mit zwei Aussagen, die sich an Zitaten des Pädagogen v. Hentig (1966) orientieren: Die Physik bietet keine Hilfen für die Unverständlichkeiten, die sie erzeugt. Eine Physikdidaktik, die nicht dienen wollte, wäre ein Unsinn. 1. Lassen Sie mich zuerst den Ausdruck Physikdidaktik etwas näher charakterisieren in einer für die Universität typischen Weise: Man zerlegt ein „Ding“ in seine Bestandteile. In unserem Falle ist das „Ding“ keine chemische Substanz, kein physikalisches Objekt, kein Lebewesen, sondern ein Begriff. Diesen zerlegen wir, um dadurch zu einem ersten Verständnis des Ausdrucks „Physikdidaktik“ zu kommen, nämlich durch die Fragen: „Was ist Physik?“, „Was ist Didaktik?“. Ich möchte aber ausdrücklich hervorheben, dass durch diese Zerstückelungstaktik der Ausdruck „Physikdidaktik“ nicht vollständig erklärt wird. Für ein vorläufiges Verständnis mag uns diese Methode genügen; im Allgemeinen gilt aber, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile. 2. Sicher sind Sie auch daran interessiert zu erfahren, was im Verlauf der Vorlesung „Physikdidaktik – eine Einführung“ auf Sie zukommt: In Kap. 1 geht es um die Begründung des Physikunterrichts, um seine gegenwärtige und künftige Bedeutung für den Einzelnen und für die Gesellschaft. Die Begründungen hängen daher von Weltbildern und Lebensstilen von Einzelnen und der Gesellschaft ab. Die folgenden Kapitel betreffen Ihren Beruf im engeren Sinne. Die Kapitel 2 bis 7 sollen zu Ihrer Professionalität als Physiklehrerin und als Physiklehrer beitragen. Es werden Grundkenntnisse und Grundfertigkeiten Ihres Berufs thematisiert.
4 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81 82 83 84 85 86
0 Einführung: Was ist Physikdidaktik?
0.1 Was ist Physik? „Es gibt keine völlig eindeutige Definition darüber, was Physik ist oder welche Gebiete zur Physik gehören und welche nicht“ (v. Oy 1977, 5). Eine nahe liegende Antwort auf diese Frage lautet: Physik ist, was die Physiker tun. Da Ihre Ausbildung zum Physiklehrer hauptsächlich in einem physikalischen Institut (Department) erfolgt, können Sie das vor Ort authentisch erfahren. Sie können aufgrund der Spezialisierung in der Physik ganz unterschiedliche Erfahrungen machen. Dabei können sich auch folgende Fragen stellen: Dürfen Physiker arbeiten was und wie sie wollen? Was ist das Ziel dieser Tätigkeiten? Gibt es ein immer wiederholbares Schema für diese Tätigkeiten, eine genau festgelegte Methode der Physik? Warum sind die Tätigkeiten so wie sie sind? Könnten sie auch andersartig sein? Kann man zwischen Physik und „Nichtphysik“ unterscheiden? Wie zuverlässig ist physikalisches Wissen? Eine oberflächliche Klassifizierung, die Sie durchgängig in allen physikalischen Instituten antreffen würden, mag auch für eine erste Antwort auf die obige Frage genügen, nämlich die Unterscheidung zwischen theoretischer und experimenteller Physik. Theoretische Physik
1. Die theoretische Physik befasst sich mit der „Beschreibung“, „Erklärung“, „Prognose“ von raum-zeitlichen Änderungen von physikalischen Objekten. Das bedeutet das Entwerfen, den Aufbau, Ausbau und Präzisierung, die Änderungen, Vereinfachungen und Erläuterungen, die Konsistenzprüfungen von physikalischen Theorien. Anstatt „physikalische Theorie“ verwendet man auch die Ausdrucksweise: Das begriffliche System der Physik „beschreibt“, „erklärt“, „prognostiziert“, „systematisiert“ die raum-zeitlichen Änderungen von physikalischen Objekten. Dazu werden Begriffe und Begriffszusammenhänge, z. B. Theorien, Gesetze, Regeln, Axiome, Konstanten verwendet. Ein Problem für das Lernen der Physik ist dabei, dass Begriffe wie „Arbeit“ oder „Kraft“, die ursprünglich der Umgangssprache entstammen, in der Physik häufig eine andere, vor allem auch eine präzisere Bedeutung haben. Ein wichtiges Hilfsmittel insbesondere der theoretischen Physik ist die Mathematik. Natürlich werden heutzutage für die häufig sehr schwierigen und langwierigen Berechnungen für das prognostizierte Verhalten von physikalischen Objekten Computer eingesetzt. Etwas vereinfachend kann man sagen: Die theoretische Physik entwirft, prüft und entwickelt das
0.1 Was ist Physik? 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 100 101 102 103 104 105 106 107 108 109 110 111 112 113 114 115 116 117 118 119 120 121 122 123 124 125 126 127 128 129
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begriffliche System der Physik. Ihr wichtigstes Handwerkszeug ist die Mathematik. 2. Theoretische Physiker arbeiten eng mit Experimentalphysikern zusammen. In der Experimentalphysik werden Experimente konzipiert, (z. T. in Zusammenarbeit mit Theoretikern), komplexe Versuchsanordnungen aufgebaut, für den Betrieb vorbereitet, (wie z. B. das Evakuieren von Messräumen), Messgeräte kontrolliert, beobachtet, Messdaten ausgedruckt, auf verschiedene Weisen dargestellt und interpretiert, kritisch überprüft, verworfen, nach Fehlern gesucht, Alternativen entwickelt für den Versuchsaufbau, für die Interpretation der Daten wird das Experiment wiederholt. Um immer genauer zu messen, um noch kleinere, noch komplexere Objekte zu untersuchen, sind für die Experimente der aktuellen Forschung modernste technische Geräte gerade gut genug; aber selbst diese reichen nicht immer aus, sondern es müssen häufig noch genauere, leistungsfähigere Geräte entwickelt werden.
Experimentalphysik
Wir fassen zusammen: Experimentalphysiker und theoretische Physiker entwickeln die methodische Struktur der Physik, entwerfen und sichern die begriffliche Struktur der Physik und schaffen die Grundlagen für technische Anwendungen der Physik.
Methodische Struktur der Physik
3. Durch diese Erläuterungen ist noch vieles über Physik offen geblieben: Was ist eigentlich ein physikalisches Objekt, was eine physikalische Theorie, ein Experiment? Wie unterscheiden sich eine physikalische Definition (z. B. elektr. Widerstand: R = U/I) von einem physikalischen Gesetz (z. B. ohmsches Gesetz: I = U/R für R = const.)? Wie ist die Physik aufgebaut? Welche Bedeutung hat die Physik für die Gesellschaft, für das Individuum? Dürfen Naturwissenschaftler erforschen und entwickeln, was sie wollen? Wie unabhängig ist die naturwissenschaftliche Forschung?
Begriffliche Struktur der Physik
Der bekannte Physikdidaktiker Martin Wagenschein fragte außerdem: „Was verändert sich durch Physik? Wie verändern wir, indem wir sie hervorbringen, das Natur-Bild, und wie verändern wir uns dabei selber? Was tut Physik der Natur an und was uns?“ (Wagenschein 19764, 12). Ich möchte diese auch heute noch hochaktuellen Fragen vorläufig zurückstellen, aber ich verspreche Ihnen, dass ich auch versuche, auf solche Fragen eine Antwort zu geben (s. Kap. 1.3, 1.4).
6 130 131 132 133 134 135 136 137 138 139 140 141 142 143 144 145 146 147 148 149 150 151 152 153 154 155 156 157 158 159 160 161 162 163 164 165 166 167 168 169 170 171 172
0 Einführung: Was ist Physikdidaktik?
0.2 Was ist Didaktik? Der Ausdruck „Didaktik“ entstammt dem pädagogischen Bereich. „Didaktik im weiteren Sinne“ beschäftigt sich mit dem Sinn von Lehren und Lernen. Sie beschreibt und reflektiert außerdem historische Schulmodelle und auch die Konzeption neuer Entwürfe für schulisches Lernen aufgrund von gesellschaftlichen Veränderungen, seien diese durch Änderungen der Lebensgrundlagen oder durch politische oder technische Entwicklungen bedingt. Wenn Sie bereits mit dem erziehungswissenschaftlichen Studium begonnen haben, sind diese und die folgenden Bemerkungen hierüber nur vereinfachende Zusammenfassungen.
Didaktik im weiteren Sinne
1. Bei der folgenden Abb. 0.1 geht es nicht um die Bedeutung dieser vielen Ausdrücke im Umfeld von Pädagogik, sondern in erster Linie um die Frage: Wie hängen diese pädagogischen Ausdrücke zusammen?
PÄDAGOGIK Historisch-systematische Rekonstruktion von Erziehungswirklichkeit
DIDAKTIK im weiteren Sinne Theorie der Bildungsinhalte und des Lehrplans; Wissenschaft vom Lehren und Lernen
DIDAKTIK im engeren Sinne
METHODIK
empirische
Theorie der Bildungsaufgaben, -inhalte und -kategorien, ihres Bildungssinns und ihrer Auswahlkriterien
Frage nach den pädagogischen Wegen, Methoden und Formen der Medien
UNTERRICHTSFORSCHUNG
Allgemeine Didaktik
Physikdidaktik im weiteren Sinne
Lehr-/ Lernforschung
Allgemeine Methodenlehre
FACHWISSENSCHAFTEN als Bezugsdisziplinen Germanistik
Chemie
Physik
Theologie
Ökologie
Kunst
Musik
u.s.w.
Abb. 0.1: Physikdidaktik und Pädagogik (nach Jank & Meyer 1991)
0.2 Was ist Didaktik? 173 174 175 176 177 178 179 180 181 182 183 184 185 186 187 188 189 190 191 192 193 194 195 196 197 198 199 200 201 202 203 204 205 206 207 208 209 210 211 212 213 214 215
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Dieser Abbildung folgend, schließt der Begriff „Pädagogik“ auf der nächsten unteren Ebene die „Didaktik im weiteren Sinne“ ein. Es folgt dann eine weitere Auffächerung in die beiden wichtigen Unterbegriffe „Didaktik im engeren Sinne“ und „Methodik“. Diese implizieren auf der 4. Ebene die Fachdidaktik und Fachmethodik, in unserem Falle die Physikdidaktik und Physikmethodik.
Didaktik im engeren Sinne
In der Abb. 0.2 ist dargestellt, was im Folgenden unter „Physikdidaktik im weiteren Sinne“ verstanden wird: Naturwissenschafts didaktik
Physikdidaktik im weiteren Sinne
Physikdidaktik im engeren Sinne und Physikmethodik
• • •
Physikdidaktische Unterrichtsforschung
Physikdidaktik und Methodik der Primarstufe (Grundschule) der Sekundarstufe I (Hauptschule, Realschule, Gymnasium) der Sekundarstufe II (Kollegstufe)
Abb. 0.2: Physikdidaktik im weiteren Sinne Das bedeutet, dass diese „Physikdidaktik“ für Lehrkräfte der Primarstufe, insbesondere für die der Sekundarstufe I (Hauptschule, Realschule, Gymnasium) und der Sekundarstufe II relevant ist. Außerdem kann diese „Physikdidaktik“ für „Naturwissenschaftlichen Unterricht“ und die Ausbildung von Naturwissenschaftslehrern herangezogen werden. 2. Fachwissenschaften, wie die Physik, gehen in dieser Betrachtung als „Bezugswissenschaften“ in die Fachdidaktiken ein. Die „Physikdidaktik“ gehört nach dieser Klassifikation zur Pädagogik bzw. zu den Erziehungswissenschaften. Sie bezieht sich „nur“ auf die Physik. Das bedeutet, dass solide Physikkenntnisse als Grundlage physikdidaktischer Tätigkeiten (Überlegungen, Entscheidungen, Handlungen) bei jedem Physiklehrer verfügbar sein müssen.
Physik ist die wichtigste Bezugswissenschaft der Physikdidaktik
3. Zur Unterscheidung von Didaktik (i. e. S.) und Methodik möchte ich Ihnen die gleiche sehr vereinfachende Formulierung mit auf Ihren Weg als zukünftige Lehrer geben, die bei mir in meiner Lehrerausbildung erfolgreich war: Die Didaktik (i. e. S.) befasst sich mit
Implikationszusammenhang von Didaktik und Methodik
8 216 217 218 219 220 221 222 223 224 225 226 227 228 229 230 231 232 233 234 235 236 237 238 239 240 241 242 243 244 245 246 247 248 249 250 251 252 253 254 255 256 257 258
0 Einführung: Was ist Physikdidaktik? dem „Was“, d. h. mit Zielen und Inhalten, die Methodik mit dem „Wie“, d. h. den möglichen „Wegen“ des Unterrichts, den Methoden und Medien. In der traditionellen Auffassung bestimmen die Ziele und Inhalte die Methoden und Medien. Heutzutage ist man der Auffassung, dass zwischen Didaktik und Methodik ein enger Zusammenhang besteht; man verwendet dafür auch den Ausdruck „Implikationszusammenhang“. Wie in Kap. 4 und 5 noch näher ausgeführt ist, gibt es auch „Methoden“ (z. B. Gruppenunterricht) und „Medien“ (z. B. Computer), die bestimmte wichtige Ziele einschließen. In solchen Fällen bestimmen die Methoden und Medien die physikalischen Inhalte, d. h. die traditionelle pädagogische Auffassung wird in solchen Fällen auf den Kopf gestellt.
0.3 Physikdidaktik: Forschung und Lehre über Physikunterricht Bezugswissenschaften aus den Naturwissenschaften
1. Der Physikunterricht berührt mehr als die Physik; offensichtlich werden im Physikunterricht auch technische Themen behandelt. Manchmal werden Fachdisziplinen wie Biologie, Chemie, Meteorologie, Astronomie tangiert; das geschieht insbesondere dann, wenn man Projekte im Unterricht durchführt. Diese sind typischerweise interdisziplinär, d. h. zwischen verschiedenen Disziplinen angesiedelt und damit auch das Fach überschreitend.
Bezugswissenschaften aus den Geistes- und Erziehungswissenschaften
Aber auch ohne Projekte und ohne integrierten naturwissenschaftlichen Unterricht, d. h. im ganz „normalen“ Physikunterricht reicht die Physik allein nicht aus. Manchmal wird die Geschichte der Physik mit einbezogen. Um etwas „über“ die Physik zu sagen, benötigt der Physiklehrer erkenntnis- und wissenschaftstheoretisches Wissen. Außerdem gibt es Bezüge zur Pädagogik, zur Psychologie und zur Soziologie (wie Ihnen aufgrund Ihrer erziehungswissenschaftlichen Studien bekannt ist). Aufgrund dieser Zusammenhänge mit einer Vielzahl anderer Fächer spricht man von der Physikdidaktik als einer interdisziplinären Wissenschaft.
Physikdidaktik ist eine interdisziplinäre Wissenschaft
Die Einflüsse dieser Bezugswissenschaften können recht unterschiedlich sein. Im Allgemeinen kann man davon ausgehen, dass Physik, Technik, Pädagogik, Philosophie, Soziologie und Psychologie von besonderer Bedeutung für die Physikdidaktik sind.
0.3 Physikdidaktik: Forschung und Lehre über Physikunterricht 259 260 261 262 263 264 265 266 267 268 269 270 271 272 273 274 275 276 277 278 279 280 281 282 283 284 285 286 287 288 289 290 291 292 293 294 295 296 297 298 299 300 301
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Abb. 0.3: Naturwissenschaftliche Bezugswissenschaften der Physikdidaktik Wie bereits angedeutet, können etwa bei Unterrichtsprojekten beliebige thematische Bereiche aus anderen Disziplinen, z. B. aus der Medizin oder den Rechtswissenschaften, eine ebenbürtige, prinzipiell sogar eine dominierende Rolle für eine gewisse Zeit spielen (schulpraktisches Beispiel: Projekt „Nutzung der Kernenergie“). Mit diesen Aussagen habe ich vermutlich Ihre bisherigen Vorstellungen über Physikunterricht ausgeweitet. Ich möchte meine Auffassung deutlich artikulieren: • ein zeitgemäßer Physikunterricht ist auch fachüberschreitend, • allgemeine didaktische und methodisch-psychologische Überlegungen bestimmen den Unterricht gleichermaßen wie das Fach Physik. 2. Nicht immer waren Physikdidaktiker dieser Auffassung. So schrieb beispielsweise Grimsehl (1911, 2) in seiner „Didaktik und Methodik der Physik“, dass „die naturwissenschaftliche Forschungsmethode … auf jeder Stufe des Physikunterrichts das Vorbild für die Unterrichtsmethode“ sein soll. Der Physikunterricht sollte also ein vereinfachtes Abbild der Physik sein, nicht nur hinsichtlich der Inhalte, sondern auch hinsichtlich der Methode. Die Dominanz des Faches Physik reicht etwa im Gymnasium und z. T.
Drei Perspektiven des Physikunterrichts
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0 Einführung: Was ist Physikdidaktik? auch in der Realschule bis in den heutigen Physikunterricht, auch wenn den derzeitigen Lehrplänen der Realschule und des Gymnasiums zeitgemäßere Auffassungen über den Physikunterricht zugrunde liegen.
Die fachliche „Brille“ genügt nicht mehr
Aber diese Betrachtung durch eine fachliche „Brille“ genügt heutzutage nicht mehr. Denn aus der fachlichen Perspektive allein kommt dem Physikunterricht nur die Bedeutung zu, Physik als eine Art Kulturgut zu vermitteln, ähnlich wie Musik, Malerei oder klassische Gedichte. Staat und Gesellschaft haben ein berechtigtes Interesse für den Fortbestand unserer technikorientierten Zivilisation, aber auch für eine intakte Umwelt für die gegenwärtige Generation und vor allem für die künftige.
Die gesellschaftliche „Brille“
Durch die gesellschaftliche „Brille“ bilden sich neue didaktische Schwerpunkte und neue Ziele des Physikunterrichts. Damit ändern sich auch die Methoden, weil die neuen Ziele komplexere Fragestellungen behandeln und nicht nur physikalisches Wissen vermitteln oder physikalische Probleme lösen sollen. Gesellschaftliche Fragen unserer Zeit sollen mit naturwissenschaftlichem Hintergrundwissen erörtert werden; damit sind zum Beispiel auch Verhaltensänderungen im Zusammenhang mit dem Umweltschutz intendiert.
Die pädagogische „Brille“
Sie sollen als künftige Lehrerin bzw. künftiger Lehrer noch eine dritte Perspektive einnehmen, wenn Sie Physik unterrichten; es ist die pädagogische. Der bereits eingangs erwähnte Martin Wagenschein (19764) hat hierauf besonders in seinem Buch: „Die pädagogische Dimension der Physik“ aufmerksam gemacht. Diesen Titel ein wenig verändernd spreche ich von der „Pädagogischen Dimension des Physikunterrichts“ (Kircher 1995). Was ist damit gemeint? Wenn ein Lehrer, was gelegentlich vorkommen soll, nur eine fachliche „Brille“ zur Verfügung hat, vergisst er die Schüler, die Kinder, die Jugendlichen, die Heranwachsenden. Für diese muss der Physiklehrer mehr sein als ein sprechendes Physikbuch und ein experimentierender Roboter. Er muss Physik und physikalische Kontexte allen Schülern erklären können, trotz unterschiedlicher Lernvoraussetzungen und Interessen der Schüler einer Klasse. Er muss physikalische Gespräche, Diskussionen zwischen den Schülern anregen und moderieren können. Wagenschein hat dafür den Ausdruck „genetisch unterrichten“ geprägt. Das ist freilich noch nicht alles, was die pädagogische Dimension des Physikunterrichts charakterisiert. Der Lehrer muss die Schüler in ihren Schulleistungen, aber auch in ihrem alltäglichen Verhalten gegenüber Mitschülern und der Klassengemeinschaft gerecht beurteilen, Zwistigkeiten schlichten, in gewisser
0.3 Physikdidaktik: Forschung und Lehre über Physikunterricht 345 346 347 348 349 350 351 352 353 354 355 356 357 358 359 360 361 362 363 364 365 366 367 368 369 370 371 372 373 374 375 376 377 378 379 380 381 382 383 384 385 386 387
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Hinsicht auch Vorbild für die Schüler sein. Selbst private Probleme sind nicht tabu für den verständnisvollen, hilfsbereiten Lehrer, trotz der latenten Problematik von Privatem zwischen Lehrer und Schüler. 4. Während Sie als Lehrer oder Lehrerin die fachliche bzw. die gesellschaftliche „Brille“ mal aufsetzen, mal absetzen können, sollten Sie versuchen, die pädagogische Brille während der ganzen Zeit aufzubehalten, in der sie unterrichten. Während des Studiums und während der Referendarzeit sollte die pädagogische Perspektive zu einer Grundeinstellung jedes Lehrers werden. Man sollte sie in einer Klasse auch in solchen Situationen beibehalten, wo dies sehr schwer fällt.
Die pädagogische „Brille“ sollte ein Lehrer nie absetzen
Ich betone dies hier, weil insbesondere künftige Naturwissenschaftslehrer durch ihr intensives Fachstudium in Gefahr sind, die pädagogische Dimension des Physikunterrichts aus den Augen zu verlieren. Man kann von einer subjektorientierten Physikdidaktik sprechen, in der im Allgemeinen die lernenden Kinder und Jugendlichen im Mittelpunkt stehen – nicht etwa die Physik.
Subjektorientierte Physikdidaktik
5. Ich habe in dieser „Einführung“ noch nicht über die physikdidaktische Forschung gesprochen. Ich möchte es bei einigen wenigen Bemerkungen und Beispielen bewenden lassen, weil Sie sich erst im 5. und 6. Semester gedanklich mit ihrer Zulassungsarbeit und damit mit der Frage beschäftigen werden: In welchem Fach fertige ich die Zulassungsarbeit an?
Physikdidaktische Forschung
In der Physikdidaktik bieten sich eine ganze Reihe von attraktiven Themenstellungen an, z. B.: • Fachlich/gesellschaftlich orientierte Projekte im PhU (z. B. „Alternative Energie“, „Lärm und Lärmschutz“, „Farben“...) • Elementarisierung neuer physikal. Theorien/ neuer techn. Geräte z. B. „Chaostheorie“, „Moderne Astrophysik“, „Computer im PhU“, „Moderne Kamera“, „Laser“...) • Lernvoraussetzungen, Einstellungen und Interessen der Schüler (empirische Untersuchungen über Alltagsvorstellungen...) • Konzeption von Unterrichtseinheiten und Analyse im Unterricht (Projekte, Lernzirkel, Spiele, Elementarisierungen neuer Fachinhalte (z.B. der modernen Physik)…) • Wirkungen von Medien im PhU (empirische Untersuchungen über Computer, Schulbuch, spezifische Schulexperimente, Analogien) Die Ergebnisse der physikdidaktischen Forschung werden in Zeitschriften und wissenschaftlichen Buchreihen publiziert, die von Kolleginnen und Kollegen herausgegeben werden.
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Zeitschriften im deutschsprachigen Raum
0 Einführung: Was ist Physikdidaktik? Zeitschriften im deutschsprachigen Raum: • „Naturwissenschaften im Unterricht-Physik“ (NiU Physik): vorwiegend Sekundarstufe I • „Praxis der Naturwissenschaften Physik - Physik in der Schule“ (PdN-PhiS): beide Sekundarstufen und Primarstufe • „Der mathematisch naturwissenschaftliche Unterricht“ (MNU): Gymnasium, Realschule, seit 2009 auch Primarstufe • „Zeitschrift für die Didaktik der Naturwissenschaften“ (ZfDN): Naturwissenschaftsdidaktische Forschung (Theorie und Empirie) • Der Physikunterricht (1984 eingestellt) • Physica didactica (1991 eingestellt) • Physik und Didaktik (1994 eingestellt) • PhyDid: Internetzeitschrift der DPG (http://www.phydid.de) Zur Professionalität eines Lehrers gehört, aktuelle Forschungsbeiträge und Diskussionen der Physikdidaktik zu kennen. Diese finden Sie ausführlich in publizierten Dissertationen und Habilitationen, (z.B. in der von H. Niedderer, H. Fischler & E. Sumfleth herausgegebene Reihe „Studien zum Physik- und Chemielernen“).
Wissenschaftliche Buchreihe
Natürlich wäre es auch wünschenswert, dass Sie während Ihres Studiums auch den internationalen Stand der Forschung über den Physikunterricht verfolgen würden. Die folgenden englischsprachigen Zeitschriften sind leider nicht an allen Universitäten zugänglich:
Internationale Zeitschriften
• • • • •
Physics Education The Physics Teacher International Journal of Science Education Science Education Journal of the Research in Science Education
• Science & Education
0.4 Studienziele – physikdidaktische Kompetenzen 1. Im Zuge der Studienreformen an Hochschulen der Länder der Europäischen Union (sogenannter „Bologna – Prozess“) sollen auch die Studienpläne für die Lehrerbildung bis spätestens 2011 umgestellt sein. Lehrveranstaltungen sind nun aufeinander aufbauende „Module“, die je nach zeitlichem Umfang mit einer bestimmten Anzahl von Punkten („credit points“) belegt sind. Neu ist dabei auch,
0.4 Studienziele – physikdidaktische Kompetenzen 431 432 433 434 435 436 437 438 439 440 441 442 443 444 445 446 447 448 449 450 451 452 453 454 455 456 457 458 459 460 461 462 463 464 465 466 467 468 469 470 471 472 473
dass jedes Modul mit einer Prüfung abgeschlossen wird; die dabei gezeigte Leistung geht in die Endnote der universitären Prüfung ein. Ein erfolgreiches Lehramtsstudium wird nach 6 Semstern mit dem akademischen Titel BA (Bachelor of Arts) abgeschlossen; nach weiteren 3 Semestern kann der Titel MA (Master of Arts) erworben werden. Man begründet diese Neuausrichtung des Lehramtsstudiums vor allem damit, dass den Studierenden der Lehrämter künftig eine größere Anzahl an Berufsmöglichkeiten erschlossen wird. Aber nicht alle Bundesländer (z.B. Bayern) verzichten aus formalen Gründen (Lehrer sind Landesbeamte) auf die nun eigentlich überflüssige 1. Staatsprüfung (s. Kap.22). 2. Nach den Vorschlägen der Gesellschaft für Fachdidaktik (GFD) (2005) und der Deutschen Physikalischen Gesellschaft (DPG) (2006) hat die Kultusministerkonferenz der Bundesländer (KMK 2008) „Ländergemeinsame inhaltliche Anforderungen für die fachwissenschaften und Fachdidaktiken in der Lehrerbildung“ beschlossen. Für das Lehramtsstudium im Fach Physik bedeutet dies folgendes „Kompetenzprofil von Studienabsolventinnen und -absolventen : Sie „verfügen über die grundlegenden Fähigkeiten für gezielte und nach wissenschaftlichen Erkenntnissen gestaltete Vermittlungs-, Lern- und Bildungsprozesse im Fach Physik. Sie • verfügen über anschlussfähiges physikalisches Fachwissen, das es ihnen ermöglicht, Unterrichtskonzepte und -medien fachlich zu gestalten, inhaltlich zu bewerten, neuere physikalische Forschung in Übersichtsdarstellungen zu verfolgen und neue Themen in den Unterricht einzubringen, • sind vertraut mit den Arbeits- und Erkenntnismethoden der Physik und verfügen über Kenntnisse und Fertigkeiten im Experimentieren und im Handhaben von (schultypischen) Geräten, • kennen die Ideengeschichte ausgewählter physikalischer Theorien und Begriffe sowie den Prozess der Gewinnung physikalischer Erkenntnisse (Wissen über Physik) und können die gesellschaftliche Bedeutung der Physik begründen, • verfügen über anschlussfähiges fachdidaktisches Wissen, insbes. solide Kenntnisse fachdidaktischer Konzeptionen, der Ergebnisse physikbezogener Lehr-Lern-Forschung, typischer Lernschwierigkeiten und Schülervorstellungen in den Themengebieten des Physikunterrichts, sowie von Möglichkeiten, Schülerinnen und Schüler für das Lernen von Physik zu motivieren,
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0 Einführung: Was ist Physikdidaktik? • verfügen über erste reflektierte Erfahrungen im Planen und Gestalten strukturierter Lehrgänge (Unterrichtseinheiten) sowie im Durchführen von Unterrichtsstunden“ (KMK 2008, 30).
Keine Unterschiede der physikdidaktischen Studieninhalte zwischen Sek I und Sek II
Bei den physikdidaktischen Studieninhalten wird im Allgemeinen nicht zwischen dem Studium für das Lehramt der Sekundarstufe I bzw. dem der Sekundarstufe II unterschieden (KMK 2008, 31). 3. Durch dieses Lehrbuch werden beispielsweise folgende Kompetenzen unterstützt: • Fähigkeit zur begründeten Darlegung von Bildungszielen des Physikunterrichts (s. Kap. 1, 25), • Kenntnis und Beurteilung beispielhafter fachdidaktischer Ansätze für die Unterstützung von Lernprozessen (s. Kap. 4, 18), • Fähigkeit zur Auswahl von Medien und Methoden sowie zur Gestaltung von Einsatzkontexten, um fachliche Lernprozesse zu unterstützen (s. Kap. 4, 5, 11, 19), • Fähigkeit zur Elementarisierung und didaktischen Rekonstruktion ausgewählter Fachkonzepte und Erkenntnisweisen (s. Kap.3), • Kenntnis von Standarddefinitionen, von Studien und Methoden zur Erfassung und Beurteilung von Schülerleistungen (s. Kap. 2, 6, 20, 22) Natürlich kann kein Lehrbuch die Übungen in den Seminaren, vor allem nicht die Praktika in den Schulen ersetzen. Diese Physikdidaktik soll Anregungen geben für eine zeitgemäße Lehrerbildung, für das Schulfach Physik und für einen zeitgemäßen Physikunterricht.
Literatur DPG (2006). Thesen für ein modernes Lehramtsstudium im Fach Physik. (Internet April 2009) GFD (2005). Fachdidaktische Kompetenzbereiche, Kompetenzen und Standards frür die 1. Phase der Lehrerbildung (BA + Ma). (April 2009 Internet) Grimsehl, E. (1977). Didaktik und Methodik der Physik. München,1911. Reprint: Bad Salzdetfurth. v. Hentig, H. (1966). Platonisches Lehren. Stuttgart: Klett. Jank, J. & Meyer, H. (1991). Didaktische Modelle. Frankfurt: Cornelsen Scriptor. KMK (2008). Ländergemeinsame inhaltliche Anforderunge für die Fachwissenschaften und Fachdidaktiken in der Lehrerbildung. (Internet April 2009) Niedderer, H., Fischler, H. & Sumfleth, E. (Hrsg.). Studien zum Physik- und Chemielernen. Berlin: Logos Verlag. Kircher, E. (1995). Studien zur Physikdidaktik. Kiel: IPN. v. Oy, K. (1977). Was ist Physik? Stuttgart: Klett. Wagenschein, M. (19764). Die pädagogische Dimension der Physik. Braunschweig: Westermann.
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Ernst Kircher
1 Warum Physikunterricht? Wir beginnen mit einem schwierigen Kapitel, vielleicht dem schwierigsten der Physikdidaktik. Es befasst sich mit der „Begründung“ und „Legitimation“ von Physikunterricht. Es geht um die Fragen: Warum soll man Physik bzw. Naturwissenschaften gegenwärtig und künftig an den Schulen unterrichten? Was will man mit Physikunterricht erreichen? Warum braucht man Sie als Lehrer bzw. Lehrerin für Physik- bzw. für naturwissenschaftlichen Unterricht? Angeregt durch die TIMS- und PISA- Studien (Baumert u.a. 2000a,b; Baumert u.a. 2001; Prenzel u.a. 2004) sind solche Fragen zur Zeit für alle Schulfächer in der Bundesrepublik hochaktuell. Im Folgenden werden die bereits in der einführenden Lektion erwähnten fachlichen, gesellschaftlichen und pädagogischen Gründe näher ausgeführt werden, die für Physikunterricht an den allgemeinbildenden Schulen sprechen (s. dazu Muckenfuß 1995; Braun 1998; Jung 19992; Mikelskis 2006). Zunächst werden die traditionellen Begründungen kurz gestreift, die in Deutschland vor allem auf der Bildungstheorie, in den USA auf dem philosophischen Pragmatismus basieren (Abschnitt 1.1). Aufgrund von Anmerkungen über die gegenwärtige Physik (Abschnitt 1.2), über Änderungen in der Gesellschaft (Abschnitt 1.3) und über Akzentverschiebungen in den pädagogischen Auffassungen über Bildung und Erziehung (Abschnitt 1.4) werden aktuelle Eckpunkte für den Physikunterricht skizziert (1.5). Das Ziel dieser Überlegungen ist eine zeitgemäße Begründung des Physikunterrichts als eine zentrale Aufgabe einer zeitgemäßen Physikdidaktik. Diese Begründungen sollen auch Sie davon überzeugen, dass der Physikunterricht gegenwärtig wichtig ist und auch künftig wichtig sein wird: Mit diesem Hintergrund wird Ihr künftiger Beruf mehr als nur ein beliebiger Job. In der folgenden Abbildung sind die theoretischen Ausgangspunkte dieser „Physikdidaktik“ schematisch dargestellt.
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1 Warum Physikunterricht?
1.1 Bildungstheoretische und pragmatische Begründungen – ein Rückblick 1.1.1 Zur Bildungstheorie und zu ihrem Einfluss auf den Physikunterricht „Fachdidaktik ohne Beziehungen zur Bildungstheorie müsste ein Torso bleiben, da sie in solcher Isolierung ihr eigentliches, nämlich ihr pädagogisches Thema gar nicht zu Gesicht bekäme“ (Klafki 1963, 90). Die Bildungstheorie ist ein deutsches Kind mit europäischen Eltern. Sie ist in den Epochen der Aufklärung und des Neuhumanismus zu Beginn des 19. Jahrhunderts entstanden. Zu ihren geistigen Vätern zählen Platon, Rousseau und Kant im weiteren Sinne, der Bildungspolitiker Wilhelm v. Humboldt und der Pädagoge Friedrich Schleiermacher im engeren Sinne. Die Bildungstheorie hat im Verlaufe ihrer fast zweihundertjährigen Geschichte vielerlei Deutungen und Missdeutungen erfahren; aber sie lebt immer noch.
W. v. Humboldt (1767 – 1835) Individualität, Totalität, Universalität
Die Naturwissenschaften führten in den Gymnasien ein Schattendasein.
1. Wir beginnen mit W. v. Humboldts (1767-1835) Auffassung von „Bildung“. Sein Menschenbild ist, typisch für die Zeit um 1800, an der idealisierten und glorifizierten Antike orientiert – „Jeder sei auf seine Art ein Grieche, aber er sei’s“ (Goethe) – mit seiner edlen, hilfsbereiten, moralisch hervorgehobenen Persönlichkeit („Edel sei der Mensch, hilfreich und gut“ (Schiller)). Dieser Mensch ist vernunftgeleitet, souverän im Denken und Handeln, klassisch-universell gebildet. Trotz dieser vielseitigen Kenntnisse, die als eine „vielgliedrige Ganzheit, eine Totalität“ (Reble 199418, 194) anzusehen sind, verfügen diese überragenden Menschen auch über spezifische Schwerpunkte entsprechend ihren natürlichen Fähigkeiten und darüber hinaus über universelle Bildung. Vereinfachend und unterschiedliche Auffassungen im Detail etwa zwischen v. Humboldt und Schleiermacher negierend, sollen die drei Begriffe: Individualität, Totalität, Universalität, für die Grundlage der klassischen Bildungstheorie stehen. Entsprechend den griechischen Vorbildern, niedergelegt etwa in den Schriften des Philosophen Platon, sollten auch die Kinder und Jugendlichen der Neuzeit erzogen werden. Bei dieser Verherrlichung der antiken Welt wundert es nicht, dass sich die „Bildung“ durch die Beschäftigung mit den alten Sprachen (Griechisch und Latein) und den entsprechenden antiken Kulturen vollzog. Die Schüler sollten dadurch zu idealen Menschen heranreifen. Die Naturwissenschaften führten daher in den Gymnasien ein Schattendasein: Man benötigte sie nur wegen der angestrebten universellen Bildung ein wenig; für die Erziehung edler Menschen waren sie überflüssig. Die selbstbestimmte moralische Verantwortlichkeit, die
1.1 Bildungstheoretische und pragmatische Begründungen – ein Rückblick 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 100 101 102 103 104 105 106 107 108 109 110 111 112 113 114 115 116 117 118 119 120 121 122 123 124 125 126 127 128 129
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moralische Handlungsbereitschaft und Handlungsfähigkeit – zentrale Forderungen der bildungstheoretischen Klassiker (s. Klafki 19965, 30 f.), konnten angesichts des erst beginnenden Einflusses der Naturwissenschaften auf die Umwelt und die Gesellschaft auch ohne gründliche Beschäftigung mit den „Realien“ als möglich erscheinen. Allerdings unterschied sich auch damals zu Beginn des 19. Jahrhunderts wie heute die pädagogische Theorie von der pädagogischen Praxis. Das schulpraktische Geschehen verlief ‚realistischer‘, „als es angesichts der formgebundenen pädagogischen Grundanschauungen des Neuhumanismus im Schulwesen hätte überhaupt eintreten können“ (Schöler 1970, 88). Dieser latente Konflikt führte z. B. in Preußen im Jahre 1832 zur Aufspaltung in „humanistische Gymnasien“ und „Realgymnasien“ (Oberrealschulen). Das Abitur der Realgymnasien wurde aber erst 1900 als gleichberechtigt für den Zugang zu Universitäten anerkannt (s. Willer 1990, 194 f.). In den Volksschulen wird die Bildungstheorie naturgemäß kaum durch die Überbewertung alter Sprachen und Kulturen beeinflusst. Zwar gleichen die allgemeinen Ziele in wesentlichen Punkten denen des Gymnasiums, aber der Weg für die intellektuelle, die religiössittliche und körperliche Ausbildung versteift sich nicht auf den Umgang mit der Antike. Nach Pestalozzis (1746 – 1827) Auffassung enthielt die nächste Umgebung des Schülers alle wesentlichen Elemente für die „Harmonie der Bildung beider Geschlechter in Hinsicht auf’s allgemein Menschliche, Geistige, Gemüthliche, Sittliche und Religiöse“ (zit. nach Schöler 1970, 134). Die Stärkung der „geistigen Kräfte“ bilden auch den Kern seiner pädagogischen Auffassungen. Die heutzutage im Zusammenhang mit der Entwicklungshilfe für die Länder der 3. Welt verwendete Formulierung „Hilfe zur Selbsthilfe“ trifft Pestalozzis Intentionen für die Waisenkinder, die er in seinen Modellschulen in der Schweiz unterrichtete. Sein methodisches Prinzip „mit Herz, Kopf und Hand“ hätte auch zu einem gründlichen Umgang mit den Dingen führen können. Aber seine „Elementarmethode“, eine aus heutiger naturwissenschaftsdidaktischer Sicht unverständlich naive Auffassung über die Realität, führte schon zu Lebzeiten Pestalozzis zu Kontroversen (s. Schöler 1970, 135 ff.). Denn das sinnvolle „Prinzip der Anschauung“ blieb in Pestalozzis Interpretation an der Oberfläche der Objekte: Pestalozzi hielt durchgängig für alle naturwissenschaftlichen Fächer die Form, die Zahl und den sprachlichen Ausdruck für relevant und hinreichend. Die mit Hilfe von Experimenten erforschten raum-zeitlichen Änderungen eines physikalischen Systems blieben ebenso außerhalb
Preußen (1832): „humanistische Gymnasien“ und „Realgymnasien“
Pestalozzis (1746 – 1827) methodisches Prinzip: „mit Herz, Kopf und Hand“
Prinzip der Anschauung bleibt an der „Oberfläche“
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1 Warum Physikunterricht? seines Blickwinkels, wie die Frage nach dem „Warum“ der beobachteten Phänomene.
Vorläufige Zusammenfassung
Vorläufige Zusammenfassung: In den Anfängen der Bildungstheorie wird nach idealisierten antiken Vorbildern ein allseitig gebildeter, ausgeglichener Mensch mit spezifischen Schwerpunkten gefordert. Er soll im Hinblick auf die Gesellschaft auch verantwortungsbewusst, handlungsbereit und handlungsfähig sein. Aus unterschiedlichen Gründen spielen bei den Leitfiguren der klassischen Bildungstheorie, W. v. Humboldt und Pestalozzi, die Naturwissenschaften weder für die Gymnasien noch für die Volksschulen eine wesentliche Rolle.
Formale Bildung Materiale Bildung
2. Die mit der Bildungstheorie neu begonnene Diskussion um Begründungen und damit zusammenhängend um Ziele allgemeinbildender Schulen setzte den Schwerpunkt auf die Entwicklung der im Menschen angelegten Fähigkeiten. Man sprach von „formaler Bildung“ (s. Kerschensteiner 1914; Lind 1996). Dagegen spielten Kenntnisse von Fakten, von Gesetzmäßigkeiten in der Natur und die Erklärung theoretischer Zusammenhänge eine geringe Rolle. Diese „materiale Bildung“ galt zu Beginn des 19. Jahrhunderts zumindest in den Gymnasien als ungeeignet für die „wahre Bildung“, als zweitklassig, weil sie mit Berufsausbildung, Geld verdienen, mit Alltäglichem und Nützlichem in Verbindung stand. Diese Einstellung der für die gymnasiale Schulpolitik Verantwortlichen war in gewisser Weise auch gegen die Naturwissenschaften gerichtet. Heutzutage wird diese Haltung als Versuch des sogenannten Bildungsbürgertums interpretiert, seine gesellschaftliche Stellung gegen das im Zusammenhang mit der beginnenden Industrialisierung entstehende Wirtschaftsbürgertum zu verteidigen (s. Lind 1997, 6 ff.). Der Interessenkonflikt war offensichtlich. Die höheren Verwaltungsbeamten, die Universitäts- und Gymnasiallehrer, die Richter, die das Bildungsbürgertum repräsentierten, benötigten eher formale Fähigkeiten (wie z. B. „Menschenführung“), als naturwissenschaftliche Kenntnisse und deren Anwendung in der Technik. Wie erwähnt wurde diese zum Teil sehr polemisch geführte Auseinandersetzung dadurch zu lösen versucht, dass man das Gymnasium aufspaltete. In den neu entstandenen Oberrealschulen sollten die anders gelagerten Interessen des Wirtschaftsbürgertums berücksichtigt werden durch das Lehren und Lernen der „Realien“. Um den Status dieser „geschlossenen“ Gesellschaft des höheren Berufsbeamtentums zu sichern, verstanden es ihre Mitglieder bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, die Realgymnasien als zweitklassig im Vergleich mit humanistischen Gymnasien darzustellen. Ein deutliches äußeres Zei-
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chen dafür war, dass der erfolgreiche Schulabschluss an einem Realgymnasium keine allgemeine Studierfähigkeit an den Universitäten beinhaltete. Lind (1997, 8) schreibt über die Realgymnasien und über den vorläufigen Ausgang dieses internen Streits der höheren Schulen in den deutschen Ländern: „Aus einem Werkzeug der Emanzipation wurde eine Vorbereitungsschule für niedere Beamte“. Erst im Jahre 1900 wurde durch kaiserlichen Erlass festgelegt, dass die höheren Lehranstalten gleichwertig sind (Schöler 1970, 241). Auch im Hinblick auf die theoretischen Erörterungen der formalen und materialen Bildung durch den naturwissenschaftlichen Unterricht setzten sich bis in unser Jahrhundert die „Philologen“ durch (s. Muckenfuß 1995, 192 ff.), auch wenn man schließlich dem naturwissenschaftlichen Unterricht einen formalen Bildungswert zugestand. Dieses ist insbesondere ein Verdienst von Georg Kerschensteiner. Er argumentierte, dass die Naturwissenschaften besonders geeignet seien, die „Beobachtungskraft“, die „Denkkraft“, die „Urteilskraft“ und die „Willenskraft“ zu fördern. Physikalisches Wissen und seine Anwendung in der Technik wird aber, so scheint es, bis auf den heutigen Tag von manchen „Philologen“ in Gymnasien, Universitäten (s. z.B. Schwanitz 2002) und in Kultusministerien bestenfalls als Hilfsmittel formaler Bildung betrachtet.
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Realgymnasien bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts zweitklassig
Georg Kerschensteiner (1854 – 1932) Methodenbildung
Einen anderen Weg als das Gymnasium ist die Volksschule gegangen. Sie orientierte sich stärker an Schulpraktikern wie Stephani und Diesterweg, die auch über ein besseres Verständnis der Naturwissenschaften verfügten und relevantere Auffassungen über den naturwissenschaftlichen Unterricht vertraten als der große Schweizer Pädagoge Pestalozzi. Man kann sie als Väter des naturwissenschaftlichen Unterrichts der Volksschule bezeichnen. Zwar lesen wir auch bei Stephani (1813, 9 zit. Schöler 1970, 140): Es ist „die selbsttätige Kraft im Menschen zweckmäßig zu entwickeln“. Aber dieses übergeordnete formale Bildungsziel muss sich bei ihm an geeigneten Unterrichtsinhalten vollziehen. Stephani betrachtet daher die Einheit von formaler und materialer Bildung als notwendig. Diese Auffassung trägt mit dazu bei, dass in Stephanis „Erziehungshilfen“ die „Naturlehre“ (dazu gehören u. a. Physik und Chemie) und die „Naturgeschichte“ (u. a. Biologie) als eigenständige Fächer konzipiert sind. Das bedeutete auch die Trennung des naturwissenschaftlichen Unterrichts von dem bis dahin üblichen theologischen Überbau. Über ein weit verzweigtes Netz von Lehrerfortbildungsstätten versuchte Stephani im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts seine Ideen
Stephani: Einheit von formaler und materialer Bildung ist notwendig.
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1 Warum Physikunterricht? in die Praxis der bayerischen Volksschulen einzuführen. Der von ihm maßgeblich beeinflusste Lehrplan von 1806 versuchte „humanistische und realistische Tendenzen sinnvoll miteinander zu verbinden und die historisch überkommenen Lehrinhalte unter Berücksichtigung formaler und materialer Prinzipien zu einer allseitigen Bildung auszuformen“ (Schöler 1970, 174).
Adolf Diesterweg (1790 – 1866)
Menschenbildung durch die naturwissenschaftliche Methode
Bekannter als das Wirken Heinrich Stephanis in Bayern ist das Wirken Adolf Diesterwegs in Preußen. Über die Lehrerausbildung und über seine Schriften reichte sein Einfluss bis in die Schulstuben. Seine didaktischen und methodischen Auffassungen über naturwissenschaftlichen Unterricht fanden auch Eingang in die Gymnasien. Für Diesterweg gilt: In einer von der Technik geprägten Welt gehören naturwissenschaftliche Kenntnisse zur Allgemeinbildung, weil sie Grundlagen dieser Welt darstellen und zum Verständnis dieser Welt beitragen. Naturwissenschaften gehören zum modernen Leben, auf das die Schule vorbereiten soll, ebenso wie die modernen Sprachen. Im Geiste der Bildungstheorie betrachtet Diesterweg die Menschenbildung als höchstes Ziel. Dazu tragen auch die Naturwissenschaften ein spezifisches Element bei: die naturwissenschaftliche Methode. Dieser pädagogische Hintergrund im Zusammenhang mit der naturwissenschaftlichen Methode besitzt auch heutzutage noch Relevanz. V. Hentigs (1966, 30) führte dazu aus: „Die Wissenschaft erzieht durch ihre Methode ... zur Selbstkritik und Objektivität, zu Geduld und Initiative, zu Kommunikation und Toleranz, zur Liberalität und Humanität, zum Aushalten der grundsätzlichen Offenheit des Systems und zu ständigem Weiterstreben“.
Aufschwung des naturwissenschaft lichen Unterrichts zu Beginn des 20. Jahrhunderts
Vorläufiges Fazit: In einer wechselvollen Geschichte konnte sich der naturwissenschaftliche Unterricht bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts in allen Schularten etablieren. Dafür waren gesellschaftlich zivilisatorische Entwicklungen maßgebend, wozu auch der Aufschwung der Naturwissenschaften an den Universitäten und in der Industrie zu zählen ist. Nicht nur Professoren, wie die Physiker Grimsehl und Mach oder der Mathematiker Klein, sondern auch Ingenieure wie Werner v. Siemens traten am Ende des 19. und am Beginn des 20. Jahrhunderts engagiert für einen angemessenen Platz und eine Verbesserung des naturwissenschaftlichen Unterrichts ein. Um 1900 wurde die formale Bildung für wichtiger gehalten als die materiale Bildung. Letztere wird aber im Sinne einer notwendigen Voraussetzung auch für die formale Bildung für unverzichtbar gehalten.
1.1 Bildungstheoretische und pragmatische Begründungen – ein Rückblick 259 260 261 262 263 264 265 266 267 268 269 270 271 272 273 274 275 276 277 278 279 280 281 282 283 284 285 286 287 288 289 290 291 292 293 294 295 296 297 298 299 300 301
3. Eine inhaltliche Erneuerung erfuhr die Bildungstheorie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem durch Theodor Litt und Wolfgang Klafki. Theodor Litt (1959) leistete einen spezifischen, auch heute noch relevanten Beitrag zur Begründung des naturwissenschaftlichen Unterrichts. Philosophisch fundierter als Kerschensteiner setzte sich Litt in den fünfziger Jahren mit „Naturwissenschaften und Menschenbildung“ auseinander. Die von Litt herausgearbeitete Antinomie besagt, dass die naturwissenschaftliche Methode wegen der Forderung nach Objektivität notwendigerweise das Subjekt zurückdrängt, ja ausschließt (s. Litt 1959, 56). Die Strenge der naturwissenschaftlichen Methode führt „weitab vom Menschsein“ (Litt 1959, 113). Andererseits kann die naturwissenschaftliche Methode eine existentielle Bedeutung erlangen: Bei der Suche nach Wahrheit wird der Mensch verwandelt. Die naturwissenschaftliche Methode wird zu einer „mein ganzes Menschentum umgestaltenden Macht“ (Litt 1959, 63). Zur naturwissenschaftlichen Bildung und damit auch zum Physikunterricht gehört wesensmäßig, diese Antinomie zu erkennen. Dazu „bedarf es nun einmal jener Reflexion, die aus dem logischen Kreis heraustritt und sie von höherem Standort aus als Glied des übergreifenden Lebensganzen ins Auge fasst“ (Litt 1959, 93). Gemeint ist die philosophische Reflexion der Naturwissenschaften, im speziellen die erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Reflexion der Physik (s. Kircher 1995, 25 ff.). Für die wohl schon von Stephani vorgedachte Lösung, die von der Einheit der formalen Bildung und der materialen Bildung ausgeht, hat Klafki den Begriff „kategoriale Bildung“ geprägt: „ ‚Bildung‘ ist immer ein Ganzes, nicht nur die Zusammenfügung von ‚Teilbildungen‘ “ (Klafki 1963, 38) formaler und materialer Art. Kategoriale Bildung erfolgt durch „doppelseitige Erschließung“ von allgemeinen das Fach erhellenden Inhalten, an denen die Schüler allgemeine Einsichten, Erlebnisse, Erfahrungen gewinnen ( Klafki 1963, 43 f.). Diese „allgemeinen das Fach erhellenden Inhalte“ erfordern eine sorgfältige Auswahl und eine gründliche Behandlung der beispielhaften Unterrichtsinhalte. Man spricht von „exemplarischem Lernen“ und von „exemplarischem Unterricht“ (s. 4.2). Die allgemeinen Einsichten, Erlebnisse und Erfahrungen gewinnen die Schüler durch „genetischen Unterricht“. Beide Fachausdrücke wurden von Martin Wagenschein in der Physikdidaktik bekannt gemacht und neu interpretiert (s. Wagenschein 1968). Wagenscheins Werk kann als physikdidaktische Interpretation der kategorialen Bildung aufgefasst werden.
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Theodor Litt (1880 – 1967): Ambivalenz der naturwissenschaftlichen Methode
Notwendig: philosophische Reflexion der Naturwissenschaften
Wolfgang Klafki „kategoriale“ Bildung
Martin Wagenschein (1896 – 1988): physikdidaktische Interpretation der Bildungstheorie
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Grenzen des klassischen Bildungsbegriffs
1 Warum Physikunterricht? 4. Reicht der klassische Bildungsbegriff aus, um Kinder und Jugendliche für die Lösung ihrer gegenwärtigen und zukünftigen Probleme auszubilden und zu erziehen? Für Klafki (19965, 39) ist eine zu optimistische Geschichtsphilosophie der Hintergrund für die Grenzen des klassischen Bildungsbegriffs. Diese Philosophie, mit ihrem Credo von einer Geschichte des Fortschritts der Humanität, führt zu einer zu optimistischen Interpretation der Geschichte und zu einem zu optimistischen Menschenbild. Aus der Sicht Klafkis (19965, 46) charakterisieren drei Momente den Verfall der klassischen Bildungsidee: •
Bildung wird als ihrem Wesen nach unpolitisch interpretiert.
•
v. Humboldts Forderung nach Individualisierung wird vernachlässigt; stattdessen werden für die Schulfächer verbindliche Lehrpläne vorgeschrieben.
•
Bildung wird zu einem Privileg der davon profitierenden Gesellschaftsschicht.
Die Kritik der beiden ersten Momente trifft auch auf die Praxis des naturwissenschaftlichen Unterrichts zu: Viele Naturwissenschaftslehrer tun sich immer noch schwer, politikträchtige und gesellschaftlich umstrittene Themen wie „Kernkraftwerke“ (Mikelskis 1977) im Unterricht zu behandeln. Auch die spezifischen Chancen des Physikunterrichts, die Idee der Individualisierung durch Schülerversuche, durch forschenden Unterricht oder Projekte zu realisieren sind in der Bundesrepublik immer noch die Ausnahme (s. Duit & Tesch 2005). Als Reaktionen auf diese Kritikpunkte können die Lehrpläne der 1990er-Jahre betrachtet werden. Durch „Freiräume“ sollen Projekte, „offener“ Unterricht, u.a. Schülerversuche gefördert werden. Im Physikunterricht sollen aus der Sicht der Schüler und der Gesellschaft interessante und bedeutsame Inhalte und Arbeitsweisen thematisiert und gelernt werden. Ob sich dadurch auch die Schulpraxis verbessert, liegt vor allem an der Lehrerbildung und daher auch an Ihnen, den künftigen Physiklehrerinnen und Physiklehrern. Zeitgemäße Allgemeinbildung durch epochaltypische Schlüsselprobleme
Klafki (19965, 56 ff.) hat mit der Formulierung von „epochaltypischen Schlüsselproblemen“ konkrete inhaltliche Hinweise für eine zeitgemäße Allgemeinbildung gegeben: Er betrachtet die Friedensfrage, die Umweltfrage, die gesellschaftlich produzierte Ungleichheit in den Gesellschaften, die Gefahren und Möglichkeiten der neuen technischen Steuerungs-, Informations- und Kommunikationsmedien und die zwischenmenschlichen Beziehungen als Schlüsselprobleme unserer Zeit. Aus physikdidaktischer Perspektive bieten diese
1.1 Bildungstheoretische und pragmatische Begründungen – ein Rückblick 345 346 347 348 349 350 351 352 353 354 355 356 357 358 359 360 361 362 363 364 365 366 367 368 369 370 371 372 373 374 375 376 377 378 379 380 381 382 383 384 385 386 387
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„Schlüsselprobleme“, etwa bei den Umweltproblemen, der Friedensfrage (s. z. B. Mikelskis 1986; Westphal 1992) und insbesondere bei den Möglichkeiten und Problemen der neuen Informations- und Kommunikationsmedien einen modernen, pädagogisch begründeten Physikunterricht zu etablieren. In der „Laborschule Bielefeld“ zeigt v. Hentig in beeindruckender Weise pädagogische Alternativen zu den Fehlentwicklungen des deutschen Bildungswesens. Aber dies geschieht immer noch im Horizont v. Humboldts Ideen (v. Hentig 1996, 182). Der naturwissenschaftliche Unterricht scheint auch in v. Hentigs (19943; 1996) Konzeptionen keine bedeutsame Rolle zu spielen. Eine zeitgemäße Allgemeinbildung erfordert nicht den nur nach rückwärts gewandten, eher kontemplativen Menschen, sondern auch einen an Gegenwart und Zukunft orientierten mündigen Bürger, der kritisch, sachkompetent, selbstbewusst und solidarisch denkt und handelt (Klafki 19965). Dazu kann und soll der Physikunterricht inhaltlich und methodisch beitragen.
Mündiger Bürger denkt und handelt kritisch, sachkompetent, selbstbewusst und solidarisch
Trotz der bedeutsamen Erneuerungen der Bildungstheorie durch v. Hentig (1996), Klafki (1963; 19965) und Litt (1959) bleibt die Bildungstheorie weiterhin auf Distanz zur Lebenswelt und einer auch kritisch zu betrachtenden „Erlebnisgesellschaft“ (Schulze 1993).
1.1.2 Pragmatische Schultheorie und naturwissenschaftlicher Unterricht „Logisch und pädagogisch gesehen ist die Naturwissenschaft die vollkommenste Erkenntnis, die letzte erreichbare Stufe des Erkennens“ (Dewey 19643, 289). 1. Der Ausdruck „pragmatische Schultheorie“ ist bisher in der Pädagogik nicht in der Weise erörtert und dadurch festgelegt wie der Ausdruck „Bildungstheorie“; er ist auch nicht in pädagogischen Lexika aufgeführt. Die Bezeichnung bezieht sich vor allem auf das pädagogische Werk Deweys, das in der Auseinandersetzung mit dem philosophischen Pragmatismus eines Peirce (1839 – 1914) und James (1842 – 1910) entstanden ist. Deweys Auffassungen über Erziehung haben das Schulwesen in den USA mindestens in ähnlich intensiver Weise beeinflusst, wie die Bildungstheorie das deutsche Schulwesen. Man kann die pragmatische Schultheorie als Kind Amerikas betrachten, die in wesentlichen Zügen von dem Pädagogen und Philosophen John Dewey (1859 – 1952) formuliert wurde. Sie wurzelt im philosophischen Pragma-
John Dewey (1859 – 1952)
Ursprünge des philosophischen Pragmatismus im 19. Jahrhundert
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1 Warum Physikunterricht? tismus, der gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts u. a. als Gegenentwurf zu klassischen europäischen Philosophien (Idealismus und Humanismus) formuliert wurde. Die pragmatische Schultheorie richtet sich gegen Theorie und Praxis der Bildungstheorie im alten Europa., von der Dewey in geschichtlicher Retrospektive mit Recht sagt, dass sie im 19. Jahrhundert dem Erhalt einer „Mußeklasse“ diente. Dewey setzt sich auch mit dem Kern der Bildungstheorie auseinander, dem „Humanismus“. Dabei kommt er zu einer völlig anderen Einschätzung der Bedeutung der Naturwissenschaften und des naturwissenschaftlichen Unterrichts als die Bildungstheorie. 2. Grundideen des Pragmatismus:
Was sich im Alltag bewährt, ist gut
Was und wer sich im konkreten Leben, im Alltag bewährt, ist gut. Der lebenswichtige Vorteil („vital benefit“), den Pflanzen und Tiere in ihrem Überlebenskampf nutzen, steht auch den Menschen zu. Der erfolgreiche Mensch ist aus biologischer Sicht der bessere. Die Versuchung ist groß, diese Sicht zu verallgemeinern und auf die Moral auszudehnen.
Pragmatismus ist zweckgerichtet, fortschrittsgläubig an der Zukunft orientiert, aber oberflächlich
Wie der Name sagt, ist die Grundtendenz dieser Philosophie zweckgerichtet. Sie ist optimistisch, fortschrittsgläubig an der Zukunft orientiert, aber aus der Sicht der europäischen Tradition oberflächlich. Die Maximen sind: Was funktioniert, was zahlt sich aus, was passt am besten? Konsequenterweise führt die pragmatische Grundeinstellung auch zur Relativierung traditioneller Werte wie „Wahrheit“. Für sie gilt (in verkürzter Form): „Wahr ist, was nützt.“ Mit solchen Auffassungen wird der Pragmatismus anfällig gegen Kritik.
Deweys höchster Wert ist das Leben Erziehung ist das Werkzeug zur sozialen Fortdauer des Lebens
3. Dewey hat das Kernproblem dieses älteren Pragmatismus etwa eines James erkannt, nämlich die Notwendigkeit auch traditioneller Ideale und Werte. Deweys höchster Wert ist „das Leben“; diese Auffassung hat natürlich Konsequenzen für seine Pädagogik. „ ‚Leben‘ bedeutet Sitten, Einrichtungen, Glaubensanschauungen, Siege und Niederlagen, Erholungen und Beschäftigungen“ (Dewey 19643, 16). Es besagt auch Selbsterneuerung, so dass die Erziehung als Prozess ständiger Erneuerung gemeinsamer Erfahrungen für das Leben gesellschaftlicher Gruppen unabdingbar ist. Der Fortbestand des Lebens wird also durch Erneuerung und Erfahrung gesichert. Die Erfahrung wird über soziale Gruppen weitergegeben. Der Erziehung kommt hier ein fundamentaler Stellenwert zu, denn sie dient zur Erhaltung und Erneuerung des Lebens. Wird diese Grundlage akzeptiert, so ist die Frage nahe liegend: Welche Inhalte, welche Methoden tragen vorrangig zur Erhaltung und Erneuerung des menschlichen
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„Lebens“ bei? Wir werden sehen, dass aus dieser pragmatischen Perspektive die Naturwissenschaften nicht nur gute, sondern die besten „Karten“ haben. 4. Man kann die erzieherische Bedeutung der Naturwissenschaften, Dewey folgend, so begründen: Das für die Naturwissenschaften, insbesondere für die Physik typische Ergebnis ist eine Theorie in mathematischer Gestalt. In dieser symbolischen Darstellung wird gegenwärtige und künftige Erfahrung in „nicht zu überbietender Klarheit“ repräsentiert; es ist die vollkommene Form kondensierter Erfahrung. Diese ist unabhängig von persönlicher Erfahrung und wird allen zur Verfügung gestellt. Dewey fasst dies als immanenten demokratischen Aspekt der Naturwissenschaften auf.
Ein demokratischer Aspekt der Naturwissenschaften
Ein weiteres Argument Deweys: Indem die äußeren Eigenschaften der Dinge in Symbolen eingefangen werden, entlasten diese Symbole das Lernen und das Behalten. Außerdem ermöglichen die Symbole zu den Problemen und Zwecken zurückzukehren, denen die Symbole angepasst wurden. Diese Fähigkeit, die abstrakten Darstellungen der Naturwissenschaften zu interpretieren, die Symbolsprache anzuwenden und zu beherrschen, ist angesichts der Flut naturwissenschaftlicher Fakten lernökonomisch. In der Sprache Deweys ist dies eine das „Leben“ erhaltende Fähigkeit, ein lebenswichtiger Vorteil.
Symbole entlasten das Lernen und das Behalten
Diese Lernökonomie der naturwissenschaftlichen Darstellungen macht „die Befreiung des Geistes von der Hingabe an die gewohnheitsmäßigen Zwecke und Ziele“ und „die geordnete Verfolgung neuer Ziele möglich“ (S. 285) und wird damit zur treibenden Kraft des Fortschritts. Die Arbeitserleichterungen in Beruf und Haushalt führen nicht nur zur Reduktion körperlicher Anstrengungen, sondern schaffen auch freie Zeit, Freizeit für alle. Durch dieses neue gesellschaftliche Phänomen werden neue Bedürfnisse geschaffen, die nach Befriedigung verlangen. Man denke etwa an die neuen Möglichkeiten große Entfernungen in kurzer Zeit zurückzulegen, mit dem Computer und anderen Medien mit weit entfernten Menschen zu kommunizieren, sich über jedes Problem, über jedes Ereignis der Erde zu informieren, wenn das Problem, das Ereignis genügend Relevanz besitzen oder zu besitzen scheinen. Die durch Naturwissenschaften hervorgerufenen Möglichkeiten des Handelns haben wirtschaftliche und soziale Folgen für das Individuum und die Gesellschaft. Sie führten zu globalen Abhängigkeiten von Interessen und Zwängen, des Wohn-, Erholungs- und Vergnügungsorts, des Arbeitsplatzes.
Lernökonomie der naturwissenschaftlichen Darstellungen: Treibende Kraft des Fortschritts
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Naturwissenschaften haben wirtschaftliche und soziale Folgen für das Individuum und die Gesellschaft Dewey: • menschliche Gewohnheiten mit der Methode der Naturwissenschaften „durchtränken“ • Menschen von der „Herrschaft der Faustregeln“ befreien
Werden Geisteswissenschaften unterschätzt?
1 Warum Physikunterricht? Durch die neuen technischen Möglichkeiten werden nicht nur das Handeln, sondern auch das Denken, Wollen und Fühlen der Menschen geprägt. Der Gedanke einer dauernden Verbesserung des Zustandes der Menschheit, – deren Fortschrittsglaube, fällt zeitlich mit dem Fortschritt den Naturwissenschaften zusammen. Auch wenn heutzutage die Fortschrittseuphorie da und dort einen Dämpfer bekommen hat, bleibt festzuhalten, dass die durch Technik und Naturwissenschaften hervorgerufenen Änderungen, die Umwelt und das ‚Leben‘ auf unserem Planeten nachhaltig beeinflusst werden. Diese Beeinflussung ist auch von der Einsicht einerseits oder der Ignoranz andererseits in die Naturvorgänge abhängig, d. h. vom Verständnis der Naturwissenschaften. Für Dewey besteht das Problem der ‚pädagogischen Verwertung‘ darin, die menschlichen Gewohnheiten mit der Methode der Naturwissenschaften zu „durchtränken“ und die Menschen von der „Herrschaft der Faustregeln“ und der durch sie geschaffenen Gewohnheiten zu befreien. 5. Hat sich Dewey in seiner Bewunderung für die Naturwissenschaften und für die naturwissenschaftlichen Methoden geirrt? Die Verabsolutierung der naturwissenschaftlichen Methode ist leicht zu kritisieren: Was nützt die abstrakte physikalische Theorie bei Entscheidungen über Einzelfälle und Probleme des täglichen Lebens in politischen, gesellschaftlichen, ästhetischen, musischen Angelegenheiten? Bei der Beurteilung der Qualität eines literarischen Textes, der Ausdruckskraft eines Gemäldes, bei Abstimmungen in Wahlen, bei der Auswahl von Kleidern besitzen abstraktes Wissen und elaborierte wissenschaftliche Methoden so gut wie keine Relevanz. Urteilsvermögen, persönliche Einstellungen und Werthaltungen sind die Basis derartiger Problemlösungen. Mit der Überschätzung der Naturwissenschaften und der naturwissenschaftlichen Methode geht eine Unterschätzung der geisteswissenschaftlichen Methode und deren Medium, der Sprache, einher. Zweifellos haben Technik und Naturwissenschaften die Welt verändert, aber dies gilt auch für die Sprache eines Jesus von Nazareth und seiner Apostel, eines Propheten Mohammed, die Reden eines Cicero, die demagogischen Appelle eines Hitler und Goebbels.
1.1 Bildungstheoretische und pragmatische Begründungen – ein Rückblick 517 518 519 520 521 522 523 524 525 526 527 528 529 530 531 532 533 534 535 536 537 538 539 540 541 542 543 544 545 546 547 548 549 550 551 552 553 554 555 556 557 558 559
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Ein weiterer Kritikpunkt ist Deweys Begriff „Fortschritt“. Er ist zu eng mit technischem Fortschritt verknüpft, so dass er nicht in der Lage ist, Auswüchse der Technik, unsinniges Konsumverhalten, Gefährdungen durch die Technik zu kritisieren. Ist die Möglichkeit, fünfzig Fernsehprogramme zu empfangen ein Fortschritt? Ist diese Programmvielfalt nötig, um ein sinnvolles, gewissermaßen notwendiges Informationsbedürfnis zu stillen? Sind etwa rechtsradikale oder sadistische Informationen im Internet ein Fortschritt? Wir kommen zum Kern der Kritik nicht nur an Deweys Begriff „Fortschritt“, sondern am (philosophischen) Pragmatismus überhaupt. Der Pragmatismus gefällt sich in der Attitüde, ohne Werte außer der Erneuerung des „Lebens“ auszukommen: „Vom Wachstum wird angenommen, dass es ein Ziel haben müsse, während es in Wirklichkeit eines ist“ (Dewey 19643, 76). Aber eine Philosophie, die sich der Erhaltung und Erneuerung des „Lebens“ verpflichtet, kommt ohne Werte über das menschliche Zusammenleben und das individuelle Verhalten nicht aus. Man benötigt Leitbilder, leitende Ideen für das Leben und auch für die wissenschaftliche Arbeit, ethische Normen. Diese Leitbilder bedeuten nach wie vor nicht nur Kosten-Nutzen-Rechnungen im Leben und in der Wissenschaft. Zumindest in der europäischen Denktradition gibt es ein Moment, das faustische Motiv, auf das die Naturwissenschaft nicht verzichten kann: Sehen, was die Welt im Innersten zusammenhält.
Leitbilder für die Gesellschaft und für die Wissenschaft benötigen ethische Grundlagen. Diese können nicht aus den Naturwissenschaften kommen
Tatsächlich waren die großen naturwissenschaftlichen Revolutionen durch Newton, Maxwell, Einstein und die Schöpfer der Quantentheorie vorrangig nicht pragmatisch motiviert waren, sondern von der Suche nach letzten Wahrheiten über die Realität. Es ist nicht ohne Ironie, dass gerade die Naturwissenschaften, auf die Dewey im Hinblick auf den Fortschritt allein setzt, ein Leitbild verfolgen, das aus pragmatischer Sicht nichts mit der Erneuerung des Lebens zu tun hat, die „Suche nach Wahrheit“ (s. Kircher 1995, 48 ff.). Wer dieses wichtige Motiv naturwissenschaftlicher Forschung negiert, verkennt die Naturwissenschaften, trotz des Anscheins, dass heutzutage pragmatische Gesichtspunkte in Forschungslaboren der Industrie und an Universitäten dominieren.
Wichtiges Motiv der naturwissenschaftlichen Forschung: Suche nach Wahrheiten über die Realität
6. In neuerer Zeit wurden in den USA angesichts unbefriedigender Ergebnisse des naturwissenschaftlichen Unterrichts neue Curricula „Science – Technology – Society“ (STS) und neue Vorschläge über naturwissenschaftliche Grundbildung („scientific literacy“) publiziert (u.a.) „Project 2061: Science for all Americans“ (AAAS 1989) „Benchmarks for science literacy“ (AAAS 1993), ohne dabei
Methodische Prinzipien
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1 Warum Physikunterricht? Deweys Grundideen zu verlassen (s. de Boer 2000). Das gilt auch für Shamos (1995), der aber den naturwissenschaftlichen Unterricht in den USA und damit auch „Scientific literacy“ kritisiert: Zwischen den derzeit formulierten Ansprüchen an naturwissenschaftlicher Grundbildung und der Schulwirklichkeit klafft nicht nur in den USA eine große Lücke.
Genügt „naturwissenschaftliches Bewusstsein“ (scientific awarerness)?
Viele Schülerinnen und Schüler werden insbesondere von der Physik abgeschreckt und auch dauerhaft frustriert, (u.a.) weil ihre erzielten Ergebnisse im Physikunterricht schlecht sind. Das kann ursächlich auch durch zu hohe Ansprüche, unerreichbare Ziele bedingt sein. Shamos (1995) hält ein bescheideneres Ziel für notwendig; anstatt „naturwissenschaftliche Grundbildung für alle“, soll „naturwissenschaftliches Bewusstsein“ („scientific awareness“) als Leitidee genügen, vergleichbar mit dem „Orientierungswissen“, das Muckenfuß (1995) fordert. „Scientific awareness“ bedeutet bei Shamos ein eher oberflächliches Verständnis der naturwissenschaftlichen Begriffe, Theorien und Methoden. Shamos Vorschläge für ein naturwissenschaftliches Curriculum enthalten allgemeine Fragen z.B. über Nutzen und Risiken der Naturwissenschaften (s. 1.3), über „Tatsachen“ und „Wahrheiten“ der Naturwissenschaften (s. Shamos 1995, 223 f.), d.h. über die „Natur der Naturwissenschaften“ lernen. Dieser inhaltliche Aspekt wird in Abschnitt 1.2.2 näher beschrieben. 7. In der Bundesrepublik hat der wichtigste Berufsverband für Mathematik- und Naturwissenschaftslehrer (MNU) seine früheren, vor allem auf fachliche Ziele fokussierten Auffassungen über den Physikunterricht revidiert und ergänzt MNU (2001): In den „6 Kernelemente“ spiegelt sich die aktuelle internationale Diskussion um naturwissenschaftliche Grundbildung wieder. Diese Vorschläge für künftige Lehrplanentwicklungen sind in ihrer Grundkonzeption sinnvoll. Sie können auch wirksam werden, weil Mitglieder von Lehrplankommissionen aller Bundesländer daran mitgearbeitet haben. Es sind noch gewisse Unklarheiten und Defizite festzustellen. So ist meines Erachtens die erkenntnistheoretische, wissenschaftstheoretische und die technikethische Reflexion der physikalischen Methoden und den daraus entstehenden Resultaten und Produkten noch nicht hinreichend im Blickpunkt der Verfasser. Die in (MNU 2001) noch wenig differenzierten Anforderungen an die Schüler sind in der Zwischenzeit durch bundeseinheitliche Standards festgelegt: allgemeine fachliche Inhalte des Physikunterrichts sogenannte „Basiskonzepte“ (auch als „Leitideen“ bezeichnet), „Kompetenzbereiche“ und „Anforderungsbereiche“ (s. 2.4.2).
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1.1.3 Zusammenfassende Bemerkungen 1. Der philosophische Pragmatismus ist eine Abbildung der neuzeitlichen, von Naturwissenschaften geprägten Welt. Bei Dewey, der den Ausdruck „Instrumentalismus“ verwendet, um inhaltliche Differenzen zum Pragmatismus anzuzeigen, ist der Einzelne verpflichtend in die Gesellschaft eingebunden. Das Wohlergehen einer demokratischen Gesellschaft ist dem Glück des Einzelnen übergeordnet; die demokratische Verfassung räumt dem Individuum weitgehende Freiheiten ein. Die Erhaltung und Erneuerung des „Lebens“ ist der Sinn des Lebens. Mit dem Wachstum, auch dem geistigen Wachstum, konzentriert sich Dewey auf die Kindheit und Jugend, in der die geistigen Fähigkeiten zur Erneuerung ausgebildet werden. Bei diesem theoretischen Hintergrund nimmt der naturwissenschaftliche Unterricht in den USA im beginnenden 20. Jahrhundert einen großen Aufschwung, quantitativ durch die Stundenzahl und qualitativ z. B. durch die Einführung von Schülerexperimenten. Es werden technische Fragestellungen im Unterricht berücksichtigt. 2. Durch die skizzierte Anfälligkeit des philosophischen Pragmatismus gegen Kritik findet die pragmatische Schultheorie im deutschen Sprachraum nur geringe Resonanz. Erst in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts, nach dem SputnikSchock, wurde eine Intensivierung des naturwissenschaftlichen Unterrichts auch staatlicherseits nach amerikanischem Vorbild gefördert. Theodor Wilhelm (1969) hat versucht, eine deutsche Version der „Wissenschaftsschule“ zu formulieren. Auf diesem gesellschaftlichen und pädagogischen Hintergrund wurden in pädagogischen Forschungs- und Fortbildungsinstituten der Länder (u. a.) naturwissenschaftliche Curricula entwickelt. Eine überregionale Bedeutung hatten die am Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften (IPN) entwickelten Unterrichtseinheiten für den Physik-, Chemieund Biologieunterricht. Diese Lernmaterialien sind nicht an der Fachsystematik orientiert, sondern an der Relevanz für das Fach, für die Gesellschaft, für die Umwelt, für die Schüler (s. Häußler & Lauterbach 1976). Der Intention nach sollten diese Curricula den Schülern in der Gegenwart nützen und sie auf die Zukunft vorbereiten. Sie haben insgesamt nur eine geringe Verbreitung in der Schulpraxis erfahren. 3. Für eine Begründung des naturwissenschaftlichen Unterrichts wird versucht, die Vitalität und offensive Argumentation des Pragmatismus mit dem philosophisch-pädagogischen Hintergrund der von Litt, v. Hentig und Klafki erneuerten Bildungstheorie zu verbinden (s. 1.5).
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30 646 647 648 649 650 651 652 653 654 655 656 657 658 659 660 661 662 663 664 665 666 667 668 669 670 671 672 673 674 675 676 677 678 679 680 681 682 683 684 685 686 687 688
1 Warum Physikunterricht?
1.2 Die physikalische Dimension des Physikunterrichts „Was ist die Wahrheit der Physik?“ fragt v. Weizsäcker (1988, 15) einleitend in seinem Buch „Aufbau der Physik“. Es wird die Entwicklung, der Aufbau und der philosophische Status der Physik skizziert. Die in der „Einführung“ begonnene Diskussion über die Physik wird wieder aufgegriffen und vertieft. Bei der Beschreibung des Aufbaus der Physik orientieren wir uns an Einstein & Infeld (1950), Lüscher & Jodl (1971) und v. Weizsäcker (1988). Bei erkenntnistheoretischen Fragen, z. B. „Was ist die Wahrheit der Physik“, wird von Auffassungen des (philosophischen) Realismus ausgegangen (s. Ludwig 1978; Kircher 1995; Mikelskis-Seifert 2002; Leisner 2005; Günther 2006).
1.2.1 Zur Entwicklung und zum Aufbau der Physik 1. Wir betrachten den Aufbau der Physik vorwiegend aus der Sicht der Physik als einer eigenständigen Naturwissenschaft. Ihre Eigenständigkeit gewann die Physik um 1600 mit Galilei und Kepler als ersten wichtigen Repräsentanten der neuzeitlichen Physik. Die aristotelische Physik wird im 17. Jahrhundert abgelöst durch die „neuzeitliche“ Physik
Zu diesem Zeitpunkt war die vorgängige aristotelische Physik zweitausend Jahre alt. Sie war eingebettet in eine umfassende Kosmologie, in der Götter und andere mythische Wesen die Welt und damit die Natur beherrschten. Die Physik war ein Teil der aristotelischen Philosophie. Diese ist ein so geschlossenes, eng zusammenhängendes Ganzes, dass ein einzelner Bereich wie die Physik kaum getrennt behandelt werden kann (s. Dijksterhuis 1983, 19). Aber man kann die aristotelische Physik insofern mit der neuen Physik vergleichen, als sie ebenfalls „empirisch“ war: Das Wissen über die „Welt“ entstammt in letzter Instanz sinnlichen Eindrücken und Erfahrungen. Und wir fügen hinzu: Diese Eindrücke enthalten auch Spuren der Realität. Aus diesem Grunde ist die Physik nicht nur „gemacht“ und wir finden in der Physik nicht „nur unsere eigene Spur“, wie Eddington und Heisenberg meinen, aber – unbezweifelbar – auch „unsere Spur“, z. B. in Form einer besonderen „Versprachlichung“. Die heute als „klassisch“ bezeichnete neuzeitliche Physik entstand vor allem durch eine neue theoretische Zugriffsweise und durch eine neuartige Auseinandersetzung mit der Realität, durch das quantitative Experiment. Dieses systematische Vorgehen schuf die Voraussetzung dafür, die in den experimentellen Daten enthaltenen Spuren der
1.2 Die physikalische Dimension des Physikunterrichts 689 690 691 692 693 694 695 696 697 698 699 700 701 702 703 704 705 706 707 708 709 710 711 712 713 714 715 716 717 718 719 720 721 722 723 724 725 726 727 728 729 730 731
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Realität in mathematischen Gleichungen darzustellen. Einstein war fasziniert von dieser Möglichkeit, die Realität in „einfache“ mathematische Gleichungen zu fassen. Es war für ihn ein wesentliches Ziel der Physik. Aus der qualitativen Physik des Aristoteles wird die quantitative Physik der Neuzeit (s. dazu Hund 1972). Letztere befasste sich zunächst vorwiegend mit raum-zeitlichen Änderungen von Gegenständen. Die entsprechenden physikalischen Gesetze (z. B. das Fallgesetz) ermöglichen damit nicht nur genaue Beschreibungen der Gegenwart, sondern auch der Vergangenheit und der Zukunft. Diese prinzipiellen Möglichkeiten der neuen Physik führten schließlich zu einem Physikalismus, vor allem in Gestalt eines mechanistischen, materialistischen Weltbildes, zu übertriebenen Hoffnungen und Erwartungen auch außerhalb der Physik: Da alle „Dinge“ der Welt aus Materie bestehen, gehen die Veränderungen in dieser „Dingwelt“ als raum-zeitliche Änderungen von Materie vor sich, gemäß der Newtonschen Mechanik.
Physikalismus: Newtonsche Mechanik und physikalische Methoden gelten überall
Neben der Tendenz, physikalische Gesetze und Theorien in allen Bereichen des Lebens anzuwenden, wurde und wird auch versucht, die naturwissenschaftliche Methodologie auf andere Gebiete der Wissenschaft (z. B. Psychologie) und vereinzelt auch auf Literatur und Kunst (Bense 1965) auszudehnen. Man könnte meinen, dass (u. a.) Deweys Glorifizierung der naturwissenschaftlichen Methode auch in diesen Bereichen auf fruchtbaren Boden gefallen ist; sie wird Vorbild, das Ideal von Forschungsmethoden schlechthin. Dieser Ansatz ist natürlich legitim, weil Wissenschaft grundsätzlich methodologisch offen sein muss, aber man kann auch skeptisch sein, dass etwa die Quantifizierung von Kunst überzeugend gelingen kann – etwa: ein Picasso ist 10 % besser als ein Dali. 2. Die Ablösung des mechanistischen Weltbildes erfolgte nicht abrupt. Vielmehr versuchten die Physiker im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert zunächst, die mit neuentdeckten Phänomenen aufgetretenen Ungereimtheiten und Widersprüche zur Newtonschen Physik als unwesentlich beiseite zu schieben, gar nicht zu beachten. Oder sie wählten einen anderen Ausweg: Sie unterstellten, dass nicht sorgfältig experimentiert, bewusst oder unbewusst nicht professionell gearbeitet wurde. Außenseiter wie die Ärzte Thomas Young und Robert Mayer wurden nicht ernst genommen, weil sie Newtons Auffassungen widersprachen oder ihre Ideen nicht in physikalischer Fachsprache formulierten.
Ungereimtheiten und Widersprüche der Newtonschen Physik
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1 Warum Physikunterricht? Wir können hier Einsteins und Infelds detaillierte Schilderung des Niedergangs des mechanistischen Denkens nur knapp skizzieren: Im Grunde begann der Niedergang der mechanischen Vorstellungen schon mit Voltas und Oersteds neuen elektrischen bzw. elektromagnetischen Phänomenen und der sich daraus entwickelnden Elektrizitätslehre, insbesondere dem Entwurf von Feldtheorien. Der Keim des Verfalls steckt auch in Youngs Interferenzversuchen und der Wellentheorie des Lichts (s. Einstein & Infeld 1950, 79 ff.). Selbst als Maxwell diese beiden Theorien in seiner Elektrodynamik vereinte, versuchte er nicht, die dominierenden mechanistischen Auffassungen zu überwinden. Er ließ mechanische Analogversuche zur elektromagnetischen Induktion durchführen (s. z. B. Teichmann u. a. 1981), weil er, der Zeit um 1850 entsprechend, überzeugt war, dass sich schließlich alle neuen physikalischen Entdeckungen und Theorien auf die Mechanik zurückführen und in diese integrieren ließen.
Albert Einsteins Arbeiten veränderten das physikalische Weltbild
In der Folgezeit wurde allerdings deutlich, dass die in den maxwellschen Gleichungen beschriebenen elektrischen und magnetischen Felder mehr sind als bloße Vorstellungshilfen. Als eine neue Art „Träger“ von Energie sind sie heute physikalische Realität wie die materiellen Objekte. Mit der wachsenden Bedeutung des Feldbegriffs schwindet die Bedeutung des traditionellen Substanzbegriffs in der Physik, der für die mechanistische Denkweise unerlässlich war. Diese Änderungen in der Physik sind auch auf Albert Einsteins Arbeiten zurückzuführen. Sie bewirkten die endgültige Ablösung des mechanistischen Weltbildes. Der Anlass hierfür lag allerdings nicht allein in den elektromagnetischen Phänomenen, die Einstein 1905 zur speziellen Relativitätstheorie anregten, sondern wird zu Recht auch mit Max Plancks Strahlungsformel verknüpft, die Planck im Jahre 1900 publizierte. Die Bedeutung der Formel widerspricht der klassisch-mechanistischen Auffassung: „Die Natur macht keine Sprünge“. Auf der Ebene der Atome und Moleküle gibt es keine kontinuierlichen Übergänge, sondern nur Diskontinuität, „Sprünge“. Gemäß der planckschen Formel wird Strahlungsenergie immer in Form von „Energiepaketen“ emittiert bzw. absorbiert. Diese Energiepakete (Photonen) werden durch ein elementares Wirkungsquantum h und durch die Frequenz bestimmt.
Die Naturkonstante h durchzieht die moderne Physik
Damit ist Folgendes gemeint: Die Quantentheorie wird gegenwärtig als eine Fundamentaltheorie der Physik aufgefasst. Gegenwärtig ist kein Gebiet der Physik bekannt, das nicht den Prinzipien der Quantentheorie genügt. Das bedeutet nicht, dass neue physikalische Theo-
1.2 Die physikalische Dimension des Physikunterrichts 775 776 777 778 779 780 781 782 783 784 785 786 787 788 789 790 791 792 793 794 795 796 797 798 799 800 801 802 803 804 805 806 807 808 809 810 811 812 813 814 815 816 817
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rien mit der Quantentheorie zusammenhängen müssen; die Chaostheorie ist dafür ein aktuelles Beispiel. Neben der Quantentheorie gilt auch die allgemeine Relativitätstheorie als „fundamental“. Bisher ist es nicht gelungen, diese beiden grundlegenden Theorien der modernen Physik zu vereinen. Die „Grand Unified Theory“ (GUT) ist ein wesentliches Ziel der heutigen Physikergeneration. 3. Wie unterscheidet sich die moderne Physik von der klassischen? Im Rahmen einer Einführung in die Physikdidaktik kann man darauf nur holzschnittartig eingehen: Das methodologische Verständnis einer Messung ändert sich grundlegend durch die heisenbergsche Unschärferelation. Ungenauigkeiten bei der gleichzeitigen Messung von verbundenen (sogenannten „konjugierten“) Variablen (z. B. Ort x und Impuls p, bzw. Energie E und Zeit t) sind keine Folge der prinzipiell ungenauen Messinstrumente, sondern liegen in der Natur der physikalischen Objekte. Etwas präziser formuliert: Bei gleichzeitiger Orts- und Impulsmessung ist die Unschärfe von Δ p umso größer, je kleiner die Unschärfe von Δ x ist, das bedeutet je genauer der Ort z. B. eines Elektrons bestimmt wird. Das Produkt Δ p · Δ x (bzw. Δ E · Δ t) ist ≳ =. Die heisenbergsche Unschärferelation „ist die quantitative Formulierung für die Unverträglichkeit zweier Messungen … Es ist dies ein der klassischen Physik völlig fremder Sachverhalt“ (Theis 1985, 33 f.).
Das methodologische Verständnis einer Messung ändert sich
Während man in der klassischen Physik den Einfluss der Messapparatur auf die physikalischen Objekte im Allgemeinen vernachlässigen kann, muss in der Quantentheorie der Messapparat und das Messobjekt als „quantentheoretisches Gesamtobjekt“ behandelt werden (v. Weizsäcker 1988, 520). Feynman hebt ein weiteres Grundprinzip der Quantentheorie hervor: Die Physik hat es aufgegeben, genau vorherzusagen, was unter bestimmten Umständen mit einem physikalischen Objekt geschieht. Das einzige, was vorhergesagt werden kann, ist die Wahrscheinlichkeit verschiedener Ereignisse. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von Indeterminismus. „Man muss erkennen, dass dies eine Einschränkung unseres früheren Ideals, die Natur zu verstehen, ist“ (Feynman, 1971, 1 – 14). Die Quantentheorie zielt nicht mehr auf die Beschreibung von einzelnen Objekten in Raum und Zeit, nicht auf die Beschaffenheit und die Eigenschaften dieser Objekte. Stattdessen wird die Quantentheorie charakterisiert durch Gesetze über die Veränderung von Wahr-
Indeterminismus
Quantentheorie: Gesetze über die Veränderung von Wahrscheinlichkeiten in der Zeit
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1 Warum Physikunterricht? scheinlichkeiten in der Zeit, – Gesetze, die für große Ansammlungen von physikalischen Objekten gelten. „Erst nach dieser grundlegenden Umstellung der Physik war es möglich, eine angemessene Erklärung für den offensichtlich diskontinuierlichen und statistischen Charakter von Vorgängen aus dem Reich der Phänomene zu finden, bei denen die Elementarquanten der Materie und der Strahlung ihre Existenz dokumentieren“ (Einstein & Infeld 1950, 314 f.)
Die philosophische Diskussion ist noch nicht beendet
Während die Anwendung des mathematischen Formalismus der Quantentheorie längst geklärt und diese Theorie Grundlage für die Entwicklung technischer Geräte wie den Laser geworden ist, ist die philosophische Diskussion um die Interpretation noch nicht beendet. So sind zum Beispiel v. Weizsäckers (1988) Überlegungen zu einer „Physik jenseits der Quantentheorie“ umstritten.
Relativitätstheorie und Quantentheorie haben nicht nur die Physik verändert, sondern auch die Philosophie der Wissenschaften und das heutige Weltbild der technischen Zivilisationen
4. Was hat der Aufbau der Physik mit dem Legitimationsproblem des Physikunterrichts zu tun? Relativitätstheorie und Quantentheorie haben nicht nur die Physik verändert, sondern auch die Philosophie der Wissenschaften und das heutige Weltbild der technischen Zivilisation mitbestimmt. Das ist aber nicht so sehr dem Einfluss der neuen Methodologie zuzuschreiben, die gewissermaßen über den klassischen Objekten und der klassischen Physik angesiedelt ist (s. Einstein & Infeld 1950, 312 f.), sondern dies ist das Resultat dieser beiden fundamentalen Theorien und ihrer Wirkung weit über die Physik hinaus. Sie haben zunächst die Physiker fasziniert, dann aber auch die Astronomen, Chemiker, Philosophen, Schriftsteller und Künstler. Besonders Einsteins wissenschaftlicher Ruhm hat auch die breite Bevölkerung erreicht; er galt und gilt als das naturwissenschaftliche Genie des 20. Jahrhunderts schlechthin. Relativitätstheorie und Quantentheorie sind nicht irgendwelche Kulturgüter dieses Jahrhunderts. Für Feynman (1971) sind sie „ein wesentlicher Teil der wahren Kultur in der modernen Zeit“. Man möchte dies ausführen: Es sind dies nicht die zeitgenössische Musik, bildende Kunst, Literatur, sondern diese überragenden menschlichen Produkte, die in der Auseinandersetzung mit der Realität von den Naturwissenschaften im 20. Jahrhundert geschaffen wurden. Da Maßstäbe nicht vorhanden sind, gehen wir von einer Gleichwertigkeit von Wissenschaft und Kunst aus. Die Entwicklung der Physik bis in die Neuzeit wurde hier skizziert, um physikalische Theorien als Kulturgüter höchsten Ranges zu deklarieren. Es wurde auch ein Grundmotiv der Physiker transparent: Maxwells, Plancks, Einsteins, v. Weizsäckers und Feynmans Anliegen war nicht, die Natur zu beherrschen, wie dies Bacon (1620) zu Beginn der neuzeitlichen Physik forderte, sondern immer tiefere Wahrheiten in
1.2 Die physikalische Dimension des Physikunterrichts 861 862 863 864 865 866 867 868 869 870 871 872 873 874 875 876 877 878 879 880 881 882 883 884 885 886 887 888 889 890 891 892 893 894 895 896 897 898 899 900 901 902 903
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der Natur zu suchen. Das faustische Motiv der zweckfreien „reinen“ Wissenschaft: Sehen, was die Welt im Innersten zusammenhält, durchzieht die abendländische Kultur seit ihren griechischen Anfängen. Einstein war klar, dass dies keine endgültigen Wahrheiten sein können: „In der Naturwissenschaft gibt es keine Theorien von ewiger Gültigkeit“ (Einstein & Infeld 1950, 87). Und an anderer Stelle: „Unser Wissen erscheint im Vergleich zu dem der Physiker des 19. Jahrhunderts beträchtlich erweitert und vertieft, doch gilt für unsere Zweifel und Schwierigkeiten das Gleiche“ (Einstein & Infeld 1950, 136).
Einstein: In der Naturwissenschaft gibt es keine Theorien von ewiger Gültigkeit
Als Vergleich zur Arbeit des Physikers kann die Schwerstarbeit des Sisyphos aus der griechischen Mythologie herangezogen werden, die niemals endet. Aber wie Sisyphos trotzdem ein glücklicher Mensch ist (Camus 1959), können auch Physiker glückliche Menschen sein.
Das Unternehmen Naturwissenschaft ist in seinem Kern zutiefst human.
Die Biografien erfolgreicher Physiker wie Einstein und Heisenberg, zeigen dies: Die „Wahrheit der Physik“ ist ein unendlicher, schwieriger Weg, der nur zu vorläufigen, nicht zu endgültigen Resultaten führt. Man kann diese naturwissenschaftliche Suche nach Wahrheit mit „Humanismus als Methode“ (v. Hentig, 1966) bezeichnen.
Humanismus als Methode
1.2.2 Zusammenfassung 1. Die neuzeitliche Physik hat, wenn nicht den entscheidenden, so doch einen beträchtlichen Einfluss auf das jeweilige Weltbild in einer bestimmten Zeit. 2. Die Methodologie und die Theorien der modernen Physik führen weg von einem mechanistischen Weltbild, das determiniert ist von der klassischen Mechanik. In der Quantentheorie werden naturgegebene Grenzen der menschlichen Erkenntnis deutlich. 3. Die Entwicklung der Physik folgt keinem festgelegten „Regelwerk“. Daher ist die physikalische Begriffs- und Theoriebildung ein kreativer Vorgang ist. Das Eindringen in submikroskopische Bereiche führt zu unanschaulichen Begriffen und Theorien. 4. Trotz ihrer nicht ewigen, aber in ihrer Zeit objektiven Wahrheiten in Form von Theorien und Gesetzen wirken die Naturwissenschaften tendenziell emanzipatorisch gegenüber Ideologien. 5. Im Physikunterricht sind prototypische Beispiele physikalischer Theorien und Methoden auch für sich relevant, - für ihre Anwendung in der Technik und für die erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Reflexion der Physik.
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1 Warum Physikunterricht?
Euklidische Geometrie
Klassische Mechanik
Chemie
Feldtheorie
Thermodynamik
Relativitätsproblem
Nichteuklidische Geometrie
Thermodynamik des Kontinuums
Spezielle Relativitätstheorie
Allgemeine Relativitätstheorie
Quantentheorie
Abb. 1.1: Das Gefüge der Physik (v. Weizsäcker 1988, 221)
1.2.3 Über die Natur der Naturwissenschaften lernen Die Redeweise „Über die Natur der Naturwissenschaften lernen“ bedeutet im engeren Sinne, im Physikunterricht erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Fragen zu thematisieren. Welche Beziehungen bestehen zwischen Physik und Realität? Wie ist die Physik aufgebaut?
Wie in 1.1.1 ausgeführt, hat Litt diese philosophische Reflexion der Naturwissenschaften in der Tradition der Bildungstheorie begründet. Auch Dewey (19643) forderte schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts „learning about the nature of science“. Man kann die Redewendung „über Physik lernen“ (s. Jung 1979; Niedderer & Schecker 1982) auch in einem weiteren Sinne verstehen: „Welche Bedeutung hat die Physik für Nichtphysiker oder für die Gesellschaft?“ „Können die Naturwissenschaften zur Erhaltung des Friedens beitragen?“ „Welche Rolle können oder müssen die Naturwissenschaften übernehmen bei der Bewältigung der ökologischen Krisen?“ In neuerer Zeit stellen u. a. Aikenhead (1973), Mikelskis (1986), Westphal (1992) und Jonas (1984) solche gesellschaftlichen, politischen, ethischen
1.2 Die physikalische Dimension des Physikunterrichts 947 948 949 950 951 952 953 954 955 956 957 958 959 960 961 962 963 964 965 966 967 968 969 970 971 972 973 974 975 976 977 978 979 980 981 982 983 984 985 986 987 988 989
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Fragen. Ergänzt durch technik- und wirtschaftsethische Fragen und die Geschichte der Physik (s. Höttecke 2001), kann man von der „Metastruktur der Physik“ sprechen, die im Unterricht diskutiert und gelernt werden soll. In diesem Abschnitt wird die begriffliche und die methodische Struktur der Physik etwas genauer als in der „Einführung“ erörtert. 1. Sie erinnern sich, dass zur begrifflichen Struktur der Physik umgangsprachliche und fachspezifische Begriffe zählen. Eine physikalische Aussage wie: Die Dichte von Eisen ist größer als die Dichte von Aluminium, enthält nur einen physikalischen Begriff, nämlich „Dichte“. Die übrigen Ausdrücke sind der Umgangsprache entnommen. Allerdings können die Ausdrücke „Eisen“ und „Aluminium“ als physikalische bzw. chemische Begriffe aufgefasst werden, wenn sie durch physikalische bzw. chemische Theorien näher erklärt werden. Der Ausdruck „Dichte“ hat in der Physik eine spezielle Bedeutung, nämlich die des Quotienten aus Masse und Volumen: (Massen-) Dichte ρ = m/V. Dieser Begriff ist außerdem „operational definiert“, das bedeutet, dass mindestens ein Messverfahren existiert, durch das die physikalische „Dichte“ festgelegt ist. Damit ist „Dichte“ ein „metrischer Begriff“, man sagt auch eine „physikalische Größe“. Zu jeder physikalischen Größe gehört ein Größenwert und eine physikalische „Einheit“. Der Begriff „Massendichte“ hat in der theoretischen und experimentellen Physik keine besonders große Bedeutung; sie hat keinen eigenen Namen für die Einheit, wie die „Kraft“ oder die „Energie“, die in „Newton“ (N) bzw. in „Joule“ (J) gemessen werden. Nur sieben sogenannte Grundgrößen („Basisgrößen“) benötigt die (klassische) Physik, um damit die übrigen physikalischen Größen abzuleiten. Für die Schulphysik sind Länge (m), Zeit (s), Masse (kg), die elektrische Grundgröße „Stromstärke“ (A) und die kalorimetrische Grundgröße „Temperatur“ (K) am wichtigsten. Die „Dichte“ ist eine „abgeleitete Größe“ mit der Einheit (kg/m3). Natürlich sind die Grundgrößen ebenfalls operational definiert. Die Physikalisch-Technische Bundesanstalt (PTB) in Braunschweig bemüht sich, ebenso wie entsprechende physikalisch-technische Institute in den hochtechnisierten Staaten, (u. a.) die Grundgrößen durch möglichst genaue Messverfahren festzulegen. Wenn durch neue Technologien, wie etwa die Lasertechnik, noch präzisere Festlegungen möglich sind, werden die Standardmessverfahren, d. h. die operationalen Definitionen geändert.
Welche Bedeutung hat die Physik für Nichtphysiker oder für die Erhaltung des Friedens, für die Bewältigung ökologischer Krisen für die Gesellschaft? Begriffliche Struktur der Physik
Sieben Grundgrößen („Basisgrößen“) benötigt die klassische Physik
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Beispiel: operationale Definition des „Meter“
Wichtige Messergebnisse werden durch verschiedene Messverfahren getestet
1 Warum Physikunterricht? Ein Beispiel für derartige Änderungen ist die operationale Definition des „Meter“. Das „Urmeter“ in Paris, mit seinen Kopien unter anderem in Braunschweig, Moskau und London, wurde zunächst ersetzt durch ein spektroskopisches Verfahren. Dafür wurde 1968 eine rote Spektrallinie des Edelgases Krypton gewählt. 1983 wurde das „Meter“ als Längeneinheit neu definiert, nämlich über die Sekunde und die Lichtgeschwindigkeit; beide Größen können gegenwärtig äußerst genau bestimmt werden: 1 Meter ist der Weg, den das Licht im Vakuum in 1/c Sekunden zurücklegt (c = 299 792 458 m/s). Die Sekunde ist seit 1967 über ein inneratomares Phänomen (Hyperfeinstrukturübergang) festgelegt, das in „Atomuhren“ an 133Cs hervorgerufen wird. Diese große Genauigkeit bei der Festlegung der Grundgrößen ist nicht nur aus physikalischen Gründen notwendig, zum Beispiel um Theorien genauer testen zu können, sondern auch aus technischgesellschaftlichen Gründen. Das moderne Verkehrswesen in der Luft oder im Wasser benötigt diese extreme Genauigkeit bei der Zeit- und Entfernungsmessung, um Unfälle in der Luft und auf dem Wasser zu vermeiden (s. Sexl & Schmidt 1978). Neben dieser friedlichen Nutzung ist die hohe Genauigkeit der Messverfahren auch für die Entwicklung von Waffen mit großer Zielgenauigkeit von Bedeutung. Physikalische Theorien werden nicht nur über die Genauigkeit getestet, mit der ihre Prognosen mit den experimentellen Daten übereinstimmen. Man vergleicht dazu auch die Messergebnisse, die durch verschiedene Messverfahren gewonnen wurden. So wurde die Relativitätstheorie auch dadurch getestet, dass man relativistische Effekte wie die Zeitdilatation in ganz unterschiedlichen experimentellen Arrangements untersuchte. Die Beurteilung, ob ein Experiment eine Theorie bestätigt oder widerlegt, ist im Allgemeinen sehr schwierig, weil es kein Beurteilungsschema gibt, das sich auf alle Fälle anwenden lässt. Duhem (1978, 290) hat schon zu Beginn dieses Jahrhunderts darauf hingewiesen, dass dabei auch außerwissenschaftliche Argumente eine Rolle spielen können, wie die Konvention und inividuelle Auffassungen prominenter Naturwissenschaftler.
Methodische Struktur der Naturwissenschaften
2. Zur Beschreibung der methodischen Struktur der Naturwissenschaften wurde bis in unsere Zeit das Begriffspaar „induktive“ und „deduktive“ Methode verwendet. Das trifft insbesondere auch auf den naturwissenschaftlichen Unterricht zu. Durch den Einfluss von Wissenschaftsphilosophen wie Popper (19766) und Kuhn (19762) hat sich weitgehend durchgesetzt, dass es im Gegensatz zur Mathematik in den Naturwissenschaften eine „induktive Methode“ nicht geben kann.
1.2 Die physikalische Dimension des Physikunterrichts 1033 1034 1035 1036 1037 1038 1039 1040 1041 1042 1043 1044 1045 1046 1047 1048 1049 1050 1051 1052 1053 1054 1055 1056 1057 1058 1059 1060 1061 1062 1063 1064 1065 1066 1067 1068 1069 1070 1071 1072 1073 1074 1075
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Aus diesem Grunde wird heutzutage in der Physikdidaktik dafür plädiert, im Physikunterricht auf diesen Ausdruck zu verzichten und ihn höchstens im Kontext des „über Physik lernen“ zu problematisieren (s. Kap.24). Physikalische Gesetze gewinnt man also nicht „induktiv“, sondern sie entstehen nach und nach in einem Wechselspiel von Hypothesen und Experimenten; die einzelnen Schritte sind nicht im Voraus festzulegen. Wie die historischen Analysen zeigen (u. a. Popper, Kuhn, Feyerabend, Lakatos), werden sie kreativ in konkreten Forschungssituationen entwickelt. Kuhn (19762) spricht von „naturwissenschaftlichen Revolutionen“, als besonders wichtigen Etappen in der Entwicklung einer wissenschaftlichen Disziplin. Eine neue revolutionäre Theorie, die schließlich die Naturwissenschaften beeinflusst, nennt er „Paradigma“. In der Phase der detaillierten Ausarbeitung einer neuen Theorie, der „Normalwissenschaft“, wird „hypothetisch deduktiv“ vorgegangen, werden Folgerungen aus dem Paradigma auf alte oder neue physikalische Probleme angewandt und theoretisch und experimentell untersucht (Näheres zu T. S. Kuhns Wissenschaftstheorie s. Kap. 24).
Physikalische Gesetze entstehen in einem Wechselspiel von Hypothesen und Experimenten
3. Durch die Naturwissenschaften wird versucht, die Wirklichkeit zu beschreiben und zu erklären, die Vergangenheit und die Gegenwart zu erhellen, Prognosen für die Zukunft zu geben. Wie gut gelingt das? Was leistet die Physik? Ist bald ein Ende der Physik erreicht? Was können wir über die Wirklichkeit wissen? Wie wird die Wirklichkeit in den physikalischen Theorien abgebildet? Ist die Wirklichkeit „an sich“ durch physikalische Theorien näher zu charakterisieren? Die zuletzt formulierten Fragen sind nur sinnvoll mit realistischen Auffassungen als philosophischem Hintergrund. Interessante Meinungen zum Problem „Physik und Wirklichkeit“ haben u. a. Planck, Bohr, Born, Einstein, Heisenberg, Dürr vertreten. Ich folge hier Ludwig (1978), der zwischen „physikalischer Wirklichkeit“ und „tatsächlicher Wirklichkeit“ unterscheidet. Dabei ist es nicht nur eine physikalische Frage, ob die physikalische Wirklichkeit auch für die tatsächliche Wirklichkeit zuständig ist (s. Ludwig 1978, 165 f.). Ein physikalisches Objekt hängt mit physikalischen „Wirklichkeitsbereichen“ zusammen. Jeder Wirklichkeitsbereich wird durch eine physikalische Theorie konstruiert durch „die Zusammenfassung ‚aller‘ sicheren, determinierten und irreduziblen Hypothesen“ (Ludwig 1978, 182).
Realistische Auffassungen: Es wird hier zwischen „physikalischer Wirklichkeit“ und „tatsächlicher Wirklichkeit“ unterschieden
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Wirklichkeitsbereich Grundbereich Realtext
1 Warum Physikunterricht? Ein physikalischer „Wirklichkeitsbereich“ ist natürlich auch durch eine empirische Basis bestimmt, die Ludwig „Grundbereich“ nennt. Der „Grundbereich“ enthält verschiedenartige „Realtexte“ (Ludwig 1978, 12 ff.), nämlich einerseits allgemeine physikalische Erfahrungsinhalte und andererseits spezielle experimentelle Feststellungen (z. B. Messreihen). Über den Zusammenhang von „Wirklichkeitsbereich“ und „Grundbereich“ werden keine näheren Aussagen gemacht. Damit erhalten wir folgenden Zusammenhang von physikalischer Theorie und Wirklichkeitsbereich und Grundbereich: (physikalischer) Grundbereich
Intuitives Erraten! Abbildungsprinzipien physikalische Theorie Hypothesen
(physikalischer) Wirklichkeitsbereich
Abb. 1.2: Physikalische Theorie, physikalischer Wirklichkeitsbereich und Grundbereich (nach Ludwig 1978, 46).
Grundsätzliche Messungenauigkeit
Zwischen dem Grundbereich und der physikalischen Theorie bestehen (mathematische) Abbildungsprinzipien. Diese werden von Ludwig absichtlich unscharf gewählt, weil dadurch die grundsätzliche Messungenauigkeit in den Daten berücksichtigt werden kann. Außerdem spielen Kreativität, „intuitives Erraten“ ein Rolle. Aber nicht nur aus diesen Gründen ist das durch die Theorie konstruierte „Bild“ der Wirklichkeit unscharf. Dieses Bild ist kein „absolut exaktes“, weil mathematisch exakte Schlussfolgerungen aus einer physikalischen Theorie nur zu „fast sicheren Hypothesen“ führen können. Allerdings werden die Entsprechungen solcher Hypothesen in der Realität von den meisten Physikern als „physikalisch wirklich“ betrachtet (vgl. Ludwig 1978, 209). Mit Ludwigs Ansatz lässt sich für das Problem „Physik und Wirklichkeit“ ein wissenschaftstheoretischer und ein erkenntnistheoretischer Anteil unterscheiden. Einige wissenschaftstheoretische Aspekte kann der theoretische Physiker Ludwig exakt lösen. Andere können ver-
1.2 Die physikalische Dimension des Physikunterrichts 1119 1120 1121 1122 1123 1124 1125 1126 1127 1128 1129 1130 1131 1132 1133 1134 1135 1136 1137 1138 1139 1140 1141 1142 1143 1144 1145 1146 1147 1148 1149 1150 1151 1152 1153 1154 1155 1156 1157 1158 1159 1160 1161
nünftig dargestellt werden, das heißt in einiger Übereinstimmung zur Forschungspraxis. Ludwig argumentiert: Die in der Physik üblichen direkten und indirekten Messungen physikalischer Größen führen schließlich zum selben Ergebnis. „Diese Kompatibilität von direkten und indirekten Messungen in einem nicht zu groß gewählten Bereich unmittelbarer Gegebenheiten ist die entscheidende Grundlage für die Möglichkeit, das von der Physik konstruierte Bild als das Bild einer realen Wirklichkeit aufzufassen“ (Ludwig 1978, 189). Es ist ein unscharfes, idealisiertes „Bild“. Die Unschärfe beinhaltet die Vorläufigkeit physikalischer Theorien, aber auch, dass andere neue „Bilder“ der Wirklichkeit konstruiert werden können. Im Gefolge der modernen Physik erscheint die Realität als „kognitiv unerschöpflich“ (Rescher 1987, 111 ff.). Ein Ende der Naturwissenschaften, ein Ende der Physik ist daher nicht zu erwarten.
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Die Kompatibilität von direkten und indirekten Messungen führt dazu, das von der Physik konstruierte Bild als das Bild einer realen Wirklichkeit aufzufassen.
1.2.4 Zusammenfassende Bemerkungen 1. Das naturwissenschaftliche Denken hat sich als enorm fruchtbar erwiesen, weil es ihm gelungen ist, eine ungeheure Vielfalt verschiedenartiger Phänomene auf einfachere, begrifflich bestimmte Sachverhalte und einfache Interpretationen zurückzuführen. Durch Abstraktionen ist dieses Denken über seine ursprünglichen begrifflichen Grenzen hinausgewachsen. Auch prinzipielle Grenzen dieses Denkens sind erkennbar geworden: Wirklichkeitserfahrung wird durch naturwissenschaftliches Denken nie vollständig ausgeschöpft. 2. Allgemeinbildende Aspekte der Physik • Die moderne Physik hat das heutige Weltbild der technischen Zivilisation wesentlich geprägt. Es ist wichtig, die Grundzüge und die Grenzen dieser Weltbilder zu verstehen. • Naturwissenschaften können emanzipatorisch wirken wegen der Freiheit der Wissenschaft und der Freiheit des Geistes, speziell − durch die Loslösung von der „Herrschaft der Faustregeln“ und von obrigkeitsstaatlichem Denken, − durch die Befreiung von ideologischen Zwängen und durch die Entlarvung von Vorurteilen, − durch das Offenlegen metaphysischer Implikationen. • Die „Suche nach Wahrheit“ war und ist ein wesentliches Motiv der physikalischen Forschung. • Leitideen der modernen Physik wie „Einfachheit“ und „Einheit“ der Theorien sollen im Physikunterricht transparent werden. • Physikalische Theorien sind Kulturgüter (wie andere Wissenschaften, wie künstlerische und religiöse Erzeugnisse).
Wirklichkeitserfa hrung wird durch naturwissenschaft liches Denken nie vollständig ausgeschöpft
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1 Warum Physikunterricht? • „Über Physik lernen“ hilft die Antinomien der naturwissenschaftlichen Methode im Hinblick auf Bildung zu beheben. 3. „Über die Natur der Naturwissenschaften lernen“ hat im Verlauf des 20. Jahrhunderts seine Bedeutung verändert. Driver et al. (1996, 16 ff.) geben folgende Begründungen: • Das Nützlichkeitsargument: Ein Verständnis der Natur der Naturwissenschaften ist notwendig, wenn man Naturwissenschaften verstehen und technische Objekte und Prozesse handhaben und erledigen soll, die einem im täglichen Leben begegnen. • Das demokratische Argument: Man muss die Natur der Naturwissenschaften verstehen, damit man gesellschaftlich-naturwissenschaftliche Probleme verstehen und an Entscheidungsprozessen teilnehmen kann. • Das kulturelle Argument: Ein Verständnis der Natur der Naturwissenschaften ist notwendig, um diese Naturwissenschaften als ein wesentliches Element der gegenwärtigen Kultur zu schätzen. • Das moralische Argument: Es ist von allgemeinem sittlichem Wert, die Normen der naturwissenschaftlichen Gemeinschaft mit ihren moralischen Verpflichtungen (Berufsethos) zu verstehen. • Das lernpsychologische Argument: Naturwissenschaftliche Inhalte werden durch die „Natur der Naturwissenschaften“ erfolgreicher gelernt. 4. Heute bilden erkenntnis- und wissenschaftstheoretische, wissenschaftshistorische, wissenschaftsethische, gesellschaftliche, politische und ästhetische Zusammenhänge im Umfeld der Naturwissenschaften diesen Begriff ab. Dafür wird hier der Ausdruck „Metastruktur der Naturwissenschaften“ verwendet. 5. In Deutschland fehlen bisher Studienpläne für die „Metastruktur der Natuwissenschaften“ in der Lehrerbildung. Allerdings wurden in England, USA Lehr- und Lernmaterialien publiziert, die auch für die Lehrerbildung verwendet werden können (z.B. Mc Comas 1998). Die in Deutschland publizierten Beispiele Kircher u. a. (1975), Meyling (1990), Grygier u.a. (2004), Hößle u.a. (2004), Höttecke (2008) sind ermutigende Anfänge. Empirische Untersuchungen, die das lernpsychologische Argument stützen, wurden (u.a.) von Sodian u.a. (2002), Grygier (2008) (Grundschule), Mikelskis – Seifert (2002), Leisner (2005) (Sek I), Meyling (1990) (Sek II) durchgeführt. Aus den Ergebnissen der TIMS-Studie folgern Baumert u. a. (2000b, 269): „...dass epistemologische Überzeugungen ein wichtiges, bislang nicht ausreichend gewürdigtes Element motivierten und verständnisvollen Lernens in der Schule darstellen“.
1.3 Die gesellschaftliche Dimension des Physikunterrichts 1205 1206 1207 1208 1209 1210 1211 1212 1213 1214 1215 1216 1217 1218 1219 1220 1221 1222 1223 1224 1225 1226 1227 1228 1229 1230 1231 1232 1233 1234 1235 1236 1237 1238 1239 1240 1241 1242 1243 1244 1245 1246 1247
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1.3 Die gesellschaftliche Dimension des Physikunterrichts „Der endgültig entfesselte Prometheus, dem die Wissenschaft nie gekannte Kräfte und die Wirtschaft den rastlosen Antrieb gibt, ruft nach einer Ethik, die durch freiwillige Zügel seine Macht davor zurückhält, dem Menschen zum Unheil zu werden“ (Jonas 1984, 7). Wir behandeln in diesem Abschnitt die Legitimation des Physikunterrichts in einer technischen Gesellschaft. Es wird die Ambivalenz der Technik skizziert und daran anschließend argumentiert, dass der Physikunterricht verpflichtet ist, Grundlagen für eine notwendige fachliche Aufklärung zu liefern. Diese ist eingebunden in die Diskussion über Sinn und Zweck der Technik. Die gesellschaftliche Dimension des Physikunterrichts ist erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Allgemeingut der Physikdidaktik geworden und hat, damit auch zusammenhängend, erst in neuerer Zeit Einzug in die Lehrpläne aller Schularten gehalten. Der Zusammenhang von Gesellschaft und Physik (Naturwissenschaften) erfolgt vor allem über die Technik. Was ist Technik? Wie verhält sich Technik zu anderen Bereichen unseres Lebens, zu Wirtschaft und Wissenschaft, zu Politik, zu Kunst und Religion? Ist sie etwas Gutes oder etwas Böses oder steht sie jenseits moralischer Werte? Wohin führt der Weg, wenn wir mit der Technik die Welt verändern – und mit der Technik uns selbst?
Was ist Technik?
1.3.1 Die moderne technische Gesellschaft 1. Der Mensch hat seit seinen Anfängen versucht, durch Technik seine biologischen „Mängel“ zu beheben. Der Aspekt des technischen Handelns durchzieht den Weg des Menschen bis in unsere Zeit. Zunächst ermöglichte Technik das Überleben unserer erst vor einigen Millionen Jahren entstandenen Spezies. Die heutige Technik entbindet weitgehend von Schwerstarbeit etwa im Bergbau, der Landwirtschaft, im Hoch- und Tiefbau usw. , sie versetzt die Gesellschaft auch in die Lage, sich eine artifizielle Welt an die Stelle der ursprünglich gegebenen zu setzen. Sachsse (1978) folgend, bedeutet technisches Handeln einen Umweg zu wählen, um ein Ziel leichter oder schneller zu erreichen. War bei der Verwendung des Faustkeils die Wirkung und damit der Nutzen noch unmittelbar zu erkennen, so hat sich durch Arbeitsteilung der Weg über die technischen Mittel immer mehr und unüberschaubar verlängert. „Der Mensch holt immer weiter aus. Immer umfassender, langfristiger und unanschaulicher sind die Umwege und die Bemühungen um die Herstellung von Hilfsmitteln“ (Sachsse 1978, 15),
Technisches Handeln: einen Umweg wählen, um ein Ziel leichter oder schneller zu erreichen
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Mit der Entwicklung der Technik hat sich die Lernfähigkeit des Menschen entwickelt
1 Warum Physikunterricht? etwa bei der Weitergabe von Erfahrung durch die Sprache, die Schrift, den Buchdruck, durch die technischen Medien unserer Tage. Da technisches Handeln als Folge der immanenten Möglichkeit zur Arbeitsteilung dann auch soziales Handeln ist, ist im Falle der Arbeitsteilung der soziale Effekt offensichtlich: In immer kürzerer Zeit ist es möglich Arbeit und Freizeit zu organisieren und dabei beispielsweise mit immer mehr Menschen zu kommunizieren. Hand in Hand mit der Entwicklung der Technik hat sich die Lernfähigkeit des Menschen entwickelt. Heute ist die Entwicklung der Lernfähigkeit durch Personen und Medien selbst ein sehr wichtiger Teil der modernen technischen Gesellschaft. Sachsse (1978, 56 f.) unterscheidet zwei Stufen der produktiven Technik. Die erste Stufe der Agrarkulturen entsteht durch das Sesshaftwerden der Menschen vor zehntausend Jahren. Die zweite Stufe ist die Epoche der Industrietechnik, die simplifizierend dargestellt mit der Erfindung der Dampfmaschine im achtzehnten Jahrhundert entstanden ist.
Die Industrietechnik löst sich bewusst vom Vorbild der Natur
Während die ursprüngliche Agrartechnik sich der Natur angepasst hat und von ihren Möglichkeiten her gar nicht anders konnte als sich anzupassen, löst sich die Industrietechnik bewusst vom Vorbild der Natur. Die philosophischen Grundlagen hierfür legen Bacon (1620) und Descartes (1637). Dem Menschen wird nun die gesamte Natur als Werkzeug, als technisches Instrument in die Hand gegeben, nicht nur Einzelstücke von ihr. Der Mensch wird zum Herrn und Eigentümer der Natur. Durch die Beherrschung der Natur kann das Paradies auf Erden geschaffen werden, so die Utopien von Francis Bacon bis Karl Marx. Es dauerte noch über hundert Jahre, bis diese Umorientierung sich in der Gesellschaft durchsetzte. In der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts wurden diese Ideen realisiert, die Industrialisierung des Planeten begann in England und Frankreich. Sachsse (1978) nennt folgende Merkmale der Industrietechnik:
Merkmale der neuen Industrietechnik
• den bewusst progressiven und revolutionären Charakter • keine systemimmanenten Grenzen wie in der Agrartechnik • Verwissenschaftlichung der Methode und damit zusammenhängend die Spezialisierung der Industrietechnik • Notwendige Integration der spezialisierten Funktionen in größeren Systemeinheiten • Verlust des anschaulichen Zusammenhangs zwischen Mittel und Zweck • Dynamik der Entwicklung der Industrietechnik.
1.3 Die gesellschaftliche Dimension des Physikunterrichts 1291 1292 1293 1294 1295 1296 1297 1298 1299 1300 1301 1302 1303 1304 1305 1306 1307 1308 1309 1310 1311 1312 1313 1314 1315 1316 1317 1318 1319 1320 1321 1322 1323 1324 1325 1326 1327 1328 1329 1330 1331 1332 1333
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Als eine Folge der dynamischen Entwicklung der Technik und ihres globalen Umfangs hebt Jonas (1984, 54 ff.) folgende Charakteristika der Technik hervor: • Die Verfügbarkeit der Technik • Die Leichtigkeit der Verfügung • Die Ohnmacht des Wissens hinsichtlich langfristiger Prognosen. Diese Eigenschaften und Merkmale der Industrietechnik bergen große Potentiale für Leben ermöglichenden, Leben erleichternden, Leben erhöhenden Nutzen, aber auch Leben zerstörende, Leben erschwerende, Leben erniedrigende Probleme in sich. Die Technik liefert „die Fülle der notwendigen Voraussetzungen für die Verwirklichung des Menschen auf dieser Erde, jedoch nicht die hinreichenden Bedingungen dafür“ (Sachsse 1978, 56). 2. Die Summe dieser Merkmale der Technik führt zu einer Veränderung der biologischen Grundparameter unserer menschlichen Existenz, „wie das unmittelbar durch die Steigerung der Bevölkerungsdichte und durch die Eruption der Lebensansprüche in die Augen springt“ (Sachsse 1978, 91 f.) In Lübbes optimistischer Interpretation der modernen Technik (Lübbe 1990, 152) sind es die offensichtlichen Lebensvorzüge und lebenswichtigen Vorteile, die zur rasanten Entwicklung der Technik und damit zur Dynamik in der Industriegesellschaft führen. Es sind vor allem die Überwindung der Armut, die damit verbundene soziale Sicherheit und die Erleichterung der Arbeit. Zu Letzterem zählt nicht nur die Verringerung der Schwerstarbeit durch die Erfindung und den Einsatz immer besserer und spezifisch einsetzbarer Maschinen, sondern auch die Vermeidung negativer Arbeitsfolgen wie Unfälle und arbeitsbedingtes Siechtum und frühes Altern. Mit der Produktivitätssteigerung mittels der modernen Technik ist neben der Arbeitserleichterung auch Zeitgewinn verbunden, der, sinnvoll genutzt, zur Bereicherung des Lebens und zur Selbstverwirklichung mit Hilfe der Technik führt (s. z. B. Storck 1977, 64 ff.). Sachsse (1978) und Jonas (1984) heben dagegen die Eigendynamik der technischen Entwicklungen hervor. Der Mensch ist in der Rolle des Zauberlehrlings gegenüber der von ihm geschaffenen Technik, durch diese manipulierbar und manipuliert.
Potentiale der Technik
Veränderung der menschlichen Grundparameter durch die Technik
• Überwindung der Armut, • soziale Sicherheit, • Erleichterung der Arbeit
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1 Warum Physikunterricht?
1.3.2 Veränderte Einstellungen zur Technik – Wertewandel Einstellungsänderungen durch globale Schäden und Bedrohungen - Treibhauseffekt - Lärm - Bodenerosion - Waffen
1. Die Gründe für Einstellungsänderungen zur modernen Technik liegen vor allem in den Technikfolgen. Dazu gehört auch, wie die Gesellschaft mit dem durch Technik gewonnenen „Überfluss“ lebt, wie sie ihn produziert, wie sie ihn konsumiert. Die Stichworte sind bekannt: die Energieverschwendung und die Ressourcenknappheit, die Schädigung der natürlichen Umwelt durch die übermäßige Nutzung fossiler Brennstoffe, die einen globalen Treibhauseffekt hervorrufen kann, die Energiegewinnung durch Kernbrennstoffe, die im Katastrophenfall über Menschenalter hinweg zu Genschädigungen und Tod in der belebten Natur führen, der Müll und die Müllentsorgung. Die durch die kürzere Arbeitszeit und entsprechende technische Entwicklungen möglich gewordene Mobilität von Abermillionen von Menschen rund um den Globus führen zu Verkehrstaus, jährlich Tausenden von Verkehrstoten, Lärm, Stress der Verkehrsteilnehmer, zu ökologischen Schäden durch den Bau immer neuer Verkehrswege, Autobahnen und Eisenbahntrassen, Luftverschmutzung durch Auto- und Flugzeugabgase. Das bedeutet Beeinträchtigung von Lebensqualitäten für das Individuum und langfristige, globale Schädigungen des Ökosystems. Im Bewusstsein der Bevölkerung der modernen technischen Gesellschaften kommt eine solche Bedrohung auch von der Produktion von Nahrung für die ständig wachsende Weltbevölkerung: Tropenwälder werden brandgerodet für billigen Profit für wenige Jahre, aber mit der Folge von Bodenerosion. Grundwasser wird durch Überdüngung der Böden ungenießbar. Ständig wachsende Viehherden reduzieren oder vernichten die Vegetation in Steppengebieten, so dass sich jährlich große Flächen in unfruchtbare Wüste verwandeln. Durch den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln wird die natürliche Flora und Fauna empfindlich geschädigt oder zerstört. Gifte gelangen in die Nahrungskette. Die Folgen der Biotechnik für den Einzelnen und die Gesellschaft sind gegenwärtig noch unkalkulierbar. Schließlich sei an ein weiteres Produkt der modernen Technik erinnert, das ganz evident als unmittelbare Bedrohung empfunden wird, die Waffentechnik. Mittels atomarer, biologischer und chemischer Waffen ist die Vernichtung nicht nur der Menschen, sondern wahrscheinlich aller höherentwickelten Lebewesen auf dem Erdball in den Bereich des Möglichen gerückt. Selbst die Weiterentwicklung konventioneller Waffen mit unvorstellbarer Präzision, mit unvorstellbaren Einsatzbedingungen, unabhängig von Tag und Nacht,
1.3 Die gesellschaftliche Dimension des Physikunterrichts 1377 1378 1379 1380 1381 1382 1383 1384 1385 1386 1387 1388 1389 1390 1391 1392 1393 1394 1395 1396 1397 1398 1399 1400 1401 1402 1403 1404 1405 1406 1407 1408 1409 1410 1411 1412 1413 1414 1415 1416 1417 1418 1419
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unabhängig von jeder Witterung, führen zu latenter Beunruhigung. Zusammen mit dem Eindringen in die Privatsphäre, den Möglichkeiten mit Hilfe der modernen Technik in Wohnungen Gespräche zu überwachen, entsteht ein Gefühl des permanenten Ausgeliefertseins: an diese Waffen, an diese Spionagetechnik, an jede Technik. Huxleys „Schöne neue Welt“ könnte zur Realsatire werden. 2. Die Lebensbedingungen in der modernen technischen Gesellschaft ändern Einstellungen nicht nur durch Angst und Schrecken. Auch die positiven Seiten der Technik tragen zu Einstellungsänderungen bei. Der Zeitgewinn, mehr Freizeit und die höhere Prosperität großer Bevölkerungsschichten in den westlichen Demokratien führten zu einem anderen Umgang mit den Produkten. Ausdrücke wie „Wegwerfgesellschaft“, „Freizeitgesellschaft“ oder „Konsumgesellschaft“ deuten solche Einstellungsänderungen an. Hedonismus wurde spätestens seit den siebziger Jahren zum Lebenssinn einer „Gesellschaft im Überfluss“ (Galbraith 1963).
Einstellungsänderungen durch Überfluss
Sogenannte sekundäre Tugenden wie Fleiß, Disziplin, Ordnungsbereitschaft, Zuverlässigkeit nehmen ab. Sie spielen in der Lebensorientierung etwa des Bildungsbürgertums eine geringere Rolle als „eine Gruppe feinerer Lebensorientierungen: Kreativität, Sensibilität ... Selbstverwirklichung“ (Lübbe 1990, 156). Diese neuen Werte sind eine mittelbare Folge der in den siebziger Jahren beginnenden Technikkritik: Aus einem Gefühl der Ohnmacht gegenüber einer Politik, die fraglos auf die weitere Entwicklung der Technik (Kerntechnik, Verkehrstechnik, Waffentechnik, Agrartechnik, Gentechnik) setzt, erfolgt ein Rückzug ins Private, in die überschaubaren Bereiche der Familie, in den Hobbybereich, in die karitativen Organisationen, die Sportvereine. Letztlich sind es aber nur kleine Randgruppen, sogenannte „Aussteiger“, die sich dem Einfluss der modernen technischen Gesellschaft zu entziehen versuchen, indem sie ohne die konsumtiven Ansprüche der Mehrheit der Bevölkerung ein Leben in ländlicher Idylle führen. 3. In soziologischer Betrachtung (Hillmann 19892, 177 ff.) beginnt in den achtziger Jahren ein Wertewandel, der alle wichtigen Bereiche der Lebenswelt tangiert: • Natur und Leben (z. B. Erhaltung eines menschenwürdigen naturverbundenen Lebens, gesunde Lebensweise und Ernährung) • Arbeit und Beruf (z. B. Humanisierung der Arbeit, Arbeitsplatzsicherheit, Jobdenken) • Technik und Wirtschaft (z. B. ökologische Verträglichkeit, energie- und rohstoffsparende Wirtschaftsweise)
Wertewandel in allen wichtigen Bereichen der Lebenswelt
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1 Warum Physikunterricht? • Konsum (z. B. ökologisch orientierte Sparsamkeit, Rücksichtnahme auf die Dritte Welt, Verbraucherschutz) • Staat, Herrschaft und Politik (z. B. Persönlichkeitsschutz, Entstaatlichung, Rüstungskontrolle) • Gesellschaftliches, mitmenschliches Zusammenleben (z. B. Emanzipation der Frau, Gemeinschaftssinn, Mitmenschlichkeit) • Persönlichkeitsbereich: Selbstverständnis, Emotionalität, Denkstile (z. B. der Mensch als kreative und aktiv handelnde Sozialpersönlichkeit, seelische Ausgeglichenheit, vernetztes Denken). Insbesondere der Natur- und Umweltschutz fand sehr aktive Unterstützung durch Gruppen wie „Greenpeace“. Letztere erreichte durch spektakuläre Aktionen weltweite Aufmerksamkeit für bedrohte Tierarten ebenso wie bei ihren Aktionen gegen Atomwaffenversuche im Pazifischen Ozean. In anderen Bereichen treten „Wertwandlungstendenzen nur als langsam ablaufende, geringfügige Schwerpunktsverlagerungen in Erscheinung“ (Hillmann 19892, 187). Dieser seitens der Soziologie diagnostizierte Wertewandel enthält implizite Leitideen für den naturwissenschaftlichen Unterricht. Aus den deskriptiven Aussagen der Soziologie werden normative Leitideen, z. B. aus dem Bereich „Arbeit und Beruf“: • Einsicht in die Humanisierung der Arbeitswelt durch die Mikroelektronik gewinnen
Leitideen für den naturwissenschaft lichen Unterricht
• Entwicklung von Fähigkeiten und Einstellungen zur erfolgreichen Teilnahme/Organisation von modernen Arbeitsprozessen (Nutzung von Internet und E-Mail zur Kommunikation und Wissensbeschaffung).
1.3.3 Technik- und Wissenschaftsethik 1. Kurz vor der Jahrtausendwende ist in einigen dicht bevölkerten Staaten mit demokratischen Strukturen das Bewusstsein für die globale und lokale Umwelt gewachsen. Die UNO hat versucht, weltweit geltende Verträge durchzusetzen. Parlamente wurden gesetzgeberisch tätig. Die meisten Staaten der Erde haben den Atomwaffensperrvertrag unterzeichnet, sowie Verträge, die die Produktion chemischer und biologischer Waffen verbieten. Auf internationalen Konferenzen wird versucht, den globalen CO2-Ausstoß zu reduzieren, weil diese Folge der modernen technischen Gesellschaft einen „Treibhauseffekt“ hervorruft, der aufgrund der höheren Temperatur gehäuft Naturkatastrophen auf dem Globus erwarten lässt (s. z. B. Kümmel 1998).
1.3 Die gesellschaftliche Dimension des Physikunterrichts 1463 1464 1465 1466 1467 1468 1469 1470 1471 1472 1473 1474 1475 1476 1477 1478 1479 1480 1481 1482 1483 1484 1485 1486 1487 1488 1489 1490 1491 1492 1493 1494 1495 1496 1497 1498 1499 1500 1501 1502 1503 1504 1505
2. Der Natur- und Umweltschutz wurde in die Verfassungen der Bundesländer übernommen. Es gibt Umweltministerien, in den Großstädten wurden Umweltreferate geschaffen. Städte und Gemeinden errichteten zur Ressourcenschonung lokale Recyclingzentren, „Wertstoffhöfe“, in denen Metall, Glas und Papier gesammelt wird. Außerdem wird organischer Müll kompostiert, Sondermüll in speziellen Deponien entsorgt. Lärmbelästigungen durch den Verkehr werden durch Lärmschutzwälle und andere lärmdämmende und lärmverhindernde Maßnahmen reduziert. Luftmessstationen in den Städten können Smogalarm auslösen. Spezielle Abteilungen der Polizei befassen sich ausschließlich mit der Umweltkriminalität. Deutsche Politiker haben auf die Sorgen der Bürger reagiert.
49 Lokale und globale Umweltschutzmaßnahmen
In den Haushalten werden Energiesparlampen verwendet, Wärmeschutzmaßnahmen an Gebäuden werden ebenso steuerlich begünstigt wie die Modernisierung von Heizanlagen. Das 3l-Auto ist keine Utopie mehr (v. Weizsäcker u. a.1996; Schmidt-Bleek, 1997). Die individuell für Körperpflege, Haushalt, Beruf und Freizeit aufgewendete Energie hat sich in Deutschland in den vergangenen Jahren verringert, aber es kann im Jahre 2009 immer noch ca. 40% der Heizenergie durch Dämmmaßnahmen eingespart werden. 3. Auch in der Schule ist der Natur- und Umweltschutz als Leitziel vertreten. Schulklassen säubern Wald und Flur, Schüler trinken ihre tägliche Milchration aus Mehrwegflaschen. Sie pflanzen Büsche und Bäume, legen Schulgärten und Feuchtbiotope an.
Neues Leitziel der Schule: Natur- und Umweltschutz
4. Schließlich seien auch die Anstrengungen in der Industrie erwähnt, umweltverträgliche Produkte auf umweltverträgliche Weise zu erzeugen. Manche Weltfirmen können oder wollen es sich nicht mehr leisten, auf die Technikbewertung (Hubig 1993, 136), auf die sogenannte „Umweltverträglichkeitsprüfung“ (UVP) und das „ÖkoAudit“ (s. v. Weizsäcker u.a. 1996, 282) zu verzichten. Wirtschaftswissenschaftler (s. z. B. Binswanger 1991) haben kalkuliert, dass sich Umweltschutz nicht nur ökologisch, sondern auch ökonomisch lohnt. In der Bundesrepublik hat der Wertewandel Konsequenzen in der Gesellschaft hervorgerufen: In Parteien, staatlichen Verwaltungen, im öffentlichen und privaten Leben hat insbesondere der Naturund Umweltschutz seine Spuren hinterlassen.
Umweltverträglich keitsprüfung in der Industrie
5. Demgegenüber kann man auch eine Negativbilanz aufmachen, in der Versäumnisse aufgeführt sind, gegenläufige Tendenzen zum oben aufgeführten Trend. So sollte z. B. eine Änderung der Verkehrspolitik mit einer Förderung des Schienenverkehrs ordnungspolitisch resoluter durchgesetzt werden. Das mit zunehmender Si-
Zur Negativbilanz: Versagen freiwilliger Selbstkontrolle
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1 Warum Physikunterricht? cherheitstechnik in den Autos wieder zunehmende individuelle Fehlverhalten, Raserei auf Deutschlands Straßen, könnte, wie etwa in den USA durch verstärkte Kontrollen und empfindlichere Strafen eingedämmt werden. Umweltsünder, die Ölreste, Säuren und Laugen in den Weltmeeren verklappen, härter bestraft werden. Den „Erfolgen gesetzlicher Zwänge steht das Versagen freiwilliger Selbstkontrolle gegenüber“ (Kümmel 1998, 103). Man kann zusammenfassend feststellen: • Die notwendigen gesetzgeberischen Maßnahmen, um Technikfolgeprobleme zu beherrschen, sind in der Bundesrepublik recht weit gehend erfolgt. Diese Maßnahmen sind aber noch nicht durchgängig umgesetzt. Dies gilt insbesondere für internationale Vereinbarungen. • Das Wissen um die Bedeutung von Natur- und Umweltschutz hat sich in der bundesdeutschen Bevölkerung verbreitert. Konsequentes umweltbewusstes Verhalten beschränkt sich allerdings auf eine kleine Minderheit. Weiterhin werden täglich Pflanzenund Tierarten auf dem Globus ausgerottet; sie sind für immer verschwunden. Es ist dasjenige Vergehen, das uns künftige Generationen am wenigsten vergeben werden (s. Wilson 1995).
1.3.4 Naturwissenschaftlicher Unterricht und das Prinzip Verantwortung Jonas: Neue Ethik erforderlich
Der Ausgangspunkt für die Überlegungen von Hans Jonas ist: Einem sensiblen Ökosystem steht eine Menschheit gegenüber, die die Natur immer mehr nutzt, ausnutzt, ausbeutet, mit immer mächtigeren Werkzeugen, mit immer effizienterer Technologie. Jonas argumentiert, dass mit der neuen Technik und dem damit verbundenen Fortschritt neuartige Fragen verbunden sind, die mit der herkömmlichen Ethik nicht zu beantworten sind: Fragen im Zusammenhang mit der Lebensverlängerung, mit der Erzeugung von Leben mit Hilfe der Technik. Ein wesentliches Element dieser neuen Ethik ist das „Prinzip Verantwortung“. Dieses schließt nicht wie herkömmlich vor allem den Menschen ein, sondern auch die belebte und unbelebte Natur (s. Jonas 1984, 95). Verantwortung bedeutet, die Toleranzgrenzen der Natur zu beachten: Fortschritt ja, aber mit Vorsicht, so dass das Ökosystem der Erde dauerhaft erhalten bleibt. Im Zweifelsfalle ist Risiko zu meiden: also nicht wie bisher, „wer wagt, gewinnt“, sondern der Vorrang der
1.3 Die gesellschaftliche Dimension des Physikunterrichts 1549 1550 1551 1552 1553 1554 1555 1556 1557 1558 1559 1560 1561 1562 1563 1564 1565 1566 1567 1568 1569 1570 1571 1572 1573 1574 1575 1576 1577 1578 1579 1580 1581 1582 1583 1584 1585 1586 1587 1588 1589 1590 1591
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schlechten Prognose vor der guten. Diese Maxime wird auch damit begründet, dass einerseits unser Wissen über die Zukunft gering ist und dass andererseits für Jonas eine Pflicht für die Zukunft der Menschheit besteht. Jonas’ Entwurf einer neuen Ethik ist eine radikale Kritik an westlichen und östlichen Leitbildern, die bei aller Verschiedenheit einen Anthropozentrismus ebenso gemeinsam haben wie ihre Utopien über die Gesellschaft, seien diese als „Gesellschaft im Überfluss“ oder als „Paradies auf Erden“ benannt. Statt Überfluss als Ziel ist Bescheidenheit notwendig, kein Hedonismus sondern Genügsamkeit, Askese, Verzicht. Zur Verwirklichung dieses Leitbilds muss auch die Schule beitragen. Dem naturwissenschaftlichen Unterricht fällt dabei die wichtige Aufgabe zu, die Notwendigkeit von Technik auch unter diesem Leitbild verständlich zu machen:
Jonas’ neues Leitbild: Bescheidenheit und Verzicht
Die ständig wachsende Bevölkerung kann nur durch Anwendung von Technik ein menschenwürdiges Dasein führen. Naturwissenschaftliches Wissen hat damit eine neue fundamentale Rolle in der Moral: „Wissen (wird) zu einer vordringlichen Pflicht über alles hinaus, was je vorher für seine Rolle in Anspruch genommen wurde, und das Wissen muss dem kausalen Ausmaß unseres Handelns größengleich sein“ (Jonas 1984, 28).
Naturwissenschaft liches Wissen hat eine neue fundamentale Rolle in der Moral
Jonas folgend liegt das Problem darin, dass das vorhersagende Wissen der Naturwissenschaften hinter dem technischen Wissen, „das unserem Handeln Macht gibt“, zurückbleibt. Auch Jonas schlägt zur Lösung dieses Konflikts, die Reflexion über das Wissen und das Nichtwissen vor, ethische Reflexionen über Naturwissenschaft und Technik.
Ethische Reflexionen über Naturwissenschaft und Technik
Mit Jonas Argumenten liegt eine weitere fundamentale Begründung für den naturwissenschaftlichen Unterricht vor.
1.3.5 Umwelterziehung und Bildung der Nachhaltigkeit 1. Das Ziel der Umwelterziehung ist das Wecken eines Umweltbewusstseins. Dieser Ausdruck enthält in der Interpretation von de Haan & Kuckartz (1996) die drei Komponenten: Umweltwissen, positive Umwelteinstellungen und sinnvolles Umweltverhalten. Ein einfaches Modell der Umwelterziehung nimmt an, dass Umweltwissen positive Umwelteinstellungen bewirkt, die auf einen verbesserten Umweltschutz ausgerichtet sind. Die Umwelteinstellungen steuern dann das Umweltverhalten, z. B. der sparsame Umgang mit Energie im Haushalt, bei der Körperpflege oder bei der
Umweltbewusstsein: Umweltwissen, Umwelteinstellung, Umweltverhalten
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1 Warum Physikunterricht? Beleuchtung, im Verkehr durch den Kauf sparsamer Autos, durch die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel, durch Verzicht auf Fernferienreisen mit dem Flugzeug wegen des immensen Kerosinverbrauchs pro Fluggast und der damit verbundenen Luftverschmutzung.
Änderung des Lebensstils
Umweltverhalten ist kein homogener Verhaltensbereich
Die Analyse der zahlreich durchgeführten empirischen Untersuchungen im In- und Ausland haben dieses einfache Modell nicht bestätigt. Zwischen Umweltwissen, Betroffenheit, Einstellungen und Verhalten bestehen nur geringe Zusammenhänge. Für das tatsächliche Umweltverhalten spielen andere Charakteristika der Menschen einer technischen Gesellschaft eine Rolle: die Sozialisation durch den Beruf, die ökonomischen Interessen und die Lebensstile (s. Haan & Kuckartz 1996, 238). Besonders deutlich wird der Unterschied zwischen Umweltwissen und Umweltverhalten bei Lehrern. Denn obwohl diese Umwelterziehung im Unterricht praktizieren und sie auch über kompetentes Umweltwissen verfügen, sind ihre Umwelteinstellungen nur „durchschnittlich“. Jugendliche (10. Klasse) sehen in den Lehrern bezüglich des Umweltverhaltens schlechte Beispiele, denn es fällt ihnen u. a. schwer, öffentliche Nahverkehrsmittel zu benutzen, auf bestimmte umweltschädigende Sportarten zu verzichten, in der Freizeit an Natur- und Umweltschutzprojekten mitzuarbeiten oder diese gar zu initiieren (de Haan & Kuckartz 1996, 159). Es zeigt sich insgesamt, dass Umweltverhalten kein homogener Verhaltensbereich ist. Umweltverhalten, das keine größeren Opfer verlangt, wie z. B. die Abfallsortierung, wird eher praktiziert als Abfallvermeidung oder der öffentliche Einsatz zugunsten des Naturschutzes. Während beim Einkaufsverhalten bei bestimmten Produkten (z. B. Waschmittel) der Umweltschutz eine große Rolle spielt, ist dies bisher beim Verkehrsverhalten nicht der Fall. Beim umweltgerechten Energiesparen ist auch das finanzielle Motiv wichtig. Es gibt noch weitere hemmende Motive für positives Umweltverhalten wie die persönliche Bequemlichkeit und der erwähnte Lebensstil. Trotzdem wäre es verfehlt, der Schule in diesem Bereich Versagen vorzuwerfen. Umweltbewusstsein ist insbesondere in der Bundesrepublik zu einem sozialen Tatbestand geworden. Und sicherlich hat die Umwelterziehung dazu beigetragen, dass der Umweltschutz in unserer Gesellschaft für sehr wichtig gehalten wird, auch wenn der Beitrag der öffentlich-rechtlichen Medien oder von „Greenpeace“ größer sein dürfte als der der Schule (s. de Haan & Kuckartz 1996, 63 ff.).
Umweltwissen reicht nicht aus
2. Nachdem sich gezeigt hat, dass Umweltwissen keinesfalls ausreicht, um positives Umweltverhalten ursächlich hervorzurufen, wird derzeit diskutiert, ob ein neues Leitbild in der Schule angestrebt und vermittelt werden soll. Nicht mehr Betroffenheit über aktuelle ge-
1.3 Die gesellschaftliche Dimension des Physikunterrichts 1635 1636 1637 1638 1639 1640 1641 1642 1643 1644 1645 1646 1647 1648 1649 1650 1651 1652 1653 1654 1655 1656 1657 1658 1659 1660 1661 1662 1663 1664 1665 1666 1667 1668 1669 1670 1671 1672 1673 1674 1675 1676 1677
genwärtige oder künftige Katastrophen sollen Auslöser für ein bestimmtes Umweltverhalten sein, sondern rationale Überlegungen wie die vorhandenen Ressourcen besser genutzt werden können, wie auch in den Entwicklungsländern Wohlstand erreicht werden kann, ohne dafür den gleichen Weg wie die Industriestaaten zu gehen. Es soll schließlich trotz einer noch steigenden Weltbevölkerung hinreichend Zeit für die Entwicklung neuer innovativer Produkte gewonnen werden, aber auch Zeit für die Verbreitung eines neuen Leitbildes. Dieses zielt zwar auf Einschränkungen, aber ohne Lebensqualität einzubüßen. Dieses Leitbild der „nachhaltigen Entwicklung“ („sustainable development“) wurde 1992 auf der Umweltkonferenz von Rio de Janeiro als Grundlage für nationale und internationale Umweltpolitik vorgeschlagen. Eine solche nachhaltige, zukunftsfähige Entwicklung soll folgenden Maximen genügen: • „Gleiche Lebensansprüche für alle Menschen (internationale Gerechtigkeit)
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Leitbild: Nachhaltige, zukunftsfähige Entwicklung
• Gleiche Lebensansprüche auch für künftige Generationen • Gestaltung des einer Nation unter diesen Prämissen zur Verfügung stehenden Umweltraums auf der Basis der Partizipation der Bürger. • Die Nutzung einer Ressource darf nicht größer sein als die Regenerationsrate … • Die Freisetzung von Stoffen darf nicht größer sein als die Aufnahmefähigkeit (critical loads) der Umwelt … • Nicht erneuerbare Ressourcen sollen nur in dem Maße genutzt werden, wie auf der Ebene der erneuerbaren Ressourcen solche nachwachsen …“ (de Haan & Kuckartz 1996, 273). Einige dieser Festlegungen durch die UNO implizieren auch Leitideen für den naturwissenschaftlichen Unterricht, die hier im Zusammenhang mit dem Wertewandel skizziert wurden (s. 1.3.2). Auch v. Weizsäcker u. a. (1996) halten einen Wertewandel für notwendig. Immaterielle Befriedigungen müssen sich gegen die gegenwärtig dominierenden materiellen Befriedigungen durchsetzen, sonst „haben wir keine Chance, das Wettrennen zwischen Effizienzzuwächsen und der Revolution der steigenden Erwartungen und der hemmungslosen Wachstumsspirale zu gewinnen“ (v. Weizsäcker u. a.1996, 326). 3. De Haan (1996, 283) stellt die kritische Frage, „wie dieses und wer denn dieses neue Umweltbewusstsein auf den Weg bringen
Umweltbewusstsein führt durch die Bildung
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1 Warum Physikunterricht? soll“. Für seine Antwort: „Der Weg führt durch die Bildung“, nennt er drei Gründe: • Umweltbewusstsein und -verhalten werden durch Lebens- und Denkstile und durch Vor-Urteile bestimmt. Diese sind erlernt und sie sind damit auch änderbar. • Eine nachhaltige, zukunftsfähige Entwicklung fordert von den Menschen der Industriestaaten im Namen künftiger Generationen und im Namen globaler Gerechtigkeit sich zu beschränken. „Ob man der Aufforderung zur Selbstbeschränkung folgen mag oder nicht, setzt Entscheidungskriterien voraus, über die man erst einmal verfügen muss. Und wie sonst sollen diese zugänglich werden, wenn nicht durch Unterrichtung und Diskurs?“ (de Haan & Kuckartz 1996, 284). • Bildung kann die kritische Reflexion vorhandener und die Entwicklung neuer Leitbilder fördern. Diese sind eine wichtige Voraussetzung für ein neues Umweltbewusstsein. Dieses wiederum ist „die Denkvoraussetzung einer epochalen Veränderung“ (de Haan & Kuckartz 1996, 284). Und um epochale Änderungen muss es tatsächlich gehen; es könnte sein, dass für die im Gefolge einer nachhaltig wirtschaftenden Weltgesellschaft anstehenden Änderungen der Ausdruck „Revolution des Weltbildes“ angemessen ist (de Haan & Kuckartz 1996, 277 ff.). Weitere komplexe interdisziplinäre technische, wirtschaftliche, soziologische Probleme sind die „Stoffproduktivität“ und die „Transportproduktivität“ (s. v. Weizsäcker u. a.1996). Es sind ebenso potentielle Themen für den Physikunterricht wie „Energieeffizienz“.
1.3.6 Zusammenfassende Bemerkungen Mehr naturwissenschaftlicher Unterricht
1. Die Darlegungen von Jonas (1984) machen deutlich, dass mehr naturwissenschaftlicher Unterricht nötig ist, um die anstehenden Probleme einer weiter wachsenden Erdbevölkerung lösen zu können. In der modernen technischen Gesellschaft ist die Individualität des Menschen eine Notwendigkeit, Mythos und Problem.
Neue überlebenswichtige Technologien
2. Die mit der nachhaltigen zukunftsfähigen Entwicklung zusammenhängende Bildung stellt eine neue Herausforderung für den naturwissenschaftlichen Unterricht dar. Neue überlebenswichtige Technologien gründen in den Naturwissenschaften und sie sind auch Teil der neuen Leitbilder.
1.4 Die pädagogische Dimension des Physikunterrichts 1721 1722 1723 1724 1725 1726 1727 1728 1729 1730 1731 1732 1733 1734 1735 1736 1737 1738 1739 1740 1741 1742 1743 1744 1745 1746 1747 1748 1749 1750 1751 1752 1753 1754 1755 1756 1757 1758 1759 1760 1761 1762 1763
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3. Leitideen zur gesellschaftlichen Dimension des Physikunterrichts: Wir sind auf naturwissenschaftlich-technische Bildung und Erziehung angewiesen, damit • Bürgerinnen und Bürger kompetent an Entscheidungen teilnehmen können über naturwissenschaftlich-technische Probleme mit gesellschaftlicher Relevanz • jedes Individuum sinnvolle Entscheidungen in Bezug auf seinen Beruf treffen kann • lokale und globale Katastrophen in einer modernen technischen Gesellschaft bewältigt oder vermieden werden können Naturwissenschaftlich- technische Bildung erlaubt, • die technisch geprägte Welt und ihre Risiken zu verstehen • die Freizeit sinnvoll zu nutzen • persönliche Interessen und geistige Beweglichkeit zu fördern • eigene und fremde körperliche Schäden zu vermeiden • sich einen umweltverträglichen Lebensstil anzueignen
Neue Leitbilder, neue Bildungsziele und Lebensstile können dazu beitragen, das gegenwärtige, ökologisch unangemessene menschliche Verhalten zu ändern
• sich gemeinsam aktiv für eine gesunde Umwelt und für verantwortungsvolle Nutzung der natürlichen Ressourcen einzusetzen, so dass die Welt für alle bewohnbar bleibt.
1.4 Die pädagogische Dimension des Physikunterrichts „Ich nenne eine Didaktik herzlos, die das eigene Denken der Kinder nicht achtet, statt sich von ihm auf den Weg bringen zu lassen“ (Wagenschein 1983, 129). Pädagogische Theorien einerseits (s. v. Hentig 1996) und Bürgerbewegungen andererseits fordern derzeit eine humane Schule, humanes Lernen in der Schule. 1. Wir erörtern in dieser Skizze zunächst verschiedene allgemeine Aspekte des humanen Lernens (s. Rumpf 1976; 1981;1986). Es geht dabei um Auffassungen, Wertschätzungen, Handlungsgewohnheiten, Handlungssysteme, die von Schülern in etablierten Lehreinrichtungen übernommen werden sollen und um Maßnahmen, die Lehrer einsetzen, um diese Änderungen zu bewirken. Humanes Lernen bedeutet, dass bei der Beurteilung der Lernprozesse nicht nur die Effektivität eine Rolle spielt, sondern auch der Vorgang des Lernens,
Humanes Lernen im Physikunterricht
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1 Warum Physikunterricht?
Werden natürliche Zugänge und Züge des menschlichen Lernens durch die Schule verschüttet?
insbesondere der Umgang des Lehrers mit den Schülern, mit deren Ideen und Weltbildern. In mittelbarer Weise ist für humanes Lernen auch der Umgang mit den Lerninhalten relevant. Denn die Art wie die Inhalte methodisiert und durch Medien illustriert werden, hat Auswirkungen auf die Schüler. Werden natürliche Zugänge und Wege des menschlichen Lernens durch die Schule verschüttet?
Umgang: kontinuierliches lernen
Ich verwende die Ausdrücke „Umgang“ (s. Rein 1909) und „Begegnung“ (s. Bollnow 1959). Sie erscheinen geeignet, um humanes Lernen in zwei besonderen Ausprägungen zu charakterisieren: Bei stetigen (kontinuierlichen) und bei unstetigen (diskontinuierlichen) Lernvorgängen. Neben dem Methodischen sind auch allgemeine Bildungs- und Erziehungsziele angesprochen. Dafür reichen die Auffassungen v. Hentigs und Klafkis nicht immer aus.
Begegnung: diskontinuierliches Lernen
2. Schüler können sich auf den Unterricht freuen und sie können die Schule mit Ängsten betreten, hoffend, dass der Schultag,, die gesamte Schulzeit bald vorbei ist. Diese Gefühle hängen von Lehrern und Lehrerinnen ab, von den Fächern, von den Mitschülern, von organisatorischen Gegebenheiten, unter denen Lernen stattfindet, humanes und inhumanes. Diese Beschreibung schließt ein, dass es Unterschiede zwischen Fächern und Fachlehrern gibt. So gelten Physiklehrer als streng, und Physik lernen ist schwierig (s. Kircher 1993). Es ist das Ziel dieses Abschnitts zu zeigen, dass humanes Lernen im Physikunterricht möglich ist. Es geht um Konkretisierungen, die aus der Leitidee „Humane Schule“ für den Physikunterricht zu ziehen sind.
1.4.1 Die übergangene Sinnlichkeit im Physikunterricht – eine Kritik Physiklernen in der Schule soll kein Optimierungsprozess sein: möglichst viel Wissen in möglichst kurzer Zeit
1. Nach herkömmlicher Auffassung ist die Schule eine Vorphase des Berufs; Schüler sind in einer Vorphase eines Erwachsenen. Vorstellungen und „Weltbilder“ der Schüler sind bestenfalls kuriose, vorläufige Ideen. Wegen dieses unreifen, unfertigen Zwischenstadiums erscheint es selbstverständlich, legitim, notwendig, die Schülerinnen und Schüler mit Wissen und Fähigkeiten auszustatten, damit sie als Erwachsene in einer von Wissenschaften geprägten Welt zurechtkommen. Dieser Aneignungsprozess ist insbesondere in den Naturwissenschaften zu optimieren im Hinblick auf ein möglichst umfassendes Wissen in möglichst kurzer Zeit, denn das naturwissenschaftlich-technische Wissen vergrößert sich immens, von Tag zu Tag, von Jahr zu Jahr. Für ein Kind bedeutet dies einen „Kurs in einer besonderen Askese: Es muss lernen, seine sinnlichen Welt-Resonanzen auf bestimmte Kanäle zu reduzieren und dort zu kontrollieren“ (Rumpf
1.4 Die pädagogische Dimension des Physikunterrichts 1807 1808 1809 1810 1811 1812 1813 1814 1815 1816 1817 1818 1819 1820 1821 1822 1823 1824 1825 1826 1827 1828 1829 1830 1831 1832 1833 1834 1835 1836 1837 1838 1839 1840 1841 1842 1843 1844 1845 1846 1847 1848 1849
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1981, 43). Formales Denken bedeutet, dass „das Subjekt als Träger einer Lebensgeschichte, einer vielfältig bestimmten Affektivität, eines Körpers in einer bestimmten Haltung und Verfassung, eines Geschlechts, einer bestimmten Lebenswelt ausgeklammert bleibt“ (Rumpf 1981, 135). 2. Bei einer solchen eingeengten Einführung in unsere Kultur und Zivilisation wird in Kauf genommen, dass der körperlich sinnliche Zugang zu den Phänomenen als störend und überflüssig empfunden wird. Es bleibt keine Zeit für die Schüler, ihre eigenen Meinungen zu überprüfen, weiter zu verfolgen, zu verwerfen, über die „Dinge“ zu fabulieren, sie in die Lebenswelt der Schüler einzubeziehen, sie zu hassen und zu lieben. So bleiben „die persönlichen, die grüblerischen, die tagträumerischen Gedanken … privat, unterhalb der Grenzlinie dessen, was … als Unterrichtsergebnis und -inhalt“ (Rumpf 1981, 135) vorgezeichnet ist. Dieser Trend in der Schule „zur Profilierung des Lernens auf eindeutig gemachte Bahnen, die die Lernprozesse zu Punktlieferanten macht“ (Rumpf 1981, 140), ist allerdings nicht neu, sondern auch ein Ergebnis einer durch und durch verwalteten Lebenswelt, die ihrerseits Folge der neuzeitlichen technischen Gesellschaft und ihrer Weltbilder ist. Dieser Prozess begann in Europa mit der Industrialisierung und der Schaffung zentralistischer Staaten. 3. Die hier skizzierte allzu rasche Aneignung des Wissens durch stereotype „Normalverfahren“ des Unterrichtens unter weitgehender Ausblendung lebensweltlicher Erfahrungen führt häufig zu mechanischem Lernen, zu unverstandenem Wissen, das die Schülerinnen und Schüler rasch wieder vergessen. Zu diesen aus der Sicht der betroffenen Schüler inhumanen Lernwegen kommt eine weitere Ursache für rasches Vergessen hinzu, die „leicht-fertige“ Übernahme der Fachsprache. Häufig erhalten Wörter der Umgangssprache, die in der Physik als Fachausdrücke verwendet werden, in diesem Kontext eine neue, andersartige Bedeutung. Ein physikalischer „Körper“ ist ohne Sinnlichkeit, nur ein abstraktes Ding, ist ohne Form und Farbe, ohne Bezug zur Lebenswelt. Außerdem werden in der Physik durch die Verwendung mathematischer Symbole gesetzmäßige Zusammenhänge zusätzlich abstrahiert und verkürzt dargestellt. Diese Vorteile der Naturwissenschaften, die Verwendung einer Fachsprache und die mathematische Darstellung, bedeuten für viele Lernende immense Schwierigkeiten. Es wird verfrüht eine Auskunft gegeben, nach der die Schüler nicht verlangen. Wagenschein (19764, 85) nennt dies „Korruption ihres Denkens“. Unterrichts- und Schulbuchanalysen
Der körperlich sinnliche Zugang zu den Phänomenen ist nicht störend und überflüssig sondern notwendig
Inhumane Lernwege durch Normalverfahren
„Leicht-fertige“ Übernahme der Fachsprache
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1 Warum Physikunterricht? ergaben, dass in einer Physikstunde mehr neue Fachbegriffe eingeführt werden als in einer Fremdsprache und das, obwohl physikalische Begriffe abstrakt, das heißt unanschaulich sind; außerdem sind sie „theoriegeladen“. Es ist erstaunlich, dass diese Tatsachen in manchen Schulbüchern immer noch übergangen werden.
Die Umgangssprache ist für ein ursprüngliches Verstehen der Physik notwendig
Exemplarisches Lehren und Lernen wird im Physikunterricht kaum befolgt
Andererseits haben Thiel und Wagenschein (s. Wagenschein, Banholzer & Thiel 1973) in vielen Unterrichtsbeispielen gezeigt, dass eine sinnlich-lebensweltliche und daher verständliche Umgangssprache ausreicht, um auch im Physikunterricht zu kommunizieren, mehr noch, dass die Umgangssprache für ein ursprüngliches Verstehen der Physik notwendig ist. „Die Muttersprache führt zur Fachsprache ohne zu verstummen. Die Umgangssprache wird nicht überwunden sondern überbaut“ (Wagenschein 1983, 81). 4. Ein weiteres Moment der übergangenen Sinnlichkeit rührt von Einstellungen mancher Lehrer, mit der Stofffülle in den Lehrplänen fertig zu werden: Sie fühlen sich angesichts übervoller Lehrpläne gedrängt zur oben skizzierten „Optimierung“ der Lernwege in den 45-Minuten-Takt einer Schulstunde. Gibt es dazu keine Alternativen? Die pädagogische Aufforderung „Mut zur Lücke“ und damit zusammenhängend das „exemplarische“ Lehren und Lernen (s. 4.2.1), wird nicht nur in der Praxis des Physikunterrichts kaum befolgt. Die Gründe dafür können ganz unterschiedlich sein: allgemeines Pflichtbewusstsein, auch einen Lehrplan möglichst buchstabengetreu auszuführen, Angst vor der Schulaufsicht, mangelndes Selbstbewusstsein gegenüber dem Kollegen, der die Klasse im nächsten Schuljahr übernehmen wird. Nicht ganz auszuschließen ist bei Physiklehrern eine gewisse Arroganz gegenüber pädagogischen Argumenten, falls diese in ihrer Ausbildung ausschließlich durch die Fachwissenschaft geprägt wurden und ihnen beispielsweise das Wissen über die Bedeutung des Sinnlichen und die Bedeutung der Schülervorstellungen für das Physiklernen fehlt.
1.4.2 Schulphysik als Umgang mit den Dingen der Realität Phänomene werden durch moderne Messgeräte verdeckt
1. Wagenscheins Aufruf: „Rettet die Phänomene“, ist heute so aktuell wie eh und je. Wagenscheins Anlass dazu war die hier erörterte „übergangene Sinnlichkeit“, die vorschnelle Einführung von physikalischen Begriffen und Modellen. Heute kommt die Sorge hinzu, dass die Phänomene kaum wahrnehmbar sind, weil sie von modernen Messgeräten wie dem Computer verdeckt werden, nicht mehr verwundern, nicht überraschen, nicht mehr überzeugend sind, weil
1.4 Die pädagogische Dimension des Physikunterrichts 1893 1894 1895 1896 1897 1898 1899 1900 1901 1902 1903 1904 1905 1906 1907 1908 1909 1910 1911 1912 1913 1914 1915 1916 1917 1918 1919 1920 1921 1922 1923 1924 1925 1926 1927 1928 1929 1930 1931 1932 1933 1934 1935
miniaturisierte Messfühler verwendet werden, deren „Äußerungen“ analog-digital-gewandelt nur der Computer versteht. Und es beunruhigt auch, dass die Realität vorwiegend nur noch aus zweiter Hand über Medien erfahren wird. Das bedeutet auch, dass die Ästhetik und die Würde der physikalischen Realität verschwindet, wenn der „Umgang“ mit den Dingen fehlt.
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Realität wird vorwiegend aus zweiter Hand erfahren
Der pädagogische Begriff „Umgang“ geht auf Herbart zurück. Umgang ist „eine rechte Quelle für das Mitgefühl und die Teilnahme“ und damit zusammenhängend charakterbildend. Außerdem fördert der Umgang das Naturverständnis (Rein 1909, 370). Unbestritten ist, dass „Umgang mit der Sache“ interessefördernd ist. In neuerer Zeit wird der Begriff durch „Umgang mit der Sache“ zu einer didaktischen Kategorie. Langeveld (1961, 127) fasst die sozialen Ziele des „Umgangs“ zusammen: „Wer mit anderen umgeht, erstrebt wechselseitiges Verstehen, gleiche Ausrichtung im Denken, Tun und Fühlen, kurzum Einvernehmen, Harmonie und Zusammengehörigkeit“. In der Physikdidaktik hat Wagenschein (1976, 119 ff.) „Physik als bildender Umgang mit der Natur“ postuliert auf dem Hintergrund der Bildungstheorie. Neuerdings erlangt „Umgang“ im Hinblick auf die Umwelterziehung neue Aktualität, wenn ein dialogisches Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt gefordert wird. Wir verwenden im Folgenden diesen Ausdruck, um humanes Lernen in seiner wesentlichen Ausprägung im Physikunterricht zu charakterisieren. 2. Die physikalischen Objekte der Schulphysik sind im Allgemeinen greifbar und mit der menschlichen Erfahrung der Lebenswelt verbunden: die alte Glühlampe und die moderne Energiesparlampe oder das Metronom. Das Metronom aus dem Musikunterricht können wir beispielsweise als Zeitmesser bei der Einführung des physikalischen Begriffs „Geschwindigkeit“ mindestens genau so gut verwenden wie eine Stoppuhr und besser als eine elektronische Uhr, obwohl wir mit dieser auf eine hunderttausendstel Sekunde genau messen können. Aber das Metronom ist immerhin zuverlässiger als unser Pulsschlag und deutlicher wahrnehmbar als dieser. Der Pendelschlag ist unübersehbar, unüberhörbar, alle Schüler können sich an der Zeitmessung beteiligen. Das Metronom ist dann ein didaktisch relevantes Messgerät, wenn ein bewegtes Objekt sich hinreichend langsam fortbewegt, so dass man dessen Änderung im Raum, zwischen zwei Taktschlägen leicht verfolgen kann. Münzen, kleine Gewichtstücke oder Kastanien können den jeweils zurückgelegten Weg markieren. Ein anderes Beispiel: Wir bauen aus unserem Klassenzimmer, wie schon von Wagenschein vorgeschlagen, eine „camera obscura“, eine „Loch-
Geräte aus der Lebenswelt
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1 Warum Physikunterricht? kamera“, die uns ein scharfes Panoramabild des nahen Berges liefert, genauso auf dem Kopf stehend wie bei einem Dia, aber ganz ohne Linse. Schön u.a. (2003) haben zahlreiche weitere Beispiele aus der Optik publiziert.
Realitätserfahrung soll mit Kopf, Herz und Hand gewonnen und zugänglich werden
„Viele der Gegenstände, an denen eine naturwissenschaftlich orientierte Betrachtung anhebt, sind von einem Hof ästhetisch-sinnlicher Bedeutungen umgeben“ (Schreier 1994, 29). Neue Realitätserfahrungen sollen mit Kopf, Herz und Hand gewonnen werden.
Umgang mit den Dingen fördert Sensibilität und Empathie
Umgang mit den Dingen kann also nicht nur die Entwicklung einer sachgebundenen Sensibilität und Empathie fördern, sondern auch individuelle und soziale Empfindsamkeit und individuelles und soziales Einfühlungsvermögen. Daraus kann individuelles Interesse entstehen, personale Identität, Kompetenz und Selbstbewusstsein gewonnen werden. Es kann sich in einer Lerngruppe oder in der Klassengemeinschaft ein „Wir-Gefühl“ entfalten, das die Auseinandersetzung mit der Realität zu einer gemeinsamen Angelegenheit, zu einem unvergesslichen Erlebnis der Schulzeit werden lässt, aus der sich soziale Identität entwickeln kann.
Umgang mit den Dingen kann zu Respekt und Ehrfurcht führen
4. Die sachgebundene Sensibilität, die der Umgang mit den Dingen hervorrufen kann, lässt auch die Eigenständigkeit und die Fremdheit der Dinge gewahr werden, lässt die gewaltige „Autorität der Natur“ in kosmischen wie in submikroskopischen Bereichen empfinden, erahnen. In die Beschreibungen vieler Naturwissenschaftler mischen sich Gefühle der Erhabenheit, der Ehrfurcht vor den Phänomenen, Glücksgefühle, ein kleines oder großes Stück der Realität verstanden zu haben. Dies kann zu Respekt und Ehrfurcht führen wie bei Einstein, der schließlich voll Erstaunen feststellt: Das Unbegreiflichste an der Wirklichkeit ist ihre Begreifbarkeit.
3. Umgang mit den Dingen der Realität bedeutet deren Eigenart hervorkommen, sich entfalten lassen, als ästhetische Phänomene wirken, faszinieren lassen. Solche ganz unphysikalischen Auswirkungen können bei einzelnen Schülern etwa bei der Beobachtung der brownschen Molekularbewegung mit dem Schülermikroskop auftreten oder bei allen Schülern einer Klasse, wenn dieses Teilchengewimmel auf die Wand projiziert wird und Überraschung, Freude an diesem Phänomen und dadurch Dialoge, Kommunikation zwischen den Schülern auslöst, nicht nur physikalische.
5. Mit der belebten Natur, mit höherentwickelten Tieren und Pflanzen findet fraglos pädagogischer Umgang statt. Umgang auch mit
1.4 Die pädagogische Dimension des Physikunterrichts 1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021
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niederen Lebewesen, mit der toten Materie, mit der sich der Physikunterricht vorwiegend beschäftigt? Polanyi (1985) und Jonas (1984) argumentieren, dass wir auch gegenüber der unbelebten Natur eine ursprüngliche Verantwortung haben, mit dieser verantwortungsvoll umgehen müssen. Polanyi (1985, 83) verweist darauf, dass die tote Materie Lebendiges aus sich entstehen lässt und die Materie dadurch ihren ursprünglichen Sinn erhält. Jonas (1984, 147). erkennt in der vorbewussten Natur eine nicht partikuläre und nicht willkürliche „Subjektivität der Natur“. Aufgrund dieser Subjektivität der toten Materie ist ein „Heischen der Sache“ möglich, das Verantwortungsgefühl und einen verantwortungsvollen Umgang mit der Sache hervorruft (Jonas 1984, 174 ff.).
Wir haben auch gegenüber der unbelebten Natur eine ursprüngliche Verantwortung
1.4.3 Begegnung mit den Dingen der Realität in der Schulphysik 1. Bildung wird üblicherweise als ein kontinuierlicher Vorgang betrachtet, der sich über ein Menschenleben erstreckt. Aus der Zeit der Aufklärung stammt die Vorstellung, dass der Lehrer als ein Handwerker betrachtet wird, der durch „planmäßige Anwendung der richtigen Methoden,.. bei hinreichender Ausdauer und hinreichender Materialkenntnis schließlich mit Sicherheit auch das gewünschte Ergebnis erzielt. .. Die Ethik lieferte die Ziele, .. die Psychologie dagegen die notwendige Kenntnis des Materials“ (Bollnow 1959, 17). Diese Auffassung wurde im 19. Jahrhundert abgelöst von der Vorstellung, dass Erziehung eine Kunst des Pflegens, des Nicht-Störens, des Wachsen-Lassens sei. Die Rolle des Lehrers ist die eines Gärtners, der vor allem darauf achten muss, dass die im Innern des Menschen angelegte Entwicklung zur Entfaltung kommen kann, diese nicht stört oder behindert. So sehr sich diese beiden Grundauffassungen auch in ihren unterrichtlichen Konsequenzen unterscheiden, so ist ihnen doch gemeinsam, dass die menschliche Entwicklung stetig verläuft mit allmählicher Vervollkommnung (s. Bollnow 1959, 18).
Bildung und Erziehung verläuft stetig: eine Kunst des Pflegens, des Wachsen-Lassens
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden von Buber und Copei menschliche Verhaltensänderungen betrachtet, die durch unstetige Ereignisse hervorgerufen werden. Buber betrachtete die „Begegnung“ zwischen Menschen als potentiell prägend für deren Verhalten in der Zukunft. Copei (1950) beschrieb und analysierte den „fruchtbaren Moment“ im Bildungsprozess, der sich in der Auseinandersetzung mit den Dingen der Realität ereignen kann. In beiden Begriffen steckt das Aktuale, das Zufällige, das Unstetige das Kurzzeitige, genau genommen, das Zeit-lose.
Bildung und Erziehung verlaufen unstetig: durch Begegnungen und fruchtbare Momente
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Die „Begegnung“ mit der Realität kann zu neuen tiefen Einsichten führen
1 Warum Physikunterricht? Bollnow (1959) folgend geht eine besonders nachhaltige erzieherische und bildende Wirkung durch „Begegnungen“ und „fruchtbare Momente“ erfolgt. Dazu muss der Mensch sich so dem Gegenstand widmen., „dass er dessen Seinswirklichkeit erfährt“ (Häußling 1978, 116). Bezogen auf den Physikunterricht bedeutet das: In fruchtbaren Momenten, die durch den Umgang mit den Dingen entstehen können, erfolgen Erschütterungen, Krisen und in deren Gefolge möglicherweise Umstrukturierungen des bisherigen Wissens und bisheriger Einstellungen. Diese „Begegnung“ mit der Realität kann zu neuen Einsichten führen, zu einem Übergang auf eine höhere Erkenntnisebene; die „Begegnung“ kann Weltbilder und Lebensstile ändern. Die neue Einsicht kommt plötzlich, es fällt einem „wie Schuppen von den Augen“ und kann spezielle Probleme der Physik ebenso betreffen wie die gesamte Physik bzw. die Naturwissenschaften. Begegnung findet erst statt, „wenn der Mensch es ist, der mit der Wirklichkeit zusammentrifft“ (Guardini 1956, 11). In dieser Situation „wird das Dasein voll, reich, heil“ (Guardini 1956, 18). 2. Wir verwenden den Ausdruck „Begegnung“ sowohl für die skizzierten existentiellen Situationen als auch für die weniger affektbeladene, sehr „sachintensive“ Situation des „fruchtbaren Momentes“, der zu einem sogenannten „Aha-Erlebnis“ führt.
Die existentielle Begegnung ist nicht methodisierbar
Die existentielle Begegnung hängt von Unwägbarkeiten ab und wird nicht aus einzelnen Stücken zusammengesetzt, „sondern tritt hervor in den tausend Momenten, aus denen sie besteht“ (Guardini, 1956, 16). Da die klügste Auswahl und die sorgfältigste Vorbereitung fragmentarisch und grob bleiben „gegenüber der Vielfalt und sensiblen Beweglichkeit eines echten Situationsgefüges“ (Guardini 1956, 17), das die existentielle Begegnung als Voraussetzung benötigt, ist diese besondere pädagogische Situation nicht methodisierbar.
Begegnung: • Freiheit des Subjekts bei der Wahl des Objekts • Offenheit der pädagogischen Situation
Zur Begegnung gehört die Freiheit des Subjekts bei der Wahl des Objekts und die Offenheit der pädagogischen Situation. Charakteristisch ist ferner die Ambivalenz der existentiellen Begegnung hinsichtlich ihrer Wirkungen. Denn neben den möglichen bedeutenden „Lernsprüngen“ in eine andere Perspektive, in ein neues Weltbild, können Schülerinnen und Schüler an und in dieser herausgehobenen Situation scheitern mit negativen Folgen für die Persönlichkeitsentwicklung. Aus den Merkmalen der existentiellen Begegnung ist ersichtlich, dass eine solche für den Betroffenen sehr wichtige, vielleicht entscheidende Lebenssituation im Physikunterricht selten vorkommt. Im Falle ihres Eintreffens kann es dazu führen, sich lebenslang für die Beschäftigung mit der Physik zu entscheiden oder
1.4 Die pädagogische Dimension des Physikunterrichts 2065 2066 2067 2068 2069 2070 2071 2072 2073 2074 2075 2076 2077 2078 2079 2080 2081 2082 2083 2084 2085 2086 2087 2088 2089 2090 2091 2092 2093 2094 2095 2096 2097 2098 2099 2100 2101 2102 2103 2104 2105 2106 2107
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aber diesen Zugang zur Wirklichkeit abzulehnen, aufgrund des Scheiterns im Moment der Begegnung. Guardini (1956) spricht auch dann von Begegnung, wenn das Existentielle, das notwendig Krisenhafte, die Ausschließlichkeit dieser Situation fehlt und bloß eine besonders intensive Beschäftigung mit den Dingen der Realität und deren Interpretationen durch die Naturwissenschaften vorliegt. Auch hierbei werden Emotionen geweckt, wird intensives Handeln, Forschen ausgelöst, ein „Ethos der Sachgerechtigkeit und der Sachfreudigkeit“ (Guardini 1953, 42), bis vielleicht in einem „fruchtbaren Moment“ die neue Einsicht plötzlich, wie aus „heiterem Himmel“ den Lernenden überkommt: In der Pädagogik wird von einem „Aha-Erlebnis“ gesprochen. Copei (1950, 103 f.) hat dies am Beispiel „Milchdose“ gezeigt. Genetisch unterrichtende Lehrer zeigen tagtäglich, dass diese Art der Begegnung ein wesentliches Element der Physikdidaktik und Physikmethodik ist. Wagenschein (1965, 229) schreibt darüber: „Je tiefer man sich in ein Fach versenkt, desto notwendiger lösen sich die Wände des Faches von selber auf, und man erreicht die kommunizierende, die humanisierende Tiefe, in welcher wir als ganze Menschen wurzeln, und so berührt, erschüttert, verwandelt und also gebildet werden“.
Begegnung als „fruchtbarer Moment“ und „Aha-Erlebnis“ ist ein wesentliches Element der Physikdidaktik und Physikmethodik
3. Für den Physikunterricht können folgende didaktischen Aspekte einer „Begegnung“ bedeutsam werden: 1.
Die Bewährung in existentieller oder in „sachintensiver“ Situation, wenn Lernende mit einem physikalischen Gegenstand „ringen“, diesen zu begreifen und zu verstehen versuchen. Letzteres gelingt nur durch methodische Sauberkeit, d. h. physikalische Methoden sind als Voraussetzung gefordert bzw. werden in dieser Situation gefördert.
2.
Die humane Bewältigung einer solchen Situation, wenn Schwierigkeiten auftauchen, aber auch wenn die Situation erfolgreich gemeistert wurde. Es werden Dispositionen wie wissenschaftliche Ehrlichkeit und Bescheidenheit gefördert.
3.
Die Erfahrung von Grenzen in dieser Situation. Es sind kognitive, affektive, psychomotorische Grenzen des Individuums und der Lerngruppe gemeint. Das heißt es stehen die personale und soziale Identität auf dem Prüfstand.
1.4.4 Schülervorstellungen und humanes Lernen 1. Weltbilder und Alltagsvorstellungen von Kindern und Jugendlichen beeinflussen das Lernen der Naturwissenschaften, so wie die Weltbilder von Lehrern und Physikern deren Auffassungen über Naturwissenschaften mitbestimmt haben und mitbestimmen.
Bewährung in existentiellen oder „sachintensiven“ Situationen
Erfahrung von Grenzen
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1 Warum Physikunterricht? Nicht nach einem allumfassenden Weltbild der Kinder, sondern spezifischer nach deren „Einstellungen, Denkmitteln und Erklärungsansätzen über physikalische Erscheinungen“, forschte Agnes Banholzer im Rahmen ihrer Dissertation (1936) bei Schülern zwischen 6 und 14 Jahren. Mitte der siebziger Jahre wurde weltweit begonnen, diese „Alltagsvorstellungen“ der Schüler systematisch zu erfassen, die auch als „Schülervorstellungen“ und „Schülervorverständnis“ (Schecker 1985) bezeichnet werden. Anlass waren damals in erster Linie Befragungen von Lehramtsstudenten (Wagenschein) und anderen jungen Erwachsenen (Daumenlang 1969), durch die manifest wurde, dass Erwachsene trotz langjährigem Unterricht nur ein geringes physikalisches Wissen über Alltagserscheinungen (z. B. die Mondphasen) und über Alltagsdinge (z. B. Fahrraddynamo) aufwiesen.
Erwachsene haben nur ein geringes physikalisches Wissen über Alltagserscheinungen Die Kenntnis von Schülervorstellungen ist die wichtigste Lernvoraussetzung
Fragt man nach den Ursachen der Alltagsvorstellungen, so macht man derzeit vor allem die Umgangssprache (z. B. „Stromverbrauch“) und die Strukturen der Lebenswelt dafür verantwortlich. Außerdem können angeborene oder erworbene Wahrnehmungs- und Denkmuster die Schülervorstellungen beeinflussen oder prägen. In der Arbeitsgruppe „Schülervorstellungen“ am IPN um die Chemiedidaktikerin Helga Pfundt spielte von Anfang an der Aspekt des humanen Lernens eine wichtige Rolle, d. h. der Umgang mit den Alltagsvorstellungen durch Lehrerinnen und Lehrer (s. Kircher 1998). Das intuitive Erahnen der Schülervorstellungen oder deren explizite Kenntnis als wichtige Voraussetzung für genetisches Unterrichten. Aufgrund der weltweiten Untersuchungen (Duit 2004) ist für viele Bereiche der Schulphysik diese Art der Lernvoraussetzungen bekannt. Daher ist es notwendig, diese Untersuchungsergebnisse für die Schulpraxis bereitzustellen und sie dort unmittelbar über entsprechende Unterrichtsmaterialien oder mittelbar über die Lehrerbildung zu verbreiten (s. Häußler u. a. 1998). Wie sollen Lehrkräfte auf Schülervorstellungen reagieren? Man kann diesbezüglich von „unmittelbaren“ und „mittelbaren“ Methoden sprechen. Bei den unmittelbaren Methoden wird das Lernproblem „Alltagsvorstellungen“ ausdrücklich thematisiert. Diese alternativen „Theorien“ über naturwissenschaftliche Phänomene werden aus den Schülern herausgelockt, von den Schülern erläutert und weiter ausgearbeitet, auch unter Einbeziehung von Versuchen. Nun präsentiert der Lehrer das wissenschaftliche Weltbild. Aufgrund von Widersprüchen bei Voraussagen und Erklärungen sind die Schüler dann bereit, die wissenschaftlichen Vorstellungen zu akzeptieren und zu übernehmen. Ich habe meine Zweifel, ob ein solcher Pa-
1.4 Die pädagogische Dimension des Physikunterrichts 2151 2152 2153 2154 2155 2156 2157 2158 2159 2160 2161 2162 2163 2164 2165 2166 2167 2168 2169 2170 2171 2172 2173 2174 2175 2176 2177 2178 2179 2180 2181 2182 2183 2184 2185 2186 2187 2188 2189 2190 2191 2192 2193
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radigmawechsel, die Übernahme eines ungewohnten, nicht vertrauten Weltbildes nach einem solchen „rationalistischen“ Schema abläuft. Werden die Schüler bei solchen „unmittelbaren Methoden“ nicht genauso (häufig) resignieren oder sich (häufig) anpassen oder (selten) rebellieren wie im traditionellen Unterricht? Wagenschein (19764, 175 f.) hat ein anderes Lehrerverhalten beschrieben, das man „sokratisch“ (Wagenschein 1968) nennen kann. Der Lehrer ist dabei kein omnipotenter Wissensvermittler, kein Instruktor, sondern der Moderator für Lernprozesse und der einfühlsame Erzieher.
Lehrer als Moderator
2. Wie soll der Lehrer mit Fragen umgehen, Fragen hinter denen bestimmte Vorstellungen oder gar Weltbilder stehen? Wagenschein (19764, 170 f.) gibt folgenden Rat: • „1. die Frage des Kindes an die Kindergruppe weiterzugeben, so dass sie von ihr soweit wie möglich geklärt wird; • 2. in der Naturbetrachtung außerdem die Frage an die Dinge weiterzugeben, (‚das könnt ihr vielleicht selbst herausfinden.‘ Diese Bemerkung wird die Kinder ebenso locken wie der Vorschlag, ‚da müssen wir die Dinge selber fragen‘...)“ Weitere Hinweise für Lehrerverhalten: Fragen und Probleme für alle Kinder verständlich machen durch Dialoge zwischen Kindern. Die Entstehung eines neuen (physikalischen) Weltbildes verlangsamen, den Kindern „Zeit lassen“ für neue und neuartige Lernprozesse, zum Beispiel im Zusammenhang mit dem neuartigen naturwissenschaftlichen Zugang zur Welt: dem faszinierenden Wechselspiel von Hypothese und Experiment. Innehalten und darüber nachdenken, was nun anders, nicht zuerst, was besser ist als bisher. Wenn überhaupt, dann behutsam, unmerklich führen und vor allem wachsen lassen. Dieses sind Merkmale eines genetischen Unterrichts (ausführlicher s. 4.2.2). Martin Wagenschein hat dabei auch in Kauf genommen, dass originelle Wortschöpfungen der Kinder als Fachausdrücke wochen-, monatelang weiter verwendet werden. Warum soll man nicht gegen die Umgangssprache etwa von „Stromgebrauch“ reden, wenn deutlich geworden ist, dass „Strom“ kein „Ding“ sondern ein „Vorgang“ ist („Es muss sich etwas bewegen“) und dass im Lämpchen keine „Stromteilchen“ vernichtet oder verwandelt werden. Stromteilchen werden gebraucht, damit man von „Strom“ reden kann, eben dann, wenn diese sich im „Kreis“ bewegen. Sie sind gebraucht, wenn sie das Lämpchen verlassen, so wie die Schulbücher, die am Ende des Schuljahrs „gebraucht sind“, ohne dass (hoffentlich) auch nur ein Wort im Buch fehlt. Wie in empirischen Untersuchungen gezeigt wurde (Grygier, Günther & Kircher 2004),
Umgang mit Schülervorstellungen
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1 Warum Physikunterricht? können Grundschulkinder mit Hilfe gespielter Analogien die Unterschiede zwischen solchen Vergleichen und den Dingen erkennen. Sie können frei über Sinn und Nutzen solcher Illustrationen reden. Dabei lernen die Kinder auch über die Natur der Naturwissenschaften.Die Thematisierung der „letzten Dingen“ der Physik ist in der Primarstufe noch umstritten. Soll man über „Dinge“ wie die Elektronen reden, von deren Existenz wir nur mittelbare Hinweise besitzen? Andererseits kommen den Kindern solche Ausdrücke aus dem Fernsehen, aus populärwissenschaftlichen Büchern, durch Familienmitglieder oder Freunde in die Quere. Und in diesem Falle, wenn die Kinder darüber stolpern und stürzen, sollte es keine didaktische Doktrin geben, die dieses Menschenrecht, die Suche nach Wahrheit, verbietet. Nicht nur in den Biografien berühmter Naturwissenschaftler finden sich Hinweise, dass ein „Keim“ dafür sich bereits im Grundschulalter bilden kann. In einem DFG-Projekt (2000 – 2006) wurde nachgewiesen, dass bereits Grundschulkindern ein gewisses Verständnis der „Natur der Naturwissenschaften“ vermittelt werden kann (Sodian u.a. 2002; Grygier 2008).
1.4.5 Zusammenfassung Humanes Lernen im Physikunterricht wird durch die Begriffe „Umgang“, „Begegnung“ und „Alltagsvorstellungen“ beschrieben. 1. Umgang mit den Dingen der Realität und der dabei stattfindende soziale Umgang der Beteiligten (Schüler, Lehrer) sind eine notwendige Voraussetzung für allgemeinbildende Ziele wie etwa die Findung der personalen und sozialen Identität bzw. damit zusammenhängend die individuelle und soziale Kompetenz junger Menschen. Umgang mit den Dingen der Realität ist auch eine notwendige Voraussetzung für das Lernen der Physik. Es wird dabei jenes „implizite Wissen“ (Polanyi 1985) erzeugt, das die Grundlage für subjektiv oder objektiv neues Wissen ist. Umgang mit den Dingen der Realität schafft Empathie und auch Sensibilität für die bewusste und vorbewusste Realität. Solcher Umgang erscheint notwendig, um neue Verantwortlichkeit und neue Verhaltensweisen zu evozieren, um die in Abschnitt 1.3 thematisierte Umwelterziehung und die Erziehung zur Nachhaltigkeit über bloß verbales Wissen hinauszuführen. 2. Besonders intensives und effektives Lernen erfolgt in der „Begegnung“ mit den Dingen der Realität. Solche existentiellen bzw. sachintensiven Situationen können sich auch im Physikunterricht ereig-
1.5 Grundlagen dieser Physikdidaktik 2237 2238 2239 2240 2241 2242 2243 2244 2245 2246 2247 2248 2249 2250 2251 2252 2253 2254 2255 2256 2257 2258 2259 2260 2261 2262 2263 2264 2265 2266 2267 2268 2269 2270 2271 2272 2273 2274 2275 2276 2277 2278 2279
nen. Von Wagenschein (1968) wird die Auffassung vertreten, dass nur in solchen Momenten „Verstehen“ und damit zusammenhängend „Bildung“ erfolgt. Eine „Begegnung“ kann durch sehr intensive Beschäftigung mit den Dingen der Realität und durch geeignetes Lehrerverhalten vorbereitet oder angeregt werden. 3. Humanes Lernen und genetisches Lernen hängen eng zusammen. Komponenten eines solchen Unterrichts sind der Umgang und die Möglichkeit einer Begegnung mit den Dingen der Realität, sowie die Orientierung an den vorgängigen bzw. sich im Unterricht entwickelnden Vorstellungen und Weltbilder der Lernenden. Diese Komponenten sind notwendige aber nicht hinreichende Voraussetzungen (s. dazu den „sokratischen Eid“ v. Hentig 19943, 258 f.). 4. Wie insbesondere aus der Religionsgeschichte bekannt, können existentielle Begegnungen zu grundlegenden Verhaltensänderungen von Individuen führen. Im Untericht kommt unstetigen Lernvorgängen in der Situation der Begegnung eine große Bedeutung zu: für das Verstehen, für das Sachinteresse, für Einstellungen gegenüber den Naturwissenschaften. Ich sehe die Notwendigkeit, diese Art des Lernens wieder in der Lehrerbildung zu thematisieren.
1.5 Grundlagen dieser Physikdidaktik 1.5.1 Dimensionen der Physikdidaktik Humanistische und pragmatische Zielsetzungen scheinen sich zu widersprechen: einerseits die Suche nach Wahrheit, nach Objektivem, als etwas Zeitübergreifendem, andererseits Erwerb und Verwertung von Wissen für den subjektiven Augenblick und für den späteren Beruf. Außerdem erhebt sich die Frage, ob das Prinzip „Verantwortung“ als eine diese beiden Zielvorstellungen übergreifende Leitidee des naturwissenschaftlichen Unterrichts zu verstehen ist. Bisher wird die Frage nach dem Verhältnis von humanistischen und pragmatischen Zielvorstellungen in unserer Kultur so beantwortet, dass humanistischen Zielvorstellungen Priorität zukommt. Die primäre Absicht des naturwissenschaftlichen Unterrichts ist nicht, wie Wissen und Können später verwertet werden können, sondern die Weiterführung der abendländischen Tradition auch mittels naturwissenschaftlicher Methodologie nach Wahrheit zu suchen. Bisher war der „Wille zur Wahrheit“ (vgl. v. Hentig 1966, 90), das den „ver-
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1 Warum Physikunterricht? schiedenen humanistischen Bewegungen in der Geschichte ... gemeinsame Kennzeichen“ (v. Hentig 1966, 90), in einer hierarchischen Anordnung an die Spitze der Zielvorstellungen des naturwissenschaftlichen Unterrichts gestellt. Diese Leitidee wird pragmatisch modifiziert und abgeändert, wenn gute Gründe dafür vorliegen. Dabei werden vor allem solche Gründe akzeptiert, die den Schüler selbst betreffen: seine Interessen, seine Lernvoraussetzungen, seine Rechte als Mensch und künftig mündiger Bürger, seine Pflicht zur lokalen und globalen Verantwortung. Auf die bisherigen Erörterungen aufbauend wird versucht, eine zeitgemäße Physik- bzw. Naturwissenschaftsdidaktik näher zu bestimmen, die die bildungstheoretische und die us-amerikanische pragmatische Tradition integriert (s.1.1). 1. Die drei Dimensionen eines „physikdidaktischen Dreiecks“: Die in Abb. 1.3 formulierte Leitidee „Humanes Lernen der Physik“, die den Unterricht prägen soll, meint neben den verschiedenen Aspekten von „Umgang“ auch die Möglichkeit einer „Begegnung“. Lernen in der Situation der „Begegnung“ ist unstetig, sprunghaft, nicht methodisierbar, aber doch nur, wenn überhaupt, durch „methodische Sauberkeit“ etwa beim Experimentieren zu erreichen.
Humanes Lernen der Physik Disziplinarität der Physik begriffliche Struktur methodische Struktur Meta-Struktur der Physik
Gesellschaftlichkeit der Physik
physikalischtechnische Objekte physikalischtechnische Verfahren wissenschaftsethische Reflexion
Abb. 1.3: Dimensionen des Physikunterrichts „Begegnung“ soll betroffen machen, Einstellungen erzeugen, die zu Verhaltensänderungen führen
„Begegnung ist nicht sachliches Kennenlernen eines bisher noch Unbekannten, sondern betont demgegenüber das Moment der persönlichen Betroffenheit“ (Bollnow 1959, 129). Physikunterricht muss auch betroffen machen können und darüber hinaus durch innere Erschütterung verwandeln. Diese „Verwandlung“ soll nicht nur bildend wirken, wie von Wagenschein (1965, 229) argumentiert,
1.5 Grundlagen dieser Physikdidaktik 2323 2324 2325 2326 2327 2328 2329 2330 2331 2332 2333 2334 2335 2336 2337 2338 2339 2340 2341 2342 2343 2344 2345 2346 2347 2348 2349 2350 2351 2352 2353 2354 2355 2356 2357 2358 2359 2360 2361 2362 2363 2364 2365
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sondern soll Einstellungen erzeugen, die zu persönlichen Verhaltensänderungen führen, die über den Unterricht und über die Schulzeit hinausreichen. Schon Klafki (1963, 62) spricht von „exemplarischen Ernsterfahrungen“ und „echtem Engagement“, die von Bildungseinrichtungen ausgehen sollen. Im Zusammenhang mit dem naturwissenschaftlichen Unterricht ist dabei an die nachhaltige Nutzung der Ressourcen, an traditionellen und modernen Natur- und Umweltschutz im Alltag und im Beruf zu denken, an die Nutzung neuer Medien in der Freizeit und im Beruf. Der Begriff „Umgang“ beschreibt das wechselseitige Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler, zwischen den Schülern und schließlich als spezifisch naturwissenschaftsdidaktische Kategorie die Relation zwischen Lernenden und den Dingen der Realität. Der pädagogische „Umgang“ bedeutet gegenseitiges, offenes, partnerschaftliches respektvolles Verhalten, etwa auch gegenüber den in naturwissenschaftlicher Hinsicht unvollständigen, häufig unangemessenen Alltagsvorstellungen der Schüler. „Umgang“ mit der Realität schafft Interesse, aber auch Vorerfahrungen und Vorverständnisse. Schließlich führt der Umgang mit der Realität dazu, ein persönliches Verhältnis zu „bloßen“ Objekten herzustellen, diese zu schätzen, wegen deren Wert, etwa im Hinblick auf Entstehung und im Hinblick auf mutmaßliche Vergänglichkeit, d. h. Entwertung oder Vernichtung in endlicher Zeit. Eine solche Wertschätzung ist gegenwärtig in der Naturwissenschaftsdidaktik auf biologische Objekte beschränkt, während bei physikalischen oder chemischen Objekten noch überwiegend deren Warencharakter dominiert.
Pädagogischer „Umgang“
Durch die kategoriale didaktische Bedeutung von „Umgang“ und „Begegnung“ wird das auf den ersten Blick anscheinend Methodische zur pädagogischen Dimension, der Priorität vor der physikalischen und der gesellschaftlichen Dimension zukommt. Das bedeutet auch, dass diese pädagogische Dimension nicht zuletzt die Funktion hat, die Lernenden vor bildenden und verantwortungsfördernden thematischen Bereichen zu schützen, wenn diese das „Kindgemäße ins Gedränge bringen“ (Langeveld 1961, 59).
Die pädagogische Dimension hat Priorität vor der physikalischen und der gesellschaftlichen Dimension
2. Die „Disziplinarität der Physik“ beinhaltet im engeren Sinne die physikalische Dimension, d. h. die begriffliche und methodische Struktur der Physik ( s. Abschnitt 1.2).
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Relevante begriffliche und methodische Strukturen exemplarisch lernen
1 Warum Physikunterricht? Zur begrifflichen Struktur der Physik zählen nicht nur Axiome, Definitionen, Gesetze, Theorien, Basisgrößen, Naturkonstanten, sondern auch mathematische Theorien, protophysikalische und umgangssprachliche Begriffe. Bei der methodischen Struktur lassen sich unterscheiden (Jung 19992, 19): 1. Allgemeine Verfahren a) Verfahren des Experimentierens b) Verfahren des Theoretisierens 2. Spezielle Verfahren. Im weiteren Sinn schließt die „Disziplinarität des Faches“ auch „über Natur der Naturwissenschaften lernen“ ein, d. h. erkenntnisund wissenschaftstheoretische, wissenschaftshistorische, sowie wissenschaftssoziologische Aspekte. Sie werden als „Metastruktur“ der Physik bezeichnet:
„Metastruktur“ der Physik
1.
Physikalische Methoden und ihre Entwicklung a) Wissenschaftstheoretische Reflexion der Physik b) Physikalische Erkenntnis im Lichte spezieller Erkenntnistheorien
2.
Physikalische Begriffe und ihre Entwicklung a) Wissenschaftstheoretische Reflexion der begrifflichen Struktur b) Historische Entwicklung der begrifflichen Struktur.
Die wissenschaftssoziologischen Aspekte des Physikunterrichts wurden bisher im Physikunterricht wenig berücksichtigt. Es ist z. B. an folgende thematischen Bereiche zu denken: • Physiker in der „wissenschaftlichen Gemeinschaft“ (s. Kuhn 19762) • Physik und deren Verwertung in der Gesellschaft • Gesellschaft und deren Einstellung zur Physik (den Naturwissenschaften) • Physik und Politik • Physik und Kunst. Die oben skizzierten erkenntnis-wissenschaftstheoretischen und die wissenschaftssoziologischen Aspekte der Physik weisen diese vor allem als gesellschaftlich bedingtes Kulturgut aus. 3. In jeder Lebenswelt des Menschen werden materielle Gegenstände, Ereignisse, Tatbestände zu Natur-, Sozial- und Kulturwelten (vgl. Schütz & Luckmann 1979). In der von der Technik geprägten neuzeitlichen Lebenswelt kann sich der Physikunterricht nicht mehr darauf beschränken, nur die
1.5 Grundlagen dieser Physikdidaktik 2409 2410 2411 2412 2413 2414 2415 2416 2417 2418 2419 2420 2421 2422 2423 2424 2425 2426 2427 2428 2429 2430 2431 2432 2433 2434 2435 2436 2437 2438 2439 2440 2441 2442 2443 2444 2445 2446 2447 2448 2449 2450 2451
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Naturwelt zu beschreiben, zu interpretieren, fortzuführen, denn Sozial- und Kulturwelt sind heutzutage zu eng mit der Technik verknüpft. Die mit der Sozial- und Kulturwelt traditionell befassten Unterrichtsfächer sollen durch die Naturwissenschaften nicht verdrängt, sondern in gemeinsamen Projekten integriert werden, wenn dies erforderlich ist. Die gesellschaftliche Dimension des Physikunterrichts befasst sich im engeren Sinne mit technischen Anwendungen der Naturwissenschaften und ihren Auswirkungen auf die Menschen, insbesondere auf die Schüler. Dazu ist es zunächst nötig, Objektstrukturen der technischen Gesellschaft kennen zu lernen, zu bedienen, zu beherrschen..
Einstellungen, Werte, Lebensstil
Diese sind für den Unterricht vor allem so auszuwählen, dass neben gegenwärtig relevanten technischen Produkten auch die zugrunde liegenden Technologien, deren Technikfolgen und implizierte wissenschaftsethische Fragen thematisiert werden (s. Dahncke & Hatlapa 1991), ferner Projekte im Sinne einer Bildung der Nachhaltigkeit.
Bildung der Nachhaltigkeit
Die positive Seite der Technikfolgen sind individuelle und gesellschaftliche Prosperität mit der Folge einer ganzen Reihe von Annehmlichkeiten bzw. Bequemlichkeiten, wie z. B. die Ausweitung der Freizeit. Die negative Seite der Technikfolgen, letztlich die Bedrohung des Lebens auf unserem Planeten, hat bisher zwar zu Aufklärung, aber kaum zu durchgreifenden Handlungskonsequenzen geführt, weder auf der Ebene gesellschaftlich-politischer Institutionen, noch auf der Ebene individuellen Verhaltens. Der naturwissenschaftliche Unterricht muss zur Verantwortung gegenüber der Umwelt und zu einer Veränderung des individuellen Verhaltens beitragen, so dass die Menschheit zwar bescheidener, aber „human“ überleben kann. Hier deutet sich ein Verständnis der Physik- bzw. der Naturwissenschaftsdidaktik an, das die wissenschaftsethischen Implikationen der Naturwissenschaften, hier subsumiert unter „Prinzip Verantwortung“, als zumindest gleichrangige Leitidee neben Wagenscheins Position einer „Wahrheitssuche“ (19764, 307 ff.) stellt.
1.5.2 Leitideen, physikdidaktische Dimensionen und methodische Prinzipien Die bisher diskutierten fachdidaktischen Zielkategorien stehen in einem Zusammenhang mit allgemeinen schulischen Leitideen. Diese bilden die Grundlage der „physikdidaktischen Dimensionen“ Das heißt, man kann diese als Implikationen der folgenden Leitideen auffassen (s. Abb. 1.4): • Humane Schule • Suche nach Wahrheit • Verantwortung gegenüber Gesellschaft und Realität
Positive und negative Folgen der Technik
Prinzip Verantwortung als Leitidee des naturwissenschaftlichen Unterrichts
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1 Warum Physikunterricht? Leitideen (Leitbilder)
Humane Schule
Verantwortung gegenüber - Natur - Menschen
Suche nach Wahrheit in der Natur
Physikdidaktische Dimension
Humanität unterrichtlicher Methodik
Disziplinarität der Physik
Methodische Prinzipien
Exemplarischer Unterricht
Gesellschaftlichkeit der Physik
Genetischer Unterricht
Projektunterricht
Abb. 1.4: Leitideen über Schule, physikdidaktische Dimensionen und methodische Prinzipien Diese Vorstellungen über Schule sind nicht neu. Sie haben hier teilweise neue Interpretationen und Konkretisierungen auf einer „mittleren Ebene“ gefunden, der fachdidaktischen. Wie sind diese Vorstellungen auf der fachmethodischen Ebene zu interpretieren? Als „methodische Prinzipien“ werden der genetische Unterricht, der exemplarische Unterricht und der Projektunterricht aufgefasst. Sie sind als Implikationen der Leitideen und der naturwissenschaftsdidaktischen Dimensionen zu verstehen. Methodische Prinzipien
Genetischer Unterricht, bisher im wesentlichen „geborenen Erziehern“ vorbehalten, kann zu einem Unterrichtsverfahren werden, das der Mehrzahl der Lehrer zugänglich ist. Dazu müssen die Ergebnisse
1.5 Grundlagen dieser Physikdidaktik 2495 2496 2497 2498 2499 2500 2501 2502 2503 2504 2505 2506 2507 2508 2509 2510 2511 2512 2513 2514 2515 2516 2517 2518 2519 2520 2521 2522 2523 2524 2525 2526 2527 2528 2529 2530 2531 2532 2533 2534 2535 2536 2537
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des erfolgreichen Forschungsprogramms „Schülervorstellungen“ in der Schulpraxis Eingang finden. Exemplarischer Unterricht soll im Physikunterricht, bzw. dem integrierten naturwissenschaftlichen Unterricht die Möglichkeit schaffen, typische Merkmale der Fachdisziplinen (Biologie, Chemie, Physik) gründlich zu lehren und zu lernen. Durch Projektunterricht sollen Fragestellungen der Lebenswelt, die vor allem aus der Sicht des Schülers bedeutungsvoll sind, Eingang in die Schule finden und dort thematisiert werden. Individualisierter Unterricht hilft alle Schüler zu fördern, die für Naturwissenschaften weniger und die dafür besonders begabten Schüler.
1.5.3 Perspektiven des naturwissenschaftlichen Unterrichts Bei der Erörterung der gesellschaftlichen Dimension verschwimmen die Grenzen zwischen den naturwissenschaftlichen Fächer. 1. Die Interpretation der gesellschaftlichen Dimension des naturwissenschaftlichen Unterrichts ist von der Sorge um unsere Zukunft und die unseres Lebensraumes geprägt. Wenn man die Fernwirkungen naturwissenschaftlicher Techniken bedenkt, muss eine Akzentverschiebung, eine Erweiterung, eine Umstrukturierung des naturwissenschaftlichen Unterrichts stattfinden. Auch eine zeitliche Erweiterung des naturwissenschaftlichen Unterrichts ist nötig, weil angesichts möglicher negativer Auswirkungen der Technik unbedingt Wissen, insbesondere naturwissenschaftliches Wissen erforderlich ist; in der Argumentation von Jonas (1984) ist dies sogar eine moralische Notwendigkeit. Die Interdisziplinarität technischer Projekte und deren gründliche Thematisierung im Unterricht könnte eine gewichtige Begründung für ein Unterrichtsfach „Naturwissenschaften“ werden. Nur bei einer gemeinsamen Anstrengung der drei naturwissenschaftlichen Fächer und mit einem größeren Stundendeputat für den naturwissenschaftlichen Unterricht besteht (m. E.) eine gewisse Aussicht, notwendige Einstellungsänderungen, die Disposition „Verantwortung“ zu evozieren und Änderungen des Lebensstils auch über Bildung (Schule) herbeizuführen. Daneben muss fachtypischer Physik-, Chemie-, und Biologieunterricht bestehen bleiben. Mit der Disposition „Verantwortung“ ist eine zweite wohl ebenfalls gegen Zeitströmungen gerichtete Disposition „Bescheidenheit“ verknüpft. Jonas bezieht dies insbesondere auf materielle Ansprüche und Erwartungen, wie sie in sozialen Utopien
Fernwirkungen naturwissenschaft licher Techniken: Akzentverschiebu ng, Erweiterung, Umstrukturierung des naturwissenschaftlichen Unterrichts Unterrichtsfach „Naturwissenschaften“
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1 Warum Physikunterricht? (z. B. des Marxismus) geweckt werden (s. Jonas 1984, 245 ff.). Angesichts der zur Verfügung stehenden Ressourcen sind bei einer weiter wachsenden Weltbevölkerung die konsumtiven Ansprüche nicht mehr zu verwirklichen, die in der westlichen Zivilisation heutzutage zum Standard gehören. Und wir sollten auf derartige Ansprüche auch dann verzichten, wenn sie in einigen Industriestaaten noch für einige Jahrzehnte realisiert werden könnten. Ein anderer Aspekt der Disposition „Bescheidenheit“ hängt mit der notwendigen Veränderung einseitig anthropozentrischer Einstellungen zusammen: Die Beschäftigung mit unserem wunderbaren, im Universum möglicherweise einmaligen Ökosystem; Umwelterziehung sollte im naturwissenschaftlichen Unterricht mehr als nur aufklärend oder bildend wirken.
Umwelterziehung sollte mehr als nur aufklärend oder bildend wirken „Metastrukturen“ der Physik an konkreten Fällen transparent machen und reflektieren Schülerorientierte, konventionelle Züge des Physikunterrichts müssen fortgeführt, das bisherige Stundendeputat muss erweitert werden
2. Litts bildungstheoretische Begründung für den naturwissenschaftlichen Unterricht, auf die auch heute noch rekurriert wird (Wiesner 1989), ist für sich allein weltfremd, weil zu eng auf das traditionelle Verständnis von „Physik“ bezogen. Bloß philosophische Reflexion genügt nicht angesichts der in alle Bereiche der Lebenswelt eindringenden Technik. Es müssen die mit Naturwissenschaft und Technik zusammenhängenden „Metastrukturen“ (s. 1.2.3) an konkreten Fällen transparent gemacht und reflektiert werden. 3. Die bildungstheoretische Begründung des naturwissenschaftlichen Unterrichts verweist auf ein anderes ursprüngliches Motiv, sich mit der Realität auseinander zu setzen: auf die Suche nach Wahrheit als eines wesentlichen Merkmals der abendländischen Identität. Um diese Identität zu bewahren, müssen schülerorientierte, konventionelle Züge des naturwissenschaftlichen Unterrichts fortgeführt werden in der Art, wie sie Wagenschein für den Physikunterricht beschrieben hat. Diese Betrachtung führt zu einem exemplarischen Unterricht bzw. exemplarischen Projektunterricht. Unter Berücksichtigung bisher beschriebener (u. a. inhaltlicher) Erweiterungen des naturwissenschaftlichen Unterrichts, erscheinen derartige Unterrichtsformen allerdings nur dann realisierbar, wenn das bisherige Stundendeputat für den naturwissenschaftlichen Unterricht erweitert wird. Die Aufgabe des naturwissenschaftlichen Unterrichts besteht auch darin, Schülerinnen und Schüler für die Ambivalenz naturwissenschaftlich-technischer Entwicklungen zu sensibilisieren. Hierfür erscheint beispielsweise ein Einblick in aktuelle Bereiche der na-
1.5 Grundlagen dieser Physikdidaktik 2581 2582 2583 2584 2585 2586 2587 2588 2589 2590 2591 2592 2593 2594 2595 2596 2597 2598 2599 2600 2601 2602 2603 2604 2605 2606 2607 2608 2609 2610 2611 2612 2613 2614 2615 2616 2617 2618 2619 2620 2621 2622 2623
turwissenschaftlichen Forschung durch z.B. Hodson 1988).
75 Laborarbeit geeignet (s.
Zur Aufgabe eines künftigen naturwissenschaftlichen Unterrichts gehört, an einer reflektierten Einführung in die heutige „Erlebniswelt“ mitzuwirken. Dazu gehören Projekte ebenso wie „Spiele“ aller Art (s. 4.1). Das bedeutet, dass dem bisherigen Paradigma der Schule, „Arbeit“, ein Paradigma „Spiel“ an die Seite gestellt werden muss.
Mitwirken an reflektierter Einführung in die heutige „Erlebniswelt“
4. „Umgang“ und „Begegnung“ mit der naturwissenschaftlich zugänglichen Realität gewinnen in Bildung und Erziehung zusätzliche Bedeutung. Dieser Unterricht wirkt kompensatorisch gegenüber den in die Lebenswelt eindringenden, diese bedrängenden Scheinwelten, die vor allem durch Massenmedien erzeugt werden. Massenmedien können bei Kindern ja nicht nur zu psychischen Störungen und Krankheiten führen, sie können auch den Aufbau eines adäquaten und sensitiven Realitätsbezugs verhindern. Ein solcher Realitätsbezug ist ein Regulativ zur vorhandenen „Erlebniswelt“. Er kann davor schützen, dass das Sein des Menschen künftig nicht zu bloßem Dasein verkümmert.
Aufbau eines adäquaten und sensitiven Realitätsbezugs
5. Um inhumanes Lernen zu vermeiden, müssen solche Ziele für den allgemeinbildenden Physikunterricht formuliert und angestrebt werden, die für alle Schüler erreichbar sind. Aber es müssen alle Schüler optimal gefördert werden, auch die begabten. Das bedeutet, dass der naturwissenschaftliche Unterricht „Individualisierung“ verwirklichen muss, um naturwissenschaftliche Talente zu fördern. Die Klassenräume müssen „Lernlandschaften“ (Schorch 1998) werden.
Es müssen alle Schüler optimal gefördert werden
6. Seit der Veröffentlichung der TIMS- und PISA- Studien hat sich in Deutschland die Bildungspolitik von Bund und Ländern verändert. Notwendige Reformen stehen auf der Tagesordnung: In Modellversuchen werden flächendeckend empirische Untersuchungen in Schulen durchgeführt: (u.a.) „Bildungsqualität von Schule“, BLKModellversuche „SINUS Transfer“, „Physik im Kontext“ (s. Mikelskis-Seifert & Duit 2007). Im Bereich der Naturwissenschaften werden für alle Bundesländer verbindliche „Standards“, „Kompetenzstufen“, Abschlussprüfungen beschlossen (s. 2.4). Äußerst wichtig sind auch Maßnahmen zur Verbesserung der Studienpläne für die Lehrerausbildung an den Universitäten (z.B. der Schulpraktika, der Koordination von fachlicher, fachdidaktischer und pädagogischpsychologischer Ausbildung) (KMK 2008), sowie die Ausweitung des physikdidaktischen Lehrdeputats für das für das Lehramt an Gymnasien (Merzyn 2006). Noch wichtiger dürfte die Reorganisa-
Neue Maßnahmen in der Lehrerbildung
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1 Warum Physikunterricht? tion der lebenslangen Lehrerfortbildung sein, z.B. die Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen Schule und Hochschule durch die Gründung von Zentren für Lehrerbildung, durch die schulinterne Lehrerfortbildung, durch Lehrerweiterbildung, durch die Verpflichtung der Lehrkräfte zur Fortbildung hinsichtlich Umfang in einem vorgegebenen Zeitrahmen. Erste Schritte in diese Richtung sind durch die neueren KMK- Vereinbarungen gemacht (s. Kap. 22). Sorgen bereitet eine Berufunspraxis physikalischer Fachbereiche, physikdidaktischer Professuren durch Physiker mit geringer oder fehlender schulischer Kompetenz zu besetzen. Erfreulich daher die Empfehlung der Hochschulrektorenkonferenz (21.2. 2006): „Bestehende Professuren müssen vor der Umwidmung mit rein fachwissenschaftlichen Schwerpunkten geschützt werden. Insbesondere muss mit fachdidaktischen Professuren die empirische Erforschung des fachbezogenen Lehrens und Lernens verbunden sein, ohne dass die bildungstheoretischen Grundlagen vernachlässigt werden.“ Epilog: In eine humane Zukunft führt ein eher schmaler, unsicherer, ungewisser Pfad. Durch gegenwärtige astrophysikalische Theorien glauben wir, das Ende des Weges der Erde zu kennen. So ist der Weg das Ziel. Der „Weg“ kann mit Hilfe der Naturwissenschaften begehbar weitergeführt werden von und für viele Menschen, vor allem für unsere Kinder. Der naturwissenschaftliche Unterricht ist in der Lage, den vorhandenen und in naher Zukunft fertig gestellten „Weg“ zu beschreiben, seine Schwierigkeiten und seine Schönheiten. Der naturwissenschaftliche Unterricht kann auf die Schwierigkeiten aufmerksam machen, die beim „Bau des Weges“ und durch die „Schönheit ! des Weges“ entstehen. Er soll die gegenwärtig für den „Zustand und die Weiterführung des Weges“ Verantwortlichen – uns alle – in die Lage versetzen, die „Sinn-vollste“ Streckenführung auszuführen und das „Sinn-vollste“ Tempo für den „Weg“ zu finden.
1.6 Ergänzende und weiterführende Literatur Zur Begründung des naturwissenschaftlichen Unterrichts haben sich amerikanische und englische naturwissenschaftliche Gesellschaften (s. z.B. AAAS (1989); (1993)) in der Tradition Deweys für „Scientific literacy“, („naturwisssenschaftliche Grundbildung für alle“) entschieden. Dadurch könnten in der Industriegesellschaft benötigte Kompetenzen erworben, gesellschaftliche Probleme gelöst werden. Kritik an den bisher geringen Auswirkungen von „Scientific lite-
1.6 Ergänzende und weiterführende Literatur 2667 2668 2669 2670 2671 2672 2673 2674 2675 2676 2677 2678 2679 2680 2681 2682 2683 2684 2685 2686 2687 2688 2689 2690 2691 2692 2693 2694 2695 2696 2697 2698 2699 2700 2701 2702 2703 2704 2705 2706 2707 2708 2709
racy“ in den USA äußerte Shamos (1995); de Boer (2000), auch deren Orientierung an landesweiten Stardards und einheitlichen Tests. In der anglo-amerikanischen Diskussion fehlt die Erörterung der pädagogischen Dimension des Physikunterrichts weitgehend. Letzteres trifft in geringerem Maße auf die Resolutionen von MNU (1993; 2001) sowie den Festlegungen der KMK (2004 a,b,c) zu. Im deutschen Sprachraum hat Muckenfuß (1995) den Schwerpunkt seines Entwurfs einer zeitgemäßen Physikdidaktik auf „sinnstiftende Kontexte“ für Schüler gelegt und dies an überzeugenden Beispielen illustriert. Seine Auffassungen unterscheiden sich nur in Details von den hier dargestellten physikdidaktischen Positionen. Eine äußerst lesenswert Darstellung des Legitimationsproblems gibt Jung (19992). Die gesellschaftliche Dimension des Physikunterrichts wird kritisch gewürdigt; Umweltaspekte und Bildung der Nachhaltigkeit im Physikunterricht werden nicht thematisiert. Brauns „Physikunterricht neu denken“ (1998) konzentriert sich bei seiner Interpretation von Hentigs „Schule neu denken“ (19943) stärker auf die pädagogische Dimension des Physikunterrichts. Aus einer allgemeinen pädagogischen Sicht diskutiert Kutschmann (1999) „Naturwissenschaft und Bildung“. Die gesellschaftliche Dimension des Physikunterrichts wird von beiden Autoren ebenfalls vernachlässigt. Merzyn (2002) gibt einen detaillierten Überblick über die Diskussion der gymnasialen Physiklehrerausbildung im 20. Jahrhundert. In der „Didaktik des Physikunterrichts“ von Willer (2003) sind relevante Themen ausgewählt. Dazu wird sehr ausführlich auf deutschsprachige physikdidaktische und erziehungswissenschaftliche Literatur zurückgegriffen. Auf jeden Fall sind die Darstellungen für Referate in der Ausbildung gut geeignet. „Physikdidaktik – Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II“ (Mikelskis, H.F. (Hrsg. ) 2006) ist ein Sammelband, der einige interessante Beiträge zur Physikdidaktik enthält.
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80 2796 2797 2798 2799 2800 2801 2802 2803 2804 2805 2806 2807 2808 2809 2810 2811 2812 2813 2814 2815 2816 2817 2818 2819 2820 2821 2822 2823 2824 2825 2826 2827 2828 2829 2830 2831 2832 2833 2834 2835 2836 2837 2838
1 Warum Physikunterricht?
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Ernst Kircher
2 Ziele und Kompetenzen im Physikunterricht 1. Eine intensive Beschäftigung mit Zielen ist aus folgenden Gründen wichtig: Sie organisieren die Unterrichtsplanung und tragen zur Strukturierung des Unterrichts wesentlich bei. Außerdem bieten explizit formulierte Ziele Anhaltspunkte für die Kommunikation über die Schule für Lehrer, Schüler, Eltern, Politiker. Wegen des Zusammenhangs von Zielen und Leistungsbeurteilungen können Ziele zu objektiven Beurteilungen (z. B. Noten) beitragen. 2. Wie kommt man zu Zielen? Zu jeder Unterrichtsstunde und zu jeder Unterrichtseinheit sollte eine „didaktische Analyse“ durchgeführt werden, um mögliche Ziele zu einem bestimmten Thema bzw. zu einem thematischen Bereich auszuloten. Eine solche Zielanalyse ist die Grundlage für weitere Planungsschritte. In 2.1 werden bisherige Vorschläge für didaktische Analysen slizziert und versucht, die erörterten Aspekte eines zeitgemäßen Physikunterrichts (z.B. „Über die Natur der Naturwissenschaften/ Physik lernen“ und die „Bildung der Nachhaltigkeit im Physikunterricht“) in ein Analyseinstrument zu integrieren. 3. Der Schwerpunkt der Ausführungen in 2.2 liegt darauf, welche Ziele der Physikunterricht im Speziellen und welche er zusammen mit weiteren Schulfächern anstreben sollte. Es wird ein Modell skizziert, in dem Zielebenen, Zielklassen und Lernzielstufen (Anforderungsstufen) unterschieden werden. 4. Wie kommt man zu Zielen, wenn ein Thema vorgegeben ist, z. B. durch den Lehrplan? In Abschnitt 2.3 werden Zielklassen des Physikunterrichts beschrieben. Sie werden in der Unterrichtsvorbereitung reflektiert, ausgewählt und dann schriftlich fixiert. 5. Durch die Kultusministerkonferenz der Bundesländer wurden 2003/ 2004 allgemeine verpflichtende Kompetenzen von Schülern am Ende ihrer Schulzeit festgelegt (Standards), um die Leistungsfähigkeit des deutschen Schulsytems zu verbessern. In 2.4. sind die Bildungsstandards im Fach Physik für den Mittleren Schulabschluss, die Basiskonzepte, Kompetenzbereiche, sowie die Anforderungsbereiche dargestellt und kommentiert.
84 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81 82 83 84 85 86
2 Ziele und Kompetenzen im Physikunterricht
2.1 Wie kommt man zu Zielen?
Planungsinstrument für die Konzeption und Entwicklung von Unterrichtseinheiten
In Abschnitt 2.1 wird von Klafkis schon klassischer „didaktischer Analyse“ ausgegangen und für den Physikunterricht interpretiert. Ein am IPN entwickelter Fragenkatalog (s. z. B. Häußler & Lauterbach, 1976) wurde dem in Kap. 1 entwickelten Begründungszusammenhang angepasst. Das hier beschriebene Planungsinstrument ist als physikdidaktische Interpretation von Klafkis „didaktischer Analyse“ aufzufassen, das insbesondere für die Konzeption und Entwicklung von Unterrichtseinheiten und Unterrichtsprojekten eingesetzt werden kann. Es ist auch für die Entwicklung von Physiklehrplänen relevant.
2.1.1 Die didaktische Analyse im Physikunterricht Klafki (1963, 101 ff. u. 135 ff. ) folgend kann man vier Zieldimensionen unterscheiden, um ein Thema didaktisch auszuloten, um Ziele zu einem thematischen Bereich aufzufinden. Bildungsgehalt GegenwartsbedeuDidaktische Analyse tung aus Schülersicht
Zukunftsbedeutung aus Schülersicht
Innere Struktur des Themas
Abb. 2.1: Vier Zieldimensionen einer didaktischen Analyse Der Bildungsgehalt
1. Der allgemeine Sinn oder Bildungsgehalt (z. B. Klafki 1963, 130 ff.) eines Themas bedeutet im Physikunterricht die wichtigsten Motive, die allgemeinen Strukturen, die ethischen und die fachimmanenten Grenzen, die wesentlichsten Auswirkungen der Physik an geeigneten Beispielen zu kennen, zu verstehen, zu reflektieren. Auch die mit dem Kürzel „über die Natur der Naturwissenschaften lernen“ umschriebenen Zielaspekte können Bildungsgehalte sein . Aus der Perspektive dieser Zieldimension kann etwa der Bildungsgehalt des Themas „Elektrischer Stromkreis“ die Modellbildung in der Physik sein (s. Kircher u. a.1975). Es kann aber auch sinnvoll sein, die typischen Anwendungen elektrischer Stromkreise im Unterricht zu thematisieren, die in tausenderlei Geräten unser Leben, unsere Gesellschaft beeinflussen und prägen (z. B. Muckenfuß & Walz 1992). Dieses Beispiel macht deutlich, dass der Gehalt eines Themas nicht eindeutig und nicht endgültig festgelegt ist. Die Entscheidungen über Ziele eines thematischen Bereichs treffen im Idealfall Lehrende und Lernende gemeinsam.
2.1 Wie kommt man zu Zielen? 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 100 101 102 103 104 105 106 107 108 109 110 111 112 113 114 115 116 117 118 119 120 121 122 123 124 125 126 127 128 129
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Gehen wir von gegenwärtiger schulischer Rahmenbedingungen (z.B. Physikstunden/ Woche) aus und diesen vier Zieldimensionen bedeutet das eine Abkehr von ausufernden fachlichen Zielen im informierenden Unterricht und die notwendige Hinwendung zu exemplarischem Lernen. Um neben exemplarischen auch informierenden Unterricht zu rechtfertigen, verwendete Wagenschein eine Analogie: Der exemplarische Unterricht entspricht Brückenpfeilern, informierender Unterricht den Brückenbögen, die die Pfeiler verbinden
Wagenscheins Analogie über exemplarischen und informierenden Unterricht
2. Weltbilder und Lebensstile der Schüler entscheiden maßgeblich über die Relevanz bzw. Irrelevanz eines Themas.
Bedeutung aus der Sicht der Lernenden
Die spezifischen Weltbilder und Lebensstile der Kinder und Jugendlichen entstehen nicht nur als Folgen schulischen Lernens, sondern auch durch Gegebenheiten im Elternhaus und durch verschiedenartige Aktivitäten und Einwirkungen in Jugendgruppen und im unorganisierten Freizeitbereich. Weltsichten und Lebensstile beeinflussen, die Alltagsvorstellungen, Interessen, Motive, Einstellungen, Handlungen der Jugendlichen. Zusammen mit individuellen Kenntnissen und Fähigkeiten sind Weltbilder und Lebensstile die „anthropogenen“ und „soziokulturellen“ Voraussetzungen des Unterrichts. Wie weit ist ein bestimmtes physikalisches Thema geeignet, diese Schülerperspektiven zu beeinflussen, zu ändern, zu festigen? Wir betrachten als Beispiel die fachwissenschaftlichen Themen „Kinematik“ und „Dynamik“. Sie können im Physikunterricht sowohl als Aspekte der Verkehrserziehung als auch der Umwelterziehung thematisiert werden. • Bei einer Unterrichtseinheit: „Mehr Sicherheit im Straßenverkehr“ können zusätztlich zu den physikalischen Begriffe „Geschwindigkeit“ und „Beschleunigung“, über die Kräfte beim Abbremsen oder bei Kurvenfahrten, über den Bremsweg, neue Einsichten über sinnvolles Verhalten im Straßenverkehr folgen zur größeren Sicherheit aller Verkehrsteilnehmer. • Eine Unterrichtseinheit „Folgen des Straßenverkehrs“ ist fachüberschreitend. Sie erfordert ein ähnliches physikalisches Grundwissen wie zuvor. Aber nun werden vor allem die Folgen hoher Geschwindigkeiten für den Kraftstoffverbrauch und für die Abgasemission thematisiert, Lösungsmöglichkeiten für die dadurch entstehenden Umweltprobleme ebenso erörtert, wie Alternativen zum Individualverkehr. Bei einer solchen Interpretation der Thematik sind die Weltbilder und Lebensstile der Lernenden noch stärker tangiert als im zuerst skizzierten Fall „Verkehrssicherheit“.
Weltbilder und Lebensstile sind „anthropogene“ und „soziokulturelle“ Voraussetzungen des Unterrichts
86 130 131 132 133 134 135 136 137 138 139 140 141 142 143 144 145 146 147 148 149 150 151 152 153 154 155 156 157 158 159 160 161 162 163 164 165 166 167 168 169 170 171 172
2 Ziele und Kompetenzen im Physikunterricht Eine weitere Folgerung dieser Zieldimension ist, dass schwierige und komplexe Themen schülergemäß elementarisiert und didaktisch rekonstruiert werden müssen (s. Kap. 3). Das hat natürlich auch unterrichtsmethodische Konsequenzen.
Zukunftsbedeutung eines Themas: Für das Leben lernen
3. Die Zukunftsbedeutung eines Themas für die Schüler wird vor allem aus pragmatischer Sicht interpretiert: für das Leben lernen.
Neue Kulturtechniken
In dieser Interpretation der Zieldimension „Zukunftsbedeutung“ gewinnt der naturwissenschaftliche Unterricht ein besonderes Gewicht. Das gilt für die neuen Kulturtechniken etwa für die typischen Darstellungsweisen von Informationen in Blockdiagrammen, Tabellen, grafischen, ikonischen, symbolischen Darstellungen, die nicht nur im naturwissenschaftlichen Bereich eingesetzt werden. Aber auch Einstellungen gehören dazu, wie die angstfreie Nutzung von technischen Haushaltsgeräten und Instrumenten oder der souveräne Umgang mit Medien zur Beschaffung benötigter Informationen.
Angstfreie Nutzung technischer Geräte und Instrumente
Hat der Inhalt eine Bedeutung für das spätere Berufsleben, für die physische und psychische Gesunderhaltung, für Orientierung, für Kritik- und Handlungsfähigkeit in einer von der Technik geprägten Lebenswelt, für Problemlösungen in einer technischen Gesellschaft?
Souveräner Umgang mit Medien
Der oben erwähnte Aspekt physische und psychische Gesunderhaltung, kann beispielsweise in einem Projekt „Lärm und Lärmschutz“ thematisiert werden. Neben biologischen Grundlagen (Schallwahrnehmung und mögliche Schädigungen durch Schall (Lärm)), sind physikalische Grundlagen über Schallentstehung, Schallmessung, Schalldämmung nötig, ebenso Rechtsgrundlagen zur Verhinderung von Lärmbelästigungen und Lärmschädigungen. Auch Wissen über Behörden zur Kontrolle dieser Rechtsgrundlagen gehören zu einem solchen Projekt. Das ist nötig, damit Betroffene sinnvoll und effektiv gegen Lärmbelästigungen vorgehen können.
Strukturen der Physik
4. Physik und Schulphysik besitzen im Allgemeinen ein klare, eindeutige innere Struktur. Das wurde durch Festlegungen ( zum Beispiel die Grundgrößen, abgeleiteten Größen, Definitionen) und empirische Befunde (z. B. physikalische Gesetze, Naturkonstanten und Materialkonstanten), durch Integration und Zusammenfassung von Begriffen in Gesetze, von Gesetzen in Theorien, von Theorien in umfassende physikalische Weltbilder (das „Teilchen-“ bzw. das „Wellenbild“) erreicht. Von besonderer Bedeutung auch für den Physikunterricht sind die „Erhaltungssätze“ (Energieerhaltung, Impulserhaltung, Drehimpulserhaltung, Ladungserhaltung) in abgeschlossenen Systemen. Ein die Schulstufen übergreifendes Ziel des Physik- und Chemieun-
2.1 Wie kommt man zu Zielen? 173 174 175 176 177 178 179 180 181 182 183 184 185 186 187 188 189 190 191 192 193 194 195 196 197 198 199 200 201 202 203 204 205 206 207 208 209 210 211 212 213 214 215
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terrichts ist das Lernen des „Teilchenbildes“ und dessen Anwendungen in verschiedenen Bereichen der Naturwissenschaften. Neben der begrifflichen Struktur, ist die methodische Struktur der Physik auch für den Physikunterricht als Lernziel relevant. Eine größere Bedeutung als bisher soll der Metastruktur der Physik zukommen (s. 1.2.2, 1.2.3). Zusammenfassung • Der allgemeine Sinn eines Themas wird in der gesellschaftlichen (politischen, zivilisatorischen, kulturellen) Relevanz und seinem Beitrag zur Erhaltung der natürlichen Umwelt gesehen. Durch eine solche Interpretation eines Themas wird der Physikunterricht ausgeweitet; er wird fachüberschreitend und interdisziplinär. Nicht nur wegen dieser Ausweitung und der gegenwärtigen schulischen Rahmenbedingungen (zu wenig Physikunterricht) muss exemplarisches Lernen (s. 4.2.1) den Physikunterricht dominieren.
Der allgemeine Sinn eines Themas
• Die Frage nach der Bedeutung eines Themas aus der Sicht der Schüler führt zu didaktischen Alternativen, zu interessierenden Einstiegen, zu individualisiertem Lernen, zu dauerhaftem Behalten des neuen Wissens, zu pädagogisch und gesellschafltich wünschenswertem Verhalten.
Bedeutung eines Themas aus der Sicht der Schülers
• Die pragmatische Interpretation der Zukunftsbedeutung eines Themas geht davon aus, dass der Physikunterricht auch den physikalischen Kern der modernen Techniken und Technologien in elementarisierter Form darstellen, herausarbeiten, verständlich machen kann. Diese sind einsichtige, rationale Grundlage für deren Handhabung und Nutzung in relevanten Situationen des Alltags, des späteren Berufs, als mündiger Bürger.
Zukunftsbedeutung eines Themas
• Die von Menschen gemachte und erforschte, aber nicht willkürliche innere Struktur der Physik (begriffliche und methodische Struktur, Metastruktur) bestimmt mit den drei anderen Zieldimensionen den Aufbau, die Gliederung und die Inhalte des Physikunterrichts. Es entsteht daraus die Sachstruktur des Physikunterrichts. Diese unterscheidet sich von der Struktur der Physik eben dadurch, dass allgemeinbildende und pragmatische Ziele diese Struktur mitbestimmen. Die Mitbestimmung schließt natürlich auch die Lernenden mit ein.
Struktur der Physik
88 216 217 218 219 220 221 222 223 224 225 226 227 228 229 230 231 232 233 234 235 236 237 238 239 240 241 242 243 244 245 246 247 248 249 250 251 252 253 254 255 256 257 258
2 Ziele und Kompetenzen im Physikunterricht
2.1.2 Gesichtspunkte für die Inhaltsauswahl – Fragenkatalog für die didaktische Analyse 1. In den 1970-er Jahren prägte die Curriculumtheorie die Diskussionen und die Ergebnisse von Lehrplankommissionen und damit die Ziele des naturwissenschftlichen Unterrichts. Einzelne „curriculare“ Lehrpläne waren bis in die neunziger Jahre gültig. Der pädagogische Ansatz von Häußler & Lauterbach (1976) ist pragmatisch: Schule und Unterricht sollen dabei helfen, künftige Lebenssituationen zu bewältigen. Dazu müssen bestimmte Qualifikationen und Einstellungen (Dispositionen) mit Hilfe bestimmter Curriculumelemente (z. B. speziell entwickelte Unterrichtsmaterialien) erworben werden. Lebenssituationen: Interpretationsbereich Naturwissenschaft/ Technik Handlungsbereiche Gesellschaft, Umwelt und Schule
Entsprechend dieser allgemeinen Vorgehensweise skizzieren Häußler & Lauterbach (1976)) vier unterschiedliche Lebenssituationen: die drei Handlungsbereiche Gesellschaft, Umwelt, Schule und den Interpretationsbereich Naturwissenschaft/Technik. Situationsskizzen „dienen der Orientierung, ordnen die Vielfalt, vermerken Ziele und zeichnen Wege zu ihnen“ (Häußler & Lauterbach 1976, 59). Es werden 16 Gesichtspunkte für die Inhaltsauswahl vorgeschlagen, die von Lernzielen zu den vier Lebenssituationen ausgehen. Für die Planung von Unterrichtseinheiten oder von projektorientiertem Unterricht stellen die Gesichtspunkte einen Fragenkatalog für eine didaktischen Analyse zu einem vorgegebenen Thema dar. Diese Fragen sind vergleichbar mit den nicht fachspezifischen Fragen, die Klafki (1963, 135 ff.) für den gleichen Zweck vorschlägt.
Gesichtspunkte zur Inhaltsauswahl
2. Entsprechend den vier Zieldimensionen (Abb.2.1) und unter Berücksichtigung der Leitideen von Kap. 1 werden die folgenden Gesichtspunkte zur Inhaltsauswahl vorgeschlagen:
Zum Bildungsgehalt
I. Zum Bildungsgehalt: Ist der Inhalt geeignet, exemplarisch • das idealistische Motiv der Naturwissenschaft „Wahrheitssuche“ zu illustrieren? • erkenntnis-/wissenschaftstheoretische Aspekte der naturwissenschaftlichen Wahrheitssuche zu thematisieren? • Grenzen des physikalischen Weltbildes auf zu zeigen? • historische Beispiele der nutzenfreien Forschung (z. B. Robert Mayer, Albert Einstein, Elementarteilchenphysik) zu kennen? • das pragmatische Motiv der Naturwissenschaften „Beherrschung der Natur“ zu illustrieren?
2.1 Wie kommt man zu Zielen? 259 260 261 262 263 264 265 266 267 268 269 270 271 272 273 274 275 276 277 278 279 280 281 282 283 284 285 286 287 288 289 290 291 292 293 294 295 296 297 298 299 300 301
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• Positive Auswirkungen der Naturwissenschaften/der Technik in der Lebenswelt (Arbeitswelt, Freizeit, Haushalt und öffentliche Dienste) selbstständig zu erarbeiten? • Negative Auswirkungen (der Naturwissenschaften)/der Physik/ der Technik für den lokalen und globalen Frieden, für die Arbeitswelt, für die Freizeit, für die lokale/regionale/globale Umwelt durch Projektarbeit zu analysieren und zu problematisieren? • das wertorientierte Motiv „Erhaltung der Lebensgrundlagen für das Biosystem“ als Grundeinstellung zu internalisieren? • die Komplexität und Sensitivität des Biosystems zu verstehen, einschließlich dessen Grundlagen Erde, Wasser, Luft? • Maßnahmen zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen kennen, unterstützen, in die Wege zu leiten? • die Notwendigkeit der nachhaltigen, zukunftsfähigen Nutzung, sowie Recycling von Wertstoffen einsehen und Konsequenzen für den eigenen Lebensstil zu ziehen? • Probleme des anthropozentrischen Weltbildes zu diskutieren? II. Zur Gegenwartsbedeutung für Schüler: Ist der Inhalt geeignet, das Weltbild/ den Lebensstil der Kinder und Jugendlichen zu berühren, zu beeinflussen, zu ändern, zu festigen?
Zur Gegenwartsbedeutung für Schüler
• Selbstbewusstsein entwickeln im Umgang mit technischen Geräten • Freude am spielerischen Lernen und Entdecken • Selbstorganisiertes, kreatives Lernen ermöglichen • Sorgfalt im Umgang mit den Lebensgrundlagen thematisieren • Rücksichtnahme in der technischen Gesellschaft (Verhalten im Straßenverkehr) fördern III. Zur Zukunftsbedeutung für Schüler: Ist der Inhalt geeignet, • Kindern und Jugendlichen wichtige Kulturtechniken zur gegenwärtigen und künftigen Lebensbewältigung einzuüben? • relevante Geräte der Lebenswelt beherrschen (Handlungsfähigkeit mit technischen Geräten zur eigenen Sicherheit anzueignen (Fahrrad, Moped, Elektrogeräte))? • Arbeitstechniken und Darstellungsweisen einzuüben? • selbständig Informationen über physikalisch/ technische Geräte der Lebenswelt beschaffen und adäquat umzusetzen? • Informationen darzustellen und zu interpretieren?
Zur Zukunftsbedeutung für Schüler
90 302 303 304 305 306 307 308 309 310 311 312 313 314 315 316 317 318 319 320 321 322 323 324 325 326 327 328 329 330 331 332 333 334 335 336 337 338 339 340 341 342 343 344
2 Ziele und Kompetenzen im Physikunterricht • im Team (in der Gruppe) zu arbeiten? • Informationen kommunikativ darzustellen (Standpunkte individuelle/im Team zu erarbeiten und in Diskussionen zu vertreten)? • Kindern und Jugendlichen wichtige Informationen zu vermitteln zur physischen und psychischen Gesunderhaltung? • über Suchtgefahren Bescheid zu wissen (z. B. Geschwindigkeitsrausch im Straßenverkehr, Spielsucht am Computer)? • Gefahren und Gefährdungen in der technischen Gesellschaft zu kennen (Radioaktivität, Lärm, Laserstrahlen)? • vorbeugende Maßnahmen gegen Gefahren in der technischen Gesellschaft zu kennen, gegen Ursachen eintreten, sich engagieren? IV. Zur inneren Struktur der Physik: Ist der Inhalt geeignet, exemplarisch Strukturen der Physik zu vermitteln?
Zur inneren Struktur der Physik
• Grundlegende Begriffe und Gesetze der Physik erarbeiten (Teilchenmodell, Energieerhaltungssatz) • Notwendige Zusammenhänge zwischen Begriffen und Theorien herstellen • Die natürliche und technische Umwelt begreifen (Phänomene: Regenbogen, Gewitter, Sonnenfinsternis; Elektromotor, Steuerungen und Regelungen.) • Grundlegende Methoden der Physik kennen lernen, verstehen, anwenden • Grenzen der Anwendung physikalischer Methoden diskutieren
Unterrichts- und Projektvorbereitung
3. Dieser Fragenkatalog kann, wie die entsprechenden Fragen von Klafki (1963) bzw. von Häußler & Lauterbach (1976), für die individuelle Unterrichtsvorbereitung oder in einer Arbeitsgruppe bei der Vorbereitung eines Projekts eingesetzt werden. Duit, Häußler & Kircher (1981, 241 ff.) haben die didaktische Analyse im Zusammenhang mit der Unterrichtsplanung detailliert beschrieben. In Anlehnung an diese Ausführungen werden folgende Schritte für eine didaktische Analyse vorgeschlagen:
Schritte einer didaktischen Analyse
1 Schritt: Ausloten eines gegebenen Unterrichtsthemas (Stichworte notieren) und auf einen didaktischen Schwerpunkt (eine der Zieldimensionen I, II, III, IV) festlegen. 2. Schritt: Leit- und Richtziele (Näheres in 2.2.) zum Thema formulieren unter Berücksichtigung der Aspekte dieser Zieldimension.
2.2 Lernziele über Lernziele 345 346 347 348 349 350 351 352 353 354 355 356 357 358 359 360 361 362 363 364 365 366 367 368 369 370 371 372 373 374 375 376 377 378 379 380 381 382 383 384 385 386 387
91
3. Schritt: Die Stichwortliste der ausgewählten Zieldimension ergänzen im Hinblick auf involvierte (vergangene, gegenwärtige, zukünftige) relevante physikalische, technische, politische, umweltpolitische wirtschaftliche, rechtliche Kontexte. 4. Schritt: Aus der Stichwortliste entsteht ein Sachstrukturdiagramm (s. 2.5), das auch die Lernvoraussetzungen der Schüler in Stichworten enthält. 5. Schritt: Die Planungsprodukte, die Liste der Leit- und Richtziele sowie das Sachstrukturdiagramm werden auf innere Konsistenz überprüft und ggfs. abgeändert und/oder ergänzt. 6. Schritt: Eine Grobstruktur der Unterrichtseinheit wird entwickelt. Diese Übersicht (Umfang etwa 1-2 Seiten) enthält in 4 Spalten: den zeitlichen Umfang, Lehr-/Lernziele, die Teilthemen der Unterrichtseinheit in deren Reihenfolge, sowie zentrale Experimente der Schulphysik und besondere Lernformen und Lernorte (z. B. Spiel, Betriebsbesichtigung). 4. Unterricht ist natürlich viel mehr als das, was in noch so umfassenden Ziellisten formuliert ist, mehr als in Worten und Symbolen fassbar ist, Erwünschtes und Unerwünschtes. Magers Absicht: „Die Funktion der Zielanalyse ist, das Undefinierbare zu definieren, das Ungreifbare zu greifen“ (Mager 1969), ist ein Widerspruch in sich, ist unrealistisch. Oder soll man sagen: ein unnötiger Traum? Andererseits gilt, dass für eine verantwortliche Unterrichtsführung eine sorgfältige Reflexion und Analyse der in den Unterricht eingehenden Zielvorstellungen unumgänglich ist (s. Jank & Meyer 1991, 300). Das gilt insbesondere wegen des Zusammenhangs mit einer verantwortungsbewussten Beurteilung des Unterrichts (s. Kap.6).
Planungsprodukte: - Liste der Leitund Richtziele - Sachstruktur diagramm - Grobstruktur des Unterrichts
Für verantwortliche Unterrichtsführung ist eine sorgfältige Reflexion und Analyse der in den Unterricht eingehenden Zielvorstellungen unumgänglich
2.2 Lernziele über Lernziele In Theorie und Praxis werden verschiedene Lernziele und Lernzielklassifikationen verwendet, formuliert, hierarchisiert, nicht zuletzt kritisiert. Die Kritik bezieht sich vor allem auf die sogenannten operationalisierten (Fein-) Lernziele wie sie in den 1970er-Jahren im Gefolge der Curriculumtheorie formuliert wurden. Heute ist man sich weitgehend einig, dass es sinnvoll sein kann, die Bedienung eines elektrischen Multimeters zu operationalisieren, um Schäden des jugendlichen Benutzers und des Gerätes zu verhindern. Komplexe mentale Vorgänge über Physik wie „Verständnis der newtonschen
Kritik an operationalisierten (Fein-) Lernzielen
92 388 389 390 391 392 393 394 395 396 397 398 399 400 401 402 403 404 405 406 407 408 409 410 411 412 413 414 415 416 417 418 419 420 421 422 423 424 425 426 427 428 429 430
2 Ziele und Kompetenzen im Physikunterricht Mechanik“ lassen sich genau so wenig durch Lernziele operationalisieren wie „Verständnis von Schillers Dramen“. Wir gehen daher nicht näher auf operationalisierte Lernziele ein (s. dazu Duit, Häußler & Kircher 1981), denn: Der Gehalt der newtonschen Mechanik lässt sich für Lernende nicht in wenigen Formeln fassen, deren „Verständnis“ nicht durch Lösen ausgewählter Rechenaufgaben feststellen: Das Ganze ist eben mehr als die Summe seiner Teile. Ausgehend von verschiedenen Zieldimensionen (2.1) geht es um die notwendige Ausweitung von Lernzielen über die auf physikalische Begriffe und Gesetze bezogenen Ziele hinaus.
2.2.1 Verschiedene Zielebenen Zielebenenmodell: nach wie vor relevant
Westphalen (1979) verwendet eine hierarchische Einteilung von Zielen in vier Zielebenen. Wir halten dieses Zielebenenmodell nach wie vor für relevant in der Lehrerausbildung und für die Entwicklung von Lehrplänen. Eine solche Einteilung der Ziele ist für angrenzende Zielebenen nicht trennscharf. Vielmehr gibt die Zuordnung zu einer Zielebene einen Hinweis darauf, für wie wichtig ein Ziel für die Schulbildung und für das Fach gehalten wird und damit zusammenhängend, wie intensiv es thematisiert werden soll. Westphalen unterscheidet „Leitziele“, „Richtziele“, „Grobziele“ und „Feinziele“, „Leitziele“ sind sehr allgemeine Ziele, die die Lern-, Bildungs-, Erziehungsvorgänge der Schule umfassen und grundsätzlich alle Fächer betreffen. „Richtziele“ umfassen die allgemeinsten fachspezifischen und fachübergreifenden Ziele. „Grobziele“ spielen innerhalb eines Faches eine große Rolle. „Feinziele“ sind für die Planung einer Unterrichtsstunde wichtig.
Beispiele für Leitziele
1.„Leitziele“ finden sich in den Präambeln der Lehrpläne; es sind die allgemeinen Bildungs- und Erziehungsziele einer bestimmten Gesellschaft, einer bestimmten Politik. Sie beziehen sich auf die Prinzipien des Grundgesetzes, wie z. B. „Erziehung zur Demokratie“ und auf Gesetze von Bundesländern über das jeweilige Erziehungs- und Unterrichtswesen, z. B. auf Einstellungen und Werte wie „Ehrfurcht vor der Würde des Menschen“, „Verantwortungsgefühl“, „Verantwortungsbewusstsein“, „Verantwortungsfreudigkeit“, „Hilfsbereitschaft“ und „Toleranz“. Aber auch der Erwerb relevanter allgemeiner Fähigkeiten, „Schlüsselqualifikationen“, wie Kommunikationsfähigkeit, Kooperationsfähigkeit, Kritikfähigkeit, Problemlösen, „Denken in Zusammenhängen“, die Fähigkeit, die Flut von medialen Informationen sinnvoll zu nutzen, werden zu den Leitzielen gezählt. Man kann Klafki (19965, 36 ff.) folgen und die angedeutete Vielfalt
2.2 Lernziele über Lernziele 431 432 433 434 435 436 437 438 439 440 441 442 443 444 445 446 447 448 449 450 451 452 453 454 455 456 457 458 459 460 461 462 463 464 465 466 467 468 469 470 471 472 473
93
an Leitzielen in die Begriffe „Selbstbestimmungsfähigkeit“, „Mitbestimmungsfähigkeit“, „Solidaritätsfähigkeit“ subsumieren. Auch die Physiklehrerinnen und Physiklehrer tragen dazu bei, dass Leitziele in der Schule realisiert werden: • durch die Auswahl und Interpretation der Inhalte • durch geeignete methodische Formen (Gruppen-, Projektunterricht, Freiarbeit) • durch kritische und souveräne Nutzung verfügbarer Medien. 2. „Richtziele“ sind die obersten fachspezifischen Ziele; sie können fachübergreifend sein. Dies gilt auch für die Richtziele des Physikunterrichts, die i. Allg. auch für den naturwissenschaftlichen Unterricht gelten (s. „Basiskonzepte“ in 2.4.2). Kerschensteiner (1914) hat „Wesen und Wert des naturwissenschaftlichen Unterrichts“ in den dort ausschließlich oder besonders geförderten und geübten Fähigkeiten „Beobachten“, „Denken“, „Urteilen“ und physisches und psychisches Durchhaltevermögen („Willenskraft“) gesehen. Es lässt sich darüber streiten, ob diese Fähigkeiten als „Leitziele“ oder als „Richtziele“ aufzufassen sind. Westphalen folgend werden hier die allgemeinsten Inhalte der begrifflichen und methodischen Struktur der Naturwissenschaften als Richtziele aufgefasst. Für die methodische Struktur heißt das Richtziel „naturwissenschaftliches Arbeiten lernen (verstehen, anwenden)“, mit den zusammenhängenden Aspekten „Theoretisieren“ und „Experimentieren“. Dabei bleibt vorläufig unberücksichtigt, wie weit dieses Richtziel im gegenwärtigen Physikunterricht realisierbar ist. Die Untersuchungen von Carey u. a. (1989) und Welzel u. a. (1998) zeigen, dass diese Ziele gegenwärtig nur rudimentär erreicht werden. Tatsache ist wohl auch, dass das Ziel „Methoden der Physik/ der Naturwissenschaften lernen“ absichtlich oder unabsichtlich vernachlässigt wird. Der gegenwärtige Schwerpunkt des Physikunterrichts liegt eindeutig auf dem Verständnis der begrifflichen Struktur. Für das idealistischabendländische Motiv (Leitziel) „naturwissenschaftliche Wahrheitssuche“ und für das pragmatische Motiv „für das Leben lernen“ scheint das Verständnis und die Anwendung der methodischen Struktur unbedingt erforderlich zu sein, bloßes „Reden über Methoden“ reicht hierfür nicht aus. Richtziele, die die begriffliche Struktur der Physik/der Naturwissenschaften betreffen, sind: Das atomistische Weltbild, der begriffliche Aufbau der Physik, Invarianten in der Physik (Erhaltungssätze, Na-
Beispiele für Richtziele
94 474 475 476 477 478 479 480 481 482 483 484 485 486 487 488 489 490 491 492 493 494 495 496 497 498 499 500 501 502 503 504 505 506 507 508 509 510 511 512 513 514 515 516
2 Ziele und Kompetenzen im Physikunterricht turkonstanten). Auch die „Basiskonzepte“ („Leitideen“) der Standards für den Physikunterricht (s. 2.4.2) sind Richtziele. Als fachübergreifende Richtziele nennt Westphalen (1979, 67 ff.) unter vielen anderen: „Fähigkeit, Abstraktionen und Symbole zu deuten“, „Bereitschaft Leistung zu erbringen“, „Fähigkeit zu rationellem Arbeiten: Planung, Zeiteinteilung, Organisation, Erfolgskontrolle“.
Beispiele für Grobziele
3. „Grobziele“ sind i. Allg. eindeutig auf ein Teilgebiet der Physik bezogen. Sie benennen z. B. ein relevantes Gesetz oder ein typisches Messverfahren dieses physikalischen Teilgebietes oder eine charakteristische Darstellungsweise von experimentellen Daten oder physikalisch-technischen Sachverhalten dieses Bereichs (z. B. „Schaltskizzen interpretieren können“).
Feinziele: in der Lehrerausbildung sinnvoll
4. Eine weitere Differenzierung der Ziele des Physikunterrichts in sogenannte „Feinziele“ ist in der 1. und 2. Phase der Lehrerbildung sinnvoll: Die Formulierung von Feinzielen ist nicht nur für die Ausarbeitung von Unterrichtsentwürfen zweckmäßig, sondern auch für die Bewertung von Unterricht im Rahmen eines quantitativen Beurteilungssystems. (s. Kap. 6). Für komplexere Fähigkeiten (Ziele) wie „Verstehen“ und „Problemlösen“ erscheint die Differenzierung nicht angemessen, wegen der Unschärfe von Ausdrücken wie „Verstehen“ und wegen der ungenauen Kenntnis des Vorwissens der Lernenden. Letzteres spielt eine Rolle bei der Beurteilung; denn es ist ein wichtiger Unterschied, ob es sich um originäres Problemlösen oder um die Anwendung eines bekannten Lösungsschemas handelt. 5. Bisher waren Versuche nicht erfolgreich, die Richtziele und Grobziele der Schulphysik in den Ländern der Bundesrepublik zu vereinheitlichen. Nun sind „Bildungsstandards im Fach Physik für den Mittleren Schulabschluss“ und „Einheitliche Prüfungsanforderungen in der Abiturprüfung Physik“ beschlossen (KMK 2004b,c). In Abschnitt 2.4 wird die damit zusammenhängende bildungspolitische Initiative dargestellt, die damit verbundenen Hoffnungen und möglichen Problemen.
2.2 Lernziele über Lernziele 517 518 519 520 521 522 523 524 525 526 527 528 529 530 531 532 533 534 535 536 537 538 539 540 541 542 543 544 545 546 547 548 549 550 551 552 553 554 555 556 557 558 559
95
6. Zusätzliche Bemerkungen: • Man kann von allgemeinen Zielen (Leitzielen) ausgehend nicht die spezifischeren Richt-, Grob-, Feinziele ableiten. Es ist eher möglich, eine negative Eingrenzung zu geben, d. h. welche RichtGrob-, Feinziele zu einem vorgegebenen übergeordneten Ziel nicht in Frage kommen.
Aus Leitzielen lassen sich die Richt-, Grob- und Feinziele nicht ableiten
• Zur Illustration des Zielebenenmodells folgenderVergleich: Ein Leitziel kann als Motto über dem Eingang eines Schulhauses angebracht werden.Ein Richtziel kann über der Tür zum Physikraum stehen. Ein Grobziel kann als Stundenthema an die Tafel geschrieben werden. Feinziele sind im Physikheft als Merksätze, kommen in einer Klassenarbeit/ Schulaufgabe als Aufgaben vor.
Illustration des Zielebenenmodells
2.2.2 Zielklassen und Anforderungsstufen 1. Wenn Lernziele für einen Unterrichtsentwurf formuliert werden, ist damit u. a. folgende Frage verknüpft: Welche Art von Zielen, welche „didaktische Zielklasse“ ist gemeint? Es werden folgende Zielklassen unterschieden (s. dazu 2.4.2) : • „Konzeptziele“ intendieren die Aneignung des begrifflichen Wissens (vor allem die Basiskonzepte Materie, Wechselwirkung, System, Energie) • „Prozessziele“ charakterisieren Fähigkeiten und Fertigkeiten, (z.B. Wahrnehmen, Ordnen, Erklären, Prüfen, Modelle bilden), • „Soziale Ziele“ streben ein bestimmtes Verhalten an (Kommunikation und Kooperation), • Ziele über Einstellungen und Werte.
Zielklassen
Ich verweise auf die kognitionspsychologische (z. B. Mandl & Spada 1988) und die entwicklungspsychologische Standardliteratur (z. B. Oerter & Montada 19984), die diese Zielklassen fundieren. 2. Wie intensiv soll sich der Lernende mit einem Thema befassen? Soll er bloß einen Einblick in ein Thema gewinnen oder soll er mit dem Thema vertraut werden? Für Lehrpläne, Unterrichtseinheiten und auch bei einzelnen Unterrichtsstunden sind verschiedene Anforderungsstufen bei den Zielen sinnvoll. Sie geben Hinweise für die Intensität des Lehrens und Lernens und damit auch Hinweise für die Überprüfung von Lernzielen. In der Lehrerausbildung sind die von Roth (1971) vorgeschlagenen vier „Lernzielstufen“ bekannt:
Anforderungsstufen
96 560 561 562 563 564 565 566 567 568 569 570 571 572 573 574 575 576 577 578 579 580 581 582 583 584 585 586 587 588 589 590 591 592 593 594 595 596 597 598 599 600 601 602
2 Ziele und Kompetenzen im Physikunterricht • Reproduktion (Stufe I): Wiedergabe einzelner Sachverhalte in einer im Unterricht behandelten Weise. • Reorganisation (Stufe II): Zusammenhängende Darstellung bekannter Sachverhalte unter Anwendung eingeübter Methoden. • Transfer (Stufe III): Übertragung eines gelernten physikalischen Sachverhalts auf einen (struktur-) ähnlichen Sachverhalt. • Problemlösendes Denken (Stufe IV): Anwendung bekannter Begriffe und Methoden auf ein neuartiges Problem. Diese Lernzielstufen werden vor allem für schriftliche und mündliche Leistungsbeurteilungen von Fachwissen herangezogen. Auch die aus dem amerikanischen Sprachraum stammende Taxonomie von Bloom und Mitarbeitern können als Lernzielstufen interpretiert und für Zielformulierungen mit unterschiedlichen Anforderungen herangezogen werden (s. Duit, Häußler & Kircher 1981, 67 ff.). Die rothschen Lernzielstufen sind in der Lehrerausbildung und bei der Beurteilung einzelner Unterrichtsstunden relevant. Auch in den „Bildungsstandards im Fach Physik für den Mittleren Schulabschluss“ (2004b, 10 ff.) werden ähnliche Ausdrücke für die drei „Anforderungsbereiche“ verwendet: Anforderungsbereich I „Wissen wiedergeben“, Anforderungsbereich II „Wissen anwenden“ und Anforderungsbereich III „Wissen transferieren und verknüpfen“. 3. Um naturwissenschaftliche Bildung am Ende der Schullaufbahn zu erfassen, wurden in der TIMS- Studie Aufgaben formuliert, denen vier Kompetenzniveaus (Sekundarstufe I) (s. Baumert u.a. 2000a, 127 ff.), bzw. fünf Kompetenzniveaus (Sekundarstufe II) (s. Baumert u.a. 2000b, 100 ff.) zu Grunde liegen. Im Unterschied zu den rothschen Lernzielstufen sind sie auf den naturwissenschaftlichen Unterricht zugeschnitten. Sie betreffen vor allem die Zielklassen „Konzept“- und „Prozessziele“, d.h. Fachwissen und Fachmethoden und deren Anwendung. „Die Kompetenzbereiche geben die Breite der fachlichen und methodischen Anforderungen an. Die fachspezifischen Anforderungsbereiche beschreiben deren Tiefe“ (KMK 2004a, 10) (ausführlich s. Abschnitt 2.4).
Kompetenzbereiche: Fachwissen Fachmethoden Kommunikation Reflexion/ Bewertung
Um die von der Kultusministerkonferenz beschlossenen Bildungsstandards im Fach Physik (KMK 2004a,b,c) (Mittlerer Schulabschluss bzw. Abitur) in den Ländern zu vereinheitlichen und zu überprüfen, wurden die Kompetenzbereiche: „Fachwissen“, „Fachmethoden bzw. Erkenntnisgewinnung“, „Kommunikation“ und „Reflexion bzw. Bewertung“ festgelegt (s.2.4). Es versteht sich, dass sich die Anforderungen bei diesen beiden Schulabschlüssen deutlich unterscheiden.
2.3 Physikdidaktische Zielklassen 603 604 605 606 607 608 609 610 611 612 613 614 615 616 617 618 619 620 621 622 623 624 625 626 627 628 629 630 631 632 633 634 635 636 637 638 639 640 641 642 643 644 645
97
4. Um ein Lernziel hinreichend zu präzisieren, müssen die Zielebene, die Zielklasse und die Zielstufe /Anforderungsstufe angegeben werden. Dies lässt sich formal in einem Koordinatensystem veranschaulichen, das einen dreidimensionalen Lernzielraum definiert.
Zielebenen
e
Leitziele
Grobziele Lernziel z kes Konzeptziele
Transfer s Zielstufen
k Zielklassen Abb. 2.2: Darstellung eines Lernziels im „Lernzielraum“ Beispiel: Das Lernziel zkes (z. B. ohmsches Gesetz) ist ein „Konzeptziel“, das hier als „Grobziel“ so gründlich gelernt werden soll, dass es auf andere, neue Fragestellungen transferiert werden kann; das entspricht „Transfer“ nach den rothschen Lernzielstufen.
2.3 Physikdidaktische Zielklassen Mit der bloomschen Klassifikation der Ziele hängt die verbreitet in der Lehrerbildung verwendete psychologische Einteilung der Ziele zusammen, in der kognitive, affektive und psychomotorische Ziele unterschieden werden (Bloom 1956). Diese Klassifikation ist aus heutiger Sicht unvollständig, weil soziale Ziele und wichtige Einstellungen und Werte nicht berücksichtigt sind. In den Bildungsstandards (KMK 2004b) sind vier „Kompetenzbereiche“ formuliert, die zumindest äußerlich den vier „Zielklassen“ entsprechen.
„Kompetenzbereiche“ entsprechen „Zielklassen“
98 646 647 648 649 650 651 652 653 654 655 656 657 658 659 660 661 662 663 664 665 666 667 668 669 670 671 672 673 674 675 676 677 678 679 680 681 682 683 684 685 686 687 688
2 Ziele und Kompetenzen im Physikunterricht
2.3.1 Konzeptziele (Begriffliche Ziele) Konzeptziele:
Konzeptziele des naturwissenschaftlichen Unterrichts entsprechen teilweise den kognitiven Zielen, die Klopfer (1971) aufführt:
Wissen von Einzelheiten und Fakten
1. Wissen von (physikalischen) Einzelheiten, Fakten
Wissen über Begriffe und Theorien
4. Höhere kognitive Fähigkeiten (z. B. Hypothesen bilden)
2. Wissen über Begriffe und Theorien 3. Verstehen von Zusammenhängen 5. Bewerten (z. B. Messungenauigkeiten) Diese Ziele unterscheiden sich durch ihre kognitiven Anforderungen. Es ist schwieriger, die Gegebenheiten des Physikunterrichts zu bewerten als physikalische Einzelheiten zu wissen. Unter Konzeptzielen verstehen wir die Stufen (1) und (2). Für sich allein charakterisieren sie einen traditionellen lehrerorientierten Unterricht.
2.3.2 Prozessziele (Fähigkeiten und Fertigkeiten) Prozessziele: physikalische und technische Fähigkeiten und Fertigkeiten Untersuchungsmethoden I
Mit Prozesszielen sind physikalische und technische Fähigkeiten und Fertigkeiten gemeint, die sich Kinder und Jugendliche vorwiegend in der Schulzeit und in der Schule aneignen sollen. Dazu gehören insbesondere physikalische Methoden (Klopfer 1971): Durch Untersuchungsmethoden I werden Gegenstände und Vorgänge beobachtet und Änderungen gemessen. Dazu gehört auch die Auswahl geeigneter Messinstrumente und die Beschreibung in physikalischer Ausdrucksweise.
Untersuchungsmethoden II
Physikalische Untersuchungsmethoden II bedeuten das Erkennen einer Aufgabe und das Suchen eines Lösungsweges. Letzteres meint das Aufstellen von Hypothesen, die Auswahl einer Methode zur Überprüfung der Hypothesen und des Untersuchungsplans.
Untersuchungsmethoden III
Physikalische Untersuchungsmethoden III befassen sich mit dem Erzeugen und Interpretieren von Daten. Das bedeutet die Umsetzung des Untersuchungsplanes in eine Experimentieranordnung, die Festlegung der zu messenden Parameter, die Kontrolle und wiederholte Beobachtung der Variablen. Die gewonnenen Daten werden organisiert, verarbeitet, dargestellt, beurteilt und schließlich interpretiert. Hypothesen werden vorläufig bestätigt oder vorläufig widerlegt.
Untersuchungsmethoden IV
Durch Physikalische Untersuchungsmethoden IV werden theoretische Modelle aufgestellt, überprüft, revidiert und in einen allgemeineren theoretischen Zusammenhang eingeordnet. Es dürfen keine Widersprüche zu gesicherten physikalischen Tatbeständen auftreten.
2.3 Physikdidaktische Zielklassen 689 690 691 692 693 694 695 696 697 698 699 700 701 702 703 704 705 706 707 708 709 710 711 712 713 714 715 716 717 718 719 720 721 722 723 724 725 726 727 728 729 730 731
99
Außerdem werden Folgerungen auf weitere experimentelle und theoretische Sachverhalte gezogen. Das Modell wird ausgearbeitet. In Physikalische Untersuchungsmethoden V werden die bisherigen methodologischen Schritte reflektiert: Es werden protophysikalische Begriffe wie Raum und Zeit erörtert oder erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Betrachtungen über Physik und Wirklichkeit oder über das Zusammenspiel von Theorie und Experiment angestellt.
Untersuchungsmethoden V
Um die Anzahl der Zielklassen möglichst klein zu halten, zählen wir auch „Fertigkeiten“ zu den Prozesszielen. Dazu zählen Fertigkeiten im souveränen Umgang und der Bedienung von Geräten aller Art, die für das Experimentieren, die Justierung komplexer Versuchsanordnungen und das Auswerten von Daten benötigt werden..
Prozessziele charakterisieren schülerorientierten Unterricht
2.3.3 Soziale Ziele Für das Zusammenleben in der Gesellschaft, d. h. in der Familie, in der Schule, in Jugendgruppen, in Vereinen wird das Einüben sozialer Verhaltensweisen (sozialer Kompetenzen) immer wichtiger, zum Beispiel: Rücksichtnahme auf Schwächere, Toleranz und Kompromissbereitschaft gegenüber Andersdenkenden, Solidarität mit Bedrohten, Hilfsbereitschaft bei Notleidenden, Höflichkeit gegenüber den Mitmenschen. Diese erzieherischen Aufgaben sind in den vergangenen Jahrzehnten in immer stärkerem Maße von der Familie auf die Schule übergegangen, von der Politik und der Pädagogik auf die Schule übertragen worden (s. Oerter & Montada 19984). Soziale Ziele formulieren wünschenswertes sinnvolles und nützliches Verhalten in der Gesellschaft. Es sind (zum Teil) neue Leitziele unserer Zeit, die explizit die Schule und dort alle Fächer dieser Institution betreffen. Einen spezifischen Beitrag zu adäquatem Sozialverhalten können diejenigen Schulfächer leisten, die besonders für den Gruppenunterricht geeignet sind. Dazu gehört zweifellos auch der Physikunterricht. Außerdem kann in dieser Sozialform des Unterrichts, die in der heutigen Berufswelt notwendige Kooperationsbereitschaft und -fähigkeit ebenso geübt werden wie die Kommunikationsfähigkeit.
Beispiele
Soziale Ziele formulieren wünschenswertes sinnvolles und nützliches Verhalten in der Gesellschaft
2.3.4 Ziele über Einstellungen und Werte Die Erziehungs- und Bildungsaufgaben der Schule erstrecken sich auf wünschenswerte Neigungen, Einstellungen und Werte oder Werthaltungen (attitudes), die auch das künftige Leben der Schülerinnen und Schüler prägen sollen (s. z. B. Oerter 197714).
Neigungen, Einstellungen und Werthaltungen
100 732 733 734 735 736 737 738 739 740 741 742 743 744 745 746 747 748 749 750 751 752 753 754 755 756 757 758 759 760 761 762 763 764 765 766 767 768 769 770 771 772 773 774
Änderung von Einstellungen und Werthaltungen
2 Ziele und Kompetenzen im Physikunterricht 1. Von der Entwicklungspsychologie als empirisch bestätigte Tatsache betrachtet, haben schulexterne Gruppierungen i. Allg. größeren Einfluss auf Einstellungen der Kinder und Jugendlichen als die Schule, gesellschaftliche Einflussfaktoren wie z. B. die Familie, Jugendgruppen oder politische oder religiöse Organisationen. „Bei der Übernahme von Haltungen aus der Umwelt spielt das Lernen durch Nachahmung und Identifikation eine besondere Rolle. Es hat den Anschein, als ahme das Kind nicht nur periphere Verhaltensweisen und Gewohnheiten nach, sondern übernehme auch ganze Überzeugungs- und Wertsysteme“ (Oerter 197714, 270). Absichtlich oder unabsichtlich kann auch der Lehrer als Vorbild wirken. Aber ist dieser darauf vorbereitet, ist er dazu in der Lage? Die Berufsgruppe „Lehrer“ hat keine Sonderstellung. Sie weist z. B. hinsichtlich wünschenswerter Einstellungen für angemessenes Umweltverhalten keine Unterschiede zu anderen Berufsgruppen auf (de Haan & Kuckartz 1996), und das, obwohl das Umweltwissen von Lehrerinnen und Lehrern aufgrund der in Lehrplänen geforderten Umwelterziehung groß ist (s. auch 1.3.4). Dem naturwissenschaftlichen Unterricht kommt hier eine zentrale Aufgabe zu: Über Umweltwissen und Umwelthandeln sollen diese Einstellungen angestrebt werden, durch Lehrerinnen und Lehrern und bei Lehrerinnen und Lehrern. 2. Welches Leitbild?
Welches Leitbild?
Klafkis Kürzel vom „mündigen Bürger“, der die Fähigkeit zur Selbstbestimmung, zu Mitbestimmung und zur Solidarität besitzt, muss so erweitert werden, dass die in Kap. 1.3 erörterten notwendigen Einstellungen „Verantwortung gegenüber der belebten und unbelebten Natur“ und „Bescheidenheit des eigenen Lebensstils“ zu dem Leitbild gehören. Die Vermittlung von Leitbildern ist Angelegenheit aller Fächer. 3. Eine besondere Rolle spielt die Einstellung zur Technik. „Souveräner Umgang mit Technik“ ist für eine nachhaltige, zukunftsfähige Wirtschaft erforderlich, nicht pauschale Technikfeindlichkeit. Die Bildung der Nachhaltigkeit (s. 1.3.4) setzt darauf, dass über naturwissenschaftlich-technisches Wissen und Verstehen entsprechende Einstellungen für sorgfältigen Umgang mit Lebensgrundlagen generiert werden. Solche Dispositionen sind als Voraussetzung für umweltverträgliches Verhalten notwendig. Dieses Verhalten ist auch gegen Auswüchse der Technik, d. h. umweltschädigende Produkte gerichtet. Nicht selten muss, wie bei der Energieversorgung („Kernkraftwerk oder Kohlekraftwerk?“), unter zwei Übeln das kleinere gewählt werden, – ein nur scheinbar leichtes Problem.
2.4 Bildungsstandards und Kompetenzen 775 776 777 778 779 780 781 782 783 784 785 786 787 788 789 790 791 792 793 794 795 796 797 798 799 800 801 802 803 804 805 806 807 808 809 810 811 812 813 814 815 816 817
101
„Souveräner Umgang mit der Technik“ bedeutet auch die angstfreie Verwendung und Handhabung technischer Produkte. Erstrebenswerte Einstellungen sind Interesse oder Freude oder Spaß an der Physik sowie „Physik als Erlebnis“ (Häußler u. a. 1980). Gegenwärtig wird Freude an der Physik vor allem in der Primarstufe beobachtet. In den Sekundarstufen ist es nur eine kleine Minderheit, die Physik als ein Erlebnis empfindet und Freude an der Physik hat. Kann „Physik im Kontext“ (Duit & Mikelskis-Seifert 2007) dies grundlegend ändern?
„Souveräner Umgang mit der Technik“ Interesse oder Freude oder Spaß an der Physik
2.3.5 Zusammenfassung 1. Veränderungen in den modernen Industriegesellschaften, wie z. B. Auflösungstendenzen der Familie, die Möglichkeiten der unkontrollierten Informationsbeschaffung über das Internet, Massenprobleme wie Armut und Arbeitslosigkeit, erfordern Änderungen und Ausweitungen der Zielklassen auch des Physikunterrichts. Zu den traditionellen Zielklassen (Konzept- und Prozessziele) kommen unbedingt soziale Ziele und Ziele über Einstellungen und Werte hinzu. Diese haben Auswirkungen auf die Auswahl der Inhalte, auf Methoden und auch auf Medien des Physikunterrichts. 2. Übersicht – Ziele im Physikunterricht Lernzielebenen Lernzielklassen Konzeptziele Leitziele Prozessziele Grobziele Soziale Ziele Richtziele Einstellungen und Feinziele Werte Lehrplan Entwurf einer UnterUnterrichtseinheit richtsstunde
Lernzielstufen Reproduktion Reorganisation Transfer Problemlösen Unterrichtsentwurf Evaluation
2.4 Bildungsstandards und Kompetenzen 2.4.1 Allgemeine administrative Festlegungen Durch die nicht zufrieden stellenden Ergebnisse internationaler Vergleichsstudien (TIMSS, PISA) wurde in der Bundesrepublik um die Jahrtausendwende eine lebhafte bildungspolitische Diskussion initiiert. Das für die Bundesrepublik übergeordnete Gremium, die Kultusministerkonferenz der Bundesländer (KMK) einigte sich darauf, in staatlichen Schulen regelmäßig Leistungsüberprüfungen durch-
Besonders wichtig für:
102 818 819 820 821 822 823 824 825 826 827 828 829 830 831 832 833 834 835 836 837 838 839 840 841 842 843 844 845 846 847 848 849 850 851 852 853 854 855 856 857 858 859 860
2 Ziele und Kompetenzen im Physikunterricht zuführen als Grundlage für die künftige Entwicklung des deutschen Bildungssystems.
Basiskonzepte Kompetenzbereiche Anforderungsbereiche
Wegen der Kulturhoheit der Länder ist das nur auf der Grundlage allgemeiner administrativer Festlegungen durch sogenannte „Bildungsstandards“ möglich. Das bedeutet bundesweite Festlegungen wesentlicher Unterrichtsziele eines Schulfaches („Kompetenzbereiche“), grundlegender Themen des Faches („Basiskonzepte“ als „Richtziele“ s.2.2) mit der Vorgabe bestimmter „Anforderungsbereiche“ (s. auch 2.2. „Lernzielstufen“, „Kompetenzstufen“). Zu Beginn des Schuljahres 2005/06 wurden verbindliche Bildungsstandards für den „mittleren Schulabschluss“ (am Ende der 10. Jahrgangsstufe) in den naturwissenschaftlichen Fächern eingeführt. Sie sollen (u.a.) • die Qualität des Unterrichts sichern, • den Unterricht weiter entwickeln, • vergleichbare Leistungen in den Bundesländern sichern. Das bedeutet aber keineswegs standardisierten, einheitlichen Unterricht in einem der Bundesländer: In den Bundesländern konkretisieren Lehrplankommissionen die Bildungsstandards für den Unterricht. Außerdem sollen möglichst alle Schulen eines Bundeslandes eigene Schwerpunkte zur Förderung und Verbesserung der Unterrichtsqualität setzen ((z.B.) „Entwicklungsvorhaben ´Eigenverantwortliche Schule in Thüringen`“). • Bildungsstandards geben Lehrerinnen und Lehrern eine Orientierung für die Analyse, Planung und Überprüfung ihrer Unterrichtsarbeit, • Bildungsstandards fördern die Entwicklung einer anforderungsbezogenen Aufgabenkultur, • Bildungsstandards stärken die Kooperation in Fachkonferenzen (s. KMK 2004a, 11 f.). Zur Unterstützung der Lehrkräfte und zur Überprüfung der Bildungsstandards wurde Ende 2004 von der KMK das bundesweit tätige „Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen“ (IQB) an der Humboldt Universität zu Berlin gegründet.
2.4.2 Ausführungen zu den Kompetenzbereichen Für den Physikunterricht wurden folgende vier Kompetenzbereiche festgelegt: „Fachwissen“ , „Erkenntnisgewinnung“ , „Kommunikation“ und „Bewertung“ (KMK 2004b, 8 ff.).
2.4 Bildungsstandards und Kompetenzen 861 862 863 864 865 866 867 868 869 870 871 872 873 874 875 876 877 878 879 880 881 882 883 884 885 886 887 888 889 890 891 892 893 894 895 896 897 898 899 900 901 902 903
Die Standards zu „Fachwissen“ und „Erkenntnisgewinnung“ entsprechen herkömmlichen Zielen des Physikunterrichts der Sekundarstufe I. Verglichen mit herkömmlichen Lehrplänen wird den Kompetenzbereichen „Kommunikation“ und „Bewertung“ eine größere Bedeutung zugeschrieben. Die entsprechenden Standards nach KMK (2004b) sind hier vollständig aufgeführt. 1. Fachwissen Unter Fachwissen wird die Kenntnis physikalischer Phänomene, Begriffe, Prinzipien, Fakten und Gesetzmäßigkeiten verstanden, sowie die Fähigkeit, diese den Basiskonzepten („Leitideen“) zuzuordnen, nämlich Materie, Wechselwirkungen, Systeme und Energie. „Physikalisches Fachwissen, wie es durch die vier Basiskonzepte charakterisiert wird, beinhaltet Wissen über Phänomenen, Begriffe, Bilder, Modelle und deren Gültigkeitsbereiche sowie über funktionale Zusammenhänge und Strukturen. Als strukturierter Wissensbestand bildet das Fachwissen die Basis zur Bearbeitung physikalischer Probleme und Aufgaben“ (KMK 2004b, 8). • Zum Basiskonzept „Materie“ gehören der Aufbau und die Struktur von Materie, sowie die verschiedenen Aggregatszustände, die sich durch äußere Einwirkungen ändern können. Als Beispiele dafür sind Form und Volumen von Körpern, das Teilchenmodell, die brownsche Bewegung, Atome, Moleküle und Kristalle angegeben. • Das Basiskonzept „Wechselwirkung“ beinhaltet Vorgänge, bei denen Körper sich gegenseitig beeinflussen und Verformungen oder Bewegungsänderungen hervorrufen. Ebenfalls aufgeführt wird die Einwirkung von Körpern über Felder und die Wechselwirkung von Strahlung und Materie. Folgende Beispiele werden genannt: Kraftwirkungen, Trägheitsgesetz, Wechselwirkungsgesetz, Impuls oder Impulsübertragung, Kräfte zwischen Ladungen, Schwerkraft oder Kräfte zwischen Magneten, außerdem Stichworte aus der geometrischen Optik, Farben, aus der Wärmelehre „Treibhauseffekt“, „globale Erwärmung“, „ionisierende Strahlung“ (s. KMK 2004b, 8 f.). • „Systeme“ können im Gleichgewicht sein oder auch durch Störung von außen in einen Ungleichgewichtszustand kommen. Folgen solcher gestörten Gleichgewichte können Schwingungen oder Ströme sein. Bei der Leitidee „Systeme“ geht es zum Beispiel um Kräftegleichgewicht, aber auch um Druck-, Temperatur- und Potentialunterschiede und deren Folgen wie der elektrische Stromkreis oder thermische Ströme (s. KMK 2004b, 9).
103
Kompetenzbereich „Fachwissen“
Vier Basiskonzepte
Materie
Wechselwirkungen
Systeme
104 904 905 906 907 908 909 910 911 912 913 914 915 916 917 918 919 920 921 922 923 924 925 926 927 928 929 930 931 932 933 934 935 936 937 938 939 940 941 942 943 944 945 946
Energie
2 Ziele und Kompetenzen im Physikunterricht • Das Konzept „Energie“ beschäftigt sich mit den verschiedenen Energieformen, der Umwandlungen von einer Form in andere, dem Energiefluss und der Energieerhaltung. Die Schülerin/ der Schüler lernt die Energiegewinnung aus fossilen Brennstoffen, die Wind- und Sonnenenergie sowie die Kernenergie kennen, ebenso die Funktionsweise von Generator und Transformator, von Motoren und Wärmepumpen. Die Begriffe „Wärmeleitung“, Stahlung“, „Wirkungsgrad“ und „Entropie“ gehören ebenfalls zu dieser Leitidee (s. KMK 2004b, 9). Fünf Standards (Ziel-/Kompetenzenformulierungen) sollen den Kompetenzbereich „Fachwissen“ erläutern:
Kompetenzformulierungen
„F1 Schülerinnen und Schüler verfügen über ein strukturiertes Basiswissen auf der Grundlage der Basiskonzepte, F2 geben ihre Kenntnisse über physikalische Grundprinzipien, Größenordnunge, Messvorschriften, Naturkonstanten sowie einfache physikalische Gesetze wieder, F3 nutzen diese Kentnisse zur Lösung von Aufgaben und Problemen, F4 wenden diese Kenntnisse in verschiedenen Kontexten an, F5 ziehen Analogien zum Lösen von Aufgaben und Problemen heran“ (KMK 2004b, 11). 2. Erkenntnisgewinnung
Kompetenzbereich „Erkenntnisgewinnung“
Die physikalische Erkenntnisgewinnung (Experimentelle Untersuchungsmethoden sowie Modelle nutzen) ist ein Prozess, der in fünf Schritten beschrieben wird: Wahrnehmen, Ordnen, Erklären, Prüfen, Modelle bilden: Am Anfang steht die Wahrnehmung eines Phänomens oder einer Problemstellung. Diese versucht man in Bekanntes einzuordnen und sich so eine Hypothese als Erklärung zu erstellen („modellieren von Realität“). Diese Hypothese wird experimentell überprüft, Daten ausgewertet, beurteilt und kritisch reflektiert. Ein neues Modell wird gebildet durch Idealisieren, Abstrahieren, Formalisieren; gegebenenfalls wird eine einfache Theorie aufgestellt (nach KMK 2004b,10). Die Standards dieses Kompetenzbereichs sind in zehn Kompetenzformulierungen beschrieben, z.B.:
Kompetenzformulierungen
„E1 Die Schülerinnen und Schüler beschreiben Phänomene und führen sie auf bekannte physikalische Phänomene zurück, .... E 4 wenden einfache Formen der Mathematisierung an, E 5 nehmen einfache Idealisierungen vor, E 6 stellen an einfachen Beispielen Hypothesen auf, .... E10 beurteilen die Gültigkeit empirischer Ergebnisse und deren Verallgemeinerung“ (KMK 2004b,11).
2.4 Bildungsstandards und Kompetenzen 947 948 949 950 951 952 953 954 955 956 957 958 959 960 961 962 963 964 965 966 967 968 969 970 971 972 973 974 975 976 977 978 979 980 981 982 983 984 985 986 987 988 989
105
3. Kommunikation „Die Fähigkeit zu adressatengerechter und sachbezogener Kommunikation ist ein wesentlicher Bestandteil physikalischer Grundbildung“ (KMK 2004b,10).
Kompetenzbereich „Kommunikation“
Dazu ist es notwendig, über Kenntnisse und Techniken zu verfügen, die es ermöglichen, sich die benötigte Wissensbasis eigenständig zu erschließen. Es gehören das angemessene Verstehen von Fachtexten, Graphiken und Tabellen dazu sowie der Umgang mit Informationsmedien und das Dokumentieren des in Experimenten oder Recherchen gewonnenen Wissens. Zur Kommunikation sind eine angemessene Sprech- und Schreibfähigkeit in der Alltags- und Fachsprache, das Beherrschen der Regeln der Diskussion und moderne Methoden und Techniken der Präsentation erforderlich. Kommunikation setzt die Bereitschaft und die Fähigkeit voraus, eigenes Wissen, eigenen Ideen und Vorstellungen in die Diskussion einzubringen und zu entwickeln, den Kommunikationspartnern mit Vertrauen zu begegnen und ihre Persönlichkeit zu respektieren sowie einen Einblick in den eigenen Kenntnisstand zu gewähren (s. KMK 2004b, 10). Die Standards dieses Kompetenzbereichs werden durch sieben Kompetenzformulierungen beschrieben: „Die Schülerinnen und Schüler ... K1 tauschen sich über physikalische Erkenntnisse und deren Anwendungen unter angemessener Verwendung der Fachsprache und fachtypischer Darstellungen aus,
Kompetenzformulierungen
K2 unterscheiden zwischen alltagssprachlicher und fachsprachlicher Beschreibung von Phänomenen, K 3 recherchieren in unterschiedlichen Quellen, K 4 beschreiben den Aufbau einfacher technischer Geräte und deren Wirkungsweise, K 5 dokumentieren die Ergebnisse ihrer Arbeit, K 6 präsentieren die Ergebnisse ihrer Arbeit adressatengerecht, K 7 benennen Auswirkungen physikalischer Erkenntnisse in historischen und gesellschaftlichen Zusammenhängen“ (KMK 2004b, 12). 4. Bewertung „Das Heranziehen physikalischer Denkmethoden und Erkenntnisse zu Erklärung, zum Verständnis und zur Bewertung physikalischtechnischer und gesellschaftlicher Entscheidungen ist Teil einer zeitgemäßen Allgemeinbildung. Hierzu ist es wichtig, zwischen
Kompetenzbereich „Bewertung“
106 990 991 992 993 994 995 996 997 998 999 1000 1001 1002 1003 1004 1005 1006 1007 1008 1009 1010 1011 1012 1013 1014 1015 1016 1017 1018 1019 1020 1021 1022 1023 1024 1025 1026 1027 1028 1029 1030 1031 1032
2 Ziele und Kompetenzen im Physikunterricht physikalischen, gesellschaftlichen und politischen Komponenten einer Bewertung zu unterscheiden. Neben der Fähigkeit zur Differenzierung nach physikalisch belegten, hypothetischen oder nicht naturwissenschaftlichen Aussagen in Texten und Darstellungen ist es auch notwendig die Grenzen naturwissenschaftlicher Sichtweisen zu kennen“ (KMK 2004b, 10).
Kompetenzformulierungen
Für den Kompetenzbereich „Bewertung“ (Physikalische Sachverhalte in verschiedenen Kontexten erkennen und bewerten) sind folgende Kompetenzformulierungen angegeben: „Die Schülerinnen und Schüler… B 1 zeigen an einfachen Beispielen die Chancen und Grenzen physikalischer Sichtweisen bei inner- und außerfachlichen Kontexten auf B 2 vergleichen und bewerten alternative technische Lösungen auch unter Berücksichtigung physikalischer, ökonomischer, sozialer und ökologischer Aspekte B 3 nutzen physikalisches Wissen zum Bewerten von Risiken und Sicherheitsmaßnahmen bei Experimenten, im Alltag und bei modernen Technologien B 4 benennen Auswirkungen physikalischer Erkenntnisse in historischen und gesellschaftlichen Zusammenhängen“ (KMK 2004b, 12).
2.4.3 Erwartungshorizont von Aufgaben Drei Anforderungsbereiche
Die Vereinbarungen über Bildungsstandards enthalten zwölf Aufgabenbeispiele (KMK 2004b, 15 ff.), die jeweils auch den Erwartungshorizont bezüglich der Anforderungen enthalten. Dabei werden drei Anforderungsbereiche unterschieden:
I: Wissen wiedergeben
• Anforderungsbereich I: Wissen wiedergeben • Anforderungsbereich II: Wissen anwenden • Anforderungsbereich III: Wissen transferieren und verknüpfen
II: Wissen anwenden
Die Aufgabenbeispiele enthalten Angaben über den Erwartungshorizont. Das bedeutet einerseits eine Zuordnung zu den Anforderungsbereiche (I, II, III), andererseits eine Zuordnung zu einem der vier Kompetenzbereiche. Diese Aufgabenbeispiele sollen den Lehrkräften helfen, weitere Aufgabenbeispiele selbst zu entwerfen. Zur Unterstützung ist in KMK (2004b, 13) die folgende Übersichtstabelle dargestellt.
III: Wissen transferieren und verknüpfen
2.4 Bildungsstandards und Kompetenzen Anforderungsbereich
Fachwissen
I
II
III
Wissen wiedergeben
Wissen anwenden
Wissen transferieren und verknüpfen
Fakten und einfache physikalische Sachverhalte reproduzieren
Physikalisches Wissen in einfachen Kontexten anwenden, einfache Sachverhalte identifizieren und nutzen,
Wissen auf teilweise unbekannte Kontexte anwenden, geeignete wählen.
Sachverhalte
aus-
Bewertung
Kommunikation
Erkenntnisgewinnung
Analogien benennen.
Kompetenzbereich
1033 1034 1035 1036 1037 1038 1039 1040 1041 1042 1043 1044 1045 1046 1047 1048 1049 1050 1051 1052 1053 1054 1055 1056 1057 1058 1059 1060 1061 1062 1063 1064 1065 1066 1067 1068 1069 1070 1071 1072 1073 1074 1075
107
Fachmethoden beschreiben
Fachmethoden nutzen
Fachmethoden problembezogen auswählen und anwenden
Physikalische Arbeitsweisen, insb. experimentelle, nachvollziehen bzw. beschreiben.
Strategien zur Lösung von Aufgaben nutzen, einfache Experimente planen und durchführen, Wissen nach Anleitung erschließen.
Unterschiedliche Fachmethoden, auch einfaches Experimentieren und Mathematisieren, kombiniert und zielgerichtet auswählen und einsetzen, Wissen selbstständig erwerben.
Mit vorgegebenen Darstellungsformen arbeiten
Geeignete Darstellungsformen nutzen
Darstellungsformen selbständig auswählen und nutzen
Einfache Sachverhalte in Wort und Schrift oder einer anderen vorgegebenen Form unter Anleitung darstellen, sachbezogene Fragen stellen.
Sachverhalte fachsprachlich und strukturiert darstellen,
Darstellungsformen sach- und adressatengerecht auswählen, anwenden und reflektieren,
auf Beiträge anderer sachgerecht auf angemessenem Niveau eingehen, begrenzte Themen diskutieren. Aussagen sachlich begründen.
Vorgegebene Bewer- Vorgegebene Bewertungen tungen nachvollzie- beurteilen und kommentieren hen Auswirkungen physikalischer Erkenntnisse benennen Einfache, auch technische Kontexte aus physikalischer Sicht erläutern.
Eigene Bewertlungen vornehmen
Den Aspektcharakter physikali- Die Bedeutung physikalischer scher Betrachtungen aufzeigen, Kenntnisse beurteilen, zwischen physikalischen anderen Komponenten Bewertung unterscheiden.
und physikalische Erkenntnisse als einer Basis für die Bewertung eines Sachverhalts nutzen, Phänomene in einen physikalischen Kontext einordnen.
Es wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass diese Anforderungsbereiche keine Niveau-/Schwierigkeitsstufen für die jeweiligen
108 1076 1077 1078 1079 1080 1081 1082 1083 1084 1085 1086 1087 1088 1089 1090 1091 1092 1093 1094 1095 1096 1097 1098 1099 1100 1101 1102 1103 1104 1105 1106 1107 1108 1109 1110 1111 1112 1113 1114 1115 1116 1117 1118
2 Ziele und Kompetenzen im Physikunterricht Kompetenzbereiche bedeuten, denn eine Zuordnung einer Aufgabe etwa zu „Wissen transferieren“ hängt auch vom Vorwissen der Schüler ab. Ist entsprechendes Wissen schon vorhanden, ist eine solche Aufgabe für Schüler keine große Anforderung, die die Anforderungsstufe III „Wissen transferieren“ im Kompetenzbereich „Fachwissen“ rechtfertigt. Dieses Argument trifft auch auf die Kompetenzbereiche „Kommunizieren“ und „Bewerten“ zu. Insofern ist es sinnvoll, von Anforderungsbereichen zu sprechen und nicht von Anforderungsstufen. Die Tabelle und die Aufgabenbeispiele sollen den Lehrkräften helfen, weitere Aufgaben zu den Basiskonzepten selbst zu konstruieren.
2.4.4 Anmerkungen zu den Bildungsstandards für den Physikunterricht 1. Bisher charakterisieren Lernziele den geplanten Unterricht, Kompetenzen sind das Ergebnis des realisierten Unterrichts. Man kann dies als input- und output- Orientierung von Bildungsabsichten charakterisieren. Durch die nationalen Bildungsstandards und deren regelmäßige bundesweite Überprüfung wird versucht, einen engeren Zusammehang als bisher zwischen „input“ und „output“ herzustellen und dadurch das deutsche Bildungssystem weiter zu entwickeln. 2. Die in 2.4.1 erwähnten Begründungen für Bildungsstandards sind als allgemeine, noch vor Ort in den Schulen zu interpretierende Standards sinnvoll. Der beschriebene Weg von den Standards zum konkreten Physikunterricht in der Schule hat m.E. größere Erfolgsaussichten den Physikunterricht in Deutschland zu verbessern als detaillierte, schulextern geplante Curricula etwa des IPN der 1970er Jahre. Denn in das aktuelle bildungspolitische Schulentwicklungsmodell sind Lehrplankommissionen in den Bundesländern eingebunden, vor allem auch alle Lehrkräfte mit eigenen Unterrichtsplanungen im Rahmen der implizierten schulinternen Lehrerfortbildung (s. Kap. 22). Neue Aufgabenkultur & Neue LehrLernkultur
3. Sofern aber diese schulinterne Lehrerfortbildung sich nur auf die Konstruktion von Aufgaben beschränkt, wäre allerdings die in 1.4 skizzierte pädagogische Dimension des Physikunterrichts verfehlt, trotz der Erweiterung der Lernzielbereiche des traditionellen Physikunterrichts, indem die Kompetenzbereiche „Kommunizieren“ und „Bewerten“ ausdrücklich gefordert werden. Es muss nämlich nicht nur eine neue Aufgabenkultur (s. Duit (Hrsg.) 2007) entwickelt werden, sondern auch eine neue Lehr- Lernkultur (s. Prenzel u.a. (2002).
2.4 Bildungsstandards und Kompetenzen 1119 1120 1121 1122 1123 1124 1125 1126 1127 1128 1129 1130 1131 1132 1133 1134 1135 1136 1137 1138 1139 1140 1141 1142 1143 1144 1145 1146 1147 1148 1149 1150 1151 1152 1153 1154 1155 1156 1157 1158 1159 1160 1161
109
4. Die Lehrkräfte werden bei der Entwicklung neuer Aufgaben nicht nur durch die erwähnten Aufgabenbeispiele unterstützt, sondern außerdem durch das neu gegründete „ Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen“ (IQB), das weitere Beispiele publiziert und die Lehrplankommissionen berät. In absehbarer Zeit werden für den Physikunterricht auch Lehrbücher erscheinen wie sie im Falle der Mathematik sowohl für die Standards der Sekundarstufe I (Blum u.a. 2007) als auch die für der Grundschule (Walther u.a. 2007) bereits publiziert sind. Dort wird an konkreten Beispielen gezeigt, wie Mathematikaufgaben in unterschiedlicher Funktion eingesetzt und den Unterricht inhaltlich und methodisch bereichern können. 5. Aus physikdidaktischer Sicht haben Schecker Schecker &Wiesner (2007) verschiedene Aspekte der „Bildungsstandards im Fach Physik für den Mittleren Schulabschluss“ (KMK 2004b) kritisiert: • Die Bildungsstandards wurden sehr kurzfristig eingeführt ohne Diskussion mit den Fachverbänden.
Kritik
• Die Basiskonzepte („Leitideen“) sind für die Planung eines Unterrichtsgangs kaum geeignet. • Der Aufbau von solidem fachlichen Wissen könnte zu kurz kommen. • Die Orientierung an den Basiskonzepten ist wahrscheinlich nicht lernwirksamer als der Unterricht nach bisherigen Themengebieten. • Einige Kompetenzstandards sind zu anspruchsvoll, z.B. „F1 Schülerinnen und Schüler verfügen über ein strukturiertes Basiswissen auf der Grundlage der Basiskonzepte“. Auch Aufgaben zum Kompetenzbereich „Bewerten“ erscheinen unter Abwägung physikalisch-technischer und anderer Argumente als sehr hoher Anspruch. Schecker & Höttecke (2007) kritisieren, dass die Aufgabenbeispiele des Kompetenzbereichs „Bewerten“ sehr eng auf die Physik bezogen sind. Stattdessen sollten die Aufgaben gesellschafts-politische und persönliche Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse herausfordern, wofür i.Allg. in der Aufgabe vorgegebenes physikalisches Fachwissen herangezogen wird. Außerdem kritisiere ich den im Kompetenzbereich „Erkenntnisgewinnung“ impliziertenden Mythos, dass angeblich eine vorgegebene Schrittfolge von Phänomenen zu physikalischen Theorien und Modellen führt (s. KMK 2004b, 10). Daher ist auch eine zusätzliche Leitidee „Natur der Naturwissenschaften“ zu fordern (s. auch Sche-
Mythos über naturwissenschaftliche Erkenntnisgewinnung
110 1162 1163 1164 1165 1166 1167 1168 1169 1170 1171 1172 1173 1174 1175 1176 1177 1178 1179 1180 1181 1182 1183 1184 1185 1186 1187 1188 1189 1190 1191 1192 1193 1194 1195 1196 1197 1198 1199 1200 1201 1202 1203 1204
2 Ziele und Kompetenzen im Physikunterricht cker & Wiesner 2007, 10), deren Bedeutung für den naturwissenschaftlichen Unterricht in 1.2.3 und in Kap. 24 erörtert ist.
Erfahrungen aus anglophonen Ländern
6. Die in Abb. 2.3 zusammengefassten Erfahrungen mit Bildungsstandards („benchmarks“) aus anglophonen Ländern lassen Chancen und Probleme erwarten. Chancen
Probleme teaching to the test Unterricht orientiert sich daran, am Vergleichstest gut abzuschneiden
Aufwertung naturwissenschaftlicher Bildung durch öffentliche Diskussionen
Anstoß von Veränderungen im Schulsystem; Finanzielle Unterstützung wird neu ausgerichtet
Anwendungsorientierung Neue Curricula orientieren sich an Scientific Literacy
Effekte der Einführung von Standards und ihrer Überprüfung
Schul-Ranking Erhebungen führen zu simplifizierten Vergleichen zwischen
Belastungen und Reglementierungen für Schulen steigen
Abb. 2.3: Chancen und Probleme von Bildungsstandards (nach Komorek 2007) Anlaufschwierigkeiten und Fehler können überwunden werden...
durch intensive Mitarbeit in den Schulen
7. Das neue bildungspolitische Modell zur Steigerung u.a. der naturwissenschaftlichen Bildung ist insgesamt positiv zu beurteilen (z.B. Leisen (2005, 308), Schecker (2007, 8)), trotz der Kritik an der praktizierten Einführung der Bildungsstandards und der gegenwärtig noch bestehenden Zweifel an der erfolgreichen bundesweiten Umsetzung der Standards. Die Verantwortlichen aus Bildungspolitik, aus der Wissenschaft (Klieme u.a. (2003), aus der Lehreraus- und Lehrerfortbildung wissen, dass eine derartige umfassende Revision der Bildungspolitik mit Anlaufschwierigkeiten und auch Fehlern verbunden ist, die aber überwunden und korrigiert werden können: dieses durch intensive Mitarbeit in den Schulen. Meine Vision: Dadurch werden sich auch Lehrerpersönlichkeiten herausbilden, und dies wäre mindestens genau so wichtig wie die erwarteten besseren Schülerergebnisse bei internationelen Bildungsvergleichstudien.
2.5 Sachstrukturdiagramme – Lernzielformulierungen 1205 1206 1207 1208 1209 1210 1211 1212 1213 1214 1215 1216 1217 1218 1219 1220 1221 1222 1223 1224 1225 1226 1227 1228 1229 1230 1231 1232 1233 1234 1235 1236 1237 1238 1239 1240 1241 1242 1243 1244 1245 1246 1247
111
2.5 Sachstrukturdiagramme – Lernzielformulierungen 2.5.1 Sachstrukturdiagramme 1. Sachstrukturdiagramme sind Folgeprodukte von didaktischen Analysen (s. 2.1.2). Sachstrukturdiagramme können in komplexen Unterrichtsplanungen (bei der Entwicklung von Unterrichtseinheiten und Projekten) oder bei Lehrplanentwicklungen sinnvoll eingesetzt werden: Sie enthalten wichtige Konzeptziele des Unterrichts. 2. Einfaches Beispiel eines Sachstrukturdiagramms:
Abb. 2.4: Sachstrukturdiagramm „Das bohrsche Atommodell und der Franck-Hertz-Versuch“ (Kircher & Teßmann 1977, 127) Das fachlichen Lernvoraussetzungen sind von den Lernzielen durch eine Wellenlinie getrennt. Bei diesem Beispiel sind außerdem die Experimente Expi in das Sachstrukturdiagramm aufgenommen. • Ein Sachstrukturdiagramm enthält die begriffliche Struktur eines thematischen Bereichs, der im Physikunterricht gelernt wird. • In einem Sachstrukturdiagramm sind sachlogische Zusammenhänge dargestellt, die sich aus dem Aufbau der Physik ergeben. • In ein Sachstrukturdiagramm gehen lernpsychologische Überlegungen ein, denn der Ausgangspunkt für Sachstrukturdiagramme ist das Vorwissen der Schüler (oberhalb der Wellenlinie).
Sachstrukturdiagramm
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2 Ziele und Kompetenzen im Physikunterricht 3. Sachstrukturdiagramme von umfangreichen fachüberschreitenden Unterrichtseinheiten oder von Projekten enthalten außer den physikalischen auch technische Begriffe. Diese werden nach dem Prinzip Einzelteil – Gerät (Detail – Ganzes) angeordnet und durch Pfeile verbunden. Außerdem sollen Zusammenhänge von der technischen zur physikalischen Sachstruktur eingezeichnet werden. Sachstrukturdiagramme ermöglichen Lehrenden und Lernenden • einen Überblick über komplexe Unterrichtsthemen, • erleichtern sinnvolle Arbeitsteilung, • geben Anregungen für die Reihenfolge von Teilthemen. Warnung vor einem Missverständnis: Aus der physikalischen oder technischen Sachlogik folgt keine zwangsläufige zeitliche oder thematische Anordnung der Begriffe im Unterricht.
2.5.2 Wie werden Lernziele formuliert? Sollsätze
Lernziele werden verschieden formuliert. Die ältere Formulierung : „Die Schüler sollen…“ erscheint als autoritär, also unangemessen.
Substantive
Aussagesätze
Die Formulierung vorwiegend in Substantiven: „Fähigkeit einen Versuch aufgrund einer Versuchsanleitung aufzubauen“, mag abstrakt und anonym erscheinen. Auch eine Formulierung in Aussagesätzen wird verwendet: „Schüler sind fähig, das ohmsche Gesetz in Rechenbeispielen anzuwenden.“ Es gibt keine pädagogische oder fachdidaktische Doktrin, welche Formulierungsmöglichkeit von Ihnen verwendet werden soll.
2.6 Ergänzende und weiterführende Literatur Im Zusammenhang mit den Curriculumentwicklungen am IPN (Kiel) haben Häußler & Lauterbach „Ziele des naturwissenschaftlichen Unterrichts“ (1976) formuliert und auch ein Planungsinstrument publiziert; beides besitzt auch heute noch Relevanz. Wie wichtige Ziele des naturwissenschaftlichen Unterrichts bestimmt werden können, zeigt die Delphi – Studie von Häußler u.a. (1980). Obwohl mehr als zwanzig Jahre zurückliegend, sind die damals durch Expertenbefragung ermittelten Zielvorstellungen für den Physikunterricht heute noch von Bedeutung. Die theoretischen Grundlagen und Begründungen der Bildungsreformen durch Bildungsstandards sind vor allem in Klieme, E. u.a. (Hrsg.) (2003) nachzulesen.
Literatur 1291 1292 1293 1294 1295 1296 1297 1298 1299 1300 1301 1302 1303 1304 1305 1306 1307 1308 1309 1310 1311 1312 1313 1314 1315 1316 1317 1318 1319 1320 1321 1322 1323 1324 1325 1326 1327 1328 1329 1330 1331 1332 1333
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2 Ziele und Kompetenzen im Physikunterricht
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Ernst Kircher
3 Elementarisierung und didaktische Rekonstruktion Es ist kein neues und auch kein spezifisches Problem des Physikunterrichts komplizierte Zusammenhänge so zu vereinfachen, dass diese möglichst von allen Schülerinnen und Schülern, möglichst gründlich, in möglichst kurzer Zeit und auf humane Weise verstanden werden. Dieses Problem ist so alt wie der Versuch, Lernen zu organisieren und zu systematisieren. Der berühmte Schweizer Pädagoge Pestalozzi glaubte an eine naturgemäße Methode, der zufolge man Lehrstoffe in „Elemente“ zerlegen kann. Solche angeblich natürlichen „Elemente“ werden im Unterricht in einer unveränderlichen, lückenlosen Reihenfolge zusammengesetzt (s. Klafki 1964). Eine solche universelle Methode kann es nicht geben, weil die psychischen Gegebenheiten der Lernenden verschieden und nicht genau genug bekannt sind. Außerdem sind die durch die Physik dargestellten Strukturen der physikalischen Objekte nicht beliebig „zerlegbar“; sie beziehen sich ja auf eine von uns im Wesentlichen unabhängige Realität. Die Aufbereitung von Sachstrukturen für die Schulphysik muss neben den erwähnten fachlichen Strukturen und internen psychischen Strukturen der Schüler auch allgemeine Zielvorstellungen berücksichtigen. Dieser Prozess wird als „didaktische Reduktion“ (Grüner 1967) oder wie derzeit in der Physikdidaktik bevorzugt, als „Elementarisierung“ bezeichnet. Kattmann u. a. (1997) schlagen neuerdings den Ausdruck „didaktische Rekonstruktion“ vor. Im Folgenden bedeutet „Elementarisierung “ die Vereinfachung von realen oder theoretischen Entitäten mit Bezug zu Physik und Technik – ein Zerlegen von komplexen „Dingen“ in elementare Sinneinheiten. „Didaktische Rekonstruktion“ charakterisiert den Wiederaufbau von Strukturen aus den Sinneinheiten. Beides, das Zerlegen und der Wiederaufbau, geschieht aufgrund anthropologischer und soziokultureller Gegebenheiten und aufgrund normativer Gesichtspunkte, den Zielen des Unterrichts.
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3 Elementarisierung und didaktische Rekonstruktion
3.1 Elementarisieren – didaktisch rekonstruieren: Wie macht man das? 3.1.1 Pestalozzis Traum – nicht nur historische Bemerkungen Pestalozzis Auffassung über Elementarisierung lässt sich als mechanistisch charakterisieren (Klafki 1964, 35 ff.). Seine „Elemente“ sind Bestandteile der Lernobjekte, die sich nach der Form und der Anzahl unterscheiden. Bei biologischen Objekten wie Blüten mögen diese oberflächlichen Merkmale noch sinnvoll sein. Für die Beurteilung, ob ein physikalischer oder technischer Zusammenhang leicht oder schwierig zu lernen ist, sind die Anzahl der Objekte und deren Form im Allg. irrelevant; für physikalisches Verstehen sind Beziehungen zwischen Begriffen und zwischen Objekten wichtig. Elementarisieren: in Bestandteile zerlegen, vereinfachen
Das Elementare sind Sinneinheiten Gib kleine Ganze!
Das Erklärungsmuster entsteht durch eine didaktische Rekonstruktion
Schwierige Begriffe und komplexe Geräte müssen zunächst elementarisiert, das heißt so vereinfacht, so zerlegt werden, dass sie von einer bestimmten Adressatengruppe gelernt werden können. Dabei darf der physikalische Sinn eines Begriffs nicht verfälscht, die Funktionsweise eines Gerätes nicht auf falsche physikalische Grundlagen bezogen und nicht trivialisiert werden. Dieser Vorgang des Vereinfachens und des Zerlegens soll zu kleineren Sinneinheiten führen, die dann im Verlauf des Unterrichts wieder aneinander gefügt werden. Diese, Schleiermachers Auffassung, kann man als Grundprinzip der Elementarisierung bezeichnen, das bis heute Gültigkeit hat: „Das Elementare sind Sinneinheiten“. Diesterweg formulierte dieses Prinzip kurz und bündig an die Lehrer: „Gib kleine Ganze!“ Das bedeutet, dass ein recht komplexes physikalisch technisches Gerät wie der Kühlschrank nicht bloß in seine Bestandteile zerlegt wird, sondern in physikalische und technische Sinneinheiten. Weltner (1982) hat versucht, diesen Grundgedanken weiter zu präzisieren: Ein „Erklärungsmuster“ besteht aus einer Reihe von „Erklärungsgliedern“, die additiv das Erklärungsmuster ergeben. Jedes Erklärungsglied sollte jeweils in sich schlüssig und vollständig sein. Das erste Erklärungsglied soll einen möglichst großen Erklärungsanteil enthalten (s. Weltner 1982, 195 ff.): Erklärungsmuster = ∑ Erklärungsglieder j Das Erklärungsmuster ist eine didaktische Rekonstruktion. Dabei gilt, was schon Schleiermacher bewusst war: Das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile. Ein Auto ist mehr als die Summe der Ein-
3.1 Elementarisieren – didaktisch rekonstruieren: Wie macht man das? 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 100 101 102 103 104 105 106 107 108 109 110 111 112 113 114 115 116 117 118 119 120 121 122 123 124 125 126 127 128 129
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zelteile; es ist Fortbewegungsmittel, Kultobjekt, Ärgernis und noch vieles mehr. Trotz der vermeintlichen Stringenz in Weltners Darstellung eines Erklärungsmusters als mathematische Reihe, bleiben Spielräume für verschiedenartige Elementarisierungen und alternative didaktische Rekonstruktionen. Ein Blick in Schulphysikbücher zeigt etwa beim Thema „Elektromotor“ wie unterschiedlich die vorgeschlagenen experimentellen Aktivitäten und ihre Reihenfolge sein können, obwohl die Erklärungsmuster für die gleichen Adressaten, d. h. für Schüler mit ähnlichen Lernvoraussetzungen und bei gleichen Zielen (Grobzielen) konzipiert sind. Bei diesem Beispiel kann man sich wahrscheinlich darauf verständigen, dass die folgenden Sinneinheiten (≙ Erklärungsglieder) relevant sind:
Spielräume für Elementarisierungen und didaktische Rekonstruktionen
1.
Magnete sind Dipole (Magnete haben immer einen Nordpol und einen Südpol; magnetische Monopole gibt es nicht).
Beispiel: Elektromotor
2.
Gleiche Pole stoßen sich ab, verschiedene Pole ziehen sich an.
3.
Ein magnetischer Rotor bewegt sich nur dann ständig im Kreis, wenn ein zweiter Magnet den Rotor zum richtigen Zeitpunkt abstößt bzw. anzieht.
4.
Bei einem Elektromagnet lassen sich Nord- und Südpol dadurch ändern, dass man (bei Gleichspannung) die elektrischen Anschlüsse (Pluspol und Minuspol) vertauscht.
5.
Die Änderung von Nord- und Südpol am Elektromagneten wird durch den mit dem Rotor verbundenen Polwender gesteuert.
Die Art der Erklärungsglieder und deren Reihenfolge erscheint aus der Sicht der Physikdidaktik zwar plausibel, beides ist aber nicht notwendig. Das macht das Beispiel „Kühlschrank“ deutlich:
Beispiel: Kühlschrank
Bei fächerüberschreitenden Themen wie dem Kühlschrank kommen zu den physikalischen Sinneinheiten (s. Weltner 1982, 211 ff.) weitere hinzu. Aus der Sicht der Chemiedidaktik sollten Eigenschaften des Kühlmittels hinzugefügt werden, weil an dieses bestimmte physikalisch-chemische Anforderungen gestellt werden müssen (z. B. an den Siedepunkt). Aus der Sicht der Umwelterziehung mag eine Sinneinheit „geeignetes Kühlmittel“ sogar das wichtigste sein, weil das herkömmliche Kühlmittel Frigen sich als Ozonkiller in der oberen Atmosphäre herausgestellt hat. Chemieunterricht und Umwelterziehung werden die Thematik vermutlich auch durch andere Zugänge (Einstiege) erschließen. Es wird an diesem Beispiel deutlich, dass neben den Adressaten, die Sachstrukturen der Fachdisziplinen und
Sachstrukturen der Fächer, die Adressaten und die Ziele haben Einfluss auf den Prozess und die Produkte der Elementarisierung und der didaktischen Rekonstruktion
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3 Elementarisierung und didaktische Rekonstruktion die Ziele Einfluss auf den Prozess und auf die Produkte der Elementarisierung, die Erklärungsglieder haben.
Eine Elementarmethode mit unveränderlichen Erklärungsmustern für jedes Thema kann es nicht geben
Eine Elementarmethode mit einer natürlichen lückenlosen Reihenfolge, das bedeutet ein unveränderliches Erklärungsmuster für jedes Thema, gibt es nicht. Unterschiedliche Lernvoraussetzungen, Interessen und Motive der Schüler, aber auch die kognitive Unerschöpflichkeit der Realität, führen dazu, dass eine solche Elementarmethode – Pestalozzis Traum – eine Fiktion bleibt. Der folgende Überblick über Kriterien und heuristische Verfahren soll Ihnen für die Erfindung neuer Erklärungsmuster, neuer didaktischer Rekonstruktionen Anregungen geben.
3.1.2 Kriterien der didaktischen Rekonstruktion Welche Gesichtspunkte bestimmen die Relevanz und die Qualität einer didaktischen Rekonstruktion? Wir illustrieren dieses Problem an einem Beispiel: Auf die Frage: Was ist elektrische Spannung? können ganz unterschiedliche Antworten gegeben werden. Etwa: (1) Spannung als die Voltzahl auf einer Batterie, (2) Spannung ist das, was man mit dem Voltmeter misst, (3) Spannung ist die Kraft, die Elektronen im Leiter bewegt, (4) Spannung ist Potentialdifferenz, (5) Spannung ist Elektronen(dichte)unterschied, (6) Spannung ist Arbeit pro Ladung, (7) Spannung ist die zeitliche Änderung des magnetischen Flusses, (8) Spannung kann man mit dem Wasserdruck vergleichen, (9) Spannung U = ∫ E ds. Viele Antworten auf eine alltägliche Frage im Physikunterricht. Kriterien für didaktische Rekonstruktionen sind nötig. Um obige Antwortmöglichkeiten diskutieren zu können, müssen zum Beispiel die Schulstufe, die Vorkenntnisse und Vorerfahrungen der Schülerinnen und Schüler bekannt sein. Außerdem sollte man als Lehrkraft wissen: Wurde die Frage in einer Experimentierphase, bei einer Rechenaufgabe, für einen Hefteintrag gestellt, während der Einstiegsphase einer Unterrichtseinheit oder bei deren Abschluss? Die physikdidaktische Diskussion der letzten Jahrzehnte zusammenfassend (Bleichroth 1991; Jung 1973; Kircher 1985 u. 1995; Weltner
3.1 Elementarisieren – didaktisch rekonstruieren: Wie macht man das? 173 174 175 176 177 178 179 180 181 182 183 184 185 186 187 188 189 190 191 192 193 194 195 196 197 198 199 200 201 202 203 204 205 206 207 208 209 210 211 212 213 214 215
1982) sollen didaktische Rekonstruktionen folgenden Kriterien genügen: Sie sollen fachgerecht, schülergerecht, zielgerecht sein. Diese schlichten Formulierungen bedürfen der Interpretation. 1. Der Ausdruck „fachgerecht“ (≙ fachlich relevant) relativiert das Begriffspaar „fachlich richtig“ – „fachlich falsch“. Er lässt auch Modellvorstellungen oder Analogien zu, die nur zum Teil mit einer physikalischen Theorie übereinstimmen oder diese illustrieren können. Außerhalb dieser Modell- bzw. Analogbereiche sind die Erklärungen möglicherweise falsch, die Vergleiche hinken, sind irrelevant.
119 Kriterien: fachgerecht, schülergerecht, zielgerecht
Es wäre reizvoll, diese verschiedenartigen Deutungen des Spannungsbegriffs unter dem Kriterium „fachliche Relevanz“ zu betrachten. Wir müssen uns hier auf ein Beispiel beschränken, um die Problematik dieses Kriteriums zu beleuchten: „Spannung ist die Kraft, die Elektronen im Leiter bewegt“ ist „fachlich falsch“, u. a. weil „Kraft“ in der Physik eine vektorielle Größe mit diesbezüglich charakteristischen Eigenschaften ist („hat eine Richtung“, „hat einen Betrag“). Die elektrische Spannung ist dagegen eine skalare Größe, die mechanische Spannung eine tensorielle. Ist der physikalische Kraftbegriff im Unterricht noch nicht eingeführt, könnte diese Formulierung (3) des Spannungsbegriffs allerdings noch akzeptabel sein, weil für die Schüler die umgangssprachlichen Bedeutungen von Kraft, Energie und Arbeit weitgehend zusammenfallen. Unter dieser Voraussetzung kann obigeAussage als „vorübergehend fachlich relevant“ eingestuft werden, weil sie die Spannung als Ursache der Elektronen(drift)bewegung verdeutlicht. In Schulbüchern oder in Schulheften hat diese vorläufige Erläuterung trotzdem nichts zu suchen. Zur fachgerechten didaktischen Rekonstruktion gehört die Überprüfung, ob ein neuer Vorschlag fachlich erweiterbar ist. Durch die Forderung nach „Erweiterbarkeit“ (Jung 1973) soll vermieden werden, dass die Schüler in jeder Schulstufe oder gar in jeder Jahrgangsstufe umlernen müssen. Erweiterbarkeit bedeutet, dass grundlegende Bedeutungen eines Begriffs oder eines Modells erhalten bleiben und neue Eigenschaften, neue Begriffe und Gesetze hinzugefügt werden. Erweiterbarkeit kann noch mehr bedeuten: Beispielsweise wird das Modell des elektrischen Stromkreises der Primarstufe in der Sekundarstufe I erweitert, indem elektrische Abstoßungs- und Anziehungskräfte zwischen Elektronen und Atomrümpfen hinzugefügt werden. Das impliziert aber eine neue Interpretation der Begriffe
„Fachliche Relevanz“ ist nicht immer eindeutig zu klären
Erklärungsmuster sollen erweiterbar sein
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Mit quantitativen Erweiterungen von Modellen sind häufig qualitative Bedeutungsänderungen verbunden
3 Elementarisierung und didaktische Rekonstruktion elektrischer Strom, elektrischer Leiter und Nichtleiter, der Vorgänge im Lämpchen, in den Leitern usw., schließlich auch eine Änderung des physikalischen Weltbildes: aus einer phänomenologischen Betrachtung wird eine atomistische. Mit quantitativen Erweiterungen sind häufig qualitative Änderungen der skizzierten Art verbunden. 2. Sie haben sicherlich bemerkt, dass die obigen Formulierungen über den Spannungsbegriff für unterschiedliche Adressaten konzipiert sind: Spannung als Voltzahl auf einer Batterie (1), wird im Sachunterricht der Grundschule verwendet auf eine entsprechende Schülerfrage. Die Formulierung hat keinen Erklärungswert, sondern ist ein Signal eines Lehrers für seine Kommunikationsbereitschaft. Der Spannungsbegriff gilt für Schüler in dieser Schulstufe als zu schwierig. Auch eine operationale Definition des Spannungsbegriffs (2), bedeutet keine Erklärung und trägt auch nicht zum Verständnis bei. Diese Definition wird in der Orientierungsstufe verwendet, wenn mit Messgeräten der elektrische Stromkreis erforscht wird. Nicht nur allgemeine entwicklungspsychologische Aspekte sind bei einer schülergerechten didaktischen Rekonstruktion zu berücksichtigen, sondern auch das Vorwissen und das Vorverständnis, sei dieses fachlich richtig oder falsch.
Der wichtigste Einzelfaktor, der das Lernen beeinflusst ist, dass der Lehrer weiß, was die Schüler schon wissen (nach Ausubel 1974)
Dazu gehören Alltagserfahrungen, in der Schule erworbenes Wissen und die Fähigkeiten, altes und neues Wissen zu verbinden, Wissen neu zu strukturieren, damit sinnvoll zu arbeiten. Schließlich sollen didaktische Rekonstruktionen auch anregend und attraktiv sein, so dass sich die Schüler hinreichend intensiv damit beschäftigen.
Schülergerechte Erklärungsmuster müssen inadäquate Alltagsvorstellungen berücksichtigen
Schülergerechte Erklärungsmuster müssen inadäquate Alltagsvorstellungen berücksichtigen. Dies ist eine zentrale Einsicht der Physikdidaktik im ausgehenden 20. Jahrhundert. Weniger klar sind bisher noch die Wege, wie diese hartnäckigen, den Physikunterricht häufig überdauernden „Fehlvorstellungen“ geändert werden können.
2. „Schülergerecht“ bedeutet hier psychologisch und soziologisch angemessen. Aus physikdidaktischer Sicht ist damit vor allem ein angemessener Umgang mit den Alltagsvorstellungen und dem Vorverständnis der Schüler gemeint. In diesem Forschungsbereich wurden vor allem in der Physikdidaktik interessante und relevante Ergebnisse erzielt. Man kennt beispielsweise die Alltagsvorstellungen über Batterien und Lämpchen, über verzweigte und unverzweigte Stromkreise recht genau (Maichle 1985; v. Rhöneck 1986).
3.1 Elementarisieren – didaktisch rekonstruieren: Wie macht man das? 259 260 261 262 263 264 265 266 267 268 269 270 271 272 273 274 275 276 277 278 279 280 281 282 283 284 285 286 287 288 289 290 291 292 293 294 295 296 297 298 299 300 301
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3. Physik und Schulphysik unterscheiden sich nicht nur hinsichtlich der unterschiedlichen Abstraktion bei der Darstellung physikalischer Inhalte. Sie unterscheiden sich vor allem hinsichtlich ihrer Ziele. Die unterschiedlichen Ziele führen zu unterschiedlichen Sachstrukturen. Die Sachstrukturen des Physikunterrichts sind umfassender als die Sachstrukturen der Physik. Das impliziert auch unterschiedliche Sinneinheiten für Erklärungsmuster. Dies ist an dem physikalischen Beispiel „Kinematik und Dynamik“ bzw. dem entsprechenden Beispiel des Physikunterrichts „Mehr Sicherheit im Straßenverkehr“ (s. 2.1.1) leicht zu zeigen. Kinematik und Dynamik besitzen für sich allein zunächst keine didaktische Relevanz.
Unterschiedliche Ziele führen zu unterschiedlichen Sachstrukturen
Allerdings: Im Zusammenhang mit der Argumentation in 1.2, dass Physik und Aspekte der Philosophie im Physikunterricht thematisiert werden sollen, können aus einer didaktisch begründeten wissenschaftstheoretischen Perspektive Kinematik und Dynamik, der Energieerhaltungssatz und die plancksche Konstante ebenso eine fundamentale Bedeutung für den Physikunterricht erhalten, wie durch Verknüpfungen mit lebensweltlichen Problemen. Schließlich können auch pädagogische Zielvorstellungen wie z. B. „humanes Lernen“ bestimmte methodische Großformen wie Projektunterricht erfordern oder andererseits Kursunterricht ausschließen. Das bedeutet, dass die in solchen Unterrichtsmethoden implizierten Ziele ebenfalls Erklärungsmuster beeinflussen können.
Ziele von Unterrichtsmethoden können Erklärungsmuster beeinflussen
Das Kriterium „zielgerechte didaktische Rekonstruktion“ (= didaktisch relevantes Erklärungsmuster) bedeutet aber nicht nur die bisher erörterte Ausweitung und Transformation physikalischer Inhalte in physikdidaktische Zusammenhänge. Es hilft auch die vielen Möglichkeiten der didaktischen Rekonstruktion einzuengen. Die Ziele entscheiden darüber, was im Unterricht intensiv, was nur oberflächlich, was nicht behandelt werden soll (s. Kap 2). Letzteres führt zu negativen Eingrenzungen für didaktische Rekonstruktionen. Das Kriterium „didaktische Relevanz“ ist dadurch zwar kein roter Faden, der mit Sicherheit zu relevanten elementaren Sinneinheiten und dann zu adäquaten didaktischen Rekonstruktionen führt, aber immerhin ein Besen, der Irrelevantes zur Seite fegen kann.
Kriterium „Didaktische Relevanz“ hilft, Unwesentliches auszuschließen
3.1.3 Heuristische Verfahren der didaktischen Rekonstruktion 1. Sie haben im vorigen Abschnitt drei eingrenzende Bedingungen (Kriterien) für didaktische Rekonstruktionen kennen gelernt. Aber
122 302 303 304 305 306 307 308 309 310 311 312 313 314 315 316 317 318 319 320 321 322 323 324 325 326 327 328 329 330 331 332 333 334 335 336 337 338 339 340 341 342 343 344
3 Elementarisierung und didaktische Rekonstruktion eine Theorie, in die man bloß das physikalische Thema, anthropogene und soziokulturelle Voraussetzungen in der Klasse und die Ziele z. B. des Lehrplans eingeben müsste, um relevante elementare Sinneinheiten zu generieren, gibt es nicht. Vielmehr gewinnen wir durch einen Blick in die Entwicklung der Physik und des Physikunterrichts typische Möglichkeiten, Arten der didaktischen Rekonstruktion (Jung 1973), die im Folgenden aufgelistet werden. Eine solche auf Erfahrung beruhende Liste ist weder vollständig, noch unveränderlich. Die verschiedenen Möglichkeiten sind vor allem heuristische Verfahren für die Praxis des Physikunterrichts:
Die folgende Liste über Arten der didaktischen Rekonstruktion ist weder vollständig, noch unveränderlich
• Abstrahieren: In der Realität allgemeine Zusammenhänge entdecken, insbesondere Gesetze und Theorien. • Idealisieren: Konstruieren von Begriffen mit z. T. unwirklichen Eigenschaften, z. B. „Massepunkt“, „Lichtstrahl“. • Symbolisieren: Kurzschreibweise von Begriffen und Gesetzen durch Buchstaben und mathematische Zeichen. • Theoretische Modelle entwickeln: Theoretische Entitäten zusammenfassen, vereinheitlichen, vereinfachen, z. B. Modell Lichtstrahl. • Gegenständliche Modelle (1) (Strukturmodelle) bauen: Theoretische Entitäten durch eigens konstruierte Gegenstände veranschaulichen, z. B. Gittermodelle von Kristallen, Strukturmodelle von Molekülen. • Gegenständliche Modelle (2) (Funktionsmodelle) bauen: Technische Zusammenhänge veranschaulichen/untersuchen: z.B. Motormodelle. • Analogien bilden: Theoretische Entitäten durch vertraute Kontexte veranschaulichen; Hypothesen (er)finden.
Trotz des Verzichts auf mathematische Darstellungen können in der Primarstufe didaktisch relevante und attraktive physikalische Themen behandelt werden
2. Obige Verfahren der Elementarisierung werden sowohl in der Physik als auch in der Physikdidaktik eingesetzt, um neue Erklärungen zu finden, verbesserte technische Geräte zu entwickeln und zu verstehen. Die damit verbundenen Lernschwierigkeiten erfordern zusätzliche Maßnahmen. Insbesondere für die Primarstufe gilt Wagenscheins Mahnung: „Erklärungen nicht verfrühen“; den Vorgang des Verstehens „stauen“, „entschleunigen“ (s. 1.4). Das bedeutet i. Allg. den Verzicht auf quantitative mathematische Darstellungen. Trotzdem können in der Primarstufe didaktisch relevante und attraktive Themen behandelt werden. Die folgenden Verfahren der Elementarisierung gelten nicht nur für die Primarstufe oder die Sekundarstufe I (Hauptschule), sondern grundsätzlich für das Lehren der Physik.
3.1 Elementarisieren – didaktisch rekonstruieren: Wie macht man das? 345 346 347 348 349 350 351 352 353 354 355 356 357 358 359 360 361 362 363 364 365 366 367 368 369 370 371 372 373 374 375 376 377 378 379 380 381 382 383 384 385 386 387
123
• Beschränken auf das Phänomen: z. B. magnetische Phänomene zeigen, betrachten. • Beschränken auf das Prinzip: (z. B.) „Eisenschiffe schwimmen dann, wenn sie nicht mehr wiegen als das Wasser, das sie verdrängen.“ • Beschränken auf das Qualitative: Zwei gleiche Magnetpole stoßen sich ab. • Experimentell veranschaulichen: z. B. Brechung des Lichts in Wasser; brownsche Molekularbewegung. • Bildhaft veranschaulichen: z. B. Wirkung einer Sammellinse. • Zerlegen in mehrere methodische Schritte: z. B. Elektromotor; boyle-mariottesches Gesetz (s. 3.2.1). • Einbeziehen historischer Entwicklungsstufen: historische Atommodelle; historische Messverfahren und Messanordnungen. 3. Ergänzende Bemerkungen: • Wie von Weltner (1982) thematisiert, soll das erste Erklärungsglied die Kernaussage einer Erklärung enthalten. Dabei nimmt man i. Allg. in Kauf, dass physikalische Gesetzmäßigkeiten unzulässig generalisiert werden („Stoffe dehnen sich bei Erwärmung aus“). Die Erörterung der Grenzen eines Gesetzes, dessen Zusammenhang mit weiteren Gesetzen und dessen Anwendung erfolgt i. Allg. in weiteren Erklärungsgliedern. • Bei der Einführung physikalischer Begriffe werden diese absichtlich durch das erste Erklärungsglied nicht hinreichend differenziert bzw. auf Sonderfälle reduziert (vgl. die unterschiedlichen Spannungsbegriffe in 3.1.2.). Dabei ist von Fall zu Fall nach den zuvor diskutierten Kriterien zu entscheiden, ob überhaupt weitere Erklärungsglieder in der Unterrichtseinheit folgen, ob diese auf eine andere Jahrgangs- oder Schulstufe oder auf ein entsprechendes Fachstudium verschoben werden.
Das erste Erklärungsglied soll die Kernaussage einer Erklärung enthalten
Physikalische Begriffe werden durch das erste Erklärungsglied nicht hinreichend differenziert bzw. auf Sonderfälle reduziert
• Die in dieser Übersicht skizzierten Verfahren betreffen vor allem die Elementarisierung physikalischer Theorien. Es sind aber grundsätzlich auch physikalische Objekte und physikalische Methoden davon betroffen (s. 3.4). • Schwierigkeiten und ungelöste Probleme entstehen, schon bei traditionellen Themen der Schulphysik, wenn z. B. physikalische Theorien mit Hilfe eines Teilchenmodells auf elementare Weise erklärt werden sollen. So ist es bisher nicht gelungen, den Energietransport in einem elektrischen Leiter auf der Basis eines ein-
Ungelöste Probleme der Elementarisierung
124 388 389 390 391 392 393 394 395 396 397 398 399 400 401 402 403 404 405 406 407 408 409 410 411 412 413 414 415 416 417 418 419 420 421 422 423 424 425 426 427 428 429 430
3 Elementarisierung und didaktische Rekonstruktion fachen Elektronenmodells (d. h. ohne das elektrische Feld bzw. die elektrische Feldenergie) zu erklären. In der Sekundarstufe II steht die Quantentheorie seit über zwanzig Jahren im Mittelpunkt von Elementarisierungsbemühungen. Wenn es bisher noch keine allgemein akzeptierte Lösung gibt, liegt dies weniger an der schwierigen Mathematik dieser Theorie, sondern vor allem an der unterschiedlichen Interpretation der Quantentheorie durch Bohr, Einstein, Bell oder v. Weizsäcker (s. Kap. 12).
Didaktische Rekonstruktionen für die Schulphysik sind eine zentrale Aufgabe der Physikdidaktik
• Didaktische Rekonstruktionen für die Schulphysik sind eine Herausforderung und zentrale Aufgabe der Physikdidaktik. Wie erwähnt gibt es hierfür keine Theorie, die man bloß noch anwenden muss. Man benötigt Schulerfahrung, Fingerspitzengefühl für die Lernfähigkeit der Schüler, einen Überblick über relevante Probleme, zu deren Lösung die Schulphysik beitragen kann, gründliche Kenntnis des Faches und der fachdidaktischen Literatur und vor allem Kreativität für originelle Lösungen.
3.2 Didaktische Rekonstruktionen von begrifflichen und technischen Systemen 3.2.1 Ein Grundmuster des Physikunterrichts 1. Physikalische Begriffe sind theoriegeladen. Das bedeutet Komplexität und Schwierigkeiten beim Lernen physikalischer Begriffe und Gesetze. Denn die Lernenden müssten bei der Erklärung eines physikalischen Begriffs die damit zusammenhängende physikalische Theorie schon kennen oder die Lehrkraft müsste auch noch die Theorie erläutern. Man versucht dieses Problem durch kleine Sinneinheiten und schrittweise Rekonstruktion zu lösen (s. Weltners Vorschlag in 3.1.1). Wir bezeichnen eine Schrittfolge, die unabhängig vom fachlichen Inhalt, also für beliebige physikalische Themen verwendbar ist, als „physikdidaktisches Grundmuster der didaktischen Rekonstruktion“. Das im folgenden skizzierte Grundmuster ist für lehrerorientierten darbietenden und für schülerorientierten gelenkt entdeckenden Physikunterricht relevant. Physikdidaktisches Grundmuster
2. Wir betrachten das (etwas abgeänderte) Beispiel von Wagenschein (1970, 167f.), das typisch für die Behandlung physikalischer Gesetze im Unterricht ist:
3.2 Didaktische Rekonstruktionen von begrifflichen und technischen Systemen 431 432 433 434 435 436 437 438 439 440 441 442 443 444 445 446 447 448 449 450 451 452 453 454 455 456 457 458 459 460 461 462 463 464 465 466 467 468 469 470 471 472 473
125
Das Gesetz 1.
Fassung: Wenn ich die eingesperrte Luft zusammendrücke, dann geht das immer schwerer. Gut. Aber das „Ich“ muss heraus, der Mensch überhaupt. Die Luft ist die Hauptperson.
2.
Fassung: Je kleiner der Raum der Luft geworden ist, desto größer ihr Druck. Diese Je-desto-Fassung genügt nicht. Die Physik will Zahlen sehen: wie klein, wie groß.
3.
Fassung: Nach Messung zusammengehöriger Werte ergibt sich ein Gesetz von erstaunlicher Einfachheit: Wenn das Volumen des Gases fünfmal kleiner geworden ist, dann ist der Druck in ihm gerade fünfmal größer geworden. Allgemein: n-mal.
4.
Fassung: Mathematische Formulierung ohne Worte: Neue Betrachtung der Tabelle. Das eben Gesagte äußert sich mathematisch darin, dass das Produkt Druck mal Volumen immer dasselbe bleibt: p · v = const. Damit ist inhaltlich nichts gewonnen. Wir haben uns nur einen hübschen kleinen Rechenautomaten geschaffen, der uns die Worte abnimmt.
Die 1. Fassung des boyle-mariotteschen Gesetzes geht von Alltagserfahrungen oder Freihandversuchen mit der Luftpumpe aus. Durch die Formulierung „Wenn … dann“ wird ein Phänomen qualitativ beschrieben. Die 2. Fassung setzt schon Messungen voraus. Die daraus sich entwickelnde „Je … desto“-Formulierung nennt man halbquantitativ. Die 3. Fassung ist schon eine quantitative Formulierung des Gesetzes. Dazu müssen die in Tabellen gefassten Messwerte wegen der Messungenauigkeiten idealisiert, häufig grafisch, und dann der gesetzmäßige Zusammenhang sprachlich dargestellt werden. In der 4. Fassung wird die mathematische Form entdeckt. Zuvor müssen spezielle Symbole für die physikalischen Begriffe Druck und Volumen eingeführt werden. Diese vier „Fassungen“ eines physikalischen Sachverhalts kennzeichnen typische „methodische Schritte“ des Physikunterrichts. Gelegentlich wird auch von vier Stufen der didaktischen Rekonstruktion gesprochen. Man kann diese auch als methodisches Grundmuster des Physikunterrichts auffassen, das vom Phänomen zum physikalischen Gesetz führt. In der Primarstufe beschränken sich die Ziele des physikalischen Sachunterrichts, im Allgemeinen auf den 1. und 2. methodischen Schritt des Grundmusters. Mathematische Formulierungen werden
Vier Fassungen eines physikalischen Gesetzes im Physikunterricht: -
qualitativ
-
halbquantitativ
-
quantitativ sprachlich
-
quantitativ mathematisch
126 474 475 476 477 478 479 480 481 482 483 484 485 486 487 488 489 490 491 492 493 494 495 496 497 498 499 500 501 502 503 504 505 506 507 508 509 510 511 512 513 514 515 516
Es muss von Fall zu Fall entschieden werden, ob dieses Grundmuster vollständig und in dieser Reihenfolge angewendet werden kann
3 Elementarisierung und didaktische Rekonstruktion für physikalische Gesetzmäßigkeiten nicht angestrebt. Der Physikunterricht der Sekundarstufe I zielt i. Allg. auf die mathematische Formulierung eines Gesetzes (3. und 4. Schritt). In dieser Schulstufe werden aber beispielsweise die Phänomene des Magnetismus ebenfalls nur auf der qualitativen und halbquantitativen Stufe thematisiert. Auch das Brechungsgesetz wird nicht in der üblichen mathematischen Formulierung (4. Stufe) behandelt, weil die mathematischen Voraussetzungen (trigonometrische Funktionen) fehlen. Ob dieses Grundmuster vollständig und in dieser Reihenfolge angewendet werden kann, muss von Fall zu Fall entschieden werden. Dies gilt letztlich auch für den Physikunterricht der Sekundarstufe II. 2. Lernpsychologische Theorien enthalten nicht selten methodische Regeln (Grundsätze), die sich zuvor schon in der Schule bewährt haben, etwa: „Vom Einzelnen zum Ganzen“, „Vom Einfachen zum Komplexen“, „Vom Allgemeinen zum Speziellen“, „Vom Anschaulichen zum Abstrakten“. Psychologisch analysiert und interpretiert kehren sie dann in die Schule zurück. Insbesondere Bruners Lerntheorie (1970) wird als eine Art psychologisches Grundmuster im Unterricht verwendet. Dieser Theorie folgend muss jeder zu lernende Sachverhalt „enaktiv“, ikonisch und symbolisch dargestellt werden, und das auch in dieser Reihenfolge. Bruners These wird für die Naturwissenschaftsdidaktik wie folgt interpretiert: Sachverhalte werden zunächst experimentell handelnd (= enaktiv) von den Schülern untersucht. Der Versuchsaufbau wird ikonisch (bildhaft) dargestellt. Die Ergebnisse, häufig Messdaten, werden dann in einer Grafik repräsentiert. Die interpretierten Daten werden dann symbolisch (sprachlich und evtl. mathematisch) gefasst.
Bruners lernpsychologisches Grundmuster
Enaktiv
Schülerexperiment (Realexperiment, Analogversuch, gespielte Analogie)
Ikonisch
Bildhafte Darstellung des Versuchs Grafische Darstellung von Messdaten
Symbolisch
Sprachliche Darstellung Mathematische Darstellung der Ergebnisse
Sicherlich haben Sie bemerkt, dass das physikdidaktische und das lernpsychologische Grundmuster sich teilweise überschneiden bzw. sich ergänzen. Die aus heutiger physikdidaktischer Sicht notwendige ikonische/ grafische Repräsentation wird durch die Lernpsychologie unterstützt (z.B. Schnotz 1994); sie fehlt in Wagenscheins physikdidaktischem Grundmuster. Die drei Lernschritte für Repräsentationsweisen nach Bruner können drei Repräsentationsweisen eines physikalischen Sachverhalts sein.
3.2 Didaktische Rekonstruktionen von begrifflichen und technischen Systemen 517 518 519 520 521 522 523 524 525 526 527 528 529 530 531 532 533 534 535 536 537 538 539 540 541 542 543 544 545 546 547 548 549 550 551 552 553 554 555 556 557 558 559
127
Jede dieser drei Darstellungsarten ist auch für sich relevant, nämlich als Möglichkeit physikalische Begriffe, Gesetze und Theorien zu vereinfachen. Diese drei Darstellungsarten legen wir als Klassifikation den folgenden Ausführungen zugrunde.
3.2.2 Vereinfachung durch Experimente 1. Experimentelle Anordnungen können charakteristische Eigenschaften eines physikalischen Begriffs demonstrieren: „Das ist Lichtbrechung“, „Lichtbeugung“, „Reflexion“. Eine solche Demonstration kann ausdrucksstärker, informativer, lernökonomischer als eine noch so genaue Beschreibung oder Definition des entsprechenden Begriffs sein. Außerdem: Spezielle Messgeräte können implizite mathematische Operationen eines Begriffs durch einen Zeigerausschlag ersetzen, ein Tachometer ersetzt: v = ∆ s/∆ t, ein Amperemeter: I = ∆ q/∆ t. Dadurch sind die Begriffe „Geschwindigkeit“ bzw. „Stromstärke“ noch nicht verstanden, aber sie sind durch und für Messungen zugänglich geworden. 2. Durch Experimente können Idealisierungen bei bestimmten physikalischen Begriffsbildungen veranschaulicht werden, etwa die Momentangeschwindigkeit v = d s/d t. Der äquivalente Ausdruck v = ∆ s/∆ t für ∆ t → 0, wird durch die Wegdifferenzen ∆ si zwischen zwei Messungen und bei konstanten kleinen Zeitdifferenzen ∆ ti in die Alltagswelt zurückgeholt. 3. Heuer (1980) nennt als weitere experimentelle Möglichkeit der Elementarisierung die direkte Analyse der Abhängigkeit einzelner physikalischer Größen voneinander. Zum Beispiel die Abhängigkeit des Bremswegs sB von der Anfangsgeschwindigkeit v0 (bei konstanter Bremsverzögerung): sB ~ v02 kann experimentell demonstriert werden. Wagenschein schlägt vor, das Fallgesetz s = ½ g · t2 mit Hilfe einer „Fallschnur“ verständlich zu machen: Die in der Fallschnur befestigten Kugeln schlagen in gleichen Zeitabständen auf, wenn die Längenabstände der Kugeln sich wie 1:3:5:7… verhalten. Dieses Experiment bestätigt s ~ t2 auf überraschende, einfache Weise, verglichen mit den üblichen experimentellen Untersuchungen etwa mit Hilfe von elektronischen Uhren und Lichtschranken. Und die Schüler lernen noch zusätzlich, dass die Summe der ungeraden Zahlen ∑ (2n – 1) = n2 (n = 1, 2,…) alle Quadratzahlen liefert. 4. Analogversuche können relevante Eigenschaften eines physikalischen Begriffs, einer Gesetzmäßigkeit, eines theoretischen Modells illustrieren: zum Beispiel der „Mausefallenversuch“ den Begriff „Kettenreaktion“, das „Wassermodell“ den elektrischen Stromkreis (s. 3.3).
Experimente können das Lernen der Physik vereinfachen
Durch Experimente können Idealisierungen der Physik in die Lebenswelt zurückgeholt werden
Fallschnur
128 560 561 562 563 564 565 566 567 568 569 570 571 572 573 574 575 576 577 578 579 580 581 582 583 584 585 586 587 588 589 590 591 592 593 594 595 596 597 598 599 600 601 602
3 Elementarisierung und didaktische Rekonstruktion
3.2.3 Vereinfachung durch ikonische Darstellungen Bilder helfen bei der geistigen Verarbeitung und Interpretation schwer verständlicher physikalischer Texte
Bilder können physikalische Sachverhalte anders darstellen als Sprache und deren symbolhafte Darstellung durch Schriftzeichen oder mathematische Symbole. Bilder helfen bei der geistigen Verarbeitung und Interpretation schwer verständlicher physikalischer Texte. Sie können gegenständliche und strukturelle Zusammenhänge veranschaulichen. Indem Bilder zur Attraktivität eines Textes beitragen, können sie wegen solchen affektiven und motivationalen Aspekten zur psychologischen Relevanz eines Erklärungsmusters beitragen. Wir betrachten darstellende Bilder, logische Bilder und bildliche Analogien und deren lernökonomische Funktion (s. Schnotz 1994).
Darstellende Bilder
1. Darstellende Bilder enthalten Informationen über die Oberfläche, das Aussehen von Gegenständen; sie sind Wahrnehmungen „aus zweiter Hand“. Für die Erleichterung des Lernens sind Symboldarstellungen und die Darstellung von Bewegungsabläufen wichtiger als solche „realitätsnahen“ Fotografien oder Zeichnungen. Zum Beispiel lassen sich die wichtigen physikalisch-technischen Informationen über einen elektrischen Stromkreis leichter aus einer Schaltskizze (mit festgelegten Symbolen für den elektrischen Widerstand, den Schalter, die elektrische Energiequelle) entnehmen als aus einem experimentellen Aufbau oder einer Fotografie desselben.
Symbolische Darstellung: Physikalisch irrelevante Eigenschaften weglassen
In der symbolischen Darstellung werden physikalisch irrelevante Eigenschaften weggelassen. Die optische Information wird reduziert und zugleich fokussiert auf das Wesentliche. Dies wird besonders deutlich, wenn ein bestimmtes Verhalten gefährlich für Subjekte und Objekte ist. Man versucht dieses Verhalten zu verhindern durch Warnsymbole vor Hochspannung, vor brennbaren Stoffen, vor Radioaktivität usw. Die psychische Wirkung bestimmter Farben (gelb kombiniert mit schwarz) wird dafür eingesetzt, um Aufmerksamkeit für die in den Symbolen verschlüsselte Botschaft zu erregen. Für die Darstellung eines physikalischen Kontexts sind auch die Informationen über Bewegungen und die Änderung des Bewegungszustands charakteristisch. In Bildern wird eine große Geschwindigkeit durch flatternde Haare dargestellt, in der Symboldarstellung eines Versuchs bedeutet ein kurzer oder langer Pfeil eine langsame oder schnelle Bewegung. Mit Hilfe des Computers kann die Bewegung eines Objekts nicht nur vermessen, durch Messdaten erfasst und dargestellt werden, sondern auch die Bewegung bzw. Bewegungsänderung. Das Objekt kann synchron zum Realexperiment auf dem Bildschirm in attraktiver Aufmachung verfolgt werden.
3.2 Didaktische Rekonstruktionen von begrifflichen und technischen Systemen 603 604 605 606 607 608 609 610 611 612 613 614 615 616 617 618 619 620 621 622 623 624 625 626 627 628 629 630 631 632 633 634 635 636 637 638 639 640 641 642 643 644 645
2. Durch logische Bilder wird versucht, nicht visuell wahrnehmbare Sachverhalte darzustellen, wie dies auch durch die Sprache und deren Kodierung in Form von Texten geschieht. Logische Bilder benutzen wie die Sprache eine bestimmte Kodierung, die jedoch kürzer und prägnanter ist. Logische Bilder können effizient genutzt werden, weil die dargebotenen Informationen unter Umständen schneller und genauer erfasst werden können. Charakteristisch für logische Bilder sind alle Arten von Diagrammen. Wir erläutern diese Überlegenheit an einem fiktiven Beispiel, das sich an Bruner (1970, 194 f.) anlehnt:
Logische Bilder
Schüler sollen Flugverbindungen auswendig lernen, die in einem Zeitraum von 12 Stunden zwischen 5 Städten der Bundesrepublik bestehen. Sie sollen die folgende Liste von möglichen Flugverbindungen verwenden, um die Frage: „Wie kann man auf dem kürzesten Weg von Aachen nach Dresden und zurück fliegen?“, zu beantworten. Folgende Flugverbindungen sollen möglich sein: Berlin nach Chemnitz
Dresden nach Chemnitz
Chemnitz nach Essen
Aachen nach Berlin
Aachen nach Essen
Chemnitz nach Dresden
Berlin nach Aachen
Chemnitz nach Aachen
Durch diese Darstellung der Informationen ist die Ausgangsfrage nur mühsam zu beantworten. Durch eine alphabetische Reihenfolge der Flugverbindungen wird die Problemlösung zwar erleichtert, aber erst durch eine grafische Darstellung, durch logische Bilder wird das Problem transparent.
B C
A
E
D
A
B
C
E
D
Abb. 3.1: Flugverbindungen Vergleichen Sie die beiden Bilder. Das rechte Bild enthält die relevante Information auf einen Blick: Es gibt nur einen Weg von Aachen nach Dresden und zurück; Essen ist hier eine Sackgasse. Derartige Pfeildiagramme werden als „topologische Strukturen“ bezeichnet (Schnotz 1994, 97 ff.). Sie werden für die Darstellung qualitativer Zusammenhänge eingesetzt, z. B. bei komplexen biologischen, physikalischen oder technischen Systemen. Die zahlreichen Reaktionsmöglichkeiten von Elementarteilchen (z. B. Photonen, Elektronen) werden in der Physik durch Feynman-Diagramme übersichtlich dargestellt.
129
FeynmanDiagramm
γ*
130 646 647 648 649 650 651 652 653 654 655 656 657 658 659 660 661 662 663 664 665 666 667 668 669 670 671 672 673 674 675 676 677 678 679 680 681 682 683 684 685 686 687 688
3 Elementarisierung und didaktische Rekonstruktion
Für die Darstellung von Wirkungszusammenhängen mit einem vorgegebenen Ausgangszustand und einem möglichen Endzustand dieVerlaufsdiagramme ses Prozesses können Verlaufsdiagramme verwendet werden. Wir zählen die im Physikunterricht häufig verwendeten Blockdiagramme dazu. Auch ein „Sachstrukturdiagramm“, ein Produkt der Unterrichtsplanung, kann als ein Verlaufsdiagramm für möglichen Unterricht interpretiert werden. Die Gestaltung eines logischen Bildes hängt von den Adressaten ab und von den Absichten (Zielen). Dabei sind mehrere Gestaltungsprinzipien zu berücksichtigen (Schnotz 1994, 131 ff.): Diese „Grundprinzipien“ für die Konzeption logischer Bilder spielen auch für bildhafte Medien eine Rolle (s.5.2). 3. Durch Analogien wird versucht, Zusammenhänge zwischen vertrauten Dingen und neuen Lerninhalten herzustellen. Dies kann z. B. durch Vergleiche (analoges Zuordnen) geschehen: Das Größenverhältnis von Atomkern und Atomhülle entspricht dem Größenverhältnis von Kirsche und Fußballfeld. Solche Vergleiche können auch durch ein analoges Bild zusätzlich illustriert werden. Analoge Bilder können durch zusätzlich lebensweltliche Bezüge motivieren, aber auch verwirren
Während der hier angeführte sprachlich-mathematische Vergleich nur eine Analogierelation und darüber hinaus keine überflüssigen Informationen enthält, fehlt analogen Bildern die Eindeutigkeit der zu übermittelnden Botschaft. Analoge Bilder sind einerseits „reich an Einzelstimuli und daher interessant und motivierend für den Betrachter“ (Issing 1983, 13). Andererseits können analoge Bilder durch zusätzlich lebensweltliche Bezüge verwirren und es werden nicht beabsichtigte, irrelevante oder falsche Relationen von den Lernenden gebildet.
Beispiel Kernkräfte
Die immanente didaktische Ambivalenz analoger Bilder wird an dem folgenden Beispiel deutlich, das die Yukawa-Theorie der Kernkräfte illustrieren soll (s. Gamow 1965, 364). Der vertraute analoge Lernbereich, die um einen Knochen streitenden Hunde, soll die Anziehungskraft zwischen Proton und Neutron verständlich machen, die durch den Austausch von Teilchen (Pionen) entsteht. Es kann durchaus sein, dass dieses analoge Bild für fortgeschrittene Physikstudenten als Gedächtnisstütze wirkt, während Schüler damit wenig anfangen können.
3.2.4 Vereinfachung durch symbolische Darstellungen 1. Um physikalische Theorien symbolisch darzustellen, verwendet man Schriftzeichen verschiedener Alphabete, sowie Symbole der Mathematik. Außerdem werden spezielle Zeichen insbesondere in der theoretischen Physik eingeführt, um physikalische Gesetze und
3.2 Didaktische Rekonstruktionen von begrifflichen und technischen Systemen 689 690 691 692 693 694 695 696 697 698 699 700 701 702 703 704 705 706 707 708 709 710 711 712 713 714 715 716 717 718 719 720 721 722 723 724 725 726 727 728 729 730 731
131
deren Herleitung vereinfacht darstellen zu können. Ein Beispiel ist die von Dirac eingeführte „bra-ket“-Schreibweise, wodurch Gleichungen der Quantentheorie kürzer formuliert werden können. Die in der Physik verwendeten Symbole werden international weitgehend einheitlich verwendet. Dies geschieht wegen den international geltenden Festlegungen von Messverfahren für wichtige physikalische Größen und Konstanten (z. B. die Lichtgeschwindigkeit) und wohl auch wegen der Internationalität der physikalischen Zeitschriften und Lehrbücher. Die mathematische Darstellung physikalischer Sachverhalte ist maximal informativ bei einem Minimum an verwendeten Zeichen und Symbolen. Diese Leitidee der modernen Physik kulminiert in der Suche nach der Weltformel, mit deren Hilfe alle physikalischen Kontexte interpretierbar sein sollen. Die in physikalischen Begriffen und Theorien eingefangene Wirklichkeit wird in solchen Gleichungssystemen vereinfacht und abstrakt dargestellt. Insofern trifft es zu, dass Elementarisierung nicht nur Charakteristikum des Physikunterrichts, sondern auch der Physik ist (s. Jung 1973). Die Ergebnisse dieser „wissenschaftlichen Elementarisierung“ sind für Experten in der Forschung oder der Hochschullehre verständlich. Aber auch diese verwenden nicht nur symbolische, sondern zusätzliche ikonische Darstellungen. 2. Die Charakterisierung vektorieller Größen der Physik (z. B. Kraft, Impuls, Drehimpuls) durch einen Pfeil ist ein Symbol für bestimmte mathematische Eigenschaften von Vektoren (Vektoraddition, -subtraktion, -produkt, Skalarprodukt). Diese sind den Schülern der Sekundarstufe I i. Allg. nicht bekannt. Durch die Repräsentation des Vektorbetrags als Pfeillänge können diese Operationen grafisch durchgeführt werden. Auf diese Weise können die Vektorsumme von Kräften und Bewegungen und das Skalarprodukt z. B. „mechanische Arbeit“ bestimmt werden. Das Ersetzen mathematischer Operationen durch geometrische Konstruktionen ist eine typische „didaktische Elementarisierung“, eine Darstellung zwischen ikonischer und symbolischer Repräsentation. Mit diesem Hilfsmittel gelingt es auch in der Hauptschule, lebensweltliche Themen wie: „Kann das Auto noch rechtzeitig anhalten?“ oder „Doppelte Geschwindigkeit – vierfacher Bremsweg“ durch die Physik verständlich zu machen. Diese Probleme des Straßenverkehrs lassen sich sowohl rechnerisch mit Hilfe der Formeln für den Anhalteweg sa und für den Bremsweg sb lösen als auch durch eine grafische Darstellung, die die physikalischen Überlegungen unterstützt.
Elementarisierung ist nicht nur ein Charakteristikum des Physikunterrichts, sondern auch der Physik
Geometrische Konstruktionen ersetzen mathematische Operationen
132 732 733 734 735 736 737 738 739 740 741 742 743 744 745 746 747 748 749 750 751 752 753 754 755 756 757 758 759 760 761 762 763 764 765 766 767 768 769 770 771 772 773 774
Rechnerische Lösung
3 Elementarisierung und didaktische Rekonstruktion Anhalteweg Reaktionsweg Bremsweg
sa = sr + sb sr = v0 · tr 2 sb = v 0
2a
(1) (2) (3)
(v0: konstante Anfangsgeschwindigkeit, a: konstante Bremsverzögerung)
Grafische Problemlösung
Bei dem Reaktionsweg, sr , der infolge der „Schrecksekunde“ tr entsteht, muss wegen der konstanten Geschwindigkeit, eine Rechteckfläche berücksichtigt werden. Für den Bremsweg sb muss wegen der konstant abnehmenden Geschwindigkeit eine Dreieckfläche in Rechnung gestellt werden.
Abb. 3.2: Bei doppelter Anfangsgeschwindigkeit v0 wird der Bremsweg sb viermal so groß Die Schwierigkeit dieser grafischen Problemlösung liegt für Schüler der Sekundarstufe I darin, dass die Flächen sr und sb in der physikalischen Wirklichkeit „Strecken“ bedeuten. Bei diesem Beispiel ist die geometrische Fläche ein Symbol für die physikalische Strecke. Die Bestimmung des Anhalteweges sa über die beiden Flächen sr und sb ist für die Schüler zunächst ungewohnt (Abb. 3.2a). Sind die Schüler mit dieser neuen Darstellungsweise vertraut, fällt ihnen die Einsicht leicht, dass bei doppelter Geschwindigkeit und gleicher Bremsverzögerung der Bremsweg sb viermal so groß ist; man kann es ja wahrnehmen und abzählen (Abb. 3.2b).
3.2 Didaktische Rekonstruktionen von begrifflichen und technischen Systemen 775 776 777 778 779 780 781 782 783 784 785 786 787 788 789 790 791 792 793 794 795 796 797 798 799 800 801 802 803 804 805 806 807 808 809 810 811 812 813 814 815 816 817
133
3.2.5 Elementarisierung technischer Systeme Grundsätzlich sind experimentelle, ikonische und symbolische Darstellungen auch für das Verständnis technischer Geräte oder Industrieanlagen relevant. Solche technischen Systeme der Lebenswelt unterscheiden sich durch ihre Komplexität und durch ihre spezifische Zweckhaftigkeit von den physikalischen Systemen der Schulphysik: Warum geschieht ein A (fliegen Flugzeuge, fliegen Raketen im leeren Weltall, schwimmen Eisenschiffe)? Wie funktioniert ein B (Auto, Fernsehgerät; Kernkraftwerk, Kühlschrank)? 1. Die Warum-Frage zielt direkt auf den physikalischen Hintergrund, auf das physikalische Prinzip, das Gesetz, die Theorie. Mit den bisher erörterten Möglichkeiten der Elementarisierung kann das Schwimmen des Eisenschiffs (Archimedisches Prinzip), das Fliegen der Rakete im Weltall (Impulserhaltung) verständlich gemacht werden. Die Fähigkeiten und Interessen der Fragenden und die Bedeutung des involvierten physikalischen Hintergrunds entscheiden darüber, wie detailliert auf eine Warum-Frage eingegangen wird. 2. Für die Beantwortung der Frage „Wie funktioniert ein technisches Ding?“ genügt das physikalische begriffliche System nicht. Es müssen die verschiedenen Funktionseinheiten und ihr Zusammenwirken auf physikalisch-technischer Grundlage erklärt werden. Dies geschieht i. Allg. in folgenden Schritten: 1.
Ikonische bzw. symbolische Darstellung der relevanten technischen Funktionseinheiten: darstellende Bilder (Fotos) und logische Bilder (Blockdiagramme oder Kreisläufe). z. B. Kernkraftwerk: Reaktor → Turbine → Generator
2.
Darstellung des Zwecks des technischen Geräts unter physikalischem Aspekt z. B. Gewinnung elektrischer Energie aus Kernbrennstoffen und die damit verbundenen Energieumwandlungen in diesen technischen Geräten. Kernenergie → Wärme → Bewegungsenergie → el. Energie
3.
Erforschung und Darstellung der physikalischen Grundlagen z. B. für die Energieumwandlung „Kernenergie – Wärme“: Kernspaltung, Kettenreaktion, Massendefekt…
Wir sind mit diesem 3. Schritt wieder bei dem uns bekannten Problem der Elementarisierung begrifflicher Systeme der Physik angelangt.
Die verschiedenen Funktionseinheiten eines technischen Gerätes müssen einzeln und im Zusammenwirken geklärt werden
134 818 819 820 821 822 823 824 825 826 827 828 829 830 831 832 833 834 835 836 837 838 839 840 841 842 843 844 845 846 847 848 849 850 851 852 853 854 855 856 857 858 859 860
3 Elementarisierung und didaktische Rekonstruktion
3.3 Elementarisierung durch Analogien 3.3.1 Was sind Analogien? Man kann beim Angeln lernen wie man einen Angelhaken beködert; aber wenn man die Angelschnur ausgeworfen hat, kann man unmöglich wissen, welcher Fisch beißen wird (nach Gentner, 1989)
1. In der Umgangssprache spricht man von Analogie, wenn man aufgrund von Ähnlichkeiten mit Bekanntem oder durch einen Vergleich einen bis dahin unbekannten Sachverhalt erkennt und versteht. Außerdem werden Analogien zum Lösen von Problemen verwendet. Aus der Wissenschaftsgeschichte sind eine ganze Reihe von Beispielen bekannt, wo z. B. die mathematische Struktur eines physikalischen Zusammenhangs erfolgreich für einen anderen noch nicht erforschten physikalischen Zusammenhang verwendet wurde: Das coulombsche Gesetz ist formal ähnlich dem Gravitationsgesetz, das Newton schon 100 Jahre zuvor entdeckt hatte (s. Tiemann 1993). Ohm hat zur Auffindung seiner Gesetze über strömende Elektrizität die Analogie zur Wärmeleitung herangezogen (Klinger 1987, 330).
Analogien sind für den Physikunterricht relevant, wenn sie den Kriterien für didaktische Rekonstruktionen genügen
Analogien sind für den Physikunterricht relevant, wenn sie den Kriterien für didaktische Rekonstruktionen genügen. Außerdem ist zu fragen: Gibt es spezifische Probleme bei der Analogienutzung? Lohnt sich der Einsatz von Analogien? Man weiß ja, dass Vergleiche hinken und dass man Äpfel nicht mit Birnen vergleichen kann.
Analogien im Unterricht verwenden bedeutet immer, einen Umweg zu machen
Werden Analogien wegen Lernschwierigkeiten als Lernhilfen herangezogen, so bedeutet dies allerdings immer, einen Umweg zu machen. Denn anstatt den Lernbereich (O, M, E) unmittelbar zu lernen, wir sprechen vom „primären Lernbereich“, wird zunächst ein „analoger Lernbereich (O*, M*, E*)“ thematisiert. Die Entitäten des analogen Lernbereichs werden dann probeweise auf den primären Lernbereich übertragen und untersucht.
2. Wir betrachten zunächst die Analogienutzung von einem formalen Standpunkt, um Nutzen und Probleme besser zu verstehen: Physik lernen bedeutet, ein Objekt O und seine „Abbildung“ in naturwissenschaftliche Theorien und Modelle M kennen zu lernen, durch Experimente E zu erforschen, Kenntnisse und Fähigkeiten über wichtige Elemente, Eigenschaften und Funktionen dieses Lernbereichs (O, M, E) zu erwerben und auf weitere physikalisch technische Fragen und Probleme anzuwenden (s. Kircher 1995, 91 ff.).
Wir nennen O* gegenständliche, M* begriffliche, E* experimentelle Analogie, wenn zu einem primären Lernbereich (O, M, E) Ähnlichkeitsrelationen (symbolisch: „≈“ , lies „ähnlich“) bestehen. Daher unterscheiden wir folgende Fälle: • M* ≈ M: Ähnliche begriffliche Strukturen (Gesetze, Theorien, Modelle) werden eingesetzt, um die begrifflichen Strukturen des primären Lernbereichs zu verstehen.
3.3 Elementarisierung durch Analogien 861 862 863 864 865 866 867 868 869 870 871 872 873 874 875 876 877 878 879 880 881 882 883 884 885 886 887 888 889 890 891 892 893 894 895 896 897 898 899 900 901 902 903
135
• E* ≈ E: Experimentelle Analogien (Analogversuche) werden verwendet, um Versuche des primären Lernbereichs zu illustrieren. • O* ≈ O: Analoge Objekte (gegenständliche Modelle wie z. B. Motormodelle), werden benutzt, um die bisweilen viel größeren, unhandlicheren, eventuell gefährlichen Objekte des primären Lernbereichs zu veranschaulichen und zu untersuchen. Im Physikunterricht kann jede dieser Analogien für sich relevant sein oder auch der gesamte analoge Lernbereich (O*, M*, E*). 3. Was heißt „ähnlich“? Bunge (1973) hat die Relation „ähnlich“ durch mathematische Ausdrücke charakterisiert. Die Ähnlichkeitsrelation ist „reflexiv“ und „symmetrisch“, aber weder „transitiv“ noch „intransitiv“. Von diesen mathematischen Eigenschaften ist für die Analogienutzung von größter Bedeutung, dass die Beziehungen zwischen den primären und analogen Entitäten weder transitiv noch intransitiv sind: wenn a ≈ b, b ≈ c, folgt weder c ≈ a, noch c ≉ a. Man weiß grundsätzlich nicht, ob „Ähnlichkeit“ übertragen wird. Wie aus empirischen Studien bekannt, besteht nicht selten Ungewissheit, Unsicherheit bei den Analogienutzern (s. Wilkinson 1972; Kircher u. a. 1975; Duit & Glynn 1992): Das im analogen Lernbereich gewonnene Wissen ist nicht mehr als eine Hypothese im primären Lernbereich. Und es gibt auch keinen logischen Grund dafür, dass diese Hypothese erfolgreicher ist als irgend eine andere, nicht analog gewonnene Hypothese (s. Hesse 1963). So ist es auch nicht verwunderlich, dass für Analogien bisher noch kein Maß vorliegt, das überzeugt (s. Hesse 1991, 217). Eine Analogie kann illustrieren aber nicht erkären! Diese formalen Betrachtungen genügen, um uns mit den Möglichkeiten und Problemen der Analogienutzung genauer zu befassen: Welches sind die notwendigen Bedingungen? Gibt es auch hinreichende Bedingungen? Gibt es ein Grundmuster für die Analogienutzung? Diese Fragen werden am bekanntesten, aber auch umstrittensten Beispiel, dem „Wassermodell“ des elektrischen Stromkreises erörtert.
3.3.2 Beispiel: Die Wasseranalogie zum elektrischen Stromkreis 1. Manche Lehrerinnen und Lehrer verwenden einleitend eine Wasseranalogie, um Vorgänge im elektrischen Stromkreis zu veranschaulichen. Der pauschale Vergleich: In den elektrischen Leitungen fließt Strom, so wie Wasser in einem Wasserrohr, hat dabei die Funktion eines „advance organizers“ (Vorausorganisators) (s. 4.3).
Bei Analogien weiß man nicht, ob „Ähnlichkeit“ immer weitergetragen wird
Es gibt keinen logischen Grund dafür, dass eine analog gewonnene Hypothese erfolgreicher ist als irgend eine andere
136 904 905 906 907 908 909 910 911 912 913 914 915 916 917 918 919 920 921 922 923 924 925 926 927 928 929 930 931 932 933 934 935 936 937 938 939 940 941 942 943 944 945 946
3 Elementarisierung und didaktische Rekonstruktion Im Folgenden ordnet der Lehrer die beiden Lernbereiche (O, M, E) und (O*, M*, E*) einander zu und vergleicht sie.
Die relevanten Geräte bzw. Bauteile des Wasserstromkreises und des elektrischen Stromkreises werden aufgelistet
Die relevanten Geräte bzw. Bauteile des Wasserstromkreises und des elektrischen Stromkreises werden aufgelistet und beschrieben. Dann werden Entsprechungen festgelegt: • • • •
„Wasserschlauch“ ≙ „elektrische Leitung“ „Wasserhahn“ ≙ „elektrischer Schalter“, „Pumpe“ ≙ „Batterie“ „Wasserrad“ ≙ „Elektromotor“.
Das Auflisten dieser Entsprechungen auf der Ebene der Objekte O und O* ist nur sinnvoll, wenn die Analogie auf der begrifflichen Ebene fortgeführt wird. • Wasserstromstärke J ≙ elektrische Stromstärke I, • Wasserdruck(unterschied) ∆ p ≙ elektrische Spannung U Der durch Experimente E* festgestellte gesetzmäßige Zusammenhang: • Je größer der von der Pumpe erzeugte Druck ist, desto größer ist die Wasserstromstärke, führt zu der Hypothese: • Je größer die von der Batterie erzeugte „elektrische Spannung“ ist, desto größer ist die elektrische Stromstärke. Überprüfen relevanter Hypothesen im elektrischen Stromkreis
Experimente E bestätigen, dass die Hypothese in dieser „Je-desto“Formulierung auch im primären Lernbereich „Elektrischer Stromkreis“ zutrifft.
Die Wasseranalogie ist als Lernhilfe ambivalent
Bei der Wasseranalogie ist mit verschiedenen Problemen rechnen. Ein Lehrer muss sich u. a. mit dem Argument auseinandersetzen, dass für einen Wasserstromkreis keineswegs eine „einfachere“ physikalische Theorie bereitsteht als für den elektrischen Stromkreis. Quantitative Messungen, z. B. der Wasserstromstärke, bringen auch experimentelle Schwierigkeiten mit sich. Außerdem sind Kinder zwar mit Wasser, nicht aber mit Wasserstromkreisen vertraut.
2. Für die Verwendung von Wasseranalogien sprechen zwei Gründe: Die Vertrautheit der Lernenden mit Wasser und die weitgehend formal gleichen Gesetze in den beiden Realitätsbereichen (Schwedes & Dudeck 1993). So kann man beispielsweise auch formal gleiche „kirchhoffsche Regeln“ für Wasserstromkreise formulieren.
Diese und weitere noch zu erläuternde Gründe führen dazu, dass der analoge Lernbereich „Wasserstromkreis“ als Lernhilfe für den elektrischen Stromkreis auch skeptisch beurteilt wird (s. Kircher 1985).
3.3 Elementarisierung durch Analogien 947 948 949 950 951 952 953 954 955 956 957 958 959 960 961 962 963 964 965 966 967 968 969 970 971 972 973 974 975 976 977 978 979 980 981 982 983 984 985 986 987 988 989
4. Die Skepsis richtet sich nicht gegen die Veranschaulichung der grundlegenden Begriffe Stromstärke, Spannung, Widerstand durch entsprechende analoge Bilder oder durch qualitative analoge Versuche. Allerdings ist zu bedenken, ob man andere, also keine Flüssigkeitsanalogien für diese Begriffe verwenden soll. So ist es nahe liegend, eher „Teilchen“-Analogien zu verwenden, weil man in der heutigen Physik den elektrischen Strom als Bewegung von Elektronen beschreibt. Die analogen „Teilchen“, die zur Illustration dieser Begriffe herangezogen werden, sind dann z. B. Autos, Tiere, Schüler. Sie entstammen der Lebenswelt der Kinder und sind diesen vertraut. Es wird ferner vorgeschlagen, dass die Schüler „ihre“ Analogien selbst generieren sollen (Kircher & Hauser 1995). Ich gehe davon aus, dass grundsätzlich alle Analogien Lernhilfen sein können, wenn Lehrer und Schüler die damit verbundenen Probleme kennen und diese im Unterricht diskutieren.
137 Sind „Teilchen“Analogien sinnvoller?
Wegen ihrer heuristischen Bedeutung für das Problemlösen und für das Verstehen schwieriger Sachverhalte einerseits, aber auch wegen der Ambivalenz von Analogien andererseits, schlagen z. B. Bauer & Richter (1986) und Manthei (1992) vor, das Denken und Arbeiten mit Analogien im Unterricht häufiger und an vielen verschiedenen Beispielen zu üben. Angesichts der gegenwärtig geringen Stundenzahl für den Physikunterricht ist diesen Vorschlägen nur bedingt zu folgen, da der primäre Lernbereich grundsätzlich Vorrang vor dem analogen hat.
3.3.3 Notwendige Bedingungen für Analogien im Physikunterricht 1. Seit den achtziger Jahren ist die Analogienutzung auch wieder in der Psychologie forschungsrelevant geworden. Gentner (1989) stellte fest, dass insbesondere bei jugendlichen Lernern ein Akzeptanzproblem entsteht, wenn keine oder nur geringe Oberflächenähnlichkeit zwischen dem primären Lernbereich („Zielbereich“) und dem analogen Lernbereich („Quellbereich“) besteht. Hesse (1991) hat festgestellt, dass dies für viele Erwachsene, auch Studenten zutrifft. Damit unerfahrene Lerner eine Analogie überhaupt akzeptieren, muss sie oberflächenähnlich sein, d. h. ähnlich aussehen. Der bisher verwendete Begriff „Vertrautheit“ schließt im Allgemeinen die Oberflächenähnlichkeit mit ein, kann aber auch noch zusätzlich affektive Verbundenheit eines Subjekts mit einem Objekt bedeuten. Und eine solche Beziehung kann zu einer noch größeren, schneller vollzogenen Akzeptanz einer Analogie führen. Wir verwenden hier weiterhin den umfassenderen Ausdruck „Vertrautheit“ und betrachten diese Eigenschaft einer Analogie als notwendige Bedingung für unerfahrene Analogienutzer.
Analogien müssen vertraut sein, um akzeptiert zu werden
138 990 991 992 993 994 995 996 997 998 999 1000 1001 1002 1003 1004 1005 1006 1007 1008 1009 1010 1011 1012 1013 1014 1015 1016 1017 1018 1019 1020 1021 1022 1023 1024 1025 1026 1027 1028 1029 1030 1031 1032
Zwischen den empirischen und theoretischen Entitäten der beiden Lernbereiche soll weitgehende (partielle) Isomorphie bestehen
3 Elementarisierung und didaktische Rekonstruktion 2. „Vertrautheit“ allein führt aber in eine Sackgasse, wenn die Analogie nicht auch noch zusätzlich Tiefenstrukturähnlichkeit aufweist: Daher eine zweite notwendige Bedingung: Zwischen den empirischen und theoretischen Entitäten der beiden Lernbereiche soll weitgehende (partielle) Isomorphie bestehen. Dies ist bei der Wasseranalogie erfüllt. Schwedes & Dudeck (1993) haben es auch erreicht, die Oberflächenähnlichkeit ihres Wassermodells im Verlauf ihrer umfangreichen empirischen Untersuchungen zu erhöhen. Trotzdem kann der Vorbehalt gegen die Wasseranalogie weiterbestehen: Wie soll der eine Phänomenbereich den anderen „erklären“, wo Wasser und Elektrizität nicht nur aus lebensweltlicher Sicht grundverschieden sind? Kircher (1981) hat in diesem Zusammenhang von einem „ontologischen Problem“ gesprochen. Diese Facette des Akzeptanzproblems wird dadurch gelöst, dass Lernende ihre Analogien selbst auswählen bzw. selbst erzeugen können. 3. Der analoge Lernbereich weist grundsätzlich auch irrelevante Merkmale und Eigenschaften im Vergleich mit dem primären Lernbereich auf. Man nennt dies die Eigengesetzlichkeit der Lernbereiche. Bei der Analogienutzung müssen die physikalischen Unterschiede zwischen (O, M, E) und (O*, M*, E*) thematisiert werden.
Reflexion über Analogien ist notwendig
Das führt im Unterricht zu Diskussionen über Grenzen von Analogien, zur Reflexion der Analogienutzung. Ich betrachte dies als weitere, didaktisch notwendige Bedingung, wenn man Analogien im Unterricht verwendet.
3.3.4 Zusammenfassung: Analogien im Physikunterricht 1. Sprachliche oder bildhafte Vergleiche sind unproblematische, möglicherweise sinnvolle Lernhilfen, wenn Schüler sie benutzen können und benutzen wollen. Wenn solche Analogien anregend sind und nicht zu viel Zeit in Anspruch nehmen, d. h., wenn sie pointiert sind, sind sie fraglos ein vielseitiges, unerschöpfliches Mittel der Elementarisierung des Physikunterrichts für Lehrende und Lernende.
Analogien als Einstieg in einen neuen thematischen Bereich
2. Analogien werden als „advance organizer“ im Unterricht eingesetzt, durch den Schüler ein vorläufiges Verständnis für einen neuen Lernbereich erhalten. Wenn beispielsweise der Auftrieb und das Archimedische Prinzip in Wasser bekannt sind, kann der folgende Vergleich als „advance organizer“ hilfreich für das Verständnis des Heißluftballons sein: Ein Heißluftballon schwebt in der Luft wie ein Unterseeboot im Wasser. Natürlich sind die „Oberflächen“ der beiden Fahrzeuge – deren Aussehen, sowie die technische Realisierung der Fortbewegung – verschieden. Aber für das Verständnis, dass ein Gegen-
3.3 Elementarisierung durch Analogien 1033 1034 1035 1036 1037 1038 1039 1040 1041 1042 1043 1044 1045 1046 1047 1048 1049 1050 1051 1052 1053 1054 1055 1056 1057 1058 1059 1060 1061 1062 1063 1064 1065 1066 1067 1068 1069 1070 1071 1072 1073 1074 1075
139
stand mit vergleichsweise großem Gewicht in einem Medium mit geringer Dichte aufsteigen, schwimmen und schweben kann, dafür ist das Archimedische Prinzip, das für alle Flüssigkeiten und Gase gilt, elementar und fundamental. 3. Vergleiche sind auch für die individuelle Lernförderung geeignet. Wenn der Lehrer die spezifischen Lernfähigkeiten und Interessen seiner Schüler kennt, kann er für diese auch adäquate Analogien finden. Ein witziger Cartoon, der die Lebenswelt der Schüler und Schülerinnen tangiert, kann für Anziehung verschiedener bzw. die Abstoßung gleicher elektrischer Ladungen besser geeignet sein als ein Vergleich mit Magneten. Der Nutzen der Analogie als Lernhilfe hängt in erster Linie von den Schülern ab. Wir, die Lehrenden, sollten die Lernenden dazu anhalten, geeignete Analogien selbst zu finden, zu erfinden.
Vergleiche sind für die individuelle Lernförderung geeignet
4. Problematisch wird die Analogienutzung, wenn ein vermeintlich vertrauter Lernbereich als Analogie eingesetzt werden soll, der letztendlich aber doch noch neu gelernt werden muss. Dazu müssen im voraus die didaktische Relevanz und der benötigte Zeitaufwand für diesen zusätzlichen Lernstoff kritisch geprüft werden. Folgendes Muster kann dann dem Unterricht zugrunde gelegt werden: Schritt 1: Den Lernbereich (O,M,E) in einer allgemeinen, auf das Vorwissen der Schülerinnen und Schüler bezogenen Weise einführen. Schritt 2: Hinweise auf analoge, den Schülern vertraute Lernbereiche (O*,M*,E*) geben und Akzeptanz/ Nichtakzeptanz feststellen. (Wünschenswerrt ist, dass analoge Lernbereiche von den Lernenden vorgeschlagen werden.) Schritt 3: Relevante ähnliche Merkmale von (O,M,E) und (O*,M*,E*) aufspüren. Schritt 4: Listen anlegen: Welche Objekte O* aus dem analogen Bereich (O*,M*,E*) können Objekte O im Lernbereich (O,M,E) darstellen? Welche Begriffe … sollen sich entsprechen? Schritt 5: Stelle Hypothesen über den analogen Lernbereich (O*,M*,E*) auf und überprüfe sie durch Experimente! Schritt 6: Übertrage die entdeckten Gesetze in den primären Lernbereich und teste sie nun in (O,M,E). Dies ist in jedem Fall nötig! Schritt 7: Finde heraus, wo die Analogie zusammenbricht (Grenzen der Analogie)! Schritt 8: Diskutiere über Sinn und Zweck von Analogien (Metatheoretische Reflexion)!
Methodisches Muster der Analogienutzung
140 1076 1077 1078 1079 1080 1081 1082 1083 1084 1085 1086 1087 1088 1089 1090 1091 1092 1093 1094 1095 1096 1097 1098 1099 1100 1101 1102 1103 1104 1105 1106 1107 1108 1109 1110 1111 1112 1113 1114 1115 1116 1117 1118
3 Elementarisierung und didaktische Rekonstruktion
Analogversuche in der Atom- und Kernphysik
5. Im Bereich der Atom- und Kernphysik werden eine ganze Reihe von analogen Experimenten vorgeschlagen, weil die Versuche im primären Lernbereich nicht durchgeführt werden können bzw. nicht durchgeführt werden dürfen.
Ein Beispiel: Bei der Rutherfordstreuung werden α-Teilchen an einer Ein Beispiel: Goldfolie gestreut; hierzu wird fogender Analogversuch vorgeschlagen: Analogversuch Rutherfordstreuung Ein an einem Faden aufgehängter, elektrisch geladener Tischtennisball pendelt in Richtung auf eine gleichartig geladene größere Metallkugel. Bei kleiner Geschwindigkeit des Tischtennisballs und geringem Abstand seiner Bahn von der Metallkugel kann man bei sorgfältigem Experimentieren die Abstoßung des Tischtennisballs durch die Ladung der Metallkugel beobachten. +
+
Aber was hat dieser Analogversuch vom Verfahren her mit den tatsächlichen Streuexperimenten gemeinsam? Auf der Handlungsebene doch nichts. Natürlich lassen sich formale Analogien (s. Tiemann 1993) zwischen den beiden Versuchen herstellen, etwa, dass der an einem Faden aufgehängte, mit Grafit bestrichene Tischtennisball den α-Teilchen entspricht, und dass der Tischtennisball so auf die Metallkugel „geschossen“ wird, wie die α-Teilchen auf die Goldfolie bzw. einen Atomkern. Was ist im Analogversuch vom „Schießen“ übrig geblieben? Das Tischtennisballpendel wird ja nur aus der Mittellage ausgelenkt und pendelt langsam und nahe an der geladenen Kugel vorbei. Nur so lässt sich die Abstoßung in Form einer Richtungsänderung des Tischtennisballs beobachten. Das Bedeutungsumfeld von „Schießen“ umfasst sicher nicht dieses gezielte Loslassen einer als Pendel aufgehängten Kugel. „Schießen“ ist keine langsame Bewegung. Daher kann das durchgeführte analoge Experiment zu falschen Assoziationen hinsichtlich des rutherfordschen Streuversuchs führen. Aber auch darüber hinausgehend mag physikalische Forschung als eine Art Spielerei erscheinen. Vom Kämpfen und Ringen um sinnvolle Daten, wie das in den naturwissenschaftlichen Disziplinen notwendig ist (s. Kap. 23), ist da nichts zu bemerken.
Man kann experimentelle Analogien einsetzen, um wichtige Vorgänge und Begriffe der modernen Physik zu veranschaulichen
Der offenkundige „Als-ob-Charakter“ von Analogversuchen verhindert häufig eine ernsthafte Auseinandersetzung der Schüler mit dem analogen Lernbereich. Es können motivationale Probleme auftreten. Das führt den Lehrer in eine scheinbar unlösbare Dichotomie: Damit der Analogversuch für ein besseres Verständnis etwa des rutherfordschen Streuversuchs eine Lernhilfe ist, muss er einfach und ungefährlich sein. Wenn er einfach ist, werden wichtige Ziele des Physikunterrichts verhindert. Hier beginnt eine heikle Gratwanderung zwischen diesen widersprüchlichen Anforderungen an Analogversuche.
3.4 Über die Elementarisierung physikalischer Objekte und Methoden 1119 1120 1121 1122 1123 1124 1125 1126 1127 1128 1129 1130 1131 1132 1133 1134 1135 1136 1137 1138 1139 1140 1141 1142 1143 1144 1145 1146 1147 1148 1149 1150 1151 1152 1153 1154 1155 1156 1157 1158 1159 1160 1161
141
Trotz dieser Problematik sollte man auch auf experimentelle Analogien zurückgreifen, um wichtige Vorgänge und Begriffe der modernen Physik zu veranschaulichen, um physikalisch Wesentliches ohne großen Zeitaufwand zu illustrieren.
3.4 Über die Elementarisierung physikalischer Objekte und Methoden 3.4.1 Zur Elementarisierung physikalischer Objekte 1. Die Naturwissenschaften der Neuzeit wurden u. a. durch Vereinfachungen geschaffen, nämlich dadurch, dass auf die Beschreibung vieler Qualitäten verzichtet wurde, die natürliche und künstliche Objekte in der Alltagswelt charakterisieren. Das trifft insbesondere auf physikalische Objekte zu. Das so „geschaffene“ physikalische Objekt ist dadurch gekennzeichnet, dass sinnlich wahrnehmbare Qualitäten eines Objekts wie Geruch, Form, Farbe unter physikalischem Aspekt häufig irrelevant geworden sind und auf ihre Beobachtung und Registrierung verzichtet wird. Auch andere, im täglichen Leben wesentliche Eigenschaften, wie Verwendungszweck, Kosten und Nutzen werden zumindest nicht primär in die physikalische Betrachtungsweise einbezogen. Die Fülle der Aussagen über reale Objekte unserer Welt wird reduziert auf solche, die in einem theoretischen Zusammenhang quantitativ fassbar sind. Aus dem natürlichen oder künstlichen Objekt ist ein physikalisches geworden. Als zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Nachfolger Newtons mit ihrer physikalischen Betrachtungsweise einen Absolutheitsanspruch verbanden, war dies der Anlass heftiger Kontroversen, bei denen u. a. Goethe den Widerpart spielte. Dieser prangerte die Vereinfachung durch die physikalische Methode als Verarmung und Verlust an, weil sie Ganzheiten in Elemente zerlegte und dadurch zerstörte, weil sie die seelische und geistige Bedeutung eines Phänomens unberücksichtigt ließ. Heute ist der Absolutheitsanspruch der physikalischen Betrachtungsweise grundsätzlich aufgegeben. Nicht nur von Anti-Science-Bewegungen wird Naturwissenschaftlern eine gewisse Blindheit vor den „wahren“ Problemen des Lebens unterstellt, sowie fehlende ethische Prinzipien hinsichtlich der Folgen ihres Tuns. 2. Während die ersten Naturwissenschaftler, wie etwa Galilei, diese Vereinfachungen an den Objekten nur in Gedanken vornahmen, werden im Physikunterricht die physikalisch irrelevanten Merkmale
Ein physikalisches Objekt entsteht durch die physikalische Zugriffs- und Betrachtungsweise
142 1162 1163 1164 1165 1166 1167 1168 1169 1170 1171 1172 1173 1174 1175 1176 1177 1178 1179 1180 1181 1182 1183 1184 1185 1186 1187 1188 1189 1190 1191 1192 1193 1194 1195 1196 1197 1198 1199 1200 1201 1202 1203 1204
3 Elementarisierung und didaktische Rekonstruktion an den Objekten häufig von vornherein weggelassen. Beispielsweise wird ein Pendel durch eine an einem Faden hängende, farblose Metallkugel demonstriert, so als könnte das pendelnde Objekt nicht etwa auch das Tintenfass auf meinem Schreibtisch oder der große Feldstein sein, den Martin Wagenschein an einem Seil in das Klassenzimmer hängte oder, wie bei Galilei, eine Lampe an einer Kette im Dom zu Pisa, um das nämliche Phänomen zu untersuchen.
Sollen physikalisch irrelevante Eigenschaften an den Gegenständen weggelassen werden, damit sie die Schüler nicht verwirren? Prozess der Vereinfachung der Objekte einsichtig machen Unser Plädoyer für eine „sinnliche Schulphysik“ impliziert, auf eine Elementarisierung physikalischer Objekte im Allgemeinen zu verzichten
An diesem Beispiel „Pendel“ soll eine Kontroverse in der Physikdidaktik verdeutlicht werden: Sollen physikalische Objekte auch als Bestandteil unserer Umwelt erkennbar und verstanden werden, oder sollen physikalisch irrelevante Eigenschaften möglichst weggelassen werden, damit sie die Schüler nicht verwirren? In den vergangenen Jahren ist eine Renaissance sogenannter Freihandversuche (Hilscher 1998) zu beobachten, bei denen Objekte der Lebenswelt für Versuche des Physikunterrichts verwendet werden. Man schätzt dabei den Gewinn an Motivation durch solche Objekte höher ein als den Zeitverlust durch die noch nicht lernökonomisch maßgeschneiderten lebensweltlichen Dinge, die in experimentellen Anordnungen verwendet werden. Außerdem ist es ein wichtiges Ziel diesen Prozess der Vereinfachung der Objekte als Aspekt der physikalischen Methode im Physikunterricht einsichtig zu machen. Von solchen Zielvorstellungen her ist Wagenscheins Sarkasmus verständlich, wenn er von „der eingemachten Natur“ in den Glasschränken der Physiksammlungen spricht (vgl. Wagenschein 1982, 66). Denn bei der Vorführung der „eingemachten Natur“ wird nicht nur auf diesen Prozess der Vereinfachung verzichtet, sondern es ist darüber hinaus auch schwierig sich vorzustellen, dass Physik etwas mit der Welt da draußen außerhalb des Klassenzimmers zu tun hat. Natürliche Objekte wie der mit Eisenpulver bestreute Magnetstein üben auf die Kinder auch heute noch eine größere Faszination aus als der rot-grün gefärbte Stabmagnet.
3.4.2 Elementarisierung physikalischer Methoden Der Ausdruck „physikalische Methoden“ hat mindestens zwei Bedeutungen. Einerseits sind damit Verfahrensweisen in der Wissenschaft gemeint, die man global mit „Experimentieren“ und „Theoretisieren“ kennzeichnen kann. Andererseits gibt es auch eine Metaphysik der „physikalischen Methode“ in der Wissenschaftstheorie, die bisher durch Stichworte wie „induktive Methode“, „Verifikation“, „Experimentum Crucis“ usw. charakterisiert ist (s. Kap. 23).
3.4 Über die Elementarisierung physikalischer Objekte und Methoden 1205 1206 1207 1208 1209 1210 1211 1212 1213 1214 1215 1216 1217 1218 1219 1220 1221 1222 1223 1224 1225 1226 1227 1228 1229 1230 1231 1232 1233 1234 1235 1236 1237 1238 1239 1240 1241 1242 1243 1244 1245 1246 1247
1. Im engeren Sinne des Begriffs „Physikalische Methoden“ ist das Typische der Physik gemeint, nämlich die experimentellen und theoretischen Methoden, die zur Bestätigung, Widerlegung, Weiterentwicklung von physikalischen Hypothesen und Theorien verwendet werden. Dafür ist eine möglichst große Genauigkeit der aus Hypothesen deduzierten Prognosen notwendig und große Zuverlässigkeit der im Experiment gewonnenen Daten. Dafür wurde von Beginn an das Methodenrepertoire vergrößert und die speziellen Messtechniken verfeinert. Nicht selten ist für den naturwissenschaftlichen Fortschritt das beste verfügbare Gerät oder Auswerteverfahren nicht gut genug, sondern bessere müssen erst neu entwickelt werden.
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Die experimentellen und theoretischen Methoden werden notwendig immer raffinierter
Bei der Auswahl der Messmethoden spielt außerdem ein metaphysisches Prinzip der Einfachheit eine Rolle, das insbesondere die Theoriebildung in der Physik von Anfang an wie ein roter Faden durchzieht. „Einfachheit“ der experimentellen Methode bedeutet: Transparenz und leichte Verständlichkeit der Messmethode, einfache und zuverlässige Registrierung und Auswertung der Daten, geringer matrieller und zeitlicher Aufwand bei großer Genauigkeit (s. 1.2).
Metaphysisches Prinzip der Einfachheit in der Physik
2. Die physikalische Methodologie ist äußerst schwierig zu lernen. Es genügen weder technische Fertigkeiten für experimentelle Methoden, noch mathematische Fertigkeiten im Umgang mit Theorien. Ein Student muss sich über Jahre hinweg einleben in diese Welt anscheinend sinnloser Apparaturen, Phänomene und damit verknüpften wissenschaftlichen Vorstellungen. Der englische Physiker Ziman meint, dass ein Physikstudent in seiner kurzen Ausbildung selten Zeit und Gelegenheit hat, „um das ganze Paradigma (der Physik (E. K.)) aufzunehmen, und er verlässt die Universität mit wenig mehr als Indoktrination, was die höheren Aspekte seines Gebietes betrifft“ (Ziman 1982, 105). Schweben Physikdidaktiker in den Wolken, wenn sie „physikalische Methoden lernen“ auch für Schüler fordern?
Die physikalische Methodologie ist äußerst schwierig
3. Im Physikunterricht spielt die experimentelle Methode spätestens seit der Jahrhundertwende eine große Rolle, als von pädagogischer Seite eine formale, auf Fähigkeiten zielende Bildung gefordert wurde, anstatt der „materialen“, auf Faktenwissen zielenden Bildung. Für den Physikunterricht wurde dies als eine notwendige stärkere Berücksichtigung von Experimenten interpretiert und entsprechende Forderungen beispielsweise in den „Meraner Beschlüssen“ 1905 aufgestellt. Dabei ist die maximale Interpretation dieser Beschlüsse, dass auch die Schülerinnen und Schüler allgemeinbildender Schulen wie Wissenschaftler experimentell arbeiten sollen.
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3 Elementarisierung und didaktische Rekonstruktion Es ist hier nicht die Frage, ob der derzeitige Physikunterricht dem damals antizipierten Unterricht entspricht (s. Muckenfuß 1995, 25 ff.), sondern wie die für den Unterricht vorgeschlagenen Vereinfachungen z.B. der experimentellen Methoden zu beurteilen sind.
Physikalische Theorien können nicht auf autonomen Beobachtungsdaten unanfechtbar und sicher aufgebaut werden
Dazu einige allgemeine Bemerkungen über Theorie und Experiment: Den Darstellungen von Feyerabend (1981) folgend, können physikalische Theorien grundsätzlich nicht auf autonomen Beobachtungsdaten unanfechtbar und sicher aufgebaut werden; solche Daten gibt es nicht. Vielmehr wird gegenwärtig in der Wissenschaftstheorie von theoriegeleiteten Messverfahren und theorieabhängigen Daten gesprochen (s. Kap. 23). Auch beim Experimentieren stehen am Anfang Theorien oder Hypothesen über die zu untersuchenden Objekte, über die Messgeräte und Messmethoden. Kann ein Schüler zu sinnvollen Daten kommen, wenn er die Theorien nicht kennt? Kann er um sinnvolle Daten ringen, wenn er weder das Methodenrepertoire kennt, geschweige denn beherrscht? Es fehlt ihm noch „physikalisches Fingerspitzengefühl“, jenes „implizite Wissen“ (s. Polanyi 1985) und jene Intuition, die beide nur in jahrelanger fachlicher Ausbildung durch „tiefes Eintauchen“ in die Physik erworben werden können. Darüber hinaus erscheint der Schüler auch von seinen psychischen Dispositionen her für diesen Kampf nicht gerüstet.
Sind physikalische Methoden für den Physikunterricht zu schwierig?
Wenn obige Charakterisierung zutrifft, kann die Schlussfolgerung nur lauten: Physikalische Methoden sind für den Physikunterricht zu schwierig. Diese These wird im folgenden noch weiter diskutiert.
Beobachten Lehrer und Schüler dasselbe?
Beobachten Schüler mit unterschiedlichem Vorverständnis dasselbe? Beobachten Lehrer und Schüler dasselbe „zentrale Phänomen“?
4. Angesichts des von den Meraner Beschlüssen ausgehenden fachdidaktischen Schwerpunkts „Methodenlernen“, wurden verschiedenartige Vereinfachungen versucht. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Einschränkung von Untersuchungen auf das Qualitative (s. 3.1.2.). Man muss sich allerdings im Klaren sein, dass dabei neben dem Verzicht auf Genauigkeit und auf entsprechende mathematische Darstellungen bereits in der Auswahl der Phänomene durch den Lehrer eine Vereinfachung entsteht. Denn der Lehrer wählt diese Phänomene auf dem Hintergrund seiner eigenen Theoriekenntnisse aus. Böhme & van den Deale (1977) haben an Beispielen aus der Geschichte der Naturwissenschaften deutlich gemacht, wie schwierig der Weg zu einem solchen „zentralen Phänomen“ oft ist.
Dieser Gesichtspunkt wird an den Untersuchungen Newtons und Goethes zur Farbenlehre deutlich: Was für Newton ein zentrales Phänomen ist (Farbzerlegung von weißem Licht in einem Prisma),
3.5 Zusammenfassung und Ausblick 1291 1292 1293 1294 1295 1296 1297 1298 1299 1300 1301 1302 1303 1304 1305 1306 1307 1308 1309 1310 1311 1312 1313 1314 1315 1316 1317 1318 1319 1320 1321 1322 1323 1324 1325 1326 1327 1328 1329 1330 1331 1332 1333
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ist für Goethe ein Kunstprodukt, das durch das Glas hervorgerufen wird (Teichmann u.a. 1981). Kann man durch eine solche Vereinfachung der Methode, nämlich der Beschränkung auf charakteristische Phänomene der Schulphysik, die zuvor entwickelte These als widerlegt betrachten, dass experimentelle Methoden im Unterricht allgemeinbildender Schulen zu komplex und daher zu schwierig sind? Kann ein bloß qualitatives Programm, wie es nicht nur in der Hauptschule verfolgt wird, noch der Anspruch erhoben werden kann, der in dem hehren Ziel „physikalische Methoden lernen“ impliziert ist?
Beschränkung auf charakteristische Phänomene der Schulphysik
5. Kann die physikalische Methodologie in elementarisierter Form auf den Unterricht übertragen werden? Wie kann deren wissenschaftstheoretische Reflexion im Unterricht erfolgen, wenn dieses Methodengefüge gar nicht eindeutig festzulegen ist? Es gibt gute lernpsychologische und didaktische Gründe, dass auf diese Lerninhalte nicht verzichtet wird, sondern dass Schüler selbst „physikalisch arbeiten“, d. h. physikalische Fragestellungen auch experimentell zu lösen versuchen. Ich wende mich gegen den Etikettenschwindel „Methode der Physik“, denn dieser Anspruch kann i. Allg. nicht eingelöst werden. Anstatt einer Trivialisierung dieses Lernziels sollte man wesentliche Züge wissenschaftlichen Arbeitens nicht nur an geeigneten z. B. auch historischen Beispielen illustrieren und simulieren (s. Höttecke 2001), sondern auch in angemessener exemplarischer Laborarbeit die Schüler selbst die Probleme wissenschaftlichen Arbeitens erfahren lassen. Dies kann in Projekten erfolgen, in denen die Ergebnisse nicht schon im Voraus vorliegen. Außerdem können Exkursionen in physikalische Forschungsstätten einen Einblick in die Komplexität der Methodologie der heutigen Physik gewähren. Nur auf dem Hintergrund derartiger eigener Erfahrungen und Eindrücke ist eine angemessene wissenschaftstheoretische Reflexion über physikalische Methoden möglich.
Schüler sollen selbst „physikalisch arbeiten“
3.5 Zusammenfassung und Ausblick 1. Die Elementarisierung und didaktische Rekonstruktion physikalischer Inhalte ist ein wesentlicher Teil der Unterrichtsvorbereitung. Die dafür entwickelten heuristischen Verfahren (3.1.3) und die daraus entstandenen elementaren Darstellungen der Physik sind ein wichtiger Bestandteil oder sogar der Kern der Physikdidaktik. Die durch didaktische Rekonstruktionen entwickelten Erklärungsmuster müssen auch in ihren Einzelheiten (Erklärungsglieder) begründet und verständlich sein. Dazu wird das begriffliche System der Physik vereinfacht, durch verschiedene Darstellungsweisen veranschaulicht oder mit ähnlichen, vertrauten „Dingen“ (Entitäten) verglichen.
Elementarisierung und didaktische Rekonstruktion sind der Kern der Physikdidaktik
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Drei Kriterien
3 Elementarisierung und didaktische Rekonstruktion 2. Drei hauptsächliche Kriterien bestimmen die didaktischen Rekonstruktionen der Physikdidaktik: Die fachliche Relevanz, die psychologische Angemessenheit (Adäquanz) und die didaktische Relevanz. Das Problem, ob eines dieser Kriterien vorrangig ist, wird für Lernende unterschiedlich beantwortet: Bei Physikstudentinnen und -studenten muss zweifellos die fachliche Relevanz der Hauptgesichtspunkt von didaktischen Rekonstruktionen sein, während man bei den Kindern der Grundschule auf jeden Fall Verständlichkeit für diese Adressaten fordern muss, psychologische Angemessenheit von Erklärungen. Aufgrund dieses Aspekts sollten Grundschullehrer ein physikalisches Thema im Unterricht wegfallen lassen, wenn keine diesen Aspekt zufriedenstellende Vereinfachungen gelingen. Außerdem beeinflussen auch die Ziele, mit welcher Genauigkeit und Gründlichkeit bestimmte Teile der begrifflichen und methodischen Struktur, sowie notwendige fachüberschreitende Inhalte im Physikunterricht gelernt werden sollen. Die drei Kriterien stehen in wechselseitiger Abhängigkeit (Interdependenz der drei Kriterien). Ihre Überprüfung gehört zum „Abschlusscheck“ jeder Unterrichtsvorbereitung. 3. Um mit heuristischen Verfahren zu „guten“ didaktischen Rekonstruktionen zu kommen, sind gründliche Physikkenntnisse, physikdidaktische Literaturkenntnisse, Schulerfahrung und vor allem Kreativität erforderlich.
Offene Liste für mögliche Verfahren der didaktischen Rekonstruktion
Die in Abschnitt 3.1.3 beschriebenen Möglichkeiten wurden vor allem aus der Praxis und für die Praxis des Physikunterrichts entwickelt. Diese Liste ist grundsätzlich unvollständig, d. h. auch, offen für neue Verfahren. Die Praxis wird schließlich über ihre Relevanz für den Unterricht entscheiden. Weil das Unterrichtsgeschehen gegenwärtig noch zu komplex ist, um Erklärungsmuster durch Theorien deduzieren zu können, bleiben neue originelle didaktische Rekonstruktionen für den Physikunterricht weiterhin vor allem das Feld von Bastlern, Tüftlern, Künstlern an Schule und Hochschule.
Physikalische Methodologie neu darstellen
4. Die Forderung nach einer „sinnlichen Physik“bedeutet, dass die im Unterricht gezeigten Phänomene, verwendeten Objekte nicht elementarisiert und didaktisch rekonstruiert werden. 5. Elementarisierung und didaktische Rekonstruktion, dieses „Herzstück“ der Physikdidaktik, erscheint gegenwärtig auf der theoretischen Ebene als konsolidiert, auch wenn sich die Bedeutung von „schülergerechter didaktischer Rekonstruktion“ mit Entwicklungen in der Lern- und Entwicklungspsychologie weiter verändern wird. Gegenwärtig bedeutet „schülergerecht“ vor allem, die Alltagsvorstellungen (s. Kap. 18) aller Inhalte der Schulphysik zu berücksichtigen: „Wie wir hören“, „Wie wir sehen“, „elektrischer Stromkreis“, „Atommodelle“ usw.
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3.6 Ergänzende und weiterführende Literatur Beispiele für Elementarisierungen der modernen Physik (s. dazu Kap. 12 – 16) und der klassischen Schulphysik finden sich in physikdidaktischen Zeitschriften sowie in den von W. B. Schneider (Hrsg.) (1989, 1991, 1993, 1998, 2002) Bände I - V „Wege in der Physikdidaktik“, in wissenschaftlichen Arbeiten z.B. Komorek (1997), speziell über Analogien: Hesse (1991), Tiemann (1993), Wilbers (2000).
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3 Elementarisierung und didaktische Rekonstruktion
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Ernst Kircher
4 Methoden im Physikunterricht Über Unterrichtsmethoden sind viele Ausdrücke im Umlauf, die Gleiches oder fast Gleiches bedeuten, von Universität zu Universität, von Studienseminar zu Studienseminar. 1. Ein wichtiger Ordnungsversuch im babylonischen Sprachengewirr der Pädagogik und Didaktik unterscheidet fünf Methodenebenen (Schulz 1969; 1981). Dieses Klassifikationsschema ist auch in neueren pädagogischen Publikationen über Unterrichtsmethoden (Meyer 1987 a, b) noch als Gliederungsschema zu erkennen. Allerdings ist das, was sich in diesen fünf „Schubladen“ befindet, teilweise verändert. Es sind neue „Methoden“ hinzugekommen wie „Freiarbeit“ und damit zusammenhängend z. B. „Lernzirkel“ „Lernen an Stationen“). Andere „Methoden“ wie zum Beispiel der „Projektunterricht“ haben in den vergangenen zwanzig Jahren an Bedeutung gewonnen, so dass es heute angemessen ist, Projektunterricht ausführlicher darzustellen als in der Vergangenheit (z. B. Duit, Häußler & Kircher 1981). Ich hoffe, dass die zugrunde gelegte Klassifikation nachvollziehbar, die verwendeten Termini verständlich sind. Wie Glöckel (1999) bin ich wider Methodendogmatismus, aber auch wider Methodensalat! 2. Methoden sind nicht unabhängig von Zielen und Ziele sind nicht unabhängig von Methoden; es besteht ein „Implikationszusammenhang“ (Blankertz 1969). Wir verwenden die implizierte didaktische Relevanz von Methoden als ein wichtiges Kriterium für die Ausführlichkeit der Darstellung einzelner Methoden. Das bedeutet beispielsweise, dass Gruppenunterricht ausführlicher dargestellt wird als Frontalunterricht, weil der Gruppenunterricht vielfältigere und gegenwärtig wohl auch wichtigere Ziele einschließt. 3. In Abschnitt 4.1 wird unter dem Ausdruck „methodische Großformen“ (Meyer 1987a) „Projekte“, „Spiele“ und „Offener Unterricht – Freiarbeit“, sowie die traditionellen Großformen „Kurs“ und „Unterrichtseinheit“ diskutiert. Auf der 2. Methodenebene (4.2) werden „physikspezifische Unterrichtskonzepte“, wie „exemplarischer Unterricht“ und „genetischer Unterricht“ skizziert, ferner „entdeckender“ und „darbietender“ Unterricht. Mit diesen Unterrichtskonzepten sind i. Allg. auch spezifische Artikulationsschemata verknüpft, die eine Unterrichtsstunde strukturieren helfen (4.3).
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4 Methoden im Physikunterricht
Bei den in 4.4 dargestellten „Sozialformen“ wird zwischen „individualisiertem Unterricht“, „Gruppenunterricht“ und „Frontalunterricht,“ differenziert. Die 5. Ebene enthält „Handlungsformen des Physiklehrens und -lernens“. Wir erwähnen diese Methodenebene nur in der folgenden Übersicht.
Übersicht über Methoden im Physikunterricht • Methodische Großformen: Spiel, Freiarbeit, Projekt, Unterrichtseinheit, Kurs … • Physikmethodische Unterrichtskonzepte: genetischer Unterricht, exemplarischer Unterricht, entdeckender Unterricht, darbietender Unterricht… • Artikulationsschemata: Grundschema der Artikulation, problemlösender Unterricht, sinnvoll übernehmender Unterricht… • Sozialformen des Unterrichts: Einzelunterricht (individualisierter Unterricht), Gruppenunterricht, Partnerarbeit, Frontalunterricht… • Handlungsformen des Physiklehrens und -lernens: Diktieren, Erzählen, Lesen, Schreiben, Zeichnen, Spielen, Experimentieren, Vortragen…
Erläuterungen zu den verwendeten Fachausdrücken • Methodische Großformen: Diese Bezeichnung entspricht dem von Schulz (1969) verwendeten Ausdruck „Methodenkonzeptionen“. Methodische Großformen bilden die oberste Methodenebene. Meyer (1987a, 115) nennt als Beispiele den Lehrgang, das Projekt, das Trainingsprogramm, sowie Kurs, Lektion, Unterrichtseinheit, Workshop, Projektwoche, Praktikum, Exkursion, Vorhaben. Wir können hier nicht alle diese Ausdrücke näher erläutern; wir fügen andererseits noch Spiele und Freiarbeit hinzu. • Physikdidaktische Unterrichtskonzepte enthalten explizit oder implizit Prinzipien wie Physik unterrichtet werden soll. Unterrichtskonzepte sind mehr oder weniger durch pädagogische oder psychologische Theorien, vor allem durch die Schulpraxis legitimiert. Mit entdeckendem und darbietendem Unterricht hängen „Unterrichtsverfahren“ zusammen (ausführlich s. Duit, Häußler & Kircher 1981, 101 ff.). • Artikulationsschemata sollen den Unterrichtsverlauf strukturieren. Gleichbedeutende Ausdrücke dafür sind „Stufen-“ oder „Phasenschemata“. Die Orientierung an einem Artikulationsschema ist Lehranfängern zu empfehlen. • Sozialformen bestimmen die Kommunikations- und Interaktionsstruktur zwischen Schülern untereinander und zwischen Lehrern und Schülern. • Handlungsformen des Lehrens und Lernens beziehen sich auf Unterrichtssituationen, die sich absichtsvoll oder unbeabsichtigt einstellen und die human bewältigt werden müssen. Wir diskutieren diese kleinsten Interaktionseinheiten hier nicht, weil sie abgesehen vom Experimentieren unspezifisch für den Physikunterricht sind.
4.1 Methodische Großformen 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 100 101 102 103 104 105 106 107 108 109 110 111 112 113 114 115 116 117 118 119 120 121 122 123 124 125 126 127 128 129
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4.1 Methodische Großformen Unter „methodischen Großformen“ versteht man im Allgemeinen Unterricht, der sich über einen längeren Zeitraum erstreckt. Neben diesem gemeinsamen äußerlichen Merkmal unterscheiden sich methodische Großformen darin, bestimmte Ziele zu fördern bzw. zu vernachlässigen, außerdem durch ihre innere Struktur, den Grad ihrer Planbarkeit, ihrer Lenkung durch Lehrer, durch ihre Offenheit für Schüleraktivitäten, durch ihre Relevanz für die Gesellschaft, für die Allgemeinbildung, durch ihre Möglichkeiten moderne Kulturtechniken zu lernen und anzuwenden, durch ihre impliziten Möglichkeiten die Rituale der Schule zumindest für Augenblicke zu vergessen.
Methodische Großformen fördern bestimmte Ziele und vernachlässigen andere
Mit „Offenem Unterricht -Freiarbeit“ sowie „Spiel“ werden zwei noch wenig im Unterricht realisierte methodische Großformen beschrieben. Insbesondere Spiele scheinen auf den ersten Blick nicht in die Liste der Großformen zu passen. Wir kennen das Argument: Physikunterricht ist viel zu wichtig, viel zu sehr mit Arbeit verbunden, um bloßes Spiel zu sein. Aber wie steht es beispielsweise mit dem Lernziel „Freude an der Physik“ in der Schulwirklichkeit? Wir müssen auf jeder Methodenebene „Monokulturen“ vermeiden. Die im Folgenden erläuterten Großformen sollen als methodische Leitlinien fungieren, die sich gegenseitig ergänzen. Dadurch können methodische „Monokulturen“ verhindert werden.
Lehrer sollen methodische „Monokulturen“ vermeiden
4.1.1 Offener Unterricht – Freiarbeit 1. „Offener Unterricht“ (Zimmermann 1994) bedeutet vor allem eine Öffnung für Schüler zu mehr Selbständigkeit, mehr Mitverantwortung, das heißt mehr „Mündigkeit“. Dabei muss die Persönlichkeit und die besondere Lerngeschichte der Lernenden beachtet und geachtet werden. Für die Schulpraxis bedeutet das spezifische Lernangebote und Wahlmöglichkeiten für einzelne Schüler oder kleine Schülergruppen, sogenannten „individualisierten Unterricht“. Um unterschiedliche anthropogene und soziokulturelle Voraussetzungen, sowie unterschiedliche Lernstile zu berücksichtigen, erfolgt eine „innere Differenzierung“ in der Klasse. In einigen Modellschulen wie der Bielefelder Laborschule, werden diese didaktischen und methodischen Grundsätze (u. a. „Individualisierung“ durch offenen Unterricht mit innerer Differenzierung) seit Jahrzehnten praktiziert.
Offener Unterricht
Obwohl manche Lehrkräfte zum Teil langjährige Erfahrungen mit offenem Unterricht haben, ist die Effektivität dieser Unterrichtskonzeption wenig geklärt; zuverlässige empirische Untersuchungen stehen noch aus. Trotz dieses Defizits argumentieren wir in diesem Zusammenhang wie Brügelmann (1998, 13): „Wenn uns Selbständigkeit, Mitverantwortung und Eigenaktivität als pädagogische Ziele
Noch fehlen Vergleichsuntersuchungen
- mehr Selbständigkeit - mehr Selbstverantwortung - mehr Förderung
152 130 131 132 133 134 135 136 137 138 139 140 141 142 143 144 145 146 147 148 149 150 151 152 153 154 155 156 157 158 159 160 161 162 163 164 165 166 167 168 169 170 171 172
4 Methoden im Physikunterricht wichtig sind, dann ist ein Unterricht vorzuziehen, der mit diesen Prinzipien übereinstimmt, solange keine Verluste/ Nachteile in anderen bedeutsamen Zielbereichen nachgewiesen sind.“
Traditionelle Lehrerrolle ändern
Erfolgreicher Unterricht, also auch „offener Unterricht“ steht und fällt mit entsprechend ausgebildeten Lehrerinnen und Lehrern. Gegenüber der traditionellen Lehrerrolle ist allerdings ein Umdenken nötig (s. Schorch 1998, 124). „Offener Unterricht“ erfordert • erhöhte Anforderungen für Vorbereitung und Organisation, sowie ein neues Rollenverständnis (Identifikation mit der Helferrolle), • kritische Auswahl und ggfs. Selbstherstellung von Materialien, • Bewältigung räumlicher und finanzieller Schwierigkeiten, • vor allem die unerschütterliche Überzeugung, dass Kinder zu eigenverantwortlichem Lernen und Arbeiten bereit und fähig sind.
Lehrende und Lernende verpflichten sich zu selbst bestimmten Regeln („Klassenvertrag“)
Umwandlung des Klassenzimmers in Lernlandschaft
2. Auf der methodischen Ebene bedeutet offener Unterricht freies Arbeiten in Einzel-, Partner- oder Gruppenarbeit – „Freiarbeit“. Zu offenem Unterricht zählen Projekte und auch Spiele, die hier in eigenen Abschnitten dargestellt sind. Die Lernenden haben Freiheiten in der Wahl der Aufgaben und damit der Lernmaterialien und deren Anspruchsniveau, sowie in der Wahl der Partner, mit denen sie die Aufgabe lösen wollen. Die Selbstverantwortung ist freilich durch Regeln eingegrenzt, zu denen sich Lehrende und Lernende in einem „Klassenvertrag“ verpflichten (z. B. Zorn 1999). Diese Regeln bestimmen den sozialen Umgang zwischen den Betroffenen ebenso, wie den Umgang mit den Lernmaterialien und die Art der Bearbeitung und Ausarbeitung eines Themas. Es wird im Voraus auch festgelegt, ob auf eine Benotung der Freiarbeit verzichtet wird. Neben dem Umdenken der Lehrkräfte im Hinblick auf ihre vorbereitenden organisatorischen Tätigkeiten und auf ihre Helfer- und Moderatorrolle im Unterricht ist auch eine Umwandlung des Klassenzimmers notwendig. Schorch (1998, 124) spricht vom Werkstattcharakter eines Klassenzimmers, von einer „Lernlandschaft“: Ein fester Bestandteil ist eine Klassenbibliothek, die während der Freiarbeit natürlich beliebig zugänglich ist, eine Lernmaterialiensammlung und ein Vorrat an Bürogeräten (u.a. Computer mit Internetanschluss) und Büromaterialien. Die dafür benötigten Schränke und Regale sind gleichzeitig Raumteiler für Bereiche, in denen rezeptiv bzw. aktiv gelernt wird. 3. Freiarbeit muss gelernt werden. Mayer (1992, 29) hat für die Einführung von Freiarbeit folgendes Verlaufsschema vorgeschlagen:
4.1 Methodische Großformen 173 174 175 176 177 178 179 180 181 182 183 184 185 186 187 188 189 190 191 192 193 194 195 196 197 198 199 200 201 202 203 204 205 206 207 208 209 210 211 212 213 214 215
1 Planungsphase Gesprächskreis (Einführung – Planung)
Plenum am Klassentisch (Kreisgespräch)
2 Info-/Materialbeschaffungsphase Einzel-/ Partner-/ Gruppen oder vorbereitende „Hausarbeit“
Am Regalsystem, Suchen in Schulräumen und im Schulbezirk
153 3 Arbeitsphase Einzel-/ Partner-/ Gruppenarbeit
An den Arbeitsplätzen oder in den Funktionsbereichen („Ecken“)
4 Diskussionsphase (Kontrollphase) Gesprächskreis (Vorstellung/ Vortrag /Begutachtung)
Plenum am Klassentisch (Kreisgespräch)
5 Integrationsphase Einordnen – Einheften – Ausstellen
Regale; Ordner; Ausstellungsflächen
Abb. 4.1: Zur Einführung von Freiarbeit (nach Mayer 1992, 29) Man kann „offenen Unterricht“ mit einem Unterrichtsvormittag pro Woche beginnen, um schließlich auf dreimal 2 Stunden Freiarbeit pro Woche in verschiedenen Fächern überzugehen. Dabei wird zwischen „stiller Freiarbeit“ und „kommunikative Freiarbeit“ unterschieden, die jeweils 30 min. bzw. 60 min. in einem zweistündigen Freiarbeitsblock dauern. Für die Einführung der Freiarbeit können von Lehrkräften vorbereitete „Lernstationen“ verwendet werden (s. Hepp 1999). Dabei entfällt die „Planungsphase“ für die Schüler. Diese durchlaufen möglichst alle Stationen in selbst gewählter Reihenfolge; man spricht von einem „Lernzirkel“ bzw. „Lernen an Stationen“. 4. „Offener Unterricht“ hat methodische Implikationen, die für einen zeitgemäßen Physikunterricht relevant sind (s. Berge 1993). Es hat sich gezeigt, dass insbesondere Lernzirkel auf das Interesse von Physiklehrern stoßen: Diese Form des offenen Unterrichts ist leichter mit Geräten aus einer Sammlung zu realisieren, durch Freihandversuche zu ergänzen als Projektunterricht (s. Kap. 8 , 9). Beispiel aus dem Physikunterricht: Der von Zorn (1999) entwickelte Lernzirkel „Elektrischer Stromkreis“ enthält sechs Lernbereiche („Elektrische Energiequelle/ Verbraucher“, „Parallel- und Reihenschaltung“, „Schaltsymbole und Schaltskizze“, „Bedeutung der Elektrizität – Gefahren durch Elektrizität“, „Leiter und Nichtleiter“, „Modelle zum elektrischen Stromkreis“) und dazu insgesamt 28 Lernstationen für Schüler zwischen acht und zwölf Jahren.
154 216 217 218 219 220 221 222 223 224 225 226 227 228 229 230 231 232 233 234 235 236 237 238 239 240 241 242 243 244 245 246 247 248 249 250 251 252 253 254 255 256 257 258
4 Methoden im Physikunterricht Die Lernstationen sind die kleinsten Sinneinheiten eines Lernzirkels. Sie werden durch didaktische Analysen konzipiert. Zur Gestaltung dieser Lernstationen sind der methodischen Phantasie keine Grenzen gesetzt. Spiel und „wissenschaftliches“ Arbeiten wechseln sich ab: Schüler experimentieren an einer Lernstation, schreiben einen kleinen Aufsatz, lösen an einer anderen Station ein physikalisches Kreuzworträtsel, gewinnen an einem Laptop Informationen über den Stromkreis von einer CD über eine beliebte naturwissenschaftliche TV-Kindersendung („Löwenzahn“) oder lernen auch nur wie man einen Laptop bedient.
Lernzirkel sollen multimedial aufgebaut sein
Lernzirkel im Physikunterricht sollen multimedial aufgebaut sein (s. Kap. 5). Sie können zur Einführung in die Thematik („Einführungszirkel“), zur Erarbeitung eines komplexen Inhalts („Erarbeitungszirkel“) und zur Übung und Sicherung relevanter Fakten, Begriffe und Gesetze eingesetzt werden („Übungszirkel“). Im Falle der Einführung eines thematischen Bereichs ist der Lernzirkel und die darin vorkommenden Aktivitäten als ein erster Überblick zu verstehen, der Interesse wecken und das Vorwissen aktivieren soll. Natürlich kann man nicht erwarten, dass bei einer Arbeitsphase von ca. 2 – 3 Stunden z.B. der elektrische Stromkreis durch einen Lernzirkel gründlich gelernt werden kann. 5. Gründliche empirische Untersuchungen stehen für Lernzirkel im Physikunterricht noch aus. Eine Möglichkeit in „offenen Unterricht“ einzuführen, sind sie allemal, und es scheint, als könnte ein solcher Physikunterricht allen Schülern und Lehrern Spaß machen. Freilich ist der organisatorische und planerische Aufwand für die Lehrkräfte noch beträchtlich, insbesondere um Einführungszirkelzu entwickeln.
Lehrer und Lehrerinnen müssen sich gegenseitig unterstützen
Konsequenz: Lehrer und Lehrerinnen müssen sich gegenseitig unterstützen mit Ideen und Materialien und gegenseitig ermuntern zum Weitermachen mit offenem Unterricht und Freiarbeit.
4.1.2 Spiele im Physikunterricht 1. Spiele werden als „Urphänomen“ (Scheuerl 199412, 113), als „primäre Lebenskategorie“ (Huizinga 1956, 11) charakterisiert. Sie sind in vielerlei Hinsicht ambivalent, weder gut noch böse, weder pädagogisch sinnvoll noch sinnlos. „Das Spiel liegt außerhalb der Disjunktion Weisheit – Torheit, ... der von Gut und Böse“ (Huizinga 1956, 14).
4.1 Methodische Großformen 259 260 261 262 263 264 265 266 267 268 269 270 271 272 273 274 275 276 277 278 279 280 281 282 283 284 285 286 287 288 289 290 291 292 293 294 295 296 297 298 299 300 301
Spielen bedeutet in eine Quasi-Realität einzusteigen. Durch Spielen und während des Spielens entsteht ein Freiraum, frei von den Sanktionen der umgebenden Realität. Ein Spieler spielt freiwillig aus Freude und Spaß am Spiel, „das er als intensive Gegenwart erlebt“ (Wegener-Spöhring 1995, 7). „Es lässt ihn alles Zeitmaß vergessen, angesichts von Phänomenen, die scheinhaft in ewiger Gegenwart auf der Stelle kreisen, und die schwebend stille stehen über dem Strome der Zeit“ (Scheuerl 199412, 95). Trotzdem setzt das Spiel den Spielenden Grenzen durch Regeln, die sie nicht übertreten dürfen. „Frei, unbestimmt ist das Spiel immer nur innerhalb eines Maßes“ (Scheuerl 199412, 92).
155 Merkmale des Spiels: - Ambivalenz - Quasi-Realität - Freiheit - Geschlossenheit - Gegenwärtigkeit
Außerdem enthalten Spiele häufig das Moment des Wettstreits, der Auseinandersetzung, der Aggressivität, aber daneben Tendenzen zum Ausgleich, der Balance; Fanclubs von Fußballvereinen verbrüdern sich wieder nach Beleidigungen, Randalen, Schlägereien. Diese Merkmale müssen nicht immer alle und im gleichen Ausmaß bei einem Spiel vorhanden sein. Hinter Wettkampfspielen stehen häufig nicht Selbstvergessenheit und Verspieltheit, sondern bitterer Ernst, Verbissenheit, Tränen, manchmal Verlogenheit, Betrug. 2. In neuerer Zeit wird aus verschiedenen Gründen das Spiel aus pädagogischer Sicht betrachtet, national und international. Die Gründe sind verschieden: Es können dafür Misserfolge der Schule in Betracht gezogen werden bei erzieherischen wie bildenden Aufgaben der Schule – etwa die Zunahme von Gewalt und Kriminalität unter Jugendlichen oder die eher mittelmäßigen Fähigkeiten in der Mathematik und in der Physik, wie sie in der TIMS- und PISA-Studie (Baumert & Lehmann 1997; Baumert u.a. 2000) für deutsche Schülerinnen und Schüler offensichtlich wurden. Möglicherweise kann das Sozialverhalten Jugendlicher z. B. über Rollenspiele beeinflusst werden; vielleicht können Spiele die Einstellungen zu den Naturwissenschaften ändern oder deren abstrakte Begriffe veranschaulichen. Darüber hinaus könnten Spiele auch den Lebensstil einer Gesellschaft im Überfluss charakterisieren, und es könnte von daher angemessen erscheinen, diesen Lebensstil schon als Kind zu internalisieren und in bestimmte Bahnen zu lenken. Sie sehen, es gibt in diesem Bereich viele offene Fragen der Naturwissenschaftsdidaktik. Einsiedler (1991) folgend hat das Spiel einen kulturellen Eigenwert. Außerdem ist es entwicklungsbedeutsam im Hinblick auf kognitive und soziale Fähigkeiten.
Können durch Spiele Einstellungen zur Physik verändert werden?
156 302 303 304 305 306 307 308 309 310 311 312 313 314 315 316 317 318 319 320 321 322 323 324 325 326 327 328 329 330 331 332 333 334 335 336 337 338 339 340 341 342 343 344
Zwei sich ergänzende Paradigmen der Schule: Arbeit und Spiel
4 Methoden im Physikunterricht Mehrere pädagogische Gründe sprechen für Spiele in Bildung und Erziehung und zwar im Unterricht aller Schulstufen. Dabei wird ein gegenwärtiges Paradigma der Schule, nämlich „Arbeit“ nicht in Frage gestellt und dafür „Spiel“ als neues Paradigma in der Schule propagiert. Warum sollte es nicht zwei Paradigmen nebeneinander geben – wie in der Physik „Teilchen“ und „Welle“ – die sich gegenseitig ergänzen und dabei je eigenständige Ziele und Inhalte in verschiedenen Kontexten involvieren? Im Zusammenhang mit einer solchen kompensatorischen Funktion des Spiels zum Paradigma „Arbeit“ wird argumentiert:
Spiele im Physikunterricht fördern: soziale Ziele
Kreativität
• Spielen ist ein „soziales Ereignis“ von seltener Dichte, das Fähigkeiten zu sozialer Kommunikation und Interaktion erfordert, nämlich Grundqualifikationen zu sozialem Handeln wie Einfühlungsvermögen, Flexibilität, Integrationsfähigkeit, Rücksichtnahme, Toleranz. (s. Krappmann 1976, 42). • In Spielen kann das Mögliche, das Ungenaue, wenig Trennscharfe, das Implizite auch des naturwissenschaftlichen Alltagswissens zum Vorschein kommen; es kann das Irreale, Phantastische, Träumerische zugelassen werden – neben der Relativitätstheorie auch Sciencefiction.
Voraussetzungen für wissenschaftliches Arbeiten
•
„Entschleunigung“ des Physikunterrichts
• Durch Spiele kann der Physikunterricht „entschleunigt“ werden durch einen „subjektiven, erlebnisbezogenen, verschwenderischen Umgang mit Zeit“ (Wegener-Spöhring 1995, 287).
Durch spielerisches Handeln entstehen Entwürfe der Realität nicht nur als Vorstufe, sondern als Voraussetzung des wissenschaftlichen Arbeitens. „Wahrnehmungsleistungen, motorische Fertigkeiten sowie Intelligenzleistungen... werden großenteils durch Spielaktivität erworben“ ( Oerter 197717, 225). Solche Aktivitäten sind „lebensnotwendig und konstitutiv für die Menschwerdung“ (Oerter 1993, 13).
Insgesamt wird vor einer Instrumentalisierung der Spiele durch die Pädagogik gewarnt (s. Einsiedler 1991, 156), wie auch vor einer engen Interpretation von „Spiel“ als bloße Übungsspiele in der Phase der Vertiefung oder zur bloßen Motivation als Einstieg. Eine enge Bindung an Ziele der Wissensvermittlung, der Bezug auf die Sache, der die meisten Unterrichtsaktivitäten bestimmt, versperrt sehr leicht den Weg zu Erlebnissen, die nur ein freies Spielen ermöglicht. 3. Erste Publikationen über Spiele im Physikunterricht stammen aus den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Dussler (1932) analysierte zahlreiche Spiele im Hinblick auf ihre Einsatzmöglichkeiten
4.1 Methodische Großformen 345 346 347 348 349 350 351 352 353 354 355 356 357 358 359 360 361 362 363 364 365 366 367 368 369 370 371 372 373 374 375 376 377 378 379 380 381 382 383 384 385 386 387
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im Physikunterricht. In der neueren Physikdidaktik wurde „Spielorientierung“ von einer Arbeitsgruppe um v. Aufschnaiter u. a. (1980) und Schwedes (1982) diskutiert und an selbst entwickelten Unterrichtsbeispielen empirisch untersucht. Darüber hinaus hat sich die Physikdidaktik kaum an der internationalen Diskussion über pädagogische Perspektiven des Spiels beteiligt. Möglicherweise hat das den Physikunterricht dominierende Paradigma „Forschung“ bzw. „Entdeckung“ entsprechende Aktivitäten verhindert. Wir folgen Einsiedlers (1991) Klassifikation von Spielen (psychomotorische Spiele, Phantasie- und Rollenspiele, Bauspiele, Regelspiele). Diese Klassifikation, die vor allem auf Spiele der Grundschule und des vorschulischen Bereichs zugeschnitten ist, erweist sich auch für Spiele in einem allgemeinbildenden Physikunterricht der Sekundarstufen als sinnvoll, den ich im Blickfeld habe. Die Beispiele zeigen Breite und Tiefe dieser methodischen Großform auch für den Physikunterricht (s. Treitz 19964).
Klassifikation von Spielen
- Mit „psychomotorischen Spielen“ sind in erster Linie Geschicklichkeitsspiele in einem physikalischen Kontext gemeint. Manche sind altbekannt, wie „Ball an die Wand“ oder „Schatten fangen“. Häufig können solche Spiele von den Schülern selbst erfunden, gestaltet, gebaut werden. Beispiele: „Magnetfische angeln“, „Fische stechen“ (Achtung: Lichtbrechung), „elektronischer Irrgarten“. Außerdem zählen hierzu auch Trickversuche, die z. B. mit dem „labilen Gleichgewicht“ zu tun haben, etwa „Jonglieren“.
Psychomotorische Spiele im Physikunterricht:
Eine wichtige Untergruppe der psychomotorischen Spiele sind die von Schülern gespielten physikalischen Sachverhalte und Analogien. Damit werden abstrakte Begriffe und Modellvorstellungen illustriert: die Aggregatzustände, Gasdruck und Gasvolumen, Ausdehnung bei Erwärmung interpretiert durch das Teilchenmodell (s. Labudde 1993). Oder aus der Elektrizitätslehre: Der elektrische Stromkreis, der Widerstand, Strom und Stromstärke interpretiert im Elektronenmodell. Den gespielten Analogien geht im Allgemeinen die physikalische Information voraus. Dann können Schüler und Schülerinnen ihrer Phantasie freien Lauf lassen, wie ein Begriff dargestellt werden soll, unter den nicht sehr strengen Bedingungen, die für Analogien gelten (s. 3.3). Zur Illustration dieser Begriffe wird mit wenigen Handgriffen das Klassenzimmer umgestaltet oder sogar der Physikunterricht für kurze Zeit in die Turnhalle verlegt wie in jener 9. Jahrgangsstufe, in der die elektrische Spannung an der Kletterwand mit dort eingehängten Gymnastikbänken veranschaulicht wurde, wobei SchülerInnen hochkletterten und dann die Bänke hinunter rutschten.
- gespielte Physik
- Geschicklichkeitsspiele
- gespielte Analogien
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4 Methoden im Physikunterricht Die Arbeit/Schüler entspricht dabei der Arbeit/Elektron; wir sind mit dieser Analogie also nahe an der physikalischen Definition von „Spannung“ (s. Kircher & Hauser 1995). Bei dieser Art psychomotorischer Spiele steht natürlich das Lernen des Begriffs im Vordergrund; nicht die Schulung der Psychomotorik. Wie bei allen Gruppenspielen wird auch das soziale Verhalten bei solchen gespielten Analogien tangiert.
Phantasie- und Rollenspiele
- Phantasie- und Rollenspiele fördern Flexibilität und Kreativität. Indem Kinder und Jugendliche in Rollen schlüpfen und diese ohne ernsthafte Folgen durchspielen können, gewinnen sie nicht nur Handlungskompetenz auf Vorrat, sondern auch Zufriedenheit, Stolz und Freude darüber, eine wichtige Rolle kompetent gespielt zu haben. Solche positiven Emotionen im Spiel scheinen die Bedeutung des Phantasiespiels für die seelische Gesundheit auszumachen (s. Einsiedler 1991, 83). Mit dem Hineinschlüpfen in eine Rolle ist häufig ein Perspektivenwandel verbunden, der anschließend Anlass für Metagespräche über die verschiedenen Rollen sein kann.
Spielprojekte
Phantasie- und Rollenspiele können im Physikunterricht besonders in Projekten vorkommen (Rottmann 2004 ). Wie in 4.1.3 noch näher ausgeführt, sind Projekte fachüberschreitend oder interdisziplinär. Ergreifen Sie als Physiklehrerin die Initiative, um z. B. bei einem Projekt „Lärm“ mit dem Deutschlehrer zusammenzuarbeiten, um zu dieser Thematik mit einer Schülergruppe ein Phantasiespiel auszuarbeiten, etwa: „Ein Außerirdischer in der Großstadt“
historische Rollenspiele
Auch die Geschichte der Physik kann Anregungen für Rollenspiele liefern, etwa die Auseinandersetzung Goethes mit der newtonschen Optik. Ein solches Spiel setzt natürlich gründliche Fallstudien voraus, die im Allgemeinen über die Physik hinausführen. In entsprechender Weise gilt, dass Fallstudien wie von Duit, Häußler & Kircher (1981) beschrieben, letztlich zu Rollenspielen führen.
Regelspiele
- Regelspiele sind im Allgemeinen Konkurrenzspiele, bei denen es Gewinner und Verlierer gibt. Seit Mitte der 70er-Jahre werden auch Spiele entwickelt, „die das gemeinsame Spielerlebnis, einfallsreiche Bewegungsabläufe und wechselseitiges Vertrauen stärker betonen als Leistung, Gewinnstreben und Kampf“ (Einsiedler 1991, 139), sogenannte Kooperationsspiele. Optimistische Annahmen über den Einfluss von Kooperationsspielen gehen davon aus, dass in der modernen Gesellschaft wünschenswerte Dispositionen wie Kooperationsfähigkeit und Solidaritätsfähigkeit über das Spiel hinaus entste-
- Konkurrenzspiele - Kooperationsspiele
4.1 Methodische Großformen 431 432 433 434 435 436 437 438 439 440 441 442 443 444 445 446 447 448 449 450 451 452 453 454 455 456 457 458 459 460 461 462 463 464 465 466 467 468 469 470 471 472 473
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hen. Außerdem könnten egoistische und rivalisierende Tendenzen der Konkurrenzspiele vermieden werden. Kritiker argumentieren, dass Kooperationsspielen die Spieldynamik, die Spannung fehlt. Ferner wird einfach nur konstatiert, dass Kinder mit zunehmendem Alter Wettbewerbsspiele bevorzugen. Einsiedler (1991, 141 ff.) plädiert dafür, beide Spielformen zu verwenden, unter Umständen sogar bei der gleichen Thematik. Da kommerzielle physikalische Spiele in der skizzierten Breite nicht vorliegen, gilt es aus der Not eine Tugend zu machen und die Schüler selbst Spiele erfinden zu lassen. Neben Regelspielen in Anlehnung an bekannte Würfelspiele mit „Ereigniskarten“, „Fragekarten“ und einem Punktesystem, kommen dafür Kartenspiele (Memory, Frage-Antwort-Spiel), Brettspiele und auch themenspezifisches „physikalisches Roulett“ in Frage (Walter 1996). Durch ein Moment des Zufalls haben auch leistungsschwächere Schüler und Schülerinnen bei diesem physikalischen Spiel ihre Gewinnchancen. Man muss allerdings einräumen, dass diese Eigenbauspiele wegen fehlender Professionalität bezüglich der Spielidee und der handwerklichen Ausführung vor allem für ihre Erfinder attraktiv sind. Man könnte daran denken, dass die eigenen Spiele eine Klasse durch die Schule begleiten, als eine Art Markenzeichen für die Originalität und Kreativität einer Klasse.
Selbstgebaute Spiele sind Markenzeichen für die Originalität und Kreativität einer Klasse
- Konstruktionsspiele sollen technisches Verständnis fördern. In der Primar- und Orientierungsstufe ist dabei in erster Linie an kommerzielle Baukästen zu denken mit reichhaltigen Vorschlägen für den Bau funktionsfähiger mechanischer, elektrischer und elektronischer Geräte und Anlagen. Anspruchsvoller und kreativer kann die Erfindung technischer Spielereien sein, wie „Papierbrücken“ oder „Fahrzeuge“ (s. Sigler-Held 1997) in der Grundschule. In der Sekundarstufe können „Fluggeräte“, Papierschwalben, Bumerang, Drachen, Heißluftballone, Segelflugzeuge und Raketen gebastelt werden oder unterschiedliche Antriebe für „Schiffe“, die Labudde (1993) von Studierenden konstruieren ließ. In Wettbewerben werden außer der Funktionsfähigkeit der Geräte berücksichtigt: Originalität, Umweltverträglichkeit, Kosten der verwendeten Materialien.
Konstruktionsspiele
4. Spiele im Unterricht erfordern spezielle Einstellungen und spezifisches Verhalten der Lehrkräfte während des Spiels oder der Spielphasen im Unterricht. Die Forschungsgruppe Spielsysteme (1984, 98 ff.) empfiehlt u.a. folgende Verhaltensweisen:
Spezielle Einstellungen und spezifisches Verhalten der Lehrkräfte
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4 Methoden im Physikunterricht Die Lehrkraft sollte • Spielsituationen von anderen Unterrichtssituationen für die Schüler klar unterscheidbar machen, • ihre Rolle während des Spiels klar beschreiben und sich daran halten, • möglichst verschiedene und vielfältige Materialien und Problemstellungen für Spielsituationen anbieten, • Spielanregungen nicht als Arbeitsanweisungen geben, • Spiele nicht stören, sondern als Berater fungieren, • Spiele von den Schülern beenden lassen, • bewusst wahrnehmen und aushalten, dass sie während eines Spiels unterbeschäftigt, auch untätig sein kann. 5. Spielen muss in allen Schulstufen gefördert werden:
Spielförderung
• Freies Spielen vor dem Unterricht, in den Pausen, in Spielstunden mit selbst entwickelten Spielen, • Spielförderung in speziellen Unterrichtseinheiten und Projekten, • Gespielte Analogien zur Veranschaulichung von physikalischen Sachverhalten und Begriffen einsetzen, • Durch Nachdenken über Spiele und Spielen (Metakognition).
4.1.3 Das Projekt
Schüler sind an der Planung beteiligt und tragen Verantwortung für den Verlauf und die Ergebnisse eines Projekts
1. Der Projektunterricht entstand am Anfang des 20. Jahrhunderts in den USA und wurde vor allem durch Dewey und Kilpatrick ausgearbeitet und propagiert. Dem Motto ,,learning by doing“ folgend, tritt der Lehrer bei Projekten in den Hintergrund; er wirkt vor allem organisierend und beratend. Ursprünglich befassten sich schulische Projekte ausschließlich mit gesellschaftlich relevanten Themen. Dabei sind die Schüler an der Planung beteiligt und tragen auch Verantwortung für den Verlauf und die Ergebnisse eines Projekts. Im Zusammenhang mit der Reformpädagogik der 20er-Jahre wurden ähnliche pädagogische Ideen auch in Deutschland durch Kerschensteiner und andere verwirklicht. In den Reformdiskussionen der 60er und 70er-Jahre wurden von neuem traditionelle Unterrichtsmethoden in Frage gestellt und Defizite im Unterricht und in der Schule kritisiert. Kritikpunkte waren dabei unter anderem die Diskrepanz zwischen Schule und alltäglichem Leben, der stark fachbezogene Unterricht, das Lehrer-Schüler-Verhältnis und auch Unterrichtsinhalte, mit geringer Relevanz für die Schüler. Die wieder entdeckte Projektmethode versprach hier Verbesserungen. Vor allem in den neu entstandenen Ge-
4.1 Methodische Großformen 517 518 519 520 521 522 523 524 525 526 527 528 529 530 531 532 533 534 535 536 537 538 539 540 541 542 543 544 545 546 547 548 549 550 551 552 553 554 555 556 557 558 559
samtschulen wurden zahlreiche Projekte durchgeführt. Die neu konzipierte Projektmethode (z. B. Frey 1982, 26 ff.) berücksichtigt stärker pädagogische Aspekte. Das heißt, sie ist vorwiegend an den Interessen und Bedürfnissen der Schüler orientiert, während die gesellschaftliche Bedeutung nicht mehr im Sinne einer notwendigen Bedingung für „Projekte“ in der Schule verstanden wird. Dies hat Auswirkungen sowohl auf die Themenwahl (s. Mie & Frey 1994; Hepp u. a. 1997) als auch für das „Grundmuster“ von Projekten (s. Frey 1982, 54). Legt man die Lehrpläne der verschiedenen Schularten zugrunde, scheint sich am Ende des 20. Jahrhunderts die Projektidee in Deutschland endgültig durchgesetzt zu haben; Projekte sind in allen Schulstufen vorgesehen. 2. Was ist das Besondere des Projektunterrichts? Otto (1974) nennt folgende Merkmale: • Bedürfnisbezogenheit: Die Schüler sollen für das Projektthema intrinsisch motiviert sein, d. h. die Lösung der durch das Projekt gestellten Aufgabe muss ihnen wichtig sein. • Situationsbezogenheit : Das soll eine Brücke schlagen zwischen der ,,theoretischen“ Schule und der Alltagswelt, indem die Thematik so gewählt wird, dass sie dazu beiträgt, Lebenssituationen außerhalb der Schule zu bewältigen. • Selbstorganisation des Lehr-Lern-Prozesses: Hierbei geht es darum, Verantwortungsbewusstsein und Organisationsfähigkeit bei den Kindern zu stärken, indem sie Zielsetzung, Planung und Durchführung eines Projektes wesentlich mitbestimmen oder selbst übernehmen. • Kollektive Realisierung: Das notwendige Zusammenarbeiten mehrerer, größtenteils unabhängiger Gruppen fördert die Einsicht in die Nützlichkeit von Teamarbeit zur Bearbeitung und Lösung komplexer Zusammenhänge. • Produktorientiertheit: Da am Ende des Projekts ein ,,greifbares“ Ergebnis steht, ergibt sich für die Schüler eine zusätzliche Motivation, da sie auf ein konkretes, vorzeigbares Ziel hinarbeiten. • Interdisziplinarität: Ein Projekt ist nicht fach-, sondern sachgebunden, woraus sich die Notwendigkeit zur Zusammenarbeit auch mit fachfremden Sachbereichen ergibt. Dadurch erhalten die Schüler erste Einblicke in interdisziplinäre Arbeitsweisen, die nötig sind, um komplexe Situationen lösen zu können. Weiterhin sehen Schüler, dass sich unterschiedliche Disziplinen gegenseitig befruchten und so Fortschritte für beide erreicht werden können. • Gesellschaftliche Relevanz Im Allg. wird eine gesellschaftlich relevante Problematik bearbeitet und so ein Bezug zwischen Schule und Gesellschaft hergestellt.
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Die neu konzipierte Projektmethode berücksichtigt vor allem pädagogische Aspekte Merkmale
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Projektorientierter Unterricht: Nicht alle Merkmale sind erfüllt
4 Methoden im Physikunterricht In einem Projekt sind in der Regel nicht alle diese Merkmale erfüllt. Treffen nur einige Merkmale aus obiger Auflistung zu, so spricht man von projektorientiertem Unterricht. Eine scharfe Trennung zwischen Projekt und projektorientiertem Unterricht ist nicht möglich; die Diskussion darüber ist ein Randproblem, das hier nicht weiter verfolgt wird. Das gilt übrigens auch für die Diskussion, ob die „gesellschaftliche Relevanz“ ein notwendiges Merkmal des Projektunterrichts ist. Bei der neuen Projektmethode ist die Art und Weise, wie der Unterricht verläuft vorrangig, d. h. wie die gemeinsamen und individuellen Möglichkeiten genutzt werden, soziale, kognitive, affektive und psychomotorische Kompetenzen und Einstellungen zu erwerben. 3. Wie verläuft ein Projekt?
Grundmuster nach Frey (1982)
Frey (1982, 52 ff.) schlägt ein Grundmuster für den Ablauf von Projekten vor, das sieben Komponenten enthält. Natürlich sind weder dieses Grundmuster noch die einzelnen Komponenten zwingend. Das heißt, das Schema ist als Orientierungshilfe anzusehen und nicht als strikt einzuhaltende Handlungsvorschrift.
Projektinitiative
Projektinitiative Von Seiten der Schüler oder des Lehrers wird ein Projekt angeregt. Eine angebotene Idee wird diskutiert und dann entschieden, ob und in welcher Form die Projektidee aufgegriffen wird. Das bedeutet, es werden verschiedene Aspekte (z. B. physikalische, technische, historische, gesellschaftliche, ästhetische, literarische) einer Thematik in einer Diskussionsrunde herausgearbeitet, noch im Klassenverband. Wir empfehlen, zwischen der „Projektinitiative“ und dem weiteren Projektverlauf einige Tage „Nachdenkzeit“ einzuschieben, um die Ideen ausreifen zu lassen und um das personale Umfeld der Schüler informell in das Projekt mit einzubeziehen.
Auseinandersetzung mit der Projektinitiative
Die Auseinandersetzung mit der Projektinitiative beinhaltet zwei Elemente 1. Element: Die Teilnehmer verständigen sich über einen zeitlichen und kommunikativen Rahmen, in dem die Auseinandersetzung stattfinden soll. Diese Vereinbarungen sollen dafür sorgen, dass das Projekt nicht schon am Anfang aufgrund von Problemen scheitert, die z. B. mit dem Sozialverhalten der Schüler untereinander zu tun haben. 2. Element: Vor der inhaltlichen Auseinandersetzung mit der Projektinitiative werden Gruppen und zwar aufgrund des Interesses der Schüler an den möglichen Teilthemen gebildet (Gruppenbildung aufgrund „sachbezogener Motivation“). Falls sich im Verlauf der
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nun folgenden Diskussion herauskristallisiert, dass das Projekt nicht durchführbar ist oder keine Zustimmung findet, wird es abgebrochen. Ein Abschluss schon im Vorfeld eines Projekts sollte jedoch die absolute Ausnahme sein, um den Schülern nicht die nötige Motivation für die Durchführung weiterer Projekte zu nehmen. Im Falle der Akzeptanz erfolgt die Anfertigung einer Projektskizze. Entwicklung des Betätigungsfeldes Bildungsbedeutsame Inhalte des thematischen Bereichs sind auszuloten und zu skizzieren; außerdem wird ein detaillierter Plan über den zeitlichen Verlauf und den inhaltlichen Umfang des Projekts erstellt. Die „Entwicklung des Betätigungsfeldes“ bedeutet „auszumachen, wer etwas tut, wie jemand etwas tut und unter Umständen auch, wann jemand etwas tut“ (Frey 1982, 57). Mittelbar Beteiligte, z. B. kommunale Behörden, Fachleute aus dem Handwerk oder der Industrie, kooperierende Lehrer aus anderen Fächern müssen spätestens hier in die Überlegungen mit einbezogen werden. Außerdem muss eine sinnvolle Arbeitsteilung diskutiert und entschieden werden.
Entwicklung des Betätigungsfeldes
Als Ergebnis dieser Phase soll ein Projektplan stehen, der den weiteren Ablauf festlegt und von dem nicht ohne triftigen Grund abgewichen werden sollte. Der Projektplan jeder Gruppe muss organisatorische Details enthalten wie Listen z. B. über die benötigten Materialien und das Handwerkszeug (für informierende Plakate, den Bau eines technischen Gerätes oder für die Durchführung eines physikalischen Versuchs), über die relevante Literatur, über Aktivitäten inund außerhalb der Schule, über Geräte zur Dokumentation des Projekts (Foto, Videokamera, Computer). Aktivitäten im Betätigungsfeld Die Gruppen befassen sich nun verstärkt mit den Teilgebieten, für die sie sich entschieden haben. Dabei sind alle Arten von Tätigkeitsformen möglich. Bei Projekten im Physikunterricht beschäftigt man sich vor allem mit „Hardware“-Produkten: mit physikalischen Grundversuchen zum thematischen Bereich, mit dem Zerlegen von Geräten (z. B. Fahrrad, Fernsehgerät, Fotoapparat, Moped), mit dem Bau von Geräten oder Modellen von Geräten (Fernrohr, Solarofen, Heißluftballon, Segelflugzeug, Raketen, Radio). „Software“Produkte, häufig Plakate, liefern Informationen z. B. über die historische Entwicklung der Raumfahrt, über die Folgen von Lärm für die Gesundheit, über kommunale Maßnahmen gegen Verkehrslärm, über die Bedeutung von Farben für Menschen und Tiere, über die Probleme der Entsorgung von radioaktivem Müll. Die Aufgabe des Leh-
Aktivitäten im Betätigungsfeld
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4 Methoden im Physikunterricht rers ist hierbei die Koordination der einzelnen Gruppen, sowie Hilfestellung und Beratung bei evtl. auftretenden Problemen organisatorischer, fachlicher, handwerklicher oder auch sozialer Art.
Projektabschluss
Projektabschluss Wir weichen hier von den Vorschlägen Freys (1982) für den Abschluß eines Projekts ab: Der „normale“ Abschluss eines Projekts enthält die Elemente Vorbereitung der Präsentation, Präsentation, Reflexion des Projektverlaufs, Reflexion „Projekte – Schule – Gesellschaft“. Wie die Erfahrung zeigt, ist für den im folgenden skizzierten „bewussten Abschluss eines Projekts“ mindestens ein Schultag vorzusehen. Die üblichste und vielleicht auch für die Schüler befriedigendste Art ist die eines bewussten Abschlusses. Hierbei werden die Ergebnisse veröffentlicht und Produkte im Rahmen einer Vorführung vorgestellt und in Gebrauch genommen.
Die Präsentation der Produkte muss in der Gruppe sorgfältig vorbereitet werden
Eine solche Präsentation der Produkte ist für die Schüler die Krönung des Projektes, da sie hier im Gegensatz zum sonst üblichen Unterricht ein konkretes Ergebnis vorzuweisen haben und damit zeigen können, welche Leistungen sie im Verlauf des Projektes erbracht haben. Die Erfahrung zeigt, dass diese Präsentation, zu der auch Schüler anderer Klassen, eventuell Eltern, die lokale Presse eingeladen sind, sorgfältig in den Gruppen vorbereitet werden muss. Grundsätzlich gilt: An der Präsentation ist jedes Gruppenmitglied beteiligt, unterstützt die Gruppe jedes Mitglied, muss Kritik vorab in der Gruppe ausgetragen werden, nicht in der Öffentlichkeit während der Präsentation.
Reflexion des Projektverlaufs
Schließlich wird in einer ersten Diskussion der Verlauf des Projekts reflektiert, das Erhoffte und das Erreichte verglichen, die kleinen und großen organisatorischen, fachlichen, handwerklichen und menschlichen Schwierigkeiten und ihre Bewältigung erörtert.
Bedeutung des Projekts für das Schulleben und darüber hinaus
Ein letztes Element des bewussten Abschlusses eines Projekts ist die Diskussion, welche Bedeutung das Projekt für das Schulleben und darüber hinaus für den Alltag hat, wie es auch schulextern weiterwirken kann (z. B. durch die Schülerzeitung, durch das Mitteilungsblatt der Gemeinde, durch die lokale Presse, durch Bürgerinitiativen, durch Diskussionen mit der Stadtverwaltung oder Parteien).
- Fixpunkte
Fixpunkte Fixpunkte sind in Mittel- und Großprojekten wichtig, um nicht in einen orientierungslosen Aktionismus zu verfallen. Auf Wunsch einer Gruppe wird ein „Fixpunkt“ in den Projektablauf eingeschoben (für eine Gruppe bzw. alle Gruppen), um bisher Geleistetes zu beur-
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teilen und zu koordinieren oder auch um Probleme zu besprechen. „Fixpunkte sind die organisatorischen Schaltstellen eines Projekts“ (Frey 1982,131). Metainteraktionen Wie die Fixpunkte, so sind auch die Metainteraktionen zeitlich nicht festgelegt, sondern werden bei Bedarf eingeschoben. Hierbei geht es darum, dass Schüler und Lehrer sich kritisch und distanziert mit ihrem eigenen Tun auseinandersetzen. Es wird besprochen, ob der kommunikative Rahmen von Anfang an gestimmt hat oder ob er abgeändert werden muss. Es werden besonders gute oder schlechte Arbeitsphasen diskutiert. Auch Spannungen und soziale Probleme innerhalb der Gruppe sollen hier aufgearbeitet werden.
- Metainteraktionen
4. Zusammenfassende Bemerkungen über Projektunterricht Die Alltagswelt der Schüler wird immer stärker dominiert von Tätigkeiten, die wenig Raum lassen für eigene Erfahrungen. Selbständiges und selbsterfahrendes Handeln tritt in den Hintergrund. Der Projektunterricht bietet Chancen zur „Inneren Differenzierung“: Schüler können je nach Interesse und Begabung Erfahrungen aus erster Hand sammeln und bei komplexen Themen der Alltagswelt auch die Grenzen eigenen Tuns zu erfahren. Durch eigenverantwortliche Tätigkeiten in Kleingruppen bietet sich die Möglichkeit der sozialen Integration von stilleren und/ oder schwächeren Schülern, die sich in der Großgruppe, dem Klassenverband eher zurückziehen. In den kleinen Gruppen sind alle aufeinander angewiesen, die immer aktiven, manchmal vielleicht vordergründigen Schüler ebenso wie die ruhigen, vielleicht nachdenklichen. Die Teilnahme von Schülern aus mehreren Jahrgangsstufen und Klassenverbänden („Äußere Differenzierung“) bietet die Möglichkeit zur ,,vertikalen Sozialisation“, die im üblichen Unterricht nicht vorkommt.
Projektunterricht ermöglicht kognitive, affektive und psychomotorische Erfahrungen in und mit komplexen Situationen der Lebenswelt
Verschiedene Probleme können ein Projekt erschweren oder gar verhindern: •
Ein Projekt erfordert viel Zeit und kann nicht im Rahmen des üblichen Stundenplans durchgeführt werden. Deshalb sind, wie im vergangenen Jahrzehnt vielfach geschehen, ausdrücklich für Projekte ausgewiesene Freiräume in den Lehrplänen erforderlich.
Freiräume in den Lehrplänen
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Nicht nur für eine anzustrebende Interdisziplinarität eines Projekts ist man auf die Kooperationsbereitschaft des Lehrerkollegiums angewiesen.
Kooperationsbereitschaft des Lehrerkollegiums
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Nicht jedes physikalische Thema der gegenwärtigen Lehrpläne eignet sich für ein Projekt. Nach einer didaktischen Analyse (s. Kap. 2) erweist es sich, ob zu einem Thema mehrere rele-
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4 Methoden im Physikunterricht vante Sinneinheiten entwickelt werden können. Im Idealfall soll diese Untergliederung in Sinneinheiten durch die Schüler selbst erfolgen. Bei geringer Projekterfahrung der Schüler werden solche Teilthemen vom Lehrer vorgeschlagen. •
Es können juristische Probleme auftauchen, wenn z. B. bei außerschulischen Aktivitäten die Aufsichtspflicht berührt wird. Derlei Angelegenheiten müssen im Voraus mit den Erziehungsberechtigten und der Schulleitung abgeklärt werden.
Keine Noten in Projekten
•
Es widerspricht der Projektidee, Einzelleistungen bzw. Gruppenleistungen zu benoten. Eine Entscheidung, während des Projekts einen „notenfreien Raum“ einzurichten, kann immer noch auf Widerstände im Lehrerkollegium und bei den Eltern stoßen.
Nacharbeiten zu einem Projekt:
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Schulische Erfahrungen deuten an, dass durch Projekte kein zusammenhängendes physikalisches Wissen vermittelt wird. Ein Projekt verfolgt eher Leit-, Richt- und Grobziele (Verständnis allgemeiner Zusammenhänge, Verständnis grundlegender physikalischer Begriffe und Gesetze) als Feinziele (Wissen von Fakten, Fachausdrücken, Gesetzen). Das bedeutet, dass es sinnvoll ist, ein Projekt nachzuarbeiten, d. h. nach dem Projekt notwendige physikalische Zusammenhänge herzustellen und relevante Begriffe zu vertiefen und zu integrieren.
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Frey (1982) hält nach jedem „Schritt“ seines Grundmusters einen Abschluss des Projekts für möglich. Ich meine, ein Projekt sollte nicht frühzeitig scheitern; es sollte immer ein bewusster Abschluss angestrebt werden. Durch die Präsentation der Produkte und der anschließenden Reflexion des Projekts erfahren die Schüler die Sinnhaftigkeit ihres Projekts und werden zu weiteren ähnlichen Aktivitäten im außerschulischen Raum angeregt.
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Mit zunehmender Projekterfahrung wird eine Lehrkraft das notwendige Maß an Selbstvertrauen und Gelassenheit entwickeln, um ein so komplexes Unterrichtsvorhaben in einer angemessenen Form zu koordinieren und zu organisieren, als „Mädchen für alles“ einzuspringen und dabei Ruhe auszustrahlen, den Überblick zu bewahren. Sie werden es schaffen!
Physikalische Zusammenhänge herstellen Grundlegende physikalische Begriffe vertiefen Ein Projekt sollte nicht scheitern!
4.1.4 Die Unterrichtseinheit – der Kurs Nach der Diskussion verschiedener Formen des offenen Unterrichts wird der traditionelle Regelunterricht betrachtet. Diesem liegt ein Kurssystem zugrund, das aus Unterrichtseinheiten besteht.
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Schon im ausgehenden 18. Jahrhundert wurde von Schleyermacher gefordert, den Lernstoff in Sinneinheiten anzuordnen und entsprechend zu lehren. Solche Sinneinheiten können nur einzelne Unterrichtsstunden dauern, sie können sich aber auch über einen Schultag, eine Schulwoche, über Monate erstrecken. Seit der Curriculumreform der 60er-Jahre ist dafür der Ausdruck „Unterrichtseinheit“ üblich. Unterrichtseinheiten, wie z. B. die am IPN entwickelten Unterrichtseinheiten für den Physikunterricht der Sekundarstufe I, müssen nicht der Fachlogik folgen, wie Sie es von den Physikvorlesungen her kennen. Die Konzeption und der Aufbau einer Unterrichtseinheit folgen allgemeinen pädagogischen, psychologischen und fachlichen Kriterien. Diese Unterrichtseinheiten können fachspezifisch, fachüberschreitend, fächerüberschreitend sein und dabei verschiedene Sozialformen fördern und pflegen. 2. Das Kurssystem wurde in der Bundesrepublik im Zusammenhang mit der Reform der gymnasialen Oberstufe in den 70er-Jahren eingeführt, um individuelle Begabungen und Interessen besser zu fördern als im traditionellen Frontalunterricht. Diese Förderung wird auch dadurch noch verstärkt, dass eine kleinere Anzahl an Lernenden einen Kurs bilden und sich daher eine Lehrkraft intensiver um einzelne Schülerinnen und Schüler kümmern kann. Charakteristisch für einen Kurs ist seine u. U. sehr spezielle Thematik, sein zeitlicher Umfang und seine Zusammensetzung: Im Kurssystem der gymnasialen Oberstufe dauert ein Kurs i. Allg. ein halbes Schuljahr; die Kurse an der Universität erstrecken sich über ein Semester, aber unter Umständen auch nur über eine oder zwei Wochen oder sogar nur über ein verlängertes Wochenende. Die Zusammensetzung der Teilnehmer orientiert sich am jeweiligen Interesse am Fach, aber auch an der sozialen Konstellation innerhalb einer Gruppe (Sympathie oder Antipathie zwischen den Kursteilnehmern) an der individuellen Leistungsfähigkeit der jeweiligen Schülerinnen und Schüler im entsprechenden Fachgebiet, an der fachlichen, didaktischen und sozialen Kompetenz der Lehrkraft. Neben diesem reinen Kurssystem wird ein Kern-Kurssystem unterschieden, wobei es für jedes System eine Vielzahl unterschiedlicher Modelle gibt (vgl. Keim 1987). Das Kern-Kurssystem unterscheidet sich vom Kurssystem dadurch, dass es einen, für alle verpflichtenden Kernunterricht gibt und ergänzend zu diesem je nach Neigung und Begabung Zusatzkurse angeboten werden, von denen allerdings eine festgelegte Mindest-, bzw. Höchstanzahl belegt werden muss. Es wird darauf verzichtet, die Unterschiede beider Konzeptionen und die verschiedenen Realisierungsmöglichkeiten näher zu erörtern.
Unterrichtseinheiten müssen nicht der Fachlogik folgen
Kurssystem soll individuelle Begabungen und Interessen fördern
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4 Methoden im Physikunterricht 3. Vor- und Nachteile eines Kursunterrichtes
Individuelle Neigungen und Begabungen können besser gefördert werden
Viele Arbeiten, die für „Jugend forscht“ eingereicht werden, haben ihren Ursprung in Kursen oder kursähnlichen Arbeitsgemeinschaften an den Schulen. Zweifellos können durch die Wahl bzw. die Abwahl von Fächern individuelle Neigungen und Begabungen grundsätzlich besser gefördert und entwickelt werden. Wenn jahrgangsübergreifende Kursbelegungen möglich sind, entstehen neue soziale Beziehungen unter den Schülern. Durch die Wahlfreiheit der Lernenden werden demokratische Elemente in die bisher hierarchisch aufgebaute Schule hineingebracht. Da die schulischen und sozialen Folgen der Kurswahl unmittelbar erlebt werden, sind Schüler gezwungen, vor einer Entscheidung Vorund Nachteile, Komplikationen und Konsequenzen gründlich abzuwägen. Da Sympathie oder auch Abneigung zwischen Lehrern und Schülern einen ganz erheblichen Einfluss auf das Unterrichtsklima und damit auf den Lernerfolg hat, ist es im Interesse aller, wenn sich Lernende über die Kurswahl für die Lehrenden entscheiden können, mit deren Art des Umgangs und des Lehrstils sie am besten zurechtkommen. Mit der Wahlfreiheit ist auch eine Reihe von Problemen verbunden (vgl. Keim 1987): Im Falle einer mangelnden Beratung von Schülern und Eltern bei gleichzeitigem vielfältigen Kursangebot besteht die Gefahr der Überforderung der Jugendlichen bei der Auswahl der für sie geeigneten und sich sinnvoll ergänzenden Kurse. Weiterhin führt Keim (1987) an, dass die Auflösung der festen Klassenverbände eine Gemeinschaftsbildung beeinträchtigen kann und zur Zersplitterung des sozialen Umfeldes der Schüler führt. Das gelegentlich angeführte Argument, in einem Kurs würden soziale Lernziele zu kurz kommen, mag die Schulwirklichkeit treffend charakterisieren. Falls in Physikkursen Gruppenunterricht oder Projektunterricht praktiziert wird und somit auch Lernziele gefördert werden, die über den kognitiven Bereich hinausgehen (z. B. soziale Lernziele), ist obiges Argument irrelevant.
Kurssystem erfordert einen auf Aufklärung und Selbstbestimmung ausgerichteten Lehrplan
Allerdings: Ein noch so durchdachtes Kursmodell ist unzureichend, wenn es parallel dazu an einem auf Aufklärung und Selbstbestimmung hin ausgerichteten Lehrplan fehlt. Daher betrachtet Keim (1987) das 1972 von der Kultusministerkonferenz beschlossene Kurssystem für die gymnasiale Oberstufe als zum Scheitern verurteilt, da diesem weder bildungspolitische Rahmenbedingungen noch ein pädagogisch durchdachtes Konzept zugrunde liegt.
4.2 Unterrichtskonzepte des Physikunterrichts 861 862 863 864 865 866 867 868 869 870 871 872 873 874 875 876 877 878 879 880 881 882 883 884 885 886 887 888 889 890 891 892 893 894 895 896 897 898 899 900 901 902 903
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4.2 Unterrichtskonzepte des Physikunterrichts Unterrichtskonzepte des Physikunterrichts thematisieren vor allem die Form und Art der Wissensvermittlung und des Verstehens, dem Grundanliegen Martin Wagenscheins. Dessen Verständnis von „Verstehen“ erfordert genetischen, exemplarischen und sokratischen Unterricht (Wagenschein 1968). Wenn ich hier den exemplarischen und den genetischen Unterricht näher charakterisiere, ist dies allerdings mehr als eine bloße Referenz für diesen bedeutenden Physikdidaktiker im 20. Jahrhundert. Es ist offensichtlich, dass eine pädagogisch orientierte Physikdidaktik auch in Zukunft primär subjektorientiert im Sinne Wagenscheins sein muss. Andererseits hat die Entwicklung und weite Verbreitung der neuen Medien zu wesentlichen Änderungen in der Gesellschaft geführt, auch zu Änderungen für die Bedeutung von Wissen, für den Umgang mit Wissen, für den Erwerb von Wissen und für das Verständnis von Wissen. Physikunterricht muss diese Medien einsetzen (s. Kap. 5), muss auch instruktionsorientiert sein, wie z. B. im „darbietenden Unterricht“.
Physikunterricht muss auch in Zukunft subjektorientiert sein Physikunterricht muss auch instruktionsorientiert sein.
4.2.1 Exemplarischer Unterricht 1. Der Physiker Ernst Mach forderte angesichts des ständig und immer rasanter anwachsenden Wissens in seiner Disziplin „exemplarisches Lehren“. In den 1950-er Jahren führte Martin Wagenschein diesen Begriff in die pädagogische und didaktische Diskussion ein. Es ist vor allem ein Auswahlprinzip eines Lehrfaches für didaktisch relevante Inhalte. Im Falle des Schulfaches Physik entstammen solche besonders wichtigen Inhalte vor allem der begrifflichen, der methodischen und der Metastruktur der Physik (s. Abschnitt 1.2). Diese Inhalte werden repräsentativ für viele weitere ähnliche Inhalte im Unterricht thematisiert (s. z. B. Köhnlein 1982, 135). Am besonderen Beispiel sollen allgemeine Züge der Physik erarbeitet, verstanden und auf weitere Beispiele übertragen werden, etwa die Bedeutung von Messungen, von Messungenauigkeiten, von Experimenten in der Physik. Dabei reicht nicht immer ein einzelnes Beispiel. Nur wenn „das vergleichende Erforschen der Variationsmöglichkeiten eines Beispiels und die Heraushebung des Gemeinsamen als eine Vermutung oder ein methodisches Prinzip“ (Köhnlein 1982, 9) möglich ist und auch realisiert wird, ist das Beispiel nicht nur ein isolierter Sachverhalt, sondern der Kern der exemplarischen Methode. Dabei entsteht eine Beziehung zwischen einem Lerngegenstand
Gründlichkeit durch Selbstbeschränkung
Allgemeine Züge der Physik sollen erarbeitet, verstanden und auf weitere Beispiele übertragen werden
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Kern der exemplarischen Methode
Intensives Arbeiten Gründliches Verstehen Querverbindungen zwischen Einzelphänomenen
Genetisch-exemplarische Unterricht : „Brückenpfeiler“ Informierender Interricht: „Brückenbögen“
Einführende Beispiele sind notwendig
4 Methoden im Physikunterricht und einem Lernenden. Das heißt, eine solche Lernsituation ist exemplarisch für etwas und für jemanden (s. Köhnlein 1982, 8 f.). Dabei ist das exemplarische Betrachten das Gegenteil des Spezialistentums. Es sucht im Einzelnen das Ganze (s. Wagenschein 1968, 12 f.). Exemplarisches Lehren bewirkt insofern Zeitgewinn, weil Physik nicht mehr umfassend, möglichst vollständig gelehrt wird. Die dadurch gewonnene Zeit wird von den Schülern intensiv genutzt, um einen exemplarischen Inhalt gründlich zu verstehen, exemplarisch zu lernen. Für Lehrende und Lernende ist aber noch eine weitere Arbeit zu leisten. Zum Verstehen gehört auch das Wissen um die Querverbindungen zwischen Einzelphänomenen. Das führt zum Durchschauen komplizierterer Zusammenhänge und letztendlich zur Ausbildung des naturwissenschaftlichen Weltbildes. Es müssen die „Einzelkristalle des Verstehens“ (Wagenschein 19764, 207) zusammengefügt werden, so dass für die Lernenden ein authentisches Bild der Wissenschaft Physik entsteht. Dieses besitzt Relevanz für die Lebenswelt, d. h. für die Gesellschaft und für das Weltbild und den Lebensstil der Individuen. Das bedeutet dann auch, dass wichtige technische Geräte wie der Computer im Physikunterricht ebenfalls exemplarisch thematisiert werden. Wagenschein hat in seinen Seminaren folgende Analogie verwendet, dadurch auch informierenden Unterricht rechtfertigend: Der genetisch-exemplarische Unterricht entspricht Brückenpfeilern, informierender Unterricht entspricht den Brückenbögen, die die Pfeiler verbinden. 2. Köhnlein (1982, 5 ff.) unterscheidet, illustrierende, „belegende“ (bestätigende) und einführende Beispiele. Es sind die „einführenden“ Beispiele, die für ein erstes Verständnis der Physik unbedingt notwendig sind. Sie sind besonders eng mit dem exemplarischen Unterricht verknüpft. Für die einführenden Begriffsbildungen der Physik gibt es anscheinend gar keine andere Möglichkeit, als sich an überzeugenden, motivierenden Beispielen aus der Lebenswelt der Schüler zu orientieren. Sie werden zunächst auf dem Hintergrund von Alltagserfahrungen mit Hilfe der Umgangssprache interpretiert. Dabei werden originelle Wortschöpfungen der Schülerinnen und Schüler für neue Sachverhalte akzeptiert, von der Klasse übernommen und erst dann durch Fachausdrücke der Physik ersetzt, wenn sie von den Lernenden als notwendig empfunden werden. Für das Entdecken neuer Zusammenhänge, für das Bilden neuer Begriffe, für die Systematisierung des neu Gelernten muss die Möglichkeit zu intensiver Beschäftigung geschaffen werden. Wagenschein hat deshalb „Epochenunterricht“ gefordert, das heißt, dass
4.2 Unterrichtskonzepte des Physikunterrichts 947 948 949 950 951 952 953 954 955 956 957 958 959 960 961 962 963 964 965 966 967 968 969 970 971 972 973 974 975 976 977 978 979 980 981 982 983 984 985 986 987 988 989
allgemeinbildender naturwissenschaftlicher Unterricht in Schwerpunkten unterrichtet wird, in Epochen z. B. von 1 – 3 Wochen: in diesem Zeitraum also nur Physik oder Chemie oder Biologie, 6 – 8 Unterrichtsstunden pro Woche. Die dafür notwendigen organisatorischen Maßnahmen sollten auch in deutschen Regelschulen realisierbar sein.
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In Epochen unterrichten
3. Zusammenfassung: Auch der exemplarische Unterricht benötigt didaktische Vorgaben darüber, was im Physikunterricht relevant ist und was „exemplarisch“ thematisiert werden soll. Die in Kap. 2 dargestellten Ziele gehen über die „Funktionsziele“ Wagenscheins (1965, 257 f.) hinaus. Der exemplarische Unterricht gibt kein Artikulationsschema für den wünschenswerten Verlauf des Unterrichts vor. Exemplarischer Unterricht impliziert: • Konstruktives Auswählen von Themen, aus denen sich typische physikalische Strukturen, Arbeits- und Verfahrensweisen, repräsentative Erkenntnismethoden exemplarisch gewinnen lassen • intensive Auseinandersetzung mit relevanten, motivierenden „physikhaltigen“ Beispielen aus der Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler • die Notwendigkeit, Zusammenhänge herzustellen zwischen den Beispielen, den „Einzelkristallen des Verstehens“ • die organisatorische Maßnahme: Epochenunterricht.
4.2.2 Genetischer Unterricht Die Idee von „natürlichen“ und besonders wirksamen Lehr-/ Lernmethoden reicht, wie Schuldt (1988) skizziert, mindestens bis zu Comenius im 17. Jahrhundert zurück. Man soll „von der Natur lernen und den Wegen nachgehen, die sie bei der Erzeugung der zu längerer Lebensdauer bestimmten Geschöpfe einschlägt“ (Comenius 1960, 107). Die Dinge werden also „am besten, am leichtesten, am sichersten … so erkannt, wie sie entstanden sind“ (Comenius 1960, 139). Diese später „historisch-genetisch“ und „individual-genetisch“ genannten Vorstellungen über das Lernen tauchen auch in der Folgezeit immer wieder auf. Sie orientieren sich an den dominierenden Weltbildern (wie z. B. der Evolutionstheorie) einer Epoche, an psychologischen Theorien (z. B. der genetischen Erkenntnistheorie Piagets) oder normativen pädagogischen Auffassungen („Schule vom
Comenius: Die Dinge werden am besten, am leichtesten, am sichersten so erkannt, wie sie entstanden sind
172 990 991 992 993 994 995 996 997 998 999 1000 1001 1002 1003 1004 1005 1006 1007 1008 1009 1010 1011 1012 1013 1014 1015 1016 1017 1018 1019 1020 1021 1022 1023 1024 1025 1026 1027 1028 1029 1030 1031 1032
4 Methoden im Physikunterricht Kinde aus“) und differenzieren dadurch die ursprünglichen Ideen immer wieder bis in unsere Zeit. Der genetische Unterricht besitzt heute im wesentlichen drei Aspekte (s. z. B. Köhnlein 1982) :
Individualgenetischer Aspekt
• Der individual-genetische Aspekt berücksichtigt Vorwissen, Vorerfahrungen und die entwicklungspsychologischen Möglichkeiten zur Entwicklung von Kenntnissen und Fähigkeiten im Schüler
Logischgenetischer Aspekt
• Der logisch-genetische Aspekt betont das Nachentdecken naturwissenschaftlicher Sachverhalte. Es werden die inneren Strukturen des Lerngegenstandes verstehend nachvollzogen.
Historischgenetischer Aspekt
• Der historisch-genetische Aspekt folgt im wesentlichen dem Prozess der Erkenntnisgewinnung in der Geschichte der Naturwissenschaften. Es wird hier nur der individual-genetische Aspekt erläutert, der schülerorientierten Unterricht bedeutet. Daran schließt sich eine Skizze von Wagenscheins Interpretation von „genetischem Unterricht“ an. 1. Der individual-genetische Unterricht geht von grundlegenden Erfahrungen, von Vorverständnissen, von Weltbildern der Schüler aus. Diese Vorstellungen werden im Unterricht weiter entwickelt und geändert, ohne jedoch zu schnell eine, dem Lernenden noch fremde Methode der Wissensaneignung vorzuschlagen oder anzuordnen (die naturwissenschaftlichen Methoden), unverstandenes Wissen (z. B. physikalische Begriffe) überzustülpen, in verfrühte Fachterminologie zu verfallen. ,,Der Weg des Unterrichts ist nicht der Wissenschaftsgeschichte verpflichtet, sondern sucht didaktisch fruchtbare Situationen nach Maßgabe der sich entwickelnden Fassungskraft und Interessenlage der Schüler“ (Köhnlein 1982, 89).
Alltagsvorstellungen Hierbei kommt den Alltagsvorstellungen, die ein Schüler bisher von einem bestimmten Thema hat eine besondere Bedeutung zu. In Kap. berücksichtigen 18 sind Möglichkeiten diskutiert, wie Lehrer angemessen mit solchen Vorstellungen umgehen können Wagenschein: 2. Wagenschein (1968) fasst den Begriff „genetischer Unterricht“ „Genetisch“ beweiter als zuvor skizziert und führt aus: deutet genetisch, „ ‚Genetisch‘ bedeutet genetisch – sokratisch – exemplarisch. ... Die sokratisch, sokratische Methode gehört dazu, weil das Werden, das Erwachen exemplarisch geistiger Kräfte, sich am wirksamsten im Gespräch vollzieht. Das exemplarische Prinzip gehört dazu, weil ein genetisch-sokratisches An AlltagsvorVerfahren sich auf exemplarische Themenkreise beschränken muss stellungen und auch kann“ (Wagenschein 1968, 55). Wie Sokrates in seinen anknüpfen genügt berühmten Dialogen, so soll auch der Lehrer das Gespräch mit den nicht
4.2 Unterrichtskonzepte des Physikunterrichts 1033 1034 1035 1036 1037 1038 1039 1040 1041 1042 1043 1044 1045 1046 1047 1048 1049 1050 1051 1052 1053 1054 1055 1056 1057 1058 1059 1060 1061 1062 1063 1064 1065 1066 1067 1068 1069 1070 1071 1072 1073 1074 1075
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Schülern führen: nicht dozierend, dogmatisch, sondern als einen Dialog mit Zeit zum Nachdenken, ein Herantasten an die Begriffe. Die Initiative muss beim Schüler bleiben, um zu vermeiden, dass dieser nur leere Worthülsen von sich gibt, ohne deren Inhalt wirklich zu verstehen. Wichtig ist nicht ein bestimmter Begriff, sondern der Weg, der zur Begriffsbildung führt. „Die Begriffe sollen erst benutzt werden, wenn sie sich im forschenden Lernen im Geist des Schülers konstituiert haben“ (Schuldt 1988, 12). Für Wagenschein ist genetischer Unterricht mehr als eine Methode. Es ist für ihn Pädagogik, weil diese mit dem werdenden Menschen und mit dem Werden des Wissens in ihm zu tun hat. Das Kind ist schon auf dem Wege zur Physik, ,,wir brauchen ihm also nur entgegenzukommen und es abzuholen da, wo es von sich aus gerade steht, wir werden die Physik in ihm auslösen“ (Wagenschein 19764, 73). Ist ein Kind schon „auf dem Wege zur Physik“, die man als Lehrender durch genetischen Unterricht nur noch auslösen muss? Wagenscheins Auffassung ist umstritten (Redeker 1978). Wagenscheins ,,genetischer Unterricht versucht einen bruchlosen Übergang von den vorwissenschaftlichen Erfahrungen zu den wissenschaftlich abgesicherten Erkenntnissen in einem Prozess zunehmenden Verstehens. Verstehen heißt verbinden, zu adäquaten Erklärungen kommen, Zusammenhänge herstellen und schließlich: einen Sachverhalt in Gedanken nach den Regeln und unter dem Aspekt des Faches nachkonstruieren. Indem der genetische Weg zeigt, wie man zu bestimmten Ergebnissen kommt (und kommen konnte), ist er für die Erhaltung der Motivation, für das Behalten und für den Transfer von größter Bedeutung“ (Köhnlein 1982, 95) . Wagenschein fasst die Vorteile des genetischen Lehrens zusammen: „1. Es bemüht sich um die ,,Einwurzelung“ (im Sinne Simone Weils), ohne die es keine Formatio (= Bildung) gibt. Denn Spaltung der Person ist der Gegensatz zur Bildung. 2. Es lehrt zuerst das produktive Suchen, Finden und das kritische Prüfen und gibt damit ein authentisches Bild der lebenden Wissenschaft. 3. Es macht Gebrauch von der angeborenen Denk- und Lernlust des Kindes. Daher sein hoher Wirkungsgrad“ (Wagenschein 1968, 93). 3. Zusammenfassende Bemerkungen: 1. Genetischer Unterricht ist schülerorientiert in doppelter Weise: im Hinblick auf die individuellen Lernvoraussetzungen im weitesten
Wagenschein: Genetischer Unterricht versucht einen bruchlosen Übergang von vorwissenschaftlichen Erfahrungen hin zur Physik
174 1076 1077 1078 1079 1080 1081 1082 1083 1084 1085 1086 1087 1088 1089 1090 1091 1092 1093 1094 1095 1096 1097 1098 1099 1100 1101 1102 1103 1104 1105 1106 1107 1108 1109 1110 1111 1112 1113 1114 1115 1116 1117 1118
4 Methoden im Physikunterricht Sinne und im Hinblick auf die individuelle Genese der Physik unter Mitwirkung von Lernenden und Lehrenden.
Alltagsvorstellungen sind wesentliche Lernvoraussetzungen
2. Als besonders relevante Lernvoraussetzungen haben sich die Alltagsvorstellungen der Schüler über physikalische Begriffe, Methoden, Weltbilder herausgestellt. Durch internationale Forschung sind diese Voraussetzungen des Physiklernens zwar weitgehend bekannt, ihre volle Bedeutung werden diese Forschungsergebnisse erst dann erlangen, wenn sie im Physikunterricht verwendet werden. 3. Die Änderung der in der Lebenswelt verankerten Alltagsvorstellungen ist sehr schwierig; sie kann durch genetischen Unterricht (i. S. Wagenscheins) erfolgen. Über diese Form des Physiklernens gibt es zahlreiche Dokumente über erfolgreich erscheinenden Unterricht (z. B. Wagenschein, Banholzer & Thiel (1973)), aber keine systematischen empirischen Forschungen bzw. Forschungsergebnisse.
4. Bisher erscheint der notwendig sensible, feinabgestimmte, sich abwechselnde Einsatz des exemplarischen, sokratischen, genetischen Genetischer Lernens verhältnismäßig wenigen „geborenen“ Lehrerinnen und Unterricht als Lehrern möglich zu sein. Durch die Kenntnis vieler relevanter Allphysikmethodisches tagsvorstellungen (s. Duit 2006) und durch die Forschungsergebnisse Basiskonzept der über Bedeutungsänderungen von Begriffen und Begriffssystemen Lehrerbildung („conceptual change“) besteht die Aussicht, „genetischen Unterricht“ als physikmethodisches Basiskonzept in die Lehrerbildung aufzunehmen. 5. Genetischer Unterricht erfordert eine Umdeutung der Lehrerrolle. Lehrkräfte sind keine Instruktoren sondern in erster Linie Moderatoren von Lernprozessen im weitesten Sinne. 6. Die Bezeichnung „genetischer Unterricht“ ist auf den deutschen Sprachraum beschränkt. Dieser Ausdruck wird beibehalten als Metapher für „humanes Lernen der Physik“ (s.1.5.2).
4.2.3 Entdeckender Unterricht Entdeckender Unterricht basiert einerseits auf der Lernpsychologie Bruners (1970), andererseits kann dieses schülerorientierte (u.a.) physikmethodische Konzept auch durch pädagogische Ideen etwa der Reformpädagogik begründet werden. Im schulischen Kontext bedeutet „entdecken“ natürlich nicht physikalische Forschung mit neuen Ergebnissen, sondern subjektiv Neues für Lernende. Wenn Hinweise, Ratschläge oder Anweisungen für den Entdeckungsprozess von Lehrenden gegeben werden, spricht
4.2 Unterrichtskonzepte des Physikunterrichts 1119 1120 1121 1122 1123 1124 1125 1126 1127 1128 1129 1130 1131 1132 1133 1134 1135 1136 1137 1138 1139 1140 1141 1142 1143 1144 1145 1146 1147 1148 1149 1150 1151 1152 1153 1154 1155 1156 1157 1158 1159 1160 1161
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man von „gelenkter Entdeckung“. Fehlen solche Hilfen, wird der Ausdruck „forschen“ bzw. „Forschender Unterricht“ verwendet. 1. In die lernpsychologische Begründung des „entdeckenden Lernens“ gehen folgende Hypothesen ein (s. Ausubel u.a. 19813): • Das entdeckende Lernen erzeugt in einzigartiger Weise Motivation und Selbstvertrauen. • Das entdeckende Lernen ist die wichtigste Quelle für intrinsische Motivation.
Lernpsychologische Begründung des entdeckenden Lernens
• Entdeckendes Lernen sichert das Gelernte langfristig im Gedächtnis. • Die Entdeckungsmethode ist die Hauptmethode der Vermittlung von Fachwissen. • Die Entdeckung ist eine notwendige Voraussetzung, um vielfältige Problemlösetechniken zu lernen. Diese von Kritikern des entdeckenden Lernens zugespitzten Hypothesen wurden relativiert und das methodische Konzept des sinnvoll übernehmenden Unterrichts (Ausubel 1974) dagegen gesetzt, eine Form des darbietenden Unterrichts (s. 4.2.4). Hier wird argumentiert, dass aus didaktischen Gründen beide methodischen Konzepte und die damit zusammenhängenden Unterrichtsformen (Unterrichtsverfahren) im Physikunterricht sinnvoll und notwendig sind. 2. Wir gehen davon, dass Kinder i. Allg. neugierig sind und wir nehmen an, dass entdeckendes Lernen besonders geeignet ist, diese Neugierde zu befriedigen. Dabei lernen die Kinder und Jugendlichen vor allem Methodisches, naturwissenschaftliche Fähigkeiten und Fertigkeiten (Prozessziele) wie genaues Beobachten, sorgfältiges Experimentieren – eine didaktisch reduzierte methodische Struktur der Physik. Entdeckendes Lernen geschieht in den Sozialformen Gruppenunterricht und individualisierter Unterricht. Damit sind soziale Ziele involviert wie Zusammenarbeit und Hilfsbereitschaft, Einstellungen wie Flexibilität und Ausdauer bei der Lösung von physikalisch-technischen Problemen, Werthaltungen wie „Freude an der Physik“. Erfolgserlebnisse beim entdeckenden Lernen stärken das Selbstbewusstsein, können zur „Ich-Identität“ beitragen (s. 4.4). Diese Fülle relevanter Ziele ist dafür maßgebend, dass entdeckendes Lernen als unverzichtbar für den Physikunterricht gehalten wird. In welchem Maße Bruners lernpsychologische Hypothesen hinreichend empirisch bestätigt sind, ist daher nachgeordnet.
Im Physikunterricht sind entdeckendes und sinnvoll übernehmendes Lernen wichtig Ziele des entdeckenden Unterrichts
Entdeckendes Lernen ist unverzichtbar für den Physikunterricht
176 1162 1163 1164 1165 1166 1167 1168 1169 1170 1171 1172 1173 1174 1175 1176 1177 1178 1179 1180 1181 1182 1183 1184 1185 1186 1187 1188 1189 1190 1191 1192 1193 1194 1195 1196 1197 1198 1199 1200 1201 1202 1203 1204
4 Methoden im Physikunterricht 3. Entdeckender Unterricht lässt sich stichwortartig wie folgt charakterisieren: Schülerorientierter Unterricht Unterrichtsziele • Prozessziele: Erlernen physikalischer Denk- und Arbeitsweisen • soziale Ziele (Gruppenarbeit): Persönlichkeitsentwicklung, Kommunikationsfähigkeit • unmittelbare Realitätserfahrung durch Schülerversuche (führt nicht unbedingt zu besseren Lernergebnissen) • Erfolgserlebnisse (intrinsische Motivation, führt zu längerfristigem Interesse) Organisation • Vorbereitung: Schülerarbeitsmittel bereitstellen; (oft Ausstattungs- und Zeitproblem) • Planung: längerfristige Grobplanung • Unterrichtsorganisation: Epochenunterricht (mind. Doppelstunde); Schüler agieren, Lehrer berät nur bei Problemen; Unterrichtsverlauf offen Implizite Probleme • zeitlicher Aufwand • Lehrplanerfüllung • organisatorischer ( evtl. auch finanzieller) Aufwand • Oberflächliche Begriffsbildung (?!)
4.2.4 Darbietender Unterricht Darbietender Physikunterricht hängt eng mit rezeptivem Lernen zusammen, mit Wissenserwerb, in dem der Lehrervortrag und ein dazu sinnvolles Demonstrationsexperiment eine wichtige Rolle spielen und in dem die Schüler äußerlich passiv sind. Die dafür typische Sozialform ist der Frontalunterricht (s. 4.4.3).
Sinnvoll übernehmender Unterricht Informationen müssen für Lernende bedeutungsvoll sein
1. Der kanadische Psychologe Ausubel (s. Ausubel u. a. 19813, 30 ff.) wendet sich entschieden gegen eine einseitige Bevorzugung des entdeckenden Lernens. Er hält eine bestimmte Form des rezeptiven Lernens, den sinnvoll übernehmenden Unterricht, vor allem für effektiver als entdeckendes Lernen, wenn es um das Lernen und Behalten von begrifflichen Strukturen (Konzeptziele) geht. Dieses sinnvolle (rezeptive) Lernen unterscheidet sich von mechanischem Lernen dadurch, dass bewusst und gezielt so an das Vorwissen der Lernenden angeknüpft wird, dass die Informationen für den Lernenden eine Bedeutung haben, Sinn machen. Nur dann kann es in der kognitiven Struktur verankert, d. h. dauerhaft behalten werden.
4.2 Unterrichtskonzepte des Physikunterrichts 1205 1206 1207 1208 1209 1210 1211 1212 1213 1214 1215 1216 1217 1218 1219 1220 1221 1222 1223 1224 1225 1226 1227 1228 1229 1230 1231 1232 1233 1234 1235 1236 1237 1238 1239 1240 1241 1242 1243 1244 1245 1246 1247
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Ein einfaches, nichtphysikalisches Beispiel wird Sie überzeugen: Wenn ich Ihnen eine 6-stellige Zahl mit zufällig gewählten Ziffern nenne, können Sie ohne spezielles Training diese Ziffern nach fünf Minuten nicht wiederholen. Die 6-stellige Telefonnummer Ihrer Partnerin oder Ihres Partners können sie sich sehr leicht merken, eben weil diese Information eine Bedeutung für Sie hat.
Ein nichtphysikalisches Beispiel
2. Für darbietenden Unterricht sind spezifische Fähigkeiten des Faches und ihrer Didaktik erforderlich wie zum Beispiel die überzeugende Demonstration von Phänomenen durch souveränes Experimentieren, die Erklärung komplexer Phänomene durch Zerlegen der dazugehörigen Theorie in kleine, aufeinander aufbauende, verständliche Sinneinheiten (s. 3.1.3). Es gehört auch das überzeugende Auftreten der Lehrkraft vor der Klasse dazu, für das es keine allgemeingültigen Regeln gibt. Diese gründliche Einführung in die Praxis des darbietenden Physikunterrichts geschieht gegenwärtig vor allem durch die 2. Phase der Lehrerbildung.
Guter darbietender Unterricht stellt hohe Anforderungen an den Lehrer
3. Darbietender Unterricht in Stichworten: Lehrerorientierter Unterricht • Lehrökonomie: Vorbereitung, Durchführung • Lernökonomie: effektiver Unterricht (?) Unterrichtsziele • Konzeptziele: (Vor allem) begriffliche Struktur der Physik; Aufbau einer relevanten kognitiven Struktur in einer bestimmten Zeit • Förderung der fachlichen Kompetenz der Schüler (dafür spricht, dass die Schüler genauer lernen, dagegen, dass Schüler bei Überforderung oft völlig „abschalten“) Organisation • Vorbereitung: Aufbau und Erprobung von Demonstrationsversuchen • Planung: kurzfristig und detailliert für erfahrene Lehrende • Unterricht: Lehrerversuch und -vortrag, oft fragendentwickelnder Unterricht, Assistenz von Schülern bei Demonstrationsversuchen Implizite Probleme • oft nur verbales Wissen • Motivation (kann sehr gering sein) • Mitarbeit der Schüler (oft nur mäßig) • Verständnisschwierigkeiten (z. B. wegen monotoner Darbietung und/ oder ungeeigneten Elementarisierungen)
Für wichtige Kompetenzen des darbietenden Unterrichts ist Didaktik und Schulpraxis nötig
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4 Methoden im Physikunterricht
4.3 Artikulationsschemata – wie eine Unterrichtsstunde gegliedert wird 4.3.1 Übersicht über einige Artikulationsschemata 1. Eine Unterrichtsstunde ist durch „Phasen“ oder „Stufen“ gegliedert. Dafür wurden im Verlaufe der Geschichte der Pädagogik verschiedene Vorschläge gemacht (s. Meyer 1987a). Wir orientieren uns an dem im deutschen Sprachraum weitgehend akzeptierten Schema von Roth (1963), das fünf Stufen umfasst: Artikulationsschema von Roth
• Stufe der Motivation • Stufe der Schwierigkeiten • Stufe der Lösung • Stufe des Tuns und Ausführens • Stufe des Bereitstellens, der Übertragung, der Integration
Grundschema für die Artikulation einer Unterrichtsstunde
2. Wir fassen diese 5 Stufen für die folgenden Ausführungen zu drei Phasen zusammen und bezeichnen diese Gliederung als Grundschema für die Artikulation einer Unterrichtsstunde: • Motivation (Phase der Motivation und der Problemstellung) • Erarbeitung (Phase der Problemlösung) • Vertiefung (Phase der Integration, des Behaltens, des Transfers, der Anwendung) .
„Einstieg“ in den Physikunterricht
In der Phase der Motivation wird versucht, die Schüler für ein bestimmtes Problem zu interessieren, dieses Problem zu strukturieren und allen Schülern verständlich zu machen, so dass die Schüler sinnvolle Hypothesen bilden können. Dies geschieht durch einen dem Thema, den Zielsetzungen, der Klassensituation, den Vorkenntnissen und den Schülervorstellungen angemessenen „Einstieg“. In der Phase der Motivation muss den Schülern genügend Zeit zur Verfügung stehen, um Ideen für Problemlösungen ungeprüft, man könnte fast sagen, unkritisch aufzustellen und zunächst auch dann beizubehalten, wenn sie von Mitschülern kritisiert oder abgelehnt werden. In der anschließenden Phase der Erarbeitung werden die Lerninhalte von den Schülern selbst erarbeitet oder vom Lehrer dargeboten. Im Physikunterricht spielen hier Experimente eine zentrale Rolle. Schließlich wird in der Phase der Vertiefung das Gelernte geübt, um es dauerhaft zu behalten, außerdem angewendet und Zusammenhänge mit dem Vorwissen und den Vorerfahrungen hergestellt.
4.3 Artikulationsschemata – wie eine Unterrichtsstunde gegliedert wird 1291 1292 1293 1294 1295 1296 1297 1298 1299 1300 1301 1302 1303 1304 1305 1306 1307 1308 1309 1310 1311 1312 1313 1314 1315 1316 1317 1318 1319 1320 1321 1322 1323 1324 1325 1326 1327 1328 1329 1330 1331 1332 1333
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Ich halte das Grundschema zumindest in der 1. Phase der Lehrerbildung für hinreichend. Es ist außerdem relevant, weil es nicht fachspezifisch ist. Es wird in diesem Abschnitt noch ausführlich erläutert. 3. Spezifischer auf den naturwissenschaftlichen Unterricht bezogen ist der sogenannte „Problemlösende Unterricht“. Hierzu existieren lokal in Studienseminaren entwickelte Artikulationsschemata, die sich in der Anzahl der Phasen unterscheiden. Wir ordnen den „Problemlösenden Unterricht“ dem entdeckenden Unterricht zu. Man müsste etwas genauer von „gelenkt entdeckendem Unterricht“ sprechen, weil die Lehrkraft den Ablauf wesentlich beeinflusst. Problemlösender Unterricht (vgl. Schmidkunz – Lindemann (1992)) Phasen 1. Problemgewinnung
2. Überlegungen zur Problemlösung 3. Durchführung eines Lösungsvorschlages 4
Abstraktion der gewonnenen Erkenntnisse 5. Wissenssicherung und Anwendung
Didaktische Strukturierung 1a: Problemgrund 1b: Problemerfassung (Problemfindung, -stellung) 1c: Problemerkenntnis, Problemformulierung 2a: Analyse des Problems 2b: Lösungsvorschläge 2c: Entscheidung für einen Lösungsvorschlag 3a: Planung des experimentellen Lösevorhabens 3b: Praktische Durchführung des Lösevorhabens 3c: Diskussion der Ergebnisse 4a: Ikonische Abstraktion (graf. Darstellung) 4b: Verbale Abstraktion (physik. Gesetz) 4c: Symbolische Abstraktion (physik. Gesetz) 5a: Anwendungsbeispiele 5b: Wiederholung (Festigung) 5c: Messung des Unterrichtserfolgs
Weitere Formen des entdeckenden Unterrichts sind der „nacherfindende Unterricht“ und die „Modellmethode“. Für letztere liegt auch ein Artikulationsschema vor (s. Kircher 1995, 205 ff.). 4. Der „sinnvoll übernehmende Unterricht“ ist die wichtigste Form des darbietenden Unterrichts. Er folgt dem allgemeinen didaktischen Prinzip „vom Allgemeinen zum Besonderen“ und ähnelt dadurch dem „analytischen Verfahren“. Eine Besonderheit des darbietenden Unterrichts sind sogenannte Vorausorganisatoren („advance organizer“), die die Kluft überbrücken zwischen dem Vorwissen und dem
Artikulationsschema für „Problemlösenden Unterricht“
Formen des darbietenden Unterrichts Sinnvoll übernehmender Unterricht
180 1334 1335 1336 1337 1338 1339 1340 1341 1342 1343 1344 1345 1346 1347 1348 1349 1350 1351 1352 1353 1354 1355 1356 1357 1358 1359 1360 1361 1362 1363 1364 1365 1366 1367 1368 1369 1370 1371 1372 1373 1374 1375 1376
4 Methoden im Physikunterricht was neu gelernt werden soll. Ein Advance Organizer ist eine Art „Überblick“, der das Lernziel, den Inhalt, vielleicht die Arbeitsmethode und die Arbeitsschritte allgemein umschreibt (Peterßen 1997, 120 f.). Der Advance Organizer kann auch ein Vergleich sein, der den Schülern verständlich ist, etwa der Vergleich der Elektrizität mit Wasser, bzw. des elektrischen Stromkreises mit dem Wasserstromkreis (s. 3.3.2). Aufgrund der von Ausubel (1974) genannten Merkmale wird das folgende Artikulationsschema rekonstruiert :
Artikulationsschema für sinnvoll übernehmenden Unterricht
Einstieg: Advance Organizer (Überblick, Vergleich) Erarbeitung (Darbietung des organisierten Lernmaterials (Lernstoff) durch den Lehrer): • Fortschreitende Differenzierung des Themas/ des Vergleichs: Von qualitativen Aussagen zu quantitativen, von physikalischen Eigenschaften zu metrischen Begriffen, Fakten, Gesetzen durch eine Folge kleiner Sinneinheiten, die einer „inneren Logik“ (Ausubel 1974, 362 f.) folgen. • Festigung während der fortschreitenden Differenzierung: In einer Folge von Sinneinheiten wird erst dann zur nächsten Sinneinheit fortgeschritten, wenn die zuletzt behandelte klar, gut organisiert und stabil in der kognitiven Struktur verankert ist. • Integrative Aussöhnung: Ähnliche Begriffe (aus Schülersicht) werden getrennt eingeführt (z. B. Stromstärke und Spannung) und danach verglichen und „integrativ ausgesöhnt“ (im Beispiel durch das ohmsche Gesetz). Vertiefung: Ähnliche Aufgaben und Beispiele (horizontaler Transfer) und Problemlösen (vertikaler Transfer). Weitere Formen des darbietenden Unterrichts sind der „synthetische (aufbauende)“, der „analytische (zergliedernde)“ Unterricht, der „fragend-entwickelnde“ Unterricht.
Methodenkompetenz der Lehrer
5. Der methodenkompetente Lehrer verfügt auch im Unterricht über mehrere Artikulationsschemata. Lehranfänger sollten versuchen, derartige Schemata nach und nach flexibel anzuwenden. Bezogen auf das Grundschema bedeutet dies, dass Lehrer verschiedene Arten des Einstiegs beherrschen, verschiedene methodische Möglichkeiten in der Phase der Erarbeitung einsetzen (z. B. Schüler- und Demonstrationsexperimente, Analogversuche) und in der Phase der Vertiefung herkömmliche und neue Medien sinnvoll nutzen. Im Verlauf zunehmender Schulerfahrung entstehen „Mischformen“ zwischen entdeckendem und darbietendem Unterricht, Unterrichtsabschnitte, die eher lehrer- bzw. schülerorientiert sind.
4.3 Artikulationsschemata – wie eine Unterrichtsstunde gegliedert wird Für die drei Phasen des Unterrichts wird kein festes Zeitmaß festgelegt, etwa 10 Minuten „Einstieg“, 20 Minuten „Erarbeitung“ und 15 Minuten „Vertiefung“. Die Dauer der verschiedenen Phasen sollte von der motivierenden Wirkung und der Komplexität des Lerngegenstandes sowie von der Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft der Schülerinnen und Schüler abhängig gemacht werden.
Keine festen Zeitvorgaben für die Phasen des Unterrichts
4.3.2 Die Phase der Motivation
Informationssuche
1. Der amerikanische Psychologe Berlyne spricht im Zusammenhang mit dem Wecken des Schülerinteresses durch ungewöhnliche und überraschende Vorgänge und Phänomene von der Motivation durch einen kognitiven Konflikt (s. Lind 1975). Ein kognitiver Konflikt entsteht ganz allgemein gesagt dann, wenn das Wahrgenommene mit dem bisherigen Wissen, den bisherigen Erfahrungen nicht übereinstimmt. Die Wahrnehmung wird dann als ungewöhnlich oder überraschend empfunden. Diese Theorie kann man sich durch folgende graphische Darstellung veranschaulichen:
ablehnung
Stärke des kogn. Konflikts
Informations-
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Abb. 4.2: Veranschaulichung von Berlynes Theorie des kognitiven Konflikts Wenn die Stärke des kognitiven Konflikts zunimmt, dann nimmt zunächst auch die Informationssuche zu bis zu einem Maximum. Wird die Stärke des kognitiven Konflikts weiter erhöht, dann nimmt die Informationssuche wieder ab und schlägt schließlich sogar ins Negative um. Das bedeutet Weigerung nach weiterer Informationssuche, eine weitere Beschäftigung mit dem Thema wird abgelehnt.
Motivation durch einen kognitiven Konflikt
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4 Methoden im Physikunterricht Berlyne nennt fünf Situationen (Lind 1975, 97), die geeignet sind, um einen kognitiven Konflikt zu erreichen. Die Situationen werden durch physikalische Beispiele erläutert.
Situationen für kognitive Konflikte
1.Überraschung: Konflikt zwischen Erwartung und Beobachtung. Beispiel: Aus einer Milchdose fließt keine Milch, wenn die Dose nur ein Loch besitzt und umgedreht wird 2. Zweifel: Konflikt zwischen Glauben und Nichtglauben. Beispiel: Behauptungen des Lehrers: ,,Hans (25 kg) kann mit Fritz (50 kg) wippen“. 3. Ungewissheit: Mehrere Lösungen eines Problems scheinen möglich, aber welche ist die richtige? Gibt es mehrere Lösungen? Beispiel: Hat Licht Wellencharakter (Huygens) oder Korpuskelcharakter (Newton)? 4. Widerstreitende Anforderungen: Konflikt zwischen verschiedenen, sich widersprechenden Anforderungen hinsichtlich der Problemlösung Beispiel: Ein Auto soll komfortabel, billig und energiesparend sein 5. Direkter Widerspruch: Ein kognitiver Konflikt kann entstehen, wenn eine angenommene allgemeine Gültigkeit einer physikalischen Regel durch ein Experiment /eine bewährte Theorie widerlegt ist. Beispiel: Ein Körper wird mit 10 m/s2 beschleunigt. Wie groß ist seine Geschwindigkeit nach 10 000 Stunden? 3,6 · 108 m/s ist aber größer als die Lichtgeschwindigkeit!
Kognitive Konflikte auslösen können: - Neuheit, - Inkongruität, - Komplexität, - Unsicherheit
Konflikt auslösend können also nach Berlynes Motivationstheorie die Unterrichtsgegenstände dann sein, wenn sie die Gegenstandsvariablen Neuheit, Nichtübereinstimmung (Inkongruität), Komplexität und Unsicherheit aufweisen. Natürlich wird Unterricht nicht allein dadurch erfolgreich, wenn punktuell etwa allein während des Einstiegs ein kognitiver Konflikt erzeugt wird, sondern nur dann, wenn bei Schülerinnen und Schülern ein dauerhaftes Interesse erzeugt wird, z. B. durch wiederholte Erfolgserlebnisse in selbstständigem Informationssuchen und Problemlösen. 2. Verschiedene Einstiege im Physikunterricht Einstieg über Naturbeobachtung
Einstieg über Naturbeobachtung
Ein Vorgang in der Natur findet häufig das Interesse der Schüler. Man kann hier die Unterscheidung treffen, ob die Beobachtung und die damit verbundene Fragestellung vom Lehrer ausgeht oder von
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Schülern in den Unterricht gebracht werden. Häufig muss der Lehrer Naturbeobachtungen erst ,,frag - würdig“ machen, wie etwa in dem folgenden Beispiel von Wagenschein. Beispiel: Wie weit ist der Mond entfernt? Wagenschein (19764) zeigt exemplarisch, wie durch einfache geometrische Konstruktionen die Entfernung aller nicht zu weit von der Erde entfernten Himmelskörper bestimmt werden kann. Hier wird der kognitive Konflikt vielleicht durch den Zweifel der Schüler erzeugt, wie dieses Problem überhaupt und mit welchen Mitteln von ihnen gelöst werden kann. Einstieg über ein physikalisch- technisches Gerät Bei dem Einstieg über ein physikalisch-technisches Gerät äußern die Schüler z. B. Vermutungen über die Funktion des Geräts, über dessen Inbetriebnahme, über seine Bedeutung usw.. Es wird auf die wesentlichen Funktionen des Gerätes aufmerksam gemacht, die im Verlauf des Unterrichts genauer beobachtet und durch entsprechende Experimente untersucht werden. Das Interesse der Schüler an bestimmten technischen Geräten wird dazu benutzt, um physikalische Denkweise und physikalische Inhalte zu verdeutlichen. Es wird also nicht der übliche Weg beschritten, bei dem zuerst ein physikalisches Prinzip gelernt wird und Technik als Anwendung der Physik dargestellt wird.
Einstieg über ein physikalischtechnisches Gerät
Beispiel: Warum fliegt eine Rakete? Hier wird an dem komplexen technischen Gerät ,,Rakete“ schließlich das 3. newtonsche Axiom (actio = reactio) herausgearbeitet. Einstieg über qualitative Versuche Bei diesem Einstieg geht es darum, durch verschiedenartige Phänomene eines bestimmten Objektbereiches Interesse für diesen zu wecken und mit diesem vorläufig vertraut zu werden. Beispiel: Elektrischer Strom (s. Wagenschein 19764, 276 ff.) Es werden verschiedene Phänomene des elektrischen Stromes demonstriert (Glühen eines Drahtes, Kurzschluss, Lämpchen in verzweigten und nicht verzweigten Stromkreisen). Es wird untersucht, inwieweit diese Phänomene eine Vorstellung vom „Fließen“ der Elektrizität unterstützen. Unter dem Stichwort „Freihandversuche“ werden derzeit qualitative Versuche auch als Einstiege propagiert. Für Freihandversuche werden Materialien aus der Alltagswelt eingesetzt (z. B. eine OHP-Folie,
Einstieg über qualitative Versuche
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4 Methoden im Physikunterricht ein Trinkhalm für elektrostatische Versuche). Für diese Versuche ist kein großes Experimentiergeschick nötig, so dass sie von den Schülern auch zu Hause durchgeführt werden können (s. Hilscher 1998). Einstieg über Schlüsselbegriffe
Einstieg über Schlüsselbegriffe
Beispiel: Was ist elektrischer Strom? Schüler können über grundlegende Begriffe eines thematischen Bereiches (Schlüsselbegriffe) wie z. B. ,,Elektrischer Strom“ oder ,,Elektronen“ motiviert werden, durch direkte Fragen nach den Vorstellungen der Schüler über diese Begriffe, sowie nach der Bedeutung dieser Begriffe: ,,Was ist eigentlich elektrischer Strom, was ist eigentlich ein Elektron, was stellt ihr euch darunter vor?“ Historischer Einstieg
Historischer Einstieg
Wir unterscheiden: Historische Erzählung und historische Quellentexte als Einstieg. Lehrererzählungen tendieren zu Anekdotischem. So im Unterricht charakterisiert und bei entsprechender Begabung des Lehrers für spannende Erzählungen, ist diese Art Einstieg schon in der Grundschule möglich (z. B. „Edison und die Glühlampe“). Historische Quellentexte müssen für Schüler der Sekundarstufe I meistens umgearbeitet werden, um für diese verständlich zu sein. Der Nachteil einer solchen Umarbeitung liegt darin, dass die historische Authentizität verloren gehen kann. Insgesamt ist ein historischer Einstieg erst möglich, wenn bei den Schülern z.B. durch Quellenstudium im Geschichtsunterricht sich Grundlagen für Textinterpretationen gebildet haben. Erst dann kann diese Art des Einstiegs sinnvoll im Physikunterricht eingesetzt werden (am Ende der Sekundarstufe I und in der Sekundarstufe II). Beispiel: Das Beharrungsgesetz (1. newtonsches Axiom) Es wird die Entdeckung des Beharrungsgesetzes in der Geschichte mit Quellentexten von Aristoteles, Kepler, Galilei, u. a. dargestellt (vgl. Wagenschein 19764, 266 ff.). Einstieg über ein aktuelles Problem
Einstieg über ein aktuelles Problem
Im Sinne einiger in Kapitel 1 genannten Zielsetzungen kommt den gegenwärtig in der Gesellschaft diskutierten Problemen dann eine besondere Bedeutung als Einstieg zu, wenn dabei auch physikalisch technisches Wissen zur Lösung herangezogen werden muss. Themen im Zusammenhang mit neuen Medien, der Energieversorgung oder
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mit dem Umweltschutz werden in absehbarer Zeit nicht ihre Aktualität verlieren. Beispiel: ,,Computer verändern unser Leben“. Hier könnten etwa folgende Teilthemen bearbeitet werden: ,,Computer und Freizeit“, ,,Computer und Arbeitsplatz“, ,,Computer und Verwaltung“. Einstieg über ein technisches Problem Wenn im Unterricht die Induktion in Abhängigkeit von der Windungszahl behandelt wurde, kann sich (z. B.) folgende auf technische Lösungen zielende Frage ergeben: ,,Wie können wir Hochspannungen (niedrige Spannungen) erzeugen?“
Einstieg über ein technisches Problem
Einstieg über eine Bastelaufgabe Es wird z. B. ein Modell eines Elektromotors nach einer Vorlage gebastelt (nachmachenden Unterricht). Danach wird das Elementare eines Elektromotors herausgearbeitet (s. Kap. 3.1).
Einstieg über eine Bastelaufgabe
Einstieg über ein Spiel Die in 4.2.1 beschriebenen Spiele können grundsätzlich als Einstieg verwendet werden zur Motivation oder zur Erzeugung eines kognitiven Konflikts, „Spielzeuge“ wie die „Lichtmühle“, der „kartesische Taucher“, die „keltischen Wackelsteine“.
Einstieg über ein Spiel
4.3.3 Zur Phase der Erarbeitung Die Phase der Erarbeitung ist häufig nur in der Planung des Unterrichts von der Phase der Motivation zu trennen. Im tatsächlichen Unterricht ist der Übergang von der Problemerfassung und Problemstrukturierung (Motivationsphase) zur Problemlösung (Phase der Erarbeitung) im Allgemeinen nicht genau festzulegen. Die Phase der Erarbeitung beginnt dann, wenn aus vagen Ideen physikalische Hypothesen zur Lösung des Problems sich herauskristallisiert haben. Im Physikunterricht werden in der Phase der Erarbeitung Experimente gegenüber anderen Medien bevorzugt eingesetzt. Die zuvor gewonnenen Hypothesen werden durch ein qualitatives oder ein quantitatives Experiment überprüft. (Ausführlichere Erläuterungen zum Experiment in der Physik und im Physikunterricht s. Kap. 5 und Kap. 23.) Welche Schritte sind beim Experimentieren in der Phase der Erarbeitung grundsätzlich notwendig?
Phase der Erarbeitung: Experimente werden bevorzugt eingesetzt
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4 Methoden im Physikunterricht 1. Hypothesenbildung • Sammeln von Lösungsvorschlägen • Auswahl und Konkretisierung einer Hypothese 2. Planung des Experimentes • Aufbau des Experimentes (Skizze und Beschreibung) • Festlegung der Variablen, die konstant gehalten/ die variiert werden sollen • Beschreibung des Ablaufes • Voraussage des Ergebnisses des Experimentes 3. Durchführung des Experimentes • Kontrolle der Variablen • Fixierung der Beobachtungen und Messergebnisse in einem Protokoll (u. a. z. B. in die Tabellen) 4. Auswertung des Experimentes • qualitative Diskussion der Ergebnisse • quantitative Auswertung des Experimentes: Darstellung der Messergebnisse in Diagrammen; Auswertung und Interpretation von Diagrammen; Fehlerbetrachtung • Formulierung des Ergebnisses • Vergleich des Ergebnisses mit der Hypothese 5. Rückblickende Erörterung des Experimentes • Operative Vereinfachungen und ihr möglicher Einfluss auf das Ergebnis • nur näherungsweise erfüllte physikalische Bedingungen und ihr Einfluss auf das Ergebnis • Vorschläge zur Verbesserung des Experimentes 6. Allgemeine Erörterung des Ergebnisses • Einordnung des Ergebnisses in schon bekannte Theorien • Grenzen der neu gewonnenen Aussagen • Anwendung der neu gewonnenen Aussagen • Diskussion des allgemeinen metatheoretischen Hintergrundes (z. B. historische und aktuelle wissenschaftstheoretische Annahmen über ,,Raum“ und ,,Zeit“). Nicht jedes Thema kann im Physikunterricht durch ein Experiment so ausführlich erarbeitet werden, wie es die genannten Schritte nahe legen. Häufig müssen auch andere Medien (z. B. das Lehrbuch) herangezogen werden.
Keine Übereile!
In der Phase der Erarbeitung darf keine Übereile entstehen. Man sollte sich als Lehrer nicht an dem vorschnellen ,,ich hab’s“ des Klassenbesten orientieren, sondern eher an den Langsamen und Bedächtigen (s. Wagenschein 1968).
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4.3.4 Zur Phase der Vertiefung Die Phase der Vertiefung hat folgende Aufgaben. Das Neugelernte soll behalten, in eine Beziehung zum bisher Gelernten gebracht (vernetzt), auf neue Situationen übertragen (transferiert), technisch angewendet werden. Außerdem wird überprüft, wie weit die Lernziele erreicht worden sind (s. Kap. 6).
Behalten, vernetzen, übertragen, anwenden, überprüfen
1. Die folgenden Vorschläge zur Vertiefung gehen auf Mothes (1968) und Haspas (1970) zurück: • Rückschau auf den Verlauf der Stunde (mündlich), • Stichworte und wesentliche Skizzen in ein von den Schülern gestaltetes Physikheft, • Beobachtungsaufgaben über Anwendungen im Alltag, • Selbständige Arbeit mit dem Schulbuch und Nachschlagewerken (Tabellen, Formelsammlungen, Internet), • Lösen spezieller Aufgaben zum behandelten Lehrstoff (Anwendungsaufgaben, Denkaufgaben), • Lösen experimenteller Aufgaben, • ein Modell oder ein Gerät anzufertigen, • Eine Hausarbeit über den Stundenverlauf mit weiteren Sinnzusammenhängen des Alltags, • eine Betriebsbesichtigung, • Wiederholung in periodisch stattfindenden Übungs- und Festigungsstunden. Unabhängig davon, ob durch darbietenden oder entdeckenden Unterricht neues Wissen erworben wurde, kommt dem Lehrervortrag in der Phase der Vertiefung eine wesentliche Bedeutung zu. Dies gilt insbesondere für das Behalten und die Integration des Gelernten, weil die Lehrkraft individuell auf die Schüler, auf ihre Fähigkeiten und ihre Interessen eingehen kann – ein Schulbuch kann dies natürlich nicht.
Lehrervortrag
Mindestens genau so wichtig ist ein Unterrichtsgespräch, weil Schüler unmittelbar ihr Interesse, Wünsche zur Wiederholung spezieller Lerninhalte artikulieren können. Im Unterrichtsgespräch werden auch falsche Auffassungen der Schüler offenbar, so dass Missverständnisse korrigiert werden können.
Unterrichtsgespräch
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4 Methoden im Physikunterricht 2. Erläuterungen zum Transferieren (Übertragen) des Neugelernten (horizontaler und vertikaler Transfer):
Horizontaler Transfer
Beispiel
Vertikaler Transfer
Beispiel
Transferieren muss geübt werden
Beim horizontalen (lateralen) Transfer geht es um die Übertragung des zuvor Gelernten auf ähnliche Beispiele, z. B. um die Anwendung eines physikalischen Gesetzes oder eines bestimmten Arbeitsverfahrens in einem geänderten Kontext. Horizontaler Transfer liegt beispielsweise vor, wenn man im Unterricht „Die goldene Regel der Mechanik“ bei einfachen Maschinen am Beispiel der schiefen Ebene und des Flaschenzuges erarbeitet hat und ihn dann auf eine Transmissionsmaschine (z.B. Fahrrad) überträgt. Horizontaler Transfer kann etwas vereinfacht mit ,,Anwendung auf neue Beispiele“ gleichgesetzt werden. Vertikale Transfer (Problemlösen) stellt an Schüler höhere Anforderungen. Dabei kann das erarbeitete Gesetz nicht weitgehend unverändert übernommen werden. Vielmehr müssen hierfür weitere physikalische Gesetze herangezogen werden, und es sind im allgemeinen Verknüpfungen mit anderen Themenbereichen notwendig. Wenn z. B. das Gesetz des exponentiellen Abfalls (y = c · e – const. · x) von einem Sachgebiet (z. B. radioaktiver Zerfall) auf ein anderes (z. B. Entladung eines Kondensators) übertragen wird oder wenn der Satz von der Erhaltung der Energie zunächst im Bereich der Mechanik aufgestellt und dann auf andere Gebiete (z. B. Elektrik, Chemie) erweitert wird, kann man vom vertikalen Transfer sprechen. Der Transfer des Gelernten ist für Schüler schwierig: • Das neu Gelernte ist zunächst noch auf den engen Bereich der Phänomene und Sachverhalte beschränkt. Man kann mit der Übertragung des Gelernten durch die Schüler um so weniger rechnen, je unterschiedlicher die ursprüngliche Lernsituation und die Transfersituation sind. • Es dauert eine gewisse Zeit, bis neu erworbenes Wissen so in die kognitive Struktur des Schülers integriert ist, dass es umfassend angewendet werden kann (s. Häußler 1981). • Die Schwierigkeiten, die die Schüler beim Transferieren haben, erfordern, dass das Übertragen von Lerninhalten auf neue Situationen im Unterricht geübt wird. 3. Die Phase der Vertiefung muss keineswegs mit der Unterrichtsstunde abgeschlossen sein. Eine solche restriktive Auffassung würde ja voraussetzen, dass sich Problemlösungen der Schüler immer in das Zeitmaß einer Unterrichtsstunde einpassen lassen. Häufig wird eine Stunde durch die Überlegung abgeschlossen, welche unerledigt ge-
4.3 Artikulationsschemata – wie eine Unterrichtsstunde gegliedert wird 1721 1722 1723 1724 1725 1726 1727 1728 1729 1730 1731 1732 1733 1734 1735 1736 1737 1738 1739 1740 1741 1742 1743 1744 1745 1746 1747 1748 1749 1750 1751 1752 1753 1754 1755 1756 1757 1758 1759 1760 1761 1762 1763
bliebenen Sonderprobleme in der nächsten Stunde aufgegriffen werden sollen und wie sie z. B. durch Beobachtungsaufgaben, durch Informationen aus Büchern und Internet vorbereitet werden können. 4. Im Zusammenhang mit den TIMSS- Ergebnissen für die Bundesrepublik befasste sich MNU 2001 auch mit einer neuen Aufgabenkultur im Physikunterricht an Gymnasien. Dabei beziehen sich die folgenden Gesichtspunkte für Aufgaben und Arbeitsaufträge nicht nur auf die Phase der Vertiefung und die Mehrzahl der empfohlenen Maßnahmen auch nicht nur auf das Gymnasium(s. Duit 2002).
189 Aufgaben und Arbeitsaufträge
Aufgaben Arbeitsaufträge
Lernerfolgskontrolle der im Unterricht erarbeiteten Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten
Unterstützung des Lernprozesses
Abb. 4.3: Zur Funktion von Aufgaben (MNU 2001,XII) „Aufgaben, die der Lernerfolgskontrolle dienen, sollen • vermittelte Lerninhalte festigen, • Routinen vertiefen helfen,
Aufgaben zur Lernerfolgskontrolle
• Themen und Stoffinhalte untereinander vernetzen d. h. auch länger zurückliegende Unterrichtsinhalte systematisch einbeziehen, • abwechslungsreich und lebensweltorientiert formuliert sein und aktuelle Bezüge berücksichtigen, • die Schüler auch dazu anleiten, Aufgabenergebnisse sinnvoll abzuschätzen, • eine kritische Auseinandersetzung mit den Ergebnissen anregen. Aufgaben, die der Unterstützung des Lernprozesses dienen, sollen • Alltagsvorstellungen der Schüler aufgreifen, so dass diese aus physikalischer Sicht von ihnen hinterfragt werden, • abwechslungsreich und lebensweltorientiert sein und aktuelle Bezüge berücksichtigen, • fachübergreifend und anwendungsbezogen naturwissenschaftliche und technische Bezüge bieten, • verschiedene Zugangsweisen und Lösungswege ermöglichen,
Aufgaben zur Unterstützung des Lernprozesses
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4 Methoden im Physikunterricht • Kreativität und Problemlösekompetenz der Schüler ermöglichen, • Möglichkeiten bieten, numerische Verfahren sinnvoll auszuwählen und einzusetzen, • auch bei entsprechenden Voraussetzungen gelegentlich in einer Fremdsprache formuliert werden“ (MNU 2001, XII).
Zielvorstellungen
Diese Maßnahmen sind mit folgenden Zielvorstellungen verknüpft: • „dazu beitragen, selbständige und kooperative Arbeitsweisen, Eigenverantwortung und Selbstvertrauen der Schüler zu fördern wie z. B. Lernen an Stationen, • eine experimentelle Durchdringung des Arbeitsauftrages mit anschließender Präsentation erlauben, • die Schüler in die Lage versetzen, selbständig mit neuen Medien umzugehen wie z. B. digitale Messwerterfassung, computergestützte Modellbildung, Simulationsprogramme, Internet-Recherchen (Medienkompetenz), • den Schülern die Möglichkeit eröffnen, aus Fehlern zu lernen, • den kritischen Umgang mit erreichten Lernergebnissen und möglichen Fehlern unterstützen“ (MNU 2001, XII).
Effektiverer Physikunterricht
Neben der offensichtlich geplanten unmittelbaren Umsetzung dieser Vorschläge über die Lehrpläne, ist natürlich auch die mittelbare Umsetzung über die Lehrerausbildung und Lehrerfortbildung notwendig. Die in MNU 2001 vorgeschlagenen Maßnahmen zielen vor allem auf einen effektiveren Physikunterricht. Wir dürfen allerdings die Leitidee einer individuellen und gesellschaftlichen Verantwortung in einer humanen Schule dabei nicht aus den Augen verlieren.
4.4 Sozialformen im Physikunterricht Es werden i. Allg. folgende Sozialformen unterschieden: Gruppenunterricht, individualisierter Unterricht und Frontalunterricht. Gelegentlich wird Partnerarbeit als weitere Sozialformaufgeführt. Hier wird (vereinfachend) Partnerarbeit als Spezialfall des Gruppenunterrichts betrachtet und im Folgenden nicht separat diskutiert. Gruppenunterricht und individualisierter Unterricht haben künftig eine größere Bedeutung
Der Gruppenunterricht nimmt unter den Sozialformen des Unterrichts einen besonderen Platz ein. Er gilt als die schülerorientierte Sozialform schlechthin. Die große Bedeutung, die ihr in der didaktischen Literatur zugesprochen wird, steht in einem Gegensatz zur Lern- und Lehrpraxis, in der Gruppenunterricht selten vorkommt. Durch die Einführung der neuen Medien in die Schule wird künftig individualisierter Unterricht wichtiger werden als bisher. Wegen
4.4 Sozialformen im Physikunterricht 1807 1808 1809 1810 1811 1812 1813 1814 1815 1816 1817 1818 1819 1820 1821 1822 1823 1824 1825 1826 1827 1828 1829 1830 1831 1832 1833 1834 1835 1836 1837 1838 1839 1840 1841 1842 1843 1844 1845 1846 1847 1848 1849
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seiner kompensatorischen Funktion zum individualisierten Unterricht wird Gruppenunterricht noch wichtiger. Der Frontalunterricht wird künftig in der Schulpraxis an Bedeutung verlieren.
4.4.1 Gruppenunterricht 1. Der Gruppenunterricht ist eine sehr alte Form des Unterrichtens. Er wurde schon im Helfersystem der Reformationsschulen und auf den ein- und zweiklassigen Landschulen praktiziert, solange wie diese bestanden. Der Begriff „Gruppenunterricht“ wurde von Johann Friedrich Herbart im 19. Jahrhundert geprägt. Eine gezielte Aufarbeitung der Theorie des Gruppenunterrichts durch die Pädagogik fand aber erst nach dem 2. Weltkrieg statt. Was charakterisiert eine Gruppe? Eine Gruppe wird durch gefühlsbetontes Handeln, einen von allen Gruppenmitgliedern anerkannten Grundbestand von Normen und Werten, einer Rollenverteilung der einzelnen Gruppenmitglieder und durch Sensibilität für die Selbst- und Fremdwahrnehmung vereinigt. Diese Eigenschaften der Gruppe helfen Aufgaben leichter zu bewältigen als es dem Einzelnen möglich wäre. Durch diese soziologischen Eigenschaften wirkt eine Gruppe auf ihre Mitglieder erzieherisch, auch deren Einstellungen und Werthaltungen beeinflussend oder prägend. In einer Gruppe entwickelt sich eine spezifische Gruppendynamik, die in bestimmten Phasen abläuft. Eine solche Gruppendynamik entsteht in jeder Gruppe, die in persönlichem Kontakt über längere Zeit zusammenarbeitet. Dabei werden Machtverhältnisse in Frage gestellt und dann neu etabliert. Gruppendynamische Erkenntnisse lassen sich aber nur bedingt auf schulischen Unterricht übertragen, denn Schulklassen sind keine freiwilligen Zusammenschlüsse, sondern Zwangsvereinigungen über eher kurze Zeit bei hohem Leistungsdruck. Die Gruppendynamik macht vor allem deutlich, dass auch ohne „direkte Führung“ durch den Lehrer ein Lernen mit gutem Erfolg möglich ist (s. Meyer 1987b, 238 ff.). 2. Die Bildungsreform am Ende der 60er-Jahre brachte neue Impulse in die Diskussion des Gruppenunterrichts. Es war offensichtlich, dass die sich verändernden Rahmenbedingungen in der Gesellschaft ein hohes Maß an „Ich-Stärke“ oder „Ich-Identität“ erfordern, nicht nur Anpassung an die traditionellen gesellschaftlichen Werte. Man erkannte auch, dass die Zielvorstellungen „individuelle“ und „gesellschaftliche Emanzipation“ im herkömmlichen Schulbetrieb mit sei-
Eine Gruppe wirkt auf ihre Mitglieder erzieherisch
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4 Methoden im Physikunterricht ner Vorherrschaft des Frontalunterrichts und weisungsgebundenem Lernen kaum zu verwirklichen sind.
Soziales Lernen erfordert Gruppenunterricht
Das schulische Konzept „soziales Lernen“, soll bei Schülerinnen und Schülern durch Gruppenunterricht die Fähigkeit und Bereitschaft entwickeln, Konflikte zu ertragen. Sie sollen außerdem zu solidarischem Handeln erzogen werden. Das bedeutet, dass man zwar Selbstbewusstsein entwickeln muss, aber zugleich auf andere Rücksicht nimmt. Dies macht den Aufbau von Kommunikations-, Interaktions- und Handlungskompetenzen nötig, aber auch Empathie und Verantwortungsbewusstsein. Meyer (1987b, 251) fasst diese Überlegungen zu den folgenden drei Begründungen für Gruppenunterricht zusammen: • Durch die Ausweitung der Selbständigkeit sollen die Schüler zu mehr Selbständigkeit im Denken, Fühlen und Handeln angeregt werden. • Durch die Arbeit in kleinen Gruppen soll die Fähigkeit und Bereitschaft zum solidarischen Handeln unterstützt werden. • Durch den phantasievollen Wechsel der Darstellungsweisen (Symbolisierungsformen) und Handlungsmuster soll die Kreativität der Schüler gefördert werden.
Der Anspruch des sozialen Lernens ist nicht nur eine Angelegenheit der Schule
Solche anspruchsvollen Ziele sind natürlich nicht nur über den Gruppenunterricht allein zu erreichen, sondern erfordern entsprechend veränderte Lehrpläne, neue Unterrichtsmethoden (z. B. Projekte) und neue Medien. Diese allgemeinen Ziele zeigen aber auch, dass der Anspruch des sozialen Lernens nicht nur eine Angelegenheit der Schule ist, sondern dass Eltern und die Erzieher von Jugendgruppen in Vereinen und Verbänden maßgeblich involviert sind. „Die Leistungsfähigkeit der Schule wird überstrapaziert, wenn sie im Alleingang die Reform der Gesellschaft vorantreiben soll, - wenn schon, so müssen Schul- und Gesellschaftsreform Hand in Hand gehen“ (Meyer, 1987b, 241). 3. Gruppenunterricht hat eine äußere und eine innere Seite.
Die räumlichsozialkommunikative Situation
Die äußere Seite des Gruppenunterrichts regelt die räumlich-sozialkommunikative Situation im Unterricht. Der Lehrer tritt in den Hintergrund, darf aber die Verantwortung für den Unterrichtsablauf und die initiierten Lernprozesse nicht aus der Hand geben.
Aneignung der methodischen Struktur der Physik
Die innere Seite des Gruppenunterrichts beinhaltet vor allem die Vermittlung und Aneignung der methodischen Struktur der Physik. Diese Fähigkeiten sollen außerdem dazu beitragen, dass die Schülerinnen und Schülern selbstbestimmt, gemeinsam und kreativ handeln können. Ferner sollen soziale Ziele wie Kommunikationsfähigkeit und Kooperationsfähigkeit angestrebt werden.
4.4 Sozialformen im Physikunterricht 1893 1894 1895 1896 1897 1898 1899 1900 1901 1902 1903 1904 1905 1906 1907 1908 1909 1910 1911 1912 1913 1914 1915 1916 1917 1918 1919 1920 1921 1922 1923 1924 1925 1926 1927 1928 1929 1930 1931 1932 1933 1934 1935
Vor dem Gruppenunterricht sind folgende Fragen zu klären: • Ist das Thema geeignet, arbeitsgleichen/arbeitsteiligen Gruppenunterricht durchzuführen?
193 Vorbereitung von Gruppenunterricht
• Sind bei den Schülern die nötigen Voraussetzungen (Kooperationsbereitschaft und -fähigkeit) für Gruppenarbeit vorhanden? • Ist der Raum für Gruppenarbeit geeignet? (Bewegliches Gestühl ist erforderlich. Daher sind die Physikräume in Gymnasien und Realschulen häufig ungeeignet). Können die geplanten Versuche im Klassenzimmer durchgeführt werden? (Wie erfolgt dann z. B. die Versorgung mit Elektrizität, Wasser, Gas?) • Nach welchen Gesichtspunkten sollen die Gruppen gebildet werden? • Sind die benötigten Arbeitstechniken (z. B. graphische Darstellung von Messdaten) hinreichend vertraut und geübt? • Sind die Arbeitsaufträge für die Gruppen verständlich und eindeutig formuliert? • Sind die zeitlichen Vorgaben realistisch? Wie werden die Gruppen sinnvoll beschäftigt, die die Arbeitsaufträge in kürzerer Zeit durchgeführt haben? Die Lehrkraft sollte • Organisatorische Regeln vereinbaren (Geräte austeilen/ in Sammlung einordnen) • Verhaltensregeln mit den Schülern vereinbaren, • während des Unterrichts die Gruppen beobachten im Hinblick auf Störungen und unannehmbares Arbeitsverhalten (Gutte 1976, 93), • Gruppen einzeln und eher dezent loben bzw. ermahnen, • vor allem Ruhe bewahren in unübersichtlichen Situationen, • nicht den Mut verlieren, wenn der Gruppenunterricht nicht gleich beim ersten Versuch optimal abläuft. 4. Das in 4.3 beschriebene methodische Grundschema (Einstieg, Erarbeitung, Vertiefung) kann auch für Unterricht mit Gruppenarbeit verwendet werden: Auf die lehrerorientierte Einstiegsphase im Plenum folgen schüleraktive Phasen, Erarbeitung, sowie Vertiefung (Übung und Anwendung) und danach eine Auswertung und Präsentation der Arbeitsergebnisse im Plenum. Für den Physikunterricht bedeutet dies folgende Strukturierung:
Lehrerverhalten
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Integration von Gruppenunterricht in den Unterrichtsablauf
4 Methoden im Physikunterricht 1. 2.
3. 4. 5.
6. 7.
Das neue Unterrichtsthema wird eingeführt (s. „Einstiege“ 4.3) (Plenum) Ð Arbeitsaufträge für den Gruppenunterricht werden diskutiert und festgelegt (Plenum) (Im PhU: häufig arbeitsgleiche, selten arbeitsteilige Gruppenarbeit) Ð Die Gruppen A(1) bis A(n) werden gebildet (i.a. keine leistungshomogene, sondern Interessengruppen) Ð Gruppen A(1) bis A(n) arbeiten (auf Rollenwechsel in den Gruppen achten) Ð Die Ergebnisse der Gruppenarbeit werden zusammengetragen (Plenum) (mündliche Berichterstattung, Folien, Poster, Experimente) Ð Die Ergebnisse werden interpretiert, diskutiert und angewendet (Plenum) Ð Reflexion des Gruppenunterrichts (Qualität der Ergebnisse, Sozialverhalten in den Gruppen, weiterführende Arbeiten, allgemeine Ziele des Gruppenunterrichts)
5. Im naturwissenschaftlichen Unterricht wird zwischen arbeitsgleichem und arbeitsteiligem Gruppenunterricht unterschieden. Eine Gruppe besteht üblicherweise aus 3 – 5 Schülern (s. Bürger 1978). Arbeitsgleicher Gruppenunterricht
Für den arbeitsgleichen Gruppenunterricht werden die Gerätesätze mindestens in vierfacher Ausfertigung benötigt. Für diesen Fall können ca. 20 Schüler gleichzeitig in Gruppen arbeiten. Die Fachräume für Gruppenunterricht (Physik/Chemie) sind allerdings i. Allg. für eine größere Schülerzahl ausgelegt. Die Lehrmittelfirmen liefern zu den Geräten auch die Versuchsanleitungen (z. B. „Das hookeschen Gesetz“, „Die Goldene Regel der Mechanik“ usw.). Das ist „nachmachender“ Gruppenunterricht, der i. Allg. nicht zu kreativem Handeln anregt. Wegen seiner ausschließlich fachimmanenten Aufgabenstellungen ist arbeitsgleicher Gruppenunterricht mit vorgefertigten Schülergerätesätzen nur dann attraktiv, wenn es der Lehrkraft gelingt, aus einer schlichten fachlichen Frage („Wie lautet das hookeschen Gesetz?“) ein individuelles Problem der Schüler zu generieren.
4.4 Sozialformen im Physikunterricht 1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021
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Arbeitsteiliger Gruppenunterricht ist interessanter als arbeitsgleicher Gruppenunterricht. Er ist auch relevanter hinsichtlich der Ziele, aber anspruchsvoller und schwieriger hinsichtlich der Durchführung. Arbeitsteiliger Gruppenunterricht kommt sowohl in Projekten als auch im Fachunterricht vor. Wie in 4.1.3 skizziert ist der Gruppenunterricht im Projekt fachüberschreitend und thematisiert gesellschaftliche Implikationen eines technischen Gerätes (z. B. Computer) oder von Industrieanlagen (z. B. Kernkraftwerke). Insgesamt sind bei einem Projekt größere Eigeninitiative, größere planerische und organisatorische Fähigkeiten nötig als bei arbeitsteiligem Gruppenunterricht.
Arbeitsteiliger Gruppenunterricht
Arbeitsgleicher Gruppenunterricht ist einfacher durchzuführen als arbeitsteiliger. Es ist für einen Lehrer leichter, diese Art der Gruppenarbeit zu organisieren, den einzelnen Schülergruppen zu helfen, den jeweiligen Arbeitsfortschritt in den Gruppen zu erkennen, den Überblick zu behalten. Aus didaktischer Sicht ist arbeitsteiliger Gruppenunterricht relevanter. Die methodische und didaktische Krönung ist natürlich das Projekt, weil Fesseln des Fachs und der Schule überwunden werden können. Arbeitsgleicher GU
Arbeitsteiliger GU
Projekt
Modellversuche zur Lochkamera • Grundbegriffe • Schärfentiefe • Helligkeit des Bildes
„Moderne Kamera“ • Abb. durch Linsen • Entfernungsmesser • Belichtungsautomatik • Verschlusszeiten
„Moderne Kamera“ • phys. Abbildungen • mod. Kameratechnik • Die Macht des Fotos (Werbung) • Foto und Kunst
Beispiel aus der Optik (s. Dahncke, Götz & Langensiepen 1995, 327 ff.)
6. Warum wird in der Schule nur 5 – 10 % des Unterrichts als Gruppenunterricht abgehalten ? Gruppenunterricht ist fraglos mit größerem Zeit- und Materialaufwand verbunden. Diese Begründung ist allerdings heutzutage insofern nicht mehr überzeugend, als die neuen Lehrpläne der 90er-Jahre nicht nur Gruppenunterricht fordern, sondern – auch damit zusammenhängend, dass der Umfang des Lehrstoffs reduziert wurde. Nach meinem Einblick verfügen auch die meisten Physiksammlungen über Schülergerätesätze. Ein echtes Problem sind die großen Klassenstärken in der Sekundarstufe I. Werden große Klassen aus finanziellen Gründen nicht geteilt, wird regelmäßige Gruppenarbeit im Physikunterricht sehr erschwert, wenn nicht unmöglich gemacht. Der geringe Anteil an Gruppenunterricht liegt auch daran, dass Physiklehrer (des Gymnasiums und der Realschule) in der 1. und 2. Phase der Lehrerbildung noch zu selten für Gruppenunterricht aus-
Warum ist Gruppenunterricht noch selten?
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4 Methoden im Physikunterricht gebildet werden. Da Gruppenunterricht mehr Zeit für die Vor- und Nachbereitung benötigt, könnte dieser Tatbestand ebenfalls Gruppenunterricht verhindern (s. Meyer 1987b, 252). Außerdem: Es fehlt in dieser Sozialform die Gelegenheit, die der Frontalunterricht bietet, nämlich die Qualitäten des Lehrers/ der Lehrerin zu demonstrieren beim Experimentieren bzw. beim Erklären der Physik!
Gruppenunterricht ist im Physikunterricht nötig
Trotzdem: Gruppenunterricht ist im zeitgemäßen Physikunterricht nötig, weil dadurch Schüler in der Gruppe ein Zusammengehörigkeitsgefühl entwickeln. Sie werden angeregt, sich aktiv am Unterricht zu beteiligen und erhalten über die verschiedenen Wege, die sie zum Lösen des Problems eingeschlagen haben, größere Selbständigkeit. Mit der Zeit können Schülerinnen und Schüler schon zu Beginn eines Arbeitsauftrages abschätzen, wie sorgfältig sie bei qualitativen bzw. bei quantitativen Versuchen arbeiten müssen, um möglichst genaue Daten zu erhalten, wie die zur Verfügung stehende Zeit optimal genutzt wird, welche Vorbereitungen nötig sind, um die Ergebnisse attraktiv zu präsentieren. Zusammenfassung: 1. Für den Gruppenunterricht existieren relevante pädagogische, psychologische, soziologische und gesellschaftspolitische Begründungen. 2. Gruppenarbeit bedeutet zielgerichtete Arbeit, soziale Interaktion, sprachliche und symbolische Verständigung durch und über physikalische Theorien und auch über die Physik hinausreichende Probleme. 3. Gruppenunterricht benötigt mehr Vor- und Nachbereitungszeit als der Frontalunterricht. Gruppenunterricht ist risikoreicher, aber dafür lebendiger, interessanter und letztlich auch befriedigender für Schüler und Lehrer. 4. Gruppenunterricht wird im Physikunterricht kaum praktiziert, obwohl dieses Fach dafür besonders geeignet ist. Durch Schülerversuche besteht die Möglichkeit die Lebenswelt und den Alltag besser zu verstehen und fachliche und soziale Kompetenzen zur Lebensbewältigung zu erwerben. Durch Gruppenunterricht wird Physikunterricht sinnvoller und wertvoller. 5. Gruppenunterricht ist aufgrund der involvierten Ziele (fachliche, soziale) die wichtigste Sozialform des Physikunterrichts. Sie dient auch zur Vorbereitung von Projektunterricht. 6. Gruppenunterricht kann dazu beitragen, dass Physikunterricht wieder attraktiver wird.
4.4 Sozialformen im Physikunterricht 2065 2066 2067 2068 2069 2070 2071 2072 2073 2074 2075 2076 2077 2078 2079 2080 2081 2082 2083 2084 2085 2086 2087 2088 2089 2090 2091 2092 2093 2094 2095 2096 2097 2098 2099 2100 2101 2102 2103 2104 2105 2106 2107
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4.4.2 Individualisierter Unterricht Individualisierter Unterricht liegt vor, wenn keine Interaktionen zwischen den Schülern, sowie zwischen diesen und der Lehrkraft stattfinden. Individualisierter Unterricht bedeutet ungestörte Einzelarbeit der Lernenden. 1. Individualisierter Unterricht kann in jeder Phase des Unterrichts vorkommen: Alle Schüler erhalten in der Phase des Einstiegs z. B. die Kopie eines Zeitungsartikels und verschaffen sich einen Überblick über wichtige Fakten und Argumente eines aktuellen Problems (z. B.: Ist erdferne Raumfahrt nötig? Wie teuer ist Atomstrom wirklich?). In der Phase der Erarbeitung versuchen die Lernenden sich mit Hilfe des Schulbuchs beispielsweise ein Modell über den Ferromagnetismus zu verschaffen oder basteln einen Elektromotor, einen Bumerang usw. Insbesondere in der Phase der Vertiefung wird häufig mittels Schulheft, Arbeitsbogen oder bei Basteleien individuell gearbeitet, arbeitsgleich.
Individualisierter Unterricht ist in jeder Phase des Unterrichts möglich
In einem Projekt kann sich eine Gruppe für eine bestimmte Zeit auflösen, um durch Arbeitsteilung rasch relevante Informationen zu gewinnen in der Bibliothek und mit Hilfe des Computers im Internet. Die einzelnen Gruppenmitglieder können auch Versuche vorbereiten, Informationstexte auf Plakate schreiben, ein Video aufnehmen über die Projektarbeit. Man kann von einem arbeitsteiligen individualisierten Unterricht sprechen, wenn die Einzelarbeiten sich wie bei einem Mosaik zu einem sinnvollen Ganzen zusammenfügen. In einem Projekt wechseln sich individualisierter Unterricht und Gruppenunterricht ab aufgrund von Entscheidungen in der Gruppe. Noch prägnanter als bei einem Projekt ist das individualisierte Lernen ein Merkmal eines Lernzirkels.
Individuelles Arbeiten im Projekt
3. „Die Menschen stärken und die Sachen klären“, dieses Motto von Hentigs (1985; 1996) trifft besonders auf individualisierten Unterricht zu. Dieser fördert die Selbständigkeit und die Individualität der Lernenden durch den Erwerb spezifischer Fähigkeiten und Fertigkeiten, wie etwa die Bedienung und Nutzung moderner Medien. Bei erfolgreicher Einzelarbeit kann ein spezifisches und/ oder ein allgemeines Interesse an der Physik gefördert, aber bei sich häufendem Misserfolg auch das Gegenteil bewirkt werden. Natürlich wird der aufmerksame Lehrer dies rechtzeitig erkennen und durch Aufmunterungen, Tipps und Lernhilfen versuchen, dauerhafte Frustrationen bei den Lernenden zu verhindern. Die Anforderungen bei individualisiertem Unterricht sind sowohl bei Lehrenden als auch bei Lernenden höchst unterschiedlich. So erfordert beispielsweise das Ausfüllen
Unterschiedliche Anforderungen im individualisierten Unterricht
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4 Methoden im Physikunterricht eines Lückentextes in einem Arbeitsbogen keine besonderen fachspezifischen Fähigkeiten. Während der freie Aufbau von elektronischen Schaltungen Ausdauer, Geduld, beträchtliche fachliche Kenntnisse, experimentelles Geschick und Erfahrung erfordern bei Lernenden und hilfsbereiten Lehrenden.
Neue Medien: Wird der Unterschied der fachlichen Kompetenz zwischen Lehrenden und Lernenden geringer ?
4. Durch den Aufbau eines weltweiten, rund um die Uhr verfügbaren Informationsnetzes, gerade auch für den naturwissenschaftlich technischen Bereich, wird das individuelle Lernen an Bedeutung gewinnen. So ist zu erwarten, dass im Physikunterricht der physikalische Wissens- und Kompetenzunterschied zwischen Lehrenden und Lernenden geringer wird. Dafür wird die methodische und didaktische Kompetenz der Lehrerinnen und Lehrer noch stärker als bisher gefragt (Wie kann man Spezialistenwissen allgemeinverständlich darstellen? Wie kann die Informationsflut sinnvoll bearbeitet werden? Wie zuverlässig ist das Internetwissen?). Das gilt auch für die soziale Kompetenz: Wie kann man die jungen Spezialisten in eine Klassengemeinschaft integrieren, wie beurteilen, wie loben und tadeln, wie allgemein bilden?
Auswirkungen auf die Lehrerbildung
Es ist keine Frage, dass diese Kompetenzverschiebungen künftiger Lehrerinnen und Lehrer auch Auswirkungen auf deren Selbstverständnis haben wird und Auswirkungen auf die Lehrerbildung haben muss: Der Lehrende wird auch aus diesem äußeren Grund künftig eher Moderator von Lernprozessen sein als ein Instruktor.
4.4.3 Frontalunterricht Frontalunterricht: - Lernende werden gemeinsam unterrichtet - Lehrender steuert den Unterricht
Frontalunterricht ist ein zumeist an einem physikalischen Thema orientierter, durch Demonstrationsversuche illustrierter, durch Sprache und mathematische Relationen vermittelnder Physikunterricht, in dem die Lernenden (die „Klasse“) gemeinsam unterrichtet werden und in dem der Lehrer zumindest dem Anspruch nach die Arbeits-, Interaktions- und Kommunikationsprozesse steuert und kontrolliert (nach Meyer 1987b, 183)
1. Frontalunterricht hängt eng mit darbietendem Unterricht zusammen. Er kann eine effektive Art der Wissensvermittlung sein, wenn, wie im genetischen Unterricht oder im sinnvoll übernehmenden Unterricht auf bereichsspezifische Schülervorstellungen, auf das Interesse der Schülerinnen und Schüler, auf deren Fähigkeiten zu Effektive Art der Wissensvermittlung lernen und auf deren Lerntempo Rücksicht genommen wird. Dann wird Frontalunterricht von engagierten und leistungsstarken Lehrern und Lernern als befriedigend und sinnvoll erlebt, weil er direkte Rückmeldungen des eigenen Lehr- bzw. Lernerfolgs liefert. Au-
4.4 Sozialformen im Physikunterricht 2151 2152 2153 2154 2155 2156 2157 2158 2159 2160 2161 2162 2163 2164 2165 2166 2167 2168 2169 2170 2171 2172 2173 2174 2175 2176 2177 2178 2179 2180 2181 2182 2183 2184 2185 2186 2187 2188 2189 2190 2191 2192 2193
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ßerdem wird im Frontalunterricht das Sicherheitsbedürfnis der Lehrer befriedigt, d. h. Frontalunterricht kann die Unterrichtsdisziplin sichern (s. Meyer 1987b, 192; Meyer, H. & Meyer, M.A. 1997, 34 f.). Bis es soweit ist, benötigen Lehrerinnen und Lehrer allerdings mehrjährige Schulerfahrungen, um selbstbewusst vor der Klasse zu stehen, den eigenen Lehrstil, Sprachstil, Handlungsstil, Urteilsstil, Umgangsstil mit Schülern zu finden. Im Detail bedeutet das: kontrollierte und eindeutige Gestik zu internalisieren, Schüler situationsund sachangemessen zu loben und zu tadeln, faire Lernerfolgskontrollen und adäquate Hausaufgaben zu stellen, eine flüssige, ansehnliche Tafelschrift, eine variable Stimmlage zu entwickeln, nicht die Ruhe in unübersichtlichen Situationen zu verlieren, für nervige oder faule oder leistungsschwache Schüler die gleiche Geduld und Zeit aufzubringen wie für die eifrigen, sozialangepassten, leistungsstarken (s. dazu auch Meyer 2004). 2. Bitte erschrecken Sie nicht vor dieser sicherlich noch unvollständigen Liste von wünschenswerten Eigenschaften, Einstellungen und Werthaltungen eines Lehrers, einer Lehrerin. Nobody is perfect! Sie sollten sich aber bewusst sein, dass viele dieser Merkmale insbesondere im Frontalunterricht notwendig sind, weil ihr Fehlen hier ganz offensichtlich wird. 3. Im Physikunterricht ist es notwendig frontal zu unterrichten, • wenn große Klassen nicht geteilt werden können, um Gruppenunterricht durchzuführen, • wenn adäquate Ausstattung (Raum, Material) fehlt, • wenn Schülerexperimente verboten (Kernphysik), • wenn attraktive Demonstrationsexperimente möglich sind. Außerdem kann es didaktisch sinnvoll sein, • dass der Lehrer/ die Lehrerin einen Überblick oder eine Zusammenfassung komplexer Sachverhalte (frontal) gibt, • dass er/ sie ein attraktives Demonstrationsexperiment vorführt, anstatt unattraktive Schülerexperimente durchführen zu lassen, • dass er/ sie schrittweise elementarisierte Erklärungen bei komplexen Phänomenen und Geräten (z. B. Wirbelstrombremse) gibt, • dass er/ sie aus Zeitmangel eine physikalische Aufgabe selbst vorrechnet, • dass er/ sie bei Gelegenheit „seine/ ihre“ Musterstunde hält, auch wenn dies Frontalunterricht bedeutet.
Guter Frontalunterricht erfordert viele Kompetenzen
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Individualisierter Unterricht und Gruppenunterricht sind mit relevanteren Zielen verknüpft als Frontalunterricht
4 Methoden im Physikunterricht Insgesamt ist aber zu beachten, dass individualisierter Unterricht und Gruppenunterricht häufig mit relevanteren Zielen verknüpft sind als Frontalunterricht. Aber im Sinne von Methodenkompetenz und Methodenvielfalt und dem damit verknüpften Motivationsgewinn für Lehrerinnen und Lehrer, für Schülerinnen und Schüler hat auch das frontale Unterrichten seinen Platz im Physikunterricht.
4.5 Ergänzende und weiterführende Literatur 1. Durch die Erforschung spezifischer Lernvoraussetzungen, den Alltagsvorstellungen, wird auch die Methodik des Physikunterrichts geprägt. Daher der Hinweis auf die umfassende Bibliografie (Duit 2006) über das Vorverständnis, die Alltagsvorstellungen von Schülern und Lehrern zu naturwissenschaftlichen Sachverhalten, die über das Internet zugänglichist: http://www.ipn.de. 2. Ein wichtiger Aspekt der Methodendiskussion ist die Hinwendung zu offenem, fachüberschreitendem Unterricht. Die hier näher beschriebenen „methodischen Großformen“, Projekte und Lernzirkel, wurden und werden über die Lehreraus- und Lehrerfortbildung in die Schulpraxis eingeführt. Dies trifft bisher noch kaum für „Spiele im Physikunterricht“ zu. Daher möchte ich hierzu wichtige physikdidaktische Literatur noch einmal zitieren: die Beispiele der Bremer Forschungsgruppe (1984), „Spiele mit Physik!“ (Treitz 19964) und der weiter reichende Ansatz „Erlebniswelt Physik“ (Labudde 1993).
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4 Methoden im Physikunterricht
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1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43
Raimund Girwidz
5 Medien im Physikunterricht Medien kommen im Physikunterricht in vielfältigen Formen zum Einsatz. Ein Beispiel aus der zehnten Jahrgangsstufe zum Thema „Der p-n-Übergang von Halbleiterdioden“ soll dies verdeutlichen: Als Einstieg in die Unterrichtseinheit dient folgendes Experiment: An eine Wechselspannungsquelle wird eine Glühbirne angeschlossen. Obwohl sie leuchtet zeigt ein Gleichstrom-Messgerät in diesem Kreis allerdings keinen Strom an. Dies ändert sich, wenn eine Diode in den Stromkreis eingebaut wird. Gleichzeitig ist jedoch zu beobachten, dass die Lampe weniger hell leuchtet (Experiment als Anschauungsmedium).
~
X A=
Eine Diskussion dieser Effekte führt zu einem Folgeversuch. Strom und Spannung werden mit einem Oszilloskop genauer untersucht. Dabei wird erkannt, dass die Diode nur einen pulsierenden Gleichstrom durchlässt. Um das Verhalten der Diode auch noch quantitativ beschreiben zu können, wird schließlich die Diodenkennlinie mit einem Computer-Messsystem aufgenommen und ausgedruckt ("neue" Medien). Im weiteren Unterrichtsverlauf werden Modellansätze für das Verhalten der Ladungsträger am p-n-Übergang entworfen und schließlich ein Videofilm gezeigt, der die Leitungsmechanismen in Trickdarstellungen zeigt (visuelle Medien). Im letzten Teil der Unterrichtsstunde wird das Schulbuch eingesetzt und verschiedene Grafiken zum p-n-Übergang diskutiert und interpretiert (Printmedien). Am Anfang der nächsten Stunde werden die Diodenkennlinie und verschiedene Schemazeichnungen zum p-n-Übergang am Arbeitsprojektor anhand von vorgefertigten Transparenten wiederholt. Dann werden verschiedene Diodenschaltungen in Skizzen an der Tafel entworfen und besprochen ("klassische" Medien). Dieselben Schaltungen sind mit Zusatzinformationen und Versuchsanleitungen auf einem Arbeitsblatt abgedruckt. Es dient als Anleitung für die nachfolgenden Schülerversuche, in denen die Schülerinnen und Schüler selbst verschiedene Anwendungen aufbauen und untersuchen können (Arbeitsblätter und Schülerexperimente).
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204 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81 82 83 84 85 86
5 Medien im Physikunterricht Als Hausaufgabe ist wahlweise ein Aufgabenteil aus dem Schulbuch oder ein Computerprogramm mit Informations- und Frageteil durchzuarbeiten (im Computerpool oder zu Hause). . Die technische Seite eines so medienbeladenen Unterrichts bereitet Physiklehrern in der Regel kaum Schwierigkeiten. Weniger klar sind aber oft folgende Fragen: Was macht Medien tatsächlich lernwirksam? Wie wird ein Medium oder ein Versuch eingeführt? Welche Abstraktionsschritte sind gefordert, welche lassen sich entwickeln? Welche Hilfen zur Veranschaulichung lassen sich anbieten? Wie kann der Lehrer mit Medien Denkanstöße geben, die Schüler motivieren und aktivieren? Die technische Entwicklung im Medienbereich ist eindrucksvoll. Dennoch werden auch neue Unterrichtsmedien vorwiegend Bild, Ton und Text als Ausdrucksmittel verwenden. Ein effektiver Medieneinsatz im Unterricht setzt also erst einmal den kompetenten Umgang mit diesen Ausdrucksmitteln voraus. Leider ist im Gegensatz zu der rasanten technischen Entwicklung gerade beim Umgang mit bildhaften Darstellungen ein besonderes Kompetenzdefizit zu beklagen. Nach wie vor gilt: „In der Praxis erlebt man oft ein drastisches Missverhältnis von technischer Entwicklung und pädagogischem Ungeschick im Umgang mit Bildmedien“ (Weidenmann, 1991, 8). Dieses Kapitel befasst sich deshalb mit den Grundlagen des Medieneinsatzes und gliedert sich in folgende Abschnitte:
Bei aller Begeisterung für (neue) Medien sollte dem Lehrer stets bewusst bleiben, dass Medien dazu dienen, ein Lernziel zu erreichen. Auch wenn moderner Unterricht unbedingt die Darstellungsmöglichkeiten neuer Medien nutzen sollte, Medien bleiben ein Mittel zum Zweck. Ihr Einsatz wird erst durch die Lernziele und ein passendes methodisches Grundkonzept legitimiert.
5.1 Begriffe und Klassifikationen 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 100 101 102 103 104 105 106 107 108 109 110 111 112 113 114 115 116 117 118 119 120 121 122 123 124 125 126 127 128 129
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5.1 Begriffe und Klassifikationen Bereits Comenius formulierte in seiner 1657 gedruckten didactica magna als „goldene Regel für alle Lehrenden“: „Alles soll wo immer möglich den Sinnen vorgeführt werden, was sichtbar dem Gesicht, was hörbar dem Gehör, was riechbar dem Geruch, was schmeckbar dem Geschmack, was fühlbar dem Tastsinn.“ (Comenius, Ausgabe 1954, 135). Medien helfen uns, diesem Ziel näher zu kommen. Der erste Abschnitt definiert grundlegende Begriffe und grenzt Mediendidaktik gegenüber Medienpädagogik ab. Dann werden Aspekte zum Medieneinsatz zusammengetragen, die verschiedenen Klassifikationsschemata zugrunde liegen.
5.1.1 Medium, Medienpädagogik, Mediendidaktik 1. Der Begriff Medium umfasst ganz allgemein eine Vielzahl von Hilfsmitteln für den Unterricht. Sie dienen einer besseren Informationsvermittlung. Medien sind Mittler, die Informationen übertragen können.
Medien
Im weitesten Sinne könnte man auch den Lehrer dazu zählen. Zu weit gefasste Definitionen sind aber nicht zweckdienlich, weil dann bei jeder Aussage erst wieder spezifiziert werden muss, welches Medium überhaupt gemeint ist. Deshalb folgt hier die Einschränkung: Unterrichtsmedien sind nichtpersonale Informationsträger. Sie sind Hilfsmittel für den Lehrer oder Lernmittel in der Hand des Schülers.
Unterrichtsmedien
206 130 131 132 133 134 135 136 137 138 139 140 141 142 143 144 145 146 147 148 149 150 151 152 153 154 155 156 157 158 159 160 161 162 163 164 165 166 167 168 169 170 171 172
5 Medien im Physikunterricht Eine Unterklasse sind AV-Medien. Der Begriff steht für technische Informationsquellen oder -träger, die Informationen auditiv und / oder visuell übermitteln.
AV-Medien
Neben AV-Medien übernehmen im Physikunterricht auch Experimentiergeräte bzw. physikalische Schulversuche eine besondere Mitteilungsfunktion. Wegen ihrer herausragenden Rolle im Physikunterricht werden sie speziell im Kapitel 5.6 unter mediendidaktischen Aspekten betrachtet. Wenn auch Medien primär Informationen vermitteln und meist ein Mittel zur Veranschaulichung sind, so unterstützen sie doch aus methodischer Sicht durchaus noch weitere Intentionen im Unterricht, z. B. Motivierung, Bezüge zum Alltag herstellen, fehlende Primärerfahrung ersetzen, usw. Hierzu sind auch einige Anmerkungen in Abschnitt 5.3 zu finden. 2. Medien können auch selbst zum Unterrichtsgegenstand (Lernobjekt) werden. Die Fähigkeit zum angemessenen und kritischen Umgang mit Medien, ist ein wichtiges pädagogisches Ziel. Hier sind Mediendidaktik und Medienpädagogik voneinander abzugrenzen. „Mediendidaktik ist eine wissenschaftliche Teildisziplin (der Didaktik), die sich mit den theoretischen Grundlagen und den praktischen Einsatzmöglichkeiten von Medien beim Lehren und Lernen im Unterricht beschäftigt.“ (Schröder & Schröder, 1989, 87) „Die Medienpädagogik beschäftigt sich mit der Erziehung des Heranwachsenden zu einem kritischen Umgang mit den Medien.“ (Schröder & Schröder, 1989, 87) Medien können also aus verschiedenen Blickrichtungen betrachtet werden: Einmal als Mittel zur Gestaltung des Unterrichts (Mediendidaktik) oder aber als Unterrichtsgegenstand bzw. als Inhalt (Medienpädagogik). Nachfolgend beschäftigen wir uns nur mit Medien als Lehr- und Lernhilfe im Sinne einer Mediendidaktik.
5.1.2 Klassifikationsschemata für Unterrichtsmedien Klassifikationen haben allgemein das Ziel, einen Gegenstandsbereich in sinnvolle Teilmengen zu zerlegen. Die Literatur zeigt mehrere Möglichkeiten zur Einteilung von Medien, die sich an unterschiedlichen Aspekten orientieren (z. B. an der Technik oder an den angesprochenen Sinnesorganen). Nachfolgend sind drei Klassifikationsschemata weiter ausgeführt.
5.1 Begriffe und Klassifikationen 173 174 175 176 177 178 179 180 181 182 183 184 185 186 187 188 189 190 191 192 193 194 195 196 197 198 199 200 201 202 203 204 205 206 207 208 209 210 211 212 213 214 215
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1. Klassifikation nach technischen Aspekten • Zu den sog. vortechnischen Medien zählen: Tafel, Wandkarte, Atlas, Wandbild, Modell, Buch, Karte, Text • Bei technischen Medien werden unterschieden: Tonmedien (Rundfunk, Kassettenrecorder, CD-Player) Bildmedien (Diaprojektor, Arbeitsprojektor, Filmprojektor) Audiovisuelle Medien (Wiedergabegeräte für Tonbildreihe, Tonfilmgerät, Fernsehen, Videorecorder, Multimedia-Computer). Hier sind primär äußere Gesichtspunkte entscheidend. Buch, Diaprojektor, Video, Computer oder Poster verwenden zwar unterschiedliche Techniken, wenn sie aber alle das gleiche statische Bild wiedergeben, werden die Unterschiede lernpsychologisch, bzw. vom Informationswert betrachtet eher zweitrangig. Eine Charakterisierung der Hardware kann jedoch sinnvoll sein, um den technischen Umgang mit dem Gerät, mögliche Einsatzformen, den Vorbereitungsaufwand oder auch die Verfügbarkeit zu spezifizieren.
2. Klassifikation nach informationspsychologischen Aspekten Die Unterscheidung zwischen visuellen, auditiven, audiovisuellen und haptischen (Tastsinn) Medien stellt in den Vordergrund, welche Sinne das Medium anspricht und welche Informationskanäle genutzt werden. Oft werden Untersuchungen zitiert, die eine Überlegenheit kombiniert visuell-akustischer Darbietungen gegenüber rein visuellen Darstellungen und noch deutlicher gegenüber rein akustischen Ausführungen zeigen. Losgelöst von inhaltlichen Faktoren und methodischen Konzepten sind solche Aussagen aber nicht sachgemäß. So betont Weidenmann (1991), dass ein Wissenserwerb von vielen Faktoren abhängt, und der angesprochene Sinneskanal mitunter nur zweitrangig ist. Beispielsweise kann ein Text in Schriftform dargeboten oder aber vorgelesen werden. Für einen Lernenden, der gut lesen kann, dürfte dies im Vergleich zur inhaltlichen Aufbereitung von geringerer Bedeutung sein. Eine neue Qualität ergibt sich aus mediendidaktischer Sicht erst dann, wenn ein gesprochener Text zusätzlich durch bildhafte Darstellungen veranschaulicht wird, d.h. die Information gleichzeitig in verschiedenen Symbolsystemen angeboten wird.
Angesprochene Sinnesbereiche
208 216 217 218 219 220 221 222 223 224 225 226 227 228 229 230 231 232 233 234 235 236 237 238 239 240 241 242 243 244 245 246 247 248 249 250 251 252 253 254 255 256 257 258
Symbole, Codesysteme
böse gleich- freundgültig lich
5 Medien im Physikunterricht „Jeder, der sich Wissen aneignet, jeder, der Wissen vermitteln will, kann dies nicht ohne die Verwendung von Zeichen bewerkstelligen. Das Wissen steckt gewissermaßen im Gebrauch der jeweils verwendeten Zeichen.“ (Kledzik, 1990, 40) Die neuere Medienforschung berücksichtigt vor allem auch die Symbolsysteme, in denen Information angeboten wird (in Texten, Bildern oder Zahlen). Während das Symbolsystem Schrift relativ klar durch den Zeichenvorrat (Buchstaben), die Syntax (Kombinationsregeln) und die Semantik (Bedeutung sprachlicher Zeichen) festgelegt ist, sind bildhafte Ausdrucksmittel deutlich vielschichtiger und oftmals stark kontextbezogen. Weidenmann (1991) unterscheidet hauptsächlich die drei Symbolsysteme Sprache, Zahlen und Bilder. So wird von dem „Medium Sprache“ oder dem „Medium Bild“ gesprochen, unabhängig davon, auf welcher Hardware sie realisiert werden. Weitere Unterscheidungen können relevant sein. So kann z. B. das Symbolsystem Sprache geschrieben oder gesprochen angeboten werden. Symbolsysteme nutzen unterschiedliche Ausdrucksmittel. Beispielsweise gibt es beim gesprochenen Text die Gestaltungsmöglichkeiten Betonung, Pause, Tonlage. Dem steht beim geschriebenen Text der zeitlich ungebundene Zugriff mit Möglichkeiten für Wiederholung und Rückgriff gegenüber. Bei Bildern sind nicht nur realitätsnahe Abbildungen von symbolischen Darstellungen wie Diagrammen abzugrenzen (vgl. 5.2). Tabelle 5.1: Typ, Darstellungsmittel und geforderte Operationen Bildertyp Abbilder
Film, Video
Logische Bilder, Diagramme Karten, Grafiken Cartoon
Darstellungsmittel Konturbegrenzungen, lineare Perspektive, Überlappung
Operationen Figur-Grund-Trennung, räumliche Vorstellung bei Überschneidungen in der dritten Dimension Wechsel des BeobachterKamerabewegung, Bildschnitt, sequentiel- standpunktes nachvollziehen, räumlich-zeitliche Zule Abfolge sammenhänge erkennen Flächen und Linien in Elemente und ihre Relationen erkennen graph. Bezugssystemen Äquipotential-/ Höhen- Geländehöhe, Energieniveaus, linien, Feldlinien Kraftrichtungen erkennen angedeutete Bewegun- Bewegung von Objekten igen und Abläufe dentifizieren, interpretieren
5.1 Begriffe und Klassifikationen 259 260 261 262 263 264 265 266 267 268 269 270 271 272 273 274 275 276 277 278 279 280 281 282 283 284 285 286 287 288 289 290 291 292 293 294 295 296 297 298 299 300 301
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Die zielgerechte Informationsaufnahme aus Texten, Zahlen oder Bildern stellt allerdings auch spezifische Anforderungen an die Lernenden. Beispielsweise zeigt die Tabelle 5.1 welche Ausdrucksmittel verschiedene bildhafte Darstellungen nutzen und welche Operationen sie vom Betrachter fordern. Die Übersicht orientiert sich an einer Zusammenstellung von Levie (1978). Vor allem bei komplexen Inhalten gewinnt auch das Symbolsystem, mit dem Information übermittelt werden soll, didaktisch-methodische Relevanz. Mit der Art der Repräsentation variiert auch der Abstraktionsgrad. So orientiert sich die folgende Einteilung an der Darstellungs- / Repräsentationsebene (vgl. Schröder & Schröder, 1989):
Repräsentationsebenen symbolisch
Der Magnet
Objektale Medien: Medien, die als Objekte vorliegen (z. B. Pflanzen, magnetische Materialien, Gebrauchsgegenstände, Modelle) Ikonische Medien: Medien, die optische und / oder akustische Informationen vermitteln (Bilder, Arbeitsfolien, Film, Videobänder)
Magnet
Symbolische Medien: Medien, die eine spezielle Symbolik verwenden (Text, Kartenmaterial, Schaltpläne)
Nägel
objektal
3. Klassifikation nach didaktisch-methodischen Aspekten Der Text eines Buches erscheint zunächst starr und statisch vorgegeben. Dennoch erschließt er eine breite Palette unterrichtlicher Aktivitäten: Gemeinsames Lesen, Aussuchen und Hervorheben wesentlicher Aussagen, Zusammenfassungen schreiben, Fragen zum Text formulieren, Anmerkungen und Ergänzungen verfassen, Aussagen diskutieren. Auch die Abbildung auf einer Overheadfolie wird nicht einfach nur gezeigt – sie wird erläutert, besprochen, diskutiert. Entsprechende Handlungsformen sind im Unterricht auch bei Videofilmen, Computerprogrammen oder einem Tafelbild sinnvoll und nötig. So macht es einen wesentlichen Unterschied, ob der Lehrer den t-vZusammenhang für ein Fahrzeug im Experiment aufnimmt, die Daten Schritt für Schritt aus einer Wertetabelle in ein t-v-Diagramm an der Tafel überträgt und dabei das Vorgehen mit den Schülern durchspricht oder ob er nur einen fertigen Computerplot auf dem Arbeitsprojektor zeigt. Primär lernrelevant sind die Handlungsformen und die Einbindung eines Mediums in den Lehr-Lernprozess. Die genannten Aspekte würden eine Einteilung nach den geforderten Lernaktivitäten nahe legen. Die Frage, ob Tafel oder Arbeitsprojektor das grundlegend bessere Medium ist, wird in diesem Zusammenhang wohl nicht mehr
Handlungsformen
aktiv passiv
210 302 303 304 305 306 307 308 309 310 311 312 313 314 315 316 317 318 319 320 321 322 323 324 325 326 327 328 329 330 331 332 333 334 335 336 337 338 339 340 341 342 343 344
5 Medien im Physikunterricht gestellt. Allerdings bieten die verschiedenen Geräte unterschiedliche Möglichkeiten, die situationsbedingt besonders vorteilhaft sein können (z. B. eine vorgefertigte Overheadfolie zur Wiederholung oder zum Anknüpfen an bereits behandelte Themen). Wichtig im Unterrichtsalltag ist zudem Aufmerksamkeit zu wecken und auf das Medium auszurichten. Ansonsten gehen Informationen und mitunter ganze Sinneinheiten verloren. Moderner Medieneinsatz verlangt von Lehrern also nicht nur technische Fertigkeiten, sondern auch didaktische und methodische Kompetenz beim Einsatz verschiedener Darstellungs- und Symbolformen. Konkrete Überlegungen zum Einsatz von Medien beanspruchen einen zunehmend größeren Teil der Unterrichtsvorbereitung. Gleichzeitig wird auch deutlich, warum pauschale Medienvergleiche (z. B. ob Buch, Computer oder Lehrfilm effektiveres Lernen bewirken) nicht sachgerecht sein können und aus einer unpräzisen Fragestellung ohne Kontextbezug resultieren.
5.2 Grundlagenwissen zum Medieneinsatz Auch bei neuen Medien bleiben Bild, Ton und Schrift die wichtigsten Ausdrucksmittel. Daher sind Grundkenntnisse über den Prozess der Informationsaufnahme und über die Verwendung von Bild und Text wichtige Voraussetzung für einen effektiven Medieneinsatz. Dieser Abschnitt befasst sich deshalb mit Wahrnehmung, Gedächtnis und der Encodierung von Wissen.
5.2 Grundlagenwissen zum Medieneinsatz 345 346 347 348 349 350 351 352 353 354 355 356 357 358 359 360 361 362 363 364 365 366 367 368 369 370 371 372 373 374 375 376 377 378 379 380 381 382 383 384 385 386 387
211
5.2.1 Wahrnehmung und Gedächtnis Zunächst wird das Konzept eines Mehrspeichermodells in Anlehnung an Atkinson und Shiffrin (1968) vorgestellt. Wenn dieser Ansatz auch stark vereinfacht, so kann er doch für einige wichtige Rahmenfaktoren sensibilisieren und auf die begrenzte kognitive Verarbeitungskapazität aufmerksam machen.
Drei Untereinheiten im Gedächtnis Das Gedächtnis ist nach Atkinson & Shiffrin in drei Systeme unterteilt (vgl. auch Abb. 5.1): Das sensorische Gedächtnis besteht aus den sog. sensorischen Register, die eng an die Sinnesorgane gekoppelt sind. Sie können direkt die Sinnesreize für eine kurze Zeit speichern (max. 2 Sekunden).
Information Umwelt Code- / Symbolsystem
Das sensorische Gedächtnis
Sensorisches Gedächtnis Kurzzeitgedächtnis Langzeitgedächtnis
Sensorische Aufnahme
Vergessen
Selektive Aufmerksamkeit Intensive Verarbeitung Vergessen
encoding integrating organizing
Vergessen
Abb. 5.1: Der Informationsfluss in Anlehnung an das Gedächtnismodell von Atkinson und Shiffrin Das Kurzzeitgedächtnis hat für die bewusste Verarbeitung von Informationen eine zentrale Bedeutung. Allerdings sind Kapazität und Speicherungsdauer stark begrenzt. Die Angaben laufen auf maximal 7 Informationseinheiten (Chunks) hinaus, die im Kurzzeitgedächtnis ca. 20 Sekunden präsent sein können. Was als ein „Chunk“ bzw. als eine Informationseinheit zu gelten hat, ist vom Vorwissen abhängig und subjektiv geprägt. (Beispielsweise wird für einen Elektroniker „der Transistor in Emitterschaltung“ eine Informationseinheit sein; dagegen muss der Nicht-Fachmann alle Bauteile und ihr Zusammenwirken in mehreren Teilstufen betrachten.)
Kurzzeit- oder Arbeitsgedächtnis
212 388 389 390 391 392 393 394 395 396 397 398 399 400 401 402 403 404 405 406 407 408 409 410 411 412 413 414 415 416 417 418 419 420 421 422 423 424 425 426 427 428 429 430
Langzeitgedächtnis
5 Medien im Physikunterricht Das Langzeitgedächtnis hat eine enorme Kapazität und Speicherdauer für Wissen in den verschiedensten Codierungsformen. Allerdings hat wohl jeder bereits erfahren, dass ein dauerhaftes Abspeichern von Wissen („Auswendiglernen“) nicht immer einfach zu realisieren ist. Auch wissenschaftlich sind die Details bei weitem nicht abgeklärt.
Teilprozesse der Informationsverarbeitung Genauso wichtig wie die Kenntnis der Gedächtnissysteme sind Grundkenntnisse über Informationsübertragungs- und Verarbeitungsprozesse. Sie sind in der Abb. 5.1 als dicke Pfeile symbolisiert. Relevant sind vor allem folgende Schnittstellen: • Die sensorische Aufnahme und präattentive Wahrnehmung • Die selektive Aufnahme von Informationen ins Bewusstsein und die Verarbeitung (bei begrenzten Kapazitäten im Kurzzeitgedächtnis) • Der Aufbau und die Verankerung von Wissensstrukturen im Langzeitgedächtnis 1. Sensorische Aufnahme und präattentive Wahrnehmung
Sinneskanäle
Präattentive Wahrnehmung
Über welche Sinne wird die Information aufgenommen? Zuhören unterliegt anderen Bedingungen als Lesen, auch bei gleichen Inhalten. Zudem haben Sinneskanäle ebenfalls eine begrenzte Kapazität und die Wahrnehmung über einen Sinnesbereich allein ist relativ anfällig für Fehlinterpretationen. Einige Schwierigkeiten lassen sich reduzieren, wenn das Informationsangebot mehrere Sinneskanäle anspricht und verschiedene Codes benutzt. So ist es sinnvoll, zur Erläuterung komplexer bildlicher Darstellungen nicht nur Lesetext zu präsentieren, sondern gleichzeitig gesprochenen Text anzubieten. Die Lernenden müssen dann nicht mit dem Blick hin- und her springen und über den gesprochenen Text lassen sich Blickrichtung und Betrachtungsfolge gut steuern (Weidenmann 1995). Unmittelbar mit der Sinneswahrnehmung beginnt bereits eine Informationsverarbeitung. Diese Prozesse werden zwar kaum bewusst erlebt, sie determinieren aber die Informationsaufnahme und sind damit auch für den Medieneinsatz relevant. Die sog. präattentive Wahrnehmung beinhaltet Wahrnehmungsprozesse, die nicht durch Überlegungen gesteuert werden, die schnell und noch vor einer bewussten Verarbeitung ablaufen. Dazu gehören Erkennen, Identifizieren und Gruppieren bildlicher Komponenten. Punkte, Linien und
5.2 Grundlagenwissen zum Medieneinsatz 431 432 433 434 435 436 437 438 439 440 441 442 443 444 445 446 447 448 449 450 451 452 453 454 455 456 457 458 459 460 461 462 463 464 465 466 467 468 469 470 471 472 473
213
Flächen werden in sinnvolle Gruppen geordnet, z. B. als Gegenstände, Personen, Geländeformen. Solche Ordnungsprozesse lassen sich zum Teil nach den „Gestaltgesetzen“ von Wertheimer (1938) verstehen. Dazu gibt es eindrucksvolle Beispiele: Nach dem Gesetz der Nähe werden bevorzugt Elemente zu einem Objekt zusammengefasst, die enger beieinander liegen. In dem nebenstehenden Beispiel werden links eher vier waagrechte Zeilen, rechts drei vertikale Reihen erkannt.
Nähe
Nach dem Gesetz der Ähnlichkeit steigt die Tendenz zum Zusammenschluss von Elementen, wenn ihre Ähnlichkeit wächst. In der Abbildung in der Marginalspalte wird demnach bevorzugt eine Zeilenstruktur erkannt.
Ähnlichkeit
Die Abbildung in der Maginalspalte illustriert das Gesetz der Kontinuität oder der „guten Fortsetzung“. Danach werden in der Skizze eher zwei sich kreuzende Linienzüge als zwei aneinander liegende, geknickte Linien erkannt.
Kontinuität
Nach dem Gesetz der Geschlossenheit oder der „guten Gestalt“ besteht die Tendenz, geschlossene bzw. vollständige Figuren zu sehen. Fehlende (verdeckt scheinende) Teile werden „sinnvoll“ ergänzt.
Geschlossenheit
Das Gesetz der Symmetrie besagt, dass symmetrische Bildteile eher einander zugeordnet bzw. als Struktur angesehen werden als asymmetrische. Relevanz gewinnen solche Gesetzmäßigkeiten beispielsweise bei der Gestaltung von Arbeitstransparenten, aber auch bei Versuchsaufbauten (siehe 5.5). So ist es sinnvoll, nach dem Gesetz der Nähe inhaltlich zueinander gehörende Informationen auch räumlich zusammenzustellen. Form- und Farbgebung können nach dem Gesetz der Ähnlichkeit inhaltliche Zusammenhänge oder Bezüge intuitiv anzeigen. Bei der präattentativen Wahrnehmung spielen auch bekannte Schemata und Muster eine Rolle. So nehmen Schüler ein t-x-Diagramm mitunter ganz anders wahr als ein Physiklehrer – im Extremfall vielleicht sogar als Berg- und Talstrecke. Fehlinterpretationen hängen oft mit solch oberflächlichen Betrachtungsfehlern zusammen. Zusammenfassend ist festzuhalten: Bereits die präattentive menschliche Wahrnehmung beruht auf der sinnvollen Interpretation sensorischer Information. Was „sinnvoll“ ist, wird subjektiv bestimmt und ist auch von Erfahrungen geprägt. Ordnungs- und Gestaltprinzipien beeinflussen die Informationsaufnahme.
Symmetrie Arbeitstransparente, Versuchsaufbauten
x
Lehrer t
Schüler
214 474 475 476 477 478 479 480 481 482 483 484 485 486 487 488 489 490 491 492 493 494 495 496 497 498 499 500 501 502 503 504 505 506 507 508 509 510 511 512 513 514 515 516
5 Medien im Physikunterricht 2. Aufnahme und Verarbeitung im Kurzzeitgedächtnis
Prinzip der selektiven Aufmerksamkeit
Rahmentheorie und dosierte Diskrepanz
Begrenzte Verarbeitungskapazität
Nur eine kleine Auswahl der sensorischen Aufnahme wird tatsächlich weiterverarbeitet. Neben den Prozessen der Symbol- und Mustererkennung ist für die Weiterverarbeitung sensorischer Information vor allem das Prinzip der selektiven Aufmerksamkeit entscheidend. Selbst häufig angebotene Informationen werden nicht unbedingt gespeichert: Können Sie auf Anhieb sagen, welche Prägung eine 10-Cent-Münze hat – oder welchen Aufdruck hat ein 10-€-Schein? Wenn erstaunlich wenig Menschen darauf antworten können, liegt das bestimmt nicht an einem Informationsdefizit. Vielmehr fehlt schlichtweg das Bedürfnis, die Details einer Münze oder eines Geldscheins genau zu kennen. Gerade beim Medieneinsatz, der eine hohe Informationsdichte ermöglicht, ist deshalb die Lenkung der Aufmerksamkeit auf besonders relevante Informationen entscheidend. Außerdem muss die Informationsaufnahme motiviert sein. In diesem Zusammenhang ist auch das Prinzip der „dosierten Diskrepanz“ zu nennen. Bilder oder Textpassagen, die rahmenkonform sind, d.h. die nicht von den Erwartungen abweichen, werden tendenziell eher oberflächlich verarbeitet (Friedmann, 1979). Abweichungen erregen dagegen stärker die Aufmerksamkeit (z. B. unerwartete Gegenstände auf einem Bild), vorausgesetzt, sie verlangen kein vollkommen neues Verständnis. Im Kurzzeitgedächtnis zerfällt die Information innerhalb weniger Sekunden, wenn sie nicht weiterverarbeitet wird. Durch ständiges Memorieren kann ein Inhalt zwar länger präsent bleiben; dies belastet allerdings das Arbeitsgedächtnis. Auch hier kann der Lehrer Medien als Hilfsmittel einsetzen, z. B. die Tafel, um wie auf einem Notizzettel wichtige Informationen verfügbar zu halten. Merken Sie sich zum Test die Worte „beis niek tsi sinthcädeg rhi“ und versuchen Sie gleichzeitig den Text weiterzulesen. (Wir kommen gleich wieder auf dieses Beispiel zurück.) Durch eine Flut von Neuinformationen können die Speicherzeiten im Kurzzeitgedächtnis stark absinken. Somit hat der Lehrer beim Medieneinsatz auch die Aufgabe, das Informationsangebot zu dosieren, Informationen dann anzubieten, wenn sie benötigt werden und die Aufmerksamkeit auf wesentliche Inhalte zu fokussieren.
5.2 Grundlagenwissen zum Medieneinsatz 517 518 519 520 521 522 523 524 525 526 527 528 529 530 531 532 533 534 535 536 537 538 539 540 541 542 543 544 545 546 547 548 549 550 551 552 553 554 555 556 557 558 559
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3. Verankerung von Wissen im Langzeitgedächtnis Auf die neuronalen Grundlagen des Langzeitgedächtnisses kann hier nicht eingegangen werden. Unterrichtsrelevant ist aber die Erkenntnis, dass für eine dauerhafte Speicherung die Verknüpfung mit bereits bekanntem Wissen wichtig ist. Eine besondere Art ist die Verknüpfung physikalischer Formeln mit bildhaften Vorstellungen oder experimentellen Erfahrungen. Hierzu sind Medien als Hilfsmittel geradezu prädestiniert. Haben Sie noch die fremdartigen Worte im Gedächtnis („beis niek tsi sinthcädeg rhi“)? Sie können diese problemlos länger behalten, wenn Sie die Codierung ändern und den Text rückwärts lesen: „Ihr Gedächtnis ist kein Sieb“. Das Beispiel zeigt, wie hilfreich die angemessene Codierung von Informationen ist. Allgemein besteht ein wesentlicher Teil der Lernarbeit darin, auf der Basis von bereits vorhandenem Wissen und unter Nutzung verfügbarer Techniken eine günstige Codierungsform zu finden. Außerdem wird eine Information um so besser aufgenommen (und behalten), je intensiver sie verarbeitet und angewendet wird. Eine aktive Auseinandersetzung mit Inhalten macht Wissen zudem flexibler verfügbar. Craik & Lockhart (1972) drücken dies in ihrem Konzept der Verarbeitungstiefe aus. Je nach Intensität der Verarbeitung bleiben unterschiedlich tiefe „Spuren“ im Gedächtnis. Das Elaborationskonzept erachtet sogar die Art und Weise, wie Bezüge und Verknüpfungen zum Vorwissen hergestellt werden als wesentlich für Verstehensleistungen (Anderson & Reder, 1979). Abschließend sei noch betont, dass die Informationsverarbeitung genau genommen natürlich kein einfach gerichteter Prozess ist, wie dies in Abb. 5.1 erscheint. Sie durchläuft mehrere Schritte mit Rückgriffen und Wechselwirkungen zu vorhandenen Wissensstrukturen.
5.2.2 Symbolsysteme und kognitive Repräsentation Information und Wissen lassen sich in verschiedenen Symbolsystemen codieren und präsentieren (verbal, bildlich, in Ziffern und Zeichen). Dabei ist vor allem auch bei multicodalen Informationsangeboten über Medien die Vertrautheit des Lernenden mit den Codes sicherzustellen. Zwei wichtige Repräsentationsarten sind die bildhaft-analoge und die sprachliche Darstellung. Die Form, in der Wissen gespeichert wird bzw. werden soll, kann durch die Art des Informationsangebotes vorbereitet werden. Allerdings darf man sich
Verknüpfung
Encodierung
Aktivierung und Elaborationskonzept
216 560 561 562 563 564 565 566 567 568 569 570 571 572 573 574 575 576 577 578 579 580 581 582 583 584 585 586 587 588 589 590 591 592 593 594 595 596 597 598 599 600 601 602
5 Medien im Physikunterricht dabei keine einfachen Abbildungsvorgänge vorstellen. Weidenmann (1995) weist auf komplexe Zusammenhänge zwischen Präsentation, Verarbeitung und Speicherungsform im Gedächtnis hin. Bereits die Theorie der dualen Codierung unterscheidet verbal- und bildorientierte Repräsentations- und Codierungssysteme (Paivio, 1986). Tatsächlich belegen auch hirnphysiologische Befunde, dass unterschiedliche Bereiche des Gehirns bei der Verarbeitung von Sprache und Bildern aktiv sind („Sprachhirn“, „Bilderhirn“). Beide Systeme sind aber funktional eng miteinander gekoppelt und in der Regel über Referenzen stark verflochten.
Prinzip der multiplen Codierung
Vorteile kombiniert verbal und visuell dargebotener Information sind an vielen Stellen auch empirisch belegt. Eine Übersicht geben Metaanalysen von Levin u. a. (1987). Allgemein wird durch eine mentale Multicodierung des Inhaltes die Verfügbarkeit von Wissen verbessert. Dies erleichtert insbesondere Suchprozesse beim Problemlösen. Auch aus der Theorie der kognitiven Flexibilität (Spiro et al., 1988) ist abzuleiten, dass Wissen in verschiedenen Formen präsentiert werden und in verschiedenen Szenarien eingebunden sein soll.
El. Draht Spule Kontakte Batterie
Feder
Für die Repräsentation naturwissenschaftlicher Inhalte sind mentale Modelle derzeit in der Lernpsychologie von theoretischen und bei der Entwicklung von Multimediaanwendungen von hohem praktischen Interesse. Es handelt sich dabei um analoge, kognitive Repräsentationsformen komplexer Zusammenhänge, wie z. B. Vorstellungen zu Bau und Funktionsweise eines Oszilloskops. Ein weiteres, klassisches Beispiel ist die elektrische Klingel in den Betrachtungen von de Kleer & Brown (1983). Die Funktion mentaler Modelle kommt beim Analysieren, Planen, Vorhersagen, Erklären von Prozessabläufen zum Tragen. „Ein mentales Modell ist die Repräsentation eines begrenzten Realitätsbereichs in einer Form, die es erlaubt, externe Vorgänge intern zu simulieren, um Schlussfolgerungen zu ziehen und Vorhersagen zu treffen“ (Ballstaedt, Molitor, Mandl, 1989, 111). Theorien zu mentalen Modellen bieten einen viel versprechenden theoretischen Hintergrund für den Medieneinsatz. Medien können durch externale Präsentationen viele Prozesse und Zusammenhänge visualisieren und so die Entwicklung sinnvoller innerer / mentaler Modelle erleichtern (zu mentalen Modellen siehe Johnson-Laird, 1980, Forbus & Gentner, 1986, Seel, 1986, Steiner, 1988).
5.2 Grundlagenwissen zum Medieneinsatz 603 604 605 606 607 608 609 610 611 612 613 614 615 616 617 618 619 620 621 622 623 624 625 626 627 628 629 630 631 632 633 634 635 636 637 638 639 640 641 642 643 644 645
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5.2.3 Bildhafte Darstellungen Schließen Sie die Augen und denken Sie an Ihre ersten Schultage. Wie viele Bilder fallen Ihnen ein, wie viele Sätze, die damals gesprochen wurden? – Unser Gedächtnis zeigt beim Erinnern und Wiedererkennen von Bildern erstaunliche Leistungen. Gleichzeitig sind Bilder eine zentrale Darstellungsform für Unterrichtsmedien. Daher ist dieser Abschnitt speziell dem Einsatz von Bildern gewidmet. Bildhafte Darstellungen kommen einem wissenschaftlichen Lernen aber nur zugute, wenn der Betrachter auch die notwendigen Fähigkeiten besitzt, die Bildinhalte zu entschlüsseln und weiterzuverarbeiten. Deshalb sind aus didaktischer Sicht verschiedene Arten von Bildern zu unterscheiden. Sie verwenden unterschiedliche Techniken für die Darstellung von Sachverhalten, und fordern unterschiedliche Fertigkeiten und Fähigkeiten des Betrachters. Gegebenenfalls müssen Zeichenkonventionen wie Pfeile, Sprechblasen oder technische Symbole verstanden werden. Issing (1983) unterscheidet demzufolge: Abbildungen, analoge Bilder und logische Bilder. 1. Abbildungen übermitteln wesentliche Merkmale der visuellen Wahrnehmung von Objekten und Szenen der Umwelt. Sie zeigen primär die äußerlichen Strukturen ihres Referenz-Objekts. Dies gilt für Fotografien bis hin zu Strichzeichnungen. Ein Bild überwindet räumliche und zeitliche Distanz und kann Sachverhalte aus der schwer zugänglichen Wirklichkeit zeigen. Abbildungen sind als Anschauungsmaterial methodisch besonders hilfreich, wenn ein Gegenstand oder Vorgang weit weg ist, sehr selten auftritt, zu klein ist, sehr schnell oder langsam abläuft, unübersichtlich groß oder für die direkte Beobachtung zu gefährlich ist. Auch zum Aufzeigen von Details lassen sich Abbildungen einsetzen. Dabei können verschiedene Stilmittel die wesentlichen Elemente oder Beziehungen akzentuieren („Lupen“-Zeichnungen, Markierungen). Sinnvoll ist auch oft ein Ausblenden von Nebenreizen. Hier liegt eine Stärke von Zeichnungen. Details, die vom eigentlichen Inhalt eher ablenken, können einfach weggelassen werden. Auch Abstraktionsgrad oder Realitätsnähe sind in einem gewissem Rahmen variabel (perspektivische Darstellung, Schatten, Farben einbeziehen oder nur Strichzeichnungen anbieten). Die Anforderungen an den Lernenden wachsen zum einen mit der Notwendigkeit, Beziehungen zu übergeordneten Lerninhalten aufzubauen und zum anderen mit der Komplexität der Abbildung. Letzteres kann mitunter ein zielgerechtes Erfassen der wesentlichsten Details deutlich erschweren.
Abbildungen
218 646 647 648 649 650 651 652 653 654 655 656 657 658 659 660 661 662 663 664 665 666 667 668 669 670 671 672 673 674 675 676 677 678 679 680 681 682 683 684 685 686 687 688
5 Medien im Physikunterricht
Analoge Bilder
2. Analoge Bilder dienen vor allem der Darstellung nicht direkt beobachtbarer Strukturen und Prozesse (z. B. Modellbild einer DNS oder Elektronenwolken zur Anzeige von Aufenthaltswahrscheinlichkeiten). Analoge Bilder nutzen entweder funktionale Analogien (Elektronendrift als Bild für den elektrischen Strom in Metallen) oder strukturelle Analogien (z. B. Atommodelle mit den Bausteinen Kern und Schale). Entsprechend helfen sie, Strukturen oder Funktionsweisen zu verstehen. Prinzipiell liegt allerdings bei allen Analogien eine Gefahr in unerwünschten Nebeninformationen, die evtl. zu Fehlvorstellungen führen. (Beispielsweise lassen sich beim bohrschen Atommodell angemessene Größenrelationen nicht direkt darstellen.)
Logische Bilder
3. Logische Bilder (Grafiken, Diagramme) zeichnen sich durch eine hochgradige Schematisierung und einen starken Abstraktionsgrad aus.
Gedämpfte Schwingung
Beispiele sind Diagramme oder grafische Darstellungen von Daten oder Funktionszusammenhängen. Die Kommunikation erfolgt über Symbole, die selbst keine physikalischen Details zeigen. Die Darstellungscodes sind konventionalisiert, wie bei Schaltsymbolen aus der Elektronik, aber auch bei Tortendiagrammen zum Anzeigen von Größenanteilen, Liniengraphen, Säulendiagrammen, Konturplots … Prinzipiell eignen sich Diagramme und Grafiken zum Aufzeigen von Beziehungen und Verflechtungen zwischen verschiedenen Teilen eines Systems. Ziel ist die komprimierte Darstellung von Strukturen, Relationen, Konzepten, Theorien, Abläufen, ohne auf äußerliche Begleitfaktoren einzugehen. Besonders Liniengrafiken haben im physikalisch-wissenschaftlichen Informationsaustausch eine große Bedeutung. Während Tabellen zwar einzelne Werte mit großer Genauigkeit angeben können (z. B. auf 6 signifikante Stellen genau), machen Grafiken übergeordnete Zusammenhänge in der Regel effizienter sichtbar. Sie ermöglichen auch anschauliche Vergleiche zwischen Theorie und Messung. Voraussetzung für den Einsatz ist wiederum, dass der Lernende mit dem Symbolsystem vertraut ist. Andernfalls sind ständig kognitive Kapazitäten für die Interpretation der Symbole belegt. Dies beschränkt die Verarbeitung der eigentlichen Inhalte. Nach Schnotz (1997) bedarf es bereits spezieller kognitiver Schemata (d. h. kognitiver Arbeitsmuster), um Informationen aus Diagrammen abzulesen. Sie unterscheiden sich wesentlich von alltäglichen Wahrnehmungsmustern und müssen erst erlernt werden.
5.2 Grundlagenwissen zum Medieneinsatz 689 690 691 692 693 694 695 696 697 698 699 700 701 702 703 704 705 706 707 708 709 710 711 712 713 714 715 716 717 718 719 720 721 722 723 724 725 726 727 728 729 730 731
Eine besondere Lernhilfe ist die nebenstehende Abbildung (siehe auch Supplantationstheorie von Salomon, 1978). In dieser Computeranimation wird eine Federschwingung realitätsnah dargestellt und gleichzeitig das entsprechenden t-y-Diagramm generiert. Der Zusammenhang zwischen realitätsnaher und abstrakter, grafischer Repräsentation wird direkt verständlich (siehe auch Kapitel 19). Wenn ein Bild mehr sagen kann als tausend Worte, kann es damit aber auch Verwirrung stiften. Abgesehen von fachinhaltlichen Faktoren sind deshalb nach Schnotz (1994) vier allgemeine Gestaltungsprinzipien zu beachten: Syntaktische Klarheit: Die einzelnen Komponenten des logischen Bildes müssen für den Betrachter eindeutig erkennbar sein. Linien, Flächen und Punkte sollen sich deutlich vom Hintergrund absetzen und dürfen auch nicht zu klein sein. Eine Beschriftung sollte eindeutig der entsprechenden Bildkomponente zuzuordnen sein. Semantische Klarheit: Komponenten mit funktionalen Gemeinsamkeiten sollten auch gemeinsame visuelle Eigenschaften haben. Komponenten mit unterschiedlichen Funktionen sollten sich durch erkennbare Unterschiede abgrenzen. Farbe als Ausdrucksmittel ist z. B. gut für qualitative Abgrenzungen geeignet. Implizite Ordnung: Eine erkennbare innere Strukturierung nach logischen Kriterien hilft in der Regel ein Diagramm besser zu erfassen und zu behalten. So kann sich z. B. die Reihenfolge, in der die unabhängige Variable in einem Balkendiagramm aufgetragen ist, an logischen Kriterien orientieren. Sparsamkeit: Durch einen Verzicht auf Effekte, die nicht der Informationsvermittlung dienen, wird vermieden, dass der Lernende wichtige Information erst aus dem Reizangebot herausfiltern muss. Die Gestaltung von Diagrammen ist ein Aspekt, die Arbeit mit ihnen ein zweiter. Die nachfolgende Einteilung nach Wainer (1992) ist hilfreich, wenn es darum geht, die Anforderungen an den Lernenden zu dosieren und schrittweise auszubauen. Er klassifiziert die Informationsentnahme aus Diagrammen nach drei Ordnungen. • Ablesen von Einzelwerten • Erkennen von Relationen zwischen Einzelwerten, Ablesen von Variablenzusammenhängen (z. B. lineare Zusammenhänge) • Relationen zwischen Entwicklungen oder Zusammenhänge zwischen Relationen erkennen.
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220
5.3 Bilder und Texte im Physikunterricht
5.3.1 Die Funktion von Bildern Zu den klassischen Funktionen von Bildern in Printmedien gehören nach Levin (1981) die dekorative Funktion, die Repräsentations-, Interpretations-, Organisations- und Transformationsfunktion. Neben der Zeigefunktion, Fokusfunktion und Konstruktionsfunktion (Weidenmann, 1991) sind noch physikspezifische Visualisierungen und die Motivationsfunktion zu nennen. Die nachfolgenden Beispiele zeigen verschiedene Einsatzmöglichkeiten für Bilder im Physikunterricht. Sie sind geordnet nach den Aspekten Wissensvermittlung, Mehrfachcodierung, Strukturierung von Wissen und Motivation.
1. Wissensvermittlung Zündkerze
Ansaugen
Zeigefunktion Die Zeigefunktion zielt darauf, möglichst deutliche und angemessene bildhafte Vorstellungen zu vermitteln. Dies bleibt aber nicht nur auf das Abbilden von Gegenständen beschränkt, auch physikalische Abläufe lassen sich darstellen, z. B. die Arbeitsphasen beim 4-TaktOttomotor.
Kolben tange Pleuels
732 733 734 735 736 737 738 739 740 741 742 743 744 745 746 747 748 749 750 751 752 753 754 755 756 757 758 759 760 761 762 763 764 765 766 767 768 769 770 771 772 773 774
5 Medien im Physikunterricht
Verdichten
Verbrennen Ausstoßen
Da beim Lernen in der Regel neue, noch unbekannte Sachverhalte gezeigt werden, ist die Informationsdichte für den Lernenden i. A. hoch. Deshalb empfehlen sich zusätzliche methodische Maßnahmen, um die gezielte Aufnahme und Verarbeitung zu sichern. Dazu gehören verbale Hinweise, Bildbeschriftung und Begleittext oder auch eine stufenweise Ausdifferenzierung des Bildes durch Overlaytechnik, Bilderserien oder Überblendtechnik im Film.
5.3 Bilder und Texte im Physikunterricht 775 776 777 778 779 780 781 782 783 784 785 786 787 788 789 790 791 792 793 794 795 796 797 798 799 800 801 802 803 804 805 806 807 808 809 810 811 812 813 814 815 816 817
Fokusfunktion, Detaildarstellungen Details auszuschärfen oder Fehlvorstellungen korrigieren, das kann ein Ziel von Ein- und Ausblendungen, Lupenaufnahmen, vergrößerten Querschnitten u.s.w. sein. Voraussetzung ist, dass Lernende bereits Vorkenntnisse besitzen, um die Details einordnen zu können. Bekannte Komponenten werden in der Regel nur grob dargestellt; sie haben aber die wichtige Funktion, den Bezugsrahmen anzudeuten. Konstruktionsfunktion, Kombination von Einzelwissen Bilder dieser Art sollen helfen, Sachverhalte, Prozesse oder Vorgehensweisen aus vorwiegend bekannten Elementen zusammenzusetzen. Zusätzlich können symbolische Darstellungen den theoretischen Zusammenhang aufzeigen (z. B. Kraftvektoren). Die nebenstehende Abbildung befasst sich mit dem Auftrieb und knüpft an einen Demonstrationsversuch an. Physikspezifische Visualisierungen Visualisierung bedeutet, Lerninhalte so zu codieren, dass sich dem Lernenden optische Vorstellungshilfen bieten. Verschiedene Darstellungen können in der Physik direkt an die experimentelle Messwerterfassung anknüpfen. Ein Beispiel ist die Erklärung einer akustischen Schwebung. Die Darstellung von Tönen als Überlagerung harmonischer Schwingungen lässt sich direkt mit experimentell über ein Mikrophon erfassten Luftdruckschwankungen vergleichen. Visualisierung kann auch die Umsetzung abstrakter Sachverhalte in bildhafte Analogien beinhalten. Hierzu gibt es ebenfalls eine Reihe fachspezifischer Darstellungsformen (z. B. zur Verteilung der Elektronendichte). Solche Analogien können wesentliche strukturelle Ähnlichkeiten zu bekanntem Wissen aufzeigen. Ziel kann auch sein, die Erzeugung behaltenssteigernder Vorstellungsbilder und den Aufbau mentaler Modelle zu unterstützten (Imagery).
2. Multiple Codierung Die Kombination von Bild und Text kann eine multiple Codierung unterstützen. Die Bilder sind dabei eine Hilfe und Ergänzung zu den sprachlichen Ausführungen (Bilder als „Diener“ des Textes). Der Schwerpunkt kann aber auch bei der bildhaften Beschreibung liegen, wobei der Text dann vorwiegend eine Organisations- und Interpretationsfunktion übernimmt. Weitere Funktionen von Bilder speziell im Zusammenhang mit Textdarstellungen sind auch bei Levin (1981) zu finden.
221
222 818 819 820 821 822 823 824 825 826 827 828 829 830 831 832 833 834 835 836 837 838 839 840 841 842 843 844 845 846 847 848 849 850 851 852 853 854 855 856 857 858 859 860
5 Medien im Physikunterricht Ersatz für komplexe Beschreibungen Manche Sachverhalte sind schlichtweg zu komplex für die rein verbale Beschreibung (z. B. das Magnetfeld der Erde). Auch Situationsbeschreibungen sind oft verbal sehr aufwendig und mitunter über ein Bild schneller und ökonomischer zu realisieren. Repräsentationsfunktion von Bildern Bilder können den Inhalt von Textaussagen visuell widerspiegeln. Eine realitätsnahe Abbildung von Objekten, Aktivitäten oder Personen kann Behaltensleistungen steigern. Interpretationsfunktion, bildliche Konkretisierungen Bilder können Textaussagen konkretisieren. Solche Anwendungen finden Sie laufend in diesem Buch. Dies bietet zusätzliche Hilfen für das Verständnis eines komplexen Wissensbereiches. Ein Bild kann aber auch interpretativen Charakter erlangen, z. B. durch optische Akzentuierungstechniken wie Überzeichnungen, Einund Ausblendungen oder Verfremdung. (Professionelle Manipulationstechniken sind aus der Werbung bekannt.) Bildanleitungen Nicht nur in Bedienungsanleitungen für Geräte können Bilder einen realistischen Bezugsrahmen schaffen und den situativen Kontext herausstellen. Bilder können sogar die primäre Informationsquelle für Sachinformationen werden. Der Text übernimmt dann mehr organisierende Funktion. Dekorative Funktion von Bildern Von einer dekorativen Funktion kann man sprechen, wenn Bilder zwar das Interesse des Lesers wecken sollen, aber keine wesentliche inhaltliche Bedeutung haben.
3. Organisation und Strukturierung kognitiver Inhalte Bilder können die Aufmerksamkeit lenken und die Informationsaufnahme organisieren und strukturieren. So besteht eine Aufgabe von Tafelbildern oder Folien oft darin, Zusammenhänge und wesentliche Details hervorzuheben, oder wichtige Ergebnisse zu betonen. Als Techniken für die Strukturierung und Organisation von LehrLernprozessen sind in diesem Zusammenhang zu nennen:
5.3 Bilder und Texte im Physikunterricht 861 862 863 864 865 866 867 868 869 870 871 872 873 874 875 876 877 878 879 880 881 882 883 884 885 886 887 888 889 890 891 892 893 894 895 896 897 898 899 900 901 902 903
Concept maps Inhalte, Konzepte und ihr Beziehungsgefüge werden räumlichbildhaft angeordnet. Dies kann helfen, Wissensbereiche sinnvoll zu strukturieren Advance organizer Nicht nur Texte sondern auch bildhaft schematische Darstellungen können der Vorstrukturierung dienen und die Gliederung neuer Inhalte aufzeigen. Insbesondere können sie auch die inhaltliche Struktur eines Textes aufzeigen. Bezugsrahmen Bildern können einen übersichtlich gegliederten Bezugsrahmen für das Verständnis eines Textes bereitstellen. Beispielsweise lassen sich zeitliche Beziehungen zwischen verschiedenen Arbeitsschritten illustrieren, räumliche Zusammenhänge wie bei Landkarten aufzeigen oder inhaltliche Einordnungen vornehmen. Gedächtnisstützende Funktion Bei der Übertragung von Text oder Formeln in ein bildhaftes Format entstehen oft originelle Bildschöpfungen, die wie „Eselsbrücken“ ein Speichern und Nutzen von Wissen erleichtern. Das nebenstehende Beispiel drückt das Ergebnis einer Energiebetrachtung aus.
4. Motivierung Die intensive Beschäftigung mit Lerninhalten setzt ausreichende Motivation voraus. Bilder können Problemsituationen darstellen – überraschende, humorvolle oder ästhetische Momente enthalten und auf diese Weise zumindest den Anstoß zur Beschäftigung mit einem Sachverhalt geben. Sie sichern aber nicht zwangsläufig positive Lerneffekte, insbesondere nicht, wenn sie nur rein dekorative Funktionen haben (Levin 1981; Levin et al. 1987). Positive Effekte sind dagegen bei repräsentierenden, organisierenden oder interpretierenden Illustrationen nachgewiesen (Levin et al., 1987). Nach Ballstaedt et al. (1981) ist anzunehmen, dass eine Komplementarität oder besser die „ergänzende Verzahnung“ von Text und Grafik entscheidend die Wirkung grafischer Gestaltungsmittel beeinflusst. Wesentlich dabei ist, dass dies zu einer tiefer gehenden Verarbeitung der Inhalte führt.
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224 904 905 906 907 908 909 910 911 912 913 914 915 916 917 918 919 920 921 922 923 924 925 926 927 928 929 930 931 932 933 934 935 936 937 938 939 940 941 942 943 944 945 946
5 Medien im Physikunterricht
5.3.2 Zum Instruktionsdesign mit Bildmedien Die Unterrichtspraxis ist zu komplex um pauschale Vorgehensweisen zum Medieneinsatz festzulegen. Zumindest muss der Lehrer aber eine Sensibilität für Probleme entwickeln. So sollte er schnell und sicher folgende Fälle erfassen: • Der Lernende betrachtet ein Bild nur oberflächlich. Wichtige Elemente und Details erreichen gar nicht das Bewusstsein. • Der Betrachter versteht bestimmte Bildelemente nicht oder nur mangelhaft (z. B. die Symbolik). Die Bildaussage wird deshalb nicht richtig erfasst. • Der Lernende betrachtet das Bild nicht zielgerecht im Hinblick auf das Lernziel. Nebensächlichkeiten rücken in den Vordergrund des Interesses. Das Bild gewinnt an Unterhaltungswert, wirkt aber nicht auf das Lernziel hin. Folgende Hilfen des Lehrers kommen in Frage: • • • •
Verarbeitungstiefe
Aufmerksamkeit lenken Bei Figuren-, Muster-, Grafeninterpretation helfen Zentrale Bildaussage herausarbeiten Wissensaufbau organisieren
Entsprechende Vorüberlegungen gehören in die Unterrichtsvorbereitung. So sind beispielsweise für jüngere Schüler konkrete Aufgabenstellungen wie Beschriften, Abzeichnen, Ergänzen von Bildteilen einzuplanen. Sie sollen die Aufmerksamkeit auf bestimmte Elemente lenken und letztlich die Verarbeitungstiefe der Bildinformation verbessern. Bei der Arbeit mit Grafiken und Diagrammen sollte eine Orientierungsphase der inhaltlichen Diskussion vorausgehen. Dazu gehören (Weidenmann, 1991): • Herausstellen, was die Achsen anzeigen • Die Bedeutung von Sonderzeichen und Legenden klarstellen • Herausarbeiten, was die Kurven oder Flächen anzeigen.
5.3 Bilder und Texte im Physikunterricht 947 948 949 950 951 952 953 954 955 956 957 958 959 960 961 962 963 964 965 966 967 968 969 970 971 972 973 974 975 976 977 978 979 980 981 982 983 984 985 986 987 988 989
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5.3.3 Texte im Physikunterricht Auch bei verbalen Informationen spielt die Anregung von Gedanken und Assoziationen eine wichtige Rolle. Analoge Effekte wie bei Gestaltgesetzen im visuellen Bereich (vgl. 5.2.1) sind bekannt. Ein Beispiel ist der folgende Kinderscherz nach dem "Prinzip der guten Fortsetzung": Sagen Sie ganz schnell hintereinander fünf mal Blut und antworten Sie dann sofort: Wann laufen Sie an einer Ampel über die Straße? (Etwa bei Rotlicht?)
Assoziationen
Einige Probleme der Bildverarbeitung lassen sich tatsächlich auch auf Text und Sprache übertragen und sind von grundlegendem theoretischem Interesse. Um den Rahmen nicht zu sprengen, werden hier aber nur kurz einige allgemeine Gestaltungsrichtlinien für Lehrtexte zusammengestellt. Was macht einen Text klar und leicht verständlich? Langer et al. (1993) haben vier Merkmalskomplexe zusammengefasst, die eine erste Orientierung bieten können. Verständliche Texte berücksichtigen folgende Faktoren, sog. „Verständlichkeitsmacher“: • Einfachheit: Geläufige, anschauliche Ausdrücke kommen in kurzen einfachen Sätzen vor.
Verständlichkeit
• Gliederung – Ordnung: Zu unterscheiden ist zwischen einer äußeren Ordnung (Überschriften, Abschnitte, Hervorhebungen ) und einer inneren Ordnung. Letztere beinhaltet, dass Informationen in sinnvoller Abfolge angeboten werden und Vor- und Zwischenbemerkungen eine inhaltliche Gliederung aufzeigen. • Kürze – Prägnanz: Positiv sind Knappheit, hohe Informationsdichte, keine Weitschweifigkeiten oder leere Phrasen. • Anregende Zusätze: Dazu gehören Beispiele, Einbettung einer Aussage in eine Episode, direkte Rede, Humor, Spannung.
Inhaltliche Strukturierung und Organisation Texte bieten die Informationen sequentiell an, also grundsätzlich anders als Bilder, die verschiedene Informationen simultan darstellen können. Verständlichkeit setzt somit auch voraus, dass notwendige Vor- und Zusatzinformationen im Text rechtzeitig und in der entsprechenden Abfolge angeboten werden. Sollen sich Schlussfolgerungen aus mehreren Fakten ergeben, so ist zu berücksichtigen, dass Informationen um so leichter miteinander in Beziehung zu setzen sind, je näher sie im Text beieinander stehen. Die Sequenzierung, d. h. die Art, wie Informationen zusammen-
Richtige Sequenzierung
226 990 991 992 993 994 995 996 997 998 999 1000 1001 1002 1003 1004 1005 1006 1007 1008 1009 1010 1011 1012 1013 1014 1015 1016 1017 1018 1019 1020 1021 1022 1023 1024 1025 1026 1027 1028 1029 1030 1031 1032
5 Medien im Physikunterricht gestellt oder getrennt angeboten werden, beeinflusst die Wahrscheinlichkeit für Verknüpfungen und Verflechtungen. Nach Ballstaedt et al. (1981) sind deshalb Bedeutungseinheiten so zu sequenzieren, dass für neue Bedeutungseinheiten die relevanten Anknüpfungspunkte noch aktiv im Gedächtnis vorliegen. Andernfalls sollten den Lernenden zumindest Hilfen angeboten werden, relevante Anknüpfungspunkte zu finden. Darüber hinaus mobilisiert jede Textstelle Erwartungen und regt Gedanken an. Werden diese logisch weitergeführt und nicht abgebrochen, dann wird ein Text als folgerichtig empfunden.
Modularisierung
Bei reinen Fließtexten wird die Verknüpfung mehrerer komplexer Sinneinheiten schwierig. Modularisierung und hierarchische Zuordnungen können durch entsprechende Überschriften und Unterüberschriften erfolgen. Außerdem unterstützen Randbemerkungen und Marginalspalten mit Stichworten das Erfassen von modularen Sinneinheiten. In der Regel gibt die Fachsystematik schon erste Richtlinien für die Sequenzierung und Modularisierung. Weitere Orientierungsgrundlagen sind Bezüge zwischen Vorwissen und neuem Wissen, die dem Prinzip "vom Bekannten zum Unbekannten" folgen. Auch die Anwendungsorientierung kann Leitlinien aufzeigen und beispielsweise analog zu Bedienungsanleitungen eine Nutzung Schritt für Schritt aufdecken.
Verarbeitungshilfen Bei längeren Texten bieten inhaltliche Übersichten eine wertvolle Hilfe. Außerdem verlangt sinnvolles Lernen ein Ordnen und Verflechten von neuem mit vorhandenem Wissen. Advance organizer
Vorangestellte Organisationshilfen („advance organizers“), unterstützen eine sinnbezogene Eingliederung neuer Informationen und geben auch Hinweise, wie eine bestimmte Lernaufgabe erfolgreich zu bewältigen ist. Advance organizers informieren über zentrale Konzepte in allgemeinerer Form, beziehen sich aber auf die Wissensstruktur des Lernenden. Sie gehen damit über inhaltliche Übersichten hinaus.
Begleitinformationen
Weitere Hilfen sind Randbemerkungen, explizite Zielvorgaben, Aufgaben und Fragen zum Text.
Zusammenfassungen
Zusammenfassungen können am Anfang oder am Ende eines Textes stehen. Sie heben relevante Aussagen besonders hervor und fördern damit eine selektiv akzentuierte Lese- bzw. Lernstrategie. Der Leser
5.3 Bilder und Texte im Physikunterricht 1033 1034 1035 1036 1037 1038 1039 1040 1041 1042 1043 1044 1045 1046 1047 1048 1049 1050 1051 1052 1053 1054 1055 1056 1057 1058 1059 1060 1061 1062 1063 1064 1065 1066 1067 1068 1069 1070 1071 1072 1073 1074 1075
227
wird besonders auf die hervorgehobenen Aussagen achten bzw. diese noch einmal ins Gedächtnis rufen. Möglicherweise wird er den Text diesbezüglich noch einmal durcharbeiten.
Äußere Gestaltung Bei Lehrtexten sind äußerlichen Minimalforderungen eine ausreichende Schriftgröße, gut lesbare Typen, übersichtliches Seitenlayout ohne Fragmentierung und keine Ablenkung durch redundante, überflüssige Bilder (insbesondere bei Bildschirmtexten). Fettdruck, Unterstreichungen oder Farbe können als Organisations- und Verarbeitungshilfe eingesetzt werden. Insbesondere an Tafel oder Arbeitstransparent sind außerdem Farbe, Schriftgröße und Schrifttyp geeignete Gestaltungsmittel.
Zielgerichtete Verarbeitung unterstützen Alle Kriterien werden nie optimal erfüllt sein. Entsprechend den Gegebenheiten sind im Unterricht zusätzliche Maßnahmen einzuplanen, um Schwächen auszugleichen. Insbesondere ist eine ausreichende Verarbeitungstiefe sicherzustellen. Bereits die Wiedergabe eines Textes mit eigenen Worten verlangt bewusstes Lesen. Außerdem können folgende Aufgabenstellungen eine zielgerichtete Textaufnahme unterstützen:
Verarbeitungstiefe
• Hauptideen und grundlegenden Aussagen herausarbeiten • Kausalzusammenhänge, Ursache-Wirkung-Ketten, Gesetzmäßigkeiten und Rahmenbedingungen herausstellen • Schwer verständliche Passagen markieren und diskutieren; evtl. auch Fachtermini als Anknüpfungspunkte wählen • Informationen im Hinblick auf eine konkrete Problemstellung strukturieren und verwerten, auf Beispiele anwenden. Medien dienen im Unterricht nicht nur als Informationsquelle. Weitere wichtige Intentionen sind: • • • • • • •
Motivierung Veranschaulichung Erarbeiten, Darstellen Reproduktion / Wiederholung Übung Kontrolle / Feedback Individualisierung / Differenzierung
Resümee und Abrundung
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5 Medien im Physikunterricht Jeder Medieneinsatz ist in einem methodischen Gesamtkontext zu sehen. Die Fragen zur methodischen Analyse von Schröder und Schröder (1989) können auch andeuten, wie komplex die Zusammenhänge sind: • Für welche Sozialformen eignet sich das Medium (Lehrervortrag, Still- / Einzelarbeit oder Partnerarbeit am Computer)? • In welcher Artikulationsstufe kann das Medium eingesetzt werden? • Welche Unterrichtszeit wird beansprucht? • Sind Lehrerinformationen oder weitere Medien hilfreich? • Welche Arbeitstechniken verlangt der Medieneinsatz vom Schüler? • Kann durch die Medien eine Differenzierung erfolgen? • Welche Arbeitsanweisungen und Hilfen sind für ein selbständiges Arbeiten der Schüler nötig? Medien dienen im Unterricht einer besseren Informationsvermittlung und der Bereitstellung lernrelevanter Informationen. Inhalte mögen noch so wichtig sein, ohne entsprechende Aufbereitung und Präsentation erreichen sie die Lernenden nicht. Einige lernpsychologische Grundlagen zur Informationsvermittlung, insbesondere zur Bildverarbeitung, wurden deshalb behandelt. Daraus lassen sich einige Aufgaben des Lehrers beim Medieneinsatz ableiten: • • • • • • •
Primat der Ziele vor den Medien
Die Kenntnis von Symbol- und Codesystemen sicherstellen Die Informationsdichte angemessen wählen Die Reihenfolge des Informationsangebotes abstimmen Die Steuerung der Aufmerksamkeit (auch über Orientierungscodes) Die benötigte Informationen aktuell verfügbar halten Die Verankerung von neuem mit vorhandenem Wissen Die Verarbeitungstiefe garantieren.
Bevor im nächsten Abschnitt die spezifischen Eigenheiten verschiedener Medien betrachtet werden, sei noch einmal betont, dass Medien prinzipiell ein Hilfsmittel sind, um einem Unterrichtsziel näher zu kommen. Das Ziel entscheidet letztlich über Sinn und Unsinn des Medieneinsatzes.
5.4 Die klassischen Medien 1119 1120 1121 1122 1123 1124 1125 1126 1127 1128 1129 1130 1131 1132 1133 1134 1135 1136 1137 1138 1139 1140 1141 1142 1143 1144 1145 1146 1147 1148 1149 1150 1151 1152 1153 1154 1155 1156 1157 1158 1159 1160 1161
5.4 Die klassischen Medien Dieser Abschnitt befasst sich mit verschiedenen vortechnischen und technischen Geräten. Der kompetente Einsatz moderner Medien setzt ohne Zweifel auch einige technische Grundkenntnisse voraus. Diesbezüglich muss jedoch auf Hinweise und Empfehlungen der Hersteller verwiesen werden. Wir gehen hier auf artspezifische Darstellungs- und Präsentationsmöglichkeiten, aber auch auf typische Anwendungsfehler ein. Dieses Kapitel behandelt klassische Unterrichtsmedien. „Neue Medien“ werden danach behandelt.
5.4.1 Die Wandtafel Neben Wandbildern, -karten, Anschauungsmodellen, Präparaten und Büchern zählt die Wandtafel zu den vortechnischen Medien. Dennoch spielt sie im Klassenzimmer eine herausragende Rolle. Vor allem ist sie einfach zu handhaben, jederzeit verfügbar und die Schüler erleben die Entstehung des Tafelbildes in jeder Phase mit. Das Tafelbild kann den Ablauf der Unterrichtsstunde protokollieren, die Erarbeitung des Lernziels dokumentieren oder die Tafel kann wie ein Notizzettel Aussagen aufnehmen und verfügbar halten. Das Tafelbild sollte übersichtlich gegliedert sein und kurze prägnante Ausdrücke enthalten. Der Entwurf des Tafelbildes ist ein wichtiger Teil der Unterrichtsvorbereitung. Neuralgische Punkte sind vor allem Einteilung und Strukturierung. Dabei gilt, dass sich die inhaltliche Gliederung in der räumlichen Anordnung, der Farbgebung und den Symbolformen widerspiegeln soll. Dazu können u. a. folgende Maßnahmen dienen:
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230 1162 1163 1164 1165 1166 1167 1168 1169 1170 1171 1172 1173 1174 1175 1176 1177 1178 1179 1180 1181 1182 1183 1184 1185 1186 1187 1188 1189 1190 1191 1192 1193 1194 1195 1196 1197 1198 1199 1200 1201 1202 1203 1204
Einteilung und Strukturierung
5 Medien im Physikunterricht • Teilziele und verschiedene Aussagen durch Kästchen, Farbe, Nummerierung, Teilüberschriften oder räumlichen Abstand trennen • Zusammenhänge und wechselseitige Beziehungen durch Pfeile, Farbgebung, Umrahmungen verbinden • Akzente setzen durch Unterstreichen, Schrift, Farbe. Nicht zuletzt sollten Überschriften die jeweilige Zielsetzung klar erkennen lassen. Ein „roter Faden“ sorgt für inhaltliche Klarheit und überbrückt kurzzeitige Konzentrationsschwächen der Lernenden.
Flexibel und kombinierbar
WandtafelExperimente
Ein Vorteil des Tafelbildes ist, dass situationsbedingte Anpassungen an den Unterrichtsverlauf jederzeit möglich sind. Außerdem ergeben sich wegen der unmittelbaren Verfügbarkeit der Wandtafel im Klassenzimmer interessante Kombinationsmöglichkeiten mit anderen Medien. Beispielsweise können vorgefertigte Grafiken für den Arbeitsprojektor zu einem Unterrichtsgespräch führen, dessen Ergebnisse dann an der Tafel dokumentiert werden. Oder ein Videofilm wird abschnittsweise angehalten, besprochen und wesentliche Inhalte werden an der Tafel protokolliert. Auch physikalische Versuche sind an der Tafel möglich. Abgebildet ist ein Versuch aus der Statik. Rollen sind mit Tischklemmen am oberen Rand der Tafel befestigt. Damit lassen sich Experimente mit unterschiedlichen (Gewichts)-Kräften realisieren und direkt an der Tafel auswerten. Die Richtungen der Kraftvektoren (entlang der Seilstücke) lassen sich nämlich bequem übertragen und eine direkte grafische Analyse der physikalischen Zusammenhänge wird möglich.
5.4.2 Das Arbeitsblatt Arbeitsblatt
Ein Arbeitsblatt kann informieren, vertiefen oder kontrollieren. Als Klassensatz bietet es Differenzierungs- und Individualisierungsmöglichkeiten im Physikunterricht. • Das informierende Arbeitsblatt stellt Text- und Bildmaterial ergänzend zum Schulbuch bereit. • Das vertiefende Arbeitsblatt fordert vom Schüler ein Ergänzen, Vervollständigen, Bearbeiten von Text- oder Bilddarstellungen oder formuliert Aufgaben. Es dient dem Prinzip der Aktivierung und kommt während oder kurz nach der Erarbeitungsphase zum Einsatz. • Das kontrollierende Arbeitblatt realisiert das Prinzip der Rückkopplung, z. B. durch Kontrollfragen.
5.4 Die klassischen Medien 1205 1206 1207 1208 1209 1210 1211 1212 1213 1214 1215 1216 1217 1218 1219 1220 1221 1222 1223 1224 1225 1226 1227 1228 1229 1230 1231 1232 1233 1234 1235 1236 1237 1238 1239 1240 1241 1242 1243 1244 1245 1246 1247
Gestaltungsprinzipien, die beim Tafelbild bzw. allgemein bei der Textgestaltung angesprochen wurden, gelten entsprechend (siehe oben). Organisatorisch ist vor allem der Einsatz in Kombination mit dem Arbeitsprojektor interessant. Wenn Transparent und Arbeitsblatt identisch sind, können sie simultan von Lehrer und Schüler bearbeitet werden. Alternativ kann aber auch die Erarbeitung zuerst gemeinsam am Arbeitsprojektor erfolgen und das Arbeitsblatt dann nachträglich zur Festigung oder Kontrolle dienen. Arbeitsblätter sind vor allem auch bei der Durchführung von Schülerversuchen im Physikunterricht hilfreich. Dabei können sie neben der thematischen Einordnung, einer Skizze zum Versuchsaufbau und einer Zusammenstellung der Ergebnisse noch Zusatzaufgaben vorgeben. Abb. 5.2 zeigt ein Beispiel aus dem Anfangsunterricht in der E-Lehre. Es verfolgt drei methodische Schwerpunkte: • Es soll die inhaltliche Orientierung sichern und die Verbindung zwischen theoretischer und praktischer Behandlung herstellen. Dazu wird eine technische Schaltskizze zu der bildhaften Zeichnung verlangt. Neben dem Einüben der Symbolik ist damit gleichzeitig eine intensivere Analyse des Versuchsaufbaus intendiert. • Es dient zur Steuerung des Arbeitsablaufs. Allgemein lassen sich die Arbeitsaufträge in Abhängigkeit von Vorwissen und Selbständigkeit der Lernenden weiter oder enger fassen. Auch das Suchen eigener Lösungswege kann verlangt sein. • Dieses Arbeitsblatt soll Hilfen für die gezielte Auswertung anbieten und insbesondere die Dokumentation und Zusammenschau der Werte vorbereiten. Aufgabe III ist sehr eng und rezeptartig vorgegeben. Soll die eigenständige Konzeption von Experimenten stärker in den Vordergrund rücken, sind freiere Aufgabenstellungen angebracht. Beispielsweise könnte Teil III lauten: Konzipiere eine Versuchsreihe, mit der Du eine Regel für den Zusammenhang zwischen den Stromstärken I1, I2 und I3 aufdecken kannst.
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5 Medien im Physikunterricht
Wie teilt sich der elektrische Strom an einer Verzweigung? Abgebildet ist ein Stromkreis, in dem drei gleiche Glühlampen (4 V / 0,04 A) an eine Batterie angeschlossen sind.
L 1 ; I1
4,5 V
L 2 ; I2
L3 ; I3
I. Zeichne rechts die zugehörige Schaltskizze. II.Welche Glühbirne leuchtet am hellsten? Begründe Deine Antwort! ______________________________________________________________________ III. Die Stromstärke durch die Lampe L1 sei I1 = 35 mA. a) Welche Werte erwartest Du für die Teilströme I2 und I3. Trage die Werte in die Tabelle ein. Schätzung: b) Führe die Kontrollmessung aus. c) Begründe evtl. die Abweichungen:
I1
I2
I3
Messung: ______________________________________________________________________ IV.Verwende statt der Lampen jetzt die Widerstände 50 Ω, 100 Ω, 200 Ω. Wähle 3 verschiedene Kombinationen. Fertige eine Tabelle an, die alle wichtigen Daten enthält (Schaltskizzen, Widerstände und gemessene Stromstärken). V.Formuliere eine Hypothese, d. h. schreibe auf, welcher Zusammenhang generell zwischen I1, I2 und I3 zu vermuten ist. ______________________________________________________________________ ______________________________________________________________________ VI.Werden die Widerstände 1 und 2 vertauscht, ändern sich alle Stromstärken. Dies gilt nicht, wenn nur die Widerstände 2 und 3 vertauscht werden. Schreibt Eure Vermutungen / Hypothesen dazu auf. Wir brauchen Sie in der nächsten Unterrichtsstunde, in der wir uns mit Widerstandsschaltungen befassen. Abb. 5.2: Arbeitsblatt zum verzweigten Stromkreis.
5.4 Die klassischen Medien 1291 1292 1293 1294 1295 1296 1297 1298 1299 1300 1301 1302 1303 1304 1305 1306 1307 1308 1309 1310 1311 1312 1313 1314 1315 1316 1317 1318 1319 1320 1321 1322 1323 1324 1325 1326 1327 1328 1329 1330 1331 1332 1333
233
5.4.3 Das Schulbuch Die Funktionsbreite eines Schulbuchs macht es immer noch zu einem wichtigen Werkzeug des Unterrichts. Die nachfolgende Übersicht soll andeuten, welche Zielsetzungen mit dem Schulbucheinsatz verknüpft sein können. Ein Schulbuch kann: • im Sinne eines Lehrbuches die Fachinhalte ausführlich darstellen und ein Stoffgebiet strukturieren • fachspezifische Arbeits- und Betrachtungsweisen vorstellen • vergleichbar einem Nachschlagewerk den Lernenden die Übersicht über ein Stoffgebiet ermöglichen • Material in Form von Bildern, Grafiken, Tabellen oder Texten bereitstellen • über ansprechende Darstellungen zum Lernen motivieren und Behaltensleistungen verbessern • • • •
selbständiges Lernen anregen und fördern Wiederholungen und Vertiefungen zum Stoff anbieten als Arbeitsbuch Aufgaben und Übungen bereitstellen experimentelles Arbeiten unterstützen und Versuchsanleitungen anbieten
• individuelles und differenziertes Lernen in Einzel-, Partner- oder Gruppenarbeit ermöglichen • die Fähigkeit zum angemessenen Umgang mit der Literatur schulen - eine unserer wichtigsten Kulturtechniken. Das Schulbuch muss auf die Lehrpläne des jeweiligen Bundeslandes abgestimmt sein, und die Inhalte sollen schülergerecht dargeboten werden (Sprache, Illustrationen). Fischler (1979) hebt als weiteres Kriterium die wissenschaftliche Zuverlässigkeit hervor, wobei auch didaktisch motivierte Vereinfachungen zu keiner groben Verzerrung des Wissenstandes führen dürfen. Auch wissenschaftliche Arbeitsweisen (z. B. bei der Durchführung und Auswertung von Experimenten) sollten Berücksichtigung finden. Das Schulbuch nutzt in vielschichtiger Form die Ausdrucksmittel Text, Bild und Formel und präsentiert Informationen in verschiedenen Code- und Symbolsystemen. Demzufolge ist die Qualität von Schulbüchern allein mit „Satzlängen-Fremdwort-HäufigkeitsFormeln“ nicht zu bewerten. Das heißt aber nicht, dass die von Merzyn (1994) zusammengetragenen Untersuchungsergebnisse nicht hilfreiche Hinweise geben können. So werden Abbildungen und grafische Darstellungen in neueren Schulbüchern von Schülern und
Funktionen von Schulbüchern
234 1334 1335 1336 1337 1338 1339 1340 1341 1342 1343 1344 1345 1346 1347 1348 1349 1350 1351 1352 1353 1354 1355 1356 1357 1358 1359 1360 1361 1362 1363 1364 1365 1366 1367 1368 1369 1370 1371 1372 1373 1374 1375 1376
5 Medien im Physikunterricht Lehrern im Allgemeinen gelobt, während Sprache und Verständlichkeit der Schulbuchtexte und vor allem der hohe Anteil an Fachwörtern am stärksten kritisiert werden. Auch Schulbücher müssen Schwerpunkte setzen. Hierbei auch zunehmend auf Ergebnisse aus Schulbuchanalysen als Orientierungshilfe zurückgegriffen. So gehen Duit u. a. (1991) von Lehrbuch- und Textanalysen nach Stube (1989) und Sutton (1989) aus und wollen u. a. folgende Schwächen vermeiden: • Distanzierte autoritative Aussagen in Texten ohne Bezüge zum Leser
Schwächen von Schulbüchern
• Präzision zu Lasten einer auf die Lernenden bezogenen Begriffsentwicklung • Eingeschränkter Kontext, der nicht über die fachspezifischen Grenzen hinausgeht • Eingeschränkte Syntax, mit der Aussagen zwar kurz und knapp zu formulieren sind, die aber nicht unbedingt das Verständnis fördern • Starres rhetorisches Muster, dessen Monotonie schnell zu nachlassender Aufmerksamkeit führt • Das Tun in den Naturwissenschaften vorrangig vor das Nachdenken stellen • Zuerst Daten präsentieren, aus denen sich dann die Theorie scheinbar wie von selbst ergibt (ohne auf die Überlegungen einzugehen, die auf die theoretischen Konzepte führen) • Naturwissenschaftliches Wissen als Resultat erscheinen lassen, das sich zwangsläufig aus einem stets klaren methodischen Vorgehen ergibt, wobei das Bemühen um Beobachtung und selbstkritisches Ringen um Erkenntnis gar nicht erwähnt wird • Physik nur rational erscheinen lassen, frei von Befürchtungen, aber auch von Faszination, die persönlich und gesellschaftlich mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen verbunden sind. Andere Bücher setzen andere Schwerpunkte. Daneben bieten fast alle Schulbuchverlage zu dem eigentlichen Schulbuch zusätzlich Aufgabensammlungen, Versuchsanleitungen, Praktikumshefte, Repetitorien und Formelsammlungen und Multimediaprogramme an.
Abschnitte selektiv nutzen
In der Regel müssen Lehrkräfte allerdings vorgegebene Rahmenbedingungen akzeptieren und mit dem Buch arbeiten, das in ihrer Schule (lehrmittelfrei) eingeführt ist. Allen Wünschen kann kein Buch gerecht werden. Deshalb müssen Lehrkräfte auch dieses Medium selektiv nutzen können und in ihr Unterrichtskonzept einbinden.
5.4 Die klassischen Medien 1377 1378 1379 1380 1381 1382 1383 1384 1385 1386 1387 1388 1389 1390 1391 1392 1393 1394 1395 1396 1397 1398 1399 1400 1401 1402 1403 1404 1405 1406 1407 1408 1409 1410 1411 1412 1413 1414 1415 1416 1417 1418 1419
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Entscheidend sind Kenntnisse über Gestaltungskomponenten sowie Anforderungen von Text und Bild bezogen auf das Vorwissen der Schülerinnen und Schüler. Darauf basierend lassen sich bestimmte Abschnitte eines Buches in der Phase des Einstiegs, der Erarbeitung, zur Nachbereitung, als Materialsammlung, zur Vertiefung oder evtl. auch zur eigenständigen Schülerarbeit nutzen. Als didaktisch-methodisches Werkzeug bietet das Schulbuch auch für kurze Unterrichtsabschnitte attraktive Arbeitsmöglichkeiten in verschiedenen Lehr-Lern-Phasen. Einige Beispiel für kurze Einsatzformen hat Merzyn (1994) beschrieben, die in einem guten Methodenrepertoire nicht fehlen sollten: • Eine Abbildung aus einem Buch zum motivierenden Einstieg in ein Stoffgebiet nutzen • Erklären und Diskutieren der Funktionsweise eines technischen Gerätes oder einer Modellvorstellung anhand einer Schemazeichnung im Buch • Diskutieren eines Diagramms oder einer Tabelle mit der Klasse • Durchführen von Schülerexperimenten nach Anleitung im Buch • Gemeinsames Lesen einer gut formulierten oder historischen Textpassage
Einsatzmöglichkeiten
• Fachbegriffe aus einem aktuellen Zeitungsartikel über das Stichwortverzeichnis eines Buches suchen und klären. • Übungsaufgaben aus einem Buch lösen. Selbst wenn inhaltlich problematische Passagen vorliegen sollten, kann es eine besondere Aufgabe für die Schüler sein, einen Abschnitt bezüglich formaler oder inhaltlicher Unstimmigkeiten zu durchleuchten und Fehler zu finden (die dann gemeinsam mit der Lehrkraft diskutiert werden). Eine kritisch hinterfragende Lesehaltung ist auch, oder gerade bei wissenschaftlichen Abhandlungen, wünschenswert. (Siehe auch Kapitel 4.3.4.) Daneben kann das Schulbuch dem Lehrer selbst wertvolle Orientierungshilfen geben. Dies beginnt bei der fachlich-methodischen Gliederung und gilt ebenso bei der Stoffauswahl sowie bei der Auswahl von Beispielen und Experimenten. Der Lehrer findet außerdem Ideen, wie eine Problemstellungen eingeführt wird, oder wie ein motivierender Einstieg in ein neues Sachgebiet erfolgen kann, bis hin zur Aufbereitung und Präsentation von Informationen durch Bild und Text. Insofern sind Schulbücher auch für den Lehrer eine wichtige Informationsquelle mit methodisch-didaktischen Anregungen.
"Fundgrube" für den Lehrer
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5 Medien im Physikunterricht
5.4.4 Der Arbeitsprojektor Für visuelle Darstellungen in Unterricht und Lehre ist der Arbeitsprojektor ein weit verbreitetes Hilfsmittel. Nach DIN 108 und 19045 ist der Gerätename „Arbeitsprojektor“ festgelegt. Eine ganze Liste alternativ verwendeter Bezeichnungen verweist auf die Vielfalt der Einsatzmöglichkeiten: Tageslichtprojektor, Zeichenprojektor, Schreibprojektor, Overheadprojektor. 1. Die folgenden Merkmale machen das Gerät für den Unterrichtseinsatz attraktiv: • Die Herstellung und Bearbeitung von Arbeitstransparenten ist einfach. Dabei können sich Fotokopieren, Ausdrucken und Bearbeiten mit Folienstiften ergänzen. attraktive Merkmale
• In der Unterrichtsvorbereitung lassen sich Folien optimal und ansprechend gestalten. (Wenn keine Schülermitschriften nötig sind, bedeutet dies gleichzeitig einen Gewinn an Unterrichtszeit.) • Die Darstellung ist großflächig und lichtstark und kann bei Bedarf abgedeckt oder wieder freigegeben werden. • Die Arbeitsfläche ist gut überschaubar. Bei Vorträgen kann die Folie auch einen Leitfaden anbieten. • Ein schrittweises Entwickeln von Inhalten ist kein Problem. Dabei helfen Overlay-Technik, sukzessives Aufdecken von Folienteilen oder zusätzliche Eintragungen mit Folienstiften. (Die Arbeit mit wasserlöslichen Stiften während des Unterrichts erlaubt die Wiederverwendung von arbeitsaufwändigen Folien.) • Die Folien sind insbesondere auch für Wiederholungsphasen im Unterricht geeignet. • Der Lehrer bleibt beim Einsatz des Projektors den Schülern zugewandt und kann situationsgerecht reagieren. Mittels Farbkopierer und Scanner sind heute praktisch alle Abbildungen auf Folie übertragbar. Der Arbeitsprojektor ermöglicht aber nicht nur die Projektion von fertigen Transparenten, man kann noch im Unterricht direkt am Bild weiterarbeiten. Die Einsatzmöglichkeiten sind zudem nicht allein auf Bild- und Schriftmaterial beschränkt. Kleine Gegenstände lassen sich im Schattenriss vergrößert zeigen. Auch gibt es fertige Funktionsmodelle, z. B. von Verbrennungsmotoren, die dynamische Prozesse veranschaulichen können. Mit Hilfe von Polarisationsfolien lassen sich ebenfalls Bewegungen simulieren.
5.4 Die klassischen Medien 1463 1464 1465 1466 1467 1468 1469 1470 1471 1472 1473 1474 1475 1476 1477 1478 1479 1480 1481 1482 1483 1484 1485 1486 1487 1488 1489 1490 1491 1492 1493 1494 1495 1496 1497 1498 1499 1500 1501 1502 1503 1504 1505
Am Arbeitsprojektor ist sogar eine Vielzahl physikalischer Versuche realisierbar, z. B. die Darstellung von Feldlinienbildern, Versuche mit Wasserwellen, Versuche aus der Elektronik oder E-Lehre. Die nebenstehende Abbildung zeigt zwei Strom durchflossene Kabel über einer Folie mit Millimeterskala. Kleinste Auslenkungen aufgrund elektromagnetischer Kräfte sind über diesem Raster sofort erkennbar. Eine Sammlung von Versuchen am Arbeitsprojektor ist in Schledermann (1977) zu finden. 2. Beim Umgang mit dem Arbeitsprojektor werden leider allzu oft elementare Bedienungsregeln verletzt, was die Effektivität des Mediums mindert. Die folgenden Hinweise sollen helfen, Fehler zu vermeiden. • Eine verzerrungsfreie Wiedergabe setzt voraus, dass das Licht senkrecht auf die Projektionsfläche auftrifft. Der Arbeitsprojektor ist entsprechend zu positionieren. Eine schwenk- und neigbare Projektionsfläche ist hilfreich. • Die Projektionsfläche muss gleichmäßig ausgeleuchtet sein. Farbzonen an den Rändern zeigen eine schlechte Justierung der Lampe an. (Ein Einstellung von außen bietet fast jeder Projektor an.) • Zusätzlicher Lichteinfall auf die Projektionswand, insbesondere direktes Sonnenlicht, ist zu vermeiden. Evtl. ist die Wand abzuschatten oder der Raum zu verdunkeln. Die Möglichkeit zur Mitschrift sollte aber erhalten bleiben. • Freie Sicht auf die Projektionsfläche soll für alle Schüler möglich sein. Dazu muss z. B. die Unterkante der Projektion hoch genug liegen (je nach Bestuhlung 1 – 2 Meter über dem Boden). • Bei professionellen Vorträgen werden Folien im Querformat verwendet. Der minimale Betrachtungsabstand sollte das 1,5fache der Bildbreite sein. • Prinzipiell gibt es zwei Anzeigemöglichkeiten: Mit Zeigestab oder Laserpointer an der Projektionsfläche oder mit dem Stift an der Folie. Die zweite Form ist ökonomisch, schnell und der Lehrer bleibt den Schülern zugewandt. Allerdings verlieren die Zuhörer in der Regel den Blickkontakt zum Vortragenden, wenn sie sich der Projektion zuwenden. Bei der direkten Anzeige an der Projektionsfläche bleibt die Lehrkraft im Blickfeld und kann auch nonverbale Ausdrucksmittel einsetzen. • Immer wieder ist zu prüfen, ob Folien schief aufliegen oder die Projektion durch Schulter oder Arm abgedeckt ist.
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Einsatz des Arbeitsprojektors
Fehler beim Einsatz vermeiden
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5 Medien im Physikunterricht • Zu schnelles Wechseln von Folien kann die Zuhörer überfordern. Außerdem ist auf eine gute Abstimmung mit verbalen Erklärungen zu achten. Dies schließt ein monotones Ablesen genauso aus wie ein bezugloses Nebeneinander von Folie und sprachlichen Ausführungen.
Gestaltung von Folien
3. Für die Gestaltung von Folien lassen sich einige grundsätzliche Richtlinien formulieren • Transparente nicht überfrachten! Gegebenenfalls kann man sie schrittweise erweitern oder mit Overlays arbeiten. • Die Lesbarkeit setzt eine ausreichende Schriftgröße voraus. Keinesfalls sollten Buchseiten unvergrößert auf Folie kopieren werden. Natürlich hängt die Bildgröße vom Abstand zwischen Projektor und Projektionswand ab. Allerdings dürfte eine Buchstabengröße von 5 mm immer das absolute Minimum sein. Koppelmann und Sinn (1991) geben als Faustregel an, dass ein DIN A4-Transparent unvergrößert mit dem bloßen Auge noch im Abstand von 2,5 m lesbar sein sollte. Eine weitere Orientierungshilfe sind fertige Formatvorlagen für Folien die jedes moderne Textverarbeitungssystem anbietet. • Die Folie sollte logisch strukturiert und organisiert sein. Insbesondere können auch Abbildungen oder Schemaskizzen einen „roten Faden“ aufzuzeigen. Nach Alley (1996) sollte sogar jede Folie ein Bild enthalten. Bilder haben eine gute Gedächtnishaftung und können die Erinnerung an Worte anstoßen. • Die Überschrift soll treffend und kurzgefasst sein. Nach Alley (1996) sollte in der Regel ein ganzer Satz ausformuliert sein. Dies zwingt zu klaren Aussagen, die besser im Gedächtnis haften als isolierte Wortphrasen. • Eine optische Gliederung geht verloren, wenn zu kleine Abstände, sehr lange Textpassagen oder lange Aufzählungslisten mit mehr als vier Unterpunkten vorliegen. Abschließend sei noch erwähnt, dass der Arbeitprojektor selbst zum Lerngegenstand im Physikunterricht werden kann. Nicht nur die Fresnellinse verdient ein besonderes Interesse. Auch die Lichtquelle, die Kondensorlinse und der Projektorkopf mit Linse und Spiegel sind geeignete Betrachtungsgegenstände für den Optikunterricht.
5.4 Die klassischen Medien 1549 1550 1551 1552 1553 1554 1555 1556 1557 1558 1559 1560 1561 1562 1563 1564 1565 1566 1567 1568 1569 1570 1571 1572 1573 1574 1575 1576 1577 1578 1579 1580 1581 1582 1583 1584 1585 1586 1587 1588 1589 1590 1591
239
5.4.5 Weitere Projektionsgeräte Diaprojektor, Mikrofiche-Projektor, Episkop, Super 8 Projektoren haben heute nur noch historische Bedeutung. Die Funktionen haben Computer und Beamer (LCD-Projektoren) übernommen. Nach wie vor bieten aber Bildserien attraktive Ergänzungen für Visualisierungen im Unterricht. Sie können einen schrittweisen Aufbau von realitätsnahen Vorstellungen unterstützen oder Unterrichtsabschnitte im Überblick zusammenfassen. Mit Digitalkamera und Scanner lassen sich heute mit geringem Aufwand ganze Bildserien in Eigenregie zusammenstellen. Eigene Fotografien haben ihren besonderen Reiz, wenn aktuelle und lokale Bezüge hergestellt werden (z. B. zu nahe gelegenen Energiekraftwerken). Auch Makroaufnahmen zur Abbildung kleiner Maschinenteile, z. B. Zahnräder und Schwungräder aus alten Uhrwerken, oder kleine elektronische Bauteil lassen sich heute mit fast jeder Digitalkamera erstellen und über den Beamer projizieren.
5.4.6 Film- und Videotechnik - DVD und Videodisk DVD, Video und Computerfilme bieten eine Kombination von auditiven und visuellen Mitteln und erreichen damit oft den Vorzug hoher Anschaulichkeit. Dies gilt vor allem, wenn fotorealistische Darstellungen sachdienlich sind. Eine rein verbale Beschreibung (insbesondere von visuellen Reizen) ist oft sehr aufwendig und leicht missverständlich. In einigen Fällen ist das Zusammenwirken von Bild und Ton unverzichtbar. Zusätzlich kann die Videotechnik auch beim Training des Lehrerverhaltens sehr nützlich sein (Mikroteaching). Heute bietet die digitale Videotechnik das Optimum an Flexibilität. Neben kompletten Unterrichtseinheiten aus Schulfunksendungen ist auch die Kombination von Videokamera und Projektor zur Verbesserung der Sichtbarkeit bei Demonstrationsversuchen einsetzbar (z. B. bei Versuchen mit kleinen Bauteilen aus der Elektronik). Selbst Beobachtungen mit dem Mikroskop lassen sich projizieren. Auch zeitaufwendige oder nicht mehr zugelassene Demonstrationsversuche (z. B. mit Quecksilber) lassen sich in der Vorbereitung aufnehmen und im Unterricht wiedergeben.
Geräteaspekte Um eine ausreichende Sichtbarkeit zu garantieren, sollte der Betrachterabstand bei 70-cm-Monitoren und Displays nicht größer als
Einsatz
240 1592 1593 1594 1595 1596 1597 1598 1599 1600 1601 1602 1603 1604 1605 1606 1607 1608 1609 1610 1611 1612 1613 1614 1615 1616 1617 1618 1619 1620 1621 1622 1623 1624 1625 1626 1627 1628 1629 1630 1631 1632 1633 1634
5 Medien im Physikunterricht 6 m sein und die Blickrichtung nicht mehr als 45 ° von der Bildschirmsenkrechten abweichen (bei TFT-Displays je nach Bauart evtl. noch weniger). Bei ebener Bestuhlung ist eine Höhe von 2 m über dem Boden sinnvoll. Zur Vermeidung von Reflexionen auf dem Monitor oder Display ist die Aufstellung an der Fensterseite günstiger. Die Alternative, Projektionsdisplays, werden immer kostengünstiger. In der Regel können sie sogar verschiedene Signalpegel umsetzen und eignen sich damit sowohl zur Großprojektion von Computerbildschirmen als auch zur Wiedergabe von Videoaufzeichnungen.
Ausdrucksmittel und Anforderungen Spezifische Ausdrucksmittel
besondere Anforderungen
Neben Kameraführung und Filmschnitt sind spezielle Ausdrucksmittel des Films vor allem Effekte wie Zeitlupe, Zeitraffer, Zoomen oder Trickeinblendungen. Das räumliche Empfinden ist im Allgemeinen deutlicher als beim Bild, da sich die Objekte bewegen bzw. verschiedene Blickwinkel angeboten werden. Allerdings verlangt ein Film auch spezifische Beobachtungs- und Verarbeitungsfähigkeiten. Insbesondere stellen schnelle Bildfolgen mit hoher Informationsdichte höhere Ansprüche. Der Zuschauer muss die Zusammenhänge herstellen. Außerdem legt ein Film die Betrachtungsdauer und Abfolge rigoros fest und fordert ein entsprechendes Maß an Aufmerksamkeit. Andernfalls sind Verständnislücken vorprogrammiert. Zudem übermitteln Filme (wie auch Bilder) gleichzeitig einen hohen Anteil an Information, die nicht direkt lernzielrelevant sind. Dazu gehören oft Gegenstände im Hintergrund oder Aussehen und Auftreten des Moderators. Der Zuschauer muss hier abstrahieren können. Andererseits kann der Hintergrund aber auch als Gestaltungsmittel dienen (z. B. als Strukturierungshilfe).
Sondierung und Planung
Überlegungen vor dem Einsatz von Filmen
Inwiefern kann ein Film dazu beitragen, ein intendiertes Lernziel zu erreichen? Die Einpassung an ihr Unterrichtskonzept können und müssen Lehrkräfte durch zusätzliche methodische Maßnahmen erreichen. Folgende Fragen können einen Bedarf an spezifischen Maßnahmen aufdecken: • Ist das Abstraktionsniveau angemessen? • Welche Kenntnisse und Fähigkeiten werden vorausgesetzt (sind z. B. spezielle grafische Darstellungen geläufig)? • Wie hoch ist die Informationsdichte? Erlaubt sie noch eine gedankliche Weiterverarbeitung?
5.4 Die klassischen Medien 1635 1636 1637 1638 1639 1640 1641 1642 1643 1644 1645 1646 1647 1648 1649 1650 1651 1652 1653 1654 1655 1656 1657 1658 1659 1660 1661 1662 1663 1664 1665 1666 1667 1668 1669 1670 1671 1672 1673 1674 1675 1676 1677
241
• Wird Wesentliches hervorgehoben, werden irrelevante Informationen ausgeblendet? • Gibt es Redundanzen und Hilfen, die dem Verständnis oder evtl. einer Vertiefung dienen • Motiviert der Film zur geistigen Auseinandersetzung mit dem Inhalt? Filme, die allen Anforderungen genügen, wird es wohl nie geben. Ein Hauptproblem ist oft eine zu hohe Informationsdichte. Deshalb sind nachfolgend einige Maßnahmen aufgelistet, mit denen die Informationsdichte im Film oder durch die Lehrkraft angepasst werden kann. • Vorbereitende Erklärungen und Hinweise vorausschicken (auch advance organizers) • • • •
Pausen mit Zusatzinformationen einrichten Standbilder zur Besprechung von Details nutzen Anspruchsvolle Passagen mehrfach abspielen Zeitlupenaufnahmen einspielen oder die Wiedergabe verlangsamen • Strukturierende Einblendungen verwenden (Beschriftung, räumliche und farbliche Akzentuierung)
Anpassen der Informationsdichte
• Nebensächlichkeiten ausblenden
Einsatzphasen Beim Einsatz von Tonfilmen (z. B. aus dem Internet), bei denen der Lehrer in der Regel während des Abspielens keine Zusatzinformationen geben kann, ist eine gezielte fachliche Vorbereitung der Schüler besonders wichtig. Schon in der Vorbesprechung und Einstimmung können Hinweise auf wichtige Passagen erfolgen. Ziel ist, die Aufmerksamkeit auf lernzielrelevante Informationen zu lenken. Dies ist wegen der „Flüchtigkeit“ des Mediums besonders wichtig. Zudem sind relevante Wissensstrukturen vorab zu aktivieren, damit angebotene Informationen besser in vorhandene Strukturen einzuordnen sind und sich mit vorhandenem Wissen verknüpfen lassen. Je nach Leistungsstand sind außerdem Hilfen zur Organisation, Auswahl und Einordnung von Informationen vorzubereiten. Der Lehrer hat folgende Möglichkeiten:
Vorbereitung, Einstimmung
242 1678 1679 1680 1681 1682 1683 1684 1685 1686 1687 1688 1689 1690 1691 1692 1693 1694 1695 1696 1697 1698 1699 1700 1701 1702 1703 1704 1705 1706 1707 1708 1709 1710 1711 1712 1713 1714 1715 1716 1717 1718 1719 1720
5 Medien im Physikunterricht • Beziehungs- und Anknüpfungspunkte zum bisher behandelten Stoff oder beim Alltagswissen herausstellen • Die Strukturierung und Gliederung des Lehrfilms vorab aufzeigen (evtl. als Schema an der Tafel). Dabei sollen jedoch keine Verlaufsreize wie Spannung oder Überraschungsmomente vorweggenommen werden. • Schon im Vorfeld lassen sich lernzielbezogene Fragen formulieren (und evtl. sogar anschreiben). Dies kann ein verstärktes Problembewusstsein schaffen. • Konkrete Beobachtungsaufgaben stellen • Dem Lernenden Gründe aufzeigen, warum der Film jetzt gezeigt wird.
Vorführen von Filmen
Auch beim Vorführen von Filmen bieten sich verschiedene methodische Varianten an: • Der Film kann als Ganzes vorgeführt werden oder nur wichtige Ausschnitte • Der Film lässt sich ohne Unterbrechung vorzeigen oder durch Besprechungseinheiten in Etappen unterteilen. • Der Film wird einmal vorgeführt oder mehrmals gezeigt, gegebenenfalls mit variierenden Beobachtungsaufgaben
Nachbereitung / Auswertung des Films
In der Nachbereitung gilt es, verbliebene Missverständnisse und Unklarheiten zu beheben, Hilfen für eine kognitive (evtl. auch affektive) Weiterverarbeitung anzubieten sowie eine dauerhafte Speicherung von Wissenselementen zu erleichtern. Ein Ansatz ist, nochmals die Kernaussagen zusammenzufassen und in verschiedenen Ausdrucksweisen zu formulieren. Ein Zusammenfassen, Verbalisieren, evtl. auch ein Ausdrücken in Formeln gehören unbedingt in die Nachbereitung. Bei Filmen mit hoher Informationsdichte fehlt in der Regel die Zeit, Aussagen noch während des Filmlaufes eingehend zu verarbeiten und in verschiedenen Formen zu enkodieren.
5.4 Die klassischen Medien 1721 1722 1723 1724 1725 1726 1727 1728 1729 1730 1731 1732 1733 1734 1735 1736 1737 1738 1739 1740 1741 1742 1743 1744 1745 1746 1747 1748 1749 1750 1751 1752 1753 1754 1755 1756 1757 1758 1759 1760 1761 1762 1763
5.4.7 Weitere Medien Kurz erwähnt seien noch:
Poster / Wandbilder Beispiele sind Poster mit Darstellungen zur historischen Entwicklung der Physik, zu großtechnischen Anlagen (z. B. Kraftwerke in schematischer Darstellung), Übersichten über elektronische Bauteile, Energieträger, aber auch eine Nuklidkarte oder geordnete Übersichten über ein Themengebiet, das in mehreren Unterrichtsstunden behandelt wird. Die Intention reicht von konkreten Anschauungshilfen für den Unterricht bis zur Motivation für die Beschäftigung mit physikalischen Sachverhalten über plakativ ansprechende Darstellungen. Wandbilder lassen sich kurzfristig im Unterricht einsetzen, aber auch stationär über längere Zeit im Klassenzimmer, in Schaukästen, an Geräteschränken oder Wänden im Gang anbringen.
Technisches Anschauungsmaterial Vorstellbar sind z. B. aufgeschraubte Geräte wie Handmixer bzw. Elektromotoren, die eine Umsetzung physikalischer Gesetzmäßigkeiten in technischen Anwendungen aufzeigen können.
Anschauungsmodelle Sie dienen dem Ausbau konkreter Vorstellungen. Geläufig sind vor allem Modelle zur Gitterstruktur von Festkörpern oder zum Bau von Molekülen.
Funktionsmodelle Sie zeigen Bau und Funktion technischer Geräte, z. B. Ottomotor
Neue Medien und Multimedia Praxisnahe Beispiele und Konzepte werden im Kapitel 11 behandelt; mit der Theorie zum Lernen mit Multimedia befasst sich das Kapitel 19.
243
244 1764 1765 1766 1767 1768 1769 1770 1771 1772 1773 1774 1775 1776 1777 1778 1779 1780 1781 1782 1783 1784 1785 1786 1787 1788 1789 1790 1791 1792 1793 1794 1795 1796 1797 1798 1799 1800 1801 1802 1803 1804 1805 1806
5 Medien im Physikunterricht
5.5 Experimente im Physikunterricht Möglichkeiten und Zielsetzungen für physikalische Schulversuche im Unterricht sind so vielschichtig, dass zunächst Begriffe, Funktionen und Formen geordnet werden müssen. Dann folgen Gestaltungsund Durchführungskriterien für den Einsatz im Unterricht. Abschließend wird das Schülerexperiment betrachtet.
5.5.1 Experiment, Schulversuch und Medium Das Experiment in der physikalischen Forschung ist ein wiederholbares, objektives, d. h. vom Durchführenden unabhängiges Verfahren zur Erkenntnisgewinnung. Unter festgelegten und kontrollierbaren Rahmenbedingungen werden Beobachtungen und Messungen an physikalischen Prozessen und Objekten durchgeführt; Variablen werden systematisch verändert und Daten gesammelt (objektivierbare Gegenstandsbetrachtung). Ein Experiment verlangt umfassende Planung, eine genaue Kontrolle relevanter Variablen, eine präzise Datenaufnahme, die Analyse der Messwerte sowie ihre physikalische Interpretation vor einem theoretischen Hintergrund. Oft ist dies mit mühsamer Arbeit, mit Anpassungen an unvorhergesehene Einflüsse oder gar Rückschlägen verbunden. Solche Aspekte werden im Unterricht normalerweise zurücktreten und allenfalls im forschenden Unterricht teilweise nachempfunden. Das heißt aber keineswegs, dass die gedankliche Arbeit, die Auseinandersetzung mit dem Hintergrund und der Konzeption eines Versuchs zu kurz kommen darf. In diesem Kapitel werden vor allem didaktisch-methodische Zielsetzungen diskutiert, da die erkenntnistheoretische Bedeutung in den Kapiteln 23 und 24 skizziert ist.
5.5 Experimente im Physikunterricht 1807 1808 1809 1810 1811 1812 1813 1814 1815 1816 1817 1818 1819 1820 1821 1822 1823 1824 1825 1826 1827 1828 1829 1830 1831 1832 1833 1834 1835 1836 1837 1838 1839 1840 1841 1842 1843 1844 1845 1846 1847 1848 1849
245
Die Begriffe „Experiment“ und „Versuch“ werden in der Literatur nicht eindeutig verwendet (s. dazu Behrendt, 1990). Wir verwenden die Ausdrücke hier synonym, in Anpassung an den internationale Sprachgebrauch.
Experiment und Schulversuch
Aus didaktischer Sicht sind Versuche auch ein Mittel, um physikalische Phänomene zu veranschaulichen und physikalische Vorstellungen aufzubauen. Insofern übernimmt der Versuch auch Mitteilungsfunktionen und lässt sich unter mediendidaktischen Aspekten betrachten.
Physikalische Schulversuche als Medium
5.5.2 Funktionelle Aspekte Schulisches Lernen zielt auf den Aufbau eines organisierten Bestandes an Wissen, d. h. einer angemessenen kognitiven Struktur. Dazu gehört auch die Kenntnis von Phänomenen, in denen sich physikalische Gesetzmäßigkeiten besonders deutlich zeigen. Immerhin bildet dies eine wichtige Grundlage, wenn es darum geht, aus theoretischem Wissen konkrete Handlungsanweisungen in realen Systemen abzuleiten. Gerade auf Schulniveau können (und müssen) Experimente das physikalische Wissen konkretisieren. Experimente zeigen Phänomene, rücken fachliche Fragestellungen in den Betrachtungshorizont der Schülerinnen und Schüler und liefern Antworten der Natur. Physikalisches Experimentieren ist eine fachspezifische Arbeitsweise. Insbesondere lassen sich folgende Elemente naturwissenschaftlichen Arbeitens vertiefen: Beobachten, Planen, Analysieren, Bewerten, Präsentieren. Unterricht soll eben auch deutlich machen, wie Erkenntnisse gewonnen werden und wie das Experiment als Bindeglied zwischen Theorie und Realität steht. Nicht zuletzt ist der physikalische Schulversuch aus mediendidaktischer Sicht ein wichtiger Informationsträger und kann besondere Mitteilungsfunktionen übernehmen. Viele Phänomene und physikalische Effekte lassen sich verbal nicht annähernd so eindrucksvoll und anschaulich darstellen wie in einem Versuch. Nutzen und Wirkung physikalischer Schulversuche lassen sich natürlich nicht isoliert von Unterrichtszielen betrachten. Die Effektivität hängt zudem in vielschichtiger Weise von den verschiedensten Bedingungen ab. Unterrichtende müssen aber prinzipiell das Einsatzspektrum kennen, um potentielle Möglichkeiten abschätzen zu können. Deshalb werden nachfolgend verschiedene physikdidaktische Zielsetzungen an konkreten Beispielen aufgezeigt:
Konkrete Physik
Naturwissenschaftliches Arbeiten
Informationsträger
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5 Medien im Physikunterricht
1. Ein Phänomen klar und überzeugend darstellen Beispiel: Ein gerader, Strom durchflossener Leiter ist von einem kreisförmigen Magnetfeld umgeben. Dies lässt sich zeigen, wenn um ein vertikal verlaufendes Stromkabel kleine Magnetnadeln aufgestellt werden. Fließt kein Strom, so richten sie sich im Erdmagnetfeld aus. Fließt ein starker Strom durch das Kabel, orientieren sie sich kreisförmig um das Kabel. Existenz und räumliche Charakteristik des Magnetfeldes werden über physikalische Wirkungen angezeigt.
2. Physikalische Konzepte veranschaulichen Tafellappen mit Kreidestaub
Laser
Lichtausbreitung
Beispiel: Licht breitet sich in Luft geradlinig aus. Um dies zu verdeutlichen, wird ein Laserstrahl betrachtet. Der Weg des Lichts ist im abgedunkelten Raum sichtbar, wenn die Luft mit Kreidestaub (aus einem Tafellappen) angereichert wird.
3. Grunderfahrungen aufbauen bzw. ausschärfen
Kreisbewegung
Beispiel: Labudde (1993) nutzt ein Gruppenexperiment, um praktische Erfahrungen zur Beschleunigung auf einer Kreisbahn anzubieten. Auf ebenem Boden wird ein Kreis von ca. 2 m Radius markiert, um den sich die Schüler aufstellen. Es gilt, einen rollenden Ball mit kurzen, wohldosierten Stößen auf der markierten Kreisbahn laufen zu lassen. Aufbauend auf den dabei gewonnenen Erkenntnissen über Richtung, Dosierung und zeitliche Abfolge der Stöße, erfolgt die kinematische und dynamische Behandlung der Kreisbewegung im Unterricht.
5.5 Experimente im Physikunterricht 1893 1894 1895 1896 1897 1898 1899 1900 1901 1902 1903 1904 1905 1906 1907 1908 1909 1910 1911 1912 1913 1914 1915 1916 1917 1918 1919 1920 1921 1922 1923 1924 1925 1926 1927 1928 1929 1930 1931 1932 1933 1934 1935
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4. Physikalische Gesetzmäßigkeiten direkt erfahren Beispiel: Muckenfuß (1992) nutzt direkte Sinneswahrnehmungen für Energie- und Leistungsbetrachtungen zum elektrischen Strom. Dazu betreiben Schüler einen Generator (Dynamo) über eine Handkurbel – einmal im Leerlauf und dann belastet mit einer Glühbirne. Die Geräte sind so dimensioniert, dass die höhere Antriebsleistung für den Lampenbetrieb physiologisch gut zu fühlen ist. So wird direkt spürbar, dass für den Betrieb der Lampe Arbeit aufzubringen ist.
Generator
Elektrische Energie
5. Theoretische Aussagen qualitativ prüfen Beispiel: Im Vakuum gibt es keine Schallwellen; die Ausbreitung von Schall setzt ein Trägermedium voraus. Um dies deutlich zu machen, wird eine Klingel unter einer Vakuumglocke betrieben. Wird die Luft abgepumpt, ist die Klingel nicht zu hören. Der Ton wird lauter, wenn die Luft wieder in die Glocke einströmt.
6. Vorstellungen (Schülervorstellungen) prüfen Beispiel: Zu den Fehlvorstellungen über den elektrischen Strom gehört die sog. Stromverbrauchsvorstellung. Danach wird beispielsweise von einer Glühbirne elektrischer Strom „verbraucht“, so dass die Stromstärke „hinter“ einer Glühbirne kleiner als „vor“ der Glühbirne ist. Diese Vorstellung lässt sich mit einem sog. Zangenamperemeter direkt überprüfen (Girwidz, 1993). Das Gerät, das den elektrischen Strom über das Magnetfeld mittels Hall-Sensoren misst, wird einfach über Leiter und Glühbirne hinweggeführt.
7. Physik in Technik und Alltag aufzeigen Dazu gehört die Illustration und Verdeutlichung technischer Vorgänge (z. B. Schmelzvorgang in einem Induktionsofen analog zu dem skizzierten Versuch). Auch Anwendungen aus dem Alltag lassen sich nachstellen (z. B. Temperaturregelung im Bügeleisen mittels eines Bimetallschalters).
8. Denkanstöße zur Wiederholung oder Vertiefung Beispiel: Aus farbigem Tonpapier sind zwei Schriftzüge ausgeschnitten (hier zwei Schablonen mit den Worten „links“ und „rechts“). Vor einem senkrechten Spiegel wird eine Schablone flach auf den Tisch gelegt (hier das Wort „links“), die andere wird senkrecht aufgestellt (hier das Wort „rechts“). Allerdings ist nur das Wort „rechts“ im Spiegelbild lesbar. (Ein Hinweis lässt sich geben, wenn Vorder- und Rückseite der Schablonen unterschiedlich gefärbt sind.)
Spiegel
rechts
rechts
Spiegelbilder
248 1936 1937 1938 1939 1940 1941 1942 1943 1944 1945 1946 1947 1948 1949 1950 1951 1952 1953 1954 1955 1956 1957 1958 1959 1960 1961 1962 1963 1964 1965 1966 1967 1968 1969 1970 1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978
5 Medien im Physikunterricht
9. Physikalische Vorstellungen aufbauen Beispiel: Die Entstehung von Mond- und Sonnenfinsternis, aber auch die Mondphasen, lassen sich im Modellversuch mit Lampe, Globus und Tennisball nachbilden. In kleineren Dimensionen sind die Himmelserscheinungen leicht verständlich. (Mit gewissen Voraussetzungen kann der Lehrer selbst im Rahmen einer gespielten Physik entscheidend mitwirken.)
10. Physikalische Gesetze quantitativ prüfen Quantitative Aussagen, oft in mathematischen Formeln zusammengefasst, sind eine zentrale Ausdrucksform in der Physik. Das Experiment kann solche Aussagen prüfen und bestätigen oder Abweichungen aufzeigen. Experimentelle Methoden, die eine grundlegende Bedeutung in physikalischen Erkenntnisprozessen haben, lassen sich z. B. zum ohmschen Gesetz, hookeschen Gesetz oder zum Brechungsgesetz nach Snellius im Unterricht nachstellen.
U/V I/A I/A
11. Physikalische Arbeitsweisen einüben U/V
Auswertung
Beispiel: Widerstandskennlinien aufnehmen – Ohm’sches Gesetz. Dabei lassen sich insbesondere folgende Fähigkeiten und Fertigkeiten üben: Sorgfältiges Messen unter definierten Rahmenbedingungen, Zusammenstellen von Daten, Auswertung und Fehlerbetrachtung.
12. Motivieren und Interesse wecken
Welche Kugel ist schneller?
In der Einstiegsphase kann ein Versuch das Interesse für ein neues Stoffgebiet wecken (Einstiegsmotivation). Beispiel: Ein Eisenquader geht im Wasser unter, während ein Eisenschiff im Wasser schwimmt. Um die Verlaufsmotivation aufrecht zu erhalten, können überraschende Versuche hilfreich sein, z. B. der folgende Versuch in der Bewegungslehre: Kugeln rollen über zwei Bahnen. Die Strecken sind identisch bis auf eine Mulde, die zusätzlich auf dem einen Weg durchlaufen werden muss. Zunächst überrascht, dass der längere Weg schneller durchlaufen wird (Klein, 1998). Der Sachverhalt dient als Hintergrund für Energiebetrachtungen mit Anwendung und Wiederholung von theoretischem Lernstoff, die Schritt für Schritt Unklarheiten aufdecken. (Für die Verlaufsmotivation sind selbstverständlich attraktive Eigentätigkeiten der Lernenden ein zentrales Mittel, insbesondere auch Schülerversuche.)
5.5 Experimente im Physikunterricht 1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021
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13. Nachhaltige Eindrücke vermitteln Einen Eindruck von der Größe des Luftdrucks kann man bei der Implosion einer Blechbüchse gewinnen. Dazu wird die Dose mit etwas Wasser gefüllt und erhitzt. Wenn das Wasser siedet, verdrängt Dampf die Luft aus der Dose. Die Blechbüchse wird dann dicht verschlossen und abgekühlt. Sobald der Wasserdampf kondensiert, wird die Dose vom äußeren Luftdruck zusammengepresst.
Luftdruckwirkung
14. Meilensteine unserer Kulturgeschichte aufzeigen Einigen Experimenten kommt eine besondere Bedeutung bei der Entwicklung unseres naturwissenschaftlichen Weltbildes zu. Wilke (1981) zählt dazu die Experimente zu folgenden Gesetzen und Erscheinungen: Grundgesetz der Dynamik, Gravitationsgesetz, Brown’sche Bewegung, Kathodenstrahlen, Magnetfeld bewegter elektrischer Ladungen, Induktionsgesetz, äußerer lichtelektrischer Effekt, Interferenz des Lichtes, Linienspektren, Resonanzfluoreszenz, elektromagnetische Wellen, Röntgenstrahlen, Elektronenbeugung, natürlicher radioaktiver Zerfall, Rutherfords Streuexperimente, Paarvernichtung. Beschreibungen dieser historischen Experimente mit entsprechenden Abänderungen als Schulversuch sind in Wilke (1987) zu finden. Anknüpfend an diese Versuche lassen sich auch oftmals spannende Einblicke in die komplexen und verflochtenen Wege wissenschaftlicher Erkenntnisprozesse gewinnen. Damit Experimente m Lehr-Lern-Prozess ihre Funktion entfalten können, müssen sie in geeigneter Weise in den Unterrichtsverlauf eingebettet sein. So betonen Tesch & Duit (2004), wie entscheidend eine entsprechende Vor- und Nachbereitung von Experimenten für die Unterrichtsqualität ist. Vor- und Nachbereitung werden in der Regel deutlich mehr Zeit beanspruchen als die eigentliche Durchführung eines Experiments.
Induktion nach Faraday
250 2022 2023 2024 2025 2026 2027 2028 2029 2030 2031 2032 2033 2034 2035 2036 2037 2038 2039 2040 2041 2042 2043 2044 2045 2046 2047 2048 2049 2050 2051 2052 2053 2054 2055 2056 2057 2058 2059 2060 2061 2062 2063 2064
5 Medien im Physikunterricht
5.5.3 Klassifikation physikalischer Schulexperimente
Verschiedene Dimensionen und Ordnungsparameter
Qualitativ, quantitativ
Für die Schulpraxis ist es hilfreich, verschiedene Formen von physikalischen Schulversuchen zu unterscheiden, wenn damit unterschiedliche methodische Möglichkeiten und / oder Anforderungsprofile verknüpft sind. Relevante Aspekte führen auf unterschiedliche Ordnungsparameter. In der Literatur gibt es allerdings eine Vielzahl von Bezeichnungen, die jeweils nur einen Aspekt betonen und damit keine eineindeutige Identifizierung erlauben (s. Behrendt, 1990; Reinhold 1996). So kann ein „quantitativer Versuch“ als „Lehrer-“ oder „Schülerexperiment“ realisiert werden; er kann als „Einstiegsversuch“ in ein Themengebiet konzipiert sein oder als „Wiederholungsversuch“. Eventuell dient er zur Prüfung einer Theorie oder zur Bestimmung einer Naturkonstanten. Der folgende Abschnitt beleuchtet stichwortartig verschiedene Aspekte.
1. Die Datenerfassung kann qualitativ oder quantitativ erfolgen. Quantitative Versuche verlangen eine objektive Datenaufnahme, Dokumentation, Datenverarbeitung und Auswertung. Dagegen sind qualitative Versuche eher auf die unmittelbare Erfassung durch die Sinne ausgerichtet.
5.5 Experimente im Physikunterricht 2065 2066 2067 2068 2069 2070 2071 2072 2073 2074 2075 2076 2077 2078 2079 2080 2081 2082 2083 2084 2085 2086 2087 2088 2089 2090 2091 2092 2093 2094 2095 2096 2097 2098 2099 2100 2101 2102 2103 2104 2105 2106 2107
2. Ein Schulversuch kann als Demonstrationsversuch vom Lehrer oder als Schülerversuch realisiert werden. Die Anforderungen an den Lernenden verlagert sich dabei vom Beobachten und Registrieren zum aktiven Durchführen von experimentellen Arbeiten.
251
Lehrer- oder Schülerversuch
3. Vorwissen, Vorarbeit und methodisches Gesamtkonzept entscheiden über die Einbindung von Experimenten in verschiedene Unterrichtsphasen. Zu nennen sind: - Einstiegsversuche mit den Zielen Motivation, thematische Hinführung, Schaffen eines Problembewusstseins, Denkanstöße geben. Vorausgesetzt werden kann nur Grundwissen und eine genaue Beobachtung.
Phasen des Unterrichts
- Erarbeitungsversuche zum Erfassen von Daten, zum Entwickeln von Hypothesen, zur qualitativen und quantitativen Prüfung von Gesetzmäßigkeiten. Es sind vor allem Fähigkeiten zu präziser Arbeit und zur Verknüpfung von Theorie und Experiment gefordert. - Versuche zur Vertiefung oder zur Verständniskontrolle. Sie können scheinbare Widersprüche aufdecken, Ähnlichkeiten oder Analogien aufzeigen, Transferleistungen vorbereiten. Aufgebaut wird auf dem Detailwissen zu einem Sachgebiet. 4. Die folgende Unterscheidung berücksichtigt, ob ein physikalisches Phänomen mit einfachen Mitteln zu beobachten ist, ob zusätzliche Geräte nötig sind, oder ob die Betrachtungen rein abstrakt erfolgen. Danach kann man unterscheiden: - Freihandversuche: Verblüffende Effekte pfiffig und einprägsam vorgestellt, ohne großen apparativen Aufwand und ohne Geräte, die den Blick auf das Wesentliche verdecken – dies ist das Ideal eines Freihandversuchs. - Versuche mit physikalischen Apparaturen und Messgeräten: Hier sind für das Erfassen physikalischer Phänomene oder Gesetze Versuchsaufbauten nötig, die eine definierte Ausgangssituation garantieren. Messwerte, die nicht direkt mit den Sinnen zu erfassen sind, werden von physikalischen Messgeräten geliefert (z. B. die elektrische Stromstärke). - Simulationsversuche: Wesentliche Teile eines physikalischen Systems werden im Rahmen eines Modells nachgebildet. Die Gestaltungselemente des Modells (Größe, Vereinfachungen, …) machen die relevanten physikalischen Prinzipien leichter erfassbar als in komplexen, realen Systemen. Beispielsweise lässt sich die spontane
Geräteaufwand
252 2108 2109 2110 2111 2112 2113 2114 2115 2116 2117 2118 2119 2120 2121 2122 2123 2124 2125 2126 2127 2128 2129 2130 2131 2132 2133 2134 2135 2136 2137 2138 2139 2140 2141 2142 2143 2144 2145 2146 2147 2148 2149 2150
5 Medien im Physikunterricht Entstehung magnetischer Domänen am Magnetnadelmodell prinzipiell zeigen. Die Vorstellungen können dann in den mikroskopischen Bereich übertragen werden. - Gedankenexperimente:
Ein Beispiel von Galilei
Gedankenexperimente ermöglichen die Extrapolation in Bereiche, die im Realexperiment nicht so leicht erreichbar sind. Daneben bieten sie oft ein gutes Training für physikalisches Argumentieren. Galilei (1638) zeigt in einem sehr schönen Widerspruchsbeweis, dass der Bewegungsablauf beim freien Fall für alle Körper gleich sein muss: Die Argumentation enthält drei wichtige Teilbetrachtungen (vgl. dazu auch die Abbildungen α, β, γ). Zunächst wird angenommen, dass der schwerere Körper B schneller den Boden erreicht als der leichtere Körper A (Skizze α). Dann werden beide Körper durch eine masselose Stange verbunden (Skizze β). Da jetzt Körper A den schnelleren Körper B bremst, fallen sie zusammen langsamer als Körper B allein. Andererseits ist aber die Kombination von Körper B und A schwerer als Körper B allein und müsste deshalb schneller fallen (Skizze γ). Somit führt die Annahme, dass der schwerere Körper schneller fällt als der leichtere zu einem logischen Widerspruch und muss falsch sein. α)
β)
γ)
A A B B
A B
5.5 Experimente im Physikunterricht 2151 2152 2153 2154 2155 2156 2157 2158 2159 2160 2161 2162 2163 2164 2165 2166 2167 2168 2169 2170 2171 2172 2173 2174 2175 2176 2177 2178 2179 2180 2181 2182 2183 2184 2185 2186 2187 2188 2189 2190 2191 2192 2193
5. Neben dem klassischen Einzelversuch lassen sich Parallelversuche und Versuchsserien unterscheiden. - Ein Parallelversuch zeigt Abläufe direkt nebeneinander und bietet ideale Vergleichsmöglichkeiten. Auswirkungen durch die Änderung eines Parameters werden unmittelbar deutlich. Die nebenstehende Versuchsanordnung zum hookeschen Gesetz macht zudem eine grafische Auswertung direkt nahe liegend. (Allerdings wird man in diesem Fall kaum auf einen schrittweisen Aufbau der Anordnung verzichten, um die Zusammenhänge deutlicher hervorzuheben.) - Die Versuchsreihe stellt Einzelversuche in einer Serie zusammen. Das Ziel kann sein, Regeln und Gesetzmäßigkeiten über systematischen Variationen aufzudecken. Ein Beispiel könnten Kugelstoßexperimente sein. In dem skizzierten Versuch sind fünf Stahlkugeln bifilar so aufgehängt, dass sie in einer Kette direkt aneinander liegen. Erst wird eine Kugel ausgelenkt und stößt auf die restlichen vier ruhenden Kugeln, dann zwei, drei und abschließend noch eine Kugel mit doppelter Masse.
5.5.4 Empfehlungen für die Unterrichtspraxis Das physikalische Experiment im Unterricht muss mehr bieten als ein Zusammenstellen von beobachtbaren Fakten. Deshalb ist auch bei physikalischen Schulversuchen wichtig, dass der Lernstoff ausreichend organisiert und strukturiert ist und die Informationen angemessen sequenziert und portioniert werden. Insbesondere darf nicht übersehen werden, dass entscheidende Kompetenzen oft erst noch im Unterricht entwickelt werden müssen. Dazu gehören u. a.: Unterscheiden zwischen wichtigen Einflussgrößen und unwesentlichen Störgrößen, gezieltes Untersuchen einzelner Variablen oder ein Erkennen funktioneller Zusammenhänge. Neben fachlichen und inhaltsspezifischen Forderungen lassen sich für die Durchführung von Versuchen noch allgemeine Richtlinien formulieren, die sich aus verschiedenen pädagogischen, psychologischen und didaktischen Blickrichtungen ergeben.
253 Ausführungsform
0N
1N
2N
Kugelkette
3N
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5 Medien im Physikunterricht
1. Empfehlungen aus lernpsychologischer Sicht Eine angemessene Strukturierung der Lerninhalte und die Verknüpfung mit dem Vorwissen des Schülers sind nach Ausubel et al. (1980, 81) zentrale Faktoren für ein effektives Lernen. Daher ist zu prüfen: • Inwieweit können die Versuchsinhalte mit vorhandenen Konzepten des Schüler verknüpft werden und welche unterstützenden Maßnahmen sind hierzu geeignet? • Wie präzise, eindeutig und konsistent sind die Darstellungen und verwendeten Symbole in der Begriffswelt der Schülerinnen und Schüler? • Sind wichtige Teilschritte für die Lernenden als solche erkennbar? • Sind die Grundlagen gegeben, dass Schüler wichtige Zusammenhänge im Versuchsablauf erkennen und daraus später auch Kausalzusammenhänge erschließen können? Selbstverständlich ist der physikalische Schulversuch kein isoliertes Element des Unterrichts. Begleitende Maßnahmen sind sinnvoll. Gegebenenfalls müssen vor der Versuchsdurchführung noch wichtige Grundlagen erarbeitet werden. Zudem sollten Ablauf und Ergebnis in verschiedenen Repräsentationsformen festgehalten werden (Ergebnissicherung verbal, schriftlich und evtl. grafisch).
5.5 Experimente im Physikunterricht 2237 2238 2239 2240 2241 2242 2243 2244 2245 2246 2247 2248 2249 2250 2251 2252 2253 2254 2255 2256 2257 2258 2259 2260 2261 2262 2263 2264 2265 2266 2267 2268 2269 2270 2271 2272 2273 2274 2275 2276 2277 2278 2279
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2. Richtlinien aus der Wahrnehmungspsychologie Genaues Beobachten ist bei physikalischen Versuchen prinzipiell gefordert. In das komplexe Wechselspiel zwischen Informationsaufnahme und Verarbeitung gehen besonders folgende Fähigkeiten ein (und sollten auch gezielt artikuliert werden): • Differenzierungsfähigkeit: Hier geht ein, wie treffend unterschiedliche physikalische Gesichtspunkte bei einem Experiment berücksichtigt werden, um einen Sachverhalt präzise zu erfassen. Bei der Betrachtung von Bewegungen können beispielsweise Geschwindigkeit, Beschleunigung oder der Einfluss verschiedener Kräfte untersucht werden. • Diskriminierungsfähigkeit: Dazu gehört, dass bestimmte Faktoren nachrangig behandelt oder gar vernachlässigt werden, z. B. Reibungseffekte bei der Luftkissenbahn oder unwichtige Äußerlichkeiten bei einem Versuchsaufbau. Das Abstrahieren von zweitrangigen Begleiterscheinungen ist ein wichtiger Aspekt physikalischer Beobachtungen. • Integrationsfähigkeit: Damit ist die Fähigkeit gemeint, Zusammenhänge zwischen verschiedenen Kategorien und Merkmalen herzustellen und auch die Fähigkeit, Vorwissen und neue Informationen zu verknüpfen. Darüber hinaus können Erfassungsmodalitäten wie Aufnahmegeschwindigkeit oder begrenzte Aufnahmekapazität leistungsbegrenzende Faktoren sein. Beobachtungsaufgaben lassen sich bei Demonstrations- und Schülerversuchen erleichtern bzw. die Konzentration auch auf wesentliche Komponenten lenken. Dabei gelten folgende Richtlinien: • Gut lesbare, große Anzeigeskalen der Messinstrumente • Kleine Aufbauten über Schatten- oder Videoprojektion vergrößert zeigen • Geräte so aufstellen, dass wichtige Bedienungselemente (z. B. wichtige Einstellknöpfe) für den Schüler sichtbar sind.
Gute Sichtbarkeit
• Physikalische Nebeneffekte ausblenden (soweit dies möglich und sinnvoll ist)
Beschränkung auf Wesentliches
• Nur ein Experiment in den Blickpunkt rücken (insbesondere weitere Versuche der Unterrichtsstunde beiseite schieben oder abdecken)
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Akzentuierung wichtiger Komponenten Versuchsaufbau strukturieren
5 Medien im Physikunterricht • Das eigentliche Versuchsobjekt zentral anordnen, evtl. farblich hervorheben • Wichtige Geräte deutlich beschriften • Funktionelle Teilsysteme auch räumlich durch vertikale und horizontale Gliederung trennen oder zusammenfassen • Schlauch- und Kabelverbindungen kurz und übersichtlich halten, z. B. elektrische Kabel nach ihrer Funktion farblich trennen • Versorgungs- und Zusatzgeräte in den Hintergrund rücken, evtl. abdecken und nur durch ein Symbol kennzeichnen (z. B. Netzteil für die Versorgungsspannung)
Prägnanz
• Die Anwendung Gestaltpsychologischer Gesetze (vgl. 6.2) ist nach Schmidkunz (1992, 1983) charakteristisch für prägnante Versuchsaufbauten. So gehören Nähe, äußere Ähnlichkeit, Geschlossenheit oder Symmetrie zu oberflächlichen Wahrnehmungsfaktoren, die aber oft in entscheidendem Maße kognitive Assoziationen nahe legen.
Ablauf gliedern
• Physikalisch relevante Zeitabschnitte sind deutlich herauszuarbeiten, z. B. den Einschwingvorgang von stationären Schwingungszuständen abgrenzen • Zeitlich gegliederte Prozesse sind wenn möglich auch in einer räumlichen Sequenz nachzubilden, z. B. von unten nach oben, von hinten nach vorne oder von links nach rechts ablaufende Prozesse zeigen • Schnelle, komplexe Abläufe kann man evtl. mehrmals zeigen, jeweils verschiedene Beobachtungsschwerpunkte angeben oder zusätzlich als Zeitlupenfilm anbieten
Orientierungshilfen und verschiedene Darstellungen anbieten
• Eine schematische Tafelskizze zum Versuchsaufbau kann beispielsweise wesentliche Komponenten hervorheben • Die Darstellung in verschiedenen Repräsentationsformen, beispielsweise als realitätsnahes Bild einer elektrischen Schaltung und als Schaltskizze, regt Umdenkprozesse und damit eine intensivere geistige Auseinandersetzung mit den Sachverhalten an.
5.5 Experimente im Physikunterricht 2323 2324 2325 2326 2327 2328 2329 2330 2331 2332 2333 2334 2335 2336 2337 2338 2339 2340 2341 2342 2343 2344 2345 2346 2347 2348 2349 2350 2351 2352 2353 2354 2355 2356 2357 2358 2359 2360 2361 2362 2363 2364 2365
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3. Aus pädagogischer Sicht (Vorbildwirkung) Streng genommen hängen Nachahmungslernen und Vorbildeffekte in komplexer Weise mit sozialen Beziehungen zusammen. In neuen Handlungsfeldern ist aber prinzipiell die Tendenz groß, erst einmal vorgezeigte Arbeitsweisen zu übernehmen. Dies gilt auch für das physikalische Experimentieren. Deshalb ist vom Lehrer zu fordern: • Präzise Arbeit zeigen • Auf Sicherheitsrichtlinien hinweisen und diese mustergültig befolgen: Elektrische Schaltungen zur Quelle hin aufbauen und erst nach einer gründlichen Prüfung anschalten; offene Flammen sichern, Schutzvorrichtungen verwenden (Schutzglas, Schutzbrille …) • Einen sachgerechten Umgang mit Messgeräten zeigen: Einschalten im höchsten Messbereich, Einsatzbedingungen prüfen (z. B. magnetische Streufelder vermeiden, vorgeschriebene Lage der Messgeräte einhalten …) • Verbrauchsmaterial angemessen entsorgen • Korrekte Fachsprache bei Versuchsbeschreibungen verwenden
4. Empfehlungen aus der Motivationspsychologie • Schüler aktiv teilnehmen lassen (an allen wesentlichen Denkund Handlungsprozessen) • Wenn möglich, Schülern auch bei Demonstrationsversuchen geeignete Aufgaben zuteilen • Den Ablauf interessant gestalten, Spannung aufbauen, keine beobachtbaren Effekte verbal vorwegnehmen • Den individuellen Bezug zum Versuch verstärken, z. B. Prognosen über den Ablauf machen lassen • Inhalte wählen, die auch einen Erklärungswert für Anwendungen aus der Alltagwelt der Schülerinnen und Schüler haben (z. B. Bewegungsmelder, Helligkeitsregelung in der Haustechnik, …) • Anreize durch Erfolgserlebnisse setzen, z. B. funktionell reizvolle und in ihrer Funktion direkt prüfbare Schaltungen bearbeiten lassen (Lichtschranke, Bewegungsmelder, Helligkeitsregelung).
Vorbild
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5 Medien im Physikunterricht
5. Physikalische Denk- und Arbeitsweisen einüben Experimentieren gehört zum Kern naturwissenschaftlicher Erkenntnismethoden. Allerdings relativiert Höttecke (2008) zu Recht die Bedeutung von Schulexperimenten als Beispiele für Arbeitsweisen in der modernen naturwissenschaftlichen Forschung. Schulexperimente als Modell für die aktuelle Forschungsmethodik in den Naturwissenschaften hinzustellen, würde ein falsches Bild zeichnen. Dennoch können Experimente elementare Arbeitsschritte zu physikalischen Erkenntnissen aufzeigen. Für die Unterrichtspraxis ordnen Götz et al. (1990) die relevanten Denk- und Handlungsprozesse beim physikalischen Experimentieren in fünf Bereiche ein: • Problematisieren, wobei die Problemstellung herausgearbeitet und ein Erklärungsbedürfnis geweckt werden soll. • Hypothesenbildung, wozu das Herstellen eines erklärenden Zusammenhangs, das Finden eines erklärenden Modells, ein Formulieren des Ursache-Wirkungs-Zusammenhangs oder eine theoretische Herleitung aus mehr oder weniger gut gesicherten Grundsätzen gehören kann • Konstruieren einer experimentellen Anordnung. Dies beinhaltet das Erstellen eines Plans zur Überprüfung der Hypothese durch ein Experiment, das Finden einer Apparatur und ein Ausblenden von Nebeneinflüssen. • Laborieren, wozu die Kontrolle wesentlicher Parameter, die Durchführung und die Dokumentation des Experiments gehören. • Deutung der beobachteten Effekte und Messwerte im Sinne der vorangegangenen theoretischen Überlegungen. Wenn ein Experiment misslingt
Selbstverständlich kann es vorkommen, dass ein Demonstrationsversuch misslingt. Allerdings verliert ein Lehrer schnell seine Vorbildfunktion, wenn die Schüler an seinem experimentellem Geschick zweifeln. Demonstrationsversuche, die nicht sicher funktionieren, sollten auch deshalb gezielt als kritisch angekündigt werden. Zudem kann die Diskussion problematischer Versuchsbedingungen sehr lehrreich sein. Auch die Fehlersuche kann eine sinnvolle gemeinsame Aufgabe von Lehrer und Schüler sein. Sie muss aber zeitlich begrenzt bleiben. Gegebenenfalls wird ein Experiment in der nächsten Unterrichtsstunde wiederholt.
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5.5.5 Schülerexperimente Schon die Meraner Beschlüsse von 1905 (siehe Guntzmer, 1908) fordern planmäßige Schülerübungen für die physikalische Ausbildung. In Schülerversuchen kann der Lernende erworbene Handlungsschemata einsetzen, um neue physikalische Inhalte zu erschließen. Schülerversuche bieten Gelegenheit zu konkretem physikalischem Arbeiten und eigenen Erfahrungen. Sie entsprechen dem Prinzip der Aktivierung und kommen dem natürlichen Drang nach Eigentätigkeit entgegen. Allerdings sind zumindest in der Sekundarstufe I noch wenig spezifische Fertigkeiten und Fähigkeiten zum Experimentieren ausgebildet. So wird der Erwerb einer experimentellen Handlungskompetenz auch ein Anliegen von Schülerversuchen sein.
Zieldimensionen Der Erkenntnisgewinn bei offenen Schülerexperimenten wird in der Regel weniger strukturiert, systematisch und zielgerichtet verlaufen als bei einem instruktionalen Unterricht. Dafür stehen aber neben dem reinen Erkenntnisgewinn noch weitere Zielrichtungen im Vordergrund.: • Der Erwerb experimenteller Fertigkeiten und fachspezifischer Arbeitsweisen • Erkennen und Verstehen physikalischer Gesetzmäßigkeiten und Zusammenhänge in der Anwendung und bei der direkten Begegnung mit dem Phänomen • Verbinden von Theorie und Praxis • Entwicklung sozialen Verhaltens in Partner- und Gruppenarbeit (Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit) • Motivation und Werthaltungen (Freude an der Physik, präzises, zielstrebiges Arbeiten, Ausdauer) Alle Dimensionen werden nicht gleichzeitig in einer Experimentalübung anklingen. Die geforderten Kompetenzen sind viel zu komplex und umfassend, sodass sie erst in längeren Entwicklungsphasen entstehen.
Vorarbeiten und Hilfen Große Handlungsfreiräume bei Schülerversuchen bedeuten keineswegs einen geringen Vorbereitungsaufwand. Im Gegenteil, spezifisches Grundwissen, experimentelle Fertigkeiten und grundlegende
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5 Medien im Physikunterricht Qualitäten eines selbstorganisierenden Lernens müssen vorher überprüft bzw. vorbereitend erarbeitet werden. Ein schrittweises Vorgehen ist empfehlenswert und lässt sich auch direkt mit Experimenten realisieren. Beispielsweise schlägt v. Aufschnaiter (2008) einen systematischen Zugang zu physikalischen Konzepten über Experimentierserien vor, bei denen durch gezielte Variation von Parametern neue Erkenntnisstrukturen erarbeitet werden.
Kritische Faktoren
Hilfen
Mangelndes fachliches Vorwissen, geringe experimentelle Handlungskompetenz, zeitraubende räumliche, sach- und gerätebezogene Rahmenbedingungen, aber auch fehlende klasseninterne Organisationsstrukturen und ein schlechter Ordnungsrahmen sind oft kritische Faktoren für die Effektivität von Schülerexperimenten. Je nach Selbständigkeit und Leistungsniveau sind deshalb mehr oder weniger ausführliche Anleitungen und fachliche Zusatzinformationen bereitzustellen. Insbesondere sind oft Hilfestellungen in folgenden Abschnitten nötig: • Strukturierung des Arbeitsablaufs • bei der Hypothesenbildung (relevante Einflussgrößen einbeziehen, logische Schlussfolgerungen ziehen) • technische Umsetzung (z. B. Anschluss und Bedienung von Geräten) • Datenaufnahme (präzise Messung und Dokumentation) • Aufbereitung und Interpretation der Daten. Oft zeigt sich, dass in Problemsituationen schlichtweg die Routine fehlt, die erlernten Fertigkeiten einzusetzen. Der Schüler erkennt gar nicht, dass verfügbare Fertigkeiten bei einer gegebenen Problemstellung anzuwenden sind.
Vorteile, aber auch Anforderungen Hopf (2007) untersuchte die Wirksamkeit von Schülerexperimenten, bei denen authentische, offen formulierte Problemsituationen für das Experimentieren vorgegeben waren. Nach seinen Untersuchungen wirken problemorientierter Schülerexperimente dem üblichen Absinken von Interesse, Selbstwirksamkeitserwartungen und anderen nicht kognitiven Schülermerkmalen leicht entgegen; der Einsatz problemorientierter Schülerexperimente führt aber nicht automatisch zu einem verbesserten begrifflichen Verständnis physikalischer Inhalte (Hopf, 2007).
Literatur 2538 2495 2496 2539 2497 2540 2498 2541 2499 2542 2500 2543 2501 2544 2502 2545 2503 2546 2504 2547 2505 2548 2506 2549 2507 2550 2508 2551 2509 2552 2510 2553 2511 2554 2512 2555 2513 2556 2514 2557 2515 2558 2516 2559 2517 2560 2518 2561 2519 2562 2520 2563 2521 2564 2522 2565 2523 2566 2524 2567 2525 2568 2526 2569 2527 2570 2528 2571 2529 2572 2530 2573 2531 2574 2532 2575 2533 2576 2534 2577 2535 2578 2536 2579 2537 2580
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Abschließend sind stichwortartig noch Vorteile, aber auch potentielle Schwierigkeiten von Schülerübungen zusammengefasst. Sie sollen auf mögliche Schwerpunkte bei der Zielsetzung hinweisen, aber andererseits auch einige wichtige Punkte hervorheben, die in der Vorbereitung zu bedenken sind. • Sie kommen dem Drang nach Eigentätigkeit entgegen und ermöglichen einen Wechsel der Unterrichtsform. • Aufbau und Ablauf des Versuchs werden aufgrund der direkten Beteiligung im Allgemeinen gut erfasst.
Vorteile von Schülerversuchen
• Der Umgang mit technischen Geräten und Versuchsaufbauten wird gelernt. • Überwinden von Schwierigkeiten und erfolgreiche Datenerfassung sind wichtige Grunderfahrungen. • Individualisierungs- und Differenzierungsmöglichkeiten bieten sich an. • Kooperatives Arbeiten in Gruppen wird realisierbar. In der Planung sind zu bedenken. • Der Geräteaufwand ist höher, Schülersätze sind nötig. • Die spezielle Ausstattung der Arbeitsplätze und eine umfangreichere Gerätesammlung können räumliche Probleme bereiten. • Der Arbeitsaufwand ist größer. Dies betrifft nicht nur die Vorbereitung, sondern auch die Betreuung während des Unterrichts. Die gleichzeitige Betreuung von mehreren Schülergruppen hat seine Grenzen (auch unter sicherheitstechnischen Aspekten).
Zusätzliche Anforderungen beim Schülerversuch
• Der Aufwand an Unterrichtszeit für Durchführung, Nachbereitung und Nachbesprechung darf nicht unterschätzt werden. • Bedingt durch die Organisationsform treten Disziplinschwierigkeiten eher auf.
Literatur Alley, M. (1996). The Craft of Scientific Writing. New York: Springer. Anderson, J.R. & Reder, L.M. (1979). An elaborative processing explanation of depth processing. In L.S. Cermak & F.I.M. Craik (Eds.), Levels of processing in human memory Hillsdale, N.J.: Erlbaum, 385 – 403. Atkinson, R. C.; Shiffrin, R. M. (1968). Human memory: A proposed system and it’s control processes. In K.W. Spence (Ed.) The psychology of learning and motivation: Advances in research and theory. Vol. 2. New York: Academic Press, 89 – 195.
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5 Medien im Physikunterricht
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Peter Häußler
6 Wie lässt sich der Lernerfolg messen? 1. Messen und Beurteilen von Schulleistungen wird in der Pädagogik als ambivalent betrachtet. Klafki (19965, 245 f.) spricht von der „Dialektik des Leistungsbegriffs“ und von „Gegenpolen des Leistens“, wie Lebensqualität, Glückserfahrungen, von Spiel, die auch den Sinn von Schule ausmachen und die bisher kaum im Blickpunkt von Schülerbeurteilungen stehen. Wir vermeiden aus diesem Grund den Ausdruck „Leistung“ und sprechen von „Lernerfolgen“ – ein Ausdruck, der auch die „Gegenpole“ einschließt. 2. Unterricht ist als um so erfolgreicher zu bewerten, je besser die gesetzten Ziele erreicht werden. Mit dem in Kapitel 1 beschriebenen Wandel in den Zielen naturwissenschaftlichen Unterrichts sind neue Bereiche, in denen der Erfolg des Unterrichts bewertet werden soll, hinzugekommen. Der naturwissenschaftliche Unterricht soll heute neben der Vermittlung von Wissen vor allem etwas über naturwissenschaftliche Erkenntnismethoden sowie über ihre Rolle in unserer Gesellschaft und der daraus erwachsenden Verantwortung vermitteln. Deshalb sind neben der Überprüfung der Wissenszuwächse auch die Erfassung höherer kognitiver Leistungen, von sozialen Kompetenzen und von Einstellungen zu leisten. 3. Wenn bestimmte Unterrichtsziele nicht in die Unterrichtsbewertung einbezogen werden, verhindert das eine zielgerechte Bewertung der Schüler und die Aufdeckung von Schwächen des Unterrichts in den nicht kontrollierten Zielbereichen. Außerdem hinterlässt Unterricht, der die höheren kognitiven und die nichtkognitiven Ziele zwar anstrebt aber ihre Erreichung nicht überprüft, bei Schülern den Eindruck, dass diese Ziele nicht so wichtig seien und dass man sich nicht weiter um sie kümmern müsse. Crooks (1988) zeigte einen deutlichen Zusammenhang zwischen der Art von Aufgaben, mit denen der Lernerfolg überprüft wurde, und dem Lernverhalten: Wenn überwiegend Tatsachenwissen abgefragt wurde, lernte man bevorzugt auswendig, ging es aber um analytisches Denken, provozierte das eine ganz andere, nämlich um Verständnis der Zusammenhänge bemühte Art der Vorbereitung. 4. Aus verschiedenen Gründen gehört Prüfen, Beurteilen, Benoten zur Professionalität von Lehrkräften. Dieser Bereich wird bisher in der Lehrerbildung vernachlässigt. Forschungsergebnisse zur Messqualität von Schulnoten zeigen dies überdeutlich (Sacher 19962, 31 ff.).
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6 Wie lässt sich der Lernerfolg messen?
6.1 Allgemeine Kriterien und Verfahren zur Messung des Lernerfolgs 6.1.1 Gütekriterien zur Messung des Lernerfolgs Was man in den naturwissenschaftlichen Disziplinen von einem guten Messinstrument erwartet, ist unmittelbar einleuchtend: Seine Anzeige soll unabhängig vom Benutzer sein, es soll mit einem möglichst kleinen Messfehler behaftet sein, und es soll nur die Größe in einem Bereich messen, für das es konstruiert worden ist. Von einem Fieberthermometer z. B. verlangen wir, dass alle Benutzer den gleichen Wert ablesen, dass der Messfehler 0,1 °C nicht übersteigt und seine Anzeige von etwa 35 °C bis 42 °C reicht sowie von anderen Größen (z. B. vom Luftdruck) unabhängig ist.
Drei Forderungen an ein gutes Messinstrument
Objektivität
Es hat sich in der Unterrichtsforschung eingebürgert, bei einem Test, einer Einstellungsskala oder einer anderen, auf die Erfassung eines bestimmten Merkmals gerichteten Erhebungsprozedur, ebenfalls von einem „Messinstrument“ zu sprechen und ganz ähnliche Gütekriterien festzulegen: Es soll nämlich • objektiv sein, d. h. unabhängig von seinem Benutzer den gleichen Wert messen, • reliabel sein, d. h. einen kleinen Messfehler haben, und es soll • valide sein, d. h. das und nur das messen, was es zu messen vorgibt. 1. Objektivität (Intersubjektivität): Das Gütekriterium der Objektivität gibt an, inwieweit verschiedene Personen unabhängig voneinander bei der Bewertung des Unterrichtserfolgs, also beim „Ablesen“ des „Messinstruments“ mit dem dieser gemessen werden soll, zu gleichen Ergebnissen kommen. Es leuchtet unmittelbar ein, dass verschiedene Bewertungsverfahren in unterschiedlicher Weise objektiv sind. Wird z. B. Faktenwissen mit einem Test aus vorgegebenen Auswahlantworten (Multiplechoiceaufgaben) gemessen, so ist eine hohe Objektivität kein Problem und allenfalls durch die Unaufmerksamkeit des Auswerters begrenzt. Schon größer sind die Ermessensspielräume bei Verwendung von Aufgaben mit freien Antworten, und noch geringer ist im Allgemeinen die Objektivität bei Vorgabe eines Aufsatzthemas. Die Objektivität kann verbessert werden, wenn eine detaillierte Auswerteanweisung oder im Falle eines Aufsatzes ein detaillierter Erwartungshorizont festgelegt wird, an die Bewertungen gebunden werden. Die Objektivität leidet auch darunter, dass ein Bewerter nicht frei von Vorurteilen ist. So hat z. B. eine
6.1 Allgemeine Kriterien und Verfahren zur Messung des Lernerfolgs 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 100 101 102 103 104 105 106 107 108 109 110 111 112 113 114 115 116 117 118 119 120 121 122 123 124 125 126 127 128 129
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englische Studie zur Bewertung von Aufsätzen über chemische Sachverhalte gezeigt (Spear 1987), dass die gleichen Aufsätze schlechter bewertet wurden, wenn sie (angeblich) von Mädchen geschrieben worden waren.
Vorurteile vermindern die Objektivität
2. Reliabilität (Zuverlässigkeit): Die Reliabilität gibt an, wie zuverlässig und genau ein Bewertungsverfahren misst. Man kann sie daher auch als Messgenauigkeit bezeichnen. Auf den ersten Blick ist vielleicht nicht zu sehen, worin der Unterschied zur Objektivität liegt. Dazu folgendes Beispiel: Angenommen es wird in einem bestimmten inhaltlichen Bereich ein Test konstruiert, der aus Aufgaben besteht, die entweder viel zu leicht oder viel zu schwer für die Schüler sind, die diesen Test bearbeiten sollen. Selbst wenn ein solcher Test mit größtmöglicher Objektivität ausgewertet wird, misst er das Wissen extrem unzuverlässig. Da nämlich alle leichten Aufgaben von allen gelöst werden und alle schweren Aufgaben von niemandem, liefert er für alle den gleichen Wert. Man sagt auch, dass solche Aufgaben nicht trennscharf seien. Prinzipiell kann jede Aufgabe aufgrund von missverständlichen oder verwirrenden Formulierungen zu Lösungen der Schüler führen, die über deren tatsächlichem Wissensstand eine fehlerhafte Information geben. Mit anderen Worten: Jeder Test und verallgemeinert jedes Bewertungsverfahren ist mit einem bestimmten Messfehler behaftet, auch bei vollständig objektiver Auswertung.
Reliabilität
Ein quantitatives Maß für diesen Messfehler erhält man, wenn man einen Test in zwei gleichwertige Testteile teilt und die Testergebnisse der beiden Hälften miteinander korreliert. Man erhält dann einen Reliabilitätskoeffizienten für den halbierten Test und kann diesen nach den Gesetzen der Statistik auf den Gesamttest hochrechnen. Unter der Annahme, dass die in den einzelnen Aufgaben steckenden Fehler nicht systematischer Natur sind, mitteln sich die Fehler mit zunehmender Aufgabenzahl weg. Die Reliabilität eines Tests kann also auf zweierlei Weise verbessert werden:
Messfehler sind unvermeidlich Vergleich von Texthälften
(1) Man spürt Aufgaben mit geringer Trennschärfe auf und entfernt diese aus dem Test. Dafür gibt es bestimmte statistische Prozeduren. (2) Man verlängert einen Test um weitere Aufgaben (mit befriedigender Trennschärfe). 3. Validität (Gültigkeit): Dieses dritte Gütekriterium erfasst, inwieweit ein Messverfahren überhaupt das misst, was es zu messen vorgibt. Auch wenn bei einem Test die Objektivität und die Reliabilität zufriedenstellend sind, ist damit nicht gesichert, dass er etwas über
Validität
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6 Wie lässt sich der Lernerfolg messen? die Schülerleistung aussagt, die mit ihm gemessen werden soll. Die Validität zu prüfen ist schwieriger als die Schätzung der beiden anderen Gütekriterien. Die Beantwortung der Frage, was ein bestimmter Test misst, bedeutet nämlich eine inhaltliche Bestimmung, und das ist viel komplexer als die Antwort auf die formale Frage „Wie genau“ er etwas, möglicherweise Sinnloses, misst.
Validität im kognitiven Bereich
Im kognitiven Bereich ist es noch am leichtesten ein Bewertungsverfahren zu finden, das in diesem Sinne valide ist. Soll z. B. die Fähigkeit erfasst werden, bestimmte Wissensinhalte zu reproduzieren, so kann man davon ausgehen, dass das, was mit einem Wissenstest zu messen beabsichtigt ist, und die kognitive Leistung, die mit diesem Test erfasst wird, deckungsgleich sind. Folgendes Beispiel illustriert, dass nicht jeder Wissenstests valide ist: Angenommen in einer Aufgabe ist die richtige Antwort in der Formulierung der Frage bereits enthalten. In diesem Fall würde nicht oder nicht ausschließlich Wissen erfasst, sondern die Pfiffigkeit, solche versteckten Hinweise aufzuspüren und zu nutzen. Schwieriger ist es, z. B. die Fähigkeit zum Problemlösen valide zu messen. Abgesehen davon, dass „Problemlösen“ nicht so einfach zu definieren ist wie „Reproduktion“, hängt es nämlich davon ab, ob es zur Lösung einer Problemlöseaufgabe tatsächlich höherer kognitiver Fähigkeiten bedarf oder ob die Lösung auch aufgrund der Erinnerung an einen früher gelernten Lösungsweg möglich ist. Ein solcher Test kann deshalb, wenn überhaupt, nur in Bezug auf genau definierte Lerngeschichten der Schüler valide sein.
Validität im nichtkognitiven Bereich
Im nichtkognitiven Bereich ist die Sicherung von Validität noch schwieriger. Soll z. B. die Fähigkeit zur sozialen Integration oder die Einstellung zu einem bestimmten Objekt bewertet werden, so ist keineswegs klar, an welchen beobachtbaren Reaktionen der Schüler diese nicht direkt beobachtbaren (latenten) Fähigkeiten festgemacht werden sollen. Man geht dabei so vor, dass man entweder aus einer Theorie über das zu messende latente Merkmal beobachtbare Verhaltensweisen ableitet oder diese aufgrund von Plausibilitätsüberlegungen postuliert. Bei der Entwicklung eines validen Messverfahrens versucht man dann, diejenigen Verhaltensweisen auszuwählen, die das zu messende Merkmal optimal repräsentieren. Drei Wege sind für eine verlässlichen Schätzung der Validität üblich.
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6.1 Allgemeine Kriterien und Verfahren zur Messung des Lernerfolgs
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(1) Das Expertenrating: Dabei wird ausgelotet, ob das Messverfahren theoretisch fundierte Elemente enthält, die als gute Indikatoren für die zu messende Fähigkeit gelten können.
Möglichkeiten der Schätzung der Validität
(2) Die klassische Itemanalyse: Die mit dem Messverfahren erhobenen Daten werden z. B. einer Faktorenanalyse unterworfen. Mit ihrer Hilfe kann geprüft werden, ob bei der Reaktion auf die einzelnen Items eine oder mehrere Fähigkeiten (Faktoren) eine Rolle gespielt haben. Ist letzteres der Fall, so lassen sich alle Items, die anderen Faktoren zugeordnet werden, aussondern. Lassen sich darüber hinaus die verschiedenen Faktoren inhaltlich interpretieren und wird dabei klar, dass einer dieser Faktoren der zu erfassenden Fähigkeit besser entspricht als die anderen, so darf man sich berechtigterweise etwas sicherer fühlen, dass ein valides Messverfahren vorliegt. (3) Der Bezug auf ein Außenkriterium: Existiert bereits ein Messverfahren, von dem man annimmt, dass es valide ist, so können die damit erhobenen Daten mit den an der gleichen Schülerschaft erhobenen Daten des neuen Messverfahrens korreliert werden. Der Korrelationskoeffizient ist dann ein quantitatives Maß für die Validität des neuen Verfahrens. Im Schulalltag spielt noch eine andere Art von Validität eine Rolle. Wenn es nämlich darum geht, aus gegenwärtigen Leistungen und Verhaltensweisen auf zukünftige zu schließen, muss das Bewertungsverfahren prognostische Validität haben. Diese Art der Validität ist z. B. beim Übergang von der Grundschule zur Sekundarstufe I wichtig.
Prognostische Validität
6.1.2 Was kann und soll mit der Messung des Lernerfolgs bezweckt werden? Auf diese Frage gibt es in der Literatur umfassende Diskussionen (siehe z. B. Kleber, 1992; Sacher, 19962). Die folgenden Anmerkungen zu diesem Thema können die Beschäftigung mit dieser Spezialliteratur nicht ersetzen. 1. Die Messung des Lernerfolgs hat mehrere Funktionen: – Rückmeldungen für Schülerinnen und Schüler Die Bewertung des eigenen Lernerfolgs kann dem Schüler helfen, zu erkennen, welche der im Unterricht angestrebten Lernziele erreicht wurden und an welchen Stellen noch Lücken zu füllen sind. Im Idealfall wird durch die Bewertung dazu angeregt, diese Lücken zu schließen.
Informationen über nicht erreichte Lernziele
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Hinweise für die Lernberatung Information über nicht erreichte Lehrziele
6 Wie lässt sich der Lernerfolg messen? – Rückmeldungen für die Lehrkraft Die Lehrerin kann die verschiedenen Daten zur Bewertung eines Schülers in vielfältiger Weise nutzen. Abgesehen von der Verwendung bei der Festlegung von Zeugnisnoten (also einer Beurteilung) kann sie die Informationen zur individuellen Lernberatung der Schüler oder für Gespräche mit deren Eltern nutzen. Nicht zuletzt verrät der Erfolg oder Misserfolg des eigenen Unterrichts etwas über die Qualität dieses Unterrichts. Das kann ggf. zu einer entsprechenden Korrektur führen.
Aus Fehlern lernen
– Bewertung als Lernsituation Nicht übersehen werden sollte, dass die Durchführung einer Bewertung (z. B. das Schreiben eines Tests oder einer Klassenarbeit) für die Schülerin oder den Schüler eine Lernsituation darstellt, auf die es sich vorzubereiten gilt und aus der man Lehren ziehen kann.
Ansporn, schlechte Zensuren zu vermeiden
– Disziplinierungsfunktion Allein durch die Tatsache, dass Bewertungen stattfinden, können die Schülerinnen und Schüler angehalten werden, dem Unterricht aufmerksam zu folgen, Hausaufgaben zu machen, sich auf eine anstehende Beurteilung vorzubereiten und dergleichen. Auch darf nicht übersehen werden, dass bisweilen der „Zensurendruck“ angewandt wird, wenn die Sachmotivation nicht ausreicht. In diesem Zusammenhang sei noch einmal darauf verwiesen, dass sich die Bewertung des Unterrichtserfolgs nicht ausschließlich auf einen schmalen Lernzielausschnitt – z. B. auf das Memorieren von Ergebnissen – beschränkt. Andernfalls erscheinen die anderen Lernzielbereiche als unwichtig und nicht weiter der Anstrengung wert, sich um Ihr Erreichen zu bemühen.
Verteilung von Sozialchancen
– Auslesefunktion Die bisher beschriebenen Funktionen der Bewertung des Lernerfolgs waren in erster Linie pädagogische, in dem Sinne, dass das Erreichen der Lernziele im Vordergrund stand. Da aber der Erwerb eines bestimmten Schulabschlusses den Weg zu ganz bestimmten Berufen öffnet, werden durch jede schulische Beurteilung auch Sozialchancen verteilt. Unser traditionelles dreigliedriges Schulsystem hat ja, pointiert formuliert, geradezu die Aufgabe, die „geeigneten“ Schülerinnen und Schüler in die „höheren“ Schullaufbahnen einzuweisen. Spätestens seit Einführung des Numerus Clausus und der zentralen Vergabe von Studienplätzen, ist deutlich geworden, dass die pädagogische Funktion der Schülerbewertung und die Selektionsfunktion einer Schülerbeurteilung miteinander im Wettstreit liegen können. In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass die Beurteilung der Schüler auch eine rechtliche Funktion hat. Das gilt vor allem bei Zeugnisnoten, um die auch vor Gericht gestritten wird.
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6.1 Allgemeine Kriterien und Verfahren zur Messung des Lernerfolgs
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2. Die Festlegung einer Note bedeutet auch, dass eine komplexe kognitive Leistung eines Schülers auf eine Zahl reduziert wird. Diese gibt keine Auskunft mehr darüber, welche der im Unterricht angestrebten Lernziele erreicht wurden. Da die gegenwärtige schulrechtliche Situation eine solche Reduzierung verlangt, wollen wir kurz auf die Notengebung eingehen.
Reduzierung einer komplexen Leistung auf eine Ziffer
Voraussetzung für die Bestimmung einer Note ist die vorherige Quantifizierung der im Rahmen eines Tests, einer Klassenarbeit oder einer Klausur erbrachten Einzelleistungen. In Kapitel 6.2 werden bei den dort vorgestellten Verfahren jeweils auch Vorschläge gemacht, wie eine solche Quantifizierung durchgeführt werden kann. Die so quantifizierten Einzelleistungen werden dann zu einem Summenwert auf addiert und bilden den Ausgangspunkt für Bestimmung einer Note. Für die Transformation dieses Summenwerts in eine Ziffernzensur gibt es eine Reihe von Vorschlägen. Zwei Verfahren seien kurz skizziert. Note Prozent 1 10% 2 23% 3 34% 4 23% 5 10% Die Note „3“ wird als mittlere Leistung genommen, der etwa ein Drittel aller Schüler zugeordnet wird. Die Note „6“ wird nur für relativ selten vorkommende, ganz schlechte Leistungen vergeben. In der Praxis geht man wie folgt vor: Man bestimmt zunächst den Mittelwert des Summenwerts. Sodann steckt man symmetrisch dazu einen Bereich ab, in dem etwa ein Drittel der Schülerleistungen liegen. Diesen wird die Note „3“ zugeordnet. Dann geht man in Richtung steigender bzw. fallender Summenwerte weiter und steckt einen Bereich ab, in den etwa ein Viertel der Schülerleistungen fallen (Noten 2 bzw. 4). Den noch nicht erfassten Summenwerten werden die Noten 1 bzw. 5 zugeordnet. Das zweite Verfahren orientiert sich nicht an der mittleren Leistung einer Klasse, sondern nimmt den Summenwert selbst als absoluten Maßstab. Es ist deshalb auch für eine Benotung im Rahmen eines Mastery-Learning-Programms geeignet, bei dem es darum geht, so zu unterrichten, dass möglichst viele Schüler die Lernziele möglichst vollständig erreichen (zum Beispiel nach der Formel, dass 80% aller Schüler mindestens mit einer „2“ bewertet werden).
Notengebung
Vorschläge für die Transformation von Summenwerten in Noten
Die Häufigkeit der Noten ist an der gaußschen Normalverteilung orientiert
272 302 303 304 305 306 307 308 309 310 311 312 313 314 315 316 317 318 319 320 321 322 323 324 325 326 327 328 329 330 331 332 333 334 335 336 337 338 339 340 341 342 343 344
Die Häufigkeit der Noten ist an einem absoluten Maßstab orientiert
6 Wie lässt sich der Lernerfolg messen? Note 1 2 3 4 5 6
Anteil der erreichten Punkte 100% bis ausschließlich 84% 84% bis ausschließlich 67% 67% bis ausschließlich 50% 50% bis ausschließlich 33% 33% bis ausschließlich 16% 16% und darunter
6.1.3 Welche unterschiedliche Typen von Bewertungsverfahren gibt es? Bei den im Schulalltag eingesetzten Bewertungsverfahren unterscheidet man üblicherweise drei Gruppen: schriftliche Verfahren, mündliche Verfahren und Verfahren, die auf Beobachtung beruhen. Schriftliche Verfahren bieten die besten Voraussetzungen, um die Gütekriterien zu erfüllen
– Schriftliche Verfahren Zu den schriftlichen Verfahren zählen etwa Klassenarbeiten, Tests, Übungsarbeiten, Fragebögen, Versuchsprotokolle usw. Das allen schriftlichen Verfahren gemeinsame Merkmal ist es, dass an die Schülerinnen und Schüler im voraus festgelegte, im Allgemeinen schriftlich fixierte Anforderungen gestellt werden, auf die sie in einem bestimmten Antwortformat in schriftlicher Form reagieren sollen. Je nach Antwortformat kann die Antwort im Ankreuzen einer (richtigen) Antwort, im Auffüllen eines Lückentextes, im Berechnen einer Zahl, im Verfassen eines Aufsatzes, im Anfertigen einer Zeichnung oder im Entwerfen eines Begriffsnetzes bestehen. Schriftliche Formen der Bewertung bieten im Prinzip die besten Voraussetzungen, dass die oben genannten Gütekriterien erfüllt werden können. Die gestellten Anforderungen können vorher gründlich überlegt werden, und für die Auswertung ist keine Augenblicksentscheidung wie bei einer mündlichen Befragung nötig, sondern sorgfältiges Abwägen und Vergleichen mit anderen Leistungen kann zu einer gerechten Bewertung führen. Die schriftlichen Verfahren zur Bewertung von Schülerleistungen sind am weitesten entwickelt. Wir werden sie in den beiden nachfolgenden Kapiteln im einzelnen vorstellen.
Mündliche Verfahren sind flexibel, aber weniger objektiv und reliabel
– Mündliche Verfahren Die mündlichen Befragungen von einzelnen Schülern (oder auch von Schülergruppen) sind entweder in den laufenden Unterricht eingebunden oder finden während einer Abschlussprüfung statt. Gegenüber den schriftlichen Verfahren haben sie den Vorteil größerer Flexibilität: Aus den gegebenen Antworten können sich neue Fragen ergeben, die dem aktuellen Wissensstand des Prüflings besser angepasst sind als im Voraus geplante. Auch kann die Lehrkraft nach-
6.1 Allgemeine Kriterien und Verfahren zur Messung des Lernerfolgs 345 346 347 348 349 350 351 352 353 354 355 356 357 358 359 360 361 362 363 364 365 366 367 368 369 370 371 372 373 374 375 376 377 378 379 380 381 382 383 384 385 386 387
273
haken, wenn eine Antwort unvollständig oder zweideutig ist. Häufig ist es auch eher als bei einer schriftlichen Befragung möglich, zu unterscheiden, ob eine Antwort geraten, auswendig gelernt oder auf dem Hintergrund eines tieferen Verständnisses gegeben wurde. Leider muss dies nicht unbedingt zu einer Verbesserung der Bewertung im Sinne der oben genannten Gütekriterien führen. Eine Augenblicksentscheidung ist weniger objektiv und die mündliche Befragung insgesamt dürfte allein schon wegen der geringen Anzahl und der letzten Endes doch eher zufälligen Auswahl der Fragen nicht besonders reliabel sein. Wegen des unmittelbaren persönlichen Kontaktes zwischen Bewerter und Bewertetem besteht außerdem die Gefahr, dass Vorurteile eine größere Rolle als bei schriftlichen Verfahren spielen und dass in mündlichen Prüfungen die Prüfungsangst besonders groß ist. Eine verständige Lehrkraft wird deshalb versuchen, die Prüfungsangst mit einigen „Eisbrecherfragen“ zu mildern. – Verfahren, die auf Beobachtung beruhen Vom Aspekt der drei Gütekriterien aus betrachtet ist diese dritte Gruppe die Problematischste. Sie umfasst z. B. alle die eher intuitiv durchgeführten Beobachtungen des Schülerverhaltens, die eine Lehrkraft während des Unterrichts macht und die bisweilen ihren Niederschlag in einer Notiz finden. Solche Beobachtungen fließen in die Bewertung des allgemeinen Schülerverhaltens (in die sog. Kopfnoten wie „Verhalten in der Schule“ etc.) ein, sie werden aber auch zur Ermittlung der „mündlichen“ Zensur mitbenutzt. Die besondere Problematik dieser Bewertungsform ist darin zu sehen, dass Notizen häufig aus einer emotional belasteten Situation heraus gemacht werden (z. B. die Lehrkraft ärgert sich über das Verhalten eines bestimmten Schülers und macht sich darüber eine Notiz). Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass viele Eintragungen dieser Art erst im Nachhinein aus dem Gedächtnis niedergeschrieben werden. Andererseits ist diese Form der auf Beobachtung basierenden Bewertung häufig die einzige, die im Schulalltag überhaupt praktikabel ist, um sich über die Erfüllung bestimmter Zielbereiche zu informieren. Wie anders als durch Beobachtung der Geschehnisse im Klassenzimmer soll sich ein Lehrer einen Eindruck davon verschaffen, ob ein Schüler teamfähig, renitent, lerneifrig oder faul ist, ob es gelungen ist, die Klasse zu einer rationalen Diskussion über eine problematische Technologie zu bewegen, ob und durch was das Klassenklima belastet ist oder wie eine bestimmte Fragestellung bei einer Klasse ankommt. Auch lassen sich experimentelle Fertigkeiten der Schüler ökonomisch im Schulalltag nur auf diese Weise bewerten.
Beobachtungen, die zu einer Notiz führen, sind häufig emotional belastet
274 388 389 390 391 392 393 394 395 396 397 398 399 400 401 402 403 404 405 406 407 408 409 410 411 412 413 414 415 416 417 418 419 420 421 422 423 424 425 426 427 428 429 430
6 Wie lässt sich der Lernerfolg messen?
6.2 Wie misst man den Lernerfolg im kognitiven Bereich? 6.2.1 Wie erfasst man kognitive Leistungen? Kognitive & nicht kognitive Leistungen
Taxonomien
Kognitive Leistungen treten im Allgemeinen zusammen mit nichtkognitiven Leistungen auf. So ist z. B. das Lösen einer Aufgabe untrennbar verbunden mit einer gewissen Leistungsbereitschaft. Diese Verschränkung ist im Auge zu behalten, wenn hier kognitive und nichtkognitive Leistungen (etwa Einstellungen, soziale Kompetenzen, Interessen, Befindlichkeiten) getrennt behandelt werden. Im Folgenden wird versucht, sowohl für verschiedene kognitive Leistungen als auch für die schriftlichen Verfahren, mit denen diese gemessen werden sollen, geeignete Kategorien zu finden. 1. Es mangelt nicht an Kategoriensystemen zur Differenzierung kognitiver Leistungen. International am bekanntesten ist ohne Zweifel die „Taxonomy of Educational Objectives“ (TEO) von Bloom und Mitarbeitern (Bloom 1956). Von den drei Bereichen „kognitiv“, „affektiv“ und „psychomotorisch“ ist der erste am besten ausgearbeitet und am weitesten verbreitet, - neuerdings von Anderson und Kratwohl (2001) überarbeitet und erweitert. Der affektive Bereich ist kaum brauchbar und der dritte nie fertig geworden. Eine Weiterentwicklung der TEO mit besonderer Berücksichtigung des naturwissenschaftlichen Unterrichts stammt von Klopfer (1971). Klopfers Liste für den kognitiven Bereich enthält zahlreiche Differenzierungen sowie die Kategorien „manuelle Geschicklichkeit“ und „Einstellungen und Interessen“. Die klopfersche Taxonomie hat ihre Meriten bei der Aufstellung von Lernzielen und bei der Planung von Unterricht, ist aber für unsere Zwecke zu differenziert, denn es ist aus dem Blickwinkel der Verfahren zur Bewertung kognitiver Leistungen nicht sinnvoll, so viele verschiedene höhere kognitive Leistungen zu unterscheiden. Auf dem Hintergrund dieser beiden Taxonomien werden folgende Kategorien vorgeschlagen (s. Häußler u.a. 1998, 71): (1) Wissen von Einzelheiten und Benennungen (2) Wissen über Begriffe und Theorien (3) Verstehen von Zusammenhängen (4) Höhere kognitive Fähigkeiten (5) Bewerten
6.2 Wie misst man den Lernerfolg im kognitiven Bereich? 431 432 433 434 435 436 437 438 439 440 441 442 443 444 445 446 447 448 449 450 451 452 453 454 455 456 457 458 459 460 461 462 463 464 465 466 467 468 469 470 471 472 473
275
In dieser Taxonomie ist die Kategorie „Wissen“ aufgespalten in „Wissen von Einzelheiten und Benennungen“ und „Wissen über Begriffe und Theorie“, denn es macht bei der Formulierung von Aufgaben einen Unterschied, ob die Fähigkeit zur Reproduktion von Einzelfakten oder von Begriffen und Theorien erfasst werden soll. Die Kategorie „Verstehen“ bedeutet die Fähigkeit, Wissen nicht nur wiederzugeben (Reproduktion), sondern umzuordnen, d. h. auf neue Weise zu organisieren (Reorganisation). Problematisch erscheint eine Kategorie „Transfer“, d.h. Wissen auf neue Bereiche anzuwenden, weil sich Transferleistungen immer nur auf einen bestimmten Unterricht beziehen und man natürlich nicht erwarten kann, dass ein bestimmtes physikalisches Thema in allen Schulen identisch unterrichtet wird. Bei den einheitlichen landesund bundesweiten Tests entsteht dieses „Transferproblem“. Es entsteht im Grunde auch in jeder Klasse, weil nicht alle Schüler die gleichen Lernvoraussetzungen aufweisen. Da dies bedeutet, dass es kein Verfahren gibt, das „Transfer“ valide zu erfassen erlaubt, wird hier die Kategorie „Höhere kognitive Fähigkeiten“ verwendet. Darunter werden in Anlehnung an Klopfer (1971) u.a. „ein Problem erkennen“, „Daten interpretieren und generalisieren“, „Aufstellen, Prüfen und Revidieren von theoretischen Modellen“ verstanden.
Was eine Transferleistung ist, hängt vom vorausgegangenen Unterricht ab
Die Kategorie „Bewerten“ beinhaltet solche Leistungen wie „Rational argumentieren“, „Das Für und Wider abwägen“, „Etwas in einen historischen, politischen oder gesellschaftlichen Zusammenhang einordnen“. 2. Wie in 2.4 skizziert, werden zur Überprüfung von Bildungsstandards im Fach Physik drei „Anforderungsbereiche“ festgelegt, weil „noch keine empirisch abgesicherten Kompetenzstufenmodelle vorliegen“ (KMK 2004). Die drei Anforderungsbereiche „Wissen wiedergeben“, „Wissen anwenden“ und „Wissen transferieren und verknüpfen“ werden zur Konstruktion von Aufgaben in den ebenfalls festgelegten vier Kompetenzbereichen (Fachwissen, Erkenntnisgewinnung, Kommunikation, Bewertung) eingesetzt. Jede Aufgabe bzw. Teilaufgabe bezieht sich auf eines der vier „Basiskonzepte“ (Materie, Wechselwirkung, System, Energie). In den Beispielaufgaben (s. KMK 2004, 15 ff.) ist ein „Erwartungshorizont“ für die Lösung schriftlich formuliert. Der Erwartungshorizont wird außerdem in einer 4 x 3 Matrix markiert, in der ein (oder auch mehrere) Kompetenzbereich(e) und ein (auch zwei oder drei) Anforderungsbereich(e) angekreuzt ist (sind).
Drei Anforderungsbereiche, vier Kompetenzbereiche
276 474 475 476 477 478 479 480 481 482 483 484 485 486 487 488 489 490 491 492 493 494 495 496 497 498 499 500 501 502 503 504 505 506 507 508 509 510 511 512 513 514 515 516
6 Wie lässt sich der Lernerfolg messen? Die standardorientierte Aufgabenkonstruktion ist eine wichtige Physiklehrerkompetenz und eine wesentliche Voraussetzung, um bundesweit kognitive Schülerleistungen einheitlich zu beurteilen.
6.2.2 Schriftlichen Verfahren zur Bewertung kognitiver Leistungen
Gesichtspunkte zur Differenzierung von Aufgaben
Wir wollen nun die verschiedenen schriftlichen Verfahren zur Erfassung oder Bewertung kognitiver Leistungen in eine gewisse Ordnung bringen. Als Ordnungskriterium wählen wir den Grad der Gestaltungsfreiheit, die ein Verfahren dem Bearbeiter bei seiner Reaktion lässt. Es leuchtet unmittelbar ein, dass ein Verfahren, bei dem das Ankreuzen einer Antwort aus einer vorgegebenen Auswahl weniger Gestaltungsfreiheit bietet als beispielsweise eine Aufgabe mit einer freien Antwort oder gar ein Aufsatz. Wir werden später sehen, dass der Gestaltungsspielraum, den ein Verfahren lässt, in etwa mit der Rangfolge der zu erfassenden kognitiven Fähigkeiten korrespondiert. Ein recht grobes, aber für unsere Zwecke ausreichendes Raster ist die Einteilung in die folgenden Typen von Reaktionen: • Auffüllen einer Lücke mit Wörtern, Symbolen oder Zahlen • Ankreuzen einer Aussage • Erzeugen eines Begriffsnetzes (für eine Erklärung s. 6.2.5) • Geben einer freien Antwort oder einer Zeichnung • Aufschreiben einer längeren Gedankenführung • Sammeln und Dokumentieren von Evidenzen (s. 6.2.8) Nicht jede Reaktion ist auch gleich gut geeignet, etwas über eine bestimmte kognitive Leistung erkennen zu lassen. Die Tabelle gibt einen Anhaltspunkt, welche Reaktionen sinnvollerweise zur Erfassung welcher kognitiven Fähigkeit eingesetzt werden können.
Fähigkeiten Reaktion Auffüllen von Lücken im Text Ankreuzen oder Zuordnen Erzeugen von Begriffsnetzen Geben einer freien Antwort Schreiben eines Aufsatzes Sammeln von Evidenzen
Wissen von Einzelheiten, Benennungen
Wissen über Begriffe, Theorien
Verstehen v. Zusammenhängen
Höhere kognitive Leistungen
Bewerten Einordnen Erörtern
+
(–)
–
–
–
+
+
(+)
(+)
–
(+)
(+)
+
(–)
–
(+)
(+)
(+)
+
(–)
(–)
(+)
+
(+)
+
(–)
(–)
+
+
+
6.2 Wie misst man den Lernerfolg im kognitiven Bereich? 517 518 519 520 521 522 523 524 525 526 527 528 529 530 531 532 533 534 535 536 537 538 539 540 541 542 543 544 545 546 547 548 549 550 551 552 553 554 555 556 557 558 559
277
Darin bedeuten: + Verfahren erscheint geeignet (+) Verfahren erscheint bedingt geeignet (–) Verfahren erscheint eher ungeeignet – Verfahren erscheint ungeeignet Die einzelnen Verfahren und ihr Potential für die Bewertung von kognitiven Fähigkeiten werden anhand von Beispielen ausgelotet.
6.2.3 Lückentextaufgaben Einige Beispiele: a)
Metalle (leiten) den elektrischen Strom, Glas oder Kunststoff sind (Nichtleiter).
b) Alle Metalle dehnen sich aus, wenn sie (erwärmt) werden. c)
Die Zustandsgleichung der idealen Gase ist Teil einer (phänomenologischen) Theorie der Wärme, im Gegensatz zur kinetischen Theorie der Wärme, die eine (statistische) Theorie ist.
Lückentextaufgaben lassen lediglich eine eng begrenzte Reaktion zu, die nur möglich ist, wenn die geforderte Antwort aus dem Gedächtnis reproduziert werden kann. In Beispiel c) wird deutlich, dass es genügt, die Namen für den jeweiligen theoretischen Ansatz zu kennen, um die richtige Antwort geben zu können. Man erfährt also nichts darüber, ob diese Theorien in irgendeiner Weise verstanden sind.
Lückentextaufgaben: Reproduktion von Wissen
6.2.4 Multiplechoice- und Zuordnungsaufgaben Multiplechoiceaufgaben bestehen aus einem „Stamm“, in dem die Aufgabenstellung beschrieben wird, und einer Reihe von vorformulierten Auswahlantworten, von denen in der Regel nur eine einzige zutreffend ist (die dann angekreuzt werden soll), während alle anderen (die sogenannten „Distraktoren“) falsch sind. Auf den ersten Blick mag es verwundern, dass den vielleicht zu Unrecht geschmähten Multiplechoiceaufgaben in Bezug auf ihr Potential, kognitive Leistungen zu erfassen, viel mehr zugetraut wird, als den Lückentextaufgaben. Die im folgenden gegebenen Beispiele mögen verdeutlichen, dass die Erfassung höherer kognitiver Fähigkeiten durchaus möglich ist. So erscheint insbesondere Beispiel b) geeignet, wenigstens Teile der Fähigkeit „Planvolles Experimentieren“ erfassen zu können und Beispiel c) kann nur erfolgreich bearbeitet werden, wenn mit den vorgegebenen fünf Begriffen eine physikalisch richtige Vorstellung verbunden wird.
Aufbau von Multiplechoiceaufgaben
Bei sorgfältiger Konstruktion wird mit Multiplechoiceaufgaben mehr als nur Wissen abgefragt
278 560 561 562 563 564 565 566 567 568 569 570 571 572 573 574 575 576 577 578 579 580 581 582 583 584 585 586 587 588 589 590 591 592 593 594 595 596 597 598 599 600 601 602
6 Wie lässt sich der Lernerfolg messen? Da es bei der Auswertung solcher Aufgaben keine Interpretationsprobleme gibt, sondern allenfalls Flüchtigkeitsfehler vorkommen dürften, ist die Auswerteobjektivität im Allgemeinen sehr gut. Die Schwierigkeit, eine gute Multiplechoiceaufgabe zu konstruieren, liegt darin, Distraktoren zu finden, die sich nicht schon von vorneherein dadurch als falsch verraten, dass sie entweder absurd sind oder aufgrund anderen als naturwissenschaftlichen Wissens ausgeschlossen werden können. Die Reliabilität leidet darunter, dass bei geringer Anzahl der Auswahlantworten, die richtige Antwort mit nicht zu vernachlässigender Wahrscheinlichkeit geraten werden kann. Mit folgenden Mitteln kann die Reliabilität verbessert werden:
Möglichkeiten zur Verbesserung der Reliabilität
• Die Anzahl der Distraktoren wird erhöht, was aber aufwendig und häufig auch schwierig ist. • Die Aufgabe erhält den Zusatz „Begründe deine Wahl!“ Wenn die Begründung als freie Antwort zu geben ist, erhält man mit solchen zweistufigen Aufgaben (Multiplechoice und Freie Antwort) viel Information über den Grad des Verständnisses. • Die Anzahl der Aufgaben dieses Typs wird erhöht. Das kann besonders ökonomisch geschehen, wenn man für den gleichen Stammtext mehrere Aufgaben formuliert. Beispiel (c) ist von diesem Typ. Beispiel (a) Der Rammklotz einer Ramme wird gehoben. Welche zwei Größen aus der folgenden Aufzählung musst Du kennen, um die Hubarbeit berechnen zu können? Bitte kreuze an! (A) Die Zeitspanne, die zum Heben gebraucht wird
(B) Die Kraft, die zum Heben gebraucht wird
:
(C) Die Geschwindigkeit, mit der der Rammklotz angehoben wird
(D) Das Material, aus dem der Rammklotz besteht
(E) Die Höhe, um die der Rammklotz gehoben wird
:
(F) Ich weiß keine Antwort
6.2 Wie misst man den Lernerfolg im kognitiven Bereich? 603 604 605 606 607 608 609 610 611 612 613 614 615 616 617 618 619 620 621 622 623 624 625 626 627 628 629 630 631 632 633 634 635 636 637 638 639 640 641 642 643 644 645
Beispiel(b) Nimm an, dass Du eine Hohlkugel und eine Vollkugel erhältst. Man kann den Kugeln nicht ansehen, welche die Hohl- und welche die Vollkugel ist. Welche der folgenden Versuche würdest Du durchführen, um das zu entscheiden? (Entnommen aus Klopfer, 1971).
Versuch 1
Versuch 2
Versuch 3 :
Beispiel (c) A bis E sind wichtige Begriffe des elektrischen Stromkreises: A Strom
D Spannung
B Stromstärke
E Widerstand
C Energiequelle Schreibe hinter jeden der untenstehenden Ausdrücke oder Sätze einen der Buchstaben, dessen Begriff am besten dazu passt! Aus einem Wasserhahn fließen 5 Liter Wasser in einer Minute. Eine Wasserpumpe Auf der Autobahn ist eine Baustelle. Fließendes Wasser Dichteunterschied der Elektronen zwischen zwei Stellen einer elektrischen Leitung An einer undichten Stelle einer Wasserleitung füllt sich in 10 Stunden ein untergestellter 1l-Messbecher. Druckunterschied zwischen zwei Stellen einer Wasserleitung Anzahl der Elektronen pro Zeit, die an einer Stelle vorbeifließen. Elektronen bewegen sich in eine Richtung. Wasser fließt in einem Fluss. Durch einen Ausgang gehen in 20 Minuten 1000 Menschen. Ein Wasserrad in einem Fluss Menschen gehen durch einen Warenhauseingang.
279
280 646 647 648 649 650 651 652 653 654 655 656 657 658 659 660 661 662 663 664 665 666 667 668 669 670 671 672 673 674 675 676 677 678 679 680 681 682 683 684 685 686 687 688
6 Wie lässt sich der Lernerfolg messen? An einer Stelle einer Autobahn wurden 10 000 Autos in einer Stunde gezählt. In einem Leiterstück (Länge 1 cm) befinden sich 1015 Elektronen, die sich in einer Sekunde 0,4 mm weiterbewegen. Wassermenge pro Zeit, die an einer Stelle vorbeifließt Ein Platzanweiser lässt während eines 15 Minuten andauernden Vorfilms noch 50 Nachzügler ein. Aus: IPN Curriculum Physik (gekürzt), Kircher u. a. (1975)
6.2.5 Begriffsnetze (Concept maps) Begriffsnetze sind ein Mittel, etwas darüber herauszufinden, welche Beziehungen ein lernendes Individuum zwischen Dingen, Ideen oder Personen sieht.
Im allgemeinen offenbart ein Begriffsnetz relativ viel von der kognitiven Struktur eines Lernenden. Zwei Beispiele (in Anlehnung an White und Gunstone 1992) mögen das veranschaulichen: Angenommen im Physikunterricht zur Elektrizitätslehre sind sowohl elektrostatische Phänomene an Nichtleitern als auch das Fließen des elektrischen Stroms in Metallen behandelt worden und es wurde ein einfaches Modell zum Aufbau der Materie und zum Unterschied zwischen Leitern und Nichtleitern angeboten. Als zu vernetzende Begriffe wurden vorgegeben: Statische Elektrizität, Elektrischer Strom, Atom, Elektron, Metall und Plastik. Peter bringt folgendes Begriffsnetz zu Papier:
Metall
Plastik
sind beweglich in
Reibung
Elektronen kommen zusammen vor
Atome
in
elektr. Strom
Abb. 6.1: Ein Begriffsnetz mit wenig elaborierter Struktur Peters Netz zeigt eine wenig elaborierte Struktur: Der Begriff „Statische Elektrizität“ wurde nicht einbezogen, die sternförmige Struktur zum Zentralbegriff „Elektron“ lässt nur wenige Beziehungen unter den übrigen Begriffen zu und die inhaltliche Deutung der Beziehungen sind dürftig oder vage.
6.2 Wie misst man den Lernerfolg im kognitiven Bereich? 689 690 691 692 693 694 695 696 697 698 699 700 701 702 703 704 705 706 707 708 709 710 711 712 713 714 715 716 717 718 719 720 721 722 723 724 725 726 727 728 729 730 731
281
Elisabeth entwickelt dagegen folgendes Netz:
Atome
in in
in
Elektronen ortsfest in
beweglich in
Plastik
Metalle ermöglicht keinen
ermöglichen keine ermöglichen
ermöglicht Träger für
Träger für
statische Elektrizität
elektr. Strom unterscheiden sich in der Beweglichkeit ihrer Elektronen
Abb. 6.2: Ein Begriffsnetz mit elaborierter Struktur Das Begriffsnetz von Elisabeth ist nahezu perfekt: Jeder Begriff ist mit mindestens drei anderen Begriffen verbunden; der Symmetrie der Gegenstände entspricht die Symmetrie der Anordnung der Begriffe. Die inhaltlichen Deutungen sind präzise und korrekt, (wenn man einmal davon absieht, dass nicht alle Elektronen in Metallen beweglich sind). 2. Anzahl und inhaltliche Deutung der eingezeichneten Beziehungen zwischen den Begriffen können als Maß für das Verständnis angesehen werden. Eine Quantifizierung könnte etwa darin bestehen, dass man für jede beschriftete Verbindungslinie zwischen den Begriffen • 2 Punkte für eine hinsichtlich Richtigkeit und Vollständigkeit zufriedenstellende • 1 Punkt für eine weniger zufriedenstellende und • 0 Punkte für eine falsche oder sinnlose Formulierung vergibt.
Quantifizierung von Begriffsnetzen
282 732 733 734 735 736 737 738 739 740 741 742 743 744 745 746 747 748 749 750 751 752 753 754 755 756 757 758 759 760 761 762 763 764 765 766 767 768 769 770 771 772 773 774
6 Wie lässt sich der Lernerfolg messen? Im Falle von Peters Begriffsnetz könnte man so 5 Punkte vergeben, während Elisabeth 24 Punkte erhielte. Wenn man in einem Auswerteschlüssel festlegt, was man als zufriedenstellende Formulierung akzeptiert, ist das Verfahren auch ausreichend objektiv. Es dürfte mit diesen Beispielen auch klar geworden sein, dass es zum Erzeugen eines Begriffsnetzes in erster Linie eines Verständnisses von Zusammenhängen bedarf. Das setzt zwar auch Wissen voraus, jedoch kann ein bestimmtes Wissen mit anderen Verfahren präziser bewertet werden. Die Erfassung höherer kognitiver Leistungen dürfte ebenfalls mit anderen Verfahren eher gelingen. Das Anfertigen eines solchen Begriffsnetzes muss natürlich geübt werden. In der Literatur wird empfohlen, mit einfachen wohlvertrauten Beispielen zu beginnen, das erste Begriffsnetz an der Tafel zu entwickeln, bei den ersten eigenständigen Gehversuchen Hilfen zu geben, z. B. auf fehlende Pfeile hinzuweisen oder die Anordnung der Begriffe zu verbessern, so dass das Begriffsnetz übersichtlich bleibt.
Unterschiedliche pädagogische Absichten mit Begriffsnetzen
3. Ist Schülerinnen und Schülern die Technik der Begriffsnetze erst einmal geläufig, sind sie ein hilfreiches Mittel, die Begriffsstruktur in einem bestimmten thematischen Bereich zu erfassen. Unterschiedliche pädagogische Absichten können damit verfolgt werden, z. B. etwas darüber herauszufinden, •
wie die Begriffsstruktur vor dem Unterricht ist (dann wird man sich damit begnügen, nur wenige, nach Möglichkeit zumindest umgangsprachlich vertraute, Begriffe vorzugeben),
•
ob Begriffe, um deren Unterscheidung man sich im Unterricht bemüht hat, hinreichend diskriminiert werden (z. B. Stromstärke und Spannung oder Wärme und Temperatur oder Masse und Gewicht),
•
welche Begriffe als Schlüsselbegriffe eines größeren inhaltlichen Bereichs identifiziert werden (dann wird man natürlich überhaupt keine Begriffe oder ein unvollständiges Set an Begriffen vorgeben und die Aufgabe besteht in der Identifizierung der Schlüsselbegriffe und ihrer Beziehungen zueinander),
•
wie eine Gruppe von Schülern einen inhaltlichen Bereich strukturiert (dann lässt man das Netz von einer Schülergruppe entwickeln, was erfahrungsgemäß ein guter Anlass ist, über Unklarheiten zu diskutieren).
6.2 Wie misst man den Lernerfolg im kognitiven Bereich? 775 776 777 778 779 780 781 782 783 784 785 786 787 788 789 790 791 792 793 794 795 796 797 798 799 800 801 802 803 804 805 806 807 808 809 810 811 812 813 814 815 816 817
283
6.2.6 Aufgaben mit freier Antwort Unter einer freien Antwort wird die freie Formulierung einiger Sätze und/oder die Anfertigung einer Zeichnung verstanden. Je nach der in der Aufgabe formulierten kognitiven Anforderung, kann es sich um eine Wissens- oder Verstehensaufgabe oder – und das ist eben die besondere Domäne dieses Typs – um eine Aufgabe handeln, zu deren Lösung höhere kognitive Leistungen erforderlich sind. Zwei Beispiele mögen dies veranschaulichen (entn. aus Faißt, Häußler et al., 1994).
Freie Antwort: freie Formulierung einiger Sätze und/oder die Anfertigung einer Zeichnung
Beispiel (a) Wie könnte ein Gerät aussehen, mit dem durch warme Luft Trockenfrüchte hergestellt werden? Bedenke, dass die Früchte nur trocknen können, wenn warme und trockene (frische) Luft über sie hinwegstreicht. Als Wärmequelle steht dir nur die Sonne zur Verfügung! Mache eine Zeichnung! Vorausgesetzt, dass ein solches Gerät im Unterricht nicht behandelt wurde, ist diese Aufgabe eine Transferaufgabe: Verschiedene (im Prinzip bekannte aber ungenannte) physikalische Phänomene müssen auf eine neue Weise miteinander kombiniert werden, um die in der Aufgabe gestellten Anforderungen an das Gerät zu erfüllen. Natürlich kann man nicht erwarten, dass viele Schülerinnen und Schüler auf eine technisch perfekte Lösung kommen. Andererseits empfinden sie aber solche Aufgaben als eine echte Herausforderung und warten durchaus mit respektablen Teillösungen auf. Aufgaben dieses Typs weisen häufig folgende Besonderheit aus: Wenn man sie unmittelbar nach dem Unterricht, in dem die zu verwendenden physikalischen Prinzipien behandelt wurden, vorlegt, werden sie meist schlechter gelöst als nach Ablauf einer gewissen Latenzzeit. Beispiel (b) Angenommen, du hast einen Stabmagneten und einen gleich aussehenden Eisenstab. Wie kannst du sie unterscheiden? Du hast kein weiteres Hilfsmittel (also etwa einen weiteren Magneten oder ein weiteres Eisenstück oder einen Bindfaden) zur Verfügung. Denke daran, dass die Magnetkraft des Magneten an seinen Polen am stärksten ist! Du kannst auch eine Zeichnung machen. Bei dieser Aufgabe handelt es sich um eine Problemlöseaufgabe (vorausgesetzt, die Lösung war nicht expliziter Bestandteil des vorausgegangenen Unterrichts). Bei der Lösung geht es darum, eine bestimmte, dem Aufgabenlöser bekannte, aber nicht direkt genannte
Latenzzeit von Transferaufgaben
284 818 819 820 821 822 823 824 825 826 827 828 829 830 831 832 833 834 835 836 837 838 839 840 841 842 843 844 845 846 847 848 849 850 851 852 853 854 855 856 857 858 859 860
6 Wie lässt sich der Lernerfolg messen? Eigenschaft eines Magneten, nämlich in der Mitte zwischen den Polen unmagnetisch zu sein, zu nutzen. Die Aufgabe wird dadurch erleichtert, dass ein deutlicher Hinweis gegeben wird.
Erstellen eines Auswerteschlüssels
2. Die Auswerteobjektivität bei Aufgaben mit freier Antwort ist naturgemäß geringer als bei Aufgaben mit vorformulierten Antworten. Um akzeptable Werte zu erhalten, ist folgendes Verfahren üblich: Die Lehrkraft schaut sich vorab die Antworten von einigen Schülern an, von denen sie erwarten kann, dass sie sie unterschiedlich gut gelöst haben. Aufgrund dieser „Vorsicht“ formuliert sie dann einen Auswerteschlüssel, der für die zwei Beispielaufgaben folgendermaßen aussehen könnte: Beispiel (a) 3 Punkte: Aus der Zeichnung ist folgendes ersichtlich: • Frischluft wird von der Sonne erwärmt • Die erwärmte Luft strömt zu den Früchten • Für Abluft ist gesorgt 2 Punkte: Einer dieser Gesichtspunkte fehlt 1 Punkt: Nur einer dieser Gesichtspunkte wird dargestellt Beispiel (b) 3 Punkte: Sinngemäß wird folgende Antwort gegeben oder eine entsprechende Zeichnung angefertigt, aus der Entsprechendes hervorgeht: Wenn Stab A mit seinem Ende an die Mitte des Stabes B angelegt wird und sich die beiden Stäbe anziehen, so ist Stab A der Magnet. Ziehen sich die beiden Stäbe in der gleichen Lage aber nicht an, so ist Stab A der Eisenstab. 2 Punkte: Die Antwort oder die Zeichnung ist unvollständig oder es geht nicht ganz zweifelsfrei daraus hervor, was gemeint ist. 1 Punkt: Es wird zwar eine Methode zur Unterscheidung benannt, aber es wird ein weiteres Hilfsmittel (etwa ein Kompass) benutzt.
6.2.7 Aufsätze Die Übergänge von einem Aufsatz zu einer Aufgabe mit freier Antwort sind natürlich fließend. Bei einem Aufsatz besteht jedoch eher die Möglichkeit, Gedanken hervorzubringen, auszudrücken und in logischer Weise in einen größeren Zusammenhang einzuordnen, während gleichzeitig das Potential, eine ganz bestimmte kognitive
6.2 Wie misst man den Lernerfolg im kognitiven Bereich? 861 862 863 864 865 866 867 868 869 870 871 872 873 874 875 876 877 878 879 880 881 882 883 884 885 886 887 888 889 890 891 892 893 894 895 896 897 898 899 900 901 902 903
Fähigkeit zu erfassen, wie etwa das Problemlösen, oder bestimmte Wissensbereiche zu erfragen, eingeschränkt ist. Allerdings lassen sich durch präzise Angaben von Teilanforderungen bestimmte Akzente setzen, wie folgende Beispiele zeigen mögen:
285
Akzentsetzung durch Teilaufgaben
Beispiel 1 Die Dampfmaschine – eine bahnbrechende Erfindung a)
Beschreiben Sie kurz die Funktionsweise einer Dampfmaschine und gehen Sie dabei insbesondere auf die zugrundeliegenden physikalischen Prinzipien ein. b) Erläutern Sie den Unterschied des Beitrags von James Watt und Sadi Carnot für die Entwicklung der Dampfmaschine und arbeiten Sie dabei insbesondere das unterschiedliche erkenntnisleitende Interesse heraus. c) Legen Sie den Einfluss der Dampfmaschine auf die industrielle Revolution um 1800 dar. d) Entwickeln Sie ein Szenario für den Fall, dass die Dampfmaschine erst im 20. Jahrhundert erfunden worden wäre. Die einzelnen Teilaufgaben setzen ganz unterschiedliche Akzente: In a) geht es um physikalisches Fachwissen, in b) um Methodenwissen, in c) um eine Einordnung einer technischen Erfindung in die gesellschaftliche Situation einer Epoche und in d) um die Fähigkeit, in kreativer Weise eine (fiktives) Szenario zu entwickeln. Beispiel 2 Der Laser a)
Beschreiben Sie, was ein Laser ist und nach welchen physikalischen Prinzipien er funktioniert. b) Vergleichen Sie die Eigenschaften von Laserlicht, von Licht einer Quecksilberhochdrucklampe und von Licht einer Glühlampe. c) Vergleichen Sie das Laserprinzip mit anderen Phänomenen, in denen aus Unordnung Ordnung entsteht. d) Nennen und beschreiben Sie technische Anwendungen, die ohne den Laser nicht möglich wären. Wie schon bei den Aufgaben mit freien Antworten, ist auch bei Aufsätzen die Bewertung ein gravierendes Problem. Hinzu kommt hier, dass es oft schwierig ist, sich nicht von der äußeren Form des Aufsatzes (Rechtschreib-, Zeichensetzungs- und Grammatikfehler sowie Lesbarkeit der Schrift) und von der Gewandtheit im Ausdruck, beeinflussen zu lassen. Ähnlich wie bei den freien Antworten, sollte
Festlegen eines Erwartungshorizonts
286 904 905 906 907 908 909 910 911 912 913 914 915 916 917 918 919 920 921 922 923 924 925 926 927 928 929 930 931 932 933 934 935 936 937 938 939 940 941 942 943 944 945 946
6 Wie lässt sich der Lernerfolg messen? man vorab einen Auswerteschlüssel (Erwartungshorizont) festlegen, aus dem z. B. hervorgeht, welche physikalischen Prinzipien genannt und mit welcher Tiefe sie ausgeführt werden müssen, um die volle Punktzahl zu erreichen. Auch sollte die relative Gewichtung der einzelnen Teilaufgaben vorher festgelegt werden.
6.2.8 Sammeln von Evidenzen (Portfolio-Methode) Eine relativ neue Methode, die in den USA schon viele Anhänger hat
Das Gelernte soll originell, authentisch und überzeugend dargestellt werden
1. Ein in letzter Zeit im Zusammenhang mit der Forderung nach „authentischer Bewertung“ (Lawrenz 1992; Collins 1992; Slater 1994) häufig genanntes Verfahren ist die Portfolio-Methode. In Anlehnung an die Verwendung des Wortes bei Künstlern, die ihre Arbeiten in einem Portfolio, einer verschnürbaren steifen Mappe, aufbewahren, versteht man hier unter Portfolio eine Sammlung von Dokumenten, die von den Schülerinnen und Schülern im Laufe der Zeit angefertigt und in einem Schnellhefter oder Ordner gesammelt werden. So wie junge Künstler auch heute noch ihre „Mappe“ mit ihren überzeugendsten Arbeiten zusammenstellen und damit gegenüber dem Aufnahmegremium einer Kunstakademie ihre künstlerische Potenz dokumentieren, so sollen die Lernenden überzeugende Evidenzen beibringen, dass sie das zu Lernende beherrschen. Das setzt zweierlei voraus: Den Lernenden müssen die Lernziele bekannt sein, und sie müssen Klarheit darüber haben, was als Evidenz dafür angesehen wird, dass sie ein Lernziel erreicht haben. Was sie dann an Evidenzen zusammentragen ist ihnen weitgehend freigestellt und hängt von ihren individuellen Neigungen, ihrer Kreativität und ihrem Vermögen ab, das Gelernte in einer Form zu präsentieren, die originell, authentisch und überzeugend ist. 2. Wir wollen die Portfolio-Methode am Beispiel des folgenden Lernziels illustrieren: In der Lage sein, Gesetzmäßigkeiten der Mechanik, insbesondere das Trägheitsprinzip und den Zusammenhang zwischen Bewegungsänderungen und wirksamen Kräften, auf Lösungen zur Verbesserung der Verkehrssicherheit anzuwenden. Im Unterricht einer 9. Klasse wurden die physikalischen Gesetzmäßigkeiten im Zusammenhang mit folgenden Teilthemen entwickelt: •
Maßnahmen zur Verminderung der bei einem Unfall auf den Körper wirkenden Kräfte (Schutzhelm, Knautschzonen, Airbag)
•
Maßnahmen zum Festhalten der Fahrgäste auf ihren Sitzen (Sitzgurte, Kopfstützen)
6.2 Wie misst man den Lernerfolg im kognitiven Bereich? 947 948 949 950 951 952 953 954 955 956 957 958 959 960 961 962 963 964 965 966 967 968 969 970 971 972 973 974 975 976 977 978 979 980 981 982 983 984 985 986 987 988 989
•
287
Verhaltensregeln zur Verminderung des Unfallrisikos (Bremsweg richtig einschätzen, Fahren bei Nässe und in der Kurve)
Die Lehrkraft könnte folgendes anregen: •
Beschreibung eines zu Hause durchgeführten „Crashtests“, z. B. ein hartgekochtes Ei fällt auf verschiedene harte Unterlagen
•
Berechnung der Zeit, die bei einer bestimmten Geschwindigkeit zwischen Aufprall und Airbagentfaltung höchstens vergehen darf
•
Erörterung, wozu Sitzgurte und Kopfstützen gut sind
•
Bremsversuche mit dem eigenen Fahrrad (mit und ohne „Schrecksekunde“)
•
Was wäre anders, wenn es keine Reibung gäbe?
Schülerinnen und Schüler sollen jedoch ermuntert werden, auch andere Beiträge zu sammeln, die geeignet sind, das Erreichen des Lernziels in den drei Teilgebieten zu belegen. Ausschlaggebend ist die Qualität der Beiträge, nicht die Menge. Was Qualität in diesem Zusammenhang bedeutet, könnte durch folgende Skala festgelegt werden: 0 Punkte
Keine Evidenz: das Teilthema wurde nicht bearbeitet.
1 Punkt
Schwache Evidenz: Die Beiträge bleiben auf der Ebene der umgangssprachlichen Beschreibung von Phänomenen oder Ereignissen, sind unvollständig oder teilweise fehlerhaft.
2 Punkte
Ausreichende Evidenz: Die Beiträge enthalten neben umgangssprachlichen Beschreibungen auch vereinzelt physikalische und im wesentlichen korrekte Beschreibungen im Sinne des Lernziels.
3 Punkte
Starke Evidenz: Die Beiträge enthalten deutliche und korrekte Bezüge zwischen den gewählten Anwendungsbeispielen und den zugrundeliegenden physikalischen Prinzipien.
4 Punkte
Exzellente Evidenz: Die Beiträge sind darüber hinaus originell und lassen eine über den Unterricht hinausgehende Befassung mit der Thematik erkennen.
3. Erfahrungen mit der Portfolio-Methode liegen vor allem aus USA vor, wo sie viele Anhänger in allen Schulstufen gefunden hat. Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass Schüler diese Methode
Vorschlag für die Quantifizierung eines Portfolios
288 990 991 992 993 994 995 996 997 998 999 1000 1001 1002 1003 1004 1005 1006 1007 1008 1009 1010 1011 1012 1013 1014 1015 1016 1017 1018 1019 1020 1021 1022 1023 1024 1025 1026 1027 1028 1029 1030 1031 1032
6 Wie lässt sich der Lernerfolg messen? mögen und mehr Zeit als üblich außerhalb der Schule verbringen, sich mit Physik zu beschäftigen. Viele erfasst ein ausgesprochener „Sammler- und Jägertrieb“ und sie lassen nicht locker, bis sie eine noch bessere Evidenz aufgespürt haben. Ihre Beiträge zeigen eine Tendenz, persönliche Erfahrungen aus ihrem Alltagsleben mit physikalischen Phänomenen zu verbinden. Die Methode ist auch geeignet, die Eigenverantwortung für den Lernprozess zu stärken. Befürchtungen, dass sie darüber den „harten Kern“ der Physik weniger ernst nehmen könnten, sind offenbar unbegründet. Ein Vergleich mit anderen Lerngruppen, die mit traditionellen Testaufgaben bewertet wurden, ergab keine signifikanten Unterschiede in einem abschließenden „harten“ Physiktest (Slater 1994). In der Literatur werden folgende Vorzüge hervorgehoben: Die Bewertung nach der Portfolio-Methode… • fußt auf Beiträgen, die über einen längeren Zeitraum entstanden sind, so dass Entwicklungen sichtbar werden können • ist weniger punktuell als andere Verfahren, indem sie sich auf eine über viele Einzeldokumente gestreute Evidenz gründet • lässt dem Bewerteten viel Freiraum zur individuellen Gestaltung und gibt ihm eine faire Chance, seine Stärken zu zeigen • minimiert Prüfungsangst.
Portfolio und Objektivität
4. Einschränkend soll angemerkt werden, dass auch dieses Verfahren anfällig gegenüber einer verzerrten Wahrnehmung seitens der Lehrkraft sein kann. Hat sich erst einmal die Meinung gebildet, dass Schüler X ein As ist, dann könnte sogar ein schludrig geführtes Portfolio als weiteres Indiz für seine Begabung gewertet werden, hat er es doch einfach nicht nötig, durch Fleiß zu glänzen; und umgekehrt liefert Schülerin Y ein reichhaltiges Portfolio ab, so könnte das u.U. gerade als Beweis ausgelegt werden, dass sie mangelnde Begabung durch Fleiß und Sorgfalt auszugleichen sucht. Um solche Fehlurteile zu vermeiden, könnte die Bewertung eines Portfolios den Schülerinnen und Schülern selbst übertragen werden. In den meisten Fällen haben sie nämlich ein ausgezeichnetes Sensorium für die eigene Leistung im Vergleich zu den Leistungen anderer.
6.2 Wie misst man den Lernerfolg im kognitiven Bereich? 1033 1034 1035 1036 1037 1038 1039 1040 1041 1042 1043 1044 1045 1046 1047 1048 1049 1050 1051 1052 1053 1054 1055 1056 1057 1058 1059 1060 1061 1062 1063 1064 1065 1066 1067 1068 1069 1070 1071 1072 1073 1074 1075
6.2.9 Sieben Fehler bei der Formulierung schriftlicher Aufgaben Im folgenden wird jeweils ein Beispiel für eine weniger geglückte Aufgabe vorgestellt sowie ein Vorschlag, wie man es besser machen könnte.
1. Die Aufgabe verführt zum Abschreiben Wenn Sie die folgende Aufgabe so stellen, werden Sie feststellen, dass sich eine richtige (oder falsche) Antwort über mehrere Bankreihen hinweg „ausbreitet“. Jeder stromdurchflossene Draht ist von einem Magnetfeld umgeben. Wenn man eine Kompassnadel in seine Nähe bringt, so stellt sich diese entlang der Magnetfeldlinien ein. Auf der Zeichnung siehst du den Querschnitt eines Drahtes, der senkrecht zur Papierebene verläuft und von einem Strom durchflossen wird. Nicht jede der vier Kompassnadeln ist richtig eingezeichnet. Korrigiere in der Zeichnung die Orientierung der falsch eingezeichneten Kompassnadeln. .
Draht
.
.
.
Besser wäre vielleicht folgende Formulierung. Jeder stromdurchflossene Draht ist von einem Magnetfeld umgeben. a)
Beschreibe, wie sich der Verlauf der Magnetfeldlinien in der Umgebung eines stromdurchflossenen Drahts bestimmen lässt.
b) Zeichne einige Magnetfeldlinien in der Umgebung eines stromdurchflossenen Drahts. Dem Abschreiben entgegenwirken kann man mit folgendem: •
Die abschreibanfälligen Aufgaben werden in zwei Versionen erstellt und nebeneinander sitzende Schüler erhalten unterschiedliche Versionen.
289
290 1076 1077 1078 1079 1080 1081 1082 1083 1084 1085 1086 1087 1088 1089 1090 1091 1092 1093 1094 1095 1096 1097 1098 1099 1100 1101 1102 1103 1104 1105 1106 1107 1108 1109 1110 1111 1112 1113 1114 1115 1116 1117 1118
6 Wie lässt sich der Lernerfolg messen? •
Weniger aufwendig, aber auch weniger effektiv ist es, zwar die gleichen Aufgaben aber für benachbarte Schüler in unterschiedlicher Reihenfolge vorzugeben.
•
Das Abschreiben wird dadurch erschwert (oder ist leichter aufzudecken), dass (zusätzlich) freie Antworten verlangt werden.
2. Die Lösung kann geraten werden Strecke in m
A 40
B
20
Zeit in s
0 0
1
2
Kreuze die richtige Antwort an: A bewegt sich schneller als B
A bewegt sich langsamer als B
Bei dieser Aufgabe ist die Ratewahrscheinlichkeit mit 50% unakzeptabel hoch. Selbst wenn nicht geraten wird, erfährt man relativ wenig über den Kenntnisstand. Die richtige Lösung könnte ja ohne weiteres aufgrund einer falschen Überlegung zustande gekommen sein. Besser wäre es, sich eine Begründung geben zu lassen. Im Beispiel könnte das durch folgenden Zusatz geschehen: Begründe deine Antwort Das Problem, dass die Lösung geraten wird, tritt bei allen Aufgaben mit vorgegebenen Antwortalternativen auf. Es ist um so weniger gravierend, je mehr Alternativen angeboten werden. Die bisweilen gegebene Empfehlung, die Antwortmöglichkeit „Ich weiß es nicht“ hinzuzufügen, ist keine glückliche Lösung, weil sie die ehrlichen Schülerinnen und Schüler bestraft.
3. Die richtige Lösung wird suggeriert Was sind Ionen? Kreuze die richtige Antwort an! Salze bestehen aus Ionen Ionen sind Angehörige eines griechischen Volksstammes Ionen sind elektrisch geladene Teilchen, die entweder positiv oder negativ geladen sein können Ionen sind kleinste Teilchen
6.2 Wie misst man den Lernerfolg im kognitiven Bereich? 1119 1120 1121 1122 1123 1124 1125 1126 1127 1128 1129 1130 1131 1132 1133 1134 1135 1136 1137 1138 1139 1140 1141 1142 1143 1144 1145 1146 1147 1148 1149 1150 1151 1152 1153 1154 1155 1156 1157 1158 1159 1160 1161
Diese Aufgabe kann auch von einer Person, die den Begriff, nach dessen Definition hier gefragt wird, gar nicht kennt, auf Commonsense-Basis mit überzufällig hoher Wahrscheinlichkeit richtig beantwortet werden. Die erste Antwortalternative ist keine Definition, scheidet also aus. Die zweite fällt so weit aus dem (Physik- oder Chemierahmen), dass sie auch dann ausgeschlossen werden kann, wenn man die Ionier nicht kennt. Die dritte Alternative ist auffallend präzise, so dass sie gegenüber der vierten den Vorzug erhält. Besser wäre vielleicht folgende Umformulierung: Atome sind elektrisch neutrale Teilchen. In ihnen ist die Anzahl der positiven Ladungen exakt gleich der Anzahl der negativen Ladungen. Bei Ionen ist das anders. Vervollständige zu einem …
Atom
positiven Ion
negativen Ion
Das Auffinden von gleichwertigen Antwortalternativen ist nicht einfach. Auf der sicheren Seite ist man dagegen, wenn die Auswahlantworten jeweils das gleiche Format haben und sich zum Beispiel nur in einem Zahlenwert unterscheiden, also etwa: ½m 1m 1,5 m 2m 3m
ein Viertel so groß halb so groß gleich groß doppelt so groß viermal so groß
viel schneller etwas schneller gleich schnell etwas langsamer viel langsamer
4. Die Aufgabe ist für leistungsschwache und -starke Schülerinnen und Schüler gleich leicht bzw. gleich schwer Manche Stoffe leiten den elektrischen Strom viel besser als andere. Kreuze an, welche Stoffe den elektrischen Strom ziemlich gut leiten und welche ihn ganz schlecht leiten!
291
292 1162 1163 1164 1165 1166 1167 1168 1169 1170 1171 1172 1173 1174 1175 1176 1177 1178 1179 1180 1181 1182 1183 1184 1185 1186 1187 1188 1189 1190 1191 1192 1193 1194 1195 1196 1197 1198 1199 1200 1201 1202 1203 1204
6 Wie lässt sich der Lernerfolg messen?
Kupfer Kunststoff Glas Eisen
leitet den Strom ziemlich gut
leitet den Strom ganz schlecht
Die Aufgabe ist für eine leistungsgerechte Beurteilung der Physikkenntnisse zu leicht. (Vor entsprechendem Unterricht lösten Quartaner diese Aufgabe zu 87% richtig, danach zu etwa 94%). Anzustreben ist eine Schwierigkeit, bei der etwa die halbe Klasse die Aufgabe zu lösen imstande ist. Alle bisherigen „Fehler“ kommen hier vor: •
Die Ratewahrscheinlichkeit ist hoch.
•
Das Kreuzchenmuster verführt zur „Nachbarschaftshilfe“.
•
Wissenslücken können mit Commonsense ausgeglichen werden.
Eine so leichte Aufgabe kann aber als „Eisbrecher“ am Anfang eines Tests oder einer Klassenarbeit geeignet sein!
5. Fehlerfortpflanzung Welche der folgenden Elemente sind Alkalimetalle und welche sind Erdalkalimetalle? Ca, K, Na, Ba, Cs, K Erdalkalimetalle: Alkalimetalle: Ein Schüler, der die Begriffe nicht richtig zuordnet, könnte z. B. antworten: Erdalkalimetalle: Na, K, Cs; Alkalimetalle: Mg, Ca, Ba Zumindest bei einem starren Auswerteschema (z. B. pro richtiger Zuordnung je ein Punkt) würde diese Antwort (keine einzige richtige Nennung) mit 0 Punkten bewertet werden müssen, obwohl der betreffende Schüler natürlich mehr weiß als ein anderer, der überhaupt keine Antwort gibt. Besser wäre vielleicht folgende Formulierung der Aufgabe: Unter den Elementen Ca, K, Na, Ba, Cs, K gibt es zwei Gruppen mit ähnlichen Eigenschaften a) Welche Elemente gehören zusammen, d. h. haben ähnliche Eigenschaften? b) Wie nennt man die beiden Gruppen von Elementen?
6.2 Wie misst man den Lernerfolg im kognitiven Bereich? 1205 1206 1207 1208 1209 1210 1211 1212 1213 1214 1215 1216 1217 1218 1219 1220 1221 1222 1223 1224 1225 1226 1227 1228 1229 1230 1231 1232 1233 1234 1235 1236 1237 1238 1239 1240 1241 1242 1243 1244 1245 1246 1247
293
Fehlerfortpflanzungen können auch auftreten, wenn mit einem Zwischenergebnis weitergerechnet werden muss. In diesem Fall kann man zwar das richtige Weiterrechnen (mit einem falschen Wert) honorieren, besser ist es aber, von vornherein solche Verkettungen bei der Aufgabenkonstruktion auszuschließen.
6. Hinterhältige Aufgaben Stell Dir vor, ein erloschener Vulkan auf dem Mond würde plötzlich wieder aktiv. Der Ausbruch wäre so gewaltig, dass man den Feuerschein der Explosion auf der Erde sehen könnte! Wann würde man die Explosion hören? Kreuze an! gleichzeitig mit dem Feuerschein einige Sekunden später lange Zeit später überhaupt nicht Versuche, eine Begründung zu geben!
{ { { {
Das „Hinterhältige“ an dieser Aufgabe ist es, dass danach gefragt wird, wann ein Ereignis eintritt (und drei Alternativen angeboten werden), die richtige Antwort (überhaupt nicht) sich aber auf die Unmöglichkeit des Ereignisses bezieht. Fairer wäre es gewesen, danach zu fragen, ob man das Ereignis auf der Erde hören kann oder nicht und sich die Antwort begründen zu lassen. Auf ähnliche Weise „gemein“ sind Aufgaben, bei der mehr als eine Antwortalternative richtig ist und angekreuzt werden soll oder bei der zusätzliche aber für die Lösung irrelevante Angaben gemacht werden. Ein guter Pädagoge wird sich solcher Methoden natürlich enthalten und gegebenenfalls warnen: „Achtung! Hier sind mehr als eine Antwort richtig!“ bzw. „Für die Aufgabenlösung werden nicht alle Angaben gebraucht!“
7. Aufgaben ohne eindeutige Lösung Beim Anschluss eines Lämpchens an eine Batterie fließe ein Strom von 0,7 A. Wie groß ist der Strom durch dieses Lämpchen, wenn noch ein zweites (genau gleiches) parallel zum ersten an die gleiche Batterie angeschlossen wird?
Doppelt so groß (1,4 A)
Etwas größer als 0,7 A
Gleich groß (0,7 A)
Etwas kleiner als 0,7 A
Halb so groß (0,35 A)
294 1248 1249 1250 1251 1252 1253 1254 1255 1256 1257 1258 1259 1260 1261 1262 1263 1264 1265 1266 1267 1268 1269 1270 1271 1272 1273 1274 1275 1276 1277 1278 1279 1280 1281 1282 1283 1284 1285 1286 1287 1288 1289 1290
6 Wie lässt sich der Lernerfolg messen? Erwartet wird möglicherweise die Antwort „gleich groß“. Ein fortgeschrittener Aufgabenlöser ist jedoch geneigt, „etwas kleiner als 0,7 A“ anzukreuzen, weil er so überlegt: Aus der Stromstärke von 0,7 A und einer mutmaßlichen Batteriespannung von einigen Volt lässt sich auf einen Widerstand des Lämpchens in der Größenordnung von 10 Ω schließen. Dagegen kann der Innenwiderstand der Batterie nicht vernachlässigt werden. Folglich sinkt die Klemmspannung bei doppelter Belastung etwas ab und lässt kleinere Ströme fließen. Umgekehrt kann man aber aus der Antwort „etwas kleiner“ nicht unbedingt auf fortgeschrittene Physikkenntnisse schließen. Die Lösung wird eindeutiger, wenn man so formuliert: Beim Anschluss eines Widerstandes an eine Batterie fließe ein Strom von 1 mA. I = 1 mA
A
Welchen Strom zeigen die Strommesser bei a, b und c an, wenn noch ein zweiter (genau gleicher) Widerstand parallel zum ersten an die gleiche Batterie angeschlossen wird?
A a
A b
A Es ist nahezu unmöglich, eine Aufgabe so zu stellen, dass sie für alle möglichen Aufgabenlöser zwar unterschiedlich schwierig zu lösen ist, aber in eindeutiger Weise das Gleiche bedeutet. In der Schulpraxis ist jedoch der Rahmen, in dem eine Aufgabe zu verstehen ist, in den meisten Fällen so eng abgesteckt, dass klar ist, was gemeint ist.
6.3 Wie misst man den Lernerfolg im nichtkognitiven Bereich? 1291 1292 1293 1294 1295 1296 1297 1298 1299 1300 1301 1302 1303 1304 1305 1306 1307 1308 1309 1310 1311 1312 1313 1314 1315 1316 1317 1318 1319 1320 1321 1322 1323 1324 1325 1326 1327 1328 1329 1330 1331 1332 1333
295
6.3 Wie misst man den Lernerfolg im nichtkognitiven Bereich? Im nichtkognitiven Bereich geht es – um nur einige Schlagworte zu nennen – um Einstellungen zu bestimmten Objekten, um das Selbstkonzept vom eigenen Leistungsvermögen, um Interessen und Emotionen sowie um handwerkliche Fertigkeiten. In Anlehnung an die von Bloom eingeführte Einteilung geht es also um den affektiven und den psychomotorischen Bereich. Auf eine Erörterung der Bewertung psychomotorischer Leistungen wollen wir verzichten, obwohl sie im naturwissenschaftlichen Unterricht bei experimentellen Tätigkeiten eine Rolle spielen. Denn die zu Forschungszwecken entwickelten standardisierten Beobachtungsverfahren sind aber für die Unterrichtspraxis zu aufwendig. So gilt die Einschätzung Klopfers (1971) noch immer: „Nur Weniges, was nicht intuitiv offensichtlich ist, kann über die Bewertung handwerklicher Fertigkeiten gesagt werden.“
Die Beobachtung psychomotorischer Leistungen ist für die Unterrichtspraxis zu aufwendig
In den letzten Jahren wird affektiven Lernzielen und ihrer Bewertung steigende Aufmerksamkeit gewidmet. Dieses Gebiet ist aber bei weitem noch nicht so intensiv bearbeitet worden wie der kognitive Bereich. Das hängt zum einen sicherlich mit der Komplexität und der Vielfalt von Aspekten zusammen, die unter dem affektiven Bereich gefasst werden. Zum anderen erweist sich die Messung affektiver Leistungen dadurch als schwierig, dass sie sich einer direkten Beobachtung entziehen und aus beobachtbarem Verhalten erst erschlossen werden müssen.
Affektive Leistungen können nicht direkt beobachtet werden
Wir können hier die Verfahren nur kurz beschreiben. Für einen genaueren Einblick in Vor- und Nachteile sowie in Interpretationsmöglichkeiten und -grenzen, verweisen wir auf die Originalarbeiten. Die Ergebnisse der Verfahren sollten mit Vorsicht interpretiert werden. Sie geben der Lehrkraft Hinweise zu bestimmten affektiven Aspekten, nicht mehr! Man sollte sie im Allgemeinen nur für die Evaluation des Unterrichts, nicht aber für die Bewertung des Erreichens affektiver Lernziele beim einzelnen Schüler einsetzen.
6.3.1 Typen von Messverfahren Messverfahren im affektiven Bereich können danach unterschieden werden, welchen Grad an Freiheit sie dem Befragten in seiner Reaktion auf eine bestimmte Vorgabe zugestehen. Am weitesten verbreitet sind geschlossene Verfahren, in denen die Reaktion auf das An-
296 1334 1335 1336 1337 1338 1339 1340 1341 1342 1343 1344 1345 1346 1347 1348 1349 1350 1351 1352 1353 1354 1355 1356 1357 1358 1359 1360 1361 1362 1363 1364 1365 1366 1367 1368 1369 1370 1371 1372 1373 1374 1375 1376
6 Wie lässt sich der Lernerfolg messen? kreuzen einer mehrstufigen Skala eingeschränkt ist. Das Grundmuster eines solchen Verfahrens sieht folgendermaßen aus:
Typischer Aufbau für ein Verfahren zum „Ankreuzen“
• Stammtext: Hier wird kurz erklärt, um was es geht und ggf. was man zu machen hat. • Mehrere Items, die als Indiz für die zu bewertende affektive Leistung gelten können. • Antwortfeld in Form einer mehrstufigen Skala, auf der die Befragten zu jedem Item diejenige Reaktion auswählen können, die für sie am ehesten zutrifft.
Festlegung des Formats
Zur Erreichung einer befriedigenden Reliabilität (s. Abschnitt 6.1.1) sollten es mindestens 4 Items sein, die den Befragten vorgelegt werden. Üblich sind Skalen mit 5 oder 7 Stufen, manchmal kann es auch zweckmäßig sein, eine gerade Anzahl vorzugeben (s. Beispiel 2). Weniger als 4 und mehr als 7 Stufen haben sich nicht bewährt, weil solche Skalen von den Befragten als zu grob bzw. als zu kleinschrittig empfunden werden. Drei Beispiele mögen das Prinzip dieses Typs erläutern. Beispiel 1 stammt aus einer Interessenerhebung (entnommen aus Hoffmann, Häußler & Peters-Haft 1997). Aus Platzgründen sind bei Tests dieser Art häufig zwei Untertests ineinandergeschachtelt. Mit den Items 1, 3, 5 und 7 soll die Faszination einer Person erfasst werden, die Naturereignisse auszulösen vermögen. Mit den geradzahligen Items wird dagegen die Begeisterung an technischen Geräten erfasst. Dass es sich hier tatsächlich um zwei unterschiedliche Arten von Faszination handelt, hat eine Faktorenanalyse gezeigt (s. Abschnitt 6.1.1).
Auswertung
Die Auswertung eines solchen Tests besteht darin, dass den einzelnen Stufen Zahlen zugeordnet werden, z. B. sehr stark = 5, stark = 4, mittel = 3, weniger stark = 2, gar nicht = 1 Auf diese Weise lässt sich jeder befragten Person durch Summierung über die zu einem Untertest gehörenden Items (z. B. die Items 1, 3, 5 und 7) ein Summenscore ermitteln, der etwas über die Faszination dieser Person gegenüber Naturereignissen aussagt. Eine Person, die von allen aufgeführten Ereignissen ganz stark bzw. gar nicht beeindruckt ist, würde also einen Summenscore von 4 mal 5 = 20 bzw. von 4 mal 1 = 4 erreichen. In einer mit diesem Test durchgeführten Erhebung in der Sekundarstufe I erreichten Mädchen im Mittel einen Score von 15,6, Jungen einen Score von 13,2. Die entsprechenden
6.3 Wie misst man den Lernerfolg im nichtkognitiven Bereich? 1377 1378 1379 1380 1381 1382 1383 1384 1385 1386 1387 1388 1389 1390 1391 1392 1393 1394 1395 1396 1397 1398 1399 1400 1401 1402 1403 1404 1405 1406 1407 1408 1409 1410 1411 1412 1413 1414 1415 1416 1417 1418 1419
297
Werte für die Skala „Faszination Technik“ waren 12,1 für die Mädchen und 14,4 für die Jungen. Beispiel 1 Im folgenden findest Du einige Aussagen darüber, wie man bestimmte Situationen erleben kann. Gib bitte an, wie Du solche Situationen erlebst. 1. Wenn ich einen Regenbogen sehe, dann beeindruckt mich das 2. Wenn ich neue technische Geräte sehe, dann fasziniert mich das 3. Wenn ich eine Sonnen- oder eine Mondfinsternis beobachten kann, dann beeindruckt mich das 4. Wenn ich Berichte über den Flug von Raketen, oder Satelliten sehe (oder lese), dann fasziniert mich das 5. Wenn ich ein Gewitter sehe, dann beeindruckt mich das 6. Wenn ich selbst mit technischen Geräten umgehen kann, dann begeistert mich das 7. Wenn ich daran denke, dass Sonne und Mond Ebbe und Flut hervorrufen, dann beeindruckt mich das 8. Wenn ich bei Reparatur oder Herstellung technischer Geräte zusehen oder mitarbeiten darf, dann begeistert mich das
sehr stark
weniger stark
stark
mittel
gar nicht
An diesem Beispiel wird noch einmal deutlich, wie wichtig es ist, eine genügend große Anzahl von Items einzubeziehen. Wenn man z. B. einer Person, die mit einem Regenbogen ein ganz besonderes, emotional positiv besetztes Ereignis assoziiert, nur das Regenbogenitem vorlegen würde, überschätzte man deren „allgemeines“ Fasziniertsein von Naturereignissen. Durch Mittelbildung über mehrere Ereignisse (Gewitter, Finsternisse, Ebbe und Flut) kann eine solche Fehleinschätzung gemildert werden. Bei der Vorgabe von Statements, denen man zustimmen oder die man ablehnen soll, kann es von Vorteil sein, eine gerade Anzahl von Zustimmungs-/Ablehnungskategorien vorzugeben. Dann fehlt die „neutrale“ Mitte, die von den Befragten häufig gar nicht als Mitte zwischen den beiden Polen Zustimmung bzw. Ablehnung aufgefasst wird, sondern als eine Art Schlupfloch, um ihre Haltung nicht preiszugeben. Mit einer geraden Anzahl wird also gewissermaßen eine Stellungnahme erzwungen. Beispiel 2 (entnommen aus Häußler et al. 1986) ist von diesem Typus. Es ist zusammen mit anderen Einstellungs- und Verhaltensskalen sowie Wissenstests im Rahmen einer Erhebung physikalischer Bildung Erwachsener entwickelt worden. Die wiedergegeben 5 Items sollen „Zukunftsgläubigkeit in Bezug auf die Lösung des Energieproblems“ erfassen.
Gerade Anzahl der Antwortalternativen
298
eher nein
eher ja
ja
Beispiel 2 Unser Land steht, wie viele andere Länder, schwierigen Problemen der Energieversorgung gegenüber. Einige Fachleute sprechen schon von einer Energiekrise, andere sehen eine solche Krise für die nicht all zu ferne Zukunft voraus. Welche Meinung vertreten Sie in diesem Zusammenhang zu den folgenden Äußerungen. Wenn Sie der jeweiligen Äußerung voll zustimmen, kreuzen Sie bitte „ja“ an, wenn Sie die Äußerung für falsch halten, kreuzen Sie bitte „nein“ an. nein
1420 1421 1422 1423 1424 1425 1426 1427 1428 1429 1430 1431 1432 1433 1434 1435 1436 1437 1438 1439 1440 1441 1442 1443 1444 1445 1446 1447 1448 1449 1450 1451 1452 1453 1454 1455 1456 1457 1458 1459 1460 1461 1462
6 Wie lässt sich der Lernerfolg messen?
Techniker und Physiker werden auch die Probleme lösen, die ein zunehmender Energiebedarf mit sich bringt Die Zukunft wird neben einem wachsenden Energiebedarf auch neue Energiequellen zur Deckung dieses Bedarfs mit sich bringen Der steigende Energiebedarf muss durch neue technische Entwicklungen und Weiterentwicklungen bestehender Energietechniken gedeckt werden Immer neue Energiequellen gilt es zu erschließen, damit einer Verbesserung der Lebensqualität nichts im Wege steht Die Forschungsanstrengungen müssen verstärkt werden, damit der steigende Energiebedarf gedeckt werden kann
Anders als die beiden ersten Beispiele, zeigt das dritte Beispiel (entnommen aus Hannover 1989), dass die Vorgabe, auf die die Befragten reagieren sollen, auch eine konkrete Leistungssituation sein kann. Beispiel 3 Auf den nächsten Seiten findest Du einige Mathematikaufgaben. Du sollst die Aufgabe nicht lösen. Lies sie Dir aber bitte durch und beurteile dann, ob Du sie Deiner Meinung nach lösen könntest. Es folgt eine Mathematikaufgabe aus der elementaren Algebra. Für wie wahrscheinlich hältst Du es, dass Du diese Aufgabe lösen könntest? extrem unwahrscheinlich
ziemlich unwahrscheinlich
weder/ noch
ziemlich wahrscheinlich
extrem wahrscheinlich
Es folgt eine weitere Mathematikaufgabe Für wie wahrscheinlich hältst Du es, dass Du diese Aufgabe lösen könntest? extrem unwahrscheinlich
ziemlich unwahrscheinlich
weder/ noch
ziemlich wahrscheinlich
extrem wahrscheinlich
u.s.f.
6.3 Wie misst man den Lernerfolg im nichtkognitiven Bereich? 1463 1464 1465 1466 1467 1468 1469 1470 1471 1472 1473 1474 1475 1476 1477 1478 1479 1480 1481 1482 1483 1484 1485 1486 1487 1488 1489 1490 1491 1492 1493 1494 1495 1496 1497 1498 1499 1500 1501 1502 1503 1504 1505
299
Im Anschluss an diesen Test zur Erfassung der Selbsteinschätzung der eigenen Leistungsfähigkeit, sollen dann die Aufgaben gelöst werden, so dass ein Vergleich zwischen eingeschätzter und tatsächlicher Leistung möglich wird. Dabei zeigte sich übrigens, dass Mädchen im Vergleich zur tatsächlich erbrachten (kognitiven) Leistung ihre Leistungsfähigkeit eher zu niedrig, Jungen dagegen eher zu hoch einschätzen. Wird ein Test wiederholt vorgegeben, so könnten sich die Befragten unter Umständen daran erinnern, wo sie das letzte Mal ihr Kreuz gemacht haben. Um solche Erinnerungseffekte zu unterbinden, kann man ein Antwortformat wählen, bei dem anstelle einer diskreten Skala von 4, 5 oder 7 Antwortkategorien eine kontinuierliche Skala vorgegeben wird: Auf einer Strecke von bestimmter Länge können die Befragten dann ihr Kreuz an beliebiger Stelle setzen. 1 2 3 4 5 6 7
Die Auswertung geschieht am einfachsten mit einer Schablone auf der die gewünschte Anzahl von Stufen als äquidistante Zwischenmarken aufgetragen sind. Bei der erstmaligen Vorgabe des folgenden Antwortformats empfiehlt es sich, dieses kurz zu erläutern (s. Hoffmann, Häußler & Peters-Haft 1997): Wer sich dafür interessiert, was Du gern isst, legt Dir vielleicht die folgenden Sätze vor: stimmt stimmt gar nicht völlig Rote Grütze mit Schlagsahne esse ich gern Ich freue mich immer, wenn es Spaghetti gibt Grießbrei ist mein Lieblingsgericht Wenn Du Deine Kreuze so machst, wie eingezeichnet, bedeutet das: Rote Grütze isst Du wirklich gern (Das Kreuz ist ganz auf der Seite von „stimmt völlig“) Spaghetti magst Du nicht besonders, aber Du lehnst sie auch nicht ganz ab (Das Kreuz ist näher bei „stimmt gar nicht“ als bei „ stimmt völlig“) Grießbrei kannst Du nicht ausstehen (Das Kreuz ist ganz nahe bei „stimmt gar nicht“)
Eine kontinuierliche Skala als Antwortformat
300 1506 1507 1508 1509 1510 1511 1512 1513 1514 1515 1516 1517 1518 1519 1520 1521 1522 1523 1524 1525 1526 1527 1528 1529 1530 1531 1532 1533 1534 1535 1536 1537 1538 1539 1540 1541 1542 1543 1544 1545 1546 1547 1548
6 Wie lässt sich der Lernerfolg messen? Bei der Erhebung affektiver Leistungen ist man nicht darauf angewiesen, dass die Befragten ein Kreuz auf einer vorgegebenen Skala machen. Dies zeigen die beiden nächsten Beispiele mit einem offenen Antwortformat.
Ein Beispiel für ein offenes Antwortformat
Bei Beispiel 4 (s. Hoffmann u.a. 1975) handelt es sich um eine aus dem Deutschunterricht entlehnte Methode: Man umreißt eine Situation in groben Zügen und fordert dann dazu auf, die begonnene Geschichte fortzusetzen. Für diese Testform hat sich der Name Situationstest eingebürgert. Man erhält u.U. wertvolle Informationen darüber, woran die Schüler einer Klasse hauptsächlich denken, wenn ihnen nach einem bestimmten Unterrichtsabschnitt ein auf den Unterricht bezogener Situationstest zur Beantwortung vorgelegt wird. Beispiel 4 (Situationstest) Bevor Markus zur Schule ging, hat er die Schlagzeilen auf der ersten Seite der Zeitung überflogen. Eine Überschrift ging ihm nicht aus dem Sinn: „Atomkraftwerk muss drosseln“. In der Straßenbahn hat er Gelegenheit, ein paar Zeilen des dazugehörigen Artikels zu erhaschen. Er begreift, dass dem Kernkraftwerk, das die Stadt mit Elektrizität versorgt, Betriebsbeschränkungen auferlegt worden sind. Mehr kann Markus nicht lesen, weil er aussteigen muss. In der Schule fragt er seinen Freund, warum man wohl diese Betriebsbeschränkung angeordnet habe, und ob sich da wohl wieder Gegner von Kernkraftwerken durchgesetzt hätten. Sein Freund antwortet: ...
Situationstest: kognitive und affektive Aspekte
Bei dem in einem Situationstest gegebenen offenen Antwortformat können sowohl affektive als auch kognitive Aspekte zum Ausdruck gebracht werden. Auch erlaubt ein Situationstest den befragten Personen, Handlungen zu beschreiben, die sie in der geschilderten Situation für angemessen halten. Das ist ein Vorteil gegenüber den geschlossenen Antwortformaten. Es ist aber auch nicht zu übersehen, worin die Schwächen liegen. Aus dem Weglassen von Sachinformationen zu der beschriebenen Situation kann nicht auf Unkenntnis geschlossen werden. Ebenso kann aus dem Nichterwähnen einer konkreten Handlung gefolgert werden kann, dass die befragte Person sich nicht angemessen verhalten würde. Mit einer detaillierten Checkliste von Aspekten, die in den Fortsetzungsgeschichten genannt werden oder genannt werden könnten,
6.3 Wie misst man den Lernerfolg im nichtkognitiven Bereich? 1549 1550 1551 1552 1553 1554 1555 1556 1557 1558 1559 1560 1561 1562 1563 1564 1565 1566 1567 1568 1569 1570 1571 1572 1573 1574 1575 1576 1577 1578 1579 1580 1581 1582 1583 1584 1585 1586 1587 1588 1589 1590 1591
301
lässt sich ein Situationstest quantitativ mit ausreichender Objektivität auswerten. Ein ganz anderes offenes Antwortformat sind Zeichnungen. Auch damit lässt sich viel über die Befindlichkeit von Schülerinnen und Schülern erfahren (Wimber 1995). Bevor die Zeichnungen angefertigt werden, erklärt die Lehrkraft die Aufgabenstellung und leitet eine kurze Entspannungsphase sinngemäß mit folgenden Worten ein: „Ich werde Euch gleich einen bestimmten Begriff nennen und vor Eurem inneren Auge werden Bilder auftauchen, die mit diesem Begriff etwas zu tun haben. Setzt Euch jetzt ganz entspannt hin und schließt die Augen. Du fühlst, wie Deine Füße Kontakt mit dem Boden haben. Du hältst die Augen geschlossen. Du bist ganz ruhig und entspannt. Ich werde Dir jetzt einen Begriff nennen. Der Begriff in „Physik“. Vor Deinem inneren Auge entsteht ein Bild, wenn Du diesen Begriff in Dir aufnimmst. Lass dieses Bild eine Weile auf Dich einwirken.“ Ca. 30 Sekunden Pause. „Merke Dir dieses Bild (kurze Pause). Komme langsam in den Klassenraum zurück. Fang an, dieses Bild zu zeichnen.“
6.3.2 Messung von Kooperation vs. Konkurrenz Im Zusammenhang mit einem Modellversuch zur Förderung von Chancengleichheit im Physikunterricht (Hoffmann et al. 1997) wurde ein Test entwickelt, der sich darauf bezieht, ob der Umgang der Schülerinnen und Schüler miteinander eher durch kooperierendes oder konkurrierendes Verhalten geprägt ist. Die geradzahligen Items stehen für konkurrierendes, die ungeradzahligen für kooperierendes Verhalten.
Zeichnungen
302 1592 1593 1594 1595 1596 1597 1598 1599 1600 1601 1602 1603 1604 1605 1606 1607 1608 1609 1610 1611 1612 1613 1614 1615 1616 1617 1618 1619 1620 1621 1622 1623 1624 1625 1626 1627 1628 1629 1630 1631 1632 1633 1634
6 Wie lässt sich der Lernerfolg messen?
Wie geht Ihr im Physikunterricht miteinander um?
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
Wenn jemand in der Klemme sitzt, kann er/sie sich auf die anderen verlassen Einige versuchen immer besser zu sein als die anderen. Wenn jemand mit anderen zusammenarbeiten möchte, findet er/sie schnell Anschluss. Manche sagen anderen nichts vor, weil sie selbst die Frage des Lehrers beantworten wollen. Wenn jemand Schwierigkeiten hat, sind die anderen hilfsbereit. Manche streiten sich oft darum, wer die besseren Leistungen gezeigt hat. Wenn jemand nicht mehr weiter weiß, helfen ihm/ihr gleich die anderen. Vielen kommt es nur darauf an, im Unterricht mehr zu wissen als die anderen.
trifft völlig zu
trifft eher zu
trifft nicht zu
trifft eher nicht trifft
6.3.3 Messung der motivierenden Wirkung des Unterrichts Der folgende Test soll die motivierende Wirkung des vorausgegangenen Unterrichts erfassen. Kreuze an, was für Dich zutrifft. Denke dabei an den Unterricht der letzten Wochen! stimmt stimmt völlig gar nicht 1. Der Unterricht war abwechslungsreich 2. Ich war neugierig darauf, was wir in der nächsten Stunde lernen 3. Ich bedauerte es, wenn der Unterricht ausfiel 4. Der Unterricht beschäftigte sich mit Dingen, die mir im täglichen Leben begegnen 5. Ich freue mich auf den Unterricht 6. Im Unterricht gab es etwas Neues für mich zu entdecken 7. Es gab Dinge, die mich besonders interessiert haben 8. Ich habe auch außerhalb des Unterrichts über manche Dinge nachgedacht, die wir zuletzt gelernt haben 9. Ich habe in Büchern nachgeschlagen, um mehr Informationen über das behandelte Gebiet zu bekommen
6.3 Wie misst man den Lernerfolg im nichtkognitiven Bereich? 1635 1636 1637 1638 1639 1640 1641 1642 1643 1644 1645 1646 1647 1648 1649 1650 1651 1652 1653 1654 1655 1656 1657 1658 1659 1660 1661 1662 1663 1664 1665 1666 1667 1668 1669 1670 1671 1672 1673 1674 1675 1676 1677
10. Ich habe mit Freunden, Eltern und Geschwistern über Dinge aus diesem Gebiet gesprochen 11. Ich konnte mich leicht auf die Sache konzentrieren 12. Ich hatte das Gefühl, für mich selbst etwas dazugelernt zu haben 13. Die Schule würde mir mehr Spaß machen, wenn wir öfters solche Dinge behandeln würden 14. Ich wünschte, es gäbe bald eine Fernsehsendung über dieses Thema 15. Es hat Spaß gemacht, mein Verständnis für dieses Thema zu vertiefen 16. Mit solchen Themen hätte ich mich auch freiwillig gerne beschäftigt 17. Ich würde über dieses Thema gerne noch mehr erfahren 18. Mein Interesse an Physik ist größer geworden, seit wir diesen Stoff durchgenommen haben 19. Manchmal fand ich es schade, wenn es klingelte, und die Stunde vorbei war Als Indikatoren für die Wirkung des Unterrichts umfasst der Test folgende Aspekte: •
Beschäftigung mit dem Unterrichtsthema auch außerhalb der Schule
•
Einschätzung des persönlichen Nutzens
•
Beurteilung des Unterrichtsklimas
•
Themenspezifisches Interesse.
Die kontinuierliche Antwortskala, (die Vorteile hat, wenn ein Test wiederholt vorgegeben wird,) kann natürlich auch durch eine 5- oder 7-stufige Skala ersetzt werden (s. 6.3.1).
6.3.4 Messung von Interessen Angenommen, Sie wollen ein bestimmtes vom Lehrplan vorgegebenes Thema unterrichten. Im allgemeinen lässt Ihnen der Lehrplan dabei in Bezug auf die Unterrichtsmethode und die Auswahl der Beispiele, an denen dieses Thema erarbeitet werden kann, relativ viel Freiheit. Diesen Freiraum können Sie für solche Beispiele nutzen, die den Interessen Ihrer Klasse entgegenkommen. Wie erfahren Sie nun etwas über die Interessen Ihrer Klasse? Sie können sich einen guten Überblick verschaffen, wenn Sie sich an das folgende halten:
303
304 1678 1679 1680 1681 1682 1683 1684 1685 1686 1687 1688 1689 1690 1691 1692 1693 1694 1695 1696 1697 1698 1699 1700 1701 1702 1703 1704 1705 1706 1707 1708 1709 1710 1711 1712 1713 1714 1715 1716 1717 1718 1719 1720
6 Wie lässt sich der Lernerfolg messen? 1. Formulieren Sie Ihre Fragen nach dem Interesse in der Form
Wie groß ist dein Interesse daran, mehr darüber zu erfahren, wie …
sehr groß
groß
mittel
gering
sehr gering
{
{
{
{
{
Dann hat Ihre Frage auch noch für diejenigen Schülerinnen und Schüler einen Sinn, die bereits einiges über das Thema wissen. 2. Formulieren Sie in dieser Form je eine oder zwei Interessefragen zu jedem der folgenden Anwendungsbereiche: •
Anwendungen im Alltag/ in der Umwelt
•
Anwendungen, die für die Gesellschaft von Bedeutung sind
•
Erstaunliche Phänomene, Naturphänomene
•
Anwendungen mit Bezug zum menschlichen Körper
•
Wissenschaft ohne expliziten Anwendungsbezug.
Dann gehen Sie einigermaßen sicher, dass diejenigen Bereiche, die in der Regel auf großes Interesse stoßen, dabei sind. 3. Geben Sie den Test anonym vor. Zählen Sie die Antworten aus, in denen ein großes oder sehr großes Interesse bekundet wurde. Das gibt Ihnen einen guten Überblick, in welcher Richtung die Interessen Ihrer Klasse liegen. Meistens lassen sich für alle Anwendungsbereiche relativ leicht Beispiele finden. Wählen Sie aber nur solche aus, die zu unterrichten Sie auch in der Lage und Willens sind. Die folgende Tabelle gibt Ihnen einige Hinweise. Alltag/Umwelt
Erstaunl. Phän.
Gesellschaft
Mensch/Körper
Wissenschaft
Optik
Optische Geräte
Regenbogen
Überwachung
Sehfehler
Brechungsgesetz
Akustik
Musikinstr.
Donner
Lärmschutz
Hörschäden
Schwingungen
Wärme
Kleidung
Wetterphänom.
Wärmeschutz
Wärmesinn
Wärmetransport
Mechanik
Fahrzeuge
Kräfte in Kurven
Verkehrssicherh.
Unfallvorbeugung
Trägheit Beschleunigung
Elektrizität
Elektrogeräte
Gewitter
Umweltgefährdung
Gefahren
Ohmsches Ges.
Kernphysik
Natürliche Radioaktivität
Energieinhalt von Uran
Friedliche und milit. Nutzung
Med. Diagnose und Therapie
Kernspaltung mit Neutronen
6.3 Wie misst man den Lernerfolg im nichtkognitiven Bereich? 1721 1722 1723 1724 1725 1726 1727 1728 1729 1730 1731 1732 1733 1734 1735 1736 1737 1738 1739 1740 1741 1742 1743 1744 1745 1746 1747 1748 1749 1750 1751 1752 1753 1754 1755 1756 1757 1758 1759 1760 1761 1762 1763
305
Für die letzte Zeile könnte ein Interessentest etwa so aussehen: sehr groß Wie groß ist dein Interesse daran, mehr darüber zu erfahren,… welche Stoffe in unserer Umgebung radioaktiv sind { warum in einer kleinen Menge Uran eine so große Ener{ giemenge steckt wie die Kernenergie in militärischen und friedlichen { Anwendungen genutzt wird wie in einer Klinik radioaktive Stoffe bei Untersuchun{ gen und zur Bestrahlung eingesetzt werden was im einzelnen passiert, wenn Neutronen auf Uran{ Atome aufprallen
groß
mittel
gering
sehr gering
{
{
{
{
{
{
{
{
{
{
{
{
{
{
{
{
{
{
{
{
6.3.5 Messung von Einstellungen Einstellungen sind nicht-beobachtbare Persönlichkeitsmerkmale, auf deren Vorhandensein aus beobachtbaren Verhalten geschlossen wird. Sie können daher als Bereitschaften oder Tendenzen betrachtet werden, dieses Verhalten zu zeigen. Man spricht daher auch von Einstellungen als Verhaltensdispositionen. Es gibt keine Einstellungen an sich, sie sind vielmehr immer auf ein bestimmtes Einstellungsobjekt bezogen. Ein Einstellungsobjekt kann z. B. eine bestimmte Technologie sein (z. B. die Einstellung zu alternativen Verfahren der Energieversorgung) oder eine bestimmte Verhaltensweise (z. B. die Einstellung zum Energiesparen). Das übliche Verfahren zur Ermittlung der Einstellung von Personen besteht darin, das Einstellungsobjekt betreffende Aussagen vorzugeben und ankreuzen zu lassen, inwieweit man dieser Aussage zustimmt oder nicht (s. Beispiel 2 in Kapitel 6.3.1) Für das Interesse am Physikunterricht spielt die Einstellung zur eigenen Leistungsfähigkeit (Selbstvertrauen in die eigene Leistung) eine besondere Rolle. Sie kann z. B. mit folgender Einstellungsskala erfasst werden (entnommen aus Hoffmann et al. 1997). Bitte vervollständige die folgenden Sätze durch Ankreuzen: sehr gut
gut
mittel
schlecht
sehr schlecht
1. Ich verstehe den Stoff in Physik…
{
{
{
{
{
2. Ich behalte den Stoff in Physik…
{
{
{
{
{
3. Meine Leistungen in Physik sind nach meiner
{
{
{
{
{
4. Ich beteilige mich am Physikunterricht…
{
{
{
{
{
eigenen Einschätzung…
306 1764 1765 1766 1767 1768 1769 1770 1771 1772 1773 1774 1775 1776 1777 1778 1779 1780 1781 1782 1783 1784 1785 1786 1787 1788 1789 1790 1791 1792 1793 1794 1795 1796 1797 1798 1799 1800 1801 1802 1803 1804 1805 1806
6 Wie lässt sich der Lernerfolg messen?
5. Ich glaube, dass mich die anderen in meiner Klasse für … halten
{
{
{
{
{
6. Ich glaube, dass mein Physiklehrer/meine Physiklehrerin meine Leistungen in Physik als … einschätzt
{
{
{
{
{
7. Ich erwarte, dass in Zukunft meine Leistungen in Physik … sein werden
{
{
{
{
{
6.3.6 Messung des emotionalen Gehalts von Begriffen Semantisches Differential
Der emotionale Gehalt von Begriffen lässt sich mit Hilfe des sogenannten semantischen Differentials (auch Polaritätsprofil genannt) ermitteln. Es wurde von Osgood, Suci und Tannenbaum (1957) für sprachpsychologische Zwecke, d. h. für die Untersuchung der semantischen Bedeutung von Begriffen entwickelt. Inzwischen ist es auch in der didaktischen Forschung vielfach verwendet und erprobt worden. Das folgende Beispiel mag das Verfahren illustrieren (s. Hoffmann et al. 1975). Auf den folgenden Seiten findest ren, z. B.: heiter – gut – kalt – Darüber steht ein Wort, z. B.
Du eine Reihe von Gegensatzpaatraurig schlecht warm „Freude“.
Dieses Wort hat mit den Gegensatzpaaren direkt nichts zu tun. Bitte kreuze trotzdem bei jedem Gegensatzpaar an, ob das Wort, das oben darüber steht, gefühlsmäßig mehr zu der einen oder der anderen Seite des Gegensatzpaares gehört. Beispiel für „Freude“ heiter ° 1 2 3 4 5 6 7 traurig Hier ist die 1 angekreuzt, weil Freude gefühlsmäßig zu heiter gehört. gut ° 1 2 3 4 5 6 7 schlecht Freude gehört gefühlsmäßig eher zu gut als zu schlecht. kalt 1 2 3 4 5 ° 6 7 warm Freude gehört gefühlsmäßig eher zu warm als zu kalt. Das ist natürlich nur ein Beispiel. Ein anderer hätte die Kreuze vielleicht an eine andere Stelle gesetzt. Man kann hier grundsätzlich nichts falsch machen. Es kommt nur darauf an, dass Du für jedes Wort, das über den Gegensatzpaaren steht, die nach Deinem Gefühl passende Ziffer ankreuzt. Überlege dabei nicht zu lange.
6.3 Wie misst man den Lernerfolg im nichtkognitiven Bereich? 1807 1808 1809 1810 1811 1812 1813 1814 1815 1816 1817 1818 1819 1820 1821 1822 1823 1824 1825 1826 1827 1828 1829 1830 1831 1832 1833 1834 1835 1836 1837 1838 1839 1840 1841 1842 1843 1844 1845 1846 1847 1848 1849
307
Falls Du das Wort weder näher zu der einen noch zu der anderen Seite des Gegensatzpaares zuordnen kannst, kreuze bitte die Mitte (4) an. Mach davon so selten wie möglich Gebrauch. 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
sauber tief wild trocken müde freundlich nahe mutig hässlich friedlich dumm schwach hart leer schnell stumpf traurig rau gesund warm
1 1 1 1 1 1 1
2 2 2 2 2 2 2
1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1
2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2
„Wasserkraftwerk“ 3 4 5 6 3 4 5 6 3 4 5 6 3 4 5 6 3 4 5 6 3 4 5 6 3 4 5 6 3 3 3 3 3 3 3 3 3 3 3 3 3
4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4
5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5
6 6 6 6 6 6 6 6 6 6 6 6 6
7 7 7 7 7 7 7 7 7 7 7 7 7 7 7 7 7 7 7 7
schmutzig hoch sanft feucht frisch grausam entfernt ängstlich schön feindlich klug stark weich voll langsam scharf fröhlich glatt krank kalt
Die Auswertung des semantischen Differentials ist einfach, wenn auch etwas mühsam. Mit einer Strichliste wird für jedes Gegensatzpaar die Anzahl der Schüler ermittelt, die eine bestimmte Zahl angekreuzt haben. Daraus lässt sich dann der Mittelwert leicht berechnen, der z. B. in ein leeres Testexemplar als „Zackenkurve“ eingezeichnet werden kann. Instruktiv sind vor allem Vergleiche verschiedener Zackenkurven untereinander. Gibt man z. B. neben dem Begriff „Wasserkraftwerk“ auch die Begriffe „Kernkraftwerk“ oder „Kohlekraftwerk“ vor, so treten vermutlich bei einigen Gegensatzpaaren größere Differenzen auf, die meist auch gut interpretierbar sind. (Ein Wasserkraftwerk wird vermutlich als sauberer, freundlicher und gesünder eingestuft als die beiden anderen Typen).
6.3.7 Verfahren, die auf Beobachtung beruhen Verfahren, die auf Beobachtung beruhen, sind gegenüber Fehlurteilen anfälliger als schriftliche Verfahren. Um die Beobachtung der Schülerinnen und Schüler ein wenig objektiver, zuverlässiger und valider zu gestalten, wird in der Literatur vorgeschlagen, dass die
Auswertung des semantischen Differentials
308 1850 1851 1852 1853 1854 1855 1856 1857 1858 1859 1860 1861 1862 1863 1864 1865 1866 1867 1868 1869 1870 1871 1872 1873 1874 1875 1876 1877 1878 1879 1880 1881 1882 1883 1884 1885 1886 1887 1888 1889 1890 1891 1892
6 Wie lässt sich der Lernerfolg messen? Lehrkraft sich eine Liste von Aspekten anlegt, die sie bewerten will und ihre Eintragungen in ein diese Kategorien enthaltendes Schema einträgt. Dadurch kann erreicht werden, dass etwas systematischer wichtige Aspekte zum Tragen kommen und dass diese bei allen Schülern bewertet werden. Wir geben im folgenden eine Liste wieder, die im Rahmen des Modellversuchs „Chancengleichheit“ der Bund-Länder-Kommission (Hoffmann et al. 1997) entstanden ist. Sie besteht aus einer Reihe von Gegensatzpaaren, deren positive Ausprägung mit einem + (oder falls man weiter differenzieren möchte mit einem + +), deren negative Ausprägung mit einem – (ggf. auch mit – –) in der betreffenden Schülerspalte notiert werden kann. Schüler bzw. Schülerinnen, die eher in der Mitte der beiden Pole liegen, erhalten keine Eintragung. Will man sich nur einen Überblick verschaffen, wer in einer Klasse zu den besonders Kooperativen, Produktiven, Störenden oder Uninteressierten gehört, genügt es, die „Extremfälle“ einzutragen. Kriterienkatalog zur Bewertung der Schülerinnen und Schüler durch die Lehrkraft.
Name Bewertungsmerkmal ist erfolgszuversichtlich ist misserfolgsängstlich zeigt kooperatives/soziales Verhalten ist auf sich selbst bedacht/zeigt unsoziales Verhalten ist beim Experimentieren geschickt ist beim Experimentieren ungeschickt hat produktive Ideen zeigt einen Mangel an produktiven Ideen hat gutes reproduktives Wissen hat große Lücken im reproduktiven Wissen unterstützt/fördert den Unterricht stört/behindert den Unterricht arbeitet mit beteiligt sich nicht am Unterricht arbeitet selbstständig ist oder gibt sich hilflos ist angemessen präsent versteckt sich ist interessiert ist uninteressiert macht Hausaufgaben/bereitet sich vor macht selten Hausaufgaben/ist unvorbereitet
6.4 Zusammenstellung der beschriebenen Verfahren 1893 1894 1895 1896 1897 1898 1899 1900 1901 1902 1903 1904 1905 1906 1907 1908 1909 1910 1911 1912 1913 1914 1915 1916 1917 1918 1919 1920 1921 1922 1923 1924 1925 1926 1927 1928 1929 1930 1931 1932 1933 1934 1935
309
6.4 Zusammenstellung der beschriebenen Verfahren Kognitiver Bereich Eignung zur Messung… (bedingt geeignet zur Messung…)
Verfahren Lückentextaufgaben
•
Multiplechoice- und • Zuordnungsaufgaben • Begriffsnetze
•
• Aufgaben mit freier • Antwort
Aufsätze
Portfolio
• • • • • • •
von Kenntnissen, insbesondere von Benennungen und Einzelfakten von einfachen und komplexen Kenntnissen (des Verständnisses von Zusammenhängen und von höheren kognitiven Leistungen) des Verständnisses von Zusammenhängen zwischen Begriffen (von Kenntnissen) von höheren kognitiven Leistungen, z. B. Lösen eines Problems, Transferieren auf einen neuen Sachverhalt, Entwicklung eines Plans (von Kenntnissen und Zusammenhängen) des Verstehens von Zusammenhängen der Fähigkeit zur Bewertung eines Sachverhalts (von Kenntnissen und höheren kognitiven Fähigkeiten) des Verstehens von Zusammenhängen von höheren kognitiven Leistungen der Fähigkeit zur Bewertung eines Sachverhalts
Kapitel 6.2.3 6.2.4
6.2.5
6.2.6
6.2.7
6.2.8
Nichtkognitiver Bereich Eignung zur Messung
Verfahren Situationstest (projektiver Test) Zeichnungen
•
Beobachtung
•
• Verfahren zum „An- • • kreuzen“ • • • •
von Verhaltensdispositionen, Handlungsbereitschaften und Emotionen in einer vorgebenen Situation von Befindlichkeiten affektiver Leistungen (allgemein) des Kooperationsverhaltens der motivierenden Wirkung des Unterrichts von Interessen von Einstellungen des emotionalen Gehalts von Begriffen (semantisches Differential) des Schülerverhaltens (z. B. Misserfolgsangst, Kooperation, experimentelles Geschick ...)
Kapitel 6.3.1 6.3.1 6.3.1 6.3.2 6.3.3 6.3.4 6.3.5 6.3.6 6.3.7
310 1936 1937 1938 1939 1940 1941 1942 1943 1944 1945 1946 1947 1948 1949 1950 1951 1952 1953 1954 1955 1956 1957 1958 1959 1960 1961 1962 1963 1964 1965 1966 1967 1968 1969 1970 1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978
6 Wie lässt sich der Lernerfolg messen?
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1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43
Ernst Kircher
7 Planung und Analyse von Physikunterricht Unterrichtsplanung und Unterrichtsanalyse gehören zum Handwerkszeug jeder Lehrerin, jedes Lehrers. In der 1. Phase der Lehrerbildung sind Planung und Analyse von Unterricht für die Schulpraktika wichtig. Die Relevanz wird auch nicht dadurch reduziert, dass derzeit schülerzentrierter offener Unterricht gegenüber lehrerzentriertem Frontalunterricht aus guten Gründen favorisiert wird (Petri 1993). Von Seiten der Schulpädagogik wird daraus die Konsequenz gezogen, dass zwischen offener und lernzielorientierter Unterrichtsplanung unterschieden wird (s. Peterssen 1998). In empirischen Untersuchungen von Fischler (2000) hat sich gezeigt, dass Studierende in ihren Lehrversuchen derartige Planungen für ihre Handlungen im Unterricht benötigen, dass diese sich aber an den geplanten schriftlichen „Unterrichtsentwürfen“ in zu strikter Weise orientieren. Dadurch wird auch eine beabsichtigte Öffnung des Unterrichts verhindert. Die Analyse von Physikunterricht war bisher in der empirischen Forschung eher ein „Stiefkind“, trotz deren Bedeutung für die 1. und 2. Phase der Lehrerbildung. Neuerdings werden auch für die 3. Phase, die jetzt endlich auch von Schul- und Bildungsbehörden als notwendig erkannte professionelle Lehrerfort- und Weiterbildung, Unterrichtsanalysen durchgeführt. In der 1. und 2. Phase genügt das implizite Wissen über Unterricht (vor allem der Praktikums und Seminarlehrer), um verbesserungsfähiges Lehrerverhalten durch direkte Unterrichtsbeobachtung und/oder auf einem Video zu erkennen. Der Abschnitt 7.1 erläutert die Kerninhalte der Unterrichtsplanung (Planungsmodelle, – Unterrichtsentwurf – Unterrichtsstunde“). Die skizzierten zwei Planungsmodelle von Schulz (1969; 1980) werden speziell für den Physikunterricht interpretiert. Der Abschnitt 7.2 „Analyse einer Unterrichtseinheit“ gibt Hinweise zur Beurteilung einer Physikstunde und nennt Schwierigkeiten und Probleme dieser Prüfungssituationen für angehende Lehrerinnen und Lehrer. Die dabei aufgeführten Gesichtspunkte der Unterrichtsbeobachtung gelten grundsätzlich auch für den Fall, dass der Unterricht videografiert wird. Zur theoretischen Vertiefung und zur Beschreibung und kritischen Würdigung weiterer Aspekte von Unterrichtsplanung und -analyse s. z. B. Jank & Meyer (1991); Peterssen (1998).
312 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81 82 83 84 85 86
7 Planung und Analyse von Physikunterricht
7.1 Unterrichtsplanung 7.1.1 Planungsmodelle Schriftliche Unterrichtsvorbereitung ist notwendig
1. Vorbemerkungen: Modelle für die Unterrichtsplanung werden benötigt, wenn Unterricht systematisch auf dem Hintergrund pädagogischer Theorien und gewissen Erfahrungen aus der Schulpraxis vorbereitet werden soll. Mehrere Gründe sprechen für eine ausführliche schriftliche Unterrichtsvorbereitung in der Lehrerbildung: eine „Lehrprobe“ („Lehrversuch“) muss in schriftlicher Form vorliegen, um die didaktischen und methodischen Absichten zwischen Auszubildenden und Ausbildern diskutierbar zu machen. Außerdem sind schriftliche Unterrichtsentwürfe notwendig, um Differenzen zwischen antizipiertem und realisiertem Unterricht festzustellen und um Alternativen des Lehrerverhaltens vorzuschlagen. Der Unterrichtsentwurf soll den Unterrichtsverlauf strukturieren aber nicht festlegen, sondern offen halten. Wenn es die Unterrichtssituation erfordert, sollen Schüler und Lehrer offen sein für spontane Änderungen des Verhaltens. Auch wenn im Unterrichtsentwurf schließlich nur eine Variante ausgearbeitet wird, können die in der Planungsphase beiseite gelegten Möglichkeiten sich als wertvoll erweisen und wieder aktualisiert werden, wenn eine Änderung der Unterrichtskonzeption notwendig wird. Fischler (2000) hat aufgezeigt, dass dieses für Lehranfänger sehr schwierig ist.
Notwendige Planungsprodukte für den Unterricht
Nach dem zweiten Staatsexamen reduziert sich die schriftliche Unterrichtsvorbereitung. Sie beschränkt sich bei einem vollen Lehrdeputat schon aus Zeitgründen auf eine Skizze des geplanten Stundenverlaufs, auf vorbereitete Folien, Arbeitsblätter oder das Tafelbild. Erfahrene Lehrkräfte können gelegentlich auf eine schriftliche Unterrichtsvorbereitung verzichten, ohne dass auf den ersten Blick der Unterricht darunter leidet. Wer aber Neues erproben will (neue physikalische oder technische Themen, neue Methoden wie etwa Projekte oder auch neue Medien) wird auf die systematische, schriftliche Unterrichtsvorbereitung zurückgreifen. Planungsmodelle liefern dafür ein Gerüst, indem sie Hilfen für begründete Schritte in einer bestimmten Reihenfolge vorschlagen, um notwendige Planungsprodukte für den Unterricht zu gewinnen. Im Folgenden wird zuerst ein Planungsmodell beschrieben, das sich an dem Berliner Modell von Heimann (1962) orientiert. Dieses hat sich in der Bundesrepublik im Grunde in allen Fächern bewährt und wird an vielen Hochschulen und Studienseminaren verwendet. Mit
7.1 Unterrichtsplanung 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 100 101 102 103 104 105 106 107 108 109 110 111 112 113 114 115 116 117 118 119 120 121 122 123 124 125 126 127 128 129
313
diesem Modell wird Unterricht, – häufig eine einzelne Unterrichtsstunde -, geplant, der im Allgemeinen lehrerzentriert ist (Frontalunterricht) und eine Fülle von Feinzielen aufweist (z. B. die Fachausdrücke für physikalische Geräte und neue physikalische Begriffe). Dabei besteht allerdings die Gefahr, dass durch Feinziele der Unterrichtsverlauf kleinschrittig festgelegt wird, ohne Spielräume für spontane Anregungen und Wünsche der Schülerinnen und Schüler.
Berliner Modell: Lernzielorientierter Unterricht
Für geplanten offenen Unterricht werden in der Regel keine Ziele formuliert. Das bedeutet natürlich nicht, bei offenem Unterricht auf eine Zielanalyse zu verzichten. Die dafür notwendige didaktische Analyse befasst sich dann „nur“ mit Leitzielen, Richtzielen und im Allgemeinen auch mit Grobzielen des Physikunterrichts (s. Kap.2). Die in der didaktischen Analyse entwickelten Planungsprodukte (Sachstrukturdiagramm und „Grobstruktur des Unterrichts“) müssen Freiräume bieten für selbstbestimmtes Lernen der Schülerinnen und Schüler. Dabei ist es sinnvoll, sich auch über Lehrerverhalten Gedanken zu machen, das offenen Unterricht konterkarieren würde. Für offenen Unterricht wird hier das Hamburger Modell (Schulz 1980) vorgeschlagen.
Auch „offener Unterricht“ muss geplant werden
2. Das Berliner Modell unterscheidet Lernvoraussetzungen, Variable des Unterrichts und Lernfolgen:
Berliner Modell: Lernvoraussetzungen, Variable des Unterrichts, Lernfolgen
Sozio-klulturelle Voraussetzungen
Anthropologischpsychologische Voraussetzungen
Intension
Inhalt
Methode
Medium
Sozio-kulturelle Folgen
Anthropologischpsychologische Folgen
Abb.7.1: Das Berliner Modell der Unterrichtsplanung Die soziokulturellen und die anthropologisch- psychologische Lernvoraussetzungen sind soziale und kulturelle Herkunft der Schülerinnen und Schüler, sowie deren Begabung und deren geistige und körperliche Entwicklung gemeint. Sie sind vom Unterrichtsfach verhältnismäßig unabhängig. Da die Lernvoraussetzungen in den
Lernvoraussetzungen: soziokulturelle, anthropologischpsychologische
314 130 131 132 133 134 135 136 137 138 139 140 141 142 143 144 145 146 147 148 149 150 151 152 153 154 155 156 157 158 159 160 161 162 163 164 165 166 167 168 169 170 171 172
7 Planung und Analyse von Physikunterricht Klassen unseres Schulsystems im Allgemeinen sehr verschieden sind, können pädagogische Folgerungen nur vor „Ort“ und nur für die zu unterrichtende Klasse gezogen werden. Studenten und Referendare orientieren sich bei der Unterrichtsvorbereitung am Wissen und den Erfahrungen des jeweiligen Klassenlehrers.
Lernvoraussetzungen: Alltagsvorstellungen über Physik
Als allgemeine Lernvoraussetzungen des Physikunterrichts haben sich die Alltagsvorstellungen der Lernenden über physikalische Phänomene, Begriffe, Arbeitsweisen erwiesen. Mit der in Kap. 18 dargestellten Übersicht über diesen wichtigen physikdidaktischen Forschungsbereich und den unterrichtlichen Implikationen sollte sich jede Lehrkraft gründlich befassen. Das gilt für die Planung einer Unterrichtseinheit z. B. über „das ohmsche Gesetz“ ebenso, wie für allgemeine Überlegungen, wie der Physikunterricht effektiver gestaltet werden kann (Prenzel & Duit 1999; MNU 2001). Spezielle Lernvoraussetzungen beziehen sich auf den vorausgehenden Unterricht.
Variablen des Unterrichts: Intentionen (Ziele), Inhalte, Methoden, Medien.
Heimann (1962) nennt die folgenden vier sich gegenseitig beeinflussenden Variablen des Unterrichts: die Intentionen (Ziele), die Inhalte, die Methoden und die Medien. Die „Interdependenz der Variablen“ bedeutet wechselseitige Abhängigkeit mit der Konsequenz, dass sie bei der Unterrichtsplanung grundsätzlich gleich gewichtig sind und dass jede der Variablen bei der Unterrichtsplanung reflektiert und im Unterrichtsentwurf schriftlich thematisiert werden muss (s. 7.1.2). Erläuterungen zu Lernvoraussetzungen und Variablen des Unterrichts bilden die Vorüberlegungen eines Unterrichtsentwurfs. 3. Für bestimmte Fälle kann jede der vier Variablen des Unterrichts vorrangig sein. Das impliziert Konsequenzen für die anderen Variablen („Implikationszusammenhang“). Wenn sich Lehrkräfte zum Beispiel dazu entschließen, ein gemeinsames Projekt durchzuführen, dann impliziert die Entscheidung für diese „Methode“, dass Ziele angestrebt werden wie z.B. selbständiges und/ oder kooperatives Arbeiten, dass die Inhalte des Unterrichts fachüberschreitend sein können und dass vorwiegend in arbeitsteiligem Gruppenunterricht gelernt wird. Außerdem impliziert ein Projekt, dass Medien von Schülerinnen und Schülern selbst hergestellt, zumindest selbst ausgewählt und bedient werden. Dadurch werden auch gewisse Medien ausgeschlossen, zum Beispiel Experimente, die aus Sicherheitsgründen nur von Lehrkräften durchgeführt werden dürfen. Auch bestimmte Lehreraktivitäten sind bei Projekten ausgeschlossen, wie zum Beispiel ungebeten einen Vortrag zu halten oder die Lernenden während der Durchführung des Projekts abzufragen und zu prüfen.
7.1 Unterrichtsplanung 173 174 175 176 177 178 179 180 181 182 183 184 185 186 187 188 189 190 191 192 193 194 195 196 197 198 199 200 201 202 203 204 205 206 207 208 209 210 211 212 213 214 215
4. Wir sind mit diesem Beispiel „Projektunterricht“ bei der „offenen Unterrichtsplanung“ angelangt, die Schulz (1980) durch eine „Umrissplanung“ mit seinem Hamburger Modell anstrebt. Ich stimme Peterssen (1998) zu, dass sich dieses Planungsmodell aufgrund seiner hohen Komplexität bisher nicht in der Lehrerbildung durchgesetzt hat. Dazu mögen auch inhaltliche Charakteristika des Modells wie die Beteiligung der Schüler an der Unterrichtsplanung beigetragen haben, die dem noch vorherrschendem Selbstbild von Lehrkräften widersprechen. Aus diesen pragmatischen Gründen wird dieses detailliert ausgearbeitete, theoretisch sehr überzeugende Planungsmodell hier nur skizziert. Außerdem werden in 7.1.4 Planungsschritte dargestellt, die sich in der Entwicklung von offenen Curricula und von Projekten für den Physikunterricht bewährt haben (s. Duit u.a. 1981, 252 ff.).
315 Hamburger Modell
Abb. 7.2: Hamburger Modell (nach Peterssen 1998, 100) Dabei bedeuten: UZ: Unterrichtsziele; AL: Ausgangslage; EK: Erfolgskontrolle; VV: Vermittlungsvariablen
7.1.2 Der Unterrichtsentwurf Unterrichtplanung erfolgt langfristig (Jahresplan), mittelfristig (Unterrichtseinheit bzw. Wochenplan), kurzfristig (Entwurf einer Unterrichtsstunde). Der Unterrichtsentwurf ist das detaillierteste Glied dieser Planungen. Dabei steht der aktuell gültige Lehrplan als Orientierungshilfe und/ oder „Gebot“ ständig im Hintergrund.
Unterrichtsentwurf: - Vorüberlegungen - Unterrichtsverlauf - Materialen - Literatur
316 216 217 218 219 220 221 222 223 224 225 226 227 228 229 230 231 232 233 234 235 236 237 238 239 240 241 242 243 244 245 246 247 248 249 250 251 252 253 254 255 256 257 258
7 Planung und Analyse von Physikunterricht Der im Folgenden dargestellte Unterrichtsentwurf orientiert sich an dem Berliner Modell der Unterrichtsplanung.
Darstellung eines Unterrichtsentwurfs
Unterrichtsentwurf (1) Vorüberlegungen 1.1. Lernvoraussetzungen 1.1.1. Anthropologisch –psychologische Voraussetzungen 1.1.2. Sozio – kulturelle Voraussetzungen 1.1.3. Spezifische Alltagsvorstellungen 1.1.4. Vorkenntnisse 1.2. Ziele Leitziele, Richtziele, Grobziele, Feinziele 1.3. Sachanalyse 1.3.1. Fachliche Darstellung des Inhalts 1.3.2. Elementarisierung und didaktische Rekonstruktion 1.4. Methoden 1.4.1. Methodische Großformen und Unterrichtskonzepte 1.4.2. Phasen des Unterrichts (Motivation (Einstieg), Erarbeitung, Vertiefung) 1.4.3. Sozialformen 1.5. Medien 1.5.1. Experimente 1.5.2. Weitere Medien (2) Unterrichtsskizze (Geplanter Unterrichtsverlauf) (3) Unterrichtsmaterialien 3.1. Experimente (Lehrer-/ Schülerexperimente) 3.2. Arbeitsblätter (Folien) 3.3. Tafelbild (Folien) (4) Literatur
(1) Vorüberlegungen Im Unterrichtsentwurf werden über einen z. B. durch den Lehrplan vorgegebenen physikalischen Inhalt „Vorüberlegungen“ (1.) dargestellt über: Lernvoraussetzungen, Ziele Inhalte, Methoden und Me(2) Skizze des Unterrichts dien. In der auf den Vorüberlegungen aufbauenden „Skizze des Un-
7.1 Unterrichtsplanung 259 260 261 262 263 264 265 266 267 268 269 270 271 272 273 274 275 276 277 278 279 280 281 282 283 284 285 286 287 288 289 290 291 292 293 294 295 296 297 298 299 300 301
terrichts“ (2) wird versucht, das geplante Lehrerverhalten im Voraus festzulegen, sowie das erwartete Schülerverhalten (für eine Einzeloder Doppelstunde) zu antizipieren. Durch didaktische Kommentare werden diese Lehrer- und Schüleraktivitäten plausibel gemacht. Außerdem werden die im Unterricht eingesetzten „Unterrichtsmaterialien“ (3) detailliert dargestellt: Arbeitsblätter, Folien und Versuchsbeschreibungen (Lehrer- und Schülerexperimente). Natürlich muss auch die verwendete Literatur (4) angegeben werden.
317
(3) Unterrichtsmaterialien (4) Literatur
7.1.3 Vorüberlegungen 1. Lernvoraussetzungen (1.1) befassen sich mit folgenden Fragen: • Wie ist die Leistungsfähigkeit und wie die Leistungsbereitschaft der Klasse im Fach Physik einzuschätzen? • Wie viele besonders gute, wie viele eher schwache Schülerinnen und Schüler sind in der Klasse? Wie kann ich diese interessieren, wie optimal fördern?
Über Lernvoraussetzungen
• Wie ist die Klasse in soziokultureller Hinsicht zusammengesetzt? • Mit welchen Alltagsvorstellungen zur Thematik ist bei den Lernenden zu rechnen? Welche Vergleiche, bildhafte Analogien, Beispiele, Modelle kann ich einsetzen, um Unterschiede und/ oder Ähnlichkeiten zwischen den Alltagsvorstellungen und den physikalischen Vorstellungen zu illustrieren? • Welcher thematische Zusammenhang besteht zu der vorhergehenden/ zur nachfolgenden Stunde? Zu den „anthropologisch – psychologischen Voraussetzungen“ kann entwicklungspsychologisches (Oerter & Montada 19984) und kognitionspsychologisches Wissen schriftlich referiert werden . 2. Lernziele (1.2) können grundsätzlich erst nach einer didaktischen Analyse formuliert werden. Für eine einzelne Unterrichtsstunde ist ein weniger theoriegeleitetes Vorgehen akzeptabel. Dabei orientiert man sich vor allem an der Art und Intensität der geplanten Lehrerund Schüleraktivitäten. Diese hängen natürlich von den Lerninhalten ab und von Ihren Auffassungen über guten Physikunterricht. Bei einem solchen Vorgehen beschränken sich Unterrichtsentwürfe häufig auf Konzeptziele. Die durch eine didaktische Analyse gewonnenen Listen für Lernziele charakterisieren und begründen weitere fachliche und fachüberschreitende Aspekte eines Themas. Durch physikdidaktisch sinnvolle Schüleraktivitäten werden auch Fähigkeiten und Fertigkeiten erworben. Wenn diese Aktivitäten im
Über Lernziele
318 302 303 304 305 306 307 308 309 310 311 312 313 314 315 316 317 318 319 320 321 322 323 324 325 326 327 328 329 330 331 332 333 334 335 336 337 338 339 340 341 342 343 344
7 Planung und Analyse von Physikunterricht Gruppenunterricht erfolgen, sind soziale Ziele impliziert, außerdem Einstellungen und Werte (s. Kap. 2).
Beschreibung von Lernzielen
Um ein Lernziel hinreichend präzise zu beschreiben, müssen die Zielebene, die Zielklasse und die Lernzielstufe (das Anforderungsniveau) angegeben werden. Dazu einige Erläuterungen und Beispiele: Auf die allgemeinsten Bildungsziele, „Leitziele“, die in Präambeln der Lehrpläne formuliert sind (z. B. „Erziehung zur Demokratie“) kann in Unterrichtsentwürfen für Physikstunden i. Allg. verzichtet werden, da diese allgemeinen Ziele nicht fachspezifisch sind; – sie sollen aber im Hintergrund jeder Unterrichtsstunde wirken. „Richtziele“ charakterisieren in allgemeiner Weise das Fach und den Sinn des Faches. Daher sollen Richtziele dann für eine Physikstunde formuliert werden, wenn das „Teilchenbild“ („Die Welt ist aus Atomen aufgebaut“) oder Erhaltungssätze oder allgemeine Arbeitsweisen der Physik thematisiert und gelernt werden. Nachdem die Standards der KMK (2004) auf der Ebene der Richtziele formuliert sind, sollte darauf Bezug genommen werden. In der 1. Phase der Lehrerbildung mag für eine „normale“ Unterrichtsstunde wie „Das hookesche Gesetz“, die Formulierung von (wenigen) Grob- und (einer größeren Anzahl) von Feinzielen genügen, die die verschiedenen Zielklassen berücksichtigen.
Beispiele für Lernziele zum Thema „hookesches Gesetzes“
Grobziele: g1 Die Schüler sind fähig, einen funktionsfähigen Kraftmesser herzustellen g2 Die Schüler können eine Gebrauchsanweisung für den Federkraftmesser formulieren, die sowohl eine Angabe über die Genauigkeit als auch über die maximal zulässige Kraft enthält g3 Die Schüler sind in der Lage, Arbeitsgruppen zu bilden, kooperativ Problemlösungen anzustreben und die Lösungen zu überprüfen hinsichtlich der Aufgabenstellungen Feinziele: f1 Die Schülerinnen und Schüler wissen, dass für Stahlfedern in einem bestimmten Ausdehnungsbereich F∼Δs gilt f2 Die Schüler wissen, dass es unterschiedlich „harte“ Federn gibt f3 Schülerinnen und Schüler erfahren durch Experimente, dass überdehnte Federn nicht mehr ihre Ausgangslänge haben und für einen Kraftmesser unbrauchbar sind
7.1 Unterrichtsplanung 345 346 347 348 349 350 351 352 353 354 355 356 357 358 359 360 361 362 363 364 365 366 367 368 369 370 371 372 373 374 375 376 377 378 379 380 381 382 383 384 385 386 387
319
f4 Die Schüler sind in der Lage, zwischen verschiedenen Federn eine sinnvolle Auswahl zu treffen, je nach dem geforderten Messbereich des Federkraftmessers f5 Die Schüler sind fähig, geeignete Experimente zu planen, diese aufzubauen, durchzuführen und die Messergebnisse zuerst in Tabellen und dann graphisch darzustellen f6 Die Schüler sind fähig, die Arbeiten in der Gruppe im Konsens zu organisieren und sich bei Schwierigkeiten zu unterstützen. Dazu folgende Anmerkungen: Die hier beispielhaft aufgeführten Feinziele fi gehören zu verschiedenen Zielklassen (Konzept-, Prozessziele, soziale Ziele, Ziele über Werte und Einstellungen). Das Feinziel f5 hat die Allgemeinheit eines Richtziels; das Feinziel f6 kann auch als Leitziel aufgefasst werden. Die gewählten Beispiele sollen deutlich machen, dass die Zuordnung zu einer bestimmten Lernzielebene i. Allg. nicht trennscharf ist. Zwischen Leit-, Richt-, Grob- und Feinzielen besteht ein Zusammenhang; aber die Ziele der unteren Zielebenen sind nicht aus den oberen Zielebenen deduzierbar. Die Feinziele sind hier absichtlich nicht „operational“ formuliert wie in curricularen Lehrplänen. 3. Durch die „Sachanalyse“ (1.3.1) soll sich der Lehrende vergewissern und durch entsprechende Ausarbeitungen nachweisen, dass er mit der Thematik aus fachlicher Sicht vertraut ist. Dazu verwenden künftige Primarstufenlehrer am besten Schulbücher der Sekundarstufe I, Lehrer der Sekundarstufe I informiert sich durch Physikbücher der Sekundarstufe II, Gymnasiallehrer benutzen die Lehrbücher ihres Studiums und ergänzende Spezialliteratur. Die Vertrautheit mit der „Sache“ ist aber auch eine wichtige Voraussetzung für eigenständige Elementarisierungen und didaktische Rekonstruktionen. Diese sollen fachgerecht, schülergerecht, zielgerecht sein (s. Kap. 3). Für auszubildende und für bereits praktizierende Lehrer sind die Vorschläge aus verschiedenen Schulbüchern sowie aus physikdidaktischen Zeitschriften eine wichtige Fundgrube für Ideen, wie ein bestimmtes Thema im Unterricht behandelt werden könnte. Die Ergebnisse der Elementarisierung und der didaktischen Rekonstruktion, – Schüler- und Lehrerexperimente, ikonische und symbolische Darstellungsweisen der neu zu lernenden Begriffe, Modelle und Analogien -, sind Bausteine des Unterricht, den Lehrer (mit weiteren Elementen) für ihre Klassen komponieren müssen.
Sachanalyse
320 388 389 390 391 392 393 394 395 396 397 398 399 400 401 402 403 404 405 406 407 408 409 410 411 412 413 414 415 416 417 418 419 420 421 422 423 424 425 426 427 428 429 430
7 Planung und Analyse von Physikunterricht 4. Bei lernzielorientiertem Unterricht konzentrieren sich die Vorüberlegungen über Unterrichtsmethoden auf die Phasen des Unterrichts.
Über Unterrichtsmethoden
Phase der Motivation Phase der Erarbeitung
Das „Grundschema für die Artikulation einer Unterrichtsstunde“ wird vor allem in der 1. Phase der Lehrerbildung verwendet. In der 2. Phase der Lehrerbildung werden häufig differenziertere Artikulationsschemata verwendet, z. B. für „problemlösenden Unterricht“. Stichworte zu den drei Phasen des Grundschemas: • Für die Phase der Motivation werden Vor- und Nachteile verschiedener Einstiegsmöglichkeiten in den Vorüberlegungen aufgeführt und schließlich die getroffene Wahl begründet. • Für die Phase der Erarbeitung wird überlegt, ob Experimente von Lehrern oder von Schülern durchgeführt werden. Aus physikdidaktischer Sicht sind Schülerexperimente aufgrund der vielfältigen implizierten Zielaspekte zu bevorzugen. Aber es gibt eine ganze Reihe pragmatische und lernpsychologische Gründe, um auch Lehrerexperimente zu rechtfertigen.
Phase der Vertiefung
• Phase der Vertiefung Die Lernvoraussetzungen und die Lernziele bestimmen die Art und die Intensität der Schüleraktivitäten, um die Lernergebnisse zu vertiefen. Grundsätzlich sollten Vertiefungen kognitiv, affektiv und psychomotorisch erfolgen. Die methodischen Implikationen des kumulatives Lernens und der „vertikalen Vernetzung“ (Kap. 21) sind ebenfalls relevant.
Über Sozialformen des Unterrichts
5. Wenn der lernzielorientierte Unterricht Schülerexperimente vorsieht, müssen verschiedene Vorüberlegungen angestellt werden:
Über Medien
Wie werden die Gruppen gebildet? Wie ist die Sitzordnung? Wie vertraut sind die Regeln für den Gruppenunterricht? Wie vertraut sind die notwendigen Arbeitstechniken? Ist die Rollenverteilung in der Gruppe geklärt und abgestimmt? Sind die Arbeitsanleitungen so gestaltet, dass die Schüler erfolgversprechend arbeiten können? Wie ist das Herbeischaffen und Aufräumen der Geräte zu organisieren? 6. Medien sind Mittel, um Lernprozesse anzuregen, zu optimieren, erfolgreich zu beenden. Sie beeinflussen die bisher diskutierten Variablen des Unterrichts. Die modernen Medien können unser Schulsystem nicht nur beeinflussen, sondern grundlegend verändern. Bei den Vorüberlegungen zu einem Unterrichtsentwurf bleiben solche allgemeinen Überlegungen ausgespart. Es werden die konkret vorhandenen, herstellbaren oder beschaffbaren Medien erörtert, die
7.1 Unterrichtsplanung 431 432 433 434 435 436 437 438 439 440 441 442 443 444 445 446 447 448 449 450 451 452 453 454 455 456 457 458 459 460 461 462 463 464 465 466 467 468 469 470 471 472 473
321
wünschbaren erwähnt, um den eigenen Überblick über Medien im Physikunterricht aufzuzeigen. Wenn weder Geräte für ein Schülerexperiment noch für ein Lehrerexperiment vorhanden sind, müssen Abbildungen und Texte in Büchern, auf Folien oder Arbeitsblättern das Experiment ersetzen. Heutzutage sind gelegentlich Simulationen eines Experiments als Film oder als Computersimulation verfügbar. Ein Blick ins Internet wird häufig durch subjektiv neue Experimente belohnt (s. 6.1).
Wie werden Medien ausgewählt?
Bestehen keine Zwänge hinsichtlich der medialen Ausstattung und der verfügbaren Unterrichtszeit, sollen physikdidaktische Auffassungen, inhaltliche Gegebenheiten, besondere Unterrichtsmethoden (z.B. Spiele, Lernzirkel, Projekte) die Medienwahl beeinflussen. Das kann bedeuten, dass trotz der Präferenz von Schülerexperimenten diese entfallen, wenn sie gefährlich, zu schwierig für die Schülerinnen und Schüler sind, wenn die Phänomene im Schülerexperiment weniger überzeugend sind als im Lehrerexperiment. Bildmedien sind für Lernprozesse wichtig, indem sie Experimente ergänzen: hinsichtlich des Gesamtablaufs, spezieller Geräteteile, der Darstellung und Interpretation der Daten, der Modell- und Theoriebildung. Die detailliert ausgearbeiteten Visualisierungen für ein vorgegebenes physikalisches Thema werden entweder in den „Vorüberlegungen“ oder den „Unterrichtsmaterialien“ dargestellt. 6. Abschluss der Vorüberlegungen: Konsistenzprüfung. • Sind die Lernvoraussetzungen durchgängig berücksichtigt? • Entsprechen die Lehr-/ Lernaktivitäten den Lernzielen? • Sind die intendierten Medien vorhanden und funktionsfähig? • Welche organisatorischen Maßnahmen sind zu treffen (vor, während, nach dem Unterricht)?
7.1.4 Die Unterrichtsskizze Die Unterrichtsskizze gibt den geplanten Verlauf des Unterrichts wieder. Es werden unterschiedliche Schemata verwendet, die das geplante Lehrerverhalten und das erwartete Schülerverhalten adäquat und in separaten Spalten darstellen sollen(s. Peterssen 1998), ergänzt durch weitere Spalten wie „didaktischer Kommentar“ (Begründung), Medien, Sozialformen. Häufig wird auch die Zeitdauer für die Phasen des Unterrichts in einer eigenen Spalte angegeben.
Konsistenzprüfung
322 474 475 476 477 478 479 480 481 482 483 484 485 486 487 488 489 490 491 492 493 494 495 496 497 498 499 500 501 502 503 504 505 506 507 508 509 510 511 512 513 514 515 516
7 Planung und Analyse von Physikunterricht Noch übersichtlicher ist das von Schulz (1969) vorgeschlagene Schema, das nur 3 Spalten enthält: Gepl. Lehrerverhalten., erwart. Schülerverhalten, did. Kommentar (beide Schemata: DIN A 4 Querformat). Üblich ist auch noch die aufeinanderfolgende, chronologische Darstellung von Lehrer- und Schüleraktivitäten.
Zeit
1. Einstieg 5 –10 min 2. Erarbeitung 20 – 30 min 3. Vertiefung 15 – 20 min
Gepl. Lehrerverhalten Überraschungsversuch . .
Erwart. Schülerverhalten
Sozialform
Medien
Didakt. Kommentar
Stellen Hypothesen auf . . .
Frontalunterricht . Gruppenarbeit .
Lehrerexp. Tafel . . Schülerexperimente .
Motivation d. S. . . .
Arbeitsblatt OHP-Folie Abb.7.3: Schema für die Unterrichtsskizze (Peterssen 1998)
Schlüsselstellen des Unterrichts ausarbeiten
Für das geplante Lehrerverhalten sind sogenannte „Schlüsselstellen des Unterrichts“ besonders wichtig und werden daher detaillierter ausgearbeitet: zum Beispiel ein Wechsel der Sozialform oder der Medien, Schlüsselstellen eines Unterrichtsgesprächs, indem z. B. ein für den Gesprächsablauf wichtiger „stummer Impuls“ im voraus reflektiert und in dieser Spalte notiert wird. Für das „erwartete Schülerverhalten“ ist zu empfehlen, nicht nur von optimalem Schülerverhalten, sondern auch von dem „schlechtesten Fall“ (z. B. bei Schülerexperimenten) auszugehen und im voraus zu überlegen, wie darauf reagiert werden kann.
Kürzel für die Medien und die Sozialformen verwenden
In dem dreispaltigen Schema (nach Schulz) wird in der Spalte „geplantes Lehrerverhalten“ auch das zugrundeliegende Artikulationsschema untergebracht. Außerdem werden in der Spalte „Didakt. Kommentar“ Kürzel für die Medien (TB: Tafelbild, F: Folie, AB: Arbeitblatt usw.) und die Sozialformen (FU: Frontalunterricht, GU: Gruppenunterricht, IU: Individualisierter Unterricht) aufzunehmen.
Ein Tipp am Rande
Lehranfänger platzieren die Unterrichtsskizze auf dem Pult, um gelegentlich einen Blick darauf zu werfen, selbstbewusst nicht heimlich.
7.1 Unterrichtsplanung 517 518 519 520 521 522 523 524 525 526 527 528 529 530 531 532 533 534 535 536 537 538 539 540 541 542 543 544 545 546 547 548 549 550 551 552 553 554 555 556 557 558 559
323
7.1.5 Schritte offener Unterrichtsplanung 1. Für methodische Großformen des Physikunterrichts, Projekte, Lernzirkel, Spiele und (mittelfristige) Unterrichtseinheiten wird eine Grobplanung durchgeführt, mit Spielräumen für Lehrende und Lernende. Es werden z.B. in einem Seminar folgende Planungsprodukte gemeinsam entwickelt: Eine Liste von Leit- und Richtzielen, ein Sachstrukturdiagramm und eine „Grobstruktur der Unterrichtseinheit (des Projekts, des Lernzirkels)“. Dafür wurden Fragenkataloge entwickelt und folgende Schritte vorgeschlagen (s. Kap.2):
Grobplanung Spielräume für Lehrende und Lernende
(i) Ausloten eines gegebenen/ gewählten Unterrichtsthemas und festlegen auf didaktische Schwerpunkte in den vier Zieldimensionen „Allgemeine Bedeutung, Gegenwartsbedeutung, Zukunftsbedeutung, innere Struktur“ des Themas:
Ausloten des Themas
Jede (Studenten-) Gruppe notiert Ideen zu dem Thema entsprechend den vorgegebenen Aspekten des Fragenkatalogs. Diese noch unstrukturierten Stichworte werden dann durch die Lernvoraussetzungen ergänzt. Jede Gruppe wählt 3 – 5 der aus ihrer Sicht didaktisch relevantesten Schwerpunkte aus. (ii) Zu jedem der Schwerpunkte ein bis zwei Leit- und Richtziele formulieren. Eine Gruppe sollte nicht mehr als fünf Leit- bzw. Richtziele formulieren. Die Gruppen entscheiden dann, welche (ca. 5) Leit- und Richtziele gemeinsam weiter verfolgt werden. (iii) Die Liste der Leit- und Richtziele beeinflusst die Stichwortliste zu den ausgewählten Schwerpunkten. Letztere wird von den Gruppen ergänzt im Hinblick auf (vergangene, gegenwärtige, zukünftige) relevante physikalische, technische Geräte und politische, umweltpolitische, wirtschaftliche, rechtliche Zusammenhänge.
Planungsprodukte Liste der Leit- und Richtziele
Gemeinsame Stichwortliste
Im Plenum wird eine gemeinsame Stichwortliste festgelegt mit den wichtigsten im Unterricht neu zu lernenden Begriffen. (iv) Aus dieser Stichwortliste entwickeln die Gruppen ein Sachstrukturdiagramm, das auch die Lernvoraussetzungen der Schüler in Stichworten enthält. Eine Wellenlinie trennt die vorausgesetzten und die neu zu lernenden Begriffe. Pfeile zeigen Zusammenhänge zwischen den (nicht nur physikalischen) Begriffen. Die Komplexität der Begriffe nimmt i. Allg. von oben nach unten zu. Bei dem Sachstrukturdiagramm eines Projekts wird darauf geachtet, dass mögliche Themen für Schülerarbeitsgruppen bereits auf dem Sachstrukturdiagramm erkennbar sind.
Sachstrukturdiagramm
324 560 561 562 563 564 565 566 567 568 569 570 571 572 573 574 575 576 577 578 579 580 581 582 583 584 585 586 587 588 589 590 591 592 593 594 595 596 597 598 599 600 601 602
7 Planung und Analyse von Physikunterricht Praktische Hinweise: Die Begriffe werden einzeln ausgeschnitten und auf einer DIN A0 oder DIN A1 Fläche probeweise ausgelegt, bevor sie festgeklebt (und die Papierfläche ggf. verkleinert kopiert) werden. Die in den Gruppen entstandenen Sachstrukturdiagramme werden im Plenum diskutiert. Bei der Grobplanung eines Projekts oder eines Lernzirkels erfordern die Arbeitsschritte 1 – 4 ca. 6 Seminarstunden.
Planungsprodukte überprüfen
(v) Die bisher entstandenen Planungsprodukte (die Liste der Leitund Richtziele sowie das Sachstrukturdiagramm) werden auf innere Konsistenz überprüft und ggf. abgeändert und/ oder ergänzt.
Grobstruktur der Unterrichtseinheit
(vi) Eine Grobstruktur der Unterrichtseinheit (des Projekts, des Lernzirkels) wird entwickelt. Diese Übersicht enthält Vorschläge für den zeitlichen Umfang, die Teilthemen der Unterrichtseinheit und deren Reihenfolge, sowie zentrale Experimente und besondere Lernformen ( z. B. Spiel, Betriebsbesichtigung, Museumsbesuch).
Physikbücher der Schulstufe: ein guter Ausgangspunkt
Praktischer Hinweis: Da von Studierenden noch kein Überblick über die Experimentalliteratur der Schulphysik erwartet werden kann, sind die Physikbücher der Schulstufe ein guter Ausgangspunkt für die Auswahl, Durchführung und Auswertung der Experimente. 2. Sollen, können Schülerinnen und Schüler an der Unterrichtsplanung beteiligt werden? Diese Frage ist nicht pauschal mit ja oder nein zu beantworten. Die Antwort hängt vom Alter der Lernenden, von der sozialen Reife der Klasse, von der Souveränität und Einstellung der Lehrenden und von der Komplexität und Schwierigkeit der Thematik ab. Auch die beabsichtigte methodische Großform und spezielle Medien können Art und Intensität der Schüleraktivitäten bei der Unterrichtsplanung beeinflussen.
Gebundene partizipative Planung, kooperative Planung
Biermann (1985) unterscheidet zwei Fälle: die gebundene partizipative Planung und die kooperative Planung. Von gebundener partizipativer Planung kann man beispielsweise bei einem Lernzirkel sprechen. Dabei können die Schülerinnen und Schüler über die Art und Reihenfolge der Aktivitäten in den unterschiedlichen Lernstationen entscheiden. Auch die Dauer und damit die Intensität der Beschäftigung mit den angebotenen Inhalten wird i. Allg. nicht von den Lehrkräften festgelegt. Durch „Klassenverträge“ zwischen Lehrenden und Lernenden können organisatorische und inhaltliche Vereinbarungen für das „Lernen an Stationen“ schon in der Primarstufe einvernehmlich geregelt werden. Solche „Klassenverträge“ bestimmen auch das Sozialverhalten in dieser Form des offenen Unterrichts. Von partizipativer Unterrichtsplanung wird auch dann gesprochen, wenn alternative Lehr- und Lernwege an-
7.1 Unterrichtsplanung 603 604 605 606 607 608 609 610 611 612 613 614 615 616 617 618 619 620 621 622 623 624 625 626 627 628 629 630 631 632 633 634 635 636 637 638 639 640 641 642 643 644 645
325
geboten werden und die Lernenden für sich, für ihre Lerngruppe, für die Klasse über die angebotenen Alternativen entscheiden können. Ein Projekt wird kooperativ von Lehrenden und Lernenden geplant. Dabei wird ausschließlich von Schülerinteressen und Schülererfahrungen ausgegangen. Die Lehrkräfte greifen nur auf Wunsch der Schüler beratend und unterstützend ein. Noch geringer ist die Einflussnahme der Lehrer auf die Schüleraktivitäten im offenen Unterricht, der in der idealtypischen Form auch keiner Planung bedarf. Was die mehr oder weniger detaillierte Unterrichtsskizze für den lernzielorientierten Unterricht bedeutet, bedeutet der Wochenplan einschließlich Tagesplan für den offenen Unterricht. Der Wochenplan enthält sowohl die inhaltlichen Schwerpunkte der Fächer, als auch Stichworte für ein Projekt, die schulischen Veranstaltungen, die Lerngänge und Besichtigungen. Im Tagesplan werden nicht nur die Aktivitäten der Großgruppe (Klasse) skizziert, sondern auch die der Kleingruppen (z. B. für arbeitteiligen Gruppenunterricht) und sogar die geplanten möglichen Aktivitäten einzelner Schüler, falls individualisierter Unterricht vorgesehen ist und dabei natürlich individuelle Lernvoraussetzungen und Fähigkeiten berücksichtigt werden müssen. Wochen- und Tagesplan für offenen Unterricht sind grundsätzlich revidierbar; diese Pläne sind auch Schülern und Eltern zugänglich. Je nach den schulischen Gegebenheiten und der Vereinbarkeit mit allgemeinen Leitzielen können sich diese an den Unterrichtsplanungen beteiligen. 3. Und die Zukunft? Wochen- und Tagesplan enthalten die verschiedenen methodischen Großformen des Unterrichts. Im naturwissenschaftlichen Unterricht spielen nach wie vor fachlich orientierte Unterrichtseinheiten eine Rolle, - wünschenswert als „Epochenunterricht“. In diesem Falle sind in einem Wochenplan während einer naturwissenschaftlichen Epoche (z.B.) täglich 2 Unterrichtsstunden vorzusehen. Der Tagesplan enthält außerdem 2 Stunden offenen (individualisierten) Unterricht (i. Allg.) in den Basisfächern Mathematik und Deutsch, sowie 2 Stunden Wahlfächer. Werden Projekte durchgeführt, dominieren diese den Wochen- und Tagesplan auch bezüglich der Unterrichtszeit. Zumindest einmal in der Woche ist anstatt der Wahlfächer auch Freiarbeit vorzusehen, d.h. Tätigkeiten ohne offensichtlichen Unterrichtszweck: freies Spielen, Unterhalten, Geschichten erzählen, sich individuell auf Prüfungen vorbereiten, in ein neues
Offener Unterricht benötigt Wochenplan und Tagesplan
Wochen- und Tagesplan: öffentlich und grundsätzlich revidierbar
326 646 647 648 649 650 651 652 653 654 655 656 657 658 659 660 661 662 663 664 665 666 667 668 669 670 671 672 673 674 675 676 677 678 679 680 681 682 683 684 685 686 687 688
7 Planung und Analyse von Physikunterricht Themengebiet einarbeiten, die Homepage der Schule im Internet erneuern, organisatorische Vorarbeiten für die kommende Woche leisten, - Entspannung.
Offener Unterricht: in der Bielefelder Laborschule erfolgreich praktiziert
Derartiger Unterricht ist keine Fiktion, sondern ist in Deutschland vor allem in der Primarstufe bereits realisiert. In der Bielefelder Laborschule wird solcher schülerzentrierter, offener Unterricht in allen Schulstufen erfolgreich praktiziert. Der Lehrer ist dabei kein Instruktor sondern ein Moderator, der zu effektivem und schülergemäßen Lernen anregt. Dazu gehören auch strukturierte und anspruchsvolle Aufgaben. Die TIMS-Studie und die PISA-Studie haben gravierende Leistungsdefizite deutscher Schülerinnen und Schüler und damit der deutschen Schulsysteme deutlich gemacht. Ein humanes Schulsystem wird in der Bilanz nicht nur elementares und komplexes Wissen, elementare und komplexe Fähigkeiten vermitteln, sondern auch die in der Schule angeeigneten sozialen Ziele und die Einstellungen und Werte betrachten. Eine derartige Studie steht noch aus!
7.2 Analyse einer Unterrichtseinheit Die „Unterrichtsanalyse“ bezieht sich hier auf die 1. und 2. Phase der Lehrerbildung, nicht auf die ebenfalls notwendige und übliche kritische Reflexion des Unterrichts, die Lehrerinnen und Lehrer tagtäglich in der Schulpraxis vornehmen. Das Verhalten der Studierenden vor und in der Klasse thematisieren und verbessern Unterrichtsbeobachtung
Das primäre Ziel solcher Analysen ist in der 1. Phase der Lehrerbildung, das Verhalten der Studierenden vor und in der Klasse zu thematisieren und zu verbessern. Eine wichtige Grundlage für die Analyse eines „Unterrichtsversuchs“ ist die „Unterrichtsbeobachtung“. Das heißt vor allem, das Verhalten von Studierenden zu beobachten: • im Umgang mit einzelnen Schülerinnen und Schülern • im Umgang mit der Klasse • im Umgang mit der Schulphysik und deren begrifflicher und methodischer Struktur. Im „Schulpraktikum“ folgt die „Nachbesprechung“ (s. 7.2.2) direkt im Anschluss an den Unterrichtsversuch. Das Verhalten der Studierenden wird außerdem in den dafür eigens vorgesehenen „Begleitveranstaltungen“ thematisiert: Es wird der Unterrichtsversuch vorbereitet, theoretisches Wissen über Unterrichtsplanung vermittelt und schulpraktische, auch organisatorische Maßnahmen erörtert und geübt, z.B. durch Microteaching.
7.2 Analyse einer Unterrichtseinheit 689 690 691 692 693 694 695 696 697 698 699 700 701 702 703 704 705 706 707 708 709 710 711 712 713 714 715 716 717 718 719 720 721 722 723 724 725 726 727 728 729 730 731
In der 2. Phase der Lehrerbildung stehen „Prüfungslehrproben“ im Vordergrund, durch die die schulpraktischen Fähigkeiten der künftigen Lehrerinnen und Lehrer geprüft werden. Diese Beurteilung geht mit großem „Gewicht“ in die Note des 2. Staatsexamens ein. Für diese Beurteilungen werden vor allem die erzieherische, die didaktische und methodische Kompetenz, die „Lehrerpersönlichkeit“ und die „Klassensituation“ durch die Prüfenden analysiert (s. 7.2.3).
327
Prüfungslehrprobe
Da diese Thematik weder in der Pädagogik noch in der Physikdidaktik wissenschaftlich gründlich diskutiert ist, entstammt die Literatur der Praxis der Lehrerbildung, aus Studienseminaren (s. Seidl 1976); sie ist oft nur lokal genutzt und im Allgemeinen nicht publiziert.
7.2.1 Unterrichtsbeobachtung Unterrichtsbeobachtung wird in unterschiedlicher Absicht und auf verschiedene Weise durchgeführt. Man unterscheidet Alltagsbeobachtung, begutachtende Beobachtung und wissenschaftliche Beobachtung (Kretschmer & Stary 1998). Die begutachtende Beobachtung ist eine wichtige Kompetenz der Lehrkräfte. Sie wird in den Schulpraktika und bei eigenen und fremden Unterrichtsversuchen erworben.. Die übliche Situation, dass die Lehrkraft unterrichtet und beobachtet, wird als teilnehmende Beobachtung bezeichnet. Während der Ausbildung und bei dienstlichen Beurteilungen sind Lehrerinnen und Lehrer selbst Subjekt der Unterrichtsbeobachtung. 1. Das Schulpraktikum beginnt im Allgemeinen mit dem Beobachten des Verhaltens der Klasse und den Aktionen und Reaktionen der Praktikumlehrer in typischen Unterrichtssituationen. Eine solche zunächst unstrukturierte Unterrichtsbeobachtung soll dazu beitragen, den Rollenwechsel von einer ehemaligen Schülerin zur künftigen Lehrerin vorbereiten. Diese anfängliche Alltagsbeobachtung kann für die Aspekte und Probleme der neuen Rolle sensibilisieren. Denn mit dieser sind neue Wahrnehmungen, neue Einstellungen und neue Verhaltensweisen erforderlich, etwa im Zusammenhang mit Störungen des Unterrichts aller Art. Was ist Ihnen aufgefallen? In der ersten Nachbesprechung einer Unterrichtsstunde sollte auch „Unterrichtsbeobachtung“ thematisiert werden: die Notwendigkeit einer „begutachtenden Beobachtung“, wichtige Aspekte einer strukturierten Unterrichtsbeobachtung im Fach Physik, wichtige Aspekte des Lehrerverhaltens, mögliche Beobachtungsfehler sowie Hilfen, um diese Fehler zu vermeiden.
Begutachtende Beobachtung
Rollenwechsel
328 732 733 734 735 736 737 738 739 740 741 742 743 744 745 746 747 748 749 750 751 752 753 754 755 756 757 758 759 760 761 762 763 764 765 766 767 768 769 770 771 772 773 774
Mit einfachen Beobachtungsaufgaben beginnen Einzelbeobachtung Zeitleiste
7 Planung und Analyse von Physikunterricht 2. Um die Komplexität des Beziehungsfeldes Unterricht zur reduzieren, werden zunächst einfache Beobachtungsaufgaben gestellt, wie etwa Ereignisse im Unterricht zählen: die Häufigkeit der Lehrerfragen und/ oder –impulse, der Schüler-/ Schülerinnenantworten oder wie oft / wie selten bestimmte Schüler / Schülerinnen aufgerufen werden bzw. sich selbst melden. Dafür werden Strichlisten geführt, um damit das Lehrer- und Schülerverhalten zu erfassen. Auruf/Impuls Keine d. Lehrers dung
Mel- Meldung
Kein Aufruf/ Äußerung/ Impuls d. L. Meldung
1. – 5. Min. 6. – 10. 11. – 15. usw. Summe Abb. 7.4: Schema einer Strichliste zur Unterrichtsbeobachtung Videoaufzeichnungen sind hilfreicher als Strichlisten
Durch derartige Strichlisten können auch Aspekte des Lehrerverhaltens erfasst werden: das ständige Wiederholen von Schülerantworten, stereotypes und/ oder übertriebenes Lob, Sprachgewohnheiten, die die Schüler „komisch“ finden. Inadäquates verbales Verhalten wird dokumentiert und kann dadurch dem lehrenden Praktikanten unproblematischer vermittelt werden als ohne solche Statistiken. Eine Videoaufzeichnung des Unterrichts dürfte allerdings noch hilfreicher sein, um Lehrerverhalten zu korrigieren. 3. Solche Strichlisten versagen, wenn es um ernsthafte pädagogische und didaktische Probleme geht, absichtsvolles Stören des Unterrichts oder Verständnisschwierigkeiten bei den Lernenden. Dann ist es notwendig zu fragen: Wie ist die Situation entstanden? Hat die Lehrkraft ungemessen oder sinnvoll auf die problemhaltige Situation reagiert? Welche Mittel wurden zur Konfliktlösung eingesetzt? Haben Klassenkameraden die Situation heraufbeschworen? Liegt die Ursache des Fehlverhaltens eines Schülers außerhalb der Schule, an der familiären Situation, an fehlender Leistungsbereitschaft? Die Praktikantinnen und Praktikanten können darüber reflektierende Erfahrungsberichte oder Falldarstellungen anfertigen. Ich meine allerdings, dass die zuletzt erwähnten Fragen, die Details der familiären Situation einzelner Schüler betreffen, nicht im Schulpraktikum erörtert werden können und sollen.
7.2 Analyse einer Unterrichtseinheit 775 776 777 778 779 780 781 782 783 784 785 786 787 788 789 790 791 792 793 794 795 796 797 798 799 800 801 802 803 804 805 806 807 808 809 810 811 812 813 814 815 816 817
Die qualitative Unterrichtsbeobachtung konzentriert sich vor allem darauf, wenig professionelles didaktisches Verhalten der Praktikanten festzustellen und stichwortartig zu dokumentieren, um in der Nachbesprechung Alternativen zu dem beobachteten Verhalten diskutieren zu können: interessantere Einstiege in die Thematik, verständlichere Erklärungsmuster, überzeugendere Lehrerexperimente, professionellere Folien, Tafelbilder usw. Aufschlussreich ist auch die Beobachtung von Gruppenunterricht, das betrifft im Speziellen Schülerexperimente, die in Gruppen durchgeführt werden: Wie zielorientiert, wie selbständig, wie sorgfältig arbeitet die für die Beobachtung ausgewählte Gruppe? Wer dominiert in der Gruppe? Wer verursacht Störungen? Wie reagiert die Gruppe auf Störungen? Wie werden (emotionale, organisatorische) Konflikte gelöst? Wie beteiligen sich die Mädchen an den Schülerexperimenten? Wie werden Ergebnisse der Gruppenarbeit vorbereitet, wie und von wem vorgetragen? Weitere Beobachtungsaufgaben betreffen die „Lehrerpersönlichkeit“: Wie souverän agiert der künftige Lehrer vor der Klasse? Wie reagiert er auf schwache, auf starke Provokationen der Schüler? Wie ansprechbar ist er nach dem Unterricht? Wie hilfsbereit, wie gerecht, wie objektiv ist er? Was sagt seine Körpersprache aus?
329 Qualitative Unterrichtsbeobachtung
Beobachtung von Gruppenunterricht
Beobachtungsschwerpunkt „Lehrerpersönlichkeit“
Diese Fragen überschreiten die Aufgaben eines Schulpraktikums, das pädagogisches Sehen, Handeln und Denken erst anbahnen soll. Sie tangieren notwendige Einstellungen, die unter Umständen erst dann internalisiert werden können, wenn eine gründliche Einführung in den Lehrerberuf und die Identifikation mit diesem Beruf erfolgt sind, also im Allgemeinen erst in der 2. Phase der Lehrerbildung oder auch in den ersten Jahren danach .
Realistische Zielsetzungen für das Schulpraktikum
4. Die eingangs erwähnte Thematisierung von Unterrichtsbeobachtung bedeutet vor allem, dass typische Beobachtungsfehler erläutert werden (s. Kretschmer & Stary 1998, 30).
Typische Beobachtungsfehler
• Ersteindruck: Das spontane Urteil auf den ersten Eindruck einer Person (einer Sache oder Situation) kann die folgenden Beobachtungen und Bewertungen beeinflussen. • Vorurteile und Voreinstellungen: Vorinformationen, Zuneigung oder Ablehnung von Personen und/ oder Situationen, können zu bestimmten Erwartungshaltungen führen und die eine objektive Beobachtung behindern.
330 818 819 820 821 822 823 824 825 826 827 828 829 830 831 832 833 834 835 836 837 838 839 840 841 842 843 844 845 846 847 848 849 850 851 852 853 854 855 856 857 858 859 860
7 Planung und Analyse von Physikunterricht • Ähnlichkeits - / Kontrast – Effekt: Eigene Persönlichkeitsmerkmale und/ oder dazu kontrastierende, werden auch bei den beobachteten Personen wahrgenommen. • Inferenz - Effekt: Aus beobachteten Verhaltensweisen wird auf Charaktereigenschaften geschlossen. • Halo – Effekt: Der Beobachter verallgemeinert sein Urteil über einen Schüler aufgrund weniger wahrgenommenen, häufig äußerlichen Merkmale auf die Gesamtpersönlichkeit. • Logische Fehler: Von einem Schülermerkmal wird auf ein anderes, bloß aus der subjektiven Sicht des Beobachters damit zusammenhängendes Merkmal geschlossen. Die Kenntnis der Beobachtungsfehler hat neben der wissenschaftlichen Bedeutung auch eine psychologische, nämlich für die Diskussion und Kritik einer Unterrichtsstunde. Sie nimmt den Beobachtungen ihr psychologisches Gewicht, indem sie als mögliche Beobachtungsfehler interpretiert werden können.
7.2.2 Nachbesprechung – es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen Zeitlicher Abstand der Nachbesprechung vom Unterricht
Reihenfolge bei der Nachbesprechung
1.Die Nachbesprechung beginnt schon, - verbal oder nicht verbal- , nach dem Ende des Unterrichtsversuchs, wenn der Praktikant tief durchatmet und die während des Unterrichtens entstandene Anspannung sich löst. Die Betreuer (Praktikumlehrer und Hochschullehrer) gehen eher beiläufig auf den Praktikanten zu und finden eine aufmunternde Geste oder ein lobendes Wort für dessen Leistung. Für die eigentliche Nachbesprechung sollte ein zeitlicher Abstand sein, wenigstens die „Große Pause“. In einem (separaten) Besprechungsraum beginnt die Analyse des Unterrichtsversuchs unspezifisch. Zuerst hat der unterrichtende Praktikant die Gelegenheit, seine Wahrnehmungen und Eindrücke über den Unterricht darzustellen oder auch nur seine angestauten Emotionen vor verständnisvollen Kommilitonen und Betreuern zu reduzieren. Ich empfehle, dass die übrigen Praktikanten ihre Eindrücke vom Unterricht wiedergeben, bevor sich die Betreuer äußern. Diese Reihenfolge, - Unterrichtender, beobachtende Praktikanten, Betreuer - , wird während des Schulpraktikums beibehalten. 2. Bei der detaillierten Nachbesprechung geht es um den Vergleich zwischen dem geplanten und dem faktischen Unterricht. Der geplante Unterricht liegt allen Beteiligten als Unterrichtsentwurf oder als Unterrichtsskizze vor. Über den faktischen Unterricht fertigen die
7.2 Analyse einer Unterrichtseinheit 861 862 863 864 865 866 867 868 869 870 871 872 873 874 875 876 877 878 879 880 881 882 883 884 885 886 887 888 889 890 891 892 893 894 895 896 897 898 899 900 901 902 903
331
Unterrichtsbeobachter eine Mitschrift an, deren Gliederung sich an dem in der Unterrichtsstunde verwendeten Artikulationsschema orientiert. Die Nachbesprechung wird von einem der Betreuer, im Verlauf des Praktikums auch von den Praktikanten reihum geleitet. Erörtert wird beispielsweise: Wie motivierend war der Einstieg? Wurde der Überraschungseffekt des Einstiegsexperiments von allen Schülern beobachtet? Hat dieser Versuch auf alle Schüler motivierend gewirkt? Welche alternativen Einstiege bieten sich an? Bei der Phase der Erarbeitung stehen Lehrer- und / oder Schülerexperimente im Mittelpunkt der Diskussion: die mehr oder weniger souveräne Durchführung des Lehrerexperiments, dessen schülergemäße Erklärung durch ein Lehrer - Schüler – Gespräch, die Gestaltung des Tafelbildes bzw. der vorbereiten Folien, der Kontakt zu den Schülern während des Versuchs, Einbindung der Schüler bei der Planung und Durchführung des Versuchs, ggf. die Berücksichtigung von Sicherheitsmaßnahmen. Natürlich werden auch experimentelle Alternativen und der Einsatz anderer Medien angesprochen. Fragen zur Phase der Vertiefung: Wurden die wesentlichen Ziele der Unterrichtsstunde erreicht, wie wurden sie vertieft, wie hätte man sie vertiefen können? Wie wurde der neue Lerninhalt mit dem bisherigen Wissen vernetzt? Wie wurden leistungsschwächere Schüler unterstützt? Waren für leistungsstärkere Schüler Zusatzaufgaben vorbereitet? Auch die Zeitplanung wird thematisiert, aber ihr wird im Schulpraktikum noch keine große Bedeutung eingeräumt. Wichtiger ist, ob ein bewusster sinnvoller Abschluss der Stunde gelungen ist, ob die folgende Unterrichtseinheit den Schülern attraktiv dargestellt wurde, ob organisatorischen Maßnahmen nicht vergessen, ob sinnvolle Hausaufgaben gestellt wurden. 3. Bei der Erörterung des Lehrerverhaltens ist der Grundsatz vorrangig, dass die Kritik nicht verletzend sein darf, sondern für den Betroffenen förderlich, zumindest akzeptabel sein muss. Dieser Grundsatz und die Konsequenz, dass die Kritik ggfs. sogar beschönigend ausfallen kann, wird im voraus diskutiert, d.h. in der Begleitveranstaltung oder beim ersten Unterrichtsversuch. Nicht selten wird auch noch in der Retrospektive der erste Unterrichtsversuch als eine Situation empfunden, in der es um das „Überleben“ geht. Ein Videoband, mit dessen Hilfe der Unterrichtende selbst z. B. die undeutliche Sprache, das hektische Experimentieren, das unsichere Verhalten vor der Klasse erkennt, kann zu einer objektiveren Analyse dieser für den Praktikanten neuartigen Situation
Aspekte der detaillierten Nachbesprechung
332 904 905 906 907 908 909 910 911 912 913 914 915 916 917 918 919 920 921 922 923 924 925 926 927 928 929 930 931 932 933 934 935 936 937 938 939 940 941 942 943 944 945 946
7 Planung und Analyse von Physikunterricht führen. Auch die vorherige Kritik der Kommilitonen kann die aus der Sicht des Unterrichtenden entscheidende Beurteilung des Betreuers in ihrer Bedeutung mindern, weil „vieles schon gesagt ist“ und es nur noch „kleiner Ergänzungen“ bedarf. Die allgemeinen Ratschläge für künftige Lehrerinnen und Lehrer sind so alt, wie offensichtlich:
Allgemeine Ratschläge
• • • • •
Üben Sie „Schweigen“
Außerdem: Versuchen Sie durch Modulation der Stimme (Stimmlage und Lautstärke) Interesse und Aufmerksamkeit zu wecken. Üben Sie „Schweigen“, leises und nachdrückliches Sprechen. Versuchen Sie durch Beobachten des Praktikumlehrers festzustellen (Lernen am Modell), wie dieser mit schwierigen Situationen umgeht und zu meistern versucht. Setzen Sie Ihr offensichtliches „Kapital“ bei den Schülern ein, Ihre Jugend. Es ist aber klar, dass Sie Ihren eigenen Unterrichtsstil finden müssen und in den nächsten Jahren auch finden werden. Natürlich gilt auch im Lehrerberuf: Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen.
Ruhe und Übersicht bewahren selbstbewusst aber nicht arrogant auftreten deutlich artikuliert sprechen keinen, auch nicht den lokalen Dialekt sprechen sich nicht nur auf die Schüler konzentrieren, die sich melden.
7.2.3 Analysekriterien für die 2. Phase der Lehrerbildung Objektive, transparente Beurteilung und Benotung
In der 2. Phase der Lehrerbildung hat die Fähigkeit „gut“ zu unterrichten natürlich eine größere Bedeutung als im Schulpraktikum während des Studiums. Mit dem größeren Gewicht des Unterrichtsversuchs für die Staatsexamensnote ist auch das intensive Bemühen um eine objektive, transparente Beurteilung und Benotung verknüpft. Dazu werden auch „Lehrerpersönlichkeit“ und die „Klassensituation“ beobachtet und analysiert. Während die Analyse von „Lehrerpersönlichkeit“ unmittelbar zu einer Beurteilung bzw. Note führt, ist die „Klassensituation“ nur mittelbar zur Beurteilung heranzuziehen. Denn die Klassensituation hängt von Parametern ab, die wenig oder gar nicht von der auszubildenden Lehrkraft beeinflusst werden können. Wer allerdings schon mit schwierigen Klassensituationen adäquat zurecht kommt, hat gute und beste Noten verdient.
„Lehrerpersönlichkeit“
1. „Lehrerpersönlichkeit“ ist ein vielschichtiger Begriff. Es wird versucht, diesen Begriff durch verschiedene Kompetenzen des Lehrers zu fassen: durch pädagogische, psychologische, soziale, fach-
7.2 Analyse einer Unterrichtseinheit 947 948 949 950 951 952 953 954 955 956 957 958 959 960 961 962 963 964 965 966 967 968 969 970 971 972 973 974 975 976 977 978 979 980 981 982 983 984 985 986 987 988 989
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liche, physikdidaktische, physikmethodische Kompetenz sowie durch Medienkompetenz. - Pädagogische Kompetenz schließt vor allem die Vorbildfunktion des Lehrers ein, die sich auf sein Verhalten im gesamten Bereich „Schule“ bezieht. Sie zeigt sich in seinen Einstellungen zu seinem Beruf, zu seinen Schülern, zu den Kollegen und den Eltern. Sie erweisen sich z.B. im engagierten Unterrichten, in der fairen Notengebung, im Bemühen um optimale Förderung aller Schüler in enger Kooperation mit den Eltern, sowie den Kolleginnen und Kollegen. Durch diese verschiedenartigen Aspekte ist die pädagogische Kompetenz nicht durch die Beobachtung von Unterrichtsversuchen allein zu beurteilen. Aber man kann Hinweise dafür erhalten etwa durch die Reaktionen der Lehrkraft auf absichtliche und unabsichtliche Störungen des Unterrichts, auf relevante und irrelevante Fragen der Schülerinnen und Schüler, durch die Körpersprache der Lehrkraft, durch deren Verhalten im Raum, durch ihre verbale und nichtverbale Kommunikation mit den Schülern. - Psychologische und soziale Kompetenz charakterisieren die Fähigkeit mit Schülern altersgemäß umzugehen. Dazu gehört auch Bescheid zu wissen z.B. über die Jugendkultur des entsprechenden Alters, - deren Stars aus Film, Fernsehen und des Sports, typische Ausdrücke der Jugendsprache, aktuelle Mode, Comics. Wichtiger ist zweifellos die Fähigkeit, individuelle Probleme der Schülerinnen und Schüler zu erkennen und dies im Lehrerverhalten zu berücksichtigen. Das kann beispielsweise bedeuten, auch Schülerverhalten zu akzeptieren, das üblicherweise gerügt oder bestraft wird.
Pädagogische Kompetenz
Psychologische und soziale Kompetenz
Genau so wichtig ist die Fähigkeit, das „Klassenklima“ positiv zu beeinflussen, etwa ein Zusammengehörigkeitsgefühl zu fördern, Streitigkeiten unter Schülern so zu schlichten, dass die Maßnahmen für alle Beteiligte ausgewogen, fair erscheinen, Aktivitäten außerhalb der Schule anzuregen und sich selbst daran zu beteiligen. - Fachliche Kompetenz bedeutet das Beherrschen der Schulphysik. Das ist einerseits weniger als das Beherrschen der Hochschulphysik, andererseits aber auch mehr als diese, weil in der Schulphysik beispielsweise auch Technik, bei manchen Themen Biologie oder Chemie, bei Projekten noch weitere universitäre Disziplinen involviert sein können. Fachliche Kompetenz bezieht sich nicht nur auf die begriffliche, sondern auch auf die methodische Struktur der Physik, also auf Fähigkeiten wie sorgfältiges Experimentieren, auf erfolgreiche Fehlersuche bei Lehrer- und Schülerexperimenten, auf das Abschätzen von Messungenauigkeiten, auf das rasche Erkennen re-
Fachliche Kompetenz
334 990 991 992 993 994 995 996 997 998 999 1000 1001 1002 1003 1004 1005 1006 1007 1008 1009 1010 1011 1012 1013 1014 1015 1016 1017 1018 1019 1020 1021 1022 1023 1024 1025 1026 1027 1028 1029 1030 1031 1032
7 Planung und Analyse von Physikunterricht levanter bzw. irrelevanter Hypothesen und Erklärungen in Lehrer Schülergesprächen. Zur fachlichen Kompetenz gehört natürlich auch die Beherrschung der Fachausdrücke und der Fachsprache.
Physikdidaktische Kompetenz
- Physikdidaktische Kompetenz bedeutet Kenntnis der physikdidaktischen Theorie und deren Umsetzung in systematische Unterrichtsplanung, Unterrichtsorganisation und erfolgreichen, zielorientierten Physikunterricht. sind sowohl historische und aktuelle Begründungen des Physikunterrichts gemeint als auch die fachgerechte, schülergerechte, zielgerechte Elementarisierungen und didaktische Rekonstruktionen. Dazu gehören der sinnvolle lernökonomische Einsatz von Modellen und Analogien ebenso, wie die begründeten Entscheidungen für Lehrer- oder für Schülerexperimente, für Gruppenoder für Frontalunterricht, für Projekt- oder für Kursunterricht.
Physikmethodische Kompetenz
- Physikmethodische Kompetenz betrifft alle Methodenebenen. Deren jeweilige Elemente (methodische Großformen, Unterrichtskonzepte, Artikulationsschemata, Sozialformen, Handlungsformen) sollen in allen Einzelheiten souverän in der Schulpraxis verfügbar sein. Aus der empirischen Unterrichtsforschung (Fischler 2000) ist bekannt, dass sich mit wachsender Schulerfahrung individuelle Mischformen ausbilden, sogenannte „Unterrichtskripte“, die die oben erwähnten Kompetenzen mehr oder weniger abbilden. Der methodisch kompetente Lehrer ist in der Lage, sein verinnerlichtes Handlungsmuster des Unterrichtens situations- und themenspezisch abzuwandeln.
Medienkompetenz
- Die Medienkompetenz hat eine technische und eine didaktische Seite. Es genügt natürlich nicht, die im Physikunterricht verwendeten Medien nur bedienen zu können. Medien sollen zielgerecht eingesetzt werden: die für bestimmte Ziele optimal geeigneten Medien. So ist zu vermuten, dass der Computer beispielsweise sehr gut geeignet ist, das Ziel „Modelle bilden und überprüfen“ zu erreichen, aber weniger gut für den Erwerb der methodischen Struktur der klassischen Physik. Auch ökonomisches Lernen der begrifflichen Struktur der Physik, sowie die Motivation der Schüler (beim Umgang mit einem bestimmten Medium) können als wesentliche Gesichtspunkte für die Medienauswahl berücksichtigt werden.
Medienkompetenz schließt „neue Medien“ ein
Für den Unterricht hat die Tafel schon durch den Arbeitsprojektor an Bedeutung verloren; das Tafelbild wird häufig durch Folien ersetzt. Es ist abzusehen, dass die Tafel und das Tafelbild durch das Internet weiter an Bedeutung verlieren wird. Denn die auf dem alten Medium „Tafel“ dargestellten Zusammenfassungen sind über die „neuen Medien“ jetzt schon für viele Themen der Schulphysik verfügbar.
7.2 Analyse einer Unterrichtseinheit 1033 1034 1035 1036 1037 1038 1039 1040 1041 1042 1043 1044 1045 1046 1047 1048 1049 1050 1051 1052 1053 1054 1055 1056 1057 1058 1059 1060 1061 1062 1063 1064 1065 1066 1067 1068 1069 1070 1071 1072 1073 1074 1075
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Sie können mit Hilfe des Computers umgearbeitet und daher spezifischen Fragestellungen angepasst werden Da auch Experimente zu den Medien zählen (s. Kap. 5), sind die damit zusammenhängenden experimentellen Fähigkeiten weiterhin und aus physikdidaktischer Sicht zu recht die wichtigsten Medienkompetenzen eines Physiklehrers.
Die wichtigsten Medienkompetenzen
2. Bei der Beurteilung der „Klassensituation“ werden Schüler beobachtet hinsichtlich ihrer Gesprächskompetenz, ihres Arbeitsverhaltens und ihres Sozialverhaltens.
„Klassensituation“
- Die Gesprächskompetenz der Schülerinnen und Schüler wird beurteilt durch die Beobachtung
Gesprächskompetenz
• • • • •
der Gesprächsbereitschaft ob Gesprächsregeln eingehalten werden, die Artikulationsfähigkeit die Dialogfähigkeit die Beherrschung verschiedener Gesprächsformen.
- Folgende Aspekte gehen in das Arbeitsverhalten der Schüler ein: • die Lernbereitschaft • die Aufmerksamkeit und Disziplin • die Konzentrationsfähigkeit • das Beherrschen von Arbeitsformen.
Arbeitsverhalten
- Für die Beurteilung des Sozialverhaltens werden beobachtet: • auffällige Schüler • das Verhalten der SS untereinander • gruppendynamische Prozesse.
Sozialverhalten
Für Beurteilungen wird versucht, sowohl die Aspekte von „Lehrerpersönlichkeit“ als auch der von „Schulklima“ quantitativ durch Beobachtungsbogen zu erfassen. Dafür können 5er- Ordinalskalenskalen verwendet werden, die von (1): „Merkmal nicht vorhanden“ bis (5): „Merkmal sehr ausgeprägt vorhanden“ reichen.
7.2.4 Abschließende Bemerkungen 1. Die hier skizzierten Beobachtungs- und Beurteilungskriterien sind nur ein grobes Raster für sehr komplexe Fähigkeiten des Unterrichtens; viele Details sind hier nicht erwähnt: Es gibt „Regeln“ etwa für Demonstrationsexperimente, für die „Körpersprache“ (s. Heidemann 19965) oder für die Gestaltung des Tafelbildes, die positiv als Handlungsanweisungen oder negativ als „Verbote“ formuliert sind.
„Regeln“ und „Verbote“
336 1076 1077 1078 1079 1080 1081 1082 1083 1084 1085 1086 1087 1088 1089 1090 1091 1092 1093 1094 1095 1096 1097 1098 1099 1100 1101 1102 1103 1104 1105 1106 1107 1108 1109 1110 1111 1112 1113 1114 1115 1116 1117 1118
Fortbildungsprogramm für das ganze Berufsleben
7 Planung und Analyse von Physikunterricht 2. Insbesondere in der 2. Phase der Lehrerbildung werden sehr hohe Anforderungen an die auszubildenden Referendare gestellt. Diese können in optimaler Ausprägung nicht erfüllt werden: Die aufgeführten Kompetenzen sind ein sehr anspruchsvolles Fortbildungsprogramm für das ganze Berufsleben eines Lehrers.
Literatur Baumert, J. u.a. (2000). TIMSS/III Bd. I. Dritte Internationale Mathematik- und Naturwissenschaftsstudie. Mathematische und naturwissenschaftliche Bildung am Ende der Schullaufbahn. Opladen: Leske & Budrich. Biermann, R. (1985). Aufgabe Unterrichtsplanung. Essen: Neue Deutsche Schule. Duit, R., Häußler, P.& Kircher, E. (1981). Unterricht Physik. Köln: Aulis. Fischler, H. (2000). Über den Einfluss von Unterrichtserfahrungen auf die Vorstellungen vom Lehren und Lernen bei Lehrerstudenten der Physik. ZfDN 6, 79 – 95. Heidemann, R. (19965). Körpersprache im Unterricht. Wiesbaden: Quelle & Meyer. Heimann, P. (1962). Didaktik als Theorie und Lehre. Deutsche Schule 54, 407 ff. Jank, J. & Meyer, H. (1991). Didaktische Modelle. Frankfurt: Scriptor. KMK (2004). Vereinbarung über Bildungsstandards für den Mittleren Schulabschluss (Jahrgangsstufe 10) in den Fächern Biologie, Chemie, Physik. (http://www.kmk.org/aufg-org/home1.htm) Kretschmer, H. & Stary, J. (1998). Schulpraktikum. Berlin: Cornelsen. MNU (2001). Physikunterricht und naturwissenschaftliche Bildung – aktuelle Anforderungen -. MNU, 54, Heft 3 (Beilage). Oerter & L. Montada (Hrsg.) (19984). Entwicklungspsychologie. Weinheim: Beltz Peterssen, W.H. (1998). Handbuch der Unterrichtsplanung. München: Ehrenwirth. Petri, G. (1993). Analysen und neue Entwicklungsansätze zum schülerorientierten Unterricht. Graz: Dorrong. Prenzel, M. & Duit, R. (1999). Ansatzpunkte für einen besseren Unterricht. Der BLK-Modellversuch „Steigerung der Effizienz des mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterrichts“. NiU Physik 10, (6), 32-37. Roth, H. (1963). Pädagogische Psychologie des Lehrens und Lernens. Hannover: Schroedel. Schulz, W. (19694). Unterricht – Analyse und Planung. In: Heimann, P., Otto, G. & Schulz, W. Unterricht – Analyse und Planung. Hannover: Schroedel. Schulz, W. (1980). Ein Hamburger Modell der Unterrichtsplanung – seine Funktionen in der Praxis. In B. Adl-Amini & R. Künzli (Hrsg.). Didaktische Modelle und Unterrichtsplanung. München, 49 – 87. Seidl, H. (1976). Beurteilungskriterien einer Unterrichtsstunde in Physik im gymnasialen Bereich. Physik und Didaktik, 259 – 286.
144 2 45 3 46 4 47 5 48 6 49 7 50 8 51 9 52 10 53 11 54 12 55 13 56 14 57 15 58 16 59 17 60 18 61 19 62 20 63 21 64 22 65 23 66 24 67 25 68 26 69 27 70 28 71 29 72 30 73 31 74 32 75 33 76 34 77 35 78 36 79 37 80 38 81 39 82 40 83 41 84 42 85 43 86
8 Aktuelle Methoden I – Projekte Projekte haben sich im Physikunterricht in Deutschland insbesondere in Lehrplänen und in Lehrerfortbildungsveranstaltungen etabliert als eine Ergänzung zum Frontalunterricht. In der Schulpraxis werden insbesondere an Gymnasien „Projekttage“ veranstaltet, – im Allgemeinen am Ende des Schuljahrs. Allerdings sind in der 1. und 2. Phase der Lehrerbildung noch Defizite bezüglich der theoretischen und praktischen Aus- und Aufarbeitung der Projektidee zu vermuten. Auch angesichts der zweifellos weiterhin bestehenden Dominanz des Frontalunterrichts (s. z.B. Meyer & Meyer 1999) erscheint es notwendig, die Projektidee nicht nur zu beschreiben sondern auch durch Beispiele zu erläutern. Die ursprüngliche pädagogische Begründung von Unterrichtsprojekten hängt mit der Lösung von Problemen mit gesellschaftlicher Relevanz zusammen. Dabei erwerben die Lernenden Sachkompetenz, arbeitmethodische und soziale Kompetenzen (Schröder & Schröder 1999). Heutzutage ist die gesellschaftliche Relevanz der Thematik keine notwendige Bedingung. Ein hinreichender Grund ist die Relevanz für die Schülerinnen und Schüler, also Projekte, die die Schüler interessieren und für die Physik und/ oder die physikalische Technik motivieren können. Auch solche Projekte implizieren allgemeine Ziele wie Kommunikationsfähigkeit, Kooperationsfähigkeit, Problemlösefähigkeiten, das Verknüpfen fachspezifischer mit fachüberschreitenden Kontexten. Andererseits sollte die Gelegenheit genutzt werden, gesellschaftliche Probleme, die mit Physik zusammenhängen vor allem durch Projekte und projektorientierten Unterricht zu erschließen und modellhaft zu lösen. Die folgenden Beispiele, „Die Sonne schickt uns keine Rechnung“ und „Induktionsmotore“, sind in der Primarstufe, der Sekundarstufe I und der Sekundarstufe II erprobt. Sie illustrieren die Spannweite des Projektbegriffs. Die idealtypischen Darstellungen Freys (200510) sind dabei in keinem der Beispiele realisiert. Denn um ein Scheitern der Projekts möglichst zu vermeiden, treffen die Lehrkräfte Vorentscheidungen für die Projekte, nicht die Schüler. Als Folge dieser Auffassung versteht es sich auch, dass jüngere Schüler stärker unterstützt werden als ältere. Das bedeutet anderseits nicht, alle Schwierigkeiten aus den Lernwegen der Schülergruppen zu räumen, sondern dass Lehrer in „Notfällen“ helfend eingreifen. Wie kann sich eine Lehrkraft auf solche Situationen vorbereiten? Zu einem Überblick über mögliche Ziele und zu den in einem Thema steckenden unterrichtlichen Möglichkeiten kommt man durch eine didaktische Analyse (s.Kap. 2). Eine fachliche Analyse und notwendige Elementarisierungen grenzen diese Möglichkeiten unter Umständen wieder ein und gibt außerdem Lehranfängern die notwendige Sicherheit und Souveränität vor den Lernenden. Eine pragmatische Analyse beschäftigt sich mit den Randbedingungen eines Projekts wie Zeitaufwand, Material-, Geräte-, Literaturbeschaffung und den damit verbundenen Kosten. Abhängig von der Komplexität und der Schwierigkeit der Thematik können auch Schülerinnen und Schüler an diesen Analysen beteiligt werden, - spätestens in der Sekundarstufe II. Johannes Günther & Ellen Günther
340 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 100 101 102 103 104 105 106 107 108 109 110 111 112 113 114 115 116 117 118 119 120 121 122 123 124 125 126 127 128 129
8 Aktuelle Methoden I – Projekte
8.1 „Die Sonne schickt uns keine Rechnung“ – eine Projektwoche Sonnenenergie als Alternative zu konventionellen Energieträgern Naturwissenschaftliche Arbeitsweisen Physik als soziales Erlebnis
„Die Sonne schickt uns keine Rechnung“ ist ein Projekt, das im Rahmen einer Zulassungsarbeit von der Autorin entwickelt wurde (Stockhausen 1999). Es bringt den Schülern zum Teil spielerisch die Möglichkeiten der Nutzung von Sonnenenergie nahe. Dabei wird zum einen auf physikalische Grundlagen der Sonnenenergie eingegangen, zum anderen wird die Energienutzung konkretisiert und diskutiert. Es wird vor allem die Bedeutung der Sonne als regenerative Alternative zu den fossilen und nuklearen Energieträgern thematisiert. Im Projektunterricht können die Schülerinnen und Schüler die naturwissenschaftlichen Arbeitsweisen im sozialen Kontext kennen lernen und erlerntes Wissen aktiv an ihre Schüler weitervermitteln. Dabei kann sich jeder Schüler individuell für seine Interessen entscheiden und seinem Leistungsvermögen entsprechend eigenaktiv arbeiten. Die so entstehende Differenzierung ermöglicht es, sowohl begabte als auch leistungsschwächere Schüler ihren individuellen Möglichkeiten entsprechend zu fördern. So gelingt es, dass die gemeinsame Arbeit das Interesse an den Naturwissenschaften weckt. Bei der gemeinsamen Arbeit erkennen sie sowohl die Bedeutung des Einzelnen als auch die gemeinsam Leistungsfähigkeit einer Gruppe.
8.1.1 Physikalische und technische Grundlagen
Abb. 8.1: Primärenergieverbrauch in Deutschland (BMWi 2005)
Um den hohen Lebensstandart unser mobilen Mediengesellschaft garantieren zu können, brauchen wir Energie. Alleine in der Bundesrepublik werden jährlich 14000 Petajoule (1015 J) verbraucht, damit wir Auto fahren, Wasser und Wohnung heizen und unzählige elektrische Geräte betreiben können. All diese Energie beziehen wir aus sogenannten Primär- oder Rohenergieträgern. Damit bezeichnet man die Energieträger, wie sie in der Natur zur Verfügung stehen (Kohle, Uran, Wind, Sonnenstrahlung, ...). Diese Primärenergie wird dann in sekundäre Energieträger (Strom, Benzin, ...) umgewandelt, um letztMineralöl 35% Kernenergie 13% Braunkohle 11%
Steinkohle 13%
Erdgas 23% Wasser- und Windkraft 1% Sonstige 4%
8.1 „Die Sonne schickt uns keine Rechnung“ – eine Projektwoche 130 131 132 133 134 135 136 137 138 139 140 141 142 143 144 145 146 147 148 149 150 151 152 153 154 155 156 157 158 159 160 161 162 163 164 165 166 167 168 169 170 171 172
341
endlich als End- oder Nutzenergie (Licht, Bewegung, Wärme, ...) dem Verbraucher zur Verfügung zu stehen. Den überwiegenden Anteil der Primärenergie stellen die fossilen Brennstoffe wie Kohle und Erdöl dar (siehe Abb. 8.1). Vorteil dieser Energieträger ist die hohe Energiedichte, welche die Stoffe in Jahrmillionen angesammelt haben. Nachteil ist die begrenzte Menge dieser Stoffe. Nach Schätzungen sind die weltweiten Erdölvorräte in rund 50 Jahren verbraucht, Kohle steht uns bei gleichbleibendem Verbrauch noch maximal 200 Jahre zur Verfügung.
Von der Primärzur Endenergie
Die Alternative bilden die regenerativen Energiequellen. Damit bezeichnet man jene Energieträger, die im Rahmen der Menschheitsgeschichte nicht oder nur unwesentlich aufgebraucht werden. Abgesehen von den Gezeiten und der Erdwärme ist die Sonne der einzige regenerative Primärenergielieferant. Letztendlich sind ja auch Kohle und Öl gespeicherte Sonnenenergie, die von Pflanzen durch Photosynthese umgesetzt und eingelagert wurde. Und auch Wind- und Wasserkraft beruht auf Sonnenwärme als Antrieb für das Wettergeschehen auf unserem Planeten.
Alternative Energiequellen
Zur Nutzung der Sonnenenergie bestehen eine Vielzahl von Möglichkeiten, Abbildung 8.2 gibt einen Überblick. Dabei kann die Sonne einerseits direkt als Wärme- oder Stromquelle dienen. Andererseits gibt es Konversionsprozesse in der Natur, welche die Sonnenenergie in andere nutzbare Energieformen umwandeln. Abb. 8.2:Von der Primärenergiequelle zu Nutzenergien (nach BMWi 1996)
Im Projekt geht im Wesentlichen um die direkte Nutzung der Sonnenenergie durch Photovoltaik und Wärmekollektoren. Dazu sollen
342
8 Aktuelle Methoden I – Projekte im Folgenden die notwendigen physikalischen Grundlagen besprochen werden.
Die Sonne als Energiequelle 24
10 kW emittierte Strahlungsleistung der Sonne
Im Sonneninneren werden durch Kernfusion Wasserstoff- zu Heliumkernen verschmolzen. Die dabei frei werdende Energie wird, abgesehen vom Eigenverbrauch der Sonne ins Weltall abgestrahlt. Die emittierte Leistung beträgt 1024 kW, wovon rund 1,4 kW/m² die der Sonne zugewande Erdoberfläche erreichen und über das Sonnenspektrum verteilt sind. Das Maximum liegt im sichtbaren Licht und kann die wolkenlose Atmosphäre passieren. Ebenso erreichen die benachbarten Bereiche im UV und Infrarot den Erdboden. Um nun die eingestrahlte Energie direkt nutzen zu können, benötigen wir Konversionsprozesse, welche die elektromagnetische Strahlung in Nutzenergie umwandeln können. Dabei gibt es zwei Möglichkeiten.
Photovoltaik 150 W/m² elektrische Leistung
Die Solarzelle ermöglicht es, die Sonnenstrahlung direkt in elektrische Spannung umzusetzen. Dabei werden die Photonen in geeigneten Halbleitermaterialien (Si, GaAs) absorbiert. Dort kommt es nach Anregung von Elektronen zur Ladungstrennung, so dass eine Spannung abgreifbar wird. Da der Wirkungsgrad der Solarzellen noch immer recht gering ist, können derzeit bei handelsüblichen Solarpanelen rund 150 W/m² an einem sonnenklaren Tag erzeugt werden. Somit ist es möglich, elektrische Geräte, wie Parkscheinautomaten im Inselbetrieb zu versorgen. Auch in der privaten Energieversorgung gewinnt die Photovoltaik immer mehr Zuspruch. Betrachtet man eine Dachfläche von 50 m², so kommt eine Spitzenleistung von rund 5 kW zusammen. Problem dabei ist, dass die Sonne nicht immer und nur tagsüber scheint, so dass man im Jahr nur auf 10% der Maximalleistung im Mittel kommt. Des Weiteren werden aufwendige und teure Stromspeicherund Konvertierungssysteme benötigt, so dass sich die Kosten für eine solche Anlage erst nach Jahrzehnten amortisieren. Dennoch bleibt die Tatsache, dass Solarstrom mit Abstand eine der umweltfreundlichsten Stromquellen darstellt (vorausgesetzt, auch die energiereiche Herstellung der Solarzellen erfolgt mit Solarstrom), so dass die Photovoltaik mit Sicherheit neben Wind- und Wasserkraft eine entscheidende Alternative für die Zukunft bietet.
8.1 „Die Sonne schickt uns keine Rechnung“ – eine Projektwoche 173 174 175 176 177 178 179 180 181 182 183 184 185 186 187 188 189 190 191 192 193 194 195 196 197 198 199 200 201 202 203 204 205 206 207 208 209 210 211 212 213 214 215
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Sonnenwärme Neben der Möglichkeit der Stromerzeugung kann die Sonnenstrahlung auch direkt dazu genutzt werden, Dinge zu erwärmen, wobei die Strahlung von diesen absorbiert wird. Der Gegenstand heizt sich auf, bis sich Einstrahlung und Abstrahlung die Waage halten. Bei der Nutzung von Sonnenwärme lassen sich grundsätzlich zwei Bereiche unterscheiden. Bei der passiven Nutzung wird die Sonnenenergie sozusagen nebenbei, ohne spezielle technische Anlagen verwendet. Wichtigster Vertreter ist die Solar-Architektur. Bei der Planung von Häusern sollten diese möglichst mit großen Glasflächen nach Süden orientiert sein, um so den Treibhauseffekt zur Raumheizung ausnutzen zu können, da die Heizung der Räume rund drei Viertel des Energieverbrauchs privater Haushalte ausmacht. Des Weiteren tragen eine gute Wärmeisolierung und eine durchdachte Lüftung des Hauses zur sinnvollen Nutzung der Sonnenwärme bei. Die Heizungskosten solcher Passivhäuser liegen dann bis zur Hälfte unter denen herkömmlicher Altbauten.
Passive Nutzung
Bei technische Anlagen zur Aufbereitung der Sonnenwärme spricht man von aktiver Nutzung. Dabei wird zwischen Niedertemperaturund Hochtemperatur- Solarthermie unterschieden.
Aktive Nutzung
Im Niedertemperaturbereich wird mit der Sonnenstrahlung Wasser oder ein anderer Wärmeträger in Sonnenkollektoren erwärmt. Dabei können Temperaturen bis zu 200 °C zu erreicht werden. Eine Glasscheibe ermöglicht die Sonneneinstrahlung auf einen schwarzen Absorber in einem wärmegedämmten Kasten. Der Absorber wird von Kühlschläuchen durchzogen, welche die Wärme über ein Kühlmittel an ein Reservoir abführen. Aus diesem kann dann die Erwärmung von Brauchwasser oder die Raumheizung erfolgen.
Niedertemperatur bereich
Im Hochtemperaturbereich wird die Sonnenstrahlung mit Linsenoder Spiegelsystemen gebündelt auf einen Absorber gelenkt. Je nach Apparatur können dabei Temperaturen von einigen hundert bis einigen tausend Grad erreicht werden. Nachteil ist, dass die Sonne wandert und so die bündelnde Optik stets dem Sonnenstand nachgeführt werden muss. Für die großtechnische Anwendung bringen die hohen Betriebstemperaturen sogar die Möglichkeit des Betriebs von Wärme-Kraft-Maschinen zur Stromerzeugung. Voraussetzung hierfür ist allerdings eine kontinuierliche Sonneneinstrahlung, so dass sich diese Anlagen nur in entsprechend trockenen und warmen Klimazonen rentieren. Dort sind dann durchaus Anlagen im Megawattbereich realisierbar.
Hochtemperaturbereich
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8 Aktuelle Methoden I – Projekte
8.1.2 Überblick über das Unterrichtsprojekt Abb.8.3: Sachstrukturdiagramm
Lernziele und Sachstrukturdiagramme Physikalische und technische Begriffe als Lernziel
Die wichtigsten physikalischen Begriffe sind in dem Sachstrukturdiagramm (Abb. 4.3) dargestellt. Ausgehend von dem als bekannt vorausgesetzten Begriff „Sonne“ untersuchen und experimentieren die Schüler mit Sonnenkollektor, Hohlspiegel, Lupe und Solarzelle. Dabei sollen sie mit diesen Gegenständen vertraut werden und verstehen, wie die Sonnenenergie in weitere Energieformen umgewandelt wird. Weiterhin lernen die Schüler die Sonne als regenerative Energiequelle im Rahmen der gesamten Energieversorgung kennen. Dies wird durch das Sachstrukturdiagramm in Abb. 4.4 verdeutlicht. Die Sonne wird neben Wind und Wasser als Energiequelle eingeordnet und den fossilen und Kernbrennstoffen gegenübergestellt. Um die Bedeutung der regenerativen Energieträger im Rahmen der Umweltpolitik und der Energieproblematik zu erkennen, werden auch Vorzüge und Nachteile der einzelnen Energiequellen diskutiert.
Abb.8.4: Sachstrukturdiagramm
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Grobgliederung des Projektes Tag
Grobziele
Inhalt
Hinführung zum ProDas Interesse der Schüjektthema und Vorsteller soll geweckt werlung der einzelnen den. Gruppenthemen durch den Lehrer. Die Schüler sollen die Projektdurchführung: Nutzungsmöglichkeiten Dienstag Die Gruppen führen ihre der Sonnenenergie Projektaktivität Versuche mit der Sonne experimentell kennen durch. lernen. Fortsetzung des Versuchstages. Jede Gruppe soll ein Mittwoch Jede Gruppe gestaltet Plakat mit ihren ErgebDokumentation ein Plakat mit ihren nissen erstellen. Versuchen und Ergebnissen. Informationsaustausch Die Schüler sollen zwischen den Gruppen: weitere NutzungsmögDonnerstag Jede Gruppe stellt ihr lichkeiten der Sonne Vorbereitung Plakat und die Versuche kennen lernen. der Präsentavor. Die Schüler sollen die tion Erarbeitung des EnerEnergieproblematik giebegriffs und der erkennen. Umweltproblematik. Wiederholung des EDen Schülern soll die nergiebegriffes und der Energieproblematik Freitag Umweltproblematik bewusst werden und sie Präsentation Abschluss (1) des Prosollen Lösungsmög(Teil 1) und jektes: lichkeiten kennen lerReflexion Vorbereitung der Pränen. sentation und Reflexion über die Projektwoche. Montag Projektinitiative
Samstag Präsentation (Teil 2)
Schüler sollen ihre eigenen Arbeiten präsentieren können und mit der Ausstellung die Projektwoche sinnvoll beschließen.
Material Schildbürgerbild, Wortkarten für Projektthema, Wahlkärtchen Forscherausweise, Versuchsmaterial für jede Gruppe, Arbeitsblätter Material vom Vortag, Tonpapierbögen für Plakate, dicke Stifte Schülerplakate, Tafelmagnete Wortkarten zum Energiebegriff und zum Umweltproblem
Wortkarten vom Vortag
Abschluss (2) des Projekts: Präsentation Ausstellungstische, Ausstellung der Plakate, Stellwand, Schülerder ausgewählten Verarbeiten suche und gemalten Bilder am Schulfest.
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8 Aktuelle Methoden I – Projekte
8.1.3 Projektverlauf Projektinitiative Projektinitiative
Montag – 2 Stunden: Am Anfang eines Projektes steht die Projektinitiative. Wir beginnen die Stunde im Sitzkreis. Den Schülern ist bekannt, dass das Thema etwas mit der Sonne zu tun hat. Ausgangspunkt ist die vorher im Unterricht behandelte Geschichte des fensterlosen Rathauses der Schildbürger. Dabei stellt sich die Frage, wie das Sonnenlicht in das Rathaus transportiert werden kann. Nach einiger Diskussion kommt der Vorschlag, dass man das Sonnenlicht mit Solarzellen „einfangen“ und mit dem Strom das Rathaus beleuchten könnte. Nachdem ein Schüler erwähnt, dass der Strom für Zimmerbeleuchtung normalerweise Geld kostet, ist schnell das Thema des Projektes gefunden („Die Sonne schickt uns keine Rechnung“) und die Planungsphase beginnt.
Projektplanung
Zuerst wird mit den Schülern besprochen, welche Experimente zum Thema „Sonnenenergie“ mit den vorhandenen Geräten zur Energieumwandlung durchführbar sind. Anschließend werden thematische Gruppen gebildet, aus denen die Schüler zwei Wunschgruppen angeben, in denen sie gerne arbeiten würden. Die Gruppeneinteilung wird vom Lehrer übernommen, wobei alle Kinder nach Möglichkeit in ihre Wunschgruppen eingeteilt werden. Da das Interesse am Sonnenkollektor-Bau besonders groß ist, werden zwei KollektorGruppen gebildet.
4 Gruppen: - Sonnenkollektor - Brennglas - Hohlspiegel - Solarzelle
Projektaktivitäten Erarbeitungsphase
Hohlspiegel-Gruppe
Selbstständige Versuchsdurchführung
Dienstag – 4 Stunden: Der zweite Tag beginnt mit dem Austeilen der Forscherausweise, kleinen Ansteckkärtchen mit gruppenspezifischen Symbolen (nebenstehende Abbildung). Darauf schreibt jedes Kind seinen Namen und die Forschergruppe, der es angehört. Anschließend werden Experimentierkarten und das für die Versuche notwendige Experimentiermaterial verteilt, wobei jede Gruppe vier bis fünf Versuche (siehe 4.1.4) durchführen soll. Anschließend werden nochmals die wichtigsten Regeln und Arbeitsweisen für die freie Gruppenarbeit an der Tafel zusammengefasst, bevor sich die Schüler zur Durchführung auf den Pausenhof begeben. Dort arbeiten die Schüler weitgehend selbstständig nach den Versuchsanleitungen. Die Experimente sind durchnummeriert und ermöglichen es, ausgehend von einfachen Beobachtungen schrittweise zu den komplexen Experimenten wie Sonnenkollektor oder Sonnenofen zu kommen. Dabei notierten die Schüler Versuchsaufbau,
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Durchführung und Ergebnisse, um diese am nächsten Tag zusammenzufassen und für die Präsentation vorzubereiten. Mittwoch – 4 Stunden: Da nicht alle Gruppen am Vortag ihre Versuche beenden konnten, bekommen die Schüler nochmals die Möglichkeit, auf dem Pausenhof zu experimentieren. Nach Beendigung der Experimentierphase fasst jeder Schüler einen Versuch aus seiner Gruppe zusammen und dokumentiert ihn. Anschließend gestaltet jede Gruppe aus diesen Aufzeichnungen ein gemeinsames Plakat, wobei folgende Regeln vorgegeben werden:
Dokumentation und Reflexion
• • • •
Alle Ergebnisse werden gesammelt und aufgeschrieben. Rechtschreibfehler werden korrigiert. Aufteilung: Jeder in der Gruppe erhält einen Versuch. Der Versuch wird ordentlich auf ein kariertes Blatt geschrieben und etwas dazu gemalt. • Jede Gruppe erhält einen farbigen Plakat-Karton, auf das die Blockblätter geklebt werden. • Gemeinsam wird eine Überschrift und die Anordnung der Versuche überlegt. So ist es einerseits jedem Schüler möglich, sich tiefer mit einem bestimmten Versuch auseinander zu setzen und diesen nachzubereiten. Andererseits werden gemeinsam die Experimente in der Gruppe reflektiert und die Präsentation der Erkenntnisse vorbereitet. Letztendlich kann jede Gruppe ein schön gestaltetes Plakat präsentieren und so auch schon die Neugierde für gemeinsame Besprechung und Präsentation vor den Mitschülern wecken
Präsentation Donnerstag – 2 Stunden: Die Stunde beginnt mit der Feststellung, dass bis jetzt jede Gruppe nur ihre eigenen Ergebnisse kennt und dass es doch schön wäre, auch die Ergebnisse der anderen Gruppen zu erfahren. Dabei wird den Schülern schnell bewusst, dass es nicht sinnvoll ist, die Plakate kommentarlos zum Betrachten an die Tafel zu hängen. Und so kommt Caro auf eine Idee:
Präsentation
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8 Aktuelle Methoden I – Projekte Caro: „Das gibt doch das totale Gedränge vor der Tafel.“ L: „Jede Gruppe ist doch Experte auf ihrem Gebiet ....“ Caro: „Wir können es ja so machen, dass jede Gruppe den anderen ihr Plakat vorstellt.“
Plakate für die Präsentation vor der Klasse
Diesem Vorschlag stimmt die Klasse zu. So kann jede Gruppe ihre Erfahrungen und Ergebnisse den Anderen der Reihe nach vorstellen. Sie erzählen, wie sie bei den Experimenten vorgegangen sind und welche Resultate sie erzielt haben. Auf diese Weise ist es möglich, die in Gruppen erarbeiteten Erkenntnisse im Klassenverband zu besprechen und zu reflektieren, so dass jedes Kind Zugang zum gesamten erworbenen Wissen bekommt.
Vertiefung im Klassengespräch
Der zweite Teil der Stunde dient der Vertiefung der Energieproblematik. Ziel ist es, das Sachstrukturdiagramm (Abb. 4.4) gemeinsam an der Tafel zu entwickeln. Dazu heftet die Lehrerin eine Wortkarte mit dem Begriff „Energie“ an und stellt ihn zur Diskussion: L: „Überlegt einmal, wo ihr heute schon Energie gebraucht habt.“ Isabella: „Wenn man mit dem Auto in die Schule fährt.“ L: „Für was braucht denn das Auto die Energie?“ Caro: „Damit es sich bewegt.“
Relevantes Vorwissen
So können nach und nach die verschiedenen Energieformen (Strom, Bewegung, Licht, Wärme) gefunden und erörtert werden, bevor das Klassengespräch dann auf die verschiedenen Energiequellen gelenkt wird. Dabei steht vor allem die Frage im Mittelpunkt, wo der „Strom“ herkommt, wobei die Schüler eine reichhaltiges Spektrum an Vorwissen aufzeigen: Isabella: „Kohle, In einer Fabrik wird Kohle umgewandelt in Strom.“ Max: „In Kraftwerken wird Strom erzeugt, da werden Atome gespalten und so Energie erzeugt.“ Jonathan: „Wasser, Wasserkraftwerke. In schnellen reißenden Flüssen, da sitzt dann ein Dynamo drinne, wie beim Fahrrad und das Wasser treibt ihn an.“
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Nachdem die wichtigsten Energiequellen an der Tafel stehen und in die drei Gruppen (fossile Energie, alternative Energie und Kernenergie, siehe Abb. 4.4) eingeteilt sind, äußern sich die Schüler zu dieser Anordnung. Es werden Probleme und Vorteile der verschiedenen Energieträger thematisiert. In der weiteren Diskussion wird nun die Energieproblematik verallgemeinert und das Gespräch von Problemen und Gefahren hin zur Verfügbarkeit der Energieträger gelenkt. So wird der Bogen von Energieverbrauch und Energiebewusstsein zurück zum Thema der Unterrichtseinheit (Die Sonne schickt uns keine Rechnung) geschlagen.
Praxisnahe Diskussion
Dabei wird mit Grundschülern die gesellschaftliche und persönliche Bedeutungen der Energieproblematik angesprochen und basierend auf den im und außerhalb des Unterrichts gemachten Erfahrungen das Thema konkretisiert und lebensnah ins Bewusstsein der Schüler gerufen.
Gesellschaftlicher und persönlicher Bezug des Projektthemas
Projektabschluss Freitag – 2 Sunden: Der letzte Tag der Schulwoche bildet einen ersten Abschluss des Projektes. An Hand des am Vortag entstandenen Tafelbildes (vgl. Abb. 4.4) wird noch einmal die Energiethematik aufgegriffen und reflektiert. Gemeinsam wiederholen Schülerinnen und Schüler, woraus man Energie gewinnen kann und in welchen Formen uns Energie im täglichen Leben begegnet. Natürlich diskutieren wir nochmals ausführlich die Problematik unseres hohen Energieverbrauchs und die Probleme der Energiegewinnung, um abschließend festzustellen, wie wichtig dieses Thema und Lösungsmöglichkeiten für die Zukunft sind. Zum Schluss sammeln die Kinder Beispiele, wie man die Sonne im Alltag nutzen könnte: „Im Sommer Kühlung im Auto durch Solarventilator“ oder „SonnenDusche“ sind nur zwei von vielen Vorschlägen der Kinder.
Projektabschluss
Präsentation auf dem Schulfest Am Wochenende findet dann die Präsentation auf dem Schulfest statt. Bereits am Vormittag treffen wir uns im Klassenzimmer und beginnen mit den Vorbereitungen. Die Gruppenplakate werden in die Mitte der Tafel unter die Überschrift „Die Sonne schickt uns keine Rechnung“ geheftet. Der linke Tafelflügel ist für die Wortkarten zur Energieproblematik vorgesehen und auf der rechten Seite ist Platz für Schülerzeichnungen. Der selbstgebaute Sonnenkollektor, der Sonnentrichter, der alte Autoscheinwerfer mit Reagenzglas und der Sonnenventilator und weitere Versuche werden auf den Tischen vor der Tafel aufgebaut.
Präsentation in der Öffentlichkeit
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8 Aktuelle Methoden I – Projekte
Abb 8.5.: Schwarzer Karton wird schneller warm als weißer
Interesse und Anerkennung der Besucher
Eifrig erklären die Schüler den Eltern und Besuchern ihre Versuche und Plakate. Die Erwachsenen sind selber überrascht, was man mit der Sonne alles machen kann, und die Schüler präsentieren voller Stolz ihre Ergebnisse. Das Interesse und die Anerkennung der Besucher zeigt den Schülern den Ernstcharakter ihrer Arbeit und bildet einen gelungenen Abschluss der Projektwoche.
8.1.4 Schülerexperimente Ein wichtiger Bestandteil der Projektwoche sind die Schülerversuche. Sie sollen den Schülern die Möglichkeit geben, sich selbstständig mit dem Thema auseinander zu setzen, um so spielerisch eigene Erfahrungen zu sammeln. Im Folgenden werden einige der vier bis fünf Versuche der einzelnen Gruppen kurz dargestellt, die auf den Experimentierkarten angegeben waren.
Die Kollektor-Gruppen Das Ziel der „Kollektorgruppe“ ist es, die wärmenden Wirkung der Sonnenstrahlung durch spezielle Versuche zu erfahren und so zum Bau eines Sonnenkollektors und zur Wassererwärmung auszunutzen. Der erste Versuch ist recht einfach. Die Schüler legen je ein Thermometer in ein weißes und ein schwarzes, gefaltetes Blatt (siehe Abb. 4.5) und stellen fest, dass im schwarzen Papiers eine höhere Temperatur erreicht wird. Im nächsten Versuch wird der Treibhauseffekt untersucht. Dazu messen die Schüler die Temperatur in zwei offenen, schwarz ausgelegten Schuhkartons, von denen einer mit einer Glasscheibe überdeckt ist. Sie stellen dabei fest, dass die Temperatur im inneren des glasbedeckten Kartons deutlich größer wird.
selbstgebauter Sonnenkollektor
Nach diesen Vorarbeiten fertigen die Schüler einen einfachen Sonnenkollektor an. Sie legen in den Karton mit Glasdeckel zusätzlich einen gewundenen Schlauch und befestigten diesen mit Klebeband. Das untere Ende wird mit einer Schlauchklemme verschlossen. Durch einen Trichter kann Wasser eingefüllt und nach einiger Zeit wieder abgelassen werden. Es werden durchaus „Badewannentemperaturen“ von über 30° erreicht.
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351 Abb.8.6.: Autoscheinwerfer und Linse eines Arbeitsprojektors erwärmen Wasser
Die Brennglas- Gruppe Diese Gruppe untersucht die Wirkung von Lupen. Die Kinder beobachten, dass das „Sammeln“ der Sonnenstrahlung im Brennpunkt zu deutlich höheren Temperaturen führt. Für die meisten Schüler ist es am interessantesten, mit Hilfe der Lupe ein Blatt Papier oder Streichhölzer zu entzünden. Auch diese Gruppe entwickelt ein Experiment zur Wassererwärmung. Mit einem Holzgestell wird ein Reagenzglas im Brennpunkt einer alten Arbeitsprojektorplatte (Fresnel-Linse) positioniert (s. Abb. 4.6). Durch die Fokussierung gelingt es, Wasser bis auf 60° zu erwärmen.
Die Hohlspiegel-Gruppe Die Kinder der Hohlspiegelgruppe sammeln Erfahrung zur Reflexion von Licht. Dazu untersuchen sie, wie man die Sonnenstrahlen mit einem Spiegel auch in schattige Ecken lenken kann. Das mit Taschenspiegeln reflektierte Licht kann nur einen kleinen Fleck erhellen. Daher basteln die Kinder als nächstes einen großen Spiegel aus Karton und Alufolie. Dieser liefert zwar kein gutes Spiegelbild, kann aber durchaus zum Umlenken des Sonnenlichts benutzt werden. Durch ihre Experimentierkarte werden die Schüler dazu angeregt, den Kartonspiegel zu einem Trichter zu rollen und ihn mit der großen Öffnung in Richtung Sonne zu halten. Die fokussierende Wirkung am engen Ende kann mit der Fingerspitze überprüft werden und es wird auch „richtig heiß“.
Sonnentrichter
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Reflektor eines Autoscheinwerfers
8 Aktuelle Methoden I – Projekte Dann baut die Gruppe aus einer Styroporhalbkugel einen richtigen Hohlspiegel und auch hier wird, wie in der Lupen-Gruppe, der Brennpunkt untersucht. Außerdem wird mit dem Reflektor eines Autoscheinwerfers vom Schrottplatz oder Autorecycling experimentiert (s. Abb. 8.6). Auch dieser ist, wie die Fresnel-Linse in einem Holzgestell montiert und im Brennpunkt ist ein Reagenzglas angebracht. Wieder kann Wasser erwärmt und Papier entzündet werden. Dies geht noch schneller als bei dem Versuch mit der Arbeitsprojektorplatte.
Die Solarzellen-Gruppe Die Schüler dieser Gruppe überlegen sich, welche Versuche sie mit Solarzellen durchführen können. Zuerst wird ein Motor mit Solarzellen betrieben. An der Motorwelle ist eine Scheibe angebracht, auf der verschiedene Dinge aufgeklebt oder angeheftet werden (z.B. gemalte Blüten oder Spiralen). Als erstes sollen die Schüler herausfinden, wann sich der Motor am schnellsten dreht. Dazu untersuchen sie, wie gut sich der Motor im direkten Sonnenlicht oder im Klassenzimmer betreiben lässt. Außerdem probieren sie, was passiert, wenn die Sonnenstrahlen unter verschiedenen Winkeln auf die Solarzellen treffen. Weiterhin können zum Beispiel Akkus für einen Walkman in einem von Solarzellen betriebenen Ladegerät geladen werden oder es kann ein Ventilator an den Motor gebaut werden. Die Experimente dieser Gruppe sind recht einfach durchzuführen und eigenen sich daher besonders für schwächere Schüler. Andererseits können die Kinder hier selbst viele eigene Ideen verwirklichen.
8.1.5 Zusammenfassung Thema gut als Projektwoche durchführbar
„Die Sonne schickt uns keine Rechnung“ ist als Projektwoche gedacht und lässt sich auch erfolgreich im dafür vorgesehenen Zeitrahmen durchführen. Dabei lässt sich der Ablauf des Projektes von der Initiative über Planungs- und Handlungsphase hin zur Diskussion und Präsentation der Ergebnisse sehr gut in die Praxis umsetzen. Am Experimentiertag ist gutes Wetter sehr wichtig, da Wolken und mangelnde Sonneneinstrahlung zu unzureichenden Ergebnissen führen und sich somit negativ auf die Motivation der Schüler auswirken können. Besonders die eindrucksvollen Versuche verlieren an Faszinationskraft, wenn die Sonnenstrahlung nicht reicht, um Wasser zum Sieden oder Holz zum Schwelen zu bringen. Die Experimentieraufgaben werden ohne größere Probleme selbstständig bearbeitet, wobei gute Schüler den Schwächeren helfen und
8.1 „Die Sonne schickt uns keine Rechnung“ – eine Projektwoche 603 604 605 606 607 608 609 610 611 612 613 614 615 616 617 618 619 620 621 622 623 624 625 626 627 628 629 630 631 632 633 634 635 636 637 638 639 640 641 642 643 644 645
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der Lehrer im Hintergrund bleiben kann. Sie bilden eine solide Wissens- und Erfahrungsgrundlage, auf welche die Schüler in den nachfolgenden Projekttagen gut aufbauen können. Durch den hohen Anteil an Eigenverantwortung und selbständiger Arbeit ist die Motivation und Aufmerksamkeit der Schüler besonders hoch. Sie arbeiten aktiv mit, bringen viele eigene Ideen ein und vermitteln diese auch ihren Mitschülern. Schon bei den Experimenten beobachten die Schüler aufmerksam die anderen Gruppen und tauschen Aufgabenstellungen und Beobachtungen untereinander aus. Die Vorstellung der Ergebnisse und Präsentation der Plakate wird mit Begeisterung durchgeführt und mit großem Interesse von dem Mitschülern verfolgt. Es gab sogar „gruppenfremde“ Schüler, die sich an der Erklärung von Experimenten beteiligten und ihre Beobachtungen einbrachten, um so zur Klärung der Probleme beizutragen.
Erhöhte Motivation und Aufmerksamkeit durch Selbstverantwortung
Dies alles schlägt sich positiv im Lernerfolg der Schüler nieder. Ein fünf Tage nach dem Projekt durchgeführter Wissenstest zeigte, dass fast alle Schüler Versuche und Ergebnisse der anderen Gruppen gut wiedergeben konnten. Defizite bei leistungsschwachen Schülern waren meist gruppen- und themenunabhängig.
Positive Lernerfolge
Abschließend lässt sich sagen, dass die Durchführung des Projekts Schülern, Lehrern und Eltern (auf dem Schulfest) viel Spaß macht. Neben den thematischen Schwerpunkten Umwelterziehung und Energieproblematik nehmen die Kinder spielerisch Kontakt mit den Arbeitsweisen der Naturwissenschaften auf. Die Experimentieraufgaben werden nicht einfach abgearbeitet. Die Schüler planen ihre Experimente, entwickeln selbstständig Versuchsaufbauten und dokumentieren ihre Ergebnisse. Die Gruppenarbeit führt zum engen sozialen Kontakt und so zu einer gemeinsamen Verantwortung für die Durchführung und Auswertung der Experimente. Die anschließende Diskussion kann als Forum einer kleinen „wissenschaftlichen Gemeinschaft“ gesehen werden. Mit diesem Projekt gelingt es, neben den sachlichen Inhalten auch wissenschaftstheoretische Grundbegriffe zu thematisieren. Somit ist es nicht nur eine empfehlenswerte Einführung in die Projektarbeit, sondern vermittelt den Grundschülern und Grundschülerinnen zusätzlich erste Grundlagen für das Verständnis der Natur der Naturwissenschaften. N.S.: Wir gehen davon aus, dass das Projekt und die vorgeschlagenen Experimente auch für Schülerinnen und Schüler im 5./6. Schuljahr relevant un interessant sind.
Gelungene Einführung in wissenschaftliche Arbeits- und Denkweisen
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8 Aktuelle Methoden I – Projekte Thomas Wilhelm
8.2 Projekt „Induktionsmotore“ Das Projektthema
In diesem Projekt geht es um die vielen technischen Anwendungen des thematischen Bereichs „Kraft auf einen stromdurchflossenen Leiter/Induktion/lenzsche Regel“. Aus der Fülle der möglichen Anwendungen können die Schüler frei auswählen. Viele Anwendungen beruhen darauf, dass durch ein räumlich veränderliches Magnetfeld eine Bewegung aufgrund von elektromagnetischer Induktion entsteht. Deshalb wurde das Projekt „Induktionsmotore“ genannt. Da Induktionsmotore einen sehr einfachen Aufbau haben, eignen sie sich besonders gut zum Nachbau durch die Schüler. Motivierend ist dabei nicht nur der Bezug zur realen Welt, sondern wohl auch die Tatsache, dass es sich z.T. um selbst entwickelte „Geräte“ und Experimente handelt, die üblicherweise im Physikunterricht nicht vorkommen. Das Projekt wurde in einer 10. Klasse des Gymnasiums erprobt; aufgrund der fachlichen Komplexität bietet diese Thematik auch Schülern der gymnasialen Oberstufe noch genügend intellektuelle Herausforderung.
8.2.1 Fachliches – Ideen für Schüleraktivitäten Es gibt verschiedene Elektromotore
In den Schulbüchern für den Physikunterricht der S I werden i. Allg. nur Elektromotore mit einem räumlich konstanten Magnetfeld im Ständer behandelt, nämlich der Gleichstrommotor (als Außenpolmotor mit Dauermagneten) und evtl. der Wechselstrommotor als Hauptschlussmotor (Universalmotor), wobei stets Schleifkontakte und Polwender verwendet werden. Untersucht man aber Elektrogeräte, wie sie in jedem Haushalt verwendet werden, findet man u.a. Motore ohne Schleifkontakte und Polwender, die ein räumlich veränderliches Magnetfeld im Ständer haben. Das Magnetfeld im Läufer wird entweder durch Dauermagnete (Synchronmotor) oder induktiv (Asynchronmotor = Induktionsmotor) erzeugt. Gerade bei den Induktionsmotoren (Drehstrommotor, Spaltpolmotor, Linearmotor etc.) finden wir viele verschiedenartige Anwendungen des Themengebietes.
Drehstrommotor
1. Schüler können im Projekt einen einfachen Drehstrommotor improvisieren, bei dem ein Aluminiumdöschen eines Teelichtes als Kurzschlussläufer verwendet wird (s. 8.2.2). Das rotierende Magnetfeld induziert im Aluminiumdöschen einen Strom, der wiederum eine Kraft bzw. Bewegung hervorruft, so dass das Döschen dem Magnetfeld nach der lenzschen Regel folgt. In einem Projekt können
8.2 Projekt „Induktionsmotore“ 689 690 691 692 693 694 695 696 697 698 699 700 701 702 703 704 705 706 707 708 709 710 711 712 713 714 715 716 717 718 719 720 721 722 723 724 725 726 727 728 729 730 731
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die Schüler selbst ähnliche Induktionsmotore (= Asynchronmotore) bauen. Anstatt die Spulen der Schulsammlung zu verwenden, können auch selbst Spulen gewickelt werden; statt dem Aluminiumdöschen kann ein Käfiganker gebaut werden, der effektiver ist. 2. Auch einen Spaltpolmotor kann man als ein Funktionsmodell im Unterricht vorführen. Bei ihm wird eine Phasenverschiebung zwischen zwei Magnetfeldern dadurch erreicht, dass um den halben Eisenkern einer Spule einige Metallwicklungen gewickelt werden, in denen ein Strom induziert wird (s. 8.2.2). Dieser erzeugt ein Magnetfeld, das dem ursprünglichen entgegengerichtet ist, so dass dessen Auf- und Abbau verzögert wird. Das Gesamtmagnetfeld auf dieser Seite des Eisenkerns hinkt dann der anderen Seite hinterher, und nach der lenzschen Regel folgt der „Läufer“ diesem elliptisch rotierenden Magnetfeld. Hierzu können von den Schülern leicht Varianten realisiert werden, bei denen man auch mit einphasiger Wechselspannung auskommt (s. Wilhelm 2002a). Man kann z.B. vor die Hälfte des Eisenkerns einer Spule eine Aluminiumplatte bringen, in der dann auch Wirbelströme induziert werden. Dadurch wird genauso eine Phasenverschiebung der Teilmagnetfelder erzeugt, um damit ein Aludöschen eines Teelichtes rotieren zu lassen. Schließlich kann man auch zwei Spulen an die gleiche Wechselspannung anschließen und vor die eine der beiden Spule noch eine weitere, kurzgeschlossene Spule zum Induzieren eines phasenverschobenen Stromes stellen. Führt man das Projekt in der 12. Jahrgangsstufe durch, ist es auch möglich, eine Phasenverschiebung des Magnetfeldes zwischen zwei Spulen statt durch Drehstrom mit einer Wechselspannung unter Verwendung eines Kondensators zu erzeugen.
Einphasige Induktionsmotore
Laugenpumpenmotor einer Waschmaschine als Spaltpolmotor
3. In einem Projekt kann eine Schülergruppe auch einen der vielen Elektro-Bastelmotore aufbauen, wie sie z.B. von www.opitec.de, www.eschke.com und insbesondere www.traudl-riess.de mit unterschiedlicher Funktionsweise und mit unterschiedlich großem Bastelaufwand angeboten werden. Das sind zum einen Stromunterbrechermotore (z.B. Stieglermotor, Reedkontaktmotore, Halbwellenmotor), die leicht zu verstehen sind, aber auch Stromwendermotore, die mit Permanatmagneten oder Elektromagneten erregt werden. Erfahrungsgemäß macht der Bau den Schülern viel Spaß. Fast genauso einfach können Schüler einen Schrittmotor bauen (Wimber 1988).
Bastelmotore
4. Eine weitere mögliche Projektaktivität ist die Erläuterung der vielen Fachbegriffe, die es zu Elektromotoren gibt, um so eine Art Lexikon zu erstellen (s. 8.2.3). Interessant ist auch, die Vor- und Nachteile oder die Anwendungsgebiete verschiedener Elektromotore
Lexikon erstellen
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8 Aktuelle Methoden I – Projekte zusammenzustellen. Ein interessierter Lehrer findet einen kurzen Überblick über Aufbau und Wirkungsweise der verschiedenen Elektromotore und weiterführende Literaturangaben bei Berge (1988).
Woher kommt die elektrische Energie?
5. Eine weitere nicht-experimentelle Aufgabe: Woher kommt die elektrische Energie des Schulortes bzw. Heimatortes? Wie wird sie erzeugt? Denn kein Haushalt kommt heute ohne elektrische Energie aus, die wir zum Kochen, Kühlen, Beleuchten, im Beruf und in der Freizeit benötigen. Schüler und Schülerinnen berechnen, was eine kWh bei verschiedenen Anbietern kostet, und unterscheiden, was Kleinverbraucher und was Großverbraucher zahlen müssen.
Bau eines Wechselstromzählers
6. Den Schülern ist natürlich bekannt, dass Energie„verbrauch“ Geld kostet. Deshalb befindet sich in jedem Haus ein Messgerät, das umgangssprachlich „Stromzähler“ genannt wird. Dieser Wechselstromzähler ist auch eine Art Induktionsmotor. Hier entsteht die Bewegung des Kurzschlussläufers dadurch, dass die Stromspule und die Spannungsspule einen phasenverschobenen Strom und damit ein phasenverschobenes Magnetfeld haben. Insgesamt ergibt das ein elliptisch rotierendes Gesamtmagnetfeld, dem der Läufer folgt. Wie in 8.2.3 gezeigt wird, können die Schüler ein solches Zählermodell mit dem Aludöschen eines Teelichtes aufbauen und damit nachweisen, dass die Anzahl der Umdrehungen pro Minute proportional zur „verbrauchten“ Leistung ist. Dieser Proportionalitätsfaktor ist die sogenannte Zählerkonstante des Zählers und kann genutzt werden, um damit den Energiebedarf unbekannter Glühbirnen zu messen.
Fächerübergreifend: Energiebedarf
7. Mit einem professionellen Zähler, den man billig kaufen oder bei Stadtwerken ausleihen kann, lässt sich sogar der Energiebedarf vieler verschiedener Elektrogeräte im Haushalt messen und vergleichen. Als nicht-experimentelle Aufgabe kann der jeweils vom Hersteller angegebenen Energiebedarf bzw. die angegebene Leistung verschiedener Elektrogeräte verglichen werden. Interessant ist auch festzustellen, an welchen Geräten sich in den letzten zehn Jahren (oder letzten Jahrzehnten) etwas geändert hat. Schließlich ist es auch sinnvoll, wenn sich die Schüler überlegen, wo man im Haushalt Energie sparen kann, da Umweltschutz und Energiesparen heute immer wichtiger werden.
Asynchrone Linearmotore
8. Ein ganz besonderer Induktionsmotor, der auch leicht zu verstehen ist, ist der asynchrone Linearmotor. Hier gibt es prinzipiell zwei experimentelle Realisierungen: -
Schüler verwenden einen Fahrweg aus Aluminium und setzen in das Fahrzeug die mit Drehstrom versorgten Elektromagnete.
8.2 Projekt „Induktionsmotore“ 775 776 777 778 779 780 781 782 783 784 785 786 787 788 789 790 791 792 793 794 795 796 797 798 799 800 801 802 803 804 805 806 807 808 809 810 811 812 813 814 815 816 817
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Sie bauen die Elektromagnete in den Fahrweg und das Fahrzeug besteht im wesentlichen aus einer Aluminiumschiene.
Die erste Variante wird gelegentlich als Facharbeitsthema in Leistungskursen vergeben, wobei die Spulen selbst hergestellt werden. Diese experimentelle Aufgabe ist auch in einem Projekt sinnvoll. 9. Fächerübergreifende nicht-experimentelle Aufgaben sind eine ökologische Bewertung des Transrapidsystems (wozu die Aspekte Energieverbrauch, Schadstoffemission, Lärm und Landschaftszerschneidung gehören), eine wirtschaftliche Bewertung und eine Betrachtung unter verkehrstechnischen und städtebaulichen Gesichtspunkten (s. Lukner 1995). Schüler und Schülerinnen können in diesem Zusammenhang verschiedene Antriebstechnologien wie Verbrennungsmotor (PKW), elektromagnetischer Antrieb (Transrapid oder Eisenbahn) und Flugzeuge vergleichen. Interessante Aspekte sind hier die Geschichte, die Geschwindigkeit, die Reichweite, der Energieverbrauch, der Wirkungsgrad, die Schadstoffemission, die Lärmbelästigung und insbesondere die Umweltbelastung. Der Transrapid steht immer wieder einmal in der politischen Diskussion, von der die Medien berichten. Dies spricht dafür, ihn auch im Unterricht zu behandeln, und dies erklärt vielleicht die hohe Motivation auf Seiten der Schüler.
Fächerübergreifend: Transrapid
Für dieses Projekt spricht insbesondere, dass es sehr viele verschiedene Möglichkeiten für Schüleraktivitäten und Durchführungsvarianten gibt. Je nach Interesse und Vorliebe der Schüler können sie unterschiedliche Aspekte wählen. Es gibt bei dieser Thematik viele experimentelle und nicht-experimentelle Aufgaben mit qualitativen und quantitativen Ergebnissen.
Viele interessante Schüleraktivitäten
8.2.2 Lernvoraussetzungen für das Projekt Die Projektklasse des 10. Schuljahres des mathematisch-naturwissenschaftlichen Zweigs eines Gymnasiums mit 5 Mädchen und 17 Jungen galt als eher leistungsschwach. Im Folgenden werden die vorausgehenden zwei Stunden lehrerzentrierten Unterrichts skizziert, in denen die lenzsche Regel eingeführt wird; dabei wird auf viele Anwendungen hingewiesen. Durch diesen Überblick konnten die Schüler die anspruchsvolle, nicht schultypische Physik des Projektes schon in der 10. Jahrgangsstufe qualitativ verstehen und dann ein sie interessierendes Teilthema des Projektes auswählen.
Rahmenbedingungen
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8 Aktuelle Methoden I – Projekte
Einführung der lenzschen Regel
1. Als erstes wurden physikalische Grundlagen wiederholt. Eine Bewegung eines Leiters im Magnetfeld erzeugt durch Induktion einen Strom in diesem Leiter. Außerdem wirkt auf einen solchen stromdurchflossenen Leiter im Magnetfeld eine Kraft, die wiederum die Bewegung ändert. Wenn der Lehrer behauptet, dass mit dieser Rückkopplung sehr schnelle Bewegungen und große Ströme erreicht werden können, sollten die Schüler dagegen heftig protestieren: ein solches perpetuum mobile ist nicht möglich. Erst eine genaue physikalische Untersuchung mit Hilfe der „Drei-Finger-Regel“ ergibt, dass die Kraft die ursprüngliche Bewegung nicht verstärkt, sondern bremst. Damit ist eine elementare Form der lenzschen Regel gefunden.
Waltenhofensches Pendel
2. Eine Anwendung der lenzschen Regel ist das waltenhofensche Pendel. Bei diesem typischen Gerät der Lehrmittelfirmen schwingt eine Metallplatte zwischen den Polen eines starken Elektromagneten. Diese wird durch entstehende Wirbelströme abgebremst. Genutzt wird dieser Effekt z.B. bei Wirbelstrombremsen in Straßenbahnen oder um Schwingungen von Zeigerinstrumenten zu dämpfen. Verhindert werden solche Wirbelströme durch Unterteilung von Metallstücken in viele Lamellen, z.B. bei Transformatoren.
Stabmagnet wird durch Metallring bewegt, der sich mitbewegt.
3. Schon bei der Einführung der „Induktion im bewegten Leiter“ wird darauf Wert gelegt, dass es nicht auf die Bewegung vom Leiter oder Magneten ankommt, sondern auf deren Relativbewegung zueinander. Dies wird im folgenden Versuch demonstriert: ein Stabmagnet wird durch einen aufgehängten Metallring bewegt, von dem man zeigen kann, dass er nicht magnetisch ist. Der Ring bewegt sich in die Bewegungsrichtung des Stabmagneten. Der Induktionsstrom fließt also so, dass die dadurch entstehende Kraft die Relativgeschwindigkeit verkleinert. Es ist dabei nicht nötig, sich die Stromrichtung im Metallring zu überlegen.
Wirbelstrom und Magnetfeld Aluminiumdose folgt Magnetfeld
4. Beim nächsten Experiment wird ein drehbar gelagerter Stabmagnet neben ein leeres Teelicht-Aluminiumdöschen gestellt, das umgekehrt auf einer Nadel liegt (s. Marhenke 1996a, 33). Versetzt man den Stabmagneten in Drehung, dreht sich das Aluminiumdöschen mit. Man kann es auch so interpretieren: Bewegt sich wie im vorhergehenden Versuch ein Magnet am Döschen vorbei, bewegt es sich mit, so dass sich auch hier eine Relativbewegung verkleinert. Durch ein zwischen Magnet und Döschen gestelltes Stück Pappe wird gezeigt, dass es nicht der Luftzug ist, der das Döschen mitnimmt (siehe Abbildung links). Die Anwendung der lenzschen Regel erspart Überlegungen, wie der Induktionsstrom fließt und wie die Kraft wirkt.
8.2 Projekt „Induktionsmotore“ 861 862 863 864 865 866 867 868 869 870 871 872 873 874 875 876 877 878 879 880 881 882 883 884 885 886 887 888 889 890 891 892 893 894 895 896 897 898 899 900 901 902 903
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Dieses Experiment demonstriert schon das Prinzip des Linearmotors, wie es bei manchen Schienenfahrzeugen verwendet wird und es weist auf die Magnetschwebebahn Transrapid hin (die aber durch einen synchronen Linearmotor betrieben wird). Dazu stellt man sich das Alu-Döschen zu einem langen Fahrzeug aufgeschnitten vor, das sich bei Rotation des in der Fahrbahn befindlichen Magneten verschiebt (wobei aber beim Transrapid statt einem Aluminiumblech ein Läufer aus Elektromagneten – nämlich den Tragmagneten – benutzt wird). Der rotierende Dauermagnet wird außerdem durch drei hintereinander stehende Elektromagnete ersetzt, die mit Drehstrom betrieben werden. Für den älteren Bautyp eines Schienenfahrzeugs mit Linearmotor hält man umgekehrt das Aluminiumteil als lange Schiene fest und stellt sich stattdessen unter dem Stativ des rotierenden Magneten Räder vor; so fährt dieser als Fahrzeug an der Schiene entlang.
Prinzip des Linearmotors
5. Eine Variation des letzten Versuches ist, nun über das Aluminiumdöschen einen Hufeisenmagneten an eine Schnur zu hängen, die man verdrillt, so dass sich der Hufeisenmagnet zu drehen beginnt. Auch hier bewegt sich das Döschen mit dem Magneten mit (dies ist die Umkehrung des Aragoschen Experimentes) (s. Wilke 1995, 35 ff.). Das ist schon ein Modell für einen Drehstrommotor. Während es ohne Veranschaulichung schwierig ist, sich ein drehendes Magnetfeld vorzustellen, ist dies hier offensichtlich. Anwendung fand dieser Aufbau früher im Auto beim Tachometer, bei dem sich ein Magnet in einer Aluminiumhülse dreht, an der wiederum ein Zeiger befestigt ist, wobei allerdings die Aluminiumhülse von einer Feder gehalten wird (s. Schuldt 1988, 40).
Teelichtdose folgt rotierendem Magnetfeld
6. Um es nicht nur bei diesem Modell eines Drehstrom-Asynchronmotors zu belassen, wird ein weiteres Modell eines Drehstrommotors gebaut. Das Aluminiumdöschen des Teelichtes wird wieder als Kurzschlussläufer verwendet und der rotierende Hufeisenmagnet durch drei Elektromagnete (Spulen mit 600 oder 1200 Windungen) ersetzt, an die eine im Physikraum vorhandene Drehstromquelle mit geringen Spannungen (z.B. 23 V) angeschlossen wird. Dem mit 50 Hz rotierenden, zweipoligen Magnetfeld folgt der Kurzschlussläufer mit wesentlich geringerer Winkelgeschwindigkeit. Das rotierende äußere Magnetfeld kann man illustrieren, indem man als Läufer statt dem Aludöschen eine Magnetnadel verwendet. Ohne Reibung würde sich diese synchron mit dem äußeren Magnetfeld mit 50 Hz mitbewegen. Im Aufbau ist dieser Motor sicher einfacher als die Gleich- und Wechselstrommotore, die vorher behandelt wurden.
Modell eines Drehstrommotors
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8 Aktuelle Methoden I – Projekte Technisch wichtig ist, dass es hier keinen Verschleiß von Schleifkontakten gibt und die Motore geräuscharm und ohne Funkstörung laufen.
Modell eines Spaltpolmotors
7. Schließlich kann man bei diesem Überblick über verschiedenartige Elektromotore auch noch das Modell eines Spaltpolmotors besprechen. Hier wird nur eine Spule mit zwei halben „Eisenkernen“ (bestehend aus etlichen Stahlnägeln) verwendet, wobei sich über einer Hälfte des „Eisenkerns“ noch ein Metallring (bestehend aus Kupferband und/oder Kupferdraht) befindet, der durch Induktion eine Phasenverschiebung des Magnetfeldes bewirkt (s. Marhenke 1996a, 32). Auch bei diesen zwei Spulenhälften läuft ein Magnetfeld am Aluminiumdöschen vorbei, so dass letzteres sich nach der lenzschen Regel mitbewegt. Schülerinnen und Schüler lernten in den zwei hier skizzierten Stunden die lenzsche Regel in einer elementaren Form kennen: ein elektrischer Leiter wie Aluminium läuft einem sich bewegenden Magnetfeld aufgrund eines entstehenden Induktionsstromes und der daraus folgenden Kraft nach bzw. wird von dem Magnetfeld mitgenommen. Dieses Wissen brauchten die Schüler zum Verständnis und zur Konzeption von Asynchronmotoren, von Wechselstromzählern und von Linearmotoren. Hilfreich dafür war sicherlich auch, dass sie wichtige Bauteile und Geräte in experimentellen Anordnungen eingebunden sahen und typische Handlungen mit diesen beobachten konnten.
8.2.3 Schüleraktivitäten in den Gruppen Ablaufplan und Zeitbedarf
Nach dem fachlichen Überblick folgte eine kurze Einführung über Projekte: „Was ist ein Projekt?“, „Wie wird ein Projekt durchgeführt?“. Die Schüler bekamen völlige Freiheit, welches Thema zur Induktion sie intensiver behandeln wollen. Nach einiger Diskussion kristallisierten sich die Themen und die Gruppen heraus. Die einzelnen Gruppen hatten dann sechs Schulstunden zur Projektarbeit und eine zur Vorbereitung der Präsentation zur Verfügung. Eine letzte Schulstunde diente der Präsentation vor der Klasse und der „Manöverkritik“.
Die Gruppeneinteilung
Die fünf Schülerinnen der Klasse erklärten gleich am Anfang definitiv, dass sie nichts bauen und nichts Experimentelles machen werden, sondern etwas Theoretisches bearbeiten wollen. Die Jungen wollten alle unbedingt etwas bauen, d.h. ein experimentelles Teilthema des Projektes durchführen. Dabei waren sie in der Vorbesprechung sehr optimistisch, was alles durchführbar ist. Sehr bald kam der Vorschlag, eine Magnetschwebebahn zu bauen, die gerade auch
8.2 Projekt „Induktionsmotore“ 947 948 949 950 951 952 953 954 955 956 957 958 959 960 961 962 963 964 965 966 967 968 969 970 971 972 973 974 975 976 977 978 979 980 981 982 983 984 985 986 987 988 989
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wieder in der politischen Diskussion stand. Dies stieß auf Skepsis bei mir und große Begeisterung der Schüler. Schließlich bildeten sich folgende fünf Gruppen: „Lexikon für Elektromotore“, „Bau eines Wechselstromzählers“, zwei Gruppen „Linearmotor“ und „Darstellung des Projektes auf der Homepage der Schule“. Bei der Gruppe „Linearmotor 1“ sollten die Magnetspulen im Fahrweg, bei der Gruppe „Linearmotor 2“ im Fahrzeug sein. Grobstruktur des Projektes: 1. und 2. Std.
Vertrautwerden mit dem Themengebiet: Behandlung der lenzschen Regel mit Ausblick auf viele Anwendungen, Projektinitiative
3. Std.
Auseinandersetzung mit der Projektinitiative und Erstellung eines Projektplanes
4. bis 9. Std.
Projektdurchführung
10. Std.
Vorbereitung der Projektpräsentation
11. Std.
Projektpräsentation und Reflexion
Die Gruppe „Lexikon über Elektromotore“ Den Schülerinnen wurden verschiedene Vorschläge gemacht, wobei sie den Vorschlag, Erklärungen für Fachbegriffe zum Elektromotor zu schreiben, gerne aufnahmen. Es wurden einige Begriffe vorgegeben und viele weitere Begriffe fanden sich auf der Suche nach Erklärungen. Eine Schülerin schrieb in ihrem Bericht: „Unsere Gruppe hatte die Aufgabe, Informationen über Begriffe zum Elektromotor zu sammeln. Diese bezogen wir aus dem Internet, Fachliteratur und Lexika. In einigen Fachbüchern war es schwer, geeignete Definitionen zu finden, da diese so kompliziert waren, dass sie wahrscheinlich nur der Physiklehrer verstanden hätte. Wir haben alle Begriffe verständlich definiert, alphabetisch geordnet und katalogisiert. Einige Begriffe wurden noch mit Bildern ergänzt.“
Arbeitsauftrag der ersten Projektgruppe
Die Schülerinnen arbeiteten bei diesem Projekt sehr selbstständig. Sie schätzten es, dass sie ohne die Jungen allein in der Schülerbibliothek arbeiten konnten. Da sie allerdings in der Schülerbibliothek der Schule kaum etwas fanden, suchten sie in ihrer Freizeit im Internet und in der Stadtbücherei. Von mir als Lehrkraft brauchten sie nur zweimal Hilfe: Einmal wollten sie nochmals in der Schule ins Internet, was zufällig nicht möglich war. Ferner verwirrte es die Schülerinnen, dass statt „-motor“ überall „-maschine“ stand. Da zum Zeit-
Probleme der Projektgruppe
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8 Aktuelle Methoden I – Projekte punkt des Projektes der Generator noch nicht behandelt war, konnten die Schülerinnen nicht wissen, dass „Maschine“ der Oberbegriff für „Motor“ und „Generator“ ist. Für sie reichte es zu wissen, dass sie für „-maschine“ einfach „-motor“ setzen konnten. Die Schülerinnen waren insgesamt sehr bemüht. Doch war es für sie sehr schwer, verständliche Erläuterungen für die Fachbegriffe zu schreiben.
Preisvergleich verschiedener Stromanbieter
Schließlich waren die Schülerinnen mit ihrer Aufgabe etwas früher fertig als die anderen Gruppen. Daher machten sie noch einen Preisvergleich verschiedener Stromanbieter bei verschiedenen Tarifen.
Die Gruppe „Wechselstromzähler“
1 bis 3 Glühlampen 6 V / 2,4 W
Modellversuch: „Wechselstromzähler“
Die sechs Schüler dieser Gruppe bekamen nur eine Schaltskizze. Als Ziel wurde festgelegt nachzuprüfen, ob die Anzahl der Umdrehungen in einer bestimmten Zeitspanne proportional zur Leistung der angeschlossenen Glühlampen ist (s. Marhenke 1996b, 14). Die Schüler gingen mit Begeisterung ans Werk und genossen es, mit Hammer und Nägeln die Versuchsteile auf einer Holzplatte zu fixieren. Dann jedoch frustrierte sie, dass der „Wechselstromzähler“ nicht sofort funktionierte. Ein Grund war das Problem, eine sehr kleine Delle in das Aluminiumdöschen des Teelichtes zu drücken als Auflagepunkt für die Nadel, ohne dass ein Loch entstand. Dies gelang erst nach mehreren Versuchen. Einige Schüler hatten im Projekt überraschend große Probleme mit der Feinmotorik, so dass das Aluminiumdöschen zunächst immer zerdrückt war. Ein anderes Problem war, dass die einzelnen elektrischen Elemente immer wieder falsch geschaltet wurden. Schließlich musste man durch Probieren den richtigen Winkel zwischen den zwei Spulen und den richtigen Abstand von Aluminiumdöschen und Spulen herausfinden. Letztlich wurden die Probleme gelöst und es konnten Messungen durchgeführt werden. Hier erinnerten sich die Schüler nur noch nach einigen Hilfestellungen daran, wie man die elektrische Leistung berechnet. Dann machten sie den Fehler, jeweils die Anzahl der Umdrehungen in nur zehn Sekunden zu zählen und dies auf eine Minute hochzurechnen, wodurch sich ein viel größerer Messfehler ergibt. Außerdem wurden auch Messwerte verschlampt, so dass Messungen wiederholt werden mussten. Endlich konnte ein Diagramm „Leistung – Anzahl der Umdrehungen“ gezeichnet werden. Dabei zogen die Schüler die Kurve durch jeden Messpunkt bzw. weiteten die Kurve zur breiteren Fläche auf, so dass alle Messpunkte noch auf der Kurve lagen. In Anbetracht der Messungenauigkeit ist es erstaunlich, dass hier tatsächlich ungefähr
8.2 Projekt „Induktionsmotore“ 1033 1034 1035 1036 1037 1038 1039 1040 1041 1042 1043 1044 1045 1046 1047 1048 1049 1050 1051 1052 1053 1054 1055 1056 1057 1058 1059 1060 1061 1062 1063 1064 1065 1066 1067 1068 1069 1070 1071 1072 1073 1074 1075
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eine Proportionalität herauskam. Die Schüler widersprachen energisch, da sie eine perfekte Nullpunktsgerade erwartet hatten. Nur in dieser Gruppe gab es das Problem, dass sich einige Schüler vor der Projektarbeit drücken wollten. Vielleicht lag es daran, dass das Experiment nicht so spektakulär ist wie die Experimente mit selbstgebautem Linearmotor.
Die Gruppe „Linearmotor 1“ Die Projektgruppe 3 wollte einen Linearmotor ähnlich wie beim Transrapid bauen, bei dem das Magnetfeld durch Spulen in dem Fahrweg erzeugt wird. Wegen des übergeordneten Themas „Induktion“ sollte ein asynchroner statt synchroner Linearmotor aufgebaut werden. Ich war hier sehr skeptisch, ob dies möglich ist, da ich aus der Literatur keinen Versuchsaufbau mit einem realistischen Asynchronmotor für die Schule kenne. Die Gleichstromlinearmotore von Sperber (1972, 57) sind wenig praktikabel, da ein schwieriges Umpolen des Stromes (manuell oder automatisch) nötig ist. Die asynchronen Linearmotore von Sperber (1972, 58), Berge (1976, 94 f.), Zeuner (1976, 231) und Wilke (1994, 375) sind aufwendig und benötigen 380 V Drehstrom. Bei dem gut funktionierenden Versuchsaufbau eines Polysolenoid-Motors von Berge (1976, 93 f.; 1973, 12 f.) bzw. bei Helms (1977, E 8.3.4) oder ähnlich von Hagner (1989, 33) bzw. bei Bader (2000, 93) wird ein ferromagnetischer Eisenkern in den Spulen gezogen, so dass das Magnetfeld parallel zur Wanderrichtung des Feldes wirkt. Ein solcher longitudinaler Linearmotor ist zum Antrieb eines Verkehrsmittels nicht verwendbar. Deshalb kam diese Versuchsanordnung für das Projekt nicht in Frage. Bei technisch realisierten Linearmotoren liegt das Magnetfeld senkrecht zur Wanderrichtung des Feldes. Man nennt dies einen transversalen Linearmotor. Erst nach Abschluss des Projektes erschien ein Vorschlag in einer Zeitschrift (s. Uhlenbrock 2000) wie man einen transversalen synchronen Linearmotor bauen kann, der also auch ohne Induktion funktioniert, aber wahrscheinlich häufig an der ungenügenden Lehrmittelausstattung vieler Schulen scheitern dürfte. Mir erschien das Scheitern dieser Projektgruppe aus diesen Gründen als wahrscheinlich, aber die Schüler wollten den Bau eines asynchronen transversalen Linearmotors trotzdem probieren. Die Schüler waren gerade dadurch sehr motiviert, einen Versuch zum Laufen zu bringen, von dem der Lehrer nicht wusste, wie er aufzubauen ist, bzw. an dessen Gelingen der Lehrer zweifelte.
Diagramm „Leistung – Anzahl der Umdrehungen“ Problem: Kein Versuchsaufbau für einen asynchronen transversalen Linearmotor bekannt
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Vorgehensweise der Schüler
Bahn der Gruppe „Linearmotor 1“
8 Aktuelle Methoden I – Projekte Zuerst stellten sie neun Spulen mit je 600 Windungen und je einem Eisenkern so nebeneinander, dass die Eisenkerne nach oben weisen. Die Spulen wurden an die Spannungen R, S und T eines regelbaren Drehstromnetzgerätes in Sternschaltung (bis 230 V) angeschlossen. Obwohl die Bezeichnungen R, S und T schon lange abgeschafft sind und durch L1, L2 und L3 ersetzt wurden, wurde im Unterricht R, S und T verwendet, da dies auf den Geräten der Schulphysiksammlung und im verwendeten Schulbuch auch so dargestellt wird. Die schwer verständliche Dreiecksschaltung wurde vermieden, da man hier erst mathematisch begründen müsste, dass es sich auch um phasenverschobene Sinuskurven handelt. Um eine ebene Fläche zu erhalten, wurde eine Glasplatte über die Eisenkerne gelegt. Ein Fahrzeug wurde aus vielen Aluminiumplatten gebaut und dann festgestellt, dass beim Einschalten der Spannung nichts passiert! Offensichtlich war das Fahrzeug zu schwer, die Reibung zu hoch und der Abstand der Platten von den Eisenkernen zu groß. Die Schüler verwendeten dann ein Stück Alufolie und experimentierten mit Länge und Dicke, wobei zwar eine Kraft erkennbar war, aber sie reichte durch die Reibung noch nicht zum „Fahren“ aus. Bei höherer Spannung flog die Sicherung heraus. Die Schüler erkannten, dass sie bisher je drei Spulen parallel geschaltet hatten, so dass der Strom in den Zuleitungen dreimal so hoch war wie der genutzte Strom in einer Spule. Durch eine Reihenschaltung waren höhere Ströme in den einzelnen Spulen möglich, so dass die Alufolie dem Fahrweg entlang fuhr. Nun wurde die Folienlänge noch optimiert und der Übergang von einer Glasplatte zur nächsten ohne Stufe eingerichtet. Somit war das Ziel der Projektgruppe erreicht.
Optimierung des Versuchsaufbaus
Die Schüler waren damit aber nicht zufrieden. Sie wollten einen längeren Fahrweg und das „Fahrzeug“ sollte wie der Transrapid schweben. Der längere Fahrweg wurde erreicht, indem statt mit neun mit zwölf oder 15 Spulen und mit Abständen zwischen den Spulen experimentiert wurde. Am besten ist, man verwendet statt einer dünnen Alufolie eine höchstens 10 cm breite Aluminiumplatte und legt noch Lineale als Führungsschienen auf die Glasplatten. Bei zwölf Spulen und 230 V Spannung und einer Stromstärke von 2,3 A schoss die Aluplatte über das Ende des Fahrweges hinaus.
Nachteile des Versuchsaufbaus
Die Schüler waren zwar mit ihrer Bahn zufrieden, aber unschön bei diesem Aufbau ist, dass durch die große Reibung zwischen Aluplatte und Glasplatte eine sehr hohe Spannung von 230 V nötig war. Dies hat den Nachteil, dass nur die Lehrkraft die Spannung einschalten darf und auf die Sicherheit achten muss. Außerdem kann dieses Ex-
8.2 Projekt „Induktionsmotore“ 1119 1120 1121 1122 1123 1124 1125 1126 1127 1128 1129 1130 1131 1132 1133 1134 1135 1136 1137 1138 1139 1140 1141 1142 1143 1144 1145 1146 1147 1148 1149 1150 1151 1152 1153 1154 1155 1156 1157 1158 1159 1160 1161
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periment nur aufgebaut werden, wo eine entsprechende Spannungsquelle zur Verfügung seht. Die Arbeitsgruppe „Linearmotor 2“ zeigte, dass man auch mit 23 V auskommen kann. Der Wunsch, etwas schweben zu lassen, war bei den Schülern aber immer noch da. Wegen der knappen Projektzeit wurde ein Versuchsaufbau von mir vorgegeben. Verwendet wurden vier Spulen mit 600 Windungen, Netzspannung und ein dünner Führungsstab in der Mitte. Die Schüler waren vom Schweben sehr begeistert. Einen anderen Aufbau mit magnetischem Schweben durch Induktion zeigt Miericke (2000, 63).
Versuchsaufbau
Ich stellte den Schülern dann die Aufgabe herauszufinden, wann die Aluplatte höher schwebt, ob kleine oder große Platten besser sind und ob man ein, zwei, drei oder vier Platten (je 4 mm dick) übereinander legen soll. Die Schüler fanden heraus, dass große Aluplatten besser sind und überraschenderweise zwei Platten übereinander höher schweben als nur eine Platte und auch drei noch gute Ergebnisse liefern. In einer doppelten, also dickeren Platte kann nämlich ein größerer Induktionsstrom fließen. Die Schüler merkten außerdem, dass die Platten heiß werden und konnten es mit der Wärmewirkung des Induktionsstromes erklären. Ein Schüler hatte sogar die Idee, ob man nicht auf diese Weise kochen könnte. Ich griff diese Idee auf und berichtete über Induktionskochstellen (s. Marhenke 1996c), die heutzutage in manchen Küchen zu finden sind.
Experimente der Schüler
Des Weiteren entdeckten die Schüler selbst, was passiert, wenn man die schwebenden Aluminiumplatten leicht andreht: In einer Richtung kommen die Platten wieder zur Ruhe, aber in der anderen Richtung beschleunigen sie bis zu großen Geschwindigkeiten. Die Erklärung des Beschleunigens konnten die Schüler nach dem bisher Gelernten auch verstehen: Es handelt sich hier um ein vierpoliges Magnetfeld und die Spulen polen wie die Netzspannung um. Vom Bezugssystem der rotierenden Platte aus rotiert auch das Magnetfeld und nimmt die Platte mit. Eine ruhende Platte „sieht“ kein rotierendes Magnetfeld und bleibt in Ruhe; ein solcher Induktionsmotor (= Asynchronmotor) muss also angeworfen werden. Der Motor kann dabei die Drehgeschwindigkeit des Magnetfeldes nicht erreichen, die bei der Netzfrequenz f und n Magnetpolpaaren f/n ist, also hier 25 Hz = 1500 min-1 (die Differenz heißt „Schlupf“). Damit war noch ein schönes Beispiel eines einphasigen Asynchronmotors gefunden, also eines Induktionsmotors, der mit einphasiger Netzspannung betrieben wird.
Ein spezieller Induktionsmotor
Schwebende und rotierende Aluplatten
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8 Aktuelle Methoden I – Projekte
Die Gruppe „Linearmotor 2“ Arbeitsauftrag für die Gruppe
Die zweite Gruppe befasste sich mit der Aufgabe, das im Rahmen einer Facharbeit (entspricht in etwa der Seminararbeit bzw. der freiwilligen Lernleistung in anderen Bundesländern) gebaute Modell, das sich in der Physiksammlung befand, zum Laufen zu bringen. Vorhanden waren nur die Geräte, eine Aluschiene und zwei Fahrzeuge mit Spulen. Mit diesem Arbeitsauftrag war vor allem die Fragestellung verknüpft, ob der Linearmotor mit dem 23V-DrehstromNetzgerät funktioniert. Außerdem hoffte ich, dass wir mit dem fertigen Versuchsaufbau der Facharbeit wenigstens einen funktionierenden Versuch zum Linearmotor haben, falls die Gruppe „Linearmotor 1“ scheitert.
Probleme der Projektgruppe
Nachdem das erste Fahrzeug aufgebaut war, flog beim Einschalten sofort die Sicherung der Spannungsquelle heraus, was aufgrund der wenigen Wicklungen in der Spule nicht verwunderlich war. Auch das zweite Fahrzeug funktionierte nicht, da das Fahrzeug zu schwer war und zu viel Reibung hatte.
Vorläufiges Scheitern der Projektgruppe
Die Schüler überlegten nun, was man hätte anders bauen müssen und hatten einige gute Ideen. Zwei Schüler beschlossen, ein besseres Fahrzeug zu Hause zu bauen, wenn sie drei Spulen gestellt bekommen. Leider übernahm ich die Bestellung im Elektronikversandhandel nicht selbst, so dass die Spulen statt nach einer Woche erst nach vier Monaten am Ende des Schuljahres zur Verfügung standen. So ist festzuhalten, dass die Projektgruppe zunächst gescheitert ist.
Neue Chance
Nachdem aber die Projektgruppe „Linearmotor 1“ ihre Spulen und ihre Drehstromquelle nicht mehr brauchte und gezeigt hatte, dass dicke Aluplatten besser sind als dünne Alufolie, ergab sich eine neue Chance für die Gruppe „Linearmotor 2“. Auf Anregung eines Kollegen stellten die Schüler die Aluschiene der Facharbeit auf zwei (Phywe-)Experimentierwägelchen und kippten die Spulen so, dass die Eisenkerne horizontal lagen (s. Abb. 8.7).
Abb. 8.7: Versuchsaufbau der Gruppe „Linearmotor 2“
8.2 Projekt „Induktionsmotore“ 1205 1206 1207 1208 1209 1210 1211 1212 1213 1214 1215 1216 1217 1218 1219 1220 1221 1222 1223 1224 1225 1226 1227 1228 1229 1230 1231 1232 1233 1234 1235 1236 1237 1238 1239 1240 1241 1242 1243 1244 1245 1246 1247
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Wurde das Fahrzeug, das aus der langen Aluschiene bestand, neben die Spulen gestellt, so rollte es an ihnen vorbei und rollte am Ende der Spulen noch weiter. Dies war mit Abstand der schönste Versuch des Projektes, der alle faszinierte. Die Gruppe „Linearmotor 2“ war doch noch erfolgreich. Zwar reichten bei diesem Aufbau schon 50 V Spannung aus, aber das bedeutete noch immer, dass nur die Lehrkraft die Spannung einschalten durfte. Es bestand zwar nicht die Notwendigkeit dazu, aber es wäre auch möglich gewesen, mit nur 23 V Drehstrom auszukommen (s. Wilhelm, 2002b). Dazu muss man statt der langen Aluminiumplatte (Länge 1 m) mit zwei Wägelchen nur eine kurze Aluminiumplatte (Länge 10 cm) auf ein Wägelchen stellen, um somit eine geringere Masse und eine geringere Reibung zu haben. Außerdem sollte man statt den Spulen mit 600 Windungen nun Spulen mit 300 Windungen verwenden und maximal zweimal drei Spulen hintereinander stellen. Dieser Aufbau hat nicht nur den Vorteil, dass er auch in Schulen durchgeführt werden kann, in denen keine bis 230 V regelbare Spannungsquelle für Drehstrom sondern nur ein Netzgerät für 23 V Drehspannung zur Verfügung steht. Diese Anordnung hat vor allem den Vorteil, dass die Schüler noch selbstständiger mit der geringeren Spannung ohne ständige Aufsicht experimentieren können.
Alternative Lösung mit 23 V Drehspannung
Die Gruppe „Homepage“ Die Projektgruppe „Homepage“ hatte die Aufgabe, die Ergebnisse der anderen vier Gruppen auf der Homepage der Schule darzustellen. Außerdem wurde ihnen vorgeschlagen, noch weitere Fakten bzw. physikalische Grundlagen zum Thema darzustellen. Es stellte sich heraus, dass die Gruppe aus zwei Computerfreaks und einem Zuschauer bestand. Die ersten Beiden zeigten ein sehr großes Engagement, wobei sie die meiste Arbeit zu Hause erledigten. Sie entwarfen zu Hause Bilder und sogar eine Animation und formatierten zu Hause die Texte. In der Schule wurden die Ergebnisse dann von mitgebrachten CD-ROMs auf den Computer gespielt und eingebunden. Dabei konnte festgestellt werden, dass die Schüler hauptsächlich vom Drehstrommotor begeistert waren, dem sie viel Zeit opferten. Das Ergebnis der Gruppe (aus dem Jahr 2000) kann unter www.physik.uni-wuerzburg.de/~wilhelm/projekt betrachtet werden. Insgesamt waren die Mitschüler sehr beeindruckt von dem, was sie da sahen: Zwei Schüler geben unverständliche html-Kürzel in den Computer ein und es kommt eine schöne Homepage dabei heraus.
Ausschnitt aus einer interaktiven Animation zum Drehstrommotor
Computergrafik zum Versuchsaufbau der Gruppe „Linearmotor 1“
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8 Aktuelle Methoden I – Projekte Positiv war außerdem, dass einige Schüler ihre Berichte bzw. geschriebenen Texte sofort als Diskette an die Homepage-Gruppe gaben. Ein Schüler konnte sogar gewonnen werden, weiterhin mit an der Homepage der Schule mitzuarbeiten.
8.2.4 Abschließende Bemerkungen Die Präsentation Eine Präsentation der Ergebnisse war bei diesem Projekt nur im Rahmen der Klasse geplant. Schon während der Projektdurchführung waren die Schüler angehalten, Ergebnisse und Versuchsaufbauten schriftlich festzuhalten. Zusätzlich wurde eine Schulstunde nur zum Schreiben von Projektberichten bzw. zur Vorbereitung der Präsentation reserviert. Die eigentliche Präsentation fiel dann sehr knapp aus, so dass noch Zeit zum Gespräch über das Projekt blieb. Im Gegensatz zum Experimentieren haben die Schüler nur sehr ungern dokumentiert, aufgeschrieben, dargestellt und präsentiert. Wahrscheinlich war nicht nur den Schülern, sondern auch mir die Projektdurchführung viel wichtiger als die Präsentation. Beim nächsten Mal würde ich die Präsentation von Anfang an mehr betonen. Sehr sinnvoll wäre es auch gewesen, die Ergebnisse der ganzen Schule zu präsentieren, was vielleicht auch die Motivation für die Präsentation erhöht hätte.
Reflexion des Projektes Intensives Arbeitsklima
Ich hatte mich vor dem Projekt darauf eingestellt, dass es schief gehen kann und ich es evtl. abbrechen muss, da ich von den Schülern sonst schlechte Mitarbeit gewohnt war. Wider Erwarten gab es aber eine große Begeisterung und ein intensives Arbeiten und es war relativ leise im Klassenzimmer. Nur ein paar wenige Schüler versuchten sich vor der Arbeit zu drücken. Einige – auch schlechte Schüler – sind dagegen „zu Höchstform aufgelaufen“.
Selbstständiges Arbeiten
Insbesondere bei den beiden Gruppen zum Linearmotor gab ich nur eine Anregung und die Schüler arbeiteten selbstständig. Sie kamen dann mit ihren Fragen und Problemen und ich gab ihnen neue Anregungen bzw. Ideen, die sie wieder alleine probierten. Selbst wenn wir uns in der Pause auf dem Gang trafen, wurden Ideen ausgetauscht. Für die Lehrkraft ist zwar hinderlich, dass sie aus Sicherheitsgründen das Drehstromgerät (230 V) selbst bedienen muss, anderseits funktionieren bei der hohen Spannung auch ungünstige Versuchsaufbauten.
Literatur 1291 1292 1293 1294 1295 1296 1297 1298 1299 1300 1301 1302 1303 1304 1305 1306 1307 1308 1309 1310 1311 1312 1313 1314 1315 1316 1317 1318 1319 1320 1321 1322 1323 1324 1325 1326 1327 1328 1329 1330 1331 1332 1333
369
Für einen Aufbau mit 23 V hätte ich mehr Details vorgeben müssen. Es ist ein interessantes Erlebnis, für einige Stunden wenig vorzuschreiben, was zu machen ist, sondern auf die Wünsche der Schüler zu reagieren. Dieses Projekt und die darin verwendeten Experimente sind in verschiedenen Lehrerfortbildungen auf großes Interesse gestoßen. In einigen Physikleistungskursen wurden zu diesem Thema Seminararbeiten bzw. Facharbeiten an Schüler vergeben. Das zeigt, dass dieses Thema auch noch viele Möglichkeiten bietet, dass sich auch gute Oberstufenschüler selbstständig und experimentell intensiver damit beschäftigen können.
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370 1334 1335 1336 1337 1338 1339 1340 1341 1342 1343 1344 1345 1346 1347 1348 1349 1350 1351 1352 1353 1354 1355 1356 1357 1358 1359 1360 1361 1362 1363 1364 1365 1366 1367 1368 1369 1370 1371 1372 1373 1374 1375 1376
8 Aktuelle Methoden I – Projekte
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9 Aktuelle Methoden II – Lernzirkel Zwischen der pädagogischen Dimension des Physikunterrichts und offenem Unterricht besteht ein enger Zusammenhang: Schülerinnen und Schüler mit ihren individuellen Fähigkeiten und Interessen, ihren emotionalen und kognitiven Eigenschaften und Bedürfnissen rücken in den Mittelpunkt des Unterrichts und der Unterrichtsplanungen. Dies wurde bereits vor hundert Jahren von der Reformpädagogik gefordert. Im zurückliegenden Jahrzehnt wurden Lernzirkel als eine besondere methodische Form des offenen Unterrichts in allen Schulstufen und in fast allen Schulfächern erprobt. Durch dieses „Lernen an Stationen“ (Hepp 1999) sollen Schülerinnen und Schüler mehr Eigenaktivität, mehr Eigenverantwortung für ihren Lernweg im Physikunterricht und dabei auch größeres dauerhaftes Interesse an der Physik und mehr naturwissenschaftliche Sach- und Selbstkompetenz entwickeln können. Lernzirkel befassen sich mit wichtigen physikalischen Begriffen, mit historischen und aktuellen technische Anwendungen und schaffen Möglichkeiten, dass Schüler intrinsisch motiviert selbst experimentieren. Dafür werden verschiedene Medien, verschiedene Formen der Repräsentation, verschiedene sprachliche Darstellungen eingesetzt. Der Lernzirkel „Einführung in die Akustik“ soll Schülern der Sekundarstufe I einen Überblick liefern (Einführungszirkel). In der Thematik eingegrenzter ist der Lernzirkel „Laser“, der für die Sekundarstufe II konzipiert und in Leistungskursen erprobt wurde (Erarbeitungszirkel). Außerdem werden Lernzirkel auch für Übung und Festigung des Lehrstoffs am Ende einer Unterrichtseinheit eingesetzt (Übungszirkel): Lernzirkel können in jeder Phase des Unterrichts eingesetzt werden. Nicht nur wegen der Komplexität unseres Faches und der Schwierigkeiten der Schülerinnen und Schüler, die begriffliche und der methodische Struktur der Physik zu verstehen und zu erwerben, sondern auch wegen der vielfältigen und vielschichtigen Ziele, steht insbesondere bei einem einführenden Lernzirkel die didaktische Analyse am Anfang der Planungen. Dadurch wird Wichtiges von Unwichtigem, Schwieriges von dem leichter Lern- und Durchführbaren unterschieden, mit entsprechenden Konsequenzen für die Lernstationen. Lernzirkel sind einfacher und mit weniger Zeitaufwand zu konzipieren als Projekte: Eine gut ausgestattete Physiksammlung, Experimentalliteratur ergänzt durch Recherchen in Zeitschriften und im Internet, Computerprogramme, Ideen für Freihandexperimente liefern das Material für Lernzirkel. Die bisherigen Erfahrungen (Lieb 2001; Euring 2004; Seeberger 2004) deuten darauf hin, dass insbesondere Schülerinnen durch die Aktivitäten in Lernzirkeln hinsichtlich der Motivation und Selbstkompetenz profitieren. Bei Einführungszirkeln müssen die Lerninhalte anschließend noch gründlich vertieft werden. Bisher ist der Aufwand für die Entwicklung eines einführenden Lernzirkels noch beträchtlich. Dieser Aufwand dürfte sich aber reduzieren, wenn die entwickelten Beispiele in das Internet eingegeben und allen Schulen verfügbar werden. Der Idealfall wäre freilich, dass die Lernenden so ausgebildet sind, dass sie sich alle notwendigen Informationen aus dem Internet selbst beschaffen und sich einen sinnvollen und motivierenden Lernzirkel selbst konzipieren und realisieren: wirklich offenen Physikunterricht.
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9 Aktuelle Methoden II – Lernzirkel Ernst Kircher & Daniela Lieb
9.1. Lernzirkel „Einführung in die Akustik“ Einführungszirkel geben einen Überblick über einen für die Schüler neuen thematischen Bereich. Dieser Einführungszirkel über die Akustik, wurde im Physikunterricht an einer Realschule in der 8. Jahrgansstufe erprobt. Der Lernzirkel hat einerseits die Funktion, Interesse an akustischen Phänomenen und physikalischen Aspekten von akustischen Geräten zu wecken und dieses eventuell zu kanalisieren. Andererseits hat ein solcher von Experimenten und Texten verschiedener Art (Informationstexte, Arbeitsaufgaben) bestehender einführender Lernzirkel die Funktion eines „advance organizer“. Das bedeutet, dass bei der später folgenden gründlicheren Behandlung im Unterricht die Informationsaufnahme und die Integration von vorhandenem Wissen erleichtert wird. Hinweise zur Vorbereitung eines Lernzirkels
Im Folgenden wird die Vorbereitung eines Lernzirkels beschrieben, charakteristische Materialen, wie Überblicke über die Lernstationen, Experimente, Laufzettel, sowie wesentliche Aspekte der Evaluation dargestellt. Auf Einzelheiten der Versuchsdurchführung und auf die Informationstexte wird hier aus Platzgründen nur auf die verwendete Literatur verwiesen. Aus organisatorischen und didaktischen Gründen wird Partnerarbeit vorgeschlagen.
9.1.1 Ziele, Lernbereiche und Stationen Detailplanung der Lernstationen
Eine didaktische Analyse (s.Kap. 2) hilft allgemeine Ziele (Leitziele und Richtziele) festzulegen. Grob- und Feinziele werden erst während der Detailplanung der Lernstationen schriftlich fixiert. Ziele können auch indirekt durch Arbeitsanweisungen formuliert werden (Beobachten, Experimente ausführen, Texte bearbeiten, Ergebnisse formulieren, neues Wissen anwenden usw.). 1. Die didaktische Analyse führte zu folgenden für wichtig erachteten Aspekten des Themas: •
Grundlagen der Akustik
•
Resonanzphänomene
•
Lärm und Lärmschutz
•
Der Mensch: Die Stimme, das Hören
9.1 Lernzirkel „Einführung in die Akustik“ 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 100 101 102 103 104 105 106 107 108 109 110 111 112 113 114 115 116 117 118 119 120 121 122 123 124 125 126 127 128 129
373
Der Lernzirkel enthält insgesamt fünf Themenbereiche mit Stationen, an denen verschiedene Lernaktivitäten ausgeführt werden. Es wird zwischen Pflicht und Wahlstationen unterschieden.
Überblick über die Stationen
Station
Pflicht-/ Wahlstation
Thema
Inhalt
1a
P
Wie entsteht Schall?
Schallentstehung
1b
P
Wie breitet sich Schall aus?
Schallausbreitung
2a
P
Wie gut kannst du hören?
Hörtest, Infra- und Ultraschall in Technik und Biologie
2b
P
Wie kommt ein Echo zustande?
Schallreflexion, Anwendungen in Medizin, Technik und in der Natur
2c
W
Schallaufzeichnung und Schallwiedergabe
Funktionsweisen von Plattenspieler, Schallplatte, CD
2d
W
Wie schnell ist der Schall?
Messen der Schallgeschwindigkeit,
3a
P
Wie kann man leise Töne verstärken?
Schallverstärkung
3b
P
Wie kommt Resonanz zustande?
Resonanzerscheinungen in der Akustik und der Mechanik
3c
W
Resonanz in Umwelt und Technik
Film über Resonanzkatastrophe, Stoßdämpfer am Auto
4a
P
Wie laut ist dein Walkman?
Unterschied zwischen Schallund Lautstärke, Schallpegelmessungen
4b
P
Lärm macht krank!
gesundheitliche Folgen des Lärms, Konzentrationstest
4c
P
Wie kann man sich vor Lärm schützen?
„Lärmschutzforscher“, Lärmschutzmaßnahmen
5
W
Kehlkopf und Ohr – Schallquelle und Schallempfänger beim Menschen
Wie wir hören; die menschliche Stimme; Mickey- Mouse Versuch
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9 Aktuelle Methoden II – Lernzirkel
Laufzettel für den Lernzirkel Regeln für die Arbeit im Lernzirkel • Du kannst die Stationen allein oder gemeinsam mit einem oder zwei Mitschülern bearbeiten. (Diese können auch von Station zu Station wechseln.) • Wie lange du an einer Station arbeitest bleibt dir überlassen. • Wenn du alle Aufgaben einer Station auf deinem Arbeitsblatt bearbeitet hast, bieten dir die Lösungsblätter eine Kontrollund Korrekturmöglichkeit. • Du kannst die Lösungsblätter auch als Hilfestellung verwenden, wenn du nicht mehr weiter kommst (aber nur dann!) • Wie lange Du an einer Station arbeitest, ist Dir überlassen. Verursache aber keinen unangemessenen langen Stau. • Du kannst dir die Reihenfolge der Stationen frei wählen, mit einer Ausnahme: Bevor du die Station 3c besuchst, solltest du die Station 3b bearbeitet haben. • Wenn Du Verständnisschwierigkeiten mit den Stationen 3, 4, 5 hast, können dir vielleicht die Stationen 1a,b und 2a,b helfen, weil dort akustische Grundlagen gelernt werden. Bei einem Lernzirkel ist der Geräuschpegel höher als im normalen Unterricht. Versuche dich so zu verhalten, dass Du diesen nicht unnötig erhöhst. Laufzettel für den Lernzirkel
Der Laufzettel für den Lernzirkel, den jeder Schüler erhält, gibt einen Überblick über die Wahl- und Pflichtstationen. Der Laufzettel enthält außerdem Regeln für die Arbeit im Lernzirkel.
Der didaktische Schwerpunkt von Lernzirkeln
2. Der didaktische Schwerpunkt von Lernzirkeln ist, naturwissenschaftliche Fähigkeiten und Fertigkeiten zu fördern (Prozessziele). Wie einleitend erwähnt, werden auch Einstellungsänderungen zur Physik und die Änderung lebensweltlich vorgeprägter Dispositionen über die eigenen physikalischen Fähigkeiten intendiert. Natürlich wird auch begriffliches Wissen angestrebt (Konzeptziele). Aber man kann natürlich nicht erwarten, dass die vielen neuen Begriffe eines einführenden Lernzirkels in 2 – 3 Schulstunden gründlich gelernt werden können. Im folgenden sind Prozess- und Konzeptziele zu Lernbereich 1 beispielhaft aufgeführt:
9.1 Lernzirkel „Einführung in die Akustik“ 173 174 175 176 177 178 179 180 181 182 183 184 185 186 187 188 189 190 191 192 193 194 195 196 197 198 199 200 201 202 203 204 205 206 207 208 209 210 211 212 213 214 215
Konzeptziele
375 Prozessziele
S. wissen wie Schall entsteht
S. können ihr Wissen über die SchallentsteS. können zwischen verschiedenen Schall- hung auf Beispiele der natürlichen und technischen Umwelt übertragen arten unterscheiden S. wissen, dass für die Übertragung von S. können einem Text die relevanten Informationen entnehmen Schall ein materielles Medium nötig ist. S. kennen die Begriffe Wellenlänge. S. beobachten beim Experimentieren genau, verbalisieren und beschreiben die BeobachLängswelle und Querwelle tungen und ziehen logische Schlüsse daraus S. können die Ausbreitung des Schalls S. sind fähig, das Oszilloskop mit Hilfe der physikalisch erklären Gerätebeschreibung zu bedienen. S. kennen Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Schallwellen und Wasserwellen
9.1.2 Fachliche Grundlagen Wir müssen hier auf die Darstellung der fachlichen Grundlagen aller Lernbereiche des Lernzirkels verzichten (s. Berge 2000; Kadner 1995; Kutter 1995). Nur diejenigen Lernbereiche werden skizziert, die im Allg. in der 1. Phase der Lehrerbildung vernachlässigt werden. Dazu gehört der „Lärm und Lärmschutz“ als gesellschaftliches und als individuelles Problem. Diese Thematik wird in den neueren Physikbüchern der Sekundarstufe I dargestellt. Die notwendigen mathematische Grundlagen stehen allerdings aus dem Mathematikunterricht im Allg. noch nicht bereit. Die Inhalte müssen daher elementarisiert, d.h. so vereinfacht werden, dass sie von Jugendlichen der 8. Klasse Realschule gelernt werden können. Bei dem Entwurf der einzelnen Lernstationen orientieren wir uns an dem Niveau der Schulbücher der entsprechenden Jahrgangsstufe ( s. Lieb 2001).
Schallstärke und Lautstärke Die Schallempfindlichkeit ändert nicht linear mit der Intensität des Schalls. Das bedeutet, dass unsere Lautstärkeempfindung anderen Gesetzen folgt als ihr physikalisches Analogon, die Schallstärke. Nach Ernst Weber und Gustav Fechner ist die Lautstärke L proportional dem Logarithmus der Schallintensität I/I0. Es gilt: L = const. ln(I/I0)
Lärm und Lärmschutz: gesellschaftliches und individuelles Problem
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9 Aktuelle Methoden II – Lernzirkel Dabei bezeichnet I die Schallstärke eines Tones und I0 die Schallstärke einer Bezugsschallquelle. Eine Änderung der Schallstärke lässt sich erst feststellen, wenn diese sich um einen bestimmten Faktor (empirisch 20% - 25%) geändert hat, gleichgültig wie groß sie zu Beginn war. So ist der Intensitätsunterschied zwischen zwei Mücken und einer genau so groß wie zwischen zwei Autos und einem.
Phon und Dezibel
Gemäß dem Weber- Fechner- Gesetz wird der subjektive Lautstärkepegel in Phon, heutzutage mit Schallpegelmessgeräten in Dezibel (dB (A)) gemessen. Die Zahlenwerte von Phon und Dezibel stimmen bei der Schallfrequenz 1kHz überein. Ein Phon entspricht einem Intensitätsverhältnis von 10 10 =1.259 , also ungefähr dem Unterscheidungsvermögen des menschlichen Ohres. Die Hörschwelle I0 = 10-13 W/m2 soll bei der Normalfrequenz 1kHz bei 0 Phon liegen. Damit ist die Konstante in obiger Gleichung festgelegt: L = 10 log (I/I0) Die Schmerzschwelle bei 1kHz ergibt sich demnach zu L = 10 log 1013 = 130 Phon (s. Gerthsen & Meschede 2001, 193 f.).
Subjektive Hörempfindung Größte Empfindlichkeit des Ohres
Unsere subjektive Hörempfindung hängt außer von der Schallstärke auch von der Frequenz eines Tones ab, wie untenstehende Abbildung verdeutlicht. Sie zeigt Kurven gleicher Lautstärke für das menschliche Ohr. Die unterste Kurve repräsentiert die Hörschwelle eines sehr gut hörenden Menschen (ca. 1% der Bevölkerung). Man erkennt an ihr, dass die Hörschwelle für 1 kHz bei 0 dB liegt, für 60 Hz aber bereits 50 dB beträgt. Die zweite Kurve von unten gibt für etwa 50% der Bevölkerung den Verlauf der Hörschwelle wieder. Die größte Empfindlichkeit des Ohres ist bei allen Lautstärken bei 4 kHz. zu finden.
Abb. 9.1: Kurven gleicher Lautstärke (Tipler 1995, 470)
9.1 Lernzirkel „Einführung in die Akustik“ 259 260 261 262 263 264 265 266 267 268 269 270 271 272 273 274 275 276 277 278 279 280 281 282 283 284 285 286 287 288 289 290 291 292 293 294 295 296 297 298 299 300 301
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Infraschall, Ultraschall, Hyperschall Die Hörempfindung des Menschen ist in der Frequenz der Luftbewegung begrenzt. So liegt die untere Hörgrenze bei 16Hz und die obere Hörgrenze für junge Menschen bei 20kHz, für ältere Menschen dagegen schon bei 10kHz. Das Frequenzgebiet unterhalb bzw. oberhalb des hörbaren Bereiches bezeichnet man als Infra- bzw. Ultraschall. Infraschallwellen können eine unangenehme Wirkung auf unsere Ohren haben. Fährt man beispielsweise im Auto bei großer Geschwindigkeit mit geöffnetem Seitenfenster, empfindet man die dabei im Wageninneren entstehenden Schwingungen nicht als Ton, sondern als Druckschwankung.
Infraschall
Ultraschallschwingungen verursachen dagegen im menschlichen Ohr keine Empfindung. Fledermäuse senden kurze Schreie aus (Frequenz: ca. 50kHz, Impulsdauer: ca. 10ms), die wir Menschen nicht mehr hören. Dabei verwenden sie die Reflexion dieser Ultraschallimpulse zur Orientierung und zur Beutefindung. Die zurückgestrahlten Impulse fangen die Tiere mit ihren großen Ohren auf (s. Bergmann- Schaefer 1990, 531 f.).
Ultraschall in der Tierwelt
Doch nicht nur in der Tierwelt, sondern auch von den Menschen wird Ultraschall zur Ortung und Hinderniserkennung ausgenutzt. Ultraschall lässt sich fokussieren und ebenso gut bündeln wie Licht. Da Ultraschall weitgehend ungefährlich ist und die Absorption von Ultraschall in Stoffen mit simplen Molekülaufbau sehr gering ist, setzt man Ultraschall auch zur Materialprüfung und Dickenmessung ein (s. Gerthsen & Meschede 2001, 196). Vor allem wenn selbst harte Röntgenstrahlen ein dickes Metallstück nur schwer durchdringen können, werden Ultraschallimpulse verwendet. Des Weiteren kann man mit Ultraschall Löcher beliebiger Querschnittsformen bohren, Metalle miteinander verschweißen und sonst nicht mischbare Stoffe miteinander vermengen. Auch bei der Ausmessung der akustischen Eigenschaften von Konzertsälen mit Hilfe von Architekturmodellen arbeitet man mit Ultraschall. In der Medizin wird die Ultraschalldiagnostik vor allem dort eingesetzt, wo Röntgenstrahlung wegen der möglichen Schädigung auszuschließen sind. Als Schallquelle dient ein piezoelektrischer Kristall, der nach Aussendung eines Impulses automatisch auf Empfang umschaltet. Dabei legt man den Schallkopf auf den Patienten und „tastet“ mit dem sehr engen Schallbündel punktweise das zu untersuchende Gewebe bzw. Organ ab. Die reflektierten Ultraschallimpulse werden elektronisch verstärkt. Auf diese Weise werden Schichtaufnahmen vom Körperin-
Ultraschall - in der Technik - in der Medizin
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9 Aktuelle Methoden II – Lernzirkel neren hergestellt, die auf einem Leuchtschirm sichtbar gemacht werden (s. Bergmann- Schaefer 1990, 588 f.). In der modernen Akustik spielen Ultraschallgeber eine wichtige Rolle. Man unterscheidet dabei zwischen mechanischen Ultraschallgebern wie Pfeifen, welche Schwingungen bis ca. 500kHz erzeugen und elektroakustischen Schallgebern. Die Letzteren sind geeignet sehr starke Ultraschallwellen hervorzubringen und wandeln elektrische oder magnetische Schwingungen nach dem Prinzip der Elektrostriktion oder des umgekehrten Piezoeffekts bzw. der Magnetostriktion in mechanische um. Der Wirkungsgrad dieser Umwandlung weist die höchsten Werte im Fall mechanischer Resonanz auf.
Hyperschall
Schallschwingungen zwischen 1010 Hz und 1013 Hz bezeichnet man als Hyperschall. Dieser Frequenzbereich wird in Festkörpern sehr stark absorbiert. Oberhalb von 1013 Hz finden keine elastischen Schwingungen mehr statt, denn für eine Schallschwingung muss deren Wellenlänge größer bzw. gleich dem doppelten Atomabstand sein. Die Grenzfrequenz, für die diese Bedingung gerade nicht mehr erfüllt ist, heißt Debye- Frequenz (Gerthsen & Meschede 2001, 197).
Lärm und Lärmschutz Unterschiedliche Wirkung auf Menschen
Unerwünschter Schall wird als Lärm bezeichnet. Ob ein bestimmter Schall als Lärm empfunden wird, hängt von der momentanen Gemütsverfassung und von der Herkunft des Geräusches ab. Dabei ist der Grad der Verärgerung durch einen Schalleindruck entscheidend. So haben Untersuchungen ergeben, dass der Verkehrslärm in Stockholm störender empfunden wird als der im Vergleich dazu viel stärkere Verkehrslärm in der italienischen Stadt Ferrara. Es existiert keine allgemeingültige Festlegung, wie störend ein bestimmter Lärmpegel ist. Beispielsweise finden Kinder im Auto noch bei einem Geräuschpegel von 70 dB(A) Schlaf, solange der Lärm gleichförmig ist. Dahingegen wirkt pulsartiger, unnötiger Lärm wie ein tropfender Wasserhahn mit 30 dB(A) Schallenergie störend. Die schädigende Wirkung von Lärm
Lärmschäden
Während Lärm zwischen 30 und 65 dB(A) „lediglich“ psychische Reaktionen hervorruft, ist bereits bei 65 bis 90 dB(A) mit psychischen Reaktionen, Kreislaufbeschwerden, Kommunikationsstörungen, Schlafstörungen, Herzklopfen und einem Ansprechen des vegetativen Nervensystems zu rechnen. Über lange Zeit anhaltender lauter Dauerschall (über 80 dB(A)) führt zu einem bleibenden Hörverlust. Dabei erfordert ein Anstieg des Schallpegels um 3 dB(A) eine Halbierung der Einwirkzeit, um die gleiche Schädigung zu erhalten.
9.1 Lernzirkel „Einführung in die Akustik“ 345 346 347 348 349 350 351 352 353 354 355 356 357 358 359 360 361 362 363 364 365 366 367 368 369 370 371 372 373 374 375 376 377 378 379 380 381 382 383 384 385 386 387
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So entsprechen sich nach dem Energie- Äquivalenzprinzip z. B. 8 h mit 90 dB(A) Beschallung und 4 h mit 93 dB(A) Beschallung. Auch ein explosionsartiger Schall wie z.B. ein Böllerschuss in unmittelbarer Nähe kann das Gehör dauerhaft schädigen, wie folgende Abbildung zeigt (Fricke 1983, 2).
Abb. 9.2: Hörschwelle vor und nach dem Explodieren eines Feuerwerkkörpers nahe am Ohr In vielen Fällen führt kurzzeitig gehörter sehr lauter Schall oberhalb von 100 dB(A) zunächst „nur“ zu einer zeit weisen Verringerung der Hörfähigkeit. Das Tückische daran ist, dass der Verlust der Empfindlichkeit (im Bereich von 4000 Hz bis zu 40 dB(A) bei entsprechender Belastungsstärke) für den Betroffenen beinahe unbemerkt eintritt, da dieser anfangs keinen Einfluss auf das Verstehen von Sprache hat. Aus der reversiblen Verringerung der Hörfähigkeit wird im Laufe der Zeit aber ein dauerhafter Hörverlust. Das einzige Warnsignal des Gehörs ist Ohrensausen (s. Fricke 1983, 148 und 2 f.).
Verlust der Hörempfindlichkeit
Juristische Bestimmungen Lärmen wird vom Gesetzgeber als Ordnungswidrigkeit eingestuft. So lautet §117 Abs. (1) des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten (OwiG): „Ordnungswidrig handelt, wer ohne berechtigten Anlass oder in einem unzulässigen oder nach den Umständen vermeidbaren Lärm erregt, der geeignet ist, die Allgemeinheit oder die Nachbarschaft erheblich zu belästigen oder die Gesundheit eines anderen zu schädigen“. Deswegen wurde eine spezielle Lärmgesetzgebung geschaffen. Da die einzelnen Vorschriften so umfangreich sind, dass alleine ihre Auflistung mehrere Seiten füllen würde, werden wir uns hier mit einigen wichtigen Bestimmungen über Verkehrswege und Arbeitsstätten begnügen.
Spezielle Lärmgesetzgebung
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Schallpegel am Arbeitsplatz
9 Aktuelle Methoden II – Lernzirkel Nach der Unfallverhütungsvorschrift (UVV) vom 1. Januar 1990 sind Arbeitsplätze, an denen ein Schallpegel von mehr als 85 dB(A) vorliegt, als Lärmschutzbereich zu kennzeichnen (siehe HVBG 1992, 38). Vom Arbeitgeber ist dabei Ohrenschutz vorzuhalten, der spätestens ab 95 dB(A) angelegt werden muss. Für Gebiete unterschiedlicher Nutzung gelten die Immissionsgrenzwerte der TA Lärm. Nachbarn gewerblicher Anlagen können bei Bau und Planung solcher Anlagen gemäß den Bestimmungen dieser Verordnungen Widerspruch anmelden bzw. lärmmindernde Maßnahmen erzwingen (s. Landsberg- Becher 2000, 149).
Lärmschutzmaßnahmen Schutz vor Lärm und den angedeuteten Folgen ist an drei Stellen möglich (s. Fricke 1983, 7, 101, 179): • An der Quelle, wenn man beispielsweise leisere Motoren, bessere Vibrationsabsorber und Auspuffanlagen einsetzt, um unnötigen Lärm zu vermeiden. • Bei der Schallausbreitung, etwa durch Lärmwälle, Umgehungsstraßen, Schallschutzfenster, Schallabsorber, eine gute Schalldämmung der Wände und Kapselung von Motoren. Grundsätzlich unterscheidet man hierbei zwischen „Schalldämmer“ und „Schalldämpfer“. Erstere absorbieren den Schall nicht, sondern reflektieren ihn und verhindern somit seine weitere Ausbreitung. Bei der Schalldämpfung hingegen wird der Schall absorbiert, d.h. die Schallenergie in Wärme umgewandelt. • Beim Empfänger, zum Beispiel durch konsequent getragenen Hörschutz.
9.1.3 Unterrichtsmaterialien Station 1: Grundlagen des Schalls Station 1a: Wie entsteht Schall? An dieser Station sollst du auf verschiedene Arten Schall erzeugen. Das Ziel dieser Station ist es, dass du erklären kannst, wodurch jeweils der Schall entsteht und dass du zwischen verschiedenen Schallarten unterscheiden kannst. Arbeitsvorschläge: 1. Führe folgende Versuche durch! Überlege dir anschließend, worin sich die beiden Experimente ähneln!
9.1 Lernzirkel „Einführung in die Akustik“ 431 432 433 434 435 436 437 438 439 440 441 442 443 444 445 446 447 448 449 450 451 452 453 454 455 456 457 458 459 460 461 462 463 464 465 466 467 468 469 470 471 472 473
Experiment 1: Presse ein Ende des Lineals auf den Tisch und zupfe das freie Ende mit dem Finger an! Wie kannst du unterschiedliche Töne erzeugen? Experiment 2: Schlage eine Stimmgabel an! Tauche die Stimmgabelzinken in ein Glas mit Wasser! Berühre die Enden der tönenden Stimmgabel auch vorsichtig mit den Fingern! 2. Lies den beiliegenden Text „Ohne Schwingungen kein Schall“! 3. Schall wird also durch schnell schwingende Körper erzeugt. Die schnellen Schwingungen kannst du mit folgendem Versuch 3 noch deutlicher sichtbar machen. Erzeuge mit Hilfe einer brennenden Kerze eine Rußschicht auf einer Glasplatte und führe die Zinke einer angeschlagenen Schreibstimmgabel rasch über die Glasplatte. 4. Führe eines der beiden Experimente durch. Erkläre auf deinem Arbeitsblatt mit eigenen Worten, wie der Schall in dem von dir gewählten Versuch entsteht. Experiment 4: Erzeuge mit Hilfe eines Grashalmes Schall! Experiment 5: Fülle Wasser in ein Weinglas. Fahre mit dem angefeuchteten Zeigefinger auf dem Glasrand entlang! Die Aufgabe 5 ist zur freiwilligen, zusätzlichen Bearbeitung! 5. Wie du bereits weißt, gibt es 3 unterschiedliche Schallarten. Ihre Schwingungsbilder kann man mit Hilfe eines Oszillographen sichtbar machen. (Versuch 9). Schalte den Oszillographen und den Lautsprecher an! Eine Gerätebeschreibung findest du an deinem Arbeitsplatz. • Erzeuge einen Knall, indem du einen aufgeblasenen Luftballon zum Platzen bringst! • Erzeuge ein Geräusch, indem du ein Blatt Papier zerknüllst! • Erzeuge einen Ton durch Anschlagen einer Stimmgabel und einen Klang, indem du eine gespannte Saite mit dem Geigenbogen anstreichst! • Beobachte jeweils das entstandene Schwingungsbild und bearbeite anschließend dein Arbeitsblatt!
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9 Aktuelle Methoden II – Lernzirkel
Station 4: Lärm und Gesundheit Station 4a: Wie laut ist dein Walkman? An dieser Station erfährst du, wie laute und leise Töne zustande kommen und lernst zwischen Schallstärke und Lautstärke zu unterscheiden. Des weiteren kannst du hier an einigen Schallquellen Schallpegelmessungen selbst durchführen. Arbeitsvorschläge: 1. Führe folgendes Experiment (Versuch 20) durch! Bringe eine eingespannte Saite zum Schwingen! Untersuche, wovon die Lautstärke des entstehenden Tones abhängt! Notiere deine Beobachtungen (Arbeitsblatt)! 2. Befasse dich mit dem beiliegenden Textmaterial! 3. Mach dich mit dem Schallpegelmessgerät vertraut! Eine genaue Gerätebeschreibung findest du an deinem Arbeitsplatz. Führe für die folgenden Beispiele Schallpegelmessungen durch(Versuch 21)! • Husten • Walkman bei: - maximaler Lautstärke • der Lautstärke, die du gewöhnlicher weise hörst • Raum, in dem du dich gerade befindest • auf dem Gang Trage die Messwerte in die Tabelle auf deinem Arbeitsblatt ein! An deinem Arbeitsplatz findest du auch eine Übersicht über weitere Schallpegel des alltäglichen Lebens. Station 4b: Lärm macht krank! Musik spielt im Leben der meisten Jugendlichen eine wichtige Rolle: Auf der Loveparade, in der Disko, zu Hause, mit einem lauten Kofferradio am Strand oder an der Straßenecke. Subjektiv wird sie zwar nicht als Lärm empfunden, aber sie kann bei zu großer Lautstärke ebenso zu gesundheitlichen Schäden führen wie z.B. Flugzeug- oder Straßenlärm. Mit welchen gesundheitlichen Folgen aufgrund von zu hoher Lärmbelastung und ab welcher Lautstärke damit zu rechnen ist erfährst du an dieser Station. Arbeitsvorschläge: 1. Informiere dich in beiliegendem Material über Lärm und Gesundheit! 2. Beantworte die Fragen auf deinem Arbeitsblatt!
9.1 Lernzirkel „Einführung in die Akustik“ 517 518 519 520 521 522 523 524 525 526 527 528 529 530 531 532 533 534 535 536 537 538 539 540 541 542 543 544 545 546 547 548 549 550 551 552 553 554 555 556 557 558 559
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3. Das deine Arbeitsleistung durch Lärm beeinflusst wird, soll dir der folgende Konzentrationstest (Versuch 22)zeigen: Auf deinem Arbeitsplatz findest du zwei Buchstabenblöcke. Zähle jeweils wie häufig der Buchstabe E auftritt! Beim Durchsuchen des linken Buchstabenblockes höre lautstark Walkman, während du das Zählen der E’s im rechten Block bei Ruhe erledigst. Messe jeweils die Zeit für das Bewältigen des Testes und notiere die Zahl der gefundenen Zeichen! Die tatsächlich Anzahl der E’s kannst du nach Durchführung des Testes auf den Lösungsblättern nachsehen! Wann war deine Arbeitsleistung größer? (s. Lösungsblatt) -
Station 4c: Wie kann man sich vor Lärm schützen?
72% der Bundesbürger fühlten sich Anfang der neunziger durch Straßenlärm belästigt, 54% durch Fluglärm und jeweils etwa 20% durch Industrie und Gewerbe, laute Nachbarn sowie den Schienenverkehr. Wie du dich vor Lärm schützen kannst und welche weiteren Maßnahmen ergriffen werden können , erfährst du an dieser Station. Arbeitsvorschläge: 1. Betätige dich als „Lärmschutzforscher“! Eine genaue Versuchsbeschreibung (Experiment 23) findest du an deinem Arbeitsplatz! 2. Um Schall zu mindern gibt es drei Arten von Lärmschutzmaßnahmen: 3. Informiere Dich über • Persönlichen Lärmschutz (z.B. zu Hause, in der Schule, in Freizeitbereichen) • Maßnahmen an der Schallquelle • Maßnahmen auf dem Ausbreitungswegen aus den beiliegenden Texten. Wer kann Dir weitere Auskünfte geben?
9.1.4 Zur Evaluation des Lernzirkels 1. Zur Erfassung der Motivation der Schülerinnen (n = 21) und der Schüler (n = 7) verwendete Lieb (2001) den IPN – Motivationstest (s. Kap. 6). Dieser wurde auf einer 5-stufigen Skala ausgewertet. Dabei erhielt die Aussage: „Die Schule würde mir mehr Spaß machen, wenn öfters Lernzirkel durchgeführt würden“ die größte Zustimmung (Mittelwert m (gesamt): 4.75, m (Mädchen): 4.86 !!, m (Jungen): 4.43). Auch der Aussage: „Es gab Dinge, die mich be-
Spezifisches Interesse an der Unterrichtsform „Lernzirkel“
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9 Aktuelle Methoden II – Lernzirkel sonders interessierten“ wurde sehr hoch bewertet (m (gesamt): 4.29). Das bedeutet aber noch nicht, dass das Interesse an der Physik größer geworden ist. Die entsprechende Aussage 11 des Tests wurde mit m (gesamt): 2.86) bewertet. Es ist ein spezifisches Interesse für diese methodische Form des Unterrichts, für die dabei möglichen attraktiven und verständlichen Lernaktivitäten, für die spezifischen Inhalte dieses Lernzirkels. Diese Interpretation von Ergebnissen des Motivationstests wird durch die Auswertung von 6 Interviews (4 Mädchen, 2 Jungen) bestätigt; dabei werden auch noch weitere methodische und didaktische Aspekte genannt. Beispielsweise hält die Schülerin Christina, die sonst wenig Interesse an Physik zeigt und auch keine gute Zeugnisnote hat, den Lernzirkel für sehr abwechslungsreich gestaltet. Bis auf wenige Ausnahmen waren für sie die Stationen gut verständlich und einleuchtend, z.B. die Schallausbreitung. Sie führt das darauf zurück, dass beim Lernzirkel Theorie und Praxis miteinander verbunden werden und weitgehend selbständig gearbeitet wird. Sie nimmt an, dass sie die Experimente und die dazu gehörigen Informationen bestimmt nicht so schnell vergessen wird wie einen nur auswendig gelernten Buchtext. Die Station „Der Mensch“ empfand Christina als sehr interessant und ansprechend. Die Abbildungen halfen ihr, eine Vorstellung davon zu bekommen, wie das Innere eines Ohres bzw. der Kehlkopf aussieht; dadurch kann sie die Funktionsweise besser verstehen.
Technische Geräte können auf Schüler abschreckend wirken
Stationen, an denen technische Geräte aufgebaut waren, wirkten auf sie abschreckend. Sie hatte auch Angst, die Geräte beim Experimentieren versehentlich zu zerstören. Sie fragt, ob es notwendig sei, bereits in der 8. Klasse mit so vielen komplizierten Geräten zu arbeiten (nach Lieb 2001, 124). 2. Die Schülerinnen und Schüler hielten die Ergebnisse von Arbeitsaufträge an den Stationen auch schriftlich in Arbeitsbogen fest. Diese wurden nach folgenden Kategorien ausgewertet: „nicht bearbeitet“, „falsche Lösung“, „z. T. richtige/ nicht komplette Lösung“, „richtige Lösung“. Bemerkenswert war, dass „nicht bearbeitet“ selten vorkam. Das lässt darauf schließen, dass die Schülerinnen und Schüler sich Mühe bei ihren Lösungen gaben, obwohl das Schreiben und das häufig damit verknüpfte Lesen von Informationstexten wenig beliebt waren. Die größte Häufigkeit war von der Kategorie „z. T. richtige/ nicht komplette Lösung“. Dies ist auch bei anderen einführenden Lernzirkeln
9.1 Lernzirkel „Einführung in die Akustik“ 603 604 605 606 607 608 609 610 611 612 613 614 615 616 617 618 619 620 621 622 623 624 625 626 627 628 629 630 631 632 633 634 635 636 637 638 639 640 641 642 643 644 645
zu beobachten, und eher wenig „richtige Lösungen“ erarbeitet werden. Das lässt die Folgerung zu, dass Nacharbeit der Thematik zumindest für solche Lernzirkel unumgänglich ist.
385 Nacharbeit der Thematik ist unumgänglich
3. Zum Ablauf des Lernzirkels schreibt Lieb (2001, 127 f.): „Die Jugendlichen begannen sehr hektisch, oberflächlich und „verspielt“ zu arbeiten. Aber allmählich beruhigte sich ihr Arbeitsrhythmus und sie erledigten die Arbeitsaufträge weitgehend konzentriert und gewissenhaft. Die meisten Lernenden waren mit Eifer und Engagement bei der Sache. Sie arbeiteten größtenteils selbstständig, diskutierten miteinander und suchten bei ihren Mitschülerinnen und Mitschülern Hilfe und nicht in erster Linie bei der Lehrkraft. ... Besonders begeistert wirkten die Schüler beim Experimentieren mit Alltagsgegenständen. So konnte ich beobachten, wie die Heranwachsenden eifrig übten auf einem Grashalm zu blasen. Auch das Experimentieren mit der Spiralfeder und mit dem Walkman schien ihnen viel Spaß zu machen. ...Völlig überraschte die Jugendlichen der Schallplattenversuch. Sie konnten zunächst überhaupt nicht fassen, dass es möglich ist, mit einem Papiertrichter und einer großen Nähnadel eine Schallplatte abzuhören.
Abb. 9.3: Schüler bei der Durchführung des Lernzirkels Nicht alle Lernende konnten den Lernzirkel vollständig durchlaufen, da in den Gruppen unterschiedlich schnell gearbeitet wurde. Durch diese Unterrichtsmethode war also die Wahl eines individuellen bzw. eines Gruppenlerntempos möglich. Zwar erfordert die Unterrichtsform „Lernzirkel“ einen enormen Vorbereitungsaufwand, aber bei der Durchführung kann von einem deutlichen Entlastungseffekt des Lehrers gesprochen werden. Im Gegensatz zum lehrerzentrierten Unterricht blieb mir während der Stationenarbeit Zeit, Schüler zu beobachten, Einzelkontakte zu knüpfen sowie individuelle Hilfestellungen zu geben“.
Entlastung des Lehrers während der Stationenarbeit
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9 Aktuelle Methoden II – Lernzirkel Wolfgang Reusch & Thomas Geßner
9.2. Lernzirkel „Laser“ Teils Erarbeitungsteils Übungszirkel
Der hier vorgestellte Lernzirkel „Laser“ wurde auf der Basis eines ursprünglich für die Sekundarstufe I konzipierten Lernzirkels (Robanus 2000) zu einem Zirkel für die Sekundarstufe II erweitert und mit mehreren Leistungskursen des 13. Jahrgangs erprobt. In Anbetracht der Lernbereiche und des Einsatzzeitpunkts handelt es sich einerseits vorwiegend um einen Erarbeitungszirkel (Prinzip, Funktion und Anwendungen des Lasers) andererseits aber auch teilweise um einen Übungszirkel (Energiestufen in Atomen, Wellenoptik, Photonenbild).
9.2.1 Lernvoraussetzungen, Inhalte und Organisation Inhaltlich ist der Lernzirkel an der gymnasialen Oberstufe ausgerichtet, wobei als Zielgruppe besonders der Leistungskurs in Betracht kommt. Bei der Auswahl der Inhalte diente der Themenbereich "Laser" als Kristallisationspunkt, der Laser ist sowohl Lerninhalt als auch im Rahmen der Untersuchung der Eigenschaften seiner Strahlung geeignetes experimentelles Hilfsmittel zur einfachen Realisierung von typischen Experimenten zur Wellenoptik (Beugung, Interferenz, Polarisation). Weiterhin sind in den Lernzirkel fächerübergreifende, anwendungsbezogene und sogar auch grundlegende wissenschaftstheoretische Aspekte (verschiedene Facetten des Modellbegriffs) integriert. Lernvoraussetzungen
Die zentralen Lernvoraussetzungen umfassen vor allem grundlegende Kenntnisse in folgenden Wissensbereichen: • Bohrsches Atommodell • Energieniveauschemata mit quantisierten Zuständen und Übergängen • Photonen als Licht- und Energiequanten (Teilchenmodell) • Phänomene der Wellenoptik (Beugung, Interferenz, Polarisation) • Halbleiter, Dotierung, p-n-Übergang
9.2 Lernzirkel „Laser“ 689 690 691 692 693 694 695 696 697 698 699 700 701 702 703 704 705 706 707 708 709 710 711 712 713 714 715 716 717 718 719 720 721 722 723 724 725 726 727 728 729 730 731
Inhaltlich überdeckt der Lernzirkel die nachfolgend aufgeführten Themenbereiche:
387 Inhalte
• Grundlagen des Lasers (Aufbau und Grundprinzip am Beispiel des He-Ne-Lasers und der Laserdioden im Laserpointer) • Besondere Eigenschaften von Laserlicht (monochromatisch, kohärent, kaum divergent) • • • •
Wellenlängenbestimmung durch Interferenzphänomene Polarisation von Licht Gefahrenpotential von Laserstrahlung Schutz vor Laserstrahlung durch Reflexion und Absorption (Vorund Nachteile)
• Vielfältige Anwendungen von Laserstrahlung In Anbetracht der möglichen Gefahren durch Laserstrahlen erfolgt vor dem Start des Zirkels und der Arbeit an den Stationen eine allgemeine Sicherheitsbelehrung. Der eigentliche Lernzirkel umfasst sechs Stationen, die unabhängig voneinander zu bearbeiten sind. Durch die Ausrichtung auf Leistungskurse sind meistens sechs Stationen ausreichend, wenn man bis zu drei Teilnehmer pro Station vorsieht, andernfalls müssten mehr Stationen mit weiteren Themen eingerichtet werden. Denkbar wäre es auch, im Falle noch größerer Gruppen, alle Stationen doppelt anzubieten. Alternativ könnten auch zu den Grundstationen zusätzliche Stationen erstellt werden, die den besonders schnellen Gruppen als Ergänzungsangebot dienen. Als besonderes Zusatzangebot im Rahmen der Erprobung dieses Lernzirkels nahmen alle Gruppen nach Abschluss des Lernzirkels noch an Praktikums- und Laborführungen im Physikalischen Institut der Universität Würzburg teil. Dabei konnten im Fortgeschrittenenpraktikum „offene Laseraufbauten“ mit den deutlich sichtbaren Grundelementen eines Lasers und in den Forschungslabors komplizierte Lasersysteme zur Erzeugung von hochintensiven „Femtosekunden-Laserpulsen“ im Betrieb besichtigt werden.
9.2.2 Elementarisierung und didaktische Rekonstruktion des Lasers Allgemeine fachliche Grundlagen Laser steht als Abkürzung für die Beschreibung des Grundprinzips: „Light Amplification by Stimulated Emission of Radiation“, was übersetzt „Lichtverstärkung durch künstlich angeregte Aussendung von Strahlung“ bedeutet. Die Besonderheit der „Lichtquelle“ Laser
Aufbau des Lernzirkels
388 732 733 734 735 736 737 738 739 740 741 742 743 744 745 746 747 748 749 750 751 752 753 754 755 756 757 758 759 760 761 762 763 764 765 766 767 768 769 770 771 772 773 774
9 Aktuelle Methoden II – Lernzirkel besteht in der Aussendung monochromatischer, kohärenter, kaum divergenter Strahlung. Jeder Laser besteht grundsätzlich aus drei Komponenten, dem laseraktiven Medium, einer Energiepumpe und einem optischen Resonator. Zur Realisierung bedient man sich unterschiedlicher aktiver Medien und Pumpverfahren.
Verschiedene Laser
Man kann bezüglich des Mediums grob zwischen Festkörperlasern (z.B. Rubin-Laser), Gaslasern (z.B. Helium-Neon-Laser), Flüssigkeitslasern (z.B. Farbstofflaser) und den Halbleiterlasern als speziellen Festkörperlasern unterscheiden. Bezüglich der Energiezufuhr unterscheidet man zwei Verfahren, optisches Pumpen (z.B. beim Rubin-Laser) und elektrisches Pumpen (z.B. beim Helium-NeonLaser und Halbleiterlaser). Heute sind die gängigsten Lasertypen, die in der Schule verwendet werden, besondere Gas- und Halbleiterlaser, nämlich Helium-NeonLaser und Laserdioden. Ihr Aufbau und ihr Funktionsprinzip sollen nun vor allem unter dem Aspekt der Elementarisierung näher betrachtet werden.
Elementarmodell des Lasers (Helium-Neon-Laser) Der Helium-Neon-Laser wurde erstmals 1960 von Theodore H. Maiman vorgestellt. Er ist bis heute immer noch ein sehr beliebter, preiswerter und zuverlässiger Laser. Dies ist in seinem Aufbau begründet. Die wichtigsten Bauteile eines He-Ne-Lasers sind die mit einem Helium-Neon-Gemisch gefüllte Entladungsröhre, eine Hochspannungsquelle und zwei Dünnschichtspiegel.
Bauteile des Lasers
Abb. 9.4: Schematischer Aufbau eines He-Ne-Lasers Die Anregung der gebundenen Elektronen, auch „Pumpen“ genannt, erfolgt durch elektrische Entladungen. Funktionsweise des Lasers
Freie Elektronen und Ionen werden im angelegten elektrischen Feld beschleunigt. Sie kollidieren mit den Gasatomen und regen diese an. (Typische Gasmischung in der Entladungsröhre: Verhältnis von He zu Ne etwa 7:1 bei einem gesamten Gasdruck im Bereich von 0,1% des äußeren Luftdrucks, also etwa 100 Pa). Die Heliumatome befinden sich nach ihrer Anregung in den 21S und 23S Zuständen. Diese
9.2 Lernzirkel „Laser“ 775 776 777 778 779 780 781 782 783 784 785 786 787 788 789 790 791 792 793 794 795 796 797 798 799 800 801 802 803 804 805 806 807 808 809 810 811 812 813 814 815 816 817
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metastabilen Zustände sind sehr langlebig, da von ihnen aus Strahlungsübergänge verboten sind. Die so angeregten Heliumatome stoßen nun inelastisch mit den Neonatomen. Die dabei übertragene Energie regt die Neonatome in den 4S oder 5S Zustand an, und führt dazu, dass sich mehr Elektronen in den 4S oder 5S Zuständen befinden als in den darunter liegenden, den 3P oder 4P Zuständen. Nun spricht man von einer Besetzungsinversion bezüglich der 3P oder 4P Zustände. Die beherrschenden Laserübergänge zwischen den 5S Niveaus und den 3P Zuständen emittieren Photonen der oft bevorzugt verwendeten Wellenlänge 632,8nm (rot), aber auch Photonen mit den Wellenlängen 1152,3 nm und 3391,2 nm (infrarot). Besetzungsinversion
Abb. 9.5: Termschema des Laserübergangs Die Photonen treffen nun auf die Spiegel an den Enden (typische Reflexionsgrade: R1≈0,999; R2≈0,98) und werden größtenteils reflektiert. Die reflektierten Photonen treffen nun wieder auf andere Neonatome und regen diese an, ebenfalls Licht auszusenden. Es entsteht eine Art Kettenreaktion. Immer mehr Atome werden angeregt, Photonen abzugeben. Der Lichtstrahl wird immer mehr verstärkt. Beim He-Ne-Laser beträgt die Verstärkung einige Prozent pro Durchlauf.
Verstärkung des Lasers
Jetzt stellt sich aber die Frage: Warum regen Photonen Atome an Licht (Photonen) auszusenden? Trifft ein zweites Photon (gleicher Energie) auf das angeregte Elektron, so kann das zweite Photon das angeregte Elektron veranlassen (stimulieren), sofort wieder in den Grundzustand überzugehen, also bevor es sowieso spontan „nach
Stimulierte oder induzierte Emission
390 818 819 820 821 822 823 824 825 826 827 828 829 830 831 832 833 834 835 836 837 838 839 840 841 842 843 844 845 846 847 848 849 850 851 852 853 854 855 856 857 858 859 860
9 Aktuelle Methoden II – Lernzirkel unten“ fallen würde. Bei diesem Vorgang werden also zwei gleiche Photonen abgegeben, die sich anschließend in gleicher Richtung weiterbewegen. Dieser Prozess heißt stimulierte oder induzierte Emission, weil die Aussendung von Licht durch das zweite Photon „erzwungen“ wurde. Da sowohl die Ausstrahlungsrichtungen als auch die Wellenlängen der beiden Photonen gleich sind, wird das emittierte Licht intensiver. Natürlich reicht die Lichtverstärkung durch zwei Photonen nicht aus. Diese beiden Photonen können nun aber ihrerseits wieder zwei Elektronen von angeregten Atomen zum Aussenden von Photonen anregen. Wenn sich dieser Prozess immer weiter fortsetzt, kommt es zu einer lawinenartigen Verstärkung und eine Laserstrahlung hoher Intensität entsteht. Um die Verstärkung des Lasers weiter zu vergrößern, hält man viele der ausgestrahlten Photonen im Lasermedium. Das geschieht durch Spiegel (Reflektoren). Hierbei handelt es sich aus mehreren Gründen nicht um klassische Spiegel, die durch eine aufgedampfte Metallschicht ihre reflektierende Eigenschaft erhalten. Diese Metallschicht würde innerhalb kürzester Zeit durch den reflektierten Laserstrahl abgedampft werden und dadurch der Laser zerstört. Die Spiegel beim Laser sind Quarzkörper, die mit einem dünnen mehrschichtigen Film (dielektrische Vielfachschichten) überzogen sind. Dieser Film lässt sich in seiner Konstruktion so aufbauen, dass er nur für bestimmte Wellenlängen durchlässig ist, oder nur bestimmte Wellenlängen reflektiert (Prinzip der Interferenz an dünnen Schichten, z.B. Ölfilm auf Wasser). Dadurch wird selektiv nur die gewünschte Wellenlänge in der Entladungsröhre (Resonator) verstärkt. Durch den Spiegel mit dem geringeren Reflexionsvermögen gelangt ein kleiner Teil des im Resonator gefangenen Lichtes nach außen. Dies ist die gewünschte und beobachtete Laserstrahlung.
Optischer Resonator
Eine Zusammenfassung zum He-Ne-Laser mit einem vereinfachten Energieniveauschema des Vier-Niveau-Lasers findet man z.B. bei Grehn & Krause (1998, 432f).
Halbleiterlaser Halbleiterlaser: - klein - robust - leistungsstark
Der Halbleiterlaser oder Diodenlaser folgte dem Helium-Neon-Laser relativ schnell nach. Er wurde 1962 kurz nach der ersten Leuchtdiode vorgestellt. Bis heute hat er ständig an Bedeutung gewonnen, da er durch sein extrem reines Spektrum und einen sehr hohen Wirkungsgrad eine wichtige Rolle in der Optoelektronik spielt. Trotz der kleinen Abmessungen ist dieser Laser robust und leistungsstark (ca. 200 mW bei Stecknadelkopfgröße).
9.2 Lernzirkel „Laser“ 861 862 863 864 865 866 867 868 869 870 871 872 873 874 875 876 877 878 879 880 881 882 883 884 885 886 887 888 889 890 891 892 893 894 895 896 897 898 899 900 901 902 903
391 Aufbau des Halbleiterlasers
Abb. 9.6: Schematische Zeichnung eines Halbleiterlasers Halbleiterlaser sind aus Galliumarsenid aufgebaut, welches so dotiert ist, dass sich ein p-n-Übergang ausbildet. Dazu wird das Galliumarsenid mit Fremdatomen, zum Beispiel Aluminium, gezielt verunreinigt, genauer gesagt gezielt Gitteratome durch Fremdatome ersetzt. Man spricht dann von einer Dotierung. Diese Dotierung führt dazu, dass sich ein Ungleichgewicht von Elektronen und Löchern im Valenzband und Leitungsband, im Vergleich zum undotierten Halbleiter einstellt. Bei n-dotierten Halbleitern hat man einen Elektronenüberschuss im Leitungsband, bei p-dotierten Halbleitern befindet sich ein Übergewicht an Löchern im Valenzband. Man spricht von einem Loch im Valenzband, wenn es einen Mangel an Valenzelektronen in diesem Band gibt. Fügt man nun einen solchen n-dotierten Halbleiter mit einem p-dotierten zusammen, so bildet sich an der Kontaktfläche ein Übergangsgebiet zwischen den beiden Dotierungsarten aus. Diese Schicht ist das für die Erzeugung von Photonen entscheidende Gebiet. Über den Bandabstand EGAP an diesem pn-Übergang lässt sich die Wellenlänge der emittierten Strahlung einstellen. Springt ein Elektron aus dem Leitungsband in ein Loch im Valenzband (Rekombination), gibt es dabei seine Energie in Form eines Photons ab. Die Wellenlänge des Photons kann man aus der Energiedifferenz EGAP zwischen Leitungsband und Valenzband bestimmen:
EGAP = h ⋅ f = h ⋅
c
λ
Abb. 9.7: Bändermodell eines p-n-Übergangs
Erklärung des Laserprinzips bei einem Halbleiter
392 904 905 906 907 908 909 910 911 912 913 914 915 916 917 918 919 920 921 922 923 924 925 926 927 928 929 930 931 932 933 934 935 936 937 938 939 940 941 942 943 944 945 946
9 Aktuelle Methoden II – Lernzirkel So lassen sich durch unterschiedliche Dotierungen (entweder die Art der Atome mit denen dotiert wird oder die Anzahl der Fremdatome) p-n-Übergänge mit unterschiedlichem Bandabstand EGAP herstellen und als Halbleiterlaser mit verschiedenfarbigem Licht betreiben, die jedoch meist auf einem Halbleitermaterial, nämlich Galliumarsenid (GaAs) basieren. Einige der gegenwärtig kommerziell erhältlichen Laserdioden und die dafür verwendeten Materialien zeigt die folgende Zusammenstellung :
Technische Anwendung von Laserdioden
• InGaAsP für den Infrarotbereich bis 1500 nm (Nachrichtentechnik). • GaAlAs für den Grenzbereich Rot- Infrarot 730- 830 nm (Laserdioden in CD- Playern und Laserdruckern). • InGaAlP für den roten Bereich 630- 670 nm. (z.B. in Laserpointern). Damit die Diode zum Laser wird, müssen die Photonen im Halbleiter gehalten und nur teilweise ausgekoppelt werden. Den einfachsten Spiegel erhält man durch Aufpolieren der Stirnflächen des Halbleiters. Der relativ hohe Brechungsindex an der Grenzfläche zwischen Halbleitermaterial und Luft bedingt eine merkliche Reflexion (z.B. R ≈ 0,3 beim Übergang GaAs/Luft). Wegen der sehr hohen Verstärkung in Halbleiterlasern genügt dies um Laserstrahlung zu erzeugen. Gleichzeitig beruht darauf der gute Wirkungsgrad von Laserdioden.
9.2.3 Die Stationen des Lernzirkels Vor Beginn des Lernzirkels „Laser“ müssen die Schüler über die Gefahren beim Umgang mit Lasern aufgeklärt werden. Daher erfolgt bei diesem Lernzirkel eine allgemeine Sicherheitsbelehrung vor den eigentlichen Arbeiten an den Stationen. Die Gefährdung für das menschlichen Auges, auch durch die in diesem Lernzirkel verwendeten relativ schwachen Laser, wird durch einen Vergleich mit der Überbelichtung beim Fotografieren deutlich gemacht: Niemals in den direkten oder reflektierten Laserstrahl schauen!
Vorsicht beim Experimentieren mit Laserlicht!
Die Augenlinse ist eine Sammellinse aus durchsichtigem Knorpelmaterial; sie erzeugt Bilder wie die Sammellinse beim Fotoapparat. Anstelle des Films in der Kamera befindet sich in unserem Auge die Netzhaut mit ca. 100 Millionen lichtempfindlichen Sinneszellen. Beim Fotografieren achtet man immer darauf, dass man nicht direkt gegen eine starke, gebündelte Lichtquelle fotografiert, da der Film
9.2 Lernzirkel „Laser“ 947 948 949 950 951 952 953 954 955 956 957 958 959 960 961 962 963 964 965 966 967 968 969 970 971 972 973 974 975 976 977 978 979 980 981 982 983 984 985 986 987 988 989
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überbelichtet und zerstört wird. Dadurch ist der Film als Photomaterial unbrauchbar und muss ersetzt werden. Werden aber Sinneszellen im Auge stark „überbelichtet“, dann sind sie dauerhaft zerstört, denn sie können sich nicht regenerieren! Nach der einführenden Sicherheitsbelehrung (weitere Details zu Laserschutzmaßnahmen sind auch Inhalt der Station 2) startet der eigentliche Lernzirkel. • Optische Grundlagen - Wellenoptik • Gefahren und Sicherheitsbestimmungen beim Umgang mit Lasern • Wie funktioniert ein Strichcodelesegerät? • Besondere Eigenschaften des Laserlichts • Funktion von Laser und Laserpointer • Weitere Anwendungen des Lasers
Die sechs Stationen
werden nachfolgend im Hinblick auf die zugrunde liegenden Lernbereiche, die zentralen Fragestellungen, verwendete Materialien und thematische oder mediale Besonderheiten überblicksartig dargestellt.
Station 1: Optische Grundlagen – Wellenoptik Lernbereich: Beugung, Interferenz, Kohärenz, Polarisation
Zentrale Fragestellungen: Unter welchen Bedingungen tritt Beugung an einem Spalt oder Gitter auf? Was sind Voraussetzungen für konstruktive (bzw. destruktive) Interferenz? Ist das Laserlicht polarisiert?
Experimente zu Wellenphänomenen
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9 Aktuelle Methoden II – Lernzirkel
Materialien: He-Ne-Laser (Schulausführung), Gitter (250 Str./cm), Polarisationsfilter, Schirm, Optische Bank, Messschieber, Maßstab
Wesentliche Ergebnisse: Wellenphänomene durch LASER-Licht
Sichtbares Licht ist ein kleiner Bereich aus dem Spektrum der elektromagnetischen Wellen. Durch die besonderen Eigenschaften des LASER- Lichts lassen sich die Wellenphänomene: Beugung (Abweichung von der geradlinigen Ausbreitung) und Interferenz (Überlagerung, konstruktiv bzw. destruktiv) sehr einfach experimentell zeigen und auch zur Wellenlängenbestimmung nutzen. Abb. 9.8: Schematische Zeichnung der Beugung am Gitter. Die Strahlen, die sich in einem Punkt treffen, können am Gitter als näherungsweise parallel angenommen werden.
Station 2: Gefahren und Sicherheitsbestimmungen beim Umgang mit Lasern Lernbereich: geeignete Schutzmaßnahmen gegen Laserstrahlung, Schäden durch Lasereinwirkung, Laserschutzklassen
Zentrale Fragestellungen: Vor- und Nachteile der Reflexion und Absorption als Schutzmechanismen? Sind Farbfolien ein geeigneter Schutz vor Laserlicht?
9.2 Lernzirkel „Laser“ 1033 1034 1035 1036 1037 1038 1039 1040 1041 1042 1043 1044 1045 1046 1047 1048 1049 1050 1051 1052 1053 1054 1055 1056 1057 1058 1059 1060 1061 1062 1063 1064 1065 1066 1067 1068 1069 1070 1071 1072 1073 1074 1075
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Materialien: Laserpointer, Luxmeter (oder LDR und Ohmmeter), Schutzbrillen, Farbfilter, Stativmaterial Informationen zu den Laserschutzklassen Es gibt verschieden intensive und damit auch unterschiedlich gefährliche Laser. Um vor falschem Umgang mit Lasern zu schützen, hat man die Laser in verschiedene Klassen eingeteilt, die etwas über ihre Wirkung auf den menschlichen Organismus aussagen. Klasse 1: Augensicher auch bei längerer (absichtlicher) Bestrahlung, sogar bei Bestrahlung durch Lupen und Ferngläser. Grenzleistung 40 μW im blauen Spektralbereich, 400 μW im roten Spektralbereich. Zu Klasse 1 gehören auch gekapselte Laser höherer Leistung. Durch die vollkommene Einhausung wird ein Austritt von Strahlung verhindert, auch bei einer Fehlbedienung.
Keine Gefahr
Klasse 1M: Augensicher, auch bei längerer (absichtlicher) Bestrahlung, jedoch mögliche Augenschäden bei Bestrahlung durch Lupen und Ferngläser. Klasse 2: Sichtbare Laserstrahlung, nur augensicher bei sehr kurzzeitiger Bestrahlung (bis 0,25s), auch bei Bestrahlung durch Lupen und Ferngläser. Grenzleistung 1 mW. Zu dieser Klasse gehören Laserpointer und Experimentierlaser für die Schule.
Augen gefährdet
Klasse 2M: Sichtbare Laserstrahlung, augensicher bei kurzzeitiger Bestrahlung für das freie Auge, möglicher Augenschaden bei Bestrahlung durch Lupen und Ferngläser. Klasse 3R: Praktisch keine Gefahr für die Augen bei kurzzeitiger unabsichtlicher Bestrahlung. Gefahr bei unsachgemäßer Verwendung durch nicht eingewiesenes Personal. Der fünffache Wert der Klasse 2 im sichtbarem Bereich (d.h. 5mW), sowie der fünffache Wert der Klasse 1 außerhalb des sichtbaren Bereichs. Klasse 3B: Gefahr für die Augen durch den direkten Strahl und spiegelnde Reflexionen. Möglich sind geringfügige Hautverletzungen bei Leistungen nahe der Obergrenze von 500 mW.
Haut gefährdet
Klasse 4: Alle Laser mit Leistungen über 500 mW. Gefahr für die Augen durch den direkten und auch diffus reflektierten Strahl, Gefahr für die Haut, Brand- und Explosionsgefahrgefahr. Von der Leistung her nach oben hin offen.
Schutzanzug erforderlich
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9 Aktuelle Methoden II – Lernzirkel
Station 3: Wie funktioniert ein Strichcodelesegerät? Lernbereich: Funktionsweise eines Strichcodelesegeräts anhand eines einfachen, selbst gebauten Modells – Unterschiede zwischen Modell und kommerziellem Gerät– Binärcode, Strichcode
Zentrale Fragestellungen: Wie funktioniert die Abtastung? Was sind wichtige Komponenten des Strichcodelesegeräts?
Materialien: Strichcodelesegerät (Modell), LDR (lichtempfindlicher Widerstand), Ohmmeter, weißes und schwarzes Papier Mit einem „Abtaster“ wird ein Laserstrahl über diesen Strichcode geführt. Die rückgestreute Strahlung wird gemessen. Durch die schwarzen und weißen Flächen des Strichcodes entsteht eine Folge von Impulsen mit unterschiedlichen Abständen. Diese werden durch einen Fotodetektor in ein entsprechendes elektrisches Signal umgewandelt und ausgewertet.
Beispiel für einen Strichcode
Das Strichcodelesegerät funktioniert, weil Licht von schwarzen und weißen Flächen unterschiedlich stark reflektiert wird. Man braucht also eine geeignete Lichtquelle (ein Laser ist günstig, weil er gebündeltes Licht aussendet) zum Lesen der Strichcodes. Nebenstehende Abbildung zeigt einen solchen Strichcode. Am Anfang und am Ende befindet sich die Codeinformation, die zur Decodierung benutzt wird und Abstand und Dicke der Sticke für das Lesegerät vorgibt. Die Ziffern werden durch jeweils 4 Balken bestimmt.
9.2 Lernzirkel „Laser“ 1119 1120 1121 1122 1123 1124 1125 1126 1127 1128 1129 1130 1131 1132 1133 1134 1135 1136 1137 1138 1139 1140 1141 1142 1143 1144 1145 1146 1147 1148 1149 1150 1151 1152 1153 1154 1155 1156 1157 1158 1159 1160 1161
Station 4: Besondere Eigenschaften des Laserlichts Lernbereich: Laserlicht ist monochromatisch, Laserlicht ist kaum divergent
Zentrale Fragestellungen: Kann Laserlicht spektral zerlegt werden? Wie ist das Abstrahlverhalten des Lasers im Vergleich zu einer Glühlampe?
Materialien: Laserpointer, Lampe, Prisma, Linse, Spalt, Schirm, lichtabhängiger Widerstand (LDR), Amperemeter, Spannungsquelle, optische Bank
Abb. 9.9: Experiment zum Abstrahlverhalten des Lasers im Vergleich zu einer Glühlampe mit Reflektor
397
398 1162 1163 1164 1165 1166 1167 1168 1169 1170 1171 1172 1173 1174 1175 1176 1177 1178 1179 1180 1181 1182 1183 1184 1185 1186 1187 1188 1189 1190 1191 1192 1193 1194 1195 1196 1197 1198 1199 1200 1201 1202 1203 1204
9 Aktuelle Methoden II – Lernzirkel
Station 5: Funktion von Laser und Laserpointer Lernbereich: Modellvorstellung des Laserprinzips (Der Laser ist ein Lichtverstärker durch angeregte Emission)
Zentrale Fragestellungen: Was ist eine Besetzungsinversion? Was bedeutet stimulierte oder induzierte Emission? Was sind laseraktive Übergänge?
Materialien: Dokumente auf folgenden WebSites: Physics 2000 (Original) & Physik 2000 (deutsch)
http://www.colorado.edu/physics/2000/lasers/index.html http://www.iap.uni-bonn.de/P2K/lasers/index.html
Erfahrungen zum Einsatz des Mediums „Internet“ Für die Bearbeitung der Aufgaben an dieser Station stand neben einer knappen schriftlichen Zusammenfassung eine Web-Site mit ausführlichen Erklärungen und interaktiven Simulationen als zentrale und umfassende Informationsquelle zur Verfügung. Die hervorragenden und klaren Darstellungen waren für die Oberstufenschüler sehr gut verständlich und wurden dank ihrer sehr ansprechenden Aufbereitung auch intensiv genutzt. Ein wesentlicher Motivationsfaktor und erweiterter Informationsträger gegenüber einem Druckmedium waren dabei die dynamischen Visualisierungen mit den interaktiven Simulationen. Lediglich die ursprünglich angegebenen englischsprachigen Originalseiten stießen bei einigen Teilnehmern auf grundsätzlichen Widerstand oder bereiteten manchen auch unerwarteter Weise Verständnisprobleme, so dass diesen Gruppen dann die deutschen Seiten angeboten wurden.
9.2 Lernzirkel „Laser“ 1205 1206 1207 1208 1209 1210 1211 1212 1213 1214 1215 1216 1217 1218 1219 1220 1221 1222 1223 1224 1225 1226 1227 1228 1229 1230 1231 1232 1233 1234 1235 1236 1237 1238 1239 1240 1241 1242 1243 1244 1245 1246 1247
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Station 6: Weitere Anwendungen des Lasers Lernbereich: Laser in der Medizin, Laser als Lichtquelle für Hologramme, kurzer Aufriss weiterer Verwendungsbereiche
Zentrale Fragestellungen: Was sind Anwendungsgebiete von Lasern?
Materialien: Laserpointer, Lichtleitermodell, kommerzielle Lichtleiterkabel, Bildleiter, etc.
Medizin: Photodisruption: Materialzerstörung durch intensive Laserstrahlung (z.B. Gallensteine)
Photodisruption
Photokoagulation: Schmelzen und verkleben von Material (z.B. Wunden verkleben)
Photokoagulation
Augenheilkunde: Mit dem Laser kann man Ablösungen an der Netzhaut oder Tumore im Auge durch die Linse behandeln.
Augenheilkunde
Lasereinsatz in der Materialbearbeitung
Materialbearbeitung
Durch einen Laserstrahl mit entsprechend hoher Leistung können Metalle exakt geschweißt oder gefräst werden.
Einsatz in der Vermessungstechnik Laufzeitmessung zur Entfernungsbestimmung
Vermessungstechnik
Holographie
Holographie
Räumliche Bilder mit Laserstrahlen erzeugen
400 1248 1249 1250 1251 1252 1253 1254 1255 1256 1257 1258 1259 1260 1261 1262 1263 1264 1265 1266 1267 1268 1269 1270 1271 1272 1273 1274 1275 1276 1277 1278 1279 1280 1281 1282 1283 1284 1285 1286 1287 1288 1289 1290
9 Aktuelle Methoden II – Lernzirkel
9.2.4 Erfahrungen bei der Durchführung Der Lernzirkel mit seinen sechs Stationen wurde bisher mit acht Leistungskursgruppen unterschiedlicher Größe zwischen insgesamt acht und siebzehn Teilnehmern erprobt. Dabei erwies sich die Anzahl der Stationen selbst bei drei Teilnehmern pro Station als ausreichend. Ideal war natürlich die Besetzung der einzelnen Stationen mit maximal zwei Teilnehmern. Zusammen mit der einführenden Sicherheitsbelehrung war für die Bearbeitung der sechs Stationen eine Gesamtdauer von zwei Stunden geplant, was sich als realistisch erwies. Besonders überraschend war, dass das sehr vereinfachte Modell des Strichcodelesegeräts (Station 3), das unverändert aus dem ursprünglich für die SI konzipierten Lernzirkel übernommen wurde, auf besonders großes Interesse stieß und außergewöhnliche Neugier auslöste. Ähnlich wurde auch Station sechs mit weiteren Anwendungen des Lasers aufgenommen. Anwendungsbezug als Interessenschwerpunkt
Um einen Eindruck zu gewinnen, wie der Lernzirkel im Vergleich zum normalen Kursunterricht beurteilt wird, wurde mit 43 Probanden aus drei der acht Gruppen eine Erhebung mit Fragebogen unmittelbar vor und nach dem Lernzirkel durchgeführt. Mit dem Fragebogen (19 Items) wurde die motivierenden Wirkung des Lernzirkels verglichen mit dem in der Schule vorausgegangenen Unterricht (s. Kap. 6.3.3 ). Die Aussagen lassen sich vier Kategorien zuordnen: • Beschäftigung mit dem Thema auch außerhalb des Unterrichts (I) • Einschätzung des persönlichen Nutzens (II) • Beurteilung des Unterrichtsklimas (III) • Themenspezifisches Interesse (IV) Auf der jeweils sechsstufigen Antwortskala wurden im Mittel über die 43 Probanden folgende Einschätzungen für den vorausgegangenen Unterricht (LK) und für den Lernzirkel (LZ) getroffen. Dabei entspricht die Wertung 1 der höchsten Zustimmung bzw. positivsten Beurteilung. Erfreulicherweise liegen alle Bewertungen im positiven Bereich (≤ 3,5). Dies ist für Leistungskursteilnehmer im wesentlichen auch zu erwarten. Trotzdem ergeben sich teilweise deutliche Unterschiede. Während die Kategorien I und IV für den vorausgegangenen Unterricht und den Lernzirkel praktisch gleichwertig eingestuft sind, erfolgt in den Kategorien II und III eine vergleichsweise bessere Bewertung des Lernzirkels.
9.2 Lernzirkel „Laser“ 1 LK
2
Wertung
1291 1292 1293 1294 1295 1296 1297 1298 1299 1300 1301 1302 1303 1304 1305 1306 1307 1308 1309 1310 1311 1312 1313 1314 1315 1316 1317 1318 1319 1320 1321 1322 1323 1324 1325 1326 1327 1328 1329 1330 1331 1332 1333
401
LZ
3 4 5 6 I
II Kategorie III
IV
Abb.9.10: Übersicht zur tendenziellen Bewertung des Lernzirkels (LZ) im Vergleich zum vorausgegangenen Unterricht (LK) Für Kategorie II (Einschätzung des persönlichen Nutzens) scheint der Anwendungsbezug entscheidend, für Kategorie III (Beurteilung des Unterrichtsklimas) ist wohl die offenere Unterrichtssituation mit mehr Eigenaktivität ausschlaggebend für die bessere Bewertung des Lernzirkels.
Größerer persönlicher Nutzen
Daraus lässt sich folgern, dass Anwendungsbezug ein wesentliches Anliegen und ein Interessensschwerpunkt von Schülerinnen und Schülern ist und auch diesbezüglich zentral in einem noch offeneren Unterricht mit mehr Eigenaktivität berücksichtigt werden sollte.
Besseres Unterrichtsklima
9.2.5 Anhang: Neue Laserschutzklassen Zur Einstufung des Gefährdungspotenzials von Lasern wurden sie früher den Klassen 1, 2, 3 (3A, 3B) und 4 zugeordnet. (Europäische Norm DIN EN 60825-1 "Sicherheit von Lasereinrichtungen“). Die erneuerte Norm wurde im November 2001 mit wesentlichen Änderungen für die Klassifizierung von Lasereinrichtungen veröffentlicht. So entfällt beispielsweise die bisherige Klasse 3 A, an deren Stelle die neuen Klassen 1M und 2M treten. Ebenfalls neu ist die Klasse 3R, eine Unterklasse von 3B. Seit dem 01.01.2004 müssen Laser, die neu in Verkehr gebracht werden, nach der neuen DIN EN 60825-1 klassifiziert sein. Eine Pflicht zur Neuklassifizierung vorhandener Lasereinrichtungen, die vor diesem Datum in Betrieb genommen wurden, besteht jedoch nicht. Damit ist die Situation für den Schulgebrauch undurchsichtiger geworden. Es gilt aber: Klasse 1 bleibt Klasse 1 - Klasse 2 bleibt Klasse 2 - Klasse 3A wird Klasse 1M oder 2 M - Klasse 3B bleibt Klasse 3B oder wird 3R - Klasse 4 bleibt Klasse 4. Zusammenfassend gilt: Laser der alten und neuen Klassen 1 und 2 (Experimentierlaser von Lehrmittelfirmen, Laserpointer) sind in der Schule zulässig.
Laser der alten und neuen Klassen 1 und 2 sind in der Schule zulässig
402 1334 1335 1336 1337 1338 1339 1340 1341 1342 1343 1344 1345 1346 1347 1348 1349 1350 1351 1352 1353 1354 1355 1356 1357 1358 1359 1360 1361 1362 1363 1364 1365 1366 1367 1368 1369 1370 1371 1372 1373 1374 1375 1376
9 Aktuelle Methoden II – Lernzirkel
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1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43
10 Aktuelle Methoden III – Spiele Sie haben in Teil I „Physikdidaktik“ ( Kap. 4) das Spiel als „methodische Großform“ kennen gelernt. Spielen gehört zum Menschen; darüber sind sich wohl alle einig. Spiele haben wichtige didaktische Funktionen, weil sie äußerst relevante Ziel fördern können, etwa soziale Ziele, Grundqualifikationen sozialen Handelns wie Toleranz, Rücksichtnahme, Einfühlungsvermögen, Flexibilität. Spiele können die Phantasie anregen, Kreativität herausfordern. „Wahrnehmungsleistungen, motorische Fertigkeiten sowie Intelligenzleistungen werden großenteils durch Spielaktivität erworben“ (s. Oerter 197717, 225). Spiele haben methodische Implikationen: Sie können in allen Phasen des Unterrichts eingesetzt werden, beliebt sind Spiele zur Festigung des Neugelernten. Spiele lockern den Unterricht auf. Spiele mit physikalischem Hintergrund können selbst erfunden und gebastelt werden. Dies kann in einer Projektwoche geschehen oder im Schullandheim (Rottmann 2004). Spiele entschleunigen den Physikunterricht. Spiele haben auch eine mediale Seite. Spiele im Physikunterricht illustrieren unanschauliche, komplexe Sachverhalte machen Physik verständlich . Der Autor Peter Labudde zeigt durch seine Beispiele, wie Physik spielerisch und kreativ in Konstruktionsspielen angewendet wird. „Gespielte Analogien“ können unanschauliche Begriffe und Vorgänge veranschaulichen. Schließlich werden „Sinnhafte Spiele“ mit einer ganz besonderen didaktischen Bedeutung beschrieben: Sie führen zu ursprünglichem Verstehen. Gewissermaßen in der Nachfolge Martin Wagenscheins werden Möglichkeiten eines sinnlichen, entschleunigten Physikunterrichts skizziert.
404 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81 82 83 84 85 86
10 Aktuelle Methoden III – Spiele Peter Labudde
10.1 Gespielte Physik – spielerische Physik Spiel und Physik
„Physikerinnen und Physiker sind Spielkinder.“ Mit dieser Feststellung wurden wir als Erstsemestrige zu Beginn des Physikstudiums von einem Dozenten begrüßt. Einige Jahre später las ich von Nietzsche: „Die Würde des Menschen liegt im Spiel des Kindes.“ Seither beschäftigt mich immer wieder die Frage: Wie viel Spiel, wie viel gespielte und zugleich spielerische Physik unterrichten wir? Spiel und Spaß in Physik sollen gleichzeitig Lernen und Verstehen der Physik einschließen (Labudde u.a. 2002). Der folgende Beitrag und die Unterrichtsbeispiele gliedern sich, wie eine Spielanleitung, jeweils in drei Teile:
Spielregeln Spielverläufe Tipps und Tricks
•
Spielregeln beinhalten einige methodisch-didaktische Anregungen und Hintergrundinformationen zum Einsatz der Spiele,
•
Spielverläufe schildern ganz konkret exemplarische Beispiele für den täglichen Unterricht: Welche physikalischen Voraussetzungen müssen die Spielerinnen und Spieler mitbringen? Wie lauten die Ziele des Spiels? Welche Materialien werden benötigt? Wie könnte das Spiel, d.h. die Unterrichtseinheit, ablaufen?
•
Tipps und Tricks geben weiterführende Ideen und Anregungen für Fortgeschrittene, d.h. für ‚Spiel-Physik-Lehrkräfte‘.
Die Beispiele sind eingebettet in den Rahmen für das Spiel wie ihn Kircher (Kap. 4), sowie Labudde (1997; 2000) für ein konstruktivistisches Unterrichtsmodell aufspannen.
10.2 Konstruktionsspiele – technische Kreativität 1. Spielregel: Wenig Vorgaben
Zu den allgemeinen Spielregeln: Konstruktionsspiele verbinden Physik und Technik. Schülerinnen und Schüler können hier ihrer Kreativität freien Lauf lassen. Wir Lehrpersonen beschränken uns bei den Vorgaben auf ein absolutes Minimum. Als Folge werden die Klasse und wir mit einer Fülle von originellen physikalischtechnischen Ideen beschenkt, mit überraschenden Fragen und Antworten, mit Motivation und Spaß. Alle Beteiligten erleben das Lernen in einer Wissenbildungsgemeinschaft (Stebler u.a. 1994).
10.2 Konstruktionsspiele – technische Kreativität 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 100 101 102 103 104 105 106 107 108 109 110 111 112 113 114 115 116 117 118 119 120 121 122 123 124 125 126 127 128 129
Für den Unterricht hat sich folgender Ablauf bewährt: 1.
In das Problem einsteigen: Was soll konstruiert werden? Welches Produkt wird erwartet? Wie lauten die Rahmenbedingungen, d.h. Baumaterial, Zeitdauer, Gruppengröße, Arbeitsplätze etc.? (Zeitdauer für diese Phase je nach Aufgabe 5'-15')
2.
Probieren und Entwerfen: Jede Gruppe entwickelt erste Ideen, setzt diese um und baut eine erste vorläufige Version. (20'-45')
3.
Treffen 1: Die Gruppen kommen zusammen, führen die Probeversionen vor, tauschen Fragen und Antworten aus. (10'-20')
4.
Experimentieren und Optimieren (evtl. als Hausaufgabe): In dieser Phase werden die Modelle verbessert, das anfängliche intuitive Basteln macht einem Tüfteln und systematischen Experimentieren Platz. Die Lernenden werden so zu Expertinnen und Experten. (20'-45')
5.
Treffen 2: Die Gruppen führen ihre Modelle im Plenum vor. Physikalisch-technische Probleme und ihre Lösungen werden kritisch begutachtet, gewürdigt oder hinterfragt. (10'-20')
6.
Auswerten: Auf Tafel oder Papier werden Erkenntnisse ("Was haben wir gelernt?") und offene Fragen notiert. Beide bilden eine Basis für den weiteren Unterrichtsverlauf. (10'-20')
405 2. Spielregel: Ablauf gliedern
Die folgenden Beispiele bzw. Spielverläufe lassen sich - der Altersstufe jeweils angepasst - fast überall einsetzen: Orientierungsstufe, Sekundarstufen I und II, Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften. Ziel: Konstruiere ein Fahrzeug, das durch ein Gummiband angetrieben wird und möglichst weit fährt. Physikalische Inhalte: Newtonsche Axiome, insbesondere F = m·a, Reibungskraft, potentielle und kinetische Energie (bzw. Spannungsund Bewegungsenergie). Rahmen: Einsatz dieses Beispiels entweder beim Erarbeiten des 2. newtonschen Axioms oder beim Diskutieren des Energiesatzes. Material: Gummibänder (für alle Gruppen genau die gleichen), Holz und Sperrholz, Draht, Klebstoff, Nägel, Schrauben, Räder (Holzräder, Räder von alten Spielzeugautos, alte CDs oder Schallplatten), Laubsäge, Hammer, Schraubenzieher, Handbohrer. Durchführung: Bei der Aufgabenstellung muss bekannt gegeben werden, wo die Schülerinnen und Schüler ihre Autos nachher vorführen, z.B. Pausenplatz, Schulhauskorridor, Turnhalle. Diese 'Test-
1. Beispiel Gummibandauto
406 130 131 132 133 134 135 136 137 138 139 140 141 142 143 144 145 146 147 148 149 150 151 152 153 154 155 156 157 158 159 160 161 162 163 164 165 166 167 168 169 170 171 172
10 Aktuelle Methoden III – Spiele strecke' sollte einen relativ glatten Belag aufweisen sowie mindestens 30 m lang sein. Auswertung: Warum beschleunigen die einen Autos mehr, die anderen weniger? Welchen Einfluss hat die Masse des Autos auf Beschleunigung und zurückgelegte Wegstrecke? Welchen Vorteil bieten Antriebsräder, die einen großen Durchmesser aufweisen (z.B. CDs)? Wie lässt sich die Reibung in den Radlagern reduzieren? In diesem Beispiel werden zum einen der Zusammenhang zwischen Kraft, Beschleunigung und Masse sowie die Umwandlung von Spannungs- in Bewegungsenergie 'be-greifbar'. Zum anderen erfahren - im doppelten Sinn des Wortes - die Lernenden auch die Bedeutung der Reibungskraft. Ist diese zu klein, d.h. der Reibungskoeffizient bzw. das Gewicht sind zu klein, drehen die Räder beim Beschleunigungsvorgang durch.
Abb. 10.1: Zwei Gummibandautos
Physikalische Erkenntnisse
Mausefallenauto
2. Beispiel Turboschiff
Weiterführende Tipps und Tricks: Statt eines Gummibands läßt sich auch eine Mausefalle als Antriebssystem verwenden. Diese weist nicht nur eine Feder zur Energiespeicherung auf, sondern besitzt mit dem Holzbrettchen gleich noch ein Chassis. Köhler (2000) schildert ausführlich eine Unterrichtseinheit zum 'Mausefallenauto'. Sie schlägt zudem vor, diese Projektaufgabe mit einer schriftlichen Erörterung abzuschließen. In dieser beschreiben und begründen die Jugendlichen aus physikalisch-technischer Perspektive ihre Konstruktion und führen zudem Schwächen und Verbesserungsvorschläge auf. Bei einer eventuellen Benotung gibt Köhler 20% der Note für die Fahrtüchtigkeit und gefahrene Strecke, 30% für die Konstruktion des Autos und 50% für die Erörterung. Ziel: Baue ein Schiff aus Styropor, das Wasser mit sich führt und durch dieses angetrieben wird. Physikalische Inhalte: Potenzielle Energie, Impulssatz, Rückstoßprinzip, evtl. Wasserwiderstand. Rahmen: Dieser Schiffbau kann als verbindendes Element zwischen den zwei Unterrichtseinheiten Energie und Impuls eingesetzt werden. Wird zuerst die Energie diskutiert, hilft der Schiffbau mit, den
10.2 Konstruktionsspiele – technische Kreativität 173 174 175 176 177 178 179 180 181 182 183 184 185 186 187 188 189 190 191 192 193 194 195 196 197 198 199 200 201 202 203 204 205 206 207 208 209 210 211 212 213 214 215
407
Begriff 'potenzielle Energie' zu 'be-greifen'. Gleichzeitig entwickeln die Lernenden ein erstes qualitatives Verständnis von Impuls und Rückstoßprinzip (ohne dass diese Begriffe beim Bau des Schiffes bereits bekannt sein müssten). Material: Styropor, Styroporschneider oder Messer, Klebstoff, Wasserbecken (z.B. Planschbecken, Brunnen, Badewanne), leere PETFlaschen (3 dl oder 5 dl), Plastikschläuche bzw. Plastiktrinkhalme, Holz-Spießchen und -Zahnstocher zum Zusammenstecken von Styroporteilen, Litermaß, je nach Bedarf weiteres Recycling-Material. Durchführung: Es empfiehlt sich, die Menge des Antriebswassers auf 300 ml zu begrenzen, denn mehr Wasser führt zu großen Schiffen, für die dann eine passende Wasserfläche fehlt. Wenn immer möglich sollte diese Konstruktionsaufgabe alle sechs Phasen umfassen, d.h. die Kinder oder Jugendlichen sollten zuerst probieren und entwerfen, dann experimentieren und optimieren. Während des Baus treten nämlich derart viele physikalisch-technische Fragen und Probleme auf, dass genügend Zeit zur Verfügung stehen muss (mindestens 80 Minuten reine Gruppen-Arbeitszeit). Bei der ersten Durchführung war es für mich eine große Hilfe, mit einem Kollegen aus dem Fachbereich Technisches Gestalten zusammen zu arbeiten.
Abb. 10.2: Ein einfaches Turboschiff sowie ein Katamaran mit Rad Auswertung: So einfach die Aufgabenstellung scheint, so interessant und vielfältig sind die physikalischen Einsichten und Herausforderungen, die sich während des Baus einstellen. Hier wird eine altbekannte Triade Pestalozzis umgestellt: "Hand, Herz, Kopf". Während und nach dem Schiffbau fragen und diskutieren Schülerinnen und Schüler: •
Wie lässt sich das Schiff antreiben? Soll das Wasser hinten durch einen dünnen oder dicken Schlauch fließen? Soll dieser beim Ausfluss horizontal oder schräg nach unten geneigt sein, sich über oder unter der Wasseroberfläche befinden? (Impulssatz)
Physikalische Erkenntnisse
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10 Aktuelle Methoden III – Spiele •
In welcher Höhe sollte das Wasser gelagert werden? Könnte es auch eine Art Turbine bzw. Wasserrad antreiben, welche ihrerseits das Schiff vorwärts bewegen? (Energiesatz und Wirkungsgrad)
•
Wo muss das Wasser platziert werden: in der Schiffsmitte, mehr vorne oder eher hinten? (Schwerpunkt, Stabilität)
•
Wie läßt sich der Wasserwiderstand verringern? Welchen Vorteil hat eine Katamaran-Lösung? (Querschnitt, Widerstand)
Weiterführende Tipps und Tricks: Dieser Schiffbau wurde von mir bereits an anderer Stelle unter dem Titel "Mit den Händen denken lernen beim Schiffbau" sehr ausführlich beschrieben und als ein Beispiel genetischen Lernens aus dem Blickwinkel der Physikdidaktik diskutiert (Labudde 1993, 86). Variante Papierschiff
Am ‚Institut für Maritime Systeme und Strömungstechnik‘ der Universität Rostock wird jährlich ein internationaler Wettbewerb ausgeschrieben (Bronsart 2001): Jugendliche sind eingeladen, ein Papierschiff zu bauen. Der Materialeinsatz ist auf 10 g Papier und Kleber beschränkt. Das Schiff mit der größten Tragfähigkeit gewinnt, der Rekord steht bei unglaublichen 2855 g. Der Wettbewerb bietet für Klassen, Gruppen oder Einzelpersonen eine schöne Gelegenheit, über das Gesetz von Archimedes hinaus zu gehen und auf spielerische Art einige physikalisch-technische Grundprinzipien des Schiffbaus zu erarbeiten.
3. Beispiel Ei-Fall-Bremser
Ziel: Ein rohes Ei wird aus 2 m Höhe fallen gelassen. Konstruiere ein ‚Gerät‘ bzw. eine ‚Bremsvorrichtung‘, so dass das Ei unbeschädigt auf dem Fußboden landet und dort zu liegen kommt. Physikalische Inhalte: gleichmäßig beschleunigte Bewegung (freier Fall, Bremsvorgang, Radialbeschleunigung), Bremskraft. Unterrichtsrahmen: Dieses Konstruktionsspiel kann während oder am Ende einer Unterrichtseinheit zur Kinematik durchgeführt werden. Es leitet von der Kinematik zur Dynamik über. Material: Rohe Eier (pro Gruppe ca. zwei), 2 m-Zollstock, A4Blätter, Karton, Gummibänder, Papierhandtücher, Bindfaden und Bänder, Büroklammern, Tesafilm, Scheren, Kleber, Papierhefter.
Wettbewerbsbedingungen
Durchführung: Zu Beginn werden die genauen Wettbewerbsbedingungen schriftlich festgehalten: Das Ei muss aus 2 m Höhe frei fallen; am Ei selber darf nichts angebracht werden; die Eierbremsmaschinen müssen alleine auf dem Boden stehen, d.h. sie dürfen nicht von einer Person gehalten werden; das Ei muss nachher wirklich auf
10.2 Konstruktionsspiele – technische Kreativität 259 260 261 262 263 264 265 266 267 268 269 270 271 272 273 274 275 276 277 278 279 280 281 282 283 284 285 286 287 288 289 290 291 292 293 294 295 296 297 298 299 300 301
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dem Boden liegen, es darf sich keine Luft zwischen Ei und Fußboden befinden, allenfalls ein oder zwei Blatt Papier.- Es reicht eine Bastel- und Experimentierphase von ca. 60‘ - 90‘, d.h. die Phasen 4 und 5 sind hier nicht nötig. Die Eier werden erst ganz am Schluss ausgegeben, d.h. wenn die Gruppen im Plenum ihre ‚Ei-FallBremser‘ vorführen. Dieses Vorgehen steigert Spaß und Spannung.
Abb. 10.3: Zwei Ei-Fall-Bremser Auswertung: Der Ei-Fall-Bremser könnte auch als ‚Ein-FallBremser‘ bezeichnet werden, niemals jedoch als ‚Einfall-Bremser‘. Der Kreativität sind hier keine Grenzen gesetzt, ein Dutzend Gruppen entwickelt ohne weiteres 5-8 ganz verschiedene Lösungen. Physikalisch 'be-greifen' die Schülerinnen und Schüler hier das Konzept der ‚Gleichmäßigkeit‘, sie verstehen qualitativ das Wort ‚gleichmäßig‘ in dem sonst recht theoretischen Ausdruck ‚gleichmäßig beschleunigte Bewegung‘. Bei einigen Modellen erarbeiten die Jugendlichen intuitiv auch den Zusammenhang zwischen Richtungsänderung und (Radial-) Beschleunigung bzw. Zentralkraft. Zudem entwickeln sie erste Ideen bzw. Prä-Konzepte zur Proportionalität von (Brems-) Kraft und Beschleunigung. Diese Ideen können in den folgenden Stunden wieder aufgenommen werden.
Physikalische Erkenntnisse
Weiterführende Tipps und Tricks: Die Anregung für dieses Experiment verdanke ich der Arbeitsgruppe ‚Oberflächen‘ des Instituts für Festkörperphysik der Universität Hannover: Als die Institutsmitglieder anläßlich einer Weihnachtsfeier ‚Ei-Fall-Bremser‘ bauten, mussten von den einzelnen Gruppen alle Materialien teuer bei der Organisatorin des Spiels eingekauft werden (z.B. eine Rolle Tesafilm 2.-,
Eine Bereicherung für Schulfest und Schulkasse
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10 Aktuelle Methoden III – Spiele ein Blatt Papier 0.5, Ausleihen einer Schere 10.- Euro). Das Geld kam einem karitativen Zweck zugute. Ähnlich könnte das Konstruktionsspiel in der Schule eingesetzt werden: Tag der offenen Tür, Basar, Schulfest. So läßt sich Geld sammeln für eine wohltätige Organisation, die Physik-Sammlung oder eine Landschulwoche.
10.3 Gespielte Analogien – modellhaftes Lernen Zu den allgemeinen Spielregeln: Bei dieser Art von Spielen (s. Kap. 4) geht es darum, Modelle spielerisch darzustellen, z.B. ein Modell für den elektrischen Stromkreis oder eines für die Aggregatzustände. Zuerst werden meist die physikalischen Inhalte erarbeitet. Im Spiel geht es dann um das Durcharbeiten, Üben und Anwenden der Modelle, gleichzeitig aber auch – von der Art des didaktischen Vorgehens her – um modellhaftes Lernen: Drei Spielregeln: - Vorwissen aktivieren - Kommunizieren - Beitragen aller
1. Beispiel: Elektrischer Stromkreis
•
Die Schülerinnen und Schüler können ihre vielfältigen Ideen einbringen, sie aktivieren ihr Vorwissen. Im Idealfall strukturieren sie es neu, nehmen neue und alte Wissenselemente aus der Fachsystematik der Physik auf. Sie verbinden so ihr Vorwissen mit dem Wissen der ‚scientific community‘. Als Lehrkraft moderiere ich das Gespräch, halte mich selbst aber mit eigenen Beiträgen bewusst aus dem Spiel heraus.
•
Die Jugendlichen tauschen ihre Vorschläge aus, diskutieren und streiten miteinander – ganz im Sinne eines wissenschaftlichen Streitgesprächs. Inhaltliches und sozial-kommunikatives Lernen gehen hier Hand in Hand.
•
Die Kinder oder Jugendlichen spielen die Analogie zusammen – als Gemeinschaftswerk, inklusive Lehrkraft. Jede Person, auch die sonst stille oder uninteressierte, trägt etwas bei.
Ziel: Die Klasse als Ganzes spielt im Elektronenmodell einen elektrischen Stromkreis: Strom, Generator, Stromstärke, Verzweigungen. Physikalische Inhalte: Schalter, Leiter, Nichtleiter, Generator bzw. Dynamo, Stromstärke I = Q / t, Serie- und Parallelschaltung. Rahmen: Nach dem Erarbeiten von Elektronenmodell und geschlossenem Stromkreis können wir als Lehrkräfte das Spiel einsetzen, um das zuvor Erarbeitete zu vertiefen und neue Begriffe qualitativ einzuführen, z.B. Leiter/Nichtleiter oder Stromverzweigungen.
10.3 Gespielte Analogien – modellhaftes Lernen 345 346 347 348 349 350 351 352 353 354 355 356 357 358 359 360 361 362 363 364 365 366 367 368 369 370 371 372 373 374 375 376 377 378 379 380 381 382 383 384 385 386 387
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Material: Je Person ein (gebrauchter) Tennisball, evtl. einige einfarbige T-Shirts oder Pullover. Durchführung und Auswertung: Das Spiel läßt sich in verschiedene Phasen gliedern. Schrittweise wird altes Wissen durchgearbeitet, wiederholt oder angewendet sowie neues in Problemen aufgebaut (Aebli 1985): •
Einfacher Stromkreis mit Generator und Schalter: Die Klasse steht im Kreis, bildet ein geschlossenes Rechteck oder eine andere Figur. Jede Person (sie entspricht dem Atomrumpf eines Metallatoms) hat einen Tennisball (Elektron) in der Hand. Ein Schüler spielt den Generator und ist durch ein einfarbiges, z.B. blaues T-Shirt speziell gekennzeichnet. Zudem ist der eine Ärmel mit + der andere mit – gekennzeichnet. Dieser Schüler setzt den Elektronenfluss jeweils in Bewegung. Eine außerhalb des Kreises stehende Schülerin wirkt als ‚Schalter‘, d.h. kann den Stromkreis unterbrechen bzw. schließen. Bei geschlossenem Stromkreis geben alle Schülerinnen und Schüler ihren Ball jeweils in die gleiche Richtung der Nachbarperson weiter. Nirgends sollte ein Stau oder eine Lücke entstehen. Während und direkt nach dieser Spielphase wird diskutiert: Was ist die Aufgabe des gespielten bzw. eines richtigen Dynamos? Woher erhält dieser seine Energie? Wofür zahlen wir eigentlich die Stromrechnung? (Für den Betrieb des Generators.) Warum kann bzw. darf kein Elektronenstau auftreten?
•
Leiter und Nichtleiter: Wie lassen sich diese in unserem Modell darstellen? Wir lassen die Klasse entsprechende Vorschläge machen, diskutieren und dann natürlich spielen.
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Stromstärke: Was bedeutet I = Q / t in unserer Analogie? (Anzahl Bälle pro Zeiteinheit, d.h. pro Sekunde oder Minute.) Ändert sich die Stromstärke irgendwo im Kreis? (Nein.) Die Klasse könnte zwei Stromstärken spielen, z.B. I1 und I2 = 2 I1.
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Parallelschaltung: An einer Stelle verzweigt sich der Stromkreis, zwei Schülerreihen von je 4-5 Personen bilden zwei parallele Leiter, die dann wieder zusammenkommen. Bei der Verzweigung werden die Bälle abwechslungsweise auf die beiden Leiter verteilt. Auch hier wird wieder diskutiert: Warum sollten die Bälle auf die beiden Leiter, vorausgesetzt sie weisen identische Eigenschaften auf, gleichmäßig verteilt werden? Wie groß ist die Stromstärke in den parallelen Leitern, bzw. in der zu- und abführenden Leitung?
Physikalische Erkenntnisse
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10 Aktuelle Methoden III – Spiele
1. Tipp: Qualitatives Verstehen
Weiterführende Tipps und Tricks: In dieser gespielten Analogie sollen Schülerinnen und Schüler einige grundlegende Begriffe und Zusammenhänge des elektrischen Stromkreises qualitativ verstehen. Das Spiel und die Diskussion darüber, d.h. wie das Modell am besten darzustellen sei, und damit das Lernen physikalischer Inhalte sind aufs Engste miteinander verzahnt. Auf eine zu frühe Mathematisierung wird – mit Ausnahme des Terms der Stromstärke I = Q / t – bewußt verzichtet, ebenso auf den Begriff der Spannung.
2. Tipp: verschiedene Medien und Eingangskanäle
Verschiedene Lernangebote können in ihrer Gesamtheit zu einem vertieften Verständnis des Stromkreises führen: Schülerversuche mit Batterie, Kabeln, Lämpchen, Amperemeter etc.; das hier beschriebene Spielen des Stromkreises; das Erarbeiten im fragend-entwickelnden Unterricht; das Lesen eines Kapitels aus dem Physikbuch; der Bau eines Wasserkreislauf-Modells (Schwedes & Schilling, 1984). Der physikalische Inhalt wird jeweils in verschiedenen ‚Verpackungen‘ erarbeitet. Als Lehrkräfte können wir damit diverse Zugänge öffnen, unterschiedliche Lernwege ermöglichen. Sie werden je nach Individuum verschieden begangen. Teilweise ergänzen sie sich komplementär. Die gespielte Analogie wird nach dem Spiel von den Jugendlichen beschrieben, erklärt und reflektiert (Metakognition; s. Kap.3). Sie erhalten so die Gelegenheit, verschiedene Wissensfragmente - aus Spiel, Schülerexperiment, Schulbuch etc. - miteinander zu verbinden, ihre Struktur zum Begriff Stromkreis beweglich und vernetzt auszubauen.
2. Beispiel: Aggregatzustände
Ziel: Die Klasse stellt die Aggregatzustände des Wassers und seine Zustandsänderungen im Teilchenmodell von Dalton dar. Physikalische Inhalte: Wasser im festen, flüssigen und gasförmigen Zustand, die jeweils verschiedenen Dichten und Kräfte zwischen den Teilchen, Geltungsbereich und Grenzen eines physikalischen Modells. Rahmen: Die Analogie läßt sich in Physik am Anfang der Wärmelehre oder in Chemie bei der Einführung des Daltonmodells spielen. Material: Keines.
Physikalische Erkenntnisse
Durchführung und Auswertung: Wie im 1. Beispiel sind auch hier Durchführung und Auswertung miteinander verwoben. Jede Spielsequenz wird ausführlich diskutiert und läßt so das Wissen wachsen. Ein Spiel, das ‚Wissen schafft': „Jede Person stellt ein Wasserteilchen (für ältere Jugendliche: ein Wassermolekül) dar. Wie können wir flüssiges Wasser spielen?“ Die Klasse steht in der Mitte des Klassenzimmers, Hufeisenbestuhlung.
10.3 Gespielte Analogien – modellhaftes Lernen 431 432 433 434 435 436 437 438 439 440 441 442 443 444 445 446 447 448 449 450 451 452 453 454 455 456 457 458 459 460 461 462 463 464 465 466 467 468 469 470 471 472 473
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Einzelne beginnen, sich zu bewegen (Brownsche Bewegung), gehen aufeinander zu (Dichte), strecken die Arme aus, berühren andere oder ergreifen diese bei Händen oder Schultern (Kohäsionskräfte).
Abb. 10.4: Wasser (links) und Eis (rechts) im Modell dargestellt „Wie lässt sich in unserem Modell Eis darstellen?“ Die Jugendlichen gehen ‚feste Verbindungen‘ ein, d.h. greifen andere fest bei den Händen oder hängen sich mit den Armen ein (zum Lösen dieser Bindungen wird Energie benötigt: die Schmelzwärme). Sie diskutieren evtl. die Form des Eiskristalls, die Lehrperson hilft hier mit ihrem Fachwissen weiter (sechszählige Symmetrie); Klasse und Lehrkraft vergleichen die Dichte von Eis und Wasser (da im Eis je sechs Wassermoleküle ein Sechseck bilden, bleibt je in der Mitte ein freier Raum, d.h. Eis weist eine geringere Dichte auf). „Und wenn wir jetzt Wasserdampf spielen?“ Die Jugendlichen bewegen sich schnell mit größerem Abstand voneinander (kleine Dichte), haben keinen Körperkontakt (keine Kohäsionskräfte), stoßen allenfalls gegeneinander (Richtungsänderung) oder gegen die Wand (Druck). Weiterführende Tipps und Tricks: Für eine ausführlichere Beschreibung dieser gespielten Analogie sei verwiesen auf Labudde (1993, 177). Ergänzen lassen sich das Spielen von Wasser, Eis und Dampf mit dem Darstellen von gefrierendem sowie kochendem Wasser: Beim Erstarren dehnt sich das Wasser aus und sprengt unter Um-
Drei Tipps: - Sprengendes Eis - Siedebläschen - Modell - Realität
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10 Aktuelle Methoden III – Spiele ständen Glasflaschen oder Wasserleitungen; in der gespielten Analogie erkennt die Klasse, dass sie als Eis wegen der sechseckigen Kristallstruktur mehr Platz benötigt als beim flüssigen Wasser. Beim Kochen von Wasser gelangen einige Teilchen früher als andere in den gasförmigen Zustand, d.h. sie benötigen mehr Platz. Ein Siedebläschen besteht also aus Wasserdampf. Dies läßt sich im gespielten Modell simulieren. Eine Diskussion über den Geltungsbereich und die Grenzen von naturwissenschaftlichen Modellen, über das Verhältnis von Modell und Realität, über die Unterschiede zwischen Entdecken und Erfinden könnte die Unterrichtseinheit abrunden, dies besonders in Klassen, die an Wissenschaftstheorie und Philosophie interessiert sind.
3. Beispiel: Dynamisches Gleichgewicht
Ziel: In einem Modell simulieren Jugendliche zwei einander entgegengerichtete Prozesse und erleben dabei das Sich-Einstellen eines dynamischen Gleichgewichts. Physikalische bzw. chemische Inhalte: dynamisches Gleichgewicht, Dampfdruck, chemisches Gleichgewicht. Rahmen: Im Physikunterricht der Sekundarstufe II kann das Spiel bei der Behandlung von Gleichgewichtszuständen eingesetzt werden (z.B. Gleichgewicht zwischen Flüssigkeit und Dampf beim Dampfdruck), in Chemie beim Diskutieren des chemischen Gleichgewichts. Material: möglichst viele Bälle, mindestens 40 (Gymnastikbälle aus der Turnhalle, alte Tennisbälle, eventuell auch Tannenzapfen). Durchführung: Wir messen ein Spielfeld ab, das in der Größe ungefähr einem Volleyballfeld entspricht, und teilen es mittels eines Kreidestrichs, Abdeckbands o.ä. in zwei Hälften. An den Außenseiten werden 'Banden' aufgestellt, um das Wegrollen der Bälle zu verhindern. Wenn man dieses Spiel in der Turnhalle durchführt, kann man dabei Sitz- bzw. Schwedenbänke verwenden, im Klassenzimmer auf die Seite gekippte Pulte als Banden. Beim Einsatz von Tannenzapfen kann das Spiel auf einem Rasenfeld ohne Banden durchgeführt werden. Zwei Mannschaften spielen gegeneinander, die eine umfasst doppelt so viele Personen wie die andere, z.B. vier gegen zwei (die anderen schauen zu und kommen später an die Reihe). Zu Beginn befinden sich die Bälle je zur Hälfte auf den beiden Seiten. Jede Mannschaft versucht nun, möglichst rasch so viel Bälle wie möglich auf das Feld der Gegenseite zu werfen. Die Bälle werden also ständig hin und her geworfen. Frage an die Klasse: "Wie werden die Bälle nach einigen
10.3 Gespielte Analogien – modellhaftes Lernen 517 518 519 520 521 522 523 524 525 526 527 528 529 530 531 532 533 534 535 536 537 538 539 540 541 542 543 544 545 546 547 548 549 550 551 552 553 554 555 556 557 558 559
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Minuten Spiel auf die beiden Spielfeldhälften verteilt sein?" Die Klasse beginnt zu überlegen und entwickelt Hypothesen. Jetzt kann das Spiel beginnen. Bereits nach kurzer Zeit ist ersichtlich: Die eine Mannschaft ist doppelt so groß wie die andere, die Anzahl Bälle auf ihrem Spielfeld wird kleiner (genauer die Konzentration der Bälle, d.h. die Anzahl pro Quadratmeter). Das führt aber dazu, dass diese Mannschaft mehr Mühe hat, Bälle zu finden. Umgekehrt umfasst die andere Mannschaft weniger Personen, hingegen finden diese mehr Bälle auf ihrem Spielfeld. Schließlich kommt es zur Situation, dass die Anzahl Bälle, die pro Sekunde in die eine Richtung geworfen wird, genau gleich ist der Anzahl in die Gegenrichtung. Es stellt sich ein stabiles Gleichgewicht ein, d.h. die Bälle werden ungefähr im Verhältnis 2:1 auf die beiden Spielfeldhälften verteilt sein. Die folgenden Mannschaften, wobei die eine immer doppelt so groß sein soll wie die andere, können mit anderen Anfangsbedingungen starten: z.B. alle Bälle in einer Spielfeldhälfte oder eine verschiedene Anzahl Bälle zu Spielbeginn bei den beiden Mannschaften. Im Spiel wird sich stets ein Gleichgewichtszustand von ungefähr 2:1 einstellen. (Der durch die Spielanordnung gegebene Ablauf entspricht derselben Gesetzmäßigkeit wie der mikroskopisch reale Vorgang. Die Spielenden müssen sich also nicht um das erwartete Gleichgewicht kümmern, es stellt sich von selbst ein.) Auswertung: Diese gespielte Analogie ist ein typisches Beispiel eines dynamischen Gleichgewichts in einem geschlossenen System, wie wir es beim Dampfdruck oder beim chemischen Gleichgewicht vorfinden. Im Folgenden beschreibe ich - im Sinne eines fachüberschreitenden Unterrichts (Häußler u.a. 1998, 43) - das chemische Gleichgewicht. Die folgenden Beschreibungen lassen sich aber leicht auf den Dampfdruck übertragen: Denn dieser ist einfacher als das chemische Gleichgewicht zu erklären, da es sich bei Dampf und Flüssigkeit um den chemisch gleichen Stoff handelt. Unser Spiel entspricht einer chemischen Reaktion: A ↔ B, bestehend aus Hin- und Rückreaktion, A → B und A ← B. A steht hier für die Reaktanden, B für die Produkte. Im Gleichgewicht ist die GeschwindigkeitA→B der Hinreaktion, gemessen in Mol pro Sekunde, gleich groß wie die GeschwindigkeitB→A der Rückreaktion. Hierbei ist die GeschwindigkeitA→B das Produkt von Geschwindigkeitskonstante kA→B und Konzentration von A in Mol pro Liter, abgekürzt [A]. Analog wird die GeschwindigkeitB→A definiert. Im Spiel entspricht die Geschwindigkeitskonstante der Anzahl Personen in einer Mannschaft, die Konzentration der Anzahl Bälle pro Quadratmeter.
Naturwissenschaftliche Erkenntnisse
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10 Aktuelle Methoden III – Spiele Für den Gleichgewichtszustand gilt: GeschwindigkeitA→B = GeschwindigkeitB→A kA→B · [A] = kB→A · [B] Oder anders mit der Gleichgewichtskonstante der Reaktion notiert: KGleichgewicht = kA→B / kB→A = [B] / [A] Unabhängig von den Anfangsbedingungen und der absoluten Anzahl Moleküle (Anzahl Bälle) wird sich im Gleichgewicht also ein festes Verhältnis der Konzentrationen [A] und [B] einstellen. Das Gleichgewicht ist erreicht, wenn sich Hin- und Rückreaktion ausgleichen, d.h. die Waage halten. Für detaillierte chemische Informationen sei auf Dickerson & Geis (1981, 321) verwiesen, die eine vergleichbare Analogie beschreiben.
Tipp: Gleichgewichte in Natur, Technik und Gesellschaft
Weiterführende Tipps und Tricks: In der Sekundarstufe II kann die lebensnotwendige Bedeutung von Gleichgewichten in einer fächerübergreifenden Unterrichtseinheit zum Thema 'Leben im Gleichgewicht' oder 'Gleichgewichte in Natur, Technik und Gesellschaft' erarbeitet werden. Es lassen sich verschiedenste Gleichgewichte analysieren, ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede vergleichen: z.B. statische, dynamische und stationäre Gleichgewichte in den Naturwissenschaften (chemisches, radioaktives und thermisches Gleichgewicht; Stoff- und Energiewechsel als Fließgleichgewichte in biologischen Systemen), 'checks and balances' der amerikanischen Verfassung, monetäre Gleichgewichte, seelisches Gleichgewicht. Fächerübergreifender Unterricht in und mit Physik, wie er hier nur in Stichworten skizziert wird, bietet ein Potential, das noch wenig genutzt wird (Labudde 2003; Labudde u.a. 2005, Labudde, 2008).
10.4 Sinnhafte Spiele – ursprüngliches Verstehen 1. Spielregel: Sinnlichsinnhaftes Verstehen ermöglichen
Mit diesen Spielen gelangen wir an Ursprünge physikalischen Denkens. Zuallererst sind es ja unsere Sinne, mit denen wir unsere Umgebung wahrnehmen und beobachten. Wir stellen uns Fragen, entwerfen Hypothesen, experimentieren und überprüfen. Seit Jahrtausenden entwickeln so Laien und Fachleute, jede Person auf ihre Art und entsprechend ihrem Niveau, neues physikalisches Wissen: Sei es das 'Aha-Erlebnis' des Individuums oder sei es eine Nobelpreis würdige Entdeckung in der 'scientific community'. In Anlehnung an Wagenscheins Hauptwerk (1970) 'Ursprüngliches Verstehen und exaktes Denken' läßt sich für die hier beschriebenen Spiele - viel-
10.4 Sinnhafte Spiele – ursprüngliches Verstehen 603 604 605 606 607 608 609 610 611 612 613 614 615 616 617 618 619 620 621 622 623 624 625 626 627 628 629 630 631 632 633 634 635 636 637 638 639 640 641 642 643 644 645
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leicht etwas optimistisch - skizzieren: Schülerinnen und Schüler entdecken physikalische Phänomene mit ihren Sinnen, spielen mit Phänomenen und Sinnen. Aus sinnlichen werden sinnhafte Begegnungen. Kinder und Jugendliche verstehen Physik an ihren Ursprüngen. Sie nähern sich exaktem, wissenschaftlichem Denken. Exaktes Denken und wissenschaftliches Arbeiten sind in der Physik des 20. und 21. Jahrhunderts nicht ohne Laborexperimente möglich. Für uns Physiklehrkräfte eine Selbstverständlichkeit, nicht so für unsere Schülerinnen und Schüler! Ein Ziel, das eigentlich zu den wichtigsten Bildungszielen des Physikunterrichts gehört, läßt sich leider kaum in einem Lehrplan finden: Schülerinnen und Schüler sollen Einsicht in die Notwendigkeit von Laborexperimenten gewinnen. Ohne diese Einsicht bleiben die Physik als Wissenschaft, die sie vermittelnde Lehrkraft und die fremdartigen Geräte der Physiksammlung für Kinder und Jugendliche eine unfassbare Realität. Bei Spielen und Experimenten mit unseren Sinnen gelangen wir, wenn wir es genau wissen wollen, d.h. an die Ursprünge gelangen und es wirklich verstehen wollen, bald einmal an Grenzen: Wir können mit unseren Sinnesorganen nicht exakt genug beobachten und messen: Der Wunsch nach Messgeräten und Laborexperimenten wird wach, die Einsicht in die Notwendigkeit von Laborexperimenten wächst.
2. Spielregel: Einsicht in die Notwendigkeit von Laborexperimenten gewinnen
Ziel: Bestimme den Wasserdruck auf dein Ohr in verschiedenen Wassertiefen, bei unterschiedlicher Neigung des Kopfes sowie in verschieden großen Schwimmbecken.
1. Beispiel: Hydrostatischer Druck
Physikalische Inhalte: Druck in Abhängigkeit der Wassertiefe, Druck als skalare Größe, hydrostatisches Paradoxon. Rahmen: Der Besuch im Hallen- oder Freibad findet am besten ganz am Anfang einer Unterrichtseinheit zur Hydrostatik statt. Material: Hallen- oder Freibad; evtl. Taucherbrillen.
Abb. 10.5: Spürt man im unteren Ohr auch den Wasserdruck?
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10 Aktuelle Methoden III – Spiele Durchführung: Niemand sollte gezwungen werden, die folgenden Spiele und Experimente mitzumachen, denn es gibt immer wieder Kinder und Jugendliche, die nicht gerne schwimmen und tauchen. Drei Fragebereiche liefern die Gliederung für die Unterrichtsstunde:
Physikalische Erkenntnisse
1.
Wie verändert sich der Druck mit der Tiefe? Wie stark empfindet man den Druck z.B. in 1.5 m bzw. 3 m Tiefe?
2.
Besteht ein Unterschied, ob sich der Kopf senkrecht oder waagerecht unter Wasser befindet? Spürt man bei waagerechtem Kopf überhaupt einen Druck auf dem unteren Ohr?
3.
Spielt es für den Druck, den ich in den Ohren spüre, eine Rolle, ob ich in einem flächenmäßig kleinen oder großen Schwimmbecken oder in einem See tauche? (Vorausgesetzt ich befinde mich stets in gleicher Wassertiefe.)
Auswertung: Die spielerischen Experimente im Wasser und die Diskussionen am Beckenrand führen zu folgenden Einsichten: 1.
Der Druck nimmt mit zunehmender Wassertiefe zu. Er ist in 3 m Tiefe deutlich stärker als in 1,5 m Tiefe. Ob Druck und Wassertiefe allerdings wirklich proportional zueinander sind, läßt sich mit dem Ohr als Messgerät nicht bestimmen. An dieser Stelle regt sich der Wunsch nach einem exakten Messgerät. Warum ein solches nicht ins Bad mitnehmen? (Nebenbei: Unsere Sinnesorgane sind für derartige Experimente nicht nur zu unempfindlich, sondern auch wegen des nichtlinearen Zusammenhangs zwischen physikalischem Sinnesreiz und physiologischem Sinneseindruck, wie es im Weber-Fechnerschen Gesetz beschrieben wird, wenig geeignet.)
2.
Egal ob das Ohr unter Wasser nach oben, unten, rechts oder links orientiert ist, wir spüren stets den gleichen Druck. Der Druck weist also keine bestimmte Richtung auf, er ist eine skalare Größe. Hier läßt sich mit der Klasse auch ein Vergleich mit der Luft ziehen: Wir befinden uns ja am Boden eines gewaltigen 'Luftmeeres', wie bereits Pascal (1648) feststellte. Druckunterschiede spüren wir unabhängig davon, wie der Kopf geneigt ist, z.B. wenn wir mit Auto oder Fahrrad eine Passstraße oder mit Ski bzw. Snowboard einen Berghang hinunter fahren.
3.
Es spielt keine Rolle, ob wir in einem großen oder kleinen Wasserbecken tauchen. Der Druck hängt nicht von der Größe der Wasseroberfläche ab, sondern ausschließlich von der Wassertiefe. Das, was bei anderer Fragestellung zum sogenannten hydrostatischen Paradoxon führt, tritt hier gar nicht als Paradox und
10.4 Sinnhafte Spiele – ursprüngliches Verstehen 689 690 691 692 693 694 695 696 697 698 699 700 701 702 703 704 705 706 707 708 709 710 711 712 713 714 715 716 717 718 719 720 721 722 723 724 725 726 727 728 729 730 731
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damit auch nicht als Lernschwierigkeit auf. Im Gegenteil: Die Erfahrung beim Tauchen hilft zu verstehen, warum die Staudämme eines kleinen und großen Stausees, von je gleicher Tiefe, gleich stark gebaut sein müssen. (Man kann Physik manchmal wirklich schwerer machen als sie ist, z.B. durch das unselige hydrostatische Paradoxon.) – Eventuell wenden Jugendliche ein, sie könnten das ‚Druckgefühl‘ im zweiten Becken nicht mit demjenigen des ersten vergleichen, da die ‚Druckerinnerung‘ vom ersten Tauchversuch verloren gegangen oder durch andere Sinneseindrücke gestört worden sei. Dieser Einwand ist eine Chance, auf die Notwendigkeit von physikalischen Messgeräten und Laborversuchen hinzuweisen. Weiterführende Tipps und Tricks: Die hier geschilderten sportlichspielerischen Begegnungen mit dem Druck lassen sich in mehrere Richtungen erweitern: Wilke (1998) beschreibt vielfältige hydrostatische Experimente mit PET-Flaschen und Wasser, die die Schülerinnen und Schüler allesamt im Schwimmbad durchführen können. Dies im Sinne eines echten 'Physik-Plansch-Festivals'! Müller (2002) liefert zahlreiche Anregungen zu einer Unterrichtseinheit „Tauchen“. Oder die oben geschilderten Experimente werden eingebettet in eine größere Unterrichtseinheit 'Physik im Schwimmbad'. Hier werden Themen wie Brechung, Auftrieb, Wärmekapazität und Zeitmessung im Schwimmsport direkt mit dem Alltagsbezug des Schwimmbads erarbeitet (de Bruin u.a. 2002; Labudde 1993, 117).
Tipp: Physik im Schwimmbad
Ziel: Die Jugendlichen erfahren die Radialkraft (Zentripetalkraft) als Ursache einer Richtungsänderung, können diese Kraft qualitativ charakterisieren und in Alltagsbeispielen identifizieren.
2. Beispiel: Radialkräfte
Physikalische Inhalte: Radialkraft, Reibungs-, Gravitations- und evtl. Lorentz-Kraft (alle drei Kräfte nur qualitativ) , FZ = m · v2 / r. Rahmen: In der Dynamik kann dieses Spiel zum Einstieg in das Thema ‚Kräfte bei Kreisbewegungen‘ dienen. Material: Abdeckband oder Kreide, Schnur, funkgesteuertes Auto (von einem Schüler oder einer Schülerin mitbringen lassen), Globus, Modellrakete oder -satellit. Durchführung und Auswertung: „Wie läßt sich ein Gegenstand auf eine gekrümmte Bahn bringen: z.B. ein Auto oder Fahrrad in einer Kurve oder ein Satellit in einer Erdumlaufbahn?“ Diese Frage steht am Anfang der Unterrichtseinheit (Labudde 1993, 152). Auf dem Pausenhof, in der Eingangs- oder Turnhalle markieren wir einen Kreismittelpunkt, spannen eine Schnur als Zirkel und ziehen mit
Versuchsaufbau
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10 Aktuelle Methoden III – Spiele Kreide oder Abdeckband eine Bahn auf den Boden, z.B. einen Halbkreis von 3-4 m Radius. Die Jugendlichen stellen sich in regelmäßigen Abständen der Bahn entlang auf. Die Lehrkraft läßt jetzt ein funkgesteuertes Auto mit konstanter Geschwindigkeit der Bahn entlang fahren, die Räder bleiben immer geradeaus gestellt. Die Lehrperson verändert also an der Fernsteuerung während des ganzen Experiments weder Geschwindigkeitsbetrag noch -richtung.
Physikalische Erkenntnisse: 1. Charakteristika der Radialkraft
Abb. 10.6: Radialkräfte bei Funkauto und Mond Schülerinnen und Schüler werden aufgefordert, durch geeignetes Stoßen mit der Hand das Auto auf die gekrümmte Bahn zu zwingen. Sofort stellen sich Fragen: „In welche Richtung und wie stark müssen wir stoßen?“ Durch spielerisches Probieren und im gemeinsamen Gespräch erwächst die Erkenntnis: Die Kräfte sind senkrecht zur Geschwindigkeit, d.h. zum Bahnmittelpunkt, gerichtet und überall gleich groß. „Wie wird aus der ‚eckigen‘ Bahn eine echte Kreisbahn?“ Mit dieser Frage realisieren die Jugendlichen: Sie sollten so dicht wie möglich nebeneinander stehen: „Ganz, ganz eng!“ Sie erleben anschaulich den Übergang zur ‚Limes-Bildung‘, ein erster Schritt Richtung qualitativen Verstehens der Infinitesimalrechnung. 2. Arten von Radialkräften
„Jetzt waren wir es, die das Auto auf die Kurvenbahn gezwungen haben. Welche Kraft wirkt bei einem richtigen Auto oder Fahrrad?“ Die Jugendlichen analysieren, es ist die Reibungskraft. „Welche Kräfte wirken auf einen Satelliten in einer Erdumlaufbahn, welche auf ein elektrisches Teilchen in einem Kreisbeschleuniger?“ Wir stellen zur Veranschaulichung einen Globus auf den Bahnmittelpunkt und lassen einen Modellsatelliten um ihn ‚kreisen‘. Die folgende Diskussion zeigt, dass verschiedene Formen von Kräften als Radialkräfte wirken können: Reibungs-, Gravitations-, elektromagnetische Kräfte oder die Kräfte unserer Hände. Erst nach diesem qualitativen Verstehen der Kräfte bei Kreisbewegungen werden die quantitativen Zusammenhänge zwischen Radialkraft, Bahnradius, Geschwindigkeit und Masse diskutiert. Die Er-
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fahrungen aus den vorangegangenen Spielen helfen, entsprechende Hypothesen aufzustellen. Die Jugendlichen realisieren rasch: ihre Hypothesen können nicht mehr mit Händen und Funkauto überprüft werden; dazu bedarf es eines geeigneten Experiments mit Kraftmesser, Stoppuhr, Waage etc.. Auch hier wieder: Einsicht in die Notwendigkeit von Laborexperimenten. Sinnhafte Spiele bzw. das Erfahren von Physik mit den eigenen Sinnen lassen sich in weiteren Beispielen umsetzen. Entscheidend ist, dass Kinder und Jugendliche diese nicht einfach theoretisch z.B. anhand eines Lehrbuchtextes erarbeiten, sondern wirklich mit den eigenen Sinnen erfahren: Die Geschwindigkeit eines Autos mittels Dopplereffekt und Ohr bestimmen (Labudde 1996, 64); den Drehimpulssatz auf einem Kinderkarussel erleben; Kraft und Gegenkraft beim Tragen eines Steines erfahren (Schön 1991), Eigenschwingung und Resonanz beim Schaukeln spüren (Labudde 1997); das Fliegen und den aerodynamischen Auftrieb mit einem ausgestopften Vogelflügel entdecken (Labudde 1993, 170), die Last an einem elektrischen Generator wahrnehmen (Muckenfuß 1992). Mit diesen und ähnlichen Beispielen können wir Physiklehrkräfte einer Klage Nietzsches begegnen, der seufzte: „Die Bildung wird täglich geringer, weil die Hast größer wird.“. Mit sinnhaften Spielen, mit Sinnlichkeit und Sinn wird der Physikunterricht entschleunigt, dafür das ursprüngliche Verstehen gestützt.
Literatur Bronsart, R. (2001). Internationaler Wettbewerb 'Das Papierschiff'. www.paperboat.de (6.6.2009) De Bruin, M. & Labudde, P. (2002). Durch Physik in schwimmerische Höhen aufsteigen − durch Schwimmen in physikalische Tiefen tauchen. NiU - Physik, Heft 70, 10-14. Dickerson, R.E. & Geis, I. (1981). Chemie - eine lebendige und anschauliche Einführung. Weinheim: Verlag Chemie. Häußler, P., Bünder, W., Duit, R., Gräber, W. & Mayer, J. (1998). Naturwissenschaftsdidaktische Forschung – Perspektiven für die Unterrichtspraxis. Kiel: IPN. Köhler, A. (2000). Mausefallenautos und andere Projekte im Physikunterricht. MNU 35, 5, 303-305. Labudde, P. (1993): Erlebniswelt Physik. Bonn: Dümmler. Labudde, P. (19963). Alltagsphysik in Schülerversuchen. Bonn: Dümmler. Labudde, P. (1997). Physiklernen als Sprachlernen – Wie in der Wissenschaft so im Unterricht. In H.E. Fischer (Hrsg.). Handlungsorientierter Physik-Unterricht Sekundarstufe II. Bonn: Dümmler. Labudde, P. (1997). Selbstständig lernen - Eine Chance für den Physikunterricht. NiU - P, Heft 37, 4 9. Labudde, P. (2000). Konstruktivismus im Physikunterricht der Sekundarstufe II. Bern / Stuttgart. Labudde, P. & Firmin, F. (2002). Physikunterricht in Bewegung. Unterricht Physik, Heft 70, 4 -9.
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10 Aktuelle Methoden III – Spiele
Labudde, P. (2003). Fächerübergreifender Unterricht in und mit Physik: Eine zu wenig genutzte Chance. Physik und Didaktik in Schule und Hochschule, 1/2, 48-66. Labudde, P., Heitzmann, A., Heiniger, P. & Widmer, I. (2005). Dimensionen und Facetten des fächerübergreifenden naturwissenschaftlichen Unterricht: ein Modell. ZfDN 11, 103-115. Labudde, P. (Hrsg.) (2008). Naturwissenschaften vernetzen – Horizonte erweitern: Fächerübergreifender Unterricht. Seelze-Velber: Klett/ Kallmeyer. Muckenfuß, H. (1992). Neue Wege im Elektrikunterricht. Köln: Aulis-Verlag Deubner. Müller, W. (2002). Tauchen − Physik unter Wasser. NiU - Physik, Heft 70, 18-23. Nietzsche, F. Unschuld des Werdens. Stuttgart: Kröner (1978) Oerter, R. (198018). Moderne Entwicklungspsychologie. Donauwörth: Verlag Ludwig Auer. Rottmann, K. (2004). Ein Spielprojekt im Physikunterricht einer 6. Klasse im Bereich Optik. Schriftl. Hausarbeit, Uni Würzburg. Schön, L. (1991). Die sinnliche Erfahrung als Grundlage für das Verstehen von Physik. In K.H. Wiebel, (Hrsg.): Zur Didaktik der Physik und Chemie. Alsbach: Leuchtturm. Schwedes, H. & Schilling, P. (1984). Wasser und Strom. NiU - Physik / Chemie 32, Heft 8, 263-273. Stebler, R.; Reusser, K.& Pauli, C. (1994). Interaktive Lehr-Lern-Umgebungen. In K. Reusser & M. Reusser-Weyeneth (Hrsg.). Verstehen. Bern: Huber. Vester, F. (1978). Denken, Lernen, Vergessen. München: dtv. Wagenschein, M. (1970). Ursprüngliches Verstehen und exaktes Denken. Stuttgart: Klett. Wilke, H.-J. (1998). Überraschende Experimente mit Kunststoffflaschen - Teile 2-4. MNU 51, Hefte 2, 3 und 5, Seien 106-109, 178-178 sowie 299-303.
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Raimund Girwidz
11 Neue Medien und Multimedia Der Begriff „neue Medien“ wird relativ unscharf gebraucht. Er umfasst Computer und Internet mit Anwendungen wie Teleshopping, Hypertext, virtuellen Schulen und Seminaren, u.s.w.. Ein zweiter Bereich sind digitale Bild- und Tonmedien mit neuen Verfahren zur Datenkompression (z. B. MP3). Im Vergleich zu klassischen Medien bietet der erste Bereich einen schnelleren Zugriff auf aktuelle Informationsquellen und ermöglicht Interaktivität bei der Nutzung. Die zweite Kategorie erreicht verbesserte Bild- und Tonqualitäten gegenüber älteren Techniken.
schnell aktuell interaktiv
Neue Medien verlangen aber auch neue Arbeitstechniken, angefangen bei der Bedienung von Geräten und Benutzeroberflächen über Nutzungsstrategien (z. B. Suchen und Finden im Internet) bis hin zur Informationsaufbereitung und -verwertung. Die Didaktik stellt nicht die technischen Möglichkeiten neuer Medien in den Mittelpunkt, sondern die potenziellen Beiträge zum Lernen, aber auch mögliche Schwierigkeiten beim Einsatz. Betrachten wir das Informationspotenzial neuer Medien. Allein das Internet stellt ein enormes Angebot bereit; andererseits ist es nicht immer einfach, aus dem „Datenmeer“ wirklich hilfreiche Lernmaterialien zu „fischen“. Ein zweiter Aspekt ist die Multimedialität: Information wird über verschiedene Träger, Kanäle und in verschiedenen Darstellungen angeboten (und das interaktiv). Die Information muss aber auch von den Lernenden verarbeitet werden. Damit sind die zentralen Themen ausgewiesen, die im folgenden genauer behandelt werden: Erstens der Umgang mit den neuen Möglichkeiten zur vielfältigen, multiplen Darstellung und Präsentation von Wissen an Computer und Multimedia und zweitens die Arbeit mit der neuen Datenflut und Datenkultur, was ihre Aufbereitung und Strukturierung zu attraktiven Informationsangeboten beinhaltet.
Multimedialität nutzen Informationen ordnen und strukturieren
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11 Neue Medien und Multimedia
11.1 Der Computer im Physikunterricht Computerprogramme für den Physikunterricht lassen sich in einer Vielzahl von Kategorisierungen mit unterschiedlichen Schwerpunkten einordnen. Hier wird eine Einteilung nach verschiedene Nutzungsbereichen betrachtet: Übungsprogramme, Selbstlerneinheiten und tutorielle Programme, Computerwerkzeuge, Simulations- und Modellierungsprogramme sowie Messwerterfassungssysteme. Der Grund ist, dass mit der unterschiedlichen Funktionalität auch die Rolle im Lernprozess variiert und die Programme in verschiedene methodische Vorgehensweisen zu integrieren sind. Die Kenntnis der verschiedenen Arten ist Voraussetzung für eine zielgerechte Auswahl von Programmen für den Physikunterricht. Übungsprogramme
Das klassische Design von Übungsprogrammen folgt dem Schema: (1) Anbieten der Aufgabe, (2) Registrieren der Antwort, (3) Bewerten, Rückmelden, (4) Überleitung zur nächsten Aufgabe. Damit lässt sich z. B. Faktenwissen individuell und differenziert einüben.
Tutorielle Programme
Die herkömmliche Art tutorieller Programme bietet zunächst Informationen zu einem Sachverhalt an. Dann folgen Verständnisfragen. Die Antworten führen nach einer Rückmeldung an den Lernenden zu entsprechend konzipierten Programmteilen, die weitere Informationen anbieten oder evtl. die alten Inhalte wiederholen. „Intelligente tutorielle Programme“ haben die Intention, ständig abgestimmt auf Wissens- und Leistungsstand, entsprechende Angebote für verschiedene Lernphasen bereitzustellen.
Cognitive Tools
Cognitive Tools machen den Computer zum Hilfswerkzeug bei der geistigen Arbeit. Das Angebot reicht von Textverarbeitungssystemen (mit Rechtschreibprüfung) über Computeralgebrasysteme (die z. B. Integrale berechnen oder Funktionen plotten) bis zu Modellbildungssystemen, die über eine grafische Benutzeroberfläche die Variation von Modellparametern ermöglichen (z. B. von Bewegungsgleichungen). Sie erleichtern Routinearbeiten und geben dadurch Kapazitäten für tiefer gehende Betrachtungen frei.
Simulationen
Simulationen sollen ausgewählte Realitätsaspekte rekonstruieren. Sie arbeiten auf der Basis von formal-logischen Modellen der betrachteten Fachthemen. Anwender können Elemente, Relationen und Zusammenhänge kontrollieren und im Rahmen des Modells variieren. So lassen sich zum einen Abhängigkeiten und die Bedeutung von Einflussfaktoren unter vereinfachenden Annahmen erkennen, zum
11.1 Der Computer im Physikunterricht 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 100 101 102 103 104 105 106 107 108 109 110 111 112 113 114 115 116 117 118 119 120 121 122 123 124 125 126 127 128 129
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anderen lassen sich Kenntnisse und Fähigkeiten zur Steuerung komplexer Systeme schulen. Prinzipiell können Simulationen, wie auch Modelle, nur Teilaspekte der Realität wiedergeben und zeigen nur ein reduziertes Abbild der Wirklichkeit. Dies ist bei wissenschaftlichen Simulationen in der Regel nachteilig, weil daraus Unsicherheiten und Abweichungen von der Realität resultieren. Für didaktisch-methodische Anwendungen bietet allerdings die Reduktion auf wenige, aber entscheidende Faktoren und ein „Ausblenden“ unwichtigerer Aspekte eine interessante Perspektive: Sie reduziert die Komplexität eines Inhalts. Gleichzeitig werden damit umgekehrt auch die wichtigen Einflussgrößen akzentuiert und ihre Wirkung wird leichter erkennbar.
Teilaspekte der Realität betrachtet
Zur Physik gibt es eine Vielzahl kleinerer Simulationen. Sie bieten oft keinen festgelegten methodischen Rahmen. Erklärungen, Zusatzinformationen oder Übungen muss der Lehrer selbst bereitstellen. In diesem Zusammenhang sind die vier Phasen des Lernens mit Simulationen von Interesse, die Schulmeister (1996) in Anlehnung an Duffield (1991) herausstellt: Analyse, Hypothesengenerierung, Testen der Hypothesen, Evaluation. Damit sollen sich besondere Perspektiven für ein entdeckendes Lernen und für ein Training von Problemlösefertigkeiten bieten. Noch flexibler sind Modellbildungssysteme. Hier sind auch die zugrunde liegenden, formalen Modellannahmen variierbar (z. B. die Bewegungsgleichungen). Der Computer dient in Modellbildungssystemen quasi als Projektionsfläche für eigene Gedanken und zeigt Perspektiven und Beziehungen auf, die sich beim Variieren der Ansätze ergeben. Das Potential von Modellbildungssystemen hat u. A. Schecker untersucht (Schecker, 1998, 1999). Aus pädagogischer Sicht sind vor allem drei Aspekte innovativ gegenüber der tutoriellen Form: • Der direkte Einblick und Zugriff auf das zugrunde liegende Modell mit Variationsmöglichkeiten verlangt eine größere Verarbeitungstiefe als rein deskriptive Erklärungen. • Kausalzusammenhänge werden aus dem Modellverhalten erfahren und erlebt - sie werden nicht „erzählt“. Dies hat einen Einfluss auf die Gedächtnishaftung. • Der Lernende hat die volle Kontrolle über Variations- und Lösungswege. Dies ermöglicht ein selbstbestimmtes Lernen und das Verfolgen eigener Ideen.
Modellbildungssysteme
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11 Neue Medien und Multimedia Inwieweit diese Möglichkeiten tatsächlich lernwirksam umgesetzt werden können, hängt allerdings von weiteren Rahmenfaktoren ab. Insbesondere verlangt die Modellierung vom Schüler spezielle metakognitive Fertigkeiten. Dies macht eine Aufwandsanalyse und eine angemessene Vorbereitung unerlässlich.
Messwerterfassung, Prozesssteuerung und Regelung
Der „Messcomputer“ bietet sich an, wenn viele Messwerte in kurzer Zeit aufgenommen werden müssen oder wenn die Zeiträume groß sind und eine automatische Erfassung von Daten nötig wird. Neben dieser Erweiterung experimenteller Möglichkeiten kann der Computer vor allem aber auch bei der Auswertung und Präsentation von Daten eine Hilfe sein. Besonders attraktiv ist, wenn Messwerte in Echtzeit aufbereitet und grafisch angezeigt werden können. Ein weiterer Bereich sind technisch orientierte Anwendungen zur Steuerung und Regelung von Systemen (z. B. einfache Transport-Roboter mit optischen Sensoren). Nach der allgemeinen Kategorisierung zum Computereinsatz werden exemplarisch Möglichkeiten zum Multimediaeinsatz in der Akustik behandelt. Zur Theorie des Lernens mit Multimedia gibt es aber noch ausführlichere Informationen im Kapitel 19.
11.2 Multimedia
Multimodalität Multicodierung Interaktivität
Präziser gefasst als die Bezeichnung „neue Medien“ ist der Begriff Multimedia. Nach Issing & Strzebkowski (1997) ist darunter die computerunterstützte Integration verschiedener Medien auf einer gemeinsamen Nutzerschnittstelle zu verstehen. Aus pädagogischer und lernpsychologischer Sicht sind vor allem Multimodalität (Integration verschiedener Sinnesbereiche), Multicodierung (Darstellung in verschiedenen Codesystemen) und die Interaktivität interessant. Multimediaanwendungen erreichen den Nutzer über verschiedene Sinneskanäle und über verschiedene Symbolsysteme. Interaktionsangebote lassen den Nutzer individuell und aktiv an Wahrnehmungs-, Erlebnis- und Lernprozessen teilnehmen. Dies verstärkt die Motivation, die emotionale Anteilnahme an Handlungen sowie die Kausalattribuierung und vor allem eine tiefer gehende Elaboration der Inhalte. (Aktuelle Theorien zum Lernen mit Multimedia sind im Kapitel 19 zusammengefasst.) Die neuen Möglichkeiten gehen auch in die Gestaltung von Lernumgebungen ein. Dabei haben nach Schulmeister (1996) folgende Gestaltungselemente wesentlich dazu beigetragen, Multimediaprogramme als eigene Kategorie zu etablieren:
11.2 Multimedia 173 174 175 176 177 178 179 180 181 182 183 184 185 186 187 188 189 190 191 192 193 194 195 196 197 198 199 200 201 202 203 204 205 206 207 208 209 210 211 212 213 214 215
- Mikrowelten: Mikrowelten sind künstliche Systemwelten, in denen bestimmte Gesetze vorgegeben sind. Ein Beispiel für eine Mikrowelt zeigt das Computerprogramm „Electric Field Hockey“ (Chabay, 1993). Die Kräfte zwischen Ball, Schläger und Hindernissen basieren auf dem Coulombgesetz. Spielerische Erfahrungen sind auch bei dem Programm „Physikus“ (www.physikus.de) intendiert.
427 Gestaltungselemente
- Metaphern: Schulmeister (1996) versteht darunter den symbolhaften Präsentationsrahmen eines Programms, der dem Lernenden vor allem auch die Navigation im Programm erleichtert. Beispiele sind die Lexikonmetapher für ein Informationssystem („Physik-Duden“) oder die Reisemetapher für die sequentielle Reihung von Informationseinheiten. - Multimodalität der Benutzerschnittstelle: Multimodalität bedeutet eine Vielfältigkeit in der Ein- und Ausgabeform. Ton (Sprache und Musik), Bilder und Videopassagen prägen heute weitgehend die Ausgabe von Multimediaanwendungen. Akustische Eingaben mit Spracherkennung, Erkennen von Bewegungen über eine Videokamera oder Datenhandschuh sind in der Entwicklung und machen die Systeme zunehmend multimodal. - Benutzerführung: Icons, Maps (landkartenähnliche Orientierungsgraphen) und Hypertext sollen nicht nur oberflächliche Navigationshilfen sein, sondern auch kognitive Gliederungs- und Ordnungshilfen bieten. Zur multimedialen Lernumgebung gehört letztlich auch der Lehrer. Nach Goodyear (1992) beinhaltet dabei die Lehrerrolle folgende Aufgaben: • Angemessene Software auswählen • Kombination und Vernetzung mit andere Lernaktivitäten planen • Die Arbeit der Lernenden mit dem Programm überwachen • Die Aktivitäten am Computer nutzen, um Einblick in Denkweise und kognitive Entwicklung des Lernenden zu gewinnen • Zusammenfassen und den Lernenden helfen, über ihre neuen Erfahrungen zu reflektieren • Auseinandersetzungen schlichten und die Einteilung der Nutzungszeiten am Computer organisieren Issing (1995) hat für die Entwicklung multimedialer Lernsoftware allgemeine didaktische Planungshilfen zusammengestellt. Die Übersicht wird hier neu gestaltet wiedergegeben, weil sie auch Lehrenden eine Orientierungshilfe gibt, wie Multimediaanwendungen zu prüfen
Der Lehrer bei MultimediaProgrammen
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11 Neue Medien und Multimedia sind, bzw. in welchen Phasen gegebenenfalls Ergänzungen und Zusatzangebote einzuplanen sind.
Neue Medien werden in diesem Abschnitt nicht als Unterrichtsinhalte, sondern als ein Hilfsmittel für das Lernen betrachtet. Ihr Einsatz sollte aber theoriegeleitet erfolgen. (Beachten Sie dazu die Ausführungen im Kapitel 19.)
Multicodierung und Multimodalität Multimodale Systeme nutzen den Zugang über Sinne. Der Einsatz akustischer und visueller Informationen in mehreren Beschreibungsformen kann unterschiedliche Aspekte eines Inhalts hervorheben, Zusammenhänge und Wechselbezüge verdeutlichen. Nachfolgend werden exemplarisch einige Grundlagen aus der Akustik behandelt. Soundkarte, Mikrofon und Lautsprecher gehören heute zur Grundausstattung jedes Multimedia-PC´s. Dadurch steht dem Computerbesitzer mit der entsprechenden Software eine Funktionalität zur Verfügung, die sogar über Tonfrequenzgenerator und Speicheroszilloskop hinausgeht. Interaktivität und die Möglichkeit für Eigenaktivitäten der Schülerinnen und Schüler verstärken die Wirkung eines multimodalen Lernangebots. Akustik mit dem Computer
Natürlich sollen die Vorschläge praktisch nachvollziehbar sein. Deshalb beziehen sich die Beschreibungen vorwiegend auf Programme und Beispiele, die frei verfügbar sind (Beispiele und weitere Informationen über: http://www.physikonline.net). Gearbeitet wurde mit den Programmen GOLDWAVE (Goldwave, 2009) , DITON (Geiß, 1996) und GRAM (Horne, 1999) (siehe auch Literaturverzeichnis). Daneben gibt es ein sehr breites Angebot an weiteren Programmen,
11.2 Multimedia 259 260 261 262 263 264 265 266 267 268 269 270 271 272 273 274 275 276 277 278 279 280 281 282 283 284 285 286 287 288 289 290 291 292 293 294 295 296 297 298 299 300 301
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die teilweise auch direkt mit den Soundkarten vertrieben werden. Für aktuelle Angaben muss hier jedoch auf das Internet verwiesen werden. Einige Einführungsexperimente sind auch mit herkömmlichen Experimentiergeräten im Physikunterricht zu realisieren. Hier ist aber die Bedienung einfacher geworden, und sie sind sogar als Schülerexperimente für zu Hause geeignet. Dann folgen Experimente, die überhaupt erst durch den Computer so realisierbar sind. Die einfachsten Einstiege arbeiten mit fertigen Ton-Dokumenten (wav-Dateien). Diese können unter der Adresse http://www.physikonline.net oder http://www.ph-ludwigsburg.de./physik/physikonline über das Internet heruntergeladen werden.
Zusammenhänge zwischen Amplitude und Lautstärke, Frequenz und Tonhöhe Zwischen Amplitude und Lautstärke, Frequenz und Tonhöhe lassen sich zunächst sehr einfach „je-desto-Beziehungen“ aufzeigen. Eine Verknüpfung zwischen Hörempfinden und der Darstellung im Diagramm (Schallschnelle) wird auch dadurch erleichtert, dass parallel zur Tonausgabe die aktuelle Position im Diagramm angezeigt wird. (Der Zeitmaßstab ist variabel einstellbar, so dass die Kurven je nach Bedarf auflösbar sind.)
Grundlegende Zusammenhänge (halb-quantitativ)
Abb. 11.1: a) Töne verschiedener Lautstärken b) Töne unterschiedlicher Frequenz (senkrechter Strich ist die Abspielmarke)
Ton, Klang, Geräusch, Knall Unterschiedliche Schallereignisse lassen sich aufnehmen und analysieren. Die Höreindrücke können dann bestimmten Schwingungsformen und später auch den charakteristischen Schallspektren für Ton, Klang, Geräusch oder Knall zugeordnet werden.
Verschiedene Schallereignisse klassifizieren
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11 Neue Medien und Multimedia
Abb. 11.2: Sinuston, Klang (Flöte), Geräusch, Knall Details betrachten
Detailbetrachtungen lassen sich zusätzlich durch folgende Maßnahmen unterstützen, die eine Zuordnung der akustischen Wahrnehmung zu der grafischen Darstellung noch deutlicher machen können: • Maßstab für die Zeitachse anpassen • Startmarke für die Wiedergabe an relevante Stellen der Grafik setzen • Lautstärke bzw. Amplituden abschnittsweise verändern • eine Aufnahme wiederholt abspielen.
Quantitative Analyse und Synthese von Schallereignissen Generell ist auch für quantitative Betrachtungen vorteilhaft, dass die Programme nicht nur die Analyse von Klängen anbieten, sondern auch das Erzeugen definierter Tonfolgen. Dadurch lässt sich neu erworbenes Wissen gleich praktisch einsetzen und austesten. Lautstärke quantifizieren
Als Einführung bietet sich an, die Tondokumente lauter1.wav und lauter2.wav abzuspielen und sie dann zu analysieren. Bei lauter2.wav hat man im Unterschied zu lauter1.wav eher den Eindruck, dass die Töne gleichmäßig lauter werden, vor allem bei den größeren Lautstärken. Allerdings widerspricht dies zunächst scheinbar dem Verhalten der Amplituden in der grafischen Auftragung (bei linearem Maßstab).
11.2 Multimedia 345 346 347 348 349 350 351 352 353 354 355 356 357 358 359 360 361 362 363 364 365 366 367 368 369 370 371 372 373 374 375 376 377 378 379 380 381 382 383 384 385 386 387
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Abb. 11.3: Ausschnitte aus lauter1.wav und lauter2.wav (linearer Maßstab) Aufklären lässt sich der scheinbare Widerspruch erst über das Gesetz von Weber und Fechner. Danach ist die Wahrnehmungsstärke proportional zum Logarithmus der Reizintensität. In den meisten Programmen ist deshalb auch ein logarithmischer Maßstab verfügbar. Dies erschließt einen direkten Zugang zur Definition der Lautstärke mit Bezügen zum Hörempfinden. Das Gesetz von Weber und Fechner gilt näherungsweise für das Lautstärke- und Helligkeitsempfinden, aber auch für das Wahrnehmen von Tonhöhen. Die Dateien hoeher1.wav und hoeher2.wav bieten Töne mit steigenden Frequenzen an; hoeher1.wav mit einer linearen Zunahme der Frequenz, hoeher2.wav jeweils mit einem Anstieg um eine halbe Oktave (d.h. um drei Ganztonschritte).
Abb. 11.4: Frequenzen der Töne aus Hoeher1.wav linear; Hoeher2.wav Die grafische Auftragung der Frequenzen in linearem Maßstab (Abb. 11.4) zeigt wieder ein Ergebnis, das nicht direkt zu dem akustischen Eindruck passt. Auch hier hilft ein logarithmischer Maßstab weiter. Halbtonschritte, das heißt, die Zunahme der Frequenzen jeweils auf
Gesetz von Weber und Fechner
Tonhöhen quantifizieren
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11 Neue Medien und Multimedia das 12 2 -fache, erscheinen im logarithmischen Maßstab als äquidistante Schritte. Dies entspricht besser unserem Hörempfinden.
Wahrnehmung und physikalische Beschreibung
Das besondere Potential der Multimodalität besteht bei diesen Anwendungen darin, die Verknüpfungen zwischen akustischer Wahrnehmung und mathematischen / grafischen Beschreibungen zu erleichtern. Interessant ist außerdem der Vergleich zwischen der logarithmischen Frequenzauftragung und einem Notenblatt. Hier ist beispielsweise das Programm „GRAM“ eine Hilfe. (Dabei ist unkritisch, wenn die Frequenzanalyse nicht so genau ist.) Betrachtet werden in Abb. 11.5 kurz angespielte Töne / Klänge einer Querflöte. Die Frequenzanalyse liefert natürlich auch die Obertöne und im Unterschied zum Notenblatt werden Halbtonstufen in der Frequenzauftragung erkennbar. (Analysiert wurde das Tondokument „floete3x.wav“.) Mit einigen Anpassungen kann man aber im Prinzip auf diese Weise Notenblätter vom Computer „mitschreiben“ lassen.
Abb. 11.5: Darstellung von 3 Tönen (genauer Flötenklängen) Die Entstehung der Grafik lässt sich zusätzlich mit der folgenden Schemaskizze plausibel machen (siehe Abb. 11.6). In einem dreidimensionalen Diagramm sind Intensität und Frequenz zeitabhängig erfasst. Intensitäten, die über einer bestimmten Schwelle liegen, werden mit Signalfarben markiert. Projiziert man die markierten Stellen in die xy-Ebene, bzw. in die Zeit-Frequenz-Ebene, so erhält man eine Darstellung in der Form von Abb. 11.5.
11.2 Multimedia 431 432 433 434 435 436 437 438 439 440 441 442 443 444 445 446 447 448 449 450 451 452 453 454 455 456 457 458 459 460 461 462 463 464 465 466 467 468 469 470 471 472 473
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Abb. 11.6: Schemaskizze zur Entstehung von Abb. 11.5 links (vereinfacht und reduziert auf zwei „Töne“)
Klang, Schallschnelleverlauf und Fast Fourier Tranformation Eine erste Anwendungsaufgabe kann lauten, Klangbeispiele durch Überlagern verschiedener Töne zu erzeugen. Die Resultate lassen sich dann sofort über die akustische Wiedergabe testen. Gleichzeitig empfiehlt sich, verschiedene grafische Auftragungen zu nutzen. Geht man zunächst von einem Grundton aus und überlagert ihn dann mit Obertönen unterschiedlicher Amplituden, wird deren Bedeutung für das Klangerleben deutlich.
Abb. 11.7: Klangsynthese mit dem Programm DITON.
Klangbilder
434 474 475 476 477 478 479 480 481 482 483 484 485 486 487 488 489 490 491 492 493 494 495 496 497 498 499 500 501 502 503 504 505 506 507 508 509 510 511 512 513 514 515 516
Fast Fourier Tranformation
11 Neue Medien und Multimedia Umgekehrt lassen sich die Klänge verschiedener Musikinstrumente über eine Fourier-Zerlegung (Fast Fourier Tranformation / FFT) analysieren und in verschiedenen Diagrammen betrachten. Aus mediendidaktischer Sicht ist dabei wieder die Möglichkeit einer vergleichenden Charakterisierung in verschiedenen grafischen Darstellungen in Kombination mit der akustischen Präsentation interessant.
Abb. 11.8: Flöte und Klavier – Klangcharakterisierung durch Schnelleverlauf und Frequenzspektrum Klanganalyse
Weiterführend können zunehmend komplexere Klänge und Geräusche analysiert werden. Auch für die Beispiele aus der Abb. 11.2 (Ton, Klang, Geräusch, Knall) lassen sich Fourier-Zerlegungen durchführen. Interessant ist vor allem auch die Möglichkeit, bei einem vorgegebenen Tondokument oder einer selbst gefertigten Aufnahme bestimmte Frequenzen des Spektrums auszublenden und die Wirkung zu testen.
Akustische Effekte austesten und erleben Die meisten Akustik-Programme bieten spezielle Soundeffekte an. Über die Menüsteuerung ist die Programmbedienung fast immer problemlos. Damit kommen auch Schüler schnell zu eindrucksvollen Effekten, z. B. auch bei Aufnahmen mit der eigenen Stimme. Gleichzeitig bietet die detaillierte Betrachtung physikalischer Parameter vertiefende Einblicke. Es folgt eine Auswahl von Beispielen, die mit dem Programm GOLDWAVE erstellt wurden. Die Effekte werden aber auch von anderen Programmen angeboten (siehe Internetadressen). Mit Klangeffekten experimentieren
• Ein Echo lässt sich einbauen; Intensität und Zeitverzögerung kann man variieren. • Bei Stereoaufnahmen muss nur auf einem Kanal die Lautstärke kontinuierlich verringert und gleichzeitig auf dem anderen Kanal vergrößert werden, um eine quer zum Zuhörer bewegte Schallquelle zu simulieren.
11.3 Das Internet 517 518 519 520 521 522 523 524 525 526 527 528 529 530 531 532 533 534 535 536 537 538 539 540 541 542 543 544 545 546 547 548 549 550 551 552 553 554 555 556 557 558 559
• Über eine kontinuierliche Frequenzverschiebung, kombiniert mit einer Zu- bzw. Abnahme der Lautstärke, lassen sich bewegte Schallquellen simulieren, die sich scheinbar auf den Hörer zu bzw. von ihm weg bewegen. • Mit Filtern, z. B. Hochpass- oder Bandpassfiltern, lassen sich Stimmen verändern („Micki-Maus-Stimme“) oder der Klang eines antiquierten Grammophons bzw. von „Schellack-Platten“ (auch mit aktuellen Musikstücken) nachbilden. • Werden Klavierklänge „rückwärts“ abgespielt, klingt dies etwa wie ein Harmonium. Die Möglichkeit, jederzeit zwischen verschiedenen Darstellungsund Präsentationsformen zu wechseln und diese auch kombiniert einzusetzen, markiert ein wesentliches Merkmal des multicodal und multimodal ausgerichteten Medieneinsatzes. Damit kann der Computer helfen, eine Brücke zwischen Theorie und Wahrnehmung aufzubauen. Weitere Anwendungen und Beispiele: Braune & Euler (2002), Mathelitsch & Verovnik (2004), Nordmeier (2002) und Nordmeier & Voßkühler (2005, 2006).
11.3 Das Internet Das Internet bietet eine bunte Palette von Diensten an: Mit E-Mail kann elektronische Post verschickt werden, mit FTP lassen sich Dateien übertragen und mittels „remote login“ ist es möglich andere Rechner zu steuern. Vor allem aber ist auf dem Internet das WWW (World Wide Web) realisiert. Es besteht aus einer Vielzahl untereinander verknüpfter Dokumente (meist im html-Format: Hyper Text Markup Language), die auf WWW-Servern abrufbereit liegen. Mit einem Web-Browser, der das HTTP-Protokoll (Hyper Text Transfer Protocol) umsetzen kann, werden die Seiten an einem Computerarbeitsplatz mit Internetzugang lesbar. Um das Fachchinesisch etwas aufzuhellen seien einige begriffliche Zusammenhänge kurz aufgeführt: Die Informationsquellen im Internet sind sog. WWW-Server – Computer, die permanent angeschaltet und mit dem Netz verbunden sind. Zumindest die Startdokumente sind auf den Servern im html-Format gespeichert. Diese „Sprache“, in der die Web-Seiten beschrieben sind, kann auch direkt Java-Applets einbinden, d. h. Programme, die in der Programmiersprache Java erstellt sind. Außerdem lassen sich direkt Javascript-Programme und
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436 560 561 562 563 564 565 566 567 568 569 570 571 572 573 574 575 576 577 578 579 580 581 582 583 584 585 586 587 588 589 590 591 592 593 594 595 596 597 598 599 600 601 602
11 Neue Medien und Multimedia weitere Dateiformate für spezielle Aufgaben integrieren. Der Anwender selbst braucht letztlich einen WWW-Browser, um mit einem Server zu kommunizieren und die angebotenen Daten anzuzeigen. Das Erstellen eigener Web-Seiten wird mit sog. HTML-Editoren, also Textverarbeitungsprogrammen, die HTML-Code erzeugen, immer bequemer.
Seiten zur Physik
Zum Einstieg beim Surfen im Internet seien exemplarisch einige Adressen angegeben, von denen die Reise weitergehen kann: • Deutsche Physikalische Gesellschaft: www.dpg-physik.de • Sammlung von P. Krahmer: http://www.schulphysik.de/ • www.compadre.org • Physik online: www.physikonline.net.
11.3.1 Schwierigkeiten bei Internetrecherchen Bei aller Faszination für das neue Medium Internet stellt die gezielte Suche im Netz doch auch neue Anforderungen. Dies hat mehrere Gründe: • Es gibt keine zentrale Koordination und inhaltliche Kontrolle, keinen strukturierten Gesamtkatalog. • Die Dokumente haben ganz unterschiedlichen Aufbau und sind ganz verschieden gegliedert. Kurze Texte, Grafiken, bis zu ganzen Büchern oder Datenbanken stehen gleichberechtigt nebeneinander. • Darstellungen im Internet werden relativ frei gestaltet. Sie sind nicht immer vollständig und thematisch abgeschlossen. • Das WWW hat eine starke Dynamik und das Angebot ändert sich ständig. Im Gegensatz zu den technischen Standards ist die inhaltliche Struktur also nicht festgelegt und damit relativ ungeordnet und unübersichtlich. Findet man nicht gleich eine „Site“, die ein bestimmtes Thema didaktisch gut aufbereitet anbietet, wird ein Lernen über das Netz selten effektiv und zielstrebig ausfallen. So befasst sich der nachfolgende Abschnitt mit der Organisation von Informationsangeboten und mit Hilfen zur Strukturierung von Wissen. Konkret wird dies an Internetrecherchen und der grafischen Darstellung der Ergebnisse in Begriffsnetzen festgemacht. So genannte „Concept Maps“ bzw. „Mind Maps“ können themenbezogene Übersichten zusammenstellen und Informationspfade durch das Netz
11.3 Das Internet 603 604 605 606 607 608 609 610 611 612 613 614 615 616 617 618 619 620 621 622 623 624 625 626 627 628 629 630 631 632 633 634 635 636 637 638 639 640 641 642 643 644 645
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der Netze aufzeigen. Auf konkrete Anwendungen für die Unterrichtspraxis wird hingearbeitet.
11.3.2 Information ordnen, Wissen vorstrukturieren „Concept Maps“, „Mind Maps“ und „Charts“ repräsentieren eine Wissensdomäne über Kernbegriffe und zentrale Aussagen, die durch Knoten und ihre Verbindungen visuell angezeigt werden. Der Begriff lässt sich je nach Schwerpunkt mit „kognitiver Landkarte“, „Gedanken-Netz“, „Ideen-Muster“ oder „Konzept-Netz“ übersetzen. Entsprechende Computerprogramme machen es leicht, Hinweise auf Internetquellen in übersichtlichen Grafiken zusammenzustellen, zu ordnen und mit Bildern zu erläutern. So lassen sich kleine (inhaltsbezogene) Ausschnitt aus dem WWW strukturieren, gliedern und Lernpfade durch das Netz der Netze legen. Insbesondere können auch Schüler ihre eigenen Übersichten erstellen. Charts gehen weniger stark von einem zentralen Begriff aus, sind eher vertikal organisiert und können damit gut hierarchische Strukturen aufzeigen.
Abb. 11.9: Chart zur Strömungslehre Eine moderne Realisierungsform in Computeranwendungen sind sog. „clickable charts“. Sie bieten strukturierte, bildhafte Übersichten, wobei über direktes Anwählen entsprechender Bildabschnitte die Darstellungstiefe erweitert wird und sich Verzweigungen anbieten.
Concept Maps, Mind Maps Charts
438 646 647 648 649 650 651 652 653 654 655 656 657 658 659 660 661 662 663 664 665 666 667 668 669 670 671 672 673 674 675 676 677 678 679 680 681 682 683 684 685 686 687 688
Intention, Funktion
11 Neue Medien und Multimedia Maps und Charts stellen Inhalte anders organisiert und strukturiert dar als Texte. Die Aussagen sind nicht sequentiell geordnet; sie sind nebeneinander oder untereinander gestellt. Relationen und Zusammenhänge werden grafisch visualisiert. Damit sind Mind Maps auch geeignet, sprachliches und bildhaftes Denken zu verknüpfen, analytisches und assoziatives, kreatives Arbeiten zu kombinieren und Ordnungshilfen zu geben. Darüber hinaus lassen sich die Knoten noch mit Bildmaterial reizvoll ausgestalten und vor allem auch mit Internetadressen verknüpfen.
Abb. 11.10: Mindmap: Elektrizität aus verschiedenen Kraftwerken Durch Erweitern der Darstellungstiefe (siehe Abb. 11.10 rechts) und durch die Verknüpfung mit Internetadressen lassen sich zunehmend detaillierte Informationen anbieten und weitere Explorationen anregen. Eigenaktivität beim Lernen
Allein das Darstellen von Wissensstrukturen garantiert noch nicht den Erwerb von strukturellem Wissen (Jonassen & Wang, 1993). Ein aktives Arbeiten mit den Inhalten, angeregt durch Verarbeitungsaufgaben und Zielvorgaben, scheint ganz wesentlich zu sein. Mit einfach bedienbaren Computerprogrammen können auch Schüler leicht ihre eigenen Netze entwerfen und ihre Wegweiser durch das Internet legen. (Hier wurde mit einer für Lehrzwecke freien Lizenz von „MindManager Smart“ von Mindjet (2001) gearbeitet.)
11.3 Das Internet 689 690 691 692 693 694 695 696 697 698 699 700 701 702 703 704 705 706 707 708 709 710 711 712 713 714 715 716 717 718 719 720 721 722 723 724 725 726 727 728 729 730 731
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Die Programmbedienung ist denkbar einfach und die Grundfunktionen sind schrittweise in weniger als fünf Minuten vermittelt: 1.
Zentralbegriff eingeben (automatisch beim Start verlangt)
2.
Verzweigungen erzeugen (den entsprechenden Menüpunkt aufrufen)
3.
Die Knotenpunkte mit Bildmaterial oder weiteren Erläuterungen ausgestalten (über rechte Maustaste starten).
4.
Einen ausgewählten Knotenpunkt mit Internetadressen verknüpfen (über die rechte Maustaste starten).
5.
Die Seite als html-Dokument abspeichern. - Einfach den entsprechenden Menüpunkt aufrufen.
Programmbedienung in fünf Schritten
Aus didaktischer Sicht sind Mind Maps als „cognitive tools“ interessant, d. h. als Werkzeuge, die beim Lernen helfen, sich intensiver, effektiver und ökonomischer mit einem Inhalt auseinander zu setzen als ohne dieses Hilfsmittel. Für Internetrecherchen in der Schule sind besonders folgende Aspekte relevant: • Wer kennt nicht die verführerischen Hinweise und Links im WWW, die man immer weiter verfolgt, bis man sich schließlich, weitab vom eigentlichen Ziel, an sein ursprüngliches Vorhaben erinnert? – Mind Maps dokumentieren den aktuellen Arbeitsstand und machen Fortschritte in der Grafik direkt erkennbar. Außerdem erleichtern sie nach einer Unterbrechung das Zurückfinden zum aktuellen Arbeitsstand.
Zielgerichtetes Arbeiten
• Der Computer wird zur Projektionsfläche für eigene Ideen. Gedanken und Vorstellungen entwickeln sich weiter, neue Informationen werden gefunden und aufgenommen. Kein Mind Map ist von Beginn an perfekt. Änderungen und Korrekturen sind aber auf einer Computeroberfläche kein Problem und die Darstellung bleibt übersichtlich. • Eigene Internetseiten mit attraktivem grafischen Design sind mit Mapping-Programmen leicht zu realisieren. Damit lassen sich eigene Wege und Pfade durch das Internet legen. Die Möglichkeit, eigenes Schaffen in entsprechenden Ergebnissen wiederzufinden, setzt aus motivationspsychologischer Sicht einen positiven Reiz („Selbstwirksamkeit“).
Flexibles Arbeiten
Eigenes Wirken mit sichtbaren Ergebnissen
440 732 733 734 735 736 737 738 739 740 741 742 743 744 745 746 747 748 749 750 751 752 753 754 755 756 757 758 759 760 761 762 763 764 765 766 767 768 769 770 771 772 773 774
11 Neue Medien und Multimedia
11.3.3 Aufgabenkultur für Internetrecherchen Selten wird man bei Schülern schon ausgefeilte Techniken voraussetzen, mit denen sie Informationen über strukturelle Zusammenhänge lerneffektiv verwerten. Bedeutungsvolles Lernen aus Hypertextstrukturen verlangt extern angeregte und vermittelte Lernaufgaben. Vor Beginn der Online-Arbeit und dem Einsatz von Suchmaschinen sollten Schülerinnen und Schüler möglichst treffende Suchbegriffe zusammenstellen. Damit wird die Suche strukturierter und zielgerichtet. Außerdem lässt sich die Arbeit mit Maps in verschiedene Aufgabenstellungen einbinden und damit auch eine Anpassung an Schülerleistung und Zielsetzung erreichen. Einige Vorschläge bietet die nachfolgende Liste: • Durcharbeiten einer vom Lehrer generierten (übersichtlichen) Ziel-Map • Ausgestalten einer Ziel-Map mit Bildern, Links und BegleitTexten • Erweitern und ergänzen einer vorgegebenen Map - „Vertiefungsmap“ • Aus einer vorgegebenen Listenstruktur, z. B. auch aus dem Inhaltsverzeichnis eines Schulbuchs, relevante Stichworte extrahieren, in der Grafik übersichtlich zusammenstellen und mit Internetadressen verknüpfen • Erstellen einer Übersicht über die aktuelle Unterrichtseinheit für den Schulserver, die stetig aktualisiert wird • Ergänzende Anregungen („links“) sammeln, thematisch ordnen und gegliedert darstellen • Brainstorming in einer ersten Projektphase und Erstellen einer Ziel-Map. Diese wird dann in arbeitsteiligem Gruppenunterricht weiter ausgearbeitet und „verlinkt“. Metakognition und Concept Maps
Mind Maps sollen ebenfalls helfen, verstandenes Handlungswissen zu entwickeln, metakognitive Fertigkeiten zu schulen und Lernstrategien aufzubauen. Dazu sollte nach Jüngst (1992) die in Abb. 11.11 abgebildete Phasenstruktur bewusst gemacht und anhand konkreter Inhalte vertieft werden:
11.3 Das Internet 775 776 777 778 779 780 781 782 783 784 785 786 787 788 789 790 791 792 793 794 795 796 797 798 799 800 801 802 803 804 805 806 807 808 809 810 811 812 813 814 815 816 817
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Abb. 11.11: Arbeiten mit Mind Maps (nach Jüngst, 1992).
11.3.4 Grundstrategien für Internetrecherchen Nur langsam entwickeln sich empfehlenswerte und leicht vermittelbare Grundstrategien für das Arbeiten im Netz. Potempa et al. (2000) fordern vor allem das Suchprofil zu präzisieren. Dabei hilft vielleicht der Fragesatz: „Was wird von wem für wen, wo, wie, womit, wann, in welchem Umfang und warum gesucht?“ (Für die neun „W-Fragen“ steht als Kurzform WWW2.) Daneben verweisen Praktiker immer wieder auf folgende Tipps zur Arbeit mit Suchmaschinen und Katalogen: • Thematische Suchverzeichnisse nutzen • Vom Speziellen zum Allgemeinen (erst nach speziellen Begriffen suchen; wenn dies nicht zum Erfolg führt, den Suchbegriff weiter fassen). • Sog. „Phrasen“ in Suchmaschinen verwenden, d. h. feststehende Begriffe, die symbolisch in Anführungszeichen eingebettet sind. • Verschiedene Synonyme ausprobieren. (Sie suchen nach einem Inhalt, einem Begriff und nicht nach einem bestimmten Wort.) • Sofern dies die verwendete Suchmaschine unterstützt, auch den Ausschluss von Begriffen („NOT-Operator“) verwenden. Eine Sammlung von Suchmaschinen und Startpunkten für Internetrecherchen gibt es auch auf den oben genannten Internetseiten.
WWW2-Fragen
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11 Neue Medien und Multimedia
11.4 E-Learning und Web 2.0 E-Learning bezeichnet eine spezielle Form des computergestützten Lernens und wird heute in der Regel online über das Internet angeboten. Die digitalisierten Lernmaterialien sind multimedial aufbereitet, vernetzt und ermöglichen den Lernenden Interaktionen mit dem System, sowie den Betreuern und Mitgliedern der Lerngruppe. Nicht in jeder Phase können Lehrkräfte steuernd und lenkend eingreifen. Daher verlangt E-Learning eine gute Vorplanung und ein Gesamtkonzept, bei dem folgende Dimensionen zu berücksichtigen sind: Drei Dimensionen: Fachinhalte, kognitive Prozesse, Interaktionen
• Die inhaltliche Dimension, d.h. sachstrukturelle Überlegungen und die multimediale Aufbereitung der Inhalte sind abzustimmen. So unterscheiden Alonso et al. (2005) in Anlehnung an Clark (2003) und Merrill (1983) fünf grundlegende Inhaltsformen: Faktenwissen, Konzeptwissen, Prozesse, Verfahrensweisen und Prinzipien und diese jeweils in den zwei Leistungsformen: Reproduktion und Anwendung. • Die Förderung und Unterstützung kognitiver Prozesse, die mit den Inhalten in Verbindung stehen: Dazu gehören Aktivitäten wie Wahrnehmen von Informationen, Ausrichten von Aufmerksamkeit und Konzentration, Auswahl relevanter Informationen, Codierung für die dauerhafte Speicherung und Vernetzung mit bestehendem Wissen, Reproduktion von Wissen, Transfer sowie metakognitive Prozesse (Kontrolle und weitere Entwicklung kognitiver Strategien). • Ein Lernen im sozialen Kontext mit interaktiven Prozessen: Kommunikation mit Lehrenden (in verschiedenen Szenarien, wie z. B. nach dem Modell des "cognitive apprenticeship", bei dem ein Experte dem Lernenden vorbildhaft zeigt, wie bestimmte Arbeitsprozesse ablaufen) und kooperatives Arbeiten in Lerngemeinschaften. So beinhaltet das Design von E-Learning-Szenarien nach Alonso et al. (2005) speziell auch Überlegungen zu folgenden Komponenten für effektive Lernprozesse: • Präsentation der Lerninhalte mit motivierenden und vorstrukturierenden Komponenten, die auch einen roten Faden und Leitlinien für die Lernenden bereitstellen • Zielvorgaben, wobei die Lernresultate und die gewünschten Kompetenzen kurz beschrieben werden
11.4 E-Learning und Web 2.0 861 862 863 864 865 866 867 868 869 870 871 872 873 874 875 876 877 878 879 880 881 882 883 884 885 886 887 888 889 890 891 892 893 894 895 896 897 898 899 900 901 902 903
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• Aufbereitung und Darstellung des benötigten Wissens • Lernaufgaben, die gewünschte Fertigkeiten schulen und unterstützen • Praktische Übungen zur Festigung des Gelernten und zum Aufzeigen eines Anwendungsrahmens. Diskussionen und Gruppenaktivitäten forcieren kooperatives Lernen. • Abrundung: Verstärkt und ruft die Schlüsselkompetenzen noch einmal zusammen, gibt den Lernenden Rückmeldung über ihren Lernerfolg.
11.4.1 Blended Learning "Blended Learning" versucht, virtuelle Lernräume (elektronisch basierte Lehr-/Lernsysteme) und Präsenzveranstaltungen didaktisch sinnvoll zu verknüpfen. In den Präsenzphasen kommen die konventionellen Organisationsformen wie Klassenunterricht, Workshops, Tutorien, Rechenübungen oder Experimentalpraktika zum Einsatz. Virtuelle Lernräume sind beispielsweise als E-Learning-Klassen, EMentoring-Gruppen, Module zum Web-Lernen oder OnlineCommunities organisiert und nutzen E-Mail, Wissens- und Literaturdatenbanken, E-Workbooks, Audio- und Videostreams und Web 2.0-Technologien (siehe unten). Der Ansatz des "Blended Learning" hat zum Ziel, jeweils die Vorteile einer bestimmten Lernform einzubringen und die Nachteile der jeweils anderen Lernform zu kompensieren. Besonders in den Blickpunkt rücken dabei: • • • • • •
Methodenvielfalt, selbstgesteuertes Lernen, Lerntransfer und Praxisnähe, Individualisierung und Intensivierung von Lernprozessen, optimierte Nutzung zeitlicher und räumlicher Ressourcen, Nutzen moderner Formen der Kommunikation und kooperativer Lernszenarien, • Vorbereitung (einschließlich Homogenisierung des Leistungsstandes) und Nachbereitung kompakter Lehrveranstaltungen. In Präsenzveranstaltungen und in E-Learning-Einheiten lassen sich entsprechend den jeweiligen Stärken unterschiedliche Schwerpunkte realisieren.
Stärken nutzen, Schwächen kompensieren
444 904 905 906 907 908 909 910 911 912 913 914 915 916 917 918 919 920 921 922 923 924 925 926 927 928 929 930 931 932 933 934 935 936 937 938 939 940 941 942 943 944 945 946
11 Neue Medien und Multimedia Präsenzveranstaltung sichern:
Potential von Präsenzveranstaltungen
Potential von E-Learning
• Soziale und persönliche Kontakte (mit Lehrkräften und zwischen den Lernenden) sowie Gruppenprozesse • ganzheitliche Kommunikation (z. B. mit nonverbalen Elementen) • einfachere und direktere Behandlung von Problemen und Verständnisschwierigkeiten • direkte Absprachen • sichere und eindeutig, personenbezogene Leistungsnachweise. E-Learning-Einheiten unterstützen (wenn die technischen Gegebenheiten zufriedenstellend sind und die Nutzungskompetenz der Lernenden sichergestellt ist): • Zeit- und ortsunabhängiges Lernen ("just-in-time-learning") • Individuelles Lernen (Lerntempo, Dauer, Umfeld, aber auch Zielsetzungen) • Einbinden des Lernstoffes in verschiedene Szenarien mit interdisziplinärem Charakter und Internationalität; unterschiedlichste Fachbereiche, verschiedener Länder und Veranstaltungsorte lassen sich leichter zusammenbringen • Multimediale Aufbereitung der Lehrinhalte, z. B. lassen sich durch Animationen und Simulationen komplexe Sachverhalte illustrieren. • Den Vorlieben verschiedener Lernertypen kann das Angebot unterschiedlicher Medien (Bild, Video, Ton, Animation, Text), in verschiedenen Aufgabenformaten (mit Praxisnähe oder theoretischen Schwerpunkten, Spiele, Gruppenarbeiten, Einzelarbeiten...) entgegenkommen. • Moderne Techniken erleichtern den Zugriff auf Informationen in Datenbanken und elektronischen Bibliotheken und können zusätzliche Suchfunktionen bieten. • Dynamische und aktuelle Inhalte lassen sich anbieten. • Informationseinheiten lassen sich leicht vernetzen. • Neue Formen der Kooperation und Kommunikation zwischen Lehrenden und Lernenden, aber auch zwischen Lernenden bzw. Lehrenden untereinander (z. B. in virtuellen Diskussionsforen) können Kreativität freisetzen. Auch das Hinzuziehen von Experten ist leichter möglich. • Tests zu Lernergebnissen mit direktem Feedback lassen sich realisieren.
11.4 E-Learning und Web 2.0 947 948 949 950 951 952 953 954 955 956 957 958 959 960 961 962 963 964 965 966 967 968 969 970 971 972 973 974 975 976 977 978 979 980 981 982 983 984 985 986 987 988 989
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Insbesondere kommen beim E-Learning auch immer mehr die Web 2.0 Technologien zum Einsatz, die neue Aktivitäten ermöglichen.
11.4.2 Web 2.0 Web 2.0 steht für eine Reihe interaktiver und kollaborativer Internetprogramme. Über diese Technologien lassen sich insbesondere auch Elemente eines konstruktivistischen Lernens umsetzen. Die Nutzer sollen den Schritt von "Konsumenten" zu "Produzenten" gehen, weg von einem instruktionalen, lehrergesteuerten Lernen zu einem autonomen Lernen mit zielgerichteten Eigenaktivitäten. So wird Web 2.0 manchmal auch als "Mitmachnetz" charakterisiert.
Vom Konsumenten zum Produzenten
Das Internet dient bei Web 2.0-Programmen nicht nur als Informationslieferant, sondern als modernes Hilfsmittel für eigene mentale und soziale Aktivitäten. Dabei kommen neue Möglichkeiten zur (multimedialen) Information, Kommunikation und Kollaboration zum Tragen. Beispiele für Standardanwendungen sind Blogs, Chats, Wikis, Podcasts, aber auch Foto- und Videocommunities. Die Hoffnung, dass der Einsatz der neuen Medien unmittelbar zu besseren Lernleistungen führt, lässt sich nicht so einfach und schon gar nicht pauschal belegen (Kerres 2007, 3). Daher ist es sinnvoll, die besonderen Stärken zu spezifizieren und Einsatzmöglichkeiten zu identifizieren, die die besonderen Möglichkeiten nutzen. In diesem Sinne werden nachfolgend mehrere Werkzeuge betrachtet und dann exemplarisch einige Einsatzbereiche für den Physikunterricht vorgestellt.
Nutzung an funktionellen Stärken ausrichten
Wikis Wikis sind Internetseiten, deren Inhalte von den Benutzern nicht nur gelesen, sondern auch online geändert und ergänzt werden können. Durch die (mehr oder weniger gesteuerte) Kooperation einer Arbeitsgruppe kann eine interessante Informationssammlung entstehen. Das bekannteste Beispiel ist wohl die Online-Enzyklopädie Wikipedia. Der Einsatz von Wikis bietet sich auch für den Unterricht an, z. B. zum erweiterten Meinungsaustausch und zur Diskussion eines Themas sowie für eine Zusammenstellung von Informationen. Einzelne Seiten können über Hyperlinks vernetzt werden, so dass sich auch ein komplexes Thema in der Breite darstellen lässt.
Wikis
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11 Neue Medien und Multimedia Mit Wikis lassen sich Wissensaustausch und modernes Wissensmanagement üben. Einzelne Beiträge können in Referaten, Haus- oder Seminararbeiten erstellt werden. In Systemen mit Revisionskontrolle lässt sich auch der Ablauf der Arbeiten dokumentieren, und die Daten sind für eine Verbesserung der Kooperationsprozesse nutzbar. Zur Koordination von Projekten und Kooperationen lassen sich strukturelle Vorgaben machen und Gliederungen vorgeben, die in nachfolgenden Arbeitsphasen ausgebaut werden. Lernziele
Fachwissen kennen und zuordnen Informationen suchen und ordnen Informationen austauschen und kommunizieren Informationen bewerten
Entscheidend für den Erfolg eines Wikis ist das Engagement der Schülerinnen und Schüler. Sie müssen motiviert sein, ihr zusammengetragenes Wissen zu teilen. Dann werden auch die Vorteile des kooperativen Arbeitens deutlich. Als Lernziele lassen sich formulieren: • Inhalte gemeinsam erarbeiten und Wissen kommunizieren, • zielstrebige Nutzung verschiedener Informationsquellen wie Fachbücher, Fachzeitschriften und Internet, • Texte und Bildmaterialien über einen Online-Editor verfügbar machen, Links auf Informationsseiten recherchieren und setzen, • die Zuverlässigkeit von Quellen prüfen bzw. beurteilen lernen und den Wahrheitsgehalt eines Wikitextes kritisch reflektieren.
Chats Chat-Foren
Chat-Foren sind webbasierte Diskussionsräume. Mehreren Personen können über das Internet kommunizieren. Während bei der ursprünglichen Form nur reine Texte ausgetauscht wurden, kommen mittlerweile auch Ton- und Videoclips dazu.
Kommunizieren, Diskutieren, Bewerten
Aus didaktischer Sicht sind drei Typen zu unterscheiden: • Chat-Foren die ohne zeitliche Begrenzung laufen. Eine Teilnahme ist jederzeit möglich, die durchgängige Aktivität (und Attraktivität) hängt davon ab, ob sich eine große Teilnehmerzahl aktiv beteiligt. Schulklassen oder Studentengruppen können sich hierbei an bestehende Gruppen anschließen. • Chat-Sitzungen zu festgelegten Zeiten: Lerninhalte können zu vereinbarten Terminen behandelt und diskutiert werden. • Chat-Events: Diskussionen werden angekündigt und z. B. mit dem Einbinden von Experten attraktiv gemacht.
11.4 E-Learning und Web 2.0 1033 1034 1035 1036 1037 1038 1039 1040 1041 1042 1043 1044 1045 1046 1047 1048 1049 1050 1051 1052 1053 1054 1055 1056 1057 1058 1059 1060 1061 1062 1063 1064 1065 1066 1067 1068 1069 1070 1071 1072 1073 1074 1075
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Blog Ein Blog, die Kurzform für Weblog, ist ein öffentlich geführtes Logbuch, Tagebuch oder Journal. Die Einträge werden dabei in umgekehrt chronologischer Reihenfolge eingepflegt, d.h. die neuesten Einträge stehen oben. Kommentare und Diskussionsbeiträge der Teilnehmer, z. B. zu einem Fachartikel, können zum Austausch von weiteren Informationen, Gedanken und Erfahrungen dienen. Auch hier gibt es verschiedene Anwendungsszenarien, die auch schulrelevant sind: • Individuellen Weblogs von Lernenden können den eigenen Lernfortschritt dokumentieren und auch als eine Art E-Portfolio (siehe unten) dienen.
Blogs
Dokumentieren, Kommentieren und Bewerten
• Gruppenweblogs können Lerneinheiten aus Sicht der Lernenden dokumentieren und weitere Maßnahmen der Betreuenden anregen. • Weblogs können den Fortgang von Auslands- oder Praxisveranstaltungen dokumentieren, reflektieren, Erfahrungen zusammentragen und ermöglichen die Unterstützung durch Betreuer/innen und Kommiliton/inn/en. • Oft werden Weblogs auch als informelles Kommunikationsmittel genutzt werden, um Ideen, Anekdoten und Geschichten auszutauschen. Aufgrund des Kommunikationsaspekts werden Weblogs auch oft der "Social Software" zugeordnet.
E-Portfolio: Ein E-Portfolio ist eine netzbasierte Sammelmappe mit verschiedenen digitale Medien und Vernetzungen, die im Verlauf eines Lernprozesses gesammelt werden. E-Portfolios machen es leicht, moderne Medien aufzunehmen, z. B. Hausarbeiten oder Referate als pdfDokumente, digitale Fotos, Mindmaps, Ton- und Videoclips von Vorträgen oder technischen Anwendungen.
E-Portfolio
Im Unterricht lassen sich E-Portfolios mit verschiedenen Zielsetzungen einsetzten:
Ordnen, Dokumentieren, Strukturieren, Gestalten, Präsentieren
• Material und Lernmedien zusammenstellen • den Wissensfortschritt für die persönliche Kontrolle aufzeichnen (auch zur Reflexion der eigenen Lernprozesse) • als elektronische Präsentationsmappe, mit der sich eine Person vorstellt und Proben ihrer Arbeit zeigt
448 1076 1077 1078 1079 1080 1081 1082 1083 1084 1085 1086 1087 1088 1089 1090 1091 1092 1093 1094 1095 1096 1097 1098 1099 1100 1101 1102 1103 1104 1105 1106 1107 1108 1109 1110 1111 1112 1113 1114 1115 1116 1117 1118
11 Neue Medien und Multimedia • als Leistungsnachweis für die Bewertung oder ein Feedback, zur Dokumentation von Zwischen- und Endergebnissen (erkennbar wird auch die Kompetenz im Umgang mit modernen Lernmaterialien).
Podcasting Podcasts
Podcasts sind Audiodateien, die aus dem Internet bezogen werden können. Sie werden in einem geeigneten, komprimierenden Format angeboten, so dass sie flexibel mit mobilen Endgeräten abgespielt werden können, z. B. unterwegs mit MP3-Playern. Immer mehr aktuelle Berichte aus der Forschung werden als Podcasts angeboten. Nicht zuletzt bietet sich die Nutzung auch für den bilingualen Unterricht (Physik und Englisch) an. Podcasts lassen sich sogar abonnieren, so dass die Dateien automatisch heruntergeladen werden. Für die Unterrichtspraxis sind folgende Szenarien denkbar:
Fachwissen aufnehmen Fachwissen verbalisieren und kommunizieren
• Konsumieren, verarbeiten und bewerten Mittlerweile gibt es einen großen, oft kostenlosen Materialpool. Viele Rundfunk- und Fernsehsender bieten Mitschnitte von Sendungen als Podcast an. Auch über die Seiten der DPG (deutsche physikalische Gesellschaft), "Welt der Physik" und podcast.de sind entsprechende Fachseiten zu finden. Die Lehrkraft oder auch Schülerinnen und Schüler können Hinweise auf geeignete Quellen bereitstellen. Die Lerngruppe nutzt dann das Angebot z. B. für Hausaufgaben oder Referate. • Selbst erstellen: Mithilfe kostenloser Software (z. B. Audacity) lassen sich eigene Produktionen von der Lehrkraft, aber natürlich auch von Schülerinnen und Schülern leicht realisieren. Die Lehrkraft kann eine aktuelle Folge im Netz anbieten. • Gemeinsam publizieren: Mehrere Bereiche eines Themas lassen sich gegliedert in mehrere Dateien behandeln. Außerdem sind damit Projektbesprechungen oder Onlinediskussionen möglich.
Collaborative Tagging und Social Software Social Bookmarking
Social software soll die Kommunikation und die Zusammenarbeit im Internet erleichtern. Neben Wikis und Blogs gehören dazu auch Social-Bookmarking-Portale. Hier lassen sich gemeinsam erstellte Lesezeichen zur Verfügung stellen und Indices für Fotos, Artikel,
Literatur 1119 1120 1121 1122 1123 1124 1125 1126 1127 1128 1129 1130 1131 1132 1133 1134 1135 1136 1137 1138 1139 1140 1141 1142 1143 1144 1145 1146 1147 1148 1149 1150 1151 1152 1153 1154 1155 1156 1157 1158 1159 1160 1161
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Unterrichtsentwürfe und –materialien … anfertigen. (Beispiele sind zu finden unter http://mister-wong.de)
11.4.3 Resümee Neben dem Ziel, das fachliche Wissen durch multimedial aufbereitete Lernangebote zu bereichern, bietet das E-Learning auch die Option, den kompetenten Umgang mit den neuen Medien zu schulen und die Lernenden mit neuen Kommunikationsmöglichkeiten vertraut zu machen. Der Einsatz von Web 2.0 Technologien bietet sich überdies im Unterricht als Hilfsmittel an, mit dem ein Organisieren und Strukturieren von aktuellen, fachlichen Informationen geschult werden kann. Dies erschließt zusätzliche Perspektiven für ein lebenslanges Lernen.
Literatur Alonso, F., López, G., Manrique, D. & Viñes, J. M. (2005). An instructional model for web-based elearning education with a blended learning process approach. British Journal of Educational Technology 36, (2), 217–235. Braune, G., Euler, M. (2002). Akustik mit der Soundkarte. Unterricht Physik 13/69, 37-40. Brown, J. S., Collins, A. & Duguid, P. (1989). Situated cognition and the culture of learning. Educational Researcher 18, (1), 32–42. Clark, R. (2003). Building expertise. Cognitive methods for training and performance improvement. Washington, DC: Book of International Society for Performance Improvement. Collins, A., Brown, J. S. & Newman, S. E. (1989). Cognitive apprenticeship: teaching the crafts of reading, writing, and mathematics. In L. B. Resnick (Hrsg.), Knowing, learning, and instruction. Essays in honor of Robert Glaser. Hillsdale, NJ: Lawrence Erlbaum Associates, 453– 494. Geiß, U. (1996). Computerprogramm DITON. http://www.didaktik.physik.uni-erlangen.de/download/ window.htm (20.7.2006) Goldwave. http://www.goldwave.com. (25.5.2009). Horne R. S. (1999). Computerprogramm Spektrogram. http://www.visualizationsoftware.com (25.5.2009) Jonassen, D., & Wang, S. (1993). Acquiring structural knowledge from semantically structured hypertext. Journal of Computer-Based Instruction 20, (1), 1-8. Jüngst, K. L. (1992). Lehren und lernen mit Begriffsnetzdarstellungen. Frankfurt a. M.: Afra-Verlag. Mathelitsch, L., Verovnik, I. (2004). Akustische Phänomene. Köln: Aulis Verlag. Merrill, D. (1983). Component display theory. In C. M. Reigeluth (Ed.). Instructional design theories and models: an overview of their current status. Hillsdale, NJ: Erlbaum, 279–333. Mindjet (2001). MindManager Smart. Schulversion. http://www.schule.comunetix.de/mindjet/ (25.5.2009). Nordmeier, V. (2002). Akustik mit der Soundkarte. Unterricht Physik 13/69, 34 (136).
450 1162 1163 1164 1165 1166 1167 1168 1169 1170 1171 1172 1173 1174 1175 1176 1177 1178 1179 1180 1181 1182 1183 1184 1185 1186 1187 1188 1189 1190 1191 1192 1193 1194 1195 1196 1197 1198 1199 1200 1201 1202 1203 1204
11 Neue Medien und Multimedia
Nordmeier, V., Voßkühler, A. (2005). Da sieht man plötzlich, was man hört - zur Visualisierung und Analyse von Musik aus physikalischer Perspektive. Praxis der Naturwissenschaften –Physik in der Schule 6, (54), 9-17. Nordmeier, V., Voßkühler, A. (2006). Sounds: Computer und Musik. Mit der Soundkarte Töne und Klänge entdecken. Grundschulunterricht 5 (Sonderheft Computer & Internet), 4-14. Potempa, TH. (2000). Leitfaden für die gezielte Online-Recherche. München: Hanser. Schecker, H. (1998). Physik modellieren, Stuttgart: Klett. Schecker, H. (1999). Warum nicht mal numerisch? - Computergestützte Modellbildung erschließt interessante Phänomene für den Physikunterricht. Plus Lucis, (3), 17-21.
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Josef Küblbeck
12 Quantenphysik 12.1 Vorbemerkungen Die Quantenphysik hat unsere naturwissenschaftliche Weltsicht seit dem Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts stark verändert. Sie ist unentbehrliche Grundlage vieler Teildisziplinen der modernen Physik. Die moderne Chemie, Biologie und Medizin wären ohne Quantenphysik nicht vorstellbar.
Bedeutung der Quantenphysik
Leider ist die Quantenphysik aber auch besonders unanschaulich und deshalb für Schüler schwer zu erfassen. Die experimentellen Ergebnisse können in der Regel nicht mit klassischen Vorstellungen erklärt werden. Ein bekanntes Beispiel dafür sind Photonen oder Elektronen. Weder verhalten sie sich wie klassische Teilchen, noch wie klassische Wellen, es gibt keine Objekte aus unserer Erfahrung, die solche Eigenschaften aufweisen. Untereinander jedoch sind sich all diese „Quantenobjekte“ in vielen Eigenschaften sehr ähnlich.
Probleme beim Lernen der Quantenphysik
Erstaunlicherweise haben die Väter der Quantenphysik eine Theorie gefunden, welche die Ergebnisse der Experimente mit Quantenobjekten sehr gut beschreibt. Ihre theoretischen Vorhersagen stimmen mit den Messergebnissen auf bis zu 8 gültige Stellen überein. Diese Quantentheorie ist jedoch eine abstrakte mathematische Theorie. Die zugrunde liegende Mathematik der Hilberträume mit den komplexwertigen Zahlen kann in der Schule nicht vorausgesetzt werden. Die Unanschaulichkeit der Phänomene und die mathematische Schwierigkeit der Theorie lassen oft die Frage aufkommen, ob die Quantenphysik einen Platz an der Schule haben soll. Welche Inhalte der Quantenphysik sind für unsere Schüler bildend? Welche Inhalte können überhaupt vermittelt werden? Dazu müssen folgende Fragen beantwortet werden: • Welche quantenphysikalischen Phänomene können in der Schule gezeigt werden? Über welche in der Forschung durchgeführten Experimente, die typische Eigenschaften der Quantenphysik zeigen, sollte man berichten? • Können Teile der Quantentheorie schülergerecht elementarisiert werden? Welche Vorstellungen und welche begrifflichen und mathematischen Werkzeuge stehen den Schülern zur Verfügung, um Vorhersagen für Quantenexperimente zu machen?
W. Heisenberg
Leitfragen dieses Beitrags
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12 Quantenphysik • Welche Konsequenzen für unser Weltbild ergeben sich aus den experimentellen Ergebnissen, sowie aus den Wesenszügen der Quantentheorie? Diesen Fragen wollen wir in diesem Beitrag nachgehen.
12.2 Experimente der Quantenphysik H a = ih
∂ a ∂t
An der Hochschule werden in der Quantenphysik besonders diejenigen Quantenphänomene besprochen, die man durchrechnen kann. Die dabei häufig hinter der mathematischen Technik verschwindende weltbildliche Bedeutung der Experimente wollen wir hier deutlich machen. Dazu ordnen wir mehrere Quantenexperimente nach einigen grundlegenden Wesenszügen, welche die Quantenphysik von der klassischen Physik besonders augenfällig abheben (Leisen, 2000 und Küblbeck, Müller, 2003).
12.2.1 Experimente, die mit Quantelung erklärt werden können In der klassischen Physik gibt es keine Erscheinungen, die eine Quantelung von physikalischen Größen nahelegen. Elektrische Ladungen, Drehimpulse, Energien, magnetische Flüsse usw. können beliebige Werte annehmen. Wenngleich im ElektrizitätslehreUnterricht oft bereits vom Fließen von Elektronen die Rede ist, geben die gängigen elektrischen Phänomene keinen Anlass zu der Annahme einer Quantelung der Ladung. • Erst der Millikan-Versuch legt die Vorstellung einer Ladungsquantelung auf sehr kleinen Öltröpfchen nahe. Die Kräfte auf die Öltröpfchen werden dabei dadurch erklärt, dass sich auf diesen ein Zuviel oder Zuwenig an Elektronen befindet. Die Elektronen sind dabei nicht die Ladung selbst, sondern sie tragen diese Ladung. Jeweils ein Elektron trägt eine Elementarladung, hat aber daneben z.B. auch eine bestimmte Masse. Auch andere Objekte, wie Myonen, tragen jeweils eine negative Elementarladung. • Die Phänomene beim Fotoeffekt und bei der Röntgenbremsstrahlung können mit Hilfe der Quantelung des Lichts beschrieben werden. Die Portionen des Lichts sind die Photonen. Sie tragen – abhängig von ihrer Frequenz – jeweils eine bestimmte Energieportion.
12.2 Experimente der Quantenphysik 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 100 101 102 103 104 105 106 107 108 109 110 111 112 113 114 115 116 117 118 119 120 121 122 123 124 125 126 127 128 129
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• Die Oszillationen (s. am Rand) beim Franck-Hertz-Versuch werden damit erklärt, dass man sich vorstellt, dass die GasAtome Energie nur in ganz bestimmten Portionen aufnehmen können. Bei der Emission von Gasatomen erklärt diese Quantelung die beobachteten Spektren. Diese Quantelung wiederum kann man konsistent mit der Vorstellung beschreiben, dass sich die Hülle der Gasatome nur in bestimmten Zuständen mit diskreten Mengen an Energie befinden können. Alle diese Versuche sind gängige Schulversuche und ausführlich in den Schulbüchern beschrieben, sodass wir hier nicht näher darauf eingehen. Die Quantelung ist noch keine Eigenschaft, die den Schülern besonders fremd ist. Bei Alltagsgegenständen wie Geld, Schafen oder Erbsen ist die Menge ja in der Regel auch gequantelt. Dennoch ist die Quantelung von physikalischen Größen ungewohnt. So sollen sich die Schüler nur einmal vorstellen, dass sie auf einem Drehstuhl sitzend sich nur mit einem gewissen Drehimpuls oder einem Vielfachen davon oder gar nicht drehen können.
Quantelung im Alltag
12.2.2 Experimente, die man stochastisch beschreibt In der Quantenphysik können Messergebnisse oft nicht vorhergesagt werden. Dies ist für die Schüler zunächst nicht erstaunlich. Das Ergebnis eines Würfelwurfs kann ja auch nicht vorhergesagt werden. Allerdings ist die Unbestimmtheit der Quantenphysik von anderer Qualität als die der klassischen Physik. Die klassischen Theorien erheben den Anspruch, dass bei genügend Informationen über die Anfangsbedingung die zeitliche Entwicklung eines Systems vorhergesagt werden kann. In der Quantenphysik können die Systeme nicht wie in der klassischen Physik auf Größen wie Ort und Impuls zugleich präpariert werden. • Wenn Licht auf einen Strahlteiler (z.B. eine Glasscheibe) fällt, so wird ein Bruchteil T durchgelassen und ein Bruchteil 1-T reflektiert. Man hat dieses Experiment mit einzelnen Lichtquanten durchgeführt und Detektoren in die zwei möglichen Wege gestellt. Es zeigte sich, dass stets genau einer der beiden Detektoren das ganze Lichtquant nachweist. Dabei ist eine Vorhersage für das einzelne Photon unmöglich. Allerdings beträgt bei oftmaliger Wiederholung des Experiments die relative Häufigkeit für „durchgelassen“ etwa T und die relative Häufigkeit für „reflektiert“ etwa 1 – T.
Verschiedene Arten von Zufall
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Ein Photon trifft auf ein Polfilter
12 Quantenphysik • Linear polarisiertes Licht fällt auf ein Polfilter mit Orientierung φ gegenüber der Polarisationsrichtung des Lichts. Dann wird der Anteil cos2(φ) durchgelassen und der Anteil sin2(φ) absorbiert. Mit der entsprechenden Wahrscheinlichkeit werden die einzelnen Lichtquanten entweder durchgelassen oder absorbiert. Eine Vorhersage für das einzelne Lichtquant ist nicht möglich. Eine Computer-Simulation für klassisches Licht und einzelne Photonen kann kostenlos herunter geladen werden (Huber 1998). • Angeregte Atome emittieren ein Photon mit einer bestimmten Halbwertszeit. Dabei wechseln sie von einem angeregten Zustand in einen Zustand mit geringerer Energie. Das stochastische Verhalten ist genauso wie bei radioaktiven Atomkernen. • Wenn ein Elektron in einem bestimmten Gebiet lokalisiert ist, so kann man seine Position durch Bestrahlung mit intensiven Lichtpulsen messen. Die Wahrscheinlichkeit, das Elektron an einem bestimmten Ort zu finden, ist proportional zum Betragsquadrat 2 ψ ( x ) . So gibt es Zustände, wie den am Rand gezeigten Potentialtopf, in denen das Elektron besonders selten in der Mitte nachgewiesen wird. Schüler wenden an dieser Stelle oft ein, dass die Unbestimmtheit der quantenphysikalischen Systeme nur scheinbar sein könnte. Die Anfangsbedingungen für Ort und Impuls der Elektronen oder Photonen könnte ja sehr wohl bestimmt, uns aber nicht bekannt, also vor uns verborgen sein. Auf solche Interpretationen der Quantenphysik „mit verborgenen Parametern“ und ihre Nachteile gehen wir weiter unten ein.
12.2.3 Experimente, die man mit Interferenz erklärt Spaltexperimente mit verschiedenen Quantenobjekten
Interferenzmuster treten in allen Bereichen der Quantenphysik auf. • Wenn man gleich präparierte Elektronen, Atome oder Lichtquanten durch eine Anordnung von Spalten schickt, dann gibt es Bereiche hinter der Spaltanordnung, in denen die Quantenobjekte besonders häufig, und andere, in denen sie kaum nachgewiesen werden können. Wenn man die Punkte sammelt, an denen die Quantenobjekte nachgewiesen wurden, dann entstehen Verteilungen, wie man sie von der Interferenz von Wellen kennt. Dabei tragen die Quantenobjekte zu dem Interferenzmuster auch dann bei, wenn stets nur ein Quantenobjekt durch die Anordnung geht. Man kann also nicht sagen, dass die Quantenobjekte miteinander interferieren. Treffender ist die Aussage, dass jedes einzelne Quantenobjekt „mit sich selbst“ interferiert.
12.2 Experimente der Quantenphysik 173 174 175 176 177 178 179 180 181 182 183 184 185 186 187 188 189 190 191 192 193 194 195 196 197 198 199 200 201 202 203 204 205 206 207 208 209 210 211 212 213 214 215
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Prominentes Beispiel ist der Versuch von Zeilinger (Arndt et al., 1999) mit C60-Molekülen an einem Gitter. Das entstehende Interferenzmuster ist in Abb. 12.1 gezeigt.
C60-Molekül
Abb. 12.1: Interferenzmuster von C60-Molekülen bei der Beugung an einem Gitter (Arndt et al., 1999) Leider sind Interferenzexperimente mit einzelnen Quantenobjekten für Schulen zu teuer. Es gibt jedoch einen kostenlosen Film von einem Doppelspalt-Experiment mit einzelnen Photonen von der Universität Bonn (Universität Bonn, 2000). Außerdem kann man ebenfalls kostenlos von der Physikdidaktik-Abteilung der Universität München eine sehr flexible und schülerfreundliche Simulation zum Doppelspalt-Experiment mit vielerlei Objekten herunterladen (Muthsam, 1998).
Aufnahme mit dem Rastertunnelmikroskop
• Wenn man einzelne Quantenobjekte (z.B. Atome, Neutronen, Photonen) durch eine Interferometer-Anordnung schickt und die Nachweispunkte sammelt, dann erhält man Interferenzringe. Am Rand sind die Interferenzringe mit Laserlicht gezeigt. • Auch folgendes Experiment ist ein bekannter Schulversuch, wenngleich auch nicht mit einzelnen Quantenobjekten: Wenn ein Elektronenstrahl auf ein Grafitpulver trifft, kann man auf einem Schirm Beugungsringe nach Debye-Scherrer sehen. • Wenn man gleiche Atomkerne aneinander streut, erhält man für die Abhängigkeit der Streuwahrscheinlichkeit vom Streuwinkel ein Interferenzmuster.
Interferenzringe mit Laserlicht
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12 Quantenphysik • Bei der Streuung von Gamma-Quanten oder Neutronen an Kristallen bekommt man Interferenz-Maxima. • Bei der Kollision von Elementarteilchen kann man Interferenzeffekte beobachten. • Hybridorbitale in Atomen oder Molekülen zeigen unerwartete Stellen mit niedriger und Stellen mit hoher Nachweiswahrscheinlichkeit.
12.2.4 Experimente zum Komplementaritätsprinzip Das Komplementaritätsprinzip sagt aus, dass sich in einem Interferenzexperiment „Welcher-Weg-Information“ und Interferenzmuster ausschließen. Sobald man z.B. in einem Doppelspalt-Versuch misst, durch welchen Spalt die Quantenobjekte gehen, kann man kein Muster beobachten. Das Nichtauftreten des Musters kann im Allgemeinen nicht durch Impulsüberträge bei der Messung erklärt werden. • Das Interferenzmuster beim Doppelspalt für Photonen verschwindet, wenn man an die beiden Spalte Polfilter anbringt, deren Vorzugsrichtungen zueinander senkrecht stehen (s. Abb. 12.2)
Abb. 12.2: Doppelspaltversuch zur Komplementarität: Für 2ϕ = 90° erhält man kein Muster Für Licht kann dieses Experiment in der Schule durchgeführt werden. Der Doppelspalt mit den drehbaren Polarisationsfiltern kann selbst gebaut werden (http://www.quantenphysikschule.de/Dokumente/bauanleitung.pdf) oder ist für € 29,- zu beziehen über http://www.muero-fraeser.de/. Dieses Experiment kann mit dem Komplementaritätsprinzip erklärt werden. Schüler, die mit Filmen oder Simulationen zu den Interferenzexperimenten mit einzelnen Quantenobjekten gearbeitet haben, fällt es leicht, die Ergebnisse auf einzelne Quantenobjekte zu übertragen: Diese tragen für 2ϕ = 00 zu einem Inter-
12.3 Vorstellungen zur Quantenphysik 259 260 261 262 263 264 265 266 267 268 269 270 271 272 273 274 275 276 277 278 279 280 281 282 283 284 285 286 287 288 289 290 291 292 293 294 295 296 297 298 299 300 301
ferenzmuster bei, für 2ϕ = 900 nicht. Für Winkel dazwischen tritt ein Interferenzmuster mit schwächerem Kontrast auf. Je größer der Winkel 2ϕ, umso mehr Photonen tragen zum Interferenzmuster bei. • Im Atom-Interferometer kann man das Interferenzmuster zum Verschwinden bringen, wenn die interferierenden Atome Lichtquanten emittieren (s. Abb. am Rand, Dürr et al. 1998). An den emittierten Lichtquanten muss nicht einmal eine Messung vorgenommen werden, es genügt, dass sie überhaupt emittiert werden. Der Impuls der verwendeten Lichtquanten ist dabei zu klein, um das Verschwinden des Musters durch einen Rückstoß-Effekt zu erklären. • Bei der Streuung eines Neutrons an einem Kristall trägt das Neutron dann nicht zu einem Interferenzmuster bei, wenn das Neutron einen Spinflip erleidet. • Bei der Streuung von 13C- an 12C-Kernen beobachtet man kein Interferenzmuster, selbst wenn der Detektor nicht zwischen 13Cund 12C-Kernen unterscheiden kann.
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ohne Emission eines Photons
12.3 Vorstellungen zur Quantenphysik In diesem Abschnitt kommt zur Sprache, welche Vorstellungen in welcher Form für den Schulunterricht aufgegriffen werden können.
12.3.1 Quantenobjekte als kleine Kügelchen Die Vorstellung kleiner Kügelchen wird sicher schon durch den Begriff „Teilchen“ oder „Elementarteilchen“ nahe gelegt. Viele Illustrationen stellen Elektronen als kleine Kügelchen dar. Aus Streuversuchen mit Elektronen wird oft geschlossen, Elektronen seien „punktförmig“. Tatsächlich sind derartige Streuversuche jedoch Ortsmessungen. Sie sagen nichts darüber aus, welche Ausdehnung Elektronen ohne eine Ortsmessung haben. Für Interferenz-Versuche hat das Kügelchenmodell den Nachteil, dass das Interferenzmuster nicht einfach zu erklären ist. Die Bohmsche Interpretation erreicht dies mit Hilfe eines „nichtlokalen“ Quantenpotentials. Diese Interpretation wird bislang, wenn überhaupt, sowohl in den Hochschulen als auch in den Schulen eher als exotische Variante behandelt. In Abb. 12.3 ist das Quantenpotential für das Doppelspalt-Experiment gezeigt.
mit Emission eines Photons Probleme des Kügelchen-Modells
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12 Quantenphysik
Abb. 12.3: Das Quantenpotential für den Doppelspaltversuch Da diese Interpretation mit demselben theoretischen QuantenFormalismus rechnet wie die Standard-Interpretation der Quantenphysik, kommt sie zu den gleichen Vorhersagen. Die Annahme von bestimmten Parametern wirkt zwar zunächst anschaulicher, diese Interpretation ist aber im Endeffekt durch ihre starke Nichtlokalität schließlich doch besonders unanschaulich (s. u.). Das Kügelchenbild für Elektronen in Atomen
Auch in der Atomphysik ist die Kügelchenvorstellung von Elektronen problematisch. Zunächst musste bereits Bohr postulieren, dass die Teilchen strahlungsfrei kreisen. Außerdem müssten sich die fast leeren Atome problemlos ineinander schieben lassen. Das PauliPrinzip liefert keine schülergerechte Erklärung dafür, dass das nicht möglich ist. Schließlich ist kaum zu erklären, wie messbare dreidimensionale Strukturen (die Orbitale) von kleinen Teilchen auf zweidimensionalen Kreisbahnen herrühren sollen, besonders wenn die Hülle, wie beim Wasserstoff, nur ein Elektron enthält. Viele Schüler kommen mit der Vorstellung kleiner Kügelchen für Elektronen in den Unterricht. Dies sieht man z.B. auch daran, dass die Interferenzringe bei der Beugung an Grafit für diese Schüler überraschend ist.
12.3 Vorstellungen zur Quantenphysik 345 346 347 348 349 350 351 352 353 354 355 356 357 358 359 360 361 362 363 364 365 366 367 368 369 370 371 372 373 374 375 376 377 378 379 380 381 382 383 384 385 386 387
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12.3.2 Quantenobjekte als Wellen Die Wellenvorstellung ist auch eine klassische Vorstellung, die stark an die experimentellen Ergebnisse angepasst werden muss. Wenn man sich Quantenobjekte als Wellen oder als Wellenpakete vorstellt, dann müssen sich diese Wellen bei der Detektion des Quantenobjekts sehr schnell zusammenziehen („Kollaps der Wellenfunktion“.)
Probleme beim Wellenmodell
Ein anderes Problem des Wellenmodells ist folgendes: Das Interferenzmuster tritt unerwarteterweise gar nicht auf, wenn man „Welcher-Weg“-Messungen (s. Abschnitt Komplementaritätsprinzip) ermöglicht oder durchführt. Hinzu kommt, dass Schüler mit der Vorstellung einer Welle häufig etwas „Schwingendes“ verknüpfen. Bei den Quantenobjekten gibt es keine beobachtbare Größe, die schwingt, auch wenn dies von Rastertunnelmikroskop-Aufnahmen nahegelegt wird (s. Abb. 12.4). Tatsächlich sind die gezeigten Bilder jedoch stationär. Die Wellenformationen sind „starr“.
Abb. 12.4: Elektronendichteverteilung in einem Quantenpferch (IBM, 1995).
12.3.3 Welle oder Kügelchen, je nach Experiment „Beim Durchgang durch einen Doppelspalt stellt man sich das Elektron als Welle vor, bei der Detektion am Schirm ist es wie ein kleines Kügelchen.“ Diese Denkart ist zwar an den Hochschulen verbreitet, aber für die Schulen nicht zu empfehlen. Die Wissenschaftler haben stets den Formalismus der Quantenphysik zur Verfügung, um ihre halbabstrakten Vorstellungen an die jeweilige Situation anzupassen. Schüler haben dagegen – ohne diesen Formalismus in der Hinterhand – Schwierigkeiten, sich z.B. ein Elektron als Welle und als Kügelchen mit dazwischen liegenden Metamorphosen vorzustellen.
Die verbreitete Anschauung an der Hochschule
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12 Quantenphysik
12.3.4 Etwas verteiltes Stoffliches Man kann sich die Quantenobjekte auch als einen verteilten Stoff darstellen (Herrmann, Laukenmann, 1998). Die Dichte des Stoffes 2 ist proportional zur Nachweiswahrscheinlichkeit ψ (x ) , die Elektronen sind also in diesem Bild nicht punktförmig, sondern zerfließen wie das Wellenpaket im Ortraum. An einem Strahlteiler teilt sich jedes Photon nach dieser Vorstellung tatsächlich, da sich die Detektionswahrscheinlichkeit auf die Möglichkeiten aufgeteilt hat. Merkwürdige Eigenschaften des „Stoffs“
Auch die Vorstellung eines Lichtstoffs mit Photonen als Elementarportionen oder eines Stoffs aus Elektronen muss an die experimentellen Ergebnisse angepasst werden. Dieser Stoff hat deshalb ein paar merkwürdige Eigenschaften:
Vor der Ortsmessung:
• Wenn eine Ortsmessung an einer Elementarportion des Stoffs durchgeführt wird, zieht sich der Stoff blitzschnell auf Detektorgröße zusammen – ähnlich wie dies vielleicht eine schleimige Substanz machen würde, wenn man mit einem Schuhabstreifergitter darauf schlagen würde (s. Abb. am Rand). • Wenn man aus dem Stoff einen Teil auf irgend eine Weise „herausgreift“, erhält man immer ganzzahlige Vielfache einer Elementarportion. Das ist so, wie wenn man aus einem Gefäß mit Amöben eine Probe mit einem Löffel herausnehmen würde: Man würde immer entweder keine Amöbe, eine, zwei oder mehr erhalten, aber nicht 1,7 oder 12,24 Amöben.
Nach der Ortsmessung:
• Bei Interferenzexperimenten „klumpt“ der Stoff, wie es die Laufzeitbilder von Kurtsiefer et al. (1997) nahe zu legen scheinen (s. Abb. 12.5), wodurch sich bei Ortsmessungen Maxima und Minima der Detektionswahrscheinlichkeit ergeben.
Abb. 12.5: Laufzeitmessungen beim Doppelspalt-Experiment, Kurtsiefer et al., 1997
12.3 Vorstellungen zur Quantenphysik 431 432 433 434 435 436 437 438 439 440 441 442 443 444 445 446 447 448 449 450 451 452 453 454 455 456 457 458 459 460 461 462 463 464 465 466 467 468 469 470 471 472 473
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• Um Atomkerne herum ist der Elektronenstoff in Form der Orbitale verteilt. Seine Dichte nimmt nach außen hin ab. Wenn man dem Stoff die richtige Energiemenge zuführt, verändert er seine Form. Nach einer gewissen Zeit „schnappt“ er zurück in den Grundzustand und gibt dabei wieder genau die aufgenommene Energiemenge ab (s Abb. am Rand). Auch dieses Modell hat seine Grenzen: Wenn das Elektron ein verschmiertes geladenes Objekt wäre, dann würde beim plötzlichen Kollaps Ladung beschleunigt. Das Elektron müsste elektromagnetische Strahlung emittieren, was aber nicht geschieht.
12.3.5 Die Kopenhagener Interpretation Da jede Vorstellung von den Quantenobjekten irgendwo ihre Grenzen hat, bleibt noch die Alternative, sich gar keine Vorstellung zu machen, wie in der Kopenhagener Interpretation. Dann spricht man mit den Schülern nur über die Ereignisse, von denen man direkt durch Messungen etwas weiß. So kann man von der Emission und der Detektion eines Elektrons sprechen. Was jedoch mit dem Elektron zwischen Emission und Detektion geschieht, darüber schweigt man. Es ist z.B. nicht unproblematisch, gemäß der Kopenhagener Deutung ψ (x ) 2 als „Aufenthaltswahrscheinlichkeit“ oder als „Antreffwahrscheinlichkeit“ zu bezeichnen, denn dies impliziert eine Vorstellung darüber, wo das Elektron auch ohne Messung ist.
keine Vorstellung
Jede über die Kopenhagener Interpretation hinausgehende Vorstellung benutzt Zusatzbilder, die nicht überprüfbar sind. Sie werden deshalb von vielen Physikern abgelehnt. Wenn man sich zwischen Emission und Nachweis gar keine Vorstellungen macht, kann man sich auch keine falschen Vorstellungen machen. Zweifellos kommen aber viele Schüler nicht ohne Vorstellungen aus. Auch wenn wir sie dazu anhalten, keine bildhaften Vorstellungen zu verwenden, so machen sie sich doch „heimliche“ falsche Vorstellungen, meistens im naiven Teilchenbild („kleine Kügelchen“). Auch die stoffliche Vorstellung gibt den Schülern eine konkrete Hilfe, sich die Vorgänge zu veranschaulichen. Was sich die Schüler 2 hier eigentlich vorstellen, ist die Entwicklung von ψ (x ) , dessen zeitliche Entwicklung man ja kennt. Etwas ähnliches macht man häufig bei der Rechengröße Energie: Die Energie ist eine Erfindung des Menschen. Wenn man sich die Energie jedoch wie einen Stoff vorstellt, der z.B. von einem System auf ein anderes übergehen kann, so hilft dies dabei, physikalische Fragestellungen zu beantworten.
N. Bohr
466 474 475 476 477 478 479 480 481 482 483 484 485 486 487 488 489 490 491 492 493 494 495 496 497 498 499 500 501 502 503 504 505 506 507 508 509 510 511 512 513 514 515 516
12 Quantenphysik Nun stellt sich die Frage, ob hilfreiche Vorstellungen in der Quantenphysik überhaupt erlaubt sind. Die Antwort muss „Ja“ lauten. Zunächst sind Modelle stets nur Modellierungen der Wirklichkeit. Sie stimmen nie ganz mit ihr überein. Es geht also nicht darum, ob ein Modell „richtig“ ist, sondern ob es „brauchbar“ ist. Dabei heißt „Brauchbarkeit“ in der Lehre nicht nur, ob es anschaulich und verständlich ist, sonder auch ob man mit dem Modell gute Vorhersagen machen kann. Am wenigsten brauchbar für Interferenzexperimente, die ja gerade das Wesentliche der Quantenphysik zeigen, erscheint in diesem Sinne das Kügelchenmodell (ohne Führungswelle).
Thematisieren der Fachmethode im Unterricht
Es ist nicht geklärt, welche Vorstellungen für die Schüler am hilfreichsten sind. Eines aber hilft stets: Die Fachmethode der Modellbildung transparent zu machen: Modelle werden gebildet, um physikalische Messergebnisse zu beschreiben und Vorhersagen zu ermöglichen. Dass man sich zur Wirklichkeit etwas dazu denkt, ist die grundlegende Methode der Physik. Allerdings sollte das Dazugedachte nicht zu falschen Vorhersagen führen.
12.3.6 Unbestimmtheit und Schrödingers Katze Der Doppelspalt im Lichte der Interpretationen
Durch welchen Spalt ein Quantenobjekt beim DoppelspaltExperiment geht, wird also je nach Vorstellung unterschiedlich beantwortet: Im Kügelchenmodell geht ein Teilchen (mit Führungswelle) durch genau einen der Spalte. Im Wellenmodell geht ein Wellenpaket gleichzeitig durch beide Spalte, bevor die Welle am Detektor kollabiert. Im dualistischen Modell ist das Quantenobjekt bis nahe an die Detektion eine Welle, im Moment der Detektion oder kurz vorher wird die Welle zum Teilchen. Im stofflichen Modell breitet sich das verschmierte Quantenobjekt auch durch beide Spalte gleichzeitig aus, klumpt dann hinter den Spalten und zieht sich bei der Detektion blitzschnell zusammen. Bei der Kopenhagener Interpretation wird es für Schüler schwieriger und abstrakter. Man sagt: Es ist unbestimmt, durch welchen Spalt das Quantenobjekt kommt. Dies ist prinzipiell etwas anderes als ein „Nichtwissen“. Wenn wir nur nicht wüssten, durch welchen Spalt das Quantenobjekt geht, dann würden wir für die Verteilung der Nachweishäufigkeiten dennoch die Summe der EinzelspaltVerteilungen erwarten.
Δx ⋅Δp ≥
h 2
Diese über das Nichtwissen hinausgehende Unbestimmtheit gibt es nicht nur beim Ort, sondern auch bei anderen Größen der Quantenphysik. Die Tatsache, dass gewisse Größenpaare bestimmte Unbestimmtheiten nie unterschreiten, wird in verschiedenen Unbe-
12.3 Vorstellungen zur Quantenphysik 517 518 519 520 521 522 523 524 525 526 527 528 529 530 531 532 533 534 535 536 537 538 539 540 541 542 543 544 545 546 547 548 549 550 551 552 553 554 555 556 557 558 559
467
stimmtheitsrelationen formuliert. Während die Ortsunbestimmtheit durch verschmierte Objekte relativ gut anschaulich beschreibbar ist, sind Unbestimmtheiten bei der Energie und beim Drehimpuls wohl kaum anschaulich darstellbar. Nach der Kopenhagener Deutung kann z.B. ein Photon bezüglich seiner Polarisation, oder ein Atom bezüglich seiner Energie in einem unbestimmten Zustand sein. Schrödinger hat in seinem berühmten Katzenbeispiel diese Unbestimmtheit eines Quantenobjekts an den Zustand tot/lebendig einer Katze gekoppelt. Das Paradox besteht darin, dass man sich bei der Katze nicht vorstellen kann, dass sie in einem unbestimmten Zustand tot/lebendig sein soll, auch wenn sie in einer Kiste eingeschlossen ist. Die Auflösung gelingt mit Hilfe des Komplementaritätsprinzips. Eine Messung (nachschauen), ob die Katze tot oder lebendig ist, ist gar nicht nötig. Es genügt, dass die Katze ständig so viele Wechselwirkungen mit der Umwelt (und sich selbst) hat, dass eine zwischen „tot“ und „lebendig“ unterscheidende Messung praktisch vom ersten Moment an möglich wäre. Dies genügt nach dem Komplementaritätsprinzip, um keine messbaren Interferenzen mehr zu haben. Man kann ausrechnen, dass der Überlagerungszustand tot/lebendig nicht einmal 10-30 s lang besteht.
Schrödingers Katze
12.3.7 Zur Nichtlokalität Es gibt in der klassischen Physik keine Fernwirkungen, sondern nur Nahwirkungen, die sich maximal mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiten. Man sagt auch, die klassische Physik verwendet nur lokale Theorien: Änderungen an einer Stelle wirken sich in kurzer Zeit nur in der unmittelbaren Umgebung, also lokal aus. Selbst wenn man mit einem Band an einem Körper zieht, tritt die Wirkung nicht instantan ein. Man kann sich dies so vorstellen: Der Impuls muss erst über die elektromagnetischen Felder von Atom zu Atom innerhalb des Bandes weitergeleitet werden.
Fern- und Nahwirkung
In der Quantenphysik gibt es Phänomene, die in jeder Interpretation deutlich nichtlokalen Charakter zeigen. Ein Beispiel sind die Paare von verschränkten Photonen. Die zwei Photonen werden gleichzeitig in nichtlinearen Kristallen erzeugt. Obwohl sie sich in verschiedene Richtungen auseinander bewegen, zeigt sich bei Messungen, dass man sie als Einheit auffassen muss: Wenn man an einem der beiden Photonen eine Polarisationsmessung vornimmt, kann man anschließend am anderen Photon die gleiche Polarisation messen, und zwar instantan, auch bei großem Abstand, als ob sie durch ein „ideales Band“ zusammenhingen. („Ideal“ nennen wir das Band deshalb, weil
Verschränkte Photonen
468 560 561 562 563 564 565 566 567 568 569 570 571 572 573 574 575 576 577 578 579 580 581 582 583 584 585 586 587 588 589 590 591 592 593 594 595 596 597 598 599 600 601 602
12 Quantenphysik ein solches Band die Wechselwirkung ohne Verzögerung von einem Ende zum anderen leiten würde.)
Nichtlokalität bei Interpretationen mit verborgenen Parametern
Besonders augenfällig wird die Nichtlokalität bei Interpretationen mit verborgenen Parametern, z.B. bei der Beschreibung des Doppelspaltexperiments: Wenn der rechte Spalt geschlossen ist, werde das Quantenobjekt links nachgewiesen. Wenn man den rechten Spalt öffnet, kann das Quantenobjekt zum Interferenzmuster beitragen, d.h. es kann auch in der Mitte des Schirms nachgewiesen werden. Wir wollen das zugehörige Quantenpotential vereinfacht durch eine schwenkbare Führungsschiene darstellen (s. Abb. am Rand). Durch Öffnen und Schließen des Spalts ändert sich instantan die Führung für das Quantenobjekt. Das ist, als wäre der rechte Spalt durch ein „ideales Band“ verbunden mit der Führung am linken Spalt, was die konkrete Bahn des Quantenobjekts drastisch beeinflusst. Wenn man – entgegen Bohrs ausdrücklicher Empfehlung – eine Aussage machen wollte, wo sich das Quantenobjekt „zwischendurch“ befindet, würde man wohl sagen, das Quantenobjekt sei „delokalisiert“, also überall gleichzeitig, dabei nichtlokal zusammenhängend – ähnlich wie das Paar aus verschränkten Quantenobjekten. Diese Delokalisierung kann man z.B. aus der Tatsache schließen, dass das Quantenobjekt bei geöffnetem linken Spalt auch den geschlossenen rechten Spalt „abtastet“. Wie könnte es sonst „wissen“, dass es zur Einzelspalt-Verteilung beitragen „muss“? Man kann den Unterschied bezüglich der Lokalität zwischen den Interpretationen ohne verborgene Parameter und denen mit verborgenen Parametern so auf den Punkt bringen: Bei den Interpretationen ohne verborgene Parameter kommt man mit Quantenobjekten aus, die nichtlokal sind, während man bei denen mit verborgenen Parametern die ganze Versuchsanordnung inklusive Spalte und Führungsfeld als nichtlokale Einheit betrachtet.
12.4 Formalismen für Vorhersagen Alle hier vorgestellten Verfahren sind Ausschnitte aus dem Formalismus der Quantenphysik. Sie sind so elementarisiert, dass sie mit Schulmathematik handhabbar sind. Anschaulichkeit des Formalismus selbst
Während es sehr schwierig ist, sich die Quantenphänomene selbst vorzustellen, kann man die in der Schule verwendeten Formalismen selbst anschaulich für die Schüler darstellen. Ein anschaulicher Formalismus sollte jedoch nicht als Aussage über die Phänomene ge-
12.4 Formalismen für Vorhersagen 603 604 605 606 607 608 609 610 611 612 613 614 615 616 617 618 619 620 621 622 623 624 625 626 627 628 629 630 631 632 633 634 635 636 637 638 639 640 641 642 643 644 645
nommen werden: So können die Schüler z.B. gut mit rotierenden Zeigern umgehen und damit Vorhersagen machen. Dies bedeutet aber nicht, dass Quantenobjekte rotierende Zeiger besitzen. Von der Didaktik der Universität München wurde ein InternetQuantenphysikkurs eingerichtet, der besonders viel Wert auf begriffliche Sauberkeit und auf die qualitativen Zusammenhänge der Quantenphysik legt (MILQ, s. Bibliografie).
12.4.1 Der verbale Formalismus für Interferenz und Komplementarität Über die Komplementarität schreibt Scully: „Complementarity, perhaps the most basic principle of quantum mechanics...”. Sie kann mit einem verbalen Modell beschrieben werden. Die Regeln des verbalen Formalismus: 1.
Auch einzelne Quantenobjekte können zu einem Interferenzmuster beitragen wenn es für ein bestimmtes Versuchsergebnis mehr als eine klassisch denkbare Möglichkeit gibt, wie dieses Versuchsergebnis zustande kommen kann.
2.
Interferenzmuster und Unterscheidbarkeit der klassisch denkbaren Möglichkeiten durch eine Messung schließen sich aus.
Die entscheidenden Begriffe werden jetzt etwas genauer beleuchtet: Klassisch denkbare Möglichkeiten (zu 1.): Das sind die Möglichkeiten, wie klassische Objekte zu einem bestimmten Versuchsergebnis führen würden. Beim Doppelspalt wäre das Versuchsergebnis z.B: Ein Photon wird am Ort x nachgewiesen. Dafür gibt es – klassisch gedacht – zwei Möglichkeiten, nämlich „durch den linken Spalt“ und „durch den rechten Spalt“. Bei der Streuung von 12C-Kernen an einer 12C-Probe ist das Versuchsergebnis: Der Detektor registriert einen 12C -Kern. Die erste klassisch denkbare Möglichkeit (s. Abb. am Rand) ist, dass der emittierte Kern in den Detektor gestreut wird. Die zweite klassisch denkbare Möglichkeit ist, dass der emittierte Kern den streuenden Kern aus der 12C -Probe herausschlägt und dessen Platz einnimmt. Was tatsächlich geschieht ist nach der Kopenhagener Interpretation unbestimmt. Nach dieser ist nur sicher, dass keine der beiden klassischen Möglichkeiten realisiert wird.
469
470 646 647 648 649 650 651 652 653 654 655 656 657 658 659 660 661 662 663 664 665 666 667 668 669 670 671 672 673 674 675 676 677 678 679 680 681 682 683 684 685 686 687 688
12 Quantenphysik Unterscheidbarkeit (zu 2.): Zwei klassisch denkbare Möglichkeiten sind dann voneinander unterscheidbar, wenn eine unterscheidende Messung gemacht werden könnte. Beim Doppelspaltversuch mit Elektronen könnte man eine Ortsmessung des Elektrons durch Streuung eines Photons in der Nähe der beiden Spalte machen. Beim Doppelspalt ist dies zwar nur ein Gedankenexperiment, bei Interferometer-Versuchen gelingt dies aber tatsächlich. Je nachdem welcher Impuls für das Photon gemessen wird, kann man eine Zuordnung zu den beiden klassisch denkbaren Möglichkeiten „durch den linken Spalt“ oder „durch den rechten Spalt“ machen. Schematisch ist dies in der Abb. am Rand dargestellt. Leider kann man nicht einmal sagen, dass im oberen Fall der Abbildung das Elektron durch den linken Spalt gegangen sein muss. (Insofern ist der Begriff „Welcher Weg“-Information ein wenige irreführend.) Man kann nämlich das gestreute Photon für beide Möglichkeiten so spiegeln, dass anschließend eine Zuordnung zu den beiden klassisch denkbaren Möglichkeiten nicht mehr möglich ist. In diesem Fall kann man wieder Interferenz beobachten. Da man die Zuordnungsinformation wieder gelöscht hat, heißen solche Experimente Quantenradierer-Experimente. Die Entscheidung, ob man die Zuordnung wieder löscht oder nicht, kann man so lange hinauszögern, bis das Elektron am Schirm nachgewiesen wird. Folglich ist es in keinem der Fälle legitim zu sagen, das Elektron wäre tatsächlich durch einen der beiden Spalte gegangen.
Die Möglichkeit zur Messung genügt.
In vielen Experimenten zeigt sich auch: Die Messung (in unserem Fall mit dem Messgerät für den Photonenimpuls) muss nicht tatsächlich durchgeführt werden, damit das Interferenzmuster verschwindet, das Messgerät muss nicht einmal aufgestellt werden. Es genügt völlig, dass die unterscheidende Messung am Photonenimpuls oder an irgend einem anderen Teil der Umgebung möglich wäre. Wir machen mit Hilfe des verbalen Formalismus eine Vorhersage:
Anwendung auf die Neutronenstreuung an 13C
Wir streuen Neutronen an einem 13C-Kristall. Jeder der 13C-Kerne kommt – klassisch gedacht – als mögliches Streuzentrum für ein Neutron in Frage. Wir erwarten also auf Grund der vielen klassisch denkbaren Möglichkeiten zunächst einmal Interferenz.
12.4 Formalismen für Vorhersagen 689 690 691 692 693 694 695 696 697 698 699 700 701 702 703 704 705 706 707 708 709 710 711 712 713 714 715 716 717 718 719 720 721 722 723 724 725 726 727 728 729 730 731
Nun haben aber sowohl die Neutronen als auch die 13C-Kerne einen Spin. Wenn ein Neutron mit Spin „up“ an einem Kern mit Spin „down“ gestreut wird, dann können beide – unter Drehimpulserhaltung – ihren Spin wechseln. Wenn ein Neutron bei der Streuung den Spin wechselt, so hat im Gegenzug eines der Streuzentren den Spin ebenfalls (in die Gegenrichtung) gewechselt. Auch wenn man nicht in den Kristall kriechen und alle Spins vor und nach dem Streuvorgang vergleichen kann, so wurde doch in der Umgebung eine Information hinterlassen, welche die Streuung an dem einen Streuzentrum von den anderen klassisch denkbaren Möglichkeiten unterscheidbar macht. Wir erwarten also für Neutronen, deren Spin umgedreht wird, dass sie nicht zum Interferenzmuster beitragen. Neutronen, deren Spin sich nicht ändert, sollten zum Interferenzmuster beitragen (s. Abb. 12.6). Genau dies wird in Messungen beobachtet.
Abb. 12.6: Während ohne Umklappen des Spins (links) die Möglichkeiten nicht unterscheidbar sind, ist mit Umklappen (rechts) eine Zuordnung prinzipiell möglich. (Spinflip am vierten Kern in der oberen Reihe.)
471 Einfluss des Spins
472 732 733 734 735 736 737 738 739 740 741 742 743 744 745 746 747 748 749 750 751 752 753 754 755 756 757 758 759 760 761 762 763 764 765 766 767 768 769 770 771 772 773 774
12 Quantenphysik
12.4.2 Der Zeiger-Formalismus Der Zeigerformalismus ist in der Schule schon lange ein bewährtes Mittel, um Interferenzphänomene in der Optik zu beschreiben. Der Zeigerformalismus bei klassischen Spaltexperimenten
Nach dem Huygens-Prinzip werden für ausgezeichnete „Zeigerlinien“ die Phasenwinkel der Elementarwellen durch Abrollen eines Zeigerrads mit Umfang λ bestimmt. Die am Ende erhaltenen Zeiger werden vektoriell addiert. Das Betragsquadrat der Vektorsumme ist ein Maß für die Intensität I(x) am Ort x. In Abb. 12.7 sind die Zeigerlinien beim Doppelspalt-Experiment für x = 0 eingezeichnet.
Abb. 12.7: Die Zeigerstellungen für verschiedene Detektorpositionen Besonders ökonomisch können mit dem Zeigerformalismus die Intensitätsverteilungen von Mehrfachspalten berechnet werden. In der Abb 12.8 sieht man die Verteilung von Elektronen bei einem Dreifachspalt. Deutlich zu erkennen: Die Nebenmaxima zwischen den Hauptmaxima. Eine Aufnahme des Dreifachspalts selbst ist am Rand zu sehen.
Abb. 12.8: Interferenzmuster für Elektronen in einem DreifachspaltExperiment
12.4 Formalismen für Vorhersagen 775 776 777 778 779 780 781 782 783 784 785 786 787 788 789 790 791 792 793 794 795 796 797 798 799 800 801 802 803 804 805 806 807 808 809 810 811 812 813 814 815 816 817
473
Für die Quantenphysik wird der gleiche Formalismus verwendet, er wird nur anders interpretiert: a)
Das Betragsquadrat des Summenzeigers ist nun ein Maß für die Nachweiswahrscheinlichkeit P(x).
b)
Es dürfen nur Zeiger vektoriell addiert werden, die zu nicht unterscheidbaren Möglichkeiten gehören.
Die Regeln lauten demnach für die Quantenphysik: Um die Wahrscheinlichkeit dafür zu bestimmten, dass ein Quantenobjekt (emittiert von der Quelle Q) am Ort x nachgewiesen wird, müssen folgende Regeln beachtet werden: 1.
Suche alle Zeigerlinien zwischen Quelle Q und Ort x.
2.
Bestimme die Zeiger zu jeder Zeigerlinie.
3.
Addiere die zu ununterscheidbaren Möglichkeiten gehörenden Zeiger vektoriell.
4.
Quadriere alle Summenzeiger und zähle die Quadrate zusammen.
Die Zeigerregeln für die Quantenphysik
Das Ergebnis ist P(x) für den Ort x. Wir machen eine Vorhersage für P(x) bei einem DreifachspaltExperiment, wobei wir an einem Spalt eine (unterscheidende) Ortsmessung durchführen (s. Abb. 12.9)
Abb. 12.9: Dreifachspalt mit Ortsmessung an einem Spalt Mit Hilfe der Zeiger können nicht nur Interferenzexperimente, sondern auch Reflexion und Brechung, gebundene Zustände und stehende Materiewellen beschrieben werden (Feynman, 1985, Bader, 1994, Küblbeck, 1997 und Schön, Werner, 1998).
Anwendungsbereich des Zeigerformalismus
474 818 819 820 821 822 823 824 825 826 827 828 829 830 831 832 833 834 835 836 837 838 839 840 841 842 843 844 845 846 847 848 849 850 851 852 853 854 855 856 857 858 859 860
12 Quantenphysik
12.4.3 Der Formalismus mit den Wahrscheinlichkeitspaketen Ausbreitungsphänomene wie die Interferenzversuche können mit der Schrödingergleichung beschrieben werden. Dabei folgt man einem festen Algorithmus: 1. Man stelle die Schrödingergleichung auf und löse sie für die gegebenen Randbedingungen. Man erhält ψ (x ) . 2. 3. E. Schrödinger
Man bilde das Betragsquadrat ψ (x ) 2 der Lösung. Man interpretiere das Betragsquadrat als Nachweiswahrscheinlichkeit bei einer Ortsmessung.
Die zeitliche Entwicklung der Wahrscheinlichkeitsfunktionen ist 2 streng determiniert. Erst bei der Interpretation von ψ (x ) als Wahrscheinlichkeit kommt das stochastische Element herein. Im Schulunterricht kann man die komplexwertige Differentialgleichung für ψ (x ) kaum lösen. Man kann aber einige qualitative Regeln für die zeitliche Entwicklung sehr anschaulich notieren. Statt der komplexwertigen ψ-Funktionen betrachten wir gleich deren Betragsquadrate und nennen sie Wahrscheinlichkeitspakete P(x,y,z,t). P(x,y,z,t) gibt die Wahrscheinlichkeit dafür an, das Quantenobjekt bei einer Ortsmessung zur Zeit t am Ort (x,y,z) nachzuweisen. Obwohl die Pakete exponentiell im Ortsraum abfallen, zeichnen wir sie für mehr Übersichtlichkeit mit scharfem Rand. Der getönte Bereich ist der Bereich, für den die Wahrscheinlichkeit merklich (also z.B. mehr als 1 % des Maximalwerts) von 0 verschieden ist.
Regeln für die Wahrscheinlichkeitspakete
Für die zeitliche Entwicklung der Pakete P(x,y,z,t) können Regeln aufgestellt werden (s. Tabelle auf der nächsten Seite). Diese Regeln sind so formuliert, dass die Nachweiswahrscheinlichkeiten bei Ortsmessungen richtig beschrieben werden. Mithilfe dieser Regeln gelingen Vorhersagen für Interferenzexperimente. Wir wenden sie auf ein Atominterferometer-Experiment (s. Abb. 12.10) an. Im Überlappungsbereich können Interferenzeffekte festgestellt werden.
Anwendungen für den Formalismus mit den Wahrscheinlichkeitspaketen
In einem weiteren Atominterferometer-Experiment emittiere das Quantenobjekt unterwegs ein Photon (Abb. 12.11). Da dieses gleichwahrscheinlich auf beiden Wegen nachgewiesen werden könnte, müssen auch für das Photon zwei Pakete gezeichnet werden. Trotz der Überlappung der Atompakete kann kein Interferenzeffekt gemessen werden, weil die Photonenpakete nicht überlappen. Dies zeigt, dass an diesen eine unterscheidende Messung im Sinne von Abschnitt 12.4.1 möglich wäre. Damit greift das Komplementaritätsprinzip und man kann kein Interferenzmuster mehr bekommen.
12.4 Formalismen für Vorhersagen 861 862 863 864 865 866 867 868 869 870 871 872 873 874 875 876 877 878 879 880 881 882 883 884 885 886 887 888 889 890 891 892 893 894 895 896 897 898 899 900 901 902 903
Regel
475 Bild zur Zeit t1:
1. Ohne Hindernis laufen die Wahrscheinlichkeitspakete geradlinig weiter. 2. An einem Spiegel werden sie reflektiert. (Im Experiment werden die Quantenobjekte praktisch nur im getönten Bereich nachgewiesen, nicht jedoch z.B. hinter dem Spiegel.) 3. An einem Strahlteiler wird das Paket geteilt: eine Hälfte läuft hinter dem Strahlteiler weiter, die andere wird reflektiert. (Im Experiment wird etwa die Hälfte der Quantenobjekte hinter dem Strahlteiler nachgewiesen, die andere Hälfte „unterhalb“.) 4. Genau dann, wenn sich zwei Teilpakete desselben Wahrscheinlichkeitspakets räumlich überlappen, bilden sie Verdichtungen und Verdünnungen. (Diese sind Bereiche hoher und niedriger Nachweiswahrscheinlichkeit. Damit wird also die Interferenz beschrieben.) 5. Wenn zwei Quantenobjekte z.B. durch einen Stoß miteinander wechselwirken, dann bilden sich im Anschluss nur noch dann Verdichtungen und Verdünnungen, wenn sich die Pakete beider Partner überlappen.
Abb. 12.10: Beschreibung eines Atoms in einem Interferometer mithilfe von Wahrscheinlichkeitspaketen. Da sich die Teilpakete am Schluss überlagern, erhält man ein Interferenzmuster.
Bild für t2 > t1:
476 904 905 906 907 908 909 910 911 912 913 914 915 916 917 918 919 920 921 922 923 924 925 926 927 928 929 930 931 932 933 934 935 936 937 938 939 940 941 942 943 944 945 946
12 Quantenphysik
Abb. 12.11: Ein Atom in einem Interferometer emittiert ein Photon. Zwar überlappen die Teilpakete des Atoms am Schluss, aber die Teilpakete des Photons (schraffiert) tun dies nicht. Dies genügt, um die Interferenz zu „zerstören“.
12.4.4 Lösen der stationären Schrödingergleichung Stellenwert der Schrödingergleichung
Die Schrödingergleichung hat für die Quantenphysik den gleichen Stellenwert wie die Newtonschen Gesetze für die Mechanik. Sie erlaubt Vorhersagen für die Zeitentwicklung von quantenphysikalischen Systemen. Die Lösungen der Schrödingergleichung sind im 2 Ortsraum ψ-Funktionen. Deren Betragsquadrat ψ ( x ) ist ein Maß für die Nachweiswahrscheinlichkeit der beteiligten Quantenobjekte, wenn man an ihnen Ortsmessungen durchführen würde. Mithilfe der Schrödingergleichung gelingt eine Erklärung der Atomspektren. Ein wünschenswertes Bildungsziel wäre es, in der Schule wenigstens das Wasserstoffspektrum plausibel zu machen. Die komplexen Zahlen kann man durch Lösen der stationären Gleichung vermeiden. Doch auch dann ist die Differentialgleichung zu schwierig, um sie im Schulunterricht zu lösen. Hier bietet sich die Lösung mit dem Computer an. Das notwendige Verständnis dafür, was die Differentialgleichung bedeutet, erreicht man, indem man sich ihr mit einem intuitiven Krümmungsbegriff nähert. Bevor die Schüler mit dem Computer die Schrödinger-Gleichung lösen, sollten sie verstehen, • erstens wie eine Lösung ψ(x) für ein bestimmtes Potential ungefähr aussehen muss und • zweitens wie der Formalismus zu diskreten Energieniveaus führt.
12.5 Fazit 947 948 949 950 951 952 953 954 955 956 957 958 959 960 961 962 963 964 965 966 967 968 969 970 971 972 973 974 975 976 977 978 979 980 981 982 983 984 985 986 987 988 989
477
Für Ersteres schreibt man die Schrödingergleichung in der Form
ψ‘‘(x) = K ⋅ (− ψ ( x )) ⋅ ( E − E L ( x ))
2 mit K = 8π 2m .
h
ψ‘‘(x) könnte man „Gekrümmtheit“ der Kurve nennen. (Die mathematische Krümmung ist eine Funktion von 1. und 2. Ableitung.) Wenn ψ‘‘(x) > 0 ist, dann macht das Schaubild für wachsende x eine Linkskurve und umgekehrt. Man kann mit den Schülern zunächst mit ganz einfachen Funktionalgleichungen wie ψ‘‘(x) = const. beginnen oder auch mit der Schwingungsdifferentialgleichung einsteigen, welche ja die Schrödingergleichung für ein konstantes Potential ψ‘‘(x) = c ⋅ (– ψ(x)) ist. Wenn das konstante Potential nun durch ein linear sich änderndes Potential ersetzt wird, so bekommt man qualitativ Lösungen, die schon viele Eigenschaften der Eigenfunktionen für das Wasserstoffatom zeigen. So zeigt am Rand die untere Funktion eine mit wachsendem x abnehmende Krümmung, die zu dem Potential darüber mit dem für wachsende x abnehmenden Faktor ( E – EL(x)) passt. Im Folgenden muss man – zweitens – über die Randbedingungen sprechen, denn erst diese führen ja zu den Eigenfunktionen und den diskreten Energiewerten. Mit Hilfe von Computer-Modellbildungssystemen kann man die Eigenwerte mit ausreichender Genauigkeit finden. Mit einigen Zusatzannahmen gelingt es auf diese Weise, Moleküle bis hin zu Festkörpern und Quantenpferchen zu modellieren (Niedderer, Petri, 1997) Ein Java-Programm, das Orbitale sehr ästhetisch mit räumlich drehbaren Animationen darstellt, ist „Hydrogen-Lab“, kostenlos herunterladbar unter www.hydrogenlab.de.
12.5 Fazit Trotz der Unanschaulichkeit der Quantenphysik gibt es mittlerweile einige vielversprechende didaktische Ansätze, mit denen Schülern die Eigenheiten der Quantenphänomene vom Doppelspalt-Experiment bis zum Wasserstoff-Atom näher gebracht werden können.
ComputerModellbildungssysteme
478 990 991 992 993 994 995 996 997 998 999 1000 1001 1002 1003 1004 1005 1006 1007 1008 1009 1010 1011 1012 1013 1014 1015 1016 1017 1018 1019 1020 1021 1022 1023 1024 1025 1026 1027 1028 1029 1030 1031 1032
12 Quantenphysik
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German Hacker & Helmut Hilscher
13 Elementarteilchenphysik in der Schule Die Elementarteilchenphysik, hat in den letzten Jahren durch Forschungserfolge und auch durch die Vergabe von Physik-Nobelpreisen in den Jahren 1999, 2002 und 2004 an Teilchenphysiker auf sich aufmerksam gemacht. Sogar die breite Öffentlichkeit hat davon Kenntnis genommen. Wie bei anderen modernen Teilbereichen der Physik wird auch die Teilchenphysik im Physikunterricht an Schulen oft nur randständig behandelt. Ein Grund hierfür ist, dass die Teilchenphysik, bezogen auf das heute geltende, so genannte Standardmodell, ein relativ junger Teilbereich der Physik ist. Ihren Siegeszug trat sie im Prinzip so richtig erst in der Nachkriegszeit, den 50er und 60er Jahren des letzten Jahrhunderts an. Große Durchbrüche gelangen in den 70er Jahren, wobei es bis heute spannend geblieben ist, nach den Antworten auf die zentralen Fragen der Teilchenphysik zu suchen. Ein zweiter Grund ist, dass die Teilchenphysik kaum Möglichkeiten bietet, Experimente im Physikunterricht durchzuführen. Daran wird sich wohl auch nichts ändern. Eine Unterrichtssequenz zur Teilchenphysik wird sich, z.B. vom Unterricht zur Mechanik, alleine auf Grund der fehlenden Experimente deutlich unterscheiden. Weiterhin sind viele Erkenntnisse der Teilchenphysik in dem Sinne „sehr schwer“, weil sie umfangreiche Vorkenntnisse aus der Physik und der Mathematik voraussetzen. Dennoch gibt es Möglichkeiten, Inhalte schülergemäß zu elementarisieren. Im Falle der Teilchenphysik gelingt dies auf breiter Front, weil sehr viele Inhalte, insbesondere das vereinfachte Standardmodell (Übersicht über die Elementarteilchen und die vier fundamentalen Wechselwirkungen) zunächst ohne quantenmechanische Formalismen in sehr anschaulicher und dennoch anspruchsvoller Weise vermittelt werden können. Der folgende Beitrag ist zweigeteilt. Zunächst soll ein elementarisierter Überblick über die fachphysikalischen Grundzüge der Teilchenphysik wie das Teilchenmodell und die fundamentalen Wechselwirkungen (Kräfte) gegeben werden. Dies soll auch mögliche Inhalte für eine spätere Behandlung im Physikunterricht aufzeigen. Im zweiten Teil werden Vorschläge gemacht, an welchen Stellen und in welcher Form die Teilchenphysik im Physikunterricht vermittelt werden kann.
Entwicklung der Elementarteilchenphysik
Elementarteilchenphysik im Unterricht
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13 Elementarteilchenphysik in der Schule
13.1 Elementarteilchenphysik im Überblick Das Interesse am Aufbau der Materie reicht weit ins Altertum zurück. Die von Demokrit aus philosophischen Überlegungen heraus geforderten Atome, die unteilbaren Bausteine der Materie, sind vor ca. zwei Jahrhunderten durch experimentelle Erkenntnisse zuerst der Chemie und dann der Physik bestätigt worden. Sie sind heute fester Bestandteil unseres Weltbildes. Allerdings zeigte sich bald, dass die Atome ihrem Namen, unteilbar zu sein, nicht gerecht wurden. Grundbausteine der Atome
In der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts entdeckte man, dass Atome aus drei Grundbausteinen, Proton, Neutron und Elektron aufgebaut sind. Durch die Einführung noch elementarer Bausteine, der Quarks (Gell-Mann, 1964), war den Physikern die Aufgabe gestellt, die Existenz der Quarks experimentell zu bestätigen und ihre Eigenschaften zu untersuchen. Dies führt in den letzten 40 Jahren zu einem erfolgreichen Forschungsgebiet, zur Elementarteilchenphysik.
Quarks sind gesicherter Bestandteil unseres Wissens
Die Quarks sind mittlerweile gesicherter Bestandteil unseres Wissens. Die erfolgreiche Suche nach immer elementareren Bausteinen hat die Wissenschaftler ermutigt, nach Teilchen jenseits der Quarks zu suchen. Hierbei stößt man jedoch auf prinzipielle Schwierigkeiten. Von den Quarks weiß man, dass sie kleiner als 10-18 m sind, also mindestens um den Faktor 1000 kleiner als Atomkerne, deren Größenordnung 10–15 m ist. Die Quarks müssen daher auf einen extrem kleinen Raum konzentriert sein und sind praktisch als punktförmig anzusehen. Andernfalls würde man weitere Unterbausteine erwarten. Ein Problem, das mit der Frage nach den Grundbausteinen und der Ausgedehntheit einhergeht, ist die Struktur von Raum und Zeit. Die bisherigen Vorstellungen gehen davon aus, dass die elementaren Bausteine zwar eingebettet sind in Raum und Zeit, dass Raum und Zeit aber unabhängig von ihnen sind, so wie wir es auch aus der Alltagserfahrung kennen. Z.B. gilt für unsere Erfahrungswelt, dass der Raum die gleichen „Abmessungen“ hat, unabhängig davon, ob sich ein Objekt darin befindet oder nicht. Ein erster Schritt, um sich von dieser Vorstellung zu lösen, wird in der Quantenmechanik vollzogen: Während in der klassischen Mechanik die Bewegung eines Körpers durch eine, im Prinzip beliebig genau bestimmte Bahnkurve r(t) beschrieben wird und damit vorhersagbar ist, ist die Bewegung submikroskopischer Körper durch die Quantenmechanik zu beschreiben. Dabei wird die Vorstellung von der Bahnkurve durch Wahrscheinlichkeitsamplituden ersetzt.
13.1 Elementarteilchenphysik im Überblick 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 100 101 102 103 104 105 106 107 108 109 110 111 112 113 114 115 116 117 118 119 120 121 122 123 124 125 126 127 128 129
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Für ein solches Teilchen kann nur die Wahrscheinlichkeit angegeben werden, dass es sich zu einer Zeit t an einem Ort r befindet. Eine weitere Komplikation ergibt sich durch die Relativistik. Ein Teilchen ist nicht immer nur ein Teilchen, sondern durch Energiefluktuationen können kurzzeitig (kleiner 10-22 s) Teilchen-AntiteilchenPaare erzeugt werden, statt einem können also vorübergehend auch drei, fünf oder mehr Teilchen vorliegen. Dabei kann man nicht vorhersagen, wann es eines, drei oder fünf sind. Diese Tatsache verdeutlicht, wie wichtig es ist, mit Modellen gleichzeitig auch deren Grenzen anzugeben. Auf Raum und Zeit bezogen bedeutet das, dass deren Eigenschaften, die wir auf der uns zugänglichen Größenskala erfahren, nur einen sehr eingeschränkten Bereich der tatsächlichen Eigenschaften darstellen (Hier ist der Raum dreidimensional und euklidisch, die Zeit ist an allen Orten gleich). Für sehr große Abmessungen bzw. für starke Gravitationsfelder wissen wir mittlerweile, dass der Raum nicht euklidisch, sondern gekrümmt ist. Auch bei sehr kleinen Abmessungen scheint die Raumzeit „neue“ Eigenschaften zu besitzen. Entsprechend der sogenannten Stringtheorie könnte bei sehr kleinen Abständen die Raumzeit mehr als vier Dimensionen (also mehr als eine Zeit- und drei Raumdimensionen) enthalten, die z.T. aber „aufgewickelt“ sind, so dass sie bei größeren Abständen nicht sichtbar werden. Die folgende Zusammenstellung, von der die Abschnitte 13.1.1, 13.1.2 auf dem Beitrag von Anton (2002) basieren, zeigt, dass die Elementarteilchenphysik ein ungemein interessantes, aktuelles Forschungsgebiet darstellt, das im Physikunterricht berücksichtigt werden sollte. Ein Weg zu den Grundideen dieses experimentell und auch wissenschaftstheoretisch faszinierenden Zweiges der Physik wird anhand qualitativer Argumente aufgezeigt.
13.1.1 Die elementaren Teilchen Die Suche nach den fundamentalen Bausteinen der Materie hat zu den folgenden „kleinsten Teilchen“ geführt, die nach dem heutigen Wissensstand die unterste Ebene von Struktur und Substruktur bilden (Abb. 13.1). In der oberen Zeile stehen die sogenannten „Leptonen“ („leichte“ Teilchen). Darunter sind die Quarks aufgeführt, aus denen die „schweren“ Teilchen (Hadronen) zusammengesetzt sind. Dazu gehören z.B. die Neutronen und die Protonen. Entsprechend der Theorie und in Übereinstimmung mit den bisherigen Experimenten existieren Quarks nicht als freie Teilchen.
Fluktuationen erzeugen TeilchenAntiteilchen- Paare Starke Gravitationsfelder Nichteuklidischer Raum Mehr als vier Dimensionen bei sehr kleinen Abständen
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13 Elementarteilchenphysik in der Schule
Abb. 13.1: Klassifikation der elementaren Teilchen Teilchen und Antiteilchen
Die Teilchen sind in so genannte Generationen eingeordnet.. Zur ersten Generation gehören bei den Leptonen das Elektron-Neutrino νe und das Elektron e–, sowie die Quarks „up“ u und „down“ d. In der zweiten Generation steht das Müon-Neutrino νμ und das Müon μ− sowie die Quarks „charm“ c und „strange“ s, in der dritten Generation das Tau-Neutrino ντ und das Tau (oder Tauon) τ− sowie das „top“-Quark t und das „bottom“-Quark b. Die Neutrinos besitzen keine elektrische Ladung, die Ladung der übrigen Leptonen ist –1, die der Quarks u, c, t beträgt 2/3 und die der Quarks d, s, b ist –1/3 (angegeben in Vielfachen der Elementarladung von 1,6 . 10-19 As). Zu jedem der genannten Teilchen kann es ein entsprechendes Antiteilchen geben, z.B. Elektron-Neutrino und Elektron-Antineutrino. Trifft beispielsweise ein Elektron auf ein positiv geladenes Positron, so löschen sich diese aus (Paarvernichtung); es bleibt nur Energie in Form von energiereicher elektromagnetischer Strahlung übrig.
Abb. 13.2: Die Masse der elementaren Teilchen nimmt von der 1. bis zur 3. Generation zu (1 eV/c2 ≅ 1,7 . 10-36 kg). In der Elementarteilchenphysik ist es üblich, die Masse in der Energieeinheit 1 eV/c2 anzugeben, die aber über die Beziehung E = mc2 in die übliche Masseneinheit kg umgerechnet werden kann; 1 eV/c2 entspricht dann 1,7 . 10-36 kg. Die Massen der Quarks sind nicht genau bekannt, deshalb werden bei den Masseangaben die untere und die obere Grenze angegeben.
13.1 Elementarteilchenphysik im Überblick 173 174 175 176 177 178 179 180 181 182 183 184 185 186 187 188 189 190 191 192 193 194 195 196 197 198 199 200 201 202 203 204 205 206 207 208 209 210 211 212 213 214 215
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Die uns umgebende Materie ist ausschließlich aus den Teilchen der ersten Generation aufgebaut. Die elektrische Ladung, z.B. des Protons, ergibt sich dementsprechend als Summe der Ladungen seiner Quark-Bestandteile: Das Proton enthält die drei Quarks uud. Die zwei u-Quarks tragen je +2/3 der Elementarladung und das d-Quark –1/3, also: 2/3 + 2/3 – 1/3 = +1 . Das Neutron enthält die Quarks ddu und ist deshalb elektrisch neutral (–1/3 – 1/3 + 2/3 = 0).
Uns umgebende Materie ist aus Teilchen der 1. Generation aufgebaut
Das Neutrino ist nicht am Aufbau der Materie beteiligt, es spielt vielmehr in Umwandlungsprozessen eine Rolle, auf die später noch eingegangen wird. Die Leptonen und Quarks der zweiten und dritten Generation könnten sich grundsätzlich ebenso wie die der ersten Generation zu gebundenen Zuständen wie Atomkernen und Atomen formieren. Allerdings zerfallen diese Teilchen sehr schnell und kommen deshalb gar nicht dazu, Bindungen langfristig einzugehen. Man geht davon aus, dass zum Zeitpunkt des Urknalls, also zu Beginn des Universums, von allen Teilchensorten gleich viele vorgelegen haben. Wegen der auch bei Zerfällen geltenden Energieerhaltung, können die schweren Teilchen nur in leichtere Teilchen zerfallen; am Ende eines Zerfalls oder einer Zerfallsreihe bleiben nur die Teilchen der ersten Generation übrig.
Zeitpunkt des Urknalls: gleich viele Teilchen von allen Sorten
13.1.2 Die vier fundamentalen Kräfte Gravitation und elektromagnetische Kraft Die Eigenschaften eines gebundenen Systems ergeben sich aus den Eigenschaften der Teilchen, aus denen es aufgebaut ist und aus den Kräften, die zwischen den Teilchen wirken und die Bindungen verursachen. Wir kennen heute vier verschiedene Arten von Kräften: die Gravitationskraft, die „schwache“ Kraft, die elektromagnetische Kraft und die „starke“ Kraft. Die Gravitationskraft ist dabei die schwächste Kraft. Durch sie werden z.B. zwei Protonen, die einen Abstand von 10-15 m voneinander haben, mit etwa 10-34 N angezogen. Deutlich stärker ist die sogenannte schwache Kraft. Sie bewirkt zwischen Protonen eine Kraft von 10-3 N. Die elektromagnetische Kraft führt auf Grund der positiven Ladungen der Protonen zu einer Abstoßung mit 200 N. Dominierend für die Protonen im Kernverband ist schließlich die starke Kraft, die die elektrische Abstoßung mühelos überwindet und zu einer Anziehungskraft von ca. 104 N führt. Dieser Zahlenvergleich für die verschiedenen Wechselwirkungen macht die Bezeichnungen „schwach“ und „stark“ plausibel.
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13 Elementarteilchenphysik in der Schule
Die Gravitation Isaac Newton formulierte das Gravitationsgesetz, wonach auf zwei Massen m1 und m2, die sich im Abstand r befinden, die Kraft FG wirkt: FG
Es gibt keine negative Masse
Die Gravitation ist die am schlechtesten verstandene Kraft
= G
m1 m2
r2
In unserem Alltag ist sie allgegenwärtig. Begriffe wie „oben“ und „unten“, „schwer“ und „fallen“ gewinnen ihren Sinn aus der Gravitation. Obwohl die Gravitation die schwächste der bekannten Kräfte ist, dominiert sie im Alltag. Dies liegt daran, dass es – anders als z.B. bei den elektrischen Ladungen – keine negative Masse gibt. Während sich die Wirkungen positiver und negativer Ladungen aufheben können, summiert sich die Wirkung aller Massen. Jede Kraft hat ihre eigene „Ladung“ bzw. die Teilchen sind Träger dieser „Ladung“ und spüren deshalb diese Kraft. Im Falle der Gravitation entspricht die Masse der Ladung. Gegenwärtig ist die Gravitation die am schlechtesten verstandene der vier Kräfte. Im Kosmos ist die Gravitation auf Grund der Addition der Massen die alles dominierende Größe. Sie ist Ursache für gebundene Systeme wie etwa unser Planetensystem, das mittels der Schwerkraft auf elliptischen Bahnen um die Sonne gehalten wird, oder wie Doppelsterne, die umeinander kreisen, oder wie Galaxien, die Milliarden von Sternen auf z.T. sehr komplizierten Bahnen enthalten.
Die elektromagnetische Kraft Es wäre naheliegend, nun die nächst-schwächere, also die schwache Kraft zu diskutieren. Da sie aber gewissermaßen eine Erweiterung der elektromagnetischen Kraft ist, wird letztere zuerst behandelt. Die Kraft zwischen zwei elektrischen Ladungen q1 und q2 hängt gemäß dem Coulombgesetz vom Abstand r ab: FC
Austausch von Photonen als Wechselwirkungsteilchen
=
1 4π ε 0
q1 q 2 r2
Doch wie wird diese Kraft vermittelt? Wie kann die eine Ladung die Gegenwart der anderen über eine Entfernung hinweg „wahrnehmen“? Im Rahmen der Quantenelektrodynamik wird diese Kraft durch den Austausch von virtuellen Photonen erklärt. Dazu zunächst ein makroskopisches Beispiel: Wir nehmen an, dass sich zwei Schlittschuhläufer auf einer Eisfläche befinden (Abb. 13.3).
13.1 Elementarteilchenphysik im Überblick 259 260 261 262 263 264 265 266 267 268 269 270 271 272 273 274 275 276 277 278 279 280 281 282 283 284 285 286 287 288 289 290 291 292 293 294 295 296 297 298 299 300 301
Abb. 13.3: a) Wechselwirkung zwischen Schlittschuhläufern
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b) Feynman-Diagramm zur Wechselwirkung in a)
Wir nehmen an: Da die Schlittschuhe keine scharfen Kufen haben, können sich die Läufer nicht selbst abstoßen oder abbremsen. Die Bewegung sei zudem reibungsfrei. Das bedeutet, dass die vorhandene geradlinige Bewegung sich unendlich lange fortsetzen würde. Nun besitzt einer der Läufer einen Ball, den er zu dem anderen Läufer hinüberwirft, der ihn auffängt. Durch das Werfen des Balles wird die Bewegung des ersten Läufers verändert (Impulsänderung ∆p) und durch das Auffangen des Balles wird auch die Bewegung des zweiten Läufers verändert (Impulsänderung ∆p). Der Austausch eines Balles und die damit verbundene Bewegungsänderung kann durch eine abstoßende Kraft zwischen Schlittschuhläufern beschrieben werden. Wenn die Massen und Anfangsimpulse der Läufer, sowie die Masse und der Impuls des geworfenen Balles bekannt sind, kann der Bewegungsvorgang vollständig berechnet werden. Als abkürzende Beschreibung für den Bewegungsvorgang wurde deshalb das sogenannte „Feynman-Diagramm“ eingeführt, das die genannten Informationen enthält (s. Abb. 13.3 und Abb. 13.4). Kräfte zwischen elementaren Teilchen werden grundsätzlich durch den Austausch von „Wechselwirkungsquanten“ vermittelt. Die Kraft zwischen zwei Ladungen wird durch virtuelle Photonen übertragen. Reelle Photonen, die wir als Lichtquanten oder elektromagnetische Wellen kennen, bewegen sich nach der Emission unabhängig von der Quelle im Raum und können im Prinzip beliebig große Entfernungen zurücklegen. Dagegen sind virtuelle Photonen an die beiden wechselwirkenden Ladungen gekoppelt und können nur von einem zum anderen hin ausgetauscht werden. Das Feynman-Diagramm für die Wechselwirkung zwischen zwei geladenen Teilchen, z.B. einem Elektron und einem Quark, hat die in Abbildung 13.4a gezeigte Form. Die Zeitachse verläuft bei Feynman-Diagrammen von unten nach oben.
Kraftübertragung zwischen zwei Ladungen: durch virtuelle Photonen
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13 Elementarteilchenphysik in der Schule a) elektromagnetische Wechselwirkung (Ursache: elektrische Ladung, Masse des Photons: 0) b) schwache Wechselwirkung (Ursache: schwache Ladung, Masse des W-Bosons: 80 GeV/c2) c) starke Wechselwirkung (Ursache: starke Ladung, Masse des Gluons: 0)
Abb. 13.4: Feynman-Diagramme der Wechselwirkungen Die Stärke der Wechselwirkung hängt von der Größe der beteiligten Ladungen ab (die Ladung wird beim Zusammentreffen mehrerer Linien, einem sogenannten „Vertex“ wirksam). Außerdem geht der so genannte „Propagator“ ein, der den relativistischen Viererimpuls p, die Lichtgeschwindigkeit c und die Masse m des Austauschteilchens enthält: Propagator ∝
1 m + p 2c 2 2
Im Falle der Photonen ist die Masse gleich null.
Die schwache Kraft Wechselwirkung durch W-Bosonen
Analog zur elektromagnetischen Wechselwirkung (nach der Theorie der Quantenelektrodynamik) werden auch die schwache und die starke Wechselwirkung durch den Austausch von Teilchen, die an spezifische Ladungen koppeln, beschrieben (s. Abb. 13.4). Ursache für die schwache Kraft ist die „schwache Ladung“ der Teilchen. Alle elementaren Teilchen tragen „schwache Ladung“ und spüren deshalb die „schwache“ Kraft. Diese „Ladung“ ist ähnlich groß wie die elektrische Ladung. Man könnte daher vermuten, dass eine ähnlich große Kraft entsteht. Allerdings hat das Austauschteilchen der schwachen Wechselwirkung, das sogenannte „W-Boson“, die relativ große Masse von ca. 100 Protonenmassen. Diese Masse bewirkt, dass der Beitrag des Propagators klein ist und deshalb die schwache Wech-
13.1 Elementarteilchenphysik im Überblick 345 346 347 348 349 350 351 352 353 354 355 356 357 358 359 360 361 362 363 364 365 366 367 368 369 370 371 372 373 374 375 376 377 378 379 380 381 382 383 384 385 386 387
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selwirkung im Bereich kleiner Impulse deutlich schwächer ist als die elektromagnetische Wechselwirkung (wenn im Propagator der Impuls p klein gegen m ⋅ c ist, wie z.B. bei radioaktiven Zerfällen von Atomkernen). Wenn der Impuls des Austauschteilchens groß gegen die W-Boson-Masse ist, spielt die Masse im Nenner des Propagators keine wesentliche Rolle mehr und dann sind die beiden Wechselwirkungen vergleichbar stark. Dies kann beispielsweise durch Experimente an hochenergetischen Teilchenbeschleunigern gezeigt werden. Solche Verhältnisse entsprechen auch dem Zustand während der Frühphase des Universums. Tatsächlich kann man die beiden Kräfte auf eine vereinheitlichte „elektroschwache“ Wechselwirkung zurückführen. Die Theorie der elektroschwachen Wechselwirkung wurde von Salam und Weinberg 1967 aufgestellt, wofür sie 1976 den Nobelpreis für Physik erhielten (s. Povh et al., 1999). Die schwache Wechselwirkung ist im Grunde auch eine Ursache dafür, dass die Sonne scheint. Im Inneren der Sonne findet die Fusion von Wasserstoff statt: Unter der schwachen Wechselwirkung, also durch Austausch eines W-Bosons, fusionieren zwei Protonen zu einem Deuterium-Kern und setzen ein Neutrino frei (ein Proton wird dabei in ein Neutron umgewandelt). Die überschüssige Reaktionsenergie führt schließlich zum Leuchten der Sonne. Die Tatsache, dass die schwache Wechselwirkung schwach ist und deshalb der Prozess relativ selten abläuft, führt dazu, dass die Sonne lange brennen kann (mehrere Milliarden Jahre) anstatt in kurzer Zeit ihre Energie in einer gewaltigen Explosion freizusetzen.
Schwache Wechselwirkung hat im makroskopischen Bereich keine Bedeutung…
Die schwache Wechselwirkung führt auch dazu, dass Quarks umgewandelt werden. Ein Quark kann durch Aussenden eines W-Bosons in ein anderes Quark übergehen, das W-Boson wiederum geht in ein Leptonpaar oder ein weiteres Quarkpaar über (s. Abb. 13.5a: „Zerfall“ eines c-Quarks in ein s-Quark, ein Positron und ein ElektronNeutrino). Da die Energie erhalten bleiben muss, können nur schwere Quarks in leichtere übergehen und nicht umgekehrt. Die schwache Wechselwirkung sorgt also dafür, dass die schweren Quarks, die zu Beginn des Universums gleichberechtigt existierten, nach einiger Zeit „ausgestorben“ sind. Das gleiche passierte den schweren Leptonen, so dass im heutigen Universum die Teilchen der niedrigsten Generation übrig geblieben sind. Auch innerhalb der niedrigsten Generation finden noch solche Übergänge statt. Das Neutron hat eine größere Masse als das Proton und zerfällt deshalb in ein Proton, ein Elektron und ein Antineutrino (s. Abb. 13.5: Betazerfall des Neutrons durch „Zerfall“ eines d-Quarks).
Schwache Wechselwirkung bedeutet Umwandlung von Quarks
…aber ist für die Fusion auf der Sonne notwendig
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Neutron zerfällt in ein Proton, ein Elektron und ein Antineutrino
13 Elementarteilchenphysik in der Schule Deshalb gibt es keine stabilen freien Neutronen. In einem Atomkern ist normalerweise der Zerfall des Neutrons durch die Bindung energetisch unterdrückt. In manchen Kernen ist diese Bindung allerdings so ungünstig, dass der Zerfall stattfindet. Diese Kerne sind dann radioaktiv.
Abb. 13.5: Feynman-Diagramme zur schwachen Wechselwirkung; a) Zerfall eines c-Quarks in ein s-Quark; b) Beta -Zerfall Man beachte, dass in Abb. 13.5a ein Quark der 2. Generation in seinen „Partner“ innerhalb der 2. Generation übergeht (c → s). Die schwache Wechselwirkung hat aber die besondere Eigenschaft, dass sie bei Quarks auch „generationsübergreifende“ Prozesse zulässt. Diese sind zwar deutlich seltener zu beobachten, kommen aber grundsätzlich vor. Nur bei den Leptonen sind solche generationsübergreifenden Prozesse bisher nicht beobachtet worden (mögliche Ausnahme: Neutrinooszillationen). Elektromagnetische Prozesse, also solche mittels γ-Austausch, können, ohne Verletzung von Erhaltungssätzen, auch über den Austausch des elektrisch neutralen Z-Bosons (Z0) stattfinden. Zwar dominiert der elektromagnetische Prozess sehr stark, aber bei Betrachtung zweier Beispiele im Feynman-Diagramm (Abb. 13.6) wird deutlich, dass hier beiderseits ein Übergang mit gleichem Anfangsund Endzustand stattfindet. Auf Grund der starken Überdeckung durch den γ-Austausch konnte erst 1973 der Z0-Beitrag bei einem Prozess nachgewiesen werden (s. Lohrmann, 1992).
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Abb. 13.6: Feynman-Diagramme zum Vergleich eines elektromagnetischen und eines neutralen, schwachen Prozesses mit gleichem Anfangs- und Endzustand (e– + e+ → μ– + μ+ )
Die starke Kraft Die stärkste der bekannten Kräfte tritt bei der starken Wechselwirkung auf. Sie wirkt auf Quarks, aber nicht auf die anderen Teilchen. Nur Quarks haben eine starke Ladung, die auch „Farbladung“ oder „Farbe“ genannt wird. Diese „Farbe“ hat aber nichts mit der optischen Farbe zu tun. Um die Quarks näher untersuchen zu können, hat man versucht, sie aus dem Proton oder Neutron herauszulösen, was aber – im Gegensatz z.B. zu Elektronen, die aus einem Atom gelöst werden – für Quarks nicht möglich ist. Wenn man versucht, ein Quark aus einem Proton zu entfernen, wird die Kraft zwischen dem Quark und dem Rest-Proton mit zunehmendem Abstand immer größer. Zur Abtrennung des Quarks aus dem Verbund mittels Teilchenkollision müsste man auf Grund dieser Eigenschaft so viel Energie aufwenden, dass diese zur Erzeugung eines neuen QuarkAntiquark-Paares genügen würde. Quarks können daher nie alleine beobachtet werden bzw. sind auf Grund der Stärke der Kraft auf das kleine Volumen der Atomkerne konzentriert. Man spricht daher auch vom Quark-Einschluss oder confinement. Das Austauschteilchen, das diese Kraft vermittelt, heißt „Gluon“ oder Leim-Teilchen (aus dem Englischen „glue“: Leim). Das Gluon ist masselos. Der Propagator hat deshalb ähnliche Form wie beim Photon. Aber die starke Ladung ist sehr viel größer als die elektrische Ladung und hat sogar die Eigenschaft, nicht konstant zu sein, sondern mit dem Abstand der Teilchen anzuwachsen.
13.1.3 Neutrinos: Exoten unter den Elementarteilchen Wolfgang Pauli hat 1930 das Neutrino postuliert, um das kontinuierliche Energiespektrum der beim Betazerfall emittierten Elektronen zu erklären. Dass bis in die vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts kein Physiker ernsthaft an die Detektierbarkeit des Neutrinos glaubte, geht auf eine geniale Abschätzung des Wirkungsquerschnitts für die
Quarks tragen Farbladungen Austauschteilchen der starken Wechselwirkung sind die Gluonen
490 474 475 476 477 478 479 480 481 482 483 484 485 486 487 488 489 490 491 492 493 494 495 496 497 498 499 500 501 502 503 504 505 506 507 508 509 510 511 512 513 514 515 516
13 Elementarteilchenphysik in der Schule Wechselwirkung von Neutrinos mit Materie von Bethe und Peierls aus dem Jahr 1934 zurück. Wendet man die Abschätzung auf das Neutron und eine Neutrinoenergie von 0,8 MeV an, so ergibt sich ein Wirkungsquerschnitt von σ ≤ 1,4 . 10-43 cm2. Wie gut die Abschätzung ist, zeigt der heutige experimentelle Wert für σνp (1 MeV), der bei 10-43 cm2 liegt. Was dieser kleine Wert des Wirkungsquerschnitts tatsächlich bedeutet, wird erst fassbar, wenn man daraus die Halbwertsdicke, z.B. von Wasser, für 1 MeV Antineutrinos ausrechnet: l1/2 = ln2 . (np . σνp)-1 ≈ 107 . dES (dES = Abstand Erde-Sonne ; np = Protonendichte). Schickt man 100 Neutrinos in einen Wassertank mit einer Länge von 107 . dES (!), kommen 50 davon am anderen Ende unbeeinflusst wieder heraus, so als hätte es gar kein Wasser gegeben. Die Neutrinos und ihre Antipartner sind die einzigen Teilchen, die als elektrisch neutrale Leptonen ausschließlich der schwachen Wechselwirkung unterliegen. Eine Halbwertsdicke von etwa 1015 km Wasser vermittelt einen Eindruck, was schwach Wechselwirken wirklich bedeutet. Bethe und Peierls schlussfolgerten aus ihrer Abschätzung: „Es ist daher absolut unmöglich, Prozesse dieser Art mit Neutrinos, die bei Kernumwandlungen entstehen, zu beobachten. ... Es gibt keinen praktischen Weg, Neutrinos zu beobachten.“ Nach dieser Behauptung dauerte es 22 Jahre, bis den Amerikanern Reines und Cowan der direkte Nachweis des Elektron-Antineutrinos gelang. Reines hat dafür 1995 den Nobelpreis für Physik erhalten.
Neutrinos – faszinierende Elementarteilchen
Heute wird mit Neutrino- und Antineutrinostrahlen genauso experimentiert wie mit anderen Teilchenstrahlen. Das liegt daran, dass mit Kernreaktoren und speziellen Strahlauslegungen an den großen Beschleunigern intensive Neutrino- und Antineutrinoquellen zur Verfügung stehen und dass man gelernt hat, sehr massereiche Targets zu konstruieren, die gleichzeitig hochempfindliche Detektoren für die Reaktionsprodukte aus einzelnen Wechselwirkungsprozessen von Neutrinos/Antineutrinos mit Atomen darstellen. Ohne Zweifel gehören die Neutrinos/Antineutrinos als ausschließlich schwach wechselwirkende Teilchen wegen der Extravaganzen der schwachen Wechselwirkung, wegen ihrer Bedeutung als Sondenteilchen zur Untersuchung der Quarkstruktur von Hadronen und als Testteilchen für das Standardmodell der Teilchenphysik und nicht zuletzt wegen ihrer kosmologischen Bedeutung zu den interessantesten und faszinierendsten Elementarteilchen.
13.1 Elementarteilchenphysik im Überblick 517 518 519 520 521 522 523 524 525 526 527 528 529 530 531 532 533 534 535 536 537 538 539 540 541 542 543 544 545 546 547 548 549 550 551 552 553 554 555 556 557 558 559
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Im Standardmodell der Teilchenphysik werden die Neutrinos und Antineutrinos als masselose Teilchen geführt, obwohl es dafür keinen zwingenden Grund gibt. Die Frage nach der Masse der Neutrinos stellt ein zentrales Problem der Neutrinophysik dar, mit gravierenden Implikationen für die Astrophysik und die Kosmologie. Seit 1998 ist durch die Ergebnisse einer Reihe von Neutrinoexperimenten zweifelsfrei sichergestellt, dass die Neutrinos eine Masse besitzen und das Standardmodell erweitert werden muss. Nach wie vor unbekannt sind die Absolutwerte der Neutrinomassen. Auch ist nicht geklärt, ob die Massen der drei Neutrinoarten, Elektron-, Müon- und Tauneutrino, entartet, sprich etwa gleich groß sind, oder ob die Massen hierarchisch geordnet sind, ähnlich wie die der Quarks. Im Folgenden soll kurz beschrieben werden, woher man weiß, dass Neutrinos keine masselose Leptonen sind, und wie man u.a. hofft, die Masse des Elektronneutrinos absolut zu bestimmen.
Das Problem mit der Masse der Neutrinos
Der Einfachheit halber sind die folgenden Ausführungen zunächst auf das Elektron- und das Müonneutrino beschränkt. Wenn diese beiden Teilchen keine Eigenzustände der Masse sind, d.h. wenn sie keine definierte Masse besitzen, können sie sich in einem Neutrinostrahl ineinander umwandeln. Man muss dazu annehmen, dass sich die beiden physikalischen Neutrinos als Linearkombination von zwei Neutrinoteilchen mit den Massen m1 und m2, also Eigenzuständen der Masse, darstellen lassen. Besteht ein Neutrinostrahl am Entstehungsort zu hundert Prozent aus einer der beiden Sorten, variiert die Zusammensetzung periodisch mit dem Abstand von der Quelle. Die Intensität der dominierenden Sorte nimmt ab, während die der anderen, die ursprünglich gar nicht vorhanden war, zunimmt. Man spricht von Neutrinooszillation.
Neutrinos „oszillieren“
Mit Hilfe der Quantenmechanik lässt sich das zeitliche Verhalten der Intensität der einen Neutrinosorte, sagen wir des Elektronneutrinos, eines anfangs reinen Elektronneutrinostrahls berechnen. Der die Größe der Intensität bestimmende Faktor ist dabei sin2(2θ) . sin2(Δm2 . L/(4E)) (mit Δm2 = m22 - m12, L = Flugstrecke, E = Strahlenergie der Neutrinos und dem so genannten Mischungsparameter θ, der die Zusammensetzung der beiden beteiligten Neutrinosorten aus den quantenmechanisch zu beschreibenden Massenzuständen bestimmt). Die Aufgabe der Experimentalphysiker besteht nun darin, den Wertebereich des Mischungsparameters θ und die Differenz der Massen-
492 560 561 562 563 564 565 566 567 568 569 570 571 572 573 574 575 576 577 578 579 580 581 582 583 584 585 586 587 588 589 590 591 592 593 594 595 596 597 598 599 600 601 602
13 Elementarteilchenphysik in der Schule
Die Flugstrecke und die Energie sind die wesentlichen Parameter
quadrate Δm2 durch Messdaten so eng wie möglich einzugrenzen. Dazu müssen L und E variiert werden. Man kann grundsätzlich auf zwei Weisen nach Neutrinooszillationen suchen. Zum einen kann man den Verlust von Neutrinos der Sorte, aus der ein präparierter Strahl am Ort der Erzeugung ausschließlich bestand, in einer gewissen Entfernung von der Quelle nachweisen. Zum anderen kann man das Auftreten von Neutrinos, die am Ort der Strahlerzeugung nicht vorhanden waren, in einem entfernten Detektor nachweisen. Die ersten Experimente zum Aufspüren von Neutrinooszillationen verliefen negativ, d.h. offenbarten keine Oszillationen, weil man die Detektoren zu nahe an der Quelle (Kernreaktoren, Beschleunigern) aufgebaut hatte. Die Oszillationen gaben sich zu erkennen, als man die Flugstrecken Hunderte und Tausende Kilometer lang wählte. Innerhalb der Gemeinde der Neutrinophysiker zweifelt heute niemand mehr an der Existenz von Neutrinooszillationen. Damit steht fest, dass Neutrinos eine Masse besitzen. Die Ergebnisse einiger Pionierexperimente zur Beantwortung der Frage nach der Neutrinomasse sollen im Folgenden vorgestellt werden. Die Datennahme ist noch nicht abgeschlossen. Weitere Experimente sind angelaufen, andere befinden sich in der Planung.
Kamiokande und SuperKamiokande
An erster Stelle sind die Experimente zu nennen, die als Neutrinodetektor den Super-Kamiokande-Detektor in der japanischen KamiokaMetallmine verwenden. Der in 1000 m Tiefe installierte Detektor besteht aus einem zylinderförmigen Tank, der mit 50000 t hochreinem Wasser gefüllt ist. Die durch Streuung von Neutrinos produzierten geladenen Leptonen erzeugen längs ihrer Bahn im Wasser Cerenkovlicht, welches mit mehr als 13000 Photomultipliern an der Innenseite des Tanks registriert wird.
Abb. 13.7: Blick in das Innere des Super-KamiokandeDetektors während des Auffüllens mit superreinem Wasser. Inspektion der Photomultiplier per Boot. Der erste Hinweis auf die Existenz von Neutrinooszillationen ergab sich in einem Experiment zur Messung des Flusses atmosphärischer Neutrinos. Atmosphärische Neutrinos und Antineutrinos entstehen durch Zerfallsreaktionen von Hadronen und dabei erzeugten Müo-
13.1 Elementarteilchenphysik im Überblick 603 604 605 606 607 608 609 610 611 612 613 614 615 616 617 618 619 620 621 622 623 624 625 626 627 628 629 630 631 632 633 634 635 636 637 638 639 640 641 642 643 644 645
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nen. Die Hadronen sind Bestandteil von Teilchenschauern, die von Protonen und leichten Atomkernen der primären kosmischen Strahlung beim Eintritt in die Erdatmosphäre durch starke Wechselwirkung erzeugt werden. Die atmosphärische Neutrinostrahlung setzt sich aus νμ , ν μ und νe zusammen. Ihr Zahlenverhältnis N ν μ + ν μ / N (ν e ) sollte erwartungsgemäß 2 betragen. Die Grundidee des Experiments ist, festzustellen, ob atmosphärische Neutrinos auf ihrem Flug durch die Erde (ca. 13000 km) ihren Typ ändern. Man zählt dazu Neutrinos (µ-Typ und e-Typ), die über dem Detektor (in ca. 15 km Höhe) entstehen und daher „von oben“ kommen und Neutrinos, die auf der gegenüberliegenden Seite der Erde (ca. 13000 km Entfernung) entstehen und „von unten“ kommen. Das frappierende Ergebnis, welches 1998 in Physical Review Letters unter dem Titel „Evidence for oscillation of atmospheric neutrinos“ veröffentlicht wurde und bis heute unangefochten ist, lautete: Während sich die Flüsse der elektronischen Neutrinos „von oben“ und „von unten“ nicht merklich unterscheiden, ist der müonische Fluss „von unten“ signifikant kleiner als der „von oben“. Der Fluss „von unten“ nimmt mit zunehmender Flugstrecke ab. Obwohl das Experiment ein „Verlustexperiment“ ist, lassen die Messdaten den Schluss zu, dass sich die müonischen Neutrinos/Antineutrinos in den τ-Typ oder einen noch unbekannten Typ umwandeln: νμ → ντ.
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Abb. 13.8: Vergleich der gemessenen Neutrinoraten mit simulierten Daten (Monte Carlo Rechnungen) unter Berücksichtigung von νμ → ντ Oszillationen. Bei der Energieerzeugung durch Fusionsprozesse in der Sonne spielen Reaktionen der schwachen Wechselwirkung eine entscheidende Rolle. Dabei werden Elektronneutrinos erzeugt. Sie sind die einzigen direkten Zeugen über die an der Energieproduktion beteiligten Prozesse. Seitdem es experimentell möglich war, Neutrinos nachzuweisen und später auch ihre Energien zu messen, hat man sich bemüht, das so genannte Standardmodell der Sonne durch Messung des Son-
Die fehlenden solaren Neutrinos
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13 Elementarteilchenphysik in der Schule nenneutrinoflusses in Abhängigkeit von der Energie der Neutrinos zu testen. Es ist zum Nachweis der Sonnenneutrinos bis heute eine ganze Reihe spektakulärer Experimente durchgeführt worden, die von dem Pionier der Sonnenneutrinoforschung Raymond Davies 1965 eröffnet wurde, und es ist noch kein Ende der Sonnenneutrinoforschung abzusehen. Eines haben alle Ergebnisse gemeinsam: Der gemessene Neutrinofluss ist grob ungefähr nur halb so groß wie vom Standardmodell vorausgesagt. Mit dem Kamiokande-Detektor, einem bescheidenerem Vorgängermodell von Super-Kamiokande, konnte erstmals nachgewiesen werden, dass die gemessenen Neutrinos tatsächlich von der Sonne kommen. Kamiokande und SuperKamiokande können Richtung und Energie der Sonnenneutrinos in Echtzeit messen. Bis zur oben geschilderten Entdeckung der Oszillation von atmosphärischen Neutrinos war man eher geneigt, den „fehlenden“ Neutrinofluss aus der Sonne einem unzureichenden Standard-Sonnenmodell anzulasten. Bei Berücksichtigung der Neutrinooszillation lassen sich heute jedoch alle Messdaten im Detail ohne Konflikte mit Sonnenmodellen verstehen.
Das SNOExperiment
In einer Bleimine im kanadischen Sudbury wurde ein ballonförmiger Cerenkovdetektor installiert, der mit schwerem Wasser gefüllt ist. Das sog. Sudbury Neutrino Observatory (SNO) ist in der Lage, Reaktionen, die ausschließlich durch Elektronneutrinos verursacht werden, von solchen zu unterscheiden, die durch alle drei Neutrinosorten hervorgerufen werden. Der in SNO gemessene Sonnenneutrinofluss aller Neutrinos stimmt gut mit dem Standard-Sonnenmodell überein. Es zeigt sich aber, dass nur ein Teil des Flusses aus Elektronneutrinos besteht. Mehr als die Hälfte der beobachteten Neutrinos sind Müon- und Tauonneutrinos. Da in der Sonne nur Elektronneutrinos entstehen, muss sich ein erheblicher Teil von ihnen auf dem Weg zur Erde in Müon- und Tauonneutrinos umwandeln. Die Neutrinooszillation macht´s möglich.
Das KamLandExperiment
Ein drittes Experiment, mit dem es gelungen ist, Antineutrinooszillation eindeutig nachzuweisen, verwendet als Antineutrinoquelle 51 Kernreaktoren in Japan und weitere 18 in Südkorea. Der mittlere Abstand der Reaktoren von dem Detektor KamLand (KAMioka Liquid Scintillator ANti-Neutrino Detector) beträgt etwa 180 km. Elektronantineutrinos entstehen im Kernreaktor durch ß--Zerfall der neutronenreichen Spaltprodukte. Bis 2005 wurden 258 Antineutrinoereignisse mit Energien oberhalb von 3,4 MeV gezählt. Erwartet wurden ohne Neutrinooszillation 365,2 ± 23,7. Berücksichtigt man 17,8 ± 7,3 Untergrundereignisse, so beträgt laut Angabe des Kam-
13.1 Elementarteilchenphysik im Überblick 689 690 691 692 693 694 695 696 697 698 699 700 701 702 703 704 705 706 707 708 709 710 711 712 713 714 715 716 717 718 719 720 721 722 723 724 725 726 727 728 729 730 731
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Land-Teams die statistische Signifikanz für das Verschwinden von Antineutrinos 99,998 %. Weltweit werden an den großen Beschleunigerzentren KEK (Japan), FNAL (USA), CERN (Schweiz/Frankreich) sog. Long-Baseline Experimente durchgeführt oder vorbereitet. Die dort präparierten Neutrinostrahlen werden in einen einige Hundert Kilometer entfernten unterirdischen Neutrinodetektor geschickt. So schickt z.B. CERN einen Neutrinostrahl in ein im Gran Sasso-Tunnel in den Abruzzen (Italien) untergebrachtes Laboratorium (CNGS-Projekt (CERN Neutrinos to Gran Sasso) in 730 km Entfernung. Erste Hinweise auf die Beobachtung von Neutrinooszillation mit Beschleuniger-Strahlen werden aus Japan gemeldet. In den nächsten Jahren werden umfangreiche Long-Baseline-Oszillationsdaten mit Spannung erwartet. Neutrinooszillationen belegen, dass Neutrinos und ihre Antipartner massebehaftet sind. Der absolute Wert der Massen ist – wie bereits ausgeführt – bis heute nicht bekannt. Die Masse des Elektronantineutrinos versucht man aus einer leichten Deformation des βSpektrums in der Nähe der Maximalenergie der emittierten Elektronen von Tritium (im Vergleich zur Form des Spektrums bei masselosem Antineutrino (nicht deformiert) zu extrahieren. Bisher ist die Ermittlung eines absoluten Wertes an der geringen Ereigniszahl und an der Energieauflösung der Elektronspektrometer gescheitert. Die β-Zerfall-Experimente konnten als Ergebnis immer nur eine obere Grenze für die Masse des elektronischen Antineutrinos angeben. Der beste Wert liegt bei 2,2 eV/c2 und stammt aus dem sog. Mainzer Neutrinoexperiment. In Karlsruhe bereitet eine internationale Kollaboration ein Großexperiment (KATRIN, KArlsruhe TRItium Neutrino Experiment) zum Studium des β-Spektrums von Tritium vor. Es soll 2008 mit ersten Messungen beginnen.
13.1.4 Die Suche nach dem Higgs-Boson Fragt man Elementarteilchenphysiker, welches Teilchen sie am liebsten finden würden, nennen sicher die meisten das HiggsTeilchen (Higgs-Boson). Dieses Teilchen, das zur Konsistenz des Standardmodells benötigt wird, koppelt an andere Teilchen, ähnlich wie das γ-Quant an elektrisch geladene Teilchen koppelt. Die Stärke der Kopplung wird beim Higgs-Teilchen durch die Masse der Teilchen bestimmt. Durch diese Kopplung erhalten die Teilchen dann die „Eigenschaft Masse“. Dieser so genannte Higgs-Mechanismus ist die von den Teilchenphysikern bevorzugte Variante der Erklärung, wie die Teilchen Masse erhalten. Durch Berechnungen innerhalb des
Direkte Messung der Neutrinomasse mittels Betazerfall
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13 Elementarteilchenphysik in der Schule Standardmodells kann man die Masse des Higgs-Teilchens nach oben hin abschätzen. Sie sollte unter 1000 GeV/c2 liegen. Mit der maximal möglichen Teilchenenergie bei LEP (Cern) und am Tevatron (Fermilab, USA) konnte man bisher nur den „unteren“ Bereich untersuchen. Gefunden hat man das Higgs-Teilchen dabei nicht, aber man kann angeben, dass seine Masse größer als 114 GeV/c2 sein sollte. Dies war eine der Hauptmotivationen am Cern dafür, im LEP-Tunnel den LHC (Large Hadron Collider) zu bauen. Dieser soll voraussichtlich im Jahr 2007 in Betrieb gehen und dann den Nachweis von Massen bis 3 TeV/c2 (!) ermöglichen (vgl. Flügge & Jenni, 2006).
13.2 Unterricht zur Elementarteilchenphysik 13.2.1 Fachdidaktische Hinweise Warum Elementarteilchenphysik im Unterricht?
Die Elementarteilchenphysik ist aus fachlicher und historischer Sicht die Fortsetzung der Atom- und Kernphysik hin zu kleineren Längeneinheiten. Die Forschungsergebnisse zur Frage „Woraus bestehen wir?“ sind zweifellos als Kulturgut zu bezeichnen und sollten daher Inhalt eines Unterrichts an allgemeinbildenden Schulen sein. Schüler sollten ihre Schulzeit nicht beenden, ohne über ein modernes Teilchenmodell zu verfügen. Dies schließt heute nicht mehr nur den Aufbau der Atome sondern auch den der Atomkerne aus Protonen und Neutronen und den der Nukleonen aus Quarks ein. Die Elementarteilchenphysik bietet dabei die Möglichkeit, auf eine sehr anschauliche und begeisternde Weise auch moderne Inhalte in elementarisierter Form vermitteln zu können.
Schwierigkeiten eines Unterrichts zur Elementarteilchenphysik
In der Elementarteilchenphysik sind die Schüler gezwungen, bei verschiedenen physikalischen Größen über viele Größenordnungen hinweg zu denken. Da sich z.B. eine Länge von 10-15 m unserer Vorstellung entzieht, ist es wichtig, die Schüler zum „Denken in den Energie- und Längenskalen der Teilchenphysik“ zu bringen. Es muss Unterrichtszeit dafür aufgewendet werden, erst einmal nur die relevanten Größenordnungen und Einheiten kennen zu lernen. Ohne dass diese wichtige Lernvoraussetzung geschaffen wird (die ja für sich genommen schon ein wesentliches Lernziel eines Unterrichts zur Teilchenphysik darstellt) sollte der eigentliche Unterricht zum Standardmodell mit all seinen Teilchen, Kräften und Reaktionen nicht begonnen werden.
13.2 Unterricht zur Elementarteilchenphysik 775 776 777 778 779 780 781 782 783 784 785 786 787 788 789 790 791 792 793 794 795 796 797 798 799 800 801 802 803 804 805 806 807 808 809 810 811 812 813 814 815 816 817
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Ein Problem bei der Vermittlung des Standardmodells der Teilchenphysik in der Schule ist die – bei zu schneller Vorgehensweise Schüler anfangs überlastende Vielzahl neuer Namen und Begriffe. Es ist daher (natürlich) ein schrittweises, klar strukturiertes Vorgehen erforderlich. Naheliegend und erfolgreich in der Kollegstufe erprobt ist die Durchführung einer Unterrichtssequenz, die sich beim Teilchenmodell des Standardmodells an der historischen Entwicklung orientiert (siehe 13.2.2). Ähnliche Vorgehensweisen findet man auch, oft in sehr knapp gehaltener Form, in der Literatur, insbesondere in Schulbüchern. Der Aufbau des Teilchenmodells erfolgt hier zunächst „langsam“ und einsichtig. Es wird deutlich, wie sehr die Anzahl der Entdeckungen von der technischen Entwicklung der Beschleuniger und Detektoren abhing. Auf diese Weise wird die Entstehung der Struktur des Standardmodells stets anschaulich begründet und schrittweise entwickelt. Die Schüler können so ihre eigene Wissensstruktur zum Standardmodell ebenso schrittweise aufbauen.
Begriffsvielfalt
Unterrichtserfahrungen haben gezeigt, dass gerade bei physikinteressierten Schülern der Oberstufe zum Thema Teilchenphysik viel, aber unzusammenhängendes Vorwissen aus diversen populärwissenschaftlichen Quellen vorhanden ist. Man wird als Physiklehrer sehr bald mit Fragen wie „kann man Antimaterie herstellen?“, „können Neutrinos wirklich durch die Erde fliegen?“ konfrontiert. Diese Fragen, Ideen und Vorstellungen müssen „kanalisiert“ und gegebenenfalls richtig gestellt oder umgedeutet werden.
Umfangreiches aber diffuses Vorwissen bei Schülern
Ein weiteres Problem eines Unterrichts zur Teilchenphysik ist, dass es im Vergleich zu anderen Themenbereichen kaum experimentelle Möglichkeiten für den Unterricht gibt (vgl. Hilscher, 1992, Fuidl et al., 2003). Es gibt aber Alternativen. So findet man im Internet umfangreiche Informationsangebote (vgl. Linksammlung), Forschungsinstitute bieten Exkursionsmöglichkeiten für Schüler und Lehrer an und auch an Universitäten steht Anschauungsmaterial zur Verfügung. Simulationen, Foliensätze für den Overheadprojektor und Filme runden das Angebot ab. Da die großen Forschungseinrichtungen eine umfangreiche Öffentlichkeitsarbeit betreiben, ist es relativ einfach, via Internet auf entsprechende Angebote zuzugreifen (vgl. z.B. www-desy, www-cern).
498 818 819 820 821 822 823 824 825 826 827 828 829 830 831 832 833 834 835 836 837 838 839 840 841 842 843 844 845 846 847 848 849 850 851 852 853 854 855 856 857 858 859 860
13 Elementarteilchenphysik in der Schule
Der Teilchenbegriff Eines kurz vorab: Das hier so oft genannte „Teilchen“ gehört nicht zu dem Teilchenmodell, das z.B. die Aggregatszustände erklärt. Dieser Teilchenbegriff, den Schüler in Bezug auf Festkörper, Flüssigkeiten und Gase entwickeln sollen, wurde von Seiten der Fachdidaktik, z.B. in Bezug auf Fehlvorstellungen von Schülern, umfassend beschrieben und vielfach dargelegt. Beispielhaft seien hier die Artikel von Kircher (1986), Driver und Scott (1994) sowie die von Fischler und Lichtfeldt in NiU-Ph (1997) genannt. Im Folgenden wird darauf nicht näher eingegangen. Teilchen: elementar oder zusammengesetzt
Mit der Elementarteilchenphysik erfährt die Begriffsbezeichnung „Teilchen“ ein weiteres Verwendungsfeld über die Atom- und Kernphysik hinaus. Wenn in diesem Beitrag von „Teilchen“ die Rede ist, ist dem Physiklehrer oder dem Physiker der Kontext „Elementarteilchen“ natürlich klar und er wird „Teilchen“ nur damit in Verbindung bringen, wobei streng genommen auf die Unterscheidung zwischen „zusammengesetzten“ also „aus feineren Strukturen bestehenden“ Teilchen und den elementaren bzw. „nach heutigem Forschungsstand als elementar geltenden“ Teilchen zu achten ist. Meist wird der Einfachheit halber von Teilchen gesprochen. Zum Verständnis des auf die Elementarteilchenebene erweiterten Teilchenbegriffs für Schüler ist daher von Bedeutung, dass zum einen darauf hingewiesen wird, in welchem Kontext das Wort „Teilchen“ verwendet wird und zum anderen, die Teilchen kategorisiert werden. Fischler (1997) zeigt die „Vieldeutigkeit des Teilchenbegriffs“ auf, indem er den Weg von den klassischen Teilchen mit lückenlos determinierter Raum-Zeit-Bahn hin zu Quantenobjekten beschreibt, die wir aber immer noch mit dem „klassischen“ Wort Teilchen umschreiben. Am Beispiel des Elektrons, das sein „Gesicht“ eines klassischen Teilchens mit dem hinlänglich bekannten Doppelspaltexperiment von Jönsson im Jahr 1961 verlor und zum Quantenobjekt wurde, lässt sich dieser Weg sehr gut nachvollziehen. Durch die Möglichkeit, dass Teilchen in Feldquanten zerstrahlen können (z.B. e– und e+ in zwei γ), diese Feld vermittelnden Quanten aber ebenso als reale Teilchen in Detektoren registrierbar sind, z.B. die schweren W- und Z-Bosonen, wird noch deutlicher, wie vielschichtig der Begriff „Teilchen“ heute ist.
13.2 Unterricht zur Elementarteilchenphysik 861 862 863 864 865 866 867 868 869 870 871 872 873 874 875 876 877 878 879 880 881 882 883 884 885 886 887 888 889 890 891 892 893 894 895 896 897 898 899 900 901 902 903
Eine weitere Kategorie, die Falkenburg (1995, S. 115ff) bezüglich der Elementarteilchenphysik nennt, sind die so genannten Resonanzen: „Von einer Resonanz spricht man, wenn der energieabhängige, über alle gemessenen Endzustände aufsummierte Wirkungsquerschnitt einer Teilchenreaktion, die nur durch die Ausgangsteilchen vor der Streuung charakterisiert ist, bei einem bestimmten Energiewert im Verhältnis zum Wirkungsquerschnitt fern von diesem Wert plötzlich um mehrere Größenordnungen anwächst oder, ..., einen peak aufweist.“ Resonanzen können auf elementare Teilchen (z.B. die Z0-Resonanz bei e+-e–-Kollision, LEP, Cern) oder auch, wie im Fall der Nukleonresonanzen des Protons, auf angeregte Zustände hinweisen, die aufzeigen, dass es sich um ein zusammengesetztes System handelt. Interessant in Bezug auf den Begriff „Teilchen“ ist dabei, dass diesen angeregten Zuständen, in der Literatur Teilchencharakter zugesprochen wird. Es werden Namen eingeführt (z.B. Δ(1232), vgl. Povh et al., 1995, S. 88), diese Nukleonenresonanzen haben eine Lebensdauer, eine zugeordnete Masse, sie „zerfallen“, bestehen aus Quarks, können „in verschiedenen Ladungszuständen vorkommen“, haben Spin und Parität. All diese Eigenschaften lassen sie zumindest sprachlich zu dem werden, was auch als Teilchen bezeichnet werden kann. Kaum jemand würde hingegen den angeregten Zustand eines Wasserstoffatoms als neues „Teilchen“ bezeichnen. Letztendlich ist diese unterschiedliche Betrachtung historisch gewachsen und auf die völlig unterschiedliche Größenordnung der Anregungsenergien zurückzuführen. In einem Unterricht, der sich an der historischen Entwicklung orientiert, muss darauf geachtet werden, dass Schüler auf diese (sprachlichen) Unterschiede hingewiesen werden. Das beschriebene Verwendungsspektrum von „Teilchen“ wird durch die Elementarteilchenphysik nochmals wesentlich breiter. Und trotzdem: „Teilchen“ ist ein Ausdruck der natürlichen Sprache, um damit die Objekte, um die es in der Atom-, Kern- und Elementarteilchenphysik geht, ohne die Formalismen der Quantentheorie zu beschreiben (sinngemäß nach Falkenburg, 1997, S. 220). Beides, die Verwendung einer natürlichen, anschaulichen Sprache und die Vermeidung der Formalismen der Quantentheorie sind für den Physikunterricht zur Elementarteilchenphysik von Vorteil.
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Resonanz-Peak einer Nukleonresonanz
500 904 905 906 907 908 909 910 911 912 913 914 915 916 917 918 919 920 921 922 923 924 925 926 927 928 929 930 931 932 933 934 935 936 937 938 939 940 941 942 943 944 945 946
13 Elementarteilchenphysik in der Schule
Teilchenphysik in Schulbüchern Die Elementarteilchenphysik wird in den aktuellen Ausgaben von Schulbüchern in eigenen Kapiteln behandelt. Stellvertretend seien hier drei Bücher erwähnt: Bader (2000, „Dorn-Bader Physik“, Grehn, Krause (2000, „Metzler Physik“) und Kuhn (2000). Dorn-Bader
Bei Bader (2000) wird die Elementarteilchenphysik auf sechs Seiten als Anhang der Kernphysik behandelt. In komprimierter Form wird ein Einblick in das Standardmodell gegeben. Dabei wird insbesondere auf den Aufbau von Teilchen aus Quarks (Baryonen und Mesonen), die elektromagnetische, die starke und die schwache Wechselwirkung eingegangen. Die Leptonen werden kurz erwähnt. An Hand von Feynman-Diagrammen werden einige Prozesse der starken und der schwachen Wechselwirkung veranschaulicht.
Metzler
Bei Grehn, Krause (2000) findet man, wie bei Bader (2000) im Anschluss an die Kernphysik, ein eigenes, 12 Seiten umfassendes Kapitel zur Teilchenphysik. Es wird zunächst entlang der historischen Entwicklung, beginnend mit dem Anfang des 20. Jahrhunderts, der Weg bis in die 60er Jahre aufgezeigt. An Hand der Darstellung der Quantenelektrodynamik wird die Feynman-Symbolik erklärt. Es folgt die Fortsetzung der Teilchenentdeckungen über den so genannten „Achtfachen Weg“ hin zum Standardmodell mit dem Aufbau der Hadronen aus Quarks. Anschließend werden das Teilchenmodell und die fundamentalen Wechselwirkungen an Hand von FeynmanDiagrammen für einige Prozesse der starken, schwachen und elektromagnetischen Wechselwirkung charakterisiert. Es folgen noch ein kurzer Ausblick auf „ungelöste Probleme“ der Teilchenphysik sowie auf die technischen Erfordernisse wie Beschleuniger und Detektoren der Hochenergiephysik.
Kuhn
Bei Kuhn (2000), einem für Grundkurse konzipierten Buch, wird die Elementarteilchenphysik auf vier Seiten als letztes Kapitel des Buches ebenfalls im Anschluss an die Kernphysik behandelt. Es wird ein kurzer Überblick über die chronologische Reihenfolge teilchenphysikalischer Entdeckungen gegeben und die Klassifikation der heute bekannten Teilchen auf Grund verschiedener Eigenschaften wie dem Spin erklärt. Auf die Angabe von Teilchenmassen wird verzichtet. Nach dem Einblick in das Quarkmodell und der Vorstellung der Vermittlung der Kraft zwischen Teilchen durch Austauschteilchen wird noch auf die starke und schwache Wechselwirkung eingegangen. Das Kapitel schließt mit einer Beschreibung zum historischen Wandel des Teilchenbegriffs auf Grund der Entdeckungen immer elementarerer Bausteine.
13.2 Unterricht zur Elementarteilchenphysik 947 948 949 950 951 952 953 954 955 956 957 958 959 960 961 962 963 964 965 966 967 968 969 970 971 972 973 974 975 976 977 978 979 980 981 982 983 984 985 986 987 988 989
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13.2.2 Vermittlung der Teilchenphysik in verschiedenen Elementarisierungsstufen Die Elementarteilchenphysik bietet die Möglichkeit, eine große Vielzahl moderner Inhalte bzw. Forschungsergebnisse in elementarisierter Form, insbesondere zunächst ohne quantenmechanische Betrachtungen zu vermitteln. Im Physikunterricht und den zugehörigen Lehrplänen wird das Standardmodell meist im Anschluss an die Kernphysik, als deren logische Fortsetzung hin zu höheren Teilchenenergien bzw. einer kleineren Längenskala, vorgesehen. Dies hat dann aber zur Folge, dass das Standardmodell der Teilchenphysik erst in der Sekundarstufe II behandelt wird. Einen inhaltlichen Vorschlag für eine dazu passende abgeschlossene und eigenständige Unterrichtssequenz findet man im Folgenden. Vorher sollen der Vollständigkeit halber noch zwei Varianten erwähnt werden, bei denen die Teilchenphysik schon früher an Schüler herangetragen wird.
Angebote ohne Bindung an Physikunterricht Die Forschung in der Hochenergiephysik erforderte die Bildung zentraler Forschungseinrichtungen wie dem CERN in Genf und dem DESY in Hamburg. Dort wird mit großem personellen und finanziellen Einsatz unter Ausnutzung von Synergieeffekten und unter Beteiligung vieler verschiedener Nationen in Kollaborationen an Experimenten gearbeitet. Diese Großforschungsinstitute bringen es mit sich, dass dort auch immer Öffentlichkeitsarbeit betrieben wird und versucht wird, vor allem Schüler für die Forschungsinhalte zu begeistern. So finden sich zahlreiche Angebote, vom Internetauftritt bis hin zum gedruckten Comic, die teilchenphysikalische Inhalte für Schüler ab der Unterstufe präsentieren. In den vielen Fällen werden dabei Teilchennamen und grundlegende Eigenschaften wie die Masse genannt und – in entsprechend elementarisierter Form – auf die Wechselwirkungen zwischen den Teilchen eingegangen. Da in diesen Jahrgangsstufen meist noch kein Physikunterricht stattfindet und die Schüler erst ein grundlegendes Teilchenkonzept entwickeln und eine Reihe unverzichtbarer physikalischer Lernvoraussetzungen erwerben müssen, wird auf diese Angebote nicht weiter eingegangen und auf die Internetquellen verwiesen (vgl. www-kwoq, www-padv).
Informationsangebot der großen Forschungseinrichtungen
502 990 991 992 993 994 995 996 997 998 999 1000 1001 1002 1003 1004 1005 1006 1007 1008 1009 1010 1011 1012 1013 1014 1015 1016 1017 1018 1019 1020 1021 1022 1023 1024 1025 1026 1027 1028 1029 1030 1031 1032
13 Elementarteilchenphysik in der Schule
Arbeit mit einem Themenheft zur Teilchenphysik Themenheft als „roter Faden“ einer Unterichtssequenz
Eine Vorgehensweise, die für Schüler der Mittelstufe (8. – 10. Jgst. der Sekundarstufe I) geeignet ist, sei am Beispiel von Mathelitsch & Steurer (2003) aufgezeigt. Zum einen wird die Teilchenphysik im Rahmen des Physikunterrichts, in dem die Schüler bereits ein Atommodell (Kern-Hülle-Modell; Elektron, Proton, Neutron) kennen, besprochen, zum anderen sollen die Schüler aber auch das umfangreiche Internetangebot der Forschungseinrichtungen und Universitäten nutzen, um gezielt Fragen aus dem Unterricht zu beantworten. Mathelitsch & Steurer (2003) legen hierzu ein Themenheft „Elementarteilchen“ vor, das den inhaltlichen „roten Faden“ einer Unterrichtssequenz bildet. In knapper und altersgemäß kurzweiliger Form wird versucht, einen Überblick über den modernen Stand der Teilchenphysik zu geben. Zusätzlich werden die Schüler durch gezielt eingefügte Fragen aufgefordert, das Internet als Informationsquelle zu nutzen und so – geleitet durch die Fragestellungen aber natürlich auch vom eigenen Interesse – über die Darstellungen im Themenheft hinaus die Teilchenphysik kennen zu lernen (vgl. www-math, wwwcern, www-desy).
Vorschlag für eine abgeschlossene, eigenständige Unterrichtssequenz zur Teilchenphysik Der folgende Vorschlag für eine Unterrichtssequenz zum Standardmodell der Teilchenphysik umfasst ca. acht Unterrichtsstunden. Er wurde für die Oberstufe des Gymnasiums konzipiert und dort auch mehrfach in Physik-Leistungskursen erprobt (vgl. Hacker, 2001). Die Sequenz ist bewusst so angelegt, dass das Standardmodell – im vorgegebenen Rahmen von etwa acht Unterrichtsstunden – angemessen und umfassend behandelt werden kann. Dies schließt nicht aus, dass Themen der Teilchenphysik auch an anderer Stelle des Physikunterrichts bereits zur Sprache kommen, wie z.B. die Beschleunigertechnologie als Anwendung elektrischer und magnetischer Felder. Der Unterricht ist vor allem durch die darbietende aber auch die zusammenwirkende Unterrichtsform geprägt, die sich phasenweise abwechseln. Im Unterricht wird als Medium neben der Tafel ausschließlich der Computer mit Beamer eingesetzt, mit dem ausgewählte Seiten des Lehr- und Lernprogramms (vgl. www-gdt) aufgerufen und deren Inhalte (Grafiken, Diagramme, Videosequenzen, Simulationen) dann zur Präsentation verwendet werden.
13.2 Unterricht zur Elementarteilchenphysik 1033 1034 1035 1036 1037 1038 1039 1040 1041 1042 1043 1044 1045 1046 1047 1048 1049 1050 1051 1052 1053 1054 1055 1056 1057 1058 1059 1060 1061 1062 1063 1064 1065 1066 1067 1068 1069 1070 1071 1072 1073 1074 1075
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Eine gezielte Vorbereitung der Schüler durch Wiederholung bestimmter Wissensgebiete der Physik ist nicht notwendig, da Schüler der Oberstufe üblicherweise alle Lernvoraussetzungen für die Unterrichtssequenz besitzen. Eine Vorbereitung der Schüler, die sich als sehr nützlich und für die Schüler interessant und motivierend herausgestellt hat, ist die individuelle Beschäftigung der Schüler mit dem Lernprogramm vor der eigentlichen Unterrichtssequenz zu Hause oder in der Schule am Computer. Hierzu erhalten alle Schüler etwa einen Monat vor der Unterrichtssequenz ein Exemplar des Lernprogramms auf CD-ROM (vgl. www-gdt) und können sich so auf freiwilliger Basis mit dem Thema beschäftigen. Es wird angekündigt, dass im Unterricht die Inhalte der CD besprochen werden und die Schüler dabei Gelegenheit erhalten, all ihre Fragen, die sich bei der Beschäftigung mit dem Thema ergeben, klären zu lassen. Dieses Angebot wird natürlich unterschiedlich wahrgenommen. Es hat einerseits Schüler gegeben, die sich z.B. mangels zur Verfügung stehender Computer gar nicht mit dem Programm auseinandergesetzt haben, andererseits aber auch solche, die sich mehrere Stunden eingehend mit dem Programm beschäftigt haben. Der Unterrichtsverlauf wurde durch die sich hieraus ergebenden Wissensunterschiede nicht gestört. Die gut vorbereiteten Schüler trugen mit zum Teil interessanten und schwierigen Fragen viel Positives zum Unterrichtsgeschehen bei und konnten so die zunächst weniger Interessierten „anstecken“.
Lernvoraussetzungen und inhaltliche Vorbereitung
Die folgende Auswahl der Lerninhalte bzw. Lernziele orientiert sich an Schülern, die kein teilchenphysikalisches Wissen mitbringen. Die aufgeführten Inhalte bilden den wesentlichen Teil der Sachstruktur des Unterrichts zur Teilchenphysik. Nicht explizit aufgeführt sind Inhalte der Sachstruktur des Unterrichts, die über die Inhalte der Sachstruktur der Teilchenphysik selbst hinausgehen, wie z.B. die gesellschaftspolitische oder kulturelle Bedeutung der teilchenphysikalischen Forschung. Es hat sich gezeigt, dass Schüler diese Inhalte selbst aufgreifen und in die Diskussion einbringen. Dies ist spätestens dann der Fall, wenn im Unterricht über den erheblichen technisch-experimentellen Aufwand, der in den Forschungsinstituten der Teilchenphysik betrieben wird, gesprochen wird.
Lerninhalte und Lernziele
Die Unterrichtssequenz teilt sich inhaltlich in acht Bereiche auf, die in der angegebenen Reihenfolge behandelt werden. Im Folgenden werden diese Bereiche mit jeweils zugehörigen Lerninhalten stichpunktartig angegeben. Für eine detaillierte Übersicht wird auf Hacker (2001) verwiesen.
Reihenfolge der Lerninhalte und Lernziele
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13 Elementarteilchenphysik in der Schule 1. Größenordnungen und Einheiten (Länge, Impuls, Energie, Masse) a. Längenskala vom Makrokosmos zum Mikrokosmos b. Größenordnungen und Einheiten (Länge, Impuls, Energie, Einheiten 1 eV, 1 eV/c, 1eV/c2 für Energie, Impuls und Masse c. Übliche Größenordnungen der Teilchenenergie: MeV, GeV, TeV 2. Chronologie der Teilchen-Entdeckungen a. Elektron (1897), Proton (1911), Neutron (1931); Neutrino (postuliert 1930; erstmals nachgewiesen 1959); Myon; Pionen (1947) b. Fortentwicklung der Beschleunigertechnologie: „Teilchenzoo“ 3. Teilchen im Standard-Modell, Baryonen a. Entwicklung des Quarkmodells (Achtfacher Weg; Baryonen und Mesonen im Quark-Modell, zunächst nur mit u-, d- und s-Quarks) b. Chronologie der Quarkentdeckungen c. Antiteilchen (bekanntestes Beispiel: Positron) d. Vermittlung der Wechselwirkungen durch Austauschteilchen; grundlegende Eigenschaften der Austauschteilchen (Ladung, Masse, Spin) e. Kombination aus Quarks: Mesonen und Baryonen; Quark-Einschluss f. Farbladung als „Ladung“ der starken Wechselwirkung; 4. Teilchen im Standard-Modell, Leptonen a. Beta-Minus-Zerfall und „fehlender“ Impuls: Neutrino wird 1930 postuliert, aber erst 1959 nachgewiesen b. Wesentliche Merkmale der Leptonen (Ladung, Masse, Lebensdauer) c. Bedeutung der Neutrinomasse und Experimente zu ihrer Bestimmung (Neutrinooszillationen, direkte Massenbestimmung) d. Masse der Teilchen im Standardmodell und Higgs-Boson (LHC-Experimente voraussichtlich im Jahr 2007, vgl. Flügge (2006)) 5. Die fundamentalen Wechselwirkungen a. Erweiterung des Begriffs Ladung: (Austauschteilchen koppelt nur an ,,passende'' Ladung) b. Symbolik der Feynman-Diagramme c. Qualitativer Verlauf des zur starken Wechselwirkung gehörenden Potenzials (Quark-Einschluss) d. Experimentelle Bestätigung des Modells der Farbladungen e. Besonderheiten der schwachen Wechselwirkung f. Schwache Prozesse und ihre Darstellung mit Feynman-Diagrammen g. Verhältnis der Anteile von Z0- und γ-Austausch (PETRA-Experiment) h. Paritätsverletzung bei schwacher Wechselwirkung (Exp. von Wu et al.)
13.2 Unterricht zur Elementarteilchenphysik 1119 1120 1121 1122 1123 1124 1125 1126 1127 1128 1129 1130 1131 1132 1133 1134 1135 1136 1137 1138 1139 1140 1141 1142 1143 1144 1145 1146 1147 1148 1149 1150 1151 1152 1153 1154 1155 1156 1157 1158 1159 1160 1161
6. Die experimentellen Methoden der Teilchenphysik a. Zweck großer Teilchenenergie: Auflösung kleiner Strukturen und Erzeugung von Teilchen mit großer Masse b. Rutherfordsches Streuexperiment c. Grundbegriffe zu Streuexperimenten: Wirkungsquerschnitt (geometrisch, total, differenziell), Stoßparameter, Streurate, Streuwinkel d. Wirkungsquerschnitt bei Coulomb-Streuung: sin4(θ/2)-Abhängigkeit des differenziellen Wirkungsquerschnitts e. Erzeugung, Beschleunigung, Fokussierung und Ablenkung von Teilchenstrahlen f. Aufbau eines Groß-Detektors zur Messung von Ort, Impuls und Energie 7. Forschungseinrichtungen und ihre Experimente a. Übersicht über ausgewählte Forschungseinrichtungen (z.B. DESY, CERN, BNL, KEK) und einzelner Experimente 8. Theoretische Methoden der Teilchenphysik a. Bedeutung der Wahrscheinlichkeitsamplitude (,,Amplitude'') b. Bedeutung der Feynman-Diagramme für die Berechnung von Amplituden (Feynman-Kalkül); Begriffe: Kopplungskonstante und Propagator c. Mächtigkeit des Feynman-Kalküls (Beispiel: Kinoshita-Berechnung) Mit diesem Vorschlag für eine Unterrichtssequenz kann in dem engen zeitlichen Rahmen ein breiter Einblick in die Teilchenphysik gegeben werden. Es muss dabei im Einzelfall – natürlich auch nach den Interessen der Schüler - entschieden werden, in welchem Umfang die Lerninhalte behandelt werden. Es hat sich bewährt, in Ergänzung zu einer solchen Sequenz eine Exkursion mit den Schülern zu einem Forschungsinstitut zu unternehmen. Unter www-tphs findet man die Dokumentation eines sehr umfangreichen Projektes, das mit einem Physik-Leistungskurs durchgeführt wurde.
13.2.3 Punktuelle Behandlung teilchenphysikalischer Themen Neben den im letzten Abschnitt ausgezeigten Möglichkeiten, eine geschlossene Unterrichtssequenz zur Teilchenphysik durchzuführen, eignen sich einzelne Themen dazu, sich mit ihnen im Rahmen des „normalen“ Physikunterrichts zu beschäftigen, z.B. als Anwendung. Im Folgenden werden einige solcher Möglichkeiten aufgezeigt, die sich z.T. bereits etabliert haben und dementsprechend nur kurz angesprochen werden.
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506 1162 1163 1164 1165 1166 1167 1168 1169 1170 1171 1172 1173 1174 1175 1176 1177 1178 1179 1180 1181 1182 1183 1184 1185 1186 1187 1188 1189 1190 1191 1192 1193 1194 1195 1196 1197 1198 1199 1200 1201 1202 1203 1204
13 Elementarteilchenphysik in der Schule
Beschleuniger und Speicherringe
Als Ergänzung bzw. Anwendung der elektrischen und magnetischen Felder eignet sich die Behandlung des Themas „Beschleuniger und Speicherringe“. Bei den meisten Experimenten der Teilchenphysik werden elektrisch geladene Teilchen beschleunigt, auf bestimmte Bahnen gezwungen oder Teilchenstrahle fokussiert. Diese technischen Herausforderungen bieten die Möglichkeit für quantitative Betrachtungen im Physikunterricht. Im Internet findet man hierzu eine Vielzahl an Realdaten zu den Experimenten an den großen Forschungsinstituten.
Beta-Zerfall im Quarkbild
Der im Physikunterricht behandelte Beta-Zerfall kann auf Elementarteilchenebene und nicht wie in Schulbüchern oft zu finden, nur auf der Ebene, die die Quarks noch ausspart, betrachtet werden.
Impulserhaltung bei Teilchen-kollisionen
Blasenkammeraufnahmen, die die Spuren von Teilchen vor und nach einer Kollision zeigen können dazu verwendet werden, dass die Schüler selbst mittels Schablonen (oder am Computer mit Unterstützung einer entsprechenden Software) die Impulserhaltung im Zweidimensionalen prüfen oder umgekehrt auf Basis der Impulserhaltung auf die Teilchensorte Rückschlüsse ziehen (vgl. Cremer (1988), Haslinger (1992), www-bubb).
Halbwertzeit hochrelativistischer Teilchen
Eine sehr schöne und auch in Schulbüchern zu findende „Anwendung“ der Relativitätstheorie bietet das Experiment der Müonen im Speicherring, deren Halbwertszeit vom Ruhesystem aus betrachtet entsprechend ihrer Geschwindigkeit nahe c wie vorhergesagt stark ansteigt.
Literatur 1205 1206 1207 1208 1209 1210 1211 1212 1213 1214 1215 1216 1217 1218 1219 1220 1221 1222 1223 1224 1225 1226 1227 1228 1229 1230 1231 1232 1233 1234 1235 1236 1237 1238 1239 1240 1241 1242 1243 1244 1245 1246 1247
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Literatur Anton, G. (2002). „Elementarteilchenphysik“. In E. Kircher & W.B. Schneider (Hrsg.): Physikdidaktik in der Praxis. Berlin: Springer Verlag, 60-70. Bader, F. (Hrsg.) (2000). Dorn-Bader – Physik, Gymnasium Gesamtband, Sek. II. Hannover: Schroedel-Verlag. Berger, C. (2001). Elementarteilchenphysik. Berlin: Springer Verlag. Cremer, T., Kuhn, W. (1988). Über die Auswertung von Blasenkammeraufnahmen, PdN-Ph. 3/37, 20-24. Driver, R., Scott, P. (1994). Schülerinnen und Schüler auf dem Weg zum Teilchenmodell. NiU Ph 5, (22), 24-31. Falkenburg, B. (1995). Teilchenmetaphysik. Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag. Fischler, H. (1997). Was versteht man in der Physik unter „Teilchen“? NiU P, 9-11. Flügge, G, Jenni, P. (2006). Der Large Hadron Collider. Physik-Journal 5, (2). Weinheim: WileyVCH. Fuidl, M., Kayser, F., Klein, M., Quast, G. & Trefzger, T. (2003). Kosmische Myonen: Schulversuch zur Höhenstrahlung, PdN-Ph. 6, (52), 28-29. Grehn, J., Krause, J. (Hrsg.) (2000). Metzler – Physik. Hannover: Schroedel-Verlag. Hacker, G. (2001). „Grundlagen der Teilchenphysik“ (GdT) – Die Erstellung und Erprobung eines hypermedialen Lehr- und Lernprogramms auf HTML-Basis. Dissertation, Universität Erlangen-Nürnberg). Haslinger, T. (1992). Computeranimationen zum Thema Elementarteilchenphysik, Kap. 4: Relativistische Kinematik, Schriftliche Hausarbeit Lehramt Gymnasium, Universität Regensburg. Hilscher, H. (1980). Elementarteilchen. Praxis-Schriftenreihe, Bd. 38. Köln: Aulis Verlag. Hilscher, H. (1992). Kosmische Myonen – Ein Hochenergieexperiment für die Schule. PdN-Ph. 3/41, 24-31. Hilscher, H. (1996). Elementare Teilchenphysik. Braunschweig: Vieweg Verlag. Kinoshita, T., Lindquist, W.B. (1981). Physical Review Letters 47, 1573 ff. Kircher, E. (1986). Vorstellungen über Atome. NiU-P/C 34, (13), 34-37. Kuhn, W. (2000). Physik, Gesamtband Grundkurs 11-13. Braunschweig: Westermann-Verlag. Lohrmann, E. (1992). Hochenergiephysik. Stuttgart: Teubner-Verlag. Mathelitsch, L., Steurer, S. (2003). Physik-compact: Elementarteilchenphysik. Wien: öbv&hpt Verlags-GmbH. NiU-Ph (1997). Themenheft: Teilchen. Naturwissenschaften im Unterricht - Physik 8, (41). PdN-Ph (2002). Themenheft: Elementarteilchenphysik. Praxis der Naturwissenschaften- Physik 51, (4). PdN-Ph (2003). Themenheft: Elementarteilchenphysik II. Praxis der Naturwissenschaften- Physik 52, Heft 6. PhiuZ (2001). Schwerpunkt Teilchenphysik. Physik in unserer Zeit. Wiley (4). Povh, B., Rith, K., Scholz, C., Zetsche, F. (1999). Teilchen und Kerne. Berlin: Springer Verlag. Schmitz, N. (1997). Neutrinophysik. Stuttgart: Teubner-Verlag.
508 1248 1249 1250 1251 1252 1253 1254 1255 1256 1257 1258 1259 1260 1261 1262 1263 1264 1265 1266 1267 1268 1269 1270 1271 1272 1273 1274 1275 1276 1277 1278 1279 1280 1281 1282 1283 1284 1285 1286 1287 1288 1289 1290
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Linksammlung Auf folgenden Internetseiten findet man Angebote für Schüler und Lehrer mit Informationen rund um die Teilchenphysik sowie zahlreiche weiterführende Adressen. www-neut www-kwoq www-tphs www-pdg www-padv www-bubb www-gdt www-math www-desy
http://cupp.oulu.fi/neutrino/ (Internetportal zu Neutrinos; engl.) http://kworkquark.net (internetbasierende Lernumgebung, DESY) http://opal.physik.uni-bonn.de/~mkobel/unischule/index.htm (Informationsseiten eines Gymnasiums zu Teilchenphysikprojekt) http://pdg.lbl.gov/2005/listings/contents_listings.html (Particle-DataGroup; aktuelle Messergebnisse zu Teilchenmassen etc.; engl.) http://pdg.web.cern.ch/pdg/particleadventure/index.html („particle-adventure“; internetbasierende Lernumgebung für Schüler; engl.) http://teachers.web.cern.ch/teachers/materials/bubblechambers.htm (Informationen rund um Basenkammeraufnahmen, Cern) http://www.didaktik.physik.uni-erlangen.de/gdt/gdt.htm (internetbasierende Lehr- und Lernumgebung für Schüler) http://www.oebvhpt.at/physik/teilchen/ (Links zum Themenheft „Elementarteilchen“ von Mathelitsch & Steurer (2003)) http://zms.desy.de/arbeiten__lernen/schueler__lehrer/index_ger.html (Informationsangebot des DESY für Lehrer und Schüler)
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Udo Backhaus
14 Astronomie im Physikunterricht Die Astronomie stand am Anfang der wissenschaftlichen Beschäftigung des Menschen mit seiner Umwelt. Die langfristige Beobachtung des Himmels und seiner Veränderungen führte zu der Entdeckung von Regelmäßigkeiten und zu dem Versuch, sie sich kalendarisch und astrologisch nutzbar zu machen. Bei den Griechen führten diese Erfahrungen zur Entwicklung mathematischer und geometrischer Modelle, deren Eigenschaften weit über die beobachteten Phänomene hinausgingen. In der beginnenden Neuzeit bildete die Schwierigkeit, die Bewegungen der Planeten genauer zu beschreiben und vorherzusagen, den Ausgangspunkt für die Überwindung der Vorstellung von der Erde als Mittelpunkt der Welt und für die Entwicklung der modernen Naturwissenschaft. Galileis Trägheitsgesetz und die von Newton aufgestellten Bewegungsgesetze, die die grundsätzliche Kluft zwischen Himmel und Erde aufhoben, wären ohne das Streben, das Planetenproblem zu lösen und damit die Stellung der Erde und des Menschen in der Welt neu zu definieren, undenkbar geblieben. Auch heute steht die Astronomie, insbesondere die moderne Kosmologie, an der Spitze aktueller naturwissenschaftlicher Fragestellungen und Entwicklungen, z.B. in der Hochenergiephysik. Die Bilder, die moderne Teleskope „vom Himmel holen“, finden große öffentliche Aufmerksamkeit. Sie werden heute, trotz aller scheinbaren Unveränderlichkeit des Himmels, als Abbildungen von Vorgängen heftigster Dynamik interpretiert, die in unvorstellbaren Entfernungen – und vor unvorstellbar langer Zeit! – stattgefunden haben und immer noch stattfinden. Die Behandlung astronomischer Themen im Schulunterricht, die aus diesen Gründen auf großes Interesse bei den Schülern stößt, ist allerdings mit spezifischen Problemen verbunden: • Die Untersuchungsgegenstände sind so weit entfernt und von so großen Ausmaßen, dass im Allgemeinen naturwissenschaftliche Experimente, also die gezielte Manipulationen der untersuchten Objekte nicht möglich und die Menschen deshalb auf die Rolle passiver Beobachter beschränkt sind. • Diese Beobachtungen können zum größten Teil nur nachts (also nicht zur Schulzeit) und mit komplexen Geräten (Teleskopen,
Explodierender Stern
Kollidierende Galaxien
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14 Astronomie im Physikunterricht Spektrometern, Raumsonden, Beschleunigern usw.) durchgeführt werden. • Fast alle astronomischen Vorgänge laufen sehr langsam ab. Sie erfordern also einen sehr langen Atem bei der Beobachtung und Aufzeichnung oder sehr indirekte Schlüsse, um ihrer Dynamik auf die Spur zu kommen.
Diskrepanz zwischen Gewusstem und Erfahrenem
Die Folge dieser Schwierigkeiten ist, dass astronomische Aussagen in der Regel nur über lange Ketten logischer Schlussfolgerungen mit unmittelbar zu machenden Erfahrungen zusammenhängen. Die Diskrepanz zwischen Gewusstem (d.h. angelesenem und aus dem Fernsehen übernommenem Wissen) und Erfahrenem ist deshalb in der Astronomie besonders groß – und sie beschränkt sich nicht auf die Aussagen, deren Gegenstände unmöglich selbst zu erfahren sind. Auch bei elementaren astronomischen Aussagen fehlt oft jede Anbindung an eigene Beobachtungen und Erlebnisse.
Beispiel: Entstehung der Mondphasen
Diese Aussage soll im Folgenden kurz am Beispiel der Entstehung der Mondphasen erläutert werden. Bei Umfragen zeigt sich immer wieder, dass Befragte jeden Alters und unterschiedlichster Bildung (sogar unabhängig vom Umfang des erfahrenen Astronomieunterrichts!) sich die Phasengestalten des Mondes dadurch erklären, dass der Schatten der Erde auf den Mond falle.
Erdschatten?
Ist diese Erklärung beim Sichelmond im allerersten Moment vielleicht noch einleuchtend, so erstaunt sie hinsichtlich des Halbmondes (müsste dafür doch die Erde eine Scheibe sein!) und noch mehr beim fast vollen Mond (Hohlerde!). Um mit Wagenschein zu sprechen: „Nicht die Unkenntnis als solche ist es, die hier bestürzt. Anständige Unkenntnisse, ehrliche, von schwierigen Dingen, gehören zur Bildung. Aber hier ist die Wahrheit leicht zu sehen; und noch leichter wäre zu bemerken, dass es der Erdschatten unmöglich sein kann, der den Mond aushöhlt.“ (Wagenschein 1992, S. 62) Dabei sind die Mondphasen ein gängiges Thema des OptikUnterrichts in Schule und Hochschule! Offensichtlich erreicht das übliche Diagramm zur Erklärung der Mondphasen „von außen“ die Lernenden nicht: • Es erfordert einen abstrakten Prozess des Standortwechsels: Wir müssen uns in Gedanken auf die Erdoberfläche zurückversetzen und uns vorstellen, wie von dort die beleuchtete Hälfte des Mondes zu sehen wäre. Und wir müssen uns vorstellen, wie Sonne
14 Astronomie im Physikunterricht 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 100 101 102 103 104 105 106 107 108 109 110 111 112 113 114 115 116 117 118 119 120 121 122 123 124 125 126 127 128 129
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und Mond über den Himmel wandern, wenn die Erde sich um ihre eigene Achse dreht - und wir mit ihr! • Und selbst wenn uns gelingt, erklärt das Diagramm Phänomene, die die meisten von uns noch nicht wahrgenommen haben, z.B. dass der junge zunehmende Mond nur am frühen Abend zu sehen ist, der abnehmende Halbmond aber bereits mittags untergeht und warum der Vollmond im Sommer so viel niedriger steht als im Winter. Es ist nicht damit getan, im Klassenraum eine Kugel halbseitig zu beleuchten. Zwar machen diese und weitere Demonstrationen von Analogien (Ball in der Sonne zeigt dieselbe Gestalt wie der darüber stehende Mond, aus unterschiedlichen Richtungen betrachtete runde Gegenstände im Lichte der Sonne) plausibel, dass die Mondphasen so zustande kommen könnten. Es könnte aber auch anders sein: Eine sich drehende, nur halbseitig (selbst-) leuchtende Kugel würde dieselben Gestalten zeigen! Eine naturwissenschaftliche Erklärung wird erst daraus, wenn die Aussagen gut zu anderen beobachtbaren Phänomenen passen - insbesondere also zu den sich mit der Phasengestalt ändernden Auf- und Untergangszeiten des Mondes.
Übliche Erklärung der Mondphasen
In geozentrischer Sichtweise stellen sich die Phänomene folgendermaßen dar: Wenn man, beginnend kurz nach Neumond, jeden zweiten Abend kurz nach Sonnenuntergang zum Himmel sieht, dann wandert der Mond in zwei Wochen von tief im Westen über hoch im Süden nach tief im Osten. Simultan dazu ändert sich die Phasengestalt vom Sichelmond über den Halbmond zum Vollmond. Wenn man bei dieser Wanderung des Mondes die gerade untergegangene Sonne mit in den Blick nimmt (eine Idee, auf die Lernende von allein kaum kommen können!), dann erkennt man allmählich, „wie der Mond als eine dunkle Kugel im Licht der Sonne hängt, und zwar einer sehr weit schräg hinter dem Mond schwebenden riesigen Sonne. - Das ist ein großer Augenblick: Die Himmelskuppel löst sich im Raum auf.“ (Wagenschein 1992, S. 63) Anhand dieses Beispiels lassen sich unschwer vier Ursachen für die große Diskrepanz zwischen Gewusstem und Erfahrenem ausmachen: • Verstädterung, moderne Medien und ähnliche Veränderungen der Lebenswelt haben zu einer Entfremdung des Menschen von der Natur geführt. Hinsichtlich unmittelbarer astronomischer Erfahrungen kommt die zunehmende „Lichtverschmutzung“ unserer Umwelt hinzu.
Abendliche Mondbewegung
Der Halbmond im Lichte der Sonne Gründe für die Diskrepanz
512 130 131 132 133 134 135 136 137 138 139 140 141 142 143 144 145 146 147 148 149 150 151 152 153 154 155 156 157 158 159 160 161 162 163 164 165 166 167 168 169 170 171 172
14 Astronomie im Physikunterricht • Die dadurch hervorgerufene mangelnde Kenntnis der Phänomene hat zur Folge, dass Modelle und Theorien Erklärungen für Vorgänge liefern, die nicht „gegenwärtig“ sind, die also noch nicht beobachtet worden sind und deren Charakteristika unbekannt, vielleicht sogar unvorstellbar sind: Das Modell beantwortet nie gestellte Fragen. • Ein voreiliger Übergang von der geozentrischen zur heliozentrischen Beschreibung überfordert das Abstraktionsvermögen der Lernenden und vergrößert den Abstand zwischen Beobachtung und Erklärung. • Astronomische Zahlenangaben überschreiten das menschliche Vorstellungsvermögen bei weitem. Wenn die zugehörigen Probleme und Messverfahren überhaupt thematisiert werden, dann ist ihre Darstellung oft so grob vereinfachend, dass man sie auch als falsch bezeichnen könnte. Es ist hier nicht der Platz für eine gründliche Diskussion des Verhältnisses zwischen geozentrischer und heliozentrischer Betrachtungsweise. Deshalb soll sich hier auf den letzten Punkt konzentriert werden und am Beispiel eigener Messversuche zur Bestimmung der Größe des Weltalls aufgezeigt werden, inwieweit astronomische Entfernungsmessungen exemplarisch sein können für die astronomische Erkenntnisgewinnung, dafür also (um mit Wagenschein zu sprechen), „wie man so etwas wissen kann“, was es also „heißt, Astronomie und Physik zu betreiben“. Dabei bewährt sich die heliozentrische Sichtweise insofern, als es erst durch sie möglich wird, aus den Beobachtungen quantitative Aussagen über Entfernungen abzuleiten.
14.1 Astronomische Entfernungsmessung Astronomische Einheit
Die Entfernung zwischen Erde und Sonne ist eine der fundamentalen Konstanten der Astronomie: die Astronomische Einheit. Ihr Zahlenwert ist die Grundlage nicht nur zur Bestimmung der Größe und der Struktur des Weltraumes, sondern auch für die Messung der astrophysikalischen Eigenschaften von Planeten und Sternen. Alle mit der Sonnenentfernung zusammenhängenden astrometrischen Effekte sind jedoch sehr klein, weil die Sonne unglaublich weit entfernt ist.
Sonnenparallaxe
Die Messung der so genannten Sonnenparallaxe war deshalb während mehrerer hundert Jahre eines der Hauptprobleme der Astro-
14.2 Übersicht über die Messmethoden 173 174 175 176 177 178 179 180 181 182 183 184 185 186 187 188 189 190 191 192 193 194 195 196 197 198 199 200 201 202 203 204 205 206 207 208 209 210 211 212 213 214 215
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nomie, und es ist bis heute schwierig, die Sonnenentfernung in der Schule anhand eigener Messwerte zu bestimmen. Bei der Beschäftigung mit diesem Problem kann jedoch viel über Physik und Astronomie gelernt werden.
14.2 Übersicht über die Messmethoden Bis heute besteht die sicherste Methode, die Entfernung eines weit entfernten astronomischen Objektes zu bestimmen, darin, seine trigonometrische Parallaxe zu messen. Der zugrunde liegende Effekt ist jedem vom Auto- oder Zugfahren bekannt: Die Gegenstände der Umgebung scheinen sich gegenüber dem Hintergrund in der entgegengesetzten Richtung zu bewegen, und zwar umso schneller, je näher sie sind.
Abb. 14.1: Dreiecke, in denen man Winkel messen muss, wenn man: a) die Mondentfernung direkt trigonometrisch bestimmen, b) die Sonnenentfernung mit der Mondentfernung vergleichen, c) die Sonnenparallaxe von der Erde aus direkt messen, d) die Parallaxe eines Fixsterns auf der Basis des Erdbahnradius messen will.
Trigonometrische Parallaxe
514 216 217 218 219 220 221 222 223 224 225 226 227 228 229 230 231 232 233 234 235 236 237 238 239 240 241 242 243 244 245 246 247 248 249 250 251 252 253 254 255 256 257 258
14 Astronomie im Physikunterricht Will man auf diese Weise die Sonnenparallaxe messen, muss man ihre Position am Sternenhimmel von verschiedenen Stellen der Erde aus messen. Dabei muss man Winkel in einem Dreieck messen, dessen Seitenlängen sich wie 24000:1 verhalten. Nach dem Versuch, ein solches Dreieck zu zeichnen, kann man sich die Schwierigkeit, die Parallaxe der Sonne zu messen, vorstellen. Tatsächlich ist es bis heute unmöglich, die Entfernung der Sonne auf diese Weise direkt zu bestimmen! Drei prinzipielle Auswege bieten sich an: Aristarchs Idee bestand darin, die Entfernung der Sonne nicht als Vielfaches des Erdradius, sondern als Vielfaches des Abstandes zwischen Erde und Mond zu bestimmen. Dabei muss man Winkel in einem Dreieck mit einem Seitenverhältnis von „nur“ 400:1 messen. Die zweite Möglichkeit, größere und damit leichter zu messende Winkel zu erhalten, besteht darin, im Sonnensystem eine Entfernung zu messen, die kleiner als die zu Sonne ist, und diese auf die Entfernung zur Sonne hochrechnen. Der dritte Ausweg eröffnet sich durch die Heranziehung physikalischer Gesetzmäßigkeiten, die es ermöglichen, aus den Zahlenwerten anderer physikalischer Größen den Abstand zwischen Erde und Sonne zu berechnen. Die wichtigsten sind die Messung von Lichtlaufzeiteffekten und die Auswertung des Doppler-Effektes. Im Folgenden sollen einige Methoden etwas genauer dargestellt und die mit ihnen verbundenen Probleme angedeutet werden.
14.3 Messung der Sonnenentfernung nach Aristarch
Aristarchs Idee
Die am einfachsten zu verstehende Methode zur Messung der Entfernung zwischen Erde und Sonne beruht auf der genialen Idee von Aristarch, der die Sonnenentfernung dadurch bestimmte, dass er bei Halbmond den Winkelabstand zwischen Sonne und Mond beobachtete. Bei Halbmond liegt in dem Dreieck Erde - Mond - Sonne ein rechter Winkel beim Mond. Wenn man also den Winkel zwischen Mond und Sonne bei Halbmond misst, kennt man in dem Dreieck alle Winkel und damit das Verhältnis der Entfernungen zu Sonne und Mond, und die Entfernung Erde–Sonne kann zeichnerisch oder rechnerisch als Vielfaches der Mondentfernung ermittelt werden.
14.4 Messungen mit einem Sextanten 259 260 261 262 263 264 265 266 267 268 269 270 271 272 273 274 275 276 277 278 279 280 281 282 283 284 285 286 287 288 289 290 291 292 293 294 295 296 297 298 299 300 301
Leider ist über Aristarchs Messungen nichts überliefert. Aus seinem Zahlenwert für dieses Vielfache (18-20) kann man aber schließen, dass er den Winkel zu 87o annahm. Dieser Wert ist jedoch viel zu klein: Er beträgt tatsächlich fast genau 90o. Trotzdem wurde Aristarchs Angabe fast 2000 Jahre ungeprüft übernommen.
515
Aristarchs Ergebnis
In dieser großen Diskrepanz deuten sich gravierende Probleme bei der Messung an: • Der genaue Zeitpunkt des Halbmondes ist mit den Augen nur ungenau zu bestimmen - selbst mit einem Fernrohr. • Der Winkel zwischen Mond und Sonne muss offensichtlich sehr genau gemessen werden.
14.4 Messungen mit einem Sextanten Sextanten sind Messgeräte, mit denen Winkelabstände zwischen Objekten am Himmel sehr genau gemessen werden können. Sie wurden früher in der Seefahrt für die astronomische Navigation benutzt. Heute kann man sie antiquarisch oder als Lehrmittelgeräte erwerben. Da der Aufbau des Sextanten die gleichzeitige Beobachtung von Mond und Sonne ermöglicht, liegt die Idee nahe zu versuchen, den Winkel zwischen Mond und Sonne mit einem Sextanten zu messen. Im Folgenden werden beispielhaft die Ergebnisse einer Messung am 29. April 1993 dargestellt (Vornholz et al. 1996). An diesem Tag trat das 1. Viertel laut astronomischem Jahrbuch um 13.41 MEZ ein. Leider waren wetterbedingt nur Messungen zwischen 13.30 Uhr und 14.40 Uhr möglich.
Abb. 14.2: Grafische Darstellung der Messergebnisse
Der Sextant
Halbmond am 29.4.1993
516 302 303 304 305 306 307 308 309 310 311 312 313 314 315 316 317 318 319 320 321 322 323 324 325 326 327 328 329 330 331 332 333 334 335 336 337 338 339 340 341 342 343 344
14 Astronomie im Physikunterricht Verwirrenderweise war bereits der erste, um 13.31 Uhr gemessene, Winkel größer als 90o: 90o36.6’! Wir maßen jedoch weiter, um ein Gefühl für die Messgenauigkeit zu bekommen und später evtl. auf 90o extrapolieren zu können. Dabei konnten wir schon während der Messungen bemerken, dass sich der Mond innerhalb von Minuten von der Sonne entfernt - und zwar ziemlich gleichmäßig. Die grafische Darstellung der Messergebnisse bestätigte den linearen Anstieg. Die Ausgleichsgerade ergab als Zeitpunkt für das 1. Viertel 12.27 Uhr MEZ!
14.4.1 Diskussion der Messergebnisse Unterschiedliche Halbmondzeitpunkte an verschiedenen Orten
Die entscheidende Idee zur Klärung des scheinbaren Widerspruchs – die Winkelsumme im Dreieck Erde – Mond – Sonne scheint größer als 90o sein! – geht von den folgenden Fragen aus: • Was ist der Unterschied zwischen Halbmond und 1. Viertel? • Für welchen Punkt der Erde wird eigentlich in einem Jahrbuch der Zeitpunkt des 1. Viertels angegeben?
Halbmond und 1. Viertel
Wenn auf der Tagseite der Erde gerade das 1. Viertel eintritt (die Winkeldistanz zwischen Sonne und Mond beträgt dann 90o.), ist Halbmond bereits vorbei. Die Winkeldistanz zwischen Sonne und Mond ist dann auf der Nachtseite noch deutlich kleiner als 90o. Die Erde ist etwa viermal so groß wie der Mond. Sie erscheint deshalb, vom Mond aus betrachtet, unter einem Winkel von etwa 2o. Um diesen Winkel können sich also die von verschiedenen Punkten der Erde aus gemessenen Winkeldistanzen zwischen Mond und Sonne maximal unterscheiden. Der Mond braucht etwa vier Stunden, um auf seiner Bahn um die Erde um 2o weiterzuwandern. Die Zeitpunkte für das 1. Viertel können sich deshalb für verschiedene Orte um bis zu vier Stunden unterscheiden!
Abb. 14.3: Zum Einfluss der Mondparallaxe auf den Halbmondzeitpunkt an verschiedenen Orten der Erde
14.4 Messungen mit einem Sextanten 345 346 347 348 349 350 351 352 353 354 355 356 357 358 359 360 361 362 363 364 365 366 367 368 369 370 371 372 373 374 375 376 377 378 379 380 381 382 383 384 385 386 387
517
Die Folgerung ist naheliegend: Die im astronomischen Kalendern angegebenen Zeiten beziehen sich auf den Erdmittelpunkt.
14.4.2 Vergleich mit Computerberechnungen Zur Überprüfung der Messergebnisse ist also ein Computerprogramm nötig, das für jeden beliebigen Ort auf der Erde und für jeden Zeitpunkt die genauen topozentrischen, d.h. auf den Ort des Beobachters bezogenen, Koordinaten von Sonne und Mond berechnen und damit deren Winkeldistanz und die Mondphase bestimmen kann (siehe z. B. Vornholz et al. 1996).
Abb. 14.4:Vergleich der Messergebnisse mit berechneten Werten Nach den Computerberechnungen trat am Beobachtungsort der Halbmond bereits um 12.04 Uhr MEZ ein. Die Winkeldistanz zwischen Sonne und Mond betrug dabei 89o51'42''. Nach der linearen Extrapolation unserer Messwerte hätten wir um diese Uhrzeit eine Winkeldistanz von 89o50'45'' gemessen. Mit diesem Wert für die Winkeldistanz zwischen Sonne und Mond bei Halbmond erhalten wir den gesuchten Abstand zwischen Erde und Sonne: Die Sonne ist 372-mal so weit entfernt wie der Mond. Damit sind wir am Ziel und haben einen sehr guten Wert für die Astronomische Einheit erhalten! Wir konnten ihn jedoch nur erhalten, weil wir den Zeitpunkt für den Halbmond berechnet haben.
14.4.3 Methodische und didaktische Empfehlungen Die Schwierigkeiten machen deutlich, dass nach dieser Methode durch eigene Messungen in der Schule kein akzeptabler Wert für die Astronomische Einheit zu gewinnen sein wird. Trotzdem kann aber
Computerergebnisse
518 388 389 390 391 392 393 394 395 396 397 398 399 400 401 402 403 404 405 406 407 408 409 410 411 412 413 414 415 416 417 418 419 420 421 422 423 424 425 426 427 428 429 430
14 Astronomie im Physikunterricht bei dem Versuch, die Messung von Aristarch nachzuvollziehen, viel gelernt werden! Die Messungen mit dem Sextanten können ab der fünften Klasse durchgeführt werden. Dafür ist es zunächst erforderlich, günstige Termine zu erkennen: Sonne und Halbmond müssen gleichzeitig am Himmel zu sehen sein, möglichst in ähnlicher Höhe über dem Horizont (1. Viertel am frühen Nachmittag oder Letztes Viertel am frühen Vormittag). Bei diesen Messungen sind bereits die qualitativen Ergebnisse sehr interessant:
Qualitative Ergebnisse
• Bei Halbmond beträgt der Winkelabstand zwischen Sonne und Mond ungefähr 90o. Die Sonne muss also viel weiter entfernt sein als der Mond – und der ist doch schon unheimlich weit weg! • Die Phasengestalt des Mondes hat etwas mit der Winkeldistanz zwischen Mond und Sonne zu tun: Der Mond entfernt sich erstaunlich schnell von der Sonne - bereits nach einigen Minuten kann man es messen! • Zu dem Zeitpunkt, der in einem astronomischen Jahrbuch für das 1. Viertel angegeben ist, ist die gemessene Winkeldistanz bereits deutlich größer als 90o. Anhand obiger Zeichnung wird klar, dass dieser Effekt mit der Größe der Erde zu tun hat: der erste eigene Nachweis der endlichen Mondentfernung! Von der 10. Klasse an können auch quantitative Schlüsse aus den Messungen gezogen werden:
Quantitative Ergebnisse
• Aus der zeitlichen Veränderung des gemessenen Winkels kann die Zeit abgeschätzt werden, die zwischen zwei Neumonden vergeht (synodischer Monat). • Aus der gemessenen Winkeldistanz zwischen Sonne und Mond zum im Kalender angegebenen Zeitpunkt für das 1. Viertel kann das Verhältnis aus Mondentfernung und Erdradius grob abgeschätzt werden.
Phasenbestimmung durch Ausmessen der Phasengestalt?
• Da die Winkeldistanz zwischen Sonne und Mond offenbar sehr genau gemessen werden kann, könnte man auf die Idee kommen, in Abwandlung des Gedankenganges zu versuchen, den Phasenwinkel zum Zeitpunkt des 1. Viertels zu bestimmen (ca. 89.86o). Ein Blick durchs Fernrohr bei Halbmond zeigt jedoch, dass es auch mit einem großen Fernrohr unmöglich sein dürfte, die erforderliche Genauigkeit zu erzielen. Auch gründliche Versuche, mit Hilfe von Mondfotos den Phasenwinkel zu bestimmen, führen zu keinen befriedigenden Ergebnissen (Schmidt et al. 2004).
14.5 Die Entfernung des Mondes 431 432 433 434 435 436 437 438 439 440 441 442 443 444 445 446 447 448 449 450 451 452 453 454 455 456 457 458 459 460 461 462 463 464 465 466 467 468 469 470 471 472 473
519
14.5 Die Entfernung des Mondes Aristarchs Methode liefert die Entfernung der Sonne als Vielfaches der Mondentfernung. Die Griechen kannten sie seit Hipparch mit befriedigender Genauigkeit. Die am leichtesten zu verstehende Messmethode besteht allerdings in der direkten Messung der trigonometrischen Parallaxe des Mondes: Der Mond übertrifft in der Kunst des Mitlaufens alle irdischen Dinge. Jeder noch so ferne Horizont ist noch nahe, verglichen mit ihm, noch ganz vorn vor dem riesigen Abgrund …, der ihn von uns trennt. (Richtiger: Dass sein Abstand so riesig ist, erkennen wir daran, dass er so perfekt mitläuft wie nichts Irdisches.) (Wagenschein 1988, S. 275) Wagenschein macht hier darauf aufmerksam, dass alle Entfernungen am Himmel so groß sind, dass alle alltäglichen Methoden zur Abstandsmessung oder –abschätzung versagen. Das unbeobachtbare Zurückbleiben aller himmlischen Objekte, sogar des Mondes, hinter der eigenen Bewegung, die fehlende Parallaxe also, lässt sich nur im Falle des Mondes doch noch sichtbar machen, indem man die eigene Bewegung auf der Erde durch gleichzeitige Beobachtung des Himmels von verschiedenen Orten der Erde aus ersetzt. Anhand zweier Zeichnungen erläuterte Wagenschein, dass für einen Beobachter in Kapstadt nicht nur der ganze Himmel auf dem Kopf steht (weil der Beobachter selbst „auf dem Kopf steht“), sondern dass für ihn der Mond dichter an nördliche Nachbarsterne herangerückt ist als für einen Beobachter in Berlin: Der Mond ist bei der fiktiven Reise nach Süden nach Norden zurückgeblieben. Als Wagenschein diesen Effekt 1962 beschrieb, gab es noch keine einfache Möglichkeit, das Gedankenspiel in die Tat umzusetzen. Heute dagegen ist es relativ leicht, selbst Bilder aufzunehmen, die die Parallaxe des Mondes, seine endliche Entfernung also, dem aufmerksamen, aber unvoreingenommenen Betrachter sichtbar machen.
14.5.1 Kooperatives Projekt zur Messung der Mondparallaxe Dazu muss der Mond von weit voneinander entfernten Orten aus gleichzeitig so fotografiert werden, dass seine unterschiedliche Position relativ zum (als unendlich fern angenommenen) Sternen- oder Planetenhintergrund erkennbar wird. Um die Position eindeutig
Wagenscheins Veranschaulichung der Mondentfernung
520 474 475 476 477 478 479 480 481 482 483 484 485 486 487 488 489 490 491 492 493 494 495 496 497 498 499 500 501 502 503 504 505 506 507 508 509 510 511 512 513 514 515 516
14 Astronomie im Physikunterricht erkennen zu können, müssen auf den Fotos mindestens zwei Bezugsobjekte sichtbar sein. Besonders geeignet sind deshalb Tage, an denen der Mond an zwei nahe beieinander stehenden Planeten vorüberwandert. Auch Mondfinsternisse bieten, wenn auch recht selten, gute Gelegenheiten für Sternfeldaufnahmen mit Mond.
14.5.2 Beispiel: Der Mond zwischen Saturn und Jupiter Mondparallaxe am 9.12.2000
Am 9. Dezember 2000 wanderte der Mond an den hellen Planeten Jupiter und Saturn vorbei. An diesem Tag fotografierten Schüler und Amateurastronomen in Deutschland, Bulgarien, Spanien und Namibia (Skandinavien und Portugal lagen leider unter einer dichten Wolkendecke!) den Mond, und es entstanden zum Vergleich geeignete Aufnahmen mit großer nord-südlicher Basis (Deutschland/Namibia) und großer ost-westlicher Basis (Bulgarien/Teneriffa).
Abb. 14.5: Der Mond zwischen Jupiter (J) und Saturn (S), am 9.12.2000 um 21.00 Uhr UT von Koblenz (links) und Namibia (rechts) aus fotografiert Die Abbildungen zeigen beispielhaft den Mond, wie er sich den Fotografen in Koblenz und Namibia um 21 Uhr UT darstellte. Auf beiden Bildern sind Jupiter und Saturn als helle Punkte deutlich zu erkennen. Auf den ersten Blick fällt auf, dass sich der hellere Jupiter einmal links, einmal rechts von Saturn befindet: Der Fotograf in Namibia stand auf dem Kopf – oder war es der in Deutschland? Eins der Bilder muss also um 180o gedreht werden, damit sich Norden im Bild ungefähr oben befindet.
14.5 Die Entfernung des Mondes 517 518 519 520 521 522 523 524 525 526 527 528 529 530 531 532 533 534 535 536 537 538 539 540 541 542 543 544 545 546 547 548 549 550 551 552 553 554 555 556 557 558 559
Deutlich ist die unterschiedliche Konstellation Jupiter-Mond-Saturn zu erkennen: Der Mond hat auf die Ortsveränderung nach Namibia mit einem nördlichen Zurückbleiben reagiert! Noch deutlicher wird diese parallaktische Verschiebung des Mondes, wenn man die beiden Bilder o skaliert, dass der Abstand Jupiter-Saturn gleich groß ist, und die beiden Bilde so übereinander legt, dass die beiden Planeten zur Deckung kommen: Die Verschiebung ist etwa doppelt so groß wie der Monddurchmesser! Diese Positionsveränderung entspricht gerade dem parallaktischen Winkel in der nebenstehenden Abbildung:
521
Anpeilung des Mondes …
…die sich daraus ergebende Mondentfernung
Abb. 14.6: Kombination obiger Abbildungen (links): Die Bilder wurden so gedreht und skaliert, dass die Bilder von Jupiter und Saturn jeweils zur Deckung kommen und Norden oben ist. Rechts: Kombination von Bildern aus Bulgarien und Teneriffa
14.5.3 Auswertung Den Abstand zwischen Jupiter und Saturn kann man z. B. mit einem Sextanten messen: Er betrug 8,79o. Mit diesem Wert kann man den Maßstab der Bilder bestimmen und die parallaktische Verschiebung des Mondes messen. Der parallaktische Winkel ergibt sich zu 1,2o. Bestimmt man darüber hinaus aus den geografischen Koordinaten der beiden Beobachtungsorte ihren linearen Abstand als Vielfaches des Erdradius, dann ergibt sich aus dem parallaktischen Winkel schließlich, dass der geozentrische Abstand des Mondes 57,86 Erdradien beträgt – ein Ergebnis, das nur um 0,2% oder 809 km vom wahren Wert abweicht (Backhaus 2001). Für die Teilnehmer eines solchen Projektes ist es ein großes Erlebnis, Teil eines weltumspannenden Projektes zu sein und beim Fotografieren das Gefühl haben zu können, dass im selben Moment Gleichgesinnte an den verschiedensten Orten der Erde an demselben Ziel arbeiten.
Selbst gemessene Mondentfernung: 57,86 RE
522 560 561 562 563 564 565 566 567 568 569 570 571 572 573 574 575 576 577 578 579 580 581 582 583 584 585 586 587 588 589 590 591 592 593 594 595 596 597 598 599 600 601 602
14 Astronomie im Physikunterricht
14.6 Abstandsverhältnisse im Sonnensystem Die Bewegung der Planeten über den Sternenhimmel ist das entscheidende Phänomen, das die Menschen auf die Idee brachte, dass die Erde nicht der Mittelpunkt der Welt ist sondern zusammen mit den anderen Planeten die Sonne umläuft. Diese heliozentrische Sichtweise macht es, anders als das antike geozentrische Weltmodell, möglich, durch Beobachtung der Planeten herauszufinden, wie sich alle Abstände im Sonnensystem zueinander verhalten, z.B. um welchen Faktor Jupiter weiter von der Sonne entfernt ist als die Erde. Um diesem Gedanken folgen zu können, müssen Lernende allerdings mit den beobachtbaren Erscheinungen vertraut sein.
14.6.1 Bestimmung der Bahnradien Wie für physikalische Betrachtungen typisch, müssen bei der Ableitung der Bahnradien Vereinfachungen gemacht werden. So sind die folgenden Überlegungen nur richtig unter folgenden Bedingungen: • Alle Planeten bewegen sich in der Ebene der Ekliptik. • Die Bahnkurven sind Kreise. • Die Winkelgeschwindigkeit jedes Planeten ist konstant. Bahnradius innerer Planeten
Unter diesen Voraussetzungen ist für die inneren Planeten die Bestimmung des Bahnradius einfach: Man misst dazu lediglich mehrfach den Winkelabstand zwischen Planet und Sonne (kurz vor Sonnenuntergang ist das grob bereits durch Peilen über ein großes Geodreieck möglich!) und bestimmt auf diese Weise den größten auftretenden Wert ηmax . In dieser Stellung muss das Dreieck Erde – Planet – Sonne beim Planeten rechtwinklig sein. Es gilt dann also
cosηmax =
rPl ⇒ rPl = cosη max AE. rE
Auf diese Weise ergab sich beispielsweise bei der Verfolgung von Venus als Vorbereitung des Venustransits 2004 für Venus am 1.1.2003 ein maximaler Winkelabstand von der Sonne von 47° (durch Peilung über Nägel) bzw. 46°53’ (mit Sextant). Ihr Abstand von der Sonne war zu dem Zeitpunkt also etwa 0,73-mal so groß wie der der Erde von der Sonne. (http://www.didaktik.physik.uniessen.de/~backhaus/VenusProject/orbitresults.htm)
14.6 Abstandsverhältnisse im Sonnensystem 603 604 605 606 607 608 609 610 611 612 613 614 615 616 617 618 619 620 621 622 623 624 625 626 627 628 629 630 631 632 633 634 635 636 637 638 639 640 641 642 643 644 645
Einen äußeren Planeten muss man, um seinen Bahnradius zu bestimmen, während seiner Rückläufigkeit verfolgen. Das ist einfach, da er in dieser Zeit der Sonne fast gegenübersteht und deshalb fast die ganze Nacht durch zu sehen ist. Gelingt es, den Planeten am Tage seiner Opposition zu beobachten und seine Position am Sternenhimmel zu bestimmen, und wiederholt man das wenigstens einmal während der Rückläufigkeit des Planeten, dann kann man den Bahnradius nach der folgenden Beziehung berechnen (Backhaus 1997 a):
rPl =
523 Bahnradius äußerer Planeten
sin(ε + η ) rE sin( β + η )
Dabei sind ε und β die Zentralwinkel, die von der Verbindung Sonne – Planet zwischen den beiden Zeitpunkten der beiden Beobachtungen überstrichen worden sind. Diese Winkel kann man mit Hilfe der siderischen Umlaufzeiten bestimmen. δ ist der Winkel, um den der Planet in der Zwischenzeit seine Position relativ zum Sternenhintergrund verändert hat.
14.6.2 Bestimmung des Radius der Marsbahn Voraussetzung für Beobachtungen der Marsbewegung ist die Fähigkeit der Schüler, bestimmte Sternbilder unabhängig von ihrer Stellung am Himmel wiederzuerkennen. Gibt man den Schülern von Zeit zu Zeit Tipps für geeignete Beobachtungszeitpunkte und stellt ihnen eine geeignete Sternkarte zur Verfügung, dann können sie Mars abends selbständig verfolgen, wenn sie nicht zu weit von zu Hause einen geeigneten Beobachtungsort gefunden haben – mit nicht zu hohem Horizont und nicht zu viel „Lichtverschmutzung“. Sie können dann die beobachteten Marspositionen in die Karte eintragen, nachdem sie sich Entfernungs- und Winkelbeziehungen zwischen Mars und den Nachbarsternen eingeprägt haben: Mars auf einer Geraden mit zwei Sternen oder mit ihnen ein gleichseitiges, gleichschenkliges oder rechtwinkliges Dreieck bildend. Es ist erstaunlich, wie oft man solche Konstellationen finden kann.
(Fotos von Sandra Stein)
524 646 647 648 649 650 651 652 653 654 655 656 657 658 659 660 661 662 663 664 665 666 667 668 669 670 671 672 673 674 675 676 677 678 679 680 681 682 683 684 685 686 687 688
14 Astronomie im Physikunterricht
Abb. 14.7: Beispiel: Ein Teil der Marsschleife 2005/06 im Sternbild Stier, beobachtet mit Studierenden mit bloßen Augen und eingetragen in eine Sternkarte Die Abbildung zeigt die Marsschleife, die zusammen mit Studierenden im Wintersemester 2005/06 aufgezeichnet wurde. Das Bild gibt allerdings nichts von der Faszination wieder, die die Studierenden bei den Beobachtungen empfunden haben! Radius der Marsbahn: 1,46 AE
Wertet man die in die Karte eingezeichneten Positionen aus, nachdem man die Position am Tage der Opposition, dem 7. November 2005, durch Interpolation gewonnen hat, dann ergibt sich nach der obigen Gleichung der Radius der Marsbahn zu etwa 1,46 Erdbahnradien, also zu 1,46 AE – in Übereinstimmung mit dem wahren Wert am 7. November 2005. Aber wie groß ist die Astronomische Einheit?
14.7 Internet-Projekt: Auswertung des Venustransits am 8. Juni 2004 Um einen der sehr seltenen Vorübergänge von Venus vor der Sonnenscheibe zur Bestimmung der Sonnenentfernung – und damit des fehlenden Maßstabs! – nutzen zu können, wurde in einem weltweiten Projekt, an dem Schüler, Lehrer und Amateurastronomen, aber auch Planetarien und professionelle Sternwarten von Sri Lanka bis Peru und von Schweden bis Südafrika beteiligt waren, versucht, an ver-
14.7 Internet-Projekt: Auswertung des Venustransits am 8. Juni 2004 689 690 691 692 693 694 695 696 697 698 699 700 701 702 703 704 705 706 707 708 709 710 711 712 713 714 715 716 717 718 719 720 721 722 723 724 725 726 727 728 729 730 731
525
schiedenen Orten zu exakt gleichen Zeitpunkten aufgenommene Transitfotos zu gewinnen. Wenn man solche Fotos mit gleicher Größe und Orientierung übereinander legt, machen sie die parallaktische Verschiebung von Venus direkt sichtbar und erlauben eine mathematisch relativ einfache und nachvollziehbare Auswertung. Grundidee und Auswertung entsprechen weitgehend dem bei der Messung der Mondentfernung angewendeten Verfahren. Die eigentliche Messgröße bei diesem Verfahren ist der (Winkel-) Abstand zweier Venusscheibchen, die von verschiedenen Orten aus zeitgleich aufgenommen wurden. Ziel des Projektes war es jedoch, nicht nur die parallaktische Verschiebung zu messen, sondern auch alle Größen selbst zu bestimmen, die zur Ableitung der Sonnenentfernung erforderlich sind, insbesondere also den Erdradius, den linearen Abstand der beiden Beobachtungsorte (und dafür die eigenen geografischen Koordinaten), den Bahnradius der Venus und den Winkelradius der Sonne.
Ziele des Transitprojekts
Das Projekt ist an anderer bereits beschrieben worden Stelle (Backhaus 2005). Die endgültigen Ergebnisse werden zum Zeitpunkt des Erscheinens dieses Buches gerade zusammengestellt und im Internet veröffentlicht (http://www.didaktik.physik.uni-essen.de/~backhaus/ VenusProject). Deshalb soll hier nur die Bestimmung der Sonnenentfernung durch direkten Vergleich zweier Transitfotos kurz beschrieben werden.
14.7.1 Die parallaktische Verschiebung von Venus und die Entfernung der Sonne Um die Orientierung der aufgenommenen Fotos einfach bestimmen zu können, wurde verabredet, die Fotos je zweimal im Abstand von 90 oder 120 Sekunden mit feststehender Kamera zu belichten. Die gegenseitige Verschiebung der beiden Abbildungen der Sonne zeigt dann die exakte Ost-West-Richtung. Skaliert man die Bilder auf dieselbe Größe, dreht sie so, dass die Ost-West-Richtung parallel zu einer Bildkante verläuft, und verschiebt die Bilder so gegeneinander, dass die zuerst aufgenommenen Sonnenbilder exakt übereinander liegen, dann wird der Parallaxeneffekt an Venus direkt sichtbar (im Bild unten links). Solche Bildmanipulationen sind heute mit jedem Bildbearbeitungsprogramm möglich, wenn die Bilder erst in digitaler Form vorliegen.
Essen, 8.00 UT
Namibia, 8.00 UT
526 732 733 734 735 736 737 738 739 740 741 742 743 744 745 746 747 748 749 750 751 752 753 754 755 756 757 758 759 760 761 762 763 764 765 766 767 768 769 770 771 772 773 774
14 Astronomie im Physikunterricht
Abb. 14.8: Kombination zweier Bilder aus Essen und Namibia nach geeigneter Skalierung, Drehung und Verschiebung Selbst gemessene Sonnenentfernung
Der lineare Abstand der beiden Beobachtungsorte ergab sich aus den geografischen Koordinaten zu Δ=1.19RE, der Projektionswinkel zu näherungsweise 90o. Mit den selbst gemessenen Werten für den Radius der Venusbahn (rV=0,73 AE) und den Erdradius (RE =6365 km) ergibt sich daraus der Abstand zur Sonne zu dS = 144000000 km. Um eine noch größere Genauigkeit zu erzielen, wurden während des Transits ganze Bildserien aufgenommen, die es ermöglichen, an die gemessenen Positionen eine Gerade anzupassen und den statistischen Fehler dadurch zu minimieren.
Die in Essen gemessenen Venuspositionen
14.7.2 Schlussfolgerungen Der Nachvollzug der historischen Beobachtungen und der Versuch, eigene Messdaten zu gewinnen, erwiesen sich als schwieriger als erwartet: Die Ansprüche an die Genauigkeit beim Fotografieren hatten wir unterschätzt, mancher Versuch, die eigene Position oder, in Kooperation mit weit entfernten Partnern, den Erdradius mit Hilfe von Messungen mit einem Schattenstab zu bestimmen, scheiterte zunächst an ungenügenden Absprachen oder an zu ungenauen Messungen. Es war aber gerade das Ziel des Projektes, solche Probleme kennen zu lernen und mit ihnen fertig zu werden. Tatsächliche Messungen sind nun einmal viel komplexer als die in Lehrbüchern dargestellten Prinzipien. In der Auseinandersetzung mit dieser Komplexität erfährt und lernt man, was es heißt, Wissenschaft zu betreiben. Nicht zu ersetzen sind die Erfahrungen, die alle Beteiligten bei der internationalen Kommunikation und Kooperation sammeln konnten, insbesondere aber das emotionale Erlebnis, maßgeblich an einem weltumspannenden Projekt beteiligt zu sein.
14.8 Astronomisches Schlechtwetter-Praktikum 775 776 777 778 779 780 781 782 783 784 785 786 787 788 789 790 791 792 793 794 795 796 797 798 799 800 801 802 803 804 805 806 807 808 809 810 811 812 813 814 815 816 817
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14.8 Astronomisches SchlechtwetterPraktikum Nicht immer ist das Wetter gut, wenn im Unterricht ein astronomisches Phänomen behandelt oder astronomisch-physikalischen Fragestellungen nachgegangen werden soll. Nicht immer lassen sich nächtliche Beobachtungen organisieren oder der Rahmen für ein langfristiges Projekt schaffen. Nicht immer stehen die erforderlichen Beobachtungs- und Messgeräte in der Schule zur Verfügung. Für solche Fälle wurde ein „Astronomisches SchlechtwetterPraktikum“ geschaffen. Ihm liegt die Idee zugrunde, selbst dann, wenn direkte eigene Erfahrungen und Messungen unmöglich sind, möglichst nahe an den Erfahrungen Anderer (Schüler, Studierender, aber natürlich auch professioneller Astronomen) zu bleiben und Bilder und Daten, deren Aufnahme nachvollziehbar ist, mit unterschiedlicher Genauigkeit auszuwerten. Zur Zeit enthält das Praktikum die folgenden Aufgaben: • Die Mondentfernung • Der Radius der Marsbahn • Die Messung der Entfernung zur Sonne • Die Methode von Aristarch • Die Methode von Ole Römer • Der Venustransit 2004 • Parallaxenmessung an Kleinplaneten • Doppler-Effekt am Sonnenrand • Doppler-Variation eines Sternspektrums • Eigenbewegung und Parallaxe von Barnards Pfeilstern: • Die Entfernung der Hyaden Die Art der Aufgabenstellung soll an zwei Beispielen kurz erläutert werden. Die vollständigen Aufgaben können über das Internet bezogen werden: www.didaktik.physik.uni-essen.de/~backhaus/astrprak/astrprak.htm
14.8.1 Beispiel: Die Rotation der Sonne und die Astronomische Einheit Die Linien in hoch aufgelösten Spektren des Sonnenrandes zeigen eine kleine gegenseitige Doppler-Verschiebung (Janßen 1999). Sie wird dadurch hervorgerufen, dass sich der Ostrand aufgrund der
Ziel des Praktikums
Die Praktikumsaufgaben
528 818 819 820 821 822 823 824 825 826 827 828 829 830 831 832 833 834 835 836 837 838 839 840 841 842 843 844 845 846 847 848 849 850 851 852 853 854 855 856 857 858 859 860
14 Astronomie im Physikunterricht Rotation der Sonne auf das Telekop zubewegt, der Westrand sich dagegen von ihm entfernt. Bestimmt man aus dieser Verschiebung die Geschwindigkeit des Randes relativ zum Teleskop, dann kann man aus der bekannten Rotationsdauer die Größe der Sonne (in Kilometern) ableiten. Vergleich mit ihrer scheinbaren (Winkel-) Größe liefert dann die Entfernung der Sonne. Bereits die Ableitung aufgrund dieser leicht zu verstehenden prinzipiellen Idee liefert ein recht befriedigendes Ergebnis. Es kann allerdings durch Berücksichtigung von Nebeneffekten weiter verbessert werden.
Abb. 14.9: Spektrum vom Ostrand (oben) und Westrand der Sonne (aus Janßen 1999)
14.8.2 Beispiel: Die Entfernung von Barnards Pfeilstern Die Fixsterne schienen noch fast 300 Jahre nach der Entwicklung des heliozentrischen Systems unendlich weit entfernt zu sein, weil eine parallaktische Reaktion der Sterne auf den Jahresumlauf der Erde um die Sonne unmessbar war. Heute dagegen ist die so genannte Fixsternparallaxe bereits in der Reichweite der Teleskope gut ausgestatteter Amateure und Schulsternwarten gelangt. Passgenau übereinandergelegte Fotos desselben Himmelsausschnittes können deshalb den Nachweis liefern, dass Fixsterne nicht an der Himmelskuppel „fixiert“ sind. Die im Wesentlichen geradlinige und gleichförmige Bewegung erscheint dabei im Rhythmus unserer Jahreszeiten mehr
Literatur 861 862 863 864 865 866 867 868 869 870 871 872 873 874 875 876 877 878 879 880 881 882 883 884 885 886 887 888 889 890 891 892 893 894 895 896 897 898 899 900 901 902 903
529
oder weniger moduliert – der Nachweis, dass sie nicht unendlich weit entfernt sind.
Abb. 14.10: Barnards Pfeilstern am 17.10.93 (Süden), 12.5.94, 22.9.94, 1.5.95 und 10.10.95 (aus Heiser et al. 1996) Die scheinbare Sternbewegung erweist sich als Überlagerung aus Eigenbewegung und parallaktischer Bewegung. Die Praktikumsaufgabe besteht darin, in obigem Bild die beiden Effekte zu trennen und herauszufinden, wie schnell sich Barnards Pfeilstern senkrecht zur Blickrichtung bewegt und wie weit er von uns entfernt ist.
Literatur Backhaus, U. (1990). Bestimmung der Radien von Planetenbahnen mit Fernglas und Sternkarte. Praxis der Naturwissenschaften/Physik 39/5, 10. Backhaus, U. (1997 a). Radius und Neigung der Marsbahn. Astronomie und Raumfahrt 34 (4), 31. Backhaus, U. (1998). Von der Beobachtung astronomischer Phänomene zu eigenen Messungen. Vorträge auf der Frühjahrstagung der DPG in Regensburg. Backhaus, U. (2001). Simultaneously Photographing of the Moon. In: Vorträge auf der Frühjahrstagung der DPG in Bremen. Backhaus, U. (2004). Der Venustransit 2004 – Eine einmalige Chance zur Vernetzung von Wissen, Verfahren und Menschen. Der mathematische und naturwissenschaftliche Unterricht 57/4, 217. Backhaus, U. (2005). Forschen und forschendes Lernen beim Venustransit 2004. Computer im Unterricht 57, 34. Heiser, E., Schröder, R. (1996). Eigenbewegung und Parallaxe von Barnards Pfeilstern. Sterne und Weltraum 35/5, 388. Janßen, K. (1999). Spektroskopie der Sonne, Praktikumsversuche für den Astrophysik-Unterricht, Universitätssternwarte Göttingen, Mai 1999.
530 904 905 906 907 908 909 910 911 912 913 914 915 916 917 918 919 920 921 922 923 924 925 926 927 928 929 930 931 932 933 934 935 936 937 938 939 940 941 942 943 944 945 946
14 Astronomie im Physikunterricht
Lermer, R. (1989). Grundkurs Astronomie. München: Bayerischer Schulbuchverlag. Schmidt, A., Backhaus, U. (2003). Kann die Sonnenentfernung durch Phasenmessungen am Mond bestimmt werden? Vorträge auf der Frühjahrstagung der DPG in Augsburg. Vornholz, D., Backhaus, U. (1996). Wer hat recht – Aristarch oder der Sextant? Astronomie und Raumfahrt 31, 20. Wagenschein, M. (1988). Naturphänomene sehen und verstehen. Stuttgart: Klett. Wagenschein, M. (1992). Verstehen lehren. Weinheim: Beltz.
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43
Volkhard Nordmeier & Hans Joachim Schlichting
15 Chaos und Strukturbildung Die nichtlineare Physik hat sich in wenigen Jahrzehnten zu einem etablierten Forschungsbereich entwickelt. Sie trägt der Tatsache Rechnung, dass die Beschränkung auf lineare Zusammenhänge, wie sie für die klassische Physik aber auch für die Quantenmechanik typisch ist, zahlreichen Phänomenen und Problemen nicht gerecht wird. Strukturbildung, Komplexität, Selbstorganisation, Chaos, Fraktale... das sind nur einige Themenbereiche der modernen Naturwissenschaften, die sich nur mit Hilfe der nichtlinearen Physik beschreiben lassen. Auch die Schulphysik ist davon nicht unberührt geblieben. Neuere Lehrpläne (Schwarzenberger et al. 2005), Schulbücher (z.B. Boysen et al. 2000) und Zeitschriften (z.B. UP 2006) schlagen Zugänge zur nichtlinearen Physik vor. In entsprechenden Lernprozessstudien wurden unterschiedliche Ansätze für den Physikunterricht erprobt und evaluiert (vgl. z.B. Komorek 1998; Korneck 1998, Bell 2003). Ohne eine tiefergehende Bewertung vornehmen zu wollen, sprechen für die Aufnahme von Elementen der nichtlinearen Physik in der Schule zumindest folgende Argumente: • Durch die Auseinandersetzung mit Problemen der nichtlinearen Physik besteht die Möglichkeit, die Schulphysik näher an die aktuelle Forschung und an interessante Probleme der wissenschaftlich-technischen und natürlichen Welt heranzubringen. • Bislang ausgeklammerte Fragen wie etwa: −
Wie kommt es zur selbstorganisierten Entstehung, Aufrechterhaltung und Stabilisierung komplexer Systeme (Strukturen) in der belebten und unbelebten Natur?
−
Wie lassen sich solche Strukturbildungsvorgänge modellhaft erfassen?
−
Welcher Zusammenhang besteht zwischen Form und Funktion komplexer Systeme?
−
Inwieweit lässt sich das Verhalten komplexer Systeme vorhersagen? können an einfachen Beispielen zugänglich gemacht werden.
Lorenz-Attraktor
Argumente für die Aufnahme von Elementen der nichtlinearen Physik in der Schule
532 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81 82 83 84 85 86
15 Chaos und Strukturbildung Im Folgenden werden Möglichkeiten skizziert, grundlegende Phänomene, Fragestellungen und experimentelle Untersuchungen der nichtlinearen Physik in den Physikunterricht aufzunehmen.
15.1 Deterministisch und unvorhersagbar Nichtlineare Physik und Chaos
Eine der größten Herausforderungen der nichtlinearen Physik ist die Beschreibung von Systemen, deren Verhalten im Einzelnen unvorhersagbar ist. Dabei spielt der Zufall eine entscheidende Rolle.
Fadenpendel
Dazu ein Beispiel: Es genügt, die Dynamik eines (mit kleiner Amplitude) frei schwingenden Fadenpendels durch eine Bewegungsgleichung zu erfassen und die Anfangsbedingungen (Startpunkt und Startgeschwindigkeit) zu einem bestimmten Zeitpunkt festzustellen, um durch bloße Rechnung Ort und Geschwindigkeit des Pendels zu jedem beliebigen anderen Zeitpunkt vorherzusagen.
Magnetpendel
Nimmt man eine kleine Modifikation vor, indem man den eisernen Pendelkörper über drei Dauermagneten schwingen lässt, so wird sein Verhalten unvorhersagbar. Das Pendel verhält sich dann ähnlich wie eine Kugel in einem System mit drei verschiedenen Mulden. Wenn sie am Rand einer dieser Mulden losgelassen wird, kommt sie an deren tiefsten Punkt zur Ruhe. Startet die Kugel jedoch von einer höheren Position, so scheitert die Vorhersage, in welcher der Mulden sie schließlich landet. Anschaulich kann man sich dieses Verhalten dadurch klarmachen, dass die Kugel über die ‚Wasserscheiden’ zwischen den einzelnen Mulden hinwegrollt. Dabei kann es von winzigen Unterschieden in der Geschwindigkeit abhängen, ob die Kugel eine Scheide noch überwindet oder zurückrollt. Deshalb kann der Start aus der gleichen Position zu völlig verschiedenen Zielen führen. Wie genau man die Anfangsbedingungen auch zu reproduzieren versucht, es bleibt stets eine Unschärfe. Nur bei unendlicher Präzision, die in der Realität nicht zu verwirklichen ist, wäre das Endverhalten reproduzierbar. Man sagt von solchen Systemen, dass ihr Verhalten sensitiv von den Anfangsbedingungen abhängt.
Schematische Darstellung: Ein Pendelkörper schwingt über Dauermagneten
Einzugsbereiche der einzelnen Magnete eines Magnetpendels
Man kann sich folgendermaßen ein Bild von den komplexen Verhaltensmöglichkeiten dieses Systems machen: Mit Hilfe der newtonschen Bewegungsgleichungen wird für jeden möglichen Startpunkt der Zielmagnet berechnet, über dem das Pendel zur Ruhe kommt. Um das Verhalten grafisch abzubilden, werden den Zielmagneten z.B. die Farben Blau, Gelb und Rot zugeordnet. Die Startpunkte werden jeweils mit der Farbe des Zielmagneten eingefärbt. Auf diese
15.1 Deterministisch und unvorhersagbar 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 100 101 102 103 104 105 106 107 108 109 110 111 112 113 114 115 116 117 118 119 120 121 122 123 124 125 126 127 128 129
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Weise ergibt sich – entgegen der naiven Erwartung – eine sehr komplexe ‚Landkarte’ der Einzugsbereiche der drei Magneten. Das bedeutet, dass kleinste Abweichungen in den Anfangsbedingungen zu völlig verschiedenen Trajektorien (Bahnen) und Endpunkten führen können. Beträgt der anfängliche Unterschied zwischen zwei fast gleichen Bahnen d, so wächst er nach einer für das jeweilige System charakteristischen Zeit t auf 10d. Nach der doppelten Zeit 2t hat sich die Unschärfe schon auf 100d verstärkt, nach 3t auf 1000d usw. Bei einem anfänglichen Unterschied von nur einem Atomdurchmesser beträgt die Unschärfe nach 10t schon etwa 100 Meter! Je kleiner t ist, desto schneller macht sich die Abweichung bemerkbar. Bezüglich ihrer Anfangsbedingungen verhalten sich sensitive Systeme gewissermaßen wie Mikroverstärker, die mikroskopisch kleine Unterschiede exponentiell vergrößern und zu makroskopischen Unterschieden anwachsen lassen. Es ist also „völlig unnütz, die Genauigkeit (mit der die Anfangsbedingungen festgestellt werden) zu vergrößern oder sie sogar zum Unendlichen tendieren zu lassen. Es bleibt bei völliger Ungewissheit, sie verringert sich nicht in dem Maß, in dem die Genauigkeit zunimmt“ (Prigogine et al. 1991, S.55). Dass bestimmte Systeme in ihrem Verhalten nicht vorhersagbar sind, ist den Physikern schon lange bekannt. So bemerkt etwa Georg Christoph Lichtenberg, dass man die „Durchgänge der Venus voraus sagen (kann), aber nicht die Witterung und ob heute in Petersburg die Sonne scheinen wird“ (Lichtenberg 1980, S.281). Beunruhigt war man dadurch allerdings nicht. Denn man schrieb die faktische Unvorhersagbarkeit des Wetters und anderer komplexer Systeme der menschlichen Unzulänglichkeit zu, aufgrund der unüberschaubaren Zahl von Variablen die Anfangsbedingungen zu bestimmen. Pierre Simon Laplace glaubte, dass dies jedoch für einen Dämon mit einer genügend präzisen Beobachtungsgabe und übermenschlichen rechnerischen Fähigkeiten kein Problem und damit die Vorhersage im Prinzip möglich sein sollte. Das Beispiel des obigen Pendels zeigt jedoch, dass es an der Komplexität nicht liegen kann. Auch extrem einfache Systeme können unvorhersagbar sein, weil sie aufgrund ihrer Nichtlinearität sensitiv sind. Im Folgenden werden einige Systeme beschrieben, an denen die nichtlinearen Eigenschaften mit einfachen Mitteln experimentell und/oder theoretisch untersucht werden können.
Laplacescher Dämon
534 130 131 132 133 134 135 136 137 138 139 140 141 142 143 144 145 146 147 148 149 150 151 152 153 154 155 156 157 158 159 160 161 162 163 164 165 166 167 168 169 170 171 172
15 Chaos und Strukturbildung
15.2 Chaotische Schwingungen Chaotische Systeme
Besonders interessant sind Systeme, deren Verhalten unvorhersagbar bleibt. Das ist nur dann möglich, wenn das System nicht zur Ruhe kommt, also entweder keine Reibung auftritt oder das System angetrieben wird, so dass die durch Reibung dissipierte Energie immer wieder ersetzt wird. Reibungsfreie Systeme gibt es in der Realität kaum. Das Sonnensystem mit seinen die Sonne periodisch umkreisenden Planeten kann näherungsweise als reibungsfrei angesehen werden. Henri Poincaré zeigte bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts, dass sich ein System von nur drei Himmelkörpern chaotisch verhalten kann. Die entsprechenden Rechnungen können heute mit Hilfe eines einfachen Computerprogramms durchgeführt werden (siehe z.B. Köhler et al. 2001).
Chaotische Pendel und physikalisches Spielzeug
Für irdische Verhältnisse sind dissipative Systeme realistischer. Für die Belange des Physikunterrichts besonders geeignet sind Spielzeuge, an denen sich die wesentlichen Aspekte des nichtlinearen Verhaltens zumindest qualitativ erarbeiten lassen (Rodewald et al. 1986; Schlichting 1988b, 1990, 1992a). Darüber hinaus gibt es angetriebene chaotische Pendel, die auch quantitative Untersuchungen gestatten (vgl.: Backhaus et al. 1987; Euler 1995; Worg 1993). Einige dieser Oszillatoren werden im Folgenden kurz beschrieben.
15.2.1 Das exzentrische Drehpendel Chaotisches Pohlsches Rad
Schematische Darstellung des exzentrischen Drehpendels
Ein nichtlineares, exzentrisches Drehpendel kann auf einfache Weise aus dem Pohlschen Rad hergestellt werden. Dazu muss der an einer Spiralfeder befestigte schwingende Stab mit einer Zusatzmasse versehen werden bis er kopflastig wird und sich im Gleichgewichtszustand zur einen oder anderen Seite neigt. (Das Gravitationspotenzial spaltet sich auf). An diesem Drehpendel können auf einfache Weise die wesentlichen Grundlagen der nichtlinearen Physik erarbeitet werden. Dieses System ist mehrfach in der fachdidaktischen Literatur beschrieben worden, nachdem es zunächst experimentell (Luchner et al. 1986) und (durch Aufstellung und numerische Lösung der nichtlinearen Differentialgleichung) theoretisch (Backhaus et al. 1990) untersucht worden ist. Das Verhalten des Systems wird in Form eines Ordnungsparameters beschrieben (hier: Winkelausschläge des Pendels aufgrund eines bei passender Frequenz und Amplitude erfolgenden Antriebs). Als Kontrollparameter eignet sich besonders die (durch eine Wirbelstrombremse definiert variierbare) Dämpfung des Systems.
15.2 Chaotische Schwingungen 216 173 174 217 175 218 176 219 177 220 178 221 179 222 180 223 181 224 182 225 183 226 184 227 185 228 186 229 187 230 188 231 189 232 190 233 191 234 192 235 193 236 194 237 195 238 196 239 197 240 198 241 199 242 200 243 201 244 202 245 203 246 204 247 205 248 206 249 207 250 208 251 209 252 210 253 211 254 212 255 213 256 214 257 215 258
535
Abb. 15.1: Feigenbaumszenario des chaotischen Drehpendels: Schwingungsamplitude in Abhängigkeit der Dämpfungsstromstärke. Bei geeigneter Wahl der Parameter und Anfangsbedingungen erhält man zunächst eine reguläre Schwingung. Vermindert man die Dämpfungsstromstärke, so tritt bei einem bestimmten Wert ein neues Verhalten auf. Die Symmetrie wird gebrochen, indem sich das Verhalten nunmehr erst nach zwei Perioden wiederholt. Man spricht von Periodenverdopplung, die sich im Wechsel zweier Amplituden bemerkbar macht. Bei weiterer Verminderung der Dämpfung kommt es abermals zu einer Periodenverdopplung: Es treten vier verschiedene Amplituden auf, ehe sich das Verhalten wiederholt. Nach weiteren Periodenverdopplungen stellt sich schließlich ein nichtperiodisches, chaotisches Verhalten ein. Dieser, auch Feigenbaum-Szenario genannte, geordnete und reproduzierbare Übergang des Systems von einem regulären zu einem völlig chaotischen Verhalten, ist typisch für dissipative Systeme. Daneben gibt es weitere Übergangsszenarien, die auch beim Drehpendel zu beobachten sind. Alle diese verschiedenen Verhaltensweisen werden durch die das System beschreibende nichtlineare Differentialgleichung erfasst.
FeigenbaumSzenario
Betrachtet man die zeitliche Entwicklung der Pendelbewegung im Zustandsraum des Systems, einem abstrakten Parameterraum, der im Falle des Drehpendels durch den Auslenkungswinkel, die Winkelgeschwindigkeit und die Phase der Anregung (bzw. die Zeit) aufgespannt wird, so wickelt sich die Trajektorie des Systems zu einer Spirale auf. Die Periodizität der Anregung wird dadurch berücksichtigt, dass man die Phase zyklisch aufträgt. So läuft die Spiralbahn auf einem Torus um. Es ist üblich, die Komplexität dadurch zu reduzieren, dass die Phase bzw. die Zeit herausprojiziert wird und so eine zweidimensionale Darstellung entsteht. Eine reguläre Schwingung läuft dann auf eine geschlossene Kurve (Grenzzyklus) im zweidi-
Zustandsraum
Zweidimensionaler Phasenraum mit Auslenkungswinkel und Winkelgeschwindigkeit
536
15 Chaos und Strukturbildung mensionalen Zustandsraum (Phasenraum) hinaus. Den Torus oder Grenzzyklus bezeichnet man auch als Attraktor des Systems, weil diese Figur das Systemverhalten gewissermaßen anzieht, von welchen Anfangsbedingungen auch immer der Start erfolgt.
Attraktor
Die Periodenverdopplung kommt im Attraktor durch zusätzliche Schleifen zum Ausdruck, ehe sich die Kurve wieder schließt. Auch das chaotische Verhalten kann durch einen so genannten chaotischen oder seltsamen Attraktor charakterisiert werden. Trotz ihrer Irregularität und Unvorhersagbarkeit verhalten sich die Trajektorien nicht stochastisch, sondern ziehen sich auf einen kompakten Bereich im Zustandsraum zusammen. Da sich aufgrund der Eindeutigkeit der Lösung der Differentialgleichung die Trajektorien nicht schneiden dürfen, entstehen sehr feine, blätterteigartige’, fraktale Strukturen.
15.2.2 Das chaotische Überschlagspendel
Schematische Darstellung des Überschlagspendel mit Antrieb
Das Überschlagspendel besteht aus einem physikalischen Pendel, das starr an der Achse eines schwachen, mit Wechselspannung betriebenen Gleichstrommotors befestigt ist (siehe Boysen et al. 2000, Nordmeier et al. 2006a). Der mit einer geeigneten Frequenz und Amplitude betriebene Motor versucht, dem zweiten Oszillator seine Schwingung aufzuprägen. Je nach Verhältnis der Frequenzen der Schwingung kommt es zu regulären oder chaotischen Bewegungen des Pendels. Auch für dieses System lassen sich ähnliche Untersuchungen durchführen wie beim Drehpendel. In der nebenstehenden Abbildung sind einige typische Ergebnisse dargestellt.
Abb. 15.2: Überschlagspendel: Zeitreihe und zweidimensionaler Phasenraum. Reguläre Zyklen und Übergang zum Chaos bei Erhöhung der Anregungsamplituden
15.2 Chaotische Schwingungen 259 260 261 262 263 264 265 266 267 268 269 270 271 272 273 274 275 276 277 278 279 280 281 282 283 284 285 286 287 288 289 290 291 292 293 294 295 296 297 298 299 300 301
537
15.2.3 Der chaotische Prellball Auf einer sinusförmig schwingenden Lautsprechermembran lässt man einen Tischtennisball hüpfen. Je nach Stoßfrequenz und Amplitude kommt es zu regulären oder chaotischen Bewegungen (vgl. Buttkus et al. 1993).
Chaotisch hüpfender Ball
Die Bewegung des Balls kann wiederum mit Hilfe einer einfachen nichtlinearen Differentialgleichung beschrieben und numerisch simuliert werden. Als Ordnungsparameter bietet sich die Steighöhe des Balles an, die in Abhängigkeit der Schwingungsamplitude der Membran oder der Antriebsfrequenz als Kontrollparameter untersucht wird. Es stellt sich ebenfalls ein für chaotische Systeme typisches Bifurkationsszenario ein. Die Stöße des Balls auf der Membran werden mit Hilfe eines Mikrophons auf einen Kanal eines Zweikanal-Speicher-Oszilloskops übertragen. Auf dem zweiten Kanal wird das Signal des Sinusgenerators aufgezeichnet, der die Membran in Bewegung hält. So können sowohl die beiden Signale über der Zeit getrennt als auch im XYModus gegeneinander auftragen werden. Im ersten Fall erhält man die für reguläres bzw. chaotisches Verhalten typischen Zeitreihen. Im zweiten Fall zeigt sich eine Art Attraktor, der im regulären Schwingungsbereich durch einfach oder mehrfach geschlossene Kurven und bei chaotischen Bewegungen durch ein kompaktes, irreguläres Gebilde gekennzeichnet ist.
Schematische Darstellung des Versuchsaufbaus
Abb. 15.3: Schwingungsmoden: Einer-, Zweier- und Viererzyklus; chaotische Bewegung im XY-Modus
15.2.4 Elektromagnetische Schwinger Ein einfach zu realisierender elektrodynamischer chaotischer Oszillator ist der RCL-Serienschwingkreis, in dem eine Kapazitätsdiode das nichtlineare Element bildet. Die Kapazität variiert nichtlinear mit der anliegenden Spannung. Der Schwingkreis wird mittels eines Frequenzgenerators in der Nähe der Resonanzfrequenz des Schwingkreises periodisch angetrieben.
Chaotischer RCLSchwingkreis
538 302 303 304 305 306 307 308 309 310 311 312 313 314 315 316 317 318 319 320 321 322 323 324 325 326 327 328 329 330 331 332 333 334 335 336 337 338 339 340 341 342 343 344
15 Chaos und Strukturbildung
Phasendiagramm einer chaotischen Schwingung
Abb. 15.4: Schaltskizze zum chaotischen RCL-Schwingkreis
Feigenbaum des RCL-Schwinkreises
Eine mathematische Beschreibung erhält man, wenn man in der Schwingungsgleichung des Systems einen nichtlinearen Ausdruck für die Kapazität einsetzt, der sich aufgrund eines einfachen Modells ergibt (Wierzioch 1988). Experimentell lässt sich das Verhalten unmittelbar mit Hilfe eines Oszilloskops aufzeichnen. Wie der Vergleich der berechneten und experimentell ermittelten Zeitreihen zeigt, ergibt sich eine frappierend gute Übereinstimmung von Experiment und Theorie.
15.2.5 Chaotisches Wasserrad Chaotisches Wasserrad
Das Wasserrad im Experiment
Im Unterschied zu den bisher skizzierten Systemen besitzt das chaotische Wasserrad keinen periodischen, sondern einen kontinuierlichen Antrieb, so dass ihm von außen kein Zeitrhythmus aufgeprägt werden kann. Es muss seinen ‚Rhythmus’ selbst finden, indem es die erzwungenen Bewegungen mit den Systemparametern und dem Energieangebot ‚autonom’ in Einklang bringt. Das Wasserrad besteht aus dem Laufrad eines Fahrrads, das sich um eine horizontal gelagerte Achse drehen kann und dessen Felge mit drehbar gelagerten, nach oben geöffneten Behältern versehen ist. Die Behälter besitzen ein kleines Loch im Boden, durch das Wasser abfließen kann. Wenn die Behälter von oben beregnet werden, wird das Rad aufgrund unterschiedlicher Wasserstände exzentrisch und kann sich in die eine oder andere Richtung drehen (vgl. Nordmeier et al. 2003). Betrachtet man die Drehgeschwindigkeit als Ordnungsparameter und die Wasserzuflussrate als Kontrollparameter, so ergibt sich durch Variation der Zuflussrate das folgende Szenario:
15.2 Chaotische Schwingungen 345 346 347 348 349 350 351 352 353 354 355 356 357 358 359 360 361 362 363 364 365 366 367 368 369 370 371 372 373 374 375 376 377 378 379 380 381 382 383 384 385 386 387
• Beginnt man mit einer sehr kleinen Zuflussrate, so bleibt das Wasserrad zunächst in Ruhe. Selbst, wenn das Rad kurz angestoßen wird, bildet sich die Störung sehr schnell wieder zurück. • Erst wenn die Zuflussrate einen ersten kritischen Wert erreicht, wird das Rad instabil und es kommt zum Symmetriebruch. Das vorher ruhende Rad beginnt, sich in der einen oder anderen Richtung zu drehen. Die Drehrichtung hängt vom Zufall ab. • Bei weiterer Erhöhung der Zuflussrate kommt es bei einem zweiten kritischen Wert zu einem erneuten Symmetriebruch, der sich in einer Drehrichtungsumkehr äußert.
539
Schematischer Aufbau
• Bei fortgesetzter Erhöhung der Zuflussrate tritt ein dritter Symmetriebruch auf. Das Rad dreht sich chaotisch: Nach einigen Umläufen ändert sich jeweils unvorhersehbar plötzlich die Drehrichtung. • Das System geht schließlich bei extrem hoher Zuflussrate infolge eines vierten Symmetriebruchs nach dem Chaos in eine reguläre Schwingung über, das Wasserrad schwingt nun wie ein Drehpendel hin und her.
Symmetriebrüche
Die Bewegungsgleichung des Systems lässt sich unter der Voraussetzung, dass man die Behälter kontinuierlich über die Radfelge verteilt ansieht, mit Hilfe der newtonschen Bewegungsgleichung herleiten. Es handelt sich um eine nichtlineare Differentialgleichung, die mit Hilfe einer linearen Koordinatentransformation in ein System von drei Differentialgleichungen überführt werden kann, das als Lorenz-System bekannt ist (Nordmeier et al. 2003).
Lorenzgleichungen
Lorenzattraktor
Im Zustandsraum, der durch die drei Variablen des Systems aufgespannt wird, erkennt man, dass auch die chaotische Bewegung zu einem kompakten Gebilde, den für dieses System typischen Lorenzattraktor führt.
15.2.6 Der tropfende Wasserhahn Der ‚tropfende Wasserhahn’ gehört zu den ersten Systemen, die als mögliche Realisationen chaotischer Systeme vorgeschlagen wurden (Rössler 1977). Es zeigt sich nämlich, dass die Tropfenfolge eines nicht völlig zugedrehten Wasserhahns nicht nur regelmäßig, sondern auch völlig chaotisch erfolgen kann. Im Unterschied zu den bisher skizzierten Systemen ist dem tropfenden Wasserhahn die Dynamik, die zu diesem Verhalten führt, nicht unmittelbar anzusehen. Erst eine nähere Betrachtung der Dynamik des Tropfvorgangs zeigt, dass es sich hier um die Kopplung zweier Schwingungsvorgänge handelt.
Chaotisch tropfender Wasserhahn
540 388 389 390 391 392 393 394 395 396 397 398 399 400 401 402 403 404 405 406 407 408 409 410 411 412 413 414 415 416 417 418 419 420 421 422 423 424 425 426 427 428 429 430
15 Chaos und Strukturbildung Die eine Schwingung besteht aus dem Anschwellen und Ablösen des Tropfens, die zweite aus dem gedämpften Zurückschnellen des Resttropfens (Buttkus et al. 1995).
Abb. 15.5: Schematischer Aufbau zur Untersuchung des tropfenden Wasserhahns
Abb. 15.6: Bifurkationsdiagramm des chaotisch tropfenden Wasserhahns
Als Ordnungsparameter für das Tropfphänomen bietet sich der Abstand zweier aufeinander folgender Tropfen an, der sich mit Hilfe zweier Lichtschranken messen lässt. Als Kontrollparameter kommt die Fließrate des nachströmenden Wassers in Frage, die proportional zur Wasserhöhe in einem Behälter ist, aus dem das Wasser heraustropft. Das Experiment läuft auf die Messung der Tropfabstände bei verschiedenen Wasserhöhen hinaus. Je nach der Fließrate erhält man eine reguläre oder chaotische Tropffolge, die bei genauerer Untersuchung durch ein Feigenbaumszenario ineinander übergehen. Durch geschicktes Zählen der Tropfen können nicht nur einzelne reguläre und chaotische Bereiche ausgemacht, sondern darüber hinaus kann ein relativ detaillierter Überblick über das Gesamtverhalten in Form zweier gegenläufiger ‚Feigenbäume’ gewonnen werden.
15.3 Dissipative Strukturen Nichtlineare Physik und Dissipative Strukturbildung
Die eigentliche Bedeutung der nichtlineare Physik besteht darin, dass sie wesentliche Aspekte der Realität zu beschreiben vermag, die in der bisherigen Physik und vor allem in der Schulphysik nicht thematisiert wurden. Will man beispielsweise wenigstens im Prinzip verstehen, wie es zu den regelmäßigen Dünen und Sandrippeln in Wüstengebieten oder an Sandstränden kommt, wie die baumartigen Einzugsbereiche von Flüssen entstehen, wie sich Muster von Konvektionszellen in Flüssigkeiten und Gasen stabilisieren, dann kommt man um ein Studium einfacher nichtlinearer Zusammenhänge nicht her-
15.3 Dissipative Strukturen 431 432 433 434 435 436 437 438 439 440 441 442 443 444 445 446 447 448 449 450 451 452 453 454 455 456 457 458 459 460 461 462 463 464 465 466 467 468 469 470 471 472 473
541
um. Eine modellhafte Erfassung nichtlinearer Vorgänge bietet ihrerseits die Grundlage für einen zumindest qualitativen Zugang zu Strukturbildungsvorgängen in der belebten Natur. Um die Gemeinsamkeiten der in den unterschiedlichsten Substraten und Kontexten der belebten und unbelebten Natur auftretenden Strukturbildungsvorgänge auf einheitlicher Grundlage diskutieren zu können, schlagen wir einen thermodynamischen Zugang vor, der auf den Konzepten der Energie und Entropie basiert (Schlichting 2000b). Die thermodynamischen Größen der Energie und Entropie sind auf keine spezielle Disziplin der Physik und Naturwissenschaft beschränkt. Indem sie die Aufmerksamkeit auf Systeme und ihre Wechselwirkungen lenken, ermöglichen sie, mechanische, elektrodynamische, thermodynamische etc. Vorgänge unter einem einheitlichen Gesichtspunkt zu erfassen und darauf aufbauend komplexe Verhaltensweisen zu beschreiben.
Energie und Entropie
Ausgangspunkt ist die Erfahrung im alltäglichen Umgang mit der Energie, dass sie auf ähnliche Weise verbraucht wird wie Wasser im Haushalt. Trotz quantitativer Erhaltung tritt eine qualitative Veränderung auf. Diese Erfahrung lässt sich durch das Konzept der Energieentwertung erfassen, wonach jeder von selbst ablaufende Vorgang mit einer Entwertung von Energie einhergeht, die darin besteht, dass der Vorgang nicht von selbst in umgekehrter Richtung abläuft.
Energieentwertung
Dahinter steckt die Irreversibilität realer Vorgänge, wonach physikalische Systeme dazu tendieren, ins thermodynamische Gleichgewicht überzugehen. In umgekehrter Richtung kann ein Vorgang demnach nur dann ablaufen, wenn gleichzeitig ein irreversibler Vorgang (in natürlicher Richtung) abläuft, so dass die mit der Umkehr verbundene ‚Energieaufwertung’ mindestens ausgeglichen wird.
Irreversibilität
Aus diesem im 2. Hauptsatz der Thermodynamikverallgemeinerten Prinzip ergibt sich, dass mit Energieentwertung einher gehende irreversible Vorgänge insofern als ‚Antrieb’ genutzt werden können, als damit stets andere Vorgänge zurückgespult und damit in die Lage versetzt werden, erneut abzulaufen. Mit anderen Worten: Ein ins thermodynamische Gleichgewicht übergehendes System, wie z.B. unter Druck stehender Dampf, der aus einem Kessel ausströmt, kann ein anderes System, wie z.B. eine Turbine, die in diesen Dampfstrahl gestellt wird, aus dem thermodynamischen Gleichgewicht heraustreiben.
Zweiter Hauptsatz der Thermodynamik
542 474 475 476 477 478 479 480 481 482 483 484 485 486 487 488 489 490 491 492 493 494 495 496 497 498 499 500 501 502 503 504 505 506 507 508 509 510 511 512 513 514 515 516
15 Chaos und Strukturbildung
15.3.1 Bénardkonvektion als dissipative Struktur Bénardkonvektion
Konvektionszellen in einer von unten beheizten Flüssigkeit
Konvektionszellen in Wolken
Eine brennende Kerze stellt ein System dar, das durch Dissipation von hochwertiger chemischer Energie ins thermodynamische Gleichgewicht übergeht. Erwärmt man mit Hilfe der Kerzenflamme z.B. eine Flüssigkeit, so wird diese aus dem thermodynamischen Gleichgewicht herausgetrieben. Dabei können sich spontan Konvektionszellen ausbilden (vgl. z.B. Schlichting 2000b). Im Experiment eignet sich besonders gut Silikonöl, dem zur Visualisierung der entstehenden Strukturen etwas Kupferpulver beigemischt wird. Obwohl dieses Muster – nachdem es einmal entstanden ist – auch bei (nicht zu großen) Störungen sein Aussehen beibehält, befindet es sich mikroskopisch gesehen in ständiger Bewegung. Im Zentrum einer jeden Zelle quillt Flüssigkeit empor und an den Grenzen zu den Nachbarzellen sinkt sie wieder ab. Die thermisch zugeführte Energie bewirkt – trotz innerer Reibung in der Flüssigkeit und der damit verbundenen Tendenz, zur Ruhe zu kommen – dass das System in einem Zustand fernab vom thermodynamischen Gleichgewicht gehalten wird. Da die Energie des Systems im zeitlichen Mittel konstant bleibt, muss die dem System ständig zugeführte Energie in gleichem Maße wieder abgegeben werden. Das geschieht an der Flüssigkeitsoberfläche, an der sich die hochquellende Flüssigkeit abkühlt. Die einzige Veränderung, die im Gesamtsystem (Kerze, Flüssigkeit und Umgebung) zurückbleibt, ist die Entwertung bzw. Dissipation von thermischer Energie, die bei hoher Temperatur zugeführt und bei Umgebungstemperatur abgegeben wird.
Energiedissipation
Strukturen, die wie dieses Zellenmuster durch Dissipation von Energie geschaffen und aufrecht erhalten werden, nennt man dissipative Strukturen (vgl. auch Schlichting 200b).
Selbstorganisation
Ein wesentliches Merkmal dissipativer Strukturen ist die Selbstorganisation, die u.a. darin zum Ausdruck kommt, dass das System zufallsbedingte Störungen zu ‚erkennen’ und abzubauen vermag. Diese Fähigkeit lässt sich auf der Ebene der physikalischen Beschreibung auf die Nichtlinearität der dem Systemverhalten zugrunde liegenden Differentialgleichungen zurückführen.
15.3 Dissipative Strukturen 517 518 519 520 521 522 523 524 525 526 527 528 529 530 531 532 533 534 535 536 537 538 539 540 541 542 543 544 545 546 547 548 549 550 551 552 553 554 555 556 557 558 559
Auch der Symmetriebruch, der mit der Entstehung der Struktur einhergeht, ist ein typisch nichtlinearer Effekt. Solange der auf die Flüssigkeit übertragene Energiestrom ein kritisches Maß nicht überschreitet, bleibt die Flüssigkeit in der Nähe des thermodynamischen Gleichgewichts. Die Energie durchströmt das System durch Wärmeleitung. Am kritischen Punkt wird die Flüssigkeitsschicht instabil, zufällige Fluktuationen werden verstärkt und führen schließlich zum Zellenmuster. Die dem Symmetriebruch zugrunde liegende phasenübergangsähnliche Zustandsänderung lässt sich an zahlreichen Beispielen modellhaft erfassen (Schlichting 1988a; Boysen et al. 2000 S. 96).
543 Symmetriebruch
Bei erneuter Steigerung des Energiestroms kommt es bei einem weiteren kritischen Punkt abermals zu einem Symmetriebruch. Die Zellen verlieren ihre Individualität, indem sie in irregulärem Wechsel vergehen und wieder entstehen. Das System verhält sich chaotisch. Die Bénardkonvektion wird durch das als Lorenzsystem bekannte Differentialgleichungssystem beschrieben, das auch dem chaotischen Wasserrad zugrunde liegt. Die regulären und irregulären Bewegungen des Wasserrades können daher als einfaches mechanisches Modell für die einzelnen Konvektionszellen dienen (Nordmeier et al. 2003). Dieser Zusammenhang verdankt sich der für dissipative Strukturen typischen Reduktion der Freiheitsgrade. Indem sich die zahllosen Elemente des Vielteilchensystems in ein einheitliches kollektives Verhalten einfinden, wird das System (abgesehen von Fluktuationen) so einfach wie ein mechanisches System. Die Bénardkonvektion kann als Paradigma zur Erschließung zahlreicher Vorgänge in der Realität dienen. Von der Strukturierung von Wolkensystemen über geologische Vorgänge im flüssigen Erdinnern bis hin zur Granulation der Sonne reichen die Beispiele, in denen ähnliche Strukturbildungsprozesse stattfinden.
15.3.2 Sand als dissipative Struktur Sand und andere Granulate können durch relativ unspezifische Zufuhr von mechanischer Energie zu einem kollektiven Verhalten angeregt werden, das in äußerst komplexen und ästhetisch ansprechenden dissipativen Strukturen zum Ausdruck kommt.
Vielteilchensysteme
544 560 561 562 563 564 565 566 567 568 569 570 571 572 573 574 575 576 577 578 579 580 581 582 583 584 585 586 587 588 589 590 591 592 593 594 595 596 597 598 599 600 601 602
Strukturbildung bei Granulaten
Sandrippel: durch Wind strukturierter Sand
Strukturierte Bärlappsporen auf einer schwingenden Platte
15 Chaos und Strukturbildung Von den zahlreichen auch mit Schulmitteln zu verwirklichenden Möglichkeiten (vgl. z.B. Schlichting et al. 1996, Nordmeier 2006b, Nordmeier et al. 2006c, Nordmeier et al. 2008) sei hier nur das Beispiel der Strukturbildung von Bärlappsporen genannt, die mit Hilfe einer Lautsprechermembran in Schwingung versetzt werden. Entstehung und Aufrechterhaltung der Struktur in diesem trockenen Substrat kann in unmittelbarem Zusammenhang mit der Strukturbildung in der geheizten Ölschicht diskutiert werden. Es lassen sich vergleichbare Symmetriebrüche und andere Effekte der Selbstorganisation beobachten. Die körnigen Elemente der Granulate erlauben es darüber hinaus, dass ihr kollektives Verhalten auf der Grundlage eines einfachen mechanischen Modells von Stoßprozessen und des schiefen Wurfes in einem Simulationsprogramm erfasst wird. Dadurch können wesentliche Aspekte der Strukturbildung zum Ausdruck gebracht und ein anschauliches Verständnis der zugrunde liegenden nichtlinearen ‚Mechanismen’ vermittelt werden (Schlichting et al. 1996). Auch das Selbstorganisationsverhalten von granularer Materie ist nicht nur für das Verständnis dieses zwischen Flüssigkeit und Festkörper angesiedelten Substrats von Bedeutung, sondern kann aufgrund der leichten experimentellen und theoretischen Zugänglichkeit als Modell für zahlreiche Strukturbildungsvorgänge in der Umwelt dienen.
15.3.3 Dissipative Strukturbildung bei der Entstehung von Flussnetzwerken
Durch abfließendes Wasser hervorgerufene Muster im Sand
Der Amazonas als reales Flussnetzwerk
Wenn nach einem Regenguss oder bei Ebbe im Watt Wasser zur tiefsten Stelle fließt, entstehen hierarchisch verzweigte, fraktale Strukturen, die an Adern, Bäume, Wurzelwerk oder Netzwerke von Flüssen erinnern. Im Rahmen des an den obigen Beispielen skizzierten thermodynamischen Zugangs lassen sich die Entstehung und Aufrechterhaltung dieser Strukturen auf einem für die Schulphysik angemessenen Niveau erschließen (vgl. Schlichting et al. 2000a). Betrachten wir als System eine gleichmäßig beregnete Fläche, die an einer bestimmten Stelle einen Abfluss besitzt. Im stationären Gleichgewicht fließt dem System im Mittel genauso viel Wasser zu, wie durch den Abfluss wieder abfließt. Dabei wird die potenzielle Energie des Wassers vor allem durch Reibung mit dem Untergrund dissipiert. Durch das abfließende Wasser versucht das System ins thermodynamische Gleichgewicht überzugehen. Durch den Wasserzufluss wird es daran gehindert, dass das Gleichgewicht tatsächlich
15.4 Fraktale 603 604 605 606 607 608 609 610 611 612 613 614 615 616 617 618 619 620 621 622 623 624 625 626 627 628 629 630 631 632 633 634 635 636 637 638 639 640 641 642 643 644 645
545
erreicht wird. Das System kommt aber dem Gleichgewicht so nahe wie möglich. Für derartige Fließgleichgewichte hat Ilya Prigogine einen Satz bewiesen, wonach die Energiedissipationsrate minimal ist (Prinzip der minimalen Entropieproduktionsrate). Man kann dieses Minimalprinzip benutzen, um mit Hilfe einer Computersimulation das Muster zu ermitteln, das das System ausbilden wird, wenn es sich auf das stationäre Fließgleichgewicht zu entwickelt (Schlichting et al. 2000a). Dazu konstruiert man zunächst ein zufälliges Flussnetzwerk, wie es sich vielleicht zu Beginn entwickelt, wenn die ersten Tropfen gefallen sind und sich zu kleinsten Flussabschnitten vereinigen. Dann verfolgt man, wie sich unter der Bedingung der minimalen Energiedissipationsrate das Netzwerk auf eine optimale Struktur hin entfaltet. Wie die Computersimulation eines derartigen Flussnetzwerkes zeigt, weist das Muster dieser Struktur große Ähnlichkeit mit realen natürlichen Flussnetzwerken auf.
Fließgleichgewichte
Simulation eines Flussnetzwerkes
15.4 Fraktale Wie die selbstorganisierte Ausbildung eines Flussnetzwerkes und zahlreiche andere Beispiele zeigen, tendiert die Natur zur Ausbildung „nichtlinearer“ Strukturen. Demgegenüber ist die menschliche Anschauung auf vielfache Weise durch eine lineare Sehweise geprägt. Straßen und Eisenbahntrassen werden gemäß dem Ideal der Geraden entworfen, selbst natürliche Flussläufe wurden lange Zeit diesem Ideal durch Begradigung untergeordnet. Die Gestalt unserer Häuser entspringt der Idee des Quaders, und würde der Mensch nicht durch ökonomische Zwänge dazu veranlasst, bei der Gestaltung von Kraftfahrzeugen den naturgegebenen Zusammenhängen zwischen Form und Strömungswiderstand Rechnung zu tragen, so würden die Straßen heute vermutlich von Quadern oder Würfeln befahren. Obwohl diese Sehweise insbesondere im Bereich technischer und naturwissenschaftlicher Errungenschaften vor allem aufgrund einer leichten Berechenbarkeit über Jahrhunderte hinweg sehr erfolgreich war, stößt sie doch bei der Modellierung komplexer Systeme auf ihre Grenzen. Viele Strukturen lassen sich mit den Grundelementen der euklidischen Geometrie nur sehr unzureichend beschreiben und genügen insbesondere nicht mehr den in den letzten Jahrzehnten gewachsenen mathematisch-geometrischen Anforderungen im Bereich der nichtlinearen Physik. Die trivial erscheinende Aussage Benoit B. Mandelbrots „Wolken sind keine Kugeln, Berge keine
Nichtlineare Physik und fraktale Geometrie
546 646 647 648 649 650 651 652 653 654 655 656 657 658 659 660 661 662 663 664 665 666 667 668 669 670 671 672 673 674 675 676 677 678 679 680 681 682 683 684 685 686 687 688
15 Chaos und Strukturbildung Kegel, Küstenlinien keine Kreise. Die Rinde ist nicht glatt - und auch der Blitz bahnt sich seinen Weg nicht gerade.“ (Mandelbrot 1987) wird erstmalig ‚ernst’ genommen und unter dem Namen fraktale Geometrie der Natur zum mathematisch- wissenschaftlichen Programm. Insbesondere in der Mathematik und der Physik etablierte sich die Theorie der Fraktale als ein effizientes und wirkungsvolles Instrument zur naturwissenschaftlichen Beschreibung komplexer Strukturbildungsphänomene aus der belebten oder unbelebten Natur bzw. nichtlinearer dynamischer Systeme. Der Begriff des Fraktals ist heute sogar Bestandteil der Alltagssprache geworden. Indem das Konzept des Fraktals die äußere Struktur komplexer Systeme nicht nur als wesentliches Merkmal zur Kenntnis nimmt, sondern Zusammenhänge zwischen (äußerer) Struktur und (innerer) Funktion zu erfassen versucht, werden neue wissenschaftliche Problemstellungen und alternative Zugänge zu den Gegenständen insbesondere auch der belebten Natur eröffnet. Der Physikunterricht kann davon zumindest auf zweierlei Weise profitieren. Zum einen wird ein unmittelbarerer Zugang zu den Gegenständen der natürlichen Umwelt ermöglicht, als es die über die linearisierten Idealgestalten der klassischen Physik möglich war. Zum anderen werden aktuelle Problembereiche und neue Fragestellungen aus der Perspektive des Physikunterrichts thematisiert, die dem Interesse der Lernenden entgegenkommen.
15.4.1 Elemente der fraktalen Geometrie Obwohl sich die fraktale Geometrie auf unmittelbar wahrnehmbare reale Strukturen (wie Adersysteme, Wolken, Pflanzen, Landschaftsformen) oder durch numerische Verfahren visualisierbare abstrakte Strukturen (Koch- Kurve, Mandelbrotmenge, chaotische Attraktoren) bezieht, wird der Zugang oft durch die euklidisch geprägte Anschauung erschwert. Hinzu kommt, dass die Aspekte, die durch Fraktale erfasst werden, bislang entweder überhaupt nicht wahrgenommen wurden oder als wissenschaftlich irrelevant galten. Insofern muss das Problembewusstsein für die Fraktale überhaupt erst ausgebildet werden. Fraktale Dimension und Selbstähnlichkeit
Was sind Fraktale? Rein anschaulich gesprochen versucht man mit dem Konzept des Fraktals die Strukturiertheit, Zerklüftung, Unebenheit etc. von realen und abstrakten Gegenständen zu erfassen. Mathematisch geschieht das dadurch, dass man die Eigenschaften von Fraktalen mit Hilfe von mengen- und maßtheoretischen Konzepten beschreibt. Demnach handelt es sich um Objekte, die neben der
15.4 Fraktale
732 689 690 733 691 734 692 735 693 736 694 737 695 738 696 739 697 740 698 741 699 742 700 743 701 744 702 745 703 746 704 747 705 748 706 749 707 750 708 751 709 752 710 753 711 754 712 755 713 756 714 757 715 758 716 759 717 760 718 761 719 762 720 763 721 764 722 765 723 766 724 767 725 768 726 769 727 770 728 771 729 772 730 773 731 774
547
topologischen Dimension DT eine fraktale Dimension D, d.h. eine positive reelle Maßzahl mit D > DT besitzen, die gewissermaßen zwischen den topologischen Dimensionen interpoliert und auf diese Weise eine quantitative Unterscheidung beispielsweise zwischen einer ‚Zick-Zack-Kurve’ und einer Geraden, also Objekten derselben topologischen Dimension, erlaubt. Hinzu kommt, dass Fraktale in den meisten Fällen skaleninvariante bzw. selbstähnliche Gebilde darstellen. Es existieren verschiedene Ansätze, fraktalen Mengen eine fraktale Dimension zuzuordnen (vgl. Nordmeier 1999). Neben dem Grad an Rauhigkeit, Kompliziertheit oder Irregularität beschreibt die fraktale Dimension auch den Raumbedarf des betrachteten Fraktals. Zugleich stellt die fraktale Dimension aber auch ein Maß für die Massenverteilung oder die Inhomogenität der Substanz dieser Gebilde dar. Für Fraktale, die zudem Selbstähnlichkeiten aufweisen, beschreibt die fraktale Dimension den Grad an inneren Korrelationen. Im geometrischen Sinne gibt sie beispielsweise im Bereich 1 < D < 2 an, wie flächig sich eine Kurve gestaltet. Gilt z.B. D ≈ DT = 1 , so besitzt die Kurve kaum Struktur, sie ähnelt einer Strecke. Je größer nun D mit D > DT wird, desto strukturierter wird die Form der Kurve, eine mögliche Approximation durch Streckenzüge wird immer schwieriger. Erreicht D schließlich fast den Wert D ≈ DT + 1 = 2 , so besitzt die Kurve eine so flächig strukturierte Form, dass sie als ein Objekt mit der topologischen Dimension Zwei verstanden werden kann, die Kurve wird fast zur Fläche.
Interpretationen
Die fraktale Dimension vermittelt also zwischen den uns bekannten ganzzahligen topologischen Dimensionen und kann rationale oder auch irrationale Zahlenwerte annehmen. Im Folgenden sollen exemplarisch zwei einfache Bestimmungsmethoden der fraktalen Dimension - die Zirkel- und die Box-Dimension - skizziert werden, mit deren Hilfe die äußere Struktur von Fraktalen analysiert werden kann (vgl. auch Nordmeier 1999; Peitgen et al. 1992, Schlichting 1992b). Zur Untersuchung fraktaler Attraktoren bedarf es andersartiger Analysemethoden, wie z.B. der Korrelations- oder der punktweisenDimension (vgl. Nordmeier et al. 1996).
Fraktale Zirkel-Dimension Wie berechnet sich nun die ‚Zerklüftung’ eines Fraktals? Eine mögliche Methode – die sog. Zirkelmethode – basiert auf einem einfachen Phänomen: Will man den Umfang eines fraktalen Objektes messen, so stellt man fest, dass dieser in Abhängigkeit des verwendeten Maßstabes variiert: je kleiner der Maßstab, desto größer
Zirkel-Dimension
548
15 Chaos und Strukturbildung der Umfang – und umgekehrt. Das Verhältnis von Maßstab und Umfang offenbart dabei die Fraktalität der Struktur: In Analogie zur Entfernungsmessung auf einer Landkarte lässt sich der Umfang eines Fraktals z.B. mit Hilfe eines Stechzirkels approximieren: Man stellt den Zirkel auf eine bestimmte Weite ein, wählt einen beliebigen (aber festen) Startpunkt auf dem Rand der Figur und beginnt nun, die Umrandung polygonartig abzutasten.
Schematische Darstellung
Abb. 15.7: Bestimmung der Zirkel-Dimension. Hier ergibt sich: D ≈ 1,4
Zählt man die Anzahl der notwenigen ‚Einstiche’ N, die in Abhängigkeit der Zirkelweite A notwendig sind, um das Objekt vollständig zu umfahren, so ergibt sich bei doppeltlogarithmischer Auftragung des reziproken Wertes der Zirkelweite und der Anzahl der Stiche ein −D linearer Zusammenhang: N ( A ) ~ A . Dieser Zusammenhang lässt sich also durch ein Potenzgesetz beschreiben. Trägt man die Zirkelweite A und den entsprechenden Umfang L = A ⋅ N ( A) doppeltlogarithmisch auf, kann man auch aus diesem Diagramm die fraktale 1− D Dimension anhand der Steigung des Graphen bestimmen: L ~ A .
Fraktale Box-Dimension Box-Dimension
Überdeckt man ein fraktales Muster mit quadratischen Gittern und bestimmt die Anzahl N der durch das Objekt belegten oder berührten Gitterplätze in Abhängigkeit der Maschenweite ε , so ergibt sich −D auch hier ein Potenzgesetz: N ( ε ) ~ ε . Auch diese sog. BoxDimension ist ein Maß für die Rauhigkeit oder Zerklüftetheit des untersuchten Gebildes. Im mathematischen Sinne liefern die beschriebenen Methoden gleichwertige Ergebnisse. Die äußere Umrandung der analysierten Figur besitzt eine fraktale Dimension von D ≈ 1,4 .
15.4 Fraktale 775 776 777 778 779 780 781 782 783 784 785 786 787 788 789 790 791 792 793 794 795 796 797 798 799 800 801 802 803 804 805 806 807 808 809 810 811 812 813 814 815 816 817
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Abb. 15.8: Methode zur Bestimmung der fraktalen Box-Dimension: Ein Fraktal wird mittels unterschiedlicher Gitter überdeckt, aus der Steigung des Graphen lässt sich bei doppeltlogarithmischer Auftragung von Gitterweite und Anzahl überdeckter Anteile die fraktale Dimension ablesen.
15.4.2 Fraktale als physikalische Objekte Im Gegensatz zu den mathematischen Fraktalen, die oftmals als statische Objekte klassifiziert werden, bezieht sich ein physikalisches Fraktal eher auf den prozesshaften, dynamischen Charakter eines Systems: Das im tatsächlichen (z.B. bei den Wachstumsfraktalen) wie im mathematischen Sinne (z.B. bei der Struktur eines chaotischen Attraktors) sichtbare fraktale Muster offenbart sich gleichsam als physikalisch deutbare Verhaltensweise des Systems. Das Fraktal als gerade wahrgenommener Systemzustand oder ‘Momentaufnahme’ eines fortwährenden Entstehungsprozesses lässt sich also als eine Art Abbild physikalischer Gesetzmäßigkeiten interpretieren, die z.B. das für nichtlineare Strukturbildungsphänomene charakteristische Verhältnis von Zufall und Notwendigkeit widerspiegelt (vgl. Schlichting 1994). In Analogie dazu macht bei den mathematischen Gebilden nicht die momentane Erscheinung oder Darstellung, sondern der bis ins Unendliche fortgesetzt gedachte Konstruktionsprozess den wesentlichen Aspekt eines Fraktals aus. Beispiele für physikalische Fraktale, die mit einfachen Mitteln experimentell erzeugt werden können, sind die spontanen Strukturbildungen bei Wachstumsfraktalen, wie z.B. bei schnellen elektrischen Entladungen (beim Blitz oder den so genannten LichtenbergFiguren), die feingliederigen Aggregationen bei der elektrolytischen Anlagerung, die verzweigten Muster beim viskosen Verästeln oder die Fettbäumchen (vgl. Nordmeier 1993 und 1999; Schlichting 1992b; Komorek et al. 1998).
Physikalisches Wachstumsfraktal
Experimente zu Wachstumsfraktalen
550 818 819 820 821 822 823 824 825 826 827 828 829 830 831 832 833 834 835 836 837 838 839 840 841 842 843 844 845 846 847 848 849 850 851 852 853 854 855 856 857 858 859 860
15 Chaos und Strukturbildung
Fettbäumchen Fettbäumchen
Wird zwischen zwei Plexiglasplatten eine stark viskose Flüssigkeit (z.B. Glyzerin oder flüssige Seife) eingeschlossen, so ‚wachsen’ beim Auseinanderziehen der beiden Scheiben fraktale Fettbäumchen in Form verzweigter Luftkanäle in das zurückweichende Fluid hinein. Für dieses einfache Experiment benötigt man lediglich zwei dünne Glas- oder Plexiglasplatten (ca. 10cm x 8cm), die aufeinander gelegt und an einem Rand mit Klebeband verbunden werden; die Klebekante fungiert als ‚Scharnier’. Ähnliche Muster entstehen beim Foliendruck: Wird auf eine mit Farbe (z.B. Abtönfarbe) betropfte Folie ein Blatt Papier gedrückt und wieder abgezogen, so ergeben sich je nach verwendeter Farbe und Drucktechnik unterschiedlich fein verästelte, fraktale Strukturen. Mit Hilfe einer mit einem Farbklecks versehenen Plexiglasscheibe lassen sich auch ‚fraktale Stempel’ erzeugen (vgl. Nordmeier 1999).
Viskoses Verästeln Viskoses Verästeln
Durchdringt oder verdrängt eine wenig viskose Flüssigkeit (z.B. zur Sichtbarmachung eingefärbtes Wasser) eine Flüssigkeit mit höherer Viskosität (z.B. flüssige Seife oder Glyzerin), so entstehen fraktal verzweigte Kanalnetzwerke. Diese Musterbildung wird als viskoses Verästeln bezeichnet.
Schematische Darstellung einer Hele-Shaw-Zelle
Ein einfacher Versuchsaufbau - die sog. Hele-Shaw-Zelle - besteht aus zwei Plexiglasscheiben, zwischen die mit Hilfe von Einwegspritzen nacheinander verschieden viskose Flüssigkeiten gepresst werden (vgl. Nordmeier 1999; Schlichting 1992b).
Elektrolytische Anlagerung Elektrolytische Anlagerung
Die Ausbildung fraktaler Strukturen kann auch dort beobachtet werden, wo sich Metalle bei der Elektrolyse von Salzlösungen an der Kathode niederschlagen wie bei der sog. elektrolytischen Anlagerung. In einem einfachen radialsymmetrischen Aufbau wird dazu eine am Innenrand mit einer Elektrode (z.B. Drahtschlaufe, Anode) versehene Petrischale mit einer ionischen Lösung befüllt (z.B. Kupfer- oder Zinksulfat) und in der Mitte der Flüssigkeit eine Metallspitze als Kathode positioniert. Durch Anlegen einer Gleichspannung von einigen Volt (5V bis 15V, je nach Größe der Petrischale) lassen sich bereits nach kurzer Zeit kleinste Anlagerungen an der Kathode beobachten: die Kationen (z.B. Zn2+) wandern zur Kathode und lagern sich dort an (vgl. Nordmeier 1993 und 1999).
15.4 Fraktale 861 862 863 864 865 866 867 868 869 870 871 872 873 874 875 876 877 878 879 880 881 882 883 884 885 886 887 888 889 890 891 892 893 894 895 896 897 898 899 900 901 902 903
551
15.4.3 Fraktale als nichtlineare Systeme Im Rahmen der Chaosforschung kommt der geometrischen Visualisierung und Analyse chaotischer Attraktoren im so genannten Zustandsraum (s.o.) eine wesentliche Bedeutung zu. Dabei lassen insbesondere die bei der Existenz fraktaler Attraktoren berechenbaren topologischen Maßzahlen elementare Eigenschaften und Charakteristika der Dynamik solcher Systeme erkennen (vgl. z.B. Nordmeier 1996).
Fraktale Attraktoren
Die Verwendung des Konzepts Fraktal geht also insofern über die reine Beschreibung einer geometrischen Struktur hinaus, als aus den strukturellen Eigenschaften bereits detaillierte Aussagen über das zugrunde liegende Systemverhalten gewonnen werden können. Die Idee einer Beschreibung komplexer naturwissenschaftlicher Phänomene als Fraktale steht also in unmittelbarem Zusammenhang mit den Prinzipien und Gesetzmäßigen, die im Rahmen der Erforschung dynamischer Systeme im Bereich der Chaostheorie oder der Synergetik zu einer neuen Sehweise in den Naturwissenschaften und insbesondere in der Physik - der nichtlinearen Physik - geführt haben. Mit Hilfe des Begriffs ‘Fraktal’ lassen sich auch raum-zeitliche Phänomene erfassen, deren Strukturen oder sichtbare (geometrische) Muster als ‘ausgefranst’, ‘nicht gerade’ oder als „Strukturen mit ‘unendlich’ feinen Details“ (vgl. Schroeder 1994) beschrieben werden. Die Unterscheidung ‘linear / nichtlinear’ lässt sich damit um den Gegensatz ‘geradlinig, glatt / fraktal’ erweitern. „Gemeinsam ist Chaostheorie und fraktaler Geometrie, dass sie der Welt des Nichtlinearen Geltung verschaffen. Lineare Modelle kennen kein Chaos und deshalb greift das lineare Denken oft zu kurz, wenn es um die Annäherung an natürliche Komplexität geht.“ (Peitgen et al. 1992, S.viii)
15.4.4 Fraktale als Thema des Physikunterrichts Im Kontext eines generischen Fraktal-Konzeptes (Nordmeier 1999) lassen sich Wachstumsfraktale als dynamische, synergetische Strukturbildungsprozesse verstehen und unter morphologischen Gesichtspunkten beschreiben. Dieser Ansatz ermöglicht es, im Sinne einer ganzheitlichen naturwissenschaftlichen Sichtweise elementare Zusammenhänge zwischen Struktur (fraktale Geometrie), Funktion (Wachstums- und Transportprozess) und Morphologie (Gattung)
Ein generisches Fraktal-Konzept
552 904 905 906 907 908 909 910 911 912 913 914 915 916 917 918 919 920 921 922 923 924 925 926 927 928 929 930 931 932 933 934 935 936 937 938 939 940 941 942 943 944 945 946
15 Chaos und Strukturbildung herzustellen. Als Ergebnis resultiert ein Zugang zu fraktalen Wachstumsphänomenen, der mathematisch-geometrische, phänomenologische, physikalisch-theoretische, morphologische und systemtheoretische Bedeutungsebenen fraktaler Strukturbildung konzeptuell verknüpft.
1. Mathematisch-geometrische Aspekte Fraktale als geometrische Muster
Die äußere Form von Wachstumsfraktalen lässt sich mit Hilfe der fraktalen Geometrie analysieren. Die fraktale Dimension stellt ein universelles Maß dar: Fraktale, die sich global ähneln (bzgl. ihrer geometrischen Gestalt), besitzen in etwa auch die gleiche fraktale Dimension. Die lokalen Eigenschaften, wie z.B. die exakte Ausprägung eines Teilausschnittes, können dagegen Unterschiede aufweisen. Wachstumsfraktale, die in vielfältiger Weise und in vielen Größenordnungen ähnlich hierarchisch verzweigte Verästelungen ausprägen, sind im statistischen Sinne selbstähnlich bzw. skaleninvariant.
2. Phänomenologische Aspekte Fraktale als reale Phänomene und im Experiment
Wachstumsfraktale lassen sich anhand einfacher Anschauungsobjekte und vielfältiger Experimente untersuchen. Viele Experimente eignen sich für eine erste qualitative Erforschung der Bedeutung der Fraktalität und zum Auffinden relevanter physikalischer Größen sowie deren Wirkungszusammenhänge (vgl. Nordmeier 1999).
3. Physikalisch-theoretische Aspekte Fraktale modelliert als physikalische Prozesse
Modelliert man Wachstumsfraktale als dynamische Systeme, so kann die jeweilige Strukturbildung als Transportprozess in einem Gradientenfeld beschrieben werden. Die Dynamik an der Grenzfront genügt dann der Laplace-Gleichung (vgl. Tabelle 1). Es findet eine raumzeitliche Strukturbildung statt, die kennzeichnend ist für das Zusammenwirken von Gesetz und Zufall: Nach deterministischen Gesetzmäßigkeiten fortschreitende Grenzfronten werden nach statistischen Gesetzmäßigkeiten instabil. Zufällige Fluktuationen oder kleinste Störungen an der Grenzfront verstärken sich selbst, und der weitere Verlauf des Wachstums findet bevorzugt an diesen Stellen statt. Die numerische Simulation der Strukturbildung stützt sich dabei stark auf statistische Elemente (s.u.).
15.4 Fraktale 947 948 949 950 951 952 953 954 955 956 957 958 959 960 961 962 963 964 965 966 967 968 969 970 971 972 973 974 975 976 977 978 979 980 981 982 983 984 985 986 987 988 989
553
Elektrolytische Anlagerung Konzentration: c elektrisches Potential:
Viskoses Verästeln
Elektrische Entladungen
Druck: p
elektrostatisches Potential: U
Strömungsgeschwindigkeit:
Ausbreitungsgeschwindigkeit: V ~ | E |n ~ | - grad U |n
U Anlagerungsrate:
v ~ −grad c
v ~ −grad p
v ~ E ~ −grad U
Kontinuität, Inkompressibilität und Stationarität: div v = 0 Laplace-Gleichung:
∇2c = 0
u.
∇ 2U = 0
∇2 p = 0
∇ 2U = 0
Tabelle 1: Vergleich sind die grundlegenden physikalischen Gesetzmäßigkeiten zur Modellierung fraktaler Wachstums- phänomene wie z.B. der elektrolytischen Anlagerung, des viskosen Verästelns oder der schnellen elektrischen Entladungen dargestellt.
Abb. 15. 9: Die in Tabelle 1 skizzierten Zusammenhänge lassen sich weitergehend elementarisieren und anhand einfacher Simulationen visualisieren: Dargestellt sind verschiedene Wachstumsstadien eines mit Hilfe des erweiterten sog. DLA-Modells simulierten Hele-ShawFraktals.
Abb. 15.10: Wachstumsfraktale unterschiedlicher Herkunft mit nahezu gleich großen fraktalen Dimensionen.
Links: Eisen-Mangan-Abscheidung auf Solnhofener Plattenkalk; Mitte: Hele-Shaw-Fraktal; Rechts: Bacillus-Subtilis-Kolonie.
554 990 991 992 993 994 995 996 997 998 999 1000 1001 1002 1003 1004 1005 1006 1007 1008 1009 1010 1011 1012 1013 1014 1015 1016 1017 1018 1019 1020 1021 1022 1023 1024 1025 1026 1027 1028 1029 1030 1031 1032
15 Chaos und Strukturbildung
4. Morphologische Aspekte Die Verknüpfung der mathematisch-geometrischen und der physikalischen Aspekte gelingt generisch: Fraktale Muster als gattungshafte Morphologien offenbaren funktionale Zusammenhänge zwischen der Gestalt bzw. der äußeren Form und dem physikalischen Entstehungsprozess. Die äußere Erscheinungsform eines Fraktals, insbesondere auch die zeitliche Aufrechterhaltung seiner Struktur, spiegelt die zugrunde liegenden selbstorganisierten Strukturbildungsmechanismen wider. So verschieden die jeweiligen (mikroskopischen) physikalischen Bedingungen bei der Entstehung fraktaler Muster auch sein mögen, die gewählte und makroskopisch sichtbare Morphologie deutet unabhängig vom betrachteten System auf universelle und allgemeingültige Prinzipien bei der dissipativen Strukturbildung hin. Darüber hinaus wird die Universalität morphologischer Aspekte im Rahmen einer interdisziplinären Betrachtung fraktaler Strukturen deutlich: Überall bilden sich unter prinzipiell ähnlichen Randbedingungen auch ähnliche Morphologien aus. So lässt sich die oftmals beobachtete Selbstähnlichkeit von Wachstumsfraktalen gleichsam als ein makroskopisch manifestierter Ausdruck der gewählten Morphologie verstehen.
5. Systemtheoretische Aspekte Fraktale als nichtlineare komplexe Systeme
Wachstumsfraktale als Inbegriff des Nichtlinearen können im Rahmen einer synergetischen Betrachtungsweise als selbstorganisierte (irreversible) Strukturbildungsprozesse in offenen, energiedurchflossenen dissipativen Systemen interpretiert werden. Im Fließgleichgewicht folgen sie dem Prigogineschen Ökonomieprinzip, fernab des thermodynamischen Gleichgewichtes sind sie transient chaotisch. Bezüglich des Energie- bzw. des Materietransportes verhalten sich fraktale Wachstumsstrukturen in beiden Fällen ‘optimal’: Die jeweils ausgeprägte Morphologie repräsentiert die vom System unter den gegebenen Randbedingungen realisierte optimale Struktur. Dies wird besonders deutlich im Bereich der belebten Natur: Die fraktal strukturierten Organe wie beispielsweise Lunge, Leber, Aderngeflecht oder auch pflanzliche Wurzel- oder Geästnetzwerke stellen Optimierungen dar, die sich im Laufe der evolutionären Entwicklung herausgebildet haben (Sernetz 2000). Die Organe lassen sich im Sinne fraktaler Grenzflächen als stark ‚zerklüftete’ Oberflächen deuten. Diese Eigenschaft wirkt sich insbesondere auf die Bedingungen und Möglichkeiten des metabolischen Austausches mit der Umgebung aus (vgl. Schlichting et al. 1993). Diese unterschiedlichen Aspekte eröffnen differenzierte und vielschichtige Zugänge zu Wachstumsfraktalen als komplexe physika-
Literatur 1033 1034 1035 1036 1037 1038 1039 1040 1041 1042 1043 1044 1045 1046 1047 1048 1049 1050 1051 1052 1053 1054 1055 1056 1057 1058 1059 1060 1061 1062 1063 1064 1065 1066 1067 1068 1069 1070 1071 1072 1073 1074 1075
555
lische Phänomene, die über den Ansatz der mathematischen Beschreibung im Sinne der fraktalen Geometrie hinausgehen. Als Teilgebiet der nichtlinearen Physik können Wachstumsfraktale so auch im Physikunterricht thematisiert und bereits mit einfachen schulischen Mitteln experimentell erforscht werden.
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Manfred Euler
16 Wege in die Nanowelt 16.1 Mikro, Nano & technologischer Wandel Anders als bei den großen technologischen Revolutionen der Vergangenheit sind es heute eher die kreativen Ideen im Kleinen, die bedeutsame Innovationen vorantreiben. Mit Techniken der Mikrostrukturierung lassen sich Systeme im Mikrometer-Bereich mit vielfältigen elektronischen, mechanischen, optischen oder fluidischen Funktionen schaffen. In der Nanotechnologie erreicht die Miniaturisierung ihre molekulare und atomare Grenze. Während Mikrosysteme noch analog zu geeignet verkleinerten klassischen Makrosystemen arbeiten, kommt es auf der Nanometer-Skala vor allem aufgrund quantenmechanischer Effekte zu neuen Eigenschaften, die nunmehr technologisch erschlossen werden.
Nanowissenschaft und Nanotechnologie:
Die Nanowissenschaft gilt als die Schlüsseldisziplin des 21. Jahrhunderts. Als Querschnittswissenschaft vereinigt sie Grundlagen aus Physik, Chemie und Biologie. Die Erwartungen sind hoch: Mit Erkenntnissen aus der Nanowelt lassen sich viele bestehende Technologien verbessern und verlässlicher, effizienter und ressourcenschonender gestalten. In der Computertechnik verspricht man sich von der Verkleinerung in den Nano-Bereich und der Nutzung von Quanteneffekten einen gigantischen Sprung der Rechenleistung. In den Lebenswissenschaften ermöglichen Nano-Werkzeuge ein besseres Verständnis komplexer biologischer Prozesse. Das Lernen von der Natur erreicht auf der Ebene von Nanomaschinen und -systemen eine neue Qualität. Es wird die Biotechnologie und die Medizin verändern, aber auch zu neuen Entwicklungen in ganz anderen Bereichen führen, etwa zu biologisch inspirierten Materialien mit intelligenten, adaptiven Eigenschaften.
Eigenschaften von Nanosystemen werden entscheidend von ihrer Größe bestimmt.
All diese beispielhaften Entwicklungen bergen neben faszinierenden Potenzialen auch Risiken. Die Nanotechnologie wird unsere Lebenswelt ebenso verändern, wie es derzeit bereits geschieht, angetrieben durch die Entwicklungen in der Informations- und Kommunikationstechnologie. Der aufgeschlossene, mündige, wissenschaftliche gebildete Bürger ist gefragt, der die Chancen von Innovationen nutzt und ihre Risiken abwägt. Dementsprechend bestehen große Herausforderungen an das schulische sowie das lebenslange Lernen.
Querschnittsdisziplin Nanowissenschaft und Anwendungen
Charakterisierung, Modellierung, Herstellung und Anwendung von atomaren und molekularen Systemen in der Größenordnung von Nanometern.
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16 Wege in die Nanowelt
16.1.1 Bilder eines komplexen Nanokosmos Atome galten noch zu Beginn des letzten Jahrhunderts als hypothetische Gebilde, deren Existenz sich nur indirekt über nichttriviale theoretische Argumente erschloss. Die Erfindung des Rastertunnelmikroskops (STM) mit der Möglichkeit, einzelne Atome sichtbar zu machen und als individuelle Objekte zu manipulieren, kann als die eigentliche Geburtsstunde der experimentellen Nanowissenschaft gelten. Mit der Weiterentwicklung geeigneter Abbildungs- und Manipulationstechniken vollzieht sich eine rasante Entwicklung des Gebiets. Die damit einhergehende Visualisierung eines faszinierend vielfältigen, wandlungsfähigen, kreativen Nanokosmos unterstreicht, wie sehr unsere Fähigkeit, Komplexes und Abstraktes zu verstehen und für Anwendungen zu erschießen, mit Bildern und Verankerungen in der konkreten Erfahrungswelt verbunden ist. Auch hier bestätigt sich, dass es keine Einsicht ohne innere Bilder gibt. Atome werden im Rastertunnelmikroskop (STM) sichtbar und begreifbar: Aufbau eines „Corrals“ aus Fe-Atomen auf Cu (Eigler, IBM). STM-Abbildungen sind „verbildlichte“ Quantentheorie: Man erkennt lokalisierte Atome und stehende Wellen in der Aufenthaltswahrscheinlichkeit der Elektronen.
Bilder als dynamische mentale Modelle erfüllen eine Brückenfunktion im Lernprozess und unterstützen den Transfer von Erfahrungen zwischen der Makro- und der Nanowelt. Für den Forschungsprozess sind entsprechende kreative Transformationen nicht minder bedeutsam. Freilich stehen Bilder nie isoliert; sie bedürfen einer geeigneten theoretischen Einbettung. Entsprechend basiert das vorliegende didaktische Konzept auf einer reflektierten Nutzung von Metaphern, Bildern und Modellen. Dabei sind die aus der Lehr-Lern-Forschung hinlänglich bekannten Probleme zu berücksichtigen: • Schüler haben naiv-realistische Vorstellungen von Atomen, die sie als verkleinerte materielle Objekte der klassischen Erfahrungswelt ansehen (z.B. Kügelchen, Mini-Planetensysteme). • Die Abgrenzung zwischen Modell und Wirklichkeit wird nicht eingehalten bzw. ist den Lernenden häufig nicht bewusst. • Makro-Eigenschaften (Farbe, Elastizität, Temperaturausdehnung) werden unreflektiert auf die Teilchen des Modells übertragen. Teilchen- und Feldaspekte werden im Modell vermischt. • Die Frage, wie aus dem Zusammenwirken vieler Atome neue makroskopische Eigenschaften entstehen können, die auf der Mikro-Ebene nicht vorhanden sind, stellt das Abstraktionsvermögen der Lernenden vor große Herausforderungen. • Der Übergang vom einzelnen Atom oder Molekül zu den emergenten, kollektiven Makro-Eigenschaften des Systems wird im Unterricht nicht oder nur unzureichend thematisiert.
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Trotz faszinierender Visualisierungen der schönen neuen Nanowelt werden die beschriebenen tief verwurzelten Verständnisprobleme nicht obsolet. Im Gegenteil, die visuelle Prägnanz der Bilder begünstigt eher naiv-realistische Interpretationen. STM-Bilder sind jedoch keine photo-realistischen Abbildungen einer Szene. Sie sind „verbildlichte Theorie“ und zeigen eine seltsam hybride Quantenwirklichkeit: Die Atome erscheinen (noch) als quasi-klassische lokalisierte Objekte, während die Aufenthaltswahrscheinlichkeit der Elektronen als ausgedehntes Muster stehender Wellen erkennbar wird. Das Messverfahren bestimmt, welche Aspekte der komplexen NanoWirklichkeit erkennbar werden. Um die prinzipielle Unmöglichkeit einer naiv-klassischen Verbildlichung der Nanowelt nachvollziehen zu können, bedarf es orientierender Einsichten in die zugrunde liegenden theoretischen Konzepte und experimentellen Methoden. Dies soll im Folgenden anhand verschiedener Analogexperimente skizziert werden, die wichtige Abbildungs- und Messwerkzeuge der Nano-Wissenschaft mit Low-Cost-Technologien modellieren.
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Die StandardVorstellung eines Atoms – ein naivrealistisches Bild in den Köpfen vieler Schüler
16.1.2 Reisen in die Nanowelt: Skalierungen Ein vorläufiger, aber trag- und ausbaufähiger Theorierahmen lässt sich über die Reflexion von Verkleinerungen gewinnen nach dem Motto „Reisen in die Nanowelt: Was ist ähnlich, was anders als in der Alltagswelt?“ Dahinter steht die Idee der Skalierung. Inwieweit sind Erfahrungen der klassisch – makroskopischen Welt durch geeignete Transformationen physikalischer Größen in die Mikrowelt übertragbar? Wie muss man Systeme verkleinern und wo stößt man auf Grenzen, an denen neue Strukturprinzipien relevant werden? Als Ausgangspunkt der Diskussion bewährt sich eine kritische Analyse des literarischen Urbilds dieser fiktionalen Reisen. Im Roman Gullivers Reisen wird eine naiv-isometrisch skalierte Zwergenwelt beschrieben, ein um den Faktor 12 maßstäblich verkleinertes Abbild unserer Makro-Welt. Vieles, was sich der Autor ausmalt, ist so nicht möglich. Die Liliputanerwelt muss aus physikalischen Gründen anders sein. Die Zwerge sollen beispielsweise aufgrund der Kleinheit ihrer Augen besonders gut sehen können – das Gegenteil trifft zu. Wegen Beugungseffekten an den verkleinerten Pupillen würden die Liliputaner schlechter sehen, und zwar zwölfmal so unscharf wie wir. Am Beispiel der Skalierung optischer Abbildungssysteme lassen sich Einsichten gewinnen, die auch für den Übergang in die Nanowelt mit ihrer prinzipiellen Andersartigkeit richtungsweisend sind.
Das Urbild für Reisen in die Zwergenwelt
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Die Verkleinerung der Breite eines Lichtbündels stößt durch Beugungseffekte an eine Grenze
16 Wege in die Nanowelt Im Alltag kommen wir gut mit der Vorstellung zurecht, dass sich Licht geradlinig ausbreitet. Das Modell „Lichtstrahl“ ist eine mathematische Idealisierung, die davon ausgeht, dass man die Breite von Lichtbündeln theoretisch immer weiter verkleinern kann. In der geometrischen Optik ist die Breite des Lichtbündels proportional zur Breite des Spalts, der das Bündel eingrenzt. Die Grenze dieses Modells ist buchstäblich mit den Händen begreifbar. Man schickt dazu das Licht eines Laserpointers durch den Spalt zwischen zwei Rasierklingen, den man sukzessive verengt. Zunächst wird erwartungsgemäß das Bündel schmaler. Mit abnehmender Spaltbreite zeigen sich helle und dunkle Streifen, deren Abstand immer größer wird. Kurz bevor der Spalt vollständig schließt, wird das Lichtbündel weit aufgefächert. Diese im Rahmen der Strahlenoptik unerklärbare Aufweitung wird im Wellenmodell verständlich. Die innere raum-zeitliche Mikrostruktur des Lichts, sein Wellencharakter, führt zu Beugungseffekten, die einer Verkleinerung entgegenwirken. Die Verbreiterung des Lichtbündels durch Beugung ist proportional zur Wellenlänge des Lichts und umgekehrt proportional zur Spaltbreite. Zwei gegenläufige Strukturprinzipien stoßen bei der Skalierung aufeinander und definieren eine minimale Größe im Bereich der Lichtwellenlänge. Dies ist auch die Größenordnung von Strukturen, die in der gewöhnlichen Lichtmikroskopie gerade noch aufgelöst werden. „Augen“ für die Mikro- bzw. Nanowelt erfordern daher neue Design-Prinzipien. Die Komplexaugen der Insekten zeichnen den Weg vor. Viele kleine Einzelaugen bilden ein Raster, welches das Sehfeld abtastet. Das Einzelauge arbeitet nach dem Lichtwellenleiter-Prinzip und koppelt Licht aus einem bestimmten Raumwinkelbereich ein.
16.1.3 Ertaste die Nano-Wirklichkeit
Ein Blinder ertastet und modelliert die Umgebung. Ein zutreffendes Bild der Erkenntnisgewinnung in der Nanowelt.
Eine ähnliche Idee liegt auch den Abbildungsverfahren im Nanobereich zugrunde. Geeignete Sonden tasten Nano-Strukturen ab. Anders als die Insekten-Augen erfassen sie nicht das optische Fernfeld, sondern das Nahfeld der abzubildenden Objekte. Außerdem arbeiten die Sonden nicht parallel, sondern eine einzelne Sonde rastert das Objekt sequentiell Zeile für Zeile wie ein Fernsehbild ab. Je nach Sondentyp werden unterschiedliche Eigenschaften erfasst. Einer der Begründer der Quantenphysik, Nils Bohr, hat die Situation des Menschen, der Erkenntnisse über die Quantenwelt im Untergrund gewinnen will, mit einem Blinden verglichen, der mit einem Stock sich tastend orientiert und so allmählich ein Modell der Realität erstellt.
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In den Scanning-Verfahren der Nanowissenschaft wird diese AbtastMetapher Wirklichkeit. Beim Rastertunnelmikroskop (STM) tastet eine spitzenförmige Sonde, die in den drei Raumrichtungen durch piezokeramische Stellelemente verschiebbar ist, die zu untersuchende Oberfläche zeilenweise ab. Die feine Spitze der Sonde endet in einem Einzelatom. Wird zwischen Sonde und Probe eine Spannung angelegt, dann kann bei ausreichender Nähe bereits ohne direkten mechanischen Kontakt ein Strom fließen. Elektronen durchtunneln die Energiebarriere. Im STM kommen gewissermaßen zwei Welten in Kontakt: Der klassische Maschinenbau erlaubt die Konstruktion einer Sonde, die bis hinunter in den atomaren Bereich reproduzierbar positioniert werden kann. Die Quantenphysik kommt durch den Tunneleffekt ins Spiel. Die Stärke des Tunnelstroms hängt davon ab, wie stark die Wellenfunktionen der Elektronen an der Sondenspitze und der Probe überlappen. Das Feld, das die Sonde erfasst, ist ein quantenmechanisches Wahrscheinlichkeitsfeld. Je nach Betriebsart des STM wird es schließlich in unterschiedliche Bilder umgesetzt. Auch ohne Quantenphysik ist es möglich, wichtige Einsichten in die bildgebenden Verfahren zu gewinnen sowie in die Probleme, Unsichtbares zu visualisieren. Ein Black-Box-Ansatz hat sich für den frühen Einstieg bewährt. Ein in der Ebene verschiebbarer Griffel erlaubt es, die in einem schwarzen Kasten verborgene Struktur zu ertasten und in Bilder umzusetzen. Dazu bedarf es geeigneter Modellannahmen, die systematisch getestet werden. Die Verschiedenheit der entstehenden Bilder verblüfft. Was man zeichnet, hängt neben dem darstellerischen Geschick auch von der Messmethode ab, z.B. von der Größe und der Form der Griffelspitze. Sie verändert systematisch die Darstellung der verborgenen „wirklichen“ Struktur. Schüler lernen in diesen Experimenten spielerisch etwas über den hypothetischen Charakter des naturwissenschaftliche Arbeitens. Die Methode ist ausbaufähig. Mit einem Umbau der Black Box auf andere Sonden- und Sensortypen sowie der Kopplung an einen Computer (Positionsmessung über Grafiktablett) lassen sich vielfältige fortgeschrittene Methoden der Visualisierung erproben.
Abb. 16.1: Abtastung und Visualisierung magnetischer Strukturen
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Der Tunnelstrom reagiert auf ein Wahrscheinlichkeitsfeld an der STM-Spitze
Nanowelt als Black Box: Systematisches Ertasten und Modellieren macht Aspekte der verborgenen Strukturen sichtbar
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16.1.4 Erfühle die molekulare Komplexität
Das Rasterkraftmikroskop (AFM) kann Kräfte zwischen Atomen im Pikonewtonbereich messen.
Bringt man die Abtastspitze an einem elastischen Mikro-Balken an, so erhält man die Sonde eines Rasterkraftmikroskops (AFM). Es kann Kräfte über die optische Erfassung der Durchbiegung des Balkens bis in den Bereich von Pikonewton (10-12 N) messen. Neben der Abtastung der zweidimensionalen Kraftverteilung an Oberflächen erlaubt die AFM-Sonde auch Kraft-Dehnungs-Messungen an Einzelmolekülen. Diese Betriebsart heißt Kraftspektroskopie. Sie liefert wichtige Informationen zur Molekülmechanik und zum Entstehen neuer Eigenschaften aus dem Zusammenwirken molekularer Bausteine. Eine Einsicht in die Entfaltung komplexer Funktionen auf molekularer Ebene ist für ein tieferes Verständnis biologischer Prozesse unerlässlich. Daher wird exemplarisch die Kraftspektroskopie von Biomolekülen diskutiert und in einem Modellexperiment mit Alltagsobjekten körperlich erfahrbar umgesetzt. Proteine sind essenzielle Bestandteile aller lebenden Systeme. Diese Biopolymere bestehen aus einer Kette von mehreren hundert über Peptid-Bindungen verknüpften Aminosäure-Molekülen. Nach der Synthese faltet sich die Kette spontan zu einem dreidimensionalen Makromolekül. Der Faltungsprozess stellt ein kleines Wunder molekularer Selbstorganisation dar. Wenn die äußeren Randbedingungen (z.B. Temperatur, pH-Wert) stimmen, entfaltet sich ohne weiteres Zutun die richtige räumliche Struktur, in welcher des Biomolekül als „Nanomaschine“ lebenswichtige Funktionen erfüllen kann. Derartige Faltungs- und Entfaltungsprozesse sind an Titin-Molekülen genauer untersucht worden.
Proteine erfüllen lebenswichtige passive & aktive Funktionen. Als Nanomaschinen verarbeiten sie Materie, Energie & Information.
Abb. 16.2: Kraft-Dehnungs-Messung am Titin – Molekül Titin ist eine hoch elastisches Riesenprotein, das für die passive Elastizität von Muskeln bedeutsam ist. Das elastische Verhalten von Titin ist anders als man es vom linearen Kraftgesetz bei Schraubenfedern kennt. Beim Ziehen des Moleküls ergibt sich ein nichtlinearer Kraftverlauf mit mehreren Kraftspitzen. Titin besteht aus zahlreichen Sequenzen eines anderen „verknäulten“ Proteins, dem Immunglobulin (Ig). Die Kraftspitzen entstehen durch das sukzessive Entfalten
16.1 Mikro, Nano & technologischer Wandel 259 260 261 262 263 264 265 266 267 268 269 270 271 272 273 274 275 276 277 278 279 280 281 282 283 284 285 286 287 288 289 290 291 292 293 294 295 296 297 298 299 300 301
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von einzelnen Ig-Abschnitten. Trotz der Verlängerung des Moleküls sinkt die Kraft immer wieder ab. Auf diese Weise wird das Protein abschnittweise verlängert, ohne dass es zerreißt. Titin funktioniert wie eine seltsame, nichtlineare Feder. Ein überraschendes Ergebnis, das zu kreativen Ideen beim Design neuer biologisch inspirierter Materialien anregt.
Abb. 16.3: Modellexperiment zur Kraftspektroskopie Diese kreativen materiellen Wandlungen lassen sich im Schülerexperiment par Analogie erfahrbar machen. Die Methode der Kraftspektroskopie wird dazu mit Low-Cost Komponenten nachgebaut. Das Messsystem besteht aus Kraftsensor (Dehnungsmessstreifen) und Grafiktablett. Als Modell des Titin-Moleküls dient ein stark verdrilltes Gummiband. Entspannt man das verdrillte Band, dann bilden sich Strukturen in Form von Schleifen und Knäueln in weitgehend reproduzierbarer Weise. Sie sind die statischen Entsprechungen der IgKnäuel des Titins. Beim erneuten Spannen des Bandes werden die verdrillten Knäuel nacheinander entwirrt. Dabei kommt es zu einem nichtlinearen Kraftverlauf mit Sprüngen und Kraftspitzen beim Entfalten einzelner Schleifen und Knäuel. In dem Analog-Experiment werden nicht nur praktische Erfahrungen in der computergestützten Messwerterfassung gewonnen, sondern auch tragfähige Einsichten in das spontane Entstehen von neuen Strukturen bei geeigneten Randbedingungen, ein Phänomen mit universellem Charakter.
Das Muskel-Protein Titin verhält sich unter Zug wie eine seltsame nichtlineare Feder Von der Natur lernen: Design biomimetischer Materialien
16.1.5 Kreative Potenziale fördern Die griechischen Naturphilosophen waren die ersten, die auf spekulativem Wege zur Atomvorstellung gelangten. Für Demokrit sind Atome die primäre Realität. Alles andere entsteht aus ihrer Anordnung und Bewegung. In der heutigen Nanowissenschaft lässt sich diese Vision technologisch umsetzen. Es gilt, die kreative Kraft der Atome mit der kreativen Kraft unserer Köpfe zu verbinden und das
Entfaltung von Komplexität: ein Phänomen, das universellen Gesetzen im Kleinen wie im Großen folgt.
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Im Geiste Demokrits: das Große im Kleinen denken
16 Wege in die Nanowelt Große im Kleinen zu denken. Freilich bedarf es dazu förderlicher Randbedingungen und kohärenter Handlungen im Großen, damit sich diese Kreativität entfalten kann – hier besteht bei uns enormer Handlungsbedarf. Für den Unterricht ergibt sich durch die Nanotechnologie die Herausforderung, möglichst früh Verständnis und Aufgeschlossenheit für einen komplexen interdisziplinären Themenbereich zu fördern, der sich der unmittelbaren Anschauung entzieht. In der vorliegenden Übersicht konnten nur orientierende Zugänge zum Thema skizziert werden, die eine interaktive Auseinandersetzung unterstützen und die Komplexes in der konkreten Erfahrung verankern. Wenngleich für ein tieferes Verständnis der Nanowelt die Quantentheorie unverzichtbar ist, lassen sich über die diskutierten Analogexperimente wichtige qualitative Einsichten gewinnen. Die Projekte wecken das Interesse und fördern die Aufgeschlossenheit für authentische Fragen aktueller Wissenschaft. Sie fordern dazu heraus, kreative Verknüpfungen zwischen der Alltags- und der Nanowelt herzustellen und zu reflektieren. Neugier, Offenheit für Neues und Lust an Erkenntnis werden angeregt, wichtige Motoren, sich lebenslang mit komplexen Problemen aktiv auseinander zu setzen.
Literatur Bao, G. & Suresh, S. (2003). „Cell and molecular mechanics of biological materials“. Nature Materials, 2, 715-725. Bohr, N. (1964). Atomphysik und menschliche Erkenntnis. Braunschweig: Vieweg & Sohn. Euler, M. (2001). Mikrowelten: Eine Reise in die Mikrosystemtechnik. Teltow: VDI/VDETechnologiezentrum Informationstechnik. Euler, M. & Lass, M. (2006). „Vom linearen Kraftgesetz zu seltsamen Federn: Experimentieren mit low-cost Sensoren“ . PdN - Physik in der Schule, 55 (1), 2-7. Hartmann, U. (2006). Faszination Nanotechnologie. München: Elsevier. Mikelskis-Seifert, S. & Euler, M. (2005). „Naturwissenschaftliches Arbeiten vom Anfang an: Lernen durch Experimentieren und Modellieren“. PdN – Chemie in der Schule, 54 (4), 15-22. Rief, M. et al. (1997). „Reversible unfolding of individual Titin immunoglobulin domains by AFM“. Science, 276, 1109-1112.
16.2 Nanotechnologien für maßgeschneiderte Materialien und Bauelemente 345 346 347 348 349 350 351 352 353 354 355 356 357 358 359 360 361 362 363 364 365 366 367 368 369 370 371 372 373 374 375 376 377 378 379 380 381 382 383 384 385 386 387
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Alfred Forchel
16.2 Nanotechnologien für maßgeschneiderte Materialien und Bauelemente Wichtige Eigenschaften von Werkstoffen hängen von deren chemischer Zusammensetzung ab. Hierzu gehören die mechanische Festigkeit (Lloyd 1994), die elektrische Leitfähigkeit (Stankovich et al. 2006), die optischen Eigenschaften wie die Lichtemission (Monemar et al. 1976), magnetische Eigenschaften (Onoh et al. 2000) usw.. Zur Optimierung dieser Eigenschaften für spezielle Anwendungen werden klassisch Legierungen aus besonders geeigneten Elementen herangezogen. Über diesen Zugang zu neuen Stoffen hinaus existiert ein weiterer, bei dem die Eigenschaften der Materialien durch die Größe der verwendeten Teilchen eingestellt werden können (Yokohama 1992; Forchel 2003). Die entsprechenden Teilchengrößen liegen im Nanometerbereich, d.h. auf der Längenskala von ca. 1 bis 100 Milliardstel Metern. Die Möglichkeit Eigenschaften durch Einstellung der Teilchengrößen maßzuschneidern wird schon seit langem genutzt. Schon im Altertum kannten Handwerker die Möglichkeit Farben in Gläsern durch Beigaben von Gold einzustellen, ohne allerdings zu wissen, dass sich hierbei Goldpartikel mit Abmessungen im Nanometerbereich ausbilden. Diese Technologie wurde dann zur Herstellung von farbigen Gläsern für Kirchenfenster über Jahrhunderte weiter eingesetzt. Der Zusammenhang der Farbeffekte mit der Teilchengröße wurde erst durch Verständnisfortschritte der Optik und durch die Quantentheorie geklärt (Eichelbaum et al. 2005). Seit mehr als einem Jahrzehnt werden nanotechnologische Verfahren bewusst breit eingesetzt. In den folgenden Kapiteln sollen das Potential von Nanotechnologien, wichtige technologischen Ansätze sowie einige Anwendungen exemplarisch vorgestellt werden. Die Vermittlung nanotechnologischer Inhalte im Unterricht birgt die große Chance ein Technikfeld zu behandeln, das bei den Schülern positiv besetzt ist und durch das Grundlagen für einen weiteren Werdegang in der Technik und den Ingenieurwissenschaften gelegt werden können.
Lycurgus Kelch aus gefärbtem Glas Britisches Museum, 4. Jahrhundert a.D.
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16 Wege in die Nanowelt
16.2.1 Potenziale der Nanotechnologie Das riesige Anwendungspotenzial der Nanotechnologie wurde in einer visionären Rede R. Feynmans 1959 zum ersten Mal dargestellt (Feynman 1960). Feynman sah schon vor fast fünfzig Jahren Möglichkeiten zur Speicherung von Information auf der Nanometerskala, die Miniaturisierung von damals noch raumfüllenden Computern sowie biomedizinische Anwendungen von Nanostrukturen voraus. Er stellte 30 Jahre vor dem Nachweis mit Hilfe des Rastertunnelmikroskops fest, dass es kein prinzipielles Problem geben könne, einzelne Atome nach einem Bauplan anzuordnen. Inzwischen sind Materialien, Bauelemente und Systeme in viele Bereiche des täglichen Lebens vorgedrungen, in denen eine Strukturierung auf der Längenskala typischer Weise unterhalb einem Mikrometer die funktionsbestimmenden Eigenschaften festlegt. Nanomaterialien sind beispielsweise durch ein großes Oberflächen-VolumenVerhältnis gekennzeichnet (Drexler 1992). Materialeigenschaften durch Größe und Struktur einstellbar
Dies ermöglicht beispielsweise im biomedizinischen Bereich eine sehr starke und schnelle Wechselwirkung zwischen Wirkstoffen und Organismus. Andererseits kann in Nanokompositen - bei denen Nanoteilchen anderen Werkstoffen zugesetzt werden – die Festigkeit praktisch unabhängig vom Gewicht des Materials eingestellt werden. Auch im Bereich der Katalytik spielen Nanoteilchen eine wichtige Rolle wobei wiederum das große Oberflächen-Volumenverhältnis von Bedeutung ist (Hoogenboom et al. 2002). Nanoporöse Filter mit einstellbaren Porengrößen werden als Flüssigkeits- und Gasfilter entwickelt (Rösler & Mukherij 2003). Im Bereich der Medizin und Pharmazie bieten Nanotechnologieansätze die Chance, Wirkstoffe in minimaler Dosierung in Nanokapseln über biologischen Erkennungsstrukturen direkt an den Ort einer Infektion zu bringen. Damit werden die Wirksamkeit optimiert und die Nebenwirkungen minimiert (Caruso et al. 1998). Der Einsatz von Nanotechnologien in Anwendungen ist aus verschiedenen Gründen attraktiv. Einerseits ermöglichen diese Verfahren die Realisierung von Systemen mit anders nicht erreichbarer hoher Funktionalität auf kleinstem Raum. Andererseits bieten Nanotechnologien durch die kleinen Material- und Bauelementabmessungen sehr gute Ansätze für den sparsamen Umgang mit Ressourcen. Das betrifft sowohl den Material- und Energieverbrauch bei der Herstellung als auch die Betriebskosten.
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Mit verschiedenen materialwissenschaftlichen, physikalischen, chemischen und medizinisch-biologischen Ansätzen dringt die Nanotechnologie in viele Industriezweige vor. Hierzu gehören u.a. • Elektronik- und Photonik und damit weite Teile der Informations- und Kommunikationsindustrie • • • • • • • • • •
Optikindustrie Energietechnik Gerätetechnik Automobilindustrie Luft- und Raumfahrt Biotechnologie pharmazeutische Industrie und die Medizin Kosmetikindustrie Bekleidungsindustrie Baustoffhersteller
Abb. 16.4: Entwicklungsstand von nanotechnologischen Produkten (Luther 2005).
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16 Wege in die Nanowelt Grundlage dieses Vordringens in ganz verschiedene Bereiche unseres täglichen Umfelds sind neue Möglichkeiten der Strukturierung von Nanotechnologien. Die Märkte, die auf Nanotechnologien basierten, umfassten 2005 weltweit Umsätze von ca. 100 Mrd. $. Bis zum Jahr 2015 erwarten verschiedene Marktstudien eine Verzehnfachung. Nanotechnologien gelten deshalb als eine Schlüsseltechnologie des 21. Jahrhunderts (Schavan 2005).
Abb. 16.5: Markprognosen für Nanotechnologische Produkte (VDIBroschüre 2004) Neue Technologien bringen prinzipiell auch neue Risiken mit sich. Dies gilt natürlich auch für die Nanotechnologie. Gegenüber Chemikalien in Pulvern mit Abmessungen bis in den Submikrometerbereich sind allerdings kaum zusätzliche Risiken zu erwarten. Durch den Einbau von Nanoteilchen in eine Matrix können selbst aus toxischen Materialien aufgebaute Nanoteilchen passiviert werden. Ein völlig anderer Aspekt von Zusatzrisiken durch Nanotechnologien betrifft den ethischen Bereich (Ach & Joemann 2005). Einerseits können Nanotechnologien entwickelt werden, mit denen sich intelligente Prothesen herstellen lassen, die beispielsweise erblindete Patienten wieder sehen lassen – ein unzweifelhaft positiver Einsatzbereich dieser Technologien. Anderseits können Nanotechnologien z.B. durch implantierte Erkennungschips zur Personenüberwachung und Identifikation eingesetzt werden, zum Beispiel für elektronisches oder chemisches Doping, für Gentechnologie usw.. Hierfür sind ethische Richtlinien notwendig, die klare Grenzen für den Einsatz dieser Technologien ziehen.
16.2 Nanotechnologien für maßgeschneiderte Materialien und Bauelemente 517 518 519 520 521 522 523 524 525 526 527 528 529 530 531 532 533 534 535 536 537 538 539 540 541 542 543 544 545 546 547 548 549 550 551 552 553 554 555 556 557 558 559
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16.2.2 Realisierungsformen von Nanostrukturen Nanostrukturen lassen sich nach der Anzahl der Freiheitsgrade für die Elektronen in drei Kategorien einteilen. a)
Nanopartikel, Quantenpunkte
b) Nanodrähte, Quantendrähte c)
Nanofilme, Quantenfilme
a) Quantenpunktstrukturen stellen in allen drei Dimensionen Käfige für die Elektronen und damit Systeme ohne Freiheitsgrad dar (Ashoori 1996). Zu diesen Strukturen gehören beispielsweise mit physikalischen Verfahren hergestellte Cluster (Hulteen et al. 1999), chemiebasierende Nanopartikel (Murray et al. 2000) und Halbleiterquantenpunkte (Shuchukin & Bimberg 1999). Einzelne Quantenpunktstrukturen werden typischerweise von einigen zehn bis einigen zehntausend Atomen gebildet. Elektronische Zustände, die die gesamte Struktur durchdringen und durch die Ober- oder Grenzflächen eingeschränkt sind, werden durch die Strukturabmessungen quantisiert. Man spricht in diesem Zusammenhang häufig von künstlichen Atomen, deren Eigenschaften durch die Größe wesentlich bestimmt werden. Halbleiterquantenpunkte können beispielsweise dazu genutzt werden, die Laseremission zu verbessern (Klimov et al. 2000).
Schematischer Aufbau einer KohenstoffNanoröhre
b) Quantendrähte: Eindimensionale Nanostrukturen erlauben z.B. die Elektronenausbreitung in einer Richtung über Längenskalen im Mikrometerbereich, d.h. über Dimensionen in denen klassische physikalische Gesetze die Eigenschaften dominieren. In zwei Richtungen sind diese Objekte auf der Nanoskala begrenzt (Worschech et al. 1999). Hierzu gehören beispielsweise Kohlenstoff – Nanoröhrchen mit Durchmessern im 1-100 nm Bereich oder Halbleiternanodrähte (Iijima 1991; Kroto et al. 1985). Kohlenstoff - Nanoröhrchen können mit metallischer oder halbleitender Leitfähigkeit realisiert werden; sie sind sehr leicht und gleichzeitig sehr fest. Dies bildet die Grundlage für Forschungsarbeiten an C-Nanoröhrchen für zukünftige Elektronikanwendungen oder in Kompositmaterialien. c) Filmstrukturen sind in Richtung der Filmdicke durch nanometrische Abmessungen gekennzeichnet während in beiden senkrechten Richtungen makroskopische Ausdehnungen vorliegen (Arakawa & Sakaki 1982). Filme spielen für Anwendungen als Oberflächenbeschichtungen zur Verbesserung der Härte, Haftung, der Kompatibilität mit umgebenden Medien usw. eine wichtige Rolle. Für elektro-
Elektronenmikroskopische Aufnahme einer Halbleiterschichtstruktur.
570 560 561 562 563 564 565 566 567 568 569 570 571 572 573 574 575 576 577 578 579 580 581 582 583 584 585 586 587 588 589 590 591 592 593 594 595 596 597 598 599 600 601 602
16 Wege in die Nanowelt nische und optoelektronische Anwendungen sind Halbleiterquantenfilme mit typischen Filmdicken im 10 nm – Bereich in den letzten Jahren sehr wichtig geworden. Halbleiterlaser in CD- und DVDGeräten basieren auf diesen Strukturen ebenso wie die Laser für die Glasfaserübertragung.
16.2.3 Herstellungsverfahren Die Herstellungsverfahren für Nanostrukturen lassen sich in zwei Klassen einteilen: • Nanolithographieverfahren • Selbstorganisationsverfahren Für komplexe Strukturen wie höchstintegrierte Speicher- und Logikschaftkreise werden Nanolithographieverfahren eingesetzt. Hierbei wird zunächst über ein CAD-System das benötigte Muster entworfen. Häufig sind für die Realisierung der Bauelemente Entwürfe mit genau aufeinander abgestimmten Geometrien für verschiedene Technologieschritte nötig. Anschließend werden diese Muster über den Steuercomputer an ein hochauflösendes Nanolithographiegerät wie beispielsweise eine Elektronenstrahllithographieanlage übertragen und als Muster im Elektronenstrahllack belichtet. Zu den Vorteilen der Nanolithographieverfahren zählen eine weitgehend freie Festlegbarkeit der Strukturgrößen und -formen sowie die einfache Verknüpfung mit elektrischen Zuleitungen und weiterer Peripherie. Ein Nachteil ergibt sich durch den geringen Durchsatz dieser seriellen Verfahren, bei denen jedes einzelne Pixel sequentiell belichtet wird (Kamp et al. 1999). Bei Selbstorganisationsverfahren werden lokale Kräfte z.B. durch Verspannungen zwischen Materialschichten mit stark unterschiedlichen Atomabständen eingesetzt, um Nanostrukturen spontan auszubilden. Auf Grund der spontanen Nukleationsprozesse ist der Ordnungsgrad i. Allg. erheblich geringer als bei lithographisch hergestellten Nanostrukturen und betrifft vor allem den Nahbereich um eine Struktur. Die großen Vorteile der Herstellung von Nanostrukturen durch Selbstorganisationsprozesse liegen bei verhältnismäßig einfachen Prozessführungen und der Möglichkeit große Mengen an Nanostrukturen in einem Schritt parallel herzustellen. Nachteilig ist bei verschiedenen Selbstorganisationsprozessen eine verhältnismäßig große Fluktuation der Teilchengrößen und -zusammensetzungen, sowie verhältnismäßig geringe Möglichkeiten zu einer Variation der Strukturformen und zur Kontrolle der genauen Strukturpositionierung.
16.2 Nanotechnologien für maßgeschneiderte Materialien und Bauelemente 603 604 605 606 607 608 609 610 611 612 613 614 615 616 617 618 619 620 621 622 623 624 625 626 627 628 629 630 631 632 633 634 635 636 637 638 639 640 641 642 643 644 645
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Im Rahmen von Hybridverfahren werden Kombinationen von Lithographie- und Selbstorganisationsverfahren eingesetzt, beispielsweise indem Ausgangsscheiben für die Deposition von Nanoteilchen vorstrukturiert werden.
Lithographieverfahren Bei Lithographieverfahren unterscheidet man Direktschreibverfahren von der Replikation einer Maskenstruktur. Den direktschreibenden Verfahren kommt für die Nanotechnologie eine Schlüsselrolle zu, da sich mit diesen Verfahren die kleinsten Strukturabmessungen erzielen lassen und selbst die Strukturierung einer Maske zunächst einen Direktschreibschritt erfordert. Als primäres Strukturierungswerkzeug für die Nanolithographie werden fokussierte Elektronen- oder Ionenstrahlen eingesetzt. In diesen Systemen werden beispielsweise Elektronen durch eine Elektronenoptik in einen Brennpunkt mit einem Durchmesser von wenigen Nanometern auf der zu strukturierenden Probe fokussiert. Auf der Probenoberfläche befindet sich eine dünne (typisch 100 nm) Schicht eines organischen Materials („Elektronenstrahllack“, z.B. Polymetylmetacrylat). Durch den Elektronenstrahl werden an den belichteten Stellen Polymerketten aufgetrennt und damit die Löslichkeit im Entwickler verändert. Der Elektronenstrahl wird vom Steuerrechner der Anlage passend zum CAD – Muster über die Probenoberfläche geführt. Nach der Entwicklung steht die freigelegte Spur des Elektronenstrahls für weitere Prozesse zur Verfügung. Setzt man die entwickelte Struktur beispielsweise einer Ätzlösung aus, so wird vor allem in den frei entwickelten Bereichen Material abgetragen, während die restliche Oberfläche des Substrats durch die Lackschicht geschützt ist. In Kombination mit dem Entwicklungsschritt führt die Belichtung somit zur Definition von zwei Oberflächenbereichen mit völlig verschiedenem Charakter, die sich bei einer weiteren Strukturierung qualitativ unterschiedlich verhalten. Die in hochauflösenden Elektronenstrahlanlagen erreichbaren Strukturgrößen liegen im Bereich wenige Nanometer bis ca. 10 nm. Noch kleinere Strukturen können beim Einsatz von Rastertunnelmikroskopen realisiert werden. Durch die Einwirkung von Elektronen in der Spitze des Tunnelmikroskops können einzelne, schwach gebundene Atome auf einer Oberfläche verschoben und gezielt zu geordneten Strukturen zusammengefügt werden. Hierbei muss die Diffusion der Oberflächenatome durch Abkühlung auf tiefe Temperaturen hinreichend unterdrückt werden.
Elektronenstrahllithographieanlage (Fa. LEICA Microsystems)
Lithographisch definierte Goldpunkte auf einer Halbleiteroberfläche
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16 Wege in die Nanowelt Alternativ zu fokussierten Elektronenstrahlen können auch fokussierte Ionenstrahlen zur Nanostrukturierung eingesetzt werden. Wegen der größeren Masse der Ionen kann hierbei auch ohne eine Lackschicht strukturiert werden: Hochenergetische Ionen werden fokussiert auf eine Metall oder Halbleiterprobe gestrahlt und lösen hierbei Atome aus oberflächennahen Bereichen aus.
Durch fokussierte Ionenstrahlen hergestellter Probenschnitt (ZEISS Oberkochel)
Dies ermöglicht die Herstellung von Nanolöchern oder Nanogräben. Alternativ kann über den Ionenstrahl auch Material auf der Probenoberfläche deponiert werden. Die Hauptanwendungsbereiche für Ionenstrahlanlagen betreffen beispielsweise die Reparatur von Masken und Schaltkreisen durch Auftrennung oder Zusammenfügung von Mustern oder beispielsweise die Herstellung von ultradünnen Probenschnitten für Untersuchungen in Transmissionselektronenmikroskopen. Eine wesentliche Einschränkung für den Einsatz von Elektronenund Ionenstrahllithographieverfahren ergibt sich aus dem seriellen Schreibverfahren, bei dem Bildpunkt nach Bildpunkt belichtet wird. Die maximalen Schreibfrequenzen bei diesen Verfahren liegen im Bereich von einigen 10 bis 100 MHz. Für großflächige Muster mit hohen Auflösungsanforderungen führen selbst diese Schreibgeschwindigkeiten noch zu Belichtungszeiten von vielen Stunden bis mehreren Tagen. Bei der Lithographie mit einzelnen Atomen im Rastertunnelmikroskop liegen die Schreibfrequenzen bei weit geringeren Werten (10-3 Hz). Diese Verfahren sind deshalb für großtechnische Anwendungen nicht geeignet. Ein in jüngster Zeit intensiv verfolgter Ansatz zur Erhöhung des Durchsatzes bei der Nanolithographie wird mit dem Begriff „Nanoimprint“ beschrieben. Hierbei wird durch ein hochauflösendes direktschreibendes Verfahren ein Stempel nanostrukturiert. Das Stempelmuster kann dann vielfach abgebildet und dabei viele tausend Muster parallel strukturiert werden. Dies ermöglicht insbesondere bei einfachen Mustern eine erhebliche Durchsatzsteigerung. Komplexe Anwendungen mit hohen Anforderungen an eine präzise Positionierung sind bislang allerdings mit diesen Verfahren noch nicht bearbeitbar.
16.2 Nanotechnologien für maßgeschneiderte Materialien und Bauelemente 689 690 691 692 693 694 695 696 697 698 699 700 701 702 703 704 705 706 707 708 709 710 711 712 713 714 715 716 717 718 719 720 721 722 723 724 725 726 727 728 729 730 731
Abb. 16.6: Silizium Stempel mit 10 nm breiten Strukturen
Abb. 16.7: Abdruck des Stempels in eine Polymerschicht (Chou 1997)
Selbstorganisationsverfahren Selbstorganisationsverfahren sind in biologischen Systemen weit verbreitet. Ein herausragendes Beispiel ist die Zellteilung. In anorganischen und organischen Systemen führen diese Verfahren ohne eine detaillierte Kontrolle von außen zur Bildung von Nanostrukturen durch physikalische oder chemische Prozesse. Bei der Halbleiterepitaxie können Verspannungen als Motor für die Ausbildung der Nanostrukturen herangezogen werden (Marzin et al. 1994). Hierbei beschichtet man ein einkristallines Substrat, das durch eine rein periodische Anordnung der Oberflächenatome gekennzeichnet ist mit einem Material mit z.B. deutlich größerem Atomabstand. Bei der Epitaxie binden die Atome des Materials mit größerem Atomabstand an Orbitale der Oberflächenatome des Substrats. Auf Grund der unterschiedlichen Atomabstände treten Verspannungen auf, die mit zunehmender Dicke der abgeschiedenen Schicht zunehmen. Ab einer gewissen Schichtdicke übersteigt die Verspannungsenergie den Wert der Oberflächenenergie. Das Schichtsystem bricht in dreidimensionale Inseln auf, bei denen sich die Verspannung durch Ausdehnung in der Schichtebene abbaut. Aus einer Halbleiterschicht können so in einem Beschichtungsschritt eine Vielzahl von Quantenpunkten parallel gebildet werden. Durch eine anschließende Umschaltung des Beschichtungsmaterials auf das Substratmaterial kann die Kristallstruktur dann weiter fortgesetzt werden um beispielsweise einen Quantenpunktlaser herzustellen.
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16 Wege in die Nanowelt
Abb. 16.8: Rasterkraftmikroskopische Aufnahme des Wachstums von Germanium Quantenpunkten. Von links nach rechts: Wachsende Bedeckung des Substrats mit Germanium, 1ML entspricht einer Schicht mit der Dicke eines Atomdurchmessers.
Neben dem hier beispielhaft vorgestellten Verfahren zu einer verspannungsinduzierten Ausbildung von Quantenpunkten können chemische Methoden ausgenützt werden, um Nanopartikeln in Lösung herzustellen und in Filme einzubauen. Nanostrukturen bilden sich auf Halbleiteroberflächen auch nach Sputter- und Temperprozessen. Wie bei anderen Verfahren zur Selbstorganisation erfolgt die Strukturbildung hier durch ein Wechselspiel von Thermodynamik und Kinetik. Ganz ähnlich lassen sich auch die Bildungsprozesse von Fullerenen (C – 60 Molekülen), Kohlenstoffnanoröhrchen oder die Bildung supramolekularer Überstrukturen beschreiben.
16.2.4 Anwendungen Im Folgenden sollen drei Beispiele für nanotechnologische Anwendungen kurz vorgestellt werden. Halbleiterchips, die bis vor kurzem noch der Mikroelektronik zugeordnet wurden, weisen schon jetzt funktionsbestimmende Abmessungen unter 50 nm auf und werden als Vertreter der Kategorie „top-down“ Nanotechnologie-Verfahren behandelt. Um die geforderten Bauelemente und Schaltungen zu realisieren, sind gerätetechnische Weiterentwicklungen erforderlich, die ebenfalls Präzisionen im Nanometerbereich benötigen. Halbleiterquantenpunktlaser basieren auf Selbstorganisationsverfahren die es erlauben, in einem vorgegebenen Materialsystem Lichtemission bei sonst nicht zugänglichen Wellenlängen zu realisieren.
16.2 Nanotechnologien für maßgeschneiderte Materialien und Bauelemente 775 776 777 778 779 780 781 782 783 784 785 786 787 788 789 790 791 792 793 794 795 796 797 798 799 800 801 802 803 804 805 806 807 808 809 810 811 812 813 814 815 816 817
Nanotechnologien in der Halbleiterchipherstellung Durch die Entwicklung immer leistungsfähiger Computer für den privaten Gebrauch haben sich weite Bereiche des Lebens grundlegend verändert. Nach der Entwicklung der ersten röhrenbetriebenen Rechner zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts herrschte die Meinung vor, dass diese aufwändigen, zimmerfüllenden Maschinen nur für wenige Arbeiten benötigt würden. Mit der Entdeckung des Transistors und der Entwicklung der Planartechnologie ergaben sich völlig neue Möglichkeiten für die kostengünstige Herstellung kompakter leistungsfähiger PCs. Seit den sechziger Jahren halbiert sich die charakteristische Länge der Transistoren in integrierten Schaltungen alle 18 Monate („Moore’sches Gesetz“), während parallel die Anzahl der Bauelemente in Speicher- und Logikbauelementen laufend zunimmt. Die kleinsten Bauelementdimensionen lagen zu Einführung der integrierten Schaltkreise Ende der fünfziger Jahre bei einigen 10 µm, Mitte der achtziger Jahre wurde die 1 µm Grenze unterschritten und 2003 der 100 nm Bereich erreicht. Laut der „International Technology Roadmap for Semiconductors 2005“ wird diese Entwicklung in den kommenden Jahren weiter voranschreiten.
Prognostizierte Entwicklung von Strukturgrössen auf Halbleiterchips (International Technology Roadmap for Semiconductors, 2005) Liegt die Weite der Gatestrukturen der Transistoren in Mikroprozessoren 2005 bei 54 nm, so werden 2010 Abmessungen von 30 nm und 2020 von 9 nm benötigt um die parallel anwachsende Zahl der Transistoren pro Chip (2006 200 Millionen, 2012 1,4 Milliarden) zu realisieren. Der hierfür notwendige Aufwand ist gewaltig, wie sich schon an den Kosten von Chipfabriken im Bereich mehrerer Mrd. Euro ablesen lässt. Gleichzeitig sind auf einer Zeitskala von fünf bis 10 Jahren bis zur Einführung der entsprechenden Chiptechnologien noch grundlegende Fragen offen. Herausforderungen betreffen die Entwicklung geeigneter Lithographietechniken, Chiparchitekturen, die Optimierung der insgesamt kilometerlangen Leiterbahnen und die Minimierung der Energiedissipation.
Querschnittsbild eines aktuellen Transistors (Intel 2006)
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16 Wege in die Nanowelt Halbleiterspeicher- und Logikchips sind schon heute die aufwändigsten Massenprodukte, die mit Nanotechnologien nach dem „topdown“ Verfahren hergestellt werden. Auf Grund der Komplexität der Schaltkreise ist ein Einbringen von Selbstorganisationsverfahren nur sehr langfristig zu erwarten. Die gegenwärtigen Halbleiterchips basieren auf Silizium - Feldeffektbauelementen (CMOS). Gegenüber den Bauelementen in den ersten Silizium – Schaltkreisen sind die Abmessungen um viele Größenordnungen verkleinert worden. Hieraus resultieren Skalierungsregeln, beispielsweise für die notwendige Änderung der Dotierung mit abnehmender Bauteilgröße, um weiterhin gut steuerbare Bauelemente zu erhalten.
Labormuster eines Transistor mit 4 nm Breite (NEC 2003)
Quanteneffekte werden in Silizium bei Bauelementedimensionen im Bereich unter 10 nm erwartet und müssen somit in den Bauelementen ab ca. 2020 berücksichtigt werden. Schon vorher werden nichtklassische Effekte wie der ballistische Transport die Bauelementeigenschaften mitbestimmen.
Nanotechnologien in der Geräteherstellung für die Halbleiterchipfertigung Für zukünftige Generationen von Halbleiterchips werden weiterentwickelte Lithographieverfahren benötigt, die einerseits die notwendige Auflösung von Strukturen mit Genauigkeiten im Nanometerbereich erlauben und andererseits einen ausreichend hohen Durchsatz erlauben. Optische Verfahren erlauben den notwendigen Durchsatz und werden zu immer kleineren Wellenlängen im Grenzbereich zwischen dem ultravioletten Spektralbereich (100 nm) und dem Bereich der weichen Röntgenstrahlung (10 nm) weiterentwickelt, um die erforderliche Strukturauflösung zu ermöglichen. Verschiedene Spezifikationen der gegenwärtig gerade neu am Markt eingeführten Belichtungssysteme im Extremen Ultraviolett (EUV), die mit einer Arbeitswellenlänge von ca. 13 nm für Lithographie zu Strukturen bis in den 30 nm Bereich eingesetzt werden sollen, illustrieren die außerordentlichen Anforderungen an diese Ultrapräzisionsanlagen. Da im 10 nm Wellenlängenbereich keine Linsenoptik mehr möglich ist, müssen asphärische Spiegeloptiken eingesetzt werden. Die Oberflächen der Spiegel müssen mit Subnanometergenauigkeit gefertigt werden, um nicht durch Rauhigkeiten im Bereich weniger Atome die Abbildungseigenschaften zu verschlechtern. Die sechs Spiegeloptiken müssen mit Nanometergenauigkeit positioniert und ausgerichtet werden. Der gesamte Strahlengang ist im Vakuum zu führen, da die EUV – Strahlung bei Atmosphärendruck stark
16.2 Nanotechnologien für maßgeschneiderte Materialien und Bauelemente 861 862 863 864 865 866 867 868 869 870 871 872 873 874 875 876 877 878 879 880 881 882 883 884 885 886 887 888 889 890 891 892 893 894 895 896 897 898 899 900 901 902 903
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absorbiert wird. Die Spiegeloptiken an sich sind ebenfalls ohne Nanotechnologie nicht herstellbar. Sie bestehen typischerweise aus Vielfach - Doppelschichten aus Materialien wie Molybdän und Silizium mit Schichtdicken im Nanometerbereich (van Loyen et al. 2005).
Mittels EUV Lithographie definierte Teststrukturen mit Breiten von 40 nm und Perioden von 120 nm.
Halbleiterquantenpunktlaser für die Glasfaserübertragung Halbleiterlaser sind hocheffiziente, kompakte, kohärente Lichtquellen (Tachibana et al. 1999). Die hohe Konversionseffizienz von elektrischer Leistung in Lichtleistung beruht auf der Möglichkeit die Laserdioden elektrisch zu pumpen. Durch die große Verstärkung dieser Festkörperlaser sind Abmessungen im Bereich weit unter ein Millimeter möglich. Die erreichbaren Wellenlängen entsprechen der Bandlücke des Verstärkungsmaterials. Für CD- und DVD- Geräte werden gegenwärtig als Verstärkungsmaterial Quantenfilme mit Dicken um 10 nm auf der Basis von GaAs vorrangig eingesetzt, bei dem die Emissionwellenlänge im Bereich 900 nm liegt. Um höhere Speicherdichten zu erzielen, werden Systeme mit GaN (Wellenlänge um 400 nm) basierenden Lasern seit kurzem angeboten. Wegen der geringen Dämpfung und der verschwindenden Dispersion der vorhandenen Fasern sind für die Glasfaserübertragung bei höchsten Datenraten Laser mit Emissionswellenlängen von 1.55 µm bzw. 1.3 µm von besonderem Interesse (Klopf et al. 2001). In dieser Anwendung dominieren gegenwärtig Quantenfilme auf InP – Basis. Fertigungstechnisch weist das GaAs – Materialsystem verschiedene wichtige Vorteile auf. Allerdings ist die maximal erreichbare Wellenlänge bei den üblicherweise verwendeten Schichten aus InGaAs auf ca. 1,2 µm begrenzt. Hierbei werden für längere Emissionswellenlängen InGaAs - Legierungen mit einem immer größeren In-
Querschnittsaufnahme einer Laserstruktur mit mehreren Quantenpunktschichten
578 904 905 906 907 908 909 910 911 912 913 914 915 916 917 918 919 920 921 922 923 924 925 926 927 928 929 930 931 932 933 934 935 936 937 938 939 940 941 942 943 944 945 946
16 Wege in die Nanowelt Gehalt benötigt. Diese lassen sich wegen der starken Verspannungen nur noch als kleine Inseln (Quantenpunkte) selbst organisiert auf GaAs – Substraten abscheiden. Die Quantenpunktlaser weisen gegenüber Quantenfilmen eine Reihe wichtiger Vorteile auf. Durch den Einschluss der Elektronen und Löcher in die Quantenpunkte kann bei sehr geringen Betriebströmen die Laserschwelle überschritten werden. Wie ein Vergleich mit den Ergebnissen von quantenmechanischen Modellrechnungen zeigt ist dies eine direkte Konsequenz des Einsatzes nulldimensionaler Strukturen als Verstärkungsmaterial.
Emissionsspektren von Quantenpunktlasern
Gleichzeitig sind in optimierten Strukturen die Laserschwelle und die Umwandlungseffizienz elektrischer Leistung in Lichtleistung von Raumtemperatur bis über 60° C nicht signifikant von der Temperatur abhängig, ganz im Gegensatz zu Quantenfilmlasern, bei denen aufwändige Temperaturregelungen eingesetzt werden müssen um die Betriebsbedingungen konstant zu halten.
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Rita Wodzinski
17 Mädchen im Physikunterricht 17.1 Einleitung Das Fach Physik ist für viele Mädchen mit Abstand das unbeliebteste Fach, für einige sogar ein „Horrorfach“. Wenn es die Möglichkeit gibt, Physik abzuwählen, dann entscheiden sich viele Mädchen bewusst gegen die Physik (z.B. Zwiorek 2006). In Physik-Leistungskursen sind Mädchen nach wie vor mit etwa 10% klar unterrepräsentiert und nur wenige wählen Berufe oder Studiengänge im naturwissenschaftlich-technischen Bereich. Das frühzeitige Abwenden von der Physik führt u.a. dazu, dass viele Mädchen zu einem wichtigen Teil unserer Kultur keinen Zugang finden, bei gesellschaftlich wichtigen Fragen nicht mitreden können und im Hinblick auf ihre persönliche und berufliche Entwicklung ein schmaleres Spektrum an Möglichkeiten haben als viele Jungen. Schon zu Beginn der 80er Jahre wurde diese Problematik in den Blickpunkt einer breiten Öffentlichkeit gerückt. Für Anhänger der Frauenbewegung war die Situation der Mädchen im Physikunterricht ein besonders deutliches Beispiel für die Benachteiligung von Mädchen im Bildungssystem (z.B. Spender 1985). Eine stärkere Förderung der Mädchen in Naturwissenschaften und Technik sollte ihnen nicht nur mehr Chancen auf dem Arbeitsmarkt einräumen, sondern auch eine Basis für private und politische Entscheidungen bereitstellen und ihnen so zu mehr Emanzipation und Gleichberechtigung verhelfen. Angesichts eines sinkenden Images der Naturwissenschaften und eines zunehmenden Mangels an Fachkräften im naturwissenschaftlich-technischen Bereich sind aber auch wirtschaftliche Interessen bei der Mädchenförderung nicht zu übersehen (vgl. Muckenfuß 1995). Neuere Untersuchungen zum Thema „Mädchen und Physik“ machen noch ein weiteres Motiv deutlich, sich mit der besonderen Situation der Mädchen im Physikunterricht auseinander zu setzen. Die Untersuchungsergebnisse bestätigen nämlich, dass eine Orientierung des Unterrichts an den Mädchen auch den Jungen zugute kommt und eine Qualitätssteigerung des Physikunterrichts insgesamt bedeutet. Wagenschein hat dies vor vielen Jahren bereits in der griffigen und häufig zitierten Formulierung zusammengefasst: „Wenn man sich nach den Mädchen richtet, ist es auch für Jungen richtig, umgekehrt aber nicht“ (Wagenschein 1965, 350). In den letzten Jahren ist ein entsprechender Wandel in der Auseinandersetzung mit dem Thema „Mädchen und Physik“ zu beobachten. Der Blick ist nicht mehr auf Defizite auf Seiten der Mädchen gerichtet, die es zu beheben gilt, sondern auf Defizite des Physikunterrichts, für die das Desinteresse der Mädchen ein Indikator ist (vgl. Muckenfuß 1995, 58).
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17 Mädchen im Physikunterricht
17.2 Ein erster Überblick 17.2.1 Die besondere Situation der Mädchen im Physikunterricht Unterschiede in kognitiven Fähigkeiten?
Mädchen unterscheiden sich von Jungen nicht nur im Hinblick auf das Interesse, sondern sie erzielen auch deutlich geringere Leistungen als ihre männlichen Klassenkameraden. In der TIMS-Studie z.B. wurden am Ende der 8. Klasse in den alten Bundesländern Leistungsunterschiede zwischen Jungen und Mädchen festgestellt, die dem Leistungsfortschritt etwa eines Schuljahres entsprechen. In den neuen Bundesländern war der Unterschied etwa halb so groß (Baumert u.a. 1997, 158). Während man vor einigen Jahren die Leistungsunterschiede noch mit unterschiedlichen kognitiven Fähigkeiten von Mädchen und Jungen - insbesondere dem räumlichen Vorstellungsvermögen - erklärte, zeigen heutige Tests kaum noch Unterschiede in den kognitiven Leistungen der Jungen und Mädchen (Baumert u.a. 1997, 148; Hoffmann u.a. 1997, 22; s. auch Kotte 1992). Es gibt also keinen Grund anzunehmen, dass Mädchen im Physikunterricht nicht grundsätzlich zu den gleichen Leistungen fähig wären wie die Jungen.
Interesse und Leistung
Häufig wird ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen den geringeren Leistungen und den geringeren Interessen der Mädchen vermutet. Entsprechend wird erwartet, dass eine stärkere Berücksichtigung der Interessen der Mädchen auch zu besseren Leistungen bei den Mädchen führt. Tatsächlich ist ein solcher kausaler Zusammenhang zwischen Interesse und Leistungen aber nicht nachweisbar (Krapp 1992).
17.2.2 Einige Ursachen Geschlechtsstereotype
Als Hauptursache für die Unterschiede bzgl. Interesse und Leistungen von Jungen und Mädchen im Physikunterricht werden vor allem gesellschaftlich relativ fest verankerte Geschlechtsstereotype angesehen, nach denen Weiblichkeit und Interesse an der Physik als unvereinbar gelten. Besonders in der Pubertät, in der Jungen und Mädchen ihre Geschlechtsidentität aufbauen, führt das Image der Physik als männliches Fach dazu, dass Mädchen sich von der Physik abwenden (Kessels et al 2002; Kessels 2004). Geschlechtsstereotype bestimmen aber darüber hinaus auch, wie Jungen und Mädchen erzogen werden, wie Lehrerinnen und Lehrer mit ihnen umgehen, welches Selbstbewusstsein Jungen und Mädchen entwickeln, usw.
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Oft werden folgende Einzelaspekte angeführt, um die Interessensund Leistungsunterschiede von Jungen und Mädchen zu erklären. 1. Vorerfahrungen: Mädchen bringen aus ihrem Elternhaus nachweislich weniger Erfahrungen im Umgang mit physikalischtechnischen Gegenständen und Phänomenen mit als Jungen und werden von ihrem Umfeld seltener dazu angeregt, sich mit physikalischen Themen zu beschäftigen. Da sich in vielen Untersuchungen das Vorwissen als wichtige Einflussgröße auf den Lernerfolg herausstellt, ist zu vermuten, dass das unterschiedliche Vorwissen auch für die Unterschiede im Lernen von Jungen und Mädchen ein wichtiger Faktor ist. Empirisch ist dieser Zusammenhang jedoch nicht eindeutig geklärt (Baumert u.a. 1998; Ziegler u.a. 1997; Jones et al. 2000).
Vorerfahrungen
2. Ungleiche Interaktionsmuster von Lehrkräften und Mitschülern gegenüber Jungen und Mädchen: Untersuchungen zeigen, dass Lehrerinnen und Lehrer mit Jungen im Physikunterricht anders umgehen als mit Mädchen: Mädchen werden weniger beachtet, sie erhalten weniger Aufmerksamkeit durch Lob oder Tadel und werden seltener am Unterricht beteiligt. Bei gleichen Leistungen erhalten Jungen mehr Lob, während Mädchen häufig Anerkennung für soziales Wohlverhalten bekommen. Diese Verhaltensweisen sind den Lehrkräften in aller Regel nicht bewusst und treten selbst dann auf, wenn die Lehrerinnen und Lehrer mit der Problematik vertraut sind und sich um Gleichbehandlung bemühen (Haggerty 1995; Spender 1985, 92 ff). Gezielte Beobachtung von außen oder Videomitschnitte des eigenen Unterrichts sind ein wertvolles Hilfsmittel, um sich mit den eigenen Verhaltensweisen zu konfrontieren.
Interaktionen
Auch in den Interaktionen zwischen Jungen und Mädchen sind Mädchen eher benachteiligt (Enders-Dragässer & Fuchs 1989). 3. Unterschiedliches Selbstbild: Ein weiterer wichtiger Einflussfaktor auf Interesse und Leistungen ist das Selbstvertrauen und die Einschätzung der eigenen Leistungsfähigkeit in Physik. Man bezeichnet dies auch als fachspezifisches Selbstkonzept (Hoffmann u.a. 1997). Besonders deutlich kommt das unterschiedliche Selbstkonzept von Jungen und Mädchen zum Ausdruck in der Art, wie sie eigene Erfolge bzw. Misserfolge bewerten. Mädchen neigen dazu, Erfolge eher äußeren Faktoren zuzuschreiben, auf die sie selbst keinen Einfluss haben, wie z.B., dass sie einfach Glück gehabt haben, dass die Arbeit leicht war etc. Misserfolge dagegen schreiben sie ihrer eigenen Unfähigkeit bzw. ihrer mangelnden Begabung für das Fach zu. Bei Jungen verläuft das Muster genau umgekehrt. Sie führen Erfolge eher auf ihre persönliche Begabung zurück, während sie für Mis-
Selbstkonzept
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17 Mädchen im Physikunterricht serfolge äußere Ursachen angeben, wie die Tatsache, dass der Lehrer schlecht bewertet hat, dass die Aufgaben unfair gestellt waren etc. Diese unterschiedlichen Muster führen dazu, dass die Vorstellung der Mädchen, für die Naturwissenschaften unbegabt zu sein, immer neue Nahrung erhält (Möller & Jerusalem 1997; Hoffmann u.a. 1997; Horstkemper 1987). Mädchen
Jungen
äußere Ursachen (Glück, leichte Aufgaben) Erfolg
Misserfolg innere Ursachen (fehlende Begabung)
äußere Ursachen (Pech, schwere Aufgaben) Erfolg
Misserfolg innere Ursachen (Begabung)
Abb. 17.1: Unterschiedliche Muster der Erfolgs- und Misserfolgszuweisung von Jungen und Mädchen Lehrkräfte neigen dazu, diese Muster der Erfolgs- und Misserfolgszuweisung für beide Geschlechter noch zu verstärken (vgl. Ziegler u.a. 1998b). Entsprechend verschärfen sich die Unterschiede im Selbstbild im Laufe der Schulzeit noch. Sie bestimmen wesentlich, ob sich z.B. Abiturientinnen für ein naturwissenschaftliches Studium entscheiden. So schätzen Studentinnen mit weit überdurchschnittlichen Kenntnissen in Naturwissenschaften ihre Fähigkeiten doppelt so oft als zu gering ein, um Naturwissenschaften zu studieren, als ihre männlichen Kollegen (Hoffmann u.a. 1997, 24). Das fachspezifische Selbstkonzept hat sich in vielen Untersuchungen als wichtigste Variable zur Erklärung der Unterschiede in den Leistungen und dem Interesse am Fach Physik erwiesen. Für das Sachinteresse, also das Interesse an physikalischen Themen und Sachverhalten, spielt das fachspezifische Selbstkonzept allerdings nur eine geringe Rolle (Hoffmann u.a. 1998; Baumert u.a. 1998). (Zur Unterscheidung zwischen Sach- und Fachinteresse siehe weiter unten.) Unterrichtsgestaltung an den Mädchen vorbei
4. Unterrichtsgestaltung an den Mädchen vorbei: Eine weitere Ursache für das Abwenden der Mädchen von der Physik wird darin gesehen, dass der traditionelle Physikunterricht die Interessen der Mädchen zu wenig berücksichtigt. Untersuchungen zeigen, dass die Mädchen durchaus Interesse an den Themen des Physikunterrichts
17.2 Ein erster Überblick 216 217 218 219 220 221 222 223 224 225 226 227 228 229 230 231 232 233 234 235 236 237 238 239 240 241 242 243 244 245 246 247 248 249 250 251 252 253 254 255 256 257 258
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haben. Sie reagieren jedoch - anders als viele Jungen - sehr sensibel darauf, in welchen Kontext das jeweilige Thema eingebettet ist. Auch bevorzugen Mädchen andere Lernformen als Jungen. Kooperatives Lernen wird z.B. von ihnen mehr geschätzt als konkurrierendes Lernen. Der traditionelle Physikunterricht nimmt darauf bisher zu wenig Rücksicht. Er orientiert sich noch immer an den Interessen der Teilgruppe der hoch interessierten Jungen, deren Interesse für Physik durch die Unterrichtsgestaltung kaum erschüttert werden kann.
17.2.3 Ansatzpunkte, um den Mädchen besser gerecht zu werden Die Maßnahmen, die vorgeschlagen werden, um die Ungleichheiten von Jungen und Mädchen im Physikunterricht zu reduzieren, greifen an den verschiedenen oben dargestellten Ursachenkomplexen an: So bieten inzwischen verschiedene Institutionen und Organisationen Veranstaltungen nur für Mädchen an, in denen Mädchen in geschlechtshomogenen Gruppen die Möglichkeit erhalten, unbeobachtet von den Jungen eigene Erfahrungen mit Naturwissenschaften und Technik zu machen, um so den Erfahrungsrückstand auszugleichen und ein positiveres Selbstkonzept aufzubauen. Der Sachunterricht in der Grundschule kann durch stärkeres Einbinden naturwissenschaftlich-technischer Themen ebenfalls dazu beitragen, den Erfahrungsrückstand der Mädchen zu reduzieren (Mammes 2001).
Mädchenprojekte
Ein anderer Ansatzpunkt ist die gezielte Sensibilisierung von Lehrerinnen und Lehrern für die Problematik der Mädchen. Sie stellt offenbar eine notwendige Grundvoraussetzung dar, ohne die spezielle Unterrichtskonzepte zur Förderung der Mädchen wesentlich an Wirksamkeit verlieren (s.u.).
Lehrertraining
Auch gezielte Trainings für Mädchen, sogenannte Reattributionstrainings, wurden erprobt, um die Mechanismen aufzubrechen, die zu einer Verstärkung ihres eher negativen Selbstbildes beitragen.
Reattributionstraining
In den 90er Jahren wurde außerdem die Frage diskutiert, ob Mädchen an Mädchenschulen in den Naturwissenschaften besser gefördert werden als an koedukativen Schulen. Dies gilt inzwischen als erwiesen (Ziegler u.a. 1998a; Gillibrand et al. 1999; Kessels 2004). Dennoch wird eine Aufhebung der Koedukation höchstens zeitweise und auf den Physikunterricht in den Anfangsklassen beschränkt erwogen. Eine rein formale Geschlechtertrennung trägt vermutlich auch nur wenig dazu bei, die Situation der Mädchen zu verändern (siehe dazu auch die Gegenrede von Horstkämper im Beitrag von
Aufhebung der Koedukation?
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17 Mädchen im Physikunterricht Kessels 2004). Wenn jedoch zusätzlich in der Unterrichtsgestaltung auf die Interessen, Voraussetzungen und Lernformen der Mädchen Rücksicht genommen wird, dann profitieren die Mädchen (aber auch die Jungen) von einer solchen Unterrichtsorganisation in hohem Maß. Dies ist das Ergebnis einer umfangreichen Studie, die weiter unten ausführlicher beschrieben ist. (Zur Koedukationsdebatte siehe z.B. die Sammelbände von Faulstich-Wieland (1987), Kreienbaum & Metz-Göckel (1992), Glumpler (1994), eine Zusammenfassung siehe Willer (2003).)
17.3 Fachdidaktische Beiträge zur Förderung der Mädchen im Physikunterricht 17.3.1 Konkrete Unterrichtsvorschläge Es gibt inzwischen eine Reihe konkreter Unterrichtsvorschläge, die sich inhaltlich und methodisch an den Interessen der Mädchen orientieren. Beispiele finden sich in zwei Themenheften der Zeitschrift „Unterricht Physik“ („Mädchen und Physikunterricht“, Heft 1, 1990, „Mädchen und Jungen auf dem Weg zur Physik“, Heft 49, 1999). Vorschläge für die Sekundarstufe I
„Mädchenfreundliche Physikprojekte“ finden sich auch in einer Dokumentation zum Modellversuch MINT (Mädchen in Naturwissenschaften und Technik), der Ende der 80er Jahre in NordrheinWestfalen durchgeführt wurde (Uhlenbusch 1992). Ausführliche Unterrichtskonzepte für den Anfangsunterricht in der Sekundarstufe I mit besonderer Berücksichtigung der Mädchen sind bei Faißt u.a. (1994) veröffentlicht.
Vorschläge für die Sekundarstufe II
Für die Oberstufe hat Berger (2000) ein umfassendes Unterrichtskonzept für die Themenbereiche „Röntgenstrahlung“ und „Wellen“ vorgelegt, das sich an den medizinischen Kontexten „Computertomografie“ und „Ultraschall“ orientiert. Weitere Anregungen für Unterricht in den Klassen 10 bis 13 findet man in einer Zusammenstellung des Pädagogischen Zentrums Rheinland-Pfalz (1998).
17.3.2 Die Interessenstudien des IPN Viele der veröffentlichten Unterrichtsvorschläge zur Förderung der Mädchen stützen sich auf Untersuchungen von Lore Hoffmann, Peter Häußler und Manfred Lehrke, die in den 80er und 90er Jahren am Institut für Pädagogik der Naturwissenschaften (IPN) in Kiel durchgeführt wurden. Darin wurde untersucht, wo die Interessen von
17.3 Fachdidaktische Beiträge zur Förderung der Mädchen im Physikunterricht
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Jungen und Mädchen bezogen auf den Physikunterricht liegen, wie sich diese Interessen im Laufe der Sekundarstufe I entwickeln und welche Faktoren die Interessen bestimmen (s. Hoffmann u.a. 1998.) Ausgehend von den Ergebnissen dieser Studie wurden im Rahmen einem BLK-Projektes verschiedene Maßnahmen zur Verbesserung des Situation der Mädchen im Physikunterricht vorgeschlagen und auf ihre Wirkung hin empirisch untersucht. (Beide Studien sind kompakt zusammengefasst bei Häußler & Hoffmann 1995.) Wichtige Ergebnisse der Interessenstudie sind: • Wenn Schülerinnen und Schüler das Fach Physik uninteressant finden, dann bedeutet das nicht, dass sie an physikalischen Themen kein Interesse haben. Mit anderen Worten: man muss deutlich unterscheiden zwischen dem Sachinteresse und dem Fachinteresse. Zwischen beiden gibt es erstaunlicherweise nur einen geringen Zusammenhang. Dies lässt sich auch als Indiz für die geringe Passung von Unterrichtsangebot und Interessen deuten.
Sachinteresse ≠ Fachinteresse
• Das Sachinteresse nimmt im Laufe der Schulzeit ab und zwar bei Mädchen stärker als bei Jungen. Dadurch erhöht sich die Kluft zwischen Jungen und Mädchen von Jahr zu Jahr. • Das Sachinteresse an einem physikalischen Thema wird nicht so sehr vom Sachgebiet bestimmt, sondern davon, in welchen Kontext das Thema eingebettet bzw. mit welchem Anwendungsbereich das Thema verknüpft ist. Während das Interesse der Jungen generell hoch ist, reagieren Mädchen sehr sensibel auf die Wahl des Anwendungsbereiches. So interessieren sich z.B. 80% der Mädchen für eine Pumpe, die als künstliches Herz Blut pumpt, aber nur 40% für eine Pumpe, die Erdöl aus großer Tiefe an die Erdoberfläche pumpt. Von den Jungen interessieren sich für beide Pumpentypen etwa 60%. Folgende Kontexte haben sich für Jungen und Mädchen als besonders günstig in Bezug auf das Interesse erwiesen: • „Die Anbindung physikalischer Inhalte an alltägliche Erfahrungen und Beispiele aus der Umwelt ist für Schülerinnen und Schüler Interesse fördernd, für Mädchen jedoch nur, wenn sie dabei auf Erfahrungen zurückgreifen können, die sie tatsächlich gemacht haben.
Kontexte prägen das Sachinteresse
Günstige Kontexte für das Interesse
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17 Mädchen im Physikunterricht • Inhalte mit einer emotional positiv getönten Komponente, also etwa Phänomene, über die man staunen kann und die zu einem Aha-Erlebnis führen, werden generell als interessant empfunden. Mädchen sind dabei eher über ein die Sinne unmittelbar ansprechendes Erleben (z.B. Naturphänomene) erreichbar und weniger über erstaunliche technische Errungenschaften (Negativbeispiel: Leistung von Motoren). • Das Interesse an der gesellschaftlichen Bedeutung der Physik ist generell relativ hoch: bei Mädchen um so höher, je älter sie sind und je deutlicher eine unmittelbare Betroffenheit angesprochen wird. • Das Interesse an einem Bezug der Physik zum menschlichen Körper ist insbesondere bei Mädchen auffallend groß. Dazu gehören z.B. Anwendungen in der medizinischen Diagnostik und Therapie, Gefährdungen der Gesundheit und Erklärungen der Funktionsweise von Sinnesorganen. Aber auch die Jungen interessieren sich dafür nicht weniger als z.B. für technische Anwendungen. • Das Entdecken oder Nachvollziehen von Gesetzmäßigkeiten um ihrer selbst willen wird von Jungen und Mädchen als weniger interessant empfunden, insbesondere wenn es um eine quantitative Beschreibung (Formeln!) geht. Das Interesse steigt, wenn ein Anwendungsbezug hergestellt wird und dabei der Nutzen oder die Notwendigkeit einer Quantifizierung erfahren werden können“ (Häußler & Hoffmann 1995, 113).
Tätigkeiten im Unterricht
Neben den Kontexten spielen auch die Tätigkeiten eine Rolle, die mit dem Thema im Unterricht verknüpft sind. Dabei ergab sich folgendes Bild: • Hohes Interesse besteht bei Jungen und Mädchen an den Tätigkeiten auf der praktisch-konstruktiven Ebene wie „etwas bauen“, „einen Versuch aufbauen“, „ein Gerät konstruieren“, „einen Versuch selber durchführen“, „Messungen machen“, „etwas ausprobieren“, und „ein Gerät auseinander nehmen oder zusammensetzen“. • Relativ geringes Interesse wird an Tätigkeiten auf der theoretisch-konstruktiven Ebene geäußert wie „sich ausdenken, wie man eine bestimmte Vermutung durch einen Versuch prüfen kann“, „etwas berechnen“, „den Ausgang eines Versuchs exakt vorhersagen“ und „Aufgaben lösen“ (Hoffmann u.a. 1997, 21).
17.3 Fachdidaktische Beiträge zur Förderung der Mädchen im Physikunterricht 345 346 347 348 349 350 351 352 353 354 355 356 357 358 359 360 361 362 363 364 365 366 367 368 369 370 371 372 373 374 375 376 377 378 379 380 381 382 383 384 385 386 387
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(Da das Interesse an diesen Tätigkeiten ebenfalls stark vom jeweiligen Kontext dominiert wird, ist eine solche Verallgemeinerung allerdings mit gewisser Vorsicht zu betrachten (s. Muckenfuß 1995).) Zusammenfassend ist festzuhalten, dass sich Jungen und Mädchen insgesamt nur wenig in ihrem Urteil unterscheiden, was Physikunterricht interessant machen könnte. Traditioneller Unterricht nimmt auf diese Interessen bisher wenig Rücksicht. Es gibt zwar bestimmte Themen und Kontexte, in denen Mädchen deutlich geringeres Interesse zeigen als Jungen (z.B. Elektronik), aber was die Mädchen interessiert, stößt immer auch bei den Jungen auf Interesse. Umgekehrt gilt dies nicht.
Zusammenfassung
Möglicherweise ließe sich also die Situation der Mädchen im Physikunterricht schon dadurch verbessern, dass man den Unterricht stärker an den Interessen der Mädchen orientiert. Dies sollte gleichzeitig auch den Jungen zugute kommen. Denn vergleicht man den realen Unterricht mit den von den Jungen geäußerten Interessen, so klafft zwischen beidem eine größere Lücke als zwischen den Interessen der Jungen und Mädchen.
17.3.3 Der BLK-Modellversuch Im Rahmen des BLK-Modellversuchs „Chancengleichheit – Veränderung des Anfangsunterrichts Physik/Chemie unter besonderer Berücksichtigung der Kompetenzen und Interessen von Mädchen“ wurde der Frage nachgegangen, wie sich eine Orientierung des Physikunterrichts an den Interessen der Mädchen auf Jungen und Mädchen im einzelnen auswirkt (Hoffmann u.a. 1997; Häußler & Hoffmann 1998). Für die gesamte Jahrgangsstufe 7 des Gymnasiums wurde ein Curriculum entwickelt, das sich insbesondere durch die Einbettung der Inhalte in lebensweltliche Kontexte auszeichnet. Dieses Prinzip wird bereits in den Überschriften der Unterrichtseinheiten deutlich: • Wir bauen Musikinstrumente und messen Lärm. • Wir untersuchen den Fahrradhelm und messen Geschwindigkeiten und Kräfte. • Wärme und Wärmequellen beim Zubereiten von Speisen. • Von einfachen Schaltungen und raffinierten Schaltern. • Wir machen Bilder.
Einbettung der Inhalte in lebensweltliche Kontexte
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10 Gesichtspunkte für die Gestaltung naturwissenschaftlichen Unterrichts
17 Mädchen im Physikunterricht Die Konzeption der Unterrichtseinheiten orientierte sich an folgenden 10 Gesichtspunkten, die aus den Interessenuntersuchungen abgeleitet wurden (Faißt u.a. 1994, 10). 1. Wie wird Schülerinnen und Schülern Gelegenheit gegeben, zu staunen und neugierig zu werden, und wie wird erreicht, dass daraus ein Aha-Erlebnis wird? 2. Wie wird an außerschulische Erfahrungen angeknüpft, die zur Vermeidung geschlechtsspezifischer Dominanzen Mädchen und Jungen in gleicher Weise zugänglich sind? 3. Wie wird es Schülerinnen und Schülern ermöglicht, aktiv und eigenständig zu lernen und Erfahrungen aus erster Hand zu machen? 4. Wie wird erreicht, dass Schülerinnen und Schüler einen Bezug zum Alltag und zu ihrer Lebenswelt herstellen können? 5. Wie wird dazu angeregt, die Bedeutung der Naturwissenschaften für die Menschen und die Gesellschaft zu erkennen und danach zu handeln? 6. Wie wird der lebenspraktische Nutzen der Naturwissenschaften erfahrbar gemacht? 7. Wie wird ein Bezug zum eigenen Körper hergestellt? 8. Wie wird die Notwendigkeit und der Nutzen der Einführung und des Umgehens mit quantitativen Größen verdeutlicht? 9. Wie wird sichergestellt, dass den Formeln ein qualitatives Verständnis der Begriffe und ihrer Zusammenhänge vorausgeht? 10.Wie kann vorzeitige Abstraktion vermieden werden zugunsten eines spielerischen Umgangs und unmittelbaren Erlebens?
Weitere Maßnahmen des Modellversuchs
Neben dem neuen Curriculum wurde auch die Wirkung weiterer Maßnahmen zur Förderung der Mädchen untersucht, nämlich • die Sensibilisierung der Lehrkräfte für die Mädchenproblematik • die Halbierung der Klassen in jeder zweiten Physikstunde • die Halbierung der Klassen nach Geschlechtern getrennt in jeder zweiten Physikstunde Um die Wirkung der Maßnahmen getrennt untersuchen zu können, wurden aus den 16 Klassen vier Untergruppen gebildet, in denen jeweils unterschiedlich viele Maßnahmen umgesetzt wurden: In allen Klassen wurde der Unterricht nach dem neuen Curriculum erteilt. Mit Ausnahme der ersten Gruppe wurden alle anderen Lehrkräfte zu Beginn des Schuljahres in die besondere Problematik der Mädchen
17.3 Fachdidaktische Beiträge zur Förderung der Mädchen im Physikunterricht 431 432 433 434 435 436 437 438 439 440 441 442 443 444 445 446 447 448 449 450 451 452 453 454 455 456 457 458 459 460 461 462 463 464 465 466 467 468 469 470 471 472 473
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eingeführt und in geeigneten Verhaltensweisen geschult. In der dritten und vierten Gruppe wurden zusätzlich die Klassen in jeder zweiten Unterrichtsstunde geteilt und in Halbklassen unterrichtet. Bei der dritten Gruppe wurden die Halbklassen koedukativ gebildet, während in der vierten Gruppe die Halbklassen geschlechtshomogen mit Jungen und Mädchen besetzt wurden. Als Kontrollgruppe dienten sieben Klassen, die ohne irgendeine der genannten Maßnahmen traditionell unterrichtet wurden (s. Häußler & Hoffmann 1998). neues Sensibilisierung Halbierung Curriculum der Lehrkräfte der Lerngruppe Gruppe 1
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Halbierung nach Geschlecht
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Abb. 17.2: Übersicht über die in den verschiedenen Untersuchungsgruppen eingesetzten Maßnahmen In der Untersuchung wurde der Einfluss der verschiedenen Maßnahmen auf die Interessen und Leistungen der Schülerinnen und Schüler sowie auf deren Selbstkonzeptentwicklung deutlich: Insgesamt haben die verschiedenen Maßnahmen positive Wirkungen gezeigt, aber nicht immer den Erwartungen entsprechend. Insbesondere konnte das neue Unterrichtskonzept, das sich an den Interessen der Mädchen orientierte, für sich allein nicht zum Rückgang des Interessenverlustes weder der Mädchen, noch der Jungen beitragen. Wesentlicher Effekt des neuen Curriculums ist der Beitrag zu besseren längerfristigen Behaltensleistungen bei Jungen und Mädchen. Bei Mädchen trug das neue Curriculum außerdem zur Entwicklung eines positiveren Selbstkonzeptes bei. Man hätte erwartet, dass das neue Unterrichtskonzept die Mädchen für den Unterricht stärker motiviert. Dies stellte sich in den Untersuchungen so jedoch nicht heraus. Eine erhöhte Motivierung wurde nur erreicht, wenn Lehrkräfte für die Mädchenproblematik sensibilisiert worden waren. (Offen bleibt, ob die Effekte auch bei traditionellem Curriculum erreicht worden wären.) Von einer Sensibilisierung der Lehrkräfte profitierten auch die Jungen, und zwar im Hinblick auf die Behaltensleistungen am Ende des Schuljahres, die Leistungen der Mädchen dagegen blieben von der Sensibilisierung unbeeinflusst.
Ergebnisse des Modellversuchs
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Die entscheidende Maßnahme
17 Mädchen im Physikunterricht Die zur Förderung der Mädchen entscheidende Maßnahme ist die Trennung der Mädchen und Jungen in geschlechtshomogene Halbklassen. Die Mädchen erzielten hier Leistungen, die über dem Niveau aller anderen Mädchen- und Jungengruppen lagen. Außerdem ist die Geschlechtertrennung die einzige Maßnahme, die den Interessenrückgang innerhalb des Schuljahres bei Jungen und Mädchen stoppen konnte. Die Trennung der Geschlechter hat wider Erwarten nur geringen Einfluss auf die Entwicklung des Selbstkonzeptes. Die Untersuchung zeigt, dass eine Veränderung der Interessen und Leistungen der Mädchen weit schwieriger zu erreichen ist, als man dies auf den ersten Blick vermuten würde. Die Untersuchung belegt außerdem eindrucksvoll, dass von den Maßnahmen zur Förderung der Mädchen in hohem Maße auch die Jungen profitieren. Die Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen bezüglich des Interesses konnten zwar durch die Maßnahmen nicht reduziert werden, aber die Ergebnisse des Unterrichts insgesamt wurden verbessert.
17.3.4 Die Schweizer Koedukationsstudie Eine andere Interventionsstudie zur Förderung der Mädchen wurde unter dem Titel „Koedukation im Physikunterricht“ in der Schweiz von Walter Herzog, Peter Labudde und Mitarbeitern durchgeführt (Herzog u.a. 1997). Dazu wurden für die 11. und 12. Klassenstufe zwei Unterrichtseinheiten zur Geometrischen Optik und zur Kinematik konzipiert, die insgesamt 40 Lektionen umfassten. Der Unterrichtsgestaltung wurden folgende Kriterien eines mädchengerechten Unterrichts zugrunde gelegt (nach Herzog 1996): Kriterien eines mädchen-gerechten Unterrichts
1. Vorerfahrungen: Der Unterricht ist so zu gestalten, dass auf die unterschiedlichen Vorerfahrungen von Schülerinnen und Schülern in den Bereichen Physik und Technik Rücksicht genommen wird. Die Vorkenntnisse der Mädchen und Jungen sind didaktisch zu reflektieren. Die Wahl von Beispielen und Veranschaulichungen soll sich an den unterschiedlichen außerschulischen Erfahrungen von Jungen und Mädchen gleichermaßen orientieren. 2. Sprache: Der Unterricht ist sprachlich so zu gestalten, dass er für beide Geschlechter verständlich ist. Es ist darauf zu achten, dass nicht unreflektiert Ausdrücke verwendet werden, die nur dem einen Geschlecht geläufig sind. Termini, die auch im Alltag verwendet werden, sind sorgfältig zu klären. Die physikalische Fachsprache soll nur mäßig gebraucht werden. Es ist eine Unterrichtssprache zu verwenden, bei der der Übergang von der phänomenalen zur modellhaften Wirklichkeit nachvollziehbar wird.
17.3 Fachdidaktische Beiträge zur Förderung der Mädchen im Physikunterricht 517 518 519 520 521 522 523 524 525 526 527 528 529 530 531 532 533 534 535 536 537 538 539 540 541 542 543 544 545 546 547 548 549 550 551 552 553 554 555 556 557 558 559
3. Kontextbezug: Themen und Inhalte werden nicht abstrakt dargeboten, sondern in bezug auf deren Bedeutung für den Alltag oder für andere Fächer. Die Stoffe werden in wissenschaftshistorische oder – theoretische Kontexte eingebettet oder im Hinblick auf aktuelle gesellschaftliche Probleme dargestellt. Durch Kontextualisierung der Themen kann gezeigt werden, dass die Physik nicht mit der Natur als einem abstrakten Gegenstand zu tun hat, sondern mit einem Verhältnis, das Menschen zu bestimmten Zwecken und aufgrund spezifischer Interessen mit der Natur eingehen. 4. Lernstil: Der Unterricht hat auf den besonderen Lern- und Arbeitsstil der Mädchen Rücksicht zu nehmen. Dieser ist eher kooperativ als kompetitiv. Den Mädchen ist ausreichend Zeit für das Lösen von Aufgaben einzuräumen. Es ist darauf zu achten, dass der expansive Umgang von Jungen mit technischen Geräten den aufgabenorientierten Lernstil der Mädchen nicht stört. Die Schülerinnen und Schüler sind möglichst aktiv am Unterricht zu beteiligen. Gruppenarbeiten sind geschlechtshomogen durchzuführen. 5. Kommunikation: Unterricht ist kommunikativ und argumentativ zu gestalten. Die Sprache ist als Medium einzusetzen, um physikalische Alltagsvorstellungen aufzudecken und zur Diskussion zu stellen. Die Auseinandersetzung mit den Wissensinhalten erfolgt diskursiv. Durch experimentierende und argumentierende Auseinandersetzung mit dem Lerngegenstand fungiert die Schulklasse als Ort der Wahrheitsfindung. Dies kann mündlich oder schriftlich erfolgen. 6. Attributionsstil: Der Unterricht hat unvorteilhaften Leistungsattribuierungen entgegenzuwirken. Lehrkräfte dürfen nicht die bei den Mädchen verbreitete Neigung verstärken, Misserfolge auf fehlende Begabung und Erfolge auf günstige äußere Bedingungen zurückzuführen. Bei der Gestaltung des Unterrichts und bei Interaktionen mit Schülerinnen und Schülern ist darauf zu achten, dass beide Geschlechter in ihrem Leistungsselbstvertrauen gestärkt werden. 7. Geschlechtsidentität: Im Unterricht ist der Eindruck zu vermeiden, die Physik sei eine Männerdomäne. Die aktive Teilnahme am Unterricht darf für die Mädchen nicht in Widerspruch zur Entwicklung ihrer weiblichen Geschlechtsidentität geraten. Es ist zu vermeiden, dass der Physikunterricht zum Antistereotyp des Weiblichen wird. Nach den so ausgearbeiteten Unterrichtseinheiten wurden insgesamt 22 Klassen unterrichtet. Auch hier wurden Untergruppen gebildet, deren Lehrkräfte eine zusätzliche Sensibilisierung erhielten bzw. sich dadurch auszeichneten, dass sie an der Ausarbeitung der Konzeption selbst beteiligt waren. Die Kontrollgruppe (9 Klassen) wurde traditionell unterrichtet.
Unterricht ist kontextuell zu gestalten
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17 Mädchen im Physikunterricht
Checkliste für mädchengerechtes Lehrerverhalten (nach Herzog u.a. 1997) 1. Interaktionen; Rückmeldungen • Ich bemühe mich darum, den Schülerinnen gleich viel Aufmerksamkeit zukommen zu lassen wie den Schülern. • Ich mute den Mädchen ebensoviel physikalisch-technische Kompetenz zu wie den Jungen. • Ich achte darauf, die Schülerinnen nicht nur für Anstrengung und gutes Benehmen zu loben, sondern auch für ihre physikalische Begabung. • Ich gebe den Eltern guter Schülerinnen gezielt positive Rückmeldungen über die Leistungen ihrer Tochter und ermuntere sie, diese bei einer technisch-naturwissenschaftlichen Berufswahl zu unterstützen. 2. Fragen-Antworten; Zeit • Ich bemühe mich darum, offene, nicht bereits von vornherein eindeutig zu beantwortende Fragen zu formulieren. • Ich achte darauf, auf eine Frage mehrere Antworten zu sammeln. • Ich bemühe mich darum, mich dem Lerntempo der Schülerinnen und Schüler anzupassen und den Schülerinnen etwas mehr Zeit (bei der Beantwortung einer Frage, beim Lösen von Aufgaben etc.) einzuräumen. • Bei einer falschen Antwort eines Mädchens gebe ich nicht sofort die richtige Lösung, sondern unterstütze nachfragend, d.h. ich achte darauf, (auch) die Schülerinnen nochmals aufzufordern, die Lösung zu finden, wenn sie zunächst gescheitert sind. 3. Selbstkonzept • Ich bemühe mich darum, physikalisches Wissen so zu vermitteln, dass nicht der Eindruck entsteht, Physik sei nur etwas für Hochbegabte. • Ich versuche, den Jungen auf nicht bloßstellende Weise zu verstehen zu geben, dass ihre Annahme, in physikalisch-technischen Belangen kompetenter zu sein als die Mädchen, oft auf einem oberflächlichen Wissen beruht. • Ich signalisiere den Mädchen, dass sie als Frauen nicht unattraktiver sind, wenn sie sich für Physik interessieren und gute Leistungen in diesem Fach erbringen. • Ich achte darauf, wie ich die Leistungen der Schülerinnen und Schüler erkläre: durch Begabung, durch Anstrengung, durch Glück/Pech, durch die Schwierigkeit der Aufgabe. Mir ist bewusst, dass die Motivation der Schülerinnen und der Schüler am besten gefördert wird, wenn ihre schlechten Leistungen auf mangelnde Anstrengung oder Pech und ihre guten Leistungen auf Begabung zurückgeführt werden.
17.3 Fachdidaktische Beiträge zur Förderung der Mädchen im Physikunterricht 603 604 605 606 607 608 609 610 611 612 613 614 615 616 617 618 619 620 621 622 623 624 625 626 627 628 629 630 631 632 633 634 635 636 637 638 639 640 641 642 643 644 645
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• Ich bemühe mich, (auch) den Schülerinnen Identifikationsmöglichkeiten mit Vorbildern in physikalisch-technischen Berufsfeldern zu geben (evtl. auf einer Exkursion). • Ich setze mich mit meinen eigenen Geschlechtsstereotypen auseinander. • Ich bemühe mich darum, mich meiner unterschiedlichen Erwartungen an die Schülerinnen und Schüler bewusst zu werden und durch Abbau von Stereotypen zu ändern. 4. Unterrichtsinhalte • Ich achte auf die (unterschiedlichen) Vorerfahrungen, die die Schülerinnen und Schüler in den Unterricht mitbringen. • Ich achte darauf, in meinem Unterricht Bezüge zu Menschen herzustellen. • Ich bemühe mich darum, bei der Verwendung von Aufgaben, Darstellungen, Skizzen, Testfragen usw. sowohl in quantitativer wie in qualitativer Hinsicht ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis zu wahren (Rollenklischees vermeiden). • Ich bemühe mich darum, in meinem Unterricht Bezüge zu Tagesaktualitäten herzustellen. 5. Lernformen; Lernklima • Ich achte darauf, in meinem Unterricht viele Gespräche zu führen, d.h. meinen Unterricht kommunikativ zu gestalten. • • • •
Ich führe verstärkt Gruppenarbeit durch und arbeite weniger im Klassenverband. Bei Gruppenarbeit achte ich darauf, geschlechtshomogene Gruppen zu bilden. Ich räume dem assoziativen Denken genügend Platz ein. Ich bemühe mich darum, eine kooperative Lernumgebung zu schaffen und so wenig wie möglich offene Konkurrenzsituationen aufkommen zu lassen.
• Ich achte auf eine „angenehme“ (auch die Mädchen ansprechende) Gestaltung des Unterrichtszimmers und bemühe mich darum, dass sich nicht nur die Jungen mit der Lernumgebung identifizieren können. • Ich gebe mich nicht nur als Physiklehrer bzw. als Physiklehrerin zu erkennen, sondern auch als Mensch. Allgemeines; Geschlecht; Berufsberatung • Ich rede mit den Jugendlichen und ihren Eltern über die Vielfalt der Berufe und gebe den Mädchen Einblick in Berufe, bei denen physikalische Kenntnisse vorausgesetzt werden und die sie ansprechen könnten. • Ich bemühe mich darum, das Thema Geschlecht/Geschlechterdifferenzen nicht zu forcieren. Ich greife das Thema dann auf, wenn ein manifester Anlass dazu besteht oder wenn die Schülerinnen und Schüler selbst dazu Anregungen geben.
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Ergebnisse der ersten Analyse
17 Mädchen im Physikunterricht Die Ergebnisse einer ersten Datenanalyse zeigen, dass die Maßnahmen nur zum Teil den erwarteten Erfolg gebracht haben. • Die Schülerinnen und Schüler der Versuchsklassen schnitten zwar beim Optiktest besser ab als die der Kontrollklassen, nicht aber beim Kinematiktest. • Die Schülerinnen und Schüler wurden mittels detaillierter Fragebögen befragt, inwieweit die didaktischen Kriterien eines mädchengerechten Unterrichts im Unterricht umgesetzt wurden. Demnach wurden einige dieser Kriterien in den Kontrollkassen besser eingelöst als in den Versuchsklassen. • Die Erwartungen an den zukünftigen Physikunterricht sind bei allen Mädchen tendenziell gestiegen, insbesondere bei den Mädchen in der Kontrollgruppe. Die Erwartungen der Jungen sind nur in der Kontrollgruppe gestiegen. In den Versuchsgruppen sind sie entweder stabil geblieben oder sogar gesunken. • Die Schülerinnen und Schüler der Kontrollklassen beurteilten die Lehrpersonen und ihre Art zu unterrichten positiver als in den Versuchsklassen. Die Kontrollklassen waren außerdem zufriedener mit der Lehrkraft und dem Unterricht. Die Autoren führen diese unerwarteten Ergebnisse darauf zurück, „dass erstens die Maßnahmen von den Lehrkräften in den Experimentalgruppen nur zum Teil umgesetzt worden sind und zweitens die Lehrkräfte der Kontrollgruppen gewisse Maßnahmen ohne Kenntnis des Untersuchungsdesigns spontan umgesetzt haben“ (Herzog u.a. 1997, 205). Die Kompetenz, mädchengerecht zu unterrichten, konnte demnach offenbar durch die Vorgabe des Unterrichtskonzeptes und das Lehrertraining nicht vermittelt werden. Die Daten wurden nun daraufhin analysiert, ob diese Kriterien eines mädchengerechten Unterrichts überhaupt die angenommenen Wirkungen zeigen. Dazu wurden alle beteiligten Klassen danach gruppiert, in welchem Ausmaß der Unterricht aus Sicht der Schülerinnen und Schüler „mädchengerecht“ durchgeführt wurde. Für diese Beurteilung wurde den Schülerinnen und Schülern ein Fragebogen mit 13 Items vorgelegt, die die eingangs genannten Kriterien wiederspiegeln. Die Klassen wurden in vier Gruppen eingeteilt, in denen unterschiedlich viele Kriterien erfüllt waren: Gruppe 1 = Erfüllung weniger Kriterien, …,Gruppe 4 = Erfüllung vieler Kriterien.
17.3 Fachdidaktische Beiträge zur Förderung der Mädchen im Physikunterricht 689 690 691 692 693 694 695 696 697 698 699 700 701 702 703 704 705 706 707 708 709 710 711 712 713 714 715 716 717 718 719 720 721 722 723 724 725 726 727 728 729 730 731
Dabei zeigt sich: • Die Gruppe, in der die meisten Kriterien eines mädchengerechten Unterrichts erfüllt waren (Gruppe 4), erzielte im Optiktest die besten Leistungen. Jungen erzielten insgesamt die besseren Leistungen. Die Mädchen in den Gruppen 3 und 4 erreichten aber im Optik- und im Kinematiktest Leistungen, die denen der Jungen in den Gruppen 1 und 2 entsprachen. • In den Klassen, in denen viele Kriterien eines mädchengerechten Unterrichts erfüllt waren, stieg die Motivation sowohl bei den Mädchen als auch bei den Jungen (gemessen in Form der Erwartungen an den Physikunterricht).
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Ergebnisse der zweiten Analyse
Die eingangs formulierten Kriterien eines mädchengerechteren Unterrichts führen also tatsächlich zu einer Steigerung von Motivation und Leistung bei den Mädchen. Wie im BLK-Modell gilt auch hier, dass ein an den Mädchen orientierter Unterricht Mädchen und Jungen zugute kommt, aber der Vorsprung der Jungen bleibt bestehen. Für die Motivierung der Schülerinnen und Schüler hat sich als besonders wichtig herausgestellt, dass der Unterricht an das Vorwissen der Schülerinnen und Schüler anknüpft, schülerorientiert, alltagsund phänomenbezogen ist und den Nutzen des Faches für andere Fächer aufzeigt. Ein solcher Unterricht ist ebenfalls, wenn auch weniger ausgeprägt, förderlich für gute Leistungen. Ein deduktiver Einstieg, die Orientierung des Unterrichts an der Fachsystematik und ein hoher Mathematisierungsgrad haben dagegen negative Auswirkungen auf Interesse und Leistungen der Schülerinnen und Schüler. Dass mädchengerechter Unterricht gleichzeitig besserer Unterricht ist, zeigen folgende weiteren Ergebnisse der Untersuchung: • Je mehr Kriterien eines mädchengerechten Unterrichts erfüllt waren, desto zufriedener waren die Schülerinnen und Schüler mit der Lehrperson und dem Unterricht und desto höher schätzten sie die Erklärungskompetenz der Lehrkraft und deren Fähigkeit zur Vermittlung von Lehrinhalten ein. • In Klassen, in denen viele Kriterien eines mädchengerechten Unterrichts erfüllt waren, wurden die Lehrkräfte als am wenigsten autoritär eingeschätzt. Schülerinnen und Schüler gaben am seltensten an, dass einzelne Schülerinnen und Schüler benachteiligt werden.
Mädchengerechter Unterricht = besserer Unterricht
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17 Mädchen im Physikunterricht
17.3.5 Fehlende sinnstiftende Kontexte Eine weitere Sicht auf die Problematik der Mädchen im Physikunterricht stellt Muckenfuß in seinem Buch „Lernen im sinnstiftenden Kontext“ dar, in dem er sich mit dem geringen Interesse der Mädchen aus bildungstheoretischer Perspektive auseinandersetzt (Muckenfuß 1995; zusammenfassend Muckenfuß 1996.) Er plädiert darin ebenfalls für eine Veränderung des Unterrichts gemäß den Bedürfnissen der Mädchen. Dabei geht es ihm jedoch nicht in erster Linie um die Förderung der Mädchen, sondern vielmehr um bildenden Unterricht überhaupt. demotivierende Wirkung fachsystematischen Unterrichts
In seiner Analyse bestehender Interessensuntersuchungen kommt er zu dem Schluss: „Das gesichertste und fachdidaktisch bedeutsamste Ergebnis der aktuellen Interessenforschung ist nicht der zweifellos vorhandene hohe Interessenunterschied zwischen Mädchen und Jungen, sondern die demotivierende Wirkung eines nur fachsystematischen Unterrichts auf Mädchen und Jungen, eines Unterrichts, dem es an Einbindung in einen sinnstiftenden Kontext mangelt“ (Muckenfuß 1995, 56).
Unterricht muss subjektiv bedeutsam sein
Der Schlüssel zur Steigerung des Interesses der Mädchen liegt seiner Ansicht nach nicht in einer stärkeren Betonung von Nützlichkeit, Alltagserfahrung, Gemüthaftigkeit und Sinnlichkeit. Es kommt vielmehr darauf an, den Physikunterricht so zu gestalten, dass er für die Schülerinnen und Schüler subjektiv bedeutsam wird und das Bedürfnis befriedigt, die Menschen, die Bedingungen ihrer Existenz und ihr Handeln besser zu verstehen. Ein solcher Unterricht hat nicht vorrangig im Auge, möglicht viele Schülerinnen für naturwissenschaftlich-technische Berufsfelder zu gewinnen. Im Gegenteil: Muckenfuß kommt sogar zu dem Schluss, dass Unterricht, der zum Ziel hat, die Mädchen für naturwissenschaftlich-technische Berufe besser zu qualifizieren, gerade der falsche Weg ist, um die Mädchen stärker für die Physik zu interessieren. Seiner Ansicht nach geht dies nur, indem Physikunterricht sich wieder stärker darauf besinnt, einen Beitrag zur Lebensorientierung und Persönlichkeitsentwicklung zu leisten. Zur genaueren Darstellung seiner Überlegungen führt Muckenfuß die Begriffe „Orientierungswissen“ und „Verfügungswissen“ ein, die sich auf die beiden grundlegenden Funktionen des Unterrichts, die Orientierungs- und die Qualifizierungsfunktion beziehen.
Orientierungswissen
Orientierungswissen umfasst dabei das Gefüge von Wissen, Fähigkeiten und Kompetenzen, das im weitesten Sinne zur Klärung des
17.3 Fachdidaktische Beiträge zur Förderung der Mädchen im Physikunterricht 775 776 777 778 779 780 781 782 783 784 785 786 787 788 789 790 791 792 793 794 795 796 797 798 799 800 801 802 803 804 805 806 807 808 809 810 811 812 813 814 815 816 817
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Verhältnisses von Mensch und Natur beiträgt. Auf der Ebene des Wissens sind dies z.B. Inhalte und Inhaltsaspekte, die die Bedeutung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse für die Gesellschaft und den Einzelnen betreffen. Sinn und Wertfragen sind unmittelbar damit verknüpft. Auf der Ebene des Könnens sind in erster Linie kommunikative Fähigkeiten wie „an Auseinandersetzungen über naturwissenschaftliche Sachverhalte im Alltag teilnehmen können“, „naturwissenschaftliche Texte verständig lesen können“, etc. gemeint. Beispiele für Tugenden, die zum Orientierungswissen gehören, sind moralische Urteilsfähigkeit, Aufgeschlossenheit und politisches Engagement. Das Verfügungswissen beinhaltet dem gegenüber instrumentelles Wissen über Fakten, Definitionen und Gesetze, fachliches Können z.B. das Beherrschen fachlicher Methoden und die in den naturwissenschaftlich-technischen Berufen geforderten Tugenden wie Sorgfältigkeit oder Teamfähigkeit.
Verfügungswissen
Auch wenn Lehrpläne in ihren Präambeln der Orientierungsfunktion eine große Bedeutung beimessen, ist Physikunterricht in der Praxis vorwiegend am Verfügungswissen ausgerichtet. Die Hoffnung, dass daraus Orientierungswissen erwächst, ist jedoch nur für diejenigen Schülerinnen und Schüler gegeben, die einen Beruf im naturwissenschaftlich-technischen Bereich anstreben. Denn nur für diese Gruppe ist das Verfügungswissen auch subjektiv bedeutsam. Für die anderen wirkt die Beschränkung auf das Verfügungswissen eher abschreckend. Muckenfuß fordert deshalb, der Orientierungsfunktion im Unterricht Vorrang vor der Qualifizierungsfunktion einzuräumen, da das Orientierungswissen Verfügungswissen beinhaltet aber nicht umgekehrt. „Dies bedeutet, dass die Konsequenzen naturwissenschaftlicher Erkenntnis für die Gesellschaft und den Einzelnen zur Zieldimension des Unterrichts gehören. Erkenntnistheoretische, wissenschafts- und kulturhistorische sowie ethische und gesellschaftspolitische Zusammenhänge dürfen nicht ausgeklammert werden, sondern müssen Strukturelemente des Unterrichts sein. Dabei schließt diese Akzentuierung des Unterrichts die Qualifizierungsaufgabe (in veränderter Form) mit ein“ (Muckenfuß 1995, 72). Bestätigung für seine These, interessanter Unterricht für Jungen und Mädchen sei Unterricht, der die Orientierungsfunktion stärker betont, findet Muckenfuß in den Ergebnissen verschiedener Untersuchungen zum Interesse von Jungen und Mädchen an Physik, die er aus seiner Perspektive neu interpretiert. Er erklärt damit auch das
Orientierung vor Qualifizierung
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17 Mädchen im Physikunterricht Scheitern von Projekten zur Förderung von Mädchen, die die Qualifizierungsfunktion des Unterrichts in den Vordergrund stellen. Muckenfuß führt seine Überlegungen in dem bereits zitierten Buch zu einem „Entwurf einer zeitgemäßen Didaktik des Physikunterrichts“ weiter. Hier finden sich auch konkrete Beispiele für Unterricht, der die Orientierungsfunktion in den Mittelpunkt stellt.
17.4 Fazit Die Frage, warum Mädchen sich für Physik im Allgemeinen weniger interessieren als Jungen und warum sie geringere Erfolge in Physik erzielen, ist ausgesprochen vielschichtig und geht auf Ursachen zurück, die sich mit pädagogisch-didaktischen Maßnahmen offensichtlich nur wenig beeinflussen lassen. Sowohl das BLK-Projekt als auch die Schweizer Studie haben gezeigt, dass die Maßnahmen zur Förderung der Mädchen zwar zu einer Verbesserung der Interessen und Leistungen der Mädchen beitragen, dass jedoch der Vorsprung der Jungen gegenüber den Mädchen bzgl. der Interessen und Leistungen nahezu unverändert bleibt. Das Ziel, die Ausgangsposition der Mädchen relativ zu den Jungen zu verbessern, kann mit den vorgeschlagenen Maßnahmen also in der Regel nicht erreicht werden. Einzige Ausnahme ist die zeitweise Geschlechtertrennung in Kombination mit einem Lehrertraining und einem auf die Mädchen ausgerichteten Curriculum. Es ist deutlich geworden, an welchen Stellen von fachdidaktischer Seite angesetzt werden kann, um den Unterricht stärker an den Interessen und Bedürfnissen der Mädchen auszurichten. Man tut jedoch gut daran, die Erwartungen bezüglich der Wirkungen solcher Maßnahmen nicht zu überschätzen. Es scheint, als käme es bei der Förderung der Mädchen auf das Zusammenspiel verschiedener Faktoren gleichzeitig an: eine genügende Sensibilität auf Seiten der Lehrkräfte, ein „mädchenfreundlicher“ Unterrichtsstil und eine inhaltliche Aufbereitung, die den Interessen der Mädchen entgegenkommt. Trotz dieser insgesamt eher ernüchternden Gesamtbilanz sollte man sich keinesfalls entmutigen lassen und sich immer wieder um eine stärkere Orientierung des Unterrichts an den Bedürfnissen der Mädchen bemühen. Auf lange Sicht werden vermutlich auch die kleinen Schritte zu einem erkennbaren Erfolg führen. Dass eine Orientierung an den Interessen der Mädchen letztlich zu besserem Unterricht für alle führt, darüber lassen die Untersuchungen jedenfalls keinen Zweifel!
Literatur 861 862 863 864 865 866 867 868 869 870 871 872 873 874 875 876 877 878 879 880 881 882 883 884 885 886 887 888 889 890 891 892 893 894 895 896 897 898 899 900 901 902 903
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17 Mädchen im Physikunterricht
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Reinders Duit
18 Alltagsvorstellungen und Physik lernen Wenn Schülerinnen und Schüler in den Sachunterricht oder in den Physikunterricht hinein kommen, so haben sie in der Regel bereits in vielfältigen Alltagserfahrungen tief verankerte Vorstellungen zu Begriffen, Phänomenen und Prinzipien entwickelt, um die es im Unterricht gehen soll. Die meisten dieser Vorstellungen stimmen mit den zu lernenden wissenschaftlichen Vorstellungen nicht überein. Hier liegt eine Ursache vieler Lernschwierigkeiten. Die Schüler verstehen häufig gar nicht, was sie im Unterricht hören oder sehen und was sie im Lehrbuch lesen. Lernen bedeutet, Wissen auf der Basis der vorhandenen Vorstellungen aktiv aufzubauen. Der Unterricht muss also an den Vorstellungen der Schülerinnen und Schüler anknüpfen und ihre Eigenaktivitäten fordern und fördern. Er muss darüber hinaus für die wissenschaftliche Sicht werben, d.h. die Schüler davon überzeugen, dass diese Sicht fruchtbare neue und interessante Einsichten bietet.
18.1 Beispiele für Alltagsvorstellungen 18.1.1 Vorstellungen zu Phänomenen und Begriffen Viele Vorstellungen, die Schülerinnen und Schüler in den Unterricht mitbringen, stammen aus Alltagserfahrungen im Umgang mit Phänomenen wie Licht, Wärme, Schall und Bewegung. Aber auch die Alltagssprache beeinflusst das Bild, das sich die Schüler von der Welt machen. Zunächst bewahrt die Alltagssprache Vorstellungen wie „Die Sonne geht auf“, die dem Bild, dass die Sonne die Erde umrundet, näher steht als der heutigen Auffassung. Weiterhin aber stellt die Struktur der Sprache ein Ordnungssystem bereit, Beobachtungen und Erfahrungen zu deuten. Die Art und Weise, wie im Alltag (beim täglichen Gespräch, in Zeitschriften und Büchern, im Fernsehen und Radio) von Erscheinungen wie Elektrizität, Strom, Wärme, Energie oder Kraft die Rede ist, trägt ebenfalls zur Ausbildung von bestimmten Alltagsvorstellungen bei. Die genannten Vorstellungen sind in aller Regel tief verankert – sie haben sich schließlich in Alltagssituationen bestens bewährt und werden tagtäglich durch weitere sinnliche oder sprachliche Erfahrungen verstärkt.
Alltagsvorstellungen bestimmen das Lernen, weil man das Neue nur durch die Brille des bereits Bekannten „sehen“ kann
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18 Alltagsvorstellungen und Physik lernen
Ein Ton fliegt durch die Luft – Vorstellungen zum Schall
Zeichnung eines Schülers zur Ausbreitung des Schalls
Kinder machen vielfältige Erfahrungen mit Tönen und äußern interessante Vorstellungen, wie es kommt, dass ein Ton von der Schallquelle zum Ohr kommt (Wulf & Euler 1995). Eine Reihe von jüngeren Kindern (Schuljahr 1) deutet diese Ausbreitung anthropomorph: Sie reden davon, dass der Ton zu uns will oder aus dem Instrument hervorgelockt werden muss. Interessant ist, dass auch Erwachsene dieses Bild des Hervorlockens eines Tons noch verwenden. Überhaupt findet man in jedem Alter anthropomorphe Vorstellungen. Mit zunehmendem Alter werden sie allerdings weniger „ernst“ genommen, sondern dienen als erster orientierender Zugang zur Deutung eines Phänomens, mit dem eher „spielerisch“ umgegangen wird. Ältere Kinder deuten die Schallausbreitung mit Hilfe materieller Vorstellungen. Der Ton fliegt durch die Luft wie materielle Objekte. Diese Vorstellung leitet in die Irre, wenn es darum geht, die Schallleitung in Luft und festen Körpern zu vergleichen. Die Schüler schließen, dass die Luft die sich ausbreitenden materiellen Objekte nicht behindert, feste Körper aber sehr wohl. Folglich breitet sich der Schall nach Meinung der meisten Kinder in der Luft besser aus als zum Beispiel in Holz. Diese Vorstellung findet man bis in die Sekundarstufe I hinein bei einer erheblichen Zahl von Schülern.
Licht und Sehen In der Physik wird der Vorgang des Sehens wie folgt erklärt. Lichtquellen senden Licht aus. Dieses Licht fällt direkt ins Auge – dann sieht man die Lichtquelle – oder es fällt auf Körper, die nicht von sich aus Licht aussenden, wird dort teilweise reflektiert und fällt von dort ins Auge. Zwei Punkte sind wichtig. Die Physik macht keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen Lichtquellen und beleuchteten Körpern. Beide senden Licht aus, das unter Umständen ins Auge fällt und dann zu einem Seheindruck führt. Zweitens wird Licht als Ausbreitungsvorgang, als eine Bewegung von „etwas“ (elektromagnetische Strahlung) verstanden. Alltagsvorstellungen zu Licht und Sehen sind ganz anders (Jung 1989; Wiesner 1994a). Für viele Schülerinnen und Schüler sind Lichtquellen und beleuchtete Körper fundamental verschieden. Während erstere etwas abgeben, das mit Licht bezeichnet wird, ist dies bei beleuchteten Körpern nicht der Fall. Diese kann man sehen, wenn man ihnen das gesunde Auge zuwendet. Das Licht liegt gewissermaßen als „Helligkeit“ auf ihnen. Dass diese (nicht aktiven) Körper Licht aussenden, erscheint vielen Schülern absurd zu sein. Aus der Geschichte der Physik ist die im ersten
18.1 Beispiele für Alltagsvorstellungen 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 100 101 102 103 104 105 106 107 108 109 110 111 112 113 114 115 116 117 118 119 120 121 122 123 124 125 126 127 128 129
Bild illustrierte Sehstrahlvorstellung bekannt. Das Auge sendet Licht aus, dadurch werden die angeschauten Körper sichtbar. Diese Vorstellung findet man bei Schülern in aller Regel nicht. Allerdings wird dem Auge durchaus eine aktive Rolle beim Sehvorgang zugebilligt. In der Tat ist das Gehirn aktiv beim Sehvorgang beteiligt, es konstruiert gewissermaßen das Bild, das wir wahrnehmen. Das Bild auf der Netzhaut wird zum Beispiel in den Raum projiziert und vom Gehirn nicht schlicht passiv „angeschaut“ (Gropengießer 2001).
Magnetismus – magische Vorstellungen Die Wirkung, die ein Magnet auf einige andere Körper ausübt, ist für den Alltagsverstand schwer erklärbar. Vor allem bei jüngeren Kindern, aber nicht nur bei ihnen, finden sich viele „magische“ Deutungen (Banholzer 1936; Barrow 1987). Viele Kinder versuchen, das Unverständliche durch Vergleich mit Bekanntem dem Verständnis näher zu bringen. Sie sprechen z.B. von Klebstoff. Wenn sich nach intensivem Reiben herausstellt, dass der Klebstoff sich nicht entfernen lässt, ist dies noch kein zureichender Grund für die meisten Anhänger dieser Theorie, ihre Vorstellung aufzugeben. Viele Kinder sind der Auffassung, Elektrizität flösse (irgendwie) in den Magneten und mache ihn damit magnetisch. Hier wird wohl versucht, das Unverständliche mit etwas anderem zu erklären, das aber ebenfalls unverstanden ist. Ein solcher Versuch zeigt sich auch bei vielen Schülern der Sekundarstufe I, wenn sie als Ursache für die Gravitationskraft den Magnetismus nennen.
Wolle gibt Wärme Dieses Mädchen untersucht, ob ein Eisblock, der in Wolle eingehüllt ist, schneller schmilzt als ein Eisblock, der in Aluminiumfolie eingehüllt ist. Es meint, der in Wolle eingehüllte Eisblock müsse schneller schmelzen. Ein Wollpullover hält mich warm, gibt also Wärme ab, so ihre Argumentation (Tiberghien, 1980). Dies ist eine weit verbreitete Vorstellung, insbesondere bei jüngeren Schülern. Fragt man sie zum Beispiel, welche Temperatur ein Thermometer anzeigt, das in einem Pullover steckt und das auf dem Tisch neben dem Pullover liegt, so wird im Pullover eine höhere Temperatur als außerhalb erwartet. Der gegenteilige Ausgang des Experiments überzeugt weder das hier abgebildete Mädchen noch die Schüler, die das Experiment mit dem Thermometer im Pullover ausführen, dass ihre Vorstellung falsch sind. Tief verankerte Erfahrungen, wie „Ein Pullover hält mich warm“, lassen sich so einfach nicht erschüttern.
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18 Alltagsvorstellungen und Physik lernen
Strom wird verbraucht Vorstellungen zum einfachen elektrischen Stromkreis sind weltweit am häufigsten untersucht worden. Dabei zeigen sich die folgenden Alltagsvorstellungen – in allen Ländern (Shipstone et al. 1988). Manche Schülerinnen und Schüler sind der Meinung, eigentlich benötige man gar nicht zwei Zuleitungen, schließlich sind elektrische Verbraucher im Haushalt auch nur (so scheint es jedenfalls) mit einer Leitung an die Steckdose angeschlossen. Andere sind der Auffassung, es fließe Strom von beiden Anschlussstellen der Batterie (oder einer anderen Quelle) zum Lämpchen, manchmal Plus- und Minusstrom genannt. Wieder andere haben die Idee, der Strom fließe von einem Pol der Batterie hin zum Lämpchen, durch das Lämpchen hindurch, werde dort teilweise verbraucht, der Rest fließe zur Batterie zurück. Diese Verbrauchsvorstellung findet sich bei den meisten Schülerinnen und Schülern bis an das Ende der Sekundarstufe I, sie „widersteht“ in vielen Fällen intensiven unterrichtlichen Bemühungen. Dies hat sicher damit zu tun, wie im Alltag über Strom geredet (und damit gedacht) wird. Strom steht im Alltag eher für elektrische Energie als für das Fließen von Ladungen. In der Tat wird – im umgangssprachlichen Sinne – im Lämpchen etwas „verbraucht“. Gemeint ist damit, dass etwas benutzt und dabei auch abgenutzt wird. Stromverbrauch ist also aus der Schülerperspektive eine durchaus vernünftige Vorstellung – da von ihnen auch Strom im alltagssprachlichen Sinne aufgefasst wird.
Kraft-Dilemmata Schwierigkeiten beim Verstehen der newtonschen Mechanik sind ebenfalls sehr häufig untersucht worden (Schecker 1985; Nachtigall 1986). Es zeigt sich, dass nicht nur Schülerinnen und Schüler bis hinauf zu Leistungskursen der Sekundarstufe II Probleme haben, den newtonschen Kraftbegriff adäquat zu verstehen, sondern auch noch Studenten der Physik. Varianten der nebenstehenden Aufgabe sind häufig eingesetzt worden. Ein Ball bewegt sich auf der eingezeichneten Bahn. Die Kräfte, die in den Punkten A und B auf den Ball wirken, sollen eingezeichnet werden. Bei diesen Aufgaben zeichnen die Befragten in der Regel einen Pfeil in Richtung der Bewegung ein, also z. B. im Punkt A einen waagerechten Pfeil. Dahinter steckt, so scheint es, ein Rest mittelalterlicher Impetusvorstellungen. Wenn sich ein Körper in eine bestimmte Richtung bewegt, muss es eine Kraft geben, die ihn in diese Richtung zieht. Aus Sicht der newtonschen Mechanik wirkt, wenn man von der Reibung absieht, nur die Gravitationskraft senkrecht nach unten. Allerdings gibt es sehr wohl
18.1 Beispiele für Alltagsvorstellungen 173 174 175 176 177 178 179 180 181 182 183 184 185 186 187 188 189 190 191 192 193 194 195 196 197 198 199 200 201 202 203 204 205 206 207 208 209 210 211 212 213 214 215
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eine physikalische Größe, die immer in Richtung der Bewegung wirkt, nämlich der Impuls. Es sei angemerkt, dass insbesondere viele jüngere Schüler der Auffassung sind, dass zum Herunterfallen des Körpers keine Kraft nötig ist. Der Körper kehrt, ganz in Übereinstimmung mit der Physik der Aristoteles, gewissermaßen an seinen natürlichen Ort zurück (Schecker 1988). Wird er allerdings hochgeworfen, so ist dafür sehr wohl eine Kraft nötig. Bei der nebenstehenden Aufgabe wird eine Kugel an einem Band herumgeschleudert. An der markierten Stelle reißt das Band. Viele meinen, die Kugel würde sich auf einer gekrümmten Bahn weiter bewegen, als sei ihr die Kreisbewegung gewissermaßen noch aufgeprägt. Es gibt eine Reihe weiterer Probleme die der newtonsche Kraftbegriff dem Alltagsverständnis bereitet. So führen unsere täglichen Krafterfahrungen nicht zum Trägheitsprinzip, schließlich bedürfen Körper um uns herum eines dauernden Antriebs, wenn sie nicht stehen bleiben sollen. In der newtonschen Sicht sind Ruhe und Bewegung prinzipiell gleichrangige Bewegungszustände. In der Alltagssicht ist dies nicht so. Schließlich bereitet das Wechselwirkungsprinzip große Schwierigkeiten, dass nämlich Kräfte immer paarweise auftreten, dass „Kraft“ und „Gegenkraft“ gleich groß sind (Schecker 1988; Backhaus 2001).
18.1.2 Vorstellungen über die Physik und über das Lernen Nicht allein Vorstellungen zu physikalischen Phänomenen, Begriffen und Prinzipien (also zu physikalischen Inhalten) bestimmen das Lernen. „Alltagsvorstellungen“ zweier weiterer Bereiche müssen in Betracht gezogen werden. Zum einen handelt es sich um Vorstellungen über die Physik, also Vorstellungen zum „Wesen“ und zur „Natur“ der Physik. In der Regel müssen Schülerinnen und Schüler als naive Realisten bezeichnet werden. Sie scheinen jedenfalls davon auszugehen, dass die Physik die Wirklichkeit „eins-zu-eins“ getreu abbildet (McComas 1998). Weiterhin haben die Schüler meistens keine adäquaten Vorstellungen von ihrem eigenen Lernen. Sie sehen Lernen in der Regel als schlichte Übernahme und Speicherung von Wissen. Dass Wissen von ihnen selbst konstruiert werden muss (s.u.) ist ihnen nicht vertraut. Entsprechend „passiv“ ist ihr Lernverhalten im Unterricht.
Schüler sind i. Allg. naive Realisten Lernen ist für Schüler Übernahme und Speicherung von Wissen
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18 Alltagsvorstellungen und Physik lernen
18.1.3 Lehrervorstellungen Es gibt sehr viele Untersuchungen, die zeigen, dass manche Lehrer Alltagsvorstellungen zu den physikalischen Inhalten und über Physik haben, die denen ihrer Schüler sehr ähnlich sind. Auch ihre Vorstellungen vom Lernen entsprechen häufig nicht der Sicht, von der nach heutigem Stand des Wissens ausgegangen werden sollte. Es dominiert, so scheint es, die Sicht, dass Wissen an den Schüler weitergegeben (zu ihm transportiert) werden könne.
18.2 Vorstellungen und Lernen 18.2.1 Vorunterrichtliche Vorstellungen berücksichtigen Der wichtigste Faktor beim Lernen ist, was der Lernende schon weiß – man berücksichtige dies und lehre entsprechend (Ausubel 1968)
Es ist beileibe keine neue Erkenntnis, dass die vorunterrichtlichen Vorstellungen der Schülerinnen und Schüler im Unterricht berücksichtigt werden müssen. Diesterweg (1835) hat dies bereits im 19. Jahrhundert in seinem „Wegweiser für deutsche Lehrer“ so ausgedrückt: „Ohne die Kenntnis des Standpunktes des Schülers ist keine ordentliche Belehrung desselben möglich“. Unzählige Lernstudienzeigen, dass fachspezifisches Vorwissen der wichtigste Faktor ist, der Lernen und Problemlösen bestimmt.
Assimilation und Akkommodation
Piaget sieht Lernen, den Prozess des Erwerbs neuen Wissens und neuer Fähigkeiten, als subtiles Wechselspiel von Assimilation und Akkommodation. Durch die Assimilation versucht der Lernende, die außenweltlichen Ereignisse, die neuen Erfahrungen, seinen bereits vorhandenen kognitiven Strukturen, seinen verfügbaren Schemata, anzugleichen. Gelingt die Assimilation nicht, müssen die vorhandenen Schemata modifiziert, oder es muss ein völlig neues Schema entwickelt werden. Diesen Prozess nennt Piaget Akkommodation.
Das Vorwissen: Notwendiger Anknüpfungspunkt und Lernhemmnis
Es gilt also, das Vorwissen der Schülerinnen und Schüler bei der Planung ihrer Lernprozesse zu berücksichtigen. Sie müssen, wie es eine alte pädagogische Metapher ausdrückt, dort abgeholt werden, wo sie sich befinden. Wie einleitend bereits bemerkt, erweist sich dieses Abholen beim Lernen der Naturwissenschaften als besonders schwierig, weil das vorunterrichtliche Wissen über die zu erklärenden Phänomene und Begriffe in aller Regel nicht mit der zu lernenden physikalischen Sichtweise übereinstimmt.
18.2 Vorstellungen und Lernen 259 260 261 262 263 264 265 266 267 268 269 270 271 272 273 274 275 276 277 278 279 280 281 282 283 284 285 286 287 288 289 290 291 292 293 294 295 296 297 298 299 300 301
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18.2.2 Lernen Wie kann man sich das Lernen vorstellen? Natürlich hat der Nürnberger Trichter als Metapher für Lernen ausgedient. Aber deuten nicht doch viele Alltagsredeweisen über Lernen darauf hin, dass es häufig als passives Einlagern gesehen wird, wenn man zum Beispiel vom Speichern spricht? Passives Übernehmen von Lehrstoff gelingt nicht. Der Lernende muss sein Wissen vielmehr auf der Basis des Wissens, über das er bereits verfügt, selbst konstruieren. Wissen lässt sich einem Lernenden nicht wie ein Goldstück übergeben. Einfaches Weiterreichen von Wissen ist aus dem folgenden Grund nicht möglich. Sinnesdaten, die der Lernende empfängt, haben keine ihnen gewissermaßen innewohnende Bedeutung. Die Sinnesdaten erhalten diese Bedeutung für den Empfangenden erst dadurch, dass dieser ihnen eine Bedeutung verleiht. Lehren und Lernen hat mit dem folgenden Dilemma zu tun. Der Lehrer sendet ein Signal an den Lernenden, schreibt zum Beispiel einen Satz an die Tafel oder sagt einen Satz in einem Gespräch. Dieser Satz hat für den Lehrer im Rahmen seiner Vorstellungen eine ganz bestimmte Bedeutung. Der Lernende verfügt aber über diese Vorstellungen noch gar nicht, sondern ist zur Interpretation des Satzes auf seine vorhandenen Vorstellungen angewiesen. Häufig verleiht er demselben Satz eine andere Bedeutung als der Lehrer. Ein entsprechendes Problem gibt es, wenn der Lernende in einer Gesprächssituation eine Antwort an den Lehrer gibt. Der Lehrer wird der Antwort auf der Basis seiner Vorstellungen in der Regel eine (etwas oder gänzlich) andere Bedeutung unterlegen, als sie vom Lernenden gemeint war. Der hier mit „Zirkel des Verstehen des Verstehens“ bezeichnete Aspekt wird in der Pädagogik „hermeneutischer Zirkel“ genannt. Er gilt für jede Kommunikation- und Gesprächssituation. Auch im Alltag reden Gesprächspartner häufig aneinander vorbei, sie verstehen sich nicht. Im Unterricht sind Missverständnisse eher die Norm als die Ausnahme.
Aktiv konstruieren, nicht passiv übernehmen
Zirkel des Verstehens des Verstehens
Konstruktivismus Die vorstehend beschriebene Sicht des Lernens wird heute in der Regel als „konstruktivistisch“ bezeichnet (Gerstenmaier & Mandl 1995; Duit 1995). Es gibt viele Varianten dieser Sichtweise. Ihr gemeinsamer Kern lässt sich in den folgenden Aspekten zusammenfassen. 1. Wissen muss vom Lernenden selbst konstruiert werden. Der Lernende ist folglich für sein Lernen selbst verantwortlich. Dieser Aspekt bezieht sich also auf psychologische Aspekte des Wissenserwerbs.
Wissen muss selbst konstruiert werden
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18 Alltagsvorstellungen und Physik lernen
Auch naturwissenschaftliches Wissen ist menschliche Konstruktion
2. Im zweiten Aspekt geht es um erkenntnistheoretische Aspekte. Wissen über die durch Erfahrungen vielfältiger Art auf uns wirkende „Außenwelt“ wird als menschliche Konstruktion gesehen. Watzlawik (1981) hat pointiert von der „erfundenen Wirklichkeit“ gesprochen. Glasersfeld (1993) hat betont, dass nur solches Wissen konstruiert wird, das sich als fruchtbar (viabel) erweist, sich also bei Anwendungen bewährt. Es ist wichtig zu betonen, dass der hier in Rede stehende Aspekt nicht zur Konsequenz führt, eine Realität außerhalb von uns zu leugnen. Es wird lediglich geltend gemacht, dass alles, was wir über diese Wirklichkeit wissen, menschliche Konstruktion ist. Dies gilt auch für das naturwissenschaftliche Wissen. Auch dies ist als vorläufige menschliche Konstruktion zu sehen. Die Wissenschaftsgeschichte hat gezeigt, dass manches bislang für „wahr“ Gehaltenes revidiert werden und durch fruchtbarere Theorien ersetzt werden musste. Auch hier muss betont werden, dass sich das konstruierte Wissen als in Einklang mit der Realität erweisen muss.
Der soziale und materiale Kontext bestimmen das Lernen
3. Die ersten beiden Aspekte beziehen sich vorwiegend auf individuelle Konstruktionen. Der hier angefügte Aspekt wird in der Literatur in der Regel als sozial-konstruktivistisch bezeichnet. Lernen findet immer in einer bestimmten Lernumgebung statt, die einerseits vom sozialen und kulturellen Kontext (also der sozialen Gruppe, in der gelernt wird und ihre kulturell bestimmten Sichtweisen) und andererseits vom materialen Kontext bestimmt ist. Unter materialem Kontext werden die materiellen Gegebenheiten der Lernumgebung verstanden, also der Ort an dem gelernt wird und die verwendeten Lernmedien. Diese Kontexte bestimmen die individuellen Konstruktionen, zumindest bis zu einem gewissen Grade. In der Literatur spricht man auch vom „situierten Lernen“. Damit soll hervorgehoben werden, dass jedes erworbene Wissen zunächst eng mit der Situation (der Lernumgebung) verbunden ist, in der es erworben worden ist.
Situiertes Lernen
Kurz zusammengefasst: Jeder ist seines Wissens Schmied. Jeder macht sich sein eigenes Bild von allem, was im Unterricht als Lernumgebung angeboten wird (z.B. vom Lehrervortrag, von Experimenten von Bildern, Graphen und Zeichnungen). Die Konstruktionen des Einzelnen werden davon bestimmt, was bereits „im Kopf“ ist (also von den vorhandenen Vorstellungen), in welcher Gruppe und mit welchem Unterrichtsmaterial gearbeitet wird.
18.2 Vorstellungen und Lernen 345 346 347 348 349 350 351 352 353 354 355 356 357 358 359 360 361 362 363 364 365 366 367 368 369 370 371 372 373 374 375 376 377 378 379 380 381 382 383 384 385 386 387
Die konstruktivistische Sichtweise betont also auf der einen Seite den für sein Lernen selbst verantwortlichen Lernenden. Übertragung von Wissen ist, wie bereits ausgeführt, nicht möglich. Die Rolle des Lehrers ist also nicht die des Wissensübermittlers. Er kann gezielte Anstöße und Unterstützungen zum Lernen geben – nicht mehr aber auch nicht weniger.
613 Der für sein Lernen selbst verantortliche Lerner Der Lehrer als Entwicklungshelfer
18.2.3 Zur Rolle von Vorstellungen beim Lernen Vorstellungen bestimmen die Beobachtungen bei Experimenten Jeder Schüler macht sich sein eigenes Bild von allem, was im Unterricht präsentiert wird. Dies gilt auch für die Beobachtungen, die man bei Experimenten machen kann. In der Regel geht man im Unterricht wohl davon aus, dass die Schüler das sehen, was doch aus Sicht der Lehrer so klar zu sehen ist. Häufig aber beobachten Schülerinnen und Schüler etwas ganz anderes, nämlich das, was ihnen ihre Vorstellungen gewissermaßen gestatten. Schüler, die der Meinung sind, ein Glühdraht beginne zuerst dort zu leuchten, wo der Strom zuerst hineinfließt, sehen das in aller Regel auch, wenn der Versuch durchgeführt wird, obwohl der Draht auf seiner ganzen Länge zu Glühen beginnt (Schlichting 1991). Es gibt eine Reihe weiterer Beispiele dieser Art. Ein solches Verhalten ist auch aus dem Alltag gut bekannt. Verschiedene Zeugen des gleichen Ereignisses berichten in der Regel ganz Unterschiedliches, nämlich das, wohin sie durch ihre Vorstellungen, Interessen und dergleichen geleitet werden.
Vorstellungen und die eingeschränkte Überzeugungskraft experimenteller Befunde Tritt bei einem Experiment ein anderes Ergebnis auf, als Schülerinnen und Schüler es sich auf der Basis ihrer Vorstellungen gedacht haben, so überzeugt sie das in der Regel keineswegs, dass ihre Vorstellung nicht richtig war (s. die in 18.1.1 gegebenen Beispiele). Es wird vielmehr versucht, die Vorstellung zu „retten“, indem argumentiert wird, dass in diesem speziellen Fall eben aus diesen und jenen Gründen sich ein anderes Ergebnis gezeigt hat als vorher gesagt.
Ein Gegenbeispiel allein überzeugt nicht von der Richtigkeit der wissenschaftlichen Sichtweise
Widerstand gegenüber Änderungen der Sichtweise Hartnäckiges Festhalten an einer einmal gewonnenen Vorstellung ist auch aus der Geschichte der Naturwissenschaften gut bekannt (s. Kap. 23). Änderung von gewohnten und bisher ja durchaus erfolgreichen Vorstellungen ist nicht Sache logischer Einsicht allein.
Überzeugen – nicht allein der logischen Einsicht vertrauen
614 388 389 390 391 392 393 394 395 396 397 398 399 400 401 402 403 404 405 406 407 408 409 410 411 412 413 414 415 416 417 418 419 420 421 422 423 424 425 426 427 428 429 430
18 Alltagsvorstellungen und Physik lernen Die Alltagsvorstellungen, mit denen unsere Schülerinnen und Schüler in den Unterricht hineinkommen, sind in aller Regel nicht schlicht falsch, sondern sie haben sich in vielfältigen Alltagserfahrungen bewährt. Sie müssen in langwierigen Prozessen davon überzeugt werden, dass diese neuen Sichtweisen mindestens so einleuchtend und fruchtbar sind wie die alten.
Es verstehen – aber es nicht glauben
Schülerinnen und Schüler lassen also so schnell nicht ab von den Vorstellungen und Überzeugungen, die sie in den Unterricht mitbringen. Sie verstehen uns zunächst nicht, erheben Einwände, die häufig nicht einfach vom Tisch gewischt werden können, und sie „glauben“ uns schließlich nicht, wenn sie uns verstehen. Jung (1993) gibt aus seinen Untersuchungen zu Vorstellungen von Licht und Sehen viele Beispiele dafür, dass Schülerinnen und Schüler die physikalische Sicht verstehen, sie aber nicht für wahr halten. Er konnte zum Beispiel Schülern die physikalische Sicht verständlich machen, dass ein beleuchteter Körper (ein Playmobilmännchen) Licht aussendet. Aber viele glaubten dies nicht.
Kein Lernen, ohne dass affektive Aspekte beteiligt sind Was wahrgenommen wird, ist mitbestimmt durch Bedürfnisse und Interessen, also durch „affektive“ Aspekte. Auch beim Interpretationsprozess spielen sie hinein. Lernen ist nie allein Sache rationaler Einsicht, also des Kognitiven, sondern es sind immer affektive Aspekte beteiligt. Niedderer & Schecker (2004) haben deshalb vorgeschlagen, sich nicht allein auf die Rolle der Alltagsvorstellungen beim Lernen der Physik zu beschränken, sondern das so genannte „Schülervorverständnis“ bei der Planung von Lernprozessen zu berücksichtigen. Dies schließt affektive Aspekte ausdrücklich ein.
Aus Fehlern lernen Aus Fehlern wird man klug
Im BLK Modellversuchsprogramm „Steigerung der Effizienz des mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterrichts“ (BLK 1997; Prenzel & Duit 1999) wird in einem Modul „Aus Fehlern lernen“ betont, dass für ein Lernen, das zum Verständnis führen soll, das Fehlermachen wichtig ist. Fehler müssen als Lerngelegenheit verstanden werden, nicht als Störung, die unbedingt zu vermeiden ist. Dies gilt auch für die Alltagsvorstellungen, von denen hier die Rede ist. Sie dürfen nicht als „falsche“ Vorstellungen gebrandmarkt, sondern müssen als Lerngelegenheiten akzeptiert werden.
18.2 Vorstellungen und Lernen 431 432 433 434 435 436 437 438 439 440 441 442 443 444 445 446 447 448 449 450 451 452 453 454 455 456 457 458 459 460 461 462 463 464 465 466 467 468 469 470 471 472 473
615
18.2.4 Konzeptwechsel Lernen der Naturwissenschaften bedeutet für die Schülerinnen und Schüler in aller Regel, eine ganz neue Sichtweise zu erlernen. Sie müssen von einem Konzept (nämlich den Alltagsvorstellungen) zu einem neuen Konzept (der physikalischen Sichtweise) wechseln. Dieser Wechsel bedeutet aber nicht, dass die Alltagsvorstellungen völlig aufgegeben werden. Die vorliegenden Untersuchungen zeigen, dass dies nicht gelingt. Es kann deshalb lediglich das Ziel des Unterrichts sein, die Schülerinnen und Schüler davon zu überzeugen, dass die naturwissenschaftlichen Vorstellungen in bestimmten Situationen angemessener und fruchtbarer sind als die vorunterrichtlichen Alltagsvorstellungen.
Kontext-spezifischer Wechsel
Bedingungen für Konzeptwechsel Posner et al. (1982) geben die folgenden vier Bedingungen für Konzeptwechsel an, die sich in vielen Untersuchungen und in neuen Unterrichtsansätzen als fruchtbarer Orientierungsrahmen erwiesen haben: 1. Die Lernenden müssen mit den bereits vorhandenen Vorstellungen unzufrieden sein. 2. Die neue Vorstellung muss logisch verständlich sein. 3. Sie muss einleuchtend, also intuitiv plausibel, sein. 4. Sie muss fruchtbar, d.h. in neuen Situationen erfolgreich sein.
Multiple Konzeptwechsel Es ist oben bereits angeklungen, dass es beim Lernen der Naturwissenschaften um Konzeptwechsel auf mehreren Ebenen geht. Nicht allein die Alltagsvorstellungen zu den zu vermittelnden Begriffen und Prinzipien bestimmen das Lernen, sondern auch Vorstellungen über die Physik und Vorstellungen über das Lernen. Konzeptwechsel auf der inhaltlichen Ebene müssen also begleitet sein von Konzeptwechseln auf den beiden anderen Ebenen. Auch dort gilt es, „naive“ Alltagsvorstellungen zu ändern.
Lernen als Wechsel der Kultur- und Sprachgemeinschaft Aus sozial-konstruktivistischer Perspektive wird Lernen als Wechsel von der bisherigen zu einer neuen Kultur- und Sprachgemeinschaft gesehen. Einleben in die neue Kultur und der Erwerb einer neuen Sprache sind langwierige Prozesse. In sozial-konstruktivistischen Ansätzen verwendet man deshalb häufig das Bild der „kognitiven Meisterlehre“ („cognitive apprenticeship“): Der Experte geleitet den
Lernen der Physik: Einleben in eine neue Kultur Erwerb einer neuen Sprache
616 474 475 476 477 478 479 480 481 482 483 484 485 486 487 488 489 490 491 492 493 494 495 496 497 498 499 500 501 502 503 504 505 506 507 508 509 510 511 512 513 514 515 516
18 Alltagsvorstellungen und Physik lernen Neuling, dieser wächst in die Kultur hinein, versteht zunehmend durch Teilnahme an den Aktivitäten in dieser Kultur, um was es sich handelt. Dieses Bild bietet zweifellos auch einen fruchtbaren Rahmen für den Wechsel von Alltagsvorstellungen zu den wissenschaftlichen Vorstellungen.
18.3 Unterricht auf der Basis von vorunterrichtlichen Vorstellungen Wie kann Unterricht das, was zur Rolle der Alltagsvorstellungen ausgeführt worden ist, berücksichtigen? Es gibt in der Literatur eine breite Palette von Vorschlägen, die hier nicht vorgestellt werden kann. Die Forschung zeigt, dass zwei gut bekannte Faktoren eine entscheidende Rolle spielen: Zeit und Geduld für ständige Bemühungen, das Verständnis Schritt für Schritt zu entwickeln. Ein tiefes Verständnis zu Energie und Kraft erschließt sich nicht in einem Anlauf. Unterricht muss drei im Grunde genommen ganz selbstverständliche Regeln beachten (Häußler et al. 1998 199f, 235): Die vorunterichtlichen Vorstellungen ernst nehmen
Nicht Wissen übergeben wollen, sondern aktive Auseinandersetzung mit dem zu Lernenden anregen und fördern Unterrichtsbewertung im Dienste der Lernberatung
Die vorunterrichtlichen Vorstellungen müssen beim gesamten Planungsprozess berücksichtigt werden. Die Sachstruktur für den Unterricht muss mit Blick auf die Vorstellungen der Schülerinnen und Schüler geplant werden. Dabei geht es nicht um eine Vereinfachung der Sachstruktur der Physik, sondern um eine didaktische Rekonstruktion (Kattmann et al. 1997). Es ist zu berücksichtigen, von welchen Vorstellungen ausgegangen werden soll und wie von dort Schritt für Schritt zu den wissenschaftlichen Vorstellungen geleitet werden kann. Bei den einzusetzenden Medien (z.B. Illustrationen, Bilder, Experimente) muss beachtet werden, dass die Schülerinnen und Schüler sie aus ihrer Perspektive möglicherweise ganz anders interpretieren, als es beabsichtigt war. Unterrichtsmethoden müssen so ausgewählt werden, dass die Lernenden Gelegenheit haben, sich mit den neuen Vorstellungen intensiv auseinander zu setzen. Wissen kann nicht übergeben werden. Es gilt, die Schülerinnen und Schüler zum eigenständigen „Konstruieren“ des Wissens anzuregen. Dies schließt auch die Reflexion über das erworbene und das alte Wissen, also über den durchlaufenden Lernprozess ein. Unterrichtsbewertung sollte nicht auf eine abschließende Einordnung der Schülerinnen und Schüler auf Skalen, die in die Zensur eingehen, fokussiert sein, sondern auf die Lernberatung. Aus dieser Sicht sind beispielsweise die aus fachlicher Perspektive falschen Antworten interessanter und wichtiger als die richtigen.
18.3 Unterricht auf der Basis von vorunterrichtlichen Vorstellungen 517 518 519 520 521 522 523 524 525 526 527 528 529 530 531 532 533 534 535 536 537 538 539 540 541 542 543 544 545 546 547 548 549 550 551 552 553 554 555 556 557 558 559
617
18.3.1 Anknüpfen – Umdeuten – Konfrontieren Anknüpfen Es werden Erfahrungen als Ausgangspunkt gewählt, deren Alltagsverständnis nicht oder möglichst wenig mit dem wissenschaftlichen kollidiert. Hier handelt es sich also um den Versuch, einen kontinuierlichen, bruchlosen Übergang zu finden. Die Lernenden werden gewissermaßen Schritt für Schritt zu den wissenschaftlichen Vorstellungen geführt.
Kontinuierliche und diskontinuierliche Lernwege
Umdeuten Hier geht es um die Variante eines bruchlosen Weges, also um den Versuch, einen kontinuierlichen Übergang von vorunterrichtlichen zu den physikalischen Vorstellungen zu finden. Wie bereits erwähnt, haben viele Schüler beim einfachen elektrischen Stromkreis die Vorstellung, der Strom würde im Lämpchen „verbraucht“. Man könnte an dieser Vorstellung anknüpfen und sie umdeuten: nicht Strom, sondern Energie wird „verbraucht“. In ähnlicher Weise könnte man im Falle des Kraftbegriffs an der Vorstellung vieler Schüler anknüpfen, es müsse immer eine Kraft in Richtung der Bewegung geben. Hier ist den Schüler klar zu machen, dass sie sich schon etwas Richtiges denken, dass dies aber in der Physik mit Impuls bezeichnet wird (Jung 1986).
Konfrontieren Hier geht man bewusst einen anderen Weg. Man beginnt hier gerade mit solchen Aspekten, die dem zu Lernenden konträr gegenüber stehen. Es wird versucht, Schülerinnen und Schüler in kognitive Konflikte zu bringen, um sie von der wissenschaftlichen Sichtweise zu überzeugen (s. Kap.4). Dazu gibt es grundsätzlich zwei Möglichkeiten. (1) Einander konträre Vorstellungen, also die Vorstellung der Lernenden und die naturwissenschaftlichen Vorstellungen, werden gegeneinander gesetzt. (2) Die Voraussagen der Lernenden zum Ausgang eines Experiments und das tatsächliche Ergebnis werden zur Erzeugung eines kognitiven Konflikts genutzt.
Bruchloser Übergang oder kognitiver Konflikt? Bei der Entscheidung, ob ein mit dem kognitiven Konflikt verbundener diskontinuierlicher Lernweg oder ein kontinuierlicher (bruchloser Übergang) von den vorunterrichtlichen zu den naturwissenschaftlichen Vorstellungen gewählt wird, sind Probleme der diskontinuierlichen Wege im Auge zu behalten. Zunächst muss gewährleistet sein, dass die Schülerinnen und Schüler den kognitiven Konflikt auch
Erzeugung des kognitiven Konflikts
618 560 561 562 563 564 565 566 567 568 569 570 571 572 573 574 575 576 577 578 579 580 581 582 583 584 585 586 587 588 589 590 591 592 593 594 595 596 597 598 599 600 601 602
18 Alltagsvorstellungen und Physik lernen tatsächlich so „sehen“ (erfahren), wie es die Lehrkraft beabsichtigt. Wiesner (1995) ist skeptisch. Er meint, dass es häufig an Experimenten mangelt, an denen die Unterschiede zwischen den Schülervorstellungen und den wissenschaftlichen Vorstellungen überzeugend aufgezeigt werden können. Weiterhin wird seiner Meinung nach viel Unterrichtszeit benötigt, alle Vorstellungen der Schüler „seriös“ durchzudiskutieren. Sie stellen sich schnell darauf ein, ihre Vorstellungen durch Ad-Hoc-Annahmen zu verteidigen, so dass in vielen Fällen nur der Ausweg bleibt, die Diskussion durch die Expertenmitteilung des Lehrers zu einem vorläufigen Abschluss zu bringen. Er schlägt deshalb vor, die Schülervorstellungen nicht explizit anzusprechen, sondern Experimente und Argumentationen zu finden, die einen weitgehend bruchlosen Weg zulassen .
18.3.2 Unterrichtsstrategien, die Konzeptwechsel unterstützen Vertraut machen mit den Phänomenen
Grob betrachtet folgen die meisten in der Literatur vorgeschlagenen Unterrichtsstrategien dem folgenden Muster. Am Anfang steht eine Phase, in der die Lernenden mit dem Lerngegenstand, so gut es geht, vorläufig vertraut gemacht werden. Es wird ihnen z.B. Gelegenheit gegeben, eigene Erfahrungen mit den Phänomenen zu machen, die mit der Sache zusammenhängen.
Bewusstmachen der Vorstellungen
Es folgt dann eine Diskussion über die Schülervorstellungen – es sei denn, diese Phase wird aus den oben aufgeführten Gründen bewusst ausgelassen.
Einführung in die wissenschaftliche Sichtweise
Die wissenschaftliche Sicht wird von der Lehrkraft (bzw. durch Medien wie ein Multi-Media-Programm) eingebracht. Ihr Nutzen wird diskutiert.
Anwendung der neuen Sichtweise
Anwendungen der neuen Sichtweise auf neue Beispiele schließen sich an, um das Erreichte zu festigen und zu erweitern.
Rückblick auf den Lernprozess
Wichtig ist ein kritischer Rückblick auf die durchlaufenen Lernprozesse: Wie haben wir am Beginn, wie am Ende über eine Sache gedacht? Dieses Grundmuster erlaubt eine Reihe von Variationen, je nachdem, ob man einen kontinuierlichen oder einen diskontinuierlichen Lernweg plant. Bei den oben genannten sozial-konstruktivistischen Ideen wie dem „cognitive apprenticeship“ spielt das „Einleben“ in eine neue Kultur bzw. in eine neue Sprache eine wichtige Rolle. Hier setzt man auf einen weitgehend bruchlosen Weg, der sich geduldig Schritt für Schritt der wissenschaftlichen Sicht nähert.
18.3 Unterricht auf der Basis von vorunterrichtlichen Vorstellungen 603 604 605 606 607 608 609 610 611 612 613 614 615 616 617 618 619 620 621 622 623 624 625 626 627 628 629 630 631 632 633 634 635 636 637 638 639 640 641 642 643 644 645
Dieser Prozess gliedert sich in drei Phasen. In der ersten Phase gibt der Experte die nötigen Anleitungen. Der zweiten Phase liegt die Metapher des Bauen eines Gerüstes zugrunde, das dem Neuling das eigenständige Erklimmen des „Gebäudes der neuen Kultur“ erlaubt, den „Einstieg“ zu ermöglichen. Schließlich wird das „coaching“ und „scaffolding“ Schritt für Schritt zurückgenommen, damit der Neuling zunehmend auf eigenen Füßen stehen kann („fading“).
619 Coaching Scaffolding Fading
Bei den diskontinuierlichen Wegen (wie der konstruktivistischen Strategie von Driver & Scott 1993) bemüht man sich eher um schlagartige Einsicht. Wie oben ausgeführt, sieht Piaget Lernen als subtiles Zusammenspiel von Assimilation und Akkommodation. In ähnlicher Weise sollte Lernen als Zusammenspiel von kontinuierlichen und diskontinuierlichen Lernwegen gesehen werden. In anderen Worten, in der „Feinstruktur“ des Unterrichts wird es Phasen geben, in denen eher kontinuierlich und andere, in denen eher diskontinuierlich vorgegangen wird. Im Folgenden soll anhand zweier Beispiele ausführlicher diskutiert werden, in wie weit sich Alltagsvorstellungen und physikalische Vorstellungen unterscheiden und welche Konsequenzen dies für den Unterricht hat (vgl. Duit 1992; 1999).
Zwei Themenbereiche – näher betrachtet
18.3.3 Wärme – Temperatur – Energie Wie im Alltag von Energie die Rede ist In vielfältigen Bedeutungen reden wir im Alltag von Wärme und meinen damit Aspekte von „Wärmevorgängen“ wie Erwärmen, Abkühlen oder Warmsein. Es ist uns selbstverständlich, dass sich Dinge von allein (ohne dass andere Dinge oder Vorgänge beteiligt sind) nur abkühlen, aber sich nie von allein erwärmen. Wärme steht also im Alltag einerseits für etwas, das von einem warmen zu einem kalten Gegenstand fließt und das in der Physik mit dem Begriff Energie bezeichnet wird. Andererseits meint das Wort Wärme den „oberen“ Teil der Temperaturskala, steht also für hohe Temperaturen. Im Alltagsdenken finden sich aber nicht nur erste Anknüpfungspunkte für die physikalischen Begriffe Temperatur und Energie, sondern auch für den als so schwierig geltenden zweiten Hauptsatz der Thermodynamik. Schließlich ist es eine zentrale Aussage dieses Satzes, dass Prozesse von allein immer nur in einer Richtung verlaufen, nämlich „bergab“ zu tieferen Temperaturen. Freilich sind diese rudimentären Anknüpfungspunkte für physikalisches Denken über die Wärme im Alltagsdenken undifferenziert. Sie müssen in einem langen Prozess Schritt für Schritt entfaltet werden.
Warmherzig Fahren Sie mit uns in die Wärme Ein Ofen hat Wärme Wärmekraftwerk
620 646 647 648 649 650 651 652 653 654 655 656 657 658 659 660 661 662 663 664 665 666 667 668 669 670 671 672 673 674 675 676 677 678 679 680 681 682 683 684 685 686 687 688
18 Alltagsvorstellungen und Physik lernen
Wie die Physik Wärmeerscheinungen beschreibt Intensive Größe: Temperatur Extensive Größen: Energie Entropie
Die Physik deutet Wärmeerscheinungen zunächst mit den Begriffen Temperatur und Energie. Temperatur steht dabei für den intensiven Aspekt, Energie für den extensiven Aspekt der „Wärme“. Intensive Größen ändern ihren Wert nicht, wenn man zwei Systeme mit dem gleichen Wert einer solchen Größe zusammenführt. Extensive Größen dagegen addieren sich bei einer derartigen Prozedur. In anderen Worten, intensive Größen stehen dafür, wie „stark“ etwas ist, im Falle der Temperatur also für den Warmheitsgrad. Extensive Größen geben an, „wie viel“ vorhanden ist, wie viel Energie also beim Abkühlen abgegeben und beim Erwärmen aufgenommen wird. Unglücklicherweise (in Hinsicht auf die dadurch verursachten Lernschwierigkeiten) tritt der Energiebegriff bei der Deutung von Wärmeerscheinungen in zweifacher Art auf. Einerseits redet man von der „Wärmeenergie“ (in der Physik manchmal auch schlicht als „Wärme" bezeichnet). Sie ist die Energie, die aufgrund von Temperaturdifferenzen zwischen zwei Systemen fließt. Andererseits gibt es die „innere Energie“, also die Energie im Innern eines Systems, die sich aus vielen Anteilen (u.a. kinetische und potenzielle Energie der Teilchen) zusammensetzen kann. Schülerinnen und Schüler haben große Schwierigkeiten, die physikalische Redeweise zu übernehmen und zu verstehen. Auch am Ende der Sekundarstufe I ist vielen nicht klar, dass eine als Wärmeenergie zugeflossene Energiemenge dann nicht mehr als Wärme im Körper vorhanden, sondern gewissermaßen in der inneren Energie aufgegangen ist. Zu den Grundbegriffen der Wärmelehre zählt neben der Temperatur und der Energie die Entropie, die für den zweiten Hauptsatz der Wärmelehre steht, also für die Irreversibilität des Naturgeschehens. Wie bereits erwähnt, sind wichtige Aspekte dieses Satzes aus dem Alltagsverständnis ganz selbstverständlich – schließlich entstehen „antreibende“ Differenzen wie Temperaturunterschiede nie von allein.
Wie sich die physikalische Sicht der Wärme entwickelt hat Grundbegriffe der Wärmelehre
Es ist aufschlussreich, einen kurzen Blick auf die Entwicklung der Wärmelehre im Verlaufe der Geschichte der Physik zu werfen. Der Weg zum heutigen Wärmebegriff begann im 17. Jahrhundert mit der Entwicklung von Thermometern. Wiser und Carey (1983) haben untersucht, wie sich die führenden Wissenschaftler dieser Zeit in der Academia del Cimento in Florenz bemühten, Wärmeerscheinungen zu deuten. Sie kommen zum Schluss, dass die damaligen Wissenschaftler von einem undifferenzierten Wärmekonzept ausgingen,
18.3 Unterricht auf der Basis von vorunterrichtlichen Vorstellungen 689 690 691 692 693 694 695 696 697 698 699 700 701 702 703 704 705 706 707 708 709 710 711 712 713 714 715 716 717 718 719 720 721 722 723 724 725 726 727 728 729 730 731
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also intensive und extensive Aspekte nicht klar trennten und deshalb oft vergeblich um die Erklärung der von ihnen beobachteten Erscheinungen rangen. Ihnen fehlte eine klare Vorstellung vom Temperaturausgleich, wie wir sie heute haben, sowie die Idee der thermischen Interaktion. Erst in der Mitte des 18. Jahrhunderts ist Joseph Black – vor allem durch seine Versuche zur Mischung unterschiedlich warmer Stoffmengen – zu einer klaren Unterscheidung eines intensiven und extensiven Aspekts der Wärme vorgedrungen. Es hat dann noch etwa 100 Jahre gedauert, bis mit der carnotschen Theorie der Dampfmaschine und der Erfindung des Energiebegriffs der Weg frei war für die heute erreichte Differenzierung in Aspekte, die mit den Begriffen Temperatur, Energie und Entropie beschrieben werden.
Unterscheidung eines intensiven und extensiven Aspekts der Wärme
Schülervorstellungen zu Wärme – Temperatur – Energie Von sich aus benutzen nur wenige Schülerinnen und Schüler eine Teilchenvorstellung zur Erklärung von Wärmeerscheinungen; wird sie vorgegeben, akzeptieren die Schülerinnen und Schüler sie allerdings in der Regel. Teilchen werden häufig Eigenschaften makroskopischer Körper zugeordnet: Teilchen selbst sind warm, sie dehnen sich aus; bewegen sie sich und reiben aneinander, entsteht Wärme. Stoffvorstellungen zur Wärme: Schülerinnen und Schüler sehen Wärme in aller Regel nicht als etwas „Stoffliches“.
Vorstellungen zur Natur der Wärme
Es fehlt häufig eine Vorstellung von thermischer Interaktion. Das bedeutet, Gegenstände kühlen sich in der Vorstellung der Schülerinnen und Schüler ab, ohne dass sie in Wechselwirkung mit anderen Gegenständen stehen müssen. Temperaturänderungen eines Gegenstands werden allein mit Eigenschaften dieses Gegenstands in Verbindung gebracht.
Vorstellungen zur thermischen Interaktion und zum thermischen Gleichgewicht
Viele Schülerinnen und Schüler haben keine konsistente Vorstellung vom thermischen Gleichgewicht: Gegenständen, die lange Zeit in einem Zimmer liegen, werden z. B. unterschiedliche Temperaturen zugeordnet, weil sie sich unterschiedlich warm anfühlen: Metalle beispielsweise werden als kälter, Kunststoffe und Holz als wärmer als die Umgebung erachtet. Verschiedenen Gegenständen in einem Ofen von z. B. 60°C ordnen Schülerinnen und Schüler ebenfalls unterschiedliche Temperaturen zu. Hier werden Metalle als wärmer, Holz und Kunststoff als kälter als 60°C angesehen.
622 732 733 734 735 736 737 738 739 740 741 742 743 744 745 746 747 748 749 750 751 752 753 754 755 756 757 758 759 760 761 762 763 764 765 766 767 768 769 770 771 772 773 774
Differenzierung von Temperatur und Wärme
18 Alltagsvorstellungen und Physik lernen Die Wörter Wärme und Temperatur werden häufig (fast) synonym verwendet. Wärme ist verbunden mit höherer, Kälte mit niedrigerer Temperatur als die „Normaltemperatur“. Temperatur ist der dominante Aspekt bei der Beurteilung, wie viel „Wärme“ zum Erwärmen oder Schmelzen nötig ist. Zwei unterschiedlich große Eiswürfel werden geschmolzen. Bei welchem wird mehr Wärme benötigt, oder wird in beiden Fällen gleich viel Wärme benötigt? Viele meinen, gleich viel – aber der kleine schmilzt schneller. Gleiche Volumina von Wasser und Alkohol (Ausgangstemperatur 20°C) werden von gleichen Gasbrennern erwärmt. Der Alkohol erreicht die Temperatur von 30°C nach 2 Minuten, beim Wasser dauert es doppelt so lange. Wem ist mehr Wärme( Energie ) zugeführt worden? Viele meinen, beiden ist gleich viel Wärmeenergie zugeflossen, weil sie die gleiche Temperatur erreicht haben. Wärme und Energie sind eng miteinander verbunden, d. h., das Wort Wärme hat für alle Schülerinnen und Schüler auch eine „energetische“ Bedeutung.
Vorstellungen zu Wärme und Energie
Häufig fehlen adäquate Vorstellungen von Umwandlung und Erhaltung. Schülerinnen und Schülern sind i. Allg. viele Energieformen bekannt. Dass bei Umwandlung eine Energieform auf Kosten der Zunahme anderer Energieformen abnimmt, bereitet vielen Schwierigkeiten. Dass Energie erhalten bleibt, ist vielen als Aussage vertraut. Eine adäquate Vorstellung ist damit häufig jedoch nicht verbunden. Fällt beispielsweise ein Dachziegel von einem Dach, so haben Schülerinnen und Schüler Schwierigkeiten zu beantworten, wo die Bewegungsenergie beim Fallen herkommt und wo diese Energie nach dem Auftreffen bleibt. Manche meinen, Energie bleibe erhalten, weil sich ja ein Effekt (eine Verformung des Erdbodens) ergeben habe.
Was daraus für den Unterricht folgt
Selbstverständlich kann hier kein Programm für Unterricht über die „Wärme“ im einzelnen entwickelt werden, das alle vorstehend skizzierten Aspekte berücksichtigt. Die historische Entwicklung lässt sich als langer und mühsamer Prozess der schrittweisen Entfaltung undifferenzierter Wärmevorstellungen in die heutigen Aspekte verstehen. Aus den vielen vorliegenden Untersuchungen zu Schülervorstellungen wissen wir, dass viele Schülerinnen und Schüler mit ähnlich undifferenzierten Vorstellungen in den Unterricht hineinkommen, wie sie die Wissenschaftler des 17. Jahrhunderts besaßen. Wie
18.3 Unterricht auf der Basis von vorunterrichtlichen Vorstellungen 775 776 777 778 779 780 781 782 783 784 785 786 787 788 789 790 791 792 793 794 795 796 797 798 799 800 801 802 803 804 805 806 807 808 809 810 811 812 813 814 815 816 817
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jene haben sie große Mühe, ihre Alltagsvorstellungen zur Wärme in Richtung auf die physikalischen Grundbegriffe zu entwickeln. Für den Unterricht über Wärme bedeutet dies, dass zunächst einmal das Prinzip des Temperaturausgleichs einsichtig gemacht werden muss. Dies gelingt nur, wenn erklärt wird, wie unser Wärmesinn funktioniert, warum wir also Gegenstände gleicher Temperatur als ungleich warm empfinden. Dies sollte gleich am Beginn des Unterrichts zur Wärme geschehen. Die in vielen Versuchen beobachtete Tatsache, dass sich Temperaturdifferenzen stets ausgleichen, legt es nahe, sich diesen Ausgleich als Austausch von „etwas“ zu denken, das in der Physik „Energie“ genannt wird. Damit wird auch der Grundstein für das Verständnis des 2. Hauptsatzes gelegt. Dieses „Etwas“ fließt „von allein“ immer nur vom warmen zum kalten Körper. Um den Problemen mit dem unterschiedlichen Gebrauch des Terminus „Wärme“ in der Physik auszuweichen, könnte man Wärme im Unterricht immer nur im umgangssprachlichen Sinne (als undifferenzierte Kennzeichnung von Wärmevorgängen) verwenden und Bezeichnungen wie Wärmeenergie vermeiden.
18.3.4 Vorstellungen zum Teilchenmodell Was im Physikunterricht unter dem Teilchenmodell verstanden wird Wenn in der Sekundarstufe I vom Teilchenmodell die Rede ist, so ist damit die Vorstellung gemeint, dass alle Dinge um uns herum aus kleinsten Teilchen aufgebaut sind. Die Struktur dieser Teilchen bleibt dabei unberücksichtigt. Die Teilchen werden i. Allg. für sehr kleine Materiepartikel gehalten. Das Teilchenmodell ist ein mechanistisches Modell. Die Teilchen verhalten sich nach den Regeln der klassischen statistischen Mechanik. Das Teilchenmodell dient dazu, verschiedenartige Phänomene (aus verschiedenen Gebieten der Physik, meist aber aus der Wärmelehre und der Mechanik) einheitlich zu deuten. Das Standardbeispiel ist die Deutung der Aggregatzustände fest, flüssig und gasförmig. Das Teilchenmodell spielt im Physikunterricht eine wichtige Rolle. Viele Untersuchungen zeigen, dass Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe I große Schwierigkeiten haben, dieses Modell anzuwenden. Auch nach mehrjährigem Physikunterricht, in dem versucht worden ist, den Schülern dieses Modell nahe zu bringen, ist die erreichte Konzeptänderung von den vorunterrichtlichen Alltagsvorstellungen zu den wissenschaftlichen Vorstellungen eher bescheiden.
Grundstein für das Verständnis des 2. Hauptsatzes
624 818 819 820 821 822 823 824 825 826 827 828 829 830 831 832 833 834 835 836 837 838 839 840 841 842 843 844 845 846 847 848 849 850 851 852 853 854 855 856 857 858 859 860
18 Alltagsvorstellungen und Physik lernen Es scheint, dass diese Probleme zu einem erheblichen Teil „hausgemacht“ sind, d.h. durch den Unterricht zum Teilchenmodell mitverursacht werden. Das wichtigste Problem hat damit zu tun, dass wir uns bemühen müssen, die Mikrowelt der Teilchen so zu veranschaulichen, dass sie den Schülerinnen und Schüler verständlich wird (s. Mikelskis-Seifert (2002); Fischler & Reiners (2006). Diese Bemühungen aber erweisen sich als trojanisches Pferd. Das Teilchenmodell verlässt den Bereich, der unseren sinnlichen Wahrnehmungen zugänglich ist, und stößt zu einem Bereich vor, in dem unsere gewohnten Anschauungen nicht mehr passen. Um es verständlich zu machen, werden aber ganz ausdrücklich Analogien zur gewohnten Alltagswelt verwendet. Die Teilchen sind zum Beispiel den gewohnten Dinge ähnlich, sie werden häufig als Kugeln dargestellt. Es ist dann nicht verwunderlich, wenn die Schülerinnen und Schüler sich die Welt der Teilchen als ähnlich vorstellen wie die gewohnte Welt um sie herum. Dass in der Welt der Teilchen ganz andere Gesetze als in der „Alltagswelt“ gelten, bleibt vielen Schülern verschlossen. In anderen Worten, der Status des Teilchenmodells wird ihnen nicht klar. Wir haben es hier mit einem Dilemma zu tun. Um das Modell verständlich zu machen, muss auf etwas zurückgegriffen werden, das den Lernenden vertraut ist – gerade dadurch aber werden Lernbarrieren aufgebaut.
Schülervorstellungen zum Teilchenmodell Nur wenige Schülerinnen und Schüler verwenden i. Allg. das Teilchenmodell von sich aus, um Phänomene und Vorgänge zu erklären. Wird es allerdings als Erklärung angeboten, so wird es von vielen akzeptiert.
Vermischungen von Kontinuums- und Diskontinuumsvorstellungen
Alltagserfahrungen legen Kontinuumsvorstellungen nahe, nicht Teilchenvorstellungen. In der Alltagssicht wird Materie als etwas Statisches gesehen und nicht als etwas, das unablässig in Bewegung ist. Die Vorstellung des absoluten Leeren, des Vakuums, hat in dieser Vorstellung keinen Platz. Diese intuitiven Alltagsvorstellungen reichen in aller Regel aus, um Vorgänge im Alltag zu deuten. In vielen Untersuchungen zeigen sich „Vermischungen“ von Kontinuums- und Diskontinuumsvorstellungen. Man kann dies so interpretieren, dass sich die Schüler bemühen, das Neue (hier das Teilchenmodell) im Rahmen des bereits Bekannten (hier ihr Kontinuumsmodell) zu sehen. Pfundt (1981) berichtet, dass eine Flüssigkeit von den meisten Schülern in ihren Interviews als Kontinuum gesehen wird. Dem daraus bei der Verdunstung bzw. Verdampfung entstehenden
18.3 Unterricht auf der Basis von vorunterrichtlichen Vorstellungen 861 862 863 864 865 866 867 868 869 870 871 872 873 874 875 876 877 878 879 880 881 882 883 884 885 886 887 888 889 890 891 892 893 894 895 896 897 898 899 900 901 902 903
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Gas wird allerdings von manchen Schülern durchaus eine körnige Struktur zugebilligt.
Zwischen den Luftteilchen ist Luft Zwischen den Teilchen ist der leere Raum, ist die Antwort des Physikers; es ist nicht die Antwort vieler Schüler. Bei der nebenstehenden Aufgabe (Kircher 1986) wird zum Beispiel von den meisten Schülern angekreuzt, dass sich Luft, Sauerstoff oder Dampf zwischen den Teilchen befindet. In einer anderen Untersuchung hat Rennström (1988) Schülern Salzstückchen vorgelegt und gebeten, aufzuzeichnen, wie sie sich den Aufbau der Stückchen vorstellen. Viele zeichneten Punkte, um Teilchen anzudeuten. Und was ist zwischen den Punkten? Natürlich Salz! Es gibt eine Reihe von Belegen, dass der Unterricht zum Teilchenmodell dazu führt, dass Schülerinnen und Schülern den Teilchen Eigenschaften der Dinge der gewohnten Welt zuordnen. Einige von ihnen sind bereits erwähnt worden. Hier sei nur noch das folgende Beispiel hinzugefügt. In einer Informationsschrift eines Energieversorgungsunternehmens über die Funktionsweise eines Mikrowellenherds kann man lesen: „Wenn Mikrowellen auf das Nahrungsmittel treffen, bringen sie die Teilchen der Speisen in Schwingung. Die Teilchen reiben sich aneinander und es entsteht Wärme, ebenso wie Wärme entsteht, wenn man die Hände aneinander reibt“. Viele Schüler haben die gleiche falsche Vorstellung. In der Welt der Teilchen gibt es keine Reibung, die Teilchen kommen nie zur Ruhe, es herrscht in dieser Welt eine ewige „innere Unruhe“ (Wagenschein 1965, 225). Teilchen der normalen Welt verhalten sich ganz anders. Sie kommen unvermeidlich irgendwann zur Ruhe, wenn die durch Reibung verursachten Energieverluste nicht ausgeglichen werden. Schülerinnen und Schüler haben deshalb große Schwierigkeiten, sich vorzustellen, dass sich die kleinsten Teilchen unablässig bewegen.
Übertragen von Aspekten der makroskopischen Welt und von Erfahrungen der Lebenswelt auf die Welt der Teilchen Die Teilchen kommen irgendwann einmal zur Ruhe, sie bewegen sich nicht ewig
Das Teilchenmodell kann man nicht aus experimentellen Beobachtungen erschließen, es kann lediglich ein breites Spektrum von Beobachtungen konsistent erklären. Der Unterrichtsvorschlag von Driver und Scott (1994) folgt konsequent dieser Einsicht. Es wird die oben (17.3.2) vorgestellte „konstruktivistische“ Unterrichtsstrategie verwendet, allerdings wird eine Phase eingeschoben, in der die Natur des Teilchenmodells diskutiert wird. Die Schülerinnen und Schüler untersuchen Phänomene, die sich mit dem Teilchenmodell deuten lassen, wie Kompressibilität von Gasen,
Vertrautmachen mit den Pänomenen
626 904 905 906 907 908 909 910 911 912 913 914 915 916 917 918 919 920 921 922 923 924 925 926 927 928 929 930 931 932 933 934 935 936 937 938 939 940 941 942 943 944 945 946
18 Alltagsvorstellungen und Physik lernen Flüssigkeiten und festen Körpern, die Ausbreitung von Parfüm und die unterschiedliche Dichte von verschiedenen Materialien. Sie führen Versuche durch und schreiben ihre Erklärungen auf. Jede Gruppe gestaltet ein Poster und präsentiert so ihre Ergebnisse den anderen Gruppen.
Zur „Natur“ naturwissenschaftlicher Theorien
Es werden zunächst Spiele gespielt, bei denen es darum geht, die Regel zu entdecken, die hinter einer Zahlenfolge steckt. Dann sollen bei einem anderen Spiel („murder mystery“) Indizien gesammelt werden, mit denen man in einem vorgegebenen Fall einen Mörder identifizieren kann. Ihre Rolle bei der Untersuchung der Teilcheneigenschaften der Materie sollen die Schüler also als analog zur Arbeit eines Detektivs sehen. Es gilt, Indizien zusammen zu tragen, die eine Teilchenvorstellung unterstützen.
Fortsetzung der Experimente und Konstruieren der Teilchentheorie
Die in der ersten Phase begonnenen Experimente werden nun systematischer angegangen. Eigenschaften der Körper werden zusammengetragen. Die Schülerinnen und Schüler erweitern, ergänzen und revidieren ihre bisherigen Teilchentheorien auf der Basis der gesammelten Indizien.
Auf dem Weg zur physikalischen Teilchenvorstellung
Die verschiedenen Schülertheorien werden verglichen. Der Lehrer führt die physikalische Vorstellung ein und erläutert, inwiefern sie besser zu den gesammelten Indizien passt als die Schülertheorien. Kognitive Konflikte zwischen Schülertheorien und der physikalischen Sicht werden bewusst eingesetzt.
Rückblick und Anwendungen
Schließlich geht es um die Anwendung der neuen Vorstellung auf neue Phänomene. Dabei ist es in der Regel nötig, die bisher durchlaufenen Lernprozesse noch einmal bewusst zu machen. Fischler und Lichtfeld (1997) setzen bei ihren Unterrichtsvorschlägen an den oben aufgeführten Vorstellungen und den damit verbundenen Lernschwierigkeiten an und geben Hinweise, wie Missverständnisse vermieden werden können. Die Übertragung von Eigenschaften makroskopischer Körper auf die Welt der Teilchen soll zum Beispiel dadurch entgegengewirkt werden, dass verschiedene Formen der Teilchen (nicht nur Kugeln) und unter ihnen auch „schlechte“ Vergegenständlichungen wie Kastanien oder Dosen verwendet werden. Mikelskis-Seifert (2002) hat sehr gründliche empirische Untersuchungen durchgeführt und die Ergebnisse in neue Unterrichtsvorschläge einfließen lassen, die in der Schule erprobt wurden.
18.4 Anmerkungen und Literaturhinweise 947 948 949 950 951 952 953 954 955 956 957 958 959 960 961 962 963 964 965 966 967 968 969 970 971 972 973 974 975 976 977 978 979 980 981 982 983 984 985 986 987 988 989
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18.4 Anmerkungen und Literaturhinweise 18.4.1 Abschließende Anmerkungen Die sehr enttäuschenden Ergebnisse deutscher Schülerinnen und Schüler bei den internationalen Vergleichsstudien TIMSS (1995) und PISA (2000) haben gezeigt, dass viele unserer Schülerinnen und Schüler eine solide physikalische Grundbildung in der Schule nicht erwerben (Baumert u.a. 2001). Die Ursachen für dieses schlechte Abschneiden sind vielfältig. Schulleistungen werden durch eine Vielzahl von Faktoren bestimmt. Wichtige Einflüsse gehen von den Eltern, dem gesellschaftlichen Umfeld (einschließlich der Medien), den Jugendkulturen und den Mitschülern (sogenannte peer groups) aus. Ein entscheidender Punkt sind hier Leistungs- und Lernbereitschaft sowie die Wertschätzung der Physik. Selbstverständlich sind aber auch die Schulen für das schlechte Abschneiden mit verantwortlich. Hier wiederum spielt die in diesem Kapitel ausgeführte besondere Schwierigkeit des Erlernens der Physik eine wichtige Rolle.
Keine solide physikalische Grundbildung
Die Alltagsvorstellungen, mit denen die Schülerinnen und Schüler in den Unterricht hineinkommen, stimmen in aller Regel mit den zu lernenden physikalischen Vorstellungen nicht überein, häufig stehen sie sogar im krassen Widerspruch zu ihnen. Sie sind notwendiger Anknüpfungspunkt und Lernhemmnis zugleich. Wird dies im Physikunterricht in Schule und Hochschule, aber auch bei der Vermittlung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse an eine breite Öffentlichkeit, nicht angemessen berücksichtigt, so wird sich der Erfolg dieser Bemühungen in Grenzen halten. Lernen kann nur dann erfolgreich sein, wenn die Lernenden das ihnen Präsentierte jedenfalls bis zu einem gewissen Grade verstehen können und wenn sie Gelegenheiten bekommen, sich intensiv mit der Sache auseinander zu setzen. Der Prozess der eigenständigen Konstruktion des Wissens kann nur gelingen, wenn ausreichende Unterstützung durch den Lehrer gegeben wird (Weinert 1996).
Alltagsvorstellungen: Anknüpfungspunkt und Lernhemmnis
All dies scheint zur Zeit im Physikunterricht noch zu kurz zu kommen. Der Unterricht muss an den Vorstellungen der Schülerinnen und Schüler anknüpfen und die Eigentätigkeit der Lernenden fordern und fördern. Berücksichtigen dieser Vorstellungen ist aber auch als ein Teil von Bemühungen zu sehen, Physikunterricht zu entwickeln, der von den Schülerinnen und Schülern als wichtig und sie betreffend angesehen wird.
Eigentätigkeit der Lernenden fordern und fördern
Förderung des Verstehens von Physik und Entwicklung von Interesse sind zwei Seiten einer Medaille. Erleben die Schülerinnen und Schüler, dass sie die als so schwierig geltenden physikalischen Begriffe und Prinzipien verstehen können und dass sie für sie persönlich wichtig sind, so fördert das nicht nur ihr Selbstvertrauen, in Physik
Verstehens von Physik und Entwicklung von Interesse
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18 Alltagsvorstellungen und Physik lernen etwas lernen zu können, sondern auch ihr Interesse, sich mit Physik intensiv auseinander zu setzen. Es steht außer Frage, dass diese intensive Auseinandersetzung nötig ist, um eine angemessenere physikalische Grundbildung zu erwerben.
18.4.2 Literaturübersicht zu Alltagsvorstellungen Bibliographie
Seit mehr als 20 Jahren wird die Literatur zu „Alltagsvorstellungen und naturwissenschaftlicher Unterricht“ in einer Bibliographie dokumentiert. Sie kann von der Homepage des IPN heruntergeladen werden (Duit 2006). Schlagwörter erlauben es u.a. nach Arbeiten zu Vorstellungen der verschiedenen Sachgebiete der Physik zu suchen: http://www.ipn.uni-kiel.de/aktuell/stcse/stcse.html
Übersichtsarbeiten
Duit & v. Rhöneck (1996). Lernen in den Naturwissenschaften, Kiel: IPN. Duit & v. Rhöneck (2000). Ergebnisse fachdidaktischer und psychologischer Lehr-Lern-Forschung. Kiel: IPN.
In diesen Bänden wird versucht, den Stand fachdidaktischer und psychologischer Forschung zum Lehren und Lernen der Physik zusammen zu fassen. Müller, R., Wodzinski, R. & Hopf, M. (Hrsg.) (2004). Schülervorstellungen in der Physik. Köln: Aulis Verlag. Der Band fasst die deutschsprachige Literatur zu „Schülervorstellungen und Lernen von Physik“ zusammen. Es sind Arbeiten nachgedruckt, die seit den 1980er Jahren erschienen sind. Gliederung des Bandes: Grundsätzliches zu Schülervorstellungen – Schülervorstellungen in der Primarstufe – Schülervorstellungen in folgenden Gebieten der Physik: Mechanik, Optik, Elektrizitätslehre, Magnetismus, Energie, Druck, Wärme, Teilchen, Atom- und Quantenphysik. Arbeiten zu zentralen physilischen Begriffen
Literaturhinweise zu wichtigen Inhaltsbereichen der Physik; deutschsprachige Arbeiten und solche, die relativ leicht zugänglich sind, werden bevorzugt:
Elektrik
v. Rhöneck (1986) / Shipstone et al. (1988) / Grob, v. Rhöneck & Völker (1993) / Wiesner (1995) / Duit & v. Rhöneck (1998).
Magnetismus
Duit (1992) / Kircher & Rohrer (1993).
Wärme
Duit (1986a, 1999) / Kesidou, Duit & Glynn (1995) / Fritzsche & Duit (1999).
Energie
Duit (1986b, 1999) / Lijnse (1990) / Duit & Häußler (1994).
Literatur 1033 1034 1035 1036 1037 1038 1039 1040 1041 1042 1043 1044 1045 1046 1047 1048 1049 1050 1051 1052 1053 1054 1055 1056 1057 1058 1059 1060 1061 1062 1063 1064 1065 1066 1067 1068 1069 1070 1071 1072 1073 1074 1075
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Wiesner (1986, 1993/1994, 1994a) / Jung (1989, 1993) / Wodzinski & Wiesner (1994a) / Galili & Hazan (2000) / Gropengießer (2001).
Optik
Kircher & Engel (1994) / Wulf & Euler (1995)
Schall
Schecker (1985) / Nachtigall (1986) / Wiesner (1994b) / Wodzinski & Wiesner (1994b) / Schecker & Niedderer (1996) / Wodzinski (1996) / Heuer & Wilhelm (1997) / Jung (1998) / Viennot (1998) / Gerdes & Schecker (1999)
Kraft
Huster (1996) / Wodzinski (1997) / Psillos & Kariotoglou (1999).
Druck
Wiesner (1991) / Möller (1999).
Auftrieb
Galili (1993) / Sneider & Ohadi (1998).
Gravitationskraft
Vosniadou (1994) / Baxter (1995) / Sneider & Ohadi (1998).
Astronomie
Pfundt (1981) / Kircher (1986) / Duit (1992) / Driver & Scott (1994) / Fischler & Lichtfeldt (1997) / Nussbaum (1998)/ Mikelskis-Seifert (2002)
Teilchen
Bethke (1992) / Fischler & Lichtfeldt (1992) / Lichtfeldt (1992a, 1992b) / Wiesner (1996) / Petri & Niedderer (1998)
Quantenphysik
Duit & Komorek (2000).
Chaos
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630 1076 1077 1078 1079 1080 1081 1082 1083 1084 1085 1086 1087 1088 1089 1090 1091 1092 1093 1094 1095 1096 1097 1098 1099 1100 1101 1102 1103 1104 1105 1106 1107 1108 1109 1110 1111 1112 1113 1114 1115 1116 1117 1118
18 Alltagsvorstellungen und Physik lernen
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Raimund Girwidz
19 Neue Medien unter lernpsychologischen Aspekten Mayer (2002) definiert multimediales Lernen über das vielschichtige Informationsangebot: Multimediale Lernprozesse vollziehen sich dann, wenn ein Lernender aus dargebotenem Wort- und Bildmaterial mentale Repräsentationen aufbaut. Wortmaterial kann gedruckten oder gesprochenen Text beinhalten, Bildmaterial statische Abbildungen (Photos, Zeichnungen, Diagramme, Figuren, ...) sowie dynamische Abbildungen (Video, Animationen).
Multimediales Lernen
Bei Issing & Klimsa (1995), Weidenmann (1997) oder Schnotz et al. (2000) werden technische, sensorische und semiotische Aspekte unterschieden. Technisch gesehen kommen verschiedene Systeme als Informationsträger zum Einsatz. Auf sensorischer Ebene werden mehrere Sinne angesprochen und aus semiotischer Sicht werden unterschiedliche Zeichensysteme wie Texte, Abbildungen, Diagramme usw. verwendet. Die Begriffe Multimodalität (Integration verschiedener Sinnesbereiche), Multicodierung (Darstellung in verschiedenen Codesystemen) und Interaktivität beschreiben besondere Stärken neuer Medien. Sie sind der Ausgangspunkt unserer Betrachtungen. Im zweiten Abschnitt werden deshalb Theorien zum Lernen mit Multimedia vorgestellt und im dritten Abschnitt wird auf die besonderen Anforderungen eingegangen. Der vierte Abschnitt befasst sich dann mit weiteren lernpsychologischen Überlegungen und Untersuchungen, aus denen sich Leitlinien für ein Lernen mit Multimedia, insbesondere bei komplexen Themen, ableiten lassen.
Übersicht
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19 Neue Medien unter lernpsychologischen Aspekten
19.1 Multimodalität, Multicodierung, Interaktivität Multimediaanwendungen nutzen verschiedene Sinneskanäle und unterschiedliche Symbolsysteme. Interaktionsangebote aktivieren die Lernenden. Dies lässt Auswirkungen auf die Motivation, die Kausalattribuierung und vor allem eine tiefer gehende Elaboration der Inhalte erwarten.
Multimodalität Mehrere sensorische Systeme
Multimodale Systeme nutzen mehrere sensorische Systeme und können unterschiedliche Aspekte eines Inhalts betonen, Zusammenhänge und Wechselbezüge erschließen und die Informationsaufnahme erleichtern. Beispielsweise lassen sich in der Akustik theoretische Beschreibungen und Diagramme zu Druckschwankungen mit Hörerlebnissen koppeln (siehe auch Kapitel 11). Für Mayer (1997) ist besonders die Kontiguität von gesprochenem Text und Bildpräsentationen methodisch interessant. Lernende können verbale und bildorientierte Informationen besser synchron verarbeiten, wenn die Texte gesprochen und nicht nur schriftlich angeboten werden (Mayer & Moreno, 1998; Moreno & Mayer 1999).
Multicodierung Verschiedene Repräsentationen
Neben der Möglichkeit, verschiedene Sinneskanäle zu nutzen, ist für Weidenmann (1997) vor allem die Vielfalt der Codierungs- und Präsentationsmöglichkeiten ein wesentliches Kennzeichen von „Multimedia“. Verschiedene Darstellungsmöglichkeiten sind wichtig, weil die Informationsverarbeitung zumindest in der Anfangsphase codespezifisch erfolgt. Unterschiede zwischen Text- und Bildverarbeitung lassen sich sogar physiologisch belegen, wie dies beispielsweise Untersuchungen zur Spezialisierung von Gehirnhemisphären zeigen (Springer & Deutsch, 1998). Verschiedene Codes bieten unterschiedliche Ausdrucksmöglichkeiten - sie stellen aber auch spezifische Anforderungen. Brünken et al. (2001) untersuchten zwei Varianten eines Multimediasystems, die sich in der Kodierungsform des Lernmaterials unterschieden (Bild vs. Text). Sie stellten fest, dass dann auch die Art der Testaufgaben (Abrufkodalität) in Abhängigkeit von der Kodierungsform des angebotenen Lernmaterials bearbeitet wurde: Bei Aufgaben mit Bildern und Grafiken ergaben sich dann höhere Leistungen als bei den reinen
19.1 Multimodalität, Multicodierung, Interaktivität 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 100 101 102 103 104 105 106 107 108 109 110 111 112 113 114 115 116 117 118 119 120 121 122 123 124 125 126 127 128 129
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Textaufgaben, wenn auch beim Lernen überwiegend Bildmaterial verwendet wurde, und umgekehrt. Schnotz & Bannert (2003) unterscheiden grundsätzlich zwischen textbasierten und bildlichen Repräsentationen. Sie stellen aber fest, dass auch schon verschiedene Formen der Visualisierung zu unterschiedlichen Wissensstrukturen mit spezifischen Nutzungseigenschaften führen können. Visualisierungen sind dann nützlich, wenn sie den Sachverhalt in einer aufgabenspezifischen Form präsentieren; ansonsten interferieren sie mit den vorhandenen Vorstellungen und können sogar hinderlich werden (Schnotz & Bannert, 2003). Insofern kommt der aufgaben- und zieladäquaten Form der Darstellung eine entscheidende Rolle zu.
Interaktivität In der Diskussion neuer Lernformen wird auch die Bedeutung der Steuerung von Lernprozessen durch die Lernenden selbst herausgehoben. Der Computer bietet besondere Vorteile im Rahmen eines interaktiven Lernens. Die Informationsaufnahme kann individuell abgestimmt werden. Dies unterscheidet „neue“ Medien ganz wesentlich von „älteren“ Medien (wie z. B. Film, Fernsehen oder Tonbandkassetten). Erst Interaktivität ermöglicht den Schritt von einem behavioristischen Lerndesign zu einer konstruktivistischen Lernumgebung, bei der Lernen ein aktiver und konstruktiver Prozess wird.
Interaktion und Kommunikation
Nach Issing & Strzebkowski (1997) kann von einer echten Interaktivität allerdings erst dann gesprochen werden, wenn • die Lernenden kreativ sein dürfen und Inhalte modifizieren bzw. selbst erstellen können;
„Echte“ Interaktivität
• das Programm dynamisch und adaptiv auf die Aktionen der Lernenden reagiert; • Lernende selbst die Lernkontrolle über ihre Lernprozesse übernehmen können (dies beinhaltet die Einflussname auf Sequenzierung der Lerneinheiten und Aktivitäten, Stuerung von Dauer und Geschwindigkeit, Auswahl des Schwierigkeitsgrades); • den Lernenden vom Mediensystem bei Bedarf Hilfe bzw. Führung angeboten wird. Interaktionsformen und Kommunikationswege dürften in Zukunft noch attraktiver werden, beispielsweise durch Lichtgriffel, Spracheingabe, Datenhandschuh und Augenkamera. Der Nutzer muss allerdings die angebotenen Interaktionstechniken erkennen, verstehen und zielgerecht anwenden können. Zwar bieten Multimediasysteme zunehmend Interaktions- und Navigationshilfen an, dennoch sind für
634 130 131 132 133 134 135 136 137 138 139 140 141 142 143 144 145 146 147 148 149 150 151 152 153 154 155 156 157 158 159 160 161 162 163 164 165 166 167 168 169 170 171 172
19 Neue Medien unter lernpsychologischen Aspekten die neuen Freiheiten systematisierende und organisatorische Überlegungen und letztlich metakognitive Fähigkeiten verstärkt gefordert. Außerdem können Lernende in der Regel nur schwer absehen, was ihnen genau fehlt und was ihnen wirklich weiterhilft.
Interaktive Gestaltungselemente und Benutzerführung
Metaphern als Gestaltungselemente
In vielen Multimediaanwendungen sollen Metaphern einen Überblick über die vielschichtigen Funktionen und eine intuitive Bedienung erleichtern. Über bereits bekannte Handlungssequenzen wie beispielsweise die Orientierung an einem Stadtplan, oder die Arbeit an einem Schreibtisch, soll die funktionelle Bedienung in einem Programm leichter fallen. Schulmeister (2002) beschreibt verschiedene Formen, u. a.: • Topologische Metaphern, die sich an Landkarten, Gebäuden oder Körperformen orientieren; • zeitliche Metaphern wie Kalenderblätter oder Zeitleisten; • erzählende Metaphern, die einen Leitfaden über eine Biographie, eine Reise oder über Abenteuergeschichten anbieten; • persönliche Führung durch einen „Guide“, Agenten oder Tutor; • Metaphern mit virtuellen Gegenständen, Werkzeugen oder Einrichtungen wie Buch, Lexikon, Notizkarten, Pinnwand, Lupe oder Kamera; • virtuelle Arbeitsplätze wie Schreibtisch, Cockpit, Kontrollraum, Labor; • Hierarchiemetaphern: Baum, Ordner. Wichtig ist, dass die verwendeten Metaphern der Zielgruppe gut vertraut sind und ein analoges Arbeiten überhaupt nahe legen.
Charakter der Interaktionsstruktur
Resümee: Multimediasysteme erschließen vor allem eine Variabilität in der Darstellung und komplexe Zugriffsmöglichkeiten. Sie können Information zusammenstellen, flexibel verfügbar machen und erleichtern eine Umsetzung des räumlichen und zeitlichen Kontiguitätsprinzips (siehe auch 19.2.1). Aus didaktischer Sicht charakterisieren Multicodierung, Multimodalität und Interaktivität aber in erster Linie die „Oberflächenstruktur“ von Lehr-Lern-Umgebungen und die Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine. Die „Tiefenstruktur“, d. h. die tatsächlich lernwirksamen Faktoren, sind damit noch nicht zwangsläufig spezifiziert. So kann eine Multicodierung hilfreich sein, weil sie verschiedene Beschreibungsformen eines Inhalts anbietet; sie kann aber auch durch eine Informationsflut überfordern. Deshalb werden in den folgenden Abschnitten Theorien zum Lernen mit Multimedia und spezifische Anforderungen betrachtet.
19.2 Theorien zum Lernen mit multiplen Repräsentationen 173 174 175 176 177 178 179 180 181 182 183 184 185 186 187 188 189 190 191 192 193 194 195 196 197 198 199 200 201 202 203 204 205 206 207 208 209 210 211 212 213 214 215
635
19.2 Theorien zum Lernen mit multiplen Repräsentationen In diesem Abschnitt sind grundsätzliche Überlegungen zum Lernen mit multiplen Repräsentationen und zur Multicodierung zusammengestellt. Zunächst werden die Modelle von Mayer sowie von Schnotz und Bannert vorgestellt. Dann folgen weitere Überlegungen zur Funktion multipler Repräsentationen für ein Lernen in Physik.
19.2.1 Theorie zum Multimedialernen von Mayer R. E. Mayer geht von drei zentralen Annahmen aus (Mayer, 2001): • Zwei Informationskanäle: Eingehende Informationen werden im Arbeitsgedächtnis entsprechend ihrer Präsentationsform in einem bildbasierten oder in einem sprachbasierten Kanal verarbeitet. Diese Annahme basiert auf der Dual Coding Theory von Paivio (Paivio, 1986; Clark & Paivio, 1991).
Grundannahmen: Zwei Kanäle,
• Begrenzte Kapazität: Die Verarbeitungskapazität ist in jedem Kanal beschränkt. Die theoretische Basis hierzu liefert die Theorie des Arbeitsgedächtnisses von Baddeley (1992) und die Cognitive Load Theory von Chandler und Sweller (1991).
Begrenzte Kapazität,
• Aktive Verarbeitung: Lernen beruht auf einer aktiven Informationsverarbeitung. Der Lernende wählt aus dem dargebotenen Stoff bedeutsame Informationen aus, arbeitet sie in eine für ihn schlüssige mentale Repräsentation um und baut Verknüpfungen mit bereits vorhandenem Wissen auf. Die theoretische Basis hierzu leitet sich aus der „Generative Theorie des Lernens“ von Wittrock (1974, 1989) ab.
Aktive Verabeitung
Eine zentrale These ist, dass durch geeignete visuell-verbal basierte multimediale Lernumgebungen die Verarbeitungstiefe und die Modellkonstruktion im Lernprozess unterstützt werden kann. Das Modell des multimedialen Lernens beschreibt einen mehrstufigen Prozess (siehe Abb. 19.1 nach Mayer, 1997 und Mayer, 2001).
Abb. 19.1: Multimediales Lernen nach R. E. Mayer 1997
636 216 217 218 219 220 221 222 223 224 225 226 227 228 229 230 231 232 233 234 235 236 237 238 239 240 241 242 243 244 245 246 247 248 249 250 251 252 253 254 255 256 257 258
19 Neue Medien unter lernpsychologischen Aspekten Für bild- und textbasierte Informationen gibt es zunächst zwei parallele, aber getrennte Verarbeitungswege. Der erste Schritt besteht darin, die aufgenommene Bild- und Textinformationen auf (persönlich) relevante Begriffe und Aspekte hin zu filtern („selecting“) und in das Arbeitsgedächtnis aufzunehmen.
Text- und bildbasierte Verarbeitung
Die sensorisch erfassten Informationen werden getrennt in bildliche und textbasierte Repräsentationen im Arbeitsgedächtnis verarbeitet („text base“ vs. „image base“). Die zunächst oberflächlichen Textund Bildrepräsentationen, die sich noch stark an die sensorische Aufnahme anlehnen, durchlaufen weitere codespezifische Organisationsprozesse („organizing“). Die Informationseinheiten werden dabei vernetzt und in Zusammenhänge eingebracht. Ergebnisse sind ein wort- und ein bildbasiertes internes Modell. Im letzten Schritt werden Referenzen zwischen den beiden Modellen hergestellt. Außerdem können sie in bereits vorhandene Wissensstrukturen eingebettet werden. Diesen Vorgang bezeichnet Mayer als „integrating“.
Designprinzipien für Multimediaanwendungen Basierend auf dieser Theorie und abgeleitet aus einer Reihe von empirischen Untersuchungen formuliert Mayer (2002) die folgenden neun Effekte, die beim Lernen mit Multimedia zu berücksichtigen sind: Effekte beim Lernen mit Multimedia
• Multimedia-Effekt: Intensiveres Lernen erfolgt, wenn Informationen Wort- und Bildmaterial enthalten und nicht nur Text. • Räumlicher Kontiguitäts-Effekt: Zueinandergehörende Informationen von Text und Bild sollten in unmittelbarer räumlicher Nähe zueinander stehen. Integrierte Darstellungen sind effektiver als separate Beschreibungen. • Zeitlicher Kontiguitäts-Effekt: Bessere Ergebnisse resultieren, wenn gesprochener Text und Animationen gleichzeitig und nicht nacheinander angeboten werden. • Kohärenz-Effekt: Irrelevante Text-, Bild- und Tonausgaben sollten entfallen. Aufgenommen werden sollen nur solche Informationen, die für das Verstehen und Lernen des jeweiligen Sachverhalts wirklich nötig sind. • Modalitäts-Effekt: Die Ergebnisse sind besser, wenn bei Animationen gesprochene statt geschriebenen Erklärungstexte angeboten werden.
19.2 Theorien zum Lernen mit multiplen Repräsentationen 259 260 261 262 263 264 265 266 267 268 269 270 271 272 273 274 275 276 277 278 279 280 281 282 283 284 285 286 287 288 289 290 291 292 293 294 295 296 297 298 299 300 301
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• Redundanz-Effekt: Bessere Resultate ergeben sich bei Animationen mit akustischen Erklärungen als bei Kombinationen mit noch zusätzlich geschriebenem Text auf dem Bildschirm. Kann eine Informationsquelle einen Sachverhalt vollständig erklären, so ist keine Ergänzung nötig. Redundante Informationen können sogar stören und unnötig belasten. • Vortrainings-Effekt: Teilwissen und Wissen über Systemkomponenten sollten besser vor einem neuen Informationsangebot behandelt und besprochen werden und nicht im Nachhinein erklärt werden. • Signal-Effekte: Bessere Lerneffekte ergeben sich, wenn Textdarstellungen mit Hilfen versehen sind, die Ursache-WirkungsZusammenhänge oder die Argumentationsstruktur verdeutlichen und die Verarbeitung erleichtern. Beispiele sind einleitende Worte, um die Intention und die Struktur des Textes zu klären. Auch Überschriften und Signalwörter wie erstens, zweitens … gehören zu dieser Kategorie. • Personalisations-Effekt: Günstiger sind persönlich ansprechende Beschreibungen als Texte in formal nüchternem Stil (z. B. mit Formulierungen in der dritten Person). Diese Effekte wurden bei kurzen Multimediasequenzen nachgewiesen, die sich mit einfachen Ursache-Wirkungs-Ketten befassten, z. B. mit dem Thema, wie Fahrradpumpen arbeiten oder wie Bremsen am Auto funktionieren.
Einschränkung
Außerdem bringen Lernende ihr Vorwissen, ihre Vorerfahrung und ihre Lernereigenschaften mit ein. Somit ist davon auszugehen, dass Gestaltungsregeln individuell anzupassen sind.
Individuell anpassen
19.2.2 Das integrierte Modell des Text- und Bildverstehens nach Schnotz und Bannert Text und Bild verwenden grundsätzlich unterschiedliche Repräsentationsprinzipien. Text organisiert die Information sequentiell, Bilder bieten die Informationen integriert / simultan an. Entsprechend verschieden sind auch die Prozesse der kognitiven Verarbeitung und Organisation. Schnotz & Bannert (2003) unterscheiden grundsätzlich zwischen beschreibenden (textbasierten) und bildlichen Repräsentationen. Deskriptive Darstellungen beruhen auf Symbolsystemen, wogegen bildliche Darstellungen aus analogen Strukturabbildungen resultieren. Eine deskriptionale Repräsentation verwendet Zeichen, die auf-
Unterschiedliche Repräsentationsprinzipien bei Text und Bild
638 302 303 304 305 306 307 308 309 310 311 312 313 314 315 316 317 318 319 320 321 322 323 324 325 326 327 328 329 330 331 332 333 334 335 336 337 338 339 340 341 342 343 344
19 Neue Medien unter lernpsychologischen Aspekten grund von Konventionen verstanden werden. Sie haben jedoch mit dem Gegenstand / Sachverhalt keinerlei Ähnlichkeit (Schriftzeichen sind ein entsprechendes Beispiel). Dagegen haben sog. depiktorale, bildhafte Repräsentationen gemeinsame Strukturmerkmale mit dem Bezeichneten. Sie nutzen strukturelle Eigenheiten ihrer Darstellungsform (z. B. um Größenrelationen zu verdeutlichen).
Modell von Schnotz und Bannert
Schon eine Selektion aus dem Informationsangebot dürfte wegen unterschiedlicher Zeichensysteme und struktureller Unterschiede andersartig verlaufen. In das Modell von Schnotz & Bannert (1999) gehen diese Vorstellungen entscheidend mit ein.
Abb. 19.2: Modell des multimedialen Wissenserwerbs anhand verbaler und piktorialer Information nach Schnotz und Bannert (1999, 80) unterschiedliche Verarbeitung von Text und Bild
Die Abbildung 19.2 veranschaulicht das Modell. Beim Lesen eines Textes führen zunächst Organisationsprozesse dazu, dass Sprachinformationen nach der äußeren und syntaktischen Form verarbeitet werden und in eine erste mentale Repräsentation überführt werden.
19.2 Theorien zum Lernen mit multiplen Repräsentationen 345 346 347 348 349 350 351 352 353 354 355 356 357 358 359 360 361 362 363 364 365 366 367 368 369 370 371 372 373 374 375 376 377 378 379 380 381 382 383 384 385 386 387
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Diese noch stark an dem wortwörtlichen Text orientierte Form wird im weiteren Verstehensprozess durch konzeptuelle Organisationsprozesse in eine strukturierte, propositionale Repräsentation überführt. Entsprechend entsteht beim Betrachten eines Bildes zunächst eine visuelle mentale Repräsentation, aus der dann durch weitere Verarbeitungsprozesse ein mentales Modell entwickelt wird. Dieses kann dann mit einer entsprechenden propositionalen Repräsentation verknüpft werden.
19.2.3 Darstellungsvielfalt und Lernen in Physik Multiple Repräsentationen sind insbesondere bei komplexen Inhalten ein Mittel, um bedeutsame und unterschiedliche Perspektiven zu verdeutlichen. So kann auch verhindert werden, dass inhaltliche Konzepte nur an eine bestimmte Darstellungsform geknüpft sind. Durch den kompetenten und flexiblen Umgang mit unterschiedlichen Repräsentationen können abstrakte Objekte, Modelle und Prozesse auf ihre repräsentationsinvarianten Strukturen hin abstrahiert werden. Savelsbergh et al. (1998) stellen fest, dass Experten interne Repräsentationen beim Problemlösen variabler nutzen können als Anfänger. Verschiedene Repräsentationen bieten dabei: Orientierungen für die Interpretation von Informationen, eine Basis für die qualitative Simulation von Systemen, Schemata für Vorgehensweisen und Lösungswege.
Experten nutzen multiple Repräsentationen
Kozma (2003) erfasst ebenfalls Unterschiede zwischen Wissenschaftlern und Studierenden bei der Verwendung multipler Repräsentationen. Während Experten verschiedene Repräsentationen koordiniert einsetzen, haben Studierende Schwierigkeiten, vielfältige Repräsentationen adäquat zu nutzen und zusammenzuführen. Ihre Betrachtungen und Argumentationen sind stark auf oberflächliche Merkmale eingeschränkt. Novizen scheinen stets enger auf eine bestimmte Darstellung fixiert zu sein, während Experten intensiver unterschiedliche Darstellungen nutzen und scheinbar mühelos zwischen ihnen wechseln können. Dabei nutzen sie diese für unterschiedliche Zwecke, zum einen zur Unterstützung inhaltsbezogener Überlegungen, zum anderen für die Kommunikation mit weiteren Wissenschaftlern. Die Betrachtungen von Kozma beziehen sich auf das Fach Chemie, dürften aber auch auf die Physik übertragbar sein.
situationsspezifisch nutzen
640 388 389 390 391 392 393 394 395 396 397 398 399 400 401 402 403 404 405 406 407 408 409 410 411 412 413 414 415 416 417 418 419 420 421 422 423 424 425 426 427 428 429 430
Gründe für den Einsatz multipler Repräsentationen
19 Neue Medien unter lernpsychologischen Aspekten Drei mögliche Begründungen für den Einsatz multipler Repräsentationen sind: • Spezifische Information kann am besten in spezifischen Darstellungen übermittelt werden • Unterschiedliche, vielfältig verfügbare Repräsentationen bedeuten flexibleres Wissen • Spezifische Präsentationssequenzen erleichtern bestimmte Lernarten Für die Unterrichtsplanung ist es hilfreich, verschiedene Funktionen zu kennen, die multiple Repräsentationen übernehmen können. Ainsworth (1999) gibt dazu einen systematischen Überblick (siehe Abb. 19.3).
Abb. 19.3: Taxonomie der Funktionen von multiplen Repräsentationen (übersetzt nach Ainsworth, 1999) Funktionen multipler Repräsentationen
• Verschiedene Repräsentationen können sich ergänzen. Dies kann sich sowohl auf Prozessqualitäten wie auch auf Informationen beziehen. • Die Verknüpfung verschiedener Darstellungen kann helfen, unbekannte Repräsentationen zu interpretieren und zu verstehen. Dies lässt sich über äußere Ähnlichkeiten, aber auch strukturelle Ähnlichkeiten unterstützen. • Für ein tieferes Verstehen können Abstraktionen, Erweiterungen oder die Darstellung von Relationen zweckmäßig sein.
19.3 Kognitive Belastungen und Maßnahmen 431 432 433 434 435 436 437 438 439 440 441 442 443 444 445 446 447 448 449 450 451 452 453 454 455 456 457 458 459 460 461 462 463 464 465 466 467 468 469 470 471 472 473
641
19.3 Kognitive Belastungen und Maßnahmen Die Informationsdichte und der Umgang mit verschiedenen Darstellungen kann Lernende besonders in der Anfangsphase schnell überfordern. Sie müssen die verschiedenen Darstellungen verstehen und sollen mit ihnen ohne Überforderung arbeiten können. Hierfür sind gegebenenfalls spezielle Maßnahmen sinnvoll, die Lehrenden bekannt sein sollten.
19.3.1 Cognitive load berücksichtigen Baddeley (1992) betrachtet das Arbeitsgedächtnis (working memory) differenziert nach drei Bereichen: • die Ausführungszentrale (central executive), die u. a. auch die Aufmerksamkeit steuert
Grenzen des Arbeitsgedächtnisses
• das visuell-räumliche Skizzenblatt (visuospatial sketch pad) • einen akustischen Bereich (phonological loop). Etwa drei bis sieben subjektiv neue Informationseinheiten, sogenannte chunks, können simultan im Arbeitsgedächtnis verfügbar sein (Miller, 1956, Baddeley, 1990, Glaser, 1994). Die „Cognitive Load Theory“ (Chandler & Sweller, 1991, Sweller, 1994) betont die Grenzen des Arbeitsgedächtnisses als wichtigen Faktor, der bei der Unterrichtsgestaltung zu berücksichtigen ist. Aufgrund der begrenzten Verarbeitungskapazität muss das Informationsangebot so strukturiert werden, dass die Belastung des Arbeitsgedächtnisses nicht zu hoch wird. Jede zusätzliche Belegung kognitiver Ressourcen verringert den Anteil, der für das Lernen zur Verfügung steht. Unterschieden werden drei Formen des cognitve load: „extraneous cognitive load“, „intrinsic cognitive load“ und „germane cognitive load“.
begrenzte Verarbeitungskapazität und kognitive Belastung
Belastungen, die auf sachfremde Faktoren zurückzuführen sind, werden als extraneous cognitive load bezeichnet. Allein die Art, wie eine Information präsentiert wird, kann eine höhere kognitive Belastung verursachen als das eigentliche inhaltliche Verstehen (Leung et al., 1997). Ungewohnte Notationen in Gleichungen können für einen hohen cognitive load sorgen, weil gleichzeitig Symbolik und Inhalt verarbeitet werden müssen. Zusätzlich sind Interaktionen zwischen den Lernenden untereinander und dem Medium einzubeziehen. So kann die Belastung bei einem entdeckenden Lernen mit interaktiven Animationen auch durch die Koordinierungsaufgaben beim kooperativen Lernen mit Partner kritisch werden (Schnotz et al., 1999).
extraneous cognitive load
642 474 475 476 477 478 479 480 481 482 483 484 485 486 487 488 489 490 491 492 493 494 495 496 497 498 499 500 501 502 503 504 505 506 507 508 509 510 511 512 513 514 515 516
19 Neue Medien unter lernpsychologischen Aspekten
intrinsic cognitive load
Unterrichtsinhalte können selbst eine hohe Belastung verursachen, wenn viele Details gleichzeitig im Arbeitsgedächtnis präsent sein müssen, um einen Sachverhalt zu verstehen (intrinsic cognitive load). Die kognitive Belastung durch einen Lerninhalt ergibt sich aus seiner Komplexität in Relation zum Vorwissen der Lernenden.
germane cognitive load.
Die kognitiven Aktivitäten, die für das eigentliche Lernen nötig sind, verursacht den germane cognitive load. Erfolgreiches Lernen ist nur dann möglich, wenn extraneous und intrinsic cognitve load noch Kapazitäten für den germane cognitive load frei lassen.
Abb. 19.4: Kognitive Überlastung beim Lernen
Relevante Faktoren für die kognitive Belastung BelastungsEffekte
Sweller (2002) beschreibt verschiedene Effekte, die vor allem im Zusammenhang mit Visualisierungen zu berücksichtigen sind. Vergleichbare Aussagen sind auch bei Mayer (2002) zu finden: • Split-attention effect: Die Belastung ist niedriger, wenn relvanter Text in graphische Darstellungen integriert ist und Lernende sich nicht auf verschiedene Stellen konzentrieren müssen. (Beispielsweise können Winkelangaben bei Richtungsvektoren oder Massen direkt an den Körpern angegeben werden, wenn diese für Rechnungen benötigt werden.) • Modality effect: Wenn durch die Kombination von Bildmaterial und gesprochenem Text besser gelernt wird, spricht man vom Modalitäts-Effekt (z. B. wenn ein erläuternder Text zu einem Diagramm gesprochen angeboten wird). • Redundancy effect: Zusätzlich angebotene Information kann beim Lernen stören, wenn sie nicht direkt zur Sache gehört. • Element interactivity effect: Cognitive load wird in der Regel nur dann kritisch, wenn Inhalte stark aufeinander bezogen und miteinander vernetzt sind. Bei isoliert verständlichen Informationseinheiten tritt der Effekt nicht auf. • Imagination effect: Die ideale Form der Informationsangebote hängt entscheidend von den Vorerfahrungen der Lernenden ab. Dies gilt insbesondere auch in Bezug auf das visuelle Vorstellungsvermögen.
19.3 Kognitive Belastungen und Maßnahmen 517 518 519 520 521 522 523 524 525 526 527 528 529 530 531 532 533 534 535 536 537 538 539 540 541 542 543 544 545 546 547 548 549 550 551 552 553 554 555 556 557 558 559
643
Auch ein selbstgesteuertes multimediales Lernen kann schnell zu einer kognitiven Überlastung führen. Insbesondere beanspruchen folgende, eher arbeitsorganisatorische Fragen ebenfalls kognitive Kapazitäten: „Welche Informationen brauche ich als nächstes?“, „Wo muss ich suchen?“, „Welche Relevanz hat eine gefundene Information?“ (Mandl & Reinmann-Rothmeier, 1997). Hinzu kommen technische Schwierigkeiten oder Bedienungsprobleme (Friedrich & Mandl, 1997).
Anpassen der Belastung Hilfreich ist es, vor komplexen Verständniseinheiten mehrere Elemente zu größeren Begriffseinheiten zusammenzufassen oder in Schemata einzuordnen, z. B. auch mit grafischen Hilfsmitteln. Marcus et al. (1996) konnten entsprechende Erfahrungen bestätigen. Dabei wurden Diagramme bei Problemstellungen mit Widerstandsschaltungen eingesetzt. Im Allgemeinen verringert die Nutzung verschiedener Sinneskanäle ebenfalls die kognitive Belastung (Tindall-Ford et al., 1997, Mousavi et al., 1995). Diese Aussage gilt aber nicht, wenn das Informationsangebot intensive Suchprozesse fordert, um visuelle und auditive Informationen in Übereinstimmung zu bringen (Jeung et al., 1997). Auch zusätzliche visuelle Anzeigen können stören, wenn sie viele weitere kognitive Aktionen verlangen.
Begriffseinheiten zusammenfassen („chunking“)
Kalyuga et al. (1999) stellen nach empirischen Untersuchungen fest, dass gesprochene Texte in computergestützten Lernmaterialien die kognitive Belastung verringern können. Farbliche Codierungshilfen sind ebenfalls vorteilhaft. Demgegenüber erhöhen geschriebene Zusatztexte eher noch die Belastung, insbesondere, wenn mehrfach zwischen Bildbetrachtung und Texterfassung gewechselt werden muss (vgl. Kalyuga et al., 1999).
Verarbeitungshilfen adaptiv anbieten
Cognitive load ist abhängig von Vorwissen, kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten. So kann es bei weniger erfahrenen Lernern nötig sein, zu einem Diagramm erläuternden Text anzubieten. Allerdings kann der gleiche Text für erfahrene Lerner eine unnötige Last sein, weil redundante Informationen nur wieder ausgefiltert werden müssen (Kalyuga et al., 1998). Wie eng organisiert ein Informationsangebot sein soll, hängt also auch entscheidend von der individuellen Vorerfahrung in einem Wissensbereich ab (Tuovinen et al., 1999). Im Abschnitt 19.2.1 wurden bereits in Anlehnung an Mayer verschiedene Designkriterien formuliert, die eine kognitive Belastung verringern können. Dazu zählen: Prinzip der Kontiguität (räumlich und zeitlich), Prinzip der Kohärenz, Prinzip der Redundanz.
644 560 561 562 563 564 565 566 567 568 569 570 571 572 573 574 575 576 577 578 579 580 581 582 583 584 585 586 587 588 589 590 591 592 593 594 595 596 597 598 599 600 601 602
19 Neue Medien unter lernpsychologischen Aspekten Auch sachbezogene methodische Maßnahmen haben sicherlich Auswirkungen auf die kognitive Belastung. Sie lassen sich aber nicht von speziellen inhaltlichen Überlegungen trennen. Deshalb sollen hier drei eher allgemeine Maßnahmen betrachtet werden, die helfen, die Informationsdichte am Multimediacomputer zu begrenzen.
„Single Concept“ Prinzip
Ein erster Ansatz kann sein, Darstellungen nach dem „single concept principle“ zu gestalten. Hierbei wird der Fokus auf einen Sachverhalt, Begriff oder ein physikalisches Konzept ausgerichtet. Dies ist vor allem im Grundlagenunterricht und für die erste Begriffsbildung hilfreich. Ein Beispiel aus der Wellenlehre zeigen die Abbildungen 19.5 und 19.6.
Abb. 19.5: Einfache Anwendungen zu Wellenlehre Verschiedene Aspekte lassen sich sequentiell behandeln. In der Fortführung sind auch zunehmend komplexere Sachverhalte aufzugreifen. (Die Simulationsprogramme sind unter folgender Internetadresse zu finden: http://www.physikonline.net/programme.)
Abb. 19.6: Ungestörtes Durchdringen zweier Kreiswellen individuelle Ablaufssteuerung
Bei Computerprogrammen und erst recht bei HypermediaAnwendungen ist die Ablaufssteuerung durch den Nutzer in der Regel gegeben (oder leicht einzurichten). Damit wird auch die Informationsdichte und die kognitive Belastung individuell steuerbar.
19.3 Kognitive Belastungen und Maßnahmen 603 604 605 606 607 608 609 610 611 612 613 614 615 616 617 618 619 620 621 622 623 624 625 626 627 628 629 630 631 632 633 634 635 636 637 638 639 640 641 642 643 644 645
Durch multimodale Angebote (z.B. Visualisierungen kombiniert mit gesprochenem Text) lassen sich verschiedene Aufnahmekanäle nutzen. Das zeitliche Kontiguitätsprinzip, nach dem zusammengehörende Informationen möglichst gleichzeitig präsent sein sollen, wird so mit einer geringeren kognitiven Belastung realisierbar.
645 Multimodalität
19.3.2 Supplantationkonzept und Kohärenzbildung Medien lassen sich als Hilfsmittel einsetzen, um einen Prozess zu veranschaulichen, den Lernende noch nicht selbständig realisieren können. Ein fehlender internaler kognitiver Prozess wird external durch das Medium vorgeführt. Salomon (1979) nennt dies Supplantation. Generell hat das Konzept zum Ziel, eine fehlende, für den Lernprozess wichtige, kognitive Operation external durch ein Medium zu präsentieren.
Supplantation
Abb. 19.7: Animation: y(t)-Diagramm und realer Ablauf Ein Beispiel ist das Verknüpfen verschieden abstrakter Beschreibungen. Dies zeigt Abb. 19.7. Im rechten Teil wird der Ablauf einer Federschwingung in einer realitätsnahen Darstellung präsentiert und zeitgleich wird links das entsprechende y(t)-Diagramm gezeichnet. Der Pfeil verdeutlicht den Zusammenhang zwischen dem realen Ablauf und der abstrakten Darstellung. Für ein inhaltliches Verständnis ist es nötig, dass Lernende die Beziehungen zwischen multiplen Darstellungen erarbeiten und verstehen. Erst die Integration verschiedener Darstellungen ermöglicht den Aufbau einer umfassenden Wissensstruktur. Diese Integrationsprozesse hat Seufert (2003) untersucht und unterscheidet zwei Arten: Erstens, Aufbauen von Verknüpfungen zwischen Text- und Bildelement (d. h. Elemente verschiedener Darstellungsformen miteinander verknüpfen) und zweitens, die Zusammenhänge zwischen Relationen innerhalb einer Darstellungsform mit den entsprechenden Relationen
Bezüge zwischen verschiednen Darstellungen aufbauen
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19 Neue Medien unter lernpsychologischen Aspekten in der anderen Darstellungsform herstellen (d. h. Verknüpfen von Relationen).
Kohärenzbildung
Diese teilweise aufwändigen Koheränzbildungsprozesse lassen sich nach Seufert & Brünken (2004) mit verschiedenen Mitteln unterstützen. Dazu gehört beispielsweise eine abgestimmte Farbgebung. Weitere Maßnahmen sind ein „dynamisches Verknüpfen“ (wenn eine Formel oder die Werte in einer Tabelle verändert werden, ändert sich auch die graphische Darstellung) oder „Text-Bild-Hyperlinks“ (wird eine Textstelle angeklickt, wird die entsprechende Bildstelle hervorgehoben). Welches Vorgehen in welchem Ausmaß das Lernen unterstützt, hängt von Vorwissen und Lernziel ab (siehe Seufert, 2003).
19.3.3 Adaptive Programme Mit der Weiterentwicklung von Programmiertechniken werden zunehmend auch Komponenten verfügbar, die es besser ermöglichen, das Prinzip der Passung umzusetzen. Leutner (1997, 2002) hat verschiedene Ideen zur adaptiven Gestaltung multimedialer Lernsysteme zusammengetragen. Einige Beispiele sind: Adaptivität
• Informationsumfang und Lerndauer werden erweitert, bis vorgesehene Lernziele erreicht sind. • Lernschritte werden entsprechend dem Leistungsniveau der Lernenden sequenziert: In Abhängigkeit von Lernstand, Lernziel und bevorzugter Lernstrategie der Lernenden wird ein Lernweg vorgeschlagen, der die relevanten Lerninhalte in einer entsprechenden Reihenfolge verbindet. • Leistungsabhängiges Angebot von Aufgaben: Bei der Auswahl von Aufgaben wird der Lernfortschritt berücksichtigt und die Arbeitszeit auf den Leistungsstand abgestimmt. • Kontextsensitive Hilfe: Beim Aufruf des Hilfesystems werden Informationen angeboten, die auf aktuell bearbeitete Inhalte oder Lernhandlungen Bezug nehmen. In Hypertexten werden automatisch solche Informationen angeboten, die möglichst viel mit dem derzeitig bearbeiteten Thema zu tun haben (eine Möglichkeit sind lexikalische Analysen aktuell verwendeter Begriffe). • Adaptive Hilfe beim entdeckenden Lernen: Zur Bewältigung von Problemsituationen sind Hinweise besonders nützlich, wenn sie a) situationsspezifisch sind, b) von Lernenden noch nicht wahrgenommen wurden. Evtl. wird automatisch Hilfe angeboten, wenn das System Schwierigkeiten beim Lernenden erfasst (z. B. bei unsachgemäßem Bedienen von Programmteilen).
19.4 Komplexes Lernen und Multimedia 689 690 691 692 693 694 695 696 697 698 699 700 701 702 703 704 705 706 707 708 709 710 711 712 713 714 715 716 717 718 719 720 721 722 723 724 725 726 727 728 729 730 731
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19.4 Komplexes Lernen und Multimedia Nachfolgend werden weitere theoretische Ansätze zur Frage verfolgt, wie multimediale Angebote in Lernprozessen hilfreich sein können. Behandelt werden Hilfen zum Aufbau mentaler Modelle, die Förderung kognitiver Flexibilität, „situated learning“ und Verankerung von Wissen sowie die Strukturierung von Wissen. Das Kapitel liefert theoretisch abgeleitete Anregungen, um verschiedenen Forderungen aus der Lernpsychologie nachzukommen. Beispiele sollen jeweils eine Brücke zwischen den relativ abstrakten Konzepten und konkreten Umsetzungen aufzeigen. Übersicht
19.4.1 Hilfen zum Aufbau mentaler Modelle Mentale Modelle bieten einen Erklärungsrahmen für den theoriegeleiteten Einsatz bildhaft-analoger Darstellungen. Die Theorie kann für die Entwicklung und den Einsatz von Multimediaanwendungen sehr hilfreich sein. Bei mentalen Modellen handelt es sich um analoge, kognitive Repräsentationsformen komplexer Zusammenhänge (siehe auch Kapitel 5). Menschen bauen interne Modelle der äußeren und inneren Realität auf. Für die Aspekte, die dem Individuum bedeutsam erscheinen, haben diese mentalen Modelle eine übereinstimmende Relationsstruktur mit den entsprechenden Ausschnitten aus der Realität (vgl. Mandl, Friedrich & Hron, 1988). Ihre Funktion für das Individuum kommt dann zum Tragen, wenn es darum geht, Phänomene zu verstehen, zu analysieren, Vorhersagen zu machen, Handlungen zu planen und zu überwachen oder ein Systemverhalten geistig durchzuspielen (Ballstaedt, Molitor & Mandl, 1989; Weidenmann, 1991). Nach Issing & Klimsa (1995) bietet Multimedia aufgrund der spezifischen Merkmale die besten Voraussetzungen, um durch eine adäquate Präsentation von Konzepten und Inhalten den Aufbau erwünschter mentaler Modelle zu fördern.
analoge, kognitive Repräsentation
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externe Darstellungen und mentale Modelle
19 Neue Medien unter lernpsychologischen Aspekten Allerdings betont Weidenmann (1994) die Notwendigkeit, zwischen Oberflächenmerkmalen und strukturellen und kausalen Merkmalen zu unterscheiden. Auch Einsiedler (1996) sowie Schnotz & Bannert (1999) trennen die sensorische und mediale Repräsentation eines Themas von der eigentlichen Tiefenstruktur. So können Medien den Auf- und Ausbau mentaler Modelle nur indirekt durch ihr Informationsangebot unterstützen, indem sie externe Repräsentationen vorstellen. Sie können allerdings durch die Visualisierung wichtige Hinweise bieten. Hier soll der Begriff entsprechend den frühen Ansätzen (siehe insbesondere auch Johnson-Laird, 1980; Forbus & Gentner, 1986; Seel, 1986; Steiner, 1988) bzw. den oben genannten Definitionen von Weidenmann (1991) und Ballstaedt et al. (1989) verstanden werden, d. h. als Repräsentation, die eine mentale Simulation physikalischer Prozesse und Abläufe ermöglicht. Entsprechende Beispiele wären Vorstellungen zum Teilchenmodell beim idealen Gas oder zum Verhalten der Ladungsträger am pn-Übergang bzw. beim Transistoreffekt.
Medien beim Aufbau mentaler Modelle Die Abbildung 19.8 stammt aus einer Animation zur Teilchenvorstellung.
Abb. 19.8: Eine „Denkblase“ eröffnet den Einblick in die Modellvorstellung. Visualisierungen und mentale Modelle
Bei dem Einsatz von Visualisierungen, die den Aufbau mentaler Modelle fördern sollen, lassen sich nach Weidenmann (1991) folgende Intentionen unterscheiden: • Abruf: Bilder aktivieren ein vorhandenes mentales Modell (und erschließen Anknüpfungspunkte). • Fokussierung: Bilder heben Teile eines mentalen Modells besonders hervor (und liefern wichtige Detailinformationen).
19.4 Komplexes Lernen und Multimedia 775 776 777 778 779 780 781 782 783 784 785 786 787 788 789 790 791 792 793 794 795 796 797 798 799 800 801 802 803 804 805 806 807 808 809 810 811 812 813 814 815 816 817
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• Konstruktion: Bilder zeigen, wie einzelne Komponenten in eine neue Gesamtstruktur eingebaut werden (auch Hilfen zur Modularisierung und Strukturierung von Wissensbereichen). • Ersatz: Bilder können die Komplexität und Dynamik eines Modells verdeutlichen, um das Zusammenwirken verschiedener Komponenten zu zeigen (beispielsweise in einem Trickfilm). Neben Animationen bieten sich noch Simulationen und Modellierungen an, vor allem um Einflussfaktoren und Abhängigkeiten zu verdeutlichen. Die Abbildung 19.9 stammt aus einem Programm, das eine Kamera simuliert. Blendenöffnung und Belichtungszeit sind einzustellen, um bei verschiedenen, auch bewegten Objekten, gute Bilder zu erzielen. Ergebnisse werden als Rückmeldung sofort angezeigt. Das Wichtigste ist aber, dass einfach per Mausklick zwischen einer photorealistischen und einer Modelldarstellung umgeschaltet werden kann. Dies soll helfen, eine enge Verknüpfung zwischen Modellvorstellung (insbesondere der geometrischen Optik mit dem Strahlenmodell) und der Realität herzustellen (siehe Abb. 19.9, Rubitzko & Girwidz, 2005 und http://www.physik.ph-ludwigsburg.de/ funfilm/software/de/VirtuellerFotoapparat.html.
Modelldarstellungen mit Realität verknüpfen
Abb. 19.9: Aus dem Computerprogramm „Virtuelle Kamera“ Um der einseitigen Fixierung auf die oberflächlichen Merkmale einer bestimmten Darstellung entgegenzuarbeiten, können Multimedia-Anwendungen durchaus auch mehrere unterschiedliche Visualisierungen kombiniert darbieten.
Unabhängigkeit von einer bestimmten Darstellung
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19 Neue Medien unter lernpsychologischen Aspekten
19.4.2 Kognitive Flexibilität fördern Kognitive Flexibilität und Multicodierung Detailwissen nach Anforderung zusammenstellen können
Kognitive Flexibilität beinhaltet die Fähigkeit, Wissen unter verschiedenen Rahmenbedingungen sinnvoll zu verwenden. Dazu gehört die Fertigkeit, als Reaktion auf veränderte Situationen und Anforderungen sein Wissen spontan umorganisieren zu können (Spiro & Jehng, 1990). So lässt sich bei Bedarf ein Ensemble konstruieren, das spezifisch auf die Situation zugeschnitten ist und ein besseres Verständnis neuer Inhalte oder ein erfolgreiches Problemlösen unterstützt (vgl. Spiro et al., 1996). Voraussetzungen sind sowohl angemessene Repräsentationsformen wie auch adäquate Zugriffsoperationen. Wissen, das in vielfältiger Weise nutzbar sein soll, muss in verschiedenen Arten organisiert, gelehrt und repräsentiert werden.
verschiedene Aspekte kennen und vernetzen
Eine zentrale Annahme der Cognitive Flexibility Theory ist, dass es für den fortgeschrittenen Wissenserwerb wichtig ist, denselben Inhalt zu verschiedenen Zeiten, in neu konstruierten Zusammenhängen, unter verschiedenen Zielsetzungen und unter verschiedenen konzeptionellen Perspektiven wiederzubetrachten (Spiro et al., 1996). Speziell für komplexe, schwer überschaubare Wissensbereiche (sog. „illstructured domains“) ist das Durchdenken verschiedener Zusammenhänge und Verflechtungen wichtig. Es liegt nahe, Hypertext und Hypermedia-Systeme einzusetzen, um die komplexen Abrufwege nachzubauen und damit den Lernenden angemessene Informationsund Übungsstrukturen anzubieten (Spiro et al., 1996).
verschiedene Darstellungen kennen und nutzen
Wissen soll in verschiedenen Formen präsentiert werden und in verschiedenen Szenarien eingebunden sein. Dies erleichtert spätere Suchprozesse beim Problemlösen. Zu fordern sind: • Lernaktivitäten, die einen Inhalt in vielfältigen Repräsentationsformen verarbeiten • Lernmaterialien sollen eine zu starke Vereinfachung vermeiden und Kontextbezüge unterstützen • Unterricht soll fallbezogen sein und die Konstruktion von Wissen betonen (statt Übertragung von Wissen) • Informationsquellen sollen stark miteinander vernetzt und nicht voneinander isoliert sein. Eine dauerhafte starke Vereinfachung der Lerninhalte und ihre Trennung vom konkreten Einsatzrahmen führt zu einer Schieflage beim Lernen und zu Schwächen beim Anwenden des Gelernten.
19.4 Komplexes Lernen und Multimedia 904 861 862 905 863 906 864 907 865 908 866 909 867 910 868 911 869 912 870 913 871 914 872 915 873 916 874 917 875 918 876 919 877 920 878 921 879 922 880 923 881 924 882 925 883 926 884 927 885 928 886 929 887 930 888 931 889 932 890 933 891 934 892 935 893 936 894 937 895 938 896 939 897 940 898 941 899 942 900 943 901 944 902 945 903 946
Außerdem ist wichtig, dass das Material mehrfach • in neu zusammengestellten Zusammenhängen • mit verschiedenen Zielsetzungen und • aus verschiedenen Perspektiven aufgerufen wird (Spiro et al. 1996).
651 in verschiedene Kontexte einbinden
Dabei muss klar sein, dass diese Strategien und das Lernen in komplexen Bereichen nicht in die Einführungsphase gehören.
Umstrukturierungen Aber nicht nur das Beherrschen verschiedener Symbolsysteme kann für eine flexible Anwendbarkeit günstig sein; auch verschiedene Darstellungen innerhalb eines Symbolsystems können wichtig werden. Beispielsweise lassen sich elektrische Schaltungen oberflächlich verschiedenartig darstellen. Lernende, die sich dem Thema erst nähern, werden nicht sofort erkennen, dass die abgebildeten Schaltungen (Abb. 19.10) aus physikalischer Sicht gleichwertig sind.
umstrukturieren und adaptieren können
Abb. 19.10: Einzelbild aus einer Computeranimation Ein Computerprogramm kann die Schaltskizzen schrittweise umformen und so die Zusammenhänge erkennbar machen (siehe Abb 19.10). Bereits Härtel (1992) hat einfache Transformationen mit dem Computer veranschaulicht. Weitere Beispiele zu diesem Thema finden Sie auch unter http://www.physikonline.net bei „Lernen mit Multimedia“.
Vergleichende Zusammenstellungen Auf höherem Anspruchsniveau können Lernende die Wechselbezüge selbst erschließen, wenn entsprechende Darstellungen simultan angeboten werden. Dazu eine Kopie aus dem Programm „Atomos“ aus dem Repetitorium zur Atomphysik von Gößwein (1997, siehe Gir-
kombinieren können
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19 Neue Medien unter lernpsychologischen Aspekten widz et al. 2000). In Abb. 19.11 ist bereits eine anspruchsvolle Auswahl von Beschreibungen zur Elektronenaufenthaltswahrscheinlichkeit zusammengestellt. Selbstverständlich ist die gezeigte Zusammenstellung nicht für eine Einführungsphase gedacht.
Abb. 19.11: Abbildung aus dem Programmpaket „Atomos“ .
19.4.3 Situiertes Lernen und Wissensverankerung authentische Kontexte, Kommunikation und Kooperation
kein „träges Wissen“
Konstruktivistische Theorien sehen vor allem zwei Möglichkeiten im Einsatz neuer Medien: (1) die Einbeziehung authentischer physikalischer und sozialer Kontexte in den Lernprozess und (2) die Unterstützung von Kommunikations- und Kooperationsprozessen zwischen Lernern. Seit dem Artikel von Brown, Collins & Duguid (1989) wird „situated learning“ auch als ein Modell verstanden, wie die Kluft zwischen theoretischem Lernen (im Klassenzimmer) und konkrete Anwendungen von Wissen in realen Anwendungen zu überbrücken ist. Vermieden werden soll „träges Wissen“ (inert knowledge), das zwar gelernt, aber nicht in realen Problemsituationen verfügbar ist. Dabei ist Lernen nach der Theorie des situated learning eine Funktion der Aktivität, des Kontextes und der kulturellen Umgebung (Lave, 1988, Lave & Wenger, 1990).
19.4 Komplexes Lernen und Multimedia 947 948 949 950 951 952 953 954 955 956 957 958 959 960 961 962 963 964 965 966 967 968 969 970 971 972 973 974 975 976 977 978 979 980 981 982 983 984 985 986 987 988 989
Wichtige Charakteristika entsprechender Lernumgebungen sind nach Herrington & Oliver (1995): • Authentische Kontexte, die deutlich machen, wie das Wissen in der Realität genutzt wird • Angebot Realitätsnaher Aktivitäten • Zugänge zu fachkundigen Realisierungen und Modellierungen von Prozessabläufen werden bereitgestellt
653 Forderungen des SituatedLearningAnsatzes
• vielfältige Funktionen und vielschichtige Perspektiven werden gezeigt • kooperativer Wissensaufbau wird unterstützt • Coaching und Unterstützung in kritischen Phasen sind vorbereitet • Metakognition und Reflexion • Artikulation wird gefördert, um implizites Wissen herauszuarbeiten • Die Bewältigung der Aufgabenstellung liefert gleichzeitig eine Rückmeldung zum Lernfortschritt (integrierte Bewertung). Multimediaprogramme, Videosequenzen und Internet können zu einem entsprechenden Kontext beitragen. Zu berücksichtigen ist allerdings die natürliche Komplexität vieler Realsituationen. Nicht nur Sandberg & Wielinga (1992) betonen, dass hierdurch Lernprozesse auch erschwert werden können. Dem steht das Problem der übermäßigen Simplifizierung entgegen (Spiro et al, 1996). So wird gerade hier wieder einmal deutlich, wie wichtig auch für neue Medien alte didaktische Prinzipien sind. Hier gilt die Regel: Vom Einfachen zum Komplexen.
Komplexität von realitätsnahen Problemen
Verankerung von Wissen - anchored instruction Anchored Instruction ist eine Umsetzung der theoretischen Postulate des Situated-Cognition-Ansatzes mithilfe von multimedialen Elementen (Cognition & Technology Group at Vanderbilt, CTGV, 1993, Bransford et al, 1990). Ursprünglich war der Fokus auf die Entwicklung interaktiver Videodisks gerichtet. Diese sollen Schüler (und Lehrer) anregen, komplexe, realitätsnahe Probleme zu behandeln. Intendiert ist, anwendungsnahe „Anker“ (Makro-Kontexte) als Kristallisationspunkte für das nachfolgende Lehren und Lernen bereitstellen. Die angebotenen Materialien haben einen narrativen Charakter und sind nicht als straffe Lerneinheiten konzipiert. Sie sollen zunächst Interesse wecken, damit die angeboten Problemsituationen von Lernenden und Lehrenden untersucht werden.
Verankerung – „Anchored Instruction“
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19 Neue Medien unter lernpsychologischen Aspekten Wesentlich ist, dass der Inhalt (Wissen über Konzepte, Theorien und Prinzipien) eine Bedeutung und einen persönlichen Wert für das Individuum hat. Wissen wird nicht als Endresultat, sondern als Werkzeug für (subjektiv) relevante Fragestellungen angesehen. Die Bedeutung der „Anker“ liegt außerdem in den Mustern, die den Zusammenhang für Anwendungswissen bereitstellen und den Rahmen bieten, um Informationen aus verschiedenen Wissensbereichen zu integrieren. Die Verankerung von Wissen an realitätsnahen Rahmenbedingungen soll die Entwicklung spezifischer, aber auch übertragbarer Problemlösefertigkeiten effektiver gestalten (Goldmann et al., 1996).
Wissen soll einen persönlichen Nutzen haben
Ein Beispiel für Verankerungen in der Akustik mithilfe von Multimediaprogrammen ist in Kapitel 11 zu finden. Hier kann physikalisches Wissen auch einen persönlichen Nutzen für Schüler haben, die sich für Musik interessieren. Die digitale Aufnahme und Weiterverarbeitung von Musikstücken oder der eigenen Stimme und die Ergänzung mit verschiedenen Toneffekten sind heute mit der Standardausstattung eines Multimediacomputers direkt möglich.
19.4.4 Wissensstrukturierung und Vernetzung Wissensstrukturierung bedeutet die Organisation und Vernetzung von kognitiven Elementen. Wissensstrukturierung und Problemlösen
De Jong und Njoo (1992) beobachteten 32 Lernprozesse und stellen zwei wichtige Teilprozesse heraus: Strukturieren von neuem Wissen und die Verknüpfung mit vorhandenen Kenntnissen. Auch für ein Problemlösen ist strukturiertes und organisiertes Wissen notwendig (Reif, 1981, 1983). Vor allem eine hierarchische Gliederung beeinflusst die Abrufbarkeit. Leitbegriffe können den Zugriff auf relevante Details steuern. So betont van Heuvelen (1991) die Notwendigkeit, übergeordnete physikalische Prinzipien zu vermitteln und das Wissen um vereinheitlichende Theorien zu formatieren.
vernetztes Wissen
Detailwissen muss vernetzt sein, damit Zusammenhänge erschlossen werden können. Clark (1992) unterscheidet prinzipiell vertikale Verknüpfungen (beispielsweise die Zuordnung zu einem allgemeinen Prinzip) und horizontale Verknüpfungen (Verbindungen zu ähnlichen Wissensstrukturen, z.B. über Analogien). Letztere sind vor allem im Zusammenhang mit Transferleistungen von Interesse. Graphiken, die Zusammenhänge visualisieren, können eine Analyse der Themenbereiche unterstützten und auch ein Wiedererkennen und Behalten der Lerninhalte fördern (Beisser et al., 1994). Neue Medien bieten
19.4 Komplexes Lernen und Multimedia 1033 1034 1035 1036 1037 1038 1039 1040 1041 1042 1043 1044 1045 1046 1047 1048 1049 1050 1051 1052 1053 1054 1055 1056 1057 1058 1059 1060 1061 1062 1063 1064 1065 1066 1067 1068 1069 1070 1071 1072 1073 1074 1075
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Werkzeuge an, die eine Visualisierung und den Aufbau entsprechender Strukturen unterstützen kann.
Netze, Maps und Charts Mind Maps und Concept Maps sind organisierte und strukturierte Darstellungen von Schlüsselbegriffen (z. B. auch als Text-BildKombinationen). Concept maps repräsentieren eine Wissensdomäne über Kernbegriffe und zentrale Aussagen, die durch Knoten und ihre Verbindungen angezeigt werden. So genannte „Reference Maps“ haben zum Ziel, Wissensstrukturen abzubilden. Sie sollen quasi ein kognitives Gerüst anbieten und den Zugriff auf das Wissen erleichtern. Canas et al. (1999) sehen hierin die Möglichkeit für eine elegante, intuitive Repräsentation eines Wissensbereichs. Im Gegensatz zu Maps gehen Charts weniger stark von einem zentralen Begriff aus. Sie sind eher vertikal organisiert und können damit gut hierarchische Strukturen aufzeigen.
Maps Unterschiede im Detail
Mapping- und Chart-Programme bieten eine Plattform, um Begriffsstrukturen und Zusammenhänge implizit in visueller Form darzustellen. Die bildhafte Veranschaulichung begrifflicher Strukturen lässt sich mit verschiedenen didaktischen Funktionen verbinden (vgl. auch Ballstaedt, 1997). Dazu gehören: Übermitteln von (strukturellen) Aussagen, Wissen einprägen, Explorationsmöglichkeiten bieten (z. B. „Durchstreifen“ eines Begriffsnetzes).
bildhafte Veranschaulichung von Begriffsstrukturen
Neben dem Einsatz zu Lehr-Lern-Zwecken lassen sich Concept Maps auch mit dem Ziel einsetzen, individuelle kognitive Strukturen aufzudecken. Als ein Mittel in der fachdidaktischen Forschung sind Concept Maps in Fischler & Peuckert (2000) beschrieben. Allerdings ist stets eine differenzierte Betrachtung angebracht. Die direkte oberflächengetreue Abbildung von externen Strukturdarstellungen auf eine interne Repräsentation (und umgekehrt) kann nicht angenommen werden. „Die sensorische und mediale Repräsentation eines Themas haben zwar eine wesentliche Hilfsfunktion, die eigentliche Tiefenstrukturbildung ist jedoch eine abstrakt-symbolische Konstruktion“ (Einsiedler, 1996, 177). Nach Jonassen & Wang (1993) genügt es nicht, Wissensstrukturen darzustellen, um strukturelles Wissen zu verbessern. Der aktive Umgang mit dem Wissen, angeregt durch Verarbeitungsaufgaben und Zielvorgaben, scheint ganz wesentlich zu sein.
zwischen externen und internen Repräsentationen unterscheiden
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19 Neue Medien unter lernpsychologischen Aspekten
Charts und Maps am Computer Mapping am Computer
Für moderne Computer- und Multimediaanwendungen sind Netzwerkdarstellungen besonders interessant. Sie entsprechen einerseits modernen Theorien über die mentale Repräsentation von begrifflichem Wissen und andererseits kommt die Struktur den heutigen Programmtechniken besonders gut entgegen. Den Knoten (Wissenselementen) lassen sich Programmmodule zuordnen; die horizontalen Verknüpfungen und die Tiefenstruktur werden durch Vernetzungen (sog. „links“) abgedeckt. Ein konkreter Ansatz ist, mittels Hypertexten die semantische Struktur von Begriffen nachzubilden. Die Knoten repräsentieren dabei die Begriffe, die Verknüpfungen die logischen Zusammenhänge. Abbildung 19.12 zeigt ein Begriffsnetz zum Wärmetransport und eine Site-Map, die von Standard-Software für Webseiten automatisch erstellt wird. Die strukturelle Ähnlichkeit ist offensichtlich.
Begriffsnetz und Site-Map
Abb. 19.12: Begriffsnetz und Schema einer Site-Map Begriffsnetze mit Bildern ausgestalten
Die Verwendung von Bildmaterial kann weiter veranschaulichen (siehe Abb. 13 und 14).
Abb. 19.13: Grobeinteilung von Strömungen
19.4 Komplexes Lernen und Multimedia 1119 1120 1121 1122 1123 1124 1125 1126 1127 1128 1129 1130 1131 1132 1133 1134 1135 1136 1137 1138 1139 1140 1141 1142 1143 1144 1145 1146 1147 1148 1149 1150 1151 1152 1153 1154 1155 1156 1157 1158 1159 1160 1161
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Abb. 19.14: Mindmap zu den Wirkungen elektrischer Ströme Charts und Maps können von Anfang an helfen, Detailwissen strukturell einzuordnen. Durch die Flexibilität, Veränderbarkeit und vor allem über die Vernetzungsmöglichkeiten bieten neue Medien hier entscheidende Vorteile gegenüber klassischen Medien.
Flexibilität am Computer
Vorbereitete Hypertext- oder Hypermedia-Strukturen lassen sich explorativ durchstreifen. Daneben ist aber auch das Erstellen eigener Concept- und Mindmaps mit modernen Computerprogrammen problemlos. Selbst das Einfügen verschiedener Ebenen und die Verknüpfung mit Internetadressen sind sehr einfach (weitere Anregungen im Kapitel 11).
Gestaltungsmöglichkeiten
Bei der Einführung und Besprechung im Unterricht, aber auch für die Analyse von Concept Maps sind folgende Kriterien für eine Charakterisierung hilfreich:
Charakterisierungen
• Strukturierungstyp: Nach welchen Kriterien wird das Wissen strukturiert? • Strukturierungsbreite: Wie umfassend ist ein Themengebiete abgedeckt? • Strukturierungstiefe: Wie detailliert ist ein Themenbereich dargestellt? • Vernetzungsdichte: Wie komplex und dicht sind die Verbindungen im Netzwerk? • Clusterbildung: Welche Substrukturen lassen sich ausmachen? • Navigation: Wie kann auf die Wissenselemente zugegriffen werden?
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19 Neue Medien unter lernpsychologischen Aspekten
Abrundung Auch wenn der Blick auf Multimediaanwendungen gerichtet war, soll keinesfalls der Eindruck entstehen, dass dieses Medium allein das Erreichen von Lernzielen sicherstellt. Der Einsatz von Medien als Mittler im Lehr-Lern-Prozess hat einen optionalen Charakter. Hier war das Anliegen aber, Ansätze für eine theoriegeleitete Entwicklung und Anwendung von neuen Medien vorzustellen. Dies soll zu einem zielgerechten und effektiven Einsatz führen, der mit anderen Mitteln schwerer zu erreichen ist.
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19 Neue Medien unter lernpsychologischen Aspekten
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19 Neue Medien unter lernpsychologischen Aspekten
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Alexander Kauertz & Hans E. Fischer
20 Standards und Physikaufgaben Aufgaben sind ein wesentliches Element naturwissenschaftlichen Unterrichts. Als Lernaufgaben strukturieren sie den Unterricht, ihr Einsatz und ihre Gestaltung als Testaufgaben ermöglichen der Lehrkraft eine Diagnose des Leistungsniveaus in der Klasse. Passend zu einer Diagnose kann die Lehrerin oder der Lehrer Fördermaßnahmen planen und einsetzen, meist wieder in Form von Lernaufgaben. Über Unterricht hinaus werden Tests auch genutzt, um Leistungen von Klassen, Schulen und Schulsystemen zu vergleichen. Solche Vergleiche finden durch Vergleichsarbeiten, Lernstandserhebungen oder internationale Studien statt, wie das Programm for International Student Assessment (PISA). Ihr Ziel ist die Sicherung und Entwicklung von Standards naturwissenschaftlichen Wissens für Schülerinnen und Schüler eines Jahrgangs oder eines Schulabschnitts. Aufgaben aller Art haben daher einen großen Einfluss auf die Unterrichtsqualität. Allerdings sind je nach Einsatzbereich unterschiedliche Merkmale der Aufgabe relevant. Dieser Beitrag bietet einen Überblick über die verschiedenen Merkmale und Einsatzmöglichkeiten von Physikaufgaben.
20.1 Aufgabeneinsatz in Unterricht und Test Aufgaben kommen im naturwissenschaftlichen Unterricht in verschiedenen Bereichen zum Einsatz. Jede Aufgabe kann hinsichtlich einer Vielzahl von Merkmalen eingeordnet werden. Welche Merkmale der Aufgabe für ihre Qualität und Eignung in der Situation besonders wichtig sind, hängt vom Einsatzbereich ab. Grundsätzlich lassen sich Lern- und Testaufgaben unterscheiden. In Lernaufgaben sollten möglichst vielfältige Fähigkeiten kombiniert und vielfältige Anknüpfpunkte angeboten werden. Außerdem sollten Hilfestellungen vorgesehen werden und die Aufgabe können soziale und emotionale Aspekte beinhalten. Unterrichtsphasen werden durch den Einsatz von Lernaufgaben strukturiert. Die Auswahl und die Qualität der Aufgaben bestimmen daher den Erfolg der jeweiligen Phase. Im Folgenden werden drei Unterrichtsphasen mit unterschiedlichen Anforderungen an Aufgaben skizziert (Häußler & Lind 1998, 6 f.):
Rolle von Aufgaben im naturwissenschaftlichen Unterricht
664 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81 82 83 84 85 86
20 Standards und Physikaufgaben
Erarbeitungsphase
1.
Erarbeitungsphase: In dieser Phase des Unterrichts sollen die Schülerinnen und Schüler beim Verstehen neuer Begriffe, Gesetzte und Konzepte von Aufgaben unterstützt werden. Das zuvor Erlernte soll sinnvoll angewendet und dadurch sein Einsatzbereich angedeutet werden. Schülerinnen und Schüler erhalten in dieser Phase durch die Aufgaben auch eine Rückmeldung über Verständnisschwierigkeiten.
Übungsphase
2.
Übungsphase: Ziel dieser Phase ist es insbesondere, die Transferfähigkeit des Wissens und die Motivation über Kompetenzrückmeldung zu fördern. Dazu sind Aufgaben zu formulieren, die unterschiedliche Lösungswege erlauben und in denen die erarbeiteten Kenntnisse auf verschiedene, für die Schülerinnen und Schüler interessante Kontexte angewendet werden. In dieser Phase ist es unter Umständen auch sinnvoll routinebildende Aufgaben einzusetzen. Die Routine ist notwendige, um eine kognitive Entlastung beim Bearbeiten anspruchsvollerer Aufgaben zu erreichen.
Leistungsmessungs- 3. phase
Leistungsmessungsphase: Der Lernerfolg einzelner Schülerinnen und Schüler hängt u.a. von der Prüfungskultur in einer Klasse ab. Es ist deshalb besonders darauf zu achten, dass die während der zuvor stattgefundenen Phasen verfolgten Lernziele auch von den Leistungsmessungsaufgaben erfasst werden. Neben der Leistungsmessung in der Klasse gibt es zunehmend standardisierte, klassen- und schulübergreifende Tests, die die Leistung von Schülerinnen und Schülern, meist als Kompetenz beschrieben, erfassen. Sie beziehen sich auf verbindlich festgelegte Ziele von Unterricht wie etwa die Bildungsstandards, die von der Schuladministration zentral festgelegt sind.
Testaufgaben sind möglichst klar auf eine Fähigkeit fokussiert, die getestet werden soll. Eine Hilfestellung ist meist nicht vorgesehen und es sollte eine eindeutig richtige Lösung und, bei einem Multiple Choice Format, eindeutig falsche Lösungen geben, damit die zur Lösung benötigte Kompetenz gut beurteilt werden kann. Leistungsmessungsphasen müssen vom restlichen Unterricht getrennt werden: In Erarbeitungs- und Übungsphasen können die Schülerinnen und Schüler der Lehrerkraft vertrauen, dass nicht belastbares physikalisches Wissen nicht als Fehler, sondern als Zwischenzustände auf dem Weg zu akzeptierbaren physikalischen Konzepten betrachtet werden (Fischer & Breuer 1994).
20.2 Qualität von Aufgaben 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 100 101 102 103 104 105 106 107 108 109 110 111 112 113 114 115 116 117 118 119 120 121 122 123 124 125 126 127 128 129
665
20.2 Qualität von Aufgaben Die Qualität von Aufgaben kann sowohl nach Oberflächenmerkmalen, wie Format, Formulierung und Präsentation, eingeschätzt werden als auch im Hinblick auf fachbezogene Merkmale wie Inhalt, kognitive Prozesse und Anforderung.
Oberflächenmerkmale und fachbezogene Merkmale
Aufgaben werden im Unterricht entweder mündlich oder schriftlich präsentiert, wobei in Lernsituationen meist eine mündliche in Testsituationen eine schriftliche Präsentationsform vorherrscht. Eine Aufgabe besteht in allen Fällen aus drei Teilen: 1. Der Aufgabentext (enthält beispielsweise Informationen über Fachinhalt, Kontext und Einbettung in die Situation)
Die drei Teile einer Aufgabe
2. Die Aufforderung oder die Frage an den oder die Bearbeiter 3. Der Lösungsweg inklusive Lösung Für die Analyse von Aufgaben ist es wichtig, Aufgaben gegeneinander abgrenzen zu können. Schabram (2007) schlägt vor, jede (inhaltsbgezogene) Handlungsaufforderung als einzelne Aufgabe zu betrachten. Die Formulierung: „Beschreibe und erkläre folgenden Sachverhalt…“ beinhaltet also bereits zwei Aufgaben. Im Zusammenhang mit Tests spricht man von einem Item als kleinster Analyseeinheit, die als richtig oder falsch bewertet wird. Eine Abgrenzung erfolgt dabei auch durch entsprechende textliche Abgrenzungen. Mehrere Items bilden dann eine Aufgabe. Aufgaben, die sich aufeinander beziehen und z. B. denselben Aufgabentext nutzen (vgl. Beispielformulierung), stellen Teilaufgaben einer Gesamtaufgabe dar. Aufgabenformulierung und -präsentation müssen der Unterrichtsphase und der Sozialform angepasst werden. Dabei gibt es über alle drei Phasen hinweg Qualitätskriterien, die helfen, den Auftrag an die Schülerinnen und Schüler möglichst präzise zu formulieren. Je nach geplanter Sozialform bei der Bearbeitung gehören dazu, die Person, die einzeln oder als Gruppe in der Aufgabe anzusprechen ist, eine klare Strukturierung des Arbeitsauftrags und des Materials, die sprachliche Angemessenheit des Auftrags und eine kritische Reflexion der bereitgestellten Informationen. Die sprachliche Verständlichkeit der Aufgabentexte ist wichtig für die Qualität von Aufgaben. Verständlichkeit bezieht sich dabei auf das Verhältnis von Leser und Text. Je nach Bearbeiter, z. B. dessen Alter, muss die Verständlichkeit neu geprüft werden. Dazu gibt es eine Reihe von Textverständlichkeitskriterien, die beachtet werden sollten (vgl. Schüttler 1994):
Aufgabenformulierung und Aufgabenpräsentation
666 130 131 132 133 134 135 136 137 138 139 140 141 142 143 144 145 146 147 148 149 150 151 152 153 154 155 156 157 158 159 160 161 162 163 164 165 166 167 168 169 170 171 172
Kriterien der Textverständlichkeit
20 Standards und Physikaufgaben •
Kognitive Strukturierung wird z. B. durch Hervorhebungen, Zusammenfassungen, Herausarbeitung von Ähnlichkeiten und Unterschieden einzelner Informationen, sinnvolle Strukturierungen, Gliederung von Absätzen erreicht.
•
Sprachliche Einfachheit wird durch kurze und einfache Satzstrukturen mit Subjekt, Prädikat und Objekt hergestellt. Geläufige Wörter, aktive Verben und wenige Substantivierungen tragen ebenfalls zur Einfachheit bei.
•
Semantische Redundanz wird durch eine Verringerung der Informationsdichte und durch Wiederholungen erzielt.
•
Kürze und Prägnanz im Text wird durch ein Gleichgewicht zwischen Verständlichkeit des Inhalts bei möglichst wenig Text und notwendiger Redundanz hergestellt, d. h. eine sinnvolle Relation von Informationsziel zu Sprachaufwand.
Die kritische Reflexion der bereitgestellten Informationen in der Aufgabe umfasst verschiedene Fragen, die im Hinblick auf das Ziel, das mit der Aufgabe verfolgt wird, unterschiedlich beantwortet werden können: Leitfragen zur kritischen Reflexion der Aufgabe
•
Ist die Aufgabe fachlich logisch strukturiert und fachlich richtig (wobei die Richtigkeit auch beinhaltet, der jeweiligen Klasse angemessen zu sein)?
•
Sind die verwendeten Fach- oder Fremdwörter bekannt und notwendig?
•
Ist die Information im Aufgabentext ohnehin schon bekannt?
•
Sind zur Lösung notwendige Querverweise im Material gegeben (z.B. auf Graphiken und Tabellen)?
•
Sind die Informationen im Text für die Aufgabenbearbeitung relevant oder erhöhen Sie die Schwierigkeit unnötig?
•
Sind, insbesondere in Rechenaufgaben, realistische Angaben gemacht worden?
Neben diesen allgemeinen Qualitätskriterien von Aufgaben, gibt es eine Reihe physikbezogener Merkmale, die in Aufgaben je nach Unterrichtsphase verschieden ausgeprägt oder relevant sind (vgl. Fischer & Draxler 2007). Die Merkmale helfen, vorhandene Aufgaben aus verschiedenen Quellen im Hinblick auf die Phasen zu beurteilen, sie anzupassen oder neue Aufgaben zu entwickeln. Was eine gute Aufgabe ist, lässt sich daher nicht allgemein, sondern nur bezogen auf ihren beabsichtigten Einsatz bezogen auf eine bestimmte Lerngruppe sagen. Das schließt ein, dass Aufgaben aus zentralen
20.3 Merkmale von Aufgaben 173 174 175 176 177 178 179 180 181 182 183 184 185 186 187 188 189 190 191 192 193 194 195 196 197 198 199 200 201 202 203 204 205 206 207 208 209 210 211 212 213 214 215
Leistungstests selten gute Aufgaben für Lernphasen sind und eine gute Lernaufgabe für einen zentralen Leistungstest ungeeignet ist. Im Hinblick auf Standardisierung und Normierung sind daher normierte Tests nicht gleichbedeutend mit normiertem Unterricht. Standards für die Leistung von Schülerinnen und Schülern zu bestimmten Zeitpunkten ihrer Schullaufbahn (Performance Standards bzw. Benchmarks) müssen deshalb durch Standards für guten Unterricht (opportunity to learn standards) ergänzt werden. In den Bildungsstandards für die Naturwissenschaften der Sekundarstufe I werden vor allem Performance-Standards beschrieben, die sich in ein Kompetenzmodell einordnen lassen. Guter Unterricht wird als kompetenz- und schülerorientiert sowie entlang der Basiskonzepte vertikal vernetzend beschrieben ( KMK 2005).
667
Leistungsstandards müssen durch Standards für guten Unterricht ergänzt werden
Obwohl Lern- und Testaufgaben grundsätzlich anders konstruiert sein müssen, sollten sie sich aufeinander beziehen, damit der Regelkreis Lehrerhandeln – Unterrichtsqualität – Lernerfolg optimiert werden kann. Der Bezug kann über Physikkompetenz und durch die Einordnung von Aufgaben in ein Kompetenzmodell hergestellt werden (Hartig, Klieme & Leutner 2008). Kompetenzmodelle stellen Ordnungssysteme für (physikbezogene) Fähigkeiten und Fertigkeiten dar. Die Einordnung von Aufgaben basiert auf ausgesuchten Merkmalen von Aufgaben, die mit diesen Fähigkeiten und Fertigkeiten verknüpft sind.
20.3 Merkmale von Aufgaben Im naturwissenschaftlichen Unterricht spielen Aufgaben eine besondere Rolle. Sie werden in vielfältigen didaktischen Zusammenhängen genutzt, um Inhalte zu entwickeln, typische Probleme zu lösen, Problemlösen selbst zu unterrichten und Unterricht entlang der Prinzipien naturwissenschaftlichen Arbeitens zu strukturieren (vgl. BLKExpertise 1997). Im experimentellen Bereich eröffnen Aufgaben einige für den naturwissenschaftlichen Unterricht spezifische Unterrichtsziele. Fischer und Draxler (2001; 2007) entwickelten daher ein Kategoriensystem für die Beurteilung von Physikaufgaben, in dem zahlreiche Merkmale von Aufgaben mit möglichen Varianten der Ausprägung zusammengefasst sind. Testaufgaben lassen sich jedoch insbesondere im Hinblick auf Kompetenz nur unzureichend mit Hilfe dieses Kategoriensystems beurteilen. Um leichter einen Bezug zwischen Ergebnissen in Testaufgaben und darauf bezogenen Lernarrangements herstellen zu können, sind
Vielfältige didaktische Zusammenhänge
668 216 217 218 219 220 221 222 223 224 225 226 227 228 229 230 231 232 233 234 235 236 237 238 239 240 241 242 243 244 245 246 247 248 249 250 251 252 253 254 255 256 257 258
20 Standards und Physikaufgaben weitere Merkmale notwendig. Diese ergeben sich aufgrund der in den KMK-Standards geforderten Kompetenzorientierung von Unterricht sinnvoller Weise aus Modellen für Physikkompetenz, insbesondere dem Kompetenzmodell, das der Entwicklung von Testaufgaben zur Normierung der Bildungsstandards in den Naturwissenschaften zu Grund liegt (vgl. Walpuski u.a. 2007). Im Folgenden werden die Merkmale, die sich aus den beiden Quellen ergeben, erläutert und ihr Bezug zu den Unterrichtsphasen beschrieben.
20.3.1 Offenheit von Aufgaben Offenheit wird durch die Anzahl möglicher Lösungswege beschrieben. Fischer und Draxler (2007, 646) unterscheiden vier Ausprägungen: Anzahl möglicher Lösungswege
1. Die Aufgabe lässt mehrere Lösungswege zu und schreibt weder direkt noch indirekt einen bestimmten Weg vor. 2. Die Aufgabe lässt mehrere Lösungsmöglichkeiten zu und thematisiert einige Alternativen. 3. Die Aufgabe macht implizite Vorgaben zum Lösungsweg, etwa durch Handlungsanweisungen („berechne“, „messe“, etc.) oder Nennung der zu verwendenden Geräte bzw. physikalischen Gesetze. 4. Die Aufgabe schreibt explizit einen Lösungsweg vor. In Erarbeitungsphasen ist jede Art von Offenheit denkbar. Der Grad der Offenheit muss allerdings dem Wissen und der Kompetenz der Lerngruppe angepasst sein. Bei der Beurteilung der Angemessenheit des Offenheitsgrades reicht es nicht aus, die fachliche physikalische Kompetenz der Schülerinnen und Schüler einzuschätzen. Wenn z. B. eine offene Antwort erwartet wird, sollten die Schüler in der Lage sein, einen angemessenen Fachtext zu produzieren. Ist dies nicht der Fall, sollte die Formulierung eines angemessenen Textes Ziel des Physikunterrichts werden. In Übungsphasen bietet eine hohe Offenheit vielfältige Möglichkeiten zum Transfer; bei Routinebildung soll dagegen meist ein bestimmter Lösungsweg geübt werden, daher ist hierbei eine geringe Offenheit vorzusehen. In Testsituationen in der Klasse können, je nach diagnostischem Interesse, alle Arten von Offenheit sinnvoll sein: Soll etwa die Herangehensweise an eine Aufgabe überprüft werden, wird die Offenheit eher hoch sein, soll das Wissen über einen bestimmten Lösungsweg geprüft werden, wird die Aufgabe auf diesen beschränkt sein. In standardisierten
20.3 Merkmale von Aufgaben 259 260 261 262 263 264 265 266 267 268 269 270 271 272 273 274 275 276 277 278 279 280 281 282 283 284 285 286 287 288 289 290 291 292 293 294 295 296 297 298 299 300 301
669
Leistungstest ist die Offenheit auf einen Lösungsweg eingeschränkt, um mit der Aufgabe präzise zu messen.
20.3.2 Art der Lösungswege Je nach Angebot im Aufgabentext kann eine Aufgabe einen oder mehrere verschiedene Arten von Lösungswegen eröffnen. Eine Kategorisierung kann etwa durch eine Unterscheidung nach experimenteller, halbquantitativer, rechnerischer oder theoretischer Lösung vorgenommen werden (vgl. Draxler & Fischer 2001).
Experimentelle, halbquantitative, rechnerische oder theoretische Lösung
Erarbeitungsphase: Die Art des Lösungswegs hängt vom Lehrziel und dem Vorwissen der Schülerinnen und Schüler ab. Eine Kombination verschiedener Lösungswege ermöglicht unterschiedliche Zugänge zur selben Aufgabe. Übungsphase: Jede Art von Lösungsweg kann geübt werden, wobei durch eine Kombination verschiedener Lösungswege die kognitive Belastung gesteigert wird („Cognitive Load“, Sweller (1994)). Leistungsmessphase im Unterricht: Soll ein bestimmtes Verfahren geprüft werden, so wird die Art des Lösungswegs festgelegt, etwa klassisch die rechnerische Lösung durch Vorgabe von Größen, die in eine Formel eingesetzt werden. Beim Problemlösen ist die Wahl des Lösungsweges nur von den Vorgaben im Aufgabentext abhängig. Standardisierter Leistungstest: Zur Standardisierung ist die Art des Lösungswegs festgelegt, um die damit verbundenen Anforderungen zu kontrollieren.
20.3.3 Curricularer Bezug Für die Entwicklung und Beurteilung von Aufgaben sind Vereinbarungen über zu unterrichtende Inhalte relevant. Im Rahmen von Kerncurricula trifft diese Entscheidung idealerweise das Fachkollegium an der Schule. Mit dem Merkmal curricularer Bezug wird also die vorgegebene Information im Aufgabentext und die Lösung zu diesem schulinternen Curriculum in Bezug gesetzt. Erarbeitungsphase: Der Unterricht und damit die Aufgaben orientieren sich am schulintern oder administrativ festgelegten Curriculum. Übungsphase: Besonders zentrale oder wesentliche Bereiche des Curriculums werden vertieft oder durch Transfer vertikal verknüpft. Der Zielbereich beim Transfer kann allerdings auch einen geringeren Bezug zum Curriculum haben, wenn Transfer als Prozess im Vordergrund steht.
Fachinhalt der Aufgabe
670 302 303 304 305 306 307 308 309 310 311 312 313 314 315 316 317 318 319 320 321 322 323 324 325 326 327 328 329 330 331 332 333 334 335 336 337 338 339 340 341 342 343 344
20 Standards und Physikaufgaben Leistungsmessphase im Unterricht: Geprüft werden im Wesentlichen zentrale Inhalte des Curriculums, die als Anknüpfpunkte für weiteres Lernen wichtig sind. Standardisierter Leistungstest: Da schulinterne Curricula unterschiedliche Schwerpunkte setzen und sich zwischen Bundesländern teilweise nur geringe Überlappungen ergeben, ist die Anzahl der Inhalte begrenzt, die allen Curricula gemeinsam sind. Der curriculare Bezug steht daher nicht im Vordergrund, sondern physikspezifische, verallgemeinerbare Fähigkeiten und Prinzipien.
20.3.4 Antwortformat
Antwortformat hat Einfluss auf die Schwierigkeit
Es wird grundsätzlich zwischen offenen Formaten, bei denen die Schülerin oder der Schüler die Lösung frei formulieren muss, und geschlossenen Formaten, bei denen aus mehreren Optionen die richtigen gewählt werden müssen, unterschieden. Die Wahl des Antwortformats hat Einfluss auf die Schwierigkeit von Aufgaben (Klieme 2000). Erarbeitungsphase: Es dominieren offene Formate, wobei geschlossene Aufgaben die Möglichkeit zur selbstständigen Zwischenkontrolle bieten. Übungsphase: Auch hier überwiegen offene Formate, wobei geschlossene Formate bei repetitiven Aufgaben effizient sein können. Leistungsmessphase im Unterricht: Sowohl offene als auch geschlossene Formate sind geeignet Aufgaben jeglicher Schwierigkeit zu entwickeln. Durch geschlossene Formate können individuelle Schülervorstellungen diagnostiziert werden. Geeignete Distraktoren (Falschantwortmöglichkeiten) helfen dabei die Verbreitung typischer Fehler oder die Zuverlässigkeit des Wissensabrufs zu erfassen. Offene Formate lassen Antwort- und Fehlermöglichkeiten zu, die nicht vorhergesehen werden, erschweren aber den Vergleich unterschiedlicher Leistungen (auch innerhalb einer Klasse), da die offenen Antworten nachträglich objektiv interpretiert werden müssen. Standardisierter Leistungstest: Aus testökonomischen Gründen werden geschlossene Formate bevorzugt, offene Antworten werden nach strikten Kodierregeln möglichst objektiv beurteilt.
20.3.5 Experimenteller Anteil Experimente sind ein wesentlicher Bestandteil naturwissenschaftlichen Unterrichts. Es können dabei verschiedene Arten des Expe-
20.3 Merkmale von Aufgaben 345 346 347 348 349 350 351 352 353 354 355 356 357 358 359 360 361 362 363 364 365 366 367 368 369 370 371 372 373 374 375 376 377 378 379 380 381 382 383 384 385 386 387
671
rimentierverhaltens beschrieben werden, von imitatorisch über organisierend bis zu konzeptuell (Fischer & Draxler 2007 647). Erarbeitungsphase: Das Planen, die Durchführung und die Auswertung von Experimenten sind selbst naturwissenschaftliche Inhalte, die zu unterrichten sind. Im Sinne entdeckenden Lernens (inquiry learning) stellen Experimente aber gleichzeitig eine Erarbeitungsmöglichkeit physikalischer Konzepte dar.
Experiment als Aufgabeninhalt
Übungsphase: Neben manuellem Handeln stellen auch Planung und Analyse von Experimenten Fähigkeiten dar, die geübt und auf neue Fragestellungen übertragen werden müssen. Leistungsmessphase im Unterricht: Experimentelle Anteile in Testaufgaben sind eher selten. Es ist außerdem zu unterscheiden zwischen der Fähigkeit zu manuellem Handeln selbst und dem Wissen über angemessenes Vorgehen. In Leistungsmessphasen ist meist Letzteres relevant. In Klassensituationen kann aber auch die erfolgreiche Durchführung eines Experiments Thema einer Leistungsüberprüfung sein, etwa wie in experimentellen Praktika der Universität. Standardisierter Leistungstest: Standardisierte Experimentiertests sind bislang eher selten. Die Güte der Daten ist schwer einzuschätzen und meist gering. Zudem gibt es kaum Befunde, ob Tests, in denen Experimente durchgeführt werden müssen, über PapierBleistifttests hinausgehende Informationen liefern.
20.3.6 Anforderungsmerkmale Durch Anforderungsmerkmale werden spezifische Einzelkompetenzen beschrieben. Dazu gehören etwa Diagrammkompetenz, Rechenkompetenz, Verständnis formalisierter Gesetze, konvergentes Denken und Ähnliches. Fischer und Draxler (2007, 651) benennen insgesamt 16 solcher Anforderungsmerkmale. Erarbeitungsphase: Meist beinhalten Lernaufgaben mehrere Anforderungsmerkmale, die ggf. einzeln erarbeitet werden müssen, um die Aufgabe zu lösen (z. B. Kenntnis von Definitionen und Gesetzen und Interpretation von Diagrammen). Übungsphase: Trainingsaufgaben beinhalten meist nur ein Anforderungsmerkmal, das geübt werden soll (z. B. Verständnis für funktionale Zusammenhänge). In Transferaufgaben erhöht die Anzahl an Anforderungsmerkmalen, die zwischen bisherigen Aufgaben und Transferaufgabe verändert werden, die Schwierigkeit der Transferaufgabe.
Aufgaben mit vielfältigen Anforderungen
672 388 389 390 391 392 393 394 395 396 397 398 399 400 401 402 403 404 405 406 407 408 409 410 411 412 413 414 415 416 417 418 419 420 421 422 423 424 425 426 427 428 429 430
20 Standards und Physikaufgaben Leistungsmessphase im Unterricht: Durch Operatoren können in Testaufgaben bestimmte Anforderungsmerkmale direkt angesprochen werden (z. B. Fähigkeit des Problemlösens oder Überwindung von Fehlvorstellungen). Dabei werden unter Umständen inhaltliche und prozedurale Aspekte vermischt, die beide zuvor gelernt worden sein sollten und ggf. neu im Test kombiniert sind. Standardisierter Leistungstest: Anforderungsmerkmale von Aufgaben werden zur systematischen Variation von Aufgaben genutzt (z.B. TIMSS und PISA: Baumert, Lehmann et al. 1997; OECD 2001), sind jedoch i.A. eine (unbegrenzte) Liste von Teilkompetenzen. Sie können meist als Kombination oder Spezialfall weniger, basaler Merkmale beschrieben werden (z.B. Komplexität und kognitive Prozesse).
20.4 Aufgabenmerkmale und Lernprozesse 20.4.1 Bezug zu Lernprozessen Kompetenz ist das Ergebnis längerfristiger Lernprozesse
Da Aufgaben Unterricht strukturieren, lassen sie sich auch in Bezug auf Lernprozesse der Schülerinnen und Schüler einordnen. Mit Aufgaben und Aufgabenfolgen wird meist ein bestimmtes Lehrziel verfolgt. Aufgaben werden daher nicht in beliebiger Reihenfolge gegeben sondern um bestimmte Lernprozesse anzuregen, zu steuern oder zu überwachen (Lau, Neumann, Fischer & Sumfleth 2007). Erarbeitungsphase: In dieser Phase ist die Reihenfolge der Aufgaben relevant, um Lernprozesse optimal zu gestalten. Sie knüpfen an Vorwissen an und aktivieren es, führen in den Inhalt ein, indem etwa ein prototypisches Beispiel für ein neues Konzept erarbeitet wird, geben die Möglichkeit zu vernetzen und zu generelalisieren. Übungsphase: Aufgaben in dieser Phase sind sich entweder sehr ähnlich und geben die Möglichkeit zum Wiederholen oder sie werden spezifisch variiert, um an ihnen die eigene Kompetenz zu erfahren. Leistungsmessphase im Unterricht: Die Aufgaben haben einen engen Bezug zu Aufgaben aus dem unmittelbar vorangegangenen Unterricht, sie sind aber nicht mehr Teil des Lernprozesses, sondern dienen der Ergebnisüberprüfung. Standardisierter Leistungstest: Die Aufgaben prüfen das Ergebnis längerfristiger Lernprozesse in Form generalisierter Physikkompetenz.
20.4 Aufgabenmerkmale und Lernprozesse 431 432 433 434 435 436 437 438 439 440 441 442 443 444 445 446 447 448 449 450 451 452 453 454 455 456 457 458 459 460 461 462 463 464 465 466 467 468 469 470 471 472 473
673
20.4.2 Kontextualisierung Mit einem Bezug zu natürlichen Phänomenen und zur Technik ist eine Erwartung an ein höheres Interesse an der Aufgabenbearbeitung verbunden (Euler et al. 2007). Im Sinne von Scientific Literacy stellt der Bezug zu Gesellschaft, Technik und Umwelt die normative Grundlage für Physikunterricht dar, und sollte deshalb Bestandteil des Physikunterrichts aller Schultypen und Schulstufen sein.
Scientific Literacy als normative Grundlage
Erarbeitungsphase: Die sinnstiftende und interesseförderliche Wirkung von Kontexten kann die Erarbeitung physikalischen Inhalts unterstützen und helfen, den Inhalt an bereits bekanntes Physik- und Welt-Wissen anzuknüpfen. Dekontextualisierung und Generalisierung sind zudem wesentliche Merkmale physikalischer Modellbildung. In welcher Weise dies geschieht, war bisher nicht Gegenstand fachdidaktischer Forschung. Übungsphase: Kontexte stellen eine Möglichkeit für Transfer dar, indem Inhalte in verschiedenen Kontexten bearbeitet werden. Bei repetitiven Aufgaben lässt sich ggf. der motivationale und sinnstiftende Effekt von Kontexten nutzen. Die Anwendung gelernten Wissens in neuen Kontexten (Kontextualisierung) erfordert zudem eine Analyse der Rand- und Anfangsbedingungen, was ebenfalls Teil physikalischer Arbeitsweise ist. Leistungsmessphase im Unterricht: Durch geringfügige Variationen im Kontext können Kenntnisse zentraler Zusammenhänge überprüft werden. Das Entnehmen von Informationen aus (unbekannten) Kontexten ist ggf. schwierig und erfordert eine explizit zu erlernende Fähigkeit (selegieren). Standardisierter Leistungstest: Wird kontextorientierter Unterricht fachdidaktisch und bildungspolitisch favorisiert, kann durch eine Kontextualisierung der Testaufgaben ein sogenannter BackwashEffekt (Prodromou 1995) erwartet werden. In Kenntnis der Testaufgaben werden im vorangehenden Unterricht von den Lehrpersonen vermehrt Kontexte eingesetzt. Die Effekte auf die Schwierigkeit von Aufgaben sind jedoch kaum bekannt. Kontext kann eine ablenkende Wirkung haben, die Aufgabe kann für den Bearbeiter durch Kontext aber auch weniger abstrakt und weniger abschreckend werden.
Effekte von Kontexten in Leistungstest
674 474 475 476 477 478 479 480 481 482 483 484 485 486 487 488 489 490 491 492 493 494 495 496 497 498 499 500 501 502 503 504 505 506 507 508 509 510 511 512 513 514 515 516
20 Standards und Physikaufgaben
20.4.3 Einsatz von Hilfen Hilfen zum richtigen Zeitpunkt einsetzen
Feedbacks zu Zwischenergebnissen, Bereitstellung passender Informationen zu antizipierten Schwierigkeiten, z. B. aufgrund bekannter Schülervorstellungen, und zusätzliches Material bei der Aufgabenbearbeitung können individuell oder für die gesamte Gruppe in verbaler oder schriftlicher Form zur Verfügung gestellt werden. Die Art und der Zeitpunkt der Einbindung solcher Hilfen in die Aufgabenbearbeitung trägt wesentlich zur Aufgabenbearbeitung und Lösungsfindung bei (Steudel & Wodzinski 2008). Erarbeitungsphase: (gestufte) Lernhilfen können Binnendifferenzierung und selbstständiges Lernen fördern. Im fragend-entwickelnden Unterrichtsgespräch können sie beispielsweise als kurzer Input von der Lehrperson eingebracht werden oder z. B. in Form von Hinweiskarten und Zusatzinformationen über Internetrecherchen bei schülerzentrierten Formen angeboten werden. Übungsphase: Lernunterlagen aus der Erarbeitungsphase oder Nachschlagewerke können bei der Bearbeitung von Übungsaufgaben und Transferaufgaben genutzt werden. Leistungsmessphase im Unterricht: Hilfen sind eher unüblich, ggf. gibt der Testleiter (Lehrperson) individuelle aufgabenbezogene Tipps. Standardisierter Leistungstest: Es werden im Allgemeinen keine Hilfen verwendet, die Durchführung der Tests erfolgt nach standardisierten und einheitlichen Regeln, um die Beeinflussung durch den Testleiter zu minimieren.
20.4.4 Bezug zu Schülervorstellungen Nicht adäquate Schülervorstellungen führen zu typischen Fehlern
Schülerinnen und Schüler verfügen in den meisten Fällen bereits über Vorwissen oder entwickeln schnell eigene Ideen zu den Inhalten einer Aufgabe. Diese Vorstellungen sind nicht immer physikalisch adäquat und führen bei der Bearbeitung von Physikaufgaben zu typischen Fehlern (vgl. Duit 2003). Der Erwerb tragfähiger und anschlussfähiger physikalischer Konzepte wird dadurch teilweise erschwert. Erarbeitungsphase: Schülervorstellungen sind oft Ausgangspunkt für Lernaufgaben, physikalisch inadäquate Vorstellungen zu überwinden stellt jedoch einen langwierigen und anspruchsvollen Prozess dar, der meist nur durch eine Folge von Aufgaben gestaltet werden kann.
20.4 Aufgabenmerkmale und Lernprozesse 517 518 519 520 521 522 523 524 525 526 527 528 529 530 531 532 533 534 535 536 537 538 539 540 541 542 543 544 545 546 547 548 549 550 551 552 553 554 555 556 557 558 559
675
Übungsphase: Durch Übung und Anwendung auf neue Fälle werden die Grenzen der Schülervorstellungen klar, so dass Schülerinnen und Schüler ggf. ihre vorherigen Vorstellungen begründet verändern können. Leistungsmessphase im Unterricht: Im Test dienen typische inadäquate Schülervorstellungen als falsche aber glaubwürdige Antwortalternativen. Das Ziel des Tests ist die Diagnose verbleibender inadäquater Vorstellungen (siehe Antwortformat).
Schülervorstellungen im Leistungstest diagnostizieren
Standardisierter Leistungstest: Schülervorstellungen werden bei der Testentwicklung in geschlossenen Antwortformaten als falsche aber glaubwürdige Antwortalternativen genutzt. Eine Diagnose von Schülervorstellungen findet meist nicht statt, ggf. kann aber eine Erhebung über die Verbreitung der gängigen Vorstellungen durchgeführt werden.
20.4.5 Umgang mit Fehlern Bei der Bearbeitung von Aufgaben treten Fehler auf, die zu einer falschen Lösung führen oder eine Lösung der Aufgabe sogar vollständig verhindern. Ein angemessener Umgang mit Fehlern im Unterricht besteht darin, Fehler produktiv zu nutzen und nicht um jeden Preis zu verhindern. Der Umgang mit Fehlern ist ein wesentliches Merkmal von Unterrichtsqualität (vgl. Helmke, 2003). In Leistungstests sind Fehler Mittel zur Diagnose zugrundeliegender Defizite bestimmter Populationen. Erarbeitungsphase: Fehler sind notwendige Elemente bei der Aufgabenbearbeitung und können zum Teil gezielt angeregt werden, um Schülervorstellungen zu verändern. Durch Hilfestellungen und Feedback sollten Fehler produktiv genutzt werden. Übungsphase: Fehler steuern den Lernprozess und zeigen notwendigen Vertiefungs- und Wiederholungsbedarf an. Durch adaptive Lernarrangements, in denen nach Fehlern gezielt die nächste Förderaufgabe ausgewählt wird, wird effizient gelernt. Leistungsmessphase im Unterricht: Fehler sind in dieser Phase unerwünscht. Anhand gemachter Fehler wird nach Ursachen geforscht und ggf. der Förderbedarf eines Individuums und/oder der ganzen Klasse festgelegt. Standardisierter Leistungstest: Idealer Weise können Personen die Aufgaben bis zu einem bestimmten Schwierigkeitsgrad richtig lösen, mit großer Wahrscheinlichkeit jedoch keine Aufgabe größerer Schwierigkeit. Dadurch wird der Leistungsstand der Person cha-
Über Fehler den Lernprozess steuern
676 560 561 562 563 564 565 566 567 568 569 570 571 572 573 574 575 576 577 578 579 580 581 582 583 584 585 586 587 588 589 590 591 592 593 594 595 596 597 598 599 600 601 602
20 Standards und Physikaufgaben rakterisiert. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Person alle Aufgaben eines Tests fehlerfrei bearbeitet, ist daher sehr gering. Eine individuelle, aufgabenbezogene Rückmeldung hat im Zusammenhang mit standardisierten Leistungstests keinen Sinn. Aus einer Häufung bestimmter Fehler innerhalb einer Gruppe lässt sich auf einen grundsätzlichen Förderbedarf der Gruppe schließen, wobei einzelne Personen der Gruppe diese Förderung eventuell nicht nötig haben.
20.4.6 Beziehung zu anderen Aufgaben Aufgabenfolgen und –cluster als sinnvolle Einheit
Im Unterricht und im Test wird meist nicht eine einzelne Aufgabe eingesetzt, sondern ein Cluster von Aufgaben. Dieses Cluster kann aus unabhängigen Aufgaben bestehen, eine bestimmte Systematik aufweise oder die Aufgaben können sich ausrücklich aufeinander beziehen oder sogar nur in einer bestimmten Reihenfolge sinnvoll bearbeitbar sein. Lau et al. (2007) erwarten guten Unterricht, wenn in einer Aufgabenfolge die Schwierigkeit der Aufgaben systematisch gesteigert wird. Die Steigerung sollte so langsam stattfinden, dass die Schülerinnen und Schüler die nächste Aufgabe der Kette selbständig lösen können. Dieses Vorgehen entspricht der Bescheibung Vygotsky (1987), der dann optimale Lernprozesse voraussagt, wenn die Aufgabenschwierigkeit der Zone der proximalen Entwicklung entspricht. Erarbeitungsphase: Die Aufgaben bauen aufeinander auf oder ergänzen sich, um Lernprozesse strukturieren zu können. Eine Zerlegung in Teilaufgaben macht eine arbeitsteilige Bearbeitung von Aufgaben möglich, um auch komplexere Inhalte effizient zu erschließen. Übungsphase: Für repetitive Zwecke weisen die eingesetzten Aufgaben meist eine hohe Ähnlichkeit auf, für Transfer dagegen sind bestimmte Merkmale oder Inhalte ähnlich zu vorangegangenen Aufgaben. Leistungsmessphase im Unterricht: Die Aufgaben gehören inhaltlich und thematisch ggf. zusammen, werden aber isoliert bewertet und sollten unabhängig voneinander bearbeitet werden können. Sie stehen in klar erkennbarer Beziehung zu vorhergehenden Lernaufgaben. Standardisierter Leistungstest: Die Aufgaben messen die gleiche Kompetenz und lassen sich auf einer Skala anordnen. Sie unterscheiden sich systematisch hinsichlich verschiedener Merkmale, z. B. Komplexität, kognitiver Prozesse oder Inhaltsbereiche. Jede Aufgabe kann unabhängig von jeder anderen beantwortet werden. Nur die Gesamtheit der Aufgaben (Testsummenwert) lässt eine Aussage über die Kompetenz des Bearbeiters zu, einzelne Aufgaben sind von extrem beschränkter Aussagekraft.
20.5 Kompetenzmodelle 603 604 605 606 607 608 609 610 611 612 613 614 615 616 617 618 619 620 621 622 623 624 625 626 627 628 629 630 631 632 633 634 635 636 637 638 639 640 641 642 643 644 645
677
20.4.7 Verfügbarkeit des Fachwissens Im Aufgabentext werden eine Reihe von Informationen gegeben, die die Schülerin oder der Schüler bei der Bearbeitung der Aufgabe nutzen kann. Je nach Ziel der Aufgabe können hierbei Definitionen, Fachbegriffe, Eigenschaften oder Modelle vorgegeben oder erläutert werden, so dass die Schülerinnen und Schüler diese nicht auswendig können müssen, um die Aufgabe erfolgreich bearbeiten zu können. Erarbeitungsphase: Das Fachwissen wird in dieser Phase erarbeitet, teilweise muss aber Wissen verfügbar sein, um neue Inhalte an Wissen anknüpfen zu können. Grundlegende Inhalte, die als Anknüpfpunkte immer wieder gebraucht werden, sollten dabei vorausgesetzt werden können. Nicht grundlegendes Wissen vorzugeben, führt zu einer kognitiven Entlastung, so dass mehr Ressourcen für das aktuelle Lernen verfügbar sind. Übungsphase: Neues Fachwissen soll mit Hilfestellung automatisiert oder transferiert werden (vgl. Einsatz von Hilfen). Die Vorgabe von Fachwissen hat dann Sinn, wenn es sich um nicht grundlegende, aber bereits früher gelernte Inhalte handelt. Leistungsmessphase im Unterricht: Fachwissen aus der vorangegangenen Lernphase soll möglichst vollständig verfügbar sein. Standardisierter Leistungstest: Verfügbarkeit von Fachwissen spielt eher eine untergeordnete Rolle, da der curriculare Bezug nicht gesichert werden kann (siehe curricularer Bezug). Lösungsrelevante Informationen werden daher meist vorgegeben, sie sollen erfolgreich zur Lösung eingesetzt werden (vgl. Walpuski et al. 2008).
Fachwissen anwenden statt abfragen
20.5 Kompetenzmodelle 20.5.1 Kognitive Prozesse Im Rahmen der Kompetenzorientierung stellen kognitive Prozesse einen wesentlichen Aspekt von Aufgaben dar. Die durch eine Aufgabe angeregten mentalen Verarbeitungsprozesse sind nicht direkt beobachtbar, daher werden durch eine fachdidaktische Aufgabenanalyse (task analysis) notwendig erscheindende Denkprozesse bestimmt. Bei der Aufgabenanalyse werden beispielsweise Informationsverarbeitungsstrategien aus der Kognitionspsychologie zugrunde gelegt.
Kognitive Prozesse und Komplexität bilden Anforderungsniveaus
678 646 647 648 649 650 651 652 653 654 655 656 657 658 659 660 661 662 663 664 665 666 667 668 669 670 671 672 673 674 675 676 677 678 679 680 681 682 683 684 685 686 687 688
20 Standards und Physikaufgaben Erarbeitungsphase: In Lernaufgaben werden meist vielfältige kognitive Prozesse angestoßen, die sich nicht sinnvoll separieren lassen. Identifizieren, selegieren und organisieren von Informationen stellen nach Weinstein und Mayer (1986) wesentliche Prozesse in Lernaufgaben dar. Übungsphase: In Übungsaufgaben werden die kognitiven Prozesse meist in Bezug auf die vorangegangene Erarbeitungsphase beschrieben. Die übliche Taxonomie ist dabei Reproduzieren (wiedergeben), Anwenden (auch naher Transfer) und Transferieren (Anwenden auf andere Situationen) (Anderson & Krathwohl et al. 2001). Dabei können die kognitiven Prozesse sowohl auf Inhalte als auch auf Verfahren und Handlungen bezogen sein. Eine Aufgabe lässt sich meist nur einer dieser Kategorie zuordnen.
Chancen und Grenzen von Operatoren
Leistungsmessphase im Unterricht: Testaufgaben beziehen sich meist auf unmittelbar vorangegangene Erarbeitungs- und Übungsphasen. Sie lassen sich ebenfalls durch die Taxonomie reproduzieren (wiedergeben), anwenden und transferieren kennzeichnen. Eine Steuerung der Prozesse in den Aufgaben wird oft durch Operatoren versucht. In einer Aufgabe kommt dabei meist nur ein Operator vor. Allerdings sind die Operatoren in den meisten Sammlungen nicht eindeutig voneienander zu trennen (siehe z.B. die Operatoren in den KMK Bildungsstandards: KMK 2005). Standardisierter Leistungstest: Da standardisierte Tests inhaltlich nicht unmittelbar an den vorangegangen Unterricht anschließen, werden die kognitiven Prozesse hier durch die notwendige Verarbeitung in der Aufgabe vorgegebener Information klassifiziert. Jede Aufgabe wird dazu auf einen kognitiven Prozess beschränkt. Zur Normierung der Bildungsstandards werden die kognitiven Prozesse reproduzieren, selegieren, organisieren und integrieren genutzt (vgl. Walpuski et al., 2008).
20.5.2 Komplexität Je komplexer, desto schwieriger ist eine Aufgabe
Die Komplexität einer Aufgabe kann genutzt werden, um verschiedene Niveaus von Kompetenz zu unterscheiden (vgl. Neumann et al., 2007). Komplexität beschreibt dabei die inhaltliche Struktur der Lösung, indem zwischen Fakten, Zusammenhängen und Konzepten unterschieden wird. Die tatsächliche kognitive Komplexität bei der Bearbeitung oder die Abstraktheit des Inhalts lassen sich nicht unabhängig vom Bearbeiter bestimmen. Die Komplexität lässt Rückschlüsse auf die Schwierigkeit der Aufgabe zu: Je komplexer die Aufgabe, desto schwieriger ist sie (Kauertz 2008).
20.5 Kompetenzmodelle 689 690 691 692 693 694 695 696 697 698 699 700 701 702 703 704 705 706 707 708 709 710 711 712 713 714 715 716 717 718 719 720 721 722 723 724 725 726 727 728 729 730 731
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Erarbeitungsphase: Die Komplexität der von der Lehrperson angebotenen Aufgabe sollte dem Vermögen der Lerner angepasst sein (Passung), um kognitive Aktivierung zu ermöglichen. Für eine Vernetzung auf hohem Niveau und zur Unterstützung kumulativen Lernens ist eine hohe Komplexität des Angebots bei optimaler Passung notwendig (vgl. Fischer et al. 2007). Übungsphase: Aufgaben, die Transfer und Vernetzung ermöglichen sollen, haben meist eine hohe Komplexität. Hierbei ist eine gute Passung zum Schülerniveau wichtig. Trotz geringerer Komplexität ist es sinnvoll, zentrale Begriffe und Zusammenhänge zu trainieren, um später komplexere Zusammenhänge mit geringerem kognitiven Aufwand bearbeiten zu können. Leistungsmessphase im Unterricht: Durch die Komplexität in Leistungstestaufgaben lässt sich die Schwierigkeit der Aufgaben gezielt verändern, damit das gesamte Leistungsspektrum im Test abgebildet werden kann. Schülerinnen und Schülern, die ein gefordertes Komplexitätsniveau nicht erreichen, können durch stärkere Vernetzung oder das Routinieren grundlegender Fakten und Zusammenhänge kognitiv entlastet und gefördert werden. Standardisierter Leistungstest: Die Komplexität bildet, zusammen mit kognitiven Prozessen, das Anforderungsniveaus in standardisierten Testaufgaben zur Normierung der Bildungsstandards. Das erfolgreiche Bearbeiten komplexer Aufgaben erfordert hohe Kompetenz.
20.5.3 Kompetenzstufen Durch Kompetenzstufen werden verschiedene Ausprägungen von Physikkompetenz gemäß ihrer (mittleren) Schwierigkeit geordnet. Dabei wird zwischen Entwicklungsstufen und Anforderungsstufen unterschieden. Erstere bilden einen zeitlichen Verlauf ab und werden nacheinander durchlaufen, wobei die erste Stufe Voraussetzung für die zweite ist usw. Anforderungsstufen beschreiben dagegen innerhalb einer Population graduelle Unterschiede bezogen auf eine Teilkompetenz. Erarbeitungsphase: Kompetenzstufen sind hier meist Entwicklungsstufen, d. h. einzelne Elemente der Kompetenzstruktur werden durch die Aufgabe ausdifferenziert und neue Elemente kommen hinzu (vgl. Neumann et al. 2007). Das Wissen um die aktuelle Entwicklungsstufe und die Kompetenzausprägungen der Lerngruppe ist notwendige Vorrausetzung für Passung (siehe Komplexität).
Kompetenzstufen werden beim Lernen nicht nacheinander durchlaufen
680 732 733 734 735 736 737 738 739 740 741 742 743 744 745 746 747 748 749 750 751 752 753 754 755 756 757 758 759 760 761 762 763 764 765 766 767 768 769 770 771 772 773 774
20 Standards und Physikaufgaben Übungsphase: Aufgaben sind entweder einer Entwicklungsstufe und Kompetenzausprägung zugeordnet, die die Zielstufe der Erarbeitungsphase war, oder sie sind Entwicklungsaufgaben, in denen die Ausdifferenzierung und Erweiterung geübt wird. Leistungsmessphase im Unterricht: Testaufgaben sind passend zur Kompetenzausprägung formuliert, die zum Messzeitpunkt als Folge vorausgegangenen Unterrichts erreicht sein soll. Ggf. wird durch Teilantworten oder –lösungen eine Abstufung vorgenommen. Standardisierter Leistungstest: Um ein Kompetenzspektrum erfassen zu können, sind Testaufgaben verschiedenen Stufen im Sinne einer kumulativ aufeinander aufbauenden Skala zugeordnet. Da getestet werden soll, bilden diese Stufen keine Lernwege ab, d.h. es wird nicht durch sukzessives Durchlaufen der Stufen gelernt. Die Stufen geben aber Hinweise auf Entwicklungsmöglichkeiten und -ziele. Diese können dann mit Lernaufgaben in den Unterricht eingebracht werden.
20.6 Kompetenzen in anderen Bereichen 20.6.1 Kompetenzbereich Kommunikation Fachbezogene Kommunikation ist ein wesentlicher Bereich von Physikkompetenz. Die in den Standards beschriebenen Elemente sind: zielgruppenorientierte Präsentation, Verstehen von fachlichen Informationen und Dokumentation von Erarbeitetem. Erarbeitungsphase: Durch entsprechende Operatoren und Anweisungen an die Sozialform der Bearbeitung lässt sich Kommunikation gezielt anregen und steuern (z. B. Lehrer als Moderator). Beispielsweise sind mediengestützte Präsentationen als Antwortformat denkbar. Kommunikation als Reflexionsanlass
Übungsphase: Fachbezogener Austausch, z. B. anhand selbst gestalteter Medien oder als Tutorensystem, ermöglicht die Reflexion zuvor erarbeiteten Inhalts oder kann zur Übung zuvor erarbeiteter Regeln für Kommunikation dienen. Leistungsmessphase im Unterricht: In schriftlichen Testsituationen ist verbale Kommunikation meist nicht erwünscht. Alternative Bewertungsmethoden (Vortrag, Portfolio, Kolloquium) bieten jedoch Möglichkeiten, auch verbale Kommunikation als Teil der Prüfungsleistung einfließen zu lassen. Physikadäquate Ausdrucksweise und
20.6 Kompetenzen in anderen Bereichen 775 776 777 778 779 780 781 782 783 784 785 786 787 788 789 790 791 792 793 794 795 796 797 798 799 800 801 802 803 804 805 806 807 808 809 810 811 812 813 814 815 816 817
681
richtige Verwendung von Fachvokabeln lassen sich ggf. bei der Bewertung berücksichtigen. Standardisierter Leistungstest: Bisher liegt keine Beschreibung von physikbezogener Kommunikationskompetenz für die Erfassung in standardisierten Tests vor. Insbesondere der Einfluss des Fachwissens und die Abgrenzung von physikbezogener Kommunikation zu allgemeiner Kommunikation stellen Probleme dar.
20.6.2 Kompetenzbereich Bewertung Bewertungskompetenz ist ein zentraler Bereich von Physikkompetenz. Bewertungskompetenz bedeutet, Schülerinnen und Schüler sollen gemäß der Standards zwischen verschiedenen Komponenten einer Bewertung unterscheiden können und entsprechende Bewertungen auch vorgenehmen (KMK 2005).
Verfahren für Bewertung lernen
Erarbeitungsphase: Das Identifizieren verschiedener Komponenten erfordert eine explizite Auseinandersetzung mit (physikbezogenen) Bewertungskriterien. Aufgaben in dieser Phase könnten beispielsweise schrittweise das Finden neuer Bewertungskriterien einfordern und ein Abwägen gegeben Kriterien anregen. Die Unterscheidung zwischen subjektivem Wertempfinden und Prinzipien der Entscheidungsfindung ist von zentraler Bedeutung (Eggert & Bögeholz, 2006). Übungsphase: Da Bewertungskriterien selbst nur begrenzt zwischen verschiedenen Bewertungssituationen übertragen werden können, könnten Aufgaben den Prozess des Kriterienfindens und -abwägens trainieren und in verschiedenen Situationen anwenden. Leistungsmessphase im Unterricht und Standardisierter Leistungstest: Leistungsmessung in diesem Bereich erscheint nur im Hinblick auf explizit zuvor erarbeitete Bewertungsverfahren sinnvoll und nicht im Hinblick auf das Bewertungsergebnis, da das Ergebnis der Bewertung von subjektiven Wertentscheidungen geprägt ist.
20.6.3 Lesekompetenz Bei schriftlichen Aufgaben oder wenn für die Bearbeitung der Aufgabe auf schriftliches Material zurückgegriffen wird, spielt das Textverständnis und die Lesegeschwindigkeit eine Rolle. Als basale Kompetenz ist Lesekompetenz Teil von Physikkompetenz. PISA verwendet ein Fünf-Stufen-Modell, um Lesekompetenz zu beschreiben (OECD 2001), mit dem auch für Physikaufgaben die zugrun-
Lesen ist Teil der Physikkompetenz
682 818 819 820 821 822 823 824 825 826 827 828 829 830 831 832 833 834 835 836 837 838 839 840 841 842 843 844 845 846 847 848 849 850 851 852 853 854 855 856 857 858 859 860
20 Standards und Physikaufgaben deliegende Lesekompetenz erfasst werden kann (vgl. Fischer & Draxler 2007). Im Folgenden wird die Relevanz der Lesekompetenz für die einzelnen Phasen beschrieben. Erarbeitungsphase und Übungsphase: Lesekompetenz stellt eher ein geringeres Problem dar, da Verständnisschwierigkeiten durch Rückfragen geklärt werden können. Durch Vorlesen der Aufgabenstellung oder des Materials und schriftliches Verfassen der Antwort kann Lesekompetenz gefördert werden. Leistungsmessphase im Unterricht: Leseschwierigkeiten können durch Rückfrage bei der Lehrperson ggf. geklärt werden. Bei längeren Aufgabentexten erhöht sich die Schwierigkeit und die notwendige Bearbeitungszeit der Aufgabe. Standardisierter Leistungstest: Durch die Vorgabe relevanter Informationen zur Aufgabenbearbeitung sind die Texte eher länger als bei Klassenarbeiten (siehe Verfügbarkeit von Fachwissen). Der Effekt der Lesekompetenz kann aber durch entsprechende Testinstrumente statistisch kontrolliert werden.
20.6.4 Statistische Kennwerte Bei ausreichend großer Stichprobe können Aufgaben hinsichtlich ihrer Lösungshäufigkeiten (Schwierigkeit) und – sofern sie in Clustern als unabhängige Aufgaben eingesetzt wurden – hinsichtlich des Antwortmusters aus mehreren Aufgaben (Varianz der mittleren Schwierigkeit, Trennschärfe, Reliabilität) beurteilt werden. Erarbeitungsphase und Übungsphase: Die statistischen Kennwerte spielen keine Rolle. Die Schwierigkeit der Aufgabe(n) ist jedoch wichtig, um die Passung zur Schülerfähigkeit zu gewährleisten. Unterschiedlich schwierige Aufgaben, die sich in möglichst vielen Merkmalen gleichen, eigenen sich für Binnendifferenzierung. Quantifizierte Testgüte
Leistungsmessphase im Unterricht: Die mittlere Schwierigkeit der Aufgaben sollte dem Fähigkeitsniveau der Schülerinnen und Schüler angemessen sein und die Aufgaben sollten eine gute Trennschärfen haben, d.h. gut zwischen Bearbeitern unterschiedlicher Leistung unterscheiden können. Standardisierter Leistungstest: Aufgaben sollten eine gute Trennschärfe haben und der Test sollte in einer Normstichprobe eine mittlere Lösungshäufigkeit von 50% aufweisen, die interne Konsistenz (Reliabilität) des Tests sollte hoch und seine Validität nachgewiesen sein.
20.7 Aufgabenbeispiele 861 862 863 864 865 866 867 868 869 870 871 872 873 874 875 876 877 878 879 880 881 882 883 884 885 886 887 888 889 890 891 892 893 894 895 896 897 898 899 900 901 902 903
683
20.7 Aufgabenbeispiele Lern- und Testaufgaben in den verschiedenen Unterrichtsphasen lassen sich anhand der genannten Merkmale wie oben gezeigt charakterisieren. Dabei wurde bereits deutlich, dass einzelne Merkmale in Erarbeitungs- und Leistungsmessphasen eine unterschiedliche Bedeutung haben. Z. B. können bei kognitiven Prozessen andere zusätzliche Merkmale dominieren als bei der Komplexität der Aufgaben. Grundsätzlich lässt sich u. a. deshalb die Qualität von Unterricht (Lernaufgabe) oder eines Tests (Testaufgabe) nicht an einer einzelnen Aufgabe festmachen. Vielmehr muss in beiden Fällen anhand der genannten Merkmale überprüft werden, ob die Qualität jeder einzelnen Aufgabe hoch und die Zusammenstellung des Aufgabenclusters für den jeweiligen Zweck geeignet ist. Anhand einer Leistungstestaufgabe, die den Vorgaben im AufgabenentwicklungsManual zur Normierung der Bildungsstandards im Fach Physik entspricht, wird eine solche Analyse exemplarisch beschrieben und es werden Möglichkeiten aufgezeigt, diese zu einer Lernaufgabe umzugestalten.
Qualität von Unterricht und Tests beurteilen
Kompetenzmodell zur Normierung der Bildungsstandards
Abb. 20.1: Das Kompetenzmodell für den zentralen Leistungstest zur Evaluation der Bildungsstandards (Walpuski et al. 2008) Der Normierung der Bildungsstandards für den mittleren Schulabschluss in Physik liegt ein Kompetenzmodell mit drei Achsen zugrunde (siehe Abbildung 1). Auf der ersten Achse werden fünf
684 904 905 906 907 908 909 910 911 912 913 914 915 916 917 918 919 920 921 922 923 924 925 926 927 928 929 930 931 932 933 934 935 936 937 938 939 940 941 942 943 944 945 946
20 Standards und Physikaufgaben Komplexitätsniveaus unterschieden, auf der zweiten vier kognitive Prozesse und auf der dritten Achse die Kompetenzbereiche, die jeweils unterteilt sind in Teilaspekte. Die Teilaspekte im Bereich Fachwissen entsprechen dabei den Basiskonzepten der KMKStandards. Jede Aufgabe wird einer Ausprägung auf jeder Achse zugeordnet. Die folgende Beispielaufgabe ist aus dem Kompetenzbereich Fachwissen zum Basiskonzept Wechselwirkung, hat die Komplexität „Ein Zusammenhang“ und erfordert den kognitiven Prozess „integrieren“.
Richtige Lösung: …wirkt auf Annas Boot eine entgegengesetzte Kraft, die genauso groß ist.
20.7 Aufgabenbeispiele 947 948 949 950 951 952 953 954 955 956 957 958 959 960 961 962 963 964 965 966 967 968 969 970 971 972 973 974 975 976 977 978 979 980 981 982 983 984 985 986 987 988 989
Anzahl der Lösungswege/ Offenheit Art der Lösungswege Curricularer Bezug
685 Ein Lösungsweg ist vorgegeben
Antwortformat
Theoretisch Drittes Newtonsches Axiom; typischer Inhalt der Sekundarstufe I, curricularer Bezug kann aber nicht allgemein bestimmt werden. Multiple Choice
Experimenteller Anteil
Keiner
Kognitive Prozesse
Integrieren
Komplexität
Zusammenhang
Kompetenzstufung
Entspricht einem mittleren Anforderungsniveau
Kontextualisierung
Die Aufgabe ist nicht als physikalisches Experiment im Labor beschrieben, die Situation ist für die Schülerinnen und Schüler prinzipiell erlebbar. Wird nicht angesprochen
Kompetenzbereich Kommunikation Kompetenzbereich Bewertung Verfügbarkeit von Fachwissen Bezug zu Lernprozessen
Wird nicht angesprochen Fachwissen wird vorgegeben Als Teil eines Kompetenztests wird durch die Aufgabe der angemessene Umgang mit Fachwissen im Sinne einer Anwendung eines physikalischen Modells auf ein Phänomen erfasst.
Beziehung zu umgebenden Aufgaben
Die Aufgabe ist in eine Systematik (Kompetenzmodell) eingeordent und mit anderen Aufgaben des Tests skalierbar.
Anforderungsmerkmale Statistische Güte
Konvergentes Denken, Verständnis fomalisierter Gesetze Lösungshäufigkeit in der Prä-Pilotierung (N = 36): M = 50%, Standardabweichung SD = 50%
Einsatz von Hilfen
Keine
Bezug Lesekompetenz Bezug Schülervorstellungen Umgang mit Fehlern
Bisher nicht überprüft Distraktoren enthalten typische Schülervorstellungen zum dritten Newtonschen Axiom Jede falsche Lösung wird mit Null Punkten bewertet, es erfolgt keine Rückmeldung.
Kommentar in Stichworten
686 990 991 992 993 994 995 996 997 998 999 1000 1001 1002 1003 1004 1005 1006 1007 1008 1009 1010 1011 1012 1013 1014 1015 1016 1017 1018 1019 1020 1021 1022 1023 1024 1025 1026 1027 1028 1029 1030 1031 1032
20 Standards und Physikaufgaben
Test- und Lernaufgaben anpassen
Die Aufgabe ist in der vorliegenden Form als Testaufgabe zur Erfassung von Physikkompetenz im Bereich Umgang mit Fachwissen gut geeignet. Als Lernaufgabe in der Erarbeitungsphase ist sie jedoch ungeeignet. Es sollten beispielsweise Anpassungen beim Antwortformat, bei der Anzahl der Anforderungsmerkmale, bei der Offenheit, dem Umgang mit Fehlern und der Verfügbarkeit von Fachwissen vorgenommen werden. Dabei wird deutlich, dass die Einbettung der Aufgabe in einen Lernprozess und das Lernziel beim Anpassungsprozess relevant sind. Steht die Aufgabe am Ende des Lernprozesses mit dem Ziel, das dritte Newtonsche Axiom als Konzept auf unbekannte Probleme zu übertragen, könnte die Aufgabe etwa so lauten:
Variation der Aufgabe
Anna und Thomas befinden sich in zwei verschiedenen Ruderbooten dicht nebeneinander auf einem See. Anna drückt mit dem Ruder gegen Thomas Boot. Wie bewegen sich die Boote? Begründe Deine Antwort. Mögliche Lösung: Beide Boote bewegen sich. Begründung durch das dritte Newtonsche Axiom. Die Gültigkeit der Aussage könnte mit einem Laborexperiment (zwei Rollwagen) experimentell überprüft werden.
20.8 Abschließende Bemerkungen Lernaufgaben und Testaufgaben können mit gleichen Merkmalen beschrieben werden. Einige dieser Merkmale erlauben eine Einordnung der Aufgabe in Kompetenzmodelle, so dass dadurch die Kompetenzorientierung von Unterrichtsaufgaben und Testaufgaben eingeschätzt werden kann. Die Qualität von Aufgaben hängt entscheidend von dem beabsichtigten Einsatz im Unterricht oder im Test ab, da für gute Lern- oder Testaufgaben die Merkmale unterschiedlich ausgeprägt sein sollten oder sogar eine andere Bedeutung haben. Bisherige Kompetenzmodelle beziehen sich vor allem auf Leistungstestaufgaben. Noch gibt es keine empirisch überprüften Modelle, die geeignet sind Lernaufgaben zu beschreiben. Durch die angegebenen Aufgabenmerkmale kann zwar ein Bezug zwischen Lern- und Testaufgabe hergestellt und beide Aufgabenarten ineinander überführt werden, inwieweit diese Lernaufgaben tatsächlich auch zu besseren Ergebnissen im Leistungstest führen ist bisher nicht überprüft.
Literatur 1033 1034 1035 1036 1037 1038 1039 1040 1041 1042 1043 1044 1045 1046 1047 1048 1049 1050 1051 1052 1053 1054 1055 1056 1057 1058 1059 1060 1061 1062 1063 1064 1065 1066 1067 1068 1069 1070 1071 1072 1073 1074 1075
687
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1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43
Hans E. Fischer & Andreas Borowski
21 Professionswissen und Fortbildung von Physiklehrern In den Erziehungswissenschaften und den Fachdidaktiken wird immer wieder über Lehreraus- und weiterbildung diskutiert, und es werden Standards entwickelt, die das für Unterricht vermeintlich notwendige Wissen beschreiben. Zentrale Frage ist dabei, welches Wissen benötigt wird und wie es wirksam werden kann, damit Schülerinnen und Schüler im Unterricht erfolgreich lernen können. Diese Frage ist nicht einfach zu beantworten, da die Verbindung zwischen dem Wissen einer Lehrperson und den Handlungen nur schwer durch Forschung abzubilden ist. Das Wissen selbst ist dagegen einfacher zu erfassen. Es ist u.a. von Shulman (1986; 1987) kategorisiert worden. Er unterteilt das Professionswissen einer Lehrperson in sieben Bereiche, von denen drei (Fachwissen, fachdidaktisches Wissen und pädagogisches Wissen) aktuelle Themen unterrichtlicher Bildungsforschung sind. Das Handlungswissen ist bisher nicht empirisch bearbeitet worden, allerdings geht Wahl (2002) von einem Unterschied zwischen Professionswissen und im Unterricht aktivierbarem Wissen der Lehrpersonen aus. Um beurteilen zu können, welches Professionswissen zu gutem Unterricht führt, reicht es allerdings nicht aus, nur dieses Wissen zu betrachten, beurteilbar wird es erst im Kontext eines Modells oder Konzepts von Unterrichtsqualität. Die in ein Modell für Unterrichtsqualität eingebundenen Bereiche Fachwissen, fachdidaktisches Wissen und pädagogisches Wissen und ein Überblick über geeignete Fortbildungsmaßnahmen werden im Folgenden dargestellt.
21.1 Professionswissen und Unterrichtsqualität In den Anfängen der Unterrichtsqualitätsforschung wurde nach Personeneigenschaften des Lehrers gesucht. Hierbei wurde u. a. betrachtet, in wieweit die Lehrerpersönlichkeit erzieherische Wirkung auf Schülerinnen und Schüler ausübt (Getzels & Jackson 1970). Der Lernerfolg stand dabei nicht im Forschungsmittelpunkt. Dieser Forschungsansatz, der ganz ohne Unterrichtsbeobachtungen auskam, erwies sich als nicht sehr erfolgreich, da sich Merkmale von Lehrerinnen und Lehrern teilweise als trivial, teilweise als äußerst komplex darstellten und die Auswirkungen des Wissens auf Unterricht
Persönlichkeitsparadigma
690 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81 82 83 84 85 86
21 Professionswissen und Fortbildung von Physiklehrern und Lernen offen blieben (vgl. Bromme 1997). Einzelne Studien erweiterten den Ansatz durch Bezug auf allgemeinpsychologische Theorien und konnten damit Wirkungszusammenhänge klären (Rheinberg 1992). Die Ausbildung von Lehreinnen und Lehrern an Universitäten oder in Studienseminaren konnte damit allerdings nicht beeinflusst werden.
Prozess-ProduktParadigma
Empirische Untersuchungen konzentrierten sich in der Folge meist auf die Herstellung von Relationen zwischen einzelnen Unterrichtsmerkmalen (insbesondere Lehrerhandeln) und messbaren Wirkungen, wie Schülerleistungen, Einstellungen oder Kompetenzen (Prozess-Produkt-Forschung). Unterricht wurde systematisch beobachtet, um wichtige Aspekte des Unterrichtsgeschehens zu identifizieren; der Unterrichtsprozess stand im Mittelpunkt. Innerhalb dieser Richtung lassen sich zwei Schwerpunkte unterscheiden: es geht um Interaktionen im Klassenraum und um das Unterrichtsklima einerseits (Eder 1996) und um Unterrichtsführung und Instruktionsverhalten von Lehrpersonen andererseits (Rosenshine et al. 1986). Die übereinstimmenden Unterrichtsqualitätsmerkmale hat Rosenshine (1979) unter dem Begriff der direkten Instruktion (direct instruction) zusammengefasst. Hierzu gehören Merkmale wie eine intensive Zeitnutzung, das Explizitmachen von Lernzielen, die Sequenzierung des Unterrichtsinhalts in überschaubare Einheiten, die Bereitstellung ausreichender Übungsgelegenheiten und die Kontrolle des Lernfortschrittes durch den Lehrenden (vgl. Clausen 2002).
ProzessMediations Produkt Modell
Das Prozess-Produkt-Modell wurde, aufbauend auf Erkenntnissen der Kognitionsforschung und mit einer konstruktivistischen Sichtweise des Wissenserwerbs, zum Prozess-Mediations-Produkt Modell erweitert. Darin wurde kognitiven Verarbeitungsprozessen eine wichtige Funktion zugewiesen sowie auch Lernstrategien und Selbstregulation des Lernens von Schülern (Baumert & Köller 2000). Unter Rückgriff auf die Expertiseforschung wird heute ein dritter Ansatz verfolgt, bei dem erfolgreiche Lehrkräfte identifiziert werden, deren Unterricht analysiert wird (Synthese des Persönlichkeits- und des Prozess-Produkt-Paradigmas). Leinhardt und Greeno (1986) stellten dabei z. B. einen domänenspezifischen Unterschied in der Wissensspeicherung zwischen Experten und Novizen fest. Experten speichern ihr Wissen danach in Form von zielgerichteten Handlungsplänen, sogenannten curriculum scripts ab. Sie enthalten geeignete Beispiele und berücksichtigen mögliche, auf die unterrichteten fachlichen Inhalte bezogene Schülerschwierigkeiten (vgl. Kraus u. a. 2008). Novizen dagegen, speichern ihr Wissen eher in isolierten Blöcken. Sie sind damit stärker auf die Wiedererkennung der Situationen angewiesen, in denen das Wissen erworben wurde, was beim Unterrichten unter Umständen die Handlungsmöglichkeiten stark
ExpertenNovizenForschung
21.1 Professionswissen und Unterrichtsqualität 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 100 101 102 103 104 105 106 107 108 109 110 111 112 113 114 115 116 117 118 119 120 121 122 123 124 125 126 127 128 129
691
einschränkt. Im Rahmen dieser Forschungsarbeiten rückt deshalb die Lehrkraft mit ihrem professionellen Wissen wieder stärker in den Fokus des Forschungsinteresses (Schwippert 2001). Zusätzlich wird Wissen über die fachspezifischen Lernschwierigkeiten der Schülerinnen und Schüler wichtig, die im Rahmen fachdidaktischer Forschung als Fehlkonzepte, Misskonzepte, nicht adäquate oder nicht belastbare Konzepte beschrieben werden (Müller et al. 2004). Die Ergebnisse dieser Forschungsrichtungen sind allgemein akzeptiert. Sie haben jedoch eine fast unüberschaubare Fülle von Einflussvariablen auf Unterricht nachgewiesen. In einer Meta-Studie versuchten Wang et al. (1990; 1993) die Ergebnisse von 179 ausgewählten Artikeln zur Faktorenforschung systematisch auszuwerten. Sie entwickelten dafür ein Kategoriensystem mit insgesamt 228 Items, das sich an einer Synthese verschiedener Lernmodelle orientiert. Es gelang ihnen, die wichtigsten allgemeinen Faktoren für Lernerfolge zu identifizieren: -
Classroom Management (Ordnung, klare Anweisungen, Regelklarheit, minimale Störungen, glatte und transparente Übergänge zwischen Unterrichtsphasen),
-
metalogische Fähigkeiten der Schüler (z.B. Verantwortlichkeit für eigenes Lernen)
-
kognitive Fähigkeiten und soziales Umfeld der Schüler.
Faktoren für Lernerfolg
Die Faktoren kognitive Fähigkeiten und soziales Umfeld der Schüler sind zwar durch Lehrerinnen und Lehrer nicht oder nur wenig beeinflussbar, müssen jedoch bei der Gestaltung des Unterrichts berücksichtigt werden. Die genannten drei Gruppen von Faktoren sind im Hinblick auf eine Förderung des Lernerfolgs relativ stabil (Clausen 2002). Empirische Qualitätsforschung wurde häufig bezüglich ihrer tendenziellen Verengung des Qualitätsbegriffs auf Leistungskriterien kritisiert (Oser u. a. 1992; Einsiedler 1997). Unterrichtanalyse hat danach neben Lernerfolgskriterien noch weitere Merkmale zu berücksichtigen. Clausen (2002) kategorisiert diese folgendermaßen: -
Effektivität des Unterrichts
-
Kognitive Aktivierung der Schüler
-
Förderung des Selbstkonzepts der Schüler
-
Förderung des sozialen Lernens der Schüler
-
Divergenzminderung innerhalb einer Klasse
Erweiterte Analysekriterien von Unterricht
692 130 131 132 133 134 135 136 137 138 139 140 141 142 143 144 145 146 147 148 149 150 151 152 153 154 155 156 157 158 159 160 161 162 163 164 165 166 167 168 169 170 171 172
21 Professionswissen und Fortbildung von Physiklehrern Aber auch bei diesen Kriterien ist nicht unbedingt klar, welchen Stellenwert sie für Unterricht haben. Bei einigen Aspekten ergibt sich ein Wertigkeitsdilemma, z.B. wenn die Effektivität mit Formen des sozialen Lernens oder der Förderung des Selbstkonzeptes der Schülerinnen und Schüler in Konflikt gerät (Ditton 2002). Zurzeit besteht ein breiter Konsens, dass forschungsleitende Theorien und konsistente Analysemethoden entwickelt werden müssen (Ditton 2000), um die vielschichtigen Effekte und Wechselwirkungen von Unterrichtshandlungen auf Lehrer- und Schülerebene zu berücksichtigen. Sie müssen außerdem auf konkreten Fachunterricht anwendbar sein und Perspektiven zu seiner Entwicklung aufzeigen können. Clausen (2000) sieht für die zukünftige Entwicklung empirischer Untersuchungsmethoden zur Qualitätsforschung drei wichtige Forschungsaufgaben:
Aufgaben der Unterrichtsforschung
Die Auswahl repräsentativer Konstrukte (Variablen in theoretischen Modellen, siehe Abb. 1) Die Formulierung hypothetischer Zusammenhänge (Strukturmodelle, Wirkungsrichtungen) Die Operationalisierung mit passenden Indikatoren (Messmodell, Entwicklung von validen Fragebögen und Tests) Als ein wesentlicher Bestandteil der Unterrichtsqualität soll im Folgenden das Professionswissen eines Lehrer anhand der genannten drei Aufgaben genauer betrachtet werden.
Lehrer müssen ihr Wissen anwenden können
Taxonomie von Shulman
Pädagogik und Fachdidaktik sind darin einig, dass das Wissen von Lehrpersonen nicht nur aus Faktenwissen bestehen darf, sondern auch einen Anteile an prozeduralem Wissen enthalten sollte, worunter Wissen über Fertigkeiten, Fähigkeiten und Handlungsroutinen gezählt werden (vgl. Weinert et al. 1990). Das professionelle Wissen insgesamt kann zur empirischen Analyse in verschiedene Bereiche untergliedert werden. In der aktuellen empirischen Bildungsforschung wird dabei häufig auf die Taxonomie von Shulman (1986, 1987) zurückgegriffen. Shulman identifiziert insgesamt sieben Bereiche des professionellen Lehrerwissens: Fachwissen, fachdidaktisches Wissen, pädagogisches Wissen, Wissen über das Fachcurriculum, Wissen über die Psychologie des Lernenden, Organisationswissen und bildungshistorisches Wissen. In der deutschen Diskussion, angeregt durch Arbeiten von Bromme (1992; 1997) und die im Fach Mathematik durchgeführte COACTIV-Studie (Krauss et al. 2004), werden vor allem die drei Bereiche Fachwissen, fachdidaktisches Wissen und pädagogisches Wissen als besonders unterrichtsrelevant angesehen und untersucht.
21.2 Forschungsansätze zum Professionswissen von Lehrern 173 174 175 176 177 178 179 180 181 182 183 184 185 186 187 188 189 190 191 192 193 194 195 196 197 198 199 200 201 202 203 204 205 206 207 208 209 210 211 212 213 214 215
693
21.2 Forschungsansätze zum Professionswissen von Lehrern Der Professionswissensforschung liegt die Frage zu Grunde, über welches Wissen Lehrpersonen zum erfolgreichen Unterrichten verfügen müssen. Unbestritten ist, dass eine Physiklehrkraft physikalisches und pädagogisches Fachwissen benötigt. Fachwissen und pädagogisches Wissen allein reichen jedoch nicht aus, um guten Fachunterricht durchzuführen. In der Unterrichtsforschung wird der zusätzliche Wissensbereich als fachdidaktisches Wissen beschrieben, er ist eine Mischung aus Fachwissen und dem Wissen über Lernbedingungen, Lernprozessen und fachspezifischen Unterrichtsmethoden. Die drei Wissensbereiche, Fachwissen, fachdidaktisches Wissen und pädagogisches Wissen werden dann auf die Lernergebnisse von Schülerinnen und Schülern (Fachkompetenz, Motivation, Interesse usw.) bezogen. Dieser Bezug ist nur dann herzustellen, wenn auf beiden Seiten Daten vorliegen. Das Professionswissen der Lehrkräfte muss also, ebenso wie die Lernergebnisse der Schülerinnen und Schüler, mit geeigneten Verfahren ermittelt werden, z.B. mit einem Test. Man benötigt deshalb Aufgaben, die den verschiedenen Facetten des Professionswissens zugeordnet werden können.
Was muss ein Lehrer wissen und können?
Das Professionswissen der Lehrer wird also mit Hilfe von Fragebögen und Tests erhoben und klassenweise mit dem Mittelwert des Wissens der Schülerinnen und Schüler verglichen. Durch Videoanalysen des Unterrichts der beteiligten Lehrkräfte und Schülerinnen und Schüler versucht man außerdem Verbindungen zwischen bestimmten Unterrichtsmerkmalen und den Testergebnissen herzustellen. Die Ergebnisse ermöglichen es, die Aus- und Fortbildung von Lehrerinnen und Lehrern gezielt anzupassen.
Das Professionswissen der Lehrer wird mit dem Mittelwert des Wissens der Schüler verglichen
Abb. 21.1: Wirkschema des Professionswissens von Lehrern
694 216 217 218 219 220 221 222 223 224 225 226 227 228 229 230 231 232 233 234 235 236 237 238 239 240 241 242 243 244 245 246 247 248 249 250 251 252 253 254 255 256 257 258
21 Professionswissen und Fortbildung von Physiklehrern Für eine empirische Untersuchung müssen die einzelnen Bereiche des Professionswissens konkretisiert und anhand von Beispielen operationalisiert werden. Da die Wirkung von pädagogischem Wissen auf Unterrichtsqualität und Klassenführung bisher nicht umfassend untersucht wurde, werden im Folgenden nur die Operationalisierungen für die Bereiche Fachwissen und fachdidaktisches Wissen dargestellt.
21.2.1 Operationalisierung des Fachwissens Fachwissen ist Voraussetzung für erfolgreichen Unterricht
Das Fachwissen (engl.: content knowledge, CK) stellt eine Grundvoraussetzung für erfolgreichen Fachunterricht dar (vgl. z.B. Ball, Lubienski, & Mewborn 2001; Shulman 1987). Dennoch fand es in der empirischen Unterrichtsforschung bisher wenig Berücksichtigung. Stattdessen wird die Qualität des Fachwissens nach Analysen von Baumert und Kunter (2006) häufig indirekt über Drittvariablen wie staatliche Zertifizierungen, Abschlussnoten oder die Zahl der besuchten Fachkurse gemessen. Im Projekt „Professionswissen in den Naturwissenschaften“ (ProwiN) wird das physikalische Fachwissen von Lehrkräften als vertieftes Hintergrundwissen über die Inhalte des Schulstoffes verstanden (Borowski & Tepner 2009) und durch Fragebögen erhoben. Für erfolgreichen Unterricht scheint es von Bedeutung, inwieweit und in welcher Tiefe die Lehrkräfte den Schulstoff ihres Faches durchdringen (vgl. Ball et al. 2001). Das Projekt „Professionswissen von Lehrkräften, naturwissenschaftlicher Unterricht und Zielerreichung im Übergang von der Primarzur Sekundarstufe“ (PLUS), welches das Professionswissen von Grundschullehrkräften und Lehrern der Sekundarstufe I miteinander vergleicht, erfasst das Fachwissen auf dem Schülerniveau der Grundschule, der Sekundarstufe I und dem universitären Niveau. Da Lehrerinnen und Lehrer über Fachwissen verfügen sollten, das über das zu unterrichtende Wissen hinausgeht. Dies ist nötig um Unterricht adäquat vorbereiten zu können und um einen konzeptuellen Überblick über das zu unterrichtende Gebiet zu bekommen, der für eine flexible und lernprozessorientierte Unterrichtsführung benötigt wird. Bei einer Frage zum Fachwissen auf universitärem Niveau wird z. B. ein Phänomen abgefragt (s. Abb. 2), welches auf der Dichteanomalie des Wassers beruht. Die Dichteanomalie des Wassers ist nicht expliziter Unterrichtsinhalt im Sachunterricht der Grundschule. Mit Schülerfragen wie „Warum ist auf Seen zuerst oben eine Eisschicht?“ oder „Warum schwimmt das Eis in meiner Cola oben?“ muss aber in
21.2 Forschungsansätze zum Professionswissen von Lehrern 259 260 261 262 263 264 265 266 267 268 269 270 271 272 273 274 275 276 277 278 279 280 281 282 283 284 285 286 287 288 289 290 291 292 293 294 295 296 297 298 299 300 301
einer Unterrichtseinheit zu Aggregatzuständen gerechnet werden, um auf diese Fragen und die damit verbundenen Probleme souverän und variabel reagieren zu können. Neben Fakten müssen Lehrpersonen nach Shulman (1986) auch wissen, warum ein Fachinhalt unterrichtet wird. Die Begründung umfasst z.B. unterschiedliche Systematisierungen des Wissens eines Faches, z.B. die themenspezifische Aufteilung der Fachinhalte, aber auch die Aufteilung der Unterrichtsinhalte in Basiskonzepte, wie sie z. B. im Kerncurriculum der KMK (2005) vorgenommen wird.
Abb. 21.2: Eine Frage zum Fachwissen auf universitärem Niveau
695
696 302 303 304 305 306 307 308 309 310 311 312 313 314 315 316 317 318 319 320 321 322 323 324 325 326 327 328 329 330 331 332 333 334 335 336 337 338 339 340 341 342 343 344
21 Professionswissen und Fortbildung von Physiklehrern
21.2.2 Operationalisierung des fachdidaktischen Wissens Fachdidaktisches Wissen als Verschmelzung von Fach- und pädagogischem Wissen
Das fachdidaktische Wissen (engl.: pedagogical content knowledge, PCK) stellt im Gegensatz zum Fachwissen das Wissen dar, das der Lehrperson hilft, den Schülerinnen und Schülern Lerngelegenheiten zum Wissensaufbau zu schaffen. Shulman (1987) bezeichnet das fachdidaktische Wissen als eine Verschmelzung von Fachwissen und pädagogischem Wissen. Lee & Luft (2008) fassen verschiedene Ansätze zur Beschreibung von fachdidaktischem Wissen in den Naturwissenschaften zusammen. Fast allen Ansätzen ist gemein, dass sie das Wissen über Schülerlernprozesse und -vorstellungen und das Wissen über Lehrstrategien und Darstellungsformen im naturwissenschaftlichen Unterricht als zentralen Inhaltsbereich beinhalten. Auf internationaler Ebene wird im Projekt „Quality of Instruction in Physics Education – comparing instruction in Finnland, Germany and Switzerland“ (QuIP) das Professionswissen von Lehrpersonen in Deutschland, Finnland und der Schweiz miteinander verglichen.
Fachdidaktisches Wissen beinhaltet die Strukturierung von Unterricht
Bei einer Aufgabe aus dieser Studie geht es darum, eine Unterrichtsstunde zu planen bzw. adäquat fortzusetzen (s. z. B. Aufgabe in Abb. 3). In der Aufgabe wird nach der Fortführung einer Unterrichtsstunde zur Abhängigkeit des elektrischen Widerstandes eines Leiters gefragt, nachdem eine Serie von Demonstrationsexperimenten durchgeführt wurde.
Abb. 21.3: Eine Frage zum fachdidaktischen Wissen
21.2 Forschungsansätze zum Professionswissen von Lehrern 345 346 347 348 349 350 351 352 353 354 355 356 357 358 359 360 361 362 363 364 365 366 367 368 369 370 371 372 373 374 375 376 377 378 379 380 381 382 383 384 385 386 387
697
Als Antwort wird eine Auseinandersetzung mit den Ergebnissen des Experiments erwartet. Dies kann durch eine Zusammenfassung der Ergebnisse erfolgen, die mit den Schülern erarbeitet wurden oder dadurch, dass der Lehrer oder die Lehrerin den Schülerinnen und Schülern erklärt, von welchen Faktoren der Widerstand abhängt und von welchen nicht. Das fachdidaktische Wissen (der Mathematik) wird von Krauss et al. (2008) um die Facette des kognitiven Potentials von Mathematikaufgaben erweitert. Begründet wird die Erweiterung damit, dass so die drei Seiten eines „didaktischen Dreiecks“ (Cohn & Terfurth, 1997) abgebildet werden: (1) die Lehrperson mit spezifischen fachbezogenen Darstellungsaktivitäten und Interventionsmöglichkeiten, (2) die Schülerinnen und Schüler mit fachbezogenen Vorstellungen und (3) der fachbezogene Unterrichtsinhalt, bezüglich dessen insbesondere das kognitive Potential der eingesetzten Aufgaben betrachtet wird. Das Wissen über alle drei Seiten dieses Dreiecks ist nötig, um aus fachdidaktischer Sicht Lerngelegenheiten so anzulegen, dass Schülerinnen und Schüler kognitiv aktiviert werden und auf diese Weise optimal lernen können. Eine angemessene kognitive Aktivierung führt bei Schülerinnen und Schülern zu einer aktiven Nutzung von Lerngelegenheiten und dadurch zu einem verständnisvollem Lernen (z. B. Brunner et al. 2006).
Fachdidaktisches Wissen beinhaltet auch das Wissen um Schülervorstellungen
21.2.3 Zusammenhang zwischen Fachwissen, fachdidaktischem Wissen und Unterricht Für die naturwissenschaftlichen Fächer gibt es bisher keine Ergebnisse über einen Zusammenhang zwischen Fachwissen, fachdidaktischem Wissen und Unterricht. Riese & Reinhold (2009) konnten aber für Physik-Lehramtsstudierende zeigen, dass das Fachwissen eine notwendige Voraussetzung für die Entwicklung von fachdidaktischem Wissen ist. Hierzu untersuchten sie das Professionswissen im Inhaltsbereich Mechanik, da dieses Wissen als ein guter Prädiktor für physikalisches Wissen insgesamt angesehen werden kann (Friege & Lind 2004). Ein weiteres Ergebnis dieser Studie ist, dass sowohl das Fachwissen im Bereich Mechanik, als auch das fachdidaktische Wissen in diesem Bereich mit der Anzahl der Semesterwochenstunden zunimmt, auch wenn Mechanik nicht mehr studiert wird.
Fachwissen Voraussetzung für fachdidaktisches Wissen
Für Mathematik konnte in der COACTIV-Studie gezeigt werden, dass für Nicht-Gymnasiallehrkräfte Fachwissen und fachdidaktisches Wissen getrennt nachgewiesen werden. Für Gymnasiallehrkräfte sind die Bereiche statistisch nicht mehr unterscheidbar (Kraus et al.
Fachdidaktisches Wissen maßgebend fürs Lernen
698 388 389 390 391 392 393 394 395 396 397 398 399 400 401 402 403 404 405 406 407 408 409 410 411 412 413 414 415 416 417 418 419 420 421 422 423 424 425 426 427 428 429 430
21 Professionswissen und Fortbildung von Physiklehrern 2008). Für beide Lehrergruppen gilt aber, dass „das fachdidaktische Wissen einer Lehrkraft […] eine entscheidende Größe für das Lernen der Schüler“ ist (Kraus et al. 2008, 250). Bei Lehrkräften mit hohem fachdidaktischem Wissen ist der Unterricht kognitiv herausfordernder und lernunterstützender. Hierbei wurde der Unterricht nicht direkt beobachtet, sondern anhand von Klassenarbeiten, Hausund Unterrichtsaufgaben rekonstruiert. Zurzeit wird mit verschiedenen Schwerpunkten die Auswirkung des Professionswissens von Lehrpersonen auf Physik-Unterricht und Schülerleistungen. Für genauere Aussagen wird hierbei der Unterricht videographiert, um ihn dann gezielt im Hinblick auf die einzelnen Wissensbereiche und die Schülerleistung zu untersuchen. Erste Ergebnisse sind allerdings erst 2010 zu erwarten.
21.2.4 Pädagogisches Wissen Pädagogisches Wissen: Prinzipien der Klassenorganisation und des Klassenmanagements
Pädagogisches Wissen (pedagogical knowledge: PK) umfasst nach Shulman (1986) Wissen über allgemeine Prinzipien der Klassenorganisation und des Klassenmanagements. Etwas detaillierter definieren (Krauss et al., 2008) pädagogisches Wissen als deklaratives und prozedurales Professionswissen, das für den reibungslosen und effektiven Ablauf des Unterrichts und für die Aufrechterhaltung eines lernförderlichen sozialen Klimas in der Klasse grundlegend ist. Pädagogisches Wissen wird in der Regel als „allgemein“ bezeichnet, was bedeutet, dass es fachunabhängig bzw. fächerübergreifend konzipiert ist. Darüber hinaus wird es als „grundlegend“ bezeichnet, was bedeutet, dass es ausschließlich als Grundlage für die optimale Gestaltung von Unterricht anzusehen ist. Der Blick auf nicht nur deklaratives, sondern auch prozedurales Wissen macht darüber hinaus deutlich, dass es sich bei pädagogischem Wissen um Wissen über Maßnahmen und Strategien und die Bedingungen ihres effektiven Einsatzes handelt. Inhaltlich beziehen sich diese Maßnahmen und Strategien auf eine effektive Klassenführung und auf die Schaffung eines lernförderlichen sozialen Klimas. Pädagogisches Wissen lässt sich demnach zusammenfassend konzipieren als fächerübergreifendes Wissen über Maßnahmen und Strategien sowie ihre Anwendungsbedingungen, die die Grundlage dafür schaffen, den Einsatz von Fachwissen und fachdidaktischem Wissen zu einer optimalen Lernsituation zu führen. Pädagogisches Wissen wird in diesem Sinne daher als notwendige, nicht aber als hinreichende Voraussetzung für die fachlich und fachdidaktisch optimale Gestaltung von Fachunterricht angesehen.
21.2 Forschungsansätze zum Professionswissen von Lehrern 431 432 433 434 435 436 437 438 439 440 441 442 443 444 445 446 447 448 449 450 451 452 453 454 455 456 457 458 459 460 461 462 463 464 465 466 467 468 469 470 471 472 473
699
Pädagogisches Wissen umfasst Wissen über Strategien und Maßnahmen, die nicht durch Fachinhalte oder fachdidaktisches Wissen geprägt sind und damit unabhängig von Fachwissen und fachdidaktischem Wissen zu erreichen sind. Dazu zählt als erstes Wissen über Strategien und Maßnahmen der Klassenführung, die zum Ziel haben, möglichst viel von der zur Verfügung stehenden Unterrichtszeit als effektive Lernzeit zu nutzen (z. B. Clausen, Reusser, & Klieme, 2003; Seidel & Shavelson, 2007). Renkl (2008) fasst die in der Literatur beschriebenen Maßnahmen und Faktoren einer effektiven Klassenführung zu sechs wichtigen Prinzipien zusammen: (1) Etablieren eines effizienten Regelsystems, (2) Verhindern von Leerlaufphasen, (3) Störungskontrolle, (4) Auslagerung nicht-fachbezogener Aktivitäten, (5) zügiger Unterrichtsfluss und (6) Klarheit und angemessenes Anforderungsniveau. Diese Prinzipien umfassen sowohl Strategien der Störungsprävention als auch korrektive Maßnahmen im Umgang mit aufgetretenen Störungen.
6 Prinzipien für effektive Klassenführung
Grossmann (1990) zählt außerdem Wissen über allgemeine Instruktionsprinzipien, Wissen über Lernprozesse und Personenmerkmale, die Lernprozesse beeinflussen (Selbstwirksamkeitserwartung, Motivation usw.) sowie Wissen über Lehrziele zu den weiteren Teilbereichen pädagogischen Wissens (vgl. Shulman 1987). Wissen über allgemeine Instruktionsprinzipien besteht zum einen aus der Kenntnis und Beherrschung einer Vielzahl von Unterrichtsformen, um in Abhängigkeit vom curricularen Inhalt, den Lehrzielen (Seidel et al. 2007) und den Merkmalen der Lernenden die angemessene Unterrichtsmethode verfügbar zu haben (Klauer et al. 2007). Wissen über Lernprozesse umfasst das Wissen über verschiedene Lerntheorien sowie deren Anwendbarkeit auf unterschiedliche Lernsituationen (vgl. Blömeke, Felbrich, & Müller 2008). Wissen über die Formulierung von Lehrzielen, über Lernprozesse und über Instruktionsprinzipien ist Voraussetzung für die Gestaltung eines kognitiv angemessen aktivierenden Unterrichts, dem wiederum, neben einer effektiven Klassenführung, eine besondere Bedeutung für den Lernerfolg beizumessen ist (Kunter et al. 2006).
Wissen über allgemeine Instruktionsprinzipien
Die Wirkung von pädagogischem Wissen auf Unterrichtsqualität und Klassenführung ist bisher nicht umfassend untersucht. Die bisher bekannten Effekte deuten aber darauf hin, dass ein hohes pädagogisches Wissen eine effiziente Unterrichtsführung unterstützt.
Pädagogisches Wissen unterstützt eine effiziente Unterrichtsführung
700 474 475 476 477 478 479 480 481 482 483 484 485 486 487 488 489 490 491 492 493 494 495 496 497 498 499 500 501 502 503 504 505 506 507 508 509 510 511 512 513 514 515 516
21 Professionswissen und Fortbildung von Physiklehrern
21.2.5 Implikationen für die Aus- und Fortbildung Detaillierte Aussagen über den Zusammenhang zwischen Fachwissen, fachdidaktischem Wissen und pädagogischem Wissen auf der einen und Unterrichtsqualität und Unterrichtsführung auf der anderen Seite können erst nach der Auswertung der empirischen Ergebnisse der laufenden Studien gemacht werden. Bisher ist gesichert, dass ein Lehrer sowohl vertieftes Fachwissen, als auch fachdidaktisches Wissen benötigt und dass erst auf Grundlage von Fachwissen tragfähiges fachdidaktisches Wissen aufgebaut werden kann. Wichtige Aspekte des fachdidaktischen Wissens sind dabei z. B. Kenntnisse über Schülervorstellungen oder Wissen über die Strukturierung von Unterricht. Das im Folgenden im Detail dargestellte Wissen über Lernprozesse ist Teil des fachdidaktischen Wissens.
21.3 Lernprozessorientierte Fortbildung 21.3.1 Lernprozessorientierte Fortbildung zum Proffessionswissen In den letzen Jahren wurden systematische, empirische Untersuchungen zur Strukturierung des Physikunterrichts durchgeführt. Labudde und Duit (2007) haben dabei gezeigt, dass sich der untersuchte Physikunterricht durch ein fragend-entwickelndes Unterrichtsgespräch und durch kochbuchähnliche Schülerexperimente auszeichnet. Reyer (2004) kategorisiert diese Schüleraktivitäten durch „Finden/ Beschreiben des Neuen“, „Anwenden/ Konkretisieren/ Transferieren“ und „Plan/ Ziel erarbeiten“. Schülertätigkeiten wie „Interpretieren/ Vergleichen/ Überprüfen“, „Entscheiden/ Akzeptieren/ Eingliedern“ und „Abgrenzen/ Unterscheiden“, die wichtige Lehrziele wie das „Problemlösen“ operationalisieren würden, kommen in dem beobachten Unterricht fast nicht vor. Elemente der Tiefenstruktur wirken auf Lernergebnisse
Neben der oben diskutierten Beschreibung von Unterricht untersuchten Seidel et al. (2004; 2006) den Zusammenhang zwischen der Art des Unterrichts und der Schülerleistung. Ein Ergebnis dieser Studie war, dass nicht die typischen Merkmale der Sichtstruktur von Unterricht, wie z. B. schüler- oder lehrerzentrierte Arbeitsformen, sondern Merkmale der Tiefenstruktur von Unterricht, wie z. B. Zielorientierung oder systematisches Experimentieren, Auswirkungen auf die Lernergebnisse von Schüler haben. Dies wurde ebenfalls von Reusser & Pauli (2003) für den Mathematikunterricht in der Schweiz festgestellt.
21.3 Lernprozessorientierte Fortbildung 517 518 519 520 521 522 523 524 525 526 527 528 529 530 531 532 533 534 535 536 537 538 539 540 541 542 543 544 545 546 547 548 549 550 551 552 553 554 555 556 557 558 559
701
21.3.2 Auswahl des Fortbildungsthemas Wie oben diskutiert, wirkt sich im Hinblick auf Lernprozesse sinnvoll strukturierter Unterricht positiv auf die Lernergebnisse von Schülerinnen und Schülern aus. Aus diesem Grund sollte das Wissen der Lehrpersonen in diesem Bereich vertieft werden.
Gestaltung der Lernprozesse in Abhängigkeit vom Stundenziel
Oser und Baeriswyl (2001) schlagen Konzeptualisierungen von Lernprozessen in Abhängigkeit des Stundenzieles vor. Sie gehen davon aus, dass für verschiedene Stundenziele differierende Lernwege sinnvoll sind oder sogar sein müssen. Dabei unterscheiden sie die Vorgehensweise in Tiefen- und Sichtstruktur von Unterricht. Für die Tiefenstruktur des Unterrichts nennen sie zwölf verschiedene lernpsychologisch abgeleitete Lernprozesse nach denen schulisches Lernen ablaufen soll. Diese als Basismodelle des Lehrens und Lernens bezeichneten Strukturierungen unterscheiden sich in der Zielsetzung der Unterrichtsstunde, wie z. B. Problemlösen oder Routinebildung. Je nach Stundenziel muss ein anderes Basismodell bei der Unterrichtsplanung berücksichtigt werden. Lernen durch Eigenerfahrung und entdeckendes Lernen
Entwicklung als Erziehungsziel (Konzeptwechsel)
Problemlösen
Routinebildung
Lernen mit Hypertext
Kontemplatives Lernen
Entwicklung von Sozialbeziehungen
Lernen durch Motilität (Beweglichkeit)
Entwicklung von Wertesystemen
Wissensaufbau und Konzeptbildung
Strategielernen
Verhandeln
Basismodelle des Lehrens und Lernens
Tabelle 1: Übersicht der zwölf Basismodelle nach Oser & Baeriswyl (2001) Allen Basismodellen liegt zugrunde, dass für das Erreichen des Lernziels fünf Handlungsschritte durchlaufen werden müssen In Tabelle2 sind die für Physikunterricht relevanten und bereits im normalen Unterricht am häufigsten vorkommenden Basismodelle mit ihren Handlungsschritten angegeben. Die so untergliederten Basismodelle bieten ein differenziertes Artikulationsmodell für die Tiefenstruktur und somit die begründete Hoffnung auf einen verbesserten Lernerfolg.
Tiefenstruktur ist durch das Lernziel festgelegt
702 560 561 562 563 564 565 566 567 568 569 570 571 572 573 574 575 576 577 578 579 580 581 582 583 584 585 586 587 588 589 590 591 592 593 594 595 596 597 598 599 600 601 602
21 Professionswissen und Fortbildung von Physiklehrern Lernen durch Eigener-fahrung 1 Inneres Vorstellen, Planen 2 Handeln im Kontext 3
Erste Ausdifferenzierung, Reflektion 4 Generalisierung der Ergebnisse 5 Übertragung auf größere Zusammen-hänge
Konzeptbildung
Problemlösen
Bewusstmachen des Wissens Durcharbeiten eines prototypischen Musters Darstellen der wesentlichen Merkmale und Prinzipien Aktiver Umgang mit neuem Konzept Vernetzung mit bekanntem Wissen
Problemgenerierung Problempräzisierung Lösungsvorschläge Prüfen der Lösungsvor-schläge Vernetzung, Transfer auf andere Problemklassen
Tabelle 2: Darstellung der Handlungsschritte von drei Basismodellen (Trendel u.a., 2007) Für die Sichtstruktur liefert die Theorie keine Arten der Einschränkung bei der Durchführung des Unterrichts. Nach Oser und Patry (1990, 1) konzentrieren sich die meisten Lehrer auf die Organisation der Sichtstruktur und sie vernachlässigen dabei Tiefenstruktur, was bewirkt, dass der Lernprozess nicht optimal unterstützt wird.
21.3.3 Wichtige Basismodelle für den Physikunterricht Ziel der Naturwissenschaften ist es Probleme zu lösen
Nun stellt sich die Frage, welche dieser Basismodelle für den Physikunterricht bedeutsam sind und sich für eine Lehrerfortbildung anbieten? Ein Ziel der Naturwissenschaften ist das Lösen von naturwissenschaftlichen Problemen (Laudan 1996) und naturwissenschaftlicher Fortschritt ist dann zu verzeichnen, wenn neue Theorien mehr Probleme lösen können als etablierte. Ein physikalisches Problem kann dabei empirisch oder konzeptuell zu lösen sein. Empirische Probleme befassen sich mit der erfahrungsbasierten Aufklärung bei der Exploration neuer Phänomene oder der Überprüfung bestehender Theorien. Konzeptionelle Probleme beschäftigen sich mit Erklärungen unter Verwendung von Modellen und Theorien. Unter Berücksichtigung der Zielsetzung, naturwissenschaftliche Probleme zu lösen, werden deshalb durch die Basismodelle Lernen durch Eigenerfahrung, Konzeptbildung und Problemlösen wichtige Intentionen des Physikunterrichts angesprochen.
21.3 Lernprozessorientierte Fortbildung 603 604 605 606 607 608 609 610 611 612 613 614 615 616 617 618 619 620 621 622 623 624 625 626 627 628 629 630 631 632 633 634 635 636 637 638 639 640 641 642 643 644 645
Die oben genannten theoretischen Begründungen für die Auswahl der drei Basismodelle, werden zusätzlich durch pragmatische Überlegungen unterstützt. Problemlösen ist als ein wesentliches Ziel naturwissenschaftlichen Kompetenzerwerbs in den Bildungsstandards im Fach Physik für den Mittleren Schulabschluss (KMK 2005) beschrieben. Weiterhin können große Teile des Physikunterrichts laut Reyer (2004) durch die Basismodelle Lernen durch Eigenerfahrung und Konzeptbildung reliabel beschrieben werden.
703 Große Teile des Physikunterrichts können durch zwei Basismodelle abgebildet werden
21.3.4 Verlauf der Fortbildung Neben der Bereitstellung von umfassenden Materialien zur theoretischen Fundierung von Planungsentscheidungen waren die zentralen Elemente der lernprozessorientierten Fortbildung regelmäßige Gruppensitzungen, Einzelcoachings bzw. Einzelfeedbacks vor und nach videografierten Unterrichtsstunden (vgl. Trendel et al. 2007). Verfahren, die sich in ähnlichen Untersuchungen (Fischler & Schröder 2003) bereits als tragfähig bewährt haben. In der Regel wurden im Verlauf der hier beschriebenen Fortbildung bei jedem Teilnehmer fünf Unterrichtsstunden analysiert, die vorher anhand der Basiskonzepte vom Lehrer oder von der Lehrerin gemeinsam mit dem Coach vorbereitet wurden. Damit waren Lehrkraft und Coach für die videografierete Stunde verantwortlich. Die so vorbereiteten Stunden gliederten sich in den normalen Unterrichtsverlauf ein.
Videografie als zentrales Element der Fortbildung
Die Analyse der Unterrichtsstunden erfolgte anhand der Basiskonzepte für Schüler und Lehrer getrennt. Für jeden einzelnen Handlungsschritt wurde auf einer Skala von 0 bis 3 die Umsetzungsstufe des identifizierten Handlungskettenschrittes bestimmt. Beim Basiskonzept Problemlösen wurde z. B. der Handlungsschritt Problempräzisierung unterteilt in die Umsetzungsstufen (vgl. Wackermann 2005):
Analyse durch Umsetzungsstufen in den Handlungsschritten
0. unpräzise Problemstellung. 1. Der Lehrer präzisiert eine verständliche und eindeutige Problemfrage oder fixiert sie. 2. Der Lehrer hält zu einer Problemstellung Ausgangslage und Lösungsziel fest oder lässt sie festhalten. 3. Der Lehrer vergewissert sich, dass allen Schülern das Lösungsziel, die Ausgangsbedingungen und die Schwierigkeiten bewusst sind. Diese Unterteilung war nötig, weil die Basismodell selten idealtypisch im Unterricht zu finden waren. Durch die Videoanalyse konn-
704 646 647 648 649 650 651 652 653 654 655 656 657 658 659 660 661 662 663 664 665 666 667 668 669 670 671 672 673 674 675 676 677 678 679 680 681 682 683 684 685 686 687 688
21 Professionswissen und Fortbildung von Physiklehrern ten die kritischen Stellen der Stunden identifiziert werden, sie stimmten in den meisten Fällen mit den vom jeweiligen Lehrer oder der Lehrerin gefühlten Problemstellen.
21.4 Ergebnisse der Fortbildung Verbesserung der Tiefenstruktur führt zu besserer Lernprozessorientierung
Durch die hier vorgestellte Fortbildung ließen sich Veränderungen im Unterricht beobachten. Zum einen konnte der Anteil des Basismodells Problemlösen an Umfang und Qualität (gemessen an der Vollständigkeit der Handlungsschritte) erhöht werden, zum anderen verschiebt sich das mittlere Anforderungsniveau zu komplexeren Handlungen, was auf eine verbesserte Lernprozessorientierung der Lehrer hindeutet (vgl. Trendel et al. 2007). Einen zusätzlichen positiven Effekt gab es bei der Interaktion zwischen Lehrern und Schülern. Hier konnte festgestellt werden, dass die Lehrer ihren Unterricht im Mittel besser an die kognitiven Möglichkeiten ihrer Schüler anpassten, was sich durch einen bessere Übereinstimmung der Umsetzungsstufen von Lehren und Schülern sichtbar wird.
21.5 Zusammenfassung Die Professionswissensforschung beschäftigt sich mit dem Wissen von Lehrkräften und ihrem Handeln im Unterricht. Die einzelnen Bereiche (z.B. Fachwissen, fachdidaktisches Wissen und pädagogisches Wissen) des Professionswissens werden dabei weiter untergliedert und anhand von Aufgaben operationalisert. Durch den Zusammenhang des Professionswissens eines Lehrers mit seinem Unterricht und den daraus resultierenden Schülerleistungen lassen sich Empfehlungen für Fortbildungsmaßnahmen von Lehrern geben. Die Fortbildungsmaßnahmen sollten dabei, wie hier dargestellt, Elemente der Tiefenstruktur behandeln und so unterrichtsnah sein, dass Lehrer sie direkt und häufig anwenden können. Die beschriebene Fortbildung hatte einen nachgewiesenen Effekt auf Lehrkräfte und Schülerinnen und Schüler, der durch die Vergrößerung des Professionswissens und durch die Kontrolle der Unterrichtshandlungen durch Coaching und Video-Feedback erreicht werden konnte. In den nächsten Jahren ist zu erwarten, dass weitere Untersuchungsergebnisse zum Professionswissen von Lehrkräften der naturwissenschaftlichen Fächer die Unterrichtsqualität positiv beeinflussen können.
Literatur 689 690 691 692 693 694 695 696 697 698 699 700 701 702 703 704 705 706 707 708 709 710 711 712 713 714 715 716 717 718 719 720 721 722 723 724 725 726 727 728 729 730 731
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Helmut Fischler
22 Lehrerausbildung und Lehrerfortbildung – nach „Bologna“ und PISA In die Kulturhoheit der Bundesländer fallen auch alle wesentlichen Entscheidungen im Bereich der Lehrerbildung. Ähnlich wie auf dem Feld der Schule gibt es eine große Vielfalt inhaltlicher und organisatorischer Konzepte, die jeweils landesspezifische Ausprägungen besitzen und nur durch Beschlüsse der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder (KMK) ein Minimum an Vergleichbarkeit erhalten. In dieser Situation macht es keinen Sinn, in einer Übersichtsdarstellung den vielfältigen Verästelungen im Detail zu folgen, vielmehr kann es nur die Aufgabe sein, Tendenzen zu identifizieren und das Gemeinsame der gerade stattfindenden Reformen hervorzuheben. Interessenten an bundeslandspezifischen Bedingungen der Lehreraus- und -fortbildung werden nicht umhin können, regionale Informationsquellen hinzuzuziehen. Der folgende Text berichtet ausführlich über die Reformen in der ersten Phase der Lehrerausbildung, und zwar sowohl über die allgemeinen organisationsstrukturellen als auch über die physikbezogenen inhaltlichen Veränderungen in den Lehramtstudiengängen. Einen weiteren Schwerpunkt bildet die Lehrerfortbildung, da auch in diesem Bereich Entwicklungen zu beobachten sind bzw. noch erwartet werden können.
22.1 Lehrerausbildung 22.1.1 Die Vereinbarung von Bologna: Bachelor und Master Die erste Dekade dieses Jahrhunderts ist von zahlreichen Reformen innerhalb der ersten Phase der Lehrerbildung gekennzeichnet. Als wichtigste Impulse für diese Veränderungen können zwei internationale Entwicklungen bezeichnet werden, die in Deutschland zunächst unabhängig voneinander wirkten, schließlich aber in einen integrierten Prozess mündeten. Als europapolitische Komponente dieses Prozesses kann die so genannte Bologna-Erklärung von 1999 gelten, in der die europäischen Bildungsminister Grundsätze für abgestimmte Innovationen in den Hochschulen ihrer Länder festlegten (BMBF 1999). Eine deutsche Angelegenheit bildeten dagegen die vielfäl-
Reformen in der Lehrerausbildung
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22 Lehrerausbildung und Lehrerfortbildung – nach „Bologna“ und PISA tigen Reaktionen auf die enttäuschenden Schülerleistungen, die zunächst in der TIMS-Studie, dann in verstärktem Maße in den PISAVergleichsstudien sichtbar wurden. Die Frage nach Möglichkeiten der Verbesserung der Schülerkompetenzen führte auch zu Überlegungen über notwendige Reformen in der Lehrerausbildung.
BolognaErklärung
Im Zentrum der Bologna-Erklärung steht die Absicht, bis zum Jahr 2010 ein System „leicht verständlicher und vergleichbarer Abschlüsse“ einzuführen und diese Vergleichbarkeit durch zwei Studienabschnitte zu bewirken, deren erster mindestens drei Jahre dauern soll. Der erfolgreiche Abschluss dieses Abschnitts (Bachelor) ist Voraussetzung für die Zulassung zum zweiten Abschnitt, der in der Regel mit dem Master abschließt. Ein Leistungspunktesystem soll im Verbund mit Ausbildungsmodulen, die jeweils durch Kompetenzziele beschrieben werden, den Wechsel der Hochschule erleichtern und damit die Mobilität der Studierenden fördern.
Zwei Strukturmodelle
Der Vorschlag, für alle Studien ein Zwei-Stufen-Modell vorzusehen, hat für den Bereich der Lehrausbildung zu einer intensiven Kontroverse zwischen Vertretern zweier verschiedener Strukturmodelle geführt: In dem konsekutiven Modell wird zunächst durch die Konzentration auf das Fachstudium eine fachbezogene Wissensbasis (Bachelor) angeeignet, die in der zweiten Stufe (Magister) durch Kenntnisse aus den Fachdidaktiken und Bildungswissenschaften sowie durch Unterrichtserfahrungen in Praktika pädagogisch erweitert wird. In dem integrierten Strukturmodell findet das Fachstudium parallel zu den fachdidaktischen und erziehungswissenschaftlichen Studien statt.
Kontroverse: Polyvalenz versus Professionalisierung
Die Diskussion über Vor- und Nachteile beider Modelle wurde lange Zeit von der Kontroverse Polyvalenz versus Professionalisierung beherrscht. Eine nicht zu starke Orientierung des Bachelor-Studiums an den Anforderungen der Schule soll den Absolventen verschiedene Berufsoptionen offen halten, den Bachelor-Abschluss also mehrfach verwertbar gestalten. Die Gegenposition verweist auf die besonderen Schwierigkeiten des Lehrberufs und hebt hervor, dass sich professionelle Kompetenz um so eher entwickelt, je früher die im Studium zu erwerbenden fachwissenschaftlichen Inhalte mit didaktischen Aspekten verknüpft werden. Zwei Stellungnahmen, die nicht lange nach der Bologna-Erklärung erschienen, markierten die unterschiedlichen Standpunkte: In einem Bericht einer von der KMK zum Thema „Perspektiven der Lehrerbildung in Deutschland“ eingesetzten Kommission wird für die Beibehaltung der integrierten Ausbildungsstruktur plädiert, da „eine ausgeprägte, am Lehrerberuf aus-
22.1 Lehrerausbildung 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 100 101 102 103 104 105 106 107 108 109 110 111 112 113 114 115 116 117 118 119 120 121 122 123 124 125 126 127 128 129
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gerichtete Professionalität eine gute Voraussetzung bietet, auch außerhalb des schulischen Bereichs beruflich Fuß zu fassen“ (Terhart 2000, 72). Ganz anders wird in einer Empfehlung des Wissenschaftsrats argumentiert. Bessere „Berufsperspektiven für verschiedene Handlungsfelder auch außerhalb der Schule“ sowie international einschlägige Qualifizierungsmöglichkeiten seien Gründe für die Einführung konsekutiver Modelle zumindest für die Lehrämter an Realschulen und Gymnasien (Wissenschaftsrat 2001, 46). Die verschiedenen Positionen zeigen, dass nicht nur über die möglichen Funktionen des Bachelor-Abschlusses im Beschäftigungssystem keine Klarheit herrscht, sondern dass es generell keine empirische Basis für Entscheidungen bezüglich der grundlegenden Frage nach einer optimalen Ausbildungsstruktur für zukünftige Lehrerinnen und Lehrer gibt. Die Neugestaltung der Lehrerausbildung in den einzelnen Bundesländern folgte im Rahmen der Bologna-Vorgaben eher einem an frühzeitiger Professionalisierung orientierten Modell. Insgesamt war diese Entwicklung jedoch so heterogen, dass die KMK sich veranlasst sah, „Eckpunkte“ zu beschließen, mit denen ein Mindestmaß an Einheitlichkeit für die mit Bachelor und Master abschließenden Lehramtsstudiengänge gewährleistet werden sollte (KMK 2005). Mit der Festlegung auf die Berücksichtigung von Bildungswissenschaften und schulpraktischen Studien in der Bachelorphase wurden Vorschläge aufgenommen, die, anders als das Votum des Wissenschaftsrats, stärker die Position einer integrierten Studienstruktur unterstützen.
KMK (2005): integrierte Studienstruktur
Die Forderungen nach Ausweitung der schulpraktischen Studien und nach deren stärkerer Vernetzung mit den anderen Studienanteilen stellen weitere inhaltliche Ansprüche dar, die dieser Richtung zugeordnet werden können. Bezüglich der grundsätzlichen Studienstruktur lässt die KMK eine breit gefächerte Vielfalt zu. Das hat z.B. zu verschiedenen Modellen bezüglich der Aufteilung der Studienanteile in den beiden zu studierenden Fächern auf die Bachelor- oder Master-Phase geführt. Dem „Major-Minor-Modell“ mit Haupt- und Nebenfach für die Bachelorphase steht in einigen Ländern ein Modell gegenüber, in dem die Studienanteile etwa gleich groß sind (Equal-Modell). Angelegenheit der Länder bleibt es auch, den bisherigen Abschluss Staatsexamen beizubehalten oder eine gestufte Struktur (Bachelor/Master) einzuführen. Die aus dieser Offenheit resultierende Heterogenität bei den Studientrukturen und Abschlüs-
Heterogenität bei den Studienstrukturen und Abschlüssen
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22 Lehrerausbildung und Lehrerfortbildung – nach „Bologna“ und PISA sen ist bis heute kennzeichnend für die föderal bestimmte Ausbildungssituation für Studierende der Lehrämter. Die lehrerausbildenden Hochschulen beklagen in einer Stellungnahme des Jahres 2006 die sich in der Vielfalt der Studienmodelle widerspiegelnde Unsicherheit, die aus dem Mangel an empirischen Daten resultiert. Sie sehen aber in dieser Situation, d.h. der Konkurrenz der Modelle – z.B. in der unterschiedlichen Auslegung des Begriffes Polyvalenz – eine profilbildende Möglichkeit für die Hochschulen (HRK 2006).
22.1.2 Lehrerausbildung und Unterrichtskompetenz Der von der Hochschulrektorenkonferenz (HRK) beklagte Mangel an sicherem Wissen über die Wirksamkeit verschiedener Ausbildungsmodelle betrifft nicht nur die erwähnten organisationsstrukturellen Alternativen, sondern auch die inhaltliche Gestaltung der Programme. Selbst die einfachsten Fragen können nur mit Vermutungen beantwortet werden: Welches Niveau des Fachwissens ist für Lehrkräfte notwendig? Auf das Physikstudium bezogen: Wie intensiv sollte die Quantenphysik studiert werden, damit der Oberstufenunterricht später fachlich kompetent gestaltet werden kann? Welchen Einfluss hat ein ausgeprägtes fachdidaktisches Wissen einer Lehrkraft auf ihr Unterrichtshandeln und schließlich auf das Lernen der Schülerinnen und Schüler? Welche Faktoren bestimmen das pädagogische Können einer Lehrkraft?
Klassifizierung des Lehrerwissens
In diesen Fragestellungen sind einige Schlüsselbegriffe enthalten, die in der Diskussion über Konsequenzen des professionellen Wissens von Lehrenden oder über mögliche Folgen fehlenden Wissens eine wichtige Rolle spielen. Fachliche Inhalte bilden die Basis jeglichen Unterrichts, daher ist das Fachwissen der Lehrkraft zweifellos eine für den Unterricht zentrale Facette des Lehrerwissens. Fachdidaktisches Wissen ist involviert in die Überlegungen über intendierte und realisierte Lehr- und Lernprozesse, und allgemeines pädagogisches Wissen bildet den Hintergrund für Entscheidungen zu nicht fachbezogenen didaktischen und methodischen Aspekten des Unterrichts. Die Aufteilung des Lehrerwissens in diese drei Komponenten ist in der Forschung weitgehend unbestritten. In der Literatur zum Lehrerwissen findet man immer wieder Bezüge zu dem Vorschlag von Shulman (1986), der in einer Topologie des Lehrerwissens noch weitere Differenzierungen vorgenommen hat, die sich in der nachfolgenden Diskussion aber nicht durchgesetzt haben.
22.1 Lehrerausbildung 173 174 175 176 177 178 179 180 181 182 183 184 185 186 187 188 189 190 191 192 193 194 195 196 197 198 199 200 201 202 203 204 205 206 207 208 209 210 211 212 213 214 215
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Der Konsens über eine geeignete Klassifizierung des Lehrerwissens ist größer als der über den Zusammenhang zwischen Wissen und pädagogischer Handlungskompetenz. Daher gibt es vor allem hinsichtlich der Frage, in welchem Verhältnis praktisches Können und handlungsorientiertes Wissen zueinander stehen, grundverschiedene Betrachtungsweisen. Diejenigen Bildungsforscher, die davon ausgehen, dass das Handeln von Lehrkräften im Unterricht im Wesentlichen von ihrem Professionswissen (also vom Fachwissen, ( Fachdidaktisches Wissenfachdidaktischen Wissen und allgemeinpädagogischen Wissen) bestimmt wird, betrachten praktisches Können als prozedurales Wissen und damit als eine im Prinzip analysierbare Komponente der professionellen Handlungskompetenz (Baumert & Kunter 2006). „Könnerschaft (ist) niemals bloße Wissensapplikation“, sondern erfordere die „Kunst der Kontextualisierung dieses Wissens auf besondere Fälle“ (Neuweg 2005, 206; s. auch Neuweg 2006), mit dieser Aussage wird dagegen eine Position beschrieben, in der praktisches Können nicht allein aus dem prozeduralen Wissen erwächst, sondern wesentlich von Intuition und Improvisation geprägt ist. Entscheidungen in problembehafteten Unterrichtssituationen finden nämlich in der Regel unter Zeitdruck statt, in dem ein wohlüberlegter Rückgriff auf systematisch geordnetes Wissen nicht möglich ist. In diesem „Handeln unter Druck“ (Wahl 1991) muss auf das in vergleichbaren Handlungen erworbene Repertoire von Beispielen rekurriert werden. Nach Schön (1983, 49; 1987, 66) geschieht das in intuitiv-improvisierender Weise, indem nämlich in der Situation selbst über deren charakteristische Kennzeichen und über mögliche Problemlösungen nachgedacht wird (reflection-inaction) und dabei Erfahrung, Reflexionsfähigkeit und Persönlichkeit des Akteurs mitwirken.
Verhältnis zwischen praktischem Können und handlungsorientiertem Wissen ?
Die Bedeutung von Professionswissen für das Unterrichtshandeln einer Lehrkraft wird offensichtlich unterschiedlich gewichtet, auch wenn unbestritten ist, dass eine Wissensbasis notwendig ist, zu deren Aufbau die Lehrerausbildung beizutragen hat. Die Vorstellung jedoch, fachdidaktisches Wissen steuere das Unterrichtshandeln mehr oder weniger vollständig, ist der Komplexität des Verhältnisses zwischen Wissen und Können nicht angemessen. Jegliche Planung für eine optimale organisatorische Struktur des Lehrerstudiums und ein an den Anforderungen des Lehrberufs orientiertes inhaltliches Angebot steht daher unter dem Vorbehalt fehlender empirischer Evidenz.
Wissensbasis ist notwendig
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22 Lehrerausbildung und Lehrerfortbildung – nach „Bologna“ und PISA
22.1.3 Reform der Studieninhalte DPG (2006): Reform der fachwissenschaftlichen Studien
Lehrformen an der Hochschule und Unterrichtsformen
„Beliebigkeit“ im erziehungswissenschaftlichen Studium?
In dem selben Jahr, in dem die Hochschulrektorenkonferenz in ihrer Stellungsnahme postuliert, dass „ohne eine stärkere Anerkennung von Fragen der Lehrerbildung in den Fachwissenschaften“ eine Reform nicht gelingen kann, stellte die Deutsche Physikalische Gesellschaft Vorschläge für eine Reform der fachwissenschaftlichen Studien im Rahmen der Lehrerausbildung vor (DPG 2006). Ausgehend von der Erkenntnis, dass die bisher gemeinsame Ausbildung der Lehramtsstudenten mit Studierenden, die eine Karriere in Wissenschaft, Industrie oder Wirtschaft anstreben, „zu Lasten der Qualität der Lehrerausbildung“ geht, befürwortet die DPG für das Fach Physik ein Studium „sui generis“, das sich in seiner eigenen Art an den „hohen Anforderungen eines modernen und zeitgemäßen Schulunterrichts orientiert“ (S.4). Als wichtigste Konsequenzen aus dieser allgemeinen Zielsetzung können zwei Forderungen gelten, die den Lehrenden der Physik an den Hochschulen individuell und, bei begrenzten personellen Ressourcen der Gruppe der Physik-Lehrenden insgesamt, ein nicht unerhebliches Engagement für die Belange der Lehramtsstudierenden abverlangt: Hochschullehrer im Fachbereich Physik sollten solche Lehrformen entwickeln und anwenden, mit denen die Studierenden nach ihren eigenen Erfahrungen während ihres Studiums später als Lehrerinnen und Lehrer ihren Unterricht „schülergerecht, mitreißend und begeisternd gestalten können“ (DPG 2006, 9). Die wichtigste inhaltliche Komponente der DPGVorschläge ist in der Anregung enthalten, die Lehre nicht in der herkömmlichen Systematik zu strukturieren (Mechanik, Wärmelehre, Elektrodynamik, ...), sondern die physikalischen Inhalte an übergreifenden Themen zu orientieren, z.B. an Themenbereichen wie Schwimmen-Strömen-Fliegen oder Erde-Wetter-Umwelt (s. auch Grossmann 2008). Die DPG-Studie war nicht der erste Entwurf einer inhaltlichen Neuorientierung im Zuge der Reformanstrengungen in der Lehrerausbildung. „Beliebigkeit“ sei kennzeichnend für das erziehungswissenschaftliche Studium der Lehramtsstudierenden, dieser vom Wissenschaftsrats (2001) als Vorwurf gedachten Charakterisierung des allgemein-pädagogischen Studienanteils treten die Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE 2004) mit einem (konsekutiven) Strukturmodell einschließlich eines Kerncurriculums und die KMK mit Standards für die Lehrerausbildung in den „Bildungswissenschaften“ (KMK 2004) entgegen. In den KMK-Standards werden „theoretische Ausbildungsabschnitte“ von „praktischen Aus-
22.1 Lehrerausbildung 259 260 261 262 263 264 265 266 267 268 269 270 271 272 273 274 275 276 277 278 279 280 281 282 283 284 285 286 287 288 289 290 291 292 293 294 295 296 297 298 299 300 301
bildungsabschnitten“ unterschieden, wobei diese Teile schwerpunktmäßig, aber nicht prinzipiell den beiden Ausbildungsphasen Studium und Referendariat zugeordnet werden. Vier Kompetenzbereiche bilden die Grobstruktur: Unterrichten, Erziehen, Beurteilen und Innovieren. Mit elf Kompetenzen werden diese Felder konkretisiert. So heißt z.B. die dritte der im Kompetenzbereich „Unterrichten“ aufgelisteten Kompetenzen: Lehrerinnen und Lehrer fördern die Fähigkeiten von Schülerinnen und Schülern im selbstbestimmten Lernen und Arbeiten. Ein Beispiel aus dem Kompetenzbereich „Beurteilen“ zeigt noch deutlicher, dass „sich Erziehung und Unterricht an fachlichen Inhalten vollziehen“ (KMK 2004, 5): Lehrerinnen und Lehrer diagnostizieren Lernvoraussetzungen und Lernprozesse von Schülerinnen und Schülern; sie fördern Schülerinnen und Schüler gezielt und beraten Lernende und deren Eltern.
715
KMK (2004) Standards Bildungswissenschaften
Jede der elf Kompetenzen umfasst jeweils bis zu fünf theoriebezogene und bis zu sieben praxisbezogene Standards. Da eine Gewichtung nicht zu erkennen ist, ist die Befürchtung nicht grundlos, dass bei der Auswahl von Themen für ein in begrenzter Zeit realisierbares Curriculum der Aspekt „Beliebigkeit“ wiederum zum Problem wird. Die angegebenen Kompetenz-Beispiele sowie der zitierte Hinweis auf die Fachbezogenheit von Unterricht und Erziehung deuten darauf hin, dass in dem Verständnis der KMK-Standards der Sammelbegriff „Bildungswissenschaften“ auch solche Themen umfasst, die gewöhnlich von den Fachdidaktiken als ihre Domänen angesehen werden. Vollends aus der Perspektive der Fachdidaktiken wurde von der Gesellschaft für Fachdidaktik ein Kerncurriculum vorgelegt, das als Orientierungsrahmen für die fachdidaktischen Studienteile gedacht ist (GFD 2004). Das Kerncurriculum Fachdidaktik enthält drei Module, mit zwei Alternativen für das erste Modul: Modul 1a: Grundlagen fachbezogenes Lernens und Lehrens Modul 1b: Grundlagen fachbezogenen Reflektierens und Kommunizierens Modul 2: Fachunterricht - Konzeptionen und Gestaltung Modul 3: Fachdidaktisches Urteilen und Forschen sowie Weiterentwickeln von Praxis Das Modul 1a eignet sich vor allem für einen Ausbildungsgang, der frühzeitig an den Erfordernissen des Lehrberufs orientiert ist, während die zweite Alternative von allen Studierenden der BachelorPhase, also nicht nur von denjenigen mit Lehramtsoption, durch-
Kerncurriculum der Fachdidaktiken (GFD 2004)
716 302 303 304 305 306 307 308 309 310 311 312 313 314 315 316 317 318 319 320 321 322 323 324 325 326 327 328 329 330 331 332 333 334 335 336 337 338 339 340 341 342 343 344
22 Lehrerausbildung und Lehrerfortbildung – nach „Bologna“ und PISA laufen werden sollte (sofern sie nicht im Modul 1a studieren). Die mit Modul 1b verbundene Erwartung ist, dass die darin erworbenen Kompetenzen in jedem akademischen Beruf hilfreich sind.
Erste Praxiserfahrungen
Eine wichtige Stellung in dem Curriculum nehmen die ersten Praxiserfahrungen im Fachunterricht ein (Modul 2). „Fähigkeiten zur reflektierten und kompetenten Bewältigung konkreter unterrichtspraktischer Aufgaben“ stehen im Fokus, daher wird der Erwerb solcher Kompetenzen angestrebt, die mit der Vorbereitung, Durchführung und Analyse des Fachunterrichts zusammen hängen. Mit der Entwicklung der „Fähigkeit zum (exemplarischen) Planen und Gestalten eines strukturierten Lehrgangs“ ist auch der Aufbau der Kompetenz verbunden, aus der Vielzahl von Planungs- und Gestaltungsfaktoren sinnvoll auswählen und die Einzelentscheidungen angemessen miteinander verknüpfen zu können.
Inhaltliche Standards für die Lehrerausbildung (KMK 2008)
Einen gewissen Endpunkt in der Entwicklung inhaltlicher Standards für die Lehrerausbildung stellt der Katalog von Anforderungen dar, den die KMK für die Bereiche Fachwissenschaften und Fachdidaktiken beschlossen hat (KMK 2008). Die als „Fachprofile“ verstandenen Auflistungen, die für diejenigen Fächer vorgelegt wurden, die in den Prüfungsordnungen (nahezu) aller Bundesländer vorkommen, sollen „einen Rahmen inhaltlicher Anforderungen für das Fachstudium“ bilden, innerhalb dessen Länder und Universitäten Schwerpunkte setzen, Differenzierungen vornehmen und Ergänzungen festlegen können.
Kompetenzen und Inhalte
Die Texte gliedern sich für jedes Fach in zwei Abschnitte: Die im Studium zu erreichenden Kompetenzen werden den für die Erlangung der Kompetenzen notwendigen inhaltlichen Schwerpunkten vorangestellt. Um zu ermessen, welche Wendung in der Physik das Verständnis einer angemessenen fachlichen Ausbildung genommen hat, nämlich vom fachsystematisch geordneten Wissenskorpus in der traditionellen Auffassung hin zu einer professionsorientierten Konzeption, müsste man herkömmliche Prüfungsordnungen für Staatsexamen mit dem fachspezifischen Kompetenzprofil der KMKStandards vergleichen. Aber auch ohne vergleichende Analyse zeigt die Wiedergabe des Kompetenzprofils für die Physik die Orientierung an den vermuteten späteren beruflichen Anforderungen:
Kompetenzprofil Physik
„Die Studienabsolventinnen und -absolventen verfügen über die grundlegenden Fähigkeiten für gezielte und nach wissenschaftlichen Erkenntnissen gestaltete Vermittlungs-, Lern- und Bildungsprozesse im Fach Physik. Sie
22.1 Lehrerausbildung 345 346 347 348 349 350 351 352 353 354 355 356 357 358 359 360 361 362 363 364 365 366 367 368 369 370 371 372 373 374 375 376 377 378 379 380 381 382 383 384 385 386 387
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verfügen über anschlussfähiges physikalisches Fachwissen, das es ihnen ermöglicht, Unterrichtskonzepte und -medien fachlich zu gestalten, inhaltlich zu bewerten, neuere physikalische Forschung in Übersichtsdarstellungen zu verfolgen und neue Themen in den Unterricht einzubringen, sind vertraut mit den Arbeits- und Erkenntnismethoden der Physik und verfügen über Kenntnisse und Fertigkeiten im Experimentieren und im Handhaben von (schultypischen) Geräten, kennen die Ideengeschichte ausgewählter physikalischer Theorien und Begriffe sowie den Prozess der Gewinnung physikalischer Erkenntnisse (Wissen über Physik) und können die gesellschaftliche Bedeutung der Physik begründen, verfügen über anschlussfähiges fachdidaktisches Wissen, insbes. solide Kenntnisse fachdidaktischer Konzeptionen, der Ergebnisse physikbezogener Lehr-Lern-Forschung, typischer Lernschwierigkeiten und Schülervorstellungen in den Themengebieten des Physikunterrichts, sowie von Möglichkeiten, Schülerinnen und Schüler für das Lernen von Physik zu motivieren, verfügen über erste reflektierte Erfahrungen im Planen und Gestalten strukturierter Lehrgänge (Unterrichtseinheiten) sowie im Durchführen von Unterrichtsstunden“ (KMK 2008, 30). Die Studieninhalte zeigen in den ersten Blöcken die üblichen Themenbereiche: Experimentalphysik, Theoretische Physik, Physikalische Praktika, Mathematik für Physik, wobei in der Regel zwischen Angaben für die Lehrämter der Sekundarstufe I und solchen für das Lehramt an Gymnasien/Sekundarstufe II unterschieden wird. Ein durchgängiges Kriterium für die Differenzierung ist ein „größerer Vertiefungsgrad“ für die Inhalte der gymnasialen Vorbereitung. Im Bereich „Mathematik für Physik“ ist dieser Vertiefungsaspekt aufgegeben zugunsten zusätzlicher Inhalte: Vektoranalysis, partielle Differentialgleichungen, Hilberträume, nichtlineare Dynamik. In einem Themenblock „Angewandte Physik“ wird sichtbar, dass die vielfältigen Vorschläge für inhaltliche Reformen des Lehrerstudiums, etwa in der DPG-Studie, nun eine bildungspolitische Resonanz gefunden haben: Themen wie „Physik und Sport“ und „Klima und Wetter“ sind Beispiele für die Verknüpfung der Physik mit Kontexten des Alltags.
Inhalte Physik
Verknüpfung der Physik mit Kontexten des Alltags
718 388 389 390 391 392 393 394 395 396 397 398 399 400 401 402 403 404 405 406 407 408 409 410 411 412 413 414 415 416 417 418 419 420 421 422 423 424 425 426 427 428 429 430
22 Lehrerausbildung und Lehrerfortbildung – nach „Bologna“ und PISA
Konkrete Ausgestaltungen an den Hochschulen
Ob allein mit dem Themenblock „Angewandte Physik“ und einer gebührenden Berücksichtigung physikdidaktischer Themen bereits ein Studium sui generis erreicht ist, wird wohl vor allem von den konkreten Ausgestaltungen an den Hochschulen abhängen. Erhebungen, die darüber Auskunft geben, gibt es noch nicht, aber vermutlich werden Probleme der Lehrkapazitäten vielfach verhindern, dass außer der durchweg realisierten Etablierung der Veranstaltungen zur Theoretischen Physik für das Lehramtsstudium weitere wesentliche Teile des Physikstudiums professionsorientiert gestaltet werden. Die Hochschulrektorenkonferenz (HRK 2006) argumentiert sicherlich im Sinne der meisten lehrerausbildenden Hochschulen, wenn sie deren Möglichkeiten von den Notwendigkeiten abgrenzt: „Fachwissenschaftliche Lehre für künftige Lehrerinnen und Lehrer muss stärker als bisher auf ihre Qualifikationsziele abgestimmt werden, neue Lehr- und Lernformen sind auch hier notwendig. Jedoch erlauben die Ressourcen der Hochschulen es kaum, zusätzlich lehrerbildungsspezifische Lehre in den Fachwissenschaften anzubieten“ (HRK 2006, 5). Die Inhalte des Themenblocks „Physikdidaktik“ im von der KMK vorgelegten Fachprofil gehen sowohl in der Ausführlichkeit ihrer Beschreibung als auch im Spektrum der thematischen Breite nicht über das „Kerncurriculum Fachdidaktik“ der GFD hinaus (GFD 2004):
Physikdidaktisches Fachprofil
Fachdidaktische Positionen und Konzeptionen Motivation und Interesse Lernprozesse, Diagnose von Lernschwierigkeiten Planung und Analyse von Physikunterricht Aufgaben, Experimente und Medien Fachdidaktische Forschung
22.1.4 Schulpraktische Studien Besonderen Nachdruck legt der KMK-Abschlussbericht zu Perspektiven der Lehrerbildung (Terhart 2000) auf die Feststellung, dass alle drei Phasen der Lehrerbildung (erste und zweite Phase, Fort- und Weiterbildung) im Sinne eines als Einheit zu betrachten sind, die insgesamt eine „kohärente und kumulative Entwicklung der Kompetenz“ zu gewährleisten haben (Terhart 2000, 61).
22.2 Die zweite Phase der Lehrerbildung 431 432 433 434 435 436 437 438 439 440 441 442 443 444 445 446 447 448 449 450 451 452 453 454 455 456 457 458 459 460 461 462 463 464 465 466 467 468 469 470 471 472 473
Die berufsrelevanten wissenschaftlichen Grundlagen bilden den Schwerpunkt der ersten Phase, während die schulnahe Ausbildung in den Studienseminaren und Ausbildungsschulen des Vorbereitungsdienstes die Lehrer und Lehrerinnen zu selbstständigem professionellen Arbeiten befähigen soll. Trotz dieser tendenziellen Aufteilung in spezifische Theorie- und Praxisaufgaben haben schulpraktische Studien auch in der ersten Phase ihren unbestrittenen Platz. Von ersten Kontakten zur Berufsfelderkundung, „über begrenzte vorbereitete und angeleitete Versuche unterrichtlichen und erzieherischen Handelns bis zur Möglichkeit, dass Studierende sich selbst und ihre Ideen praktisch ausprobieren“ (Terhart 2000, 108), dieses breite Spektrum an Aufgaben wird den schulpraktischen Studien der ersten Phase zugewiesen. Welche Teile dieser Studien bereits im Bachelorabschnitt verankert sein sollten, ist Gegenstand von Kontroversen, die auch von dem Gegenüber von Polyvalenz und Professionsorientierung mitbestimmt sind. In einer gemeinsamen Empfehlung von KMK und HRK wird Ländern und ihren Hochschulen vorgeschlagen, durch eine stärkere Integration berufspraktischer Elemente in den Master-Abschnitt Teile des Vorbereitungsdienstes auf das Masterstudium anzurechnen und dadurch erste und zweite Phase der Lehrerausbildung besser miteinander zu verzahnen (KMK/HRK 2008).
719 Theorie und Praxis des Unterrichtens: Keine Trennung, aber Schwerpunktsetzung
22.2 Die zweite Phase der Lehrerbildung 22.2.1 Ausbildungsstandards „Berufsfähigkeit“, nicht bereits „Berufsfertigkeit“ sollte die Kompetenz der Lehrerinnen und Lehrer am Ende der zweiten Phase kennzeichnen (Terhart 2000, 115). In den „Standards für die Lehrerbildung: Bildungswissenschaften“ werden in einer Spalte „Standards für die praktischen Ausbildungsabschnitte“ die Fähigkeiten aufgelistet, die für selbstständiges professionelles Handeln als maßgeblich angesehen werden (KMK 2004). Im Kompetenzbereich „Unterrichten“ ist eine der Kompetenzen mit der folgenden Fähigkeit beschrieben: „Lehrerinnen und Lehrer planen Unterricht fach- und sachgerecht und führen ihn sachlich und fachlich korrekt durch“ (KMK 2004, 7). Für die praktischen Ausbildungsabschnitte gelten innerhalb dieses Kompetenzschemas die folgenden Standards:
„Berufsfähigkeit“, nicht bereits „Berufsfertigkeit“
720 474 475 476 477 478 479 480 481 482 483 484 485 486 487 488 489 490 491 492 493 494 495 496 497 498 499 500 501 502 503 504 505 506 507 508 509 510 511 512 513 514 515 516
Praktische Ausbildungsabschnitte
22 Lehrerausbildung und Lehrerfortbildung – nach „Bologna“ und PISA „Die Absolventinnen und Absolventen... verknüpfen fachwissenschaftliche und fachdidaktische Argumente und planen und gestalten Unterricht. wählen Inhalte und Methoden, Arbeits- und Kommunikationsformen aus. integrieren moderne Informations- und Kommunikationstechnologien didaktisch sinnvoll und reflektieren den eigenen Medieneinsatz. überprüfen die Qualität des eigenen Lehrens“ (KMK 2004, 7).
Anforderungen am Ende des Referendariats
In den länderspezifischen Prüfungsordnungen für die Zweite Staatsprüfung am Ende des Vorbereitungsdienstes (Referendariats) sind Vorbereitung, Durchführung und Analyse von Unterricht, die gründliche Kenntnis der tragenden Aussagen in den Didaktiken der vertretenen Fächer sowie ein Überblick über wichtige Erkenntnisse der allgemeinen Didaktik und der pädagogischen Psychologie schon immer die wichtigsten Säulen im erwarteten Kompetenzspektrum der zukünftigen Lehrerinnen und Lehrer. Als typisches Beispiel für die in den Prüfungsordnungen formulierten Anforderungen kann eine Passage aus der entsprechenden Berliner Verordnung gelten. Nach einer allgemeinen Einleitung, in der als Zweck der Prüfung angegeben wird, die Eignung für das Lehramt festzustellen, werden spezifische Anforderungen aufgelistet: „Der Prüfungskandidat oder die Prüfungskandidatin hat insbesondere nachzuweisen, dass er oder sie 1. erfolgreich Unterricht erteilen kann, 2. Unterricht sachgerecht planen, vorbereiten, analysieren und seine Ergebnisse zutreffend bewerten kann, 3. über Grundkenntnisse der allgemeinen Didaktik, der pädagogischen Psychologie, der Soziologie der Erziehung sowie der politischen Bildung verfügt und sie auf die Praxis anwenden kann, 4. über gründliche Kenntnisse ... der Didaktiken seiner oder ihrer Fächer verfügt ... sowie 5. die Grundzüge der Schulkunde einschließlich Schulrecht kennt.“ (Verordnung 1990, §1).
Intensivere Verschränkung von Master-Phase und Referendariat?
Grundlegende Veränderungen in solchen Prüfungskatalogen sind im Zuge der Lehrerbildungsreform nicht zu erwarten. Im Zusammenhang mit einer intensiveren Verschränkung von Master-Phase und Referendariat wird es jedoch zu inhaltlichen Abstimmungen und evtl. zu einer Verkürzung des Vorbereitungsdienstes dort kommen, wo er zurzeit noch zwei Jahre umfasst.
22.3 Fortbildung von Lehrerinnen und Lehrern 517 518 519 520 521 522 523 524 525 526 527 528 529 530 531 532 533 534 535 536 537 538 539 540 541 542 543 544 545 546 547 548 549 550 551 552 553 554 555 556 557 558 559
721
22.2.2 Reformvielfalt in den Bundesländern Während die in der Bologna-Erklärung niedergelegte Zielsetzung einer Vereinheitlichung der Hochschulabschlüsse durch die vielfältigen Reformprozesse im Allgemeinen einer Realisierung immer näher kommt, ist für die Lehrerausbildung in Deutschland infolge der staatlichen Verantwortung für die Abschlüsse und wegen der föderalen Struktur des Landes lediglich eine gewisse Tendenz innerhalb eines ansonsten breiten Spektrums an Strukturmodellen zu beobachten. Dieses Spektrum reicht von Bundesländern, die die Bachelor-/Master-Struktur eingeführt haben (das ist die Mehrheit der Länder), über Länder, die bei der bisherigen Struktur bleiben, aber zahlreiche Modellversuche etabliert haben (Bayern, NordrheinWestfalen), bis zu Hessen, das (noch?) keine Anstrengungen unternommen hat, das herkömmliche System zu verändern.
Breites Spektrum an Strukturmodellen
Die Bachelor-/Master-Struktur mit dem System der Vergabe von Credit Points innerhalb des modularisierten Studienablaufs stellt die Funktion eines das Studium abschließenden Staatsexamens in Frage. Folgerichtig wird in der Regel bei der Übernahme des CreditSystems auf das Staatsexamen verzichtet, ohne dass die staatliche Verantwortung für die Abschlüsse abgegeben wird. Eine Übersicht über die von den Bundesländern getroffenen Entscheidungen zur Struktur der Lehrerausbildung (Stand: Januar 2008) bietet das Lehrerausbildungszentrum der LMU München an (Zentrum 2000).
22.3 Fortbildung von Lehrerinnen und Lehrern 22.3.1 Lernen im Beruf „Jeder Lehrer ist zur Fortbildung verpflichtet“, so heißt es lapidar im Berliner Lehrerbildungsgesetz (LBiG 1985). Mit „Fortbildung“ ist hier die Erweiterung theoretischer und praktischer Kenntnisse und Fähigkeiten innerhalb des fachlichen Rahmens, der durch die Ausbildung einer Lehrkraft gegeben ist, gemeint. „Weiterbildung“ bedeutet dagegen in der üblichen Sprachregelung eine Zusatzqualifizierung, die über diesen fachlichen Rahmen hinausreicht, z.B. mit der Qualifizierung für das Fach Informatik zusätzlich zur vorhandenen Mathematik-Fakultas. Wegen der größeren Bedeutung für die meisten Lehrenden konzentriert sich die nachfolgende Erörterung auf die Fortbildung.
„Fortbildung“ und „Weiterbildung“
722 560 561 562 563 564 565 566 567 568 569 570 571 572 573 574 575 576 577 578 579 580 581 582 583 584 585 586 587 588 589 590 591 592 593 594 595 596 597 598 599 600 601 602
22 Lehrerausbildung und Lehrerfortbildung – nach „Bologna“ und PISA
Erwartungen an Fortbildung?
Die knappe Formulierung im Berliner Gesetz lässt nicht erkennen, für welche Kompetenzen bei Lehrerinnen und Lehrern ein Fortbildungsbedarf und als Konsequenz daraus eine Fortbildungsauflage gesehen wird. Ist es das Fachwissen, sind es fachdidaktische Kenntnisse oder betrifft es allgemeine pädagogische Fähigkeiten, wenn erwartet wird, dass Lehrerinnen und Lehrer nach Studium und Referendariat auch weiterhin lernen? Auch über Formen, innerhalb deren Fort- und Weiterbildung stattfinden sollte, wird nichts ausgesagt. Die Erfahrungen innerhalb des gesamten Fortbildungsbereichs zeigen, dass diese Offenheit durchaus ihren Sinn hat, denn sowohl in den Physik-Themen als auch bezüglich unterrichtsmethodischer Fragen sind in den letzten Jahren Anpassungen an jeweils aktuelle fachwissenschaftliche Entwicklungen (z.B. Nano-Physik) oder fachdidaktische Erkenntnisse (z.B. Rolle des Experiments) vollzogen worden. Die zunehmenden Bemühungen, Fortbildungsprojekte empirisch zu begleiten, haben darüber hinaus bereits Ergebnisse gebracht, die Hinweise auf geeignete Formen und Themen der Fortbildung liefern. Die relativ geringen strukturellen Vorgaben in der Fortbildung ermöglichen flexible Antworten auf kurzfristig entstehende Bedarfssituationen.
Unterrichtforschung: erhebliche Defizite
Dem „Lernen im Beruf“ (Terhart 2000, 125) wird von vielen Seiten eine immer intensiver werdende Aufmerksamkeit gewidmet, da die in den letzten Jahren gewonnenen empirischen Befunde in der Unterrichtforschung erhebliche Defizite sichtbar gemacht haben, auf die vor allem Lehrkräfte reagieren müssen. Die „dritte Phase“ der Lehrerbildung zeichnet sich gegenüber den ersten beiden Phasen u.a. dadurch aus, dass sie einen wesentlich größeren Zeitraum innerhalb der Berufsbiographie der Lehrkraft umfasst, einen stärkeren Praxisbezug aufweist und in dem Fall, dass keine Funktionsstellen angestrebt werden, von einer größeren Selbstbestimmung bei der Wahl von Zeiträumen und Themen gekennzeichnet ist (von der generellen Auflage, sich um Fortbildung zu kümmern, abgesehen).
Länderspezifische Regelungen
Während es für die Erstausbildung diverse KMK-Vereinbarungen für Strukturen und Inhalte gibt und für die zweite Phase mit den Standards Bildungswissenschaften (KMK 2004) wenigstens ein Rahmen für die praktischen Ausbildungsabschnitte existiert, ist der Bereich Fort- und Weiterbildung gänzlich den länderspezifischen Regelungen überlassen. In dieser Situation ist es nicht einfach, eine allgemeine Orientierung zu geben, und an Fort- und Weiterbildung Interessierte werden sich über lokale und regionale Bedingungen fallweise informieren müssen. Generell kann aber festgestellt wer-
22.3 Fortbildung von Lehrerinnen und Lehrern 603 604 605 606 607 608 609 610 611 612 613 614 615 616 617 618 619 620 621 622 623 624 625 626 627 628 629 630 631 632 633 634 635 636 637 638 639 640 641 642 643 644 645
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den, dass das Angebot nicht gerade üppig ist; gemessen an der Bedeutung, die dem Lernen im Beruf allgemein zugewiesen wird, ist es geradezu dürftig. Infolge dieser Mangelsituation wächst die Verantwortung der Lehrenden, Formen der Fort- und Weiterbildung zu finden, die die Möglichkeiten ihres engeren Arbeitsumfeldes in der Schule ausschöpfen.
22.3.2 Kriterien für erfolgreiche Lehrerfortbildung Berichte über empirisch kontrollierte Fortbildungsprojekte zeichnen kein einheitliches Bild. Das gilt auch für Projekte aus dem naturwissenschaftlichen Bereich. Letztlich kommt es auf die konkreten Bedingungen an, unter denen Veranstaltungen zur Fortbildung stattfinden. Erfolgreiche Projekte weisen auf förderliche Faktoren hin: In einem Kurs, der anderthalb Jahre dauerte und in dem sich TheoriePhasen mit praktischen Demonstrationen und Erprobungen abwechselten, konnte ein Abbau der Kluft zwischen Handlungsabsichten und Unterrichtshandeln erreicht werden (Luft 2001). Dass diese Veränderung als wichtiger Erfolg gebucht werden kann, wird deutlich, wenn man die zahlreichen Berichte über erhebliche Diskrepanzen zwischen Absicht und Handeln auch bei erfahrenen Lehrkräften zur Kenntnis nimmt (Rodriguez 1993; Fischler 1994). In dem von Luft (2001) beschriebenen Kurs waren es offensichtlich die Langfristigkeit der Bemühungen und die Nähe zur Praxis, die als positive Faktoren das Ergebnis beeinflussten. Generell lassen sich der Forschungsliteratur die folgenden förderlichen Kennzeichen entnehmen (Carle, 2000; Darling-Hammond & McLaughlin 1995; Garet et al. 2001; Loucks-Horsley et al. 1998): • Es bedarf größerer Zeiträume für Veränderungen im Denken und Handeln von Lehrenden. Herkömmliche Kursformen, in denen oft ein kontinuierliches Engagement der Teilnehmer sowie eine Rückkopplung aus der Praxis fehlen, haben nur geringe Aussichten auf nachhaltige Wirkungen. • Denken und Handeln von Lehrenden sind in der Regel tief verwurzelt in pädagogischen und didaktischen Überzeugungen, die sich in der Einschätzung der Lehrenden bisher bestens bewährt haben. Neue Ideen haben daher nur dann eine Chance, auf den Unterricht einzuwirken, wenn Lehrende bei der Umsetzung dieser Anregungen in die Praxis gute Erfahrungen sammeln können. • Veränderungsprozesse im Denken und Handeln von Lehrenden sind nur dann zu erwarten, wenn sie bei den vorhandenen Vor-
Empirische Ergebnisse zur Fortbildung
724 646 647 648 649 650 651 652 653 654 655 656 657 658 659 660 661 662 663 664 665 666 667 668 669 670 671 672 673 674 675 676 677 678 679 680 681 682 683 684 685 686 687 688
22 Lehrerausbildung und Lehrerfortbildung – nach „Bologna“ und PISA stellungen und Erfahrungen ihren Ausgang nehmen (Tillema 1994; Borko & Putnam 1995). • Dem Argument vieler Lehrender, Fortbildung stelle eine zusätzliche berufliche Belastung dar, kann mit Inhalten und Verfahren der Fortbildung begegnet werden, die eine Integration der Fortbildungsarbeit in die täglichen Arbeitsprozesse ermöglichen (Garet et al. 2001). • Es macht wenig Sinn, wenn eine Lehrkraft in einer Veranstaltung zur Fortbildung wichtige Anregungen erhält, zu deren Umsetzung im eigenen Unterricht aber nur wenig Unterstützung erfährt. Eine kollegiale Zusammenarbeit als peer coaching in Fachgruppen oder in Tandems ist für die Festigung neuer Ideen in der Praxis unabdingbar (Carle 2000; Burbank & Kuchak 2003).
22.3.3 Bundesweite Fortbildungsprogramme Neben zahlreichen regional angebotenen Veranstaltungen zur Fortbildung gibt es einige Projekte, die bundesweite Bedeutung besitzen und auch in den Fällen, in denen die länderübergreifende Arbeit eingestellt wurde, immer noch Hilfen anbieten, und zwar entweder durch ein Materialangebot im Internet oder durch länderspezifische Ausschlussprojekte. Die folgende Übersicht und die sich anschließenden Kurzbeschreibungen zeigen, dass sich der interessierten Lehrkraft durchaus zahlreiche Möglichkeiten anbieten. Das Hauptkriterium für die Auswahl der nachfolgend aufgelisteten Projekte und Projektträger ist ihre überregionale Verbreitung und damit die Zugänglichkeit der Angebote: Hilfen zur Fortbildung
• SINUS-Transfer (Bund-Länder-Kommission) • Physik im Kontext (Bundesministerium für Bildung und Forschung) • Fobinet (Deutsche Physikalische Gesellschaft, DPG) • Physikzentrum der DPG • Deutscher Verein zur Förderung des mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterrichts (MNU)
Materialien im Internet
SINUS-Transfer hatte als vom Bund und den Ländern unterstütztes Programm die „Steigerung der Effizienz des mathematischnaturwissenschaftlichen Unterrichts“ zum Ziel (IPN 2007). Es lief im Jahr 2007 aus und wird seitdem in einigen Ländern in Eigenverantwortung fortgesetzt. Die Fülle der in diesem Projekt entwickelten Materialien ist weiterhin (im Internet) zugänglich.
22.3 Fortbildung von Lehrerinnen und Lehrern 689 690 691 692 693 694 695 696 697 698 699 700 701 702 703 704 705 706 707 708 709 710 711 712 713 714 715 716 717 718 719 720 721 722 723 724 725 726 727 728 729 730 731
Das Projekt folgte im Wesentlichen den oben beschriebenen Kriterien und erreichte mit der Kombination von zentraler Unterstützung und verschiedenen Formen der Kooperation - innerhalb der Schulen und auch zwischen den Schulen einer Region - bemerkenswerte Erfolge. Die inhaltlichen Schwerpunkte sind in elf Modulen beschrieben, die jeweils Teilaspekte einer zu verändernden Unterrichtskultur betreffen. Beispiele sind: Weiterentwicklung der Aufgabenkultur, kumulatives Lernen, Förderung von Jungen und Mädchen, Erfassen von Kompetenzzuwachs. Ostermeier (2004) berichtet über eine große Akzeptanz des Programms bei den Lehrkräften, über die erreichte Kooperation zwischen ihnen und über die Verwendbarkeit der angegebenen Materialien. Physik im Kontext (Piko) lief als Projekt des Bundesministeriums für Bildung und Forschung bis zum Jahre 2007, bietet aber im Internet immer noch Materialien für weiterführende Aktivitäten an (Piko o.J., Mikelskis-Seifert & Duit). Als Leitlinien galten folgende Ziele: Eine neue Lehr-Lern-Kultur entwickeln Naturwissenschaftliches Denken und Arbeiten fördern, Anwenden von Wissen unterstützen Grundideen moderner Physik und moderner Technologien vermitteln Die organisatorische Struktur war der bei SINUS-Transfer ähnlich: Zentrale Koordination und Eingabe von Arbeitshilfen, Bildung von Schulsets als Rahmen für die Kooperation zwischen Lehrerteams unter Mitarbeit von Fachdidaktikern. Fobinet ist ein noch im Aufbau befindliches bundesweites Netzwerk für Physikfortbildungen (Fobinet 2009). Das von der Deutschen Physikalischen Gesellschaft (DPG) und von der Wilhelm und Else Heraeus-Stiftung geförderte Projekt hat als wichtigstes Ziel, ein zentral koordiniertes Fortbildungsprogramm für „Lehrerinnen und Lehrer aller Schularten, sowie für MultiplikatorenInnen und LehrersausbilderInnen im Fach Physik“ aufzubauen und schrittweise umzusetzen. Seine Aufgabe ist daher eine zweifache, nämlich zum einen bestehende Angebote zentral zu erfassen und in einer Datenbank allen Interessierten zugänglich zu machen und zum anderen durch Einladung möglicher Akteure und durch die damit zu erreichende Etablierung eines Expertennetzwerks neue Angebote zu implementieren. Erfassung und Koordination des genannten Angebots sind insbesondere wegen der Vielzahl von Trägern und Formen der Veranstaltungen hilfreich, indem der suchenden Lehrkraft ein
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22 Lehrerausbildung und Lehrerfortbildung – nach „Bologna“ und PISA Medium zur Verfügung gestellt wird, mit dem die Auswahl gewünschter Fortbildungsangebote gezielt und reflektiert vorgenommen werden kann. Entwicklung und Umsetzung des Programms werden prozessbegleitend von der Physikdidaktik an der Freien Universität Berlin evaluiert.
Tagungen der DPG
Physikzentrum der DPG: Seit längerem sieht die DPG die Lehrerfortbildung als ein wichtiges Mittel an, durch die Qualifizierung der Lehrenden den Physikunterricht attraktiver zu machen und damit sowohl das Interesse an Physik und Technik in der Bevölkerung insgesamt anzuheben als auch die Entwicklung des wissenschaftlichen Nachwuchses zu fördern. Im Tagungshaus (Physikzentrum, Bad Honnef) werden in jedem Jahr mehrere in der Regel einwöchige Lehrerfortbildungen angeboten (www.pbh.de/index.shtml). MNU: Als „Deutscher Verein zur Förderung des mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterrichts“ (MNU) betrachtet dieser Verband die Fortbildung von Lehrerinnen und Lehrer als eines seiner wichtigsten Anliegen (www.mnu.de). Im Mittelpunkt der Jahreshauptversammlungen steht ein mehrtägiges, umfangreiches Fortbildungsprogramm, während die Landesverbände Veranstaltungen anbieten, die mit regionalen Erfordernissen abgestimmt sind.
22.3.4 Regionale Lehrerfortbildung Die oben genannten Kriterien für eine erfolgreiche Lehrerfortbildung deuten darauf hin, dass die Regionalisierung der Fortbildung eine wichtige Maßnahme zur Verstärkung ihrer Effizienz sein kann, wobei das Erfolgsmaß die dauerhafte Verbesserung des Unterrichts einer Lehrkraft ist. In den letzten Jahren ist daher eine Tendenz in der Entwicklung von Fortbildungsmodellen zu beobachten, und zwar in Richtung auf eine Dezentralisierung der Angebote. Dass damit das gesamte Fortbildungssystem noch heterogener und unübersichtlicher wird, ist verständlich, und die Beschreibung eines Beispiels ist daher mit der Unsicherheit verknüpft, ob es repräsentativ wenigstens für einen Teil des gesamten Angebots ist. In Berlin sind die einzelnen Verwaltungsbezirke für die Lehrerfortbildung zuständig, das wird wohl als geeignete regionale Einheit angesehen. Qualifizierte Lehrkräfte werden teilweise von ihrem Stundendeputat entlastet und übernehmen als Multiplikatorinnen bzw. Multiplikatoren Aufgaben, die schul- und regionalbezogen sind:
22.3 Fortbildung von Lehrerinnen und Lehrern 775 776 777 778 779 780 781 782 783 784 785 786 787 788 789 790 791 792 793 794 795 796 797 798 799 800 801 802 803 804 805 806 807 808 809 810 811 812 813 814 815 816 817
• Zu Regionalkonferenzen werden die in den Schulen für das Fach oder den Fachbereich Verantwortlichen eingeladen, damit sie Erfahrungen über aktuelle Probleme in ihren Schulen austauschen und Hinweise auf die Gestaltung von Konferenzen innerhalb ihrer Lehrergruppe(n) erhalten können.
727 Aufgaben von Multiplikatoren
• Schulinterne Fortbildungen, die dem internen Austausch dienen und, evtl. mit externer Hilfe, Entwicklungsprozesse fördern, werden mit Beratung unterstützt. • Kooperation in Schulteams wird von Multiplikatoren angeregt, begleitet und unterstützt. Auch die koordinierte Arbeit von Lehrerteams verschiedener Schulen einer Region gehört in dieses Konzept, das die Einrichtung und Pflege regionaler Netzwerke anstrebt (Schwarz 2008). Organisation und Durchführung von Veranstaltungen zur Fortbildung, die Einberufung und Leitung von Konferenzen, Beratung von Schulen und Lehrergruppen, Initiierung von Kooperationen, Mitarbeit bei der Akquise von Fortbildungsangeboten und Teilnahme an Fortbildungsveranstaltungen anderer Anbieter, diese Palette von Aufgaben erfordert besondere Fähigkeiten der Multiplikatoren. Ihre Qualifizierung geschieht im Landesinstitut für Schule und Medien Berlin-Brandenburg. Die Idee der regionalen Fortbildung verspricht, die Lehrkräfte in ihrer täglichen Arbeit zu erreichen, sie bei der Planung von Unterricht zu unterstützen und ihnen Hilfen für nachhaltige Verbesserungen ihres Unterrichtshandelns anzubieten. Dass dieses Versprechen in vielen Fällen eingelöst wird, liegt daran, dass die Anregungen für die Lehrkräfte sehr unterrichtsnah sind und zugleich, über den Horizont ihrer eigenen Arbeit hinaus reichend, die Erfahrungen anderer einbeziehen.
22.3.5 Schulinterne Lehrerfortbildung Nicht immer ist es möglich und manchmal von den Lehrkräften einer Schule auch nicht gewünscht, außerschulische Kooperationen zu etablieren. Die schulinterne Lehrerfortbildung konzentriert sich auf die Bedingungen und Erfordernisse des direkten Arbeitsumfeldes der beteiligten Lehrkräfte. Für die konkrete Ausgestaltung von individuellen oder in Gruppen geplanten Vorhaben, die im Rahmen der schulischen Arbeit eine Weiterentwicklung der Unterrichtskompetenz zum Ziele haben, gibt es verschiedene Möglichkeiten. Allen Verfahren gemeinsam ist, dass jede Bemühung einer Lehrkraft, allein oder in kollegialer Zusammenarbeit dauerhafte Verände-
Bedingungen und Erfordernisse des direkten Arbeitsumfeldes
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22 Lehrerausbildung und Lehrerfortbildung – nach „Bologna“ und PISA rungen im Unterrichtshandeln zu erreichen, der Unterstützung in Form eines Feedbacks bedarf. Rückmeldungen geben Impulse für Reflexionen über getroffene Entscheidungen und ihre Konsequenzen, indem sie eingeschlagene Wege bestätigen, korrigierend dort wirken, wo die geplanten Veränderungsprozesse nicht optimal verlaufen, oder Signale senden, wenn die beobachteten Abläufe sich von den Intentionen, mit denen Veränderungen begonnen wurden, allzu weit entfernen. Als Quelle für Rückmeldungen kommen sowohl Schüler(innen) als auch Lehrer(innen) in Frage. Schülerrückmeldungen liefern einer Lehrkraft wichtige Informationen sowohl über die Resonanz auf ihre Bemühungen, den Unterricht zu verändern, als auch generell über die Einschätzungen der Schülerinnen und Schüler zum erlebten Unterricht (Fischler 2006a). Fühlen sich meine Schülerinnen und Schüler gefördert und gefordert? Sind meine Anforderungen angemessen? Unterstütze ich die Lernenden, so dass sie den Eindruck haben können, ich kümmere mich um ihre Lernprobleme? Wird das Lernklima positiv gesehen? Antworten auf diese und viele andere Fragen können in „Gesprächsrunden“ oder mit Fragebögen gesammelt werden (weiterführende Literatur und Beispiele finden sich bei Fischler 2006a und Schröder 2006).
Ratschläge von Kolleginnen und Kollegen
Kollegiale Rückmeldungen setzen voraus, dass Einblick in das eigene Unterrichtshandeln gewährt wird. Das ist eine Bedingung, für die in deutschen Schulen die Basis fehlt, d.h. es ist hierzulande nicht gerade üblich, dass Lehrkräfte ihre Klassenzimmer für den Besuch von Kolleginnen und Kollegen öffnen. Dort jedoch, wo dieses geschieht, sind die Chancen für kooperative Unternehmungen, die allen Teilnehmern Vorteile bringen, beträchtlich, zumal dann, wenn für Unterrichtsbeobachtungen und Gespräche darüber vorweg Vereinbarungen getroffen werden: • Die Festlegung von Beobachtungskriterien fokussiert auf Aspekte des Unterrichts, die Unterrichtenden und Beobachtern gleichermaßen wichtig sind, und erschwert pauschale Urteile über die Qualität des gesehenen Unterrichts. Solche Urteile können leicht zu Missverständnissen und Verstimmungen führen. Eine Liste möglicher Beobachtungskriterien wird bei Labudde (2006) wiedergegeben. • Vorab festgelegte Regeln für ein kollegiales Feedback beinhalten konstruktive Rückmeldungen und aktives Zuhören. Was das im Einzelnen heißt, kann der Literatur über eine erstrebenswerte Gesprächskultur entnommen werden (Labudde 2006).
22.3 Fortbildung von Lehrerinnen und Lehrern 861 862 863 864 865 866 867 868 869 870 871 872 873 874 875 876 877 878 879 880 881 882 883 884 885 886 887 888 889 890 891 892 893 894 895 896 897 898 899 900 901 902 903
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Feedback kann auf der Basis von Beobachtungen, aber auch mit Hilfe von Videoaufzeichnungen stattfinden. Letztere bieten die Chance, Details des Unterrichts in aller Ruhe und in Wiederholungen zu betrachten. Beides ist weder Selbst- noch Fremdbeobachtern während des Unterrichts oder danach möglich. Die Vorteile solcher Aufzeichnungen sind offensichtlich, und weder die nicht schwer zu überwindenden technischen Probleme noch die nur anfänglich vorhandene Hemmschwelle sind akzeptable Gründe, auf dieses hilfreiche Werkzeug zu verzichten (Brophy 2004; Welzel & Stadler 2005; Krammer & Reusser 2004). Sind die Hürden für die Herstellung eigener Aufzeichnungen wirklich zu hoch, kann auf Unterrichtsvideos zurückgegriffen werden, die an anderen Stellen entstanden und Interessierten zugänglich sind (Fischler 2006b).
Funktionen von Videoaufzeichnungen
Eine fragen- und zielorientierte Beobachtung von Unterrichtsvideos kann man sich mindestens in drei verschiedenen Konstellationen vorstellen:
Fortbildungssituationen in Schule und Fachgruppe
• Eine Lehrkraft nimmt ihren eigenen Unterricht auf und erhält damit die Möglichkeit, einzelne Szenenfolgen des Unterrichts in Ruhe zu beobachten und Details in einer Gründlichkeit zu beobachten, die unter dem Handlungsdruck des Unterrichts nicht annähernd erreichbar ist. • Die Lehrkraft stellt ausgewählte Szenen ihres aufgezeichneten Unterrichts in einer Gruppe von Kolleginnen und Kollegen zur Diskussion. Gesprächsfördernd sind Impulse aus einer ersten Analyse, die die Richtung weiterer Erörterungen vorgeben kann. Besonders hilfreich für alle Beteiligten ist es, wenn der aufgenommene Unterricht Teil eines von allen Diskussionsteilnehmern getragenen Projekts ist. • Den an der Diskussion über konkreten Unterricht interessierten Lehrerinnen und Lehrern steht keine eigene Aufnahme zur Verfügung. In diesem Fall können sie eines der Videos verwenden, die auf dem kleinen Markt der Aufzeichnungen angeboten werden. Bei hinreichend gründlicher Prüfung der auf den Videos angesprochenen inhaltlichen Schwerpunkte können die darin präsentierten Unterrichtsthemen und die Erörterungswünsche aufeinander abgestimmt werden. Feedbacks in den beschriebenen Kontexten, im Anschluss an gegenseitige Unterrichtsbesuche oder bei Gesprächen mit eigenen oder fremden Aufzeichnungen von Physikunterricht, „bieten sehr günstige Voraussetzungen, um die in uns Lehrkräften steckenden Potenziale vermehrt auszuschöpfen, um untereinander, voneinander und über-
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22 Lehrerausbildung und Lehrerfortbildung – nach „Bologna“ und PISA einander zu lernen, um uns neue Wege des Lehrens zu eröffnen, um den Schülerinnen und Schülern neue Wege des Lernens der Physik zu erschließen“ (Labudde 2006, 32).
22.3.6 Unterrichtsvideos in der Lehrerbildung Die im voranstehenden Abschnitt erwähnten Vorteile bei der Verwendung von Unterrichtsvideos gelten nicht nur für den Bereich der schulinternen Fortbildung, sondern generell für alle Phasen der Lehrerbildung. Als Resümee aus zahlreichen Berichten über Projekte mit aufgezeichnetem Unterricht gibt Brophy (2004) weit mehr als ein Dutzend Begründungen für die Einbeziehung videobasierter Arbeitsverfahren in die Lehrerbildung an. Eine kleine Auswahl soll die Breite der Verwendungsmöglichkeiten illustrieren: Breite der Verwendungsmöglichkeiten
• Bei der wiederholten Analyse von Unterrichtsvideos kann auf jeweils verschiedene Aspekte des Geschehens im Unterricht fokussiert werden. • Videos zeigen Lehrende und Lernende, so dass das Unterrichtsgeschehen aus beiden Perspektiven betrachtet werden kann. • Aufzeichnungen über längere Zeiträume geben Auskunft über Entwicklungen der professionellen Kompetenz von Lehrenden und über Veränderungen in der Mitarbeit von Lernenden. • Unterrichtsvideos, die in anderen Zusammenhängen aufgenommen wurden, können einer Lehrkraft Lernumgebungen zeigen, die sie als Anregungen für den eigenen Unterricht wahrnimmt (z.B. methodische Arrangements, die zu höherer Schülerbeteiligung motivieren). • Geplante Variationen eines Unterrichtskonzepts ermöglichen Vergleiche und Analysen. • Aufzeichnungen können im Detail auch non-verbale Interaktionen zwischen den im Untericht Agierenden wiedergeben.
Einsatz in der fachdidaktischen Unterrichtsforschung
Dem breiten Spektrum der Anwendungsmöglichkeiten für Unterrichtsaufzeichnungen in der Lehrerausbildung entspricht eine große Vielfalt von Einsätzen in der fachdidaktischen Unterrichtsforschung. Kaum ein Projekt, das Lehr- und Lernprozesse gerade in den Naturwissenschaften untersucht, arbeitet ohne dieses „Werkzeug“ (Seidel et al. 2006).
22.4 Zusammenfassung und Ausblick 947 948 949 950 951 952 953 954 955 956 957 958 959 960 961 962 963 964 965 966 967 968 969 970 971 972 973 974 975 976 977 978 979 980 981 982 983 984 985 986 987 988 989
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22.4 Zusammenfassung und Ausblick Die PISA-Studien und die Bologna-Erklärung wurden im einleitenden Abschnitt als Impulsgeber für inhaltliche und organisatorische Reformen der Lehrerausbildung in der ersten Phase bezeichnet. Die Entwicklungen in beiden Reformbereichen haben zu einer Situation geführt, in der zwar gewisse Tendenzen sichtbar sind, aufgrund der Zuständigkeit der Bundesländer aber erhebliche Unterschiede in den Strukturen und Curricula der Studienangebote bestehen. Das in der Vereinbarung von Bologna festgelegte Ziel, in Europa ein System „leicht verständlicher und vergleichbarer Abschlüsse“ einzuführen, konnte innerhalb Deutschlands nur begrenzt realisiert werden. Unter dem Dach der Bachelor-Master-Struktur, die in den meisten, aber nicht allen Bundesländern eingeführt wurde, hat sich eine Vielfalt von Modellen etabliert. Unterschiede gibt es z.B. in der Gewichtung der Studienfächer in den beiden Studienabschnitten sowie im Umfang und in der Platzierung fachdidaktischer Studienanteile.
Unterschiede in den Strukturen und Curricula der Studienangebote
Die PISA-Anteile der Reformimpulse haben jedoch ziemlich durchgängig zu einer stärkeren Professionsorientierung in vielen Studienplänen geführt, und zwar sowohl in Entwürfen als auch, vielerorts in Konfrontation mit den Realitäten, in verhaltenen Formen in der Praxis. Zu den reformhemmenden Faktoren gehören primär Kapazitätsprobleme in der Lehre, in dem Studienfach Physik und in der Physikdidaktik gleichermaßen. In der Physik ist diese Situation mehr als bedauerlich, da mit den Vorschlägen der DPG für eine Reform des Lehramtsstudiums eine erstaunliche Neujustierung der Vorstellungen über die für den Physikunterricht notwendigen Kompetenzen einer Lehrkraft stattgefunden hat. Mit konsequenteren Veränderungen in den Curricula bestünde die Aussicht, dass die auch nach Einführung der Bachelor-/Master-Struktur immer noch hohen Abbrecherquoten reduziert werden könnten (Schmidt & Nordmeier 2009).
Stärkere Professionsorientierung in Studienplänen
Die Fachdidaktiken haben generell an Bedeutung gewonnen, nicht nur in den Stellungnahmen von KMK, HRK und landesspezifischen Regelungen, sondern auch in den Studienplänen der Hochschulen. Aber auch hier schränken Kapazitätsprobleme und die in manchen Physik-Fachbereichen noch anzutreffende Zurückhaltung bei der Ausstattung der Physikdidaktik mit Professuren die in den Empfehlungen angeratenen Standards der Lehre stark ein.
Fachdidaktiken haben an Bedeutung gewonnen
Studierende, die sich für ihre Arbeit als Physiklehrerin oder Physiklehrer vorbereiten, werden trotz der stärker gewordenen Professionsorientierung des Studienangebots der ersten Phase immer noch De-
Neuralgische Punkte
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22 Lehrerausbildung und Lehrerfortbildung – nach „Bologna“ und PISA fizite in der Ausbildung erkennen. Die nicht gerade üppigen Möglichkeiten, unterrichtspraktisch tätig zu sein, gehören sicherlich zu den neuralgischen Punkten, die kritisch gesehen werden können. Jedes Monitum muss jedoch berücksichtigen, dass die empirische Basis eindeutige Präferenzen für ein bestimmtes Modell der Lehrerausbildung nicht zulässt
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22 Lehrerausbildung und Lehrerfortbildung – nach „Bologna“ und PISA
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Ernst Kircher
23 Modellbegriff und Modellbildung in der Physikdidaktik Modelle spielen in der Physik und im Physikunterricht eine wichtige Rolle. Was vesteht man unter dem Begriff “Modell”? Der Modellbegriff wird unter Berücksichtigung von physikdidaktischen, erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Auffassungen so festgelegt, dass er in der Physikdidaktik Relevanz besitzt. Darüber hinaus soll das Lernen der Physik in diesem Begriff abgebildet werden. Daher muss das lernende Subjekt berücksichtigt, das heißt in den Modellbegriff miteinbezogen werden. Formal betrachtet besteht eine große Ähnlichkeit zum kybernetischen Modellbegriff (Klaus 19712). Aber die Interpretationen der Beziehungen zwischen dem Modell M und dem Objekt O und zwischen Modell M und Subjekt S unterscheiden sich wesentlich von dem kybernetischen Modellbegriff. „Physik lernen” bedeutet hier „physikalische Modellbildung” durch die Schüler. Aber wie müssen die Modelle beschaffen sein, mit denen die Schüler beginnen? Was bedeuten Modelleigenschaften wie „Anschaulichkeit” und „Einfachheit”? Die Diskussion solcher Begriffe will mehr erreichen als nur deren unterschiedliche Bedeutung in den Wissenschaften aufzuweisen. Am Beispiel der Modellbildung sollen Probleme des Physiklernens und Physiklehrens transparenter werden.
23.1 Erläuterungen und Festlegungen zum Modellbegriff 23.1.1 Zweckmäßigkeit und Konventionen Die Festlegung von Begriffen ist nicht nur eine Frage der Konvention: Begriffe sollen für einen definierten Anwendungsbereich gelten, sinnvoll für den Gebrauch und möglichst leicht erlembar sein. Neben dem Anliegen, den Modellbegriff so festzulegen, dass er für allgemeine fachdidaktische Probleme relevant werden kann, steht auch das Bestreben, über gewisse Sachverhalte in der Physikdidaktik einfach und bequem reden zu können, fachdidaktische Probleme neu darstellen und eventuell lösen zu können und dies auch ohne Fach-
Über Sachverhalte der Physikdidaktik einfach und bequem reden, fachdidaktische Probleme neu darstellen und lösen können
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Modellbegriff: Orientierung an der Fachliteratur, an der fachdidaktischen Umgangssprache und an Vorstellungen und Assoziationen der Schüler Umfassender Modellbegriff: Theoretische Konstrukte aller Art
23 Modellbegriff und Modellbildung in der Physikdidaktik sprache und Formalismen der Wissenschaftstheorie geläufig zu beherrschen. Von dieser Überlegung her ist bei der Festlegung des Modellbegriffs neben der Orientierung an der Fachliteratur auch eine gewisse Orientierung an der fachdidaktischen Umgangssprache nötig sowie an den Vorstellungen und Assoziationen, die Schüler mit diesem Begriff verbinden. Der Begriff „Modell” ist umgangssprachlich mit Vorläufigkeit, Unvollkommenheit, Unzulänglichkeit verbunden. Diese Eigenschaften passen zu den hier vertretenen erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Auffassungen, dass unser Wissen über die Realität prinzipiell hypothetisch ist und dass die Physik nur einen ganz bestimmten Aspekt dieser Realität beschreiben und erklären kann. Dies legt eine umfassende Bedeutung des Modellbegriffs nahe derart, dass alle theoretischen Konstrukte als Modell oder Modellvorstellung bezeichnet werden. Damit fallen unter die Bezeichnung „Modell” vorläufige Vorstellungen von Schülern, vorläufige Konstrukte der Wissenschaft, etwa Hypothesen über die Entstehung des Kosmos, die experimentell getestet werden sollen, sowie in bestimmten Bereichen bewährte und zuverlässige Theorien wie die newtonsche Mechanik. Natürlich werden auch diejenigen theoretischen Konstrukte „Modelle” genannt, die in der Physik als solche bezeichnet werden, zum Beispiel das Modell „Massepunkt”, das „Teilchenmodell” des Lichts. An diesen Beispielen wird nicht nur die Spannweite des Begriffs „Modell” deutlich, sondern im Grunde auch die Notwendigkeit einer differenzierten Klassifikation (siehe Abschnitt 22.6).
Hauptklassen: Theoretische und gegenständliche Modelle
Im Folgenden wird von „theoretischen Modellen”, und den ,,gegenständlichen Modellen” als den beiden Hauptklassen von Modellen gesprochen. Dadurch bleibt der Modellbegriff in der Nähe der Umgangssprache.
23.1.2 Eingrenzung des Modellbegriffs In der Umgangssprache besitzt der Ausdruck „Modell" die Bedeutungen „Vorbild” und „Abbild”. Dabei wird er in der Bedeutung „Vorbild” häufiger im Zusammenhang mit pädagogischen oder politischen Vorbildern benutzt; diese können Personen oder theoretische Konstrukte (zum Beispiel „politische Leitbilder”) sein.
23.1 Erläuterungen und Festlegungen zum Modellbegriff 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 100 101 102 103 104 105 106 107 108 109 110 111 112 113 114 115 116 117 118 119 120 121 122 123 124 125 126 127 128 129
Diese Beispiele zeigen, dass auch in der Bedeutung des Ausdrucks „Modell” als „Vorbild” sowohl theoretische als auch „gegenständliche Modelle”, - im obigen Beispiel sind es Personen -, vorkommen. Im Bereich der Physik übernehmen theoretische Modelle, Theorien und Forschungsprogramme unter Umständen ebenfalls eine Vorbildfunktion (siehe Kap. 23).
737
Modell: - als Abbild - als Vorbild
Gegenständlichen Modellen im Physikunterricht kommt dagegen keine Vorbilds- sondern nur eine Hilfsfunktion zu. Dies gilt, solange die These vom Vorrang des unmittelbaren Objekts vor mittelbaren Objekten (unter anderem gegenständlichen Modellen) in der Physikdidaktik akzeptiert ist. Die hier zugrundeliegenden erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Auffassungen führen zu einer weiteren Eingrenzung des Modellbegriffs; experimentelle Daten sind keine „Modelle”:
Experimentelle Daten sind keine „Modelle”
• Da nur die naturwissenschaftlichen Objekte als Teil der Realität selbstständig existieren Bunge (1973b), sind die Daten von anderer Qualität als die naturwissenschaftlicher Theorien, denn die Daten enthalten Spuren der Realität (s. Bunge 1970, 434). • Zwar hängen Daten auch von Theorien ab, weil ja auch die Experimente theorieabhängig sind und weil Daten im Lichte von Theorien interpretiert werden müssen. Aber Lakatos' (1974, 180 ff. ) Argumentation folgend, sind es letztlich die in Experimenten gewonnenen Daten, die zum Verwerfen oder Akzeptieren einer Theorie führen. In diesem Wechselspiel zwischen dem vom Subjekt relativ unabhängigen „physikalischen Objekt”, dem theoretischen Modell und den Daten wäre es wenig sinnvoll, auch die Daten, die die „Äußerungen” des Objekts enthalten, als Modelle zu bezeichnen.
23.1.3 Erläuterungen zum Modellbegriff Die folgenden formalen Darstellungen des Modellbegriffs gehen vom „kybernetischen Modellbegriff” (Klaus 19712) aus. Dabei wird neben dem abzubildenden Objekt - dem Modellobjekt O – sowie dem Modell M auch der Benutzer des Modells - das Modellsubjekt S in die Überlegungen mit einbezogen (s. auch Saborowski 2000, Mikelskis-Seifert 2002. 1. Eine Erläuterung betrifft die Bezeichnung „Modellobjekt”. Während Klaus die Bezeichnung „Modelloriginal” (Klaus 19712) und Stachowiak (1973) den Ausdruck „Original” verwenden, wird hier die Bezeichnung „Objekt” bzw. „Modellobjekt” benutzt, um
Kybernetischer Modellbegriff: - Modell, - Modellobjekt, - Modellsubjekt
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Ausgangspunkt des Physikunterrichts: das unmittelbare Objekt
23 Modellbegriff und Modellbildung in der Physikdidaktik damit anzudeuten, dass im Physikunterricht im allgemeinen reale Objekte betrachtet werden, nicht etwa .,Modelle” als Stellvertreter des zu erkennenden Objekts. Die Bezeichnung „Objekt” ist als fachdidaktischer Hinweis zu verstehen auf die hier vertretene erkenntnistheoretische Position des hypothetischen Realismus und auf die bereits formulierte These, als Ausgangspunkt des Physikunterrichts möglichst das unmittelbare Objekt zu verwenden, nicht ein gegenständliches oder theoretisches Modell. 2. Eine weitere Erläuterung betrifft das „Modellsubjekt”. Die Beziehung zwischen Modell und Subjekt kann bei Lehr-und Lernprozessen von größerer Bedeutung sein als die Beziehung zwischen Modell und Objekt. Zur Beschreibung der Beziehung M-S werden von Kircher (1995) Skizzen der Lerntheorien von Ausubel (1974) und Bruner (1971), der Entwicklungspsychologie von Piaget (1973) und durch die interdisziplinäre Theorie des „radikalen Konstruktivismus” (Schmidt 1987) herangezogen. Obwohl die Skizzen aus Platzgründen fehlen, beziehe ich mich gelegentlich auf diese.
23.1.4 Formale Darstellung des Erkenntnisprozesses und Modelldefinition Hypothetischer Realismus: Unmittelbare Erkenntnis des Objekts O ist nicht möglich
Nach den bisherigen Uberlegungen ist ein Modell ein reales oder fiktives Gebilde derart, dass reale oder fiktive Beziehungen zu dem Modellobjekt bestehen. Es sind ferner Relationen zwischen dem Modell und dem Modellsubjekt vorhanden. Zusätzlich wird angenommen, dass eine unmittelbare Erkenntnis des Objekts O durch ein Subjekt nicht möglich ist.
Abb. 23.1: Formale Darstellung der Relationen des Modells M zum Modellobjekt O und zum Modellsubjekt S
23.1 Erläuterungen und Festlegungen zum Modellbegriff 173 174 175 176 177 178 179 180 181 182 183 184 185 186 187 188 189 190 191 192 193 194 195 196 197 198 199 200 201 202 203 204 205 206 207 208 209 210 211 212 213 214 215
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Das Relationsgefüge von Modellobjekt O, Modell M, Modellsubjekt S bedeutet hier dreierlei: 1. Es legt den Modellbegriff fest, 2. es kann als eine vereinfachte Darstellung des naturwissenschaftlichen Erkenntnisprozesses interpretiert werden, 3. es kann als eine vereinfachte Darstellung für Lernprozesse mit naturwissenschaftlichen Inhalten interpretiert werden. Die Beziehung M - O betrifft den wissenschaftlichen, sowie den erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Aspekt des Erkenntnisprozesses: Es wird die Bedeutung der Pfeile O → M und M → O erläutert. Insbesondere ist zu klären, was „Analogie” bedeutet. Zunächst ist der Ausdruck nur eine allgemeine Bezeichnung für die Art der Beziehung O → M bzw. M → O ist. Zur Erläuterung der Relation M - S werden, wie schon erwähnt, verschiedene Lerntheorien herangezogen (Kircher 1995), die auch für den naturwissenschaftlichen Unterricht relevant sind.
M - O betrifft den wissenschaftlichen und den erkenntniswissenschaftstheoretischen Aspekt des Erkenntnisprozesses
Durch dieses Vorgehen gelingt es, Eigenschaften von Modellen zu formulieren, wünschenswerte wie die leichte Verständlichkeit des Modells sowie konstituierende aufgrund des prinzipiell hypothetischen Charakters der naturwissenschaftlichen Modelle und aufgrund der Eigenschaften des Objekts. Definition: Ein Modell M ist ein von einum Subjekt S für bestimte Zwecke und für eine bestimmte Zeit benutzter bzw. geschaffener Gegenstand oder theoretisches Konstrukt Μ derart, dass zu bestimmten Elementen von M „Analogien” zu Elementen des Objekts Ο bestehen (vgl. dazu die Formulierung von Klaus (19712, 411 ff.) und die Definition Wüstnecks (1966, 17) .
Modelldefinition
23.1.5 „Analogien“ zwischen Modell und Objekt „In der Alltagssprache bedeutet Analogie in einem ungenauen Sinn jede Erkenntnis durch Ähnlichkeit oder durch Vergleich” (Holz 1973, 52). Die in der Modelldefinition postulierten „Analogien” zwischen Modell und Objekt werden im Sinne von ,,Ähnlichkeiten” verstanden, d.h. nahe bei der umgangssprachlichen Bedeutung von „Analogie”. Auch in der Lernpsychologie wird der Ausdruck entsprechend vage verwendet (Mandl & Spada 1988; Hesse 1991). Die Bedeutung unterscheidet sich damit von der mathematischen „Ähnlichkeit” (s. z.B. Behnke 1964, 179).
Was bedeutet “Analogie”?
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23 Modellbegriff und Modellbildung in der Physikdidaktik Worin bestehen die „Ähnlichkeiten” zwischen den Eigenschaften der Modelle und denen des naturwissenschaftlichen Objekts? 1. Für den modernen Realismus ist dieses „Abbildungsproblem” fundamental. Von Bunge (1973a), Ludwig (1978) und Vollmer (1988a) wurden Lösungen vorgeschlagen, die sich an mathematischen Abbildungen orientieren. Im Folgenden wird der Ansatz Bunges zugrundegelegt. 2. Bunge (1973a, 114 f.) interpretiert die Ähnlichkeitsbeziehung zwischen M und O als eine mathematische Relation (hier symbolisch: ≈; lies „analog”).
Die Analogierelation ist symmetrisch und reflexiv, aber weder transitiv noch intransitiv
Die Analogierelation ist symmetrisch und reflexiv, aber weder transitiv noch intransitiv. Das bedeutet, dass bei bloßer „Ähnlichkeit” zwischen Modell und Objekt nicht mit Sicherheit auf bestimmte durchgängige Eigenschaften dieser „Dinge” gefolgert bzw. nicht gefolgert werden kann: Wenn M1 ≈ M2, M2 ≈ M3 gilt, folgt weder, daß Ml ≈ M3 gilt, noch dass M1 ≈ M3 nicht gilt! Man kann dies auch so beschreiben: Die Analogierelation wirkt wegen der fehlenden Transitivität nur „lokal” zuverlässig auf die unmittelbar als ähnlich festgestellten Entitäten (M1 ≈ M2 bzw. M2 ≈ M3) und nicht über eine Wirkkette auf „entfernte” Entitäten (M1 ≈ M3) . Aber eine solche Wirkung kann auch wegen der fehlenden Intransitivität nicht ausgeschlossen werden. Diese Überlegung ist ein wichtiges Argument bei der Beurteilung von Analogien und Analogiemodellen. 3. Ein Modell M wird als „Bild” eines Objekts O betrachtet. Die zugrundeliegende Abbildung wird als homomorphe Abbildung oder als isomorphe Abbildung (Stachowlak 1973) bzw. partiell isomorphe Abbildung (Vollmer 1988b) angesehen. Treffen diese mathematischen Charakterisierungen auch auf naturwissenschaftliche Objekte und entsprechende Theorien zu?
In den Naturwissenschaften ist die isomorphe Abbildung ein unerreichbares Ideal
Für Vollmer (1 988b, 182) ist naturwissenschaftliche Erkenntnis eine „adäquate Rekonstruktion und Identifikation realer (äußerer) Strukturen ... Das wesentliche Element von Erkenntnis, von Wahrheit und Bedeutung sind Isomorphien”. Diese Aussage wird allerdings eingeschränkt (Vollmer 1988a, 206): Zwischen „objektiven und subjektiven Erkenntisstrukturen” gibt es „eine gewisse Übereinstimmung..., eine partielle Isomorphie zwischen der realen Welt und unserer Vorstellung von ihr, eine Adäquatheit unseres Wissens, eine strukturelle Ähnlichkeit zwischen äußeren Objekten und unseren inneren Rekonstruktionen.” Bunges Position (1973a) ist
23.2 Beziehungen zwischen Modell und Objekt 259 260 261 262 263 264 265 266 267 268 269 270 271 272 273 274 275 276 277 278 279 280 281 282 283 284 285 286 287 288 289 290 291 292 293 294 295 296 297 298 299 300 301
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dagegen zurückhaltender: „Außerhalb der Mathematik scheint eine isomorphe Darstellung ein unerreichbares Ideal zu sein: ein Ziel, das man streift und hofft diesem näher und näher zu kommen, genau wissend, dass es nicht erreicht werden kann” (Bunge 1973a 120) Nur im naiven Realismus liegt eine strukturerhaltende und bijektive Abbildung vor. Sind naturwissenschaftliche Theorien unter der Voraussetzung eines hypothetischen Realismus wenigstens als homomorphe Abbildungen zu verstehen? Bunge (1973a, 130) folgend, gibt es keine „Logik der Analogie”. Bunge (1973a) bezweifelt daher, daß eine „nichttriviale und allgemeine Theorie der Analogie möglich ist”. Andererseits erfordern auch die modernen Versionen des Realismus, dass die Redeweise „naturwissenschaftliche Theorien sind homomorphe Abbildungen der Realität” mehr als nur eine Metapher ist. Die Diskussionen von Bunge (1973a), Ludwig (1978) und Vollmer (1988a) zusammenfassend kann man sagen, dass der Ausdruck „Abbildung” für O → M, beziehungsweise M → O, im Hinblick auf den Prozess und das Ergebnis der Physik und des Physikunterrichts, nur im naiven Realismus in mathematischem Sinne zu verstehen ist. In dieser heutzutage überholten Ausprägung des Realismus besteht Isomorphie zwischen O und M. In der gegenwärtigen Realismusdiskussion ist die Relation M → O nur in einem metaphorischen Sinne als eine homomorphe Abbildung zu verstehen.
Die Beziehung zwischen Modell und Objekt ist nur in einem metaphorischen Sinne als eine Abbildung zu verstehen
23.2 Beziehungen zwischen Modell und Objekt 23.2.1 Das Abbildungsmerkmal 1. Im allgemeinen Fall ist ein (theoretisches) Modell, die Projektion eines Objekts (O → M). In einem einfachen Fall ist das Modell durch eindeutige Relationen mit dem Objekt verknüpft, wie z.B. eine technische Zeichnung mit einem Werkstück. 2. Für die Physikdidaktik sind die theoretischen Modelle der Physik, sowie die Genese von Modellen und deren Beziehung zur Realität von Interesse; aber dieser Fall ist bedeutend komplexer als der obige: Mit der Ablehnung des naiven Realismus und der Auffassung, die Reduktion physikalischer Forschung auf induktive Methode sei eine Trivialisierung derselben (siehe Kap. 24), ist ein theoretisches Mo-
Abbildungsmerkmal
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23 Modellbegriff und Modellbildung in der Physikdidaktik dell kein unmittelbares und eindeutiges „Bild” des Objekts. Die Beziehung zwischen Modell und Objekt ist nur in einem metaphorischen Sinne als eine mathematische Abbildung zu verstehen. Das theoretische Modell hängt in komplizierter Weise mit dem Objekt zusammen, weil Experimente E beteiligt sind (s.auch 1.2.3). Wenn wir versuchen, diese komplexen Zusammenhänge der physikalischen Theoriebildung mit dem Schema „Modellbegriff” zu erfassen, müssen wir dieses so erweitern, dass wenigstens die Bedeutung von Experimenten bei der Modellbildung berücksichtigt wird.
Abb. 23.2: „Abbildung” der Realität mit Hilfe von Experimenten Die gestrichelten Linien zwischen Objekt und experimentellen Daten sowie zwischen Daten und dem Modell bedeuten, dass keine eindeutigen mathematischen Beziehungen vorliegen. Bunges Auffassung über Analogien trifft auch auf das „Abbildungsproblem” in den Naturwissenschaften zu: „Die vorliegende Studie ist nur eine vorläufige Untersuchung: die meiste Arbeit über dieses Problem bleibt noch zu tun” (Bunge 1973a, 130 (übersetzt E.K.)).
23.2.2 Das Verkürzungsmerkmal
Verkürzungsmerkmal
Wie erwähnt, bedeuten die zugrundeliegenden erkenntnistheoretischen Annahmen, dass theoretische Modelle der Physik die Realität in nicht eindeutiger und nicht endgültiger Weise darstellen. Dieser Sachverhalt wird in der modelltheoretischen Diskussion durch das sogenannte „Verkürzungsmerkmal” der theoretischen Modelle ausgedrückt (Stachowiak 1973, 130 ff.). Dieses Merkmal wird hier als notwendige Voraussetzung für die Bezeichnung „Modell” aufgefasst. Das heißt, dass gegenständliche und theoretische Entitäten, die dieses Merkmal nicht erfüllen, nicht als Modell bezeichnet werden.
23.2 Beziehungen zwischen Modell und Objekt 345 346 347 348 349 350 351 352 353 354 355 356 357 358 359 360 361 362 363 364 365 366 367 368 369 370 371 372 373 374 375 376 377 378 379 380 381 382 383 384 385 386 387
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In der formalen Darstellung bedeutet das Verkürzungsmerkmal, dass es Elemente in O gibt, die kein Element in M haben (O → M). Hier erfasst das Modell nur eine Teilmenge der Attribute des Objekts (s. Abb. 23.3).
Abb. 23.3: „Verkürzungsmerkmal“: Nicht alle Elemente des Objekts sind in dem Modell abgebildet. Diese Art der Abbildung trifft insbesondere auf gestaltähnliche Modelle zu. So kann eine Fotografie als Modell eines Objekts aufgefasst werden, denn das Verkürzungsmerkmal ist erfüllt: In einer Fotografie sind wesentliche physikalische, chemische oder biologische Eigenschaften des Objekts nicht abgebildet. Auch für Funktionsmodelle, die auch als „Simulationsmodelle” bezeichnet werden, gilt die schematische Darstellung der Abb. 23.3. Auch das Umgekehrte gilt: Nicht alle Elemente von M haben ein entsprechendes Element in O. Etwas unpräzise spricht man in beiden Fällen von den „Grenzen des Modells”. So werden (gegenständliche) „Analogmodelle” (Stachowiak 1973, 333) etwa für den Physikunterricht so ausgewählt oder konstruiert, dass physikalische Strukturen eines Lernobjekts auch in dem Analogmodell verkommen. Das Verkürzungsmerkmal trifft in diesem Falle nicht nur für das Analogmodell zu. Ebenfalls Teil der Realität, besitzt auch das Analogmodell solche Elemente, die im eigentlichen, dem primären Lernobjekt O nicht existieren. Man nennt das die Eigengesetzlichkeit dieser Modelle (Mucke 1969, 117).
23.2.3 Gegenständliche Modelle: Strukturmodelle, Funktionsmodelle, gestaltähnliche Modelle In der Naturwissenschaftsdidaktik spielen Realisierungen von theoretischen Modellen eine besondere Rolle.
Gestaltähnliche Modell (Fotografie) Funktionsmodelle
Grenzen des Modells
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In Strukturmodellen werden sehr kleine sowie sehr große Objekte abgebildet
Man kann die Naturwissenschaften nicht einfach als völlig uninformativ abtun
23 Modellbegriff und Modellbildung in der Physikdidaktik 1. In Strukturmodellen werden sehr kleine sowie sehr große Objekte abgebildet, wie die Strukturen von Kristallen oder Molekülen oder das Planetensystem der Sonne. Strukturmodelle gehören auch zur Klasse der Analogmodelle. Im Hinblick auf das „Abbildungsproblem” erscheint bei solchen Modellen Vollmers (1988a, 37) Bezeichnung „partielle Isomorphie” angebracht: Unter Naturwissenschaftlern gibt es keine Zweifel daran, dass ein NaCl-Kristall eine kubische Struktur aufweist. Denn zur Bestätigung von Ergebnissen werden häufig verschiedene Messmethoden angewendet. Das heißt, wenn einem Strukturmodell ,,partielle Isomorphie” zugeschrieben wird, geschieht dies auf dem Hintergrund von vielfach bewährter „Schulbuchnaturwissenschaft" („schoolbook science” (Rescher 1987, 55 ff.)). Rescher (1987, 64) schließt daraus, dass Naturwissenschaften zwar die Realität nicht vollkommen korrekt beschreiben, dass wir aber die Naturwissenschaften nicht einfach als völlig uninformativ abtun können, wenn es um die Beschreibung geht, wie die Welt ist. Bei Analogexperimenten besteht ebenfalls zwischen den theoretischen Strukturen des primären und des analogen Lernbereichs „partielle Isomorphie”. Das gilt z.B. für bestimmte theoretische Strukturen des elektrischen Stromkreises und des Wasserstromkreises.
Funktionsmodell: Wenn zwei Systeme im Hinblick auf Funktionen übereinstimmen
2. Ein Funktionsmodell „liegt dann vor, wenn zwei Systeme, die sich nach der Art ihrer Elemente, aber auch ihrem strukturellen Aufbau nach unterscheiden, im Hinblick auf die Funktionen, die sie erfüllen können, übereinstimmen” (Klaus 19712, 32).
Gestaltähnliche Modelle
3. Liegt eine Ähnlichkeit bezüglich der Gestalt (Form, Aussehen) vor, spricht man von gestaltähnlichen Modellen. Im Dreidimensionalen trifft diese Charakterisierung auf Schiffsmodelle, im Zweidimensionalen etwa auf Fotografien oder technische Zeichnungen, aber auch bei Karikaturen, etwa über Politiker zu.
Beispiele für Funktionsmodelle finden sich vor allem in der Technik: In einem Stromkreis lässt sich ein Schalter durch ein Relais ersetzen; sie unterscheiden sich nach der Art ihrer Elemente und ihrem strukturellen Aufbau. Das Relais ist ein Funktionsmodell des Schalters. Auch die umgekehrte Aussage trifft zu: Ein Schalter ist ein Funktionsmodell eines Relais.
Bei maßstabsgetreue Nachbildungen eines Schiffes, gibt es umkehrbar eindeutige (bijektive) Beziehungen zwischen Modell und Original. Beide sind, die Gestalt betreffend, austauschbar.
23.3 Eigenschaften von Modellen 474 431 432 475 433 476 434 477 435 478 436 479 437 480 438 481 439 482 440 483 441 484 442 485 443 486 444 487 445 488 446 489 447 490 448 491 449 492 450 493 451 494 452 495 453 496 454 497 455 498 456 499 457 500 458 501 459 502 460 503 461 504 462 505 463 506 464 507 465 508 466 509 467 510 468 511 469 512 470 513 471 514 472 515 473 516
745
Das Beispiel „Karikatur eines Politikers” zeigt, dass hierbei keineswegs immer eindeutige Beziehungen zwischen Modell und Objekt vorliegen müssen. Bei dem Versuch, diese Relation zu formalisieren, dürfte sich eine Abbildungstheorie als untauglich erweisen, da etwa bei der Charakterisierung einer Person wirkliche oder nur fiktive hervorstechende Merkmale abgebildet werden und dabei in starkem Maße Vorstellungen des Betrachters (Modellsubjekt) bei der Herstellung der Karikatur bereits mitgedacht wurden.
23.3 Eigenschaften von Modellen Für Lehr-/Lernsituationen sollen Modelle vor allem die folgenden Eigenschaften aufweisen: sie sollen anschaulich, einfach, transparent und vertraut sein. Dabei sind Modelle akzentuiert, betonen einseitig Relationen, hypothetische Zusammenhänge, sind aspekthaft. Des weiteren werden Perspektivitäten und Produktivität (Popp 1970) als Merkmale von Modellen genannt. Bei der Erörterung von Modelleigenschaften zeigt sich, dass diese Begriffe in unterschiedlicher Weise präzisiert werden können (s. Kircher u.a. 1975, 133 f.).
23.3.1 Anschaulichkeit von Modellen Visuell wahrnehmbare, gestalthafte Objekte werden als „anschaulich“ bezeichnet. Solche Objekte werden auch als gegenständliche Modelle in Lehr-/Lernsituationen eingesetzt, in der Absicht, "Unanschauliches" zum Beispiel Begriffliches leichter zu verstehen. 1. In der Physik kommt das Attribut „Anschaulichkeit“ nicht nur materiellen Objekten zu. Man betrachtet heute eine physikalische Theorie dann als anschaulich, wenn sie mit Begriffen operiert, an die wir uns gewöhnt haben. Heutzutage gilt auch die maxwellsche Theorie als völlig anschaulich, weil die in ihr verwendeten Begriffe (Magnetfeld, elektrisches Feld) uns im Laufe der Zeit völlig geläufig geworden sind. (s. March 1964). Bei physikalischen Begriffen wie „Interferenz“ werden entsprechende bildhafte Darstellungen aus Lehrbüchern oder experimentelle Situationen wieder erinnert. Der theoretische Begriff wird anschaulich. Diese Auffassungen Marchs weisen auf das Modellsubjekt hin, von dessen Erfahrungen es abhängt, ob diese Eigenschaft „Anschaulichkeit“ einem Modell letztlich zukommt. Man kann verallgemeinernd sagen: Theoretische Modelle werden erst als anschaulich empfunden, wenn sie in Wechselwirkungen mit inneren Strukturen des Subjekts (kognitive Strukturen, Dispositionen) getreten sind.
Modelle sollen anschaulich, einfach, transparent und vertraut sein
746 517 518 519 520 521 522 523 524 525 526 527 528 529 530 531 532 533 534 535 536 537 538 539 540 541 542 543 544 545 546 547 548 549 550 551 552 553 554 555 556 557 558 559
23 Modellbegriff und Modellbildung in der Physikdidaktik
Vollmers Interpretation von Anschaulichkeit
2. Vollmer (1988a) schlägt eine engere Interpretation von „Anschaulichkeit“ vor: „Eine Struktur ist anschaulich genau dann,wenn sie in eine mesokosmische Struktur transformiert werden kann“ (Vollmer 1988a, 80). Das bedeutet, daß sehr kleine Entitäten der Realität, wie beispielsweise Moleküle (Mikrokosmos), durch Vergrößerung um etwa einen Faktor 108 „anschaulich“ werden, d.h., wenn sie auf Alltagsgröße oder Alltagsabstände transformiert werden. Entsprechendes gilt für Entitäten des Kosmos, wie das Planetensystem, wenn diese durch Verkleinerung auf die den Sinnen zugängliche Dimension , den „Mesokosmos“ gebracht werden (Vollmer 1988a). „Nicht anschaulich“ sind Entitäten mit „Grenzcharakter“, die bei einer Transformation keine sinnvolle Entsprechung in der „Welt der mittleren Dimension“ haben, wie das Plancksche Wirkungsquantum oder die Lichtgeschwindigkeit, auch Atome (s. Vollmer 1988b, 145 ff.). Eine solche Festlegung von „anschaulich“ ist weitab von der Umgangssprache.
Ist es nur eine Frage der Zeit, geeigneter Darstellungen und intensiver Beschäftigung, bis die Quantentheorie als „anschaulich“ empfunden wird?
3. Den erwähnten Lerntheorien folgend, können theoretische Modelle etwa durch Bruners Vorschlag über die verschiedenen Repräsentationsstufen veranschaulicht werden. Ein neues theoretisches Modell wird möglicherweise sofort als „anschaulich“ empfunden, wenn der Prozess der „Assimilation“ (Piaget) sehr rasch erfolgt. Außerdem spielt für die Anschaulichkeit eines Modells auch die Häufigkeit seiner Verwendung (Gewöhnung) eine Rolle, relativ unabhängig davon, wie unanschaulich dessen Begriffe und Relationen sind. Wenn diese Betrachtungsweise zutrifft, ist es nur eine Frage geeigneter Darstellungen und intensiver Beschäftigung zum Beispiel mit der Quantentheorie, bis diese heutzutage als unanschaulich betrachtete Theorie als anschaulich empfunden wird. 4. Der oben skizzierte Bedeutungswandel des Begriffs „Anschaulichkeit“ legt den Schwerpunkt auf die Relation M - S. Insbesondere für das Lernen der modernen Physik, in der die relevanten Phänomene nur noch über äußerst komplexe Theorien konsistent interpretiert werden können, ist der Physikunterricht auf die „innere“ Anschaulichkeit, auf Modellvorstellungen angewiesen. Natürlich müssen sich Schüler und Lehrer über die Grenzen dieser Modellnutzung im Klaren sein.
Verwendung in wissenschaftlichem Kontext ist problematisch
5. Folgt man Vollmer (1988 a) nicht, ist es wohl noch ein weiter Weg, bis der Begriff „Anschaulichkeit“ über die Umgangssprache hinaus wieder in wissenschaftlichem Kontext präzise verwendet werden kann, denn dazu müssen innere Strukturen des Subjekts, unter anderem bereichsspezifische Schülervorstellungen, und deren Wechselwirkungen mit Merkmalen des Modells genauer bekannt sein als bisher.
23.3 Eigenschaften von Modellen 560 561 562 563 564 565 566 567 568 569 570 571 572 573 574 575 576 577 578 579 580 581 582 583 584 585 586 587 588 589 590 591 592 593 594 595 596 597 598 599 600 601 602
747
23.3.2 Einfachheit von Modellen Die „Einfachheit von Modellen“ kann sich sowohl auf die begriffliche Struktur als auch auf die Lernbarkeit von Modellen beziehen. Eine simplifizierte Annahme bringt „Einfachheit“ mit der Anzahl der Begriffe und der Art der Relationen zwischen den Begriffen in Verbindung: Einfache mathematische Zusammenhänge und eine geringe Anzahl von Begriffen führen dann zu einem „einfachen“ (theoretischen) Model. Demnach wäre E = mc2 ein „einfaches“ physikalisches Modell. Physikdidaktisch betrachtet trifft dies sicher nicht zu. Das macht deutlich, physikalische Modelle unterscheiden sich :
Was ist ein „einfaches“ Modell?
• hinsichtlich der Möglichkeit sie zu veranschaulichen und sie durch Handeln zu lernen (lernpsychologisches Moment) • hinsichtlich der Bedeutung der Begriffe im Gefüge der Theorie (wissenschaftstheoretisches Moment) 1. Die Einfachheit eines Begriffes wird man auch danach beurteilen, wie bedeutsam er in einer Theorie ist und wie er mit anderen Begriffen vernetzt ist. Physikalische Begriffe sind im allgemeinen „theoriegeladen“ (Hanson 1965, 65). Das bedeutet, daß etwa der Begriff „Länge“ im Rahmen der Relativitätstheorie nicht mehr als „einfacher“ Begriff bezeichnet werden kann, weil die Länge eines Gegenstandes von seinem Bewegungszustand abhängt und somit „Länge“ nicht mehr mit klassischen Messvorschriften festgelegt werden kann. Ein weiteres Beispiel: Der Begriff „Impuls“ ist aufgrund seiner Stellung in der Theorie einfacher im Vergleich zum Begriff „Kraft“: Der Impuls ist eine Erhaltungsgröße, die Kraft wird über den Impuls definiert (F = dp/dt). Aus diesen Gründen hält es Jung (1977, 171 ff.) für angemessener, den dynamischen Kraftbegriff über den Impuls bzw. Impulsänderung einzuführen, anstatt über F = m . a. Jungs Argumente sind außerdem, dass man bei: F . dt = dp die zweite Ableitung vermeidet und dass für Schüler der Ausdruck „Kraftstoß“ im Rahmen ihrer Alltagsvorstellungen sinnvoll ist. 2. Wie Stegmüller (1970) ausführt, ist die Einfachheit einer physikalischen Theorie nicht nur durch deren Komponenten bedingt, sondern auch durch protophysikalische Annahmen und pragmatische Einstellungen der Wissenschaftler. Stegmüller erläutert dies an einem physikhistorischen Beispiel:
„Einfachheit“ von physikakalischen Begriffen und Theorien
748 603 604 605 606 607 608 609 610 611 612 613 614 615 616 617 618 619 620 621 622 623 624 625 626 627 628 629 630 631 632 633 634 635 636 637 638 639 640 641 642 643 644 645
Historisches Beispiel
23 Modellbegriff und Modellbildung in der Physikdidaktik Einstein und Poincare hatten unterschiedliche Auffassungen über die Einfachheit einer physikalischen Theorie und kamen dadurch zu unterschiedlichen Lösungen beziehungsweise Ideen für Lösungen. Poincare: Diese einfachste physikalische Theorie muss auf der euklidischen Geometrie beruhen, weil sie die „einfachste“ Geometrie ist, so Poincare: Ihr Krümmungsmaß ist null. Stegmüller (1970, 160) bezeichnet es als „Ironie der Geschichte“, dass schon wenige Jahre nach Poincares Postulat Einstein eine Theorie entwickelte, die nicht-euklidische Struktur besitzt. Für die neue Theorie Einsteins hätte ein Festhalten an der euklidischen Geometrie zur Folge, dass alle physikalischen Gesetze der Mechanik und der Optik geändert werden müssen. Anstatt aber die physikalischen Gesetze zu komplizieren, zog es Einstein vor, lieber die euklidische Struktur zu ändern und die einfachen Gesetze beizubehalten. Für die Handhabung der physikalischen Theorien ist die Einfachheit des physikalischen Gesamtsystems zweckmäßiger als die Einfachheit der zugrundeliegenden Geometrie.
„Einfachheit“ in der Physikdidaktik
3. Versuchen wir diese Erörterungen auf die Physikdidaktik zu übertragen, so sind folgende Gesichtspunkte bei der Beurteilung der Einfachheit eines physikalischen Begriffs bzw. eines physikalischen Modells zu berücksichtigen: 1. Die Anzahl der Begriffe und die Art ihrer Verknüpfung in einem Modell (Theorie), 2. die Stellung eines Begriffs oder eines Modells innerhalb einer allgemeinen Theorie (zum Beispiel Grundbegriff oder abgeleiteter Begriff), 3. die Zugänglichkeit durch einen Messvorgang (empirische Überprüfung), 4. die leichte DarsteIlbarkeit und Handhabbarkeit des Gesamtsystems Physik (Chemie, Biologie), 5. der Verzicht auf die zusätzliche Einführung von „Naturgesetzen“. Diese Gesichtspunkte betreffen vor allem die Relation M - O. Die Einfachheit eines Modells kann auch die Folge eines Übungseffekts sein, d.h., diese Eigenschaft hängt von der Häufigkeit der Benutzung eines bestimmten Modells ab. Es ist anzunehmen, dass müheloses und rasches Lernen, dann erfolgt, wenn ein neues Modell große Ähnlichkeiten mit den inneren Strukturen der Schüler (zum Beispiel den Alltagsvorstellungen) aufweist.
23.3 Eigenschaften von Modellen 646 647 648 649 650 651 652 653 654 655 656 657 658 659 660 661 662 663 664 665 666 667 668 669 670 671 672 673 674 675 676 677 678 679 680 681 682 683 684 685 686 687 688
4. Wenn gegenständliche Modelle anstelle des Lernobjekts im Unterricht eingesetzt werden bedeutet „Einfachheit“ einerseits Verzicht auf überflüssige Elemente, Eigenschaften und Funktionen im Hinblick auf Lernziele und andererseits sinnlich wahrnehmbare Hervorhebung der schulisch relevanten Aspkte eines Modells.
23.3.3 Transparenz von Modellen Die Transparenz eines Modells betrifft die Relationen M – S und M 0 gleichermaßen. „Transparenz“ ist beides, ein Relationsprädikat und eine potentielle Eigenschaft von Modellen. Bei einem transparenten Modell ist also zweierlei zu beachten: 1. Die kognitive Struktur des Subjekts muss klar und eindeutig sein (Ausubel 1974, 137), damit das Modell diesem Subjekt transparent erscheinen kann. Ist die kognitive Struktur unklar und diffus, dann nützt auch ein klares durchsichtiges Modell wenig. 2. Die Transparenz eines Modells hängt von der Struktur ab, die durch die Begriffe gebildet wird. Das gilt auch für die Art der Repräsentation der Begriffe und ihrer Zusammenhänge. So kann etwa die Transparenz eines Modells durch Blockdiagramme oder Pfeildiagramme erhöht werden, wie die Beispiele von Niedderer u.a. (1975, 100), Manthei (1977) und Bruner (1970, 195) zeigen. Beispielsweise kann die Darstellung einer Verstärkerstufe transparenter werden, wenn folgende Strukturierung einiger wesentlicher Begriffe über Verstärkung etwa durch ein Blockdiagramm erfolgt:
Abb. 23.4: Verstärkerstufe, dargestellt als Blockdiagramm Bei einem transparenten Modell werden relevante Elemente hervorgehoben. Außerdem wird auf die Darstellung unwesentlicher Elemente verzichtet. Bedeutung für den Schüler entsteht dabei nicht nur durch die Existenz dieser relevanten Elemente in einem Modell, sondern zusätzlich durch visuelle Hervorhebungen, durch Farbe oder Form oder durch die Möglichkeit, mit den betreffenden Modellen handelnd umzugehen und zu experimentieren. Die beispielsweise über Lehrmittelfirmen verfügbaren gegenständlichen Modelle und
749
„Einfachheit“ gegenständlicher Modelle
750 732 689 690 733 691 734 692 735 693 736 694 737 695 738 696 739 697 740 698 741 699 742 700 743 701 744 702 745 703 746 704 747 705 748 706 749 707 750 708 751 709 752 710 753 711 754 712 755 713 756 714 757 715 758 716 759 717 760 718 761 719 762 720 763 721 764 722 765 723 766 724 767 725 768 726 769 727 770 728 771 729 772 730 773 731 774
23 Modellbegriff und Modellbildung in der Physikdidaktik bildhaften oder symbolischen Darstellungen sind in dieser Betrachtung implizite Versuche, Theorien bzw. bestimmte Aspekte von Theorien als transparente Modelle darzustellen.
Über Lernwirksamkeit wenig bekannt
Trotz der Vielfalt an struktur-, funktions- und gestaltähnlichen Modellen ist über deren Lernwirksamkeit wenig bekannt. Neben dem Defizit an entsprechenden empirischen Untersuchungen besteht das unterrichtspraktische Problem, dass transparente Darstellungen theoretischer Modelle spontan in Form von „verständlichen Erklärungen“ von dem Lehrer entwickelt werden müssen. Nach den bisherigen Erörterungen sollen sich solche „ad hoc-Modelle“ auf das Bedeutsame, den „Kern der Sache“ konzentrieren, an das Vorwissen der Schüler anknüpfen und z.B. Ausubels methodischen Ratschlägen folgen. Noch geeigneter erscheint die genetisch-sokratische Methode, die durch die Erforschung von Schülervorstellungen grundsätzlich methodisierbar geworden ist. Diese Methode ist dann nicht mehr wie bisher, vorwiegend dem „geborenen Erzieher“ vorbehalten, der die Schülervorstellungen über einen Sachverhalt intuitiv erahnt, adäquat reagiert und spezifische Lernprozesse initiiert. Man kann von der künftigen Physiklehrerausbildung erwarten, dass wesentliche Schülervorstellungen der Schulphysik und Möglichkeiten vermittelt werden, wie mit diesen Vorstellungen umzugehen ist.
23.3.4 Vertrautheit von Modellen Während die bisher diskutierten Eigenschaften von Modellen sowohl die Relation M - 0 als auch die Relation M - S betreffen, hängt die Vertrautheit eines Modells nur von spezifischen Beziehungen zum Modellsubjekt ab. Die Bedeutung von „Vertrautheit“ ist insofern disjunktiv zu den zuvor erörterten Attributen, als ein unanschauliches, komplexes, diffuses Modell trotzdem vertraut sein kann und auch das inverse gilt. Demgegenüber überschneiden sich teilweise die Bedeutungen von „Anschaulichkeit“, „Einfachheit“ und „Transparenz“. Vertrautheit eines Modells: kognitive und affektive Aspekte
Die Vertrautheit eines Modells setzt voraus, dass die kognitive Struktur im wesentlichen stabil ist. Nach der Theorie Ausubels bedeutet das: Die Stabilität der kognitiven Struktur ist ebenso wie deren Klarheit eine Voraussetzung für sinnvolles Lernen (vgl. Ausubel 1974, 134 f.). Wenn die kognitive Struktur im Wesentlichen stabil ist, wird bei einer erneuten Benutzung eines Modells dieses wiedererkannt und unter Umständen als vertraut empfunden. Die Einschränkung „unter Umständen“ bezieht sich darauf, dass die Ver-
23.3 Eigenschaften von Modellen 775 776 777 778 779 780 781 782 783 784 785 786 787 788 789 790 791 792 793 794 795 796 797 798 799 800 801 802 803 804 805 806 807 808 809 810 811 812 813 814 815 816 817
751
trautheit eines Modells wahrscheinlich nicht nur kognitive, sondern auch affektive Komponenten enthält. So kann man vermuten, dass ein Modell als besonders vertraut empfunden wird, wenn zusätzliche emotionale Beziehungen zwischen Modell und Subjekt bestehen. Da der Begriff „Vertrautheit“ nur deskriptiv verwendet wird, ist es schwierig, ihn präziser zu charakterisieren. In pädagogischen Erörterungen lässt sich allerdings nicht vermeiden, auf diesen Begriff zurückzugreifen, da dessen Bedeutung durch keinen der bisher erläuterten Begriffe vollständig ersetzt wird.
23.3.5 Produktivität von Modellen 1. Wenn ein Wissenschaftler ein Modell als „produktiv“ („fruchtbar“) charakterisiert, hofft er mit diesem Modell noch weitere Objekte erforschen und erklären zu können. Formaler formuliert: Die Attribute und Relationen des „fruchtbaren“ Modells M treffen hypothetisch auf mindestens ein weiteres Objekt zu. Darüber hinaus wenden auch verschiedene Fachdisziplinen ein als „fruchtbar“ vermutetes Modell - etwa die „Chaostheorie“ - auf die jeweiligen Forschungsobjekte an. Die Flexibilität der naturwissenschaftlichen Forschung bringt es mit sich, dass schon ähnliche Attribute eines Modells (verglichen mit den Attributen des Objekts) für eine fruchtbare Verwendung genügen können. Die zu erwartende Produktivität eines theoretischen Modells ist für den Naturwissenschaftler ein wesentlicher Gesichtspunkt, sich mit diesem näher zu befassen, damit zu arbeiten.
Betrifft die Produktivität von Modellen die Physik und den Physikunterricht gleichermaßen?
In der Physik bezieht sich die Produktivität eines theoretischen Modells einerseits auf die technischen Anwendungsmöglichkeiten, auf künftige physikalisch-technische Verfahren, andererseits auf den Ausbau und Erweiterung von Theorien. Führt ein Modell gar zum Paradigmawechsel, wie z.B. vor hundert Jahren die spezielle Relativitätstheorie, hat ein solches fruchtbares Modells die Uminterpretation weiter Bereiche der Physik zur Folge. 2. Im Physikunterricht wird selbstverständlich beabsichtigt, dass alle verwendeten Modellen „fruchtbar“ sind. Dies zeigt sich insbesondere in den (theoretischen) physikalischen Modellen, die ein sogenanntes Spiralcurriculum bilden, das vielen Lehrplänen zugrundeliegt. Die Modelle werden so ausgewählt, dass sie wesentliche Züge der Physik repräsentieren, z.B. das Teilchenmodell. Sie werden im Laufe der Schulzeit mehrmals, aber in immer differenzierterer und komplexerer Darstellung behandelt. Das geschieht in der Absicht, dadurch langfristig eine relevante Wissensstruktur im Schüler entstehen zu
Fruchtbare Modelle im Physikunterricht
752 818 819 820 821 822 823 824 825 826 827 828 829 830 831 832 833 834 835 836 837 838 839 840 841 842 843 844 845 846 847 848 849 850 851 852 853 854 855 856 857 858 859 860
23 Modellbegriff und Modellbildung in der Physikdidaktik lassen, sie mit diesen Produkten der kulturellen Evolution vertraut zu machen.
Schüler erkennen die Fruchtbarkeit der Modelle der Schulphysik nicht
Das eher geringe Interesse der Schüler an der Physik und der eher bescheidene Erfolg des Physikunterrichts im Hinblick auf obiges Ziel, deutet an, dass Schüler diese immanente Fruchtbarkeit der Modelle der Schulphysik nicht erkennen oder ganz andere Kriterien für die Beurteilung dieser Modelle verwenden. Auch die für die Wissenschaft wichtigen Aspekte eines fruchtbaren Modells spielen in der Praxis des Physikunterrichts eine geringe Rolle: Da physikalische Gesetze häufig isoliert im Unterricht behandelt werden, ist damit kaum der Kern der entsprechenden physikalischen Theorie zu berühren. So tragen diese Gesetze auch wenig zum Verständnis der Theorie und des dahinter stehenden physikalischen Weltbildes bei: Vernetzung ist notwendig. Ist ein wissenschaftliches Modell Ursache eines Paradigmawechsels, wird die Fruchtbarkeit des Modells offensichtlich. Doch dieser spektakuläre Fall kommt im Unterricht kaum vor. Nach den bisherigen Untersuchungen sind die mit der Alltagswelt zusammenhängenden Vorstellungen sehr resistent. Sie werden meist nicht für die angebotene physikalische Sichtweise aufgegeben, sondern behindern das Lernen und Verstehen der Physik während der Schulzeit und darüber hinaus. Es könnte sein, daß das Lernziel „Übernahme der wesentlichen physikalischen Vorstellungen (Modelle, Gesetze, Theorien) und Methoden“ sich für viele Schüler als zu anspruchsvoll erweist.
23.3.6 Bedeutsamkeit von Modellen 1. Aus pädagogisch-psychologischer Sicht hängt die Bedeutsamkeit eines Begriffs oder eines Objekts nicht nur vom kognitiven System, sondern auch von Interessen und Einstellungen, von internen Wertesystemen, von intrinsischer und extrinsischer Motivation des Subjekts ab. 2. Das Problem: Das kognitive System bildet in der biologischen Deutung Roths (1987) ein selbstreferentielles, autonomes, dynamisches, aber nicht isoliertes System, das jedoch Bedeutungen von Begriffen ändern kann und ständig ändert. Daher kann der Lehrer höchstens versuchen, das kognitive System des Schülers zu beeinflussen, steuern kann er es nicht. Denn um ein kognitives System zu steuern, müsste der Lehrer etwa über folgendes Wissen verfügen:
23.4 Funktionen von Modellen 861 862 863 864 865 866 867 868 869 870 871 872 873 874 875 876 877 878 879 880 881 882 883 884 885 886 887 888 889 890 891 892 893 894 895 896 897 898 899 900 901 902 903
,,1. Dynamizität des Gehirns. 2. vollständige Kenntnis des Zustands des Gehirns unmittelbar vor der Beeinflussung. Beides ist bei Gehirnen wie den menschlichen nicht nur praktisch, sondern auch theoretisch unmöglich" (Roth 1987, 274). Nur wenn gleichartige oder ähnliche Erfahrungen vorliegen oder im Unterricht gemacht werden, kann der Lehrer hoffen, damit die Schüler wenigstens mittelbar zu beeinflussen. Gefragt sind einfühlsame Lehrer, die fachlich inadäquate Vorstellungen der Schüler entdecken und die entsprechende, aus der Sicht des Schülers bedeutsame Informationen präsentieren können. Der Konstruktivismus verweist darauf, dass im Grunde die Bedeutsamkeit von Informationen die entscheidende Bedingung für schulisches Lernen ist, wie weniger radikal und ausschließlich schon von Ausubel aufgrund schulpraktischer Erfahrungen argumentiert wurde. Wenn sich der Konstruktivismus als verschiedene Disziplinen integrierende Theorie bewährt, können die bisher erörterten Eigenschaften von Modellen präzisiert bzw. weitgehend ersetzt werden durch Aspekte der Bedeutsamkeit.
753 Wir verfügen nicht über das Wissen, um ein kognitives System zu steuern
Die Bedeutsamkeit von Informationen ist entscheidend für schulisches Lernen
3. Gegenwärtig werden die Schülervorstellungen und Denkschemata als wichtige Repräsentanten für interne Strukturen des menschlichen Gehirns aufgefasst. Einvernehmen besteht darüber, dass diese Strukturen in der Lehrerausbildung, in der Lehrerfortbildung und schließlich im Unterricht berücksichtigt werden sollen. Für den Physikunterricht haben im deutschen Sprachraum Duit (s. Kap. 18) und Niedderer & Schecker (2004) diesbezügliche Vorschläge gemacht.
23.4 Funktionen von Modellen Physikalische Modelle werden zur Erkenntnisgewinnung benutzt. Dabei sind zunächst zwei Fälle zu unterscheiden: Ist das Modell M bekannt, das Verhalten des Objekts 0 mehr oder weniger unbekannt, dann wird M dazu verwendet, um das Verhalten von 0 zu prognostizieren. Sind Merkmale des Objekts bekannt, werden Modelle gesucht, um 0 zu erklären. Diese beiden Funktionen von Modellen sind charakteristisch für Forschung und Lehre. Nicht nur im Physikunterricht werden Modelle darüber hinaus in lernökonomischer Funktion eingesetzt: Gewisse Sachverhalte können mit Hilfe von Modellen besser behalten, besser reproduziert, erfolgreicher angewendet, besser verstanden werden.
Funktionen: erklären voraussagen systematisieren
754 904 905 906 907 908 909 910 911 912 913 914 915 916 917 918 919 920 921 922 923 924 925 926 927 928 929 930 931 932 933 934 935 936 937 938 939 940 941 942 943 944 945 946
23 Modellbegriff und Modellbildung in der Physikdidaktik
23.4.1 Erklärungen durch Modelle „Erklärung“ wird in vielen Bedeutungen benutzt (vgl. Lenk 1972, 14); außerdem ist die Bedeutung in der Wissenschaftstheorie umstritten ist (Jung 1975, 162 ff.). 1. Erklären heißt nicht, „letzte“ Begründungen für ein Ereignis (Phänomen) zu geben. Das wäre nach kritisch-realistischer Auffassung auch nicht möglich. Es kann also bei Erklärungen nicht um „letzte“ Antworten auf Warum-Fragen gehen, etwa: Warum fällt der Stein zur Erde? Denn auf jede Antwort kann ein weiteres Warum folgen. Betrachtet man Erklärungen in der Physik und im Physikunterricht als Antworten auf Wie-Frage, so wird aus der obigen Warum-Frage ein: „Wie fällt der Stein zur Erde?“ Die Antwort: s = 1/2 gt2. Antworten auf Wie-Fragen genügen nicht
Erklärungen mit Hilfe von Tatsachen
Erklärungen sind globale Systemeigenschaften
Bei einer realistischen Grundeinstellung genügt diese Antwort nicht, sondern man würde bei einer Erklärung, das Gesetz ergänzend, zusätzlich ein allgemeines physikalisches Modell verwenden, in unserem Beispiel ein Modell über die Gravitation. Ein allgemeines physikalische Modell ist im Physikunterricht für eine Erklärung bedeutsamer als die Angabe eines physikalischen Gesetzes und zwar auf jeder Schulstufe der allgemeinbildenden Schulen. Und nach Auffassung Reschers (1987) muss auch in der Wissenschaft nach dem „Warum“ eines physikalischen Vorgangs weitergefragt werden: Der Verzicht auf einen ontologischen Bezug würde letztlich ein Zusammenbrechen der Wissenschaft nach sich ziehen (s. Rescher 1987, 140). Eine Warum-Frage braucht allerdings auch in realistischer Interpretation nicht immer in einem metaphysischen, das heißt hier ontologischen Sinne verstanden zu werden. Es kann einfach eine Bitte sein, „etwas zu erklären, indem wir es im Rahmen empirischer Gesetze betrachten“ (Carnap 1969, 20). Dabei sind nach Auffassungen Carnaps auch Erklärungen mit Hilfe von Tatsachen versteckte Erklärungen von Gesetzen. Einem Schüler der Sekundarstufe I kann man die Gravitation vermutlich nur als Tatsache darstellen, nicht auf dem Hintergrund der allgemeinen Relativitätstheorie. 2. Erklärungen sind keine lokalen Eigenschaften einzelner physikalischer Argumente, sondern globale Systemeigenschaften (siehe Schurz 1986, 84). Das heißt auch spezielle Erklärungen müssen auf deln Hintergrund allgemeiner physikalischer Modellvorstellungen und Theorien betrachtet werden. Das bedeutet, Spannung als Arbeit pro Ladung definiert, erklärt diesen Begriff noch nicht. Vielmehr
23.4 Funktionen von Modellen 947 948 949 950 951 952 953 954 955 956 957 958 959 960 961 962 963 964 965 966 967 968 969 970 971 972 973 974 975 976 977 978 979 980 981 982 983 984 985 986 987 988 989
755
muss bei einer Erklärung auch von Elektronen, Leitern und Nichtleitern, speziellen Gesetzen (wie dem ohschen), Messverfahren, vereinfachten physikalischen Interpretationen der Maxwellschen Gleichungen die Rede sein. 3. Wie oben dargestellt, genügt es im Physikunterricht nicht, eine Erklärung auf physikalische Gesetzmäßigkeiten zurückzuführen, die innerhalb eines begrifflichen Rahmens (einer Theorie) bestehen. Die zusätzliche Frage heißt: Verstehen die Schüler überhaupt die Erklärung in Form eines Gesetzes? Dabei wird man leicht darüber Einigung erzielen, dass etwa auf der Primarstufe zumindest keine quantitativen Gesetzmäßigkeiten von der Art des obigen Beispiels gemeint sein können. Auch auf der Sekundarstufe I wird man sich im Allgemeinen auf mathematisch einfache Zusammenhänge (Proportionalität zwischen physikalischen Begriffen beziehungsweise umgekehrte Proportionalität) und auf einen anschaulichen begrifflichen Rahmen beschränken müssen. Aber auch mit solchen Gesetzen ist man weit von der modernen Physik entfernt. Zu wissenschaftlichen und wissenschaftstheoretischen Gesichtspunkten einer Erklärung müssen psychologische und didaktische Kriterien hinzukommen. Jung (1975 169 ff.) hat auf folgenden Aspekt im Zusammenhang mit Erklärungen im physikalischen Unterricht aufmerksam gemacht: Einer Erklärung muss ein Erklärungsbedürfnis vorausgehen und diese besitzt nur dann einen Erklärungswert für das Individuum, wenn das Erklärungsbedürfnis befriedigt wird. 4. In der Fachdidaktik hängt „Erklären“ untrennbar mit „Verstehen“ zusammen. Dabei ist „Erklären-Verstehen“ nicht statisch zu interpretieren, weil sowohl die Verschiedenartigkeit der Individuen als auch die Verschiedenartigkeit eines Individuums zu verschiedenen Zeiten zu berücksichtigen ist. In der Physikdidaktik wird dieses Problem zu lösen versucht durch Elementarisieren und didaktisch Rekonstruieren (s. Kap. 3).
23.4.2 Prognosen durch Modelle 1. Der Begriff „Prognose“ wird im Sinne von: Anwendung naturwissenschaftlicher Gesetze zur Voraussage eines Ereignisses in der Zukunft verwendet. In umgangsprachlicher Bedeutung werden an „Prognosen“ auch subjektive Erwartungen geknüpft hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit, dass sie eintreffen. Diese Wahrscheinlichkeit hängt u.a. von den
Zusätzliche psychologische und didaktische Kriterien
Erklärung, Erklärungsbedürfnis, Erklärungswert
756 990 991 992 993 994 995 996 997 998 999 1000 1001 1002 1003 1004 1005 1006 1007 1008 1009 1010 1011 1012 1013 1014 1015 1016 1017 1018 1019 1020 1021 1022 1023 1024 1025 1026 1027 1028 1029 1030 1031 1032
Auch wissenschaftliche Prognosen unterscheiden sich beträchtlich
23 Modellbegriff und Modellbildung in der Physikdidaktik verwendbaren Theorien ab, von Unschärfen, mit denen Theorien die Realität beschreiben und von der Bewährtheit der entsprechenden Theorie. Die Erwartungen hängen aber auch davon ab, in welcher Weise ein Problem als naturwissenschaftliche Frage eingegrenzt und formuliert werden kann, welche physikalischen, chemischen, biologischen Techniken für die Problemlösung eingesetzt werden sollen, welche Komplexität bei der Vernetzung verschiedenartiger Theorien und Techniken erreicht wird. Als Beispiel sei an Prognosen über Umweltfolgeschäden erinnert. Auch die wissenschaftlichen Prognosen für solche Beispiele unterscheiden sich beträchtlich – die Klientel erhält anscheinend die gewünschte Prognose. Das weist insgesamt auf die gegenwärtig geringe Prognostizierbarkeit komplexer Systeme über einen längeren Zeitraum hin und darauf, dass die gleichen Daten im Lichte verschiedener Theorien unterschiedlich interpretiert werden und dadurch Verschiedenes bedeuten können. Wenn über die fachdisziplinären Aspekte hinaus Gesichtspunkte, wie der ökonomische Aufwand und die Berücksichtigung ethischer Normen, den Wert einer Prognose ausmachen, wird das zur Charakterisierung von Prognosen verwendete Begriffspaar "wahrscheinlich - unwahrscheinlich" ergänzt durch "relevant - irrelevant" oder "sinnvoll - unsinnig". „Unsinnige“ Prognosen - weil ohne wissenschaftliche und gesellschaftliche Relevanz, entstehen insbesondere durch zu enge Anwendung naturwissenschaftlicher Gesetze und Prinzipien und durch den Ausschluss humaner Aspekte. 2. Wenn Begriffe wie „technischer Fortschritt“ oder „Fortschrittsgläubigkeit“ im Physikunterricht thematisiert und von wissenschaftlichen, wissenschaftstheoretischen, wissenschaftsethischen Grundlagen her verstanden werden sollen, spielen konkrete Beispiele für die obigen Begriffspaare eine wichtige Rolle. In unserer hochtechnisierten Welt besteht an Zukunftsprojekten und Zukunftsproblemen kein Mangel (z.B. „Weltraumfahrt“, „Gentechnologie“, „Umweltschutz“). Hierzu z.B. die Fragen: Welche Konsequenzen hat der begrenzte Blick in die Zukunft für die Wissenschaft, für die Gesellschaft, für den Alltag? 3. Der traditionelle Physikunterricht ist so angelegt, daß Erklärungen den Schwerpunkt bilden. Das erscheint weiterhin sinnvoll, denn Kinder leben eher im Augenblick als in der Zukunft. Pädagogen warnen davor, den Unterricht durch den Kindern fremde Probleme der Elwachsenenwelt allseitig zu verzwecken. Allerdings werden Technik und Technikfolgen mit Sicherheit die Kinder, die künftigen Erwachsenen tangieren. Jonas' Prinzip Verantwortung (s. Jonas 1984) braucht nicht nur den nachdenklichen Blick in die Zukunft, sondern erfordert das allgemeine Lernziel „Disposition Verantwortung“ in
23.4 Funktionen von Modellen 1033 1034 1035 1036 1037 1038 1039 1040 1041 1042 1043 1044 1045 1046 1047 1048 1049 1050 1051 1052 1053 1054 1055 1056 1057 1058 1059 1060 1061 1062 1063 1064 1065 1066 1067 1068 1069 1070 1071 1072 1073 1074 1075
757
der Gegenwart. Für die Realisierung dieses Lernziels ist insbesondere der naturwissenschaftliche Unterricht aufgerufen, indem er neben dem Erwerb relevanten Wissens Beispiele für verantwortungsvolles Handeln „im Kleinen“ ermöglicht.
23.4.3 Lernen durch Modelle Die lernökonon1ische Funktion von .Modellen betrifft deren Verwendung als Mittler im Lernprozess, als Medien. Die damit befassten speziellen und zusammenfassenden pädagogischen, physikdidqaktischen,lernpsychologischen, soziologischen Arbeiten über Medien können hier nicht referiert werden. Als wichtige Funktionen der Medien aufführt: • Steuerung kognitiver Lernleistungen • Motivation des Schülers für sinnvolles Lernen • Hilfen beim Üben und Wiederholen • Förderung der Transferleistungen • Förderung der Eigenaktivität und des produktiven Denkens (vgI. Döring 1971, 106 ff., s. auch Kap. 5 und 19). Heutzutage werden Medien differenzierter betrachtet (Kap. 5 und Kap. 19). Seel (1986, 385) weist darauf hin, daß „die Art und Weise der Problemdarbietung eine besondere Rolle“ spielt, dass zum Beispiel grafische Darstellungen effizienter als verbale Informationen sein können. Dies hängt allerdings auch ganz wesentlich davon ab, ob damit adäquate Vorstellungsbilder (mentale Modelle) entwickelt werden und welche Bedeutung diese Lernobjekte für die Lernenden haben (siehe Seel 1986, 389 ff.; Mandl& Spada 1988, 112 ff.). Wegen der Komplexität des Forschungsfeldes „Unterricht“ und des Fehlens entsprechender bewährter umfassender Lerntheorien können solche auf den Einsatz spezieller Medien zurückzuführenden Effekte derzeit noch nicht überzeugend nachgewiesen werden (Seel 1986, 389 f.) Bei speziellen Lernzielen des Physikunterrichts stellten Thornton & Sokoloff (1990), Heuer (1996), Wilhelm (2005) dann positive Effekte fest, wenn Messungen mit dem Computer durchgeführt, ausgewertet und grafisch dargestellt wurden.
Nachdenklicher Blick in die Zukunft
758 1076 1077 1078 1079 1080 1081 1082 1083 1084 1085 1086 1087 1088 1089 1090 1091 1092 1093 1094 1095 1096 1097 1098 1099 1100 1101 1102 1103 1104 1105 1106 1107 1108 1109 1110 1111 1112 1113 1114 1115 1116 1117 1118
23 Modellbegriff und Modellbildung in der Physikdidaktik 2. Schon die hier skizzierten Lerntheorien sprechen den Medien unterschiedliche Bedeutung zu: Prägnant wird die Bedeutung von Medien in Bruners Theorie formuliert. In Ausubels Theorie kommen Medien nur implizit vor, wenn etwa die Forderung nach maximaler Klarheit und Transparenz der Vorausorganisatoren (advance organizers) erhoben wird. Die konstruktivistische Theorie ist derzeit noch mit Grundlagenfragen befasst, so dass spezielle Anwendungen der Theorie, wie die Anwendung auf die Medienfrage, bisher nicht ausgearbeitet sind. In einer konstruktivistischen Wahrnehmungs- und Denktheorie dürfte die Bedeutung von Medien in erster Näherung eher gering eingeschätzt werden, wegen der relativen Autonomie des kognitiven Systems. Man kann sich aber auch vorstellen, daß externe Informationen als Schlüsselreize fungieren können, die das kognitive System „in Gang setzen“. Medien sind auch im Gefolge dieser Theorie ein wichtiges Forschungsgebiet der empirischen Pädagogik und der Fachdidaktiken. Gegenwärtig ist die Frage der Lernökonomie durch Modelle (Medien) im Physikunterricht nicht pauschal zu beantworten; sie ist sowohl von den lerntheoretischen Grundlagen her als auch von der empirischen Feldforschung in den Schulen noch als offen zu betrachten. Wird allerdings der Modellbegriff und das Modelldenken im Unterricht thematisiert (s. Mikelskis-Seifert (2002); Leisner (2005)) können Schüler der Sekundarststufe I zu einem angemessenen Modellverständnis gelangen und (theoretische) Modelle signifikant besser anwenden.
23.5 Klassifikation von Modellen Die Vielfalt an Ausdrücken im Zusammenhang mit dem Modellbegriff führte zu einer ganze Reihe von Vorschlägen zur Klassifikation von Modellen (s. Kircher 1995, 136 ff.). Im Folgenden wird eine deskriptive Klassifikation für die Physikdidaktik vorgeschlagen und erläutert; sie orientiert sich an Stachowiak (1965 und 1973). Ein Modell wird nach den folgenden Gesichtspunkten klassifiziert: a) Wie ist das Modell realisiert? b) Welche Lernabsicht besteht hinsichtlich des Objekts? c) Wird das Modell für wissenschaftliche oder didaktische Zwecke benutzt? d) In welcher Fachdisziplin wird das Modell verwendet?
23.5 Klassifikation von Modellen 1119 1120 1121 1122 1123 1124 1125 1126 1127 1128 1129 1130 1131 1132 1133 1134 1135 1136 1137 1138 1139 1140 1141 1142 1143 1144 1145 1146 1147 1148 1149 1150 1151 1152 1153 1154 1155 1156 1157 1158 1159 1160 1161
759
Eine Übersicht wie ein Modell bezüglich dieser vier Klassifikationsaspekte realisiert sein kann gibt Abb. 23.5. Modell
Gegenständliches Modell i.w.S.
Theor. Modell i.w.S. (Modellvorstellung)
a) Realisierung Gegenständl. Mod. i.e.S.
Ikonisches Modell
Symbolisches Modell
b) Lernabsicht
Strukturmodell
Funktionsmodell
Gestalt
c) Nutzung Wissenschaft
Lehre
d) Fach
Naturwissen schaften
Sozialwissenschaften
Geisteswissenschaften
Abb. 23.5: Modellklassifikation Die „gegenständlichen Modelle im weiteren Sinne“ umfassen sowohl dreidimensionale Gegenstände (gegenständliche Modelle im engeren Sinne), zweidimensionale bildhafte Darstellung (bildhafte (ikonische) Modelle) und symbolische Darstellungen (symbolische Modelle. Um die Abbildung übersichtlich zu belassen, wurde hier beispielhaft nur eine der vielfältigen Beziehungen zwischen den vier Klassifikationsaspekten durch Pfeile dargestellt.
760 1162 1163 1164 1165 1166 1167 1168 1169 1170 1171 1172 1173 1174 1175 1176 1177 1178 1179 1180 1181 1182 1183 1184 1185 1186 1187 1188 1189 1190 1191 1192 1193 1194 1195 1196 1197 1198 1199 1200 1201 1202 1203 1204
23 Modellbegriff und Modellbildung in der Physikdidaktik Insbesondere für die Physikdidaktik ist eine weitere Differenzierung der „theoretischen Modelle“ notwendig: Modellvorstellungen
Theorie, theoret. Mod.i.e.S.
Hypothese
Erklärung
Voraussage
Fiktive Vorstellung
Symbol. Darstellung
Semiotische Darstellung
Semantische Darstellung
Sprachliche Darstellung
Mathemat. Darstellung
Abb. 23.6: Klassifikation von Modellvorstellungen („Theoretischen Modellen i.w. S.“) „Modellvorstellungen“ sind hier gleichbedeutend mit „Theoretischen Modellen im weiteren Sinne“. „Modellvorstellungen“ umfassen „wissenschaftlicheTheorien“ (theoretische Modelle im engeren Sinne) „Hypothesen“, „Erklärungen“, „Voraussagen“, aber auch vorläufige Vorstellungen von Schülern, etwa über die Entstehung des Regenbogens oder fiktive Vorstellungen über zweidimensionale Wesen in einer zweidimensionalen Welt. Auch die Idealisierungen und Abstraktionen der Physik gehören dazu, - der „Massepunkt“, die „Feldlinien“, „Magnetpole“ - und natürlich auch die vorläufigen Vorstellungen von Wissenschaftlern und Laien. Sie können gegenständlich, ikonisch oder bildhaft dargestellt werden. Die wichtigste Art der Darstellung von theoretischen Modellen (im weiteren Sinne) ist die symbolische. Die symbolische Darstellung
Literatur
761
kann semiotisch sein, also aus Zeichen aller Art bestehen. Die symbolische Darstellung kann auch semantisch sein. Die semantischen Modelle sind weiter unterteilt in semantisch-sprachliche und mathematische Modelle (s. Abb. 23.6).
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23 Modellbegriff und Modellbildung in der Physikdidaktik
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1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43
Ernst Kircher
24 Über die Natur der Naturwissenschaften lernen Der Aufsatz beschäftigt sich mit Wesenszügen der Naturwissenschaften, mit der „Natur der Naturwissenschaften“ wie z. B. der Methodologie und der Entwicklung der Naturwissenschaften, im speziellen der Physik. Seit fast 100 Jahren wird gefordert, diesen philosophischen Hintergrund im naturwissenschaftlichen Unterricht zu thematisieren. Neben allgemeinbildenden Argumenten wird dies neuerdings auch lernpsychologisch begründet (s. Kap. 1.2.2) Zunächst wird ein Überblick über erkenntnistheoretische, wissenschaftstheoretische, wissenschaftsethische Ziele gegeben (24.1). In den Abschnitten 24.2, 24.3 wird die physikalische bzw. die naturwissenschaftliche Methodologie, insbesondere die Theoriebildung diskutiert und erläutert. Dazu werden wissenschaftstheoretische und wissenschaftshistorische Arbeiten herangezogen. Wissenschaftstheoretische Überlegungen zur Methodologie der Naturwissenschaften sind für die Naturwissenschaftsdidaktik/ Physikdidaktik in verschiedener Hinsicht relevant: Die naturwissenschaftliche Methodologie ist sowohl ein inhaltliches Element des Physikunterrichts als auch eine Grundlage für wissenschaftstheoretische Reflexionen „über Physik“ bzw. „über die Natur der Naturwissenschaften“. Die Arbeiten z. B. Kuhns, Feyerabends und Lakatos’ machen deutlich, dass die traditionellen Darstellungen der naturwissenschaftlichen Methodologie, die sogenannte induktive und die deduktive Methode unzureichend sind (s. 24.2.). Die an der Wissenschaftsgeschichte orientierten Darstellungen dieser Wissenschaftsphilosophien (s. 24.3) relativieren unter anderem die überragende Bedeutung des Experiments für die Entwicklung der Physik und geben eine neue Sicht auf die Entwicklung von Theorien. In einem möglicherweise lange dauernden Prozess sind es letztendlich die empirischen Daten, die in den Naturwissenschaften das „letzte Wort“ über eine Theorie haben, weil sie „Spuren der Realität“ enthalten. Diese Auffassung wird als „kritischer“ Realismus (Bunge 1973) bzw. „hypothetischer“ Realismus (Vollmer 1988) bezeichnet. Darstellungen über die Theorie- bzw. Modellbildung (24.4) thematisieren u.a. auch das weiterhin wichtigste Medium des Physikunterrichts, das Experiment: Es ist Medium, Lernobjekt und ein grundlegender Baustein der naturwissenschaftlichen Methodologie.
Kann die naturwissenschaftliche Forschungsmethode Vorbild für die Unterrichtsmethode sein?
764 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81 82 83 84 85 86
24 Über die Natur der Naturwissenschaften lernen
24.1 Über die Natur der Naturwissenschaften lernen – Ziele und Inhalte 24.1.1 Naturwissenschaften und Wirklichkeit Erkenntnistheoretische Probleme
Erkenntnistheoretische Fragen
1. Vor allem in Zeiten von naturwissenschaftlichen Revolutionen, die das bestehende naturwissenschaftliche Weltbild ändern, wird nicht nur von Philosophen, sondern auch von Naturwissenschaftlern insbesondere von Physikern nach dem Verhältnis von Physik und Metaphysik gefragt: Wie verhalten sich die von den Physikern entworfenen „Bilder“ zu den Dingen, die diese Bilder darstellen sollen? Was ist ein „Ding“, was ein physikalisches Objekt? Sind physikalische Theorien Abbilder der Wirklichkeit? Können wir die Wirklichkeit überhaupt erkennen? Sind die entworfenen Bilder nur Metaphern, weil das „Ding an sich“ grundsätzlich unerkennbar bleibt? „Was ist die Wahrheit der Physik?“ fragt nicht nur v. Weizsäcker (1988, 15). Die Philosophiegeschichte ist voller heterogener, sich zum Teil widersprechender Antworten auf solche Fragen. Ist damit die Geschichte der Philosophie ein notwendiger erkenntnistheoretischer Bestandteil von „Über die Natur der Naturwissenschaften lernen“? Die Frage ist eher mit nein zu beantworten; wichtiger ist die Geschichte der Naturwissenschaften (s. Höttecke 2001). 2. Bevor ich auf Gesichtspunkte für die Auswahl von derzeit didaktisch sinnvollen Erkenntnistheorien eingehe, werden zunächst zwei Fragenkomplexe formuliert:
Naturwissenschaftlicher Fragenkomplex
- Naturwissenschaftlicher Fragenkomplex: Gibt es Erkenntnistheorien, die in der Geschichte der neuzeitlichen Naturwissenschaften eine besondere Rolle gespielt haben? Gibt es einen Zusammenhang zwischen Problemen (z.B.) der modernen Physik und diesen Erkenntnistheorien, etwa bei der Interpretation der Quantentheorie? Sind naturwissenschaftliche Theorien wahr?
Didaktischer Fragenkomplex
- Didaktischer Fragenkomplex: Welche Ziele werden mit erkenntnistheoretischen Aspekten im naturwissenschaftlichen Unterricht verfolgt? Kann man im Unterricht erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Fragen sinnvoll trennen? Kann man sich auf nur eine Erkenntnistheorie beschränken? Welche Rolle spielen hermeneutische Verfahren? Was bedeutet „Naturwissenschaften verstehen“ im Lichte verschiedener Erkenntnistheorien? Ist „über die Natur der Naturwissenschaften lernen“ auf die gymnasiale Oberstufe beschränkt?
24.1 Über die Natur der Naturwissenschaften lernen – Ziele und Inhalte 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 100 101 102 103 104 105 106 107 108 109 110 111 112 113 114 115 116 117 118 119 120 121 122 123 124 125 126 127 128 129
3. Um auf die im ersten Fragenkomplex aufgeworfenen Probleme etwas näher einzugehen, sei ein „Sprung“ ins philosophische „Wasser“ gewagt durch die Behauptung, dass der Realismus und der Pragmatismus (Instrumentalismus) die beiden wichtigsten Erkenntnistheorien sind, die sich Seite an Seite mit den Naturwissenschaften und durch die Naturwissenschaften entwickelt haben (s. auch Driver 1996). Innerhalb der Philosophie liegen diese allerdings in permanentem Streit. Ein Streitpunkt ist die Frage: Sind naturwissenschaftliche Theorien wahr? Die Antworten des modernen Realismus (s. Vollmer 19874; Putnam 1993) gehen davon aus, dass sich naturwissenschaftliche Theorien immer mehr der „Wahrheit“ nähern, ohne aber dieses Ziel jemals zu erreichen. Denn es gibt kein Kriterium weder für „Wahrheit“ noch für „Wahrheitsnähe“.
765
Realismus und Pragmatismus sind die wichtigsten Erkenntnistheorien
Die Pragmatisten (Instrumentalisten und Konstruktivisten) halten die Frage nach der Wahrheit für sinnlos: Man beschäftigt sich lieber mit dem Nutzen der Naturwissenschaften für den Einzelnen und die Gesellschaft (s. z.B. Dewey 19643). Außerdem ist nach instrumentalistischer Auffassung die „Wahrheit“ der Naturwissenschaften eher gemacht als „dort draußen“ (Rorty 1992, 23 f.). 4. Bei diesen Problemen sind keine Entscheidungen in Sicht: „Die Natur der Wahrheit ist eine ewige Frage“ (Putnam 1993, 153). Daher geht es im Unterricht um Argumente, um Für und Wider, um Interpretationen, nicht um die „wahre“ Erkenntnistheorie. Es ist außerdem aufzuzeigen, dass erkenntnistheoretische Probleme auch in der modernen Physik auftraten und vermutlich auftreten werden (s. Falkenburg 2006). Ein Beispiel ist die Interpretation der Kopenhagener Deutung der Quantentheorie, die Einstein aufgrund seiner realistischen Auffassung nicht akzeptierte. Seine Einwände, die er durch einen Gedankenversuch (EPR– Paradoxon) formulierte, beeinflusst die Interpretation der Quantentheorie bis auf den heutigen Tag. 5. Natürlich können solche auch physikalisch sehr schwierigen Themen wie die Quantentheorie vor allem in der Sekundarstufe II philosophisch reflektiert werden (s. Fischler 1992). Philosophische Aspekte haben aber nicht nur im Physikunterricht der gymnasialen Oberstufe einen Platz (s. Höttecke 2008a). Neuerdings befassen sich Untersuchungen damit, wie weit erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Aspekte bereits in der Primarstufe an physikalischen, chemischen, biologischen Inhalten unterrichtet werden können (s. Sodian u.a. 2002; Grygier u.a. 2004; Hößle u.a. 2004). Daher ist die Vision für die Zukunft ein Spiralcurriculum „Über die Natur der Naturwissenschaften lernen“, das bereits in der Grundschule beginnt.
Spiralcurriculum: „Über die Natur der Naturwissenschaften lernen“
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24 Über die Natur der Naturwissenschaften lernen
Naturwissenschaftsdidaktische Auffassungen und Ziele Leitideen und Meinungen 1. Relevante Erkenntnistheorien sollen im Rahmen eines Konsensbildungsverfahrens für die Lehrerbildung und für den naturwissenschaftlichen Unterricht vorgeschlagen, nicht vorgeschrieben werden. 2. Die ausgewählten wissenschaftshistorischen und philosophischen Beispiele sollen zu den Naturwissenschaften zurück führen und nicht immer tiefer in die Wissenschaftsgeschichte und Philosophie hinein. 3. Erkenntnistheoretische Fragen sollen auf dem Hintergrund solcher Erkenntnistheorien diskutiert werden, die für die Entwicklung der neuzeitlichen/ modernen Naturwissenschaften relevant waren/ sind. 4. Der moderne Realismus (z.B. Vollmer 19874; Putnam 1993) widerspiegelt die europäische Tradition der zweckfreien Forschung, d.h. Forschung, um die Realität zu erklären und zu verstehen. 5. Der moderne Pragmatismus hebt den Nutzen der Naturwissenschaften für die Gesellschaft und für das Individuum hervor. 6. Realismus und Pragmatismus sind in der Naturwissenschaftsdidaktik als komplementäre Erkenntnistheorien aufzufassen. Erkenntnistheoretische Ziele im Unterricht Schülerinnen und Schüler verstehen, Erkenntnistheoretische Auffassungen beeinflussen naturwissenschaft liche Theorien
• dass sich erkenntnistheoretische Aspekte mit dem Verhältnis Naturwissenschaften und Wirklichkeit befassen.
Experimentelle Tatsachen haben eine hohen Stellenwert
• dass bei Entscheidungsprozessen innerhalb der Naturwissenschaften (Bestätigung oder Widerlegung einer Hypothese) experimentelle Tatsachen einen hohen Stellenwert haben, (insbesondere wenn durch verschiedene Messanordnungen und Messmethoden das gleiche experimentelle Resultat erzielt wird), aber Theorien weder endgültig beweisen noch widerlegen.
Naturwissenschaftliche Theorien sind prinzipiell vorläufig Prinzipielle Vorläufigkeit bedeutet keine methodische Willkür
• dass erkenntnistheoretische Auffassungen die Arbeit der Naturwissenschaftler und damit auch die Interpretation fundamentaler naturwissenschaftlicher Theorien beeinflussen;
• dass naturwissenschaftliche Theorien in einer bestimmten Epoche „im Wahren“ ihrer Disziplin sind. Sie sind daher prinzipiell vorläufig. • dass die prinzipielle Vorläufigkeit naturwissenschaftlicher Theorien keine Willkür bedeutet (und nur einen moderaten Relativismus impliziert, der mit der Kontingenz und Unbestimmtheit der
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Sprache und der empirischen Unterbestimmtheit naturwissenschaftlicher Theorien zusammenhängt). • dass durch die Naturwissenschaften gesicherte experimentelle Tatsachen hinreichen können, um grundlegende Erkenntnistheorien ( z. B. Realismus und Instrumentalismus) zu modifizieren und Anlass und wichtiges Argument für einen Paradigmawechsel in den Naturwissenschaften sein können. Auch solche wichtigen experimentellen Tatsachen können grundlegende naturwissenschaftliche Theorien und grundlegende Erkenntnistheorien weder endgültig beweisen noch endgültig widerlegen.
Paradigmawechsel in den Naturwissenschaften
• dass ihr eigenes Verständnis der Physik, Chemie oder Biologie von erkenntnistheoretischen Auffassungen beeinflusst wird. • dass erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Auffassungen nicht immer zu trennen sind (und dass z.B. aus instrumentalistischer Sicht erkenntnistheoretische Fragen irrelevant sind.)
24.1.2 Was sind Naturwissenschaften? Wissenschaftstheoretische Aspekte 1. Erkenntnistheoretische Aspekte befassen sich mit dem Verhältnis Wirklichkeit und Physik befassen. In vergleichbar allgemeiner und vereinfachender Weise kann man sagen, die Wissenschaftstheorie beschäftigt sich mit der Frage: Was sind Naturwissenschaften? Auf den ersten Blick unterscheiden sich Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie dadurch, dass bei wissenschaftstheoretischen Problemen die Metaphysik ausgeklammert ist: Man bezieht sich auf vorliegende von Menschen entworfene und unter Einbeziehung der „Antworten“ der Natur ausgearbeitete Konstrukte, nämlich die begriffliche und methodische Struktur der Physik, Chemie, Biologie. Die Wissenschaftstheorie analysiert die dafür verwendeten Begriffe, untersucht z.B. die Art der Erklärungen durch die Naturwissenschaften, untersucht deren Vorgehensweisen, unterscheidet Umgangssprache und Wissenschaftssprache. Durch die Antworten dieser „analytischen Wissenschaftstheorie“ (Stegmüller 1973) sollen auch die Naturwissenschaften verstehbar und kritisierbar werden. 2. Eine zweite wichtige Richtung der Wissenschaftstheorie befasst sich stärker mit der historischen Entwicklung der Naturwissenschaften. Dabei kommt der mühevolle Forschungsprozess, die Irrwege und Irrtümer in den Blick, nicht bloß die abgeschlossenen Theorien, die z. B. als Schulphysik bestimmten Lerngruppen vorgesetzt wer-
Wissenschaftstheorie analysiert die Naturwissenschaften
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Naturwissenschaftliche Weltbilder ändern
24 Über die Natur der Naturwissenschaften lernen den. Neben dem Bezug auf die Genese relevanter Theorien vor allem der Physik werden bei diesem Ansatz die damit einher gehenden Änderungen naturwissenschaftlicher Weltbilder und deren Einfluss auf die Gesellschaft deutlich, aber auch der Einfluss der Gesellschaft und der naturwissenschaftlichen Gemeinschaft auf Forscherpersönlichkeiten wie Galilei, Newton, Darwin, Einstein usw.. Durch die Beschäftigung mit der Geschichte der Naturwissenschaften wurde man auch auf Fragen aufmerksam wie: Sind die klassische Mechanik und die relativistische Mechanik vergleichbar? Wie ändert sich mit den Weltbildern die Bedeutung von physikalischen Begriffen wie „Raum“ und „Zeit“? Was bedeutet „wissenschaftlich“ bzw. „nichtwissenschaftlich“? Wie objektiv, wie subjektiv sind die Naturwissenschaften? Diese zuletzt aufgeführte Frage berührt natürlich auch die zuvor skizzierten erkenntnistheoretischen Probleme. Die hier nur grob umrissenen Fragen zur Geltung der Naturwissenschaften und zu deren Methodologie sind vor allem mit den Namen Popper (19766), Kuhn (19762), Feyerabend (1986) und Stegmüller (1973) verknüpft. Die Antworten dieser Wissenschaftsphilosophen unterscheiden sich allerdings signifikant etwa darin, wie Theorien einzuschätzen und zu prüfen sind und welche Rolle Experimente und die damit gewonnenen experimentellen Daten dabei spielen.
Wissenschaftstheorie macht Naturwissenschaften verständlich und bewusst
3. Da sich die Wissenschaftstheorie vorwiegend mit abgeschlossenen, nicht mit aktuellen Problemen der naturwissenschaftlichen Forschung befasst, hat sie kaum Einfluss auf die Naturwissenschaften. Sie gewinnt neuerdings dadurch an Bedeutung, dass sie und die Naturwissenschaften versuchen, der Gesellschaft das „Wesen“, die Natur der Naturwissenschaften in unserer hochtechnisierten Zivilisation verständlich zu machen. Sowohl für die Individuen als auch für die Gesellschaft ist das Anspruch und Notwendigkeit. Denn die Naturwissenschaften können unsere Lebensgrundlagen beeinflussen, diese schädigen, aber auch fördern: Die Reflexion der Naturwissenschaften gewinnt eine demokratische und eine ethische Dimension. 4. Driver u.a. (1996) haben für eine Thematisierung des erkenntnisund wissenschaftstheoretischen Hintergrunds im naturwissenschaftlichen Unterricht neben allgemeinen bildungspolitischen Argumenten auch einen lernpsychologischen Grund angeführt: Physiklernen, wird gefördert, wenn von den Schülern auch die Natur der Naturwissenschaften gelernt wird. Baumert u.a. (2000, 269) folgern aus den Ergebnissen der TIMS-Studie, „dass epistemologische Überzeugungen ein wichtiges, bislang nicht ausreichend gewürdigtes Element motivierten und verständnisvollen Lernens in der Schule darstellen“.
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Wissenschaftstheoretische Inhalte und Ziele 1. Wissenschaftstheoretische Erörterungen erläutern Ausdrücke wie „ naturwissenschaftliches Objekt“, „Theorie“, „Modell“, „Gesetz“, „Hypothese“, „Experiment“, „experimentelle Daten“. Diese Begriffe werden als Grundelemente zur Beschreibung des Wechselspiels zur Genese neuer naturwissenschaftlicher Erkenntnisse aufgefasst. 2. Wissenschaftstheoretische Erörterungen im naturwissenschaftlichen Unterricht befassen sich kritisch mit Begriffen, die die naturwissenschaftliche Methodologie charakterisieren sollen wie „hypothetisch deduktive“ und „induktive“ Methode, mit „Falsifikation“, „Verifikation“, „Bestätigung“ und „Bewährung“ von Theorien (z.B. im Sinne Poppers).
Adäquate epistemologische Überzeugungen fördern das Lernen in der Schule
3. Der wissenschaftsinterne Sinn naturwissenschaftlicher Theorien: Phänomene „erklären“, deren raum – zeitliche Änderungen und Veränderungen prognostizieren und die Ergebnisse der naturwissenschaftlichen Forschung systematisieren. 4. Der moderne Relativismus (z. B. T.S. Kuhn, P. Feyerabend) hat Poppers Auffassungen kritisiert und soziologische und psychologische Aspekte bei der Genese physikalischer Theorien betont. Auch der moderne Relativismus ist zu kritisieren (z.B. Wendel 1990). 5. Die unterschiedliche Bedeutung von Begriffen in verschiedenen Paradigmata, deren Nichtvergleichbarkeit (s. Kuhn, Feyerabend) kann am Beispiel der klassischen und relativistischen Mechanik an den Begriffen „Masse“, „Raum“ und „Zeit“ illustriert werden. An diesen Begriffen kann z.B. auch erörtert werden, dass naturwissenschaftliche Begriffe „theoriegeladen“ sind (Hanson 1965).
Kritik an der Wissenschaftstheorie
6. Naturwissenschaftliche Theorien sind empirisch unterbestimmt, d.h. sie implizieren mehr mögliche Daten als tatsächlich je gemessen werden können. Physikalische Theorien sind außerdem unbestimmt wegen ihrer Darstellung und Interpretation mittels Sprache. Auch aus diesen Gründen sind naturwissenschaftliche Theorien prinzipiell hypothetisch und vorläufig.
Naturwissenschaft liche Begriffe sind „theoriegeladen“
7. Naturwissenschaften lernen und verstehen bedeutet, das gewohnte durch die Alltagserfahrung und die Alltagssprache geprägte Paradigma des „Common Sense“ bewusst zu verlassen und das Paradigma „Physik“ zu verwenden. Dieses ist hinsichtlich Erklärung und Voraussage präziser und erfolgreicher, für technische Anwendungen nützlicher und damit im Allgemeinen auch zufrieden stellender.
Naturwissenschaft liche Theorien sind „empirisch unterbestimmt“
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24.1.3 Technik- und wissenschaftsethische Aspekte Technik und Technikfolgen 1. Wie in Kap. 1.3 erörtert, ist nach traditioneller Auffassung die Technik in einer dienenden Funktion, eine Prothese des Menschen, wertneutral, weder gut noch böse. Die klassische Ethik befasst sich daher mit Rechtfertigungsstrategien für individuelles Verhalten. Technik braucht nicht als moralische Kategorie reflektiert zu werden. Die klassische Ethik ist anthropozentrisch und individualistisch
Verlust der Bestimmungskompetenz
Technologisierung der Lebenswelt des Menschen
Diese klassischen Ethiken finden ihren Niederschlag in Ehrenkodizes von Wissenschaftlern und Ingenieuren. Deren Handeln steht u.a. im Dienst der allgemeinen Wohlfahrt, der Beseitigung des Mangels, der Erhaltung der Freiheit und der Handlungskompetenz (s. Hubig 1993, 18). Die im Berufsethos explizit oder implizit festgelegten Verhaltensregeln benötigen keine grundlegende Revision durch eine neue Einschätzung von Technik und Wissenschaft sowie den daraus resultierenden neuen Technik- und Wissenschaftsethiken. Zunächst wurden diese Regeln folgerichtig nur durch Zusätze ergänzt. Die klassische Ethik ist anthropozentrisch und individualistisch. 2.Eine Betrachtung der modernen Technik als bloßes Mittel ist problematisch, weil der Mensch in den spezialisierten, manchmal unüberschaubar großen Produktionsanlagen nur noch ein kleines „Rädchen“ ist, so dass er das Gesamte nicht mehr versteht. Zudem werden Arbeitsrhythmus und Freizeit des Menschen, durch die moderne Technik nachhaltig geprägt, wie er umgekehrt die Dinge prägt. Das Handeln des Menschen erscheint so weitgehend determiniert; die Spielräume für autonomes Handeln werden kleiner oder verschwinden. Zu dem Verlust der Bestimmungskompetenz kommt die abnehmende Einsicht in viele Parameter des Maschineneinsatzes, was das Wissen um die Eigenschaften von modernen Maschinen und was die unüberschaubaren Folgen ihrer Nutzung unter veränderten Bedingungen betrifft (s. Hubig 1993, 21). Es ist ein Handeln mit „fremdem Wissen“ und „fremdem Wollen“ (Ropohl 1985 zit. nach Hubig 1993). Und es sind nicht nur die in der Industrieproduktion Beschäftigten von dieser Technik abhängig. Wir alle sind es, weil die technischen Systeme der modernen Industriegesellschaften unseren Alltag fast durchgängig bestimmen. Auch die Gegner dieser Technik können sich kaum etwa der Versorgungstechnik, der Verkehrstechnik, der Medizintechnik entziehen. Man spricht von der Technisierung/ Technologisierung der Lebenswelt des Menschen in den modernen In-
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dustriegesellschaften. Diese unmittelbare Abhängigkeit von der Technik passt nicht zu dem zuvor beschriebenen Bild, wonach „der“ Mensch diese Technik beherrscht. Es sind wenige Spezialisten, die jeweils über wenige Ausschnitte dieser technischen Welt einigermaßen Bescheid wissen und diese Details operativ bewältigen können. Sollen oder können nur diese Experten über die Entwicklung und den Einsatz dieser modernen Technik entscheiden? Sollen demokratische Rechte eingeschränkt werden? Diese Fragen werden noch dadurch verschärft, dass mit modernen Techniken auch Risiken verbunden sind, - etwa mit der Kerntechnik und der Gentechnik. Selbst die Informationstechnik ist nicht frei von Risiken für das Individuum und für demokratische Gesellschaften. 3. Wie viel Risikobereitschaft kann und muss dem Individuum und/ oder der modernen technischen Gesellschaft zugemutet werden? Wie sollen diese „Risikozumutungen“ und „Risikoanweisungen“ (Hubig 1993) entschieden werden? Welchem Risiko darf die Biosphäre ausgesetzt werden? Welches Maß an Entmündigung des Menschen einerseits und Zerstörung der Natur andererseits ist zulässig, das heißt verantwortbar? Diese Fragen werden dadurch noch dringender, dass bei damit zusammen hängenden Entscheidungen nicht nur begrenzte lokale Folgen für die Gegenwart und die Zukunft entstehen. Die moderne physikalische, chemische, biologische Technik kann schon jetzt solche globalen Folgen haben, dass die Erde nicht nur für den Menschen, sondern für alle Lebewesen unbewohnbar wird, nämlich durch physikalische, chemische, biologische Waffen. Weitere globale Bedrohungen entstehen speziell für den Menschen durch die Bevölkerungszunahme, durch die Vernichtung landwirtschaftlich nutzbaren Bodens, durch die Erwärmung der Biosphäre aufgrund des globalen Treibhauseffekts. Durch die Komplexität der technischen und biologischen Systeme werden rechtzeitige Handlungen für Problemlösungen erschwert: Wir verfügen zum Zeitpunkt notwendiger Entscheidungen über neue komplexe Technologien nicht über das notwendige Wissen, um zuverlässige Prognosen für die nahe und ferne Zukunft der Biosphäre zu treffen. Das ist eine neue Dimension menschlicher Macht und Ohnmacht, die eine neue Ethik erfordert. 4. Jonas` Entwurf einer neuen Ethik ist eine radikale Kritik an westlichen und östlichen Leitbildern, die bei aller Verschiedenheit z.B. über Wirtschaft, Schule, individuelle Freiheiten einen Anthropozentrismus ebenso gemeinsam haben wie ihre Utopien über die Gesellschaft. Statt Überfluss als Ziel ist Bescheidenheit notwendig, kein
Risikozumutungen und Risikoanweisungen
Globale Bedrohungen
Neue Dimension menschlicher Macht und Ohnmacht
Ohnmacht unseres vorhersagenden Wissens
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24 Über die Natur der Naturwissenschaften lernen Hedonismus, sondern individuelle und gesellschaftliche Genügsamkeit, Askese, Verzicht (s. Kap. 1.3.). Trotz des grundsätzlich ungenügenden Wissens und der daraus folgenden Ohnmacht unseres vorhersagenden Wissens, - das hinter dem technischen Wissen, das unserem Handeln Macht gibt, zurück bleibt -, ist naturwissenschaftliches Wissen von überragender ethischer Bedeutung: Indem dieses Wissen und seine technische Anwendung Voraussetzung für das Dasein und das Sein einer weiter wachsenden Weltbevölkerung sind, gewinnen das naturwissenschaftliche Wissen und seine technischen Anwendungen eine moralische Dimension. Es muss dabei nicht nur aktuellen praktischen Vernunftprinzipien genügen, sondern muss eingebettet werden in den Kontext eines weiter greifenden, die Integrität und Würde des Menschen bewahrenden und die Verletzlichkeit und das sittliche Eigenrecht der Natur respektierenden Bewusstseins.
Reflexion von naturwissenschaftlichem Wissen und Nichtwissen
Auf diesem Hintergrund wird Jonas` Forderung nach einer Reflexion von naturwissenschaftlichem Wissen und Nichtwissen verständlich. Solche Reflexionen über eine neue Ethik (u.a. auch im naturwissenschaftlichen Unterricht) sind notwendige thematische Erweiterungen der klassischen Ethiken.
Neues ethisches Paradigma
5. Die Thematisierung der Technik und deren Folgen führt zu neuen mindestens genauso überzeugenden Begründungen für naturwissenschaftlichen Unterricht, wie das traditionelle Motiv der Wahrheitssuche, das bisher dominierend z. B auch hinter Martin Wagenscheins physikdidaktischen Konzeptionen steht. Diese technik- und wissenschaftsethischen Aspekte enthalten neben dieser neuen ethischen Dimension auch die unaufkündbare Verflechtung von Technik/ Technologie und Naturwissenschaften und deren Auswirkungen auf das Individuum und dessen Intimsphäre. Auch diese neue „Macht nach Innen“ muss im Unterricht kritisch reflektiert werden.
Macht nach Innen
In die Ausbildung von Naturwissenschaftslehrern werden diese ethischen und handlungspraktischen Aspekte nur sporadisch, wohl noch seltener als erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Aspekte aufgenommen. Studierende erfahren von diesem Aspekt der Naturwissenschaften meistens nur dann, wenn Lehrende oder Studierende an den Hochschulen die Initiative ergreifen, denn in den Studienplänen bundesrepublikanischer Hochschulen fehlen entsprechende Lehrveranstaltungen weitgehend.
Bildung der Nachhaltigkeit
Bisher werden im naturwissenschaftlichen Unterricht ethische Aspekte im Zusammenhang mit dem Umweltschutz und der Umwelterziehung thematisiert. Durch den häufig lokalen Bezug von entsprechenden Unterrichtsprojekten mögen die globale Bedeutung von
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Umweltschutz und Umwelterziehung da und dort allerdings vernachlässigt worden sein. Die neuerdings geforderte „Bildung der Nachhaltigkeit“ (de Haan & Kuckartz 1996) sollte zu einer allgemeineren und intensiveren Technik- und Technikfolgendiskussion im naturwissenschaftlichen Unterricht führen als dies bisher im Zusammenhang mit der Umwelterziehung der Fall war. Denn wie sonst, wenn nicht über die Bildung, können die notwendigen Einstellungs- und Verhaltensänderungen erfolgen (s. 1.3.4)? Die Diskussion über die nachhaltige Nutzung und Verteilung von Ressourcen (erneuerbaren/ nicht erneuerbaren) ist auch eine Angelegenheit der Bildung, weil Verhaltensänderungen vor allem auch in den Industrieländern notwendig sind. Den Schulfächern Physik, Chemie, Biologie, kommen neue Aufgaben, neue Herausforderungen und Verpflichtungen zu. Das gilt natürlich auch für die entsprechenden Fachdidaktiken an den Hochschulen, d.h. in der Lehrerausbildung und in der fachdidaktischen Forschung.
Technik- und wissenschaftsethische Leitideen 1. Zum Wesen der Naturwissenschaften gehört ihre Zuverlässigkeit. Diese Eigenschaft gründet auch in internen Überprüfungen und Kontrollen der wissenschaftlichen Arbeit durch die wissenschaftliche Gemeinschaft. Berufsethische Kommissionen überwachen die Einhaltung von Ehrlichkeit, Fairness usw. und versuchen wissenschaftlichen Betrug zu verhindern.
Kontrollen der wissenschaftliche Arbeit durch die wissenschaftliche Gemeinschaft
2. Das in unserer Zeit mit neuen Erfindungen und Entdeckungen zusammenhängende Risikopotential mit unter Umständen globalen Auswirkungen auf Mensch und Natur erfordert größere Vorsicht. Dies gilt umso mehr, weil das voraussagende Wissen bei komplexen Systemen wie unserer Biosphäre nur gering ist.
Das voraussagende Wissen ist bei komplexen Systemen gering
Das bedeutet, Jonas` (1984) Maxime des Vorrangs der schlechten Prognose vor der guten, soll an geeigneten Beispielen aus Physik und/ oder Chemie und/ oder Biologie thematisiert werden (z.B. Waffentechnik, Agrartechnik, Gentechnik). Eine bedeutsame Auswirkung sollten die Beschlüsse der Konferenz von Rio 1992 auf den naturwissenschaftlichen Unterricht auch der Bundesrepublik haben. 3. Für eine Diskussion über eine nachhaltigere Nutzung der Energie bietet sich der Physikunterricht an („Alternative Energiequellen“, „Nullenergiehaus“, „Stoffströme“ (s. z.B. v. Weizsäcker & Lovins (1996)). Wegen der im Allgemeinen komplexen und fachüberschreitenden Thematik ist es sinnvoll, entsprechende Unterrichtseinheiten als Projekte zu konzipieren.
Komplexe und fachüberschreiten de Themen als Projekte
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Über die Natur der Naturwissenschaften lehren und lernen
Erkenntnistheorie
Wissenschaftstheorie
Ethik
Realismus
Methodologie der Physik
Wissenschaftsethik
Pragmatismus/ Instrumentalismus
Modell, Theorie, Experiment
Technikethik/ Bioethik
Was ist die Wahrheit der Physik?
Was sind Naturwissenschaften?
Wie viel Technik braucht der Mensch?
Naturwissenschaften und Realität
Begriffl. und method. Strukur d. Nat.wiss.
Erhaltung des Biotops Erde
Abb. 24.1: Überblick über fachdidaktische Aspekte der Natur der Naturwissenschaften
24.2 Standardmethoden der Naturwissenschaften 24.2.1 Zur induktiven Methode 1. Nach immer noch verbreiteter Auffassung unter Naturwissenschaftlern und Naturwissenschaftslehrern werden naturwissenschaftliche Erkenntnisse induktiv gewonnen. Man beruft sich auf Galilei, der angeblich mit dieser Methode die neuen Naturwissenschaften schuf und auf Newton, der diese Methode nach eigener Auffassung anwandte, als er seine Hauptwerke „Opticks“ und „Principia“ verfasste. Der französische Physiker Pierre Duhem hat um 1900 physikhistorische Quellen herangezogen, und in seinen Analysen keine Bestätigung dafür erhalten, dass Newton dieser Methode tatsächlich gefolgt ist (Duhem 1908, Nachdruck 1978, 253 ff.).
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Was bedeutet der Ausdruck „induktive Methode“? Üblicherweise ist damit der Weg gemeint, der von den aus Experimenten gewonnenen Daten ausgehend zu physikalischen Gesetzen und Theorien führt. Popper (19766, 3) schreibt: „Als induktiven Schluss oder Induktionsschluss pflegt man einen Schluss von besonderen Sätzen, die z. B. Beobachtungen, Experimente usw. beschreiben, auf allgemeine Sätze, auf Hypothesen oder Theorien zu bezeichnen.“ Ist dieser induktive Schluss überhaupt in den Naturwissenschaften anwendbar? Popper wendet dagegen ein, dass eine solche induktive Schlussfolgerung sich auch nach noch so vielen verifizierenden Beobachtungen als falsch erweisen kann. „Bekanntlich berechtigen uns noch so viele Beobachtungen von weißen Schwänen nicht zu dem Satz, dass alle Schwäne weiß sind“ (Popper 19766, 3). Zur Rechtfertigung des induktiven Verfahrens müsste das „Induktionsprinzip“ als allgemeiner Satz eingeführt werden. Das steht aber in einem Widerspruch zur Annahme der „Induktivisten“, dass allgemeine Sätze nur empirischinduktiv hergeleitet werden können. Popper stellt dar, dass jede Form der Induktionslogik zu einem unendlichen Regress oder zum Apriorismus führt (vgl. Popper 19766, 5), in der das Induktionsprinzip als „a priori gültig“ betrachtet wird.
Die induktive Methode führt in empirischen Systemen zu logischen Widersprüchen
Die induktive Methode führt in empirischen Systemen zu logischen Widersprüchen (s. Siegl 1983; Stegmüller 1986; Wolze 1989). Diese werden hier nicht weiter ausgeführt, weil sie zu weit von der Physikdidaktik wegführen würden. 2. Dem Induktionsschluss in der Physik liegen zwei protophysikalische Annahmen zugrunde: 1. Die Gleichförmigkeit des Naturgeschehens, die in der These „Die Natur macht keine Sprünge“ zusammengefasst wurde. 2. Die durchgängige Kausalität im Naturgeschehen mit eindeutigen Folgen. Sowohl das „Gleichförmigkeitsprinzip“ als auch das Kausalitätsprinzip können in der modernen Physik nicht aufrecht erhalten werden: Für den Zerfall eines Atomkerns gibt es keine „Ursache“ im klassischen Sinne, d. h. eine verursachende Kraft. Und die These: „Die Natur macht keine Sprünge“ – eine populäre Formulierung des 19. Jahrhunderts für das „Gleichförmigkeitsprinzip“ – wurde für atomare Vorgänge geradezu in ihr Gegenteil verkehrt: Raumzeitliche Änderungen erfolgen nach der Quantentheorie nur durch „Sprünge“.
Zwei physikalische Gründe gegen den Induktionsschluss in der Physik
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24 Über die Natur der Naturwissenschaften lernen Wenn also die beiden oben erwähnten protophysikalischen Grundlagen des Induktionsschlusses fehlen, ist dieser zumindest im atomaren und subatomaren Bereich auch nicht anwendbar. Es sei denn, man versteht das Induktionsprinzip und eine damit zusammenhängende „induktive Methode“ nur als ein heuristisches Verfahren zur Gewinnung von Hypothesen.
Was ist ein Phänomen?
Wahrnehmung ist von subjektiven Einstellungen und Erwartungen abhängig
3. Muss man also das Induktionsprinzip auf die klassische Physik einschränken? Auf die Physik der uns umgebenden Lebenswelt? Auf die Physik der „mittleren“, uns unmittelbar zugänglichen Dimension, dem „Mesokosmos“ (Vollmer 1988, 41 ff.), der unsere ersten lebensweltlichen Erfahrungen prägt und der auch den Beginn des Physikunterrichts prägen soll, der sich an Phänomenen orientiert? „Phänomene“ meint zunächst die den Sinnen zugängliche Naturerscheinung – eine „Äußerung“ der Realität unter den in der Natur vorkommenden Bedingungen, wie etwa Blitz und Donner, der Regenbogen. Für v. Weizsäcker (1988, 508) sind Phänomene „sinnliche Wahrnehmungen an realen Gegenständen, die wir vorweg begrifflich interpretieren“. Das heißt, dass es „keine natürliche (d. h. psychologische) Abgrenzung zwischen Beobachtungssätzen und theoretischen Sätzen“ gibt (Lakatos 1974, 97). Aus dem Naturphänomen wird ein physikalisches, wenn dieses untersucht bzw. experimentell erzeugt und erforscht wird (z. B. brownsche Molekularbewegung). Ein solches „physikalisches Phänomen“ entsteht durch ein komplexes Zusammenwirken zwischen den verwendeten Geräten und der Realität. Dabei ist die physikalische Deutung des Phänomens von allgemeinen Theorien (in obigem Beispiel: Theorien über die Existenz von „kleinsten Teilchen“) und speziellen Hypothesen über das zu untersuchende Phänomen. (im Beispiel: „kleinste Teilchen“ stoßen auf kolloidale Teilchen, die durch ein Mikroskop sichtbar sind)
Reine Phänomene
Dieser Zusammenhang führt im Verlauf der Forschung in vielen Fällen dazu, „reine“ Phänomene (s. Jung 1979) zu erzeugen. Aber Newtons Zerlegung des Lichts durch Prismen und Goethes prismatische Versuche (z.B. Teichmann u.a. 1981) zeigen, dass die gleiche naturwissenschaftliche Fragestellung zu ganz unterschiedlichen reinen Phänomenen führen kann, wenn verschiedene Theorien – hier über die Farben des Lichts – der Erzeugung der Phänomene zugrunde liegen. Die Phänomene der Naturwissenschaften sind nicht nur das einfach Gegebene, sondern vor allem das in zähem Ringen Produzierte, das Spuren der Realität enthält – ein Produkt der Experimentierkunst und der theoretischen Phantasie. „Phänomene sind
24.2 Standardmethoden der Naturwissenschaften 603 604 605 606 607 608 609 610 611 612 613 614 615 616 617 618 619 620 621 622 623 624 625 626 627 628 629 630 631 632 633 634 635 636 637 638 639 640 641 642 643 644 645
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ausgewählte und idealisierte Experimente, deren Eigenschaften Punkt für Punkt denen der zu beweisenden Theorien entsprechen“, (Feyerabend 1981, 174). Absichtsvoll zugespitzt formuliert Jung (1979, 19): „Physik ist in erster Linie ‚Produktion‘ reiner Phänomene“. Das heißt, Goethes auch didaktisch interpretierbare Maxime: „Man suche nur nichts hinter den Phänomenen; sie selbst sind die Lehre“, ist für die modernen Naturwissenschaften nicht akzeptabel, weil sie letztlich deren Existenzberechtigung in Frage stellt. Was bleibt angesichts dieser Fakten von der „induktiven Methode“ in den Naturwissenschaften übrig, auch im Bereich der unmittelbar wahrnehmbaren Realität, wenn der Ausgangspunkt dieser Methode, die Phänomene, bereits in komplexer Weise mit „Theorien“ verknüpft sind? Ich meine, im engeren Sinne dieses Begriffs: nichts. Bezogen auf den Physikunterricht schreibt Duhem (1908, 272):
Phänomene sind in komplexer Weise mit „Theorien“ verknüpft
„Der physikalische Unterricht nach der rein induktiven Methode, wie sie Newton formuliert hat, ist eine Chimäre. Derjenige, der behauptet, diese Chimäre erreichen zu können, narrt sich selbst und seine Schüler.“ In neuerer Zeit hat sich die Wissenschaftstheorie weitgehend von der hinter dem Ausdruck „Induktion“ stehenden Wissenschaftsauffassung distanziert. Whitehead (1987, 34) fasst zusammen: „Dieser Zusammenbruch der Methode eines strikten Empirismus beschränkt sich nicht auf die Metaphysik. Er tritt immer dann ein, wenn wir nach den allgemeinen Prinzipien suchen. In den Naturwissenschaften wird dieser Rigorismus durch die baconsche Induktionsmethode repräsentiert, die der Wissenschaft auch nicht den geringsten Fortschritt ermöglicht hätte, wäre sie wirklich konsequent verfolgt worden.“ Die „induktive Methode“ erweist sich in den Naturwissenschaften als eine Chimäre; „die experimentelle Naturwissenschaft ist nie so betrieben worden, wie es Bacon vorschwebte“ (Dijksterhuis 1983, 446). 4. Ist die „induktive Methode“ heute nur noch eine vereinfachende Redeweise, eine didaktische Reduktion eines komplexen naturwissenschaftlichen Methodengefüges, möglicherweise auch eine „Trivialisierung“ (Kircher 1985, 23), von der sich die Physikdidaktik trennen sollte? Ist die Diskussion um die „induktive Methode“ letztlich nur ein Streit um einen Ausdruck?
Die experimentelle Naturwissenschaft ist nie so betrieben worden, wie es Bacon vorschwebte
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Die Praxis des „induktiven“ Unterrichtens manipuliert die Schüler
… zeichnet ein unzutreffendes Bild der Naturwissenschaft
24 Über die Natur der Naturwissenschaften lernen Die hier vorgetragene Kritik richtet sich vor allem gegen die der „induktiven Methode“ immanente Praxis des Unterrichtens. Denn diese Praxis manipuliert die Lernenden, wenn sie durch sogenannte „generalisierende Induktion“ fraglos und vorschnell, das Vorverständnis der Schülerinnen und Schüler übergehend, aus wenigen Messdaten allgemeine physikalische Gesetze „gewinnt“. Lehrende können sich bei einem solchen Vorgehen bis heute für abgesichert halten, wurde diese Methode doch bis in die neuere Zeit in Schulbüchern und physikdidaktischen Lehrbüchern als wesentlicher Teil der „Methode der Naturwissenschaften“ dargestellt. Neben diesen inhumanen Zügen des Unterrichtens wird durch eine solche Praxis explizit oder implizit auch ein unzutreffendes Bild der naturwissenschaftlichen Forschung erzeugt – im Detail und im Ganzen.
24.2.2 Zur hypothetisch-deduktiven Methode Von Popper wird das hypothetisch-deduktive Verfahren als angemessene Beschreibung des naturwissenschaftlichen Erkenntnisprozesses betrachtet: „Aus der vorläufig unbegründeten Antizipation, dem Einfall, der Hypothese, dem theoretischen System, werden auf logischdeduktivem Weg Folgerungen abgeleitet; diese werden untereinander und mit anderen Sätzen verglichen, indem man feststellt, welche logischen Beziehungen (z. B. Äquivalenz, Ableitbarkeit, Vereinbarkeit, Widerspruch) zwischen ihnen bestehen“ (Popper 19766, 3).
Popper: Wissenschaftliche Hypothesen müssen falsifizierbar sein
Für Popper stellt sich der Sachverhalt also wie folgt dar: Die Erkenntnisgewinnung beginnt z. B. mit einer wissenschaftlichen Hypothese, aus der unter Einschluss von Randbedingungen einzelne Aussagen (Basissätze) gewonnen werden, die durch Beobachtungen falsifizierbar sein müssen. Die nicht widerlegten Basissätze sind dadurch nicht „wahr“, sondern „bewährt“ – vorläufig. Popper (19766, 69) relativiert die hypothetisch-deduktive Methode: „Niemals zwingen uns die logischen Verhältnisse dazu … bei bestimmten ausgezeichneten Basissätzen stehen zu bleiben und gerade diese anzuerkennen oder aber die Prüfung aufzugeben“ . Popper folgend wird trotzdem von allen wissenschaftlichen Aussagen deren Falsifizierbarkeit als „Abgrenzungskriterium“ gegenüber nicht falsifizierbaren und damit auch nichtwissenschaftlichen Aussagen gefordert. In den empirischen Wissenschaften geschieht die Falsifikation durch ein „entscheidendes Experiment“. Ein solches „Experimentum Crucis“ widerlegt eine physikalische Theorie, - ohne
24.2 Standardmethoden der Naturwissenschaften 689 690 691 692 693 694 695 696 697 698 699 700 701 702 703 704 705 706 707 708 709 710 711 712 713 714 715 716 717 718 719 720 721 722 723 724 725 726 727 728 729 730 731
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wenn und aber. Während aber beliebig viele Experimente eine Theorie nicht endgültig verifizieren können, genügt ein einziger negativer Ausgang eines Experiments, um eine Theorie zu falsifizieren. Das bedeutet auch, diese dadurch aufgeben zu müssen. Je unwahrscheinlicher eine Aussage einer Theorie ist, desto leichter ist die Aussage und damit die Theorie prüfbar, desto größer ist deren empirischer Gehalt, desto mehr informiert dieser über die Welt. In Poppers Theorie der Falsifikation „äußert“ sich die Realität bei der empirischen Überprüfung der Basissätze in einem negativen Sinne nämlich, welche Eigenschaften und Prozesse in der Realität nicht vorkommen. Naturgesetze haben den Charakter von Verboten. Anstatt die Realität zu beobachten, wird diese einem objektiven Prüfungsverfahren unterzogen (Popper 19766, 382). 2. Der naturwissenschaftliche Erkenntnisprozess stellt sich damit formal wie folgt dar:
E
Objekt
Hypothese Theorie Modell
Abb. 24.2: Schematische Darstellung des hypothetisch-deduktiven Erkenntnisprozesses Ausgehend von Hypothesen z. B. über ein physikalisches Objekt wird dessen Verhalten unter bestimmten experimentellen Bedingungen prognostiziert. Im Realexperiment werden Daten gewonnen, die „Spuren der Realität“ enthalten und vorläufige Aussagen darüber ermöglichen, wie „sinnvoll“ die Hypothese ist. Die Frage der Prüfbarkeit einer Hypothese, die Entscheidung für oder gegen eine Hypothese, die Entwicklung der naturwissenschaftlichen Theorien, können aufgrund der bisherigen Darstellungen allerdings noch nicht oder nur einseitig beantwortet werden. Daher wird die hypothetisch-deduktive Auffassung des Erkenntnisprozesses hier als eine mögliche Idealisierung übernommen, ohne die zuvor skizzierte Art und Weise der Falsifikation von Theorien als durchgängig zutreffend anzunehmen.
Popper: Ein „Experimentum Crucis“ widerlegt eine physikalische Theorie
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24 Über die Natur der Naturwissenschaften lernen Die folgenden Darstellungen, die sich an der Geschichte der Naturwissenschaften orientieren, zeichnen wohl ein zutreffenderes Bild der Theoriebildung, das heißt auch der naturwissenschaftlichen Methoden. Sie unterscheiden sich von den bisher skizzierten wissenschaftstheoretischen Standardauffassungen beträchtlich.
24.3 Historische Beschreibungen naturwissenschaftlicher Theoriebildung 24.3.1 Naturwissenschaftliche Revolution und Normalwissenschaft. 1. Nach traditioneller Auffassung entstand naturwissenschaftliches Wissen kumulativ. Von primitiven Anfängen häufte sich das Wissen über die Natur an. Die anfänglich unvollkommenen Theorien wurden verbessert und erweitert; sie wurden immer präzisere und umfassendere Beschreibungen der Realität (s. Kuhn 19762, 15 ff.). Wurde auf diese Weise das Gebäude der Naturwissenschaften errichtet? T. S. Kuhn gibt ein anderes Bild von der Entwicklung der Naturwissenschaften. Nach Kuhns Auffassung müssen sich auch naturwissenschaftliche Modelle und Theorien gegen den Widerstand der vorherrschenden Modellvorstellungen und Theorien durchsetzen; Kuhn spricht von „Paradigma“ und Paradigmenwechsel. Was ist ein Paradigma?
2. Was bedeutet dieser Begriff, der zu einem festen Bestandteil der wissenschaftlichen Umgangssprache geworden ist? Der Ausdruck „Paradigma“ wird schon bei Kuhn (19762) vieldeutig verwendet. Von besonderem Interesse ist Kuhns soziologische Interpretation des Begriffs:
Ein physikalisches Paradigma beeinflusst und prägt die Experten
Für Wissenschaftler ist das Paradigma, mit dem sie zu tun haben, mehr als eine gute, interessante Theorie. Es ist auch ein Vorbild, das das Handeln und Denken dieser Forscher beeinflusst und prägt. Die soziologische Bedeutung eines Paradigmas besteht also darin, dass eine Gruppe von Individuen über diesen Begriff soziologisch definiert werden kann. Es gehören nämlich genau diejenigen Individuen zu der Gruppe, der „wissenschaftlichen Gemeinschaft“, die ein gemeinsames Paradigma für ihre wissenschaftliche Tätigkeit akzeptieren und es auch verteidigen, damit leben und sterben!
24.2 Standardmethoden der Naturwissenschaften 775 776 777 778 779 780 781 782 783 784 785 786 787 788 789 790 791 792 793 794 795 796 797 798 799 800 801 802 803 804 805 806 807 808 809 810 811 812 813 814 815 816 817
Kuhn benutzt den Begriff „Paradigma“ neben dieser soziologischen Bedeutung vor allem auch als „Theorie im weiteren Sinne“. In dieser Bedeutung gleicht der Begriff Paradigma dem Modellbegriff, indem er die in einer „Theorie im engeren Sinne“ nicht enthaltenen metaphysischen und protophysikalischen Aspekte mit einschließt. Dabei braucht das Paradigma gar nicht in feste Regeln gegossen zu sein. Ein Paradigma der Physik braucht nur neuartig genug zu sein, „um eine beständige Gruppe von Anhängern anzuziehen und gleichzeitig noch offen genug, um der neuen Gruppe von Fachleuten alle möglichen ungelösten Probleme zu stellen“ (Kuhn 19762, 25).
781 Ein physikalisches Paradigma ist eine physikalische Theorie im weiteren Sinne
3. Kuhn betont, dass sich Paradigmen und damit zusammenhängend naturwissenschaftliche Revolutionen nicht nur auf jene großen physikalischen Theorien beziehen und deren Entstehungsprozess kennzeichnen sollen, wie z. B. die newtonsche Mechanik, die Elektrodynamik oder die Relativitätstheorie. Vielmehr kommen Paradigmen und deren Änderungen in der Wissenschaft häufig vor: Sie beziehen sich manchmal nur auf „vielleicht weniger als 25 Personen“ (Kuhn 19762, 192). Die Etablierung von Paradigmen und ihre Ablösung in einer wissenschaftlichen Revolution ist dann etwas fast Alltägliches in der Wissenschaft und ist nicht nur auf Jahrhundertereignisse wie die Entwicklung der Relativitätstheorie beschränkt. Kuhn spricht von naturwissenschaftlichen Revolutionen, wenn ein neues Paradigma ein altes verdrängt, mit der deutlichen Analogie zu einer politischen Revolution. Denn so wie bei dieser wird auch eine naturwissenschaftliche Revolution nicht ohne Kampf vor sich gehen. Die Anhänger des alten Paradigmas werden dieses verteidigen wie die Anhänger der bestehenden politischen Idee ihren Staat, wenn auch mit anderen Mitteln. Die Mittel der Naturwissenschaften zur Durchsetzung einer neuen Theorie sind aber nicht nur logischer oder experimenteller Art, wie die idealtypischen Darstellungen der Naturwissenschaften vermuten lassen. Denn die Aussagen des neuen und des alten Paradigmas können gar nicht miteinander verglichen werden, weil ihre Grundbegriffe etwas anderes bedeuten, selbst wenn die gleichen Ausdrücke verwendet werden. Sie sind „inkommensurabel“, im Sinne von unvergleichbar. Kuhn (19762, 160) folgend, bedeutet z.B. der Ausdruck „Raum“ in der Relativitätstheorie etwas anderes als in der klassischen newtonschen Theorie.
Aus einer neuen Theorie wird im Verlauf einer Revolution ein neues Paradigma, dieses verdrängt das bisherige
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24 Über die Natur der Naturwissenschaften lernen
Experimente können physikalischen Streit nicht (sofort) entscheiden.
4. Ein wichtiges Merkmal dieser neuen Betrachtung der Wissenschaftsentwicklung ist, dass Experimente keine Entscheidungen zugunsten eines Paradigmas im Augenblick des wissenschaftlichen Streits liefern: Die Experimente hängen von den Paradigmen ab; diese kann man aber nach Kuhns Auffassung nicht vergleichen. Außerdem kann das gleiche Experiment in verschiedenen Paradigmen eine unterschiedliche Interpretation und Bedeutung haben. Experimente und die dabei gemachten Beobachtungen sind im Lichte von allgemeinen Theorien, von Weltbildern zu sehen (vgl. Popper 19766, 72). Der nach unten fallende Stein wird im aristotelischen Weltbild und in der newtonschen Mechanik unterschiedlich gedeutet.
Wie kommt es zu einem Paradigmawechsel?
5. Wie kommt es dann aber zu einem Paradigmawechsel, zu einer naturwissenschaftlichen Revolution?
Subjektive Faktoren spielen eine Rolle
Dadurch, dass ein wissenschaftliches Paradigma auch eine soziale Struktur und soziale Abhängigkeiten schafft, wird es einem Wissenschaftler sehr erschwert, die wissenschaftliche Gemeinschaft zu verlassen. Der Wissenschaftler würde als ein Außenseiter behandelt und dann wohl ohne Einfluss auf die Wissenschaft sein. Den Schritt aus der wissenschaftlichen Gemeinschaft heraus vollziehen vor allem junge Leute oder solche, die auf dem Gebiet neu sind. Für sie können Probleme Anomalien sein, d. h. solche Probleme, die innerhalb des Paradigmas prinzipiell unlösbar sind und die auch das ganze Paradigma in Frage stellen. Nur in den idealisierten ahistorischen Darstellungen von Lehrbüchern übernimmt die wissenschaftliche Gemeinschaft eine Theorie aufgrund von Argumenten wie Erklärungsmächtigkeit, Genauigkeit der Voraussage oder aufgrund ästhetischer Gesichtspunkte wie Einfachheit der Theorie. Nach Kuhn ist der Prozess der Durchsetzung einer Theorie, die dann das neue Paradigma wird, dramatischer, weil dabei auch subjektive Faktoren eine Rolle spielen: „In den Naturwissenschaften besteht die Prüfung niemals wie beim Rätsellösen einfach im Vergleich eines einzelnen Paradigmas mit der Natur. Vielmehr ist sie ein Teil des Wettstreits zwischen zwei rivalisierenden Paradigmen um die Gefolgschaft der wissenschaftlichen Gemeinschaft“ (Kuhn 19762, 156). Man könnte gegen Kuhn argumentieren, dass in der Neuzeit auch immer eine rationale naturwissenschaftliche Argumentation stattgefunden hat. Dies wird von Kuhn nicht ausdrücklich bestritten. Er widerspricht aber der Auffassung, dass kontroverse Theorien gemäß den oben skizzierten traditionellen Auffassungen entschieden wer-
24.2 Standardmethoden der Naturwissenschaften 861 862 863 864 865 866 867 868 869 870 871 872 873 874 875 876 877 878 879 880 881 882 883 884 885 886 887 888 889 890 891 892 893 894 895 896 897 898 899 900 901 902 903
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den; dazu gehört auch Poppers Forschungsmethodologie (s. 23.2.2), wonach eine Theorie durch Experimente zu falsifizieren ist. Denn: „Alle Experimente können bezweifelt werden: Ob sie wirklich relevant sind, ob sie genau waren. Und ebenso lassen sich auch alle Theorien mit einer bunten Reihe von Ad-hoc-Zurechtlegungen modifizieren, ohne dass sie aufhörten – was mindestens ihre wichtigsten Züge betrifft – dieselben Theorien zu bleiben“ (Kuhn 1974, 14).
Alle Experimente können bezweifelt werden
Wenn aber zwischen einem alten und neuen Paradigma zunächst keine rationale naturwissenschaftliche Verständigung möglich ist und wenn auch den Experimenten Beweiskraft fehlt, wie erfolgt dann die Durchsetzung eines Paradigmas? Die entscheidenden Gründe werden üblicherweise als außerhalb der Wissenschaft betrachtet: Überredung, die beeinflusst wird durch den Ruf des Wissenschaftlers und den seiner Lehrer, durch seine Nationalität (vgl. Kuhn 19762, 163 f.). Auch die Aussicht auf Erfolg und wissenschaftlichen Ruhm mag einen Wissenschaftler veranlassen zu dem neuen Paradigma überzutreten – ein Übertritt fast wie zu einer religiösen Gemeinschaft durch eine „Bekehrung“.
Außerwissenschaftliche Gründe entscheiden über die Durchsetzung eines neuen Paradigmas
6. Welche experimentellen und theoretischen Aufgaben kommen auf einen Wissenschaftler in einem neuen Paradigma zu? Kuhn bezeichnet die Phase der Ausarbeitung und Anwendung der neuen Theorie als die „normale Wissenschaft“, in Abhebung zur Phase der Theoriebildung, der revolutionären Phase. In der normalen Wissenschaft werden Rätsel gelöst (vgl. Kuhn 19762, 49), die innerhalb des Modells bestehen. Man könnte vermuten, dass bei dieser Tätigkeit nur wenig Kreatives zu leisten ist:
„Normale Wissenschaft“: „Rätsel“ lösen
„Manchmal, wie beispielsweise bei einer Messung von Wellenlängen, ist außer den letzten Einzelheiten des Ergebnisses alles im voraus bekannt und im Allgemeinen ist der Erwartungsspielraum nur wenig breiter“ (Kuhn 19762, 49). Dass diese Arbeit aber dann doch nicht ganz so langweilig ist, deuten die im folgenden skizzierten experimentellen und theoretischen Probleme der normalen Wissenschaft an:
Experimentelle Probleme
Kuhn (19762, 39 ff.) unterscheidet 3 Klassen von Fakten, die in der normalen Wissenschaft experimentell gewonnen werden: • Die Klasse von Fakten, die vom Paradigma als für die Natur der Dinge besonders aufschlussreich bezeichnet wird, wie z. B., die Wellenlänge einer Spektrallinie, das magnetische Moment von Atomkernen. Die immer genauere Bestimmung von Daten machen die Entwicklung von Spezialgeräten nötig, deren Erfindung,
Aufschlussreiche Fakten
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24 Über die Natur der Naturwissenschaften lernen deren Bau sowie deren Einsatz „hervorragendes Talent, viel Zeit und beträchtliche finanzielle Mittel“ (Kuhn 19762, 40) erfordern.
Fakten zum Vergleich mit Voraussagen
Genaue Bestimmung von Konstanten
• Die Klasse von Fakten, die unmittelbar mit Voraussagen aus der Paradigmatheorie verglichen werden können. Beispiel dafür sind etwa die Nachweise bzw. versuchten Nachweise der Existenz von Neutrinos oder Gravitonen. Bei solchen Experimenten ist die Theorie leitend für den Entwurf des Versuchs. So könnte man z. B. ohne die Theorie des β-Zerfalls die Versuche zum Nachweis der Neutrinos nicht planen. • Die Klasse von Fakten, die die restliche Sammlungstätigkeit der normalen Wissenschaft erfasst, um noch bestehende Unklarheiten zu erhellen und Probleme zu lösen. Kuhn zählt dazu die genaue Bestimmung von Konstanten (z. B. Ladung des Elektrons), die Herleitung und den Ausbau von Gesetzen. Dabei unterscheidet Kuhn Sätze, die sich mit dem quantitativen bzw. dem qualitativen Aspekt der Gesetzmäßigkeiten der Natur befassen (Kuhn 19762, 42 f.).
Theoretische Probleme
Die theoretischen Probleme der normalen Wissenschaft entsprechen in etwa den experimentellen Aufgaben:
Anwendung der Theorie
• Das theoretische Modell wird dazu benutzt, um in Anwendungssituationen Voraussagen zu machen. Man wendet die Theorie an, z. B. bei der Entwicklung medizinischer Geräte.
Überprüfung der Theorie
• Das Modell wird auf Spezialfälle angewendet, um dadurch Übereinstimmung von Theorie und Daten festzustellen und um Theorie und Daten einander anzupassen. Zum Beispiel: Unter bestimmten Voraussetzungen (keine Ruhemasse, Spin ½, unendliche Lebensdauer, keine elektrische Ladung) müssen Neutrinos einen Wirkungsquerschnitt von ca. 10–44 cm2 aufweisen.
Ausarbeitung der Theorie
• Das theoretische Modell wird weiter ausgearbeitet oder umformuliert; z. B. wurde Newtons Mechanik von Lagrange, Hamilton, Jacobi und Hertz jeweils neu formuliert. Dadurch wurden auch substantielle Veränderungen bewirkt, eine Hoffnung, die sich ja auch mit der Axiomatisierung von Theorien verbindet.
Können Schüler vergleichbare Tätigkeiten im Unterricht ausführen?
7. Auf Einzelheiten der kuhnschen Darstellungen wurde hier genauer eingegangen, weil die experimentellen und theoretischen Tätigkeiten eines Wissenschaftlers zu einer angemesseneren Interpretation des naturwissenschaftlichen Methodengefüges beitragen. Sie sind darüber hinaus auch auf dem Hintergrund der bisher aufgeschobenen fachdidaktischen Frage zu sehen: Können Schülerinnen und Schüler
24.2 Standardmethoden der Naturwissenschaften 947 948 949 950 951 952 953 954 955 956 957 958 959 960 961 962 963 964 965 966 967 968 969 970 971 972 973 974 975 976 977 978 979 980 981 982 983 984 985 986 987 988 989
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vergleichbare Tätigkeiten im Unterricht ausführen, wenn sie zuvor ein für sie bisher neues Modell entworfen haben? Kann Kuhns allgemeines Schema, wonach sich die Naturwissenschaften in einer Abfolge von revolutionärer Wissenschaft und normaler Wissenschaft entwickeln, auf den naturwissenschaftlichen Unterricht übertragen werden? Weist der naturwissenschaftliche Unterricht Ähnlichkeiten zu der geschilderten Situation des Paradigmawechsels auf, wenn Schüler neue Modelle lernen oder diese Modelle selbst entwickeln? Üben die Alltagsvorstellungen der Schüler die Funktion eines veralteten Paradigmas aus? Das würde z. B. bedeuten, dass Schüler eine spezielle Sichtweise der „Welt“ aufweisen, dass die bestehende Vorstellung immer wieder als Erklärungsmuster angewendet und von den Schülern wohl auch verteidigt würde. Es würden auch Beobachtungen durch Alltagsvorstellungen beeinflusst. Dies alles hätte weit reichende fachdidaktische Konsequenzen z. B. für das Experiment im Unterricht, für die Auswahl der in der Schule vermittelten „Modelle“, für die Unterrichtsmethoden. Weitere Fragen drängen sich auf: Muss ein Paradigmawechsel möglicherweise auch in der Schule nicht nur durch logische und experimentelle Mittel vollzogen werden kann? Müsste jeder Schüler eine Anomalie erkennen und einen „Gestaltwechsel“ vollziehen, bevor er eine neue Theorie lernt? Gehören dazu dann auch Überredung und Propaganda, da man sich über die alte und die neue Theorie schlecht verständigen kann, weil sie inkommensurabel sind? Man könnte gegen diese Fragen pauschal einwenden: Naturwissenschaftler verhalten sich anders als Kinder. Sie verfügen über ein andersartiges Problemlösungsinventar, und für sie sind die Ziele allgemeinbildender Schulen nicht normativ. Die in den vergangenen Jahren im Inland und Ausland durchgeführten empirischen Untersuchungen über das „Schülervorverständnis“ (Niedderer & Schecker 2004), „Alltagsvorstellungen“ sowie die verschiedenen Ansätze, diese im Physikunterricht zu ändern, zu differenzieren oder auszulöschen(s. Kap. 18), deuten die Relevanz einiger dieser Fragen für den Physikunterricht an. Hodson (1988, 31 f.) hat ähnliche Auffassungen zur Relevanz der kuhnschen Thesen für den Unterricht vertreten.
Physiklernen bedeutet, das bisherige Weltbild durch einen Paradigmawechsel zu ändern
Gehören auch Überredung und Propaganda in den Physikunterricht?
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24 Über die Natur der Naturwissenschaften lernen
24.3.2 Naturwissenschaften als historische Tradition Noch weiter als Kuhn entfernt sich Feyerabend in seinen Schriften (1981; 1986) von den hier skizzierten Standardauffassungen über naturwissenschaftliche Methoden. Nach seiner Auffassung sind „streng genommen … alle Wissenschaften Geisteswissenschaften“ (Feyerabend, 1981, 42). Daher sind also auch die Naturwissenschaften einer „historischen Tradition“ zuzuordnen, wie die typischen Geisteswissenschaften, Sprachwissenschaften, Geschichtswissenschaften und dergleichen.
Physiklernen: „Eintauchen“ in die Physik, so wie ein Kind eine Sprache lernt?
Der Naturwissenschaftler ist kein objektiver Richter
1. Eine historische Tradition „enthält komplizierte Begriffe zur Beschreibung fein artikulierter Vorgänge und Ereignisse. Die Begriffe sind reich an Inhalt, arm an Ähnlichkeiten und somit an deduktiven Beziehungen“ (Feyerabend 1981, 35). In historischen Traditionen werden Begriffe durch Listen dargestellt und nicht durch Definitionen. Diese Listen enthalten Beispiele, die implizit den Begriff charakterisieren. Die Listen sind offen, können also durch neue Beispiele verlängert und gegebenenfalls auch wieder gekürzt werden. Man lernt die Liste durch „Eintauchen … wie ein Kind eine Sprache lernt und nicht durch das Studium abstrakter Prinzipien“ (Feyerabend 1981, 35). Der Naturwissenschaftler ist daher kein objektiver Richter, der die Evidenz einer Theorie beurteilt, sondern Teil des Prozesses, der die Evidenz erzeugt und auf dieser Basis Verallgemeinerungen beurteilt. Feyerabend (1981, 36) beschränkt diese Aussage nicht auf Wissenschaftler, sondern hält sie für jeden „Leser einer Liste“, also auch für Schüler, für zutreffend! Die Naturwissenschaften sind in der Neuzeit unter dem Anspruch angetreten, allgemeingültige Regeln für die Natur gefunden zu haben und noch zu finden; sie sind aber keine Musterbeispiele „abstrakter Traditionen“. Es sind nach Auffassung von Feyerabend „historische Traditionen“ in denen viele Kenntnisse, Intuitionen, Gefühle und Fähigkeiten stecken, – Episoden in der Kulturgeschichte der Menschheit In Feyerabends historischer Betrachtung werden durch die Naturwissenschaften Theorien geschaffen, im Sinne einzelner Beispiele auf einer „Liste“. Diese Beispiele sind ohne einen engen Zusammenhang untereinander, ohne jedes feste Regelwerk, ohne präzise definierte Voraussetzungen, ohne Reflektion des eigenen Tuns: eben im Sinne einer historischen Tradition, aber mit dem Charme des Menschlichen und Allzumenschlichen.
24.2 Standardmethoden der Naturwissenschaften 1033 1034 1035 1036 1037 1038 1039 1040 1041 1042 1043 1044 1045 1046 1047 1048 1049 1050 1051 1052 1053 1054 1055 1056 1057 1058 1059 1060 1061 1062 1063 1064 1065 1066 1067 1068 1069 1070 1071 1072 1073 1074 1075
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Feyerabend (1986) fasst einen wesentlichen Aspekt seiner wissenschaftstheoretischen Analysen der Geschichte der Naturwissenschaften in dem Buch „Against method“ zusammen:
Gegen den Methodenzwang in der Naturwissenschaft
Für Naturwissenschaftler gibt es nicht die naturwissenschaftliche Methode. Um erfolgreich zu arbeiten, müssen sie streng festgelegte methodische Regeln ablehnen. Auch eine anscheinend widerlegte, daher unvernünftige Hypothese kann ein Wissenschaftler weiterverfolgen, weil sie sich in der Zukunft noch als fruchtbar erweisen kann.
Die naturwissenschaftliche Methode gibt es nicht
2. Naturwissenschaft als „historische Tradition“ und daran anknüpfende fachdidaktische Erörterungen und Fragen: Soll Physik als „abstrakte Tradition“ gelehrt werden, wie das im Allgemeinen im Physikunterricht geschieht oder eher als „historische Tradition“ im Sinne von Beispielen auf einer „offenen Liste“? Wie kann ein Schüler „eintauchen“, um die Physik zu lernen unter den gegenwärtigen Bedingungen des Physikunterrichts, mit Lehrplänen, Lehrmitteln, Lehrern, die implizit an Physik als abstrakter Tradition ausgerichtet bzw. ausgebildet sind? Feyerabends „Beispiele auf einer Liste“ könnte man als „exemplarischen Unterricht“ interpretieren. Die Idee „einzutauchen in die Physik ... so wie das Kind eine Sprache lernt“ kann zu mehreren methodischen Vorschlägen des Physiklernens in Beziehung gesetzt werden:
Exemplarischer Unterricht
•
Lernen am „Modell“, das explizites und/ oder implizites physikalisches Wissen vermitteln kann (Lehrer, Wissenschaftler, manche Eltern).
Lernen am „Modell“
•
Genetisches Lernen (s. 4.2)
•
Außerschulisches individuelles Lernen oder Lernen in Gruppen in Abhängigkeit von der sozialen Umgebung (Freundschaftsgruppen).
Genetisches Lernen Außerschulisches Lernen
Das auch von Feyerabend diskutierte Problem der Inkommensurabilität von Modellen ist für die Physikdidaktik interessant, betrifft es doch das allgemeine Problem, neue Begriffe und Theorien zu lernen: Da die ursprünglichen Begriffe der Kinder von der Alltagswelt geprägt sind, bedeuten diese häufig etwas anderes als die physikalischen Begriffe. Daher ist für die Kinder ein neuer physikalischer Begriff zunächst unverständlich, unvergleichbar mit dem Alltagsbegriff. Erst nach einem „Gestaltwechsel“ wird der neue Begriff verstanden. Untersuchungen, die Redeker (1979) durchführte, weisen darauf hin, dass die Schüler allein lebensweltliche Erfahrungen zur
Schüler ziehen lebensweltliche Erfahrungen zur Interpretation physikalischer Phänomene heran
788 1076 1077 1078 1079 1080 1081 1082 1083 1084 1085 1086 1087 1088 1089 1090 1091 1092 1093 1094 1095 1096 1097 1098 1099 1100 1101 1102 1103 1104 1105 1106 1107 1108 1109 1110 1111 1112 1113 1114 1115 1116 1117 1118
24 Über die Natur der Naturwissenschaften lernen Interpretation physikalischer Phänomene heranziehen. Schüler haben kein physikalisches Vorverständnis, sie sind nicht auf dem Wege zur Physik, wie Wagenschein u. a. (1973) meinen. Den „Gestaltwechsel“ von der lebensweltlichen Sichtweise zur physikalischen Sichtweise kann der Lehrer nicht erzwingen, sondern nur vorbereiten (Redeker 1979).
Physiklernen kann auch unstetig verlaufen
Ihnen ist bestimmt die Ähnlichkeit zwischen einem „Gestaltwechsel“ und der Situation der „Begegnung“ (s. 1.4) aufgefallen!
24.3.3 Naturwissenschaften als abstrakte und historische Tradition
Lakatos: Wissenschaftliche Theorien sind unbeweisbar und auch unwiderlegbar
Lakatos (1974) versucht die von Kuhn und Feyerabend neu interpretierten wissenschaftshistorischen Fakten in Poppers Falsifikationskonzeption zu integrieren. Wie Kuhn und Feyerabend hält er wissenschaftliche Theorien zunächst nicht nur für unbeweisbar, sondern alle auch für unwiderlegbar.
Die wissenschaftliche Gemeinschaft
Die wissenschaftliche Gemeinschaft entscheidet bei der Sichtung der Ergebnisse wie weit ein Wissenschaftler die experimentelle Technik regelgerecht und professionell bei der Gewinnung seiner Daten eingesetzt hat. Entsprechend wird die durch diese Technik gewonnene „empirische Basis“ beurteilt. Eine Theorie, die mit diesen Daten und den daraus gewonnenen Aussagen in Konflikt gerät, „kann man wohl … falsifiziert nennen, aber sie ist nicht falsifiziert in dem Sinn, dass sie widerlegt wäre“ (Lakatos 1974, 106).
Konventionen der wissenschaftlichen Gemeinschaft entscheiden darüber, ob eine Theorie „falsifiziert“ oder „empirisch bewährt“ ist Progressive Problemverschiebung
1. Der Naturwissenschaftler versucht mit methodologischer Raffinesse das Problem der empirischen Basis als Entscheidungsmittel für die Akzeptanz naturwissenschaftlicher Theorien zu lösen. Er lässt gut bewährte Theorien in die Konstruktion und Anwendung der Beobachtungstechnik eingehen und akzeptiert und benutzt diese als Hintergrundkenntnis kritiklos, obwohl diese Theorien grundsätzlich falsch sein können!
Es kann dadurch sogar vorkommen, dass eine sozusagen „falsifizierte“ Theorie zur Beseitigung der „wahren“ und zur Annahme der „falschen“ Theorie führt. Übereinkünfte der wissenschaftlichen Gemeinschaft entscheiden auf verschiedenen Ebenen, ob eine Theorie „wissenschaftlich“, „falsifiziert“ oder „empirisch bewährt“ ist. Aber diese Konventionen unterscheiden sich von denen etwa Duhems (1978) dadurch, dass sie als ausdrücklich und bewusst veränderbar und revidierbar aufgefasst werden. Sie enthalten ein wissenschaftsimmanentes Kriterium, das Lakatos (1974, 131) „progressive Prob-
24.2 Standardmethoden der Naturwissenschaften 1119 1120 1121 1122 1123 1124 1125 1126 1127 1128 1129 1130 1131 1132 1133 1134 1135 1136 1137 1138 1139 1140 1141 1142 1143 1144 1145 1146 1147 1148 1149 1150 1151 1152 1153 1154 1155 1156 1157 1158 1159 1160 1161
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lemverschiebung“ nennt. Eine progressive Problemverschiebung liegt vor, wenn eine neue Theorie zu neuen Tatsachen führt. Trotz dieses Kriteriums kann ein Wissenschaftler entscheiden, ob er Widerlegungen seiner Theorie akzeptiert oder nicht. 2. Die Wissenschaftsgeschichte zeigt allerdings, dass der Spielraum des Individuums begrenzt ist, um sich den Konventionen zu entziehen, die durch die zuständige wissenschaftliche Gemeinschaft implizit festgelegt wurden. So beschloss bereits 1775 die Pariser Akademie der Wissenschaften, keine Konstruktionen zum „Perpetuum mobile“ mehr zu prüfen, trotz der Behauptung der Erfinder, damit eine neue Tatsache vorweisen zu können. In unserer Zeit werden „Wissenschaftler“, die angeben die Relativitätstheorie widerlegt oder die Kernfusion im Reagenzglas entdeckt zu haben als Außenseiter behandelt und u.U. auf wissenschaftlichen Tagungen wie etwa der Jahrestagung der Deutschen Physikalischen Gesellschaft auch nicht mehr für Kurzreferate zugelassen. Diese Beispiele sprechen eher gegen die rationalistischen Auffassungen von Lakatos. Lakatos’ methodologischer Falsifikationismus wird als eine idealtypische Konzeption der Naturwissenschaften und deren Forschungsmethodologie betrachtet. 3. Fachleute legen die fachinterne Kriterien der Wissenschaft fest, also ohne äußeren, z. B. politischen Einfluss. Die Annahme neuer, alternativer Theorien hängt neben der Einhaltung der Konventionen davon ab, ob sie dazu beitragen, neue Tatsachen zu produzieren. Es gibt daher keine Falsifikation vor dem Auftauchen einer solchen „besseren“ Theorie und diese steht wieder in Konkurrenz mit anderen, künftigen. Durch diese zeitlich unbegrenzte Konkurrenz erhält die Falsifikation einen historischen Charakter. „Entscheidende Experimente“ kann man nur im Nachhinein als solche erkennen und zwar im Lichte einer überholenden Theorie (vgl. Lakatos 1974, 117 f.)
Fachleute legen die fachinternen Kriterien der Wissenschaft fest
Die mit einem bestimmten wissenschaftlichen Problem zusammenhängende Theoriereihe nennt Lakatos „Forschungsprogramm“. Dieses ist ausgezeichnet durch eine vereinheitlichende Idee, heuristisches Potential und Kontinuität. Es wirkt wie ein Paradigma. Lakatos hebt rationale Argumente und die empirische Grundlage stärker hervor als Kuhn. Freilich arbeitet die Rationalität viel langsamer „als die meisten Leute glauben, und dass sie selbst dann fehlbar ist“ (Lakatos 1974, 168). Kuhn betont dagegen dogmatische, psychologische und soziologische Aspekte in den Wissenschaften. „Wissenschaftlichen Fortschritt“ kann Kuhn nicht erklären, will es auch nicht.
Ein Forschungsprogramm enthält eine vereinheitlichende Idee, heuristisches Potential und Kontinuität
790 1162 1163 1164 1165 1166 1167 1168 1169 1170 1171 1172 1173 1174 1175 1176 1177 1178 1179 1180 1181 1182 1183 1184 1185 1186 1187 1188 1189 1190 1191 1192 1193 1194 1195 1196 1197 1198 1199 1200 1201 1202 1203 1204
24 Über die Natur der Naturwissenschaften lernen Da wissenschaftsimmanent betrachtet, Fortschritt offensichtlich ist, kann dies auch zur Auffassung führen, dass Kuhns Darstellung zwar zu einem bestimmten Zeitpunkt für einen Forscher existenziell wichtige Züge der Wissenschaft beschreibt, diese in sehr globaler Betrachtung aber nur Randerscheinungen sind. 3. Ganz anders ist die Bedeutung für die Physikdidaktik zu beurteilen. Ich gehe davon aus, dass Lernen im Sinne eines „Forschungsprogramms“ von Lakatos für den physikalischen Unterricht zumindest der Sekundarstufe I zu anspruchsvoll ist. Dagegen dürfte die kuhnsche Beschreibung der Wissensgenese für das Physiklernen fruchtbarer sein, weil sich diese Auffassungen mit pädagogischen Theorien und Ergebnissen der Unterrichtsforschung zu neuen Unterrichtskonzepten verknüpfen lassen (s. z. B. Kircher 1995, 205 ff.).
24.4 Theoriebildung in der Physik – Modellbildung im Physikunterricht 24.4.1 Über Theoriebildung in der Physik Der allgemeine geistige Hintergrund einer Kultur und individuelle Weltbilder beeinflussen die physikalische Theoriebildung
1. Jeder Naturwissenschaftler wird von den vorherrschenden oder auch früheren gesellschaftlichen, kulturellen, religiösen Gegebenheiten beeinflusst. Weil diese Einflüsse i. Allg. nicht bewusst in die Arbeit des Naturwissenschaftlers eingehen, werden sie hier als allgemeiner geistiger Hintergrund bezeichnet. Dieser Hintergrund trägt auch zu den individuellen Weltsichten des Wissenschaftlers bei, die ihrerseits die Entwicklung einer physikalischen Theorie tangieren können: die Suche nach dem Stein der Weisen, der Traum vom Jugendelixier bei den Alchimisten des Mittelalters, das Ptolemäische Weltbild, Aristoteles’ Glaube an den natürlichen Ort für alle Gegenstände, Leibniz’ Annahme von der Harmonie der Welt, spezielle Auslegungen religiöser Schriften, wie der Bibel, die Kepler und Newton beeinflussten, politische Auffassungen, die nicht erst seit Marx als „allgemeiner Hintergrund“ vieler Naturwissenschaftler wirkten. Die individuellen Weltsichten der Naturwissenschaftler des 20. Jahrhunderts sind vielfältig und in den autobiografischen Darstellungen u. a. von Einstein (1953) und Heisenberg (1973) nachweisbar. Ich möchte hier als Beispiel erwähnen, dass Heisenbergs Weltbild durch Platon geprägt war und dass zumindest dessen späte Arbeiten über Elementarteilchentheorien von dieser „Weltsicht“ beeinflusst waren.
24.4 Theoriebildung in der Physik – Modellbildung im Physikunterricht 1205 1206 1207 1208 1209 1210 1211 1212 1213 1214 1215 1216 1217 1218 1219 1220 1221 1222 1223 1224 1225 1226 1227 1228 1229 1230 1231 1232 1233 1234 1235 1236 1237 1238 1239 1240 1241 1242 1243 1244 1245 1246 1247
2. Naturwissenschaftliche Theoriebildung hängt auch vom Standard verschiedenartiger „Techniken“ ab. Die Ausarbeitung einer Hypothese zu einer physikalischen Theorie erfordert z. B. mathematische Techniken. Maxwell konnte zur Formulierung seiner Theorie der Elektrodynamik auf die mathematischen Arbeiten u. a. von Gauß und Green zurückgreifen. Für die Entwicklung der Quantentheorie erwies es sich als günstig, dass um 1925 die Theorie der Kugelfunktionen als „Handwerkszeug“ vorlag.
Abb.24.3: Einflüsse auf die naturwissenschaftlicheTheoriebildung (Kircher 1995, 86) Heutzutage hängt die Ausarbeitung der Elementarteilchentheorien nicht nur von mathematischen Theorien ab. Dafür sind leistungsfähige Computer, also wissenschaftlich-industrielle Techniken notwendig. Die Überprüfung von Theorien durch Experimente ist auch heute noch ohne die handwerklichen Techniken, etwa in den Werkstätten der Universitäten, nicht möglich. Außerdem benötigen die Wissenschaftler kommunikative Techniken für den Erfahrungsaustausch und die Publikation.
791 Mathematische Techniken
Verschiedene Techniken als Voraussetzung der Theoriebildung
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Naturwissenschaftliche Techniken
24 Über die Natur der Naturwissenschaften lernen Wichtigste Voraussetzung zur Bildung von Theorien ist für den Wissenschaftler die Beherrschung naturwissenschaftlicher Denkund Arbeitsweisen, die man auch als naturwissenschaftliche Techniken auffassen kann. Diese Techniken brauchen nicht voll entwickelt zu sein. Der übliche Fall ist eher der, dass einige dieser Techniken zumindest weiterentwickelt werden müssen. Selbst in der „Normalwissenschaft“, in der nur noch „Rätsel“ gelöst werden, müssen noch experimentelle Techniken entwickelt werden (s. 24.3.1). 3. Nach allgemeinen Hintergründen und individuellen Weltbildern, allgemeinen und individuellen Techniken als Voraussetzungen, werden die Anlässe naturwissenschaftlicher Theoriebildung betrachtet.
Anlässe der Theoriebildung Intrinsische Motivation
Diese Anlässe beruhen nach traditioneller Auffassung im wesentlichen auf der intrinsischen Motivation des Individuums. „Sehen, was die Welt im Innersten zusammenhält“, ist der Antrieb für Forschung. Natürliche, zufällig oder künstlich erzeugte Phänomene können Anlässe für neue Theorien sein. Ein „Gestaltwechsel“ lässt bekannte Phänomene in neuem Lichte sehen und verstehen.
ökonomischen, politischen und sozialen Bedingungen
Nicht nur im Rahmen der marxistischen Philosophie geben auch die ökonomischen, politischen und sozialen Bedingungen Anlass zu naturwissenschaftlicher Forschung. Diese Bedingungen beeinflussen sowohl das Individuum, etwa wegen der Perspektive des persönlichen Erfolgs, als auch Forschungsprogramme und damit die „wissenschaftliche Gemeinschaft“. Forschungsministerien und Industriekonzerne sind über die Vergabe von Forschungsmitteln Anlass für die Wissenschaftsentwicklung, für Forschungsprogramme und damit mittelbar auch für die Theoriebildung.
Einstein: Zu neuen Begriffen oder den elementaren Gesetzen der Physik führt kein logischer Weg, sondern nur die auf Einfühlung in die Erfahrung sich stützende Intuition
4. Hintergründe, Voraussetzungen, Anlässe stellen zwar die Bedingungen dar für neue Theorien, aber sie führen nicht zwangsläufig dorthin, weil es einen standardisierbaren Weg zur wissenschaftlichen Theorie nicht gibt. Das gilt insbesondere für die Phase der Hypothesen- bzw. Modellbildung. Es kann günstige Bedingungen geben und ungünstige, und die günstigen mögen häufiger zu neuen Theorien führen als die ungünstigen, im Kern bleibt die Erfindung neuer Hypothesen ein kreativer Vorgang eines oder mehrerer Individuen, der nicht erzwungen werden kann. Zu neuen Begriffen oder den elementaren Gesetzen der Physik „führt kein logischer Weg, sondern nur die auf Einfühlung in die Erfahrung sich stützende Intuition“ (Einstein 1953, 109). Lakatos (1974, 181) setzt nur den Akzent etwas anders: „Die Richtung der Wissenschaft ist vor allem durch die
24.4 Theoriebildung in der Physik – Modellbildung im Physikunterricht 1291 1292 1293 1294 1295 1296 1297 1298 1299 1300 1301 1302 1303 1304 1305 1306 1307 1308 1309 1310 1311 1312 1313 1314 1315 1316 1317 1318 1319 1320 1321 1322 1323 1324 1325 1326 1327 1328 1329 1330 1331 1332 1333
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schöpferische Phantasie bestimmt und nicht durch die Welt der Tatsachen, die uns umgibt“.
24.4.2 Über Modellbildung im Physikunterricht Kann trotz der Komplexität der naturwissenschaftlichen Theoriebildung (s. Abb. 24.2), weiterhin die traditionelle These vertreten werden, dass die Modellbildung im naturwissenschaftlichen Unterricht grundsätzlich den gleichen Bedingungen unterliegt wie die Theoriebildung in den Naturwissenschaften? 1. Wie in den Ausdrücken „Modellbildung“ und „Theoriebildung“ angedeutet, werden unterschiedliche Anforderungen an die Ergebnisse der Wissenschaft bzw. des Physikunterrichts gestellt. Ein weiterer wesentlicher Unterschied besteht darin, dass im Unterricht den allgemeinen Bedingungen (Voraussetzungen, Hintergründe, Anlässe der Modellbildung) eine geringere, den individuellen Bedingungen eine größere Bedeutung zukommt. Die allgemeinen Bedürfnisse einer Gesellschaft sind für die Schüler nicht in der Weise erfahrbar und bewusst, dass diese sich wesentlich auf die Modellbildung im Unterricht auswirken. Die allgemeinen Techniken sind für die Schüler nicht oder wenig zugänglich. Als allgemeiner geistiger Hintergrund der Modellbildung fließen bei Schülern i. Allg. andere thematische Bereiche ein als bei einem Naturwissenschaftler. Natürlich sind auch die individuellen Bedingungen dieser beiden Gruppen nicht identisch. Die teilweise differenzierten individuellen Weltsichten der Naturwissenschaftler werden bei Schülerinnen und Schülern und anderen Laien zutreffender als Common sense oder Alltagsvorstellungen bezeichnet. Diese beeinflussen möglicherweise in stärkerem Maße die Modellbildung im Unterricht als vergleichsweise die individuellen Weltsichten eines Naturwissenschaftlers die Theoriebildung. Wenn die Hypothesen von den Schülern überprüft werden sollen, benötigen auch sie individuelle Techniken, aber natürlich ohne die Raffinesse der in den modernen Naturwissenschaften angewendeten mathematischen und experimentellen Techniken. Schüler und Naturwissenschaftler verfügen nicht nur über ein unterschiedliches Repertoire an Techniken, sondern unterscheiden sich auch in der Professionalität der Anwendung dieser Techniken. 2. Die naturwissenschaftliche Methode ist nicht in Einzelheiten im Voraus angebbar, d. h. nicht im Sinne eines Algorithmus anwendbar, ist nur in groben Zügen planbar. Ferner sind die in den Naturwissenschaften entwickelten theoretischen und experimentellen Techniken
Unterschiede zwischen Wissenschaft und Unterricht Individuelle Bedingungen haben im Unterricht eine größere Bedeutung
Unterschiedliches Repertoire an Techniken
Unterschiedliche Professionalität der Anwendung der Techniken
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24 Über die Natur der Naturwissenschaften lernen in einer Weise kompliziert geworden, dass diese selbst die Naturwissenschaftler nur noch in ihrem Spezialgebiet beherrschen; ein Physiklehrer kennt manche moderne technische Verfahren (wie die Molekularstrahlepitaxie in der Nanotechnologie) nur vom Hörensagen.
Der Physikunterricht kann i. Allg. den modernen physikalischen Methoden nicht folgen
Angesichts dieses Sachverhalts erscheint die traditionelle These: Der Physikunterricht folgt der physikalischen Methode – als eine Übertreibung. Die Schüler können angesichts der Entwicklung der Physik nicht deren Methodologie und nicht deren Wissensbestände erarbeiten, wie es Naturwissenschaftsdidaktiker und Naturwissenschaftler früher forderten (z. B. in den Meraner Beschlüssen 1905). Physikalische Methoden sind nicht a priori für den Physikunterricht qualifiziert. Sie können nur über die Lernziele, vor allem als Prozessziele und Konzeptziele Einfluss auf die Unterrichtsmethode nehmen. Die induktive Methode ist wissenschaftstheoretisch dubios; sie hat auch zu einem unzutreffenden Bild der Wissenschaften beigetragen. Gravierender erscheint allerdings, dass dadurch eine Unterrichtspraxis toleriert oder gar gefördert wird, die wesentliche Grundsätze der allgemeinen Pädagogik und der Lernpsychologie ignoriert.
Allgemeingut der gegenwärtigen Physikdidaktik
Es ist ein Allgemeingut der gegenwärtigen Physikdidaktik, dass sich die Unterrichtsmethode in erster Linie an methodischen Implikationen der allgemeinen und speziellen Lernziele orientiert, an den soziokulturellen und anthropogenen Voraussetzungen der Lernenden, an organisatorischen Gegebenheiten der Schule und vor allem an einem humanen Bild des Menschen.
24.4.3 Über die Bedeutung von Experimenten in der Physik und im Physikunterricht Welche Rolle spielen Experiente bei der Theoriebildung ?
Wir nehmen an, dass eine Hypothese zur Beschreibung und Erklärung eines physikalischen Objekts kreativ erfunden und entwickelt wurde (s. Abb. 24.4). Dann wird versucht, die Hypothese durch eine Voraussage über Vorgänge und Ereignisse in der Realität (vorläufig) zu bestätigen oder (vorläufig) zu widerlegen. Zur Überprüfung wird ein spezielles Experiment entwickelt, das die Überprüfung der Aussage a aufgrund der Wirkungen a* des physikalischen Objekts gestattet. Die Wirkungen a* führen zu Daten a**, die das Experiment liefert. Diese Daten sind quantitativer Art und können mit quantitativen Voraussagen der Theorie, des Modells, der Hypothese verglichen werden.
24.4 Theoriebildung in der Physik – Modellbildung im Physikunterricht 1377 1378 1379 1380 1381 1382 1383 1384 1385 1386 1387 1388 1389 1390 1391 1392 1393 1394 1395 1396 1397 1398 1399 1400 1401 1402 1403 1404 1405 1406 1407 1408 1409 1410 1411 1412 1413 1414 1415 1416 1417 1418 1419
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Experiment Realität Daten a** phys. Objekt
a*
a
Theorie Hypothese Modell
Abb. 24. 4: Das Experiment als Bindeglied zwischen Theorie und Realität (physikalischem Objekt). Aber: Weder der Zusammenhang zwischen Experiment und Hypothese, noch zwischen Experiment und physikalischem Objekt ist eindeutig (s. 1.2.2): So sind etwa die an einer Beschleunigeranlage (z. B. CERN) gewonnenen Daten nur durch das Zusammenwirken verschiedener physikalischer Theorien (nicht nur der Elementarteilchenphysik) und mit Hilfe von Großcomputern mehr oder weniger eindeutig zu interpretieren. Sie können auch mit unterschiedlichen Theorien kompatibel sein. Aber als Ergebnis langjähriger Forschungen wissen wir trotzdem zuverlässig Bescheid von der Existenz der Quarks, und das trotz der empirischen Unterbestimmtheit physikalischer Theorien. Sie erinnern sich, in Abschnitt 24.3 wurde hervorgehoben, dass eine Theorie weder durch ein einzelnes Experiment endgültig bestätigt (bewährt), noch endgültig widerlegt ist. Eine Theorie gilt vor allem dann von der wissenschaftlichen Gemeinschaft als „bewährt“, wenn sie erfolgreich ist, um für relevant erachtete physikalische Probleme zu lösen und wenn die aus verschiedenen direkten und indirekten Messungen gewonnenen Daten kompatibel sind (s. 1.2.2).
Weder der Zusammenhang zwischen Experiment und Hypothese, noch zwischen Experiment und physikalischem Objekt ist eindeutig
Insgesamt hat sich die Bedeutung von Experimenten in der Nanound Femto-Welt sowie im Kosmos insofern verringert, weil die Phänomene nur durch einen immensen experimentellen und finanziellen Aufwand erzeugt und registriert werden können. Diese Experimentieranlagen sind in hohem Maße theorieabhängig konzipiert und betrieben. Spielerisches Hantieren mit „Geräten des Alltags“ als Ausgangspunkt für Entdeckungen wie bei Galilei (Fernrohr), Newton (Prismen), Faraday (Magnet und Drahtspule) hat in der modernen Physik keinen Erfolg mehr. (Näheres zur fachlichen Klärung des Experiments s. z.B. Höttecke (2008b)). 2. Allgemeinbildender Physikunterricht befasst sich vor allem mit qualitativen Erklärungen; dafür genügen qualitative Experimente. Sie zeigen grundlegende Phänomene der Schulphysik z. B. der Optik oder der Elektrizitätslehre. Die qualitativen Experimente sind Grund-
Quantitative Experimente
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24 Über die Natur der Naturwissenschaften lernen lage für Realitätserfahrungen und für Wissen über Grundlagen unserer technischen Welt. Insofern sind Experimente ebenso primäre Lernobjekte des Physikunterrichts wie physikalische Begriffe, Gesetze und Theorien. Darüber hinaus werden Experimente als Lernhilfen eingesetzt, indem sie die begriffliche und die methodische Struktur der Physik veranschaulichen, leichter verständlich machen können. Dieser Aspekt ist ausführlicher in Kapitel 5 thematisiert. Wissenschaftstheoretische Aspekte der Physik werden insbesondere durch quantitative Experimente illustriert: • das Wechselspiel von Theorie und Experiment • die Bedeutung quantitativer Experimente für die Entwicklung der Physik und der Technik • für das Ringen um sinnvolle Daten und deren Interpretation • für genaues Beobachten und sorgfältiges Experimentieren
Missverständnisse
Mit Experimenten im Physikunterricht sind Missverständnisse verknüpft: • dass das quantitative Experiment eine Theorie endgültig beweist oder endgültig widerlegt • dass experimentelle Daten und prognostizierte Daten vollkommen übereinstimmen müssen • dass von experimentellen Daten „induktiv“ auf ein physikalisches Gesetz geschlossen wird • dass „überzeugende“ Experimente vor allem von der Darbietung (Show) des Lehrers abhängen. Experimente haben im Physikunterricht einen herausragenden Platz:
Experimente haben im Physikunterricht einen herausragenden Platz
• weil die Schulphysik sich vorwiegend mit der anschaulicheren klassischen Physik befasst, • weil mit Schülerexperimenten eine Reihe relevanter Unterrichtsziele verknüpft sind (s. 5.6.), • weil Experimente ein unverzichtbarer Bestandteil der physikalischen Methodologie sind, • weil Experimente den Physikunterricht erlebnisreicher und zufriedenstellender machen können.
Definition
3.
Nachtrag: Was ist ein Experiment? Eine kurze Antwort für diejenigen, die alles schwarz auf weiß nach Hause tragen wollen:
Bei einem Experiment werden von einem Experimentator in einem realen System bewusst gesetzte und ausgewählte natürliche Bedingungen verändert, kontrolliert und wiederholt beobachtet. Überlegen Sie nun, welche Aspekte von Experimenten in dieser „Definition“ nicht enthalten sind!
Literatur 1463 1464 1465 1466 1467 1468 1469 1470 1471 1472 1473 1474 1475 1476 1477 1478 1479 1480 1481 1482 1483 1484 1485 1486 1487 1488 1489 1490 1491 1492 1493 1494 1495 1496 1497 1498 1499 1500 1501 1502 1503 1504 1505
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24.5 Ergänzende und weiterführende Literatur Die erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Literatur ist fast unüberschaubar groß. Als einen gut und verständlich geschriebenen Einstieg in die erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Literatur möchte ich Vollmers „Was können wir wissen?“ (1988) empfehlen. Einen engeren Bezug zur Physikdidaktik hat Kuhns „Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“ (1962). Für mich ist dieses Buch eine Pflichtlektüre für Naturwissenschaftsdidaktiker. Enger mit dem Problemkreis „Wissenschaftstheorie und Physikdidaktik“ sind Jungs Arbeiten verbunden (z.B. Jung 1975; 1979). Zu erwähnen sind die Habilitationsschriften von Wolze (1989), Kircher (1995), Reinhold (1996) und die Dissertationen der Physikdidaktik (unveröffentl.:*): *Jupe (1971), *Kircher (1977), Häußling (1976), Schecker (1984), Meyling (1990), Develaki (1998), Höttecke (2001), Mikelskis-Seifert (2002), Leisner (2005), Günther (2006).
Literatur Baumert, J. u.a. (2000). TIMSS/III Bd. 2. Mathematische und physikalische Kompetenzen am Ende der gymnasialen Oberstufe. Opladen: Leske + Budrich. Bunge, M. (1973). Philosophy of physics. Dordrecht: Reidel Publ. Comp. Dewey, J. (19643). Demokratie und Erziehung: Braunschweig. Dijksterhuis, E.J. (19832). Die Mechanisierung des Weltbildes. Berlin: Springer. Driver, R., Leach, J., Millar, R. & Scott, P. (1996). Young peoples images of science. Bristol: Open University Press. Duhem, P. (1908 Nachdruck 1978). Ziel und Struktur physikalischer Theorien. Hamburg: Meiner. Einstein, A. (1953). Mein Weltbild. Zürich. Falkenburg, B. (2006).Was heißt es determiniert zu sein? Grenzen der naturwissenschaftlichen Erklärung. In D. Sturma (Hrsg.). Philosophie und Neurowissenschaften. Frankfurt: Suhrkamp, 43 - 74. Feyerabend, P.K. (1981). Probleme des Empirismus. Braunschweig: Vieweg. Feyerabend, P. (1986). Wider den Methodenzwang. Frankfurt: Suhrkamp. Fischler, H. (Hrsg.) (1992). Quantenphysik in der Schule. Kiel: IPN. Grygier, P., Günther, J. & Kircher, E. (2004). Über Naturwissenschaften lernen – Vermittlung von Wissenschaftsverständnis in der Grundschule. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. de Haan, G. & Kuckartz, U. (1993). Umweltbewusstsein. Opladen: Westdeutscher Verlag. Hanson, N.R. (1965). Patterns of Discovery.Cambridge: University Press. Heisenberg, W. (1973). Der Teil und das Ganze. München: dtv. Hodson, D. (1988). Toward a philosophically more valid science curriculum. Sc. Ed. 72,(1), 19 – 40. Höttecke, D. (2001). Die Natur der Naturwissenschaften historisch verstehen. Berlin: Logos Verlag. Höttecke, D. (Hrsg.) (2008a).Was ist Physik? Über die Natur der Naturwissenschaften unterrichten. NiU Physik, 19, Heft 103). Höttecke, D. (2008b). Fachliche Klärung des Experimentierens. In D. Höttecke (2008). Kompetenzen, Kompetenzmodelle, Kompetenzentwicklung. GDCP Jahrestagung in Essen 2007. Münster: Lit, 293 – 295. Hößle, C., Höttecke, D. & Kircher, E. (Hrsg.) (2004). Lehren und Lernen über die Natur der Naturwissenschaften. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren.
798 1506 1507 1508 1509 1510 1511 1512 1513 1514 1515 1516 1517 1518 1519 1520 1521 1522 1523 1524 1525 1526 1527 1528 1529 1530 1531 1532 1533 1534 1535 1536 1537 1538 1539 1540 1541 1542 1543 1544 1545 1546 1547 1548
24 Über die Natur der Naturwissenschaften lernen
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1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43
Manfred Euler
25 Schülerlabore: Lernen durch Forschen und Entwickeln Schülerlabore haben sich mittlerweile als wirksame außerschulische Instrumente zur Förderung naturwissenschaftlicher Bildungsprozesse etabliert. Die Labore bieten vielfältige Lernanreize und komplementäre Möglichkeiten zur Anreicherung und Ergänzung des Unterrichts vor allem in Bezug auf authentische, lebensweltbezogene naturwissenschaftlich-technische Themenfelder und Arbeitsweisen. Die Angebote zum Lernen durch Experimentieren erweisen sich für die Breiten- ebenso wie für die Spitzenförderung als bedeutsam. Über eine verbesserte Vernetzung mit der Schulpraxis und der Lehrerbildung bieten die Labore weiter gehende Potenziale für Entwicklung der Qualität von Lehr- und Lernprozessen. Insbesondere verstärken sie die Rolle des erfahrungsbasierten Lernens. Schülerlaborangebote in Deutschland. Die unter www.lernortlabor.de verfügbare Laborkarte stellt Informationen über die einzelnen Labore interaktiv bereit.
25.1 Labore als außerschulische Lernorte: Erfolgsgeschichte einer Bildungsinnovation In Deutschland ist unter dem Eindruck der teilweise unzureichenden Qualität des naturwissenschaftlichen Unterrichts und der geringen Attraktivität vieler naturwissenschaftlich-technischer Studienfächer und Berufe eine vielfältige außerschulische Bildungslandschaft entstanden, die dieser Befundlage entgegenzuwirken sucht. Schülerlabore spielen dabei eine besondere Rolle (Engeln & Euler 2004). Unter Schülerlaboren werden außerschulische Einrichtungen verstanden, die ganzen Schulklassen Begegnungen mit modernen Natur-
800 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81 82 83 84 85 86
Entwicklung der Zahl der Schülerlabore seit 1996
25 Schülerlabore: Lernen durch Forschen und Entwickeln und Ingenieurwissenschaften ermöglichen. Dies geschieht im Rahmen geeigneter Lernumgebungen mit Laborcharakter, die Schülerinnen und Schüler zur aktiven Auseinandersetzung mit naturwissenschaftlichen und technischen Fragestellungen und Methoden anregen. Die Authentizität der Arbeitsweisen und Lernerfahrungen steht dabei im Zentrum. Nach zaghaften Anfängen haben diese außerschulischen Initiativen einen bemerkenswerten Aufschwung genommen (Ringelband et al. 2001). Mittlerweile existieren in Deutschland weit über 200 Schülerlabore mit Schwerpunkten in den naturwissenschaftlichen Fächern Biologie, Chemie, Physik, in der Technik, in Mathematik und Informatik sowie mit multi- und transdisziplinären Zielen. Die Mehrzahl der Schülerlabore (weit über 50%) wird von Universitäten betrieben, den nächst größeren Anteil von ca. 20 % stellen Forschungseinrichtungen. So verfügen beispielsweise alle Helmholtz-Forschungszentren über ein Schülerlabor.
Hauptsächliche Betreiber von Schülerlaboren: - Universitäten - Forschungsinstitute - Science Centers & Museen - Industrie & Technologiezentren
Die Grundidee der Labore, Wissenschaft durch erfahrungsbasierte Zugänge erlebbar zu machen, die so weit als möglich auf eigenständigen experimentellen Tätigkeiten und Projekten aufbauen, hat sich als tragfähig und höchst erfolgreich erwiesen. Viele Schülerlabore haben lange Wartelisten und müssen interessierte Klassen abweisen. Die Erfolgsgeschichte der Labore spiegelt den gesellschaftlichen Bedarf an derartigen außerschulischen Angeboten, die komplementär zum etablierten formalen System vorwiegend informelle Bildungsprozesse anstoßen und den Unterricht anreichern und vertiefen. Dies geschieht vor allem im Hinblick auf die Vermittlung vielfältiger Erfahrungen der lebensweltlichen Bezüge des Entdeckens, Forschens und Entwickelns im Rahmen weitgehend authentischer Arbeitsweisen aus Naturwissenschaften und Technik. Mittlerweile gibt es auf alle Altersstufen zugeschnittene Laborangebote, vom Kindergarten und der Grundschule bis zur Studieneingangsphase.
Nutzung und Reichweite der Labore in Deutschland: - ca. 400 000 Schülerinnen & Schüler pro Jahr - ca. 12 000 Lehrkräfte pro Jahr
Die Ausdifferenzierung der Schülerlabor-Landschaft ist ein noch andauernder Prozess, der sich in Wechselwirkung mit den gesellschaftlichen Erfordernissen vollzieht. Viele Laborgründungen der ersten Generation lassen sich als wissenschaftsgetrieben charakterisieren. Sie zielen darauf, eine Brücke zwischen Schule und moderner Wissenschaft herzustellen, um die abstrakte und häufig als lebensfern geltende Wissenschaft besser zugänglich und erlebbar zu machen. Schülerlabore, vor allem an Universitäten, werden mittlerweile in einem steigenden Maß in die Ausbildung künftiger Lehrkräfte eingebunden. Auch für die Weiterbildung von Lehrkräften spielen die Labore eine wachsende und noch ausbaufähige Rolle.
25.2 Komplexe Lernumgebung: Einheit in der Vielfalt von Schülerlaborkonzepten 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 100 101 102 103 104 105 106 107 108 109 110 111 112 113 114 115 116 117 118 119 120 121 122 123 124 125 126 127 128 129
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Im Zuge der Weiterentwicklung der Schülerlabore verschiebt sich der Fokus vom Wissenschafts- und Technologiebezug zunehmend auch auf berufsorientierende Ziele und Bezüge zur Wirtschaft. Dies ist eine Reaktion auf den Mangel an qualifizierten Fachkräften mit einem technisch-naturwissenschaftlichen Hintergrund, eine Entwicklung, die durch den demographischen Wandel in Deutschland sich künftig noch verschärfen wird. Das Angebot an entsprechenden Industrie-Laboren, die Tätigkeiten in Forschung, Entwicklung, Konstruktion und Design und die entsprechenden Berufsbezüge projektartig erfahrbar machen, ist allerdings derzeit noch sehr gering.
25.2 Komplexe Lernumgebung: Einheit in der Vielfalt von Schülerlaborkonzepten 25.2.1 Gemeinsame Ziele und Gestaltungsmerkmale Trotz unterschiedlicher Entstehungsgeschichte und spezifischer Schwerpunktsetzung stimmen die Schülerlabore in ihren zentralen Zielen weitgehend überein: • Förderung von Interesse und Aufgeschlossenheit von Kindern und Jugendlichen für Naturwissenschaften und Technik.
Frühe, spielerische Begegnung mit Optik: ScienceCenter „phaeno“ in Wolfsburg
• Vermittlung eines zeitgemäßen Bildes dieser Fächer und ihrer Bedeutung für unsere Gesellschaft und deren Entwicklung. • Ermöglichen von Einblicken in Tätigkeitsfelder und Berufsbilder im naturwissenschaftlichen und technischen Bereich. Zum Erreichen dieser anspruchsvollen Zielstellungen setzen die Laborbetreiber auf folgende Prinzipien und Gestaltungsmerkmale beim Design der Labore als Lern- und Erfahrungsräume für Kinder und Jugendliche: • Begegnung mit moderner Naturwissenschaft und Technik durch erfahrungsbasierte Zugänge zu Prozessen der Forschung und Entwicklung. Dabei spielen Experimente, praktische Aktivitäten und projektartige Arbeitsformen eine zentrale Rolle. • Schaffen eines Lernumfelds, das zur aktiven Auseinandersetzung mit möglichst lebensweltbezogenen, authentischen Problemen aus Forschung und Entwicklung anregt. • Bieten von Lerngelegenheiten und Möglichkeiten zur Erfahrung und Entfaltung individueller Stärken im Rahmen von Team- und Projektarbeit mit dem Ziel, fachliche und überfachliche Kompetenzen (hard und soft skills) gleichermaßen zu fördern.
Fortgeschrittene optische Messtechnik: DLR_School_Lab Göttingen
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25 Schülerlabore: Lernen durch Forschen und Entwickeln • Ermöglichen persönlicher Kontakte mit Personen, die in Forschung und Entwicklung tätig sind, sowie das Erfahren von möglichen Rollenmodellen, insbesondere für Mädchen und junge Frauen.
Laborrelevante Merkmale konstruktivistischer Lernumgebungen Schülerlabore als komplexe Lernumgebungen
Die Gestaltungsprinzipien der Schülerlabore erfüllen viele der Kriterien, die unter der Perspektive der Lehr-Lern-Theorie als relevant für eine aktive Wissenskonstruktion durch die Lernenden angesehen werden (vgl. Gerstenmeier & Mandl 1995). Die Labore setzen dabei vor allem auf die Authentizität der angebotenen Laboraktivitäten und das Gewinnen eigener Erfahrungen in einem neuen Lernumfeld. Die Verknüpfung des von der Schule mehr oder minder vertrauten Wissens mit Anwendungszusammenhängen sowie mit der Lebens- und Berufswelt stehen im Zentrum der Tätigkeiten. Authentizität ist der Trumpf der Schülerlabore. Sie ist durch die Verortung an einem Forschungsinstitut, einer Universität oder in der Industrie nahezu unmittelbar greifbar. Die zu bearbeitenden Laborprojekte stehen in einem direkten Bezug zur Forschung, Entwicklung oder Produktion der betreibenden Institution. Der Laborbesuch wird zumeist auch mit einer Besichtigung der Institution verbunden. Personen, die in die jeweiligen Forschungs- und Arbeitszusammenhänge eingebunden sind, stehen als Betreuer oder als Ansprechpartner zur Verfügung und geben Information aus erster Hand (für Konzepte physikalisch-technischer Schülerlabore vgl. Euler, 2005). Die Lernumgebung Schülerlabor ist vergleichsweise komplex. Sie bettet die praktische Arbeit in interessante thematische und methodische Kontexte ein und geht vielfältige Wege, um die Lernenden anzuregen, selbst aktiv zu werden. Die zu bearbeitenden Aufgaben und Projekte sind relativ anspruchsvoll und stellen für die Lernenden eine Herausforderung dar, die unter Nutzung geeigneter Werkzeuge zumeist kooperativ zu lösen sind. Je nach Zielgruppe variieren die Aufgaben in Schwierigkeit, Offenheit und Unterstützung durch die Betreuenden.
25.2.2 Fachspezifische Differenzierungen der Angebote Obwohl alle Schülerlabore in ihrem Hauptziel der Interesseförderung übereinstimmen, zeigt das Spektrum der Laborkonzepte deutliche fachbezogene Ausdifferenzierungen und Schwerpunkte, welche die spezifische Problemlage der jeweiligen Fachrichtung abbilden. Physikalisch orientierte Labore betonen besonders, auf die Gewinnung von potenziellem Nachwuchs abzuzielen und das Image dieses notorisch „harten“ Fachs zu verbessern.
25.2 Komplexe Lernumgebung: Einheit in der Vielfalt von Schülerlaborkonzepten 173 174 175 176 177 178 179 180 181 182 183 184 185 186 187 188 189 190 191 192 193 194 195 196 197 198 199 200 201 202 203 204 205 206 207 208 209 210 211 212 213 214 215
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Sie setzen dabei auf das Erfahren von Arbeitsweisen im Rahmen interessanter lebensweltbezogener Probleme und Projekte, die mit weitgehend authentischen Werkzeugen und Verfahren bearbeitet werden. Physik- und Techniklabore stellen vor allem die kreativen und innovativen Aspekte der Forschungs- und Entwicklungstätigkeit und deren gesellschaftliche Bedeutung heraus. Das gilt auch für die Chemielabore, wobei hier überdurchschnittlich viele Angebote auf eine möglichst frühe Förderung zielen. Diese Labore betonen besonders den Spaß am Experimentieren und die Rolle der Chemie im Alltag. Die Problemlage in der Biologie ist eine andere: das Schulfach muss nicht gegen das Image einer „harten“ Naturwissenschaft ankämpfen und hat keine Nachwuchssorgen. Defizite bestehen dagegen in der Vertrautheit biologisch interessierter Jugendlicher mit experimentellen naturwissenschaftlichen Methoden. Entsprechend setzen Biologie-Labore stärker als die anderen in der Sekundarstufe II an. Sie zielen dabei besonders auf die Vermittlung von Methodenkenntnissen und von einem authentischen Bild der modernen Biologie als experimenteller Naturwissenschaft. Die Schwerpunkte der Laborangebote liegen vor allem in den Bereichen Molekularbiologie und Gentechnik. Diese Gebiete entwickeln sich besonders rasant weiter und lassen sich mit schulischen Mitteln nur schwer experimentell erschließen. Darüber hinaus sind sie Gegenstand gesellschaftlicher Kontroversen. Die Labore sehen ihre Aufgabe auch darin, Jugendliche zur Teilhabe an den Diskursen zu befähigen.
25.2.3 Balance von Instruktion und Konstruktion Die besondere Herausforderung in der erfolgreichen Umsetzung konstruktivistischer Lehr-Lern-Umgebungen besteht in der Herstellung eines sinnvollen Gleichgewichts zwischen instruktionaler Unterstützung durch geeignete personelle oder mediale Maßnahmen und den Möglichkeiten zur autonomen Wissenskonstruktion durch die Laborteilnehmer beim Entwickeln von Fragestellungen, bei der Planung, Durchführung und Auswertung der Experimente sowie bei der Diskussion und Präsentation der Ergebnisse (Euler 2001). Diese subtile Balance zwischen Anleitung und Offenheit ist von vielen Randbedingungen abhängig. Entgegen manch hoher Erwartungen funktioniert die Wissenskonstruktion in konstruktivistisch gestalteten Lernumgebungen mit minimaler Führung in den wenigsten Fällen (Kirschner et al. 2006). Die Lernenden müssen in geeigneter Weise angeleitet und unterstützt werden. Fehlende Zielorientierung und mangelnde Reflexion der Prozesse sind häufig Gründe für ein Schei-
Zielgruppen der Schülerlabore nach Angaben der Betreiber. Vergleich der Fächer mit dem Mittelwert aller Labore (dunkle und helle Balken Bestandsaufnahme 2005)
804 216 217 218 219 220 221 222 223 224 225 226 227 228 229 230 231 232 233 234 235 236 237 238 239 240 241 242 243 244 245 246 247 248 249 250 251 252 253 254 255 256 257 258
Labordesign: Balanceakt zwischen Anleitung und selbstständigem Problemlösen
Quantensprung Schülerlabor der GKSS Geesthacht: Parallele Einzelarbeit
DLR_School_Lab Göttingen: Gruppenarbeit an Lernstationen
Baylab Plastics, Leverkusen: Design und Herstellung eines Produkts in Teamarbeit
25 Schülerlabore: Lernen durch Forschen und Entwickeln tern. Auch ein Übermaß an Führung ist abträglich für die motivationale Entwicklung und die Entfaltung produktiver Potenziale. Die verschiedenen Laborkonzepte unterscheiden sich stark darin, wie dieser subtile Balanceakt und die Gratwanderung zwischen Anleitung und Selbstständigkeit sowie Zielorientierung und Offenheit umgesetzt wird. Man findet das gesamte Spektrum von Möglichkeiten, das von eng geführter kochbuchartiger Labortätigkeit bis zum relativ offenen Arbeiten reicht. Das Ausmaß der Lernunterstützung im Labor hängt ebenso wie Offenheit und Selbstständigkeit stark vom Expertisegrad der Zielgruppe ab. Andererseits gibt es selbst bei vergleichbarer Expertise deutliche Unterschiede in der Rolle der Autonomie. Dabei zeigen sich auch fachspezifische Besonderheiten. Diese Unterschiede sind insofern bemerkenswert, weil bei den betrachteten Laborarrangements keine echten Freiheiten der Versuchsdurchführung existieren. Die Experimente sind fest vorgegeben und es bestehen kaum Variationsmöglichkeiten. Dennoch sind Eigenaktivitäten in den verschiedenen Phasen der Planung, Auswertung und Ergebnispräsentation in unterschiedlichem Ausmaß gefordert. Physik- und Biologielabore bilden die Extremgruppen. Der Schwerpunkt liegt auf einem stärker eigenständigen Arbeiten in der Physik in Vergleich zum eher geführten Vorgehen in der Biologie. Die Besonderheiten in den Aufgabenarrangements scheinen die Erfordernisse der Fachkulturen komplementär zum Bild des jeweiligen Schulfachs zu spiegeln. Dem stringenten und notorisch harten Image des Fachs Physik werden offene, explorative Aspekte der Labortätigkeit entgegengesetzt. In der Biologie rücken dagegen die systematischen Aspekte experimenteller Tätigkeit in den Vordergrund.
Abb.25.1: Grad der Autonomie in verschiedenen Bearbeitungsphasen experimenteller Aufgaben nach Angaben der Laborbetreiber (Mittelwerte einer fünfstufigen Skala, Balken: alle Labore)
25.3 Wirkungsforschung: Die kontraintuitive Effektivität der Laboraktivitäten 259 260 261 262 263 264 265 266 267 268 269 270 271 272 273 274 275 276 277 278 279 280 281 282 283 284 285 286 287 288 289 290 291 292 293 294 295 296 297 298 299 300 301
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25.3 Wirkungsforschung: Die kontraintuitive Effektivität der Laboraktivitäten Schülerlabore bieten verschiedene Besonderheiten und Vorzüge gegenüber dem traditionellen Unterricht vor allem in Bezug auf Authentizität, Orientierung an wissenschaftlichen und technischen Arbeitsweisen, fachliche Expertise durch Kontakt mit aktiven Wissenschaftlern und Technikern sowie dem Angebot vielfältiger Aktivitäten in einem emotional ansprechenden Umfeld, das zur kreativen Entfaltung einlädt. Im Vergleich zum herkömmlichen Unterricht verfügen die Labore über große Freiheiten in der Gestaltung der Lernfelder. Sie sind nicht an die oft restriktiven Vorgaben eines Lehrplans, an die Anforderungen zentraler Prüfungen oder an den 45 Minuten Takt einer einzelnen Schulstunde gebunden.
Studien zu Wirkungen von Schülerlaboren: Engeln (2004), Brandt& Scharfenberg (2005), Guderian & Glowinski (2007), Pawek (2009)
Den Vorteilen steht der singuläre Charakter gegenüber. Nach dem Laborbesuch, der in vielen Fällen kaum eine Vor- oder Nachbereitung im Unterricht erfährt, geht der Schulalltag in der gewohnten Weise weiter. Die Wirksamkeit der Maßnahmen war daher zunächst umstritten. Eine nachhaltige Wirkung anzunehmen ist sicher auch höchst kontraintuitiv: Warum sollte den Laboren durch einmalige Intervention gelingen, was sich im Unterricht als schwierig erweist? Eine Reihe von Studien in verschiedenen Fächern belegen jedoch kurz- bis mittelfristige Effekte. Diese betreffen verschiedene Interessedimensionen: emotionales Interesse (Labortätigkeit hat Spaß gemacht), wertbezogenes Interesse (Bedeutsamkeit des Laborbesuchs) sowie epistemisches Interesse (Wunsch, mehr zu lernen). Einige Untersuchungen weisen auch Veränderungen im Selbstkonzept sowie im Bild von Naturwissenschaft nach, die über Monate anhalten, - Wirkungen, die man von einem einmaligen Ereignis kaum erwartet hätte.
Abb.25.2: Wirkungsstudien von Schülerlaboren und untersuchte Einflussfaktoren
Emotionale, wertbezogene und epistemische Interessekomponenten; T2: unmittelbar nach dem Labor, T3: 8 Wochen danach (DLRLabore, (Pawek 2009))
806 302 303 304 305 306 307 308 309 310 311 312 313 314 315 316 317 318 319 320 321 322 323 324 325 326 327 328 329 330 331 332 333 334 335 336 337 338 339 340 341 342 343 344
25 Schülerlabore: Lernen durch Forschen und Entwickeln Die folgenden Befunde betreffen Schülerlabore des DLR, die sich an Jugendliche aus der Oberstufe sowie aus den Abschlussklassen der Sekundarstufe I richten (Pawek 2009). Die Labore mit Experimenten aus Physik und Technik fordern ein hohes Maß an Eigenaktivität der Schüler ein. Diese Aktivitäten werden von dem größten Teil der Schüler als interessant und bedeutsam erlebt. Wie sich am epistemischen Interesse zeigen lässt, fördern sie bei rund der Hälfte der Jugendlichen das Interesse, sich mit den im Labor aufgeworfenen naturwissenschaftlich-technischen Fragen auch weiter auseinanderzusetzen. Bei weniger interaktiven sowie bei schulnah ausgerichteten Laboren liegt dieser Wert typisch nur bei ca. 30 %. Man könnte vermuten, dass die Labore nur jene Schülergruppen ansprechen und anregen, die ohnehin bereits für die behandelten Themen und Fragen hoch motiviert sind. Dazu wurde untersucht, wie viel Varianz im Interesse aus den dispositionalen Variablen der Schüler vor dem Laborbesuch und den wahrgenommenen Labormerkmalen danach aufgeklärt werden kann. Es zeigt sich, dass beim emotionalen und wertbezogenen Interesse die Labormerkmale den größten Anteil zur Varianzaufklärung beitragen und Dispositionen nur eine untergeordnete Rolle spielen. Beim epistemischen Interesse ist das Gewicht der schülerspezifischen Dispositionen höher (32 % an aufgeklärter Varianz). Ein Einschluss der Labormerkmale klärt aber einen zusätzlichen Varianzanteil von 21% auf. Insofern kann man davon ausgehen, dass die Labore tatsächlich kausal wirksam sind und auch weniger interessierte Jugendliche für die behandelten Themen und Arbeitsweisen aufschließen und aktivieren.
Kein Gender-Gap bei Schülerlaboren
Die praktische Projektarbeit in den Laboren spricht auch Problemgruppen an, die sich im Unterricht nur wenig einbringen. Das betrifft auch den berüchtigten „Gender Gap“ der Schulphysik, die noch immer bestehende extreme geschlechterspezifische Polarisierung beim physikalischen Fachinteresse und beim fachlichen Selbstkonzept. Es gelingt den Laboren, Mädchen und Jungen nahezu gleichermaßen gut anzusprechen. Der Laborbesuch wird von beiden Geschlechtern mit positiven Gefühlen belegt und als persönlich bedeutsam erachtet. Mädchen übertragen ihre negativen Bewertungen des Physikunterrichts nicht auf das Lernen im Labor und profitieren tendenziell stärker als Jungen von den Lernerfahrungen. Es ist eine merkliche Steigerung ihres fachlichen Selbstkonzepts nach dem Laborbesuch festzustellen. Der Unterschied zu den Jungen ist zwar immer noch vorhanden, doch der Abstand hat sich verringert.
25.3 Wirkungsforschung: Die kontraintuitive Effektivität der Laboraktivitäten 345 346 347 348 349 350 351 352 353 354 355 356 357 358 359 360 361 362 363 364 365 366 367 368 369 370 371 372 373 374 375 376 377 378 379 380 381 382 383 384 385 386 387
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Eine nahe liegende Vermutung zur Deutung dieses positiven GenderEffekts und der Aktivierung eher zurückhaltender Schüler liegt in der positiven Selbstwirksamkeitserfahrung durch die Tätigkeit in den Laboren. Die Laborteilnehmer können sich entsprechend ihrer Möglichkeiten und Stärken in die Arbeit einbringen und dabei Erfolgserlebnisse erzielen. Vor allem die Vielfalt der Interaktionsmöglichkeiten und die Gelegenheiten zum kooperativen ergebnis- bzw. produktorientierten Arbeiten an einem Projekt unterscheidet die Labortätigkeit vom eng geführten Unterricht. Lehrkräfte sind von den Leistungen der Jugendlichen in dem neuen Lernumfeld oft positiv überrascht und bestätigen, dass sie manche ihrer Schülerinnen und Schüler „nicht mehr wiedererkennen“. Untersuchungen mehrere Monate nach dem Laborbesuch belegen Einstellungsänderungen und zeigen, dass die Aktivitäten im Labor nachhaltige Prozesse in Gang setzen und manche Sichtweisen, Vorurteile und Stereotypen der Jugendlichen verändern können. Diese länger anhaltenden Effekte sind ein Beleg für die Wirksamkeit der einmaligen Intervention. Allerdings treten solche nachhaltigen Momente nicht bei allen Laboren auf, bzw. sie verblassen wieder mit unterschiedlicher Geschwindigkeit. Ein Kontrollgruppenexperiment mit Follow-up Messung weist für ein Chemie-Labor kurzfristige Wirkungen auf das Sachinteresse und das Selbstkonzept nach; vier Monate nach dem Laborbesuch sind diese Effekte nicht mehr feststellbar (Brandt et al 2008). Wie die Ergebnisse an den DLRLaboren zeigen, sind längerfristige Wirkungen offenbar bei jenen Laboren stark ausgeprägt, die ein besonders intensives Lernerlebnis ermöglichen. Bei eher schulnah ausgerichteten Laboren sind diese Effekte weniger deutlich. Zur genaueren Klärung dieser zweifellos zutiefst praxisrelevanten Fragen besteht weiterer Forschungsbedarf. Trotz einiger Unterschiede in der Wirksamkeit, die mit der Zielgruppe, dem Fach und der spezifischen Laborkonzeption in Zusammenhang stehen, zeichnen die bislang durchgeführten Studien ein durchweg optimistisch stimmendes Bild von den Wirkungen der Schülerlabor-Angebote in unserem Bildungssystem. In den relativ komplexen, eher offenen, informellen und handlungsorientierten Lernumgebungen der Schülerlabore lernen die Schülerinnen und Schüler nicht nur Neues kennen, sie lernen offenbar auch anders als im formalen Lernkontext der Schule. Die aktive Beteiligung an Forschungs- und Entwicklungsprojekten, die mit den entsprechenden Erfolgs- und Kompetenzerlebnissen verbunden sind, steigern nicht nur die kognitiven, emotionalen und wertbezogenen Komponenten
Fähigkeitsselbstkonzept in Physik von Jungen und Mädchen (Pawek 2009): T1-vor Laborbesuch T2-sofort danach T3-acht Wochen später
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25 Schülerlabore: Lernen durch Forschen und Entwickeln des Interesses, sondern auch das naturwissenschaftliche Selbstkonzept. Die Laboraktivitäten stellen somit eine Bereicherung und Ergänzung des regulären Unterrichts dar mit erstaunlich vielfältigen und positiven Wirkungen, über die wir mittlerweile im Zuge der Ausdifferenzierung der Schülerlabor-Landschaft immer mehr lernen.
25.4 Unterrichtsentwicklung: Renaissance des erfahrungsbasierten Lernens
Beim Experimentieren treten Erfahrungs- und Ideenwelt in Wechselwirkung Unter welchen Bedingungen kann der kreative Funke überspringen?
Die Schülerlaborbewegung hat insofern bedeutsame bildungspolitische Impulse gesetzt, als sie der interaktiven, praktischen Auseinandersetzung mit Naturwissenschaften und Technik und dem Lernen durch Experimentieren den gebührenden Stellenwert in der Lehre einräumt. Sie demonstriert Potenziale und Beispiele guter Praxis für das Lernen durch Erfahrung. Wie die empirischen Untersuchungen zeigen, verändern sich die Einstellungen der Jugendlichen kurz- bis mittelfristig. Aber auch für die Förderung handlungsrelevanter Kompetenzen und die Entwicklung produktiver Ideen ist diese Lernform unerlässlich. Gleichwohl sind die unmittelbaren Einwirkungsmöglichkeiten der Labore durch die zumeist nur einmalige Intervention begrenzt. Es müssen grundlegende systemische Veränderungen angestoßen und wirksam umgesetzt werden, um die Erfahrungen der Labore in die Schulpraxis zurückzukoppeln und auf eine erneuerte Kultur des naturwissenschaftlichen und technischen Arbeitens im Unterricht hinzuarbeiten. Wie kann es besser gelingen, Kinder und Jugendliche für diese Bereiche zu begeistern und den kreativen Funken überspringen zu lassen? Warum ist es andererseits so schwierig, dies in der Schule umzusetzen?
25.4.1 Arbeitsweisen erfahrbar machen: Lehr-LernZyklen
Arbeitsweisen und Lernprozesse: Zyklisches Grundmodell
Über die Besonderheiten von naturwissenschaftlichen und technischen Arbeitsweisen gibt es viele Vorstellungen. Weitgehende Übereinstimmung besteht darüber, dass sich die Arbeitsschritte nicht auf ein lineares und streng logisches Schema reduzieren lassen. Idealtypisch handelt es sich um kreative zyklische Abläufe, die Tätigkeiten in der Erfahrungswelt (Experimentieren, Konstruieren, Ideen in der Praxis testen) mit den entsprechenden Prozessen der Ideenwelt (Entwickeln von Ideen, Modellieren, Reflektieren) verbinden. Für den naturwissenschaftlichen Bereich liegt dabei der Fokus auf dem
25.4 Unterrichtsentwicklung: Renaissance des erfahrungsbasierten Lernens 474 431 432 475 433 476 434 477 435 478 436 479 437 480 438 481 439 482 440 483 441 484 442 485 443 486 444 487 445 488 446 489 447 490 448 491 449 492 450 493 451 494 452 495 453 496 454 497 455 498 456 499 457 500 458 501 459 502 460 503 461 504 462 505 463 506 464 507 465 508 466 509 467 510 468 511 469 512 470 513 471 514 472 515 473 516
Experimentieren und Modellieren, für den technischen Bereich stehen Konstruktion und Design im Zentrum. Das zyklische Basismodell der Arbeitsweisen spiegelt sich auch in Modellen von Lehr-Lern-Zyklen, die zur Förderung des erfahrungsbasierten Lernens vorgeschlagen und unterschiedlich detailliert ausgearbeitet worden sind (vgl. Eisenkraft 2003). Bei entsprechendem Differenzierungsgrad eignen sich die Modelle sowohl für die Förderung naturwissenschaftlicher als auch technischer Arbeitsweisen.
809
Formale Funktion: Experimente als Testinstanz von Theorien
25.4.2 Kreative Prozesse erfahrbar machen: Experimente als Werkzeuge und Flügel des Geistes Experimente erfüllen vielfältige inner- und außerfachliche Funktionen. Sie wirken gleichsam als „Werkzeuge und Flügel des Geistes“ und spielen eine zentrale Rolle bei der Generierung, Modellierung, Entfaltung und dem Transfer von Wissen in neuen Kontexten und Anwendungszusammenhängen (Euler 2009). In der Wissenschaftstheorie herrschte dagegen lange Zeit eine formal-logische Sicht physikalischer Forschungsprozesse vor, die auch die Lehre dominierte. Der Theorie, einem System von Axiomen und Sätzen, wird Priorität eingeräumt. Experimente erfüllen nur eine untergeordnete Funktion insofern, als sie der Überprüfung von Theorien dienen. Das tradierte Modell wissenschaftlicher Arbeitsweisen beschreibt die Rechtfertigung von Wissen; es thematisiert die produktiven Prozesse der Wissensgenese und damit auch die Funktion der Experimente in LehrLern-Prozessen nur unzureichend. Demgegenüber stellen heutige Theorien vor allem semantische und modelltheoretische Aspekte physikalischer Arbeitsweisen in den Vordergrund (Giere 1999). Modelle repräsentieren Teilaspekte der Erfahrungswelt (Bailer-Jones 2003). Unser Wissen basiert auf und entfaltet sich in Modellen. Sie vermitteln intellektuelle Zugänge sowohl zu Phänomenen als auch zu Theorien. Die modelltheoretische Sicht weist dem Experimentieren vielfältige Rollen insbesondere für die Generierung von Wissen zu. Experimente entwickeln sozusagen ein „Eigenleben“ jenseits ihrer formal-logischen Funktion (Hacking 1983). Bedeutsam ist vor allem die explorative Funktion des Experiments, die mit Neuem, Unerwartetem und Erklärungsbedürftigem konfrontiert. Dieses kreative Eigenleben des Experimentierens ist in besonderer Weise für das Lernen bedeutsam. Experimente erlauben gezielte Eingriffe in Systeme. Die beim Experimentieren gewonnenen Erfahrungen verankern theoretische Begriffe in Anwendungskontexten und verkörpern praxisrelevantes prozedurales Wissen. Das „Experimentierspiel“ und das „Modellierspiel“
Vom Werkzeug zum Denkzeug: das produktive Eigenleben experimenteller Handlungen aus semantischmodelltheoretischer Sicht
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25 Schülerlabore: Lernen durch Forschen und Entwickeln wirken produktiv zusammen. Wichtig für das Lernen ist das Anstoßen von Reflexionsprozessen: Im reflektierten experimentellen Spiel verwandeln sich allmählich experimentelle Werkzeuge in „Denkzeuge“. In Gedankenexperimenten wirken simulierte experimentelle Handlungen als epistemische Werkzeuge und unterstützen die Modellbildung. Das Spiel des Experimentierens und Modellierens generiert neue Ideen und bringt sie gewissermaßen „zum Laufen“. In diesem Sinn sind Experimente epistemische Werkzeuge mit explorativen und explanativen Funktionen.
25.4.3 Wissen verkörpern: Handlungsmuster & Abstraktionen
Kognitive Prozesse: Komplexe Verschränkung von Wahrnehmung, Handlung und Introspektion
Auch in der Kognitionsforschung vollzieht sich eine ähnliche modelltheoretische Wende. Aktuelle Theorien gehen von der Vorstellung aus, dass Kognition auf dynamischen Prozessen beruht, die Wahrnehmen, Handeln und Introspektion verbinden. Mentale Modelle spielen dabei eine zentrale Rolle. Sie simulieren bestimmte Teilaspekte der Außenwelt, die für die jeweilige Sinnesmodalität sowie für die Planung, Steuerung und Bewertung von Handlungen relevant sind (Barsalou 2008). Unser abstraktes Denken hängt offenbar eng mit konkreten Erfahrungen und dem Durchspielen und Bewerten von Handlungsmöglichkeiten zusammen. Theoretische Begriffe und experimentelle Handlungen sind nach diesen mentalen Simulationstheorien erheblich enger verschränkt als in der Vergangenheit angenommen wurde. Insofern gibt es keine abstrakten Symbole in unserem Kopf; auch die abstraktesten Vorstellungen sind auf vielfältige Weisen in konkreten Erfahrungs- und Handlungsmustern verankert. Theorien zur Verkörperung von kognitiven Prozessen rücken zunehmend auch in den fachdidaktischen Fokus. Sie beschreiben unter anderem die besondere Rolle konkreter Erfahrungen und Handlungsmuster für die Repräsentation von Wirklichkeit, die Generierung mentaler Modelle und die Entwicklung abstrakter mathematisch-naturwissenschaftlicher Konzepte (vgl. Anderson 2003; Lakoff & Nunez 2000).
25.4 Unterrichtsentwicklung: Renaissance des erfahrungsbasierten Lernens 517 518 519 520 521 522 523 524 525 526 527 528 529 530 531 532 533 534 535 536 537 538 539 540 541 542 543 544 545 546 547 548 549 550 551 552 553 554 555 556 557 558 559
Das im Experimentier-Modellierspiel sich entfaltende implizite, prozedurale Wissen besitzt eine besondere Rolle für das produktive Denken. Man kann es als einen „Intuitionsmotor“ auffassen. Es ermöglicht eine schnelle vorläufige Durchdringung eines Problems unter weitgehender Umgehung expliziter Argumentation. Über die Verkettung von Handlungsmustern lässt es sich leicht entfalten, indem eine potenzielle Handlung die nächste triggert. Dem steht der Nachteil gegenüber, dass die mentalen Simulationen fehleranfällig sind und nur fragmentarische Aspekte der Wirklichkeit repräsentieren. Komplementär dazu wird die logisch rationale Sicht benötigt, um die kreativen Denkmöglichkeiten an der „harten“ Wirklichkeit zu testen. Kreativitäts- und Abstraktionsleistungen entstehen aus dem Zusammenwirken dieser beiden komplementären Hauptformen unseres Denkens.
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Kreative Leistungen: Wechselspiel von theoretischem, strukturellem, logischem Wissen und erfahrungsbasiertem, prozeduralem, analogischem Wissen
25.4.4 Gestaltung von Laborprojekten: Gelingenskriterien für forschendes Lernen Forschend und konstruierend-entwickelnd zu lernen ist ein ebenso natürlicher wie authentischer Zugang zu Naturwissenschaften und Technik, der ein vielfältiges, offenes, herausforderndes, aber zugleich auch ein systematisch strukturiertes und unterstützendes Lernumfeld erfordert, eine Balance, die eine hohe fachbezogene pädagogische Kompetenz der Lehrkräfte voraussetzt. Die Gestaltung experimenteller Lernumgebungen erfordert klare Vorstellungen darüber, was gelernt werden soll und wie das Labordesign das Arbeitsverhalten, die Lernprozesse sowie die Kooperation und Kommunikation der Lernenden beeinflusst. Neben der Förderung allgemeiner Schlüsselkompetenzen stellt sich für die Entwicklung naturwissenschaftlich-technischer Kompetenzen insbesondere das Problem der Abstraktion: Wie kann die konkrete Laboraktivität der Lernenden das produktive Denken fördern und die Entwicklung von Ideen, Modellen, theoretischen Abstraktionen unterstützen? Fachliche, pädagogische und psychologische Dimensionen sind dabei auf nichttriviale Weise miteinander verschränkt: • Bei den fachlichen Funktionen der praktischen Aktivitäten steht vor allem die Verknüpfung des Experimentierens, Modellierens und Konstruierens bei der Generierung von Wissen im Zentrum sowie die Reflexion der Prozesse in Bezug auf Verallgemeinerung, Anwendung und Transfer von Wissen. • Pädagogische Ziele beziehen sich insbesondere auf Arbeitshaltungen, Selbstwirksamkeitserfahrungen und den Erwerb von
Wie beeinflusst das Design der Lernumgebung die Lernprozesse?
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25 Schülerlabore: Lernen durch Forschen und Entwickeln Schlüsselqualifikationen insbesondere im Bereich von Kooperation und Kommunikation. • Auf psychologischer Ebene geht es vor allem um das Lernen durch praktische Erfahrungen sowie um die besondere Rolle des reflektiert eingesetzten prozeduralen Wissens bei Abstraktionsprozessen, Problemlösen und Kreativität.
Lernumgebung Labor: Komplexe Verschränkung von verschiedenen Funktionen der Laboraktivitäten
Ausgehend von den Erfahrungen der Schülerlabore und den zuvor diskutierten Gelingensbedingungen für eine aktive Wissenskonstruktion kann man folgende Desiderate für die Gestaltung von Laboroder projektartigen Lernumgebungen für den Unterricht formulieren: Die Projekte sollen die Lernenden aktivieren, herausfordern und ihre Selbstständigkeit sowie Kooperations- und Kommunikationsprozesse fördern. Neben einer Einbettung in sinnhafte und bedeutsame Kontexte ist die Bereitstellung und Nutzung von geeigneten Werkzeugen erforderlich, und zwar Werkzeuge, die sich sowohl auf das naturwissenschaftliche und technische Arbeiten beziehen (Experimentieren, Konstruieren, Beobachten, Messen, Testen, Datenaufnahme und -analyse, Visualisieren, Modellieren, Optimieren), als auch Werkzeuge zur Unterstützung von Kooperation und Kommunikation sowie zur Präsentation der Ideen, Ergebnisse und Produkte.
Abb.25. 3: Lernen im Labor. Checkliste für Gelingensfaktoren
25.4 Unterrichtsentwicklung: Renaissance des erfahrungsbasierten Lernens 603 604 605 606 607 608 609 610 611 612 613 614 615 616 617 618 619 620 621 622 623 624 625 626 627 628 629 630 631 632 633 634 635 636 637 638 639 640 641 642 643 644 645
813
Abb. 25.3 zeigt eine Checkliste für gelingendes Lernen im Labor. Sie fasst relevante Randbedingungen und instruktionale Maßnahmen zusammen. Entsprechend dem zyklischen Charakter der Arbeitsweisen sind die Faktoren spiralig angeordnet. Sie starten beim Anknüpfen an Bekanntem, beschreiben Unterstützungsmaßnahmen von Lern- und Arbeitsprozessen auf individueller und kooperativer Ebene und schreiten zur Reflexion der Prozesse und einer Bewertung und Einordnung des Gelernten fort. Soweit zu den theoretischen Hintergründen und Gestaltungsmöglichkeiten des Lernens im Labor. Eine erfolgreiche Umsetzung von Konzepten des erfahrungsbasierten, forschenden und entwickelnden Lernens im Unterricht steht in mehrfacher Hinsicht vor schwierigen Problemen. Laborprojekte erfordern Zeit und setzen eine ausreichende Infrastruktur in der Schule voraus. Darüber hinaus hat diese Lernform gegen curriculare Traditionen und eingefahrene Muster des naturwissenschaftlichen Unterrichts anzukämpfen. Das Ausmaß der Herausforderungen einer Implementation in der Unterrichtswirklichkeit zeigen verschiedene empirische Bestandsaufnahmen.
Werkzeuge in Laboraktivitäten: Toolbox für authentisches Arbeiten, Lernen, Kooperation, Kommunikation, und Förderung kreativer Prozesse
25.4.5 Lernen durch Experimentieren: Ist-Zustand Die Umsetzung der Ideen konstruktivistischen Lernens in die Lehre ist keinesfalls trivial. Obwohl theoretisch die Rolle von Experimenten und Laboraktivitäten für das forschende und entwickelnde Lernen unbestritten ist (vgl. Hofstein & Lunetta 1982; 2004), haben empirische Studien vor allem im angelsächsischen Raum gezeigt, dass das Lernen durch Experimentieren keinesfalls ein Selbstgänger ist (z.B. Hodson 1993; Harlen 1999). Die Durchführung von Experimenten im Schulunterricht hat nicht unbedingt die lern- und motivationsfördernde Funktion, die man gewöhnlich unterstellt. In der Unterrichtspraxis dominieren häufig stark geführte Experimente. Die dabei vorherrschende rezeptartige Vorgehensweise vermittelt den Lernenden implizit oder zuweilen auch explizit ein unzulängliches induktives Bild von Wissenschaft, das geradlinig von Beobachtungen und Experimenten zu der Formulierung von Gesetzen fortschreitet. Entsprechend kommt es zu empiristischen Fehlvorstellungen über naturwissenschaftliche Methoden. Werden Schülerexperimente durchgeführt, so sind diese häufig trivial und mit starken didaktischen Reduktionen verbunden. Der Bezug zum Alltag und zur Lebenswelt ist oft kaum erkennbar und ihr Zweck ist den Ausführenden häufig nicht transparent.
Lernen durch Experimentieren und Laborarbeit im Physikunterricht: Keine Selbstgänger!
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Experimente im Physikunterricht 8. Klasse (Tesch, 2005)
25 Schülerlabore: Lernen durch Forschen und Entwickeln Auch im deutschen Raum haben neuere Studien gezeigt, dass der Einsatz von Experimenten im Physikunterricht kritisch überdacht werden muss (Tesch 2005). So nimmt die Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung von Experimenten im Mechanik- und Elektrik-Unterricht (Kl. 8) rund 2/3 der Unterrichtszeit in Anspruch. Doch mit den experimentellen Aktivitäten erschließen sich oft nur unzureichende Lernmöglichkeiten. Die Funktion der Experimente beschränkt sich vor allem auf das Vorstellen und Veranschaulichen von Phänomenen und Konzepten. Die Schülerinnen und Schüler haben nur wenige Möglichkeiten, selbst aktiv zu werden etwa bei der Formulierung von Fragestellungen oder bei der Planung und Auswertung der Versuche. Auch wenn in Schülerübungen die Lernenden selbst praktisch arbeiten können, vollziehen sie dabei oft nur Anleitungen nach. Vor einem Experiment werden nur selten Erwartungen formuliert, Vermutungen geäußert, Hypothesen angeregt. Die mangelnde Offenheit der Lernsituation bietet wenig Raum für Autonomie und die Entfaltung eigener Ideen. Es bestehen wenige Gelegenheiten für die Schüler, ihren eigenen Vorstellungen nachzugehen, ihr Wissen selbst zu konstruieren, zu prüfen und in Kooperation mit den Mitschülern weiterzuentwickeln. Die Einbindung von Experimenten in ein Unterrichtskonzept, das die Lernenden aktiviert und zu eigenständiger Auseinandersetzung anregt, erweist sich als verbesserungsbedürftig.
25.4.6 Forschend lernen: Unterrichtsmuster verändern Drei empirisch unterscheidbare Muster im naturwissenschaftlichen Unterricht: Traditionelle lehrerzentrierte Vermittlung Globale Schüleraktivitäten Fokussierte Schüleraktivitäten.
Auch die Pisa-Studie von 2006 zeigt entsprechende Problemfelder in der Unterrichtspraxis auf (Prenzel et al. 2007, 2008). Die Studie hat unter anderem Muster des Experimentierens im Unterricht sowie Aspekte des forschenden Lernens erhoben und mit der Testleistung sowie dem naturwissenschaftlichen Sachinteresse in Beziehung gesetzt. Sie identifiziert drei latente Typen des naturwissenschaftlichen Unterrichts, die sich vor allem darin unterscheiden, wie die Lernenden zum eigenen Handeln angeregt werden und welche Rolle Schüleraktivitäten in der Lehre spielen. Es zeigt sich, dass die traditionelle, stofforientierte lehrerzentrierte Wissensvermittlung mit wenig Gelegenheiten zum Nachdenken und zum Erklären durch die Schüler in jenen Ländern in einer hohen Ausprägung vorkommt, die im Test gut abschneiden. Allerdings findet bei diesem Unterrichtstyp ein starker Einbruch des Interesses an Naturwissenschaften statt. Ein dazu komplementäres Unterrichtsmuster, das umfassend viele Aktivitäten des Experimentierens
25.4 Unterrichtsentwicklung: Renaissance des erfahrungsbasierten Lernens 689 690 691 692 693 694 695 696 697 698 699 700 701 702 703 704 705 706 707 708 709 710 711 712 713 714 715 716 717 718 719 720 721 722 723 724 725 726 727 728 729 730 731
und Forschens umsetzt, ist zwar motivational ansprechend, sichert aber das fachliche Verständnis nur unzureichend. Es zeigt sich, dass Unterricht, der Experimente fokussiert nutzt und dabei zum Denken anregt, am besten sowohl die Interesse- als auch die Kompetenzentwicklung der Schüler fördert. Zumindest findet bei diesem Unterrichtstypus kein starker Interesseeinbruch statt.
815
Erfolg traditioneller Unterrichtsstile bei Vermittlung von Faktenwissen und die Achillesferse: Interesseeinbruch
Abb.25.4: Länderspezifische Mittelwerte naturwissenschaftlicher Kompetenz und Ausprägungsgrad von 2 Unterrichtstypen (nach Daten aus Prenzel et al. 2008) Die Herausforderung für das Lernen aus Experimenten lässt sich auf die Frage zuspitzen: Benötigen wir überhaupt das erfahrungsbasierte, forschende Lernen, wo sich testrelevantes Wissen durch Pauken offenbar doch besser vermitteln lässt? Die Achillesferse des traditionellen Unterrichtstypus, der sich bei der Leistungsentwicklung im Papier-Bleistift-Test noch gut darstellt, liegt im extrem starken Einbruch des Interesses an Naturwissenschaften, das mit dem traditionellen Vermittlungsmodus von Wissen einhergeht. Obwohl diese Typisierung des naturwissenschaftlichen Unterrichts nur sehr grob beschrieben ist und fach- sowie bundeslandspezifische Besonderheiten berücksichtigen muss, zeigt sie dennoch sehr klar die Herausforderung an die Unterrichtsgestaltung. Wie gelingt eine bessere Balance zwischen der begrifflich-konzeptuellen Vermittlung und praktisch-experimentellen Zugängen, die zu einer eigenständigen und kreativen Auseinandersetzung mit Prozessen naturwissenschaftlich-technischen Arbeitens anregt und die der Interesseentwicklung nicht abträglich ist? Für die Qualitätsentwicklung des notorisch „harten“ Physikunterrichts steht eine ausgewogene Verbindung von Instruktion und Konstruktion, von systematisch-konzeptuellen und erfahrungsbasierten Zugängen zum physikalischen Denken und Arbeiten noch immer an vorderster Stelle der Agenda.
Balance komplementärer Aspekte bei Lehr-LernProzessen
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25 Schülerlabore: Lernen durch Forschen und Entwickeln
25.5 Die Hefe im Teig: Brauchen wir auch künftig Schülerlabore? Das nachlassende Interesse durch zu eng geführten, theorielastigen, wenig aktuellen und lebensweltfernen Unterricht war einer der Hauptgründe, die zur Etablierung von Schülerlaboren geführt haben. Ihre Gründung ist auch eine Reaktion auf die Erfahrung, dass für alle Fächer des MINT-Bereichs die Wahrscheinlichkeit der Studienfachwahl sehr stark von der erfahrenen Unterrichtsqualität abhängig ist (Heine et al. 2006). Die erwähnten Befunde der PISA-Studie zeigen, dass hier keinesfalls Entwarnung gegeben werden kann. Auch in der Spitzengruppe derjenigen deutschen Schülerinnen und Schüler, die nach der PISA-Testleistung als hochkompetent in Naturwissenschaften zu betrachten sind, ist das Interesse kaum ausgeprägt. 43% bezeichnen sich als nicht oder nur geringfügig interessiert (Prenzel et al. 2008). Junge Menschen für Naturwissenschaft & Technik aufschließen und kreative Köpfe gewinnen
In der Umsetzung interessefördernder Zugänge, die talentierte junge Menschen ansprechen, bestehen weiterhin große Herausforderungen an die Lehre. Physik als Schulfach leidet ebenso wie Technik noch immer unter einem wenig kreativen Image. Wenn wir die dringend benötigten kreativen Köpfe für Naturwissenschaft und Technik gewinnen wollen, müssen wir das Bild dieser Schulfächer verbessern. Trotz vielfältiger Unterrichtsentwicklungsprojekte der Vergangenheit geht der Fortschritt, wie Abb. 4 sowie die Interesseentwicklung bei talentierten Jugendlichen zeigen, nicht unbedingt in die erwünschte Richtung. Dies ist vor dem Hintergrund internationaler Entwicklungen bedenklich. In vielen Ländern werden Maßnahmen umgesetzt, die in der Breite wie in der Spitze die Qualität naturwissenschaftlich-technischer Bildungsprozesse fördern. Sie wird als zentraler Faktor für eine gelingende ökonomische, ökologische und soziale Entwicklung der Gesellschaft und ihrer Innovationsfähigkeit angesehen (OECD 2008).
Schülerlabore als Katalysatoren von innovativen Prozessen im Bildungssystem
Schülerlabore als produktive Hefe im Teig der naturwissenschaftlichen Bildung, als Katalysatoren von Innovationen außerhalb des etablierten und naturgemäß träge reagierenden schulischen Systems werden daher unbedingt auch in der Zukunft benötigt. Selbst wenn man optimistisch ist und unterstellt, dass der Unterricht sich im nächsten Jahrzehnt in der erhofften Richtung erneuert, dass er Kompetenzen besser fördert und dabei das Interesse der Lernenden unterstützt und zumindest aufrechterhält, selbst dann verlieren Labore als besondere außerschulische Lernorte für den naturwissenschaftlichen
Literatur 775 776 777 778 779 780 781 782 783 784 785 786 787 788 789 790 791 792 793 794 795 796 797 798 799 800 801 802 803 804 805 806 807 808 809 810 811 812 813 814 815 816 817
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und technischen Bereich keineswegs ihre Berechtigung. Sie stellen authentische Bezüge zur Lebenswelt her, eine komplexe und dynamische Welt, die auch künftig von ähnlich schnellen Veränderungen geprägt sein wird, wie wir sie derzeit erleben. In der Verknüpfung mit ökonomischen, ökologischen und sozialen Fragestellungen machen sie die gesellschaftlichen Herausforderungen und die Möglichkeiten von Naturwissenschaft und Technik fassbar. Für die Gewinnung kreativer Köpfe werden in den Laboren sowohl die Faszination als auch die Verantwortung von Tätigkeiten in Wissenschaft und Technologie erlebbar. Den größten gesellschaftlichen Bedarf und hervorragende Entwicklungspotenziale für Schülerlabore sieht der Autor künftig vor allem an der Schnittstelle zwischen Schule und Beruf.
Literatur Anderson, M. (2003), "Embodied cognition: a field guide". Artificial Intelligence 149, 91-130. Bailer-Jones, D. (2003). "When scientific models represent". Int. Studies in the Philosophy of Science 17(1), 59-73. Barsalou, L. (2008). "Grounded Cognition". Annual Review Psychology, 59, 617-645. Brandt, A. (2005), Förderung von Interesse und Motivation durch außerschulische Experimentierlabors. Göttingen: Cuvillier Verlag. Brandt, A. Möller, J. & Kohse-Höinghaus, K. (2008). "Was bewirken außerschulische Experimentierlabors? Ein Kontrollgruppenexperiment mit Follow up-Erhebung zu Effekten auf Selbstkonzept und Interesse". Z. Pädagog. Psychol. 22(1), 5-12. Eisenkraft, A. (2003). "Expanding the 5E model". The Science Teacher 70(6), 56–59. Engeln, K. & Euler, M. (2004). "Forschen statt Pauken". Physik Journal, 3(11), 45-48. Engeln, K. (2004). Schülerlabors: Authentische und aktivierende Lernumgebungen als Möglichkeit, Interesse an Naturwissenschaften und Technik zu wecken. Berlin: Logos-Verlag. Euler, M. (2001). "Lernen durch Experimentieren". In Ringelband, U., Prenzel, M. & Euler M. (Hrsg)., Lernort Labor. Initiativen zur naturwissenschaftlichen Bildung zwischen Schule, Forschung und Wirtschaft. Kiel: IPN, pp. 13-42. Euler, M. (Hrsg.) (2005). Themenheft “Lernort Labor”, Naturwissenschaften im Unterricht – Physik, 16 (Nr. 90). Euler, M. (2009). "Werkzeuge und Flügel des Geistes: Die Rolle von Experimenten in der Lehre". Physik Journal 8(4), 39-42. Gerstenmeier, J. & Mandl. H. (1995). "Wissenserwerb unter konstruktivistischer Perspektive". Zeitschrift für Pädagogik, 41(6), 867-888. Giere, R. (1999). Science without laws, Chicago: Univ. Chicago Press. Glowinski, I. (2007). Schülerlabore im Themenbereich Molekularbiologie als Interesse fördernde Lernumgebungen. Dissertation. Christian-Albrechts-Universität Kiel. Guderian, P. (2007). Wirksamkeitsanalyse außerschulischer Lernorte - Der Einfluss mehrmaliger Besuche eines Schülerlabors auf die Entwicklung des Interesses an Physik. Dissertation. Humboldt-Universität Berlin.
818 818 819 820 821 822 823 824 825 826 827 828 829 830 831 832 833 834 835 836 837 838 839 840 841 842 843 844 845 846 847 848 849 850 851 852 853 854 855 856 857 858 859 860
25 Schülerlabore: Lernen durch Forschen und Entwickeln
Hacking, I. (1983). Representing and Intervening. Cambridge: Cambridge Univ. Press, (1983), dt. Einführung in die Philosophie der Naturwissenschaften, Stuttgart: Reclam. Harlen, W. (1999). Effective teaching of science - a review of research. Edinburgh: Scottish Council for Research. Heine, C., Egeln, J., Kerst, C., Müller, E. & Park, S. (2006). Bestimmungsgründe für die Wahl von ingenieur- und naturwissenschaftlichen Studiengängen. Studien zum deutschen Innovationssystem Nr. 4-2006, Hrsg. BMBF, ISSN 1613-4338. Hofstein, A. & Lunetta, V. (1982). "The role of laboratory in science teaching: Neglected aspects of research". Review of Educational Research, 52(1), 201-217. Hofstein, A. & Lunetta, V. (2004). "The laboratory in science education: Foundations for the twentyfirst century”. Int. J. Science Education, 88(1), 28-54 Hodson, D. (1993). "Re-thinking old ways: Towards a more critical approach to practical work in school science". Studies in Science Education, 22, 85-142. Kirschner, P., Sweller, J. & Clark, R. (2006). "Why minimal guidance during instruction does not work: an analysis of the failure of constructivist, discovery, problem-based, experiential, and inquiry-based teaching". Educational Psychologist, 41(2), 75-86. Lakoff, G. & Nunez, R. (2000). Where mathematics comes from: how the embodied mind brings mathematics into being. New York: Basic Books. OECD (2008). Economic Policy Reforms: Going for Growth. Paris: OECD Publications. Pawek, C. (2009), Schülerlabore als interessefördernde außerschulische Lernumgebungen für Schülerinnen und Schüler aus der Mittel- und Oberstufe. Dissertation. Christian-AlbrechtsUniversität Kiel. Prenzel, M. et al. (Hrsg.) (2007). PISA 2006 – Die Ergebnisse der dritten internationalen Vergleichsstudie. Münster: Waxmann. Prenzel, M. et al. (Hrsg.) (2008). PISA 2006 in Deutschland. Die Kompetenzen der Jugendlichen im dritten Ländervergleich. Münster: Waxmann. Ringelband, U., Prenzel, M. & Euler M. (Hrsg.) (2001). Lernort Labor. Initiativen zur naturwissenschaftlichen Bildung zwischen Schule, Forschung und Wirtschaft. Kiel: IPN. Scharfenberg, F. (2005) Experimenteller Biologieunterricht zu Aspekten der Gentechnik im Lernort Labor: empirische Untersuchungen zu Akzeptanz, Wissenserwerb und Interesse. Dissertation. Univ. Bayreuth.
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43
Stichwortverzeichnis Abbildung 134 Abbildungen 217 Adaptive Programme 646 Advance 226 Advance organizer 135, 138, 180, 223 AFM 562 Aggregatzustände 623 spielen 412 Akkommodation 610 Akustik 428 Akustische Effekte 434 Alltags -erfahrungen 605 -sprache 605 -vorstellungen 605 Alltagsvorstellungen 11, 63, 64, 69, 85, 120, 172, 174, 785, 793 Amplitude 429 Analoge Bilder 218 analoges Objekt 135 Analogexperimente 559 Analogie 11, 119, 122, 130, 134, 135, 136, 137, 138, 139, 140, 141, 158 bildliche 128 experimentelle 135 formale 140 gespielte 66, 126, 157 -nutzung 134, 135, 137, 138, 139 Wasser- (Stromkreis) 135, 136, 138 Analogien gespielte 410 Analogversuch 32, 126, 127, 135, 137, 140, 180 Analyse der Lehrerpersönlichkeit 332 didaktische 313, 317, 339, 371, 372 einer Unterrichtseinheit 326 fachliche 339 von Physikunterricht 311 Anchored instruction 653 Anforderungsbereiche 96, 102, 107, 275 Anforderungsmerkmale 671 Anforderungsstufe 95 Anschauungsmodelle 229
anthropogene und soziokulturelle Voraussetzungen 85, 122, 794 Antineutrinos 490 Antreffwahrscheinlichkeit 465 Arbeitsblatt 230 Arbeitsgedächtnis 641 Arbeitsprojektor 236, 237 Arbeitstransparent 236 Artikulationsschema 149, 150, 171, 178, 179, 180 von Roth 178 Assimilation 610 Astronomische Einheit 512, 517, 527 Atom-Interferometer 461 Atominterferometer-Experiment 474 Atommodell Bohrsches 386 Atomphysik 462 Aufenthaltswahrscheinlichkeit 465 Aufgabe Komplexität 678 Aufgabe Formulierungsfehler 289 Lückentext- 277, 309 mit freier Antwort 283, 284, 309 Multiplechoice- 266, 277, 309 Transfer- 283 Aufgaben Antwortformat 670 Erwartungshorizont von 106 Merkmale 667 Offenheit 668 Qualität 665 von Multiplikatoren 727 Aufgabeneinsatz 663 Aufgabenformulierung 665 Aufgabenpräsentation 665 Aufmerksamkeit 214 selektive 214 Aufsatz 154, 272, 284, 285, 309 Ausbildungsstandards 719 Ausbreitung Schall- 373, 380, 384, 606 Ausdrucksmittel 204 Auslesefunktion 270
820 außerschulische Lernorte 799 Auswerteschlüssel 284 authentische Kontexte 652 AV-Medien 206 Bachelor 711 Bachelor-/Master-Struktur 731 Bachelorabschnitt 719 Bachelor-Phase 711 Bachelor-Studium 710 Bahnradius von Planeten 522 Bändermodell 391 Basiskonzepte 102, 275 Basismodelle 702 Basismodelle des Lehrens und Lernens 701 Bastelmotore 355 Batterie 608 Beamer 239 Bedürfnisse der Mädchen 600 Begegnung 56, 61, 62, 63, 66, 67, 68, 69, 75, 788 Begrenzte Kapazität 635 Begriffsnetz 272, 276, 280, 281, 282, 309 Begriffsnetze 656 Benutzerführung 427 Beobachtungsaufgaben 328 Beobachtungsfehler 329 Bescheidenheit 51, 63, 73, 74, 100 Betazerfall 487 Beugung 459 Bewertung 102 Bewertungsverfahren auf Beobachtung 273 mündlich 272 schriftlich 272 Bezugswissenschaft 7, 8 bild 636 Bild analoges 130 analoges 137 darstellend 128, 133 logisch 128, 129, 130, 133 Bilder analoge 218 logische 218 bildlichen 637 Bildmedien 207
Stichwortverzeichnis Bildung 16, 17, 18, 20, 22, 42, 54, 61, 67, 73, 75, 143, 173 der Nachhaltigkeit 51, 71, 83, 100 formale 18, 19, 20, 21 kategoriale 21 materiale 18, 19, 20, 21 Bildungsforschung 692 Bildungsstandards 101, 275 Chancen 110 Kritik 109 Probleme 110 Bildungsstandards im Fach Physik 96 Bildungstheorie 15, 16, 17, 18, 20, 21, 23, 24, 36 klassische 16, 18, 29 Bildungswissenschaften Standards 715 Bildverarbeitung 228 Black Box 561 Blended Learning 443 BLK-Modellversuch 591 Blog 447 Bohmsche Interpretation 461 Bologna-Erklärung 709 Box-Dimension 548 C60-Molekül 459 CERN 495 Chaos 531 Charts 437, 655 Chat 446 chemische Reaktion 415 Chiparchitektur 575 chunking 643 chunks 641 Classroom Management 691 Codierung 216 duale 216 Cognitive Flexibility Theory 650 Cognitive load 641 Cognitive Load Theory 635, 641 Cognitive Tools 424 collaborative tagging 448 Computer 424 Parallaxenbestimmung 517 Computerprogramme 424 Concept maps 223 Concept Maps 436, 437, 655
Stichwortverzeichnis Darstellung ikonische 128, 131 mathematische 57, 131 symbolische 130, 133 Darstellungen 217 bildhafte 217 Darstellungs 209 Darstellungsebene 209 Darstellungsvielfalt 639 Delokalisierung 468 Designprinzipien 636 Detektionswahrscheinlichkeit 464 Diagramme 219 Diaprojektor 239 Didaktik 3, 6, 7, 8, 9, 149, 177, 206 didaktische Analyse 83, 84, 88, 90, 154 didaktische Reduktion 115 didaktische Rekonstruktion 115, 116, 117, 118, 119, 120, 121, 122, 125, 134, 145, 146 heuristische Verfahren 121 Didaktische Rekonstruktion 124 begriffliche und technische Systeme 124 Differenzierungsfähigkeit 255 Digitalkamera 239 Dimension fraktale 546, 547 gesellschaftliche 43, 55, 69, 71, 73 pädagogische 10, 11, 55, 69 physikalische 30, 69 Diskontinuumsvorstellungen 624 Diskriminierungsfähigkeit 255 Disziplinierungsfunktion 270 DLA-Modell 553 Doppelspalt-Experiment 459 Doppelspaltversuch 460 Doppler-Effekt 514, 527 dosierte Diskrepanz 214 Drehimpuls 457 Drehpendel exzentrisch 534 Drehstrommotor 354 Ei-Fall-Bremser 409 Einstieg 87, 117, 156, 178, 180, 181, 182, 193, 194, 197 Einstiegsversuch 251 Einwirkungsmöglichkeiten 808 Einzelbeobachtung 328 Ekliptik 522
821 Elaborationskonzept 215 E-Learning 442 E-Learning-Szenarien 442 Elektronen freie 388 Elektronenmodell 410 Elektronenstrahllithographie 570 Element interactivity effect 642 Elementarisierung 11, 115, 116, 117, 118, 122, 123, 127, 131, 133, 134, 138, 141, 142, 145, 177 Elementarisierung physikalischer Theorien 123 Elementarteilchenphysik 479 im Unterricht 496 E-Mail 48 Encodierung 210 Energie 619 Energiedissipation 542 Energieentwertung 541 Energieformen 341, 344, 348, 622 Energiequelle 342 Energieversorgung 342, 344 Entfernungsmessung 512 Entropie 620 Epochenunterricht s. Unterricht E-Portfolio 447 Erarbeitungsphase 664 Erarbeitungszirkel 371 Erdradius 514, 518, 521, 525, 526 Erkenntnisgewinnung 102, 104 Erkenntnistheorie 8, 21, 30, 35, 36, 40, 42, 70, 88, 99, 171 Erklärungsglied 116, 117, 118, 123, 145 Erklärungsmuster 116, 117, 118, 119, 120, 121, 128, 145, 146, 785 Erlebnisgesellschaft 23 Erlebniswelt 75 Erwartungshorizont 286 Erwartungshorizont von Aufgaben 106 Erziehung 15, 16, 24, 61, 66, 75, 92, 206 Experiment explorative Funktion 809 Experiment 5, 38, 39, 91, 99, 127, 134, 136, 139, 143, 169, 321, 324, 346, 348, 353, 358, 359, 363, 365, 372, 381, 382, 383, 386, 397, 607, 612, 613, 618, 763, 775, 777, 782, 783, 785, 791, 794, 795, 796 analoges s. Analogversuch entscheidendes 778, 789
822 Schul- 11 Schüler- 29, 126, 796 Experimente 244 Experimentieraufgaben 352, 353 extraneous cognitive load 641 Fachdidaktiken Kerncurriculum 715 Fachdidaktisches Wissen 712 Fachspezifische Differenzierung 802 Fachsprache 31, 57, 58 Fachwissen physikalisches 717 Fachwissen 677, 689 Fachwissen 102, 103 Fachwissen 713 Fähigkeiten 691 Fähigkeitsselbstkonzept 807 Farbladung 489 Fast Fourier Tranformation 433 Fehler Umgang mit 675 Umgang mit 685 Fehler 664 Feigenbaumszenario 535 Fermilab 496 Fernwirkung 467 Feynman-Diagramm 129 Feynman-Diagramme 485 Film 239 Filmstrukturen 569 Fischler H. 626 Fixsternparallaxe 528 Fließgleichgewicht 545 Flussnetzwerke 544 Fobinet 724 Förderung der Mädchen 594 Fortbildung 689 Fortbildungsprogramme 724 Fraktale 531, 545 Franck-Hertz-Versuch 457 Freihandversuche 251 Frequenz 376, 377, 378, 429 Frequenzanalyse 432 Funktion von Bildern 220 Gedächtnis 175, 211 Kurzzeitgedächtnis 211
Stichwortverzeichnis Langzeitgedächtnis 212 sensorisches 211 Gedankenexperimente 252 Gegenkraft 609 Gemeinschaft Kultur- 615 Sprach- 615 Generative Theorie des Lernens 635 Geometrie fraktale 546 geozentrisch 511, 512 Geräusch 381, 429 germane cognitive load 642 Geschlechtertrennung 602 Geschlechtsidentität 595 Geschlechtsstereotype 584 Gesellschaft technische 43, 44, 47, 48, 52, 57, 71, 86, 89, 90 Gesetz der Ähnlichkeit 213 Gesetz der Geschlossenheit 213 Gesetz der Kontinuität 213 Gesetz der Symmetrie 213 Gesetz von Weber und Fechner 431 Gespielte Physik 404 Gestaltung von Folien 238 Gestaltungselemente 427 interaktive 634 Gestaltungsprinzipien 219 Gestaltungsprinzipien von Scülerlaboren 802 Gleichgewicht dynamisches 414 Gleichgewichtszustand 416 Gravitation 484 Grenzen von Modellen 414 Grobplanung 323 Größe extensiv 620 intensiv 620 Grundbegriffe physikalische 623 Grundbildung 627 Grunderfahrungen 246 Grundmuster lernpsychologisches 126 Gruppenarbeit 407 Gruppenunterricht s. Unterricht Gütekriterium 266, 268, 272, 273
Stichwortverzeichnis Hadronen 481 Halbklassen geschlechtshomogen 594 Halbleiter 386 Halbleiterchipherstellung 575 Halbleiterepitaxie 573 Halbleiterquantenpunktlaser 577 Halbmond 510, 511, 514, 516 Handlungswissen 689 heliozentrisch 512 Higgs-Boson 495 Higgs-Teilchen 495 Hilberträume 455 Hochtemperaturbereich 343 Holographie 399 Hörempfindung 376 Hörschwelle 376 HTTP-Protokoll 435 Hufeisenmagnet 359 humanes Lernen 55, 56, 59, 63, 66, 67, 68, 121 hydrostatisches Paradoxon 418 Hyperschall 377 Hypothese 39, 40, 98, 122, 136, 139, 143, 144, 232, 251, 425, 775, 776, 778, 779, 792, 793 Hypothesenbildung 258 Imagination effect 642 Impetusvorstellungen 608 Impuls 322, 328, 609, 617 Induktion 354, 358, 360, 363, 365 Induktionsmotor 354 induzierte Emission 389 Information bildbasiert 636 textbasiert 636 Informationsdichte npassen 241 Informationskanäle 635 Informationspotenzial 423 Informationsverarbeitung 212 Infraschall 377 Inhaltsauswahl 88 Inhumane Lernwege 57 Integrationsfähigkeit 255 Integrationsprozesse 645 intensives Lernerlebnis 807 Interaktivität 426, 631, 633 Interesse
823 am Physikunterricht 589 geschlechtsspezifisch 590 Interessenstudien (IPN) 588 Interferenz 458 Interferenzeffekte 460 Interferenzmuster 458, 472 Interferenzringe 459 Internet 27, 48, 101, 189, 197, 435 Internetrecherche 436, 440, 441 Internetrecherchen 439, 440 Interpretationen naiv-realistische 559 Ionenstrahl 572 Ionenstrahllithographieverfahren 572 Jungen und Mädchen 591 just-in-time-learning 444 KamLand-Experiment 494 Kapazität begrenzte 635 Kerncurriculum 695, 714 Kerncurriculum der Fachdidaktiken 715 Klang 381, 429 Klanganalyse 434 Klassenführung 698, 699 Klassenmanagements 698 Klassifikation von Spielen 157 klassische Teilchen 455 klassische Wellen 455 Knall 381, 429 Koedukation 587 Aufhebung der 587 Koedukationsstudie 594 Kognitive Belastungen 641 Kognitive Flexibilität 650 kognitive Leistungen 274 kognitiver Konflikt 181, 182, 185, 617 Kohärenzbildung 646 Kohärenz-Effekt 636 Kollaps der Wellenfunktion 463 Kommunikation 102 kommunizieren 446 Kompetenz Gesprächs 335 Medien- 334 pädagogische 333 physikdidaktische 334
824 Kompetenzbereich Bewertung 681 Kompetenzbereiche 96, 102, 275 Ausführungen zu den 102 Kompetenzen 716 Kompetenzen im Physikunterricht 83 Kompetenzen Schlüssel- 811 Kompetenzformulierungen 104, 105, 106 Kompetenzmodelle 677 Kompetenzniveau 96 Kompetenzprofil Physik 716 Kompetenzstufen 679 Komplementaritätsprinzip 460, 474 Konstruktionsaufgabe 407 Konstruktionsspiele 404 Konstruktivismus 611 konstruktivistisch 611 sozial 612 Kontextsensitive Hilfe 646 Kontiguitätsprinzips 634 Kontinuumsvorstellungen 624 Konvektionszellen 542 Konzepte Unterrichts- 149, 150, 202 Konzept-Netz 437 Konzeptwechsel 615 Kopenhagener Interpretation 465 Kosmos Nano- 558 Kraft 609, 617 elektromagnetische 484 Gravitations- 607 schwache 486 Kraftbegriff 617 newtonsch 608 Kräfte vier fundamentale 483 Kraftspektroskopie 563 Kreativität 404 Kreisbahn 420 Kretschmer 327 Kriterien Textverständlichkeit 665 Krümmung 477 Kügelchenmodell 466 Kulturtechniken 86, 89 Kurs 149, 150, 166, 167, 168 -system 167, 168
Stichwortverzeichnis Kurzzeitgedächtnis 214 Labordesign 811 Laborexperimente Notwendigkeit 417 Laborieren 258 Labormerkmale 806 Laborprojekte 811 länderspezifischen Prüfungsordnungen 720 Langzeitgedächtnis 215 Laplacescher Dämon 533 Lärm 357, 372, 373, 375, 378, 379, 380, 382, 383 Lärmschutz 375 Lärmschutzmaßnahmen 380 Laser 386 -dioden 387 Funktion des 398 -pointer 387 Laserschutzklasse 395 Latenzzeit 283 Lautstärke 376, 429, 430 Lebensbedingungen 47 Lebensbewältigung 89 lebenslanges Lernen 718 lebenslanges Lernen 449 Lebenssinn 47 Lebenssituation 62, 88 Lebensstil 52, 71, 73, 89, 100 Lebenswelt 23, 47, 57, 59, 64, 70, 73, 74, 75, 86, 89, 127, 133, 137, 139, 142, 776 Lehranfänger 312 Lehrer -ausbildung 7, 20, 92, 94 -bildung 22, 64, 67, 94, 97, 174, 177, 179, 195, 198, 265 -vortrag 176, 187 Lehrerausbildung 709 Inhaltliche Standards 716 Lehrerbildung zweite Phase 719 Lehrerfortbildung Kriterien 723 regionale 726 schulinterne 727 Lehrerfortbildung 709 Lehrerpersönlichkeit 332 Lehrerverhalten mädchengerechtes 596 Lehrerwissen 712
Stichwortverzeichnis Lehrformen 714 Lehrkapazitäten 718 Lehrprobe 312 Leistung affektive 295 psychomotorische 295 Leistungsmessphase 669 Leistungsmessungsphase 664 Leistungstest 669 Leitbild 27, 54 Leitbild: Nachhaltige, zukunftsfähige Entwicklung 53 Leitidee 41, 71 Leitideen s. Leitziel LEP (Cern) 496 Leptonen 481 Lernbereich analoger 134, 137, 138 primärer 134, 135, 136, 137, 138, 139, 140 Lernen lebenslanges 718 Lernen an Stationen 371 Lernen, soziales 691 Lernerfolg 691 Lernerfolg 168, 198, 265 Lernklima 597 Lernökonomie 25 Lernorte außerschulische 799 Lernschwierigkeiten 717 Lernstationen 372 Lernstrategien 690 Lernumgebungen 800 Lernvoraussetzungen anthropologisch- psychologische 313 soziokulturelle 313 Lernziel 88, 91, 92, 95, 112, 269, 270, 271, 274, 286, 295, 794 Lernziele 317 Lernzirkel 371 Evaluation des 383 Lesekompetenz 681 LHC (Large Hadron Collider) 496 Licht 341, 342, 348, 351, 377, 386, 387, 389, 392, 394, 396, 605, 606, 614 Lichtquant 457 Lichtquelle 606 Lichtwellenleiter 560
825 Linearmotor 356 Lithographie 571 Logische Bilder 218 Lokale Theorien 467 Lorenz-Attraktor 531 Mädchen und Physik 583 Magnet 358, 359, 607 Magnetfeld 354, 355, 356, 358, 359, 360, 363, 365 Magnetismus 607, 628 Magnetpendel 532 Marsbahn 523 Master 711 Master-Abschnitt 719 Master-Phase 720 Master-Studium 711 Mastery-Learning-Programm 271 Materialien biometrische 563 Mausefallenauto 406 Medien 56, 59, 93, 101, 180, 204, 205, 207, 209 audiovisuelle 207 Bildmedien 207 haptische 207 ikonische 209 neue 69, 169, 190, 192 objektale 209 symbolische 209 technische 207 Tonmedien 207 vortechnische 207 Mediendidaktik 205 Medienpädagogik 205 Medium 205, 208 Bild 208 Sprache 208 mentale Modelle 216 Mentale Modelle 810 Mentale Modelle 647 mentale Repräsentation 638 Meraner Beschlüsse 143, 144, 259, 794 Messcomputer 426 Messfehler 266, 267 Messung 33, 41, 125, 127, 136, 795 Einstellungen 305 emotionaler Gehalt von Begriffen 306 Interessen 303 Kooperation vs. Konfrontation 301
826 motivierende Wirkung 302 Messungenauigkeit 40 Messverfahren 37, 38, 94, 123, 131, 144, 267, 269, 295 Messwerterfassung 426 Metakognition 139, 160 Metaphern 427, 634 Metastruktur 42, 70, 74 der Physik 37, 70 Methode deduktive 38, 763, 778, 778 induktive 35, 38, 763, 774, 775, , 777, , 794 naturwissenschaftliche 20, 20, 21, 26, 31, 42, 172, 778, 780, 786, 787, 793 physikalische 35, 63, 90, 98, 123, 141, 142, 143, 144, 144, 145, 70, 763, 794 Methodik 7, 8, 9 Mikroprozessoren 575 Mikrosysteme 557 Mikrowelten 427 Millikan-Versuch 456 Mind Maps 436, 437, 655 Mitmachnetz 445 Modalitäts-Effekt 636 Modality effect 642 Modell 51, 84, 98, 119, 134, 185, 197, 783, 784, 785, 787 -begriff 781 -bildung 84, 790, 792, 793 Funktions- 122 gegenständliches 122, 135 konsekutiv 710 Lichtstrahl 560 Struktur- 122 -vorstellung 119, 157 Modellbildungs-systeme 425 Modelle anwenden 410 Modellexperiment 563 Modellvorstellung 398 Modularisierung 226 Monat synodischer 518 Mondparallaxe 516 Mondphase 510 Multicodierung 216, 426, 428, 631, 632 Multimedia 154 Multimedia-Effekt 636 multimediales Lernen 631
Stichwortverzeichnis Multimedialität 423 Multimodalität 426, 427, 428, 631, 632 Multiple Repräsentationen 639 Multiplikatoren Aufgaben 727 Nachbesprechung 330 Nachtigall D. \f 608 Nachweiswahrscheinlichkeit 474 Nahwirkung 467 Nanolithographieverfahren 570 Nanostrukturen Herstellungsverfahren 570 Nanotechnologie 557, 565, 566 Potenziale 566 nanotechnologische Anwendungen 574 Nanowelt 557, 559 Nanowissenschaft 557 Naturwissenschaftliches 245 Netzhaut 392, 399, 607 Neue Medien 423 Neutrino 489 Neutrinodetektor 492 Neutrinomasse 491 Neutrinooszillation 491 Neutrinostrahlung 493 Neutronenstreuung 470 newtonsche Mechanik 608 Nichtlokalität 462, 467 Niedertemperaturbereich 343 Normalwissenschaft 780, 792 Notengebung 271 nsic cognitive load 642 Objekt 3, 33, 134, 135, 137, 141, 742, 794, 795 Objektivität 21, 266, 267, 278, 284, 288, 301 Offenheit von Aufgaben 668 ökologische Schäden 46 Opposition 523, 524 Ordnungsparameter 534 Orientierungswissen 600 Overheadprojektor 236 Overlay-Technik 236 Parallaxe 519 trigonometrische 513 Parallelversuche 253 Parametern verborgene 468
Stichwortverzeichnis Pauli-Prinzip 462 Periodenverdopplung 535 Personalisations-Effekt 637 Pfeildiagramm 129 Phänomen 25, 31, 32, 34, 38, 41, 57, 58, 60, 64, 90, 123, 125, 126, 142, 143, 144, 145, 146, 283, 285, 287, 288, 304, 776, 777, 787, 788, 792, 795 ästhetisches 60 astronomisches 509 Phänomene 314, 321, 372, 386, 605, 609, 610, 618, 623, 624, 625, 626 Phase der Erarbeitung 178, 185 der Motivation 178, 181 der Vertiefung 178, 180, 187 Phasen des Unterrichts 178, 181 Phon 376 Photodisruption 399 Photokoagulation 399 Photonen 455, 458 Photovoltaik 342 Physik aristotelische 30 Aufbau der 30, 34, 93, 111 experimentelle 4, 5, 37 gespielte 404 Grundgrößen 37, 38, 86 Metastruktur 37, 70, 74, 87 -methodik 7, 63 moderne 32, 33, 41 neuzeitliche 30, 31, 35 nichtlineare 531, 532 philosophische Reflexion 21 Struktur 5, 37, 69, 70, 86, 87, 90, 93, 796 theoretische 4, 37 Physik im Kontext 724 physikalische Gesetze 31, 39, 130, 188, 778 physikalische Größe 37 Physikaufgaben 663 Physikdidaktik 67, 115, 117, 120, 122, 124, 142, 145, 146, 763, 777, 787, 790, 794 subjektorientierte 11 Physikdidaktisches Grundmuster 124 Physikunterricht Planung und Analyse 311 Physikunterrichts Sachstruktur 87 Physikzentrum der DPG 726
827 Piko 724 Planung gebunden partizipativ 324 kooperative 324 Planungsmodelle 311 Planungsprodukte 323 Podcast 448 Podcasting 448 Polarisation 387 Polarisationsfiltern 460 Portfolio-Methode 286, 287, 288 Potentialtopf 458 präattentive Wahrnehmung 212 Prägnanz 256 Praktikum Astronomisches 527 Präsentation des Projektes 347 Prellball chaotischer 537 Primärenergie 341 Primärenergieverbrauch 340 Prinzip Verantwortung 71 Problematisieren 258 Produkte nanotechnologische 567 Professionswissen Forschungsansätze 693 Professionswissen 689 Professionswissen 713 Projekt 8, 9, 22, 71, 73, 75, 86, 90, 91, 111, 112, 145, 149, 150, 158, 160, 161, 162, 163, 164, 165, 166, 192, 195, 197, 324 Grundmuster 162 -methode 160, 162 Projektabschluss 349 Projektaktivitäten 346 Projekte 339 Projektinitiative 361 Projektplanung 346 Projekttage 339 Projektverlauf 346 Propagator 486 propositionale Repräsentation 639 Prozesse generationsübergreifende 488 Qualität von Aufgaben 665 Qualitativ 250 Qualitätskriterien 666
828 Quantelung 456, 457 Quantendrähte 569 Quanteneffekte 576 Quantenfilme 577 quantenmechanische Effekte 557 Quantenobjekte 455, 458 Quantenpferch 463 Quantenphänomene 456, 468 Quantenphysik 455, 561, 629 Quantenpotential 461, 462 Quantenpunkte Wachstum 573 Quantenpunktstrukturen 569 Quantenradierer 470 Quantentheorie 27, 33, 34, 35, 124, 131, 455, 775 Quantenwirklichkeit 559 quantitativ 250 Quark-Einschluss 489 Quarks 480, 481 Radialkraft 419 Rasterkraftmikroskop 562 Rastertunnelmikroskop 459, 561 Ratewahrscheinlichkeit 290, 292 Räumlicher Kontiguitäts-Effekt 636 Realitätsbezug 75 Realitätserfahrung 60 Redundancy effect 642 Redundanz-Effekt 637 Reference Maps 655 Reflektor 352 Reflexion der Aufgabe 666 Reflexionsvermögen 390 Regel lenzsche 354 Relativitätstheorie 32, 34, 38, 781, 789 Reliabilität 267, 278, 296 Repräsentation 215 bildbasiert 637 deskriptional 637 textbasiert 637 Repräsentationen 632, 637 depiktoral 638 multiple 635 Repräsentationsebene 209 Repräsentationsformen analoge 647 Repräsentationsprinzipien 637
Stichwortverzeichnis Resonator 390 optischer 388 Risiken der Nanotechnologie 568 Sachstrukturdiagramm 91, 111, 112, 130, 323, 324, 344 Scanner 239 Schall 373, 375, 378, 379, 380, 381, 383, 605, 606 Schallpegel 378 am Arbeitsplatz 380 Schallschwingungen 378 Schlüsselkompetenzen 811 Schlüsselstellen des Unterrichts 322 Schreibfrequenz 572 Schrödingergleichung 476 Schrödingers Katze 466 Schulbuch 11, 58, 187, 197, 233 Schüleraktivitäten 700 Schülerexperimente 700 Schülerexperimente 259, 350 Schülerlabore Einwirkungsmöglichkeiten 808 Fachspezifische Differenzierung 802 Gestaltungsmerkmale 801 Schülerlabore 799 Ziele 801 Schülerlabore Betreiber 800 Schülerlabore Design 801 Schülerlabore kurz- bis mittelfristige Effekte 805 Schülerlabore emotionales Interesse 805 Schülerlabore wertbezogenes Interesse 805 Schülerlabore epistemisches Interesse 805 Schülerlabore Einflussfaktoren 805 Schülerlabore Design 811 Schülerlabor-Landschaft 808 Schülerleistung 700 Schülertheorien 626 Schülerübungen 259 Schülervorstellungen 674, 717
Stichwortverzeichnis Schülervorstellungen 63, 64, 65, 73, 247, 785 Schulpraktika 311 Schulpraktische Studien 718 Schultheorie pragmatische 23, 24, 29 Schulversuche 244 Schwingung chaotische 534 Schwingungsmoden 537 Sehvorgang 607 Selbstkonzept 585, 596 Entwicklung 594 fachspezifisches 586 Selbstorganisationsverfahren 570, 573 Semantik 208 semantisches Differential 306 Sensibilität 66 Sequenzierung 225 Sextant 515 Sichtweise physikalisch 614 Signal-Effekte 637 Simulation 648 mentale 648 Simulationen 424 „Single Concept“ Prinzip 644 Sinneinheit 115, 116, 117, 121, 122, 124 Sinnesreiz physikalischer 418 Sinnlichkeit übergangene 56, 58 SINUS-Transfer 724 Site-Map 656 situated learning 652 Situationstest 300 Situiertes Lernen 652 Skalierungen 559 social software 448 Social-Bookmarking-Portal 448 Solarstrom 342 Sonne Entfernung 514, 519 Sonnenenergie 340, 341 Sonnenentfernung 512, 513, 514, 524, 525, 526, 530 Sonnenkollektor 344 Sonnenneutrinos 494 Sonnenparallaxe 512, 513, 514
829 Sonnensystem 514, 522 heliozentrisch 522 Sonnentrichter 351 Sonnenwärme 343 soziales Lernen 691 Spaltexperimente 458 Spaltpolmotor 355, 360 Spiele sinnhafte 416 Spinflip 461, 471 Split-attention effect 642 Stabmagnet 358 Standard-Interpretation 462 Standardmodell 479 Standards Bildungswissenschaften: 715 Stationen 372 STM 561 stochastisches Verhalten 458 Strahlung 342, 343, 351, 386, 387, 391, 396, 606 Laser- 387 Strichcodelesegerät 393, 396 Strom 608 Stromkreis 608, 617 gespielter 411 Strukturbildung 531 Strukturbildungsmechanismen 554 Strukturen dissipative 540 fraktale 544 Strukturierung 222, 657 Strukturierungstyp 657 Strukturmodell integriert 710 Strukturmodelle 710 Studieninhalte 717 Studienpläne 731 Suche nach Wahrheit 67, 71, 74 Super-Kamiokande 492 Supplantation 645 Supplantationkonzept 645 Supplantationstheorie 219 Symbolsysteme 208, 215 Syntax 208 System dissipativ 535 Tafelbild 229 Tageslichtprojektor 236
830 Tagesplan 325 Technik 8, 18, 19, 20, 26, 27, 35, 37, 43, 44, 45, 46, 47, 50, 51, 70, 71, 73, 74, 86, 88, 89, 100, 101, 115, 206, 247, 297, 310, 788, 796 Bewertung 49 -ethik 48 -folgen 46, 50, 71 Industrie- 44, 45 -kritik 47 moderne 45 technologischer Wandel 557 Teilchen 625 Higgs 496 Teilchenbegriff 498 Teilchenbild 465 Teilchenmodell 386, 623, 624, 625 Teilchenphysik 479 experimentelle Methoden 505 Forschungseinrichtungen 505 theoretische Methoden 505 Unterrichtssequenz 502 Temperatur 607, 619, 620, 621, 622, 623 Termschema des HeNe-Lasers 389 Testaufgaben 664 textbasierten 637 Textverständlichkeit Kriterien 665 Theorie -bildung 143, 742, 780, 783, 790, 791, 792, 793 physikalische 26, 39, 40, 119, 124, 136, 778, 790, 791 wissenschaftliche 792 Theorien Schüler- 626 Thermometer 350, 607 TIMS-Studie 326, 627 Ton 377, 381, 429, 606 Tonhöhe 429 Tonmedien 207 träges Wissen 652 Trajektorie 535 Transferleistung 275 Transrapid 357 Trennschärfe 267 Tunneleffekt 561 Tutorielle Programme 424
Stichwortverzeichnis Überfluss 46, 47, 51 Überschlagspendel 536 Übungsphase 664 Übungsprogramme 424 Übungszirkel 371 Ultraschall 377 Umgang 17, 56, 58, 59, 60, 61, 62, 64, 65, 66, 67, 68, 69, 75, 86, 89, 99, 100, 101, 120, 143, 301 Umgangssprache 4, 57, 58, 64, 65, 134, 780 umstrukturieren 651 Umwelt -bewusstsein 51, 52, 53, 54 -einstellungen 51, 52 -erziehung 51, 52, 66, 74, 85, 100, 117 -kriminalität 49 -schutz 10, 48, 49, 50, 51, 52, 69 -verhalten 51, 52, 100 -verträglichkeitsprüfung 49 -wissen 51, 52, 100 Unbestimmtheit 458, 466 Unbestimmtheitsrelationen 467 Unterricht arbeitsgleicher Gruppen- 193, 194, 195 arbeitsteiliger Gruppen- 193, 195 darbietender 124, 150, 175, 176, 177, 179, 180, 187, 198 -einheit 29, 83, 84, 85, 88, 91, 95, 101, 111, 112, 118, 123, 149, 150, 160, 166, 167, 324 entdeckender 124, 150, 168, 174, 175, 176, 179, 180, 187 Epochen- 170 exemplarischer 21, 73, 74, 149, 150, 169, 170, 171, 787 fachüberschreitender 112, 200 Frontal- 149, 150, 167, 176, 190, 191, 192, 196, 198, 199, 200 genetischer 21, 64, 65, 66, 72, 149, 150, 169, 171, 172, 173, 174, 198 -gespräch 187 Gruppen- 8, 93, 149, 150, 168, 175, 190, 191, 192, 193, 194, 195, 196, 197, 199, 200, individualisierter 150, 151, 175, 190, 197, 200 lehrerorientierter 124, 177 lernzielorientierter 313 offener 151, 152, 154, 166 problemlösender 150, 179
Stichwortverzeichnis Projekt- 72, 73, 74, 88, 93, 121, 149, 160, 161, 162, 165, 196 schülerorientierter 124, 172, 173, 176, 180 sinnvoll übernehmender 150, 175, 176, 179, 198 Variablen des 314 Unterrichtforschung 722 Unterrichtsbeobachtung 326 Unterrichtsbewertung 616 Unterrichtsentwurf 311, 315 Vorüberlegungen 316 Unterrichtsformen 714 Unterrichtskompetenz 712 Unterrichtsmaterialien 316 Unterrichtsmedien 205 Unterrichtsphasen 663 Unterrichtsplanung Berliner Modell 313 Hamburger Modell 315 offene 315 Unterrichtsqualität 689 Unterrichtsqualitätsforschung 689 Unterrichtssequenz zur Teilchenphysik 502 Unterrichtsskizze 316 Unterrichtsstrategien 618 Unterrichtsstunde 311 Unterrichtsvideos Verwendungsmöglichkeiten 730 Unterscheidbarkeit 470 Validität 267, 268, 269 Venusbahn 526 Venustransit 522, 524 Verankerung von Wissen 653 Verantwortung 50, 61, 67, 68, 71, 73, 100, 265 Verarbeitung 635 Verarbeitungshilfen 643 Verarbeitungstiefe 227 Verbrauchsvorstellung 608 Verfahren nanotechnologische 565 Verfügungswissen 601 Verknüpfungen 654 horizontale 654 vertikale 654 Verlaufsdiagramm 130 Vernetzung 654 Verschränkte Photonen 467
831 Verständlichkeit 143, 146, 225 Versuchsreihe 253 Vertiefung s. Phase der Vertiefung Video 197, 239 Videoaufzeichnungen 729 Funktionen von 729 Vielteilchensysteme 543 Virtuelle Lernräume 443 Viskoses Verästeln 550 Vorstellung Sehstrahl- 607 Verbrauchs- 608 Vorstellungen 605 Alltags- 314, 316, 317, 605, 606, 608, 609, 610, 614, 615, 616, 619, 623, 624, 628 anthropomorph 606 Diskontinuums 624 Kontinuums- 624 Lehrer- 610 Vortrainings-Effekt 637 Vorverständnis 69, 120, 144, 172, 778, 785, 788 Vorwissen der Mädchen 585 Wachstumsfraktale 549, 554 Wahrnehmung 211 Wahrscheinlichkeitspakete 474 Wandbilder 229 Wandkarten 229 Wandtafel 229 Wärme 341, 343, 348, 380, 605, 607, 619, 620, 621, 622, 623, 625, 628 Wärmeerscheinungen 620 Wärmekollektoren 342 Wärmelehre 620 Wasserhahn chaotischer 539 Wasserrad chaotisches 538 wav-Dateien 429 Web 2.0 445 Weblog 447 Wechselstromzähler 356, 362 Wechselwirkung elektroschwache 487 starke 489 Wechselwirkungsquanten 485 Weiterbildung 722
832 Wellenoptik 386 Wellenpaket 464 Wellenpakete 463 Wellenvorstellung 463 Welt Nano- 558 Weltbild 31, 34, 35, 41, 54, 56, 57, 62, 63, 64, 65, 67, 85, 86, 88, 89, 93, 120, 782, 785, 790, 792 mechanistisches 31, 32 Werte 24, 27, 43, 47, 71, 95, 99, 101 Wertewandel 46, 47, 48, 49, 53 Wettbewerb 408 Wiki 445 Wilhelm T. 354 Wirbelstrom 358 Wirklichkeit 27, 39, 41, 60, 62, 63, 99, 131, 132, 217 Bild der 40 physikalische 39 Wissen fachdidaktisches 689, 712, 713 handlungsorientiert 713 Lehrer- 712 pädagogisches 689, 713 Wissen über Physik 717 Wissenschaftsethik 48 Wissenschaftstheorie 21, 35, 36, 39, 40, 42, 70, 88, 99, 121, 144, 145, 763, 777 Wissensstrukturen 438 Wissensstrukturierung 654 Wissensverankerung 652 Wochenplan 325 World Wide Web 435
Stichwortverzeichnis WWW-Server 435 WWW-Servern 435 Zeichenprojektor 236 Zeigerformalismus 473 Zeiger-Formalismus 472 Zeitlicher Kontiguitäts-Effekt 636 Zentripetalkraft 419 Ziel Beispiele für Grob- 94 Beispiele für Leit- 92 Beispiele für Richt- 93 -dimension 84, 86, 87, 88, 90, 92, 323 ebene 97 -ebene 92 -ebene 101 Fein- 92, 94, 95, 101, 166 Grob- 92, 94, 95, 97, 101, 117, 166 -klasse 83, 95, 97, 99, 101 Konzept- 95, 97, 98, 101, 111, 794 Leit- 42, 48, 49, 53, 55, 56, 68, 71, 72, 90, 92, 93, 95, 99, 101, 131, 166, 323 Prozess- 95, 98, 99, 101, 794 Richt- 90, 91, 92, 93, 94, 95, 101, 166, 323, 324 soziales 95, 97, 99, 101, 156, 175, 176, 192, 196 -stufe 95, 96, 101 Zirkel des Verstehens 611 hermeneutischer 611 Zirkel-Dimension 548 Zufall 457, 532