Karin Priester ist Professorin für Soziologie an der Universität Münster.
Karin Priester
Populismus Historische und ...
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Karin Priester ist Professorin für Soziologie an der Universität Münster.
Karin Priester
Populismus Historische und aktuelle Erscheinungsformen
Campus Verlag Frankfurt/New York
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-593-38342-2
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Copyright © 2007 Campus Verlag GmbH, Frankfurt/Main Umschlaggestaltung: Guido Klütsch, Köln Druck und Bindung: KM-Druck, Groß-Umstadt Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier. Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.campus.de
Inhalt
1. Einleitung
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2. Populismus - Versuch einer Eingrenzung
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3. Populisten und der Staat
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4. Populismus in den USA
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4.1 Die 1890er Jahre: Agrarpopulismus und Reformpolitik 4.2 Die 1930er Jahre: John Dewey — Pragmatismus und New Deal 4.3 Populismus oder führerzentrierter Massenklientelismus in den Südstaaten: Huey P. Long und George C. Wallace 4.4 Die 1970er Jahre: Populismus und Postmodernismus 4.5 Die 1990er Jahre: Ross Perot - der dritte Weg der Mitte 5. Populismus in Europa
7. Literatur
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101 123 128 142
5.1 Der Poujadismus: Das Genossenschaftsideal 5.2 Die Lega Nord: Das föderal-korporative Konzept 5.3 Pim Fortuyn: Trendsetter der Netzwerkgesellschaft 5.4 Bernard Tapie und Silvio Berlusconi: Populisten oder politische Unternehmer? 6.
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Ausblick
142 159 182 201 215 221
Einleitung
»Das Volk ist das natürlichste, breiteste und erdnächste und darum auch das einzig wirklich organische und die Schwankungen der Zeit überdauernde Fundament wirtschaftlichen und staatlichen Lebens«. Wo von Erdnähe und »organischen« Fundamenten die Rede ist, stellen sich rasch Assoziationen mit rechtslastigem, wenn nicht gar völkischem Gedankengut ein. Tatsächlich stammt der Satz aus einer Rede des damaligen SPD-Abgeordneten und späteren KZ-Häftlings Kurt Schumacher, gehalten 1928 vor dem Württembergischen Landtag (Schumacher 1928: 4). Kein Politiker oder Journalist könnte es heute noch wagen, sich so emphatisch auf das Volk zu beziehen, ohne Verdächtigungen und unangenehme Fragen auf sich zu ziehen. Das Volk, ob erdnah oder nicht, ist politisch gründlich diskreditiert und als politische Kategorie obsolet. Wo von soziokulturellen Milieus und Individualisierung die Rede ist, scheint das Volk als ehemals vierter Stand nicht nur der Vergangenheit anzugehören, sondern vielmehr auch negativ besetzt. Die Zuschreibung »Populist« gilt heute als Beleidigung; Populisten sind gewissermaßen die Schmuddelkinder unter den Politikern. War die Stimme des Volkes, des menu peuple, des popolo minuto, bis zur Französischen Revolution nur in vorübergehenden, meist niedergeschlagenen Revolten und Aufständen vernehmbar, so ist sie seitdem unumkehrbar ein politischer Faktor, mit dem die Politik rechnen muss. Insbesondere seit der Einführung des allgemeinen Wahlrechts gehört der Begriff »Volk« als fester Bestandteil zum politischen und kulturellen Vokabular. Schlechterdings alle politischen Kräfte, Demokraten ebenso wie Antidemokraten, waren im 20. Jahrhundert an der Okkupation, zugleich auch der Inflationierung, des Volksbegriffs beteiligt: Volksparteien, Volksversammlung, Volksvertreter, Volks-
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kunde, Volkskirche, Volksbank, Volkssport, Volksausgabe, Volksbühne, Volksfürsorge, Volkshochschule, Volksdemokratie, Volksrepublik, Volkspolizei, nicht zu vergessen die völkischen Bewegungen im Vorfeld des NS-Regimes und das gerade von diesem Regime propagandistisch genutzte Medium des Volksempfängers und die serielle Fertigung des Volkswagens für die »Volksgenossen« in der »Volksgemeinschaft«. Als ein Grundmerkmal des Populismus gilt die Polarisierung von Volk und Eliten. Aber berufen sich heutige Populisten tatsächlich noch auf das Volk und nicht eher auf das neue Leitbild des »mündigen Bürgers«? Auffallend ist, dass die Berufung auf das Volk gerade bei neueren Populisten, denen dies doch nachgesagt wird, kaum noch eine Rolle spielt. Zwischen dem Poujadismus der 1950er Jahre mit seiner Idealisierung des brave peuple und Pim Fortuyns Anrufung des »mündigen, kalkulierenden Bürgers« liegen rund vierzig Jahre gesellschaftlichen Wandels, der in Westeuropa im Durchschnitt zu höheren Bildungsabschlüssen, zu Emanzipationsbewegungen und Modernisierungsschüben geführt hat. Populisten tragen diesem Umstand in ihrer Sprache und Begriffswahl Rechnung, ohne doch ihren eigentlichen Adressaten aus den Augen zu verlieren: den selbstständigen Mittelstand. Wurde der Begriff des Populismus lange Zeit für außereuropäische Länder reserviert, so haben ihm verschiedene gesellschaftliche und politische Veränderungen auch in Europa zu Aktualität verholfen: a. Die Krise des europäischen Wohlfahrtsstaats und das Ende des »sozialdemokratischen Zeitalters« (Ralf Dahrendorf) wirft Fragen nach neuen Formen gesellschaftlicher Integration und Steuerung auf, was zur Suche nach dritten Wegen zwischen Staat und Gesellschaft geführt hat. Kulturell profitieren Populisten überdies von postmodernen, auf Dezentrierung, Pluralisierung und normative AntiStaatlichkeit setzenden Zeitströmungen, b. Veränderungen in der Produktionsstruktur haben zur Herausbildung eines neuen, selbstständigen Mittelstandes geführt. Die zentralisierte, konzentrierte, hierarchisch geführte Großindustrie (das »fordistische« Modell) befindet sich in einer Krise. Vielfach sind die industriellen Großagglomerate nachfordistischen, dezentrierten, Kleinbetrieben gewichen. Prägen vernetzte,
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weniger hierarchische Managementtechniken und Produktionsstrukturen als Signatur einer »postmodernen« Entwicklungsphase auch die politischen Entwicklungen in Richtung auf Föderalisierung und Dezentra-lisierung? c. Die Ausweitung der Märkte und der Prozess der euro-päischen Vereinigung werfen Fragen nach der Rolle des Nationalstaats im Binnen- und Außenverhältnis auf. Wird dies zur Dispersion von Souveränität(en) und damit zum Ende der Staatlichkeit in seiner bisherigen Form fuhren und welchen Anteil haben populistische Bewegungen an diesen Tendenzen? d. Die Beobachtung des politisch rechten Spektrums zeigt, dass man sich auch hier auf die Suche nach dritten Wegen jenseits zentralstaatlich-nationalistischer, hierarchischer Modelle begibt. Ist der Populismus der dritte Weg von rechts oder zeichnet sich, etwa unter dem Begriff des associationalism, auch ein linker Populismus ab und was unterscheidet diesen von linkssozialistischen Konzepten? In der Diskussion um den Populismus standen bisher zwei Aspekte im Vordergrund: erstens die sozialpsychologische Ebene, auf der vor allem nach manifesten oder latenten Einstellungssyndromen wie Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Ethnozentrismus und Antisemitismus gefragt wird; zweitens die Beschäftigung mit dem so genannten populistischen Politikstil, also dem Auftreten, der Diskursfuhrung oder der Rhetorik von Populisten. Beide Untersuchungsgegenstände sind wichtig, aber nicht ausreichend und überdies zu weit gefasst, um das Spezifische des Populismus in den Blick zu nehmen. Es wird zu zeigen sein, dass der Populismus eine durchaus konsistente, wenn auch ambivalente und wenig ausgearbeitete Philosophie mit klar identifizierbaren gesellschaftsund staatstheoretischen Vorstellungen beinhaltet. Populismus ist, zugespitzt formuliert, die Revolte gegen den modernen Staat und wird hier, angesiedelt in einem Dreieck von Anarchismus, Liberalismus und Konservatismus, als eine Volksvariante des konservativen »Denkstils« (Karl Mannheim) analysiert. Im 20. Jahrhundert hat die Entstehung des modernen Wohlfahrtsstaates, in den USA beginnend mit der Politik des New Deal., dem Populismus Auftrieb gegeben. Dem intervenierenden Staat mit seinen durch social engineering sozialstrukturell steuernden und planenden Technokraten und Experten gilt die eigentliche Gegnerschaft von Populisten. Nach der Instituti-
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onalisierung des Klassenkonflikts zwischen Kapital und Arbeit zeichnet sich hier ein neues, populistisch besetztes Feld sozialer Kämpfe zwischen dem Staatssektor und dem staatsfreien Sektor des selbstständigen Mittelstandes ab. Um das Phänomen des Populismus also einzugrenzen und nicht als bloßes Stilmerkmal ubiquitär ausufern zu lassen, wird in einem ersten Teil nach dem grundlegenden Verhältnis von Populismus und Staat gefragt. Anschließend werden historisch-deskriptiv verschiedene, auch zeitlich auseinander liegende populistische Bewegungen exemplarisch rekonstruiert. Dabei wird dem US-amerikanischen Populismus besondere Aufmerksamkeit gewidmet, weil populistische Strömungen dort ein durchgängiges Phänomen sind. Besser als bei europäischen, immer nur kurzfristig aufwallenden populistischen Bewegungen, können an diesem Fallbeispiel unterschiedliche Ausprägungen von Populismus herausgearbeitet werden. Darüber hinaus lässt sich an diesem Beispiel auch das Umschlagen oder die »Inversion« des Populismus zu einem qualitativ anderen politischen Typus aufzeigen: dem Semifaschismus oder führerzentrierten Massenklientelismus. Für Europa werden exemplarisch drei genuine populistische Bewegungen ausgewählt, der Poujadismus, die italienische Lega Nord und die Bewegung Pim Fortuyns in den Niederlanden. Als Grenzfalle werden die »politischen Unternehmer« Bernard Tapie und Silvio Berlusconi behandelt und die Frage gestellt, inwieweit es sich bei diesen Politikern überhaupt um Populisten in dem hier entwickelten Sinne handelt, oder nicht eher um mediengewandte Sumpfblüten des Liberalismus in der Phase seines Niedergangs, um Vorboten eines generellen, keineswegs Populisten allein vorbehaltenen Trends zur entideologisierten, personenzentrierten Politik des leadership. Wenn ich bei meinen Ausführungen mit einer gewissen Penetranz darauf beharre und mich in diesem Punkt auch gelegentlich wiederholen werde, dass der Populismus nicht nur eine Frage des Politikstils oder populärer »Anrufungen« ist, so geschieht dies auch vor dem Hintergrund der Krise der großen Volksparteien. Um die Konstellation umrisshaft zu verdeutlichen: Abgesehen vom kollektivistischen Modell des östlichen Staatssozialismus waren und sind die Sozialdemokratien als Parteien der Modernisierung und der technokratischen
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Problemlösungen im interventionistischen Wohlfahrtsstaat die eigentlichen Gegner von Populisten, auch jenen, die sich in den angelsächsischen Ländern als links verstehen. Dagegen ist es den christdemokratischen Parteien lange Zeit gelungen, unter Berufung auf das am Personalismus ausgerichtete Menschenbild und das Subsidiaritätsprinzip populistische Potentiale zu absorbieren und mit anderen Strömungen zu amalgamieren. Diese Syntheseleistung wird heute immer weniger erbracht. Die Suche nach dritten Wegen geht weiter.
2. Populismus - Versuch einer Eingrenzung
Der Begriff des Populismus ist durchweg negativ besetzt und mit dem Stigma der Emotionalisierung und Personalisierung von Politik belegt.1 Mehr als eine bestimmte Art des Auftretens und der Rhetorik scheint der Begriff allerdings nicht zu implizieren. Dies macht ihn dehnbar, schwammig und inhaltsleer. Wo aber die Konturen eines zu untersuchenden Gegenstandes nicht nur unscharf sind - das sind sie immer —, sondern sich in einer Nebelwolke immer wieder dem Blick entziehen, stellt sich die Frage, ob der Begriff wissenschaftlich überhaupt tragfähig ist oder nicht eher aufgegeben werden sollte. Allerdings würde er damit freigegeben für publizistische Willkür und eine antipopulistische, deswegen aber nicht minder demagogische Handhabung. Populismus wäre dann die Chiffre für eine politische Restgröße und ein Störpotential, das nicht zugeordnet und analytisch dingfest gemacht werden kann. Das Unbehagen an der Mehrdeutigkeit des Begriffs hat dazu geführt, ihn meist nur noch als Adjektiv oder Modaladverb zu benutzen. Als populistisch werden bestimmte Formen des Auftretens politischer Akteure bezeichnet, leicht erkennbare und sich wiederholende Merkmale von Stil (hemdsärmelig, marktschreierisch), Sprache (deftig, volkstümlich) und Diskursführung (vereinfachend, emotional). Versuche, den Populismus unter Ausklammerung von Inhalten und Zielsetzungen lediglich formal zu definieren als Stilausprägung oder
1 Neuerdings zeichnet sich hier eine differenzierte Betrachtungsweise ab. Populismus kann, so die These zahlreicher Aufsätze in dem von Frank Decker 2006, herausgegebenen Sammelband, nicht nur als Gefahr für die Demokratie, sondern auch als nützliches Korrektiv gesehen werden.
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eine sich auf das Volk beziehende Anrufungspraxis, hat zunächst einiges für sich, denn was haben schließlich die russischen Narodniki mit einem Pim Fortuyn gemeinsam, was ein Pierre Poujade mit Henry Ross Perot oder Jesse Ventura? Was schließlich der französische Bauernführer Jose Bové mit dem Hamburger Richter Ronald Schill? Wenig, so scheint es zunächst, und doch gibt es starke Gemeinsamkeiten. Wie ein roter Faden ziehen sie sich durch alle Bewegungen, die auch nur entfernt im Ruch des Populismus gestanden haben oder stehen: ein bestimmtes Verständnis von Freiheit, verstanden als Freiheit vom Staat, als Freiheit zu selbstbestimmter Tätigkeit, zu Autonomie, als Freiheit von Bevormundung aller Art, sei es die des Staates, der Intellektuellen, Experten oder Technokraten. Populisten vertreten, immer bezogen auf die westliche Hemisphäre, zutiefst bürgerlich-liberale Werte und sind als Kleinproduzenten selbst Teil des Bürgertums. In der neueren Literatur zum Populismus ist viel untersucht worden, wie Populisten auftreten und kommunizieren, zu wenig dagegen, was sie eigentlich zu sagen haben. Konzentriert man sich aber nur auf den Politikstil, muss man zwangsläufig zu dem Ergebnis gelangen, der Populismus sei inzwischen ubiquitär geworden. Es sei, schreibt Hans-Jürgen Puhle, heute noch weniger angemessen als vor zwanzig Jahren, von Populismus in einem inhaltlichen Sinne zu sprechen (Puhle 2003: 43). Dem ist zu widersprechen, zeigt sich doch, dass der Populismus, zumindest in seiner nordamerikanischen und europäischen Ausprägung,2 erstens eine recht genau lokalisierbare soziale Basis, zweitens eine zwar wenig elaborierte, dennoch konkrete Gesellschaftsvorstellung und drittens ein spezifisches Verständnis vom Staat und seinen Funktionen hat.
2 Bewegungen und Regime außerhalb der USA und Europas können hier nicht berücksichtigt werden. Es sei aber darauf hingewiesen, dass mit Blick auf Südamerika und seine vielen, populistisch genannten Regime die analytische Tragfähigkeit des Begriffs umstritten ist und von einigen Forschern inzwischen in Frage gestellt wird. (Vgl. De la Torre 1992: 387). Wenn beispielsweise in Peru sowohl ein Politiker wie Alberto Fujimori als auch sein Gegner Ollanta Humala als Populisten bezeichnet werden, stellt sich in der Tat die Frage, was mit dem Begriff noch ausgesagt werden soll.
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Da wir heute nur noch eine vage Vorstellung von Konservatismus haben, wird übersehen, dass Populismus ein konservatives Phänomen ist, das jedoch meist in Verschmelzung mit anderen politischen Richtungen auftritt. Der Populismus kann auf eine lange sozial- und ideengeschichtliche Tradition zurückblicken und ist inhaltlich keineswegs konturenlos. Vielmehr steht er ökonomisch, kulturell und politiktheoretisch in einem Umfeld, das seit den 1970er Jahren neuen Auftrieb erhalten hat. Ökonomisch liegt populistischen Tendenzen die nachfordistische Produktionsweise zugrunde, also die Wiederkehr von Kleinbetrieben in moderner, vernetzter Form. Kulturell hat er starken Aufwind erfahren durch die postmoderne Philosophie und Gesellschaftstheorie. Politiktheoretisch ist er in einem Dreieck von Kommunitarismus, Netzwerktheorien und der Renaissance von föderalismus- und pluralismustheoretischen Ansätzen wie dem associationalism zu verorten.
Historische Hintergründe Das Misstrauen gegenüber populistischen Tendenzen ist weit verbreitet, sieht man in ihnen doch häufig nur den Ausdruck von Fremdenfeindlichkeit, Ausländerhass und unsolidarischem Egoismus. Um den eigentlichen Charakter populistischer Tendenzen verstehen zu können, muss man sich kurz die Grundkonstellation seit der Französischen Revolution vergegenwärtigen und damit die Wurzeln und Verästelungen populistischer Strömungen freilegen. Zwischen 1789 und 1793 standen sich in der Französischen Revolution zwei große Richtungen gegenüber, die Liberalen (Girondisten) und die Jakobiner. Einer der zentralen Konflikte, an dem sich in der Folgezeit immer wieder populistische Bewegungen diesseits und jenseits des Atlantiks entzündeten, ging weniger um »rechts« oder »links«, sondern um die Frage: dezentrale (lokale, föderale) Macht oder Zentralstaat? Die Jakobiner vertraten ein zentralistisches Staatsmodell, darauf ausgerichtet, alle lokalen Zentren, die meist auch Zentren des Widerstandes waren, zu entmachten und alle Macht in der Hauptstadt Paris zu konzentrieren. Schon früh sprach Alexis de Tocqueville vom »Doppelwesen« der Französischen Revolution, von zwei entgegenge-
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setzten Bewegungen, »die man nicht miteinander verwechseln darf: die eine war der Freiheit, die andere dem Despotismus günstig«. Letztere, die jakobinische Richtung, habe aus dem Hass gegen das alte Regime unterschiedslos alles Vorangegangene verworfen, »die absolute Gewalt ebenso wie das, was deren Härten mildern konnte; sie war republikanisch und zentralistisch in einem. [...] So kann man für das Volk sein und Feind der Volksrechte bleiben; heimlich ein Diener der Tyrannei und nach außen ein Freund der Freiheit«. (Tocqueville [1835ff.] 2004: 77) Als sich im 19. Jahrhundert die marxistisch-sozialistische Arbeiterbewegung formierte, vertrat auch sie, in diesem Sinne Erbin der Jakobiner, das unitarische Modell. Marx und Engels waren zu ihrer Zeit Zentralisten und gingen davon aus, dass erst in ferner, nachrevolutionärer Zukunft der Staat in seiner Funktion als »ideeller Gesamtkapitalist« in der Gesellschaft aufgehen und absterben würde. Diese Position gilt es vor dem Hintergrund zu sehen, dass die lokalen Machtzentren in den französischen Provinzen ein Hort der Reaktion und Gegenrevolution waren. Dieses zentralistische, bis heute mit dem Jakobinismus verbundene Modell eines starken Zentralstaats prägte alle späteren, sich auf Marx und Engels berufenden Regime. Plurale Machtzentren waren suspekt und wurden bekämpft, lokale Autonomie galt als Einfallstor des Klassenfeindes, als Hort von Rückständigkeit, Widerstand, Diversion oder Separatismus. Nach dem Sieg der Bolschewiki in Russland wurde unter Lenin und Stalin das gesamte sowjetische Imperium zentralistisch auf Moskau als der alleinigen Zentrale des Weltkommunismus ausgerichtet, ein Modell, das sich Ende des 20. Jahrhunderts zunehmend als dysfunktional erwies. Die staatszentralistische Position war auf die Kämpfe und cleavages des 19. Jahrhunderts zugeschnitten, auf einen starken bürgerlichen Nationalstaat auf der einen und eine schlagkräftige, zentral von Avantgarden und Berufsrevolutionären gelenkte, advokatorisch »von oben« geführte Arbeiterbewegung auf der anderen Seite.
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Die anarcho-konservative Tradition des Populismus Schon im 19. Jahrhundert vertraten die Anarchisten hier die antietatistische Gegenposition, die sich aber, im Gegensatz zu den romanischen Ländern, in der mitteleuropäischen Arbeiterbewegung nicht durchsetzte. Aus der Sicht der Anarchisten sollte die künftige Gesellschaft kommunitär in konzentrischen Kreisen von Gemeinschaften aufgebaut sein. Diese Gemeinschaftsutopie hinterließ nicht nur in den großen populistischen Bewegungen des 19. Jahrhunderts ihre Spuren, sondern erfuhr auch in den 1980er Jahren im Kommunitarismus und generell nach dem Ende der ideologischen »Großerzählungen« in der Postmoderne eine Aufwertung. Die Forderung nach Dezentrierung, Vernetzung, Pluralisierung und einer normativen AntiStaatlichkeit, für die Theoretiker wie Michel Foucault, Zygmunt Bauman oder Richard Rorty stehen, erlebte eine ungeahnte Renaissance, bis hin zu einer grundsätzlichen Kritik an der Tradition der Aufklärung. Nimmt man die sich während der Französischen Revolution befehdenden Kräfte als Grundkonstellation, die bis heute nachwirkt, so lässt sich resümieren: Die Kontroverse um Unitarismus gegen Föderalismus und jede andere Form von lokaler Autonomie wurde in den westlichen Gesellschaften zugunsten des Zentralstaats entschieden. In einem Land wie Frankreich behielten die jakobinisch-zentralistisch-repubükanischen Tendenzen lange Zeit die Oberhand und wurden erst im späten 20. Jahrhundert allmählich abgebaut. Ähnliches gilt für Italien. Die kommunistischen Länder folgten auch in dieser Frage den Klassikern des Marxismus-Leninismus. Und selbst die nur noch dem Buchstaben nach marxistischen, längst reformistisch agierenden sozialdemokratischen Parteien, insbesondere die deutsche, blieben auf den Staat fixiert. Spätestens der Faschismus zeigte nun, dass ein starker Zentralstaat nicht nur eine Forderung von Jakobinern und Marxisten, sondern auch der antiliberalen Rechten war. In Frontstellung gegen diese Konstellation treten populistische Bewegungen schon im 19. Jahrhundert als dritte Kraft auf, als Anwälte des Lokalismus, der dezentralen Organisation in Staat und Gesellschaft. Sie richten ihren Protest gegen die Verfestigung von Herrschaft in einem Zentrum, in den
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großen Organisationen von Staat und Wirtschaft, seien es bürokratische Großapparate, Konzerne und Trusts oder die Hauptstadt. Ein Moment konservativer Beharrung und konservativen Eigensinns verbindet sich mit der Forderung nach Selbstbestimmung jenseits aller Stellvertreterpolitik durch Parteien oder Intellektuelle.
Karl Mannheims wissenssoziologischer Blick Hinter der Konfliktlinie zwischen Jakobinern und Girondisten steht aber noch eine ältere und grundlegendere: Die Herausbildung des modernen Staates ab dem 16. Jahrhundert mit seiner Bürokratie, seinem stehenden Heer und seinem Steuermonopol, mit zentral von absolutistischen Monarchen gelenkter Wirtschafts-, Rechts- und Bildungspolitik. Der Begriff des »aufgeklärten Absolutismus« brachte die Verbindung von Aufklärungsphilosophie und staatlich gelenkter Modernisierungspolitik zum Ausdruck. Gegen diese Machtkonzentration im Staate artikulierte sich schon früh Widerstand im Namen »organisch« gewachsener Vielfalt und Pluralität von Rechtsbeziehungen, Privilegienstrukturen, Lebensformen, Ständeordnungen und staatsfreien Zusammenschlüssen wie den Zünften, Gilden oder Stadtkommunen. Die Französische Revolution wirkte hier nur als Katalysator einer Entwicklung von »langer Dauer«, bei der es, unabhängig von den Regimeformen (absolutistische Monarchie oder Republik), auf der einen Seite um Modernisierung durch staatliche Machtkonzentration, auf der anderen Seite um Verteidigung pluraler, staatsfreier Sphären der Selbstorganisation und Selbstbestimmung ging. Im 19. Jahrhundert formierte sich dieser Widerstand als Konservatismus und in diese Traditionslinie fällt auch der Populismus. In seinem klassischen Werk zum Konservatismus hob der Wissenssoziologe Karl Mannheim hervor, dass sich neben den dominierenden Zügen der modernen, mechanisierten Gesellschaft mit ihrer Rechenhaftigkeit, ihrem Rationalismus, ihrem abstrakten Erleben und Denken historisch vorgängige Denkstile erhalten haben, die der modernen Welt als Komplementärerscheinungen zur Seite stehen. Mannheim fragt:
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»Was geschah mit all jenen lebendigen Beziehungen und den ihnen entsprechenden Denkformen, die durch diese konsequent werdende Abstraktion verdrängt worden sind? Versanken sie in der Vergangenheit oder blieben sie irgendwo erhalten? Und wenn das letztere der Fall ist, in welcher Gestalt kamen sie auf uns über? Sie bestanden, wie zu erwarten, auch weiterhin; aber wie dies in der Geschichte zumeist geschieht, war ihr Vorhandensein latent geworden und wirkte sich höchstens in komplementären Gegenströmungen zu der Hauptströmung aus«. (Mannheim 1984: 83) Zunächst seien diese Gegenströmungen von jenen geistigen und sozialen Schichten weitergetragen worden, die noch außerhalb des kapitalistischen Rationalisierungsprozesses standen oder keine führende Rolle in ihm einnahmen: bäuerliche und kleinbürgerliche, noch dem Handwerkerleben nahe stehende Schichten, aber auch Teile der industriellen Arbeiterschaft, die ihre ursprüngliche Lebenshaltung noch nicht ganz verloren hatten. »Wir sind zumeist geneigt, die Kritik des Kapitalismus der proletarisch-sozialistischen Bewegung, die erst später einsetzt, zu-zuschreiben. Es sprechen aber sehr viele Anzeichen dafür, dass diese Kritik von der Rechtsopposition inauguriert wurde und von hier erst in die Intentionen der >Linksopposition< übergegangen ist, wobei es selbstverständlich wichtig sein muß, zu erforschen, durch welche Verschiebung der >Pointe< dieses >Übergehen< vonstatten geht«. (Ebd.: 87) Mannheim ist so ausführlich zu Worte gekommen, weil seine Ausführungen inhaltlich und methodisch als Schlüssel zum Verständnis nicht nur des Konservatismus, sondern auch des Populismus dienen können. Inhaltlich besteht eine starke Affinität zwischen Konservatismus und Populismus, die sich beide durch inhaltliche Unbestimmtheit und Theorieferne auszeichnen. Methodisch aber hat Mannheim mit den Formulierungen Verschiebung der Pointe< und >Übergehen< etwas erfasst, was gerade am Populismus immer wieder irritiert, nämlich die ihm innewohnende Tendenz, zwischen links und rechts zu changieren und unter bestimmten, genauer zu analysierenden Bedingungen zu einem anderen politischen Typus zu mutieren.
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Populismus als fluider Volkskonservatismus Neben den Hochideologien von Liberalismus, Sozialismus und Konservatismus erscheint der Populismus als »kleiner Bruder« mit minderem Anspruch auf Welterklärung und Gesellschaftsanalyse. Er war und ist eher ein Syndrom als eine Doktrin (Peter Wiles). Damit ist allerdings nicht seine Verknüpfungsfähigkeit mit anderen Ideologemen gemeint. Eine derartige Kombinatorik ist, insbesondere seit der Herausbildung von Volksparteien, gängige Praxis. Schon im 19. Jahrhundert spaltete sich der deutsche Liberalismus in Nationalliberale und Freisinnige, und erst recht im 20. Jahrhundert finden sich bei allen großen politischen Formationen diese Amalgamierungen und Legierungen, etwa als Sozialliberale, Liberalkonservative, Linksnationalisten und Sozialdemokraten bis hin zur Verknüpfung von Gegensätzen, wie bei Nationalsozialismus oder Konservative Revolution. Diese Legierung — Mannheim spricht von Synthesen — diverser ideologischer Komponenten ist also nicht neu. Schon im 19. Jahrhundert hob Lord Acton hervor, die wechselseitige Durchdringung, die permeation politischer Ideengebäude sei wichtiger als der Sieg des einen über das andere. Von solchen Permeationen ist auch der Populismus nicht ausgenommen. Wie den Konservatismus, so zeichnet auch ihn ein tiefes Misstrauen gegen alles Neue und Fremde aus, aber im Gegensatz zu jenem bleibt er auf der Ebene subpolitischer Überzeugungen und somit, nach der Unterscheidung von Karl Mannheim, eher ein vorreflexiver Traditionalismus. In höherem Maße noch als für den Konservatismus gilt für ihn das »Seinsprimat« vor dem »Denkprimat« der Aufklärung (ebd.: 132f.). Paul Taggart hat diesen populistisch-lebensweltlichen Konservatismus als rückwärtsgewandte Fixierung auf das heartland bezeichnet (Taggart 2002: 67f.). Heartland in seiner kaum übersetzbaren Bedeutung von Zentrum, Kernland, Landesinneres, evoziert ein emotionales, eher Herz und Gefühl als Verstand und Theorie ansprechendes, immer schon vorhandenes Wissen um die >gute Gesellschaft<, die, ländlich oder kleinstädtisch geprägt, in ihrem So-Sein unhinterfragbar ist. In diesem mentalen Kernland des Populismus herrschen in der Formulierung Alexis de Tocquevilles die »Gewohnheiten des Herzens«.
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In der französischen Wendung La France profonde erhält dieser Denkstil zusätzlich noch eine Tiefendimension — die Vorstellung einer tief in der Tradition verwurzelten Identität des Volkes mit sich selbst, eines unvergänglichen, ontologischen Seinsgrundes, der von künstlich geschaffenen neuen Zentren der Machtakkumulation bedroht wird, im einzelnen durch Immigration, Globalisierung, staatliches Steuermonopol, bürokratische Gängelung und Staatsinterventionismus. Dahinter, so wird vermutet, stehen aufklärerische Eliten, die, verbunden mit eigenen Machtinteressen, ihre Utopien von Gesellschaftsveränderung und Weltverbesserung umzusetzen trachten. Im konservativen wie auch im populistischen »Denkstil« (Mannheim) rangiert das auf Erfahrung und Tradition beruhende Wissen des Volkes vor dem rationalen, abstrakten Expertenwissen. Werden aber im Zuge von Modernisierungsprozessen Erfahrung und Tradition entwertet, so erleben Populisten dies als Bevormundung und elitäre Arroganz, hinter der sie eher intuitiv als reflektiert auch bestimmte Klasseninteressen vermuten und als Verschwörung wahrnehmen.
Populistische Beimischungen in den Volksparteien Diese auch für Konservative typische Skepsis gegenüber Rationalismus, Abstraktion und Theorie führt einerseits zu einer höheren Anlehnungsbedürftigkeit des Populismus an andere, theoretisch elaboriertere politische Familien. Andererseits birgt seine inhärente Schwammigkeit die Gefahr der Überdehnung des Begriffs in sich. Um das Problem metaphorisch zu formulieren: Ist Populismus eher eine Zutat oder eine Speise? Fasst man ihn als Ferment oder Würze, kann man heute bei allen großen westlichen Parteiführern solche populistischen Zutaten erkennen, sei es bei Margaret Thatcher, Ronald Reagan oder Gerhard Schröder, bei Silvio Berlusconi oder Tony Blair. Jede Volkspartei muss darauf bedacht sein, klassen-, schichtenund milieuübergreifend alle Wählerinnen und Wähler in ihrer Eigenschaft als Volk anzusprechen. Vertreter von Volksparteien versäumen es daher nicht, an Werte wie Anstand und Ehrlichkeit zu appellieren, ihre bescheidene Herkunft in die Waagschale zu werfen, ihre ärmliche Kindheit als Söhne rechtschaffener Kriegerwitwen hervor-
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zukehren, mit Prinz-Heinrich-Mütze, offenem Hemdkragen oder Lodenjacke ihre Volksverbundenheit unter Beweis zu stellen. Dies als Populismus »von oben« zu bezeichnen, heißt der Mimikry zu viel Ehre zu erweisen, wie es auch umgekehrt in die Irre führt, rechtsextreme oder neofaschistische Parteien als »national-populistisch« zu verharmlosen. Um auf meine Metapher zurückzukommen: Die Beigabe einer Zutat oder eines Gewürzes kann, je nach Grad der Verabreichung, eine Speise so verändern, dass sie eine ganz andere wird, die dann in der Regel auch anders bezeichnet wird. Es kommt also auf das Mischungsverhältnis an und darauf, welche Komponenten in einem ideologischen Konglomerat überwiegen und dominant werden. Dabei handelt es sich oft nur um einen Schritt, der vom Populismus in reaktionäres Fahrwasser führt. Victor Khoros bemerkt dazu: »Im Regelfälle scheut der Populist diesen letzten Schritt; wagt er ihn aber, kann die Ideologie, für die er steht, nicht mehr als populistisch bezeichnet werden«. (Khoros 1980: 77) Am Beispiel des amerikanischen Populismus wird zu zeigen sein, dass die Mutation des Populismus zu etwas anderem, in diesem Falle zum Semifaschismus oder Bonapartismus, eingeleitet wird durch eine Fokusverschiebung, weg von materiellen (ökonomischen, sozial-politischen) Forderungen und Reformvorschlägen, hin zu »kompensatorischer Kriegführung« (David J. Saposs) durch sozialpsychologische Ersatzstrategien wie der Suche nach Sündenböcken und Verschwörungstheorien, gepaart mit Fremdenfeindlichkeit und Rassismus.
Postmoderne und Populismus Seit den siebziger Jahren zeigen sich auf kulturellen und künstlerischen Gebieten Tendenzen, die als postmodern bezeichnet werden. Der Zusammenhang zu neuen Erscheinungsformen des Populismus wurde dabei bisher wenig untersucht. Die Begriffe »postmodern« und »Postmodernismus« sind ebenso unbestimmt wie schillernd und ihre Definitionen so zahlreich, wie die daran beteiligten Autoren. Umstritten ist zudem, ob es sich dabei um eine inzwischen überholte intellektuelle Mode, um das Kennzeichen einer neuen Epoche oder nur
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um einen Verlegenheitsbegriff handelt, der die epigonalen Züge einer erschöpften und ausgelaugten Moderne zum Ausdruck bringt. Die Kritik postmoderner Autoren setzt hoch und generell an. Im Zentrum steht die Abwehr des Totalitarismus, verstanden nicht nur als politische Regime der Zwischenkriegszeit, sondern als inhärente Triebkraft der Moderne. Der Generalvorwurf lautet, die Moderne ziele auf Vereinheitlichung, seien es Uniformierungstendenzen des internationalen, funktionalistischen Stils in Architektur und Städtebau, Zusammenschlüsse nationalstaatlicher Märkte zu Großwirtschaftsräumen wie der EU, Homogenisierungstendenzen durch die Globalisierung oder die weltweite Verbreitung des westlichen Demokratiemodells. Gegen diese totalisierenden Tendenzen der Moderne gerichtet, konstatieren Postmodernisten ein generelles Scheitern der ideologischen »Großerzählungen«, wie sie sich im 18. und 19. Jahrhundert herausgebildet haben, insbesondere der Aufklärungsphilosophie und des Marxismus. Im Gegensatz dazu plädieren sie für eine Welt der Vielfalt, der Differenz, der Unterschiede und politisch für die Vernetzung regionaler Zentren, in denen sich Lebenswelten gegen das »System« behaupten und sich der politische Wille »von unten« als subversiver Drang nach Selbstbestimmung artikuliert. Die subjektive Erfahrung und Gestaltungsfähigkeit des Individuums wird aufgewertet gegenüber strukturellen Gegebenheiten oder vermeintlich ontologischen Wahrheiten. Hinter dieser Tendenz zu Subjektivismus und Konstruktivismus stehen mehrere, durchaus paradoxe Erfahrungen. Dazu zählt vor allem die Erosion fester Strukturen in fast allen das Individuum betreffenden Bereichen: Arbeitsmarkt, Familie, gewachsene Lebenswelten in bestimmten Wohnvierteln, Auflösung von Homogenität und Gleichförmigkeit durch Einwanderung, durch neue Formen des Zusammenlebens, durch Wertewandel und nicht zuletzt durch Veränderungen der Berufsbiographie. Individualisierung, Pluralisierung und Diversifizierung lauten die Schlagworte. Neben Ideologien oder politischen Konstrukten wie der Nation werden auch Individuen in ihrer Identität in Frage gestellt und dekonstruiert. Metaphern wie patch-work oder bricolage avancieren zu Schlüsselbegriffen der sozialen und politischen Analyse.
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Aber nicht nur der Einzelne wird in der Postmoderne zum Dauerbasder an seinem Ich. Auch politische Parteien sind von diesem Auseinanderbrechen systemischer Einheiten und der Verflüssigung ihrer Homogenität betroffen. Welt- und Lebenserfahrungen werden beherrscht von Fragmentierung. Für politische Parteien hat dies zur Folge, dass sie nicht mehr als Katalysatoren von sozial homogenen Schichen fungieren. Weder sind sie die Filter eines politischen Willens von unten nach oben noch eine Erziehungsinstanz, die eine >objektiv< richtige Ideologie von oben nach unten durch Aufklärung und Schulung verbreitet. Gerade die großen Volksparteien sind zunehmend in die Modernisierungsfalle geraten, denn einerseits sind sie, verstärkt seit den 1960er Jahren, für die Anhebung des Bildungsniveaus eingetreten ohne andererseits verhindern zu können, dass viele der besser Gebildeten heute zu unberechenbaren Wechselwählern werden. Diese haben andere Erwartungen an Parteien und wollen nicht mehr »von der Wiege bis zur Bahre« in einem soziopolitischen Milieu verharren. Die Lage der Parteien ist schwieriger und zugleich unbestimmter geworden.
Selbstbestimmung gegen Kollektivismus Das klassisch populistische Leitmotiv war und ist das der individuellen Selbstbestimmung (self-reliance). Die amerikanischen Gründerväter, insbesondere Thomas Jefferson und Andrew Jackson 3 , verstanden diesen Begriff als Kampfbegriff gegen Monopolisierungsprozesse. Populisten berufen sich auf dieses frühliberale Ideal staatsfreier ökonomischer Selbstständigkeit und Selbstorganisation. Gegen das Big Business mit seinen Sonderinteressen gelte es, die Gesellschaft so zu gestalten, dass die Menschen wieder über ihr eigenes Leben bestimmen können. Individuelle Selbstbestimmung steht gegen Kollektivismus. Darunter wird nicht nur der Systemgegensatz zwischen Ost und West zur Zeit des Kalten Krieges verstanden, sondern die Tendenz zum Kollektivismus durchzieht für Populisten die gesamte 3
Die US-amerikanischen Präsidenten Jefferson (1743-1826) und Jackson (1967-1845) gelten für amerikanische Populisten als Bezugspunkte in ihrem nicht grundsätzlich antikapitalistischen, aber antimonopolkapitalistischen Kampf.
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Moderne. Dazu zählten die großen Aggregate im Industrie- und Finanzsektor, die großen bürokratischen Apparate ebenso wie die großen Parteimaschinen und nicht zuletzt der Moloch Staat. Populisten teilen mit Postmodernisten zahlreiche Gemeinsamkeiten: Sie sind anti-totalitär, anti-hierarchisch, anti-elitär, anti-autoritär (vgl. Welsch 1987: 4ff. und 319-328). Sie stehen für die Aufwertung anderer als der mathematisch-naturwissenschaftlichen Wissensformen und sind skeptisch gegenüber Rationalismus und »großer« Theorie, denen sie lebensweltliche Erfahrung und Pragmatismus gegenüberstellen. Sie treten für die Pluralisierung der Lebenswelten und ihre Aufwertung gegenüber allen Tendenzen zur Megalomanie ein. Sie plädieren für dezentrale Vernetzung, Selbstorganisation und Selbsthilfe. Auf dem Spiel stehen für Postmodernisten und Populisten zentrale Fragen nach dem Selbst, nach Gerechtigkeit, Freiheit und Identität. Verstehen sich postmoderne Denker teils als Liberalkonservative in der Nachfolge Tocquevilles, teils als Anarcho-Liberale, so gilt dies auch für Populisten. Auch für sie haben Werte wie Selbsttätigkeit, Selbstorganisation, Selbstständigkeit, Vertrauen auf die eigenen Kräfte ohne Bevormundung »von oben«, oberste Priorität. Nicht zuletzt problematisieren sie den Zusammenhang zwischen dem aktiven, modernisierenden, soziale Gerechtigkeit anstrebenden Staat und der Herausbildung neuer Zentren der Macht. Auch ein des Populismus gänzlich unverdächtiger Theoretiker wie Jürgen Habermas muss konstatieren: »Daß der aktive Staat nicht nur in den Wirtschaftskreislauf, sondern auch in den Lebenskreislauf seiner Bürger eingriff, hatten die Reformer als ganz unproblematisch angesehen — die Reform der Lebensbedingungen der Beschäftigten war ja das Ziel der sozialstaatlichen Programme«. Darin liege die spezifische »Einäugigkeit« des staatszentralistischen Projekts der Moderne, das neben mehr sozialer Gerechtigkeit auch mehr Machtkonzentration mit sich gebracht habe. »So überzieht ein immer dichteres Netz von Rechtsnormen, von staatlichen und parastaatlichen Bürokratien den Alltag der potentiellen und tatsächlichen Klienten«. (Habermas 1985: 150f.) Seit Beginn der modernen, industriekapitalistischen Welt hat die Soziologie die Modernisierungsprozesse begleitet und versucht, die
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Unterschiede zwischen vormodernen und modernen Gesellschaften in idealtypische Gegensatzpaare zu fassen wie: System und Lebenswelt, Gesellschaft und Gemeinschaft, Zentrum und Peripherie, Universalismus und Partikularismus, technokratisches Machen und organisches Wachsen usw. In welchem Verhältnis stehen diese Dimensionen zu einander? Wurden sie vom modernen industriekapitalistischen System mit seinem Rationalismus, seiner inhärenten Tendenz zu Konzentration und Monopolbildung unterdrückt, vereinnahmt, transformiert oder leben sie irgendwie weiter, sei es an der Peripherie oder in bestimmten sozialen Schichten und Denkweisen? Ungefähr seit Beginn der siebziger Jahre wird jedenfalls von verschiedenen Seiten der Weg in die Moderne als zu eindimensional wahrgenommen. Kritik an der Megalomanie und an einem überbordenden Individualismus wird laut, an der Verselbstständigung von systemischen Einheiten gegenüber der lebensweltlichen Erfahrung der Menschen. Die Rückbesinnung auf Gemeinschaftssinn und Partikularismus, auf Tradition und regionale Verankerung, auf das menschliche Maß, wird eingeklagt. Auch die intellektuelle Neue Rechte tritt inzwischen als Herold gewachsener Gemeinschaften und regionaler Autonomie auf. Sie mobilisiert Widerstand gegen die politische »Kaste«, gegen supranationale Zusammenschlüsse mit ihrer Großbürokratie im Namen einer inkommensurablen Pluralität von Ethnien und Völkern. Wie auf der linken, so gibt es auch auf der rechten Seite einen Entfremdungsdiskurs, dessen Schnittmenge in der gemeinsamen Ablehnung von Bevormundung und Fremdbestimmung liegt, sei es die der EU, des Kapitals, der Bürokratie, der politischen Eliten, des amerikanischen Kulturimperialismus, der Intellektuellen, der Experten, der Kulturindustrie bis hin zur Chimäre von Weltverschwörungen mit antisemitischen Anklängen.
Historische Vorläufer Abgesehen von den beiden großen historischen Vorläufern des 19. Jahrhunderts, den russischen Volkstümlern (Narodniki) und dem Populismus der US-amerikanischen Farmer, ist der Populismus ein
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Phänomen des 20. Jahrhunderts und wurde nach 1945 in einer ersten Phase von Autoren wie Seymour M. Lipset und Richard A. Hofstadter als Protofaschismus identifiziert. Diese Sicht prägt in ihrer Abwehrhaltung bis heute die Wahrnehmung des Phänomens, auch wenn sich seit Beginn der siebziger Jahre ein Umdenken angebahnt hat. Jüngere amerikanische Forscher wie Norman Pollack, Lawrence Goodwyn oder Michael Kazin konnten zeigen, dass der amerikanische Agrarpopulismus eher links als rechts anzusiedeln ist, auch wenn gewisse fremdenfeindliche Tendenzen nicht zu übersehen sind. Augenfällig am Populismus ist seine kaum vorhandene Ausprägung als Doktrin oder Ideengebäude. Es gibt keine populistischen Theoretiker, sieht man vom Philosophen des amerikanischen Pragmatismus, John Dewey, ab, der Sympathien für den Populismus hegte, aber keine Doktrin oder Theorie dieser Bewegung im engeren Sinne hinterließ. Kommunitaristische Anklänge, die nicht immer deutlich von populistischen abzugrenzen sind, finden sich auch im Werk von Hannah Arendt oder in dem des Sozialwissenschaftlers Christopher Lasch (vgl. Lasch 1995: 92ffi). Der britische Distributism brachte eine rudimentäre populistische Doktrin mit antimodernistischem Akzent hervor, die nicht zufallig von katholischen Autoren wie Gilbert Keith Chesterton 4 und Hilaire Belloc getragen wurde. Der Distributismus verfolgte das Ziel der Streuung von mittelständischem Kleinbesitz als Bollwerk gegen die Entfremdung in der modernen Welt. Es handelte sich um eine »Dritte Weg«-Bewegung jenseits von Sozialismus und Kapitalismus, in die Elemente der katholischen Soziallehre, des Gildensozialismus und die anarchistischen Ideale Kropotkins in einer Mischung von anarchistischem und konservativem Gedankengut eingeflossen sind. Ziel war die Verteidigung oder Wiederherstellung der ökonomischen Unabhängigkeit von Individuum und Familie gegenüber den großen Unterdrückungssystemen der Moderne: Kapitalismus, Kommunismus, Imperialismus mit ihrer Tendenz zu Vermassung und Konformismus, zu Bürokratie und Expertokratie.
4 Vgl. Canovan 1977. Chesterton wurde vor allem als Verfasser von Kriminalromanen bekannt, in deren Zentrum die populäre Figur des Pater Brown steht.
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Die »bürokratische Klasse«, die »Neue Klasse« als staatsnahe Steuerungselite ist für Populisten der Gegner schlechthin. Diese Kräfte fungieren als elitäre, bevormundende »Macher« des homogenisierenden Zentralstaats, der staatlichen Schulaufsicht, des »Steuerstaats«, der Herrschaft der Parteien, der »Verschwörung« der Großen gegen die Kleinen und nicht zuletzt des universalisierenden Rechtsstaats. Dagegen stellen Populisten Eigentum nicht in Frage: Privateigentum wird grundsätzlich befürwortet, aber in überschaubarem Umfang als Familien- oder Kleinbesitz. Keine der genannten Tendenzen konnte jedoch im 20. Jahrhundert, dem Zeitalter des Produktivismus, des Fordismus und der zunehmenden Verstädterung, längere Zeit auf sich gestellt existieren. Dies auch deshalb, weil zwei weitere Bewegungen gleichfalls den Anspruch auf einen dritten Weg erhoben: Die Sozialdemokratie auf der einen Seite, in die grosso modo die von Dewey vertretene Linie einfloss, und der Faschismus auf der anderen. Letzterem wandten sich zahlreiche angelsächsische Distributisten Mitte der 1930er Jahre zu, darunter der zum Katholizismus konvertierte britisch-amerikanische Schriftsteller T.S. Eliot und der amerikanische Dichter Ezra Pound, der mit Mussolinis Korporativstaat sympathisierte. In Deutschland, einem Land mit einer ausgeprägten Staatsmetaphysik und lange nachwirkenden obrigkeitsstaatlichen, protestantisch geprägten Traditionen, waren populistische Tendenzen wenig verbreitet, obwohl es sie als ephemere Aufwallungen auch hier gab und gibt. Typisch populistische Kampfparolen lauten gestern und heute in stereotyper Einförmigkeit: »Bullen, Bonzen, Banken — alle müssen wanken!« Diese gegen die »Bonzen« gerichtete Stoßrichtung hat eine lange Tradition, verharrt aber meist in der Latenz. Sie manifestiert sich erst dann mit besonderer Schärfe, wenn sich der Verdacht erhärtet, >die da oben< hätten sich vom Volk abgeschottet und lebten in Saus und Braus. So wurde im NS-Regime, das sich zu Beginn selbst populistischer Elemente bedient hatte und gegen die »Plutokratien« anzugehen versprach, eine sich nur in Witzen und Redeweisen artikulierende Regimekritik laut, die um die NS-Bonzen kreiste. Im »Bonzen« personifiziert sich ein ganzes Bündel von teils berechtigter Kritik, mehr aber noch von Ressentiments, Vorurteilen und dumpfer, schwärender Wut. Der »Bonze« verweist auf ein vor-
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politisches Einstellungssyndrom, das aus dem Gefühl der Machtlosigkeit, der materiellen, aber auch intellektuellen und kulturellen Unterlegenheit erwächst. Das plastische Bild kommt der figürlichkonkreten, gegen Begrifflichkeit und Abstraktion gerichteten Denkweise entgegen, verhindert aber gleichzeitig jede differenzierte Auseinandersetzung mit komplexeren Sachverhalten. In der Weimarer Republik gab es beispielsweise populistische Strömungen in der norddeutschen, gegen die bürokratischen »Bonzen« gerichteten Landvolkbewegung.5 In geringer Dosierung und mit instrumentalisierender Absicht finden sich populistische Tendenzen auch in der KPD der Weimarer Zeit, z.B. im Scheringer-Kurs mit der Strategie des Volkskampfes und der Perspektive einer Volksaktion aller Deklassierten an Stelle des Klassenkampfes. Nach 1945 existierten in der Bundesrepublik kaum Ansatzpunkte für einen Populismus. Zum einen verhinderte dies der bundesrepublikanische Föderalismus, zum anderen ging die christliche Soziallehre mit ihrem Subsidiaritätsprinzip in eine der großen Volksparteien, die CDU, ein und konnte mit Beginn der Globalisierung ohne theologischen Mantel und in neoliberaler Form Eingang sowohl in die SPD als auch in die Partei der Grünen finden.
Populismus als Kind der Krise Populismus ist das Ergebnis einer gestörten Kommunika-tionsbeziehung zwischen Eliten und Volk und kann daher als Frühwarnsystem fungieren. Im engeren Sinne gedeiht er in Phasen der politischen Verkrustung und vermeintlichen Alternativlosigkeit. Im weiteren Sinne findet Populismus einen günstigen Nährboden bei zu schneller, zu abrupter Modernisierung, auf die die politischen Eliten nicht adäquat reagieren. Meist handelt es sich um sektorelle Anpassungskrisen an rasche Modernisierungsschübe in Verbindung mit Ineffizienz oder Inkompetenz der politischen Führung.
5 Ein Volksschriftsteller wie Hans Fallada hat in den 1930er Jahren die Sicht des »kleinen Mannes« eingenommen, zum Beispiel in seinen Romanen Bauern, Bonzen und Bomben oder Kleiner Mann — was nun ?
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Betroffen davon sind jeweils bestimmte Segmente der Gesellschaft. Waren es Ende des 19. Jahrhunderts eher ländlich-agrarische Bevölkerungsteile, so sind es im 20. Jahrhundert Teile des selbstständigen Kleinbürgertums, wie kleine Ladeninhaber und Handwerker. Es können aber auch, was sich Ende des 20. Jahrhunderts abzuzeichnen begann, Teile der neuen, selbstständig Beschäftigen oder Teile der Unterschichten mit ihrer Angst vor »Überfremdung« sein. Ihnen allen war und ist gemeinsam die oft berechtigte Furcht, von den sich schneller modernisierenden, auf internationale Märkte drängenden Sektoren und ihren politischen Protagonisten überrollt, in ihrer Identität in Frage gestellt und politisch nicht gehört zu werden. In diesem Moment der Beharrung, des Widerstandes gegen gesellschaftliche Dynamik, des Wunsches nach Verlangsamung eines Geschehens, das sich der Beeinflussung zu entziehen scheint, nicht zuletzt in der Verteidigung des lebensweltlichen status quo bis hin zu Idealisierung einer vermeintlich besseren Vergangenheit, liegt die Affinität des Populismus zum Konservatismus, nicht aber zum wesentlich dynamischer auftretenden Faschismus. Der Populismus ist ein auf sich gestellter, theoretisch armer Konservatismus, gewissermaßen dessen Volksausgabe. Er zeigt sich als Syndrom, das heißt als Kumulation verschiedener Symptome, deren gemeinsames Auftreten zu einem bestimmten Zeitpunkt einen bestimmten gesellschaftlichen Zustand anzeigt. Solche sich kumulierenden Symptome können sein: Die Zunahme von Korruptionsskandalen in Verbindung mit Parteienfilz, die Versäulung der Politik in der Konsensdemokratie durch die Praxis des Aushandelns zwischen den drei »Großen«, den Kapitalvertretern, den Gewerkschaften und dem Staat, ferner unkoordinierte Immigration, Defizite der europäischen Integration, »Überforderung« des Staates durch immer mehr Bereiche, deren Regelung er an sich zieht, daraus resultierend der Eindruck von Inkompetenz bei den Berufspolitikern und zugleich das Gefühl ihrer Abkapselung als professionalisierte »Kaste« und vieles mehr.
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Der populistische Blick »von unten« Um den charakteristischen Merkmalen des Populismus näher zu kommen, muss man sich seinen Blickwinkel zu Eigen machen. Populisten blicken »von unten«, vom Volk mit einer Mischung von Missgunst, Verachtung, Wut und Enttäuschung auf die Eliten. Als außerhalb des politischen Systems Stehende schauen sie von außen nach innen, auf das Innere des politischen Machtgefüges. Zur Veranschaulichung greife ich auf ein Beispiel zurück. Zwischen 1947 und 1954 gab es in Frankreich eine von General de Gaulle gegründete Bewegung, die sich Rassemblement du peuple franfais (RPF) — Sammlung des französischen Volkes — nannte. Allein schon der Name verweist auf das Volk, verstanden als Gesamtheit aller Französinnen und Franzosen, die zur Sammlung jenseits von rechts und links aufgerufen werden. In diese Bewegung, die kurzfristig bei Wahlen auch als Partei auftrat, gingen nicht nur ultrarechte Monarchisten, Gemäßigte und Christdemokraten ein, sondern auch Linksrepublikaner und Anhänger der linksliberalen Radikalen, also ein ungewöhnlich breites Spektrum von links (mit Ausnahme der marxistischen Linken) bis weit nach rechts. Diese Partei zeigte etliche populistische Merkmale, darunter einen ausgeprägten Anti-ParteienAffekt. Ihr Ziel war es, die »ausschließliche« Herrschaft der etablierten Parteien zu überwinden und ihren eigenen Bewegungscharakter zu betonen. Hinzu kam ihr Selbstverständnis als dritter Weg jenseits von Kapitalismus und Kollektivismus, ferner ein charismatischer Anführer, ein gegen die europäische Vereinigung gerichteter Nationalismus und schließlich eine solide Basis im Mittelstand, bei Handwerkern, Kaufleuten, kleinen und mittleren Angestellten. Diese Merkmale sollten eigentlich ausreichen, um den RPF als populistisch zu kennzeichnen. Es zeigt sich indessen, dass diese Sammlungsbewegung in keiner Untersuchung zum Populismus exemplarisch erwähnt oder als populistisch bezeichnet wird. Der sich wenig später ebenfalls in Frankreich formierende Poujadismus wird dagegen sehr wohl, und zu Recht, als eine der klassischen Ausprägungen des Populismus angesehen. Warum? Der Unterschied, der den Poujadismus populistisch macht, den RPF aber nicht, liegt in der Perspektive. De Gaulies Sammlungsbewegung wurde
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»von oben«, von Teilen der etablierten Eliten gegen andere Teile dieser Eliten (die verhassten Parteienvertreter der IV. Republik) ins Leben gerufen. Der General als Inkarnation Frankreichs sprach »von oben« die Bevölkerung in ihrer Klassen übergreifenden Eigenschaft als Volk an, wobei er auf populistische Elemente zurückgriff, selbst aber kein Populist war, sondern in der Tradition des Bonapartismus stand. Umgekehrt kam und mobilisierte Pierre Poujade nicht vom politischen Zentrum her, sondern von der Peripherie und »von unten«, von den Kleinhändlern in der französischen Provinz. Der Kompass dieses Populisten blieb auf die »kleinen Leute« als politische Subjekte gerichtet, nicht auf die Macht im Staate und er selbst verstand sich nur als Sprachrohr seiner Anhänger. De Gaulies Initiative dagegen war umgekehrt auf die Macht im Staate gerichtet, wobei auch er sich der Anrufung des Volkes bediente, aber als politisches Objekt, nicht als Subjekt. Zudem sah er sich nicht als Sprachrohr des Volkes, sondern als »Mann der Vorsehung«, der einen historischen Auftrag zu erfüllen hat. Unter Souveränität verstand der General nicht die des Volkes, sondern die der Nation. Das familistischtraditionalistische Koordinatensystem Pierre Poujades war ihm ebenso fremd wie die Perspektive einer staatlichen Dezentrierung oder föderalen Pluralisierung.
Zwei Formen von Charisma Beide, de Gaulle und Poujade, verfügten über persönliches Charisma, aber auch hier zeigen sich signifikante Unterschiede. Charisma in der klassischen Definition Max Webers beruht auf einer außeralltäglichen Ausstrahlung und damit auf dem Gegenteil dessen, was den »gemeinen Mann« in seiner Alltäglichkeit ausmacht. Zeitgenössische Beobachter hoben hervor, dass Poujade sich durch nichts von Millionen anderer Franzosen unterschied, er lediglich gebündelter den typischen Habitus des Mannes aus dem Volke verkörperte. Darin lag seine Popularität und sein »persönlicher Magnetismus«. (Meynaud in: Hoffmann 1956: XVIII) De Gaulle war in jeder Hinsicht eine Ausnahmegestalt, Poujade war dagegen die Regel. De Gaulle strebte keine Symbiose zwischen
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sich und dem Volk an, sondern fühlte sich einzig und allein einer »gewissen Idee von Frankreich« verbunden, dem Mythos von Ruhm und nationaler Größe. Anders dagegen Poujade. Auch er vertrat zwar eine bestimmte Idee von Frankreich, aber eine bodenständige, erdund heimatverbundene: das ewige Frankreich des zeitlosen Jedermanns. Populisten wie Poujade, aber auch jüngst erst Ross Perot, treten nicht als Führer auf, die hierarchisch eine ihnen persönlich ergebene Gefolgschaft um sich scharen, sondern als Katalysatoren und Sprachrohre ihrer Bewegung. Er sei nur ein »catalyst«, sagte Ross Perot, der seinen Anhängern ein Ventil, ein »outlet«, für ihre Unzufriedenheit und ihre Ziele biete. Überdies propagieren Populisten keinen Gründungs- oder Zukunftsmythos, sondern leihen nur bestimmten gesellschaftlichen Segmenten mit ihrem unpolitischen Traditionalismus ihre Stimme, als guter Kumpel, als >einer von uns<. Charismatische Herrschaft strebt überdies den Bruch mit dem bestehenden System an. Auch dies trifft auf einen Mann wie Poujade nicht zu, wie überhaupt äußerst selten auf Populisten. Ihm ging es lediglich um die Verteidigung einer aus seiner Sicht bewährten, aber inzwischen bedrohten Lebensform.
Tradition und Lebenswelt Populismus ist kein historischer Anachronismus, sondern ein Phänomen der Moderne. Er ist an kein bestimmtes Entwicklungsstadium gebunden, etwa an den Übergang von der traditionalen zur modernen Gesellschaft. Vielmehr ist er eine zyklisch immer wiederkehrende Erscheinung, eine auch und gerade in modernen Gesellschaften immer vorhandene Möglichkeit. Daher ist der populistische Bezug zur Geschichte auch ein anderer als etwa der des Faschismus. Populisten beziehen sich auf eine noch erinnerbare Vergangenheit und einen Erfahrungshorizont, der noch nicht gänzlich verschwunden, aber bedroht ist. Bezeichnenderweise berief sich der Poujadismus nicht auf die vormoderne Gesellschaft, sondern auf die Französische Revolution als die bis dahin erste historische Erfahrung des Volkes, sich als politisches Subjekt
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artikulieren zu können. Populisten sehen ihr Ideal in einer frühliberalen Verfasstheit der Gesellschaft, die schon ohne feudale Fesseln auskommt und noch ohne den Industriekapitalismus, die organisierte Arbeiterschaft und den modernen Interventionsstaat. Diese lebensweltlich-kollektive Erinnerung unterscheidet den Populismus deutlich vom Faschismus, der einen sehr viel weiter zurückliegenden Ursprungsmythos erst künstlich propagieren musste, sei es den einer Rasse wie in Deutschland oder den der antiken, augusteisch-imperialen Vergangenheit im italienischen Faschismus. Zeigten populistische Bewegungen wie der britische Distribu-tismus oder der Poujadismus noch bis Mitte des 20. Jahrhunderts antimodernistische Züge, so kann bei den populistischen Bewegungen der neunziger Jahre nicht mehr von einem Kampf gegen die Moderne die Rede sein, sondern von einem Kampf innerhalb und auf dem Boden der Moderne. Auch semantisch wird dem Wandel Rechnung getragen. Heutige Populisten berufen sich nicht mehr emphatisch auf das Volk, sondern auf den mündigen Bürger. Der heutige Populismus ist, wie Pim Fortuyn richtig bemerkt hat, ein nachemanzipatorisches Phänomen, in dem Bürgerfreiheit die oberste Priorität genießt. Populisten vertreten Vorstellungen von Modernisierung und ökonomischen Reformen, in deren Zentrum die Verteidigung oder Wiederbelebung von kleinkapitalistischen, mittelständischen Strukturen stehen. Im Verhältnis zum global agierenden Kapitalismus multinationaler Konzerne setzen Populisten auf überschaubare, regionale Zusammenschlüsse und Vernetzungszusammenhänge, die die Grenzen des Nationalstaats von den Regionen her sprengen werden. Europäische Populisten, nicht dagegen südamerikanische, die hier nicht behandelt werden können, kommen ohne religiöse Konnotationen und ohne Bezug zur Transzendenz aus. Auch hier bleiben sie Traditionalisten mit ihrer lebensweltlichen Verankerung in gewachsenen Milieus und den dort tradierten Wertvorstellungen. Diese können in der katholischen oder protestantischen Volksreligiosität wurzeln oder im Antiklerikalismus der französischen Radikalen, spielen politisch aber keine Rolle. Als Pierre Poujade beispielsweise vom Papst empfangen wurde, haben viele seiner Anhänger dies als Affront, fast als Verrat am gelebten Antiklerikalismus seines Milieus empfunden.
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Auch eine messianische Sprache, die Beschwörung von Rettung, Erlösung, Heiligkeit, Märtyrertum, Wiedergeburt, Vorsehung, Sendung, die Vision eines künftigen Großreiches findet man bei Populisten nicht, wohl aber im Faschismus. Von einer mystischen, heiligen, religiösen Vereinigung mit der Masse, dem Volk, als einem Phänomen des populistischen Syndroms (so z.B. Ernst 1988: 11) kann überhaupt nicht die Rede sein. Populisten führen nicht offensiv moralisch-religiöse Kreuzzüge, sondern treten defensiv als Verteidiger eines lebensweltlich begrenzten Wertekanons auf. Nichts könnte ihnen fremder sein als die Vorstellung eines »neuen Menschen«. Als Traditionalisten und gute Familienväter möchten sie im Grunde nur in Ruhe gelassen werden von den Zumutungen immer neuer Modernisierungsschübe und neuer Herausforderungen durch Immigration, Wertewandel, Kapitalkonzentration, staatsinterventionistische Modernisierungsprogramme und staatliche Steuerkontrollen. Sie verteidigen eine ausgewogene gesellschaftliche Statik, das suum cuique, das jedem seinen Platz, sein Auskommen, aber auch faire Aufstiegschancen garantiert. Nahbeziehungen, persönlicher Kontakt, Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Standesgleichen sind wichtig mit allem, was dies auch an provinzieller Enge und Borniertheit mit sich bringen mag. Es ist das Ideal des Genossen, in Frankreich des compagnon, das hier, stärker als in den USA, eine Rolle spielt. Mannheim zitiert den Altkonservativen Justus Moser, der diesen Denkstil verdeutlicht. »Ein französischer und deutscher Edelmann können einander ebenbürtig sein; sie sind aber einer des anderen ungenoss. Bürger aus verschiedenen Städten sind ebenfalls einander ungenoss...«. (Mannheim 1984: 194) Das ist weit entfernt von der Bedeutung internationaler Klassensolidarität, den der Begriff Genosse in der marxistischen Arbeiterbewegung angenommen hat — und sehr nah an populistischem Denken. Populisten ist nicht der gleiche, aber nur abstrakt messbare soziale Status, sondern die Zugehörigkeit zu überschaubaren Lebensgemeinschaften wichtig. Hier liegt eine der Wurzeln der Fremdenfeindlichkeit von Populisten, die schon beim Zugezogenen, nicht erst beim Immigranten beginnt. Diese Abwehr des Fremden muss nicht auf dörfliche oder kleinstädtische Lebensgemeinschaften begrenzt
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sein, sondern kann sich auch in Großstädten als Lokalismus des Wohnviertels zeigen. Auch wenn Populisten in bestimmten Phasen ihrer Bewegungen ein hohes Maß an Mobilität an den Tag legen, ja sogar Gefallen finden mögen an der Dynamik ihrer spontanen Revolten, so sind sie in ihrem Lebenszuschnitt insgesamt doch mobilitätsfeindlich und modernisierungsskeptisch. Allerdings muss man hier differenzieren zwischen dem älteren, sozial absteigenden Kleinbürgertum, das sich im Poujadismus organisierte, und einem nachfordistischen, das die Phase der großen Industrie bereits hinter sich hat. Die Anhänger der italienischen Lega Nord rekrutieren sich aus diesen teilweise durchaus prosperierenden Schichten. Hier zeigt sich eine keineswegs paradoxe Verbindung zwischen Innovationsbereitschaft, rascher Anpassungsfähigkeit an veränderte Märkte und Produktionsstrukturen, Kreativität und Flexibilität, aber in Kombination mit traditionellen Familienstrukturen, analog zu den alten, patriarchalisch geführten Handwerksbetrieben.
Populäre Anrufungen und marxistische Diskursanalyse Marxistische Autoren haben sich immer schwer getan mit der Bestimmung des Klassencharakters von Populismus. Einerseits galten die für populistische Tendenzen anfälligen Zwischenschichten als vernachlässigenswert, da sie ohnehin über kurz oder lang im Zuge der Kapitalkonzentration in die Masse der Lohnabhängigen absinken würden. Es kam also lediglich darauf an, diesen Schichten den Weg an die Seite der Arbeiterklasse zu weisen und ihnen den Status als Anhängsel der antikapitalistischen Führungsklasse schmackhaft zu machen. Andererseits waren die Volksschichten mit ihren Unmutsrevolten aber ernst zu nehmen, dies in zunehmendem Maße in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Erstens sank mit der Tertiarisierung der Anteil der Industriearbeiterschaft an der Erwerbsbevölkerung. Als allein Mehrwert produzierende Klasse und historisch treibende Kraft bildete sie gewissermaßen den Adel aller Volksschichten, konnte aber rein numerisch immer weniger ihren Anspruch auf Führung auf-
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rechterhalten. Überdies war die als unabwendbar geltende Entwicklung, nämlich Verlust der Selbstständigkeit und Eingliederung in das große Heer der Lohnabhängigen, nur für die wenigsten selbstständigen Mittelständler attraktiv. Zweitens hatten die Industriearbeiter durch Lohnkämpfe und wohlfahrtsstaatliche Absicherung einen Status erreicht, der häufig über dem der »kleinen Leute« lag. Diese sahen sich folglich als die eigentlichen Verlierer eines sozialen und ökonomischen Prozesses, der ihnen als Verschwörung aller »Großen« unter Einschluss der großindustriellen Arbeiterschaft gegen die »Kleinen« erschien. Drittens schließlich bildete sich ab den siebziger Jahren in Folge von Massenentlassungen in der Großindustrie eine neue, selbstständig wirtschaftende Mittelschicht heraus, Kleinfirmen, Kleinbetriebe, kleine Ladeninhaber, oft nur Ein-Mann- oder Familienbetriebe. Populisten kämpfen nicht nur im Namen des staatsfreien Sektors gegen den Staatssektor, sondern auch gegen die Institutionalisierung des Kampfes zwischen Kapital und Arbeit, also gegen die »Sozialpartnerschaft« zwischen Kapitalvertretern und Gewerkschaften. In dem Maße, wie die Industriearbeiter mehr als nur ihre Ketten zu verlieren hatten, sank das Mobilisierungspotential der westlichen kommunistischen Parteien. Für sie kam es daher entscheidend darauf an, ihre Klassenbasis zu erweitern, ohne aber sozialdemokratisch zu werden, ohne den Klassenbegriff fallen zu lassen und ohne ihren geschichtsphilosophisch legitimierten Führungsanspruch aufzugeben. In einem schwierigen Spagat mussten sie sich als zeitgemäß präsentieren und glaubhaft versichern, sie hätten aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt. Auf theoretischer Ebene wurde der Kardinalfehler im »Klassenreduktionismus« gesucht mit der Konsequenz, dass man zwar eine Volkspartei werden wollte, aber keine nach Art der Sozialdemokratie, sondern eine dem Anspruch nach systemoppositionelle, verstanden als Kombination von Sozialismus und Populismus. In diese Phase des Eurokommunismus, der, wie man heute weiß, eine Totgeburt war, fiel der Versuch einer theoretischen Um- und Neuorientierung von Marxisten auf der Suche nach ihrer Identität zwischen Messianismus und Pragmatismus. Es galt, die sozialistische Endvision zu retten und zu diesem Zweck einen neuen Partner an
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sich zu binden: das Volk. Es sollte nun nicht mehr von Avantgarden belehrt und parteipädagogisch über seine Rückständigkeit aufgeklärt, sondern als Widerstandspotential angerufen werden durch selektiven Rückgriff auf national-populare Traditionen und kollektive Erinnerungen. In diesen historischen Kontext sind die theoretischen Über-legungen von Ernesto Laclau zu stellen, der als Südamerikaner nicht nur mit den dortigen Populismen vertraut war, sondern auch theoretisch einen für den Marxismus neuen Weg beschritt, den der Diskursanalyse. Er stellt fest, dass der Klassenreduktionismus — die Rückführung ideologischer Erscheinungen auf ihren Klassencharakter - bei der Analyse des Populismus nicht weiterführt. Vielmehr geht Laclau davon aus, dass »Klassen auf der ideologischen und politischen Ebene in einem Prozess der Artikulation und nicht einem der Reduktion existieren«. (Laclau 1981: 140) Der Klassencharakter von Politik und Ideologie dürfe nicht im Vorhandensein bestimmter Inhalte gesucht werden, sondern in dem Artikulationsprinzip, das sie vereint. Dies ist zweifellos ein Fortschritt gegenüber der alten marxistischen Widerspiegelungstheorie, andererseits aber weder neu noch originell. Neu war dieser Ansatz lediglich für Vulgärmarxisten, die abbildtheoretisch die ökonomische Basis im ideologischen Überbau gewissermaßen eins zu eins widergespiegelt fanden. Laclau schlägt dagegen eine Brücke zum Konstruktivismus, wenn er das aktive Moment der Kombinatorik ideologischer Elemente oder, in seiner Terminologie, der Artikulationsprinzipien einer »Anrufungspraxis«, betont.
Carl Schmitt als Ahnherr eines >linken< Populismus? Laclau postuliert, dass die Fähigkeit zur kulturell-ideologischen Hegemonie auf der Überschreitung enger Klassengrenzen durch weiter gespannte, eben populäre, Anrufungen besteht. Jede Volkspartei weiß das längst. Laclaus These ist aber nun, dass diese Anrufungen, für sich genommen, noch nicht den Populismus ausmachen, sondern erst eine bestimmte Form ihrer Artikulation. Populismus beginne erst dort, »wo popular-demokratische Elemente als antagonistische Op-
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tion gegen die Ideologie des herrschenden Blocks präsentiert werden«. (Ebd.: 151) Sieht man sich daraufhin die Beispiele Laclaus an, wird die in der abstrakten Formulierung noch verborgene Problematik deutlich: Da Laclau von Inhalten abstrahiert, reduziert er den Populismus auf einen Set von ideologischen Versatzstücken, mit denen Politiker der unterschiedlichsten Couleur nach Belieben jonglieren, Hitler ebenso wie Mao oder Perón. Sie alle seien populistisch zu nennen trotz der unterschiedlichen sozialen Basis ihrer Bewegungen, sofern sie in ihre ideologischen Diskurse populäre Anrufungen integriert haben, »und zwar in der Form eines Antagonismus und nicht der eines bloßen Unterschiedes«. Mag dies auch kryptisch klingen, so ist die Botschaft doch klar: Es gilt, einen Keil zu treiben zwischen Liberalismus und Demokratie. Gegen den Liberalismus der »Herrschenden« sollen die »popular-demokratischen« Elemente in Stellung gebracht werden. Als Theoretiker eines »linken« Populismus gerät Laclau damit in unübersehbare Nähe zu Carl Schmitt, dem »Kronjuristen« des Dritten Reiches. Dieser trennte den Liberalismus mit seinen Errungenschaften des Parlamentarismus und der Rechtsstaatlichkeit von der Demokratie, verstanden als ungefilterte, durch bloße Akklamation sich äußernde vox populi. Carl Schmitt hat immer, gerade auch in jüngster Zeit, vermeintlich linke Anhänger gehabt, die ihn als Vorkämpfer gegen das liberale, von der Hegemonialmacht USA ausgehende »Einheitsdenken« wieder entdecken. Nicht zuletzt erscheint ihnen Schmitt auch als Großraumtheoretiker attraktiv, postmodern aktualisiert als Theoretiker einer globalen Dezentrierung, Diversifizierung und Pluralisierung. Wenn Laclau also in seiner kryptischen Diktion als Populismus nur gelten lässt, was sich antagonistisch gegen den liberalen Diskurs stellt, so heißt dies, einen Bruch - und zwar einen völlig undialektischen, nichts mehr bewahrenden - mit dem Liberalismus als Ideologie der »Herrschenden« anzustreben. Strategisch aber ist nicht erkennbar, wie die dem Populismus inhärenten liberalkonservativen Elemente in eine antagonistische Frontstellung gegen just den Liberalismus gebracht werden sollen, dessen Kind er doch ist. Laclaus diskursanalytischer Ansatz ist hochgradig formalistisch, weil er den Populismus nicht als eigenständiges, inhaltlich eingrenz-
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bares Syndrom begreift, sondern als ein diffuses, dehnbares ideologisches »Rohmaterial« (Mouzelis 1978: 47), auf das zwecks Erweitung der Klassenbasis zurückgegriffen werden kann, sei es unter faschistischem oder unter sozialistisch-kommunistischem Vorzeichen. Begreift man einen Antagonismus überdies, wie in der marxistischen Terminologie üblich, als unaufhebbaren Gegensatz, so reduziert Laclau diesen auf die rein ideologische Unvereinbarkeit von Faschismus/Sozialismus und Liberalismus. Dass der Faschismus dagegen keineswegs in einem antagonistischen Verhältnis zum Kapitalismus stand, vernachlässigt Laclau, weil sein diskursanalytischer Ansatz die diskursiven Überbauphänomene gegenüber der sozialen und ökonomischen Basis verselbstständigt.
Gramscis Konzept des nazional-popolare — Perspektiven für einen linken Populismus? Die Bemühungen Laclaus sind zu kontextualisieren und in ihrer Zeitgebundenheit zu sehen. In Anlehnung an das Konzept des nationalpopolare des italienischen Marxisten Antonio Gramsci ging es Laclau darum, der marxistischen Linken eine strategische Empfehlung zu geben, nämlich: Hegemoniefähig wird sie nur, wenn sie nicht nur die numerisch abnehmende Arbeiterklasse anspricht, sondern sich auf eine Dialektik von Volk und Klasse einlässt. Undeutlich bleibt aber, inwiefern dies über die bekannten Volksfrontstrategien hinausgeht. Was schließlich die Dialektik angeht, so wird sie ihrer philosophischen Bedeutung entkleidet und trivialisiert auf eine bloße Wechselwirkung. Laclaus Credo lautet: »Es gibt keinen Sozialismus ohne Populismus, und die höchsten Formen des Populismus können nur sozialistisch sein.« (Laclau 1981: 173) Wenn es aber >höhere< und >niedere< Formen des Populismus gibt, können nur die Sachwalter eines teleologischen Geschichtsverständnisses über deren Rangordnung befinden, was schon rein logisch zu Problemen führt. Hat nämlich, wie Laclau konstatiert, der Populismus einen »abstrakten Charakter«, der erst seine Eingliederung in die Ideologien verschiedenster Klassen ermögliche, dann kann er als eine solchermaßen abstrakte, inhalts-
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leere Komponente weder >höher< noch >niedriger< sein, sondern die Meßlatte liegt dann bei der Leitideologie, die sich populistische Elemente für ihre Zwecke einverleibt. Um Sozialismus und Populismus kompatibel zu machen, muss Laclau die populistischen Diskurselemente inhaltlich neutralisieren, zu einem frei flottierenden »Volkstouch« verflüchtigen und lediglich auf eine Strategie der Diskursführung reduzieren. Die Führer der Linken würden, so gesehen, nicht mehr im mausgrauen Einheitsanzug der stalinistischen Kader auftreten, sondern in Ponchos, Schottenröcken, Baskenmützen oder Lederhosen. Mit dieser Abstraktion von Inhalten, aber auch von Organisationsformen, umgeht Laclau die eigentliche Spezifik des Populismus in seiner nordamerikanischen und europäischen Ausprägung und verfehlt damit den Anspruch an eine Theorie. Diese Spezifik liegt in der Ambivalenz von genuin (früh-)liberalen, anarcho-konservativen Elementen einerseits und bestimmten sozialpsychologischen Dispositionen andererseits. Die von Populisten erhobene Forderung nach Dezentralisierung, Selbstbestimmung und größerer politischer Partizipation steht zwar in diametralem Gegensatz zu faschistischen und anderen autoritären Doktrinen, hingegen lassen sich auf sozialpsychologischer Ebene zahlreiche Gemeinsamkeiten feststellen. Dazu gehören Fremdenfeindlichkeit, latenter und manifester Antisemitismus sowie Intellektuellen- und Kulturfeindlichkeit. Diese Ebenen müssen aber deutlich getrennt werden, wenn man nicht, wie Laclau, zu dem Kurzschluss gelangen will, der Rassismus sei ein »populardemokratisches« Element allein schon deswegen, weil er in bestimmten Volksschichten verbreitet ist. Im Kontext eines innermarxistischen Diskurses mögen Laclaus Überlegungen im Anschluss an Gramsci theoretisch befruchtend gewirkt haben als Überwindung des »Klassenreduktionismus«. Aber die Wende zur Diskursanalyse bringt nicht nur eine Formalisierung, sondern auch eine Überdehnung des Populismusbegriffs mit sich. Wenn dessen antagonistische Setzung aus der Sicht Laclaus sowohl »von oben«, den Herrschenden, als auch »von unten«, den Beherrschten, ausgehen kann, ist zu fragen, im Bezug worauf denn der Diskurs der Herrschenden überhaupt antagonistisch sein kann. Laclaus Antwort lautet, dass sich innerhalb des herrschenden Blocks eine
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Fraktion mit Hilfe populistischer Anrufungen antagonistisch gegen eine andere stelle. Nun kann es aber aus marxistischer Sicht keinen Antagonismus, also einen unaufhebbaren Gegensatz, zwischen zwei Fraktionen der Herrschenden geben, sondern nur zwischen Besitzern und Nicht-Besitzern von Produktionsmitteln. Laclaus gramscianisch angereicherter Marxismus könnte pikanterweise selbst Gegenstand einer Diskursanalyse sein, in der zu zeigen wäre, wie hier philosophisch festgelegte Begriffe (z.B. Antagonismus oder Dialektik) nur noch als Jargon eingesetzt werden, als vage Anrufung der politischen Familienangehörigen.
Populismus - nur eine Frage von Rhetorik und Stil? Laclaus Überdehnung des Begriffs ist indessen kein Einzelfall und liegt auch anderen Populismusanalysen zugrunde. So schreibt etwa der französische Politik- und Populismusforscher Pierre-Andre Taguieff: »Das vielleicht spezifischste formale Charakteristikum der Populismen ist ihre hohe Vereinbarkeit mit jedweder politischen Ideologie (rechts oder links, reaktionär oder progressiv, reformistisch oder revolutionär), mit jedwedem ökonomischen Programm (vom Staatsdirigismus bis zum Neoliberalismus), mit unterschiedlichen sozialen Basen und unterschiedlichen Regimetypen. Was den Populismen gemeinsam bleibt, ist eine nach Lob und Tadel strukturiere Rhetorik«. (Taguieff 1997: 9) Damit wird der Populismus endgültig seiner Eigenständigkeit als politisches, und zwar liberalkonservatives, Syndrom beraubt und vollends unkenntlich gemacht. Wir hätten es bei einer solchen von Inhalten abstrahierenden Überdehnung bei gleichzeitiger Reduktion des Populismus auf bestimmte Formen von Rhetorik und Stil mit einem Chamäleon zu tun, das hier und da und auch dort sein Unwesen treibt, von schier unbegrenzter Charakter- und Gesinnungslosigkeit ist, anpassungsfähig an alle nur denkbaren Umstände und Programme, mal in dieser sozialen Basis verankert, mal in jener, ein irrlichterndes Phantom, dessen Besonderheit lediglich in bestimmten rhetorischen Topoi läge (das gute Volk, die bösen Eliten, der »gemeine Mann« etc.). Als große »populistische Führer« führt Taguieff
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folglich mit weit ausholender Geste an: Mussolini, Hitler, de Gaulle, Perön, McCarthy, Ghaddafi, Castro, Le Pen, kurzum alle, die sich irgendwie auf das Volk berufen haben. Ein solches Vorgehen verwischt nicht nur den Unterschied zwischen Faschismus und Populismus, sondern vernachlässigt auch den Bewegungs- und Protestcharakter von Populismus, der, mit Ausnahme von südamerikanischen Ländern, nirgendwo als solcher, das heißt als Populismus, an die Macht gekommen ist. Hider oder Mussolini als Populisten einzustufen heißt nicht nur, ihre Regime bis zur Schmerzgrenze zu verharmlosen, sondern heißt auch umgekehrt, Populisten wie Jesse Ventura, Umberto Bossi oder Mogens Glistrup über jedes vertretbare Maß hinaus zu dämonisieren. Gegen diese These von der Vereinbarkeit des Populismus mit allen möglichen Regimeformen und politischen Richtungen ist mit Entschiedenheit daran zu erinnern, dass der Populismus nie mit Staatsdirigismus vereinbar war und ist, ja man muss im Staatsdirigismus in all seinen Erscheinungsformen, angefangen beim Absolutismus bis hin zum modernen Wohlfahrtsstaat, geradezu den Todfeind eines jeden Populismus sehen.
Populismus und das »sozialdemokratische Jahrhundert« Das Jahr 1989 markiert in doppelter Hinsicht einen epochalen Einschnitt. Es steht für das Ende der kommunistischen Entwicklungsdiktaturen und zugleich für das Ende des »sozialdemokratischen Jahrhunderts«. Man wird dem Populismus in seiner historischen und aktuellen Ausprägung nicht gerecht, wenn man ihn auf seine stilistischen und sozialpsychologischen Dimensionen reduziert. Populismus war immer eine Form des konservativen Widerstandes gegen eine von Kommunisten, Sozialdemokraten und Kapitalvertretern gleichermaßen betriebene Politik der Modernisierung, und zwar unabhängig von den tiefen Gräben, die diese in ihrem Verhältnis zur kapitalistischen Marktwirtschaft voneinander trennt. Populistischer Widerstand richtet sich gegen den Produktivismus, die einseitige Ausrichtung auf die Wachstumsideologie, den Glauben an technokratische gesellschaftliche Steuerungsverfahren. Er richtet sich gegen
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Aufklärungseliten und Expertokratie, gegen die Tendenz zu hoch konzentrierten Aggregaten, sei es in der Verwaltung, im Schulwesen oder in der Stadtplanung. Er richtet sich gegen die einseitige Ausrichtung am Effizienzdenken. Nicht zuletzt richtet er sich gegen Kartellisierungstendenzen in der Politik, gegen Elitenabsprachen und korporatistische Konsenspolitik. Die Feststellung, die korporatistische Absprachenpolitik sei die höchste Stufe der Sozialdemokratie, benennt implizit auch den eigentlichen Gegner des Populismus. Es ist die Sozialdemokratie im weitesten Sinne einschließlich der US-amerikanischen Politik des New Deal, und der von ihr getragene moderne Wohlfahrtsstaat, der populistischen Protest hervorruft. Populismus steht daher in einer Traditionslinie, die sich eher auf Tocqueville als auf konservative Theoretiker des Machtstaats und des hierarchischen Ordnungsdenkens berufen kann. Im 20. Jahrhundert ist vor allem der »keynesianische Leviathan« (Umberto Bossi) das Ungeheuer, auf den aus populistischer Sicht eine falsch verstandene Modernisierungsstrategie hinausgelaufen ist. Stehen Sozialdemokraten, in der Unterscheidung von Jürgen Habermas, auf der Seite des »Systems«, so stehen Populisten auf der Seite der »Lebenswelt«. Populistischer Widerstand changiert immer zwischen rechts und links und wird auch von linken, allerdings aus dem anarchistischen Genossenschaftswesen hervorgegangenen, in der Tradition Proudhons stehenden Richtungen artikuliert.
Zwischenergebnis Die hier vorgetragenen Überlegungen sollen in zehn Thesen zusammengefasst werden: 1. Der Ausdehnung des Begriffs Populismus auf alle erdenklichen Regime oder politischen Strömungen ist entgegenzutreten. Es führt analytisch in die Irre, Hitler, Mussolini, Mao, Ronald Reagan, Margaret Thatcher, Fidel Castro, oder De Gaulle unterschiedslos als Populisten zu bezeichnen, nur weil sie sich in dieser oder jener Weise auf das Volk berufen haben. 2. Populisten, zumindest im US-amerikanischen und europäischen Kontext, haben sich nie als Revolutionäre begriffen. Ihr Protest richtet sich gegen Monopolisierungstendenzen in allen Lebensbereichen, in der Wirtschaft
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ebenso wie im Staat. Ihre Grundphilosophie ist libertär und kann sowohl anarcho-liberale oder als anarcho-konservative Züge annehmen. 3. Ihre Opposition richtet sich gegen mangelnde Durchlässigkeit des politischen Willens und die Abschottung der politischen »Kaste«, aber auch gegen staatliche Übergriffe auf gewachsene Lebenswelten und individuelle Lebensentwürfe. 4. Populismus ist zwar eine schwache, wenig ausgearbeitete Doktrin. Dennoch ist er nicht inhaltsleer, sondern am ehesten als mittelständisches, genossenschaftliches Denken zu identifizieren, angepasst an die heutige Semantik, als Netzwerkverbund von Kleinbetrieben. Auch für Populisten gilt, was der konservative Staatsrechtler Ernst Forsthoff in den fünfziger Jahren forderte. Zwar könnten, so Forsthoff, auch Konservative zeitweise den Sozialstaat bejahen, aber nur mit dem Willen, ihn zu überwinden. Es gelte, das Dasein der Menschen »staatsunabgängiger« zu machen (Forsthoff, 1954: 24). 5. Damit ist der Populismus auch für eine linke Politik anschlussfähig, aber für eine aus der anarchistischen oder gildensozialistischen Tradition kommende, die vor allem in angelsächsischen Ländern wieder an Aktualität gewonnen hat. 6. Die marxistische Linke hat dagegen immer nur ein instrumentelles Verhältnis zum Populismus ausgebildet und gilt für Populisten ebenso als Gegner wie auch die Sozialdemokratie. In beiden Varianten sahen und sehen Populisten Technokraten der Macht, traditionsfeindliche Modernisierer, Rationalisierer, paternalistische Anwälte eines umverteilenden Kollektivismus, die den von ihnen bekämpften, staatszentralistischen Weg in die Moderne eingeschlagen haben. 7. Der europäische Populismus als rechts-libertäres Phänomen ist von anderen Formen rechter Politik (Autoritarismus, Faschismus, Bonapartismus) abzugrenzen. Die idealtypische Gegenüberstellung von links-libertär und rechts-autoritär wird dem Phänomen des Populismus weder historisch noch aktuell gerecht. 8. Die soziale Basis des Populismus liegt in der Mitte der Gesellschaft, in den selbstständigen Mittelschichten. Je stärker diese Schichten von Statusverlust und sozialen Auflösungserscheinungen bedroht sind, desto größer ist die Gefahr einer Fokusverschiebung und der Hinwendung dieser Klientel zu autoritären, meist charismatischen Führern. 9. Populisten ist es in der westlichen Hemisphäre nirgendwo gelungen, an die Macht zu gelangen. Die wenigen Beispiele vermeint-
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lich populistischer Regime (Huey P. Long in Louisiana und George C. Wallace in Alabama) zeigen, dass hier der entscheidende Schritt zu einem anderen politischen Typus vollzogen worden ist, der nicht mehr populistisch genannt werden kann, nämlich zu einem führerzentrierten Massenklientelismus oder Semifaschismus. 10. Die Frage, ob populistische Bewegungen notwendig und unausweichlich massenklientelistische Organisationsstrukturen ausbilden, bleibt spekulativ und ist für die hier untersuchten Fälle, die alle in der Bewegungsphase stehen geblieben sind, nicht zu beantworten. Im 20. Jahrhundert ist es den konservativen, vor allem den christdemokratischen Volksparteien mit ihrer Mittelstandspolitik und dem Subsidiaritätsprinzips gelungen, populistische Potentiale zu absorbieren und als Unterströmung in sich aufzunehmen.
3. Populisten und der Staat
Der Populismus unterscheidet sich von so genannten Hochideologien wie dem Liberalismus oder dem Sozialismus durch das Fehlen einer Doktrin, eines anerkannten Korpus von philosophischen oder gesellschaftstheoretischen Klassikern oder Schriften.6 Dennoch haben Populisten ein sehr präzises Menschenbild und eine bestimmte Vorstellung davon, wie eine gute Gesellschaft auszusehen habe. Populismus ist zunächst und vor allem eine Philosophie der Freiheit. Aber anders als beim Liberalismus liegt beim Populismus der Primat nicht auf der Freiheit des Individuums, sondern auf der als Person. Personale Freiheit heißt ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Gemeinschaftszugehörigkeit und personaler Entwicklungsmöglichkeit. Wird dieses Gleichgewicht gestört, setzt ein Prozess der Entfremdung ein. Entfremdung heißt für Populisten der Verlust von Ganzheitlichkeit und Autonomie als Person, hervorgerufen durch gesellschaftliche Modernisierung. Höhere Arbeitsteilung, die Konzentration der Produktion in Großfabriken, der damit verbundene Status der Lohnabhängigkeit, die Entwicklung des modernen Staates zu einer bürokratischen Maschine, die Rolle der Intellektuellen als Aufklärungselite - all dies sind für Populisten Momente von Bevormundung und Fremdbestimmung. Fremdbestimmung geht aus von allen
6 Einer der wenigen Versuche zum Populismus als Ideologie stammt von MacRae 1970: 153-165. Der Text, der neuere Entwicklungen noch nicht berücksichtigen konnte, leidet darunter, Populismus zu stark vom Agrarpopulismus des 19. Jahrhunderts her zu denken und ihn als »spezielle Form von Primitivismus« zu deuten. Vgl. neuerdings auch Rensmann 2006: 59-80. Der Text enthält viele richtige Beobachtungen, insbesondere, was den Unterschied zwischen Populismus und Rechtsextremismus betrifft, verharrt aber bei der ideologischen Bestimmung des Populismus zu stark auf der rein deskriptiven Dichotomie von Volk und Elite.
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hochkonzentrierten und zentralisierten Großaggregaten, die bewirken, dass der Mensch in Abhängigkeit gerät, sei es als Lohnarbeiter, Steuerzahler oder Sozialhilfeempfänger. Populisten bis hin zu Haider und Bossi stehen primär auf der Seite der klein- und mittelständischen, selbstständigen Kleinunternehmer (vgl. Haider 1997: 129). Aus dieser Position der gesellschaftlichen Mitte heraus entstand der populistische Dreifrontenkrieg gegen die »konzertierte Aktion« von Staat, Großkapital und organisierter Arbeiterschaft. Schon 1911 konstatierte einer der Klassiker der Soziologie, Robert Michels: »Der Notwendigkeit, sich ein Maximum von Verteidigern zu verschaffen, kommt der Staat, zum mindesten der demokratische, dann am besten entgegen, wenn er sich eine zahlreiche, direkt von ihm abhängige Beamtenkaste heranbildet. Diesem Bestreben wird durch die Tendenzen der heutigen Volkswirtschaft mächtiger Vorschub geleistet.« Und weiter bemerkt Michels, die »[...] Unsicherheit, in der sich seit der Bildung des großen, expropriatorischen Kapitalismus und des organisierten Widerstandes der Arbeiterklasse - Bewegungen, die beide, wenn schon wider Willen, gegen die Mittelklassen konvergieren - die Angehörigen der mittleren Gesellschaftsschichten (Kleinindustrielle, Handwerksmeister, Kleinkaufleute, Bauern usw.) befinden«. (Michels [1911] 1970: 162) Diese Unsicherheit ist ein besonders günstiger Nährboden für sozialpsychologische Ablenkungsstrategien hin zu Ausländern, Immigranten, Kulturkämpfen und anderen Bedrohungsszenarien. Der Freiheitsbegriff von Populisten ist negativ, verstanden als Freiheit vom Staat, und zugleich positiv, verstanden als Freiheit zu vorstaatlichen, überindividuellen Zusammenschlüssen. Wo immer Populisten sich grundsätzlich äußern, stößt man auf die Betonung des »Selbst«, auf self-reliance, self-suffiäency, self-determination, self-government, auf Selbstorganisation, Selbsthilfe und Selbstbestimmung. Dies wird aber nicht im individualistischen Sinne als Entbindung aus traditionellen Formen des Gemeinschaftslebens verstanden, sondern als Rückbindung in die kleinteilige Gruppensolidarität von Menschen in gleichen Lebensgemeinschaften und der gleichen sozio-ökonomischen Lage als Kleinproduzenten. Populismus als ein Phänomen der Moderne hat seine Wurzeln im Rückgang des vom Einzelnen »beherrschten Lebensraums« (Hof, Werkstatt, Kleinbetrieb) und dem
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Vordringen des vom Staat abhängigen »effektiven Lebensraums« (Forsthoff 1954: 6). Konservative und in diesem Sinne auch Populisten erfahren diesen Wandel als Verlust, den es zu überwinden gilt durch Rückkehr zum menschlichen Maß (Pim Fortuyn), dem »Maß des Menschen« (Ernst Forsthoff), der Achtung des »Humanen« (Alexander Gauland). Populisten stehen in der Mitte zwischen schrankenlosem Individualismus und einschränkendem Kollektivismus, zwischen dem Menschen als isoliertem Atom und seiner »Vermassung« im »Ameisenstaat« (Poujade). Diese Grundposition verbindet sie mit drei weltanschaulichen Richtungen, die in sich wiederum vielfältig sind: dem Anarchismus, dem Konservatismus und dem Liberalismus. Populismus speist sich aus allen drei Quellen und verbindet sie in unterschiedlicher Gewichtung zum populistischen Syndrom.
Anarchistische und liberale Elemente im Populismus Der Anarchismus als Philosophie der Herrschaftslosigkeit hat viele Facetten, steht aber unbestreitbar in großer Nähe zum Liberalismus, ja im Grunde ist er nur eine radikalisierte, logisch zu Ende gedachte Form von Liberalismus. Zugleich bestehen Gemeinsamkeiten zwischen Anarchismus und einer bestimmten Form von Konservatismus. Das Bindeglied ist jeweils die negative Einstellung zum modernen Staat. Für Anarchisten ist der Staat vor allem durch sein Gewaltmonopol gekennzeichnet. Ihr oberstes Ziel ist die Abschaffung des Staates als Herrschaftsinstrument und die Rückverlagerung des politischen Willens in die Gesellschaft durch Formen direkter Demokratie und selbst organisierter Zusammenschlüsse, mögen diese Assoziationen oder Genossenschaften, Gilden, Stadtgemeinden oder Nachbarschaften heißen. Anarchisten favorisieren dezentrale, plurale Zusammenschlüsse nach Art von Konföderationen, die wiederum auf autonomen Gemeinden beruhen. Einer der Theoretiker des Anarchismus, Pierre Joseph Proudhon, vertrat den Gedanken des Föderalismus, der lokalen Autonomie auf der Basis kleiner Familienwerkstätten und war unter anderem der Initiator der ersten Volksbank. Der deutsche
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Anarchist Gustav Landauer formulierte im Jahre 1911: »Gesellschaft ist eine Gesellschaft von Gesellschaften von Gesellschaften; ein Bund von Bünden von Bünden; ein Gemeinwesen von Gemeinschaften von Gemeinden; eine Republik von Republiken. Da nur ist Freiheit und Ordnung, da nur ist Geist; ein Geist, welcher Selbständigkeit und Gemeinschaft, Verbindung und Unabhängigkeit ist«. (Landauer [1911] 1967: 166) In Abgrenzung zum linken Anarchismus, der vor allem Arbeiter im Blick hatte und von europäischen Immigranten ausging, formierte sich in den USA eine individualanarchistische Richtung, vertreten etwa von Lysander Spooner (1808-1887) und Benjamin Tucker (1854—1939), die den modernen Staat im Namen des freien Individuums ablehnten und vor allem das staatliche Steuermonopol in Frage stellten. Tucker war einer dieser frühen Steuerrebellen und vertrat, gegen Monopole, Bürokratie und Kollektivismus gerichtet, die Forderung, man solle dem natürlichen Gesetz des Wettbewerbs seinen Lauf lassen. Diese individualanarchistische Richtung gerät somit in die Nähe des laissez-faire-Liberalismus und kann sich als Ahnherrn auf den anarchistischen Philosophen William Godwin (1756-1836) berufen. Godwin, wie nach ihm Proudhon, vertrat die Idee, dass Freiheit am besten gewährleistet sei, wenn der Gesellschaftsvertrag permanent durch Verträge zwischen den Gesellschaftsmitgliedern ausgehandelt werde. Dialogische Absprachen zwischen Individuen oder Gruppen bewirken gesellschaftliche Selbstregulierung, ohne dass der Staat normsetzend — aus anarchistischer Sicht bevormundend — dazwischentritt. War einer der Väter des modernen Vertragsdenkens, Thomas Hobbes, davon ausgegangen, dass das ursprünglich souveräne Volk in einem Akt der Unterwerfung, im pactum subiectionis, seine Souveränität an den Staat abgibt, der sich daraufhin als Leviathan, als Machtund Gewaltstaat, über das Volk erhebt, so geht Godwin den umgekehrten Weg. Gesellschaft soll auf gegenseitigen, stets erneuerbaren Verträgen zwischen freien Individuen beruhen. Im Unterschied zu Rousseau, der neben dem empirisch ermittelbaren Mehrheitswillens einen immer schon vorhandenen Gemeinwillen postulierte, vertritt Godwin einen radikal individualistischen Ansatz. Ein Gemeinwille a
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priori ist nicht vorhanden; er konstituiert sich vielmehr immer erneut aus der Summe unterschiedlicher Einzelwillen. In dieser Gesellschaftstheorie steht das durch eine höhere Macht erzwungene öffentliche Recht dem Zivilrecht zwischen freien Vertragspartnern gegenüber. Wird nämlich der Staat als Haupthindernis für die natürliche Harmonie der individuellen Interessen gesehen, so muss seine Tätigkeit sowohl als Rechts- wie auch als Sozialstaat auf ein Minimum reduziert werden. Das ist die liberale Variante des Minimalstaates oder des »Nachtwächterstaates«. Spitzt man diese Position zu und denkt sie logisch weiter, so gelangt man zu einem laisse faire-Anarchismus, nämlich zum uneingeschränkten Vertrauen in die harmonische Entwicklung der Marktmechanismen, wenn und sofern der Staat nicht in sie eingreift. Wir werden dieser Staats- und Rechtstheorie an anderer Stelle bei Gianfranco Miglio, dem libertären Chefideologen der italienischen Lega Nord, wieder begegnen.
Populismus und Konservatismus Neben dem anarchistischen und dem liberalen Strang finden sich im Populismus zahlreiche konservative Elemente. 7 Konservatismus wird nicht zu Unrecht mit Werten wie Autorität, Ordnung und Hierarchie in Verbindung gebracht und scheint zunächst wenig mit populistischen Bestrebungen gemeinsam zu haben. Indessen ist der Konservatismus, wie auch der Populismus, eine wenig elaborierte, ja ausgesprochen theoriefeindliche Weltsicht, war er doch explizit angetreten als Gegenströmung zur Aufklärung, zum Rationalismus, zur »großen« Theorie mit ihrem Anspruch auf rationale, wissenschaftliche Welterklärung und Gesellschaftsveränderung. Die Idee, dass der Mensch durch Aufklärung und den Gebrauch seines Verstandes perfektibel sei, ist Konservativen nicht nur fremd, sondern gilt ihnen geradezu als vermessen.
7 An anderer Stelle habe ich in Anlehnung an Karl Mannheim von Traditionalismus statt von Konservatismus gesprochen und verstehe auch hier Konservatismus in einem vorreflexiven Sinne, der sich überdies nicht konsistent, sondern in Spurenelementen im Populismus finden lässt.
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Gegenüber den Errungenschaften des modernen Staates waren Konservative immer skeptisch und machten eine Verlustrechnung auf. Auf der Strecke geblieben seien in diesem Prozess der Herausbildung der modernen Gesellschaft personale Bindungen und Nahbeziehungen, die Vielfalt der Lebensformen, der staatsfreie Pluralismus der vormodernen Zeit, die Selbstorganisation der sozialen Gruppen in Zünften, Bruderschaften, Gilden, die gewachsenen, überschaubaren Lebenswelten mit ihren Sitten, Gebräuchen und Gemeinschaft stiftenden Ritualen. Dagegen habe die Moderne Gleichförmigkeit, Anonymität, Vereinzelung und zugleich Vermassung gebracht, zunehmende Abstraktion und Wissenschaftsgläubigkeit zulasten von konkreter Erfahrung, nicht zuletzt aber den utopischen Glauben an die Mach- und Gestaltbarkeit der Gesellschaft. Der liberalkonservative Alexis de Tocqueville bemerkte 1835: »Bei den meisten Völkern unserer Tage ist die Erziehung wie die Wohltätigkeit Aufgabe des Staates geworden. Der Staat empfangt, ja reißt oft das Kind aus den Armen seiner Mutter, um es seinen Diensten anzuvertrauen; der Staat übernimmt es, jeder neuen Generation Gefühle einzuflößen und Vorstellungen zu vermitteln. Die Gleichförmigkeit herrscht in den Studien wie überall sonst; die Mannigfaltigkeit verschwindet wie die Freiheit auch aus ihnen immer mehr«. (Tocqueville [1835ff.] 2004: 326) Projekt, Planung, das positivistische Messen und Rechnen, die Deduktion des gesellschaftlich Notwendigen aus einer abstrakten Theorie, gehörten schon im 19. Jahrhundert zum Begriffsarsenal der Modernisierer und sind im konservativen Denken negativ besetzt. Konservative setzen auf organisches Wachsen und geschichtliches Werden, auf die Abwehr aller utopischen Zukunftsentwürfe. Nicht unbedingt rückwärtsgewandt, treten sie für die Verlangsamung gesellschaftlicher Veränderungen ein und verstehen sich als Korrektiv gegenüber der Dynamik der modernen Industriegesellschaft. Ähnlich wie schon Edmund Burke schreibt heute Alexander Gauland: »Das Konservativsein ist [...] nicht eine fest umrissene, genau identifizierte und längst abgeschlossene sozial- und geistesgeschichtliche Erscheinung, sondern eine Lebensnotwendigkeit für eine gleichgewichtige, das Humane achtende gesellschaftliche Entwicklung«. (Gauland 2002: 130)
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Pluralismus als Lebensform und Staatskonzept Der Populismus gehört als vorreflexive Volksvariante zu diesem Konservativsein als unterhinterfragter Lebensform. Seit den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts befindet er sich dabei kulturell im Aufwind. In den Kultur- und Geschichtswissenschaften zeugen seither zahlreiche Ansätze von einer Abkehr von der »großen« Theorie und einer Hinwendung zum Volk, zum kleinteiligen Blick von unten, etwa in der Geschichte des Alltags, der oral history, der Geschichte von unten oder der Mikrogeschichte. Im kulturellen Sinne waren Populisten immer schon Postmoderne und teilen mit diesen die Aversion gegen die Imperative, unter denen die Moderne angetreten ist: Den Internationalismus, sei es der Arbeiterbewegung oder des sich permanent globalisierenden Kapitals, den Funktionalismus in Ästhetik, Architektur und Städtebau und den Universalismus auf philosophischer Ebene. Dahinter steht nicht zuletzt die Abwehr von Agglomerationen, die allein durch ihre Größe über das »menschliche Maß« hinausgehen, seien es riesige Industriekomplexe, Großorganisationen wie Gewerkschaften oder Industrieverbände, Megastädte, Großbürokratien, Großparteien und nicht zuletzt der große, im 20. Jahrhundert weiter wachsende Staatsapparat. Megalomanie ist aus populistischer Sicht ein Grundübel der modernen Welt. Sie führt zu Anonymisierung, Vermassung, Entfremdung, zur Unterdrückung von Differenz und Vielfalt. Die Formel big is beautiful gehöre der Vergangenheit an, schreibt Pim Fortuyn und prangert den »megalomanen Wahn« an (Fortuyn 1992: 74f£). Die drei Gegner von Populisten lauten daher von Beginn an: Big Government, Big Business und Big Labor. Unabhängig davon, ob diese Kräfte auf der Seite von Kapital oder Arbeit stehen, rechts oder links sind, stoßen sich Populisten an Konzentration und Vereinheitlichung, sei es in den Organisationen, in der Art, untereinander Politik auszuhandeln oder in der Tendenz zur ästhetischen Gleichförmigkeit in der modernen Architektur, die alle regionalen Besonderheiten, die Pluralität von Stilausprägungen, alle emotionalen Bedürfnisse wie Schmuck, Verzierung, Dekor über Bord geworfen hat zugunsten eines kalten, >herzlosen< Funktionalismus. Postmoderne Denker postulieren überdies, was Populisten immer
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wussten und für sich reklamierten, die Vielfalt von Wissensformen. Wissenschaft nach Art der Naturwissenschaften sei nur eine von vielen Formen des Wissenserwerbs. Daneben, und für Populisten darüber, steht das Erfahrungswissen des common sense. Unter den zahlreichen Ausprägungen des Konservatismus im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts gab es immer auch eine staatsfeindliche Richtung. »Der Konservatismus«, schreibt Alfred von Martin, »ist keineswegs nur Autoritätsgedanke, er ist zugleich, und ebenso bestimmt, Freiheitsgedanke: das ist mit der Organismusidee gegeben. Er will Freiheit der Entwicklung für alle organischen - also ständischen und korporativen - Bildungen und Freiheit des einzelnen im Rahmen dieser Stände und Korporationen. Er ist gegen jede rationalistische Gleichmacherei, von wo sie auch ausgehen möge, gegen jede Atomisierung, Nivellierung, Uniformierung, Zentralisierung, er will die Pflege und Erhaltung aller Eigentümlichkeit, auf Grund deren allein eine organisch gegliederte Gesellschaft möglich ist, und bekämpft daher wie den Liberalismus und die Demokratie so auch den Absolutismus und die Bürokratie, wie die Revolution von unten so auch die von oben. In dem gemeinsamen Gegensatz gegen Absolutismus und Bürokratismus finden sich dann konservative Tendenzen nicht selten mit liberalen«, (von Martin 1972: 140; vgl. auch Rüstow 1957)
Der Kampf gegen den omnipotenten Staat Der Kampf von Konservativen gilt nicht nur dem Rationalismus, sondern auch dem omnipotenten Staat, wie er sich seit dem 17. Jahrhundert im Absolutismus herausgebildet hatte. Insbesondere in der Staatstheorie eines Karl Ludwig von Haller (1768—1854), aber auch in der des konservativen Föderalisten Constantin Frantz (1817—1891) mit seiner Lehre vom »bündischen Staat« finden sich Ansatzpunkte, die sich mit anarchistischen und liberalen Tendenzen verbinden lassen. Stand Haller im 19. Jahrhundert noch in einem Zweifrontenkrieg gegen den älteren, absolutistischen Machtstaat einerseits und die revolutionären, rationalistischen Verfassungskonstruktionen, den aufklärerischen Gesellschaftsentwurf, anderseits, so ist diese Front im
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20. Jahrhundert zu einer einzigen zusammengeschmolzen: zum »omnipotenten Leviathan« des modernen Wohlfahrtsstaates mit seinen bürokratischen Großapparaten, dem Hauptgegner auch des Populismus. Vor dem Hintergrund dieser Konstellation wird nachvollziehbar, dass ein Konservativer wie Haller zu »extrem liberalen Forderungen wie Militär- und Steuerfreiheit der Untertanen und Enthaltung des Staates von allen Eingriffen in Privatrechte« (ebd.: 151) gelangen konnte. Die Verbindungslinie zwischen den drei ideologischen Bausteinen und dem Populismus verläuft über ihre gemeinsame Ablehnung von staatlicher Zentralisation und ihr Plädoyer für gesellschaftlichen Pluralismus, für Vielfalt, Differenz und Kontextualität des Wissens. Wird der liberale Fortschrittsglaube auch abgelehnt, so lassen sich zwischen Liberalismus, Anarchismus und Konservatismus doch zahlreiche Synthesen bilden, und eine davon ist der Populismus. Alle drei in den Populismus einfließenden Denkrichtungen gehen aus von dem Gedanken einer prästabilierten Harmonie, einer Ordnung, die sich von selbst einstellt, wenn man den Menschen die Freiheit lässt, ihre individuellen Interessen zu verfolgen. Diese Ordnung ergibt sich für Konservative entweder aus einer göttlichen Seinsordnung oder einer naturalistisch verstandenen Harmonie von Gruppen, den Ständen und Korporationen. Für Anarchisten ergibt sie sich aus einem ähnlichen Gedanken, nämlich der freien Assoziation nach Art mittelalterlicher Gilden oder Stadtgemeinden (bei Kropotkin z.B. Sippe, Dorf, Gilde und städtische Kommune) mit dem ihnen inhärenten Hang zur Stagnation, zum Abschluss nach außen, zum Traditionalismus.8 Für Liberale dagegen ergibt sich die prästabilierte Harmonie aus dem Glauben an das freie Marktgeschehen, das sich dann am besten zum Nutzen aller entfaltet, wenn der Staat möglichst wenig und tendenziell gar nicht steuernd eingreift. Es zeichnet sich hier ein Kontinuum ab von einem Staat, der staatsfreie, nur nach Privatrecht geregelte Zonen zulässt und einräumt, in denen sich das soziale Leben und das kapitalistische Marktgeschehen entfalten kann, bis hin zu einer staatsfreien, nur noch nach privatrechtlichen Verträ8 Zu den antidemokratischen Tendenzen dieser Produktivgenossenschaften und dem »ewigen soziologischen Gesetz«, wonach sie den gleichen Weg gehen werden wie einst die Zünfte vgl. Michels [1911] 1970: 148.
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gen geregelten Gesellschaft, wie sie dem Anarchisten Godwin ebenso vorschwebte wie dem Rechtspopulisten Miglio. In diesem Sinne kann man sowohl von Anarcho-Liberalismus als auch von Anarcho-Konservatismus sprechen, Tendenzen, die sich in unterschiedlicher Mischung im Populismus wiederfinden. Der Einwand, die populistischen Farmer in den USA hätten durchaus den Schutz des Staates angerufen, sticht nicht, denn sie sahen darin nur eine vorübergehende Maßnahme, um den ursprünglichen Zustand wirtschaftlicher Autonomie und Selbstbestimmung wiederherzustellen. Ihr Appell an den Staat erfolgte nicht mit der Perspektive, sich auf Dauer in staatliche Abhängigkeit zu begeben, geschweige denn in die ökonomische Abhängigkeit als Lohnarbeiter. Dass der moderne Staat auch humanisierende Leistungen erbracht hat und immer noch erbringt, in der Objektivierung des Rechts ebenso wie in Fragen der sozialen Gerechtigkeit, lassen die Vertreter aller drei Richtungen nicht oder nur bedingt gelten. Anarchisten sehen den modernen Staat nur unter dem Aspekt des Gewaltmonopols, Konservative nur unter dem Aspekt der Nivellierung und Uniformierung von Pluralität und Vielfalt, Liberale als Hindernis für freie Marktbeziehungen. Für sie alle ist der moderne Staat, vor allem in seiner Ausprägung als Wohlfahrtsstaat, eine Instanz der Entfremdung von dem, was menschliches Sein ausmacht, nämlich Freiheit und Selbstbestimmung. Ihre gemeinsamen Feinde heißen: Bürokratie, Zentralismus, Uniformierung, Monopolbildung, Kollektivismus und Totalitarismus.
Föderalismus und Subsidiarität Abstrahiert man von unterschiedlichen Ausprägungen, nationalen Besonderheiten und historischen Entwicklungsstadien, so neigen insbesondere Anarchisten und Konservative zu einem föderalistischen Gesellschaftsaufbau; Freiheit könne nur in Mikro-Einheiten verwirklicht werden. Hier treffen sie sich auch mit der christlichen Sozialphilosophie, die mit dem calvinistischen Genossenschaftsdenken (z.B. bei Althusius) ebenso einen Beitrag zum Populismus geleistet hat wie mit dem Subsidiaritätsprinzip der katholischen Sozial-
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lehre. So schrieb Alexander Rüstow mit bewunderndem Blick auf die Schweiz mit ihrer Kleinteiligkeit und ihren direktdemokratischen Traditionen: »Wenn wir uns [...] bewusst sind, dass Anarchismus undurchführbar und Zentralismus ein Übel ist, wie soll man dann da zwischen diesen beiden Polaritäten, die wir beide verneinen, die richtige Mittel finden? [...] Die Antwort darauf gibt das Subsidiaritätsprinzip«. (Rüstow 1957: 219) Oswald von Nell-Breuning, einer der geistigen Väter des OrdoLiberalismus, sah im Föderalismus auf staatlicher Ebene eine Komplementärerscheinung zum sozialpolitischen Subsidiaritätsprinzip. Verantwortlichkeiten und Zuständigkeit für Lebensgestaltung und Vorsorge müssen bei den Mikro-Einheiten verbleiben, bei der Familie, den Nachbarschaften und Gemeinden. Nur im Falle ihrer Handlungsunfähigkeit greift die nächst höhere Einheit ein. Die Eigenständigkeit der Person wird durch die soziale Ordnung der Gemeinschaft garantiert, was Unterordnung nicht ausschließt. Da sie aber in diesem kleinteiligen Bezugsrahmen überschaubar und damit einsehbar bleibt, wird sie — so jedenfalls der Gedanke - nicht als Entfremdung erfahren. Diese Aspekte treten auf einer vorreflexiven Stufe keineswegs nur im Agrarpopulismus des 19. Jahrhunderts, sondern ebenso im Poujadismus, im Populismus der Lega Nord und bei Pim Fortuyn in Erscheinung. Bekanntlich haben das personalistische Menschenbild und das Subsidiaritätsprinzip Eingang in die christdemokratischen Volksparteien Westeuropas gefunden. Ihre Leistung bestand darin, diese Komponenten mit anderen zu einer Synthese zu verschmelzen, für die der Begriff der »sozialen« im Gegensatz zur freien oder laisse faire-Marktwirtschaft stand. Der Vorwurf von Populisten an diese bürgerlichen Volksparteien lautet nun, zugespitzt, sie seien inzwischen zu sozialdemokratisch geworden. Der Hang der Sozialdemokratien, angefangen bei F. D. Roosevelts New Deal, zur Okkupation des Staates zwecks sozialstaatlicher Umverteilung, zu Expertokratie und technokratischer Planung, habe auch von den christdemokratischen Parteien Besitz ergriffen. In den zentralen Fragen der Staatsverschuldung, der Steuergesetzgebung, der Planungseuphorie, der anwachsenden Bürokratie und der sozialstaatlichen Ressourcenumverteilung würden sie sich nur noch unwesentlich von Sozialdemo-
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kraten unterscheiden, was auf Parteienebene zur »Kartellisierung« der Macht und zur Transformation der Parteien in Staatsorgane geführt habe.
Populismus als Anti-Parteien-Bewegung Der politische Wille muss sich für Populisten nach Maßgabe des grundlegenden Interesses an Selbstbestimmung artikulieren. Die radikalste Variante ist hier wiederum die anarchistische, die jede Form von Zwischeninstanzen ablehnt, also schon die bloße Bildung von Parteien und die Mitarbeit in Parlamenten. Das Alternativmodell ist das auf der Basis von gemeinsamen Produktionsstätten oder Lebenswelten (Dorf, Stadtviertel etc.) beruhende Rätemodell, das der Arbeitsteilung und Elitenbildung entgegenwirken soll durch Rotation der Delegierten und durch Aufhebung der Gewaltenteilung. Insbesondere im Anarcho-Syndikalismus kamen alle auch für den Populismus charakteristischen Vorbehalte gegenüber der Idee der Repräsentation und dem freien, ungebundenen Mandat zum Ausdruck. Parteien, so lautete der Befund des deutsch-italienischen Soziologen Robert Michels bereits 1911, tendierten wie alle Organisationen zur Herausbildung einer kleinen Oligarchie, einer Führungselite, die verhindert, dass sich der politische Wille von unten nach oben bildet. Dagegen steht der Gedanke, dass Menschen, die gleiche Erfahrungen und gleiche Lebensgemeinschaften teilen, wissen, was für sie am besten ist und sich nicht von Intellektuellen und Parteifunktionären darüber belehren lassen müssen. Mögen sich diese auch sozialistisch oder links nennen, so bleiben sie nach Habitus und Bildungsstand doch immer Kinder ihres bürgerlichen Herkunftsmilieus. Daher tendieren sie dazu, den Willen des Volkes zu verfälschen, sich eigenen Machtinteressen gefügig zu machen und über die Mitarbeit im Parlament in das »System« zu integrieren. Dagegen könnten nur die Gewerkschaften (frz. syndicat), verstanden als Zusammenschluss von Genossen, anti-parlamentarisch, anti-oligarchisch und anti-elitär den auf gemeinsamer Erfahrung beruhenden Gemeinschafswillen artikulieren.
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Speist sich die konservative Intellektuellenfeindlichkeit aus der Abwehr gegen rationalistische Weltveränderungspläne, so die anarchistische aus der Abwehr von Bevormundung und Fremdbestimmung durch vermeintliche Experten aus den herrschenden Schichten. Aus diesem Grunde empfahl der Anarchist Michael Bakunin der links engagierten intellektuellen Jugend ein »Bad im Volksleben«. Die russischen Volkstümler (Narodniki), die heute zu den Agrarpopulisten gerechnet werden, verstanden sich zu ihrer Zeit eher als Anarchisten und gingen in bewusster Abkehr von ihrem bürgerlichen Herkunftsmilieu »ins Volk«. Bakunin betonte, wenn die akademische Jugend sich schon für die Sache des Volkes stark mache, so käme ihr doch keineswegs die Aufgabe zu, in der sozialen Bewegung die »Leiterund Propheten-, Instruktoren- und Doktoren-, ja Schöpferrolle zu übernehmen«. (Zit. nach Michels [1911] 1970: 325) Diese emphatische Ablehnung intellektueller Bevormundung ist auch für den Populismus konstitutiv. Geradezu anarchistisch klingt z.B. Jörg Haiders Definition von Demokratie als »herrschaftsfreie Gleichheit« (vgl. Haider 1997: 240). Glaubten ursprünglich die Vertreter des Obrigkeitsstaates und später technokratische Eliten, besser zu wissen, was für das Volk gut sei und meinten, mit der Kritik an Plebisziten einer Fürsorgepflicht zu genügen, so verwahren sich Populisten gegen diese Fürsorglichkeit von akademisch gebildeten Eliten gegenüber dem vermeintlich unmündigen Volk und fordern direktdemokratische Volksbefragungen und Plebiszite. »Das Ergebnis ist ein Demokratieverständnis, das zumindest vom Ansatz her den Grundsätzen der repräsentativen, liberalen Demokratie diametral entgegensteht, ohne dabei jedoch grundsätzlich antidemokratisch zu sein«. (Betz 2001: 125)
Der föderativ-korporative Staat Das konservative, ständisch-korporative Modell ist dem anarchistischen nicht unähnlich. Vorbild sind auch hier das mittelalterliche Genossenschaftswesen und die reichsfreien Stadtstaaten in Deutschland oder Italien, in denen Individualismus im modernen Sinne unbekannt war. Daher waren dies keine freiwilligen Zusammenschlüsse,
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sondern hatten Zwangscharakter und beruhten auf der funktionalen Ein- und Unterordnung des Einzelnen unter das Ganze. Das gilt auch für die kleinen Bauernschaften, in denen eine klare Geschlechter- und Rollentrennung funktional notwendig war, die aber aus ebendiesem Grunde auch traditionalistische und patriarchalische Denkweisen ausgeprägten. Autonomie des Einzelnen heißt daher nicht individuelle, vom Einzelnen zu treffende Wahl der Selbstverwirklichung, sondern heißt Ausbildung einer sozialen Persönlichkeit als Funktionsträger. Souverän ist daher nicht das Volk als atomisierte, amorphe Masse, sondern ein nach berufsständischen Verbänden gegliedertes Volk. Souverän ist aber auch nicht der Staat; er ist in diesem radikal-pluralistischen Modell nur ein Verband unter Verbänden mit minimalen Hoheitsbefugnissen. 9 Populisten, so wird näher zu zeigen sein, wenden sich gegen ein hierarchisches Modell von Staatstätigkeit und politischer Entscheidungsfindung. Sie stehen damit in einer langen Tradition des Widerstandes gegen den modernen, zentralisierten und bürokratisierten Staat als Leviathan. Auch hier kann Tocqueville mit seiner Kritik an staatlicher Zentralisation, am »Verwaltungsdespotismus« und der staatlichen »Vormundschaftsgewalt« als liberalkonservativer Klassiker gelten, wenn er, nicht anders als Pierre Poujade gut hundert Jahre später, schreibt: »[Es] naht der Zeitpunkt, da der Mensch immer weniger fähig sein wird, die für sein Dasein gewöhnlichsten und nötigsten Dinge aus eigener Kraft allein zu schaffen. Die Aufgabe der sozialen Gewalt wird also ständig zunehmen, und gerade ihre Anstrengungen werden sie täglich größer werden lassen. Je mehr sie an die Stelle der Vereine tritt, umso mehr werden die einzelnen Menschen dem Gedanken der Vereinigung entfremdet und auf ihre Hilfe angewiesen sein«. (Tocqueville [1835ff.] 2004: 251) Im «20. Jahrhundert sind Populisten theoretisch am ehesten in der Tradition des Gruppenpluralismus zu verorten, wie er nach dem Ersten Weltkrieg von Harold Laski und anderen angelsächsischen 9 Gegen die dem radikal-pluralistischen Modell inhärenten anarchistischen, staatsfeindlichen Tendenzen hat Ernst Fraenkel daher nach dem Zweiten Weltkrieg das Konzept des Neo-Pluralismus entwickelt, in dem er dem Staat eine Schiedsrichterfunktion zuweist und einen nicht-kontroversen Sektor als Garant für gesellschaftlichen Grundkonsens postuliert. Vgl. Kremendahl, 1977
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Theoretikern entwickelt wurde.10 Laski gehörte zu den britischen Linken und vertrat eine damals extreme, dem Anarchismus nahe kommende Position, wonach die klassische Form der staatlichen Souveränität durch Formen nicht-hierarchischer Zusammenschlüsse kooperativer Gruppen ersetzt werden sollte. Da dies aber zu einer Auflösung des Staates als Schiedsrichter und Integrationsgarant führen würde, distanzierte sich Laski später von seiner extrem-pluralistischen Position und ging jenen Weg, den auch John Dewey in den USA beschritt: er wurde Sozialdemokrat im Sinne der britischen Labour Party, so wie Dewey ein Anhänger des New Deal wurde. Genuine Populisten machten diese Entwicklung nicht mit, sondern beharren weiter, bis hin zu Gianfranco Miglio von der Lega Nord, auf ihrer Aversion gegen den Staat und fühlen sich darin bestätigt durch den in den 1960er Jahren qualitativ und quantitativ weiter expandierenden Staatsinterventionismus.
Die Gegner: Oligarchien, Bürokratien und Eliten Populisten lehnen politische Parteien nicht grundsätzlich ab; das unterscheidet sie von Anarchisten. Beginnend mit der People's Party der nordamerikanischen Populisten über Poujades U.D.C.A. bis hin zur Lega Nord haben sie sich in Parteien organisiert. Der Grund für ihre feindliche Einstellung gegenüber Parteien ist daher auf einer anderen Ebene zu suchen. Exemplarisch seien hier die Überlegungen von Robert Michels herangezogen. Auf ihn geht das »eherne Gesetz der Oligarchie« zurück, die These, dass jede Organisation, gleich welcher programmatischen oder ideologischen Ausrichtung, zur Herrschaft von Wenigen führe, zur Elitenbildung. Jeder menschlichen Zweckorganisation seien oligarchische Züge inhärent. Popu-
10 Die These von Rensmann 2006: 63 f. und 74, der Populismus sei antipluralistisch, ist in dieser Pauschalität nicht haltbar. Es muss differenziert werden zwischen dem frühen Konzept eines staatsfreien Gruppenpluralismus, dem Populisten nahe stehen (vgl. Miglio und Fortuyn), und dem nach 1945 von Ernst Fraenkel entwickelten so genannten Neopluralismus, der zunächst von Sozialdemokraten gegen Carl Schmitt u.a. entwickelt wurde und später zum staatstheoretischen mainstream in der Bundesrepublik avancierte.
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listische Parteien verstehen sich daher als Anti-Parteien und treten gegen ein Parteienestablishment an, das aus ihrer Sicht bereits einen hohen Grad an Oligarchisierung erreicht hat. So spricht Haider, der hier nur stellvertretend für andere angeführt wird, von der »politischen Kaste«, dem »demokratiefernen Machtkartell« und dem »bürokratischen Feudalismus« (Haider 1997: 241). Die Eliten zirkulieren unter sich in einem Kartell, verfolgen nur noch ihre eigenen materiellen und Machtinteressen, sind unfähig zu grundlegenden Reformen, was zu Verkrustung, »Zähflüssigkeit« (Fortuyn) und mangelnder Transparenz führt. Unbestreitbar lag eine solche Situation in Italien zur Zeit der Ersten Republik, also bis 1992, vor, in minderem Umfang auch in Frankreich vor Ausbruch der poujadistischen Revolte, in den Niederlanden zur Zeit des spektakulären Aufstiegs von Pim Fortuyn. Das Zusammentreffen dieser Elemente wird als der »populistische Moment« bezeichnet, der nur dann als Gefahr anzusehen ist, wenn er nicht zu Selbstkorrekturen führt.
Der populistische Kampf gegen den »Steuerstaat« Der Anarchismus ist, wie oben ausgeführt, nur eine radikalisierte, zugespitzte Form des Liberalismus. Begreift man daher den Populismus als zur Familie der Libertären gehörig, so wäre hier auch die Erklärung dafür zu finden, warum populistische Bewegungen des ausgehenden 20. Jahrhunderts libertäre, ultraliberale, anarcho-kapitalistische Züge annahmen. Die unabhängige Variable von Anarchismus und Populismus lautet Anti-Staatlichkeit, Selbstorganisation, Selbstbestimmung; der >freie Mann auf freier Scholle< (oder im eigenen Laden, in der eigenen Werkstatt, im eigenen Kleinbetrieb). Wo Kapitalismus, industrielle Großproduktion und große Interessenorganisationen dieses Ideal zunichte machten, waren Populisten antimonopolistisch, aber nicht im Namen der Vergesellschaftung von Produktionsmitteln, sondern, als Liberalkonservative, im Namen von Freiheit, Selbstbestimmung und der Kleinteiligkeit gewachsener Lebenswelten. Populisten waren und sind nie antikapitalistisch, wohl aber anti-monopolkapitalistisch. Der Sozialismus marxistischer Provenienz war daher nie eine Perspektive für sie, galt er doch mit sei-
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nem Kollektivismus, seinem Etatismus und der Zerschlagung allen Kleinbesitzes nur als die andere Seite der gleichen Medaille, als Verschwörung der »Großen«, gleich unter welcher ideologischen Flagge sie segeln, gegen die »Kleinen«. Diese Philosophie der Freiheit kann sich in ihren abhängigen Variablen sowohl kommunitär und gemeinschaftsorientiert als auch individualistisch entwickeln. Anarcho-populistische Strömungen findet man daher im Mutualismus in der Nachfolge Proudhons, im Anarcho-Syndikalismus, in dessen Tradition beispielsweise heute der französische Bauernführer Jose Bové steht, auch im staatsfreien Genossenschaftswesen, im Kommunalismus und Regionalismus. Selbst dann, wenn sich diese Richtungen politisch links verstehen, bilden sie aufgrund ihres partikularistischen Denkens Tendenzen zu Nativismus und Fremdenfeindlichkeit aus. Es ist daher analytisch kurzsichtig und politisch fahrlässig, diese fremdenfeindlichen, nicht selten auch antisemitischen Tendenzen im Populismus als »vormoderne« Relikte zu verharmlosen, die in der Postmoderne nur noch als vernachlässigenswerte Restgrößen aufträten. 11 Nimmt man die Philosophie der Freiheit (vom Staat) als unabhängige Variable und Grundprämisse, so zeigt sich im 20. Jahrhundert, dass populistische Strömungen die individualistische Richtung einschlugen. Im Namen von Selbstbestimmung richten sich neopopulistische Bewegungen zwar wiederum gegen den Staat, aber gegen den intervenierenden, umverteilenden, nationale Solidarität anstrebenden Wohlfahrtsstaat. Diese libertäre Tendenz zeigte sich schon bei Poujade in den fünfziger Jahren, setzte sich in den siebziger Jahren mit dem dänischen Steuerrebellen Mogens Glistrup fort und flammte nach 1990 bei Pim Fortuyn, Henry Ross Perot und den skandinavischen Populisten (Pia Kjaersgaard in Dänemark, Bert 11 Diesen Versuch unternehmen zum Beispiel Paul Piccone und andere Autoren der Zeitschrift Telos, des amerikanischen Sprachrohrs der Frankfurter Schule. Sie verstehen den Populismus als Inbegriff eines neuen, linken Projekts postmoderner Dezentrierung und kommunitaristischer Gemeinschaftsorientierung gegen die »Neue Klasse« von wohlfahrtsstaatlichen Bürokraten und Experten. Vgl. Piccone 1995: 45-86 und weitere einschlägige Artikel in dieser Zeitschrift, die ihre Seiten inzwischen großzügig auch Vertretern der Neuen Rechten zur Verfügung stellt und dem Werk Carl Schmitts unter postmodernem Vorzeichen zu neuer Aktualität verhilft.
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Karlsson und Ian Wachtmeister in Schweden, Carl Ivar Hagen in Norwegen) wieder auf. Habituell gehört dazu oft ein anti-autoritäres Auftreten ihrer Führer als Dandy, Entertainer oder Multimediatalent, besonders ausgeprägt bei Fortuyn, Bernard Tapie und dem Amerikaner Jesse Ventura. Sie sind die Nachfahren der Boheme des 19. Jahrhunderts; ihr anti-bürgerlicher Impetus beschränkt sich auf die Rolle eines Bürgerschrecks mit libertär-provokantem Auftreten und einer Nähe zur Halbwelt.
Die normative Anti-Staatlichkeit des Populismus Seit den 1930er Jahren verzeichnen alle modernen Industriestaaten ein rasantes Anwachsen der Staatstätigkeit. Beginnend mit F.D. Roosevelts Politik des New Deal greift der Staat zunehmend in die Wirtschaft und die Sozialpolitik ein. Als »Steuerstaat« fungiert er als Drehscheibe der Allokation von öffentlichen Mitteln. Der öffentliche Haushalt wird zum Zankapfel, bei dem der Staat nicht als neutraler Dritter fungiert, sondern direkt in die Sozialstruktur eingreift. Das hat zur Folge, dass sich neben der inzwischen institutionalisierten Auseinandersetzungen zwischen Kapital und Arbeit neue Felder sozialer Kämpfe herausbilden, insbesondere zwischen den selbstständigen Mittelschichten und jenen Teilen der Bevölkerung, deren Existenzsicherung zunehmend vom Staat abhängt. Diese Klientel des Wohlfahrtsstaats ist »[...] dazu verurteilt, vollkommen oder teilweise vom Staat abhängig zu sein, zu Empfängern von Einkommensverbesserungen in Form von öffentlichen Krankenhausleistungen und Gesundheitsfürsorge, Wohngeldzuschüssen, Wohlfahrtsleistungen und anderen Beihilfen, Alterfürsorge, Lebensmittelmarken, Subventionen für die Verkehrsmittel und ähnlichem zu werden.« (O'Connor 1974: 25) Dies schrieb der marxistische Autor O'Connor, aber fast in den gleichen Worten des Bedauerns äußerte sich der Populist Pierre Poujade. Abhängigkeit vom Staat ist eine Schmach, eines freien Mannes unwürdig. Noch einmal sei Tocqueville zitiert, der diese Tendenzen bereits Mitte des 19. Jahrhunderts wahrnahm und kritisch kommentierte: »Ich behaupte, dass die öffentliche Verwaltung in sämtlichen Ländern Europas nicht nur stärker zentralisiert ist als früher,
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sondern sich auch inquisitorischer um die Einzelheiten des staatlichen Lebens kümmert; allenthalben dringt sie weiter als früher in das Privatleben vor; immer mehr, immer unbedeutendere Vorgänge regelt sie auf diese Weise, und sie breitet sich mit jedem Tag mehr aus, neben dem Einzelnen, um ihn herum und über ihm, um ihm beizustehen, ihn zu beraten und zu vergewaltigen«. (Tocqueville [1835ff.] 2004: 328) Der Verlust der Freiheit, verstanden als ökonomische Selbstständigkeit, wird als Entfremdung erfahren. Massiv lehnen Populisten daher den Gedanke ab, dass Menschen über die bloße Armenpflege hinaus einen Rechtsanspruch auf Grundversorgung hätten. Dieser Kerngedanke des modernen Wohlfahrtsstaates ist aus populistischer Sicht nur ein weiterer Beleg für dessen Herrschaftsanspruch und dessen paternalistische Bevormundung freier Bürger. So führt Jörg Haider aus, »dass Sozialpolitik nicht zwingend dem Staat anvertraut sein muss, sondern Hilfe zur Selbsthilfe im privaten Bereich wirksamer, sparsamer und sozialer sein kann. Der Wohlfahrtsstaat versagt in seinem Kernbereich, nämlich der Hilfe und dem Schutz für Schwache, Arme und unverschuldet in Not Geratene. Er ist ein Instrument der Vormundschaft und des Auslebens von Herrschaftsinteressen geworden«. (Haider 1997: 226f.) Ähnlich fragte schon in den fünfziger Jahren der konservative Staatsrechtstheoretiker Ernst Forsthoff: »Was wird, wenn der Staat die Abhängigkeit des Einzelnen von ihm zum Mittel der Beherrschung macht? Die Folge wäre eine Steigerung der Herrschaftsmacht bis zu einer äußersten, nicht mehr überbietbaren Intensität«. Mit einem gewissen »konservativen Schauer (sie)« vergegenwärtige er sich die mannigfachen immanenten Gefährdungen aus der Verschränkung von Sozialfunktion und Herrschaft (Forsthoff 1954: 9 und 23). Dieser »konservative Schauder« durchzieht alle populistischen Diskurse vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart.
Die »neue Klasse« von Funktionären und Bürokraten Bei der Steuerfrage geht es im Wesentlichen um drei Aspekte: Erstens um die Höhe der Steuersätze, zweitens um die Allokation öf-
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fentlicher Ressourcen und drittens um einen neuen, öffentlichen, Arbeitsmarkt. Die Höhe der Besteuerung gab auch in vormodernen Gesellschaften immer wieder Anlass zu Unruhen, Revolten und Erhebungen, beruhte doch die Privilegienstruktur der vormodernen Gesellschaft nicht zuletzt auf der Befreiung des Adels von Steuerabgaben. Im 20. Jahrhundert kommen nun die beiden anderen Aspekte hinzu. Dabei erhebt der Staat nicht mehr nur Steuern für seine Hoheitsaufgaben (Militär, Polizei, Justiz) und für unerlässliche infrastrukturelle Aufgaben wie Straßen- oder Kanalbau. Vielmehr lässt er als sozialstruktureller Regulator Teile seines Steueraufkommens in die Gesellschaft zurückfließen (beispielsweise für Arbeitslosenhilfe, Familienhilfe, Krankenversicherung, Sozialhilfe, öffentliches Erziehungswesen, Forschung, Kultur etc.). Diese in den großen Volksparteien nur graduell unterschiedliche Praxis der staatlichen Umverteilung zieht nun, drittens, einen neuen Arbeitsmarkt nach sich. Es hat sich hier eine neue Schicht sei es von direkten Staatsbediensteten oder von Berufsgruppen herausgebildet, die von staatlicher Förderung abhängig sind. O'Connor nennt sie eine neue Schicht indirekt produktiver Arbeiter, die »kleine Armee der Technologen, Verwaltungsfachleute, Paraprofessionellen, der Produktions- und Büroarbeiter sowie anderer, die die neuen Programme in den Bereichen des Bildungswesens, des Gesundheitswesens, des Wohnungsbaus, der Wissenschaften und anderer [...] Bereiche planen, durchführen und kontrollieren«. (O'Connor 1974: 263) Diese neue, lohnabhängige Mittelschicht gilt aus populistischer Sicht als privilegiert gegenüber dem selbstständigen Mittelstand, da sie ökonomisch abgesichert ist und keine Risiken trägt. Der Staat wird als Drehscheibe für einen Gütertransfer zugunsten dieser »parasitären« neuen Klasse, aber zulasten der Steuer zahlenden »Produzenten« gesehen. Einer der Gründe für die Aversion der Lega Nord gegen Süditaliener liegt beispielsweise darin, dass viele von diesen auch in Norditalien in Staatsfunktionen, als Beamte, Richter oder Polizisten, tätig sind, was wiederum mit dem Parteienklientelismus in den süditalienischen Landesteilen zusammenhängt. Parteifunktionäre verschaffen dort vor dem Hintergrund endemisch hoher Arbeitslosigkeit ihren >Getreuen< Ämter und Pöstchen in der staatlichen Bürokratie. Die Parteien fungieren in Süditalien als Patron, der für seine
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Anhänger, die Klientel, Sorge trägt und dafür im Gegenzug deren Stimme erhält - wie schon im alten Rom. Populisten wittern, teils berechtigt, meist aber übersteigert, speziell in dieser staatsabhängigen New Class interessengeleitete Herrschaftsund Statusinteressen, die, ideologisch übertüncht, als Gemeinwohl ausgegeben würden. Im populistischen Diskurs erscheinen daher immer wieder diese Experten, Technokraten und Bürokraten als Gegner. Gegner sind sie für Populisten deswegen, weil sie nicht nur verwalten, sondern durch social engineering planend, bevormundend, kontrollierend und verändernd in sozialstrukturelle Zusammenhänge eingreifen, sei es als Stadt-, Bildungs-, Regional- oder Verkehrsplaner, als Familien- oder Sexualberater, als Sozialarbeiter oder Jugendpfleger, als Wissenschaftier mit ihrer Expertise, als Integrations- oder Kulturbeauftragte. In den siebziger Jahren wurde in den USA auch eine linke Kritik an der wachsenden Rolle von Experten und Intellektuellen in den zahlreichen Think Tanks und privaten Beraterorganisationen laut. In dieser »technischen Intelligenz« sahen linke Sozialwissenschafder wie Alvin Gouldner oder Noam Chomsky eine neue technokratische Klasse im Kampf um die politische Macht. Auch heute sprechen linke, oft vom Trotzkismus herkommende, amerikanische Populisten von der New Class, die sich ihre eigene Nachfrage erst schaffe. Aus wohlverstandenem Eigeninteresse sei ihr an der Verteidigung und sogar Ausweitung des Staatssektors gelegen. Diese trotzkistische Bürokratiefeindlichkeit berührt sich auf eigentümliche Weise mit der des Rechtspopulisten Jörg Haider, bei dem es heißt: »Unter dem Vorwand des sozialen Ausgleichs ist ein gigantischer Umverteilungsprozess in Gang gesetzt worden. Das Ergebnis ist eine Umverteilung von unten nach oben, vom Bürger zum Staat, von Arm zu Reich. Die Profiteure dieser Umkehr sind die Funktionäre, die im Auftrag der Partei in diese Zentren der Macht vorgestoßen sind. Sie verteidigen diese Art von >Sozialstaat<, weil sie im Besitz der Herrschaftschancen sind und sich Privilegien verschaffen, die ihnen keine Position in keinem anderen Beruf bieten würde. Um diese Position abzusichern, sind alle Gruppen der Bevölkerung der staatlichen Volksbeglückung unterworfen. Begehrlichkeit, Anspruchsdenken und Ausbeutungsmissbrauch (sie) sind die Folge. Der kollektive Frei-
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heitsentzug schafft die Illusion der totalen Sicherheit, deren Unterfinanzierbarkeit jetzt sichtbar wird«. (Haider 1997: 225)
Gegen Macher, Planer und Sozialingenieure Aus populistischer Sicht verschlingen Beamte mit ihrer Regulierungswut und Sozialplaner mit ihrem Machbarkeitswahn öffentliche Ressourcen. So stellte jüngst die Stiftung Marktwirtschaft fest, der Mittelstand zahle jährlich fast 40 Milliarden Euro für die deutsche Bürokratie (vgl. Schmid 2006: 19). Diese Ressourcen gehen nicht nur ökonomisch zulasten des kleinen Mittelstandes, sondern eine ganze Philosophie steht auf dem Spiel: Selbstbestimmung über das eigene Leben und Verfügung über die erwirtschafteten Ressourcen stehen gegen die »Anmaßung« von Experten, den sozialstrukturellen Beziehungen planend eine bestimmte Richtung geben zu wollen. Der Staat erscheint als Moloch und Leviathan im Dienste der Modernisierung und diese steht wiederum für die Sozialdemokratie als Signatur eines ganzen Zeitalters. Der »soziale Ingenieur« und Planer ist die zentrale Projektionsfigur für populistischen Widerstand. Es ist daher zu grobschlächtig, Populismus auf den Gegensatz von Volk und Eliten zu reduzieren. Populisten haben nie die alten, eingesessenen Eliten oder die großen Familien attackiert, sondern immer nur diese neuen, staatsnahen Planungs- und Exekutiveliten, und sie tun dies im Namen der staatsfreien Selbstständigkeit von »Produzenten«. Wie schon bei konservativen Denkern des 19. Jahrhunderts steht auch hier wieder das planende »Machen« gegen das organische Wachsen, der Intellektuelle als bevormundender Experte gegen das Alltagswissen der Menschen, das Projekt gegen die Tradition. Setzt man für »gesunden Menschenverstand« oder common sense aber das »gesunde Volksempfinden«, so wird die Ambivalenz dieses Strebens nach Selbstbestimmung deutlich. Der liberale Gedanke der individuellen Selbstbestimmung kann, gruppenspezifisch gedeutet, schnell in eine sozialdarwinistische Selbstbehauptung der Starken gegen die Schwachen übergehen, was sich deutlich bei einem libertären Populisten wie Jesse Ventura zeigt.
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Das populistische Syndrom entzündet sich an den Staatsfunktionen ganz allgemein und kann sich ebenso gegen Experten und Technokraten richten wie gegen »Bonzen« und politische Eliten. In Italien schürt der Populist Umberto Bossi das Ressentiment, die prosperierende norditalienische Region werde von der »diebischen« Hauptstadt Rom steuerlich über Gebühr belastet zugunsten der unterentwickelten süditalienischen Gebiete, die nur >nehmen< ohne erkennbare eigene Anstrengung, sich aus dieser für sie vermeintlich bequemen Lage zu befreien. In Österreich prangert Jörg Haider das kartellartige Zusammenspiel der beiden großen Volksparteien in der Konsensdemokratie an. Die nordeuropäischen populistischen Bewegungen nahmen den skandinavischen Wohlfahrtsstaat und, wie in Schweden, die jahrzehntelange Dauerherrschaft der Sozialdemokraten ins Visier. Welche Schattierungen populistische Diskurse annehmen, hängt von den jeweiligen Gegebenheiten ab, aber eines ist immer zentral: Die Kritik an den Staatseliten mit ihrem vermeintlich verfehlten, nur an der Verteidigung ihrer eigenen Machtinteressen interessierten Verständnis von Staatsaufgaben und ihrer über den öffentlichen Haushalt forcierten Ressourcenumverteilung. Die populistische Alternative lautet daher nicht — das unterscheidet sie von der autoritären Rechten — der starke Staat, sondern die anarcho-liberale Pluralisierung und Föderalisierung zulasten des Nationalstaats. Staatstheoretisch unterscheiden sich Populisten als Rechtslibertäre damit grundlegend von der etatistisch-autoritären Rechten. Es ist unschwer zu erkennen, dass das populistische Syndrom mit neo-liberaler Deregulierung bestens harmoniert und die eigentliche Stoßrichtung der populistischen Bewegungen der neunziger Jahre gegen den Wohlfahrtsstaat gerichtet war und ist. Neben der Aktivität des Staates als Regulator der Sozialstruktur stellen Populisten auch korporative Absprachen an den Pranger, wie sie in Deutschland zwischen 1967 und 1976 in der »konzertierten Aktion« praktiziert wurden und unter der Regierung Schröder im »Bündnis für Arbeit« wieder aktiviert werden sollten. Stärker war oder ist die korporatistische Konsenspolitik aber in kleineren Ländern wie den Niederlanden, Italien oder Österreich ausgeprägt, mit entsprechend größerem populistischem Widerstand.
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Beginnend mit F. D. Roosevelts New Deal erklären Populisten das gesamte »sozialdemokratische Zeitalter« zu einer Fehlentwicklung, womit nicht nur die Allokation des öffentlichen Haushalts im »Steuerstaat« gemeint ist, sondern auch eine sich mit postmodernen Zeitströmungen verbindende Kritik am universalisierenden Rechtsstaat und an zentralistischen Tendenzen auf EU-Ebene. Aber der Ruf nach Selbstbestimmung und Autonomie verliert schnell seine theoretische Attraktivität, wenn man sich deutlich macht, dass damit auch die Selbstbestimmung rabiater Rassisten über den Zugang zu öffentlichen Schulen in >ihrem< Wohnviertel oder die Verhinderung von psychiatrischen Einrichtungen oder Asylantenwohnheimen in einem lebensweltlich gewachsenen Ort gemeint sein kann.
Volksparteien in der Krise Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts stand unter dem Signum der großen christdemokratischen oder sozialdemokratischen Volksparteien, denen ein Klassen und Schichten übergreifendes Bündnis zwischen den lohnabhängigen Massen und den Mittelschichten gelungen war. Dieses »sozialdemokratische Jahrhundert« ist aus drei Gründen an ein Ende gelangt: 1. Seit den siebziger Jahren ließen die hohen Wachstumsraten und die Vollbeschäftigung nach. Die Wiederaufbauphase nach dem Zweiten Weltkrieg, gefördert durch den Marshall-Plan, war abgeschlossen. 2. Der Sozial- oder Wohlfahrtsstaat ist in seiner bisherigen Form nur um den Preis weiterer Staatsverschuldung aufrechtzuerhalten, was zum Beispiel Italien, bis vor kurzem noch das Land mit der höchsten Staatsverschuldung in Europa, an den Rand des Staatsruins geführt hat. 3. Die deutsche Wiedervereinigung nach 1989 ist bis heute nur unzureichend gelungen. Trotz hoher Transferzahlungen in die neuen Bundesländer kam es dort zu hohen Arbeitslosenraten bei gleichzeitigem Eintritt Deutschland in die Phase der Globalisierung, der Öffnung der Märkte und der wachsenden internationalen Konkurrenz. Auslagerung von Teilen der Produktion in Billiglohnländer und Zuzug von billigen Arbeitskräften führten zu einer Malaise, die im nationalstaatlichen Rahmen nur noch unzureichend aufgefangen werden kann. Für Italien gilt ähnliches.
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Auch dort ist die Entwicklung der südlichen Landesteile trotz hoher Transferzahlungen nur unzureichend gelungen. Alle Volksparteien sind angesichts schwindender Mitglieder- und Wählerzahlen und einer Krise der Repräsentation auf der Suche nach Neuorientierung. Die »neuen« Sozialdemokraten vertreten hier das Konzept des aktivierenden Sozialstaats, unter anderem durch freiwillige Bürgerarbeit auf sozialpolitischem Gebiet. Dort, wo keine staatlich finanzierten sozialen Dienste mehr geleistet werden können, sollen freiwillige, ehrenamtliche Helferinnen und Helfer einspringen. Indessen sind Konzepte wie Bürgergesellschaft und Ehrenamtlichkeit keine Rezepte gegen Populismus, weil sie nicht den Kern des Problems berühren: die Krise der politischen Repräsentation. So zeigte sich etwa in den Niederlanden, dass dort das freiwillige volunteering äußerst hoch war und es dennoch zur populistischen Revolte eines Pim Fortuyn kommen konnte.
Der populistische Angriff auf den »keynesianischen Leviathan« Das »sozialdemokratische Jahrhundert« lebte von drei Kerngedanken: 1. Ökonomisch vom Keynesianismus, von Staatsverschuldung, antizyklischer Investitionslenkung und Hochlohnpolitik, was die wirtschaftliche Integration der arbeitenden Massen in die moderne Konsum- und Wohlstandsgesellschaft ermöglichte. Erstmals in der Geschichte war es vielen Menschen, wenn auch auf bescheidenem Niveau, möglich, sich eine Urlaubsreise, eine eigenes Auto, ein Eigenheim zu leisten, ihre Kinder auf weiterführende Schulen und ins Studium zu schicken. Die Schranken zwischen den Besitzenden, den Bildungseliten und dem Volk wurden durchlässiger, wenn auch nicht nivelliert, wie der Soziologe Helmut Schelsky in der Nachkriegszeit angenommen hatte. 2. Politisch vom »keynesianischen Klassenkompromiss« als konzertierter Absprache zwischen Industrie und Gewerkschaften, teilweise unter Mitwirkung des Staates, bekannt geworden als »korporatistisches Dreieck« (Reinhard Kreckel). Damit leisteten die sozialdemokratischen Parteien die Integration der unteren Schichten in das politische System unter Verzicht auf revolutionäre Gesellschaftsveränderung. 3. Sozial schließlich von einem Bünd-
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nis zwischen Unter- und Mittelschichten, abgefedert durch höhere Durchlässigkeit in der Bildungspolitik und durch zahlreiche Aufstiegsmöglichkeiten im öffentlichen Sektor. In dem Maße, wie der Klassenkonflikt institutionalisiert und damit Teil des »Systems« wurde, formiert sich dagegen der populistischer Widerstand als neue Form von Klassenkampf zwischen dem Staatssektor und den selbstständigen Mittelschichten; Populisten polarisieren zwischen den Beschäftigten im privaten und im öffentlichen Sektor.
Sozialdemokraten in der Modernisierungsfalle Die sozialdemokratische Bündnispolitik von Arbeiter- und Mittelschichten auf der Basis sich annähernder Lebensbedingungen und einer vergleichsweise großen Durchlässigkeit von unten nach oben ist heute aus drei Gründen in einer Krise: Erstens ist das klassische Arbeitermilieu durch technologischen Wandel weitgehend erodiert. Entweder ist den Söhnen und Töchtern aus der Arbeiterschicht durch höhere Bildungsabschlüsse der Aufstieg in die Mittelschichten gelungen oder sie werden als Modernisierungsverlierer marginalisiert. Die »neue« Sozialdemokratie konzentriert sich heute vor allem auf aufstrebende, gut ausgebildete Leistungsträger als Vertreter der gesellschaftlichen Mitte. Parteipolitisch zeigt sich eine wachsende Spannung, wenn nicht gar Spaltung, zwischen dem alten Milieu der traditionellen Sozialdemokratie und diesen neuen Mittelschichten. Menschen mit niedrigen Bildungsabschlüssen und geringem materiellen Besitz neigen eher zu einer materialistischen Wertorientierung. >Brotund-Butter-Themen< sind ihnen nach wie vor wichtiger als solche, die auf Selbstverwirklichung, auf die Emanzipation der Frauen oder gleichgeschlechtlich orientierte Menschen ausgerichtet sind. Zweitens gerät eine Partei, deren Wortführer mehrheitlich aus diesen postmaterialistisch orientierten Gruppen stammen, innerparteilich in einen Wertekonflikt. Der Bruch, konstatiert der Niederländer Rene Cuperus, verläuft quer durch die Sozialdemokratie. »Die >Revolte des kleinen Mannes< belegt die in den Parteien der demokratischen Linken seit langem bestehende Kluft zwischen den hoch gebildeten und den weniger gebildeten Schichten, zwischen den so
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genannten >Materialisten< und den >Postmaterialisten<. [...] Diese Spannung zwischen der Zugehörigkeit zum >Establishment< und dem Anspruch, >Partei des kleinen Mannes< zu sein, ist die Achillesferse der Sozialdemokratie. Diese Spannung macht sie durch populistische Angriffe in hohem und weiter zunehmendem Maße verwundbar«. (Cuperus 2003a: 3f.) Ein dritter Grund für die Malaise ist, dass die Sozialdemokratie zahlreiche potentielle Aufsteiger, denen sie selbst zu höheren Bildungsabschlüssen verholfen hat, nicht mehr im öffentlichen Sektor absorbieren kann. Betroffen davon ist eine ehedem sozialdemokratische Klientel - Pädagogen, Lehrer, Sozialarbeiter, angestellte Psychologen, Mitarbeiter in Beratungsstellen, Dozenten, Stadt- und Regionalplaner, alternative Künstler — die in den siebziger und achtziger Jahren noch vergleichsweise problemlos im Staatssektor unterkommen oder von den damals noch gut gefüllten Töpfen im kulturellen Bereich profitieren konnte. In dieser Lage bleibt vielen nichts anderes übrig, als den Weg in die Selbstständigkeit zu gehen als Inhaber diverser Kleinfirmen in den Bereichen Beratung, Werbung, Consulting, Kulturmanagement, Design, als Reiseveranstalter, Kunsthandwerker, Ökobauern, Betreiber von Bio- oder Buchläden, Mitarbeiter in privat organisierten Bildungsstätten, als Gastronomen oder selbstständige Firmenberater. Diese Freiberufler, etwa free-lance-Journalisten, freie Mitarbeiter in Verlagen oder Museen, frei schaffende Übersetzer oder Lehrbeauftragte, Kleinverleger, Reiseleiter, Kursanbieter, Museumspädagogen, Lektoren, Mitarbeiter an Volkshochschulen, Schauspieler und Regisseure an freien Bühnen, Organisatoren von Kindermalwerkstätten oder Wochenendseminaren, Lebensberater, Referenten und Mitarbeiter an Projekten aller Art sowie jene, die zur »digitalen Boheme« gerechnet werden, unterliegen den Zwängen einer »Bastelbiographie«. Ihr sozio-ökonomischer Status ist prekär. Mit anderen Worten: Die SPD hat sich selbst ein Potential herangezüchtet, das einerseits nach Deregulierung ruft, nach niedrigeren Steuern, flexibleren Arbeitszeiten und leichteren Kündigungs-möglichkeiten. Das gilt vor allem für jene neuen Selbstständigen, die es geschafft haben, sich einträgliche Existenzen aufzubauen und ihrerseits wieder Angestellte beschäftigen. Dazu bemerkte Habermas
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schon vor über 20 Jahren: »Die aufwärtsmobilen Wählerschichten, die von der Sozialstaatsentwicklung unmittelbar den größten Nutzen hatten, können in Krisenzeiten eine Mentalität der Besitzstandswahrung ausbilden und sich mit dem alten Mittelstand, überhaupt mit den >produktivistisch< gesonnenen Schichten zu einem defensiven Block gegen die unterprivilegierten und ausgegrenzten Gruppen zusammenschließen«. (Habermas 1985: 150) Anders sieht es dagegen bei den prekär Beschäftigen aus, die auf Sicherheit und feste Anstellung im Staatssektor oder in parastaatlichen Institutionen drängen. Ihre politisch linke Option beruht darauf, den öffentlichen Sektor zu verteidigen und nach seinem Ausbau zu rufen, eine Forderung, die die »neue« SPD weder erfüllen kann noch will. Die Unterscheidung zwischen Rechts- und Linkspopulismus, wie sie derzeit die Debatten in Deutschland beherrscht, ist daher wenig tragfähig. Im Kampf um mehr oder weniger Staat, einem Kampf, an dem selbstverständlich nicht nur Populisten beteiligt sind, treten diese, gleich ob als rechte oder linke Populisten, für weniger Staat ein. Der Unterschied zwischen ihnen liegt lediglich in einer eher individualistischen oder einer eher gemeinschafts- oder genossenschaftsorientierten Richtung. Zur Verwirrung trägt aber bei, dass diese Variante linker Politik in Deutschland nur schwach ausgeprägt ist und kaum auf Traditionen zurückgreifen kann. Den Begriff des Populismus für eine Politik zur Verteidigung des keynesianischen Wohlfahrtsstaats zu reklamieren, ist daher ein Widerspruch in sich. Überall, wo sich Populisten jemals zu Wort gemeldet haben, war es ihr Ziel, den selbstständigen Mittelstand zu verteidigen, nie dagegen den abhängig beschäftigten. Wo sich, ausgehend von den angelsächsischen Ländern, ein Linkspopulismus formiert, der diesen Namen verdient, beschreitet er einen anderen als den keynesianischen, staatsinterventionistischen Weg. Seine Anhänger erwarten wenig vom Staat, viel dagegen von tätiger Selbsthilfe und Selbstorganisation als Kleinunternehmer in der Tradition des britischen Gildensozialismus, auf den sich heute beispielsweise der associationalism beruft. Es gilt, einer weit verbreiteten Meinung entgegenzutreten, wonach Populismus in Gegnerschaft zum Liberalismus stehe. Eher das Gegenteil ist richtig. Der Populismus in Europa und in den USA ist
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das legitime Kind des Liberalismus mit starker Verankerung in einem antistaatlichen Altkonservatismus und im anarchistischen Genossenschaftsdenken. Diese Wurzeln sind unterschiedlich stark und vielfach verästelt und überdies nur als Amalgame und Denkstile im Sinne Mannheims greifbar. In der Hochphase der Volksparteien konnte dieses mittelständische Potential von den bürgerlichen, meist christdemokratischen, Volksparteien absorbiert werden, kaum dagegen von der Sozialdemokratie, die gerade die große Masse der Lohnabhängigen einschließlich der staatsabhängigen Mittelschichten angesprochen und auf den Staat als »Volksstaat« gesetzt hat.
Rechtspopulisten in der Deregulierungsfalle In dem Maße, wie die Reformlinke in Europa unter dem Druck von Globalisierung, Staatsverschuldung und demographischem Wandel mit Arbeitsmarktreformen, Deregulierungsmaßnahmen und Leistungskürzungen reagiert, gerät sie in die paradoxe Lage, das zu tun, was Populisten seit langem fordern. Diese können sich daher als Agenda—Setter bestätigt fühlen. Dazu noch einmal Jörg Haider: »Es ist bezeichnend, daß es sozialistische [i.e. sozialdemokratische, K.P.] Regierungen sind, die gegenwärtig in ihrer Visions- und Perspektivlosigkeit ihr eigenes Kind >Sozialstaat< zerstören [...], die die soziale Sicherheit abbauen, um ihre eigene politische Haut zu retten«. (Haider 1997: 234) Aber auch die rechten Neopopulisten sind nicht dagegen gefeit, ihrerseits in eine paradoxe Lage zu geraten. Ist die Sozialdemokratie von der Modernisierungsfalle bedroht, so könnten diese in die Deregulierungsfalle geraten. In dem Maße nämlich, wie sich ihnen Modernisierungs- und Globalisierungsverlierer aus den unteren sozialen Segmenten zuwenden, zeigt sich, dass Rechtspopulisten sich gerade jene sozialstaatlichen Forderungen nach Absicherung zu Eigen machen müssen, die sie doch lautstark an den Volksparteien, insbesondere den sozialdemokratischen, kritisieren. Da sie aber den Weg zu einem führerzentrierten Massenklientelismus derzeit nicht gehen können, verlagern sie ihren Aktionsradius auf die kulturelle Ebene, auf Themen wie Immigration, auf Kultur- und Religionskonflikte, auf
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Fragen der europäischen, nationalen oder regionalen Identität, auf Kritik am Multikulturalismus und insgesamt auf die vermeintlich integrationsunwilligen Ausländer. Das »Establishment« antwortet ebenso kulturalistisch mit der Betonung von Werten wie Toleranz, Vorurteilsfreiheit, Weltoffenheit, Kosmopolitismus, Anerkennung von Differenz und neuem Weltbürgertum. Diese Verschiebung von Konflikten auf eine kulturelle Ebene tritt in einer Pattsituation auf der sozialen und ökonomischen ein. Da auch Populisten kein anderes Rezept anzubieten haben als den bereits von ihren Gegnern initiierten Abbau des klassischen Wohlfahrtsstaates, bleibt ihnen derzeit nur der Weg offen, sich auf die Suche nach Sündenböcken zu begeben. Nur so können sie sich erstens vom »Parteienestablishment« absetzen, zweitens ihre Identität als mittelschichtorientierte Populisten bewahren und drittens gleichzeitig ihre Klientel aus den unteren Bevölkerungssegmenten bei der Stange halten. In dieser von Paradoxien nicht freien Schwebesituation erscheinen die europäischen rechtspopulistischen Parteien derzeit als Mixturen aus Rechtsextremismus, Ethnoregionalismus und Populismus (vgl. Rydgren 2004: 202). Da das Mischungsverhältnis aber nicht konstant bliebt, sich vielmehr im Fluss befindet, kann das, was heute noch Rechtspopulismus mit rechtsextremen Anteilen genannt wird, sich morgen schon in einen Rechtsextremismus mit populistischen Anteilen transformieren.
Volksparteien als Katalysatoren des populistischen Syndroms Man kann sich das Verhältnis von Volksparteien zum Populismus nach Art kommunizierender Röhren vorstellen. Sinkt deren Integrations- und Amalgamierungsfähigkeit, steigt umgekehrt >das Populistische< und sondert sich ab. In dem Maße, wie in den großen Parteien einer ihrer Bestandteile (der liberale, der konservative oder der christliche bei der CDU, der sozialistische oder der linksliberale bei der SPD) die Oberhand gewinnt und die ideologische Legierung wieder in ihre Komponenten zerfällt, spalten sich mental oder faktisch jene Elemente ab, die sich nun nicht mehr in >ihrer< Partei wiederfinden. Sie fühlen sich von den politischen Eliten verraten, unver-
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standen, im Stich gelassen und mutmaßen, oft zu Recht, bei diesen Eliten Karrierismus, Selbstbedienermentalität, Inkompetenz, Arroganz und Abschottung. Dieses Unbehagen steht am Beginn des populistischen Syndroms. Da aber der Populismus als Reinform meist nur von kurzer Dauer ist, sucht er nach neuen Andockungsmöglichkeiten. Es ist dann nur eine Frage der Zeit, bis er als bloßes Ferment wieder von größeren Parteien absorbiert wird. Der Populismus ist nicht reaktionär, sondern lebensweltlich traditionalistisch, entweder in Verbindung mit einem subsidiären Familismus oder in Verbindung mit anarcho-kapitalistischen Tendenzen des mittleren und kleinen Unternehmertums. Heute ist er weniger denn je nationalistisch, sondern neigt, vor allem in den USA, zu einem vorideologischen Patriotismus, der unterhalb der nationalstaatlichen Ebene auch, wie in Italien, als Lokal- oder Regionalpatriotismus auftreten kann. Staatstheoretisch treten Populisten vor allem als Föderalisten in Erscheinung und sind auch hier wiederum nur Trendsetter. Obwohl es in Deutschland nie einen nennenswerten Linkspopulismus gegeben hat, ist neuerdings viel davon die Rede. Dabei handelt es sich meist nur um einen polemisch gebrauchten Verlegenheitsbegriff, der dem grundlegenden Unterschied zwischen einer etatistischen und einer anti-etatistischen Linken nicht Rechnung trägt. Nur letztere kann aber der Familie des Populismus zugerechnet werden. In den USA werden unter linkem Populismus Strömungen verstanden, die in Europa als »neue soziale Bewegungen« in Erscheinung getreten sind, hier aber nie populistisch genannt wurden. Die neue Linkspartei dagegen, die vor allem das polemisch gemeinte Epitheton »linkspopulistisch« auf sich zieht, ist noch zu sehr in der Formierungsphase, um fundierte Einschätzungen zuzulassen. Bislang steht sie eher in einer sozialistischen Tradition und tritt gerade für die Verteidigung dessen ein, was Populisten, auch die angelsächsischen linken Populisten, bekämpfen: den »keynesianischen Leviathan« (Bossi). Dieser habe, so lautet der Vorwurf, inzwischen auch die bürgerlichen Volksparteien durchdrungen und infiziert mit der Folge einer alternativlosen Kartellbildung im politischen »Establishment«. Es zeugt daher weniger von Unkenntnis als von kalkulierter Irreführung, wenn Guido Westerwelle von der FDP mit ganz ähnlichen
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Argumenten wie Jörg Haider konstatiert: »Auch in der Union gilt staatliche Umverteilung als sozial, wird Gerechtigkeit als Gleichheit definiert. [...] Immer mehr Staatsausgaben, immer größere Staatsschulden, immer höhere Steuern und Abgaben werden als Ergebnis dieser Politik gern ignoriert. [...] Liberale wissen: Fair ist eine Gesellschaft erst dann, wenn sie Leistungerechtigkeit zum Maßstab des Handelns macht«. (Westerwelle 2004; zur »fairen Marktwirtschaft« auch Haider 1997: 129) Wenn der kulturelle Postmodernismus sich auszeichnet durch Bricolage, Grenzverwischung, Kombinatorik, Paradoxie und Dekonstruktion, dann kann man Westerwelles Vorgehen postmodern nennen. Er spielt mit Grenzverwischung und Paradoxie, wenn er gerade das als populistisch bezeichnet, was es nie war, aber ablenkt von dem, was in Europa als Rechtspopulismus auftritt und in nächster Nähe zum Liberalismus steht. Aber Angriff ist die beste Verteidigung. »Gefährlich«, so Westerwelle, »ist der linke Populismus besonders, weil er nicht als Populismus erkannt wird«. (Westerwelle 2004) Sollte die Gefahr des Populismus also just von jenem »Machtkartell« der »politischen Kaste« ausgehen, das doch stets noch für alle Populisten der Antichrist gewesen ist? Die eigentliche Gefahr, so scheint es, geht in Zeiten ideologischer Unübersichtlichkeit eher von der Laxheit im Umgang mit politischen Zuschreibungen aus.
4. Populismus in den USA
4.1 Die 1890er Jahre: Agrarpopulismus und Reformpolitik Die USA sind das von populistischen Tendenzen am stärksten geprägte Land der westlichen Hemisphäre. In keinem anderen Land gibt es bis heute nachwirkende, sich immer neu formierende populistische Strömungen und Bewegungen. In diesem Land, das einerseits keine starke sozialistisch-marxistische Arbeiterbewegung gekannt hat, andererseits aber auch keinen Faschismus an der Macht, fungiert der Populismus als dritte Kraft. Wie überall, ist er auch hier eine Mittelstandsbewegung, die im 19. Jahrhundert als Bewegung der kleinen, selbstständigen Farmer begann. In der Tradition der Präsidenten Jefferson (1743-1826) und Jackson (1767-1845) verstanden sich die Populisten als das eigentliche Volk, als Kern und Inbegriff der amerikanischen Gesellschaft, die bereits als freie begann und sich nicht erst, wie in Europa, von Feudalismus und Absolutismus befreien musste. Land im Überfluss, geringe Staatstätigkeit und die Ideale der ersten Siedlergeneration bilden den Hintergrund für die populistische Utopie vom »goldenen Zeitalter«. Zugleich aber, und das macht den amerikanischen Populismus zu einem der ergiebigsten Studienobjekte zu diesem Thema, ist er nicht nur auf eine bestimmte Periode, etwa die des Agrarpopulismus der 1890er Jahre beschränkt. Man kann vielmehr populistische Wellen unterscheiden, die in bestimmten Abständen das Land durchziehen. Erstmalig bildete er sich in der Phase des Übergangs vom Konkurrenzkapitalismus zum organisierten Kapitalismus heraus und forderte vom Staat, er dürfe sich nicht als neutraler Schiedsrichter oder Nachtwächter verstehen, sondern seine Aufgabe sei es, als dynami-
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sehe Kraft soziale Gerechtigkeit und das Gemeinwohl zu verwirklichen. Die Einstellung der Populisten zur beginnenden Industriegesellschaft war nicht reaktionär und rückwärtsgewandt. Sie kritisierten lediglich die Auswüchse des Industriekapitalismus und das mit ihm verbundene Banksystem. »Im Bemühen, den Industrialismus zu demokratisieren statt abzuschaffen, war der Populismus eine fortschrittliche soziale Kraft«, schreibt Norman Pollack (Pollack in: Pollack (Hg.) 1967: XLII), und der ebenfalls um ein positives Populismusbild bemühte Lawrence Goodwyn sieht in ihm die erste demokratische Massenbewegung in den USA.
Das populistische Credo: Hilfe zur Selbsthilfe Die Phase der Eigenständigkeit des amerikanischen Populismus als politische Partei ist vergleichsweise kurz und dauerte nur von 1890—1896. Seine Bedeutung als eine in der Demokratischen Partei oder als bloßes kulturelles Ferment nachwirkende Tendenz liegt darin, dass er hinsichtlich der Einschätzung der Staatstätigkeit nicht marktliberal auftritt, sondern eine soziale Marktwirtschaft favorisiert, die dem Ziel einer »Hilfe zur Selbsthilfe« verpflichtet ist. Staatliche Hilfe ist dann und nur dann notwendig, wenn die Mechanismen der Selbsthilfe und der mechanischen Solidarität (Durkheim) in sozialen Nahbeziehungen versagen. Diese Situation tritt ein, wenn die Herrschaft der etablierten Partei, in den USA die Demokraten und die Republikaner, nicht angemessen auf die von den Kräften des freien Marktes hervorgerufenen Modernisierungsschübe und die sozialstrukturellen Verwerfungen reagieren und dadurch ihre Verbindung zum Volk unglaubwürdig wird. »Am meisten überrascht vielleicht, dass die Farmer in so hohem Maße die Tradition des laissez-faire aufgaben und sich der Regierung als einem aktiven, Unrecht behebenden Agenten zuwandten. Aber an die Zentralregierung wandten sie sich erst, nachdem freiwillige Zusammenschlüsse fehlgeschlagen waren...« (Tindali in: Tindall (Hg.) 1966: XI). Diese Anrufung des Staates als Instanz einer ausgleichenden Gerechtigkeit heißt indessen nicht Befürwortung des modernen Wohlfahrtsstaates, sondern das Gegenteil: Der Staat möge die Bedin-
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gungen schaffen und garantieren, unter denen die Mechanismen der Selbsthilfe und freiwilliger Zusammenschlüsse wieder funktionieren und zum Tragen kommen. Wir haben es also mit einem auf den ersten Blick paradox erscheinenden Vorgang zu tun: Die amerikanischen Populisten der 1890er Jahre rufen nach der Reformtätigkeit des Staates zugunsten eines Zustandes, der die Bedingungen für mittelständische Selbstständigkeit wieder herstellt, um sich dann aber als Regulator der sozialstrukturellen Beziehungen wieder zurückzunehmen.
Der amerikanische Populismus — bis heute ein Politikum Der amerikanische Populismus war immer und ist bis heute ein Politikum. Während die einen in ihm eine insgesamt zukunftsgerichtete Bewegung sehen, die das Ende der Landnahme, der Ausbreitung nach Westen (der frontier-Phase) verarbeitet und den Wandel zu einer Industriegesellschaft mitgetragen habe, sehen andere vor allem seine rückwärtsgewandten Aspekte, seine Sehnsucht nach dem goldenen Zeitalter der weitgehend staatsfreien Selbstorganisation im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert. War, so wird gefragt, der Populismus nur der letzte Akt in einem Kampf der Landwirtschaft gegen die Industrie oder schon der erste im Kampf um eine die laissez-faire-Phase. hinter sich lassende soziale Marktwirtschaft? Liegt der Schwerpunkt des Populismus bei den zeitgebundenen Problemen des ausgehenden 19. Jahrhunderts, vor allem der Reform des Finanz- und Steuersystems, oder bei den zeitübergreifenden, nach wie vor aktuellen Forderungen nach einer Reform des politischen Systems durch Elemente der direkten Demokratie? Oder liegt er nicht eher bei den sozialpsychologischen Einstellungen und dem mentalen Habitus von Populisten, insbesondere ihrem Hang zu Antisemitismus und Verschwörungstheorien? Die Beantwortung dieser Fragen wird erschwert durch die vielfältigen Ausprägungen des Populismus in den unterschiedlichen Landesteilen und in unterschiedlichen Phasen. War der gemäßigte Populismus im mittleren Westen eine verwässerte Version und hatte dieser seine Wurzeln substantiell eher im Süden und Südwesten der USA?
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War der Antisemitismus in besonderer Weise im Populismus ausgeprägt oder nahm er nur das an Zeitströmungen auf, was auch unter den Oberschichtangehörigen, den Ostküsteneliten und Akademikern der damaligen Zeit weit verbreitet war? Der amerikanische Populismus ist in der Wissenschaft sehr kontrovers behandelt worden. Während ältere Forscher, vor allem John D. Hicks mit seinem Klassiker The Populist Revolt von 1931, ihn überwiegend positiv beurteilten, folgte in der McCarthy-Ära der 1950er Jahre eine revisionistische Wende in der Populismusforschung. Autoren wie Daniel Bell, Richard A. Hofstadter und Victor C. Ferkiss gingen stärker auf die ihrer Ansicht nach vernachlässigten Aspekte des Populismus ein, vor allem Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Nationalismus. Die von der Politik McCarthys ausgehenden Gefahren standen in den fünfziger Jahren im Vordergrund und prägten die Sichtweise dieser Forschergeneration, die McCarthy in eine direkte Kontinuitätslinie zum Populismus stellten. Dagegen hat sich seit den siebziger Jahren erneut eine Wende unter anti-revisionistischem Vorzeichen abgezeichnet. Gefragt wird nicht mehr, wie noch in der McCarthy-Ära, nach der Anfälligkeit des Populismus für fremdenfeindliche, rassistische Tendenzen, sondern danach, was am amerikanischen Populismus gut, richtig, bewahrenswert und weiterführend war. Forscher wie Lawrence Goodwyn heben hervor, die Populisten hätten als Reformer den Weg zu einer demokratischen Organisation der Industriegesellschaft aufgezeigt (vgl. Goodwyn 1976: 539). Er sieht den amerikanischen Populismus positiv als Rückgriff auf das »demokratische Versprechen« der Gründerväter und der Präsidenten Jefferson und Jackson. Sein Erbe könne nützlich sein für die Zukunft, denn er habe den Menschen zum ersten Mal zu Selbstachtung verholfen. Auch Robert C. McMath betont, die Populisten seien weder Protofaschisten noch Proto-New DealAnhänger. Vielmehr hätten sie einen Raum geschaffen, in dem Amerikaner nach einer alternativen Zukunft suchen könnten. Die populistische Hinterlassenschaft warte noch darauf, erfüllt zu werden (McMath 1993: 210f.).
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Der historische Hintergrund In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzte in den USA in verstärktem Maße der gesellschaftliche Wandel ein.12 Das alte Ideal der yeomen farmer, der kleinen, selbstständigen Bauern, trat in den Hintergrund und wurde verdrängt vom commercial farmer, der bereits für den Markt produzierte und dabei internationaler Konkurrenz ausgesetzt war. Kanada, Südamerika, Australien wuchsen als Konkurrenten für Agrarprodukte heran, Indien und Ägypten für Baumwolle. Die Farmer wurden zunehmend abhängig von mächtigeren und skrupelloseren Männern. Eisenbahnmogule, Kreditgeber, Bankiers, Zwischenhändler bedrohten ihre Lebensform und sie sahen sich als deren Opfer. Um nämlich produktiver wirtschaften zu können, mussten die Farmer teure Maschinen anschaffen und sich verschulden. Nach 1860 wurde ihre Lage unsicherer und risikoreicher. Vor allem in den Südstaaten erwies sich der monokulturelle Anbau als Problem; die Farmer waren den Launen der internationalen Märkte ausgesetzt und belastet durch teure Kredite. Depression und Preisverfall im letzten Drittel des 19. Jahrhundert verschärften ihre Lage. Immer zentraler wurde für sie daher die Sorge um das Geldsystem. In dieser amerikanischen Form des Klassenkampfes standen sich nicht die Besitzer der industriellen Produktionsmittel auf der einen und die ausgebeuteten Arbeiter auf der anderen Seite gegenüber, sondern das Finanzkapital und die kleinen Landeigner. Diese Konstellation erfuhren die Farmer als Gegensatz zwischen der produktiven Klasse, zu der sie selbst zählten, und der spekulativen Klasse von Bankiers und Kreditgebern.
Die Rolle des Geldsystems Um den Bürgerkrieg zu finanzieren, hatte die Bundesregierung zwischen 1862 und 1865 die Notenpresse angekurbelt und 450 Millionen Dollar als Papiergeld ohne Deckung durch Goldreserven (greenbacks) 12 Zu den Vorläufern der Populisten, v.a. den Grangern, und den sozio-ökonomischen Veränderungen auf dem Land nach dem Bürgerkrieg vgl. McMath 1993, Kap. 1 und 2
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herausgegeben, was inflationäre Tendenzen heraufbeschwor. Die meist hoch verschuldeten Farmer hatten indessen ein Interesse an der Beibehaltung der greenbacks, da mit einer Inflation ihre Schuldenprobleme schneller gelöst wären. Je mehr Geld im Umlauf ist, desto billiger ist es und desto schneller können Kredite abbezahlt werden. Außerdem forderten die Populisten die Erhöhung der Geldmenge auf 50 Dollar pro Kopf der Bevölkerung, weil dies steigende Preise nach sich gezogen hätte. Ihre Überlegungen, die bis heute aktuell sind, beruhten auf folgenden Annahmen: Eine Erhöhung der Geldmenge führt zwar generell zu wachsender Inflation, gleichzeitig aber auch zur Verringerung der Arbeitslosigkeit. Überdies treibt ein Teil des zusätzlichen Geldes nicht sofort die Inflation an, sondern führt auch zu vermehrter Binnennachfrage und erhöht das Bruttoinlandsprodukt, was wiederum die Erwerbslosigkeit reduziert. Vor dem Hintergrund der sinkenden Preise für ihre Produkte, ihrer hohen Verschuldung bei privaten Geschäftsbanken und nicht zuletzt einer Massenarbeitslosigkeit, die das Phänomen der Tramps, der auf der Suche nach Arbeit umherziehenden Nichtsesshaften, hervorbrachte, vertraten die Populisten eine umstrittene, aber durchaus rationale Interessenpolitik. Die Demokraten schlossen sich dieser Finanzpolitik an, die Republikaner als Vertreter der Banken und Kreditgeber forderten dagegen eine Rückkehr zum Goldstandard und vertraten eine deflationäre Geldpolitik. Der Konflikt ging also um cheap oder soft money (Farmer, Populisten, Demokraten) gegen hard money (Republikaner), um eine flexible oder eine harte Währung. Nach Ausbruch der Depression von 1873 verschärfte sich die Lage, die durch Überproduktion und Unterkonsumption gekennzeichnet war. Die hoch verschuldeten Farmer forderten mehr Papiergeld und zusätzlich die unbegrenzte Ausgabe von Silbergeld (freesilverism), was beides zur Geldentwertung beitrug. Die Gläubiger traten dagegen für die Rückkehr zum Goldstandard ein, da nur so die Rückzahlung ihrer Kredite nicht nur nominell, sondern in nicht entwerteter Höhe gewährleistet war. Diese Auseinandersetzung um Bimetallismus und ein flexibles Geldsystem stand im Vordergrund der populistischen Agitation. 1876 führte dieser Konflikt zu einer landesweiten politischen Bewegung und schließlich zur Gründung einer Partei, der National
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Greenback Party. Bei den Wahlen von 1878 konnte sie mehr als eine Million Stimmen landesweit gewinnen und 14 Kongressabgeordnete stellen. Etwa zur gleichen Zeit kam es zur Gründung der Farmers' Alliance, einer Bauernorganisation, die, ausgehend von Texas, vor allem in den südlichen und südwestlichen Landesteilen verbreitet war und zur Radikalisierung der Farmer beitrug. Hier drängten die Geldund Kreditgeber mit der Parole no cotton, no credit zunehmend auf monokulturellen Anbau von Baumwolle. Dies führte schnell zur Auslaugung der Böden mit der Folge, dass zahlreiche Farmer ihr Land verlassen mussten. Zwangsversteigerungen von Höfen waren an der Tagesordnung; die Abwanderung ruinierter Farmer nach Texas wurde zu einer Massenerscheinung. Diese Bauernorganisation war zunächst nicht politisch, sondern verstand sich als Interessenvertretung, die sich schnell zu einer Protestbewegung radikalisierte. Ihre Ziele lauteten: Ausschaltung von Zwischenhändlern und Handelsagenten durch Schaffung eines eigenen, kooperativ geführten Lagerungs- und Vertriebssystems, Landwirtschaftskredite mit einem festen Zinssatz von zwei Prozent. In Staaten wie Illinois, Dakota, Minnesota und Kansas entwickelten diese Zusammenschlüsse die Strategie des bulking — der Zurückhaltung von weniger verderblichen Agrarprodukten, um zu günstigeren Preisen verkaufen zu können. Die eingelagerte Ware konnte zwischenzeitlich bis zu 80 Prozent beliehen werden und die Eigentümer bekamen Einlagerungszertifikate, die sie, je nach Preisschwankungen, zum günstigsten Zeitpunkt verkaufen konnten. Dieses sub-treasurySystem sollte verhindern, dass Farmer sich bei Privatbanken durch Verpfändung der Ernte oder ihres Landes zu unkalkulierbaren Zinssätzen verschulden mussten. Mit diesem Ernte-Zurückhaltungs-Programm gelang es den Farmern, nachhaltigen Druck auf das nationale Geldsystem auszuüben und das vor allem im Süden vorherrschende System der Landwirtschaftskredite zu untergraben. Ihrem Ziel, der Selbstbestimmung über Anbau, Vermarktung und Verkauf, waren sie damit näher gekommen (vgl. Goodwyn 1976: 154-176).
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Die Forderungen der Populist Party Nachfolgeorganisation der Greenback Party aus den 1880er Jahren wurde die People's Party oder Populist Party, deren größte Aktivität zwischen 1890 und 1896 lag. Sie wurde vor allem von Farmern aus dem Süden und Westen unterstützt. Einer ihrer wichtigsten Organisatoren war der Reformer und Journalist Ignatius Donnelly, der gleichzeitig auch Führer der Farmers' Alliance war. Er formulierte 1892 die Omaha Plattform, die als Bibel des Agrarpopulismus der 1890er Jahre gilt. Darin definiert er die Populistische Partei als eine Reformpartei und fordert die Ausweitung der Regierungsmacht zugunsten des Gemeinwohls. Wie schon den Postdienst, müsse sie auch andere gemeinwohlorientierte Zweige, vor allem die Eisenbahn, unter ihre Kontrolle nehmen. Der populistische Protest richtete sich vor allem dagegen, dass die Regierung Land, das als Gemeineigentum aller galt, zu Schleuderpreisen an private Eisenbahngesellschaften veräußerte. Die Programmpunkte der Populist Party ähnelten denen der alten Greenback Party: Ausgabe von Papier- und Silbergeld, Abschaffung des nationalen Banksystems, Verstaatlichung der Eisenbahn, Kampf gegen den staatlichen Verkauf von Gemeindeland an Eisenbahngesellschaften, progressive Einkommenssteuer und Erhöhung der Geldmenge, um Preissenkungen zwischen Verkauf der Waren und Reinvestition des Erlöses zu verhindern. Über diese finanz- und wirtschaftspolitischen Maßnahmen hinaus erhoben die Populisten auch Forderungen zur Reform des politischen Systems, die bis heute ihre Aktualität nicht verloren haben und der Filterung und Steuerung des politischen Willens von oben entgegenwirken sollen. Diese Forderungen richten sich nur mittelbar gegen die »spekulative Klasse«, sondern direkt gegen das politische Establishment, das eine Politik zu deren Gunsten betreibe. Die Populisten strebten keine radikale Veränderung des politischen Systems an, sondern orientierten sich am australischen Wahlsystem, blieben also im Rahmen des westlichen Demokratiemodells. Ihre Forderungen lauteten im Einzelnen: Direktwahl der Senatoren, Begrenzung der Amtsperiode des Präsidenten und seines Stellvertreters, direkte Vorwahlen (direct primaries), progressive Einkommenssteuer und nicht zuletzt die Einführung von Referenden und
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Volksinitiativen mit dem Ziel direkter politischer Partizipation. »Wir schlagen die Volksinitiative und das Referendum vor als Mittel, um einer Handvoll Piraten, Spielern und Konzernanwälten die Macht zu entwinden, die sie jetzt ohne Frage ausüben, um die Politik und die öffentlichen Angelegenheiten zum Zwecke der Ausplünderung bestimmen zu können. Dagegen muss die Macht wieder in die Hand der Volksmassen gelegt werden, wohin sie rechtmäßig gehört«. (Zit. nach Pollack (Hg.) 1967: 58) Überdies machten sich Populisten stark für die Einführung des Frauenstimmrechts. Frauen waren von Beginn an aktiv in der populistischen Bewegung engagiert und nahmen an Protestmärschen, an den Meetings und anderen Aktivitäten teil.
Einstellungssyndrome und ideologische Elemente Wie alle populistischen Bewegungen, hatte auch die Populist Party keine Theorie oder Doktrin; vielmehr stand das Finanz- und Währungsproblem im Vordergrund. Einer der populärsten und am meisten verbreiteten Texte der Populisten stammte von William H. Harvey, der den Spitznamen Coin (Münze) trug. Sein Traktat wurde daher als Coin 's Financial School bekannt. Darin behauptete er, alles Übel in den USA werde ausgelöst durch eine internationale Verschwörung gegen die Silberprägung. Neben den beiden populistischen Grundüberzeugungen, dem Verschwörungstheorem und der Berufung auf das Gewohnheitsrecht (common right), lassen sich weitere ideologische und sozialpsychologische Merkmale ausmachen: Das Volk wird in der Nachfolge der Pioniergeneration als homogene Masse gesehen, als Basis der amerikanischen Nation. Nachrückende Einwanderer, Ende des 19. Jahrhunderts vor allem chinesische Bergarbeiter, bekommen die Fremdenfeindlichkeit der alteingesessenen natives zu spüren (vgl. McMath 1993: 121f.). Die Gesellschaft ist gespalten zwischen dem Volk und den mächtigen Eliten der Ostküste. Zum Volk gehören alle, die für ihren Unterhalt hart arbeiten, gleich ob Bauern, Arbeiter oder kleine Kaufleute, ausdrücklich auch Schwarze. Populisten setzten sich schon früh für die Gleichstellung
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der Schwarzen als Teile des Volkes ein. Sie alle stehen gegen die Interessen derer, die nur von Zinsen und Spekulation leben. Der Bauer als Inbegriff des ehrlichen, rechtschaffenen Mannes aus dem Volk vertritt eine höhere Moralität, weil seine Arbeit naturverbundener und elementarer als andere Tätigkeiten ist. Der Mittelstand bildet die unverzichtbare Basis einer jeden Gesellschaft oder, in den Worten des französischen Populisten Pierre Poujade, das »Rückgrat der Nation«. Alle, die ehrliche Arbeit leisten, sind auch bessere und moralischere Menschen und haben daher das von alters her geltende common right auf ihrer Seite. Der selbstständige Mittelstand wird als honest oder piain people idealisiert. Gegen das Volk stehen die Interessen einer kleinen, aber mächtigen Klasse. Dies sind vor allem Bankiers, Monopolisten in der Industrie, Eisenbahnmogule und »plutokratische« Millionäre. Die politischen Eliten in den beiden großen Parteien vertreten die Interessen dieser neuen Klasse, die sich im Zuge der Industrialisierung herausgebildet hat. Politiker schreckten in der Tat vor Korruption, Wahlbetrug, Bestechung und Bespitzelung nicht zurück. Überdies waren die beiden großen Parteimaschinen von Lobbyisten unterwandert. Populisten, auch jene in den USA, sind nicht antikapitalistisch, sondern produktivistisch und, in der Tradition des Präsidenten Jackson, antimonopolistisch. Den gesellschaftlichen Wandel zu großen finanz- und industriekapitalistischen Zusammenschlüssen verbinden sie mit den Machenschaften bestimmter religiöser oder ethnischer Gruppen. Hinter den oft klassenkämpferisch klingenden Parolen wie The interests exploit the people verbergen sich gegen Juden, aber auch gegen die Briten als ehemalige Kolonialherren gerichtete Aversionen. Der »Fremde« verkörpert die Ausbeutung des Volkes und agiert in den anonymen »Korporationen«, den großen Zusammenschlüssen in der Industrie und im Banksystem. Der latente, aber keineswegs allein bei Populisten verbreitete, Antisemitismus führte in den USA indessen nie zu diskriminierender Gesetzgebung oder zu antisemitischen Pogromen. Vielmehr waren antisemitische Einstellungen auch bei den kulturellen und politischen Eliten der Ostküste weit verbreitet und gehörten im ausgehenden 19. Jahrhundert zum Zeitgeist. Aber es ist nicht zu übersehen, dass auch die Populisten mit ihrer Fixierung auf das Geldsystem und das Kre-
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ditgeschäft sich des antisemitischen Stereotyps von der Nähe der Juden zum Geld bedienten. Die Gesellschaftsvorstellung der Populisten war geprägt von der Dämonisierung des Gegners, dem Verschwörungen und geheime Absprachen zulasten des Volkes unterstellt wurden. Einige populistische Führer wie Ignatius Donnelly tendierten zu einer manichäischen Weltsicht und einem dualen Gesellschaftsbild. Der Kampf zwischen »Räubern« und »Ausgeraubten«, zwischen Kapital und Arbeit, zwischen den ehrlich und hart Arbeitenden und jenen, die diese Arbeit ausbeuten, gehört zu den populistischen Topoi, die bei Männern wie Donnelly ausgeprägt apokalyptische Züge annahmen. Der Niedergang der amerikanischen Zivilisation stehe bevor, wenn der Kampf zwischen den Besitzenden und den Habenichtsen nicht aufgenommen werde. Dieser Kampf galt der Macht des großen Geldes, der money power. In deflationären Maßnahmen, die die Preise niedrig halten sollten, sahen Populisten eine Verschwörung ruchloser Finanzmagnaten, der Geldkönige von Wall Street, um das Volk auszubeuten. Aber die amerikanischen Populisten verstanden sich nie als radikale Systemveränderer, sondern als Traditionalisten mit einem ausgeprägten Gemeinschafts- und Familiensinn. Ihre Sorge galt vor allem der Verteidigung von Heim, Familie und Nachkommenschaft.
Der US-Populismus als Gegenstück zum europäischen Sozialismus? Da sich die Populisten von keiner der beiden großen Parteien vertreten fühlten, richtete sich ihr Kampf auch gegen das politische Establishment. Es galt als korrupt und abgehoben von der Masse des Volkes, als Handlanger von Kapitalisten mit ihren großen Korporationen, den Trusts, Kartellen und Konzernen, was nicht nur Einbildung und Demagogie war. Während die amerikanische Arbeiterbewegung sich vom Populismus fern hielt, suchte dieser umgekehrt die Verbindung zur Industriearbeiterschaft mit dem Ziel einer großen Volksbewegung von Bauern, Arbeitern und kleinem Mittelstand. Dagegen betonte der damalige Vorsitzende der amerikanischen Gewerkschaftsdachorga-
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nisation AFL, Samuel Gompers, die People's Party könne nicht den Anspruch erheben, eine Partei des arbeitenden Volkes zu sein, da sie mehrheitlich kleinkapitalistische Bauern organisiere, die Lohnabhängige beschäftigten, selbst aber keine seien und mithin auf der Seite der Ausbeuter stünden. Dagegen analysierten zeitgenössische Beobachter wie der Harvardökonom und Historiker Frederick Emory Haynes 1896 den Populismus als amerikanisches Gegenstück zu den europäischen sozialistischen Parteien. »Es heißt, es gäbe irgendeinen natürlichen Gegensatz zwischen Sozialismus und dem amerikanischen Geist. Wir gelten als vergleichsweise frei von den großen Problemen, die den Nationen des alten Kontinents zu schaffen machen. Es wird angenommen, dass der Sozialismus noch nicht in die Sphäre der praktischen Politik eingedrungen ist. Ich glaube, dass diese Position unhaltbar ist, und dass der Populismus [...] Ideen und Forderungen verkörpert, die im Wesentlichen denen der europäischen Sozialisten gleichen. Kurz gesagt, eine Analyse der gegenwärtigen Situation in diesem Lande führt, so scheint mir, unausweichlich zu der Schlussfolgerung, dass der Populismus das amerikanische Gegenstück zum Sozialismus in Europa ist«. (Haynes in: Tindali (Hg.) 1966: 180) Als Anwalt der Schwachen und Entrechteten trat auch der damalige Gouverneur von Kansas, Lorenzo Lewelling, auf. 1894 antwortete er auf die Frage, warum er Populist sei: »Ich bin für die People's Party, weil sie zur Verteidigung und Rettung von zehntausenden Kindern antritt, die jedes Jahr in diesem Lande an Hunger sterben. Ich bin für die People's Party, weil sie für die 57.000 heimatlosen Kinder in den Vereinigten Staaten eintritt. Ich bin für die People's Party, weil sie an der Seite der derzeit drei Millionen Arbeitslosen steht, die zur Verzweiflung und zum Verbrechen getrieben werden. [...] In diesem Land hat das Monopol von Arbeit sparenden Maschinen und ihre Nutzung zu selbstsüchtigen, nicht zu sozialen Zwecken, mehr und mehr Menschen überflüssig gemacht, mit der Folge, dass wir eine stehende Armee von Arbeitslosen haben, die sich selbst in den prosperierendsten Zeiten auf nicht weniger als eine Million arbeitsfähiger Menschen beläuft«. (Lewelling in: Tindall (Hg.) 1966: 159 und 166) Politisch suchten die Populisten vor allem die Nähe zur Demokratischen Partei. 1896 konnten sie sich auf dem Parteitag der De-
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mokraten in St. Louis durchsetzen und traten für die Nominierung von William Jennings Bryan als Präsidentschaftskandidat ein. Bryan galt bei seinen Gegnern als Demagoge und Volksaufrührer und wurde mit einem der Volksführer der Französischen Revolution, Jean-Paul Marat, verglichen. Aber der Niedergang der Populisten als eigenständige Bewegung war unaufhaltsam. In der Frage, ob sie weiter mit den Demokraten zusammenarbeiten sollten, spaltete sich die Populistische Partei. Nach 1904 kam es zwar noch zur Wiedervereinigung, aber schon 1908 folgten Niedergang und Ende. Die Populisten gingen mehrheitlich in der Demokratischen, einige auch in der Republikanischen Partei auf.
Niedergang und Ende der Populisten als eigenständige Partei Die Gründe für den Niedergang sind vielfältig. Die Populist Party verfügte nur über eine schmale soziale Basis und überdies macht es das amerikanische Wahl- und Parteiensystem Außenseitern schwer, sich auf Dauer als dritte Partei zu etablieren. Die angestrebte Verankerung in der Arbeiterbewegung gelang nicht, weil die Populist Party hier als kleinbürgerliche Kraft galt, deren Interessen mit denen der Industriearbeiter nicht vereinbar seien. Von wenigen Staaten abgesehen, blieb auch der populistische Anhang in den Mittelschichten gering. Erfolg hatten Populisten kurzfristig nur bei denjenigen Kräften, die an der Freigabe von Silberprägungen ein Interesse hatten, bei den Produzenten von Baumwolle und Weizen sowie den im Silberabbau Beschäftigen. Dies war vor allem im Süden und in den Gebirgsstaaten mit Silberminen (Colorado) der Fall. Die Hochburgen der populistischen Bewegung lagen in Kansas, Nebraska, Nord- und Süddakota, Colorado und Nevada, im Süden des Landes in Alabama sowie in Süd- und Nordcarolina. Nur in neun Staaten erhielten sie mehr als ein Drittel der Stimmen. Populisten übten Einfluss und Druck auf die Regierung in Washington aus, aber auf Dauer gelang es ihnen nicht, zu einer gesamtgesellschaftlichen Kraft zu werden. Agrarstaaten wie Iowa, Illinois oder Wisconsin konnten von ihnen nicht mobilisiert werden, da die Farmer dort inzwischen auf diversifizierte Produktion übergegangen
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waren, auf eine Mischung von Maisanbau, Schweinezucht und Milchwirtschaft, was sie weniger krisenanfällig für die Schwankungen des Weltmarktes machte als die monokulturell produzierenden Staaten im mittleren Westen und den Südstaaten. Waren die Populisten auch stark und einflussreich genug, um einige ihrer Forderungen bei den Demokraten unterzubringen, so grub ihnen die nach 1897 einsetzende Prosperität doch das Wasser ab. Das Anwachsen der Städte schuf einen großen Binnenmarkt, der Farmer vom Weltmarkt unabhängiger machte und ihren Radikalismus dämpfte. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts trug auch der technologische Fortschritt dazu bei, sie aus ihrer Isolation herauszuholen durch die Verbreitung von Telefon, Radio und Lastwagen, was bessere Vermarktungsstrategien ermöglichte. Politisch setzten Farmer nun eher auf gute Lobbyarbeit als auf eine eigene Partei. Aber viele der populistischen Forderungen und Grundeinstellungen sind aktuell geblieben, vor allem ihr Kampf gegen den laissez-faireKapitalismus zugunsten einer gemeinwohlorientierten, sozialen Marktwirtschaft. Sie beharrten darauf, dass Regierungen auch Verantwortung für das Gemeinwohl und den »gemeinen Mann« tragen müssten. Einer der populistischen Klassiker aus dem Jahre 1894 trug den programmatischen Titel Wealth against Commonwealth (Reichtum gegen Gemeinwohl). Populistische Impulse gingen im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts auch in die Politik der Progressives und des New Deal ein. Präsident Franklin D. Roosevelt, der erstmalig in den USA öffentliche Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und eine staatsinterventionistische, wohlfahrtstaatliche Politik initiierte, griff in seinen Ansprachen gern auf populistische Topoi zurück und forderte, die »Vergessenen« im Lande (den forgotten man) nicht aus den Augen zu verlieren.
4.2 Die 1930er Jahre: John Dewey — Pragmatismus und New Deal Nach diesem kurzen historischen Überblick über die Entstehungshintergründe des amerikanischen Populismus ist zu zeigen, dass die-
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ser keineswegs so homogen war, wie es zunächst erscheinen mag. Vielmehr zeichnen sich in den verschiedenen Landesteilen unterschiedliche Entwicklungen ab. Auch müssen unterschiedliche Phasen, in denen der Populismus stark war, unterschieden werden: die agrarpopulistische Bewegung der 1890er Jahre, der Populismus in den 1930er Jahren, seine Renaissance in den siebziger Jahren mit dem »neuen«, linken Populismus und schließlich seine Ausprägung in den neunziger Jahren mit der von Henry Ross Perot initiierten Reform Party. Für die 1930er Jahre lassen sich drei Tendenzen unterscheiden: Die linke, von John Dewey getragene, intellektuelle Richtung, die in der League for Independent Political Action zusammenkam, die gemäßigte La Follette-Norris-Gruppe im Nordwesten der USA und schließlich die im Süden und Südwesten verbreitete, Ende des 19. Jahrhunderts schon mit Tom Watson einsetzende, Anfang der dreißiger Jahre von Huey P. Long und in den sechziger Jahren von George C. Wallace vertretene Variante.
John Dewey und der Pragmatismus John Dewey (1859—1952) gilt als der bedeutendste, bis heute nachwirkende Philosoph des amerikanischen Pragmatismus. Maßgeblichen Einfluss hatte Dewey auch als Demokratietheoretiker und Pädagoge. Einen zentralen Stellenwert in Deweys Philosophie nehmen die Begriffe Erfahrung und Experiment ein. Sie sind grundlegend für alle Formen der Vergemeinschaftung. Auch der Staat ist nichts anderes als ein offizielles Experiment, dessen Zweck es ist, auf experimentell-dialogische Weise das Gemeinwohl der Gesellschaft zu bestimmen. Da Erfahrung sich durch Kontinuität und Interaktion auszeichnet, ist die Kunst des politischen Dialogs grundlegend für Deweys Demokratieverständnis, wohingegen der institutionelle Rahmen nur ein Mittel ist. Ganz ähnlich äußerte sich der Philosoph Karl Jaspers nach dem zweiten Weltkrieg: »Die formale Demokratie — das freie, gleiche, geheime Wahlrecht - ist aber als solche keine Sicherung der Freiheit, vielmehr zugleich ihre Bedrohung. Nur unter den charakterisierten Voraussetzungen - ein Ethos gemeinsamen
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Lebens, eine Selbsterziehung im Miteinanderreden zur Bewältigung konkreter Aufgaben, unbedingte Verteidigung der Grund- und Menschenrechte, Gründung im Ernst des Glaubens - ist sie verlässlich. [...] Daher ist die freie und verantwortliche Gemeindeverwaltung unerlässlich für die Entstehung eines demokratischen Ethos. Nur was im kleinsten Umfang in nächster Nähe jederzeit im Leben praktisch geübt wird, kann die Menschen reif machen zu dem, was sie in größeren und größten Räumen demokratisch verwirklichen sollen«. (Jaspers 1949: 210 und 212) Dewey geht von folgenden Annahmen aus: Alles menschliche Handeln ist zunächst und vor allem Gemeinschaftshandeln in Institutionen wie Ehe, Nachbarschaft, Freundschaft, Gemeinschaft am Arbeitsplatz, aber auch der Nation. Die Nation als eine mögliche Ausprägung von Gemeinschaft ist nicht primär, sondern transitorisch oder provisorisch, da die Vergemeinschaftung als anthropologisch vorgegebene Form des Menschseins unterschiedliche Formen annehmen kann. Unter Gemeinschaft versteht Dewey eine kontinuierliche, von Erfahrung geleitete diskursive Praxis, die anthropologisch im Menschen angelegt ist. Dewey unterscheidet zwei Formen von Demokratie: Demokratie als Staatsform, die nur eine Maschine ist, und Demokratie als Lebensform oder als moralische Demokratie. Letztere besteht aus der Gesamtheit aller ethischen Grundsätze und moralischen Ideale, die die Entwicklung der sozialen Fähigkeiten des Individuums in der Gemeinschaft festlegen und garantieren. Dabei orientiert sich Dewey an den frühesten Formen der politischen Praxis in den USA, den townmeetings, zu denen die Bürger als politische Laien zusammenkamen, um über die Belange des Gemeinwesens in einem Akt gemeinsamen Handelns zu debattieren. Den Gründungsakt des amerikanischen Gemeinwesens als eines auf Zukunft und Offenheit hin angelegten politischen Experiments findet Dewey im Mayflower Compact von 1620, hervorgegangen aus dem Geist der Pioniergeneration und der Erfahrung der frontier, der vordersten Front oder Linie im Prozess der Ausbreitung nach Westen. In diesem Verständnis von Demokratie als moralischer Grundlage von Gemeinschaftserfahrung und als Lebensform ist Philosophie nichts anderes als gelebte Demokratie und diese ein lebenslanger
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Lern- und Kommunikationsprozess. Philosophie, Demokratietheorie und Pädagogik fallen also zusammen als unterschiedliche Aspekte der philosophischen Kerngedanken der (Welt-)Offenheit, der Kontingenz, der Zukunftsgewandtheit und des Experimentalismus. Priorität in Deweys Demokratie- und Gesellschaftslehre als angewandter Philosophie hat das ursprüngliche Gemeinschafts- und Verbandshandeln, wohingegen die staatstechnische oder institutionelle Seite der Demokratie als Experiment mit offenem Ausgang sekundär ist. Die antimetaphysische Grundhaltung Deweys und sein Instrumentalismus — die These, dass Demokratie ein fortwährendes Experiment von Versuch und Irrtum sei — bedeutet nicht nur die Geringschätzung der freiheitssichernden Aspekte demokratischer Institutionen, sondern auch einen Verzicht auf letzte, allgemeingültige Werte. Der Pragmatismus beinhaltet grundsätzlich keine politische Option, was der in der Tradition des Pragmatismus stehende Philosoph Richard Rorty ausdrücklich konzediert (vgl. Rorty 1994: 11). Vor diesem Hintergrund ist auch Deweys Interpretation der drei zentralen, aus der Französischen Revolution hervorgegangenen Begriffe Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, zu verstehen, denen er einen populistisch-genossenschaftlichen Sinn unterlegt.
Ein anderes Verständnis von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit Unter Freiheit versteht Dewey nicht Freiheit vom Staat, sondern Zukünftigkeit. Gleichheit bedeutet für ihn nicht Gleichheit der Staatsbürger vor dem Gesetz und ist auch nicht im egalitären Sinne zu verstehen. Gleichheit ist für Dewey vielmehr die jeder Person zukommende Selbstverantwortung in Tun und Handeln. Diese Eigenverantwortlichkeit kann nicht nach oben oder unten — an Autoritäten wie Chefs und Vorgesetzte oder an Untergebene — abgetreten werden. Gleichheit heißt in diesem Verständnis die unvergleichliche Einzigartigkeit eines jeden Menschen und impliziert, dass seine Aufgaben nicht an Stellvertreter delegierbar sind. Wir werden diesem Denken bei dem Populisten Pierre Poujade wieder begegnen. Schließlich versteht Dewey auch unter Brüderlichkeit weder soziale Egalität noch internationale Solidarität oder die universelle Brü-
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derlichkeit des Christentums, sondern die Verbundenheit des Individuums mit der sozialen Gemeinschaft, in der es steht. Bruder heißt für Dewey nicht abstrakt-universalistisch der Mensch als Bruder in Christo oder als Gattungswesen, sondern Bruder ist der zu einer Gemeinschaft gehörende Genosse. Das Handeln des Einzelnen wird erst sinn- und bedeutungsvoll im Zusammenhang mit anderen Mitgliedern einer Lebens- oder Berufsgemeinschaft. Der Einzelne steht historisch in der Kontinuität dieser Gemeinschaft, die individuellem Handeln erst durch diese Bindung Sinn und Bedeutung verleiht. Brüderlichkeit heißt Assoziation und Interaktion, vor allem durch Sprache, und äußert sich in der kommunikativen Praxis der Gemeinschaft. Um diese Gedanken zusammenzufassen: Freiheit bedeutet Antizipation von Zukunft, die kontingent, offen und gestaltbar ist. Gleichheit heißt nicht-delegierbare, unveräußerliche Selbstverantwortung. Beide, der Glaube an die offene Zukunft und an die Entfaltung von Personalität, können nur aus der kommunikativen Praxis des Gemeinschaftshandelns hervorgehen und sind auf dieses angewiesen. Dewey, in dessen Werk der Erfahrung und dem Experiment ein so großer Stellenwert zukommt, greift damit das Selbstverständnis der ersten Siedler- und Pioniergeneration, vor allem ihren Zukunftsoptimismus und ihre gemeinschaftliche Selbstorganisation auf. Dewey ist kein Individualist, sondern betont die Gefahr, dass Individualismus, auf sich gestellt, Selbstsucht und Streben nach Eigennutz befördert. Brüderlichkeit als Kommunikation zwischen Ich und Du steht in der Kontinuität der Gemeinschaft, die ihrerseits als Gemeinschaftshandeln das primäre, naturhaft-biologisch immer schon Vorgegebene und Vorgefundene ist. Dieser Biologismus Deweys beruht auf seiner Interpretation von Darwins Evolutionstheorie. Während der Sozialdarwinismus als Theorem vom Überleben der am besten an die Umwelt Angepassten mit dem laissez-faire-Liberalismus Hand in Hand geht, vertritt Dewey die sozialstaatliche Version eines linksliberalen Reformdarwinismus. Experiment und Demokratie als Lebensform sind die Garanten einer intelligenten Anpassung an die Umwelt, bei welcher der »kooperativen Intelligenz« von Experten und Gesellschaftsplanern eine führende Rolle zugedacht ist. Dieser auf Effizienz
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und Gesellschaftsplanung ausgerichtete Wissenschaftsoptimismus, dem damals viele progressive amerikanische Intellektuelle huldigten, ist Deweys Antwort auf das Versagen der Parteien. Die in Korruption und Klientelismus versunkenen Parteien seien nicht mehr fähig zur adäquaten Problembewältigung. Als Gegenmodell schwebte Dewey vor, die Problemlösungskapazitäten durch Einbeziehung von wissenschaftlichen Experten in bewusste gesellschaftliche Planung zu erhöhen. Kommt beim frühen Dewey der Gemeinschaft als diskursiver Praxis die Prägung von Individualität zu, so überantwortet er diese Aufgabe nach seiner Hinwendung zur Politik des New Deal dem Staat. Individualität fasst er nun als vom Staat zu lenkende und durch ihn zu befördernde Entwicklungsmöglichkeit der im Individuum angelegten Kräfte, Begabungen und Potenzen. 13
Dewey als Politiker Deweys Umdeutung der Parolen der französischen Revolution Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit — stehen in auffallender Nähe zu der theoretisch ungeschulten, vorreflexiven Interpretation eines Pierre Poujade. Die wesentlichen Gemeinsamkeiten seien noch einmal hervorgehoben: Erstens Freiheit verstanden als Selbstverantwortung und Nicht-Delegierbarkeit des eigenen Tuns, zweitens die Abwertung des institutionellen Rahmens von Demokratie im staatstheoretischen Sinne als bloßes, experimentell veränderbares Mittel, als Werkzeug oder Maschine, und drittens das Verständnis von Brüderlichkeit als kommunikatives Handeln unter Genossen oder Gemeinschaftsmitgliedern. Vor dem Hintergrund des Massenelends in den USA zur Zeit der Großen Depression und der Weltwirtschaftskrise ändert sich Deweys Position Ende der zwanziger, Anfang der dreißiger Jahre erheblich. 13 Dewey steht hier in der Tradition des amerikanischen Progressive Movement, einer kulturellen und politischen Bewegung zwischen 1890 und etwa 1920, aus dem als Nachfolgerin der Populist Party 1912 die Progressive Party unter Theodore Roosevelt hervorging, beide als dritte Parteien neben den Demokraten und den Republikanern.
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Genuine Populisten, die sich an der Perspektive »von unten« orientieren und sich dem Ideal einer Graswurzelbewegung verpflichtet fühlen, halten daher nur das Werk des frühen Dewey für einen theoretischen Bezugspunkt des Populismus, das des späteren dagegen für eine Art Verrat, einen radikalen Wechsel weg von der Perspektive der Selbstorganisation und Selbsttätigkeit hin zu sozialstaatlicher Intervention und Planung. »[...] Die Progressives und die New Dealer passten sich der neuen korporativen Ordnung auf eine Weise an, die die Anhänger der Omaha Plattform nur schwer hätten akzeptieren können. Ihre Bewegung war die von tief in den politischen und kulturellen Werten des 19. Jahrhunderts verwurzelten Produzenten. Ihre Vision eines demokratischen Kapitalismus passte [...] nicht zu den politischen und bürokratischen Strukturen, die mit dem Industriekapitalismus einhergingen«. (McMath 1993: 209f.) In seinem 1935 veröffentlichten Werk Liberalism and Social Action legt Dewey seine Gründe für eine Neuorientierung des Liberalismus und damit für seine Wende zum New Deal dar. Der Liberale des 20. Jahrhunderts müsse seine Vorstellung von Freiheit umdefinieren. Gemäß seiner Auffassung, wonach soziales Handeln ein ständiges Experimentieren sei, postuliert Dewey, auch der Liberalismus unterliege diesem Zwang zu permanenter Neuausrichtung, der einen radikalen Wechsel der Perspektive notwendig mache. Ein zeitgemäßer Liberalismus müsse sich als Anwalt des organisierten Kapitalismus verstehen und für organisierte Planung eintreten, heiße doch Freiheit heute - 1935 - vor allem Freiheit von Unsicherheit. Es gelte, den Liberalismus von seiner engen Bindung an die freie Marktwirtschaft ebenso zu lösen wie von einer atomistischen Gesellschaftstheorie. Dewey sucht einen dritten Weg zwischen laissez-faire-Kapitalismus und Besitzindividualismus einerseits und dem kommunistischen Kollektivismus andererseits, wobei er Anleihen bei dem britischen Gildensozialismus macht. Die Phase des Frühliberalismus sei abgeschlossen und das Konzept eines Minimalstaats nicht mehr adäquat zur Lösung der drängenden Probleme der Gegenwart. Nur durch soziale Planung könne ihnen begegnet werden. Größere soziale Gerechtigkeit müsse nicht notwendig zu Klassenkampf und Gewalt führen. Es gelte vielmehr, die bereits in Wissenschaft und Industrie erprobte Methode der »ko-
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operativen Intelligenz« auch zur Lösung sozialer Konflikte und zur Erhöhung der politischen Steuerungskapazitäten einzusetzen.
Sozialplanung und Expertenwissen Diese Methode der kooperativen oder organisierten Intelligenz ist nach Deweys Verständnis eine Form der deliberativen Demokratie, in der soziale Konflikte in einem dialogischen Verfahren offen zur Sprache gebracht werden, um gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Deweys Kritiker sahen darin allerdings eher eine Form von social engineering, die von Intellektuellen und Experten getragene soziale Planung mit technokratischen Managementtechniken wie in der Industrie. Er habe dem Pragmatismus abgeschworen zugunsten des Positivismus, lautete die Kritik. Dewey selbst versteht den Einsatz von wissenschaftlicher oder kooperativer Intelligenz im Bereich der sozialen Praxis jedoch nicht als eine Form der technischen Rationalität, sondern im Aristotelischen Sinne als phronesis, als praktische Vernunft. Dennoch steht der Glaube des späten Dewey an die Beherrsch- und Steuerbarkeit sozialer und politischer Probleme durch wissenschaftliche Laboratoriumsmethoden eher in der tendenziell autoritären, positivistischen Tradition Auguste Comtes als in genuin populistischen Traditionen. Dewey schlug den Weg zu einer amerikanischen Form der Sozialdemokratie ein, der Verbindung von demokratischem Sozialismus mit einem sozial verantwortungsbewussten Liberalismus, beide miteinander verbunden durch einen planend-gestaltenden Eingriff des Staates in die Gesellschaft mit Hilfe der Sozialwissenschaften. Mit der Aufwertung dieser »kooperativen Intelligenz« als einer politisch steuernden neuen Schicht von Experten, Sozialplanern und Technokraten beschritt Dewey einen Weg, der bis heute kontrovers diskutiert wird. Für die einen stellte Dewey sich damit außerhalb des populistischen Horizonts. Andere sahen darin jedoch eine notwendige Anpassung des populistischen »Geistes« an eine neue Phase des amerikanischen Kapitalismus.
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Die League for Independent Political Action Dewey trat nicht nur in seiner Eigenschaft als Wissenschafder und Philosoph politisch hervor, sondern engagierte sich auch in der Politik. Nachdem die Progressive Party als dritte Partei im politischen Spektrum der USA an Einfluss verloren hatte und auch die Organisationen der Populisten, die Farmers' Alliance und die People's Party, nur noch Lobbyarbeit betrieben, stellte sich für viele kritische Liberale die Frage, auf welchem Weg sie ihren Einfluss geltend machen sollten. Im Jahre 1928 wurde die League for Independent Political Action (LIPA) gegründet, die indessen schnell den Vorwurf auf sich zog, eine elitäre, linksliberale Intellektuellenvereinigung zu sein. Sie verstand sich als amerikanische Version der britischen Fabian Society und verfolgte das Ziel, als intellektuelle Vorfeldorganisation für eine amerikanische Labour Party mit Klassen übergreifender sozialer Basis tätig zu werden. Zielgruppen waren Farmer aus dem mittleren Westen, liberale Mittelschichtangehörige und unorganisierte Arbeiter. Zu den Grundüberzeugungen der LIPA gehörten die Über-windung der liberalen Marktwirtschaft durch nationale Wirtschafts-planung, ein demokratisches Management der Industrie, gerechte Einkommensverteilung, garantierte Minimallöhne und Beschäftigungsgarantien durch ein staatliches Programm für öffentliche Arbeiten. Ferner sollte der Staat Kooperativen subventionieren, ein Kreditsystem für Farmer entwickeln und ein Programm für Ernteversicherungen zum Schutz vor Naturkatastrophen auf den Weg bringen. Im Unterschied zu den populistischen Bauernorganisationen, die in der Außenpolitik isolationistisch dachten, vertrat Deweys LIPA überdies einen internationalistischen, an der Politik Wilsons orientierten Standpunkt. Das Ausmaß an Arbeitslosigkeit, Not und Verelendung machten staatliche Intervention und öffentliche Beschäftigungsmaßnahmen notwendig. Das frühliberale Ideal staatsfreier Selbstständigkeit und Selbsttätigkeit, die Abneigung der Populisten gegen Planung und Expertokratie waren aus Deweys Sicht obsolet geworden angesichts einer Entwicklung, die nur mit Hilfe gezielter staatlicher Planungstätigkeit überwunden werden könne.
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Die LIPA war einer von mehreren Versuchen, das amerikanische Zweiparteiensystem durch eine dritte Partei aufzubrechen, blieb aber gespalten in der Frage der sozialen Basis und in der Reichweite staatlicher Intervention. Dewey vertrat die Sache einer zentralstaatlichen Planung, stieß aber auf Widerstand bei den wirtschaftsliberalen Kräften in der LIPA. Auch die Linken blieben skeptisch, hatten sie doch eher eine linke Arbeiterpartei als eine von intellektuellen Mittelschichten dominierte Volkspartei im Auge. Zur Entfremdung Deweys von der LIPA kam es, als er 1930 einen Vorstoß unternahm, den republikanischen Senator George W. Nortis aus Nebraska dazu zu bewegen, seine Partei zu verlassen, um als Kandidat einer dritten Partei zu den Wahlen von 1932 anzutreten. Nortis, der mit dem Populismus sympathisierte, aber ein gestandener Liberaler war, konnte sich mit Deweys Vorstellungen zur Wirtschafts- und Sozialplanung nicht anfreunden und sagte ab. Damit war Deweys Versuch gescheitert, eine personalistisch auf einen populären Politiker ausgerichtete linksliberale Volkspartei aufzubauen. Als andere Kräfte in der LIPA die Oberhand gewannen, die Deweys Plan eines Bündnisses zwischen Farmern, städtischen Arbeitern und Mittelschichtintellektuellen für illusionär hielten, zog sich Dewey resigniert aus der aktiven Politik zurück. 1939 nahm der inzwischen achtzigjährige Philosoph noch einmal zu den Zukunftsfragen des Landes Stellung und forderte eine »schöpferische Demokratie«. Die Phase des frei verfügbaren Landes und des Pionierzeitalters sei abgeschlossen. Die frontier sei nur noch moralisch zu verstehen, nicht physisch. (Dewey 1939) Am Vorabend des Zweiten Weltkrieges und vor dem Hintergrund der Diktaturen in Europa nimmt Dewey mit seinem Plädoyer für die Demokratie als Lebensform Grundüberzeugungen der kommunitaristischen Bewegung der siebziger Jahre vorweg. Die oben erwähnte Geringschätzung der institutionellen Dimension von Demokratie, die starke Betonung ihres experimentellen und moralischen Charakters als Lebensform auf der Grundlage gemeinsam geteilter Werte werden deutlich, wenn Dewey hervorhebt, Demokratie sei der Glaube, dass der Prozess der Erfahrung wichtiger sei als jedes erreichte Ergebnis.
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4.3 Populismus oder führerzentrierter Massenklientelismus in den Südstaaten: Huey P. Long und George C. Wallace Die Politik des New Deal markiert eine Zäsur in der amerikanischen Geschichte. Viele Populisten setzten ihre Hoffnung auf die mit dem New Deal eingeleitete Politik des Staatsinterventionismus und des beginnenden Wohlfahrtsstaates, zumal Präsident F. D. Roosevelt in seiner Rhetorik populistische Topoi aufgriff und versprach, eine Politik gegen die Mächte des großen Geldes, zugunsten des forgotten man zu betreiben. Doch schon bald wandten sich populistische Wortführer, denen Roosevelts Politik nicht weit genug ging, enttäuscht vom Präsidenten ab. Inzwischen hatte sich aber auch die soziale Basis des Populismus verändert. Er war nicht mehr nur eine Bewegung mittelständischer Farmer, sondern richtete sich zunehmend auch an städtische Bevölkerungsschichten, die zu den Verlierern der Weltwirtschaftskrise gehörten sowie an jene armen Weißen in den Südstaaten, deren Lage desolat war. Während also die moderaten und ökonomisch besser gestellten populistischen Kräfte im New Deal aufgingen, blieben jene perspektivlosen, verarmten Kräfte übrig, die von den populistischen Führern der Zwischenkriegszeit mehr und mehr nach rechts mobilisiert wurden. Redebegabte Demagogen bemächtigten sich, auch mit Hilfe moderner Kommunikationsmedien, dieses frei flottierenden Potentials von Deklassierten, das sie nicht mehr als aktives, sich selbst organisierendes Volk, sondern als passive Masse ansprachen und in ihren Ressentiments bestärkten. Die nun einsetzende Phase wirft zahlreiche Fragen auf. Handelt es sich bei den politischen Sozialrebellen der 1930er Jahre noch um Populisten, schon um Semifaschisten oder um Faschisten im vollen Wortsinn? Victor E. Ferkiss, der in seiner Populismuskritik am weitesten geht, vertritt die These, Politiker oder politische Agitatoren wie Huey Long oder Father Coughlin seien ohne Abstriche Faschisten. Sie hätten das insgesamt negative Erbe des älteren Populismus angetreten und stünden in dessen Tradition (Ferkiss in: Saloutos (Hg.) 1968: 74).
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Norman Pollack dagegen, der den amerikanischen Populismus als sozialreformerische, fortschrittliche Bewegung interpretiert, beschränkt sich wohlweislich auf den Agrarpopulismus der 1890er Jahre, schweigt aber über die in den 1930er Jahren wieder auflebenden, nunmehr rechts anzusiedelnden populistischen Tendenzen. Schon dem Werdegang eines so prominenten populistischen Führers wie Tom Watson von links nach weit rechts steht Pollack analytisch hilflos gegenüber. »Es gibt immer noch keine wirklich angemessene Erklärung für das, was mit ihm geschah und es wird sie vielleicht nie geben. Was auch immer die Erklärung sein mag, ist klar, dass er sich von den äußerst humanitären Anliegen, für die er in den entscheidenden Jahren seines Populismus gekämpft hatte, abwandte. In seiner weiteren Entwicklung verleugnete er alles, wofür der frühe Tom Watson gestanden hatte, insbesondere seine Verteidigung der Rechte der Schwarzen«. (Pollack in: Pollack (Hg.) 1967: 24) Es zeigt sich indessen, dass der Werdegang Tom Watsons nur ein frühes Beispiel für eine Entwicklung ist, die in den dreißiger Jahren nicht mehr als verwirrende, nur individualpsychologisch erklärbare Fehlentwicklung eines Einzelnen abgetan werden kann. Andere Populisten wie James Davis, genannt der Zyklon, folgten ihm auf dem Weg nach rechts und die Frage nach Kontinuitäts- und Bruchlinien dieser Bewegungen der Zwischenkriegszeit zu dem älteren Agrarpopulismus steht im Raum.
Die soziale Basis des Populismus in den 1930er Jahren Neben der LIPA, die unter Deweys Vorsitz den Weg zu einer amerikanischen Version der britischen Labour Party beschritt und den linken, zugleich auch den intellektuellen Flügel des Populismus ausmachte, können zwei weitere Varianten unterschieden werden: Die La Follette-Norris Gruppe im mittleren und Nordwesten und die populistischen Gruppierungen im Süden und Südwesten mit Vertretern wie Tom Watson, Huey P. Long und George C. Wallace. Robert M. La Follette und George W. Nortis hatten ihre Anhänger vor allem in den Agrargebieten des mitderen Westens mit Schwerpunkt in Wisconsin, wurden aber auch von den Gewerkschaften der
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Facharbeiter, vor allem im Eisenbahnbau, unterstützt. Nicht grundsätzlich antikapitalistisch, traten die beiden Politiker doch für die Verstaatlichung der Eisenbahn ein und kämpften im Kongress für Steuerreformen zugunsten des »gemeinen Mannes«. 1924 trat La Follette mit einem gemäßigt populistischen Programm als Präsidentschaftskandidat einer dritten Partei, der Progressive Party, an, ein Versuch, den Dewey, wie erwähnt, 1930 mit dem populistischen, aber in der republikanischen Partei angesiedelten George W. Nortis wiederholen wollte, was aber scheiterte. Wirtschafts- und sozialpolitisch traten die beiden WeststaatenPolitiker für eine gerechte Besteuerung und für Staatssubventionen zugunsten von Farmern und kleinen Geschäftsleuten ein. Außenpolitisch vertraten sie eine pazifistisch-isolationistische Position, die weniger auf einem ideologisch ausgeprägten Nationalismus als auf einem lebensweltlichen Patriotismus beruhte. In der Vorphase des Zweiten Weltkriegs waren sie entschieden gegen einen Kriegseintritt der USA und gegen die internationalistischen Tendenzen in der amerikanischen Außenpolitik.
Populismus in den Südstaaten Interessanter als diese gemäßigt liberal-populistische, mittelstandsorientierte Gruppe sind zweifellos die populistischen Gruppierung in den südlichen und südwestlichen Landesteilen, weil gerade sie es sind, die die Einschätzung des Populismus als Protofaschismus zu stützen scheinen. Während der Agrarpopulismus im mittleren Westen seine Basis in einer vergleichsweise stabilen Mittelschicht und in Teilen der hoch qualifizierten und gut bezahlten Arbeiterschaft hatten, rekrutierten sich die Populisten im Süden aus schon deklassierten oder von sozialem Abstieg bedrohten weißen Mittelschichten, was der Historiker C. Vann Woodward sarkastisch verneint: Nur wenige Populisten in den Südstaaten seien von Abstiegsängsten geplagt gewesen, aus dem einfachen Grund, weil es für die meisten von ihnen gar nicht mehr weiter nach unten gehen konnte (Woodward in: Saloutos (Hg.) 1968: 83). Der Pendelausschlag von linken Forderungen und rechten, rassistisch-antisemitischen Einstellungen ist hier ent-
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sprechend größer. Drei Beispiele seien genannt: Thomas (Tom) E. Watson (1865-1922), Huey P. Long (1893-1936) und George C. Wallace (1919-1998).
Tom Watson — vom linken Populisten zum Reaktionär Tom Watson begann als Linker und endete als Demagoge der »weißen Vorherrschaft«. Er entstammte der kinderreichen Familie eines Plantagenbesitzers in Georgia und machte in seiner Familie die Erfahrung des sozialen Abstiegs. Vor seiner politischen Karriere war Watson als Anwalt tätig, später auch als Zeitschriftenverleger und Publizist. Als nach Ende des Bürgerkriegs der von den Nordstaaten ausgehende Einfluss des Kapitalismus wuchs, vertrat Watson die Interessen der kleinen Südstaatenagrarier und verteidigte die alte, traditionalistische Lebensweise im Süden der USA. Er stieg zu einem der Führer der Farmers' Alliance im Süden auf, trat an der Seite von Schwarzen als Sprecher der Populist Party ans Rednerpult und wurde von zahlreichen schwarzen Landarbeitern unterstützt. Watson engagierte sich für die Erziehung der Massen, auch der Schwarzen, denn das Volk müsse selbst die Initiative ergreifen für eine demokratischere Gesellschaft. Er prangerte Korruption, Bestechung und Wahlbetrug bei den Demokraten in den Südstaaten an, warnte vor dem »modernen Feudalismus« der großen Korporationen, die die Bürgerfreiheit untergraben und stellte sich an die Seite der Arbeiter in ihrem Kampf gegen das Pinkerton System, die Bespitzelung der Arbeiter durch Detektive und Werkspolizei. 1896 trat Watson als Kandidat für das Amt des Vizepräsidenten an der Seite von William J. Bryan an. Ursprünglich hatte Watson sich für die Gleichstellung der Schwarzen im Süden stark gemacht, schwenkte aber um, als er und seine Anhänger glaubten, dies führe unter dem Einfluss der Nordstaaten-Demokraten zu deren Vorherrschaft. In nur vier Jahren, zwischen 1904 und 1908, mutierte Watson von einem Verfechter der Sache der Schwarzen — so trat er beispielsweise entschieden gegen das Lynchen auf — zu einem Sprecher der weißen, rassistischen Mit-
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telschicht und forderte unter anderem die Neuorganisation des Ku Klux Klan. Das Verschwörungssyndrom vieler Populisten nahm bei ihm paranoide Formen an, glaubte er doch an eine Verschwörung der katholischen Kirche, die seine Veröffentlichungen hintertreibe. Als 1913 der jüdische Amerikaner Leo Frank fälschlich des Mordes an einer jungen Arbeiterin in seiner Fabrik bezichtigt und ihm der Prozess gemacht wurde, polemisierte Watson öffentlich gegen den schädlichen Einfluss der Juden und heizte damit den Mob an, der Frank zwei Jahre später aus dem Gefängnis zerrte und lynchte. Watson ist nur eines der herausragenden Beispiele für die faschistoiden Tendenzen, die der Populismus unter bestimmten historischen und sozialen Bedingungen ausbilden kann. Als Südstaatier verfocht Watson die Interessen der vom Industriekapitalismus bedrohten Farmer, deren Ideal im »alten Süden« vor dem Bürgerkrieg lag. Dem wachsenden Einfluss der modernen, industriell entwickelten Nordstaaten standen sie feindlich gegenüber. Nachdem sich in den 1890er Jahren die Südstaaten-Populisten für ein Bündnis mit Schwarzen ausgesprochen hatten, fühlten sie sich in ihrer Perspektivlosigkeit und Abstiegsangst zu Beginn des 20. Jahrhunderts zunehmend durch Verschwörungen von allen Seiten bedroht und reagierten, wie Watson, vehement mit Rassismus und Antisemitismus.
Kompensatorische Kämpfe in den Südstaaten Der Vergleich zwischen dem Agrarpopulismus im Westen und dem in den Südstaaten zeigt Folgendes: In den mitderen und nördlichen Landesteilen vertraten Populisten eine relativ stabile Mittelschicht und gut bezahlte, qualifizierte Facharbeiter. Ihre Forderungen blieben gemäßigt; sie konzentrierten sich auf wirtschafts-, finanz- und sozialpolitische Fragen und traten als agrarische Interessenvertretung mit durchaus rationalen geldpolitischen Konzepten auf. Rassismus spielte hier schon deswegen keine Rolle, weil sich die Frage nach dem Umgang mit einer politisch relevanten schwarzen Bevölkerung im mitderen Westen gar nicht stellte.
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In den Südstaaten dagegen gab es nicht nur dieses Problem, sondern darüber hinaus stand eine ganze Lebensweise und Tradition auf dem Spiel. Der Populismus verstand sich hier als Antwort auf eine tiefgehende Identitätskrise der weißen Mittelschichten, die über soziale Abstiegsängste hinausging. In stärkerem Maße als in den westlichen Landesteilen wurde die Wende nach dem Bürgerkrieg als Kulturschock empfunden, als Einbruch der Moderne von außen, vertreten durch die in den Großstädten des Nordens angesiedelten Kräfte des Geldes, die großen Korporationen, den Industriekapitalismus und die von den Nordstaaten ausgehende Emanzipation der Schwarzen. Es war der Kampf des alten Südens gegen den neuen des Industriezeitalters, nicht aber gegen die alten aristokratischen Großgrundbesitzer in den Südstaaten. Während sich die Lage der Schwarzen im Vergleich zu ihrem ehemaligen Sklavenstatus verbesserte, verarmten zahlreiche Weiße und sahen keine Perspektive mehr. In dieser als ausweglos erfahrenen Situation gewannen bereits vorhandene sozialpsychologische Einstellungen zusammen mit verschwörungstheoretischen Erklärungsansätzen die Oberhand. Hinzu kommt in den dreißiger Jahren der Aufstieg des Faschismus in Europa, der vielen als Modell für den angestrebten dritten Weg zwischen Kapitalismus und Kommunismus erschien. Welche Einfärbung der Populismus annimmt, hängt also in hohem Maße von seiner sozialen Basis und dem Grad der Anomie ab, in der diese sich befindet. Bei den sozial stärker bedrohten oder schon verelendeten Schichten kommt es dabei zu einer Fokusverschiebung. Im Zentrum ihrer Sorgen und Ängste stehen, auch als Folge ihrer Enttäuschungen über den New Deal, nicht mehr konkrete wirtschafts-, finanz- und sozialpolitische Forderungen, sondern diese werden überlagert von moralisch-kulturellen Schwerpunkten, psychologisch gesprochen durch Evasion und Fluchtbewegungen. Ein Analytiker des amerikanischen Populismus der 1930er Jahre, David J. Saposs, hat dies als »kompensatorische Kriegführung« bezeichnet und schreibt: »Weil sie ihre ökonomische Schwäche spüren, suchen die ökonomisch instabilen Teile der Mittel- und Arbeiterschicht eine Kompensation, indem sie moralische, religiöse, rassistische und kulturelle Themen in den Vordergrund stellen. Da sie sich
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ökonomisch unterlegen fühlen, versuchen sie, sich auf nicht-ökonomischen Feldern zu behaupten. [...] Es ist leichter, sich gegenüber Minderheiten und anderen hilflosen Gruppen, auch gegenüber Menschen, die religiös, rassisch oder herkunftsmäßig anders sind, überlegen zu fühlen, als machtvolle kapitalistische Interessen anzugreifen. [...] Natürlich bieten sich diese nicht-ökonomischen Themen schneller für emotionale und demagogische Appelle an. [...] Die stabileren Mittelschichtelemente, bestehend aus substantiell gefestigten kleinen Kaufleuten, Farmern und besser bezahlten Facharbeitern, sind in sich ruhender als ihre weniger gut gestellten Standesgenossen. Ihr vergleichsweise höherer ökonomischer Status gibt ihnen eher das Gefühl von Sicherheit und Selbstvertrauen. Sie haben daher im Allgemeinen kulturelle Themen ökonomischen und politischen untergeordnet«. (Saposs 1935: 415f.)14 Auch wenn sich der Unterschied zwischen Populismus und Faschismus nicht trennscharf markieren lässt, so ist er doch vor allem hier zu suchen, in der Fokusverschiebung weg von sozio-ökonomischen Forderungen hin zu kompensatorischen Kämpfen um Rasse, weiße Vorherrschaft, antisemitische Verschwörungssyndrome und die Suche nach Sündenböcken als psychologische Verarbeitungsform von Frustrationen und sozialen Minderwertigkeitskomplexen. Erst die Fokusverschiebung macht die Ausbeutung dieser Tendenzen durch semifaschistische, charismatische Führer möglich. Es zeigt sich, dass der amerikanische Agrarpopulismus insgesamt reformerisch ausgerichtet blieb und dies gilt auch für die Südstaaten an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Dort waren es gerade die Populisten, die sich für die Aufhebung der Rassentrennung einsetzten. Auch waren sie nicht antisemitischer als andere Amerikaner
14 Solche um Identitäten und religiös-moralische Fragen kreisende Themen werden in den USA als social issues bezeichnet. Darunter versteht man keine sozialen Themen in unserem Sprachgebrauch, sondern kulturelle, postmaterialistische Themen, die um die Verteidigung von Gruppenidentitäten, die Rechte von Minderheiten oder um weltanschaulich kontroverse Themen wie Abtreibung oder den Umgang mit Homosexuellen kreisen. Die Forderung, die in Kulturkämpfen trennenden soäal issues auszuklammern zugunsten von ökonomischen und politischen, spielte in der Kampagne des Populisten Ross Perot in den neunziger Jahren erneut eine zentrale Rolle.
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und sogar weniger nationalistisch oder nativistisch eingestellt als in anderen Landesteilen. Semifaschistische Bewegungen hatten dagegen in den städtischen Mittel- und Unterschichten einen günstigeren Nährboden als auf dem Land. Ein prominentes Beispiel ist hier der Radiopriester Father Coughlin, der sich bereits des damals modernsten Massenkommunikationsmittels, des Radios, bediente, um landesweit für seine Sache zu mobilisieren. Zusammenfassend kann man feststellen: Je bodenständiger und sozial abgesicherter Populisten sind, desto weniger sind sie für faschistische Propaganda anfällig. Sie bleiben Reformer. Je mehr sich die Basis jedoch in städtische Unterschichten, Arbeitslose und das weiße Subproletariat verlagert und je mehr diese Menschen von der staatlich initiierten Reformpolitik Roosevelts enttäuscht wurden, desto leichter fielen sie Demagogen, Hasspredigern und politischen Scharlatanen in die Hände, die diese Frustrationen ausbeuteten. Populismus ist also nicht per se und von vornherein faschistoid, sondern er wird es unter bestimmten Bedingungen. Man muss ihn daher als Prozess studieren, nicht als unveränderliche, von Beginn an protofaschistische Größe oder umgekehrt als eine durchgängig positive, fortschrittliche und demokratische Kraft. Vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise, der Massenarbeitslosigkeit, des sozialen Elends und der ungeheuren Anhäufung von Reichtum in den Händen weniger nahm der amerikanische Populismus in den 1930er Jahren erneut einen Aufschwung. Dabei traten auch Kirchenmänner als Agitatoren auf. Zu den prominentesten Volkspredigern gehörten der Radiopriester Charles W. Coughlin, der seit Ende der zwanziger Jahre wöchentlich Predigten über den Rundfunk hielt. Zu Beginn seiner Aktivitäten gehörte Father Coughlin zu den Anhängern Präsident Roosevelts, wandte sich aber von ihm ab, als ihm dessen Politik nicht weit genug ging. Roosevelt habe versprochen, die Wechsler aus dem Tempel zu jagen, habe aber nur bewirkt, dass Farmer von ihren Höfen gejagt würden. Er sei nur ein Lügner und Betrüger. In den dreißiger Jahren war der Einfluss Father Coughlins gewaltig; über das Radio erreichte er Millionen von Zuhörern und gründete Mitte der dreißiger Jahre die »Nationale Vereinigung für soziale Gerechtigkeit«. Er prangerte das internationale Banksystem an; Wall
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Street war auch für ihn das rote Tuch und er forderte eine andere Geldpolitik. Father Coughlin zeigte offen Sympathien für den Faschismus, der seiner Vorstellung von einem dritten Weg zwischen laissez faire-Kapitalismus und Bolschewismus entsprach. Antisemitische, auch gegen die Aufnahme von jüdischen Flüchtlingen in die USA gerichtete, Parolen dominierten zunehmend in seinen Sendungen, bis der Vatikan schließlich diesen populären Demagogen zur Ordnung rief und ihm seine öffentlichen Auftritte untersagte. Der Einfluss dieses Hasspredigers, in dessen Reden die sozialen Themen mehr und mehr zugunsten von Sympathiekundgebungen für Hitler in den Hintergrund traten, kann nicht hoch genug veranschlagt werden. Ein weiterer, ähnlich demagogisch auftretender Kirchenvertreter war der Methodistenprediger Father Cox mit seiner Organisation der Green Shirts, der unter Arbeitslosen, Kriegsveteranen und subproletarischen Schichten großen Zulauf hatte.
Huey Long, der Kingfish von Louisiana Zu den umstrittensten amerikanischen Populisten der Zwischenkriegszeit gehört der Gouverneur von Louisiana, Huey P. Long (1893—1935), der im Alter von nur 42 Jahren einem Mordanschlag zum Opfer fiel. Seine Gegner warfen ihm vor, wie ein Diktator über Louisiana geherrscht zu haben. Im Nachruf der New York Times vom 11. September 1935 hieß es: »In seinem eigenen Staat von Louisiana zeigte er, wie es möglich ist, die Demokratie unter Beibehaltung ihrer äußeren, legalen Form abzuschaffen. [...] Tatsächlich hat Senator Long in Louisiana ein nur spärlich verhülltes faschistisches Regime errichtet. Äußerlich gab es keine Anzeichen einer Revolution, keinen Marsch von Schwarzhemden auf Baton Rouge, aber das Ergebnis war doch, alle Macht im Staate in die Hand eines Mannes zu legen. Sollte der Faschismus jemals nach Amerika kommen, wird es auf diese oder ähnliche Weise geschehen«. (Zit. nach Wall 2003) Long entstammte der kinderreichen Familie eines Farmers aus Winn Parish, einem kleinen Ort mit langer populistischer Tradition. Long war Schulabbrecher und bereiste das Land als Handelsvertreter, dem die Fähigkeit nachgesagt wurde, schlechterdings alles verkaufen
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zu können. In kürzester Zeit absolvierte er ein Jurastudium und wurde Rechtsanwalt. Unter dem Spitznamen The Kingfish15 wurde er, nominell auf der Liste der Demokraten, 1930 in den Senat gewählt und war zwischen 1928 und 1932 Gouverneur seines Heimatstaates. Als populistischer Anwalt des »kleinen Mannes« kämpfte er in Louisiana in einem Dreifrontenkrieg gegen die bis dahin herrschende konservative Oligarchie der Bourbon Democrats, die großen Industriekonzerne wie die Standard Oil Company, offiziell auch gegen den Ku Klux Klan, eine der bedeutendsten Geheimorganisationen, die sich nach dem Bürgerkrieg im Süden gebildet hatten und die, gegen Katholiken, Juden, Pazifisten, Schwarze und Ausländer gerichtet, die Vorherrschaft des weißen Mannes mit angelsächsisch-protestantischem Hintergrund mit Terrormethoden verteidigten. Tatsächlich spielte Long gegenüber dem Klan, der in dem zur Hälfte katholischen Louisiana aber nicht so verbreitet war wie in Alabama unter George C. Wallace, ein Doppelspiel und manövrierte zwischen öffentlicher Ablehnung und geheimen Verbindungen (vgl. Hair 1991: 135). Huey Long sprach vor allem kleine Geschäftsleute, die armen Weißen in ländlichen und städtischen Gebieten und die Hinterwäldler (hillbillies) an, insgesamt wenig gebildete, frustrierte, arme Schichten, darunter viele Analphabeten. Um 1920 hatte Louisiana, einer der ärmsten Bundesstaaten, eine Analphabetenquote von 20 Prozent. Häufig berief sich Long in seinen Ansprachen auf die Bibel als einzige Schrift, deren Inhalt diesen Menschen vertraut war. Auch in seinen Kongressreden bezog er sich auf die Gebote des Alten Testaments, insbesondere auf Leviticus, 25,10, wo es heißt, alle sieben Jahre solle es einen Schuldenerlass geben und alle fünfzig Jahre, im Jubeljahr, solle jeder wieder in seinen Besitz und seine Familie eingesetzt werden. Long schloss häufig mit den Worten: »Höre mich, Volk von Amerika, Gottes Gesetze leben auch heute fort. Halte sie ein und niemand wird leiden.«
15 Der Spitzname beruht auf einem nicht übersetzbaren Wortspiel. Long meinte, in der nationalen Politik sei er nur ein kleiner Fisch, in Louisiana dagegen ein König.
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Longs Programm: Reichtum teilen Bekannt und in Louisiana beliebt, wegen seiner autoritären Methoden aber auch umstritten, wurde Long durch sein Programm Share Our Wealth (Reichtum teilen). Long forderte ein garantiertes Mindesteinkommen von jährlich 5.000 Dollar, die Reduzierung der Einkommensschere auf ein Verhältnis von 1 zu 300, Renten für Menschen ab dem sechzigsten Lebensjahr, Arbeitszeitverkürzung, progressive Besteuerung, ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen Agrarproduktion und Konsum durch Reduzierung von Überproduktion. Er initiierte eine Alphabetisierungskampagne für Erwachsene, was vor allem der schwarzen Bevölkerung zugute kam, setzte sich für Reformen in der Psychiatrie und für ein Resozialisierungsprogramm für Strafgefangene ein. Aber von einer Politik zur Gleichstellung der Schwarzen, sei es am Arbeitsplatz oder bei der Aufhebung der Rassentrennung in Schulen, hielt er sich fern. Er betreibe keine Politik speziell für »Nigger«, sondern für alle Armen im Lande. Seine Politik beruhe auf dem Klassengegensatz, nicht auf dem der Rassen. In seinem rassistischen Umfeld war er darum bemüht, nicht als nigger lover zu erscheinen (ebd.: 170). Amerika müsse sich, so Long, entscheiden zwischen drei Optionen: 1. der Alleinherrschaft des großen Geldes und der Finanzmagnaten, was er den »modernen Feudalismus« nannte, 2. dem Kommunismus oder 3. dem von ihm mit dem Programm Share the Wealth vorgeschlagenen dritten Weg. Präsident Roosevelt sei zwar angetreten mit dem Versprechen, Reichtum zu verteilen. Unter seiner Präsidentschaft sei aber nur das Staatsdefizit gestiegen und die Arbeitslosenquote auf die horrende Zahl von 20 Millionen angewachsen. Als Gouverneur von Louisiana setzte Long sich für öffentliche Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, vor allem im Straßen- und Brückenbau ein, für kostenlose Schulbücher und weitere sozialstaatliche Maßnahmen, was ihm die Gegnerschaft der fiskalpolitisch konservativen Kräfte und des Großkapitals eintrug. Umstritten waren vor allem Longs politische Methoden. Mit großem Geschick, rabiat im Auftreten, skrupellos in den Methoden, setzte er Familienmitglieder und Freunde an die politischen Schaltstellen, belohnte seine finanziellen Förderer mit öffentlichen Aufträgen, duldete weder öffentli-
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che Kritik noch Widerspruch und attackierte seine Gegner mit scharfem Mundwerk. Der gegen Long erhobene Vorwurf des Faschismus bezog sich damals, Anfang der dreißiger Jahre, zum einen auf die von Long gewählten Methoden, darunter auch die Nutzung moderner, massenwirksamer Kommunikationstechniken wie Postwurfsendungen, mit Mikrofonen ausgestattete Lastwagenkolonnen, die über Land zogen, und vor allem Radioansprachen, in denen der Gouverneur mit einer drastischen, aber populären Rhetorik die Massen erreichte. Der Vorwurf bezog sich zum anderen aber auf Longs Politik zugunsten der unteren Bevölkerungsschichten durch einen intervenierenden Staat. Unter Faschismus verstanden seine wirtschaftsliberalen Gegner eine sozialstrukturelle »Revolution«, die nicht nur zum Verlust der politischen Freiheit, sondern vor allem der Wirtschaftsfreiheit führen werde. Faschist war für sie ein Synonym für Bolschewist oder Kommunist (Le Vert 1995: 66). Vor allem der Medienmogul William R. Hearst hielt Long, aber auch Roosevelt, für einen Marxisten-Leninisten, dessen Ideen dem Hirn eines orientalischen Fanatikers, Nicolai (sic) Lenin, entstammten (Hair 1991: 296f.). Long, der anfangs zu den Anhängern des New Deal gehört hatte, wandte sich bald von Roosevelt ab, dessen Politik ihm zu halbherzig war. Mit seiner weit über Louisiana hinaus verbreiteten Massenorganisation Share the Wealth erreichte Long Millionen von Menschen und galt zu Beginn der dreißiger Jahre als der gefährlichste Mann im Lande. Ab 1932 tat sich der Präsident daher mit Longs Gegnern in Louisiana, just denen, die gegen die auch von ihm selbst betriebene wohlfahrtsstaatliche Politik opponierten, zusammen, um den wachsenden Einfluss seines Gegenspielers einzudämmen. Untersuchungen zu Longs Patronagesystem setzten ein, Bundesgelder für Louisiana wurden gekürzt, Morddrohungen wurden laut. Long antwortete, indem er die Wahlsteuer abschaffte; erstmalig konnten die Bürger von Louisiana wählen, ohne für das Wahlrecht bezahlen zu müssen. 1935 entschloss sich Long, als Gegenkandidat Roosevelts zu den 1936 anstehenden Präsidentschaftswahlen anzutreten. Dieser geplante Griff nach der Macht in Washington und Longs Ermordung 1935 hat zu ähnlichen Mutmaßungen und Verschwörungstheorien
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geführt wie anlässlich des gewaltsamen Todes von John F. Kennedy. Die Motive für Longs Ermordung sind bis heute umstritten.
Populismus oder führerzentrierter Massenklientelismus? Longs Programm war längst nicht so radikal, wie seine Gegner unterstellten, für die sich Freiheit vor allem auf Freiheit von Staatseingriffen in die Wirtschaft reduzierte. Dennoch mutierte der Populismus mit einem Mann wie Long zu einer führerzentrierten Bewegung, die nicht mehr auf Selbsttätigkeit und Selbstorganisation setzte, sondern auf Wohltaten für eine politische Klientel durch den Ausbau des Staatssektors. Ist die Politik eines Huey Long angesichts dieses »Gestaltwandels« noch populistisch zu nennen oder handelt es sich bereits um einen anderen, nämlich semifaschistischen politischen Typus? Bestand das Volk für die erste Generation von Populisten noch aus dem vorwiegend bäuerlichen Mittelstand, dessen Selbstständigkeit gefördert und wiederhergestellt werden sollte, so richtete sich Long bereits mit agitatorischen Mitteln und dem Versprechen, jeder könne mit Hilfe seiner Politik ein >König< werden, an eine von staatlichen Ämtern und Zuwendungen abhängige Klientel. In seiner Eigenschaft als Gouverneur trat Long als Patron auf, der sich die Loyalität seiner Anhänger durch Patronagenetzwerke und Vetternwirtschaft erkaufte, was indessen nicht neu war. »Jeder Gouverneur von Louisiana [...] hatte mehr oder weniger Patronage eingesetzt. Aber Huey Long erhob diese Praxis zu einer Kunstform«. (Le Vert 1995: 76) Über die Organisationen zur Förderung des Straßenbaus oder im Gesundheitswesen kontrollierte der Gouverneur Tausende von Arbeitsplätzen, die er an seine Anhänger vergab, wobei er nicht zögerte, Gesetze eigenmächtig zu seinen Gunsten zu ändern. Seine Zeitung finanzierte er durch Zwangsabzüge vom Gehalt der Staatsbediensteten, die kostenlosen Schulbücher durch eine Sondersteuer für die Ölindustrie. Die bedingungslose Gefolgschaft seiner Getreuen sicherte er sich durch Blanko-Rücktrittserklärungen, auf die er im Fall von Unbotmäßigkeit jederzeit zurückgreifen konnte. Überhaupt war er wenig zimperlich in der Wortwahl und autokratisch im
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Umgang mit seinen Mitarbeitern. Einem von ihnen, der seine Sätze mit »Ich denke« einleitete, fiel der gereizte Long ins Wort: »Verdammt noch mal, halt's Maul! Wenn du denken könntest, hätte ich dich nicht in die Kommission geholt. Es wird nicht erwartet, dass du denkst«. (Ebd.: 83) Hinzu kamen schwarze Kassen in parastaatlichen Netzwerken und die Erpressung seiner Gegner mit privaten Verfehlungen, von denen er selbst mit seinem exzessiven Lebensstil und seinem Alkoholkonsum nicht frei war. »Hueys Methode war nicht Bestechung, sondern Erpressung, wobei er die Bedingungen und den Preis festsetzte«. (Hair 1991: 200) Long handelte nach der Devise, man müsse Feuer mit Feuer bekämpfen, ein Wahlspruch, den sich auch Präsident Roosevelt in seinem Kampf gegen Long zu Eigen machte. Nicht nur Roosevelt, alle Gegner Longs bedienten sich der gleichen fragwürdigen Taktiken wie er selbst, und letztlich ist seine Praxis auch an der seines Umfeldes zu messen, in dem er agierte. Nach dem Tod des Gouverneurs begünstigte der von ihm errichtete Parastaat und der Nepotismus in seinem Regime die Kleptokratie seiner Paladine, die nun ungehinderten Zugriff auf Pfründen und schwarze Kassen hatten. Das Urteil über Huey Long ist bis heute zwiespältig. »Dennoch ist der Vorwurf des Faschismus fadenscheinig, solange er nicht auch gegen die Bourbon Democrats vor ihm erhoben wird - Politiker, die weit weniger ehrenwerte Ziele im Sinn hatten, aber die gleichen Mittel der Korruption anwandten, um sich über Jahrzehnte an der Macht zu halten«. (Ebd.: 118) Die Politik Huey Longs wirft die Frage auf: Wann, wie und unter welchen Bedingungen wird Populismus zu etwas ihm Wesensfremden, nämlich zu einem führerzentrierten Massenklientelismus? Longs Politik zeigt aber auch, dass der Populismus diese Merkmale in Auseinandersetzung mit politischen Gegnern annimmt, die selbst zutiefst geprägt sind von dem, was sie an Long kritisierten, mit einem kleinen Unterschied: Er war der erste, der Louisiana aus dem >Dreck< zog, wie einer seiner Gegner einräumen musste, der erste, der für viele Menschen aus den unteren Schichten ein Hoffnungsträger war.
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George C. Wallace und die »Politik der Wut« Die Bedeutung des Begriffs »Populist« habe, so der Historiker C. Vann Woodward, im letzten Jahrhundert einen bemerkenswerten Wandel erlebt, verglichen mit dem der Demokratie. Während die Bedeutung von Demokratie sich mehr und mehr zum Positiven hin entwickelte, sank die des Populismusbegriffs im 20. Jahrhundert immer tiefer ab. Diese zunehmend negative Konnotierung des Begriffs Populismus wirft die Frage auf: Ist das, was sich mit Huey P. Long, insbesondere aber mit George C. Wallace (1919-1998) verbindet, überhaupt noch populistisch und nicht bereits an der Schnittstelle zum Faschismus? Ein Blick auf den Werdegang und die Politik dieses auch auf Bundesebene erfolgreichen Südstaatenpolitikers zeigt: Der Wandel von einer populistischen Politik zu einem führerzentrierten Massenklientelismus erreichte mit George C. Wallace seinen Höhepunkt und kulminierte in der Unterordnung der populistischen Elemente unter eine Form von Bonapartismus oder Semifaschismus. Wallace war ein von persönlichem Ehrgeiz getriebener Führer, der seine Herkunft aus den deklassierten Schichten durch skrupellosen Drang nach Macht kompensierte. Er betrieb eine Politik des Zynismus und der Prinzipienlosigkeit, die zu opportunistischen Positionswechseln führte, zur Verstrickung in ein System von Kumpanei, Vetterwirtschaft und Korruption, gepaart mit einem Habitus, der Vulgarität zum Markenzeichen erhob. Wallace liebte es, als Verkörperung des white trash aufzutreten, mit pomadisiertem, ölig glänzendem Haar und billigen Anzügen von der Stange. Gern bekundete er seine Vorliebe für Countrymusik und Ketchup. Seine erste Frau, die er als 16-Jährige geheiratet hatte, war Verkäuferin in einem Billigladen, seine dritte Ehefrau eine gescheiterte Country-Sängerin. Ein solcher Volksführer strebt die Macht nicht als Mittel für höhere ideologische Ziele an, sondern um ihrer selbst willen. Wallace habe eine »Politik der Wut« betrieben, schreibt sein Biograph Dan T. Carter. Mit ihm habe eine neue, aber pervertierte, umgekehrte (inverted) Form von Populismus begonnen, getragen von Überlegenheitswahn, Rassismus, dem Heischen nach kleinen und großen Vergünstigungen durch einen politischen Patron oder Boss in einem von Kor-
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ruption durchzogenen Klientelsystem, geprägt auch von der moralischen Verunglimpfung der politischen Gegner.
Der Werdegang des George C. Wallace Wallace war, wie schon sein Vater, ein verlorener Sohn des Bürgertums. Der Großvater war noch ein geachteter Arzt gewesen; dessen Sohn, Wallaces Vater, brachte es nur noch zum Farmer und heiratete eine Frau, die von ihrer Mutter verlassen worden war und ihre triste Kindheit in einem Waisenhaus zugebracht hatte — beschädigte Menschen, sozialer Abstieg von einer ehedem bürgerlichen Existenz, Rachegedanken, Wut und unbändiger Drang nach Aufstieg und Bedeutung. Neben dem Jurastudium war der mittellose Wallace als Tellerwäscher und Taxifahrer tätig, in den dreißiger Jahren auch als Berufsboxer. Ein solcher biographischer Hintergrund ist weder ehrenrührig noch kann er jemandem zum Vorwurf gereichen. Dennoch exemplifiziert er eine soziale Erfahrung, die zur Erklärung beiträgt, warum Wallace als Politiker die von vielen als Kränkung erfahrenen politischen und sozialen Prozesse der sechziger und siebziger Jahre auf zynische und skrupellose Art aufgreifen und damit Erfolg haben konnte. Nach dem Krieg war Wallace als Bezirksrichter tätig und engagierte sich politisch bei den Demokraten. In der Rassenfrage vertrat er zunächst eine moderate Position. Als er aber zusehen musste, wie sein Gegenkandidat mit einer vom Ku Klux Klan gesteuerten, vehement rassistischen Kampagne das Rennen machte, schwenkte Wallace bedenkenlos um. Er zog die Lehre aus dieser politischen Erfahrung und verkündete, nie wieder werde er sich aus dem politischen Geschäft »rausniggern« lassen. Fortan machte er sich einen Namen als »der kämpfende Richter« und als der »große Freund des kleinen Mannes«.
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Rassentrennung jetzt, morgen, immer Der »ehrliche« Freund der weißen Arbeiterklasse wusste, wie er seine Anhängerschaft mobilisieren konnte: Rassentrennung jetzt, Rassentrennung morgen, Rassentrennung für immer. Mit diesem Satz aus seiner von einem Ku Klux Klan-Vertreter verfassten Antrittsrede anlässlich seiner Wahl zum Gouverneur von Alabama begann 1963 der rasante Aufstieg des George C. Wallace zu einem Politiker, dem es in seinen besten Zeiten gelang, fast ein Viertel des amerikanischen Wahlvolks für sich zu gewinnen. Wallace versprach, die Vorherrschaft der angelsächsisch-stämmigen Weißen gegen das Bündnis von Kommunisten und Schwarzen zu verteidigen (Wallace 1963). In dieser Rede umriss der ansonsten theorielose, sich eher durch skrupellose Wendigkeit auszeichnende Wallace seine politische Philosophie. Wie nämlich der nationale Rassismus im Deutschland Hiders eine nationale Minderheit nach den Launen einer nationalen Mehrheit verfolgt habe, so versuche nun der internationale Rassismus der Liberalen die Weißen als Minderheit im Interesse der farbigen Bevölkerung weltweit zu verfolgen. Die Botschaft ist deutlich: Die Weißen sind eine von den farbigen Völkern verfolgte Minderheit, der international das gleiche Schicksal widerfahre wie den Juden unter Hider! Wallace bekennt sich zu einer Politik der Apartheid, da doch die amerikanische Nation nach dem Willen der Gründerväter nie eine monolithische Einheit sein sollte, sondern ein Zusammenschluss von Vielen, die nach ihren je eigenen Traditionen, Institutionen und Glaubensüberzeugungen leben sollen. Eine Politik der Gleichstellung sei nichts anderes als »kommunistische Amalgamierung«, ein Begriff, den Wallace in seinen Reden häufig verwendet. Rassenmischung heißt Gleichmacherei und diese wiederum bedeutet Kommunismus. 1964 nennt er das soeben verabschiedete Bürgerrechtsgesetz Hohn, Betrug und Täuschung. Er sei ein Konservativer und wehre sich im Namen von Freiheit, Selbstbestimmung und Volkssouveränität gegen dieses Gesetz, das die Rede-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit unter bestimmten Bedingungen — wenn sie nämlich rassistischen Aktivitäten dient — außer Kraft setzt. Auch hier dreht Wallace die Stoßrichtung des populistischen Anti-Etatismus um. Der Gegner ist nicht der Staat im Dienste des
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großen Kapitals, sondern der universalisierende, gleiches Recht für alle fordernde Rechtsstaat — eine Inversion oder Wende, die vom liberalen Verlangen nach Selbstbestimmung zur sozialdarwinistischen Selbstbehauptung der Starken oder »rassisch« Überlegenen mutiert. Drei Gegner nimmt Wallace vor allem ins Visier: die »arroganten«, »hochfahrenden«, »das Volk verachtenden« Bundesrichter, die kommunistische Gleichmacherei und Amalgamierung anstreben; die rosaroten (pinknik) social engineers, auch sie ein alter Feind von Populisten, und schließlich die liberale, angeblich von Kommunisten unterwanderte Presse. Diese Zeitungsmacher seien traditionslose Kümmerlinge. Dagegen beruft sich Wallace auf die in den Südstaaten verankerte Tradition, zu der eben von alters her auch die Rassentrennung gehöre. Von der Zentralregierung gehe heute aber Tyrannei, Despotismus und die Gefahr des Totalitarismus aus. Wallace fordert dazu auf, die »tyrannische« Macht des Staates zu zerstören, der sich anheischig macht, zu diktieren, zu verbieten, zu fordern, zu verlangen, zu verteilen, zu erlassen, zu beurteilen, was für die Gesellschaft am besten ist und dieses Urteil freien Bürgern aufzwingt. Mit dieser Botschaft konnte der umtriebige Demagoge Millionen von Amerikanern bundesweit für sich gewinnen und in gigantischen Railies für seine Sache mobilisieren. Vier Mal wurde Wallace zwischen 1963 und 1987 zum Gouverneur von Alabama gewählt, immer als »Freund« der rein weißen Arbeiterklasse. Dieser zynische Manipulator von Ressentiments nutzte sein Amt aber auch ausgiebig zur Selbstbereicherung, vertreten durch seinen Bruder Gerald, der es über lukrative Staatsaufträge quasi aus dem Nichts zu Millionenumsätzen seiner Firma brachte. Auch vor persönlichen Hetzkampagnen schreckte Wallace nicht zurück, wenn es galt, mit Hilfe des vorgeschobenen Ku Klux Klan seine Gegner ehrabschneiderisch in den Schmutz zu ziehen. Wie schon Huey Long, gab sich Wallace nicht mit seiner Stellung als Landesfürst zufrieden, sondern strebte nach Höherem. Vier Mal ließ er sich als Präsidentschaftskandidat aufstellen, machte aber keinen Hehl aus seiner Ablehnung der beiden großen Parteien, die sich keinen »Deut« voneinander unterschieden. 1968 gründete er daher eine eigene Partei, die American Independent Party, und lag in Meinungsumfragen bei 21 Prozent, nur 9 Prozent hinter dem republika-
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nischen Kandidaten Richard Nixon. Vier Jahre später, im Wahlkampf 1972, musste Nixon ernsthaft befürchten, Wallace könnte ihm die Stimmen der weißen Arbeiter- und Mittelschichten abspenstig machen, was den Kandidaten der Demokaten, McGovern, dem Sieg näher gebracht hätte. Nixon war daraufhin der erste republikanische Politiker, der die traditionell konservative Basis seiner Partei um jenes Potential der weißen Unter- und Mittelschichten erweiterte, die bis dahin für die Demokraten gestimmt hatten. Deutlich zeigte sich hier die Funktion von Wallace als populistischer Agenda-Setter. Er stellte die von den beiden großen Parteien vernachlässigten Themen in den Vordergrund. Das Parteienestablishment griff sie auf und machte sie sich, wenn auch in verwässerter Form, zu Eigen. Nixon, der seinen Beinamen tricky Dick nicht zu Unrecht trug und auch später vor illegalen Machenschaften und Manipulationen nicht zurückschreckte, begann, Wallace zu erpressen. Zur Erfassung und Bespitzelung seiner Gegner hatte Nixon eine Sondereinheit, den Special Services Staff, eingerichtet, mit dessen Hilfe er belastendes Material gegen Wallace sammelte, vor allem Fälle von Korruption und Begünstigung seines Bruders Gerald sowie weiterer Mitarbeiter durch Staatsaufträge. Nixons Erpressung hatte Erfolg. Anfang 1972 zog Wallace seine Kandidatur zurück, aber im Mai 1972 kam es zu jenem Attentat, das den vitalen, umtriebigen Vollblutpolitiker zum querschnittgelähmten Krüppel machte. Bis heute steht die Vermutung im Raum, Nixon habe hinter dem Attentat gestanden, weil er befürchtete, dem Rücktrittsversprechen des trickreichen und wendigen Wallace, der Nixon in dieser Hinsicht das Wasser reichen konnte, sei nicht zu trauen.
Die Inversion des amerikanischen Populismus durch Wallace War der amerikanische Populismus bis zu Wallace gegen Banken, Großkapital, unsoziale laissez-faire-Marktwirtschaft und gegen das mit den »Großen« im Bunde stehende Parteienestablishment angetreten, so brach Wallace in den sechziger und siebziger Jahren mit dieser langen populistischen Tradition. Diese Jahre waren geprägt von der Bürgerrechtsbewegung, von Jugendprotest und Gegenkultur, von
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Wertewandel, Frauenemanzipation und anderen social issues, die vielen weißen Unter- und Mittelschichtamerikanern als Bedrohung ihres konservativen Wertehorizonts erschienen. Während ihre Löhne stagnierten und zunehmend Frauen als Konkurrenz auf den Arbeitsmarkt drängten, mussten sie erleben, wie wohlfahrtsstaatliche Programme auf ihre Kosten und mit ihren Steuergeldern zugunsten von Schwarzen und anderen Benachteiligten ausgebaut wurden. Die alten bürgerlichen Tugenden Disziplin, harte Arbeit, Familiensinn, Sparsamkeit, Ordnung waren entwertet worden von einer anti-autoritären Jugend und von liberalen Politikern, die das Ende der Rassensegregation in den Schulen forderten, ihre eigenen Kinder aber auf teure Privatschulen in rein weißen Wohnvierteln schickten. Kurzum, die linken Politiker betrieben aus der Sicht der weißen Arbeiter- und Mittelschicht eine heuchlerische Politik, unter der sie selbst nicht zu leiden hatten, wohl aber der »gemeine Mann«. Wallace machte sich diesen Stimmungswandel zunutze und leitete eine Kehrtwende des Populismus ein. Die wahren Probleme lägen nicht bei Big Business, dem klassischen Gegner des Populismus, sondern bei den Folgen einer zu weichen, zu toleranten und feigen Politik auf Bundesebene. Mit dem Kampf gegen Big Government knüpft Wallace zwar nominell an den älteren Populismus an, drehte aber auch hier den Spieß um: Gemeint war nun nicht mehr die Regierung im Dienste des Großkapitals, sondern als Agentur der Wohlfahrtspolitik und als Anwalt des Rechtsstaates, mit dessen Hilfe die Rassentrennung in den Südstaaten aufgehoben werden sollte. Im Zuge der von ihm forcierten Rassentrennungspolitik in Alabama hatte Wallace die Nationalgarde seines Bundesstaates ein-gesetzt, um den Zugang schwarzer Schüler zu >weißen< Schulen zu verhindern, woraufhin Präsident Kennedy die Garde kurzerhand dem Bund unterstellte. Freilich war Wallace nicht der einzige Südstaatenpolitiker, der sich auf diese Weise hervortat. Auch der Gouverneur von Arkansas suchte in der Hauptstadt Little Rock mit Gewalt, den Zugang schwarzer Schüler zu bislang weißen Schülern vorbehaltenen Schulen zu verhindern, was dort zum Einsatz von Bundestruppen führte. Washington und die Bundespolitiker wurden daraufhin das bevorzugte Angriffsziel des Gouverneurs von Alabama. Die Haupt-
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Stadt war nicht mehr das alte populistische Symbol für eine Politik zugunsten der großen Korporationen, sondern mutierte zu einer Sammelstelle von Liberalen, Kommunisten, intellektuellen »Eierköpfen« und traditionslosen Bundesrichtern, die, unterstützt von der Oststaatenpresse, die Vorherrschaft des weißen Mannes untergrüben. Fernab von den Sorgen und Nöten des »kleinen Mannes« führe ihre Politik zu Werteverlust und sozialer Auflösung. Wallace benannte und schürte das, was den durchschnittlichen Amerikaner, den common man, nicht nur in Alabama, sondern auch in den Industriezentren des Nordens zutiefst verunsicherte und Gefühle von Ohnmacht, Wut und Frustration auslöste: Wachsende Kriminalität, Rassentumulte in den Innenstädten und nicht zuletzt »Trittbrettfahrer« und »Schmarotzer« des Wohlfahrtsstaates. Schon 1964 hatte Wallace erklärt, Südstaader zu sein sei nicht länger eine Frage der Geographie, sondern eine der Philosophie und Lebenseinstellung. Zugleich war der »große Freund des kleinen Mannes«, der in seinem Heimatstaat auf die Stimmen der Schwarzen angewiesen war und diese ab den siebziger Jahren auch in hohem Maße mobilisieren konnte, zunehmend darauf bedacht, offen rassistische Äußerungen zu vermeiden. Aber jeder wusste, wer mit »wachsender Kriminalität« gemeint war: die Schwarzen; wer mit den Empfängern von Wohngeld oder Sozialhilfe gemeint war: wiederum die Schwarzen, darunter viele Mütter im Teenage-Alter, die uneheliche Kinder in die Welt setzten, um es sich in der sozialen »Hängematte« bequem zu machen, auf Kosten des arbeitsamen, pünktlich seine Steuern zahlenden »gemeinen Mannes«. Der Feind hieß fortan nicht mehr Wall Street, sondern der Wohlfahrtsschmarotzer und der (schwarze) Kriminelle. Wallace bereitete mit dieser Inversion des populistischen Diskurses den Weg für die Politik Ronald Reagans.
Eine Wendepolitik zwischen Konservatismus, Populismus und Faschismus Ende der siebziger Jahre, als der kulturelle Wind sich gedreht hatte und selbst die Geschäftswelt von Alabama das rassistische Image ihres Gouverneurs als peinlich empfand, schwenkte Wallace abermals
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um und entschuldigte sich nun öffentlich für seine Rassenpolitik. Er sei falsch verstanden und einseitig interpretiert worden. Nie habe er sich gegen die Schwarzen gerichtet, sondern nur eine »faire« Trennung befürwortet, die beiden Ethnien, Weißen wie Schwarzen, zugute gekommen wäre. Es folgten öffentlich zelebrierte Sühnegesten, die mediale Inszenierung von tiefer Zerknirschung und Reue, Händeschütteln mit dem schwarzen Politiker Jesse Jackson und nicht zuletzt gemeinsame Bibellektüre — der in den USA immer wirksame symbolische Akt für Vergeben und Vergessen. Sind George C. Wallace und vor ihm schon Huey P. Long die schwarzen Schafe des amerikanischen Populismus, die von nachfolgenden populistischen Bewegungen und der Populismusforschung ausgeklammert werden? Oder hat ihre Politik der Inversion dazu geführt, dass diese beiden Politiker, wie auch Father Coughlin und zahlreiche andere, nicht mehr zur politischen Familie des Populismus gerechnet werden können, sondern zu der des Faschismus? Dafür sprechen nicht zuletzt auch die Organisationsform nach dem Modell von Führer und klientelistischer Gefolgschaft sowie die Okkupation des Staatssektors zwecks Verteilung von Pfründen und nepotistischer Günstlingswirtschaft. Welchen Weg der Populismus einschlägt, ob eher zu einem staatsinterventionistischen Wohlfahrtsstaat (dem sozialdemokratischen Modell) oder eher zu einem führerzentrierten Massenklientelismus (dem bonapartistischen oder semifaschistischen Modell), hängt von zahlreichen Faktoren ab, vorrangig von der sozialen Basis und der politischen Kultur eines Landes. Fest steht aber, dass Populismus in >Reinform< nicht regimefähig ist und in jedem Fall in die eine oder andere Richtung mutieren muss, damit aber qualitativ etwas anderes wird. Dies gilt vor allem für Länder wie die USA, die keine christdemokratische Volkspartei kennen. Christdemokratische Parteien oder andere große Sammlungsbewegungen wie der französische Gaullismus haben in Europa populistische Tendenzen absorbieren können, bevor sie, wofür wiederum Italien das eindrucksvollste Beispiel ist, all jene Züge der Verkrustung und Verfilzung ausgebildet haben, gegen die neue soziale Bewegungen, darunter auch die populistische Lega Nord, Sturm gelaufen sind.
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4.4 Die 1970er Jahre: Populismus und Postmodernismus Auf ganz andere Weise ambivalent sind auch jene Tendenzen, die in den USA seit den siebziger Jahren als »neuer«, aber linker Populismus auftreten. Die Vertreter dieser Richtung berufen sich wiederum auf die von den Präsidenten Jefferson und Jackson vorgezeichnete Traditionslinie von Antimonopolismus, Autonomie und Selbstbestimmung. Hinzu kommen Denkhaltungen und Einstellungen aus dem Umfeld des Postmodernismus, der als kulturelle Matrix dieser Bewegungen fungiert. Dieser »neue« Populismus umfasst das, was im europäischen Kontext neue soziale Bewegungen genannt wird. Der Schlüsselbegriff lautet hier empowerment, verstanden als Befähigung zu sozialer, kultureller und politischer Teilhabe. Als Vertreter von Basis- oder Graswurzelbewegungen fühlen sich die amerikanischen neuen Populisten dem Ethos der Selbsthilfe verpflichtet. Auch wenn ihre Bewegungen weitgehend strukturlos sind, lassen sich doch eine Reihe gemeinsamer Zielvorstellungen und Leitmotive charakterisieren. Gegen Effizienz stellen die neuen Populisten Egalität, gegen eine an sozialtechnologischer Steuerung ausgerichtete Praxis postulieren sie mehr Mitbestimmung und Partizipation, gegen hierarchische Beziehungen stellen sie pluralistische Vielfalt, gegen technokratisches »Machen« das ganzheitliche »Wachsen« von unten. Versteht man die postmoderne Philosophie und Gesellschaftstheorie als einen radikalisierten Pluralismus und diesen als Ausformung eines »antitotalitären« Liberalismus, so sind die neuen amerikanischen Populisten der siebziger Jahre allenfalls Linksliberale, keine Linken im marxistischen oder sozialdemokratischen Sinne. Weder teilen sie den Wissenschaftsidealismus des späten, in diesem Sinne sozialdemokratischen Dewey noch seine Planungseuphorie. In der Haltung zum New Deal sind viele der neuen Populisten indessen gespalten. Während einige unter ihnen im New Deal eine zeitgemäße Form von Populismus sehen und daran anknüpfen, wenden sich die auf Dezentrierung setzenden Postmodernisten vom New Deal als einem Irrweg und Verrat an ihren Idealen ab. Zugleich grenzen sich die neuen Populisten von der Neuen Linken ab. »Begrifflich und historisch unterscheidet sich der neue Popu-
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lismus sowohl von der New Frontier als auch von der Neuen Linken; er ist eine Synthese aus vielen radikalen und einigen konservativen Ideen.« (Newfield/Greenfield 1972: 12)16 Angestrebt wird ein Bündnis zwischen schwarzen und weißen Unter- und Mittelschichten. Die Traditionslinie, in der sich die neuen Populisten sehen, verläuft von Jefferson und Jackson über die Vertreter der gemäßigten Populisten im mittleren Westen, Norris und La Follette, klammert aber bewusst die Semifaschisten Huey P. Long und George C. Wallace aus und nimmt den Faden erst wieder mit Martin Luther King, Robert Kennedy und Ralph Nader auf. Nicht alle neuen Populisten, insbesondere die postmodern inspirierten, identifizieren sich mit dieser Traditionslinie, aber gemeinsam ist ihnen der Kampf gegen die großen Aggregate, die Konzentration der Macht und die Herausbildung von Monopolstrukturen. »Wir sind keine Maschinenstürmer und wollen Amerika nicht in eine Agrargesellschaft verwandeln. Man kann die amerikanische Wirtschaft nicht von einem Gemüseladen an der Ecke führen«. (Ebd.: 44) Man müsse aber die große Sehnsucht aller Amerikaner, gleich welchen Alters, welcher Rasse oder Klasse, nach menschlichem Maß berücksichtigen und die Kosten von Machtkonzentration in Rechnung stellen. Mehr Bürgernähe, Zerschlagung der größten Korporationen, gerechte Besteuerung, öffentlicher Zugang zu den Radiowellen, die Organisation der bisher Unorganisierten (Frauen, junge Schwarze, Landarbeiter, Südstaatler etc.) sind nur einige der konkreten Forderungen. Die neuen Populisten legen Wert darauf, weder Linke noch Utopisten zu sein. Die angestrebte Umverteilung von Macht und Reichtum werde keine volle ökonomische Gleichheit herstellen, was weder möglich noch überhaupt wünschenswert sei. Vielmehr komme es darauf an, den Sinn für Fairness im ökonomischen und politischen System zu stärken, um dem wachsenden Vertrauensverlust in die amerikanische Gesellschaft entgegenzuwirken (ebd.: 220). Im Einzelnen betonen die neuen Populisten ökologisches Bewusstsein, Gewaltfreiheit, Dezentralisierung und Lokalismus, die Stärkung persönlicher und sozialer Beziehungen durch mehr Bürger-
16 Mit New Frontier ist die Politik J. F. Kennedys ab 1960 gemeint, der versprach, das Land wieder nach vorn zu bringen, zu >neuen Grenzen< zu fuhren.
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Beteiligung und bürgerschaftliches Engagement (civic commitment), ferner dezentrale, von den Gemeinden initiierte und gestützte Formen der Wirtschaft, postpatriarchale Werte im Verhältnis der Geschlechter zueinander, Respekt für Differenz und globale Verantwortung (vgl. Boyte/Riessman [Hg.] 1986). Die neuen Populisten greifen viele Grundsätze und Forderungen postmoderner Theoretiker auf und fühlen sich wie diese einem radikalen Pluralismus der Wissensformen, der gesellschaftlichen Organisation und der ästhetischen Präferenzen verpflichtet. Ihre normative AntiStaatlichkeit ist indessen begrenzt, verschmähen sie es doch nicht, vom Staat Hilfen zur Selbstorganisation, beispielsweise für Minderheiten oder für Stadtteilarbeit zu fordern.
Der »neue« Populismus als kulturelles Ferment oder als soziale Bewegung? Viele dieser gegen profitgierige Naturausbeutung gerichteten Forderungen sind in Deutschland von der Partei der Grünen aufgegriffen und politikfähig gemacht worden. In der amerikanischen Bewegung ist aber der vorreflexive Traditionalismus stärker ausgeprägt. Darunter fallt nicht nur der dort lebensweltlich verankerte Patriotismus, sondern auch der normativ verstandene Begriff der roots. Die Graswurzelideologie wird mit einem Bewusstsein für Tradition und (lokaler, regionaler, ethnischer, religiöser) Zugehörigkeit verknüpft, was eine gewisse Tendenz zum Nativismus und zu kulturellem Konservatismus in sich birgt. Jede Ethnie oder sonstige Großgruppe hat ihre je spezifischen roots, die mehr beinhalten als nur Folklore, sondern auf eine tiefere, identitätsprägende Verwurzelung in gemeinsamen Traditionen verweisen. Dagegen strebt die pragmatischere, zugleich auch politischere Richtung ein Bündnis der schwarzen und weißen Unterschichten an. Bei manchen dieser neuen Populisten zeigt sich überdies ein vorreflexiver Hang zu neuer Spiritualität und Ganzheitlichkeit bis hin zu einem esoterischen Interesse an Mystik als Sinnstiftungshorizont. Die Sinngebungsfiguren, etwa Hildegard von Bingen oder Pierre Teilhard de Chardin, können sowohl aus der christlichen Tradition hervorge-
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hen, als auch aus anderen kulturellen oder religiösen Zusammenhängen. Postmoderne Aufklärungskritik verbindet sich mit einem antiautoritär ausgerichteten Konservatismus, der lebensweltliche Tradition, Kleinteiligkeit, Selbsthilfe und Überschaubarkeit wieder gegen das »System« aufwertet. Solche Tendenzen sind nur schwer greifbar und noch schwerer in ihrem Stellenwert zu gewichten. In einem permanent changierenden kulturellen Feld entziehen sie sich eindeutigen Festlegungen und wirken als Ferment. Eine weniger romantisierende, eher pragmatische Richtung dieses neuen Populismus der siebziger Jahre setzte auf den bekannten und populären Verbraucherschützer Ralph Nader. »Er ist der moderne Modellpopulist — urban, faktenorientiert, unspektakulär und geschickt in der Nutzung der Massenmedien«. (Newfield/Greenfield 1972: 215) Auch hier schwankt der neue Populismus also zwischen einer pragmatischen Reformbewegung, deren Aushängeschild Ralph Nader sich in den neunziger Jahren indessen dem rechtsliberalen Ross Perot anschloss, und einer eher »kulturalistischen« Richtung, die auf Selbsthilfe, Sinnfindung und alternativ organisierte Lebensformen setzt.
Antimodernismus oder eine andere Moderne? Hinzu kommt bei diesen im Kern weißen Mittelschichtbewegungen ein bisher unaufgelöstes Dilemma. Die Voraussetzung für ihre postmaterielle Werthaltung liegt nämlich in jenen materiellen Errungenschaften, welche die von ihnen angeprangerten Großaggregate mit ihren Technokraten und Experten erst geschaffen haben. Die Grundlage des amerikanischen Wohlstandes, auch des Mittelstandes, beruht auf dem, was die neuen Populisten gerade ablehnen, nämlich Großindustrie, Effizienz, Management, Sozialtechnologie, Wissenschaft als Produktivkraft. Zugespitzt formuliert: Mit ihren Forderungen sägen die neuen linken Populisten an dem Ast, auf dem auch sie sitzen und ohne den sie in die unbequeme, harte und enge Welt des Vorindustrialismus zurückfallen würden. Auf die Vorzüge von Motorisierung und Zugang zu preiswerten Massenkonsumgütern, von Elektrifizierung, Internetanschluss und wissenschaftlich ausgebildeten Ärzten verzichten in der Regel nur wenige, politisch irrelevante
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Aussteiger. Erst das von den neuen Populisten als Gegner identifizierten korporatistische Dreieck von Big Government, Big Business und Big Labor schuf aber mit Effizienz, Schlagkraft und Produktivität die Basis für ökonomischen Wohlstand, für rechtsstaatliche Gleichbehandlung, für die Erkämpfung elementarer Rechte und höherer Löhne am Arbeitsplatz. Unter strategischen Gesichtspunkten tritt noch die Frage hinzu, wie untereinander nur lose verkoppelte, sich stets im Fluss befindende Gruppierungen, die sich explizit den Richtwerten Dezentralisierung, Pluralisierung und dem Ethos der Selbsthilfe verpflichtet fühlen, aus dieser gewollten Zersplitterung heraus gegen die geballte Macht der Monopole und »Korporationen« anzutreten gedenken. Auch der Treibsatz einer »großen Weigerung« kann nur durch Konzentration der Kräfte geschärft werden. »Ein naturwüchsiger Pluralismus von abwehrenden Subkulturen, der nur aus spontaner Verweigerung hervorginge, müsste sich an den Normen staatsbürgerlicher Gleichheit vorbei entwickeln. Es entstünde dann lediglich eine Sphäre, die sich zu den neokorporatistischen Grauzonen spiegelbildlich verhielte«. (Habermas 1985: 157) Wie es scheint, wirkt dieser neue Populismus eher als kulturelles Ferment denn als politische Alternative. Als Ferment kann er wichtige Impulse auslösen und Fragen über die zuträglichen Grenzen und Geschwindigkeiten von Wachstum und Modernisierung aufwerfen. Als politisches Frühwarnsystem kann er auf Verkrustungen, auf selbstreferentielles Handeln in systemisch abgeschlossenen Einheiten, auf sozialstrukturelle Diskrepanzen und wachsende Naturausbeutung hinweisen. Schon die Agrarpopulisten des ausgehenden 19. Jahrhunderts waren keine Antimodernisten, sondern favorisierten einen anderen Weg in die Moderne, der ihnen ihre Lebensgrundlage sichern sollte — einen sozial verträglichen, gemeinwohlorientierten Weg. Was aber dieses Gemeinwohl ist und mit welchen Inhalten es gefüllt werden muss, bleibt im Sinne John Deweys das gemeinschaftliche Experiment in einer deliberativen Demokratie, zu dem auch Populisten einen Beitrag leisten können.
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4.5 Die 1990er Jahre: Henry Ross Perot - der dritte Weg der Mitte Anfang der neunziger Jahre machten Populisten in den USA erneut von sich reden. Die Wirtschaft befand sich in einer Krise, und die Regierung vermittelte nicht den Eindruck, die ökonomischen und zahlreiche andere Probleme kompetent und zügig lösen zu können. Umfragen zeigten, dass zwei Drittel der Amerikaner unzufrieden waren mit der Arbeit des Kongresses und der ersten Amtsperiode Bill Clintons. Betroffen von Desillusionierung und Vertrauensschwund waren nicht zuletzt auch die beiden großen Parteien des Landes, die Demokraten und die Republikaner. Der Wunsch nach Alternativen und nach einer neuen Partei wurde laut. In dieser Situation trat der Texaner Multimillionär Henry Ross Perot als völliger Außenseiter auf den Plan. Zwar konnte er seine immensen Erfolge als Geschäftsmann und Gründer des Konzerns Electronic Data Systems in die Waagschale werfen, verfügte aber über keinerlei politische Erfahrung. 1992 kandidierte Perot als dritter Kandidat bei den Präsidentschaftswahlen neben George Bush und Bill Clinton. Um Unterstützung für seine Kandidatur in allen 50 Bundesstaaten zu mobilisieren, hatte er die Basisbewegung United We Stand America gegründet. Den selbstfinanzierten Wahlkampf bestritt er mit Fernsehwerbung, die weit über die üblichen kurzen Spots hinausging. In halbstündigen Infomercials präsentierte er sich als handfester Pragmatiker und zugleich als guy, als gestandenes, realitätstüchtiges Mannsbild mit starkem Südstaatenakzent, das es sich als Vorzug anrechnete, nicht wie ein Filmstar auszusehen. Mit Witz, Schlagfertigkeit und allerlei farbigen Graphiken schwor Perot die Zuschauer auf sein Hauptthema ein: die Sanierung des Staatshaushalts. Der Abbau der Staatsverschuldung war sein zentrales Thema, und Perot hämmerte seinem Publikum ein, dass Steuergeschenke nicht länger hinnehmbar seien. Nur ein ausgeglichener Haushalt sei ein Garant dafür, dass künftige Generationen nicht um ihr Erbe gebracht würden. Gegen die mangelnde Erfahrung als Politiker stellte Perot seine Erfolge als Unternehmer, der zwar nicht die politischen Machenschaften und Tricks der Politiker beherrsche, dafür aber über wirtschaftliche Kompetenz verfüge, um Ordnung ins
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Haushaltschaos zu bringen und strukturelle Reformen im politischen Willensbildungsprozess einzuleiten. Dem Typus des Karrierepolitikers, der, in den Worten Max Webers, nicht für die Politik lebt, sondern von ihr, erwuchs ein ernsthafter Konkurrent von außen. Flankiert wurden Perots Fernsehauftritte von seiner landesweiten Basisbewegung, die auf lokaler Ebene Kampagnen für ihn und die neue Sache organisierte. Der Erfolg ließ nicht auf sich warten. Im Sommer 1992 sah es so aus, als könne Perot fast 50 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen. Die Präsidentschaftsdebatten wurden zum ersten Mal nicht von zwei, sondern von drei Kandidaten bestimmt, von Clinton, Bush und dem Außenseiter Ross Perot. Das erstaunliche Wahlergebnis brachte Ross Perot 19 Prozent der Stimmen nach George Bush und dem Sieger Bill Clinton. Seit 1912, als der Präsidentschaftskandidat Theodore Roosevelt ebenfalls mit einer dritten Partei, der Progressive Party, Erfolg gehabt hatte, war erst wieder Perot mit seiner Bewegung United We Stand America ein ähnlicher Durchbruch gelungen. Dieser Außenseiter bestimmte als Agenda-Setter das zentrale Thema des Wahlkampfs, das von den beiden großen Parteien bisher vernachlässigt worden war, nun aber rasch aufgegriffen wurde. 1995 gründete Ross Perot die Reform Party als unabhängige, dritte Partei. Bei den Wahlen von 1996 schnitt er allerdings mit nur noch 8,5 Prozent deutlich schlechter ab. Doch dieses Ergebnis genügte, um der dritten Partei im Lande Bundeswahlkampfmittel in Höhe von über 12 Millionen Dollar zu sichern.
Haushalts- und Steuerfragen vor social issues Programmatisch versucht die Reform Party, die in den amerikanischen Kulturkämpfen vorherrschenden social issues auszuklammern, da sie die potentielle Wählerschaft eher trennen als vereinigen könnten. In diesem das Land tief spaltenden Konflikt zwischen religiösem Fundamentalismus und säkularem Humanismus (der für seine Gegner gleichbedeutend mit Atheismus ist) ergriff die Reform Party bewusst nicht Partei, sondern beschränkte sich auf Fragen der Regierungstätigkeit und der Ökonomie. Diese seien nicht nur entscheidender,
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sondern beträfen überdies alle Menschen im Lande. Die pragmatische Ausrichtung der Reform Party sollte, so hofften Perot und seine Anhänger, eine Brücke zwischen kulturell eher links und eher rechts orientierten Wählern bauen. In einer Gesellschaft wie der amerikanischen, in der zahlreiche ethnische und andere Gruppenkonflikte ausgetragen werden, musste diese Abstinenz der Reform Party aber wie eine stillschweigende Parteinahme für die weißen, überdies männlichen Mittelschichtangehörigen wirken. Abhängig Beschäftigte, Schwarze, allein erziehende Frauen und viele andere konnten daher auf Dauer nicht einbezogen werden in dieses Bündnis der gemäßigten Mitte. Allgemein fordert die neue Partei höhere moralische Standards für das Weiße Haus und den Kongress, konkret einen ausgeglichenen Haushalt, Reform von Wahlen und Wahlkämpfen, begrenzte Amtszeit, eine Revision des Steuersystems und gesundheitspolitische Reformen. Wichtig ist für sie auch die Reform der Handels- und Einwanderungspolitik, um Arbeitsplätze in den USA zu fördern. »Unsere größte Herausforderung ist wirtschaftlicher Wettbewerb. Unsere Politik muss umgelenkt werden, um Wachstum zu fördern, Arbeitsplätze zu schaffen und allen Amerikanern eine Chance zu geben«. (Ross Perot 2000) Für die Plattform United We Stand stellte Ross Perot Forderungen auf, wie sie in jeder europäischen Volkspartei vertreten werden, die sich für die Schaffung von Arbeitsplätzen und die Förderung des Mittelstandes einsetzt. Perots Vorstellungen zur Steuerreform: Begrenzung der Abschreibungsmöglichkeiten für Hypotheken auf 250.000 Dollar, keine Sonderabschreibungen für Ferienhäuser, Anhebung der Spitzensteuersatzes von 31 auf 33 Prozent und notfalls darüber hinaus. Davon betroffen wären weniger als 4 Prozent der amerikanischen Steuerzahler, aber diese Reform brächte dem Staat in nur fünf Jahren 33 Milliarden Dollar an zusätzlichen Steuereinnahmen. Vor allem der gewerbliche Mittelstand soll gefördert werden. Arbeitsplätze, so Ross Perot, schaffen nicht die großen Arbeitgeber, sondern die kleinen. Daher fordert er Anreize für Investitionen in kleine Firmen durch deren Befreiung von Kapitalertragssteuer, durch Schaffung von Kapitalpools für kleine Firmengründer und die Einrichtung von Mentorenprogrammen, da mittelständische Unterneh-
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men nicht nur an Kapitalmangel, sondern häufig auch unter einem Mangel an Erfahrung leiden. Erfahrene und talentierte Menschen im Ruhestand könnten hier Hilfestellung geben. Perot plädiert für eine nachhaltige Umweltpolitik. »Dieser Planet ist unser Heim, schützt ihn für die Zukunft«. (Ebd.) Die Reform Party unterstützt daher nachhaltiges Wirtschaftswachstum, sie ist gegen die Subvention von ineffizienten, ökologisch schädlichen Zweigen in der Bergwerks- und Holzindustrie. Im pädagogischen Bereich tritt sie für den Ausbau von Gesamtschulen im Vorschulbereich ein, für die Förderung der lokalen Autonomie und wirtschaftlichen Rentabilität von Schulen. Diese sollen von bürokratischen Fesseln befreit werden, die sie bürgerfern und von oben regulieren. Stattdessen sollen die Eltern mehr Rechte erhalten durch empowerment, ein eher links konnotiertes Schlagwort, das die Fähigkeit zu Partizipation und zur Verteidigung eigener Interessen meint. Zentral für die Reformvorschläge zur Gesundheitsreform ist für Perots Partei der Gedanke einer gesamtstaatlichen nationalen Gesundheitspolitik, die Kostendämpfungsmaßnahmen mit einer Grundversorgung für alle vereinen will. In der Abtreibungsfrage, die in den USA hohe Wellen geschlagen hat bis hin zum Boykott von Abtreibungskliniken und dem Angriff auf Abtreibungsärzte durch fundamentalistische Fanatiker, propagiert Perot das Recht der Frau auf freie Wahl und fordert Bundesmittel für Beratung und Aufklärung, einschließlich der Kosten einer Abtreibung für arme Frauen. »Ich befürworte Bundesmittel für die Abtreibung von armen Frauen. Da diese Frauen bereits eine Wahl getroffen haben, sollten wir aus Gründen der öffentlichen Gesundheit dafür sorgen, dass der Eingriff ohne Gefahr vorgenommen wird«. (Ebd.)
Politische Reformvorschläge Ein besonderes Anliegen ist der Kampf gegen den ausufernden Lobbyismus und die Käuflichkeit von Abgeordneten. Perot fordert daher eine Begrenzung von Wahlkampfspenden auf 1.000 Dollar pro Wahlperiode für Einzelspender, auf 100.000 Dollar für Spenden von Großunternehmen, Gewerkschaften und >Reichen<. Zum Vergleich:
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1974 trugen Lobby-Organisationen aus der Wirtschaft und die zahlreichen politischen Aktionskomitees17 mit fast 13 Millionen Dollar zur Förderung und damit auch zur Beeinflussung von Kongressabgeordneten bei, 1990 waren es schon 150 Millionen Dollar, heute hat die Zahl die 200 Millionengrenze überschritten. Perot dazu lakonisch: »Machen wir uns doch nichts vor. Wir wissen, was sie damit kaufen wollen«. (Ebd.) Ferner tritt er für die Abschaffung des Wahlmännergremiums (electoral college) ein. Dieses Gremium, das unabhängig von der Entscheidung des Volkes ohne imperatives Mandat sein Votum zur Wahl des Präsidenten abgibt, ist in der amerikanischen Verfassung deswegen vorgesehen, weil man es für zu gefährlich hielt, das Volk direkt über den Präsidenten entscheiden zu lassen. Dagegen erklärt Perot: »Es gibt keinen Grund, die Stimmen des Volkes zu filtern. Wer die meisten Stimmen im gesamten Land erhält, sollte Präsident werden«. (Ebd.) Eine zentrale Idee Perots war auch, den Modus der Repräsentation durch Filterung des politischen Willens zu unterlaufen durch die Einrichtung elektronischer Rathäusen. In Computer-Referenden, die verschiedene Optionen zu einem Problemfeld aufzeigen, soll die Wählerschaft in einem chat room politisch debattieren und anschließend ihr Votum abgeben können. Die Ergebnisse werden landesweit gesammelt und als Volksmandat nach Washington weitergeleitet. Dieses direktdemokratische Verfahren mag auf den ersten Blick attraktiv erscheinen, -würde aber nicht nur die Rolle der Parteien als politische Willensbildner, sondern auch den Schutzmechanismus der checks and balances außer Kraft setzen, jene Grundidee der repräsentativen Demokratie, wonach politische Institutionen in ihrer Macht begrenzt und untereinander in Schach gehalten werden müssen, damit keine übermächtig wird. Perots Vorschläge zur Wahlreform sind vor dem Hintergrund der notorisch geringen Wahlbeteiligung in den USA zu sehen. Hier sind
17 Diese Political Action Committees (PACs) spielen in amerikanischen Wahlkämpfen eine nicht unerhebliche Rolle, weil sie - mit steigender Tendenz - die Mittel für die Wahlkampagnen aufbringen. Erstmalig unter Präsident F.D. Roosevelt in den vierziger Jahren praktiziert, kann ein Spender über die Gründung von PACs seine Wahlkampfspenden streuen und einem Kandidaten oder einer Partei auf diese Weise Spenden in unkontrollierter und unbegrenzter Höhe zukommen lassen.
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Veränderungen und Erleichterungen geplant. Die Wahlkampfperiode soll auf fünf Monate verkürzt werden, Wahlen sollen an Samstagen und Sonntagen stattfinden, um auch der arbeitenden Bevölkerung Gelegenheit zur Wahl zu geben. Und schließlich soll allen Kandidaten gleich viel Zeit im Rundfunk zur Verfügung gestellt werden, da die Rundfunkwellen der Öffentlichkeit gehören. Die meisten dieser Forderungen Perots sind pragmatisch und mittelstandsorientiert. Das negativ konnotierte Epitethon »populistisch« ziehen sie vor allem deswegen auf sich, weil sie einen Angriff auf den Modus der politischen Willensbildung in der repräsentativen Demokratie darstellen. Populistisch ist auch der Kampf gegen die Sonderinteressen von Trusts und Konzernen, die sich die Politik gefügig machen und politische Entscheidungen durch Spenden in Millionenhöhe erkaufen. Nachdem seit dem 11. September 2001 die Vision einer neuen, globalen Weltordnung unter der »wohlwollenden« Vorherrschaft der USA die amerikanische Außenpolitik bestimmt, trägt die isolationistische Position der Reform Party mit ihrer Begrenzung auf die internen Belange der Nation konservative und zugleich linke Züge. »Zuerst Ordnung im eigenen Haus schaffen« ist der Imperativ populistischer Bewegungen; die Reform Party macht hier keine Ausnahme. Dagegen macht Ross Perot kaum Aussagen zu den social issues wie Homo-Ehen, den Rechten von Schwulen, auch nicht zum Irakkrieg, zur Einschränkung und Kontrolle von Waffenbesitz, der Legalisierung einiger Drogen wie Marihuana oder dem Krieg gegen den Terrorismus, der in den USA zu rechtsstaatlich bedenklichen Maßnahmen wie dem Patriot Act und der Homeland Security geführt hat. Die Reform Party hält solche Themen für trennend. Weltanschaulich stark besetzte Themen könnten nie zur Zufriedenheit der Mehrheit gelöst werden, während andere Probleme, die den politischen Prozess korrumpieren, ungelöst blieben oder vernachlässigt würden. Im Zentrum stehen daher Themen wie Steuergesetzgebung, Staatsverschuldung, Wahlkampffinanzierung, besserer Zugang zur Wahlurne, Gesundheit, illegale Einwanderung, internationaler Handel, Wirtschaft und Arbeitsplätze, Umweltschutz und eine »vernünftige« Außenpolitik, die Amerika nicht dem Hass der restlichen Welt aussetzt.
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Die Reform Party versteht sich als zentristisch, als weder rechts noch links, weil sie bewusst jene Fragen umgeht, die den amerikanischen Kulturkampf seit den achtziger Jahren dominieren. Ihre Philosophie definiert sie als populistisch im Sinne der Gründerväter: Gefordert wird eine Regierung, ausgehend vom Volk, durch das Volk und für das Volk. Abgesehen von einer gewissen Schlagfertigkeit hat Perot keinerlei charismatische Ausstrahlung, die die Massen zu Begeistungerungsstürmen hinreißen könnten. Er versteht sich nicht als Führer seiner Bewegung, sondern als Sprachrohr und Katalysator für die Sorgen seiner mittelständischen Klientel. »I'm just a catalyst that gave these people an outlet for their concern«. (Zit. nach Westlind 1996: 178)
Konflikte und Tendenzen Ende 1999 stießen zwei Männer zur Reform Party, die interne Konflikte auslösten — der Immobilienmilliardär Donald Trump und der politische Kommentator und ehemalige republikanische Präsidentschaftskandidat Pat Buchanan, der kurz zuvor aus der Republikanischen Partei ausgetreten war. Vor allem Buchanan vertritt sehr dezidierte Ansichten, die nicht von allen Mitgliedern der Reform Party geteilt werden: außen- und wirtschaftspolitisch einen strikt isolationistischen Kurs, kultur- und sozialpolitisch eher konservative Ansichten. Dieser personelle Zuwachs führte zu einem Zerwürfnis zwischen dem libertären, für amerikanische Verhältnisse linken populistischen Gouverneur von Minnesota, Jesse Ventura, der Donald Trump als Präsidentschaftskandidaten unterstützte, und Ross Perot, der für Buchanan eintrat. Zahlreiche weitere Konflikte brachen auf, die zu Abspaltungen und internem Zwist führten. Ventura, der es als Kandidat der Reform Party zum Gouverneur von Minnesota gebracht hatte, begegnete dem parteiinternen Aufstieg von Pat Buchanan mit Abspaltung und Umbenennung seines regionalen Zweiges in Independence Party of Minnesota. Auch am rechten Rand kam es zur Abspaltung und Gründung der America First Party. Zugleich stieß aber ein Mann zur Reform Party, der in der politischen Landschaft der USA links angesiedelt wird — der »grüne« Um-
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welt- und Verbraucherschützer Ralph Nader. Im Mai 2004 wurde er mehrheitlich zum Präsidentschaftskandidaten der Partei gewählt. Aber der Niedergang der Partei, die nicht mehr in allen Bundesstaaten vertreten war und daher nicht mehr als »nationale« Partei eingestuft wurde, war nicht länger zu übersehen. Die angestrebte große Koalition aller Gemäßigten konnte nicht verwirklicht werden. Mt Pat Buchanan war ein Mann an die Führungsspitze der Reform Party gelangt, der vor allem außenpolitisch eine grundlegend andere Politik vertritt als Präsident George W. Bush und der als Globalisierungsgegner auch für Linke attraktiv sein könnte. Wie Perot ist auch Buchanan ein entschiedener Gegner von Handelsabkommen wir GATT und NAFTA, tritt aber von einem isolationistischen Standpunkt dezidiert gegen das amerikanische Empire-Projekt an. »Eine Republik, kein Imperium« lautet der Titel eines seiner Bücher, in denen er vor zu vielen außenpolitischen Verpflichtungen warnt. Imperien fallen, weil sie sich überheben und überdehnen. Nach dem Ende des Kalten Krieges sei die amerikanische Außenpolitik zu einem Instrument für Sonderinteressen (special interests) bestimmter Wirtschaftszweige geworden und überschreite auf chaotische Weise die Möglichkeiten des Landes. Eine globale Vision ist aus der Sicht Buchanans utopisch. Dies hätte schon für Woodrow Wilson gegolten, der nach dem Ersten Weltkrieg die Welt »reif für die Demokratie« machen wollte, und heute gelte dieser Einwand erste recht gegen George W. Bushs Projekt einer »neuen Weltordnung«. Dagegen beruft sich Buchanan auf einen der ersten Präsidenten der USA, John Quincy Adams (1825-1829), der erklärt hatte, es sei nicht die Aufgabe Amerikas, in die Ferne zu schweifen auf der Suche nach Monstern. Kultureller Konservatismus und ökonomischer Nationalismus mit protektionistischen Tendenzen sind Buchanans Antwort auf den »großen Verrat« der Bush-Regierung. Nicht nur Amerikas Souveränität, sondern auch soziale Gerechtigkeit würde den Göttern der globalen Ökonomie geopfert, auch dies eine These, mit der sich linke Globalisierungsgegner zumindest teilweise anfreunden können.
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Jesse Ventura — der »politische Körper«18 Neuen Auftrieb erhielt die Reform Party 1998 bei den Gouverneurswahlen in Minnesota, wo der ehemalige Wrestler Jesse Ventura als Kandidat der Partei das Rennen machte. Ventura verkörpert den Typus der >farbigen Gestaltem, an denen der Neopopulismus in den letzten Jahren des 20. Jahrhunderts so reich war: Eine schillernde Biographie, die Nähe zu Sport und Showgeschäft, dazu furchtloses Auftreten, großes Mundwerk und ein durch nichts zu erschütterndes Selbstbewusstsein. Jesse Ventura ist der Muskelmann und common sense guy, dem nachgesagt wird, dass er zuerst spreche und dann denke. 1951 als Sohn eines aus Ungarn stammenden Heizungsinstallateurs und einer Anästhesieschwester geboren, ähnelt seine Herkunft bis ins Detail der des französischen >Populisten< Bernard Tapie. Der unter dem Namen James Janos geborene Ventura legte sich ein verwegen klingendes Pseudonym zu. Der Vorname Jesse stehe für den outlaw in ihm. Er wählte ihn in Anlehnung an Jesse James, einen legendären Bandenführer und Zugräuber aus Missouri, der sich in der Tradition von Robin Hood als Sozialbandit verstand. Der Nachname Ventura wurde nach dem Blick auf eine Landkarte von Kalifornien gefunden: Das Ich als freie Selbstschöpfung aus dem sozialen Nichts. Zu den Stationen seines Werdegangs gehören: Teilnahme am Vietnamkrieg als Mitglied einer Eliteeinheit, Bodygard bei den Rolling Stones, eine lange Karriere als TV-Wrestler, die ihm den Spitznamen the body eintrug, dazu Fernseh- und Radiounterhalter in betont schriller Aufmachung und schließlich sogar Auftritte als Filmschauspieler, darunter an der Seite von Arnold Schwarzenegger, dem späteren Gouverneur von Kalifornien. Ventura ist der Mann aus dem Volke mit der Vorliebe für trash und Vulgarität im Auftreten, dabei hart im Nehmen und im Austeilen, einer, der weiß, was er will und es sich nimmt. Mit Ventura stellte sich 1999 anlässlich der Gouverneurswahlen von Minnesota ein Mann zu Wahl, dem es als Außenseiter und Ver-
18 Anspielung auf den Begriff des body politic von Thomas Hobbes und gleichzeitig auf den Spitznamen Venturas, the body, den er sich als Fernseh-Catcher erwarb.
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treter einer dritten Partei auf Anhieb gelang, mit 37 Prozent der Stimmen gewählt zu werden, zunächst als Kandidat von Ross Perots Reform Party. Nach Meinungsverschiedenheiten gründete er seine eigene dritte Partei, die Independence Party. Wie Ross Perot, so lehnte es auch Ventura ab, sich den Wahlkampf von Sponsoren bezahlen zu lassen. Er führte ihn mit schmalen Budget, geschicktem Marketing von T-Shirts und ähnlichem und der glaubhaften Versicherung, unabhängig zu sein und nicht, wie die großen Parteien, gekauft und vereinnahmt von interessierten Wirtschaftskreisen mit ihren special interests. Ventura ist der Typ des modernen Neoliberalen: Tolerant und konziliant in Fragen von Moral und Sitte, spricht er sich für die Entkriminalisierung von Prostitution, des Konsums von Haschisch und für die Zulassung von Homosexuellen zum Militär aus. Religiöse Fundamentalisten sind ihm ein Gräuel, religiöse Bigotterie lehnt er ebenso ab wie religiöse Symbolik in der Politik. Dagegen äußert der ehemalige Elitesoldat sich beinhart, wenn es um »Schwächlinge« aller Art geht. Psychische Probleme seien ein Zeichen mangelnder Willensstärke, Selbstmord ein Akt der Schwäche. Starke wie er sind die Siegertypen, die Schwachen bleiben auf der Strecke. Der Populismus erhält mit Ventura einen ausgeprägt sozialdarwinistischen Zug. Die etablierten Politiker sprächen zu viel die Alten an, redeten zu viel über Renten, Altenhilfe, Reform des Gesundheitswesens. Welchen Jugendlichen interessiere das schon, fragt Ventura und setzt auf die Jugend, die er, auch mit Hilfe der von jungen Leuten getragenen Graswurzelbewegung der Reform Party, in besonderem Maße ansprechen konnte. Der Jugend gehört die Zukunft. Alte, Kranke, Gebrechliche, Arbeitslose mögen sich dagegen auf den Wert der self sufficiency besinnen, auf Genügsamkeit. Dieser Mann mit seiner ausgeprägten körperlichen Präsenz nimmt kein Blatt vor den Mund und redet >Klartext<, wenig Substantielles zwar, dies aber deutlich und unmissverständlich. Straight talking gehörte immer schon zu den Markenzeichen von Populisten, aber was hat Ventura sozial- und wirtschaftspolitisch zu sagen? Es ist das auf wenige Forderungen reduzierbare Credo eines Libertären: Weg von der Wohlfahrt, hin zu Eigenverantwortung. Soziale Programme seien keine Hängematte. Mildtätigkeit habe nicht von der Regierung auszu-
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gehen, sondern auf privater Basis zu erfolgen. Steuerpolitisch sei er konservativ, ansonsten sozialliberal, so hat Ventura seine politischen Leitlinien als »gemäßigter Libertarier« zusammengefasst. Beliebt machte er sich bei seinen Wählern, als er die Überschüsse eines Haushaltsjahres per Scheck an die Steuerzahler zurückzahlte. Mit einem Mann wie Jesse Ventura zeichnet sich eine weitere Facette des Populismus ab, die des kulturell und moralisch aufgeschlossenen, toleranten, modernen Politikers, der auf die nachemanzipatorische Jugend setzt, die er mit >Muff<, moralinsaurem Spießertum und religiöser Engstirnigkeit nicht gewinnen kann. Allein schon durch seine körperliche Präsenz und seinen eigenen Werdegang macht Ventura deutlich, für wen er Politik macht. Es ist die »neue« Mitte der leistungsstarken, neuen Aufsteiger, auch der Neureichen und Parvenüs, auf deren Vulgarität und Geschmacklosigkeit das alte Bürgertum und die kulturellen Eliten nur mit Schauder herabsehen. Ventura vertritt keine Ideologie; er selbst ist die Ideologie, die besagt, jeder könne, wenn er sich nur am Riemen reiße und es sich nicht in der sozialen »Hängematte« bequem mache, zu Ansehen, Erfolg und Wohlstand gelangen. Wandten sich die amerikanischen Populisten der 1890er Jahre und der Zwischenkriegszeit Hilfe suchend an den Staat, um ihre Selbstständigkeit als Farmer und kleine Gewerbetreibende aufrechterhalten zu können, so wenden sich libertäre, anarcho-kapitalistische Kräfte nach langjähriger Erfahrung mit eben diesem Wohlfahrtsstaat nun gegen ihn. Er ist nun der Moloch mit seiner überbordenden, die Kleinunternehmer knebelnden Bürokratie. Wenn Schwäche nur eine Frage fehlender Willensstärke ist, dann, so lautet die Botschaft, ist nicht einzusehen, warum die strebsamen, eigenverantwortlichen Kräfte mit Staatsdefizit, überzogenem Staatshaushalt und hohen Steuern für die »überflüssige« Bevölkerung aufkommen sollen. Der Marxist James O'Connor schrieb dazu: »Der Mittelstand [ist] gezwungen, Steuern zu bezahlen, die in die Taschen des Monopolkapitals, der organisierten Arbeiter oder der Überbevölkerung fließen (zum Beispiel über den Wohlfahrtsetat). Schließlich verwerfen sie [die Mittelständler, K.P.] Wohlfahrts- und Sozialprogramme, die über ein absolutes Minimum hinausgehen, weil sie das Problem der Überbevölkerung nicht als ein Klassenproblem verstehen können«.
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(O'Connor 1974: 264) Vielmehr sehen sie in dieser staatlich alimentierten Überbevölkerung individuelle Versager, Schwächlinge, Faulpelze und von dort ist der Weg nicht weit zu Biologismen wie »Schmarotzer« oder »Parasit«. Diese sozialdarwinistische Komponente, bei den konservativen Kräften in der Reform Party weniger ausgeprägt, tritt mit dem in kulturell-moralischen Fragen eher linksliberalen Ventura deutlich in den Vordergrund.
Der Niedergang der Reform Party Die Gründe für den Niedergang der Reform Party sind vielfältig. Neben persönlichen Querelen und Flügelkämpfen, die in jeder Partei, besonders in ihrer Gründungsphase auftreten, zeigte sich, dass die populistische Plattform zu heterogen war, um auf Dauer eine tragfähige politische Basis abzugeben. Hinzu kommt, dass die zentralen Forderungen Perots in Steuer- und Haushalts fragen von den beiden etablierten Parteien rasch adaptiert und in ihre eigenen Wahlkampfforderungen aufgenommen wurden. Populistische Parteien sind als Agenda-Setter in der Lage, bisher vernachlässigte Themen auf die Tagesordnung zu setzen; ihre Warnschüsse werden gehört, die von ihnen aufgeworfenen Probleme ernst genommen. Das hat aber zur Folge, dass ihre Attraktivität als Alternative, als grundlegend neue und andere Partei schnell verblasst. Überdies hat die Reform Party, wie viele vermuten, die Tiefe der gegenwärtigen Spaltungen in der amerikanischen Gesellschaft unterschätzt. Nachdem die Desillusionierung und der Vertrauensschwund in die Handlungsfähigkeit der etablierten politischen Eliten nicht zuletzt durch den Auftritt eines Außenseiters wie Perot teilweise abgebaut werden konnten, zeigt sich, dass die trennenden moralischethischen Fragen und Kulturkämpfe stärker denn je die amerikanische Politik bestimmen. Die damit verbundenen Konflikte brechen auch unter den Anhängern der Reform Party auf, die sie doch gerade ausklammern wollte. Schon 1935 stellte der Sozialwissenschaftler David J. Saposs in einer scharfsinnigen Analyse des amerikanischen Populismus fest, dass die wirtschaftlich instabilen Elemente der Mittel- und Arbeiter-
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Schicht dazu neigen, ihre ökonomische Schwäche durch Konzentration auf social issues (auf moralische, religiöse, ethnische oder patriotische Themen) zu kompensieren. Sie führten Kompensationskämpfe, die sie psychologisch entlasten und schnellere Erfolge bringen (Saposs 1935: 416). Dagegen ordneten die besser gestellten, stabileren Mittelschichtangehörigen >soziale Themen< den wichtigeren und entscheidenderen ökonomischen und politischen unter. Ross Perot trat als Sprachrohr dieser zweiten Gruppe auf. Auf Fragen gruppenspezifischer Identität oder moralischer Wertorientierung wollte er als Populist der stabilen Mitte keine Antwort geben. Sein Identitätsangebot nahm sich pragmatisch und nüchtern aus. Es setzte auf die hart arbeitenden Angehörigen der Mittelschichten, die als Produzenten materielle Werte schaffen. Ihnen empfahl er sich als Manager und Unternehmensführer. In dieser Eigenschaft könne er den Staat wie ein Unternehmen kompetenter führen als professionelle Politiker, die überdies für die Folgen ihrer Politik nicht zur Rechenschaft gezogen würden. »Never forget that the US Government is the world's largest and most complex business. Let's assume you own the country one hundred per cent. Ask yourself, which of these candidates would you let run your business?« (Zit. nach Westlind 1996:179) In den neunziger Jahren, in denen wieder Identitätsfragen und geistig-kulturelle Kompensationskämpfe ausgetragen wurden, blieb Ross Perots Initiative ohne nachhaltige Stoßkraft. Denn die alten individualistischen Mittelschichtwerte der Selbstbestimmung (selfreliance, self-sufficiency, self-regulation) haben sich inzwischen gegen diese Schichten gewendet. Sie treten heute mehr denn je als rugged individualism (krasser Individualismus) in Erscheinung, mit dem keine Schicht übergreifenden Bündnisse geschmiedet werden können. Individuelle Selbstbestimmung, ursprünglich in Opposition zu den Exponenten des Großkapitals gefordert, wird heute von diesen selbst proklamiert. Für einen Populismus der gemäßigten Mitte, schwankend zwischen >linken< Aushängeschildern wie Ralph Nader und >rechten< wie Pat Buchanan, scheint in den USA derzeit kein Platz zu sein.
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Abschließende Bemerkungen Nicht nur die Politik von George C. Wallace, sondern auch die der neuen Populisten der siebziger Jahre wirft Fragen auf, auf die es keine abschließende Antwort gibt. Man kann diese Fragen auf einen simplen Dualismus reduzieren: Gibt es einen >guten< und einen >bösen< Populismus? Linke Neo-Populisten neigen zu dieser Annahme und lassen nur das als Populismus gelten, was in der Tradition der amerikanischen Populist Party, der Selbsthilfe und Gemeinwohlorientierung steht. Es zeigt sich indessen, dass die konstanten Grundüberzeugungen von Populisten (lebensweltlicher Traditionalismus, Selbstorganisation, Anti-Etatismus) zwischen links und rechts schwanken können. Dies ist besonders dann der Fall, wenn, wie im Falle von Long und Wallace, sich der Anti-Etatismus lediglich gegen den Zentralstaat in Washington richtet, im Binnenverhältnis, also in den jeweils von ihnen regierten Bundesstaaten, aber auf das Gegenteil hinausläuft, nämlich auf den Ausbau des öffentlichen Sektors durch staatlich geförderte Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, die als Grundlage für Klientelismus, Nepotismus, Patronage und Korruption dienen. Diese dem Populismus inhärente Möglichkeit der »Inversion« hängt von zwei Faktoren ab: Einerseits von der Politik der jeweiligen Zentralregierungen, andererseits vom Grad der Bedrohung oder der Ängste jener mittleren Zwischenschichten, die immer schon den Kern aller populistischen Bewegungen in Europa und den USA ausgemacht haben. Zeigen sich der Staat und seine Rechtsinstitute als Anwalt kapitalistischer Großorganisationen in Industrie und Finanz, wenden sich Populisten nach links und fordern mehr Gemeinwohlorientierung. Tritt der Staat hingegen als Schutzherr noch schwächerer Schichten auf und betreibt deren rechtliche Gleich- und materielle Besserstellung, wenden sich Populisten nach rechts. Dies ist besonders dann der Fall, wenn die sozialstrukturellen Prozesse ethnisch überformt sind, was in den Südstaaten der USA in hohem Maße der Fall war - und immer noch ist.
5. Populismus in Europa
5.1 Der Poujadismus: Das Genossenschaftsideal Der Poujadismus als Prototyp einer populistischen Bewegung blieb, wie die meisten populistischen Bewegungen in Europa, eine kurze Episode. Dennoch formierte sich hier im europäischen Kontext erstmalig eine politische Protestbewegung, der es gelang, landesweit eine, wenn auch begrenzte, Rolle zu spielen.19 Sie fiel zeitlich zwischen die beiden Versuche de Gaulies, im Frankreich der Nachkriegszeit Sammlungsbewegungen auf gesamtstaatlicher Ebene >von oben< zu organisieren - von 1947—1954 die »Sammlung des französischen Volkes« (RPF), der nach einer kurzen Zwischenphase 1958 die »Union für die neue Republik« (UNR) folgte. Ab 1976 legte diese den Akzent wieder auf den einer Sammlungsbewegung und firmierte unter dem Namen »Sammlung für die Republik« (RPR)20. 1978 erhielt sie Konkurrenz durch eine weitere Volkspartei der rechten Mitte. Diese trat unter dem Namen »Union für die französische Demokratie« (UDR) an und suchte ein breites Spektrum von Gaullisten, rechten Sozialisten, Christdemokraten und Liberalen in sich zu vereinigen.
19 Schon im Dezember 1944 war allerdings in Süditalien von dem neapolitanischen Komödienschreiber Guglielmo Giannini die Bewegung L'Uomo qualunque gegründet worden. Getragen vom kleinen und mittleren Bürgertum und subproletarischen Schichten, zeichnete sich diese Bewegung vor allem durch ihren vehementen Anrikommunismus aus und wurde, was für populistische Bewegungen eher ein Kuriosum ist, bis 1947 vom Verband der italienischen Großindustrie (Confindustria) finanziert. 20 Die französischen Bezeichnungen lauten: Rassemblement du Peuple Francais (RPF), Union pour la Nouvelle Republique (UNR), Rassemblement pour la Republique (RPR) sowie Union pour la Democratie francaise (UDR).
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In die kurze Zeitspanne zwischen de Gaulles RPF und seiner UNR, also zwischen 1954 und 1958, fiel nun die Hochphase des Poujadismus. Der General hatte sich 1953 vorübergehend aus der aktiven Politik zurückgezogen. Es folgte einer Zeit der Parteienzersplitterung im bürgerlichen Lager; instabile Koalitionen und zahlreiche Regierungswechsel charakterisierten die IV. Republik in der Phase ihres Niedergangs. Ausgelöst wurde die poujadistische Rebellion durch verschärfte staatliche Steuerkontrollen. Im Sommer 1953 erreichten sie auch die südwestfranzösische Provinz. Der Fiskus, dem es bis dahin nicht gelungen war, die genauen Umsätze von Kleinbetrieben festzustellen, hatte neue, als Schnüffelei empfundene Methoden entwickelt, um anhand äußerer Anzeichen von Wohlstand die tatsächlichen Umsätze genauer schätzen zu können. Dies führte zu Unmut und spontanem Widerstand. Angeführt wurde die antifiskalistische Bewegung von einem Mann, der als der »Papierhändler von Saint-Cere« in die französische Nachkriegsgeschichte eingegangen ist. Sein Name war Pierre Poujade (1920-2003). Der energische junge Mann rief zum Widerstand auf, organisierte Unterschriftensammlungen und bereiste unermüdlich als Agitator und begabter Redner, als Kumpel im Rollkragenpullover die französische Provinz. »Aber es gab ja nicht nur mein Dorf. Ich musste die gesamte Gegend mobilisieren und konnte dabei von dem riesigen Netz von Kunden profitieren, die meine Freunde geworden waren und das ich mir über die Jahre aufgebaut hatte. Als Propagandist des antifiskalischen Virus fuhr ich also über die Landstraßen und rief die Bevölkerung zum Widerstand auf. [...] Die poujadistische Bewegung nahm ihren Aufschwung. Eine vollkommen spontane Bewegung, ohne Organisation und anfangs auch ohne politisches Ziel<«. (Poujade 1977: 104f.) Schon 1953 formierte sich der populistische Widerstand, aus-gehend vom Departement Lot in Südwestfrankreich, der >finstersten Provinz< gewissermaßen. Zwischen 1954 und 1955 gelang es der Bewegung, sich südlich des Loire-Gebiets auszubreiten und Druck auf das Parlament in Paris auszuüben. Einen spektakulären Durchbruch erzielte sie bei den Parlamentswahlen 1956, zu denen sie unter den Namen Union de Defense des Commercants et Artisans (U.D.C.A.)
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antrat und auf Anhieb 2,5 Millionen Stimmen und 52 Abgeordnetensitze erobern konnte.
Werdegang eines Populisten Biographisch vereinigte Pierre Poujade etliche Elemente, die für das selbstständige Kleinbürgertum in der französischen Provinz typisch waren, vor allem die Erfahrung oder Drohung von sozialem Abstieg und ökonomischer Perspektivlosigkeit. Es sind die sozial absteigenden Kräfte in den wenig entwickelten Landesteilen, die sich in einer Zeit, in der keine Partei der Mitte für sie spricht, zu Wort melden. Der französische Populismus formierte sich als eigene politische Kraft in einer Phase, in der die etablierten Parteien in Parteienhader, Zersplitterung und parlamentarischer Selbstblockierung versunken waren. Der familiäre Hintergrund Poujades ist nicht untypisch für die populistischen Führer der älteren Generation, die meist aus kinderreichen, konservativen Familien stammten. Poujade war das jüngste von sieben Kindern. Sein Vater, Sohn eines Bauern, hatte es zum Architekten und damit zu gesellschaftlichem Aufstieg gebracht. Die Familie gehörte zum alteingesessenen Bürgertum und stand für »Kirche, König und Vaterland«. Aber im Alter von acht Jahren verlor Poujade den Vater; die Mutter zog daraufhin in ungesicherten Verhältnissen vier noch unmündige Kinder auf. In dieser prekären Familiensituation musste der junge Poujade ab seinem sechzehnten Lebensjahr für seinen Lebensunterhalt sorgen und tat dies in wechselnden Berufen, aber ohne die Chance, das Ausbildungsniveau des Vaters und damit dessen sozialen Status zu erreichen. Eine Lehre als Typograph, Aushilfsarbeiten als Erntehelfer, Docker, Straßenarbeiter prägten seine Erfahrung als sozial Deklassierter. Ein Versuch, bei der Luftwaffe seinen Weg zu machen, scheiterte aus disziplinarischen Gründen. Poujade galt als Aufrührer, der seine Kameraden nach Ansicht der militärischen Führung negativ beeinflusste. Als talentierter Organisator engagierte Poujade sich schon früh in der Politik. Bereits mit vierzehn Jahren war der sportliche junge
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Mann als Gründer und >Chef< eines Athletikclub hervorgetreten. Die politischen Vorbilder seiner Jugend hießen Jacques Doriot und Henri Dorgeres. »Sie allein kristallisierten die Sehnsucht einer Jugend voller Ungeduld, den Kampf aufzunehmen«. (Ebd.: 37) Doriot hatte als einer der Führer der kommunistischen Partei begonnen, sich aber 1936 von ihr abgewandt und den faschistischen, auch im Arbeitermilieu erfolgreichen Parti Populaire Francais gegründet. Dorgeres dagegen galt damals als der größte Bauernführer Frankreichs und gründete die Organisation der Chemises Vertes (Grünhemden), die großen Erfolg in der Landjugend hatte. Während des Zweiten Weltkriegs kämpfte Poujade an der Seite der Vichy-Anhänger unter Marschall Philippe Petain, war aber strikt gegen das Nazi-Regime und verstand den Petainismus als nationale Befreiungsideologie. In einer dem Marschall unterstellten Organisationen, den Compagnons de France, stieg Poujade zur Führungsspitze auf und war zuständig für Agitation und Propaganda. Aber sein Ziel war es, sich nach Nordafrika durchzuschlagen und an der Seite der Alliierten gegen die Deutschen zu kämpfen. Dort lernte er seine spätere Frau Yvette kennen. Sie entstammte einer politisch links stehenden Familie von Algerienfranzosen und war aktiv in der kommunistischen Jugend tätig. In diesen vom Krieg geprägten Lehr- und Wanderjahren folgte ein kurzer Aufenthalt in einem Trainingslager der RAF in England, wo Poujade zum Piloten ausgebildet werden sollte: Stationen im Leben eines »Entwurzelten«, der nach Kriegsende zu seinen Wurzeln zurückkehrte. Nach 1945 macht Poujade sich in seinem Heimatort Saint-Cere als Verlagsvertreter und später als Buch- und Papierhändler selbstständig. Anfang der fünfziger Jahre, zu Beginn seiner Bewegung, resümiert er seine Stellung im Leben: »1953 war ich dreiunddreißig Jahre alt, hatte Frau und vier Kinder. Mein Ziel im Leben war es, meinen kleinen Handel aufzuziehen, für seinen Erfolg zu arbeiten, meine Familie zu ernähren. Ich hatte keine Angst vor dem Kampf; im Gegenteil, er regte mich an, sei es im Stadion, um einen Rekord zu brechen oder im Alltagsleben. Ich war, kurz gesagt, wie viele Franzosen; deshalb haben sie mich angehört. Sie haben mir vertraut, weil sie sich in mir wiedererkannt haben«. (Ebd.: 20) Poujade ist der Jedermann, der sein Charisma nicht aus dem Anderssein bezieht, sondern
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aus dem So-sein-wie-alle. Zugleich ist er der Nobody, der unbekannte Mann aus der Provinz, der nicht die üblichen Bildungsabschlüsse und Karrierewege der politischen Elite Frankreichs vorweisen kann. Poujades Verwurzelung im Volk, in seiner Heimatgegend, die er unermüdlich mit seinen Bücherkoffern bereist, in der er jeden kennt und von allen als »einer der Unsrigen« anerkannt wird, ist sein politisches Kapital. Zunächst tritt er auf der Liste von de Gaulies RPF für die Kommunalwahlen an und kann gegen den Kandidaten der kommunistischen Partei zahlreiche Stimmen der Kommunisten für sich gewinnen. Freilich, der Kandidat der KPF ist Schlossbesitzer, Salonkommunist, verkehrt mit den Notablen des Ortes und ist gern gesehener Gast in den örtlichen Salons. Er dagegen, der >rechte< Poujade, ist der wahre Mann aus dem Volk; nicht das Programm zählt, sondern Herkommen, Habitus und Zugehörigkeit. Mögen die versnobten Pariser Intellektuellen auch die Nase rümpfen über den spießigen Herrn Poujade und seine Ehefrau, die sich auf ihrer ersten Reise in die Hauptstadt wie Provinzler im Sonntagsstaat vor dem Eiffelturm photographieren lassen, so wissen Poujade und seine Anhänger, dass ihre Lebensform eine eigene, bewahrenswerte Würde hat und dass sie, nicht die arroganten Eliten im Zentrum der Macht, die eigentlichen Erben der Französischen Revolution sind. Mögen die Pariser Journalisten ihn auch bald als »Poujadadolphe« apostrophieren, ihn einen Faschisten nennen und ihm Rassismus vorwerfen — was er vehement bestreitet — so weiß Poujade doch, wen er als Volk von Frankreich anspricht: Arbeiter, Bauern, Handwerker und kleine Ladeninhaber. Er spricht nie vom französischen Volk, sondern vom »Volk von Frankreich«, eine kleine, aber gewichtige semantische Nuance, die den Akzent auf den mittelständischen, »ewigen« Volkskörper legt, nicht auf die Nationalität.
Die Bewegung formiert sich Bei der Analyse der Wählergeographie der U.D.C.A. Mitte der fünfziger Jahre zeigt sich ein deutlicher Unterschied zu den Gebieten mit hohem Stimmenanteil für den rechtsextremen Front National ab den siebziger Jahren. Die meisten Anhänger findet die U.D.C.A. in Süd-
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und Südwestfrankreich, an der Côte d'Azur mit dem Hinterland der Provence und im Languedoc. Das Departement Lot, Kern und Ausgangspunkt der Bewegung, ist in den fünfziger Jahren ein stagnierendes Gebiet mit sinkendem Bevölkerungsanteil und einem Durchschnittsverdienst, der deutlich unter dem Landesdurchschnitt liegt. Die Sozialstruktur ist geprägt von vielen Klein- und Familienbetrieben. Die Landflucht nimmt dramatische Formen an, und vor allem der Kleinhandel wird bedroht von den neuen Organisationsformen im Handel, von Kaufhäusern, Supermärkten und Ladenketten mit günstigeren Großhandelspreisen. Aber es sind nicht nur die ländlichen Gebiete Frankreichs, sondern auch solche mit einem gewissen Industrialisierungsgrad, in denen Poujade Erfolg hat. Stanley Hoffmann konnte am Beispiel des Departements Isère mit seinem hohen Stimmenanteil für die Poujadisten zeigen, dass nicht Industrialisierung und Modernisierung an sich Ängste auslösen, sondern ihr rascher, als zu plötzlich und zu einschneidend empfundener Rhythmus (Hoffmann 1956: 197). Dagegen liegen die Hochburgen des Front National ab den siebziger Jahren in den städtisch verdichteten und industrialisierten Gebieten, vor allem im Pariser Becken, in den nordfranzösischen Bergbaugebieten, in den ostfranzösischen Landesteilen Elsass und Lothringen und im Rhônebecken. Auch an der Mittelmeerküste mit dem nach der Entkolonialisierung steigenden Einwandereranteil ist der Front National stark vertreten. In den wirtschaftlich rückständigen Gebieten Südwestfrankreichs, dem eigentlichen Kernland des Poujadismus, geht bis zum Aufstieg der U.D.C.A. ein hoher Stimmenanteil, rund 28 Prozent, an die Kommunisten, aber auch die Rechte ist stark vertreten. Bis 1954 sind sogar zahlreiche Kommunisten in den Reihen der U.D.C.A. zu finden, obwohl diese Protestbewegung von Beginn an traditionalistische, familienorientierte Züge trägt. Die Sorge um Schutz und Stärkung der Familien und ihrer ökonomischen Grundlagen treibt diese Familienväter in die Arme Poujades. Dessen Bewegung beginnt zunächst als Steuerrebellion und entzündet sich an den staatlichen Steuerprüfungen. Poujade fordert eine Einheitssteuer und richtet seinen Protest gegen die ungleiche, übermäßig komplizierte und daher undurchschaubare Steuergesetzgebung.
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Der Poujadismus — eine apolitische Bewegung? Mit der klassischen französischen Rechten verbindet Poujade wenig. Die programmatischen Schlüsselbegriffe seiner Bewegung lauten nicht Ordnung, Hierarchie, Nation, Vaterland, Führung, sondern Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Seine Anhänger entstammen weder aus dem ultrakonservativen Milieu, noch aus dem Umkreis der faschistischen Ligen der Zwischenkriegszeit. Vielmehr stehen sie der antiklerikalen Tradition der französischen Radikalen, einer linksliberalen Partei, nahe. Deren Ziele waren, neben der Trennung von Kirche und Staat, die Zurückdrängung staatlicher Bevormundung, der Abbau staatlicher Subventionen, stärkere Eigenständigkeit der Regionen gegenüber dem Zentralstaat, aber auch größere soziale Gerechtigkeit. Poujades Bewegung, die zunächst nur als spontane Aktion in Erscheinung tritt, entwickelt erst spät ein Programm. Sie wächst in einer Zeit rascher Modernisierung, aber großer Stagnation in der Politik. Die kommunistische Partei vertritt als Volkstribun vor allem die Industriearbeiterschaft. De Gaulle als Initiator einer Sammlungsbewegung nach Art bürgerlicher Volksparteien hat sich vorübergehend aus der Politik zurückgezogen. Die Liberalen, die dem vorpolitischen Verlangen der Poujadisten programmatisch am nächsten stehen, sind gespalten und agieren als Honoratiorenparteien. Die sozialdemokratische SFIO ist als Partei von Lehrern und anderen Staatsbediensteten für die Nöte des kleinen, selbstständigen Mittelstandes taub. Sie gilt als Partei der verhassten Bonzen und Bürokraten, die im Staatssektor ein risikoloses Unterkommen gefunden haben. Lediglich die Kommunisten wittern im Poujadismus ein Potential an Volkswiderstand, den es auf die >richtige< Bahn zu bringen gelte. Poujade gelingt es, den Zugriff der Kommunisten auf seine Bewegung abzuwehren; er unterscheidet aber zwischen den kommunistischen Führern und ihren Anhängern, denen er Brücken zu seiner Bewegung bauen möchte. Der Aufstieg der U.D.C.A. fällt in die Phase der beginnenden Entkolonialisierung. 1954 erleiden die französischen Truppen in Dien-Bien-Phu eine entscheidende Niederlage im Indochinakrieg. Auch in Algerien gärt es, einem Gebiet, das nicht nur ausgebeutete
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Kolonie ist, sondern inzwischen Teil des Mutterlandes und schon seit dem 19. Jahrhundert ein begehrtes Siedlungsgebiet für die »kleinen Leute«, die colons. In dieser Situation hält Poujade 1954 demonstrativ den ersten Kongress seiner Partei in Algier ab, um zwei Ziele hervorzuheben: Händler, Handwerker, kleine Gewerbetreibende mit ihren Familienbetrieben sind erstens kein historischer Anachronismus, sondern das »Rückgrat der Nation«. Daher gelte es, zweitens, am französischen Besitz in Algerien als Siedlungsgebiet für die Colons festzuhalten. Die Frage des Rückzugs aus dem nordafrikanischen Gebiet spaltet die Nation. Algerie Francaise lautet die Parole der Rechten, aber auch der neuen poujadistischen Bewegung. Scheinbar im Widerspruch zu dieser Haltung in der Kolonialpolitik steht aber, dass sich Poujade gerade nicht auf die Ziele der französischen Rechten, sondern auf die Französische Revolution von 1789 mit ihrer Parole Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit beruft. Gegen die Politik der Berufspolitiker, die die Not des »gemeinen Mannes«, der braves gens, des brave populo, nicht zur Kenntnis nehmen, fordert Poujade eine Einberufung der Generalstände. Um die Macht des großen Geldes und die »Diktatur« der Verwaltung abzuwehren, sollen wieder, wie zur Zeit der Revolution, Beschwerdehefte (cahiers de doleances) eingeführt werden. Als »Rückgrat der Nation« stellen sich Poujade und seine Anhänger in die Tradition des bodenständigen Mittelstandes, der in einer Phase der akuten Modernisierung in die Defensive geraten ist, dem aber zu Beginn des 19. Jahrhunderts viele Aufstiegswege offen gestanden haben. »Die Mittelklasse hat das Ideal der Revolution und des Empire aufrechterhalten«. (Poujade 1977: 16) Dieses Ideal lautet: Jeder Franzose, gleich welcher Herkunft, auch der bescheidensten, trägt den Marschallstab in seinem Tornister, jeder kann aus eigener Kraft aufsteigen: Freie Bahn dem Tüchtigen! Poujade und seine Anhänger machen aber die Erfahrung, dass diese Ziele inzwischen im Widerspruch zu ihren Realisierungsmöglichkeiten stehen. Die Aufstiegswege für den selbstständigen Mittelstand sind nicht nur blockiert, sondern faktisch steigt er ab. Diese Erfahrung von Anomie treibt die Poujadisten in die Rebellion. In seinem Text Notre apolitisme betont Poujade die unpolitische Haltung seiner Bewegung. Er definiert sie als apolitisch, da sie weder
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eine grundlegende politische Veränderung anstrebe noch eine gesellschaftliche und politische Vision verkünde. Nicht die Transformation des Staates ist das Ziel, sondern dessen Reinigung von einer neuen Kaste von Nutznießern zulasten des »gemeinen Mannes«. Die Abschaffung der Steuerkontrollen, die Forderung nach einer gerechteren Besteuerungspraxis, sind nur die auslösenden Momente, hinter denen sich vorreflexiver Traditionalismus, Abstiegsängste und ein subpolitischer Familismus verbergen. Politik ist den Poujadisten im Grunde gleichgültig, solange ihr Milieu und ihre Lebenswelt nicht von den »Großen« und von außen bedroht werden. Aber nicht in der großen Industrie als der eigentlichen Trägerin des kapitalistischen Vergesellschaftungsprozesses sehen sie die größte Bedrohung, sondern in der politischen »Maschine« von Berufspolitikern und den damals in Frankreich erstmals in größerem Umfang aufkommenden Ladenund Vertriebsketten im Handel. Der Poujadismus steht in der Tradition der Girondisten zur Zeit der Französischen Revolution. Im Sinne dieser frühliberalen Tradition interpretiert Poujade auch die Parolen der französischen Revolution. Freiheit bedeutet Freiheit vom Staat, der als aufgebläht, aber handlungsschwach, als steuergierig und ungerecht wahrgenommen wird. Gleichheit steht für die berufsständische Gleichheit der compagnons (Genossen) im vorkapitalistischen Sinne von Zunft- oder Gildengenossen. Brüderlichkeit heißt für die Poujadisten daher weder internationale Solidarität der ausgebeuteten Arbeiterklasse noch sozialstaatliche Verteilungsgerechtigkeit, sondern knüpft, mit dem Ziel der staatsfreien Selbstorganisation, an die mittelalterlichen Bruderschaften von Handwerkern und Kaufleuten an. Das abstrakt-universalistische Verständnis von Brüderlichkeit verengen die Poujadisten auf den konkret fassbaren, partikularen Gehalt von Standesgenossen, die nicht nur Standesgleiche sind, sondern auch der gleichen Lebensgemeinschaft angehören. In seiner Untersuchung zum Konservatismus nennt Karl Mannheim dieses seinsverbundene Denken auch »genossenschaftliches« oder »gemeinschaftsgebundenes Denken« (Mannheim 1984: 194). In der idealtypischen Gegenüberstellung von Ferdinand Tönnies stehen Populisten wie Poujade auf der Seite der Gemeinschaft, nicht auf der der Gesellschaft. Die traditionellen Bande von Familie und
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Berufsgenossen zählen mehr als Staatsinterventionismus und werden von diesem zunehmend bedroht, was zu Anonymisierung und Vermassung führe. Dies ist auch der Grund, warum Populisten weder faschistisch, noch protofaschistisch genannt werden können. Werte wie Autorität, Hierarchie, Disziplin, staatlicher Zentralismus und personales Führertum sind mit ihrer Lebenswelt nicht vereinbar, wohl aber eine anti-autoritäre, vorreflexive und spontane Bereitschaft zu Revolte und Rebellion in der langen, die Vormoderne durchziehenden Tradition von Volkshelden und Steuerrebellen nach Art eines Robin Hood.
Das Gesellschaftsbild zwischen Frühliberalismus und Konservatismus Auch die intellektuellen Gewährsleute Poujades sind keine Reaktionäre, sondern changieren, auf der Suche nach Synthesen und dritten Wegen, zwischen Konservatismus und Liberalismus. Zu seinen Vorbildern zählt Poujade den liberalen, Mitte des 19. Jahrhunderts äußerst populären, romantischen Dichter und Schriftsteller Victor Hugo, dessen Text Die Hoffnung liegt im Volke (1838) er zitiert: »Dem Volk, dem Volk gehört die Zukunft, aber nicht die Gegenwart; dem Volk, arm, intelligent und stark, tief stehend, aber nach Hohem strebend.« (Poujade 1955: 134f.) Ein weiterer Bezugspunkt ist der Schriftsteller Charles Péguy, der als linker Dreyfus-Anhänger und Sozialist begann und später zum Katholizismus konvertierte. In staatstheoretischer Hinsicht kommt der Philosoph Alain dem Poujadismus am nächsten mit seiner Verteidigung der negativen Freiheit vom Staat: »Fordern wir vom Staat nicht, dass er uns reich mache, fordern wir vor allem von ihm, dass er uns nicht ruiniere. Er möge aufhören zu schaden, das wäre uns schon Reichtum genug«. (Zit. nach Hoffmann 1956: 387)21 Mehr als einhundert Jahre früher hatte bereits Alexis de Tocqueville, der Ahnherr dieser antizentralistischen, liberalkonservativen 21 Zum Einfluss Alains auf den populistischen Denkstil der Poujadisten vgl. auch Borne 1977: 221. Alain war das Pseudonym für Emile-Auguste Chartier (18681951), zu dessen Schülern u.a. die linke Mystikerin Simone Weil gehörte.
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Staatskritik, geschrieben. »[Der Staat] bricht den Willen nicht, sondern er schwächt, beugt und leitet ihn; er zwingt selten zum Handeln, steht vielmehr ständig dem Handeln im Wege; er zerstört nicht, er hindert die Entstehung; er tyrannisiert nicht, er belästigt, bedrängt, entkräftet, schwächt, verdummt und bringt die Nation schließlich dahin, dass sie nur noch eine Herde furchtsamer und geschäftiger Tiere ist, deren Hirte die Regierung«. (Tocqueville [1835ff.] 2004: 344) Die Verteidigung des »freien Mannes« und die Bewahrung seiner ökonomischen Selbstständigkeit stehen im Zentrum nicht nur des poujadistischen, sondern eines jeden populistischen Diskurses. Die moderne Industriegesellschaft und die von dem damaligen Ministerpräsidenten Pierre Mendes France unternommenen Anstrengungen zur Modernisierung des Landes, vor allem im Bildungssektor, stehen für die Poujadisten im Ruch einer wachsenden Kollektivierung. In ihrem kulturellen Traditionalismus sträuben sie sich gegen »Gleichmacherei«, Einförmigkeit, Uniformisierung, gegen ein Leben in einem zentralistisch gelenkten »Ameisenstaat«. All das sei Sklaverei und Unterwerfung des freien Mannes, seine Eingliederung als Rädchen in ein anonymes Räderwerk von Lohnabhängigkeit und staatlicher Bevormundung. Dieser Anarcho-Konservatismus mit seiner Abwehr von Entfremdung wird in einer Rede Poujades deutlich: »Morgen [...] werden wir alle das gleiche Hemd tragen, den gleichen Anzug, das gleiche Paar Schuhe. Das alles werden wir beim gleichen automatischen Verteiler kaufen [...] Man will uns zu einer Masse von Robotern machen«. (Zit. nach Hoffmann 1956: 211) Gegen diese Gefahr, ausgehend von Intellektuellen, einer ausufernden Bürokratie, dem staatlichen Dirigismus und seiner »Maschine«, zeichnet sich umrisshaft eine populistische Alternative ab: eine am mittelalterlichen Gildenwesen ausgerichtete, genossenschaftlich organisierte Gesellschaft, in der ein schwacher Nachtwächterstaat einen gewissen schützenden Rahmen vorgibt, innerhalb dessen sich aber die sozialen und Berufsgruppen privatrechtlich organisieren und ihre Belange vertreten. Dieses genossenschaftliche Ideal starker gesellschaftlicher, sich selbst organisierender Kräfte und eines Minimalstaates steht aber in diametralem Gegensatz zum Faschismus. Auch wenn Mussolini ei-
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nen Korporativstaat propagierte, so blieb dieses Vorhaben toter Buchstabe. Die faschistischen Korporationen mutierten zu verlängerten Armen des Staates oder zu staatlich kontrollierten Einheitsgewerkschaften. Der Nationalsozialismus hat gar nicht erst den Versuch unternommen, ständestaatliche Tendenzen zu fördern. Entsprechende Versuche des Österreichers Othmar Spann wurden nicht aufgegriffen und blieben ein Randphänomen. Aber letztlich war Poujade, abgesehen von verbalen Ausfällen gegen die moderne, dirigistische Staatstätigkeit, in seiner Einstellung zum Staat gespalten. Seiner kleinbürgerlichen Klientel wollte er nicht die auch für sie geltenden Vorteile von staatlicher Sozialversicherung, Gesundheitsvorsorge und Arbeitslosenhilfe ausreden. Dagegen schlug er bei den sozial höher gestellten Freiberuflern wie Ärzten, Apothekern, Anwälten oder Architekten radikalere anti-etatistische Töne an.
Das sozialpsychologische Syndrom Wenn Populisten dennoch immer wieder in die Nähe des Faschismus gestellt werden, so bezieht sich dies nicht auf die spärlich ausgearbeitete Programmatik und die liberalkonservativen Zielsetzungen, sondern auf ein sozialpsychologisches Einstellungssyndrom, das sich der Faschismus in hohem Maße zunutze machen konnte und noch schürte: die Angst vor sozialem Abstieg, die Suche nach Sündenböcken, seien es Fremde, Juden oder Immigranten und nicht zuletzt eine ausgeprägte Intellektuellenfeindschaft. Als Menschen aus dem Volk ohne höhere Bildungsabschlüsse, aber auch ohne die Einsicht in die Notwendigkeit höherer formaler Bildung vor dem Hintergrund einer komplizierten und technologisch avancierten modernen Industriegesellschaft betrachten sie Intellektuelle als Haarspalter und besserwisserische Nonkonformisten, die ihre Seele an die »Großen« verkauft hätten. Intellektuelle Skepsis und Nonkonformismus sind daher ebenso eine Bedrohung für ihren Immobilismus wie die Konzentration in Industrie, Handel und Bankwesen. Vor allem die französischen Elite-
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hochschulen 22 und ihre Absolventen, die künftigen Kader in Politik, Verwaltung, Finanz und Management, nimmt Poujade aufs Korn. Die Wiederbelebung der Nation werde nicht von den Technokraten ausgehen, sondern vom Volk. Sie werde aber bedroht durch die wachsende Abhängigkeit der Volksschichten vom Staat. »Der ausgebeutete Arbeiter kann nicht mehr seine Familie ernähren ohne Hilfe vom Staat. Der Bauer, der seine Produkte verkaufen will, muss, um sein Material bezahlen zu können, auf den Staat zurückgreifen. Der Kleinhändler oder der Handwerker, der dieser gewollten Krise nicht gewachsen ist, sieht keinen anderen Ausweg als im Staat«. (Poujade 1955: 143) Abhängigkeit vom Staat aber ist Sklaverei, Freiheit heißt Unabhängigkeit vom Staat, aber auch Freiheit vom Lohnarbeiterdasein in den Großfabriken. Das Ressentiment gegen die Intellektuellen, vor allem gegen die sozialplanerisch tätigen unter ihnen, äußert sich in Poujades Kritik an Projektemacherei und Planung. Gegen die von »lauter Mathematik abgestumpften« Absolventen der polytechnischen Elitehochschule stellt er den bon sens, den gesunden Menschenverstand, der »einfachen« und »bescheidenen« Menschen. Abstraktes Wissen steht gegen die gelebte Erfahrung im Volke, der Positivismus der Macher, Planer und Gesellschaftskonstrukteure gegen Intuition und Instinkt. Der Begründer der positivistischen Soziologie, Auguste Comte, mit seinem Anspruch auf wissenschaftlich begründbare gesellschaftliche Planung und Steuerung steht gegen das andere, das >tiefe< Frankreich der Tradition und der langen Dauer. »Wenn es [das Volk von Frankreich, K.P.] eher instinktiv als reflektiert merkt, dass dies seine letzte Chance ist, können wir Hoffnung schöpfen...« (Ebd.: 152) Das populistische Syndrom entzündet sich nicht nur an der »Steuertyrannei«, sondern auch an scheinbar nebensächlichen politischen Maßnahmen, die aber als Angriff auf die gewachsenen Traditionen wahrgenommen werden. So hatte Mendes France beispielsweise, um den Alkoholismus in Frankreich zu bekämpfen und die 22 Aus diesen von Napoleon gegründeten Elitehochschulen geht bis heute die geistige und politische Elite Frankreichs hervor. Poujade hebt daher immer wieder die Enarques, die Absolventen der Ecole Nationale d'Administration (ENA), aus der die hohen Verwaltungsbeamten und Politiker hervorgehen, und die >Technokraten< von der Ecole Politechnique, die Politechniciens, als Gegner hervor.
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Volksgesundheit zu stärken, in einer breit angelegten Kampagne den Franzosen nahegelegt, mehr Milch zu trinken. Poujade und seine Anhänger sahen darin nicht nur eine Bedrohung für die Weinbauern, sondern auch eine bevormundende Aktion gegen eine als erzfranzösisch empfundene Lebensweise. Wie kleine Kinder Milch trinken zu sollen, musste ihnen überdies als Angriff auf ihre Virilität und ihr traditionelles Männerbild vorkommen.
Antisemitismus und Rassismus Der Poujadismus formierte sich vor allem als Anti-Bewegung. Auf Plakaten mobilisierte er in einer markigen Sprache diese Antihaltung. »Gegen die vaterlandslosen Trusts, die Euch ruinieren und versklaven. Gegen die Wahltrusts, die Euch um Eure Stimme beschummeln. Gegen die Bande von Ausbeutern, die von Eurer Arbeit und Eurem Ersparten lebt. Gegen die Bande von Aasgeiern, die sich am Blut Eurer Toten labt. Erhebt Euch!« (Zit. nach Hoffmann 1956: 145) Gauner, Ausbeuter, Aasgeier, Blutsauger, das vaterlandslose Großkapital, die seelenlose politische »Maschine«, der drohende »Ameisenstaat«, der freiheitsberaubende Kollektivismus — in diesen Topoi artikuliert sich der konservative Volkswiderstand gegen die moderne Welt und ihre Apparate. Aber nicht nur hinter dem Kampf gegen die »Macht des Geldes«, sondern auch konkret im Kampf gegen den Politiker der linken Mitte, Pierre Mendes France,23 verbergen die Poujadisten nur notdürftig ihren Antisemitismus. Mendes France stand Anfang der fünfziger Jahre nicht nur für eine Politik der Modernisierung und rekrutierte seine Anhänger aus dem städtischen Milieu der Modernisierungsgewinner, sondern stammte auch aus einer sephardisch-jüdischen Familie. Der Jude »Isaac« Mendes, wie er von Poujades Anhängern genannt wurde, galt als Personifizierung des jüdischen Kapitals und der modernen kapitalistischen Geldwirtschaft. Jude, Geld, Kosmopolitismus, Modernisierung stehen, wie bei allen Antisemiten,
23 Mendes France war nur kurz, von Juni 1954 bis Februar 1955, Ministerpräsident und vertrat die liberale Partei der Radikalsozialisten.
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auch bei den Poujadisten in einem scheinbar stimmigen Zusammenhang, der durch Verschwörungs- und Abstiegsängste aber erst hergestellt wird. Auch wenn Poujade immer wieder auf die jüdische Herkunft bestimmter französischer Politiker anspielt, weil er hier mit unein-geschränkter Zustimmung seiner Zuhörer rechnen kann, so verwahrt er sich doch gegen den Vorwurf des Rassismus: »Was ist Rassismus? Es ist die Verherrlichung einer Rasse. Das kann es unter uns nicht geben. Frankreich ist ein Schmelztiegel, in dem alle Rassen gemischt sind und alle Rassen Asyl gesucht haben«. (Zit. nach Simmons 1996: 30) Aber auch, nachdem es den Poujadisten gelungen war, mehr als fünfzig Abgeordnete ins Parlament zu schicken, blieben ihre Forderungen vage und unbestimmt. Zudem musste Poujade sich gegen manche seiner Anhänger verteidigen, die im Einzug ins Parlament einen Verrat an ihrem eingefleischten Antiparlamentarismus sahen. Poujade unterschied daher etwas spitzfindig zwischen »Politik machen« und »in Politik machen«; letzteres gelte für das Parteienestablishment.
Traditionalismus der Mitte Ihre potentielle Gewaltbereitschaft: steht nur äußerlich in der Tradition des Jakobinismus, geht es den Poujadisten doch nicht um die Zerstörung der bestehenden Gesellschaft, sondern um die Festigung und Verteidigung ihres Rückgrats — des selbstständigen Mittelstandes. Die markigen Worte, die kernigen Ansprachen und aufputschend formulierten Plakattexte, die verbale Androhung, Verräter in den eigenen Reihen am Galgen aufzuknüpfen, dienen eher der psychologischen Mobilisierung einer Bevölkerung, die ungeschminkte Rhetorik und habituelle Derbheit zu schätzen weiß, stehen aber im Gegensatz zu dem politisch eher moderaten Auftreten der Poujadisten. Als kleine, aber ehrbare Leute wissen sie, was sich gehört; sie sind keine Extremisten. Ihr Aktivismus erwächst nicht aus der Vision einer neuen Welt, sondern ist ein Reaktivismus, verstanden als Selbsthilfe, Selbstverteidigung und Selbstbehauptung. Paradoxerweise
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machen sie mobil zur Verteidigung von Immobilismus und sozialer Stagnation. Gegen gesellschaftlichen Wandel stellen sie die Verteidigung von Dauerhaftigkeit durch Rückzug auf die eigenen Kräfte, wenn keine politischen Parteien sich ihrer annehmen. Der Poujadismus zeigt in geradezu klassischer Ausprägung das Janusgesicht eines jeden Populismus, nämlich die Koexistenz linker und rechter, sowohl antimonopolkapitalistischer als auch antikommunistischer Elemente. Kommunismus bedeutet Negation der Freiheit, Kollektivismus, Anonymität und »Kasernenstaat«. Das gleiche gilt aber auch für den Kapitalismus. Auch er gehört spiegelbildlich zu den Kräften der abstrakten, anonymen Gleichförmigkeit und ist nur die andere Seite der gleichen Medaille. Dagegen beharren Poujadisten auf der Konkretion von eigener Erfahrung, auf den gewachsenen Nahbeziehungen von Mensch zu Mensch, auf konkret fassbaren Personen, die für ihre Arbeit einstehen und sich nicht hinter undurchschaubaren Befehlsketten verschanzen: »Wir wollen Menschen aus Fleisch und Blut gegenüberstehen. Die Kaufhäuser [...] sind internationale Mächte und können uns immer nur Stellvertreter ohne eigene Verantwortung bieten, gelenkt von jenen, die weit weg sind und deren Gesichter wir nicht kennen. Wir wollen es nicht mit Leuten zu tun haben, die nicht in Erscheinung treten. [...] Wir wollen keinen Kapitalismus, der immer inhuman ist, der nur nach den Gesetzen der Rechenkunst rechnet, aber den entscheidenden Faktor vergisst — das menschliche Herz«. (Poujade 1955: 212, Dokumentenanhang) In ungeschulter, aber erfahrungsgesättigter Sprache kommt zum Ausdruck, was Marx die Entfremdung genannt hat. Der Kapitalismus, so Marx, bewirke nicht nur die Entfremdung des Menschen vom Produkt seiner Arbeit, sondern auch von Seinesgleichen. Zudem stößt man bei Populisten immer wieder auf einen zentralen Wert, den der Eigenverantwortung. John Dewey hat dies die Nicht-Delegierbarkeit des eigenen Tuns genannt, das Einstehen für die eigene, nicht entfremdete Arbeit, für die Gestaltung des eigenen Lebens und das der Familienangehörigen. Gesellschaftliche Großorganisationen, vor allem der moderne Interventionsstaat mit seiner Bürokratie, tendieren aus populistischer Sicht dazu, Verantwortung zu anonymisieren und sich damit den Folgen ihres Handelns zu ent-
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ziehen. Diese personale Verantwortungsethik ist ein immer wiederkehrendes Grundmotiv von Populisten, bis hin zu Pim Fortuyn. Da Populisten aus einem unpolitischen Traditionalismus heraus aktiv werden, nehmen sie nicht den ihren Bewegungen inhärenten Widerspruch wahr, nämlich zwecks Verteidigung der Freiheit die Institutionen zum Schutz der Freiheit in Frage zu stellen. Vielmehr verlagern sie diesen Widerspruch auf eine andere Ebene - auf die zwischen dem realen und wirklichen, von ihnen repräsentierten Land und dem »legalen« Land, der Sphäre der hohen Politik und Gesetzgebung. Kommt es aber in einer anomischen Situation zu einem Bruch zwischen dem »realen« und dem »legalen« Land, dann steht Legitimität gegen Legalität. Auch hier berufen sich die Poujadisten auf das in der »Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte« von 1789 garantierte Widerstandsrecht des Volkes, so wie fünfzig Jahre später Gianfranco Miglio von der Lega Nord sich auf das Naturrecht als Widerstandsrecht gegen den Staat berufen wird. Populisten wie Poujade sind keine Systemveränderer oder Extremisten, sondern Sprachrohre einer im Grunde unpolitischen, überdies marginalisierten Bevölkerungsgruppe, der »schweigenden Mehrheit« oder der secret people, wie G. K. Chesterton sie genannt hat. Ihre Aufwallungen und wortgewaltigen Schimpfkanonaden sind nicht zum Nennwert zu nehmen, sondern sind Anzeichen von Anomie, die sich immer dann einstellt, wenn gesellschaftlich proklamierte Ziele auf legalem Wege nicht mehr erreichbar sind, sei es durch zu rasche Modernisierungsschübe in Verbindung mit Aufstiegsblockaden und politischen Verkrustungen, sei es durch den Verlust von Kolonien als Ventile für jene Bevölkerungsteile, die im Land selbst keine Zukunft haben. Solchen anomischen Situationen gilt es Rechnung zu tragen durch Abfederung eines zu raschen und abrupten sozialen Wandels, durch Aufzeigen von Perspektiven und nicht zuletzt durch eine Politik des Ausgleichs zwischen den Gewinnern und den Verlierern der Modernisierung.
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5.2 Die Lega Nord: Das föderal-korporative Konzept Die Lega Nord gilt gemeinhin als Inbegriff des Wohlstandschauvinismus egoistischer Kleinbürger, die mit fremdenfeindlicher, rassistischer Stimmungsmache die nationale Solidarität aufkündigen wollen. Die groben, scharfmacherischen Ausfälle ihres Vorsitzenden Umberto Bossi gegen illegale Einwanderer aus außereuropäischen Ländern, aber auch gegen die eigenen, süditalienischen Landsleute und nicht zuletzt seine Zusammenarbeit mit Jörg Haiders FPÖ haben dazu geführt, dass die Begriffe rechtsextrem, neofaschistisch und rechtspopulistisch zunehmend synonym benutzt werden, was dem Verständnis der genuin populistischen Lega Nord eher abträglich ist.
Die politische Anomalie der Ersten Republik Italien ist häufig als politisches Laboratorium Europas bezeichnet worden. Die Geschichte des Landes, insbesondere seine späte nationalstaatliche Einigung Mitte des 19. Jahrhunderts und seine bis heute nachwirkende Spaltung zwischen dem prosperierenden Norden und den zurückgebliebenen Landesteilen im Süden, hat die Herausbildung einer einheitlichen politischen Kultur erschwert. Hinzu kommt das, was nach dem zweiten Weltkrieg die politische »Anomalie« Italiens genannt worden ist. Die Existenz einer starken kommunistischen Partei bewirkte, dass sich ein periodischer Wechsel zwischen Regierung und Opposition nicht einstellen konnte und es zu einem »unvollständigen« Zweiparteiensystem kam. Verstärkt durch das Verhältniswahlrecht, führte dies zur Herausbildung einer »virtuellen Einheitspartei« (Bordon 1997: 56) in Gestalt der christdemokratischen Democrazia Cristiana (DC), die in häufig wechselnden Regierungsbündnissen kleine Parteien als Koalitionspartner an sich zog, in den achtziger Jahren meist in Fünfparteienkoalitionen. Als »blockierte« Demokratie war Italien unter der Ersten Republik nur schwer regierbar. Die Handlungsfähigkeit der oft nur kurzen Regierungen wurde beeinträchtigt durch ein ausgefeiltes Proporzsystem nicht nur zwischen den Parteien, sondern auch innerhalb der DC, die in rund sieben Strömungen (correnti) unterteilt war. Sie alle
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mussten nach einem festgelegten Aufteilungsschlüssel bei der Postenvergabe berücksichtigt werden. Als >Nachsorgebereich< für verdiente Parteileute hatte sich eine Subregierung (sottogoverno) herausgebildet — ein weites Feld von öffentlichen Einrichtungen und staatlichen oder halbstaatlichen Betrieben — die wiederum streng nach Parteienproporz (lottizzazione) aufgeteilt wurde. Dieses »unvollständige«, die Kommunisten auf Dauer als nicht regierungsfähig ausschließende Parteiensystem basierte auf einem Massenklientelismus, dessen Grundlage ein im westeuropäischen Vergleich ungewöhnlich hoher Staatssektor war. Die schon unter Mussolini gegründete, nach 1945 weiter existierende Staatsholding IRI kontrollierte bis 1994 nicht nur die größten Banken Italiens, sondern ein ganzes Konglomerat von Staatsbeteiligungen an der Stahlund Werftindustrie, an der Fluggesellschaft Alitalia, an der staatlichen Rundfunk- und Fernsehgesellschaft RAI und am Ölkonzern AGIP. 1953 wurde die ENI 2 4 gegründet, eine weitere Holding, zuständig für Energie- und Rohstoffgewinnung, für Petrochemie, Erdöl und Erdgas, die in den achtziger Jahren geradezu als Pfründe der sozialistischen Partei (PSI) galt. Der Staatssektor erstreckte sich außerdem auf die Rüstungsindustrie, auf Textil-, Elektro-, Nahrungsmittel- und Chemieindustrie — eine absolute Besonderheit im Rahmen der westlichen, marktwirtschaftlich ausgerichteten Gesellschaften. Die Versorgung der jeweiligen politischen Klientel in Staatsbetrieben, in einer aufgeblähten, aber ineffizienten Bürokratie und in diversen parastaatlichen Organisationen nahm in Italien endemische Ausmaße an, und an der Schaltstelle dieses Patronagesystems saßen die Parteien. Eine weitere Besonderheit Italiens ist die »Südfrage«, die Frage nach Strategien zur Entwicklung jener süditalienischen Provinzen, die bis heute nicht nur unter hoher Arbeitslosigkeit und dem Zwang zur Emigration leiden, sondern auch unter der organisierten Kriminalität, vertreten durch die sizilianische Mafia, die kalabresische 'Ndrangheta, die in Kampanien verbreitete Camorra und weitere regionale Untergruppen.
24 IRI = Istituto per la ricostruzione industriale; E N I = Ente nazionale idrocarburi
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Mit Hilfe des staatlichen Entwicklungsinstituts Cassa per il Mezzogiorno wurde ab 1950 eine gesteuerte Investitionslenkung nach Süditalien angestrebt, um dort moderne Industriestrukturen aufzubauen, was aber aufgrund verfehlter Entwicklungsstrategien gescheitert ist. Bis heute herrscht hier, wie auch unvoreingenommene Beobachter bestätigen, eine »Kultur der Abhängigkeit«. »Die einseitige Ausrichtung auf den Ressourcentransfer mit dem Ziel höherer finanzieller Zuwendungen durch den Zentralstaat geht meist mit einer Initiativlosigkeit der eigenen politischen und unternehmerischen Führungsklasse einher, für die eine Infragestellung des Status Quo zur Gefahr für den traditionell privilegierten Zugang zu Ressourcen und Finanzmitteln wird«. (Seitz 1997: 144) In den achtziger Jahren gerieten auch die industriellen Zentren in Norditalien in eine Krise, die den Um- und Abbau des fordistischen, großindustriellen, Produktionsmodus einleitete. Massenentlassungen führten hier zur Herausbildung eines neuen Typs von kleinen Selbstständigen, die auf vielfaltige Weise in der so genannten Schattenwirtschaft oder in kleinen Familienbetrieben produzieren. Diese Kleinbetriebe mit wenigen Angestellten, auch economia diffusa genannt, können flexibler und schneller auf Marktentwicklungen reagieren als die großen Industrieaggregate und sind gleichzeitig stärker auf Kooperation untereinander angewiesen. Bei der »diffusen Ökonomie« handelt es sich um ein System, bei dem formelle Aspekte wie Gesetze und Verträge eine weitaus geringere Rolle spielen als persönliche Loyalität gegenüber der Verwandtschaft oder dem sozialen Nahbereich. Diese Kleinbetriebe sind kein vorkapitalistisches Relikt, sondern eine nachfordistische Erscheinung und zeigen, dass traditionalistische Lebensformen mit innovativer, dynamischer und flexibler Wirtschaftstätigkeit durchaus vereinbar sind. Diese Betriebe sind vor allem in jenen norditalienischen Gebieten verbreitet, die traditionell zu den Hochburgen der DC zählten. Hier setzte die Lega Nord an und propagierte ihr Konzept eines föderalen Liberalismus, der auf die Bedürfnisse dieser Kleinproduzenten und ihrer Angestellten und Arbeiter zugeschnitten ist. Damit gelang es ihr, die alten cleavages der italienischen Politik, insbesondere die Konfliktlinie Kapital-Arbeit, durch andere zu ersetzen, nämlich
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die von Zentrum und Peripherie, von Norden und Süden sowie von Staatssektor und privatem Sektor.
Das politische Erdbeben von 1992-1994 In diese Phase der Dezentralisierung des industriellen Sektors und des Übergangs zur nachfordistischen Produktionsweise fiel Anfang der neunziger Jahre die Krise des italienischen politischen Systems. Korruptionsskandale, Vetternwirtschaft und nicht zuletzt die Verfilzung namhafter Politiker mit der Mafia führten zu einer Delegitimation der Parteienherrschaft (partitocrazia), die sich des Staatsapparates und des Staatssektors in der Wirtschaft bemächtigt hatte. Die fehlende Bindung der Parteien an die Zivilgesellschaft bei gleichzeitiger Ineffizienz als Staatsorgane beschleunigte den Vertrauensverlust. Davon war nicht nur die den Staat als ihre Pfründe betrachtende »Einheitspartei« DC betroffen, sondern auch die PSI unter Bettino Craxi. Dieser war seit Beginn der achtziger Jahre bis zum Ende der Ersten Republik permanent an den Regierungen beteiligt und orientierte als autokratischer leader die sozialistische Partei auf die Mitte hin. Bei seinem Versuch, in Italien ein alternierendes Zweiparteiensystem nach angelsächsischem Vorbild um die beiden Pole DC und PSI zu installieren, ging ihm Silvio Berlusconi, schon damals Medienmogul und Multimillionär, tatkräftig als finanzieller Sponsor zur Hand, der wiederum ein Präsidialsystem nach amerikanischem Vorbild anstrebte. Die politische Initiative Craxis scheiterte, als die Wahlen von 1992 einen erdrutschartigen Verlust für Christdemokraten und Sozialisten brachten und zum Aufstieg von Protest- und Reformparteien führten, deren wichtigste die Lega Nord war. Neben der Bewegung der Richter und Staatsanwälte (»Saubere Hände«) war die Lega maßgeblich daran beteiligt, der abgewirtschafteten Ersten Republik den Todesstoß zu versetzen. Zwischen 1992 und 1994 kam es nun zu tief greifenden politischen Veränderungen, die zum Ende der Ersten Republik führten: 1993 wurde das Mehrheitswahlrecht eingeführt; im gleichen Jahr kam es zur Aufdeckung von Korruptionsskandalen und Schmiergeldaffä-
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ren (tangentopoli) und damit zum Fortfall der illegalen Parteienfinanzierung, was das Ende der PSI und der politischen Karriere Craxis einläutete. In das politische Vakuum drangen zwei neue und eine (schein-)transformierte ältere Organisation ein: Die von Silvio Berlusconi auf ihn persönlich und seine neoliberalen Ziele zugeschnittene Partei Forza Italia (FI), die rechts-autoritäre Alleanza Nationale (AN) unter Gianfranco Fini, 1995 hervorgegangen aus einer Abtrennung von den nationalrevolutionären >Hardlinern< des neofaschistischen Movimento Sociale Italiano (MSI) unter Pino Rauti, und schließlich die Lega Nord unter Umberto Bossi. Die Besonderheit dieser Konstellation macht es möglich, drei rechte politische Organisationen mit ihren jeweiligen Merkmalsausprägungen isoliert zu analysieren und in ihrem Wechselspiel zu beobachten: eine genuine Form von Populismus, repräsentiert von Bossis Lega Nord; die medial vermittelte Form eines personen-zentrierten Neoliberalismus, vertreten von Berlusconi und seiner Forza Italia, sowie eine rechtsautoritäre Formation, die sich wiederum von der radikaleren Spielart des italienischen Neofaschismus, dem MSI und weiteren, nationalrevolutionär ausgerichteten Splittergruppen abgrenzt.
Der Hintergrund für die Herausbildung der Lega Nord Die norditalienischen Ligen, aus deren Zusammenschluss die Lega Nord 1989 hervorging, waren ein Auffangbecken für ehemalige, aber von den Skandalen angewiderte Wähler der DC und der PSI. Bei der Analyse der Erfolgsbedingungen der Lega müssen neben den erwähnten, spezifisch italienischen, auch externe Faktoren berücksichtigt werden. Dazu zählt vor allem seit 1989 das Ende des Ost-WestKonflikts, von dessen Existenz die Parteien der Ersten Republik profitiert hatten. Es war nun nicht mehr möglich, mit Hilfe des Antikommunismus von innenpolitischen Missständen abzulenken, sich, in den Worten des konservativen Journalisten Indro Montanelli, »die Nase zuzuhalten« und trotz allem christdemokratisch zu wählen. Zu den externen Faktoren zählt auch der Maastrichtvertrag, der der Staatsverschuldung enge Grenzen setzt, was in Italien, damals
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dem Land mit der höchsten Staatsverschuldung in Europa, ein radikales Umdenken notwendig machte.25 Hinzu kommen weitere, auch in Italien wirkende sozio-kulturelle Veränderungen wie Säkularisierung, Wertewandel und das Anwachsen des tertiären Sektors. Die enge Verbundenheit der Wähler mit den sozial-moralischen Milieus (Rainer M. Lepsius), in Italien symbolisiert durch Don Camillo und Peppone, die jeweils für die christdemokratische und die kommunistische Subkultur standen, löste sich auf und führte zur Zunahme von Protest- und Wechselwählern. Empirische Umfragen zur Zufriedenheit der Italiener mit ihrem demokratischen System zeigten zwischen 1973 und 1993 im europäischen Vergleich ein deutlich höheres Maß an Unzufriedenheit. Zugleich zeigten sie aber auch, dass damit keineswegs die Sehnsucht nach einem autoritären System verbunden war, sondern dass sich dieses Unbehagen pragmatisch und unideologisch auf mangelnde Effizienz und Transparenz der öffentlichen Verwaltung und auf fehlende Bürgernähe der politischen Parteien bezog (vgl. Tarchi 2002: 124). Der signifikante Unterschied zwischen dem Populismus in seiner norditalienischen, idealtypisch fast reinen, Ausprägung, und dem italienischen Neofaschismus liegt in seiner Einstellung zum Staat. In der nach 1994 und dann wieder nach 2001 von Berlusconi geführten Koalition der drei Parteien, dem »Pol«, später dem »Haus der Freiheiten«, haben wir es auf der einen, populistischen Seite mit einem dezidierten Anti-Etatismus zu tun, auf der anderen, von der Alleanza Nationale repräsentierten Seite, mit einem ebenso dezidierten, am französischen Präsidialsystem ausgerichteten Etatismus. In der Mitte hingegen, vertreten von Berlusconis Forza Italia, steht ein Konglomerat aus beidem, dem wirtschaftspolitischen Neoliberalismus und dem Ziel einer starken Exekutive nach US-amerikanischem Vorbild. Während die Lega Nord wirtschaftspolitisch Berlusconi nahe steht, ja diesen sogar anprangert, er gehe im Abbau des Sozialstaats nicht weit genug, favorisiert Berlusconi in der Frage des Staatsaufbaus unitarisch oder föderalistisch — das Zentralstaatsmodell der AN. 25 Noch 2001 lag Italien mit einer Staatsschuldenquote von 109,4 Prozent an der Spitze der EU-Länder und hat sie 2004 auf die immer noch hohe Quote von 106,5 Prozent senken können.
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Beide streben sie eine Machtkonzentration in einem Präsidialsystem an, wohingegen die Lega Nord, in gut populistischer Tradition, für Dezentrierung, Pluralisierung, Autonomisierung und Regionalisierung eintritt. »Von den traditionellen Rechtsparteien Italiens und den neuen rechtsextremistischen Bewegungen und Parteien in Westeuropa unterscheidet sich der >leghismo< aufgrund seines entschiedenen Antizentralismus, Antietatismus, seiner Parteienkritik und Ideologieferne«. (Bordon 1997: 20) Die Einstellung der Lega zum Staat steht in diametralem Gegensatz zu jedem faschistischen oder neofaschistischen Staatsverständnis. Dennoch ist die Lega zweifellos ein politisch rechtes Phänomen, aber ein rechts-libertäres, das unter >normalen< Bedingungen von den Mittelstandsvertretern der großen bürgerlichen Volksparteien aufgesogen und repräsentiert wird. Diese Normalität des politischen Wechsels von Volksparteien war aber, wie gezeigt, in Italien nicht gegeben.
Das populistische Selbstbild der Lega Nord Das Emblem der Lega Nord ist, vereinfacht gesagt, ihr Programm. Es zeigt zwei symbolträchtige Abbildungen, ein keltisches Sonnenrad und einen mittelalterlichen Ritter. Aber anders als die Waliser oder die Basken können die Bewohner der nord- und nordöstlichen Provinzen (Ligurien, die Lombardei, das Veneto, Friaul) sich weder auf eine ethnische noch eine sprachliche Besonderheit gegenüber anderen Italienern berufen. Der Versuch der Lega Nord, für die Bewohner dieser Regionen eine keltische Abkunft zu reklamieren, ist pure Mythologie, ein künstlicher Versuch, sich ethnisch von der romanischen Bevölkerung der restlichen Landesteile abzuheben. Diese ethnoregionalistischen oder ethnozentrischen Aspekte hat die Lega daher schnell in den Hintergrund treten lassen zugunsten des Kampfes gegen die alte politische Klasse und für den föderalistischen Aufbau des Landes. Anders dagegen die zweite Abbildung. Der Ritter Alberto da Giussano steht nicht für eine romantische Verherrlichung des Mittelalters, sondern für die Freiheitskämpfe der norditalienischen Städte und Städtebünde gegen die deutschen Kaiser als imperiale Vertreter
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des Heiligen Römischen Reich deutscher Nation. Die 1982 gegründete Lega Lombarda als Keimzelle der Lega Nord knüpfte an den Lombardenbund von 1167 an, der, zusammen mit anderen oberitalienischen Städtebünden, gegen die Politik des Stauferkaisers Friedrich I. Barbarossa gerichtet war. Der Schwur dieser Städte in Pontida hat einen programmatischen Stellenwert: Der Kampf gilt dem Zentralstaat, für den nicht nur das mittelalterliche Kaisertum steht, sondern auch der Faschismus. Die Lega versteht sich als antifaschistisch, bezieht sich dabei aber auf jene Ausprägungen des Faschismus, die auch für den nachfaschistischen Wohlfahrtsstaat gelten: Etatismus, Bürokratismus und Staatsinterventionismus.
Gianfranco Miglio: Vom Dezisionisten zum Libertären Diese lange zurückliegende Vergangenheit der norditalienischen Städtebünde liegt dem politischen Denken des Chefideologen der Lega Nord, Gianfranco Miglio, zugrunde. Der 2001 verstorbene Rechtstheoretiker und Politikwissenschaftler begann als Anhänger von Carl Schmitt, bekannte aber im vorgerückten Alter von 74 Jahren, er habe sich vom Dezisionisten zum Libertären gewandelt. Zu seinen Vorbildern zählt er die großen Theoretiker des Föderalismus, Althusius, von Gierke und Jefferson, beruft sich aber auch auf Vertreter des Anarcho-Liberalismus, darunter den Amerikaner Lysander Spooner (1808—1887). Als radikaler Gegner des Staatsinterventionismus bezog Spooner sich auf das Naturrecht. Jeder Mensch müsse die volle Souveränität über sich und sein materielles Eigentum besitzen. Auch Albert Jay Nock steht in dieser Ahnenreihe, ein vehementer Gegner von Roosevelts Wohlfahrtsstaat, der 1935 in seiner Schrift Our Enemy, the State bekannte, er sei ein wahrer Liberaler in der Nachfolge Jeffersons; der New Deal sei dagegen eine verhängnisvolle Verbindung von welfare und warfare. Das Wesen der Freiheit sei die Assoziationsfreiheit; diese »soziale Macht« werde aber zunehmend in Staatsmacht transformiert. Diese Autoren, aber auch der zeitgenössische Anarcho-Liberale Murray N. Rothbard, stehen Pate für Miglios Schriften unter dem Imperativ: Wider den Zwangsstaat! Der Anarchist ist der wahre Libe-
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rale und als solcher ein radikaler Marktwirtschaftler. Daneben macht Miglio auch Anleihen bei Franz Oppenheimer, der Anfang des 20. Jahrhunderts in der »Gewerbsstadt« den Gegenpol und Widerpart des Staates erkannte und prognostizierte, der Staat der Zukunft werde die durch Selbstverwaltung geleitete Gesellschaft sein. Oppenheimer, damals ein Theoretiker des Genossenschaftswesens und der freien Assoziation, gilt heute als Vordenker der sozialen Marktwirtschaft. Unter dem Einfluss Carl Schmitts konstatiert Miglio die Historizität des modernen Staates, seinen unaufhaltsamen Niedergang und damit auch den des Parlamentarismus. Das Jus Publicum Europaeum sei an sein Ende gelangt; das historische Pendel schlage aus in Richtung nicht-politischer, an Privatrecht und Vertrag ausgerichteter Konzepte. Es gelte, Politik jenseits des Staates zu denken und seine Attribute in Frage zu stellen, insbesondere seine territorialen Grenzen, seine Souveränität und sein Steuermonopol. Miglio geht, wie Schmitt, von der Irreduzibilität des Politischen aus. Wo aber kann das Politische seinen Ort haben, wenn nicht in den Strukturen des modernen Staates mit seinem Zwangscharakter und seinem Gewaltmonopol? Miglio sucht und findet diesen Ort im vormodernen Pluralismus von freien Assoziationen auf der Basis privatrechtlicher Verträge. An die Stelle der Souveränität des Staates setzt er die des Vertrags zwischen freien Rechtssubjekten. Bis zur Heraufkunft des modernen Staates herrschte, so Miglio, in der internationalen Gemeinschaft der Vertrag. Politische Beziehungen waren Vertragsbeziehungen; der Jurisdiktionsstaat der communitas gentium stand gegen den heraufziehenden Machtstaat, der in der bipolaren Welt des 20. Jahrhunderts und im Totalitarismus kulminierte. Man müsse zurück zu einem Denken und zu Strukturen, wie sie vor der Herausbildung des modernen Staates bestanden haben, beispielsweise in staatsfreien Handelsbündnissen wie der Hanse, in konföderativen Zusammenschlüssen und freien Städtebünden, die ihre lokale Bürgerfreiheit zunächst gegen die Fürsten, später gegen den modernen Staat verteidigten. Diese Strukturen mit niedrigem politischem Profil, aber einem hohen Grad an Bürgerschaftlichkeit und Freiheitssinn hätten sich nicht nur zivilisierend ausgewirkt, sondern auch die Prosperität ihrer Regionen, ihrer Mitglieder und Genossen gefördert.
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Es gelte, die von den staatlichen Zwangsstrukturen unterdrückte und vergessene »andere Hälfte des europäischen Himmels« wieder zu entdecken und vorstaatliche Lebensformen zu fördern. Historische Kompromisse wie den »föderalen Staat«, den »liberalen Staat«, auch den Rechtsstaat, lehnt Miglio als Zwittergebilde ab. Ein wahrer Föderalist oder Liberaler könne nur ein Anti-Etatist sein. Die eigentlichen Nationen sind Mikro-Nationen auf fiskalischer und ökonomischer Grundlage. Miglio strebt einen integralen Föderalismus an und weiß sich dabei nicht in einer rechts-autoritären, sondern in einer liberalen Tradition, wie sie im 19. Jahrhundert in Italien von dem Föderalisten und Europäer Carlo Cattaneo vertreten wurde (vgl. Seitz 1997: 41).
Vielfalt gegen Einheit Miglios Neoföderalismus sieht vor, das italienische Territorium in drei Makroregionen aufzuteilen. Padanien, das Gebiet der Poebene, könnte dabei zum Vorbild für ein Europa der Regionen werden. Kritisch wird dagegen eingewandt, die Lega vertrete mit dem Konzept der Makroregionen lediglich eine Multiplikation von Zentralismen, »die statt einer Dezentralisierung eine erneute Zentralisierung der staatlichen Macht in (mindestens) drei Hauptstädte (Mailand, Florenz und Neapel) vornimmt. Föderalismus wird so, zumindest in der immer noch mehrheitsfähigen Miglio-Version, auf einen politischen Pakt reduziert, der je nach kurzfristiger Interessenlage [...] jederzeit auflösbar ist«. (Ebd.: 103f.) Genau dies ist aber intendiert! Grundmodell für Miglios theoretischen Ansatz sind in der Tat die freien, zivilrechtlich geregelten Marktbeziehungen, die er in Analogie zu föderalen Strukturen in der Politik sieht. Sein Ziel ist die Flexibilisierung der Lebens- und Handlungsbedingungen innerhalb schwachen Strukturen durch einen permanenten Prozeß des Aushandelns von zeitlich begrenzten Verträgen zwischen den einzelnen Föderaten. Ähnlich hatte bereits der Anarchist Proudhon eine dezentrale Wirtschaft auf der Grundlage von Vertragsbeziehungen freier Individuen gefordert. Miglio entwickelte die Theorie der Doppelverpflichtung zwischen der politischen und der juristischen Sphäre. Juristische Verpflichtun-
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gen sind zeitlich und inhaltlich begrenzt; sie haben die Interessen der Teile, nicht des Ganzen, zum Inhalt. Das Recht ist daher verantwortlich, beruht auf der kleinen Zahl und auf gegenseitigem Respekt. Politik ist dagegen unverantwortlich, beruht auf der großen Zahl und dem Willen zur Vorherrschaft. Nur in kleinen Einheiten gebe es Freiheit. Postmoderne Tendenzen verbinden sich bei Miglio mit konservativem Denken: der Kampf gegen die Megalomanie und Einförmigkeit der Moderne, die Sicht des Staates als seelenlose Maschine und künstlicher Apparat. An die Stelle des Makrostaates mit seiner Tendenz zur Homogenisierung, Planung und Bürokratie habe Vielfalt von Konkurrenz und Dispersion von Macht zu treten; nur ein Pluriversum, analog zur vormodernen pluralistischen Vielfalt von Kirche, Reich, freien Städten, Städtebünden und Handelszusammenschlüssen auf zivilrechtlicher Basis, sei Garant für die Freiheit des Individuums gegen den staatlichen Zwang zum Kollektivismus. Aus seinen analytischen Prämissen, dem Niedergang des Ius Publicum Europaeum und des homogenen Nationalstaats, leitet Miglio normativ das Recht auf Widerstand gegen den Staat, auf Sezession und zivilen Ungehorsam ab. Der liberale Staat beruhe auf dem Widerspruch zwischen Naturrecht und modernem Staat; man müsse sich auf eine Seite, auf die des Naturrechts, schlagen.
Das Modell der Zukunft: Die föderativ-korporative Ordnung 1997 erschein ein viel beachtetes Buch, in dem Gianfranco Miglio und Augusto Barbera, damals Mitglied der kommunistischen Partei und heute ihrer Nachfolgeorganisation PDS, in einem Dialog ihre Positionen austauschten. Auch Barbera erkennt die Notwendigkeit von Dezentralisierung. Hintergrund für dieses Umdenken der damaligen Kommunisten und heutigen Reformlinken ist die Krise des Fordismus und das Ende eines Produktionsmodells auf der Grundlage von Großbetrieben mit nationalen und multinationalen Dimensionen. Dies habe zu einem Dualismus von multinationalen, »endokalisierten« Konzernen einerseits und zu einer Vielzahl untereinander vernetzter Kleinunternehmen andererseits geführt. Diese neue, ver-
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netzte Produktionsweise fordere die Stärkung regionaler Politik, die weder zentralistisch noch fragmentiert, weder national noch lokalistisch sein dürfe (Miglio/Barbera 1997: 151). Barberas Dezentralisierungskonzept sieht die Auflösung der bisherigen Provinzen zugunsten kommunaler Föderationen vor; er betont aber, diese müssten auf der Grundlage gemeinsamer kultureller Traditionen und einer gemeinsamen Geschichte identifizierbar sein. Dagegen argumentiert Miglio radikal konstruktivistisch oder, wie ihm entgegengehalten wurde, vulgärmarxistisch. Basis der neuen föderalen Ordnung könnten nämlich nur ökonomische Interessen sein. Wer gemeinsame Wirtschaftsinteressen vertritt, solle auch das Recht haben, sich zusammenzuschließen. Auf den Einwand Barberas, die von der Lega Nord angestrebte Region Padanien gebe es doch noch gar nicht, entgegnet Miglio, soziopolitische Zusammenschlüsse seien stets Konstrukte nach Maßgabe von Interessen, die erst im Nachhinein eine gemeinsame historische und kulturelle Identität herausbilden können. 26 Von Interesse ist hier die Umkehr der Argumentationsstruktur zwischen links und rechts. Während der linke Barbera sich den konservativen Denktopos von der durch Geschichte und Tradition gewachsenen gemeinsamen Identität zu Eigen macht, nimmt der rechte Miglio umgekehrt die linke Denkfigur vom Primat der ökonomischen Interessen auf. Hatten zunächst Linke im Bemühen, dem Nationalismus entgegenzutreten, die Idee der Nation als Konstrukt offengelegt, so dekonstruiert Miglio sie nun vom Standpunkt eines radikal libertären Gruppenpluralismus aus. Nicht nur in der Föderalismusdebatte gilt Miglio in rechten Kreisen mit seinem anarcho-kapitalistischen Impetus als Radikaler und Außenseiter. Seine an Carl Schmitt geschulten Weggefahrten emp-
26 Für die deutsche Diskussion im Umfeld der CDU vgl. Sturm 2004: 21 f.: »Regionale Grenzen werden [...] nicht länger nur durch historische und/oder kulturelle Loyalitäten abgesteckt, sondern auch durch funktionales Aufeinanderbezogensein. Regionale Solidarität ist so nicht zuletzt ökonomisch begründet. Wenn es ihr gelingt, über pragmatisches Kosten-Nutzen-Denken hinaus zu einem sozialen Konstrukt< zu werden, kann sie es bewerkstelligen, zusätzliche Ressourcen zu mobilisieren, die wiederum weiterreichende regionale Konsensbildungsprozesse erst ermöglichen und fördern.«
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fanden es ebenfalls als befremdlich, dass Miglio in der von ihm herausgegebenen Reihe Arcana lmperii eine Sammlung mit Schriften von Ludwig von Mises und Friedrich von Hayek herausbrachte, den Begründern der wirtschaftsliberalen Wiener Schule. Bedeutete dies eine Abkehr vom Autoritarismus und eine Hinwendung zum Liberalismus, dem großen Feind der Rechten? War Miglio tatsächlich ein Liberaler geworden? Zweifel sind angebracht, denn er vertritt nicht die Freiheit des Einzelnen, sondern die von Gruppen auf der Grundlage gemeinsamer Wirtschaftsinteressen wie der Hanse, ein von ihm häufig angeführtes Beispiel. Nicht Einzelne sind Subjekte des politischen Handelns, sondern Korporationen und Assoziationen. Miglio fordert nicht nur eine föderativ-korporative Ordnung, sondern als politischer Realist sieht er diese Ordnung bereits heraufziehen, die heute nicht mehr als Ständestaat, sondern als Ständeföderation in Erscheinung tritt. Die Gedankengänge Miglios zeigen, in welche Richtung sich Populismus auf theoretischer Ebene entwickeln kann, nämlich in eine variable Kombination aus katholischer Soziallehre, wonach Föderalismus die Verwirklichung des Subsidiaritätsprinzips als staatliches Strukturprinzip ist, aus Wirtschaftsliberalismus (Mises, Hayek) und dem aus dem anarchistischen Gedankengut stammenden Genossenschaftswesen, für das Miglio bezeichnenderweise den Begriff Korporation verwendet, verstanden als berufsständische Organisation unter modernen Bedingungen.
Gegen den »keynesianischen Leviathan« Wie Miglio gegen den europäischen Superstaat der EU, gegen die Eurobürokraten in Brüssel, gegen den Umverteilungsstaat streitet, so bekämpft auch Umberto Bossi den »keynesianischen Leviathan« Italien, den raffgierigen Diebes- und Steuerstaat in Rom, den Staat als Vampir und Parasiten. So wandte Bossi sich 2000 mit der ihm eigenen, notorisch rüden Rhetorik gegen die europäische Menschenrechtscharta. Das Europa der »Kommunisten und Freimaurer« werde nicht durchgehen. Die EU werde von einer Bande von Kommunisten und »jakobinischen« Bankiers regiert. Wenn Bossi elf Jahre
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nach dem Ende des Staatskommunismus und der Transformation der italienischen kommunistischen Partei von Kommunisten spricht, so betreibt er keine Leichenfledderei, sondern meint damit ein umfassendes, historisch durchgängiges Phänomen, nämlich den Staatszentralismus, der sich wie ein roter Faden von den Stauferkaisern über die Jakobiner in der Französischen Revolution, von der italienischen Nationalstaatsbildung zum Faschismus und in ungebrochener Traditionslinie von diesem zum modernen Wohlfahrtsstaat zieht. Vor seinem Tod trat Miglio häufig im Netzwerk der Synergies Europeennes, einer metapolitischen, international vernetzten Denkfabrik der Neuen Rechten, auf. In diesem changierenden Feld zwischen der Neuen Rechten, nationalrevolutionären und postfaschistisch-konservativen Kräften vertritt Miglio genuin populistisches Denken, definiert als Anarcho-Liberalismus, als Orientierung an Selbstorganisation, Autonomie und normativer AntiStaatlichkeit. Mit seiner Steuergesetzgebung betreibe der Staat nichts anderes als »proletarische Enteignung« (Miglio/Barbera 1997: 35). Er trifft sich hier mit den Positionen des Vordenkers der französischen Neuen Rechten, Alain de Benoist, der gleichfalls den Niedergang des »jakobinischen« Staatsmodells der Moderne konstatiert, daraus aber bereits neo-imperiale Schlussfolgerungen zieht. Ein Reich oder Imperium habe gegenüber der Nation den Vorzug fluider Grenzen. Es sei nicht gebunden an ein Territorium, sondern lebe von einer spirituellen Idee. Ähnlich befand Bossi 1993, die Zeit der zentralistischen Nationalstaaten finde überall ihr Ende. In einer kräftigen, um direkten Zugang zu seinen Hörern bemühten Sprache konstatiert er, was auch unvoreingenommene Beobachter Italiens zur Zeit der Ersten Republik kaum bestreiten können: Eine Verfilzung und intensive Verflechtung von Geschäftsinteressen mit politischen Clans, das immer stärkere Eindringen der organisierten Kriminalität in die politischen Klientelbeziehungen, die Okkupation des Staates, vor allem des staatswirtschaftlichen Sektors, durch die politischen Parteien zwecks Versorgung ihrer Anhänger mit Staatspfründen. Alternativ dazu präsentiert Bossi die Lega Nord als eine um Transparenz und effektive Strukturen bemühte politische Kraft. Vor allem im Staatszentralismus sieht er das Einfallstor für Misswirtschaft und Korruption und schlägt daher eine »Devolution« genannte Neuorga-
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nisation des Landes mit konföderalem Aufbau vor. Der Autonomieplan sieht drei Ebenen vor: den föderalistischen Staat, die mitderen Standorte, aufgeteilt in drei Großregionen, und die regionale Ebene. Auf staatlicher Ebene ist ein zentrales, föderalistisches Parlament mit einer Kammer vorgesehen. Ihm werden die >primären< Kompetenzen wie Außenpolitik, höhere Rechtssprechung, Verteidigung, Staatsbürgerschaft und 1993 noch Währungskontrolle (bis zur Einführung des Euro) zugesprochen. Die drei Großregionen Nord, Zentrum und Süd erhalten dagegen Exklusivkompetenzen in Sachen Steuer, Industrie, Wirtschaftspolitik, Handel und Landwirtschaft. Auf der dritten, der regionalen Ebene liegen die Exklusivkompetenzen für den Schul- und Gesundheitsbereich, das örtliche Finanzwesen und die Belange der Arbeit. Um Missbrauch und Verfilzung zu verhindern, sind zwischen den drei Großregionen auf horizontaler Ebene sowie zwischen diesen und dem zentralstaatlichen Bilanz- und Schatzministerium auf vertikaler Ebene »kreuzweise« Kontrollen vorgesehen. »Sie werden die >Deals< zwischen Parteien und Großkapital sinnlos machen, sie werden die Klüngelwirtschaft, die Aufteilung des Kuchens schwer treffen, sie werden die Rolle der öffentlichen Hilfsgelder vollständig verändern und spürbar verringern. Konkret dürfen die öffentlichen Hilfsfonds nicht mehr der ausschließliche Geldschrank und das Maklerbüro des Staatsapparates sein. Gleiches gilt für die öffentlichen Behörden. Die Zeit der Aufträge, die den Auserwählten von den Parteien im Voraus erteilt werden, und die Schande der Schmiergelder müssen ein Ende haben«. (Bossi 1993: 87) Bossi betont, dass keine der drei Großregionen oder Republiken das Recht auf Sezession habe und er dies für die Nordrepublik auch nicht anstrebe. Vielmehr gehe es um die Umwandlung Italiens von einem zentralistischen in einen konföderalen Staat. Das Ziel der angestrebten Autonomie der drei Großregionen ist der Zugriff auf den Fiskus, der dem Zentralstaat entrissen werden soll. Vor allem er, der Fiskus, »wird sich mit größerer Gerechtigkeit an die wirtschaftlichen und finanziellen Realitäten der drei Republiken anpassen und humaner arbeiten müssen, indem ein gerechtes Verhältnis zum Beitragszahler geschaffen wird. Darüber hinaus wird das der korrupten und unkontrollierten Buchhaltung des Staatsapparates entzogene Steuer-
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aufkommen [...] nicht mehr den von den Parteien bestimmten >Hilfsprogrammen< ausgeliefert sein«. (Ebd.: 88)27 Man würde es sich indessen zu einfach machen, diese Vorschläge als wohlfeile Demagogie oder Wohlstandschauvinismus abzutun. Der Erfolg der Lega Nord beruhte ja nicht zuletzt darauf, dass sie tatsächliche Missstände in der italienischen Politik angeprangert und Dezentralisierungsvorschläge gemacht hat, die längst auch von der Linken aufgegriffen worden sind. Überdies wird allenthalben, nicht nur in Italien, die Praxis, das Steueraufkommen in einen großen Topf zu werfen und nach Kriterien zu verteilen, die für die Bürger nicht kontrollierbar sind, kritisiert und durch bürgernähere Modelle revidiert. Auch hier fungierte die Lega Nord als Agenda-Setter.
Klassisch populistisches Gedankengut Bossi vertritt weitgehend den norditalienischen selbstständigen Mittelstand im Bereich der »diffusen«, vernetzten Ökonomie. Die politische Identität dieser Kräfte ist politisch in der rechten Mitte anzusiedeln und artikuliert sich in einem libertär ausgerichteten Rechtspopulismus, der sich indessen deutlich vom Autoritarismus der Alleanza Nationale unterscheidet. Überdies hat die AN ihre größte Anhängerschaft im Süden des Landes, dort also, wo es nur schwach entwickelte Strukturen der Selbstorganisation, der Bürgerfreiheit und der familienzentrierten Kleinbetriebe gibt. Entsprechend größer sind hier die Erwartungen an einen starken Staat, denen die AN entgegenkommt mit zentralstaatlich-autoritären Lösungsvorschlägen. In den süditalienischen Gebieten tritt die AN in die Fußstapfen des alten Klientelismus, des politischen Tauschgeschäfts von do ut des, von dem in den achtziger Jahren vor allem die DC und die PSI profitiert hat-
27 Diese Hilfsprogramme, beispielsweise für Opfer von Erdbeben oder anderen Naturkatastrophen, haben in Süditalien immer wieder zu Skandalen um den Verbleib der Gelder geführt. Sie waren in obskuren Kanälen versickert und erreichten ihre Adressaten nicht oder nur unzureichend. Indem Bossi diese Hilfsprogramme anspricht, vermeidet er den Eindruck mangelnder Solidarität mit den süditalienischen Landsleuten und setzt den Akzent auf die mafiosen Strukturen und den Klientelismus in Süditalien.
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ten. Dagegen trägt die von der Lega Nord gepflegte lombardisch-padanische Kultur eher Züge einer civic community im Sinne Robert D. Putnams und unterscheidet sich grundlegend vom süditalienischen Klientelismus, der auf dem Tausch zwischen politischer Loyalität gegen die Sicherheit von Staatspfründen beruht, auch wenn Putnam die zivilbürgerlichen Aspekte in Norditalien idealisiert (Putnam 1993).28 1993, auf der Höhe seines Erfolgs, verfasste Umberto Bossi, zusammen mit dem Journalisten Daniele Vimercati, eine programmatische Grundsatzschrift, in der er die Ziele seiner Partei darlegt: »Um es genau zu sagen, die Lega strebt die erste vollständige Revolution in der Geschichte Italiens an: 1. Die Revolution der institutionellen Struktur (vom Zentralismus zum Föderalismus, von der absoluten Souveränität des Staates zur Souveränität des Volkes, die sich in der Pluralität der Selbstverwaltungsgremien ausdrückt); 2. die ökonomische Revolution (die herrschenden Interessen werden nicht mehr die der großen Familien sein, die sich im zentralistischen Staat eingenistet haben, sondern die der kleinen und mittleren Betriebe, die durch die lokalen und regionalen Institutionen adäquat vertreten werden); 3. die Revolution der Regierungshierarchie (Ersetzen der gesamten politischen Klasse durch neue Politiker, die aus dem Volk der >Untergebenen< kommen); 4. die soziale Revolution (Aufwertung der Gemeinschaft der Produzenten, die bisher ausgebeutet wurden, gegenüber Klientelwesen und wohlfahrtsstaatlicher Bürokratie); 5. die kulturelle Revolution (Anerkennung der kulturellen Vielfalt und Ende des zentralistischen Mythos von der homogenen Kultur)«. (Bossi/ Vimercati 1993: 14) Das ist klassisch populistisches Gedankengut. Klassisch populistisch ist auch Bossis Gesellschaftsanalyse auf der Grundlage einer populistisch-konservativen Entfremdungstheorie: »Im 20. Jahrhun-
28 Putnams von sozialromantischen Zügen nicht freie Untersuchung kommt der populistischen Sichtweise in vielem entgegen. Er blendet die problematischen Aspekte der bürgerschaftlichen Tradition Norditaliens, wie sie sich bei der Lega Nord zeigen, ebenso systematisch aus wie die Jahrhunderte lange Fremdherrschaft, unter der die süditalienischen Gebiete gestanden haben und gelangt dadurch zu einer historisch einseitigen, stark normativen Gegenüberstellung von Zentralstaat und bürgerschaftlicher Selbstorganisation.
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dert misst sich der Mensch zum ersten mal in der Geschichte mit großen Massenorganisationen, die ihn unterdrücken und entpersönlichen. Großindustrien, Parteien, Gewerkschaften, bürokratische Apparate und Nationalstaat. Dem Zerfall der gesellschaftlichen Solidarbeziehungen, der von der Gewalt des Zusammenstoßes zwischen großen Machtzentren verursacht wird, entspricht die anarchische Ausbreitung der staatlichen Souveränität«. (Ebd.: 145) 1992 gelang es der Lega Nord, neben der damals noch existierenden DC zu größten Partei im Norden des Landes aufzusteigen. Der Eintritt der Lega in das Koalitionsbündnis mit Forza Italia und AIleanza Nationale 1994 führte jedoch bald zu einer Konkurrenzsituation zwischen ihr und der Berlusconi-Partei. Programmatisch überschnitten sich ihre neoliberalen Wirtschaftskonzepte, wählersoziologisch konkurrierten sie teilweise um die gleiche Wählerschaft. Bossi setzte daher im Kampf um die Identität seiner Bewegung stärker auf die populistischen Elemente einer Produzentenethik der »kleinen Leute« und spielte die Arbeitstugenden der Kleinproduzenten gegen die »Parasiten« aus. Darunter fallen alle unproduktiven Kräfte der Gesellschaft, angefangen bei den Bürokraten in der Hauptstadt Rom, deren Gegenspielerin die Produzentenstadt Mailand ist, über die »Schmarotzer« des Sozialstaats bis hin zu den süditalienischen Gebieten, die parasitär vom Finanztransfer aus dem Norden leben. Um sich von Berlusconi abzugrenzen, zückte Bossi Mitte der neunziger Jahre wiederholt die sezessionistische Karte und kritisierte seine beiden Koalitionspartner, sie würden sich nicht genug vom Wohlfahrtsstaat distanzieren und blieben der alten Umverteilungspolitik verhaftet. Zugleich griff Bossi aber Berlusconis Medienmonopol an und plädierte für dessen Abschaffung. Auch in der Föderalismusdebatte stieß er bei seinen Koalitionspartnern auf Ablehnung. Zudem muss die AN um Fini in der Frage des Abbaus des Wohlfahrtsstaates Rücksichten auf ihre süditalienischen Wähler nehmen. Finis Formulierungen sind daher verhaltener. Statt den Wohlfahrtsstaat (stato assistenziale) frontal anzugreifen, spricht er von einer anzustrebenden welfare community, hinter der sich das Subsidiaritätsprinzip verbirgt, was rhetorisch gleich drei Vorteile hat. Fini umgeht damit den italienischen Begriff des assistenzialismo, der mit staatspaternalistischer Fürsorge assoziiert wird; er sorgt zweitens dafür, dass der Beg-
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riff »Wohlfahrt« weiterhin positiv besetzt bleibt, scheidet drittens aber den Staat als Träger wohlfahrtsstaatlicher Politik aus. Auch wenn alle drei Koalitionspartner die Werte der Familie betonen und für ein neoliberales Wirtschaftsprogramm eintreten, zeigen sich die Unterschiede vor allem in folgendem: Die um die radikalfaschistischen Elemente bereinigte AN setzt die Akzente auf Ordnung, Sicherheit und nationale Tradition, dazu auf einen starken, autoritären Staat; sie ist nationalistisch, strebt nach gaullistischem Vorbild ein Europa der Vaterländer an und betont die soziale Gemeinschaft (vgl. Fini 1999: 7ff.). Berlusconi dagegen setzt vor allem auf die einträchtige und einträgliche Verbindung von Politik und Geschäft. Für Bossi steht er damit in der Tradition des alten Systems der Ersten Republik. Auch habituell liegen insbesondere zwischen dem Populisten Bossi und dem Etatisten Fini Welten; gegenüber dem gebildeten, staatsmännisch auftretenden Fini nimmt sich Bossi vulgär und primitiv aus und kultiviert gern eine geschmacklose, sexistische Rhetorik, mit der er die Lacher auf seine Seite bringt (vgl. Schöpfer 2002: 87f.).
Von einer Protestbewegung zu einer Partei der Peripherie des Nordens Der italienische Leghismo, die Bewegung der Ligen, aus der die Lega Nord hervorgegangen war, begann als regionalistische Protestbewegung, wandelte sich Anfang der neunziger Jahre zu einer Partei des Nordens, ist inzwischen aber wieder zu einer Partei der norditalienischen Randgebiete, vor allem im Nordosten, geschrumpft. Bei den Parlamentswahlen von 2001 hat sie nur noch 3,6 Prozent der Stimmen erreicht, konnte bei denen von 2006 nur geringfügig (4,6 Prozent) aufholen und ist damit gegenüber dem Wahlergebnis von 1996 (10,1 Prozent) stark zurückgefallen. In Konkurrenz zur Forza Italia hat die Lega Federn lassen müssen, nicht zuletzt als Folge der Wahlrechtsreform. Die Einführung des auch von Bossi und Miglio befürworteten Mehrheitswahlrechts schlägt nun für die Lega Nord negativ zu Buche. Wirtschaftspolitisch spielen Berlusconi und Bossi zwar den gleichen Fußball, aber in einer anderen Liga. Die Lega Nord vertritt die
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Interessen der kleinen und mitderen Betriebe an arbeitsrechtlicher Deregulierung, an Flexibilisierung des Arbeitsmarktes und an Steuersenkungen.29 Bossis Anhänger sind die »kleinen Leute« in Gebieten mit hohem Anteil an Kleinbetrieben, mit geringerem Verstädterungsund Tertiarisierungsgrad. Den höchsten Anteil der Stimmen verzeichnet die Lega im industriellen Kleinbürgertum und bei abhängig beschäftigten Mittelschichten, deren Identität sie mit dem populistischen Produzentenethos aufzuwerten sucht. Der typische Lega-Sympathisant ist jung, männlich und hat einen niedrigen Bildungsgrad. Er ordnet sich nicht im rechten politischen Spektrum ein, sondern in der Mtte oder der rechten Mitte. Bossi spricht diese Schichten mit dem für den Populismus typischen Traditionalismus an, mit regionaler Geschichtspflege und Ritualen, die Heimat, Region, Religion und insgesamt die Gemütswerte der Zugehörigkeit betonen. Dazu gehört auch der Kult um den Po, seit alters her die wirtschaftliche Hauptschlagader der Lombardei. An der Quelle des Flusses wird alljährlich ein Gefäß mit Powasser gefüllt und nach feierlicher Fahrt flussabwärts in Venedig ins Meer geschüttet. Obwohl sich die Lega als laizistische Partei versteht, spielt der lebensweltlich verankerte, konservative Katholizismus bei ihren Anhängern und Sympathisanten eine größere Rolle als bei Berlusconis Forza Italia. Populisten mögen wirtschaftsliberale Forderungen erheben, aber sie vertreten kein liberales, individualistisches Menschenbild. Vielmehr stehen sie in der Tradition des Personalismus.30 In der Frage der Sozialstaatskritik muss sich die Lega Nord daher gar nicht auf Milton Friedman berufen, sondern kann auf die päpstliche Enzyklika Centesimus Annus von 2001 zurückgreifen. Darin legte Papst Johannes Paul II. dar: Der direkte Staatseingriff beraube die Gesellschaft jeder Verantwortung. Der Wohlfahrtsstaat (stato assistenziale) provoziere damit den Verlust menschlicher Energien und das
29 Die Fiskalquote lag 1995 in Italien bei 43,7 Prozent und ist unter der Regierung Prodi nach 1996 auf 46,2 Prozent gestiegen. 30 Der Personalismus, bei einigen seiner Vertreter wie Emmanuel Mounier, auch in Verbindung mit Solidarismus, ist die Grundlage des christlich-katholischen Menschenbildes. Er versteht sich als dritter Weg zwischen dem (liberalen) Individualismus und dem (sozialistischen) Kollektivismus und wird auch von den christdemokratischen Parteien vertreten. Vgl. dazu leider nur kurz Rydgren 2004: 223
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übertriebene Anwachsen staatlicher Apparate. Eher beherrscht von der Logik der Bürokratie als von der Sorge um die Bedürftigen, trieben diese Apparate nur die Kosten in die Höhe, ohne wirklich zu helfen; Hand in Hand damit gehe eine ungeheure Ausgabensteigerung, von der letztlich nur die Bürokratie profitiere. Im Norden des Landes ist es Berlusconi gelungen, Bossi auf seine Stammklientel an der Peripherie zurückzudrängen. Zudem ist der Lega eine weitere Konkurrenz erwachsen durch die so genannte Bürgermeisterbewegung, ein Zusammenschluss norditalienischer Bürgermeister, darunter auch der bekannte Philosoph Massimo Cacciari, die die Forderung nach Autonomierechten der Regionen und Kommunen aufgegriffen haben (vgl. Bordon 1997: 11 und 190). Nachdem unter Romano Prodi, zwischen 1982 und 1989 und noch einmal zwischen 1993 und 1994 Präsident der Staatsholding IRI, eine Welle der Privatisierung eingeleitet worden war, zeigen sich inzwischen die Nachteile. Der erwartete Aufschwung ist ausgeblieben. Das Land leidet nach wie vor unter hoher Staatesverschuldung und Arbeitslosigkeit. Im Zuge der Privatisierungen wurde unter anderem die im Staatsbesitz befindliche Autofirma Alfa Romeo an Fiat verkauft, obwohl wesentlich günstigere Angebote aus dem Ausland, vor allem von Ford, vorlagen. Doch Fiat befindet sich trotz der damit erreichten Monopolstellung auf dem italienischen Automarkt seit geraumer Zeit in einer tiefen Krise. Die Metallarbeiter von Turin, einst der Stolz der Stadt, sind nur noch eine Minderheit und Fiat, ehedem das Flaggschiff der italienischen Großindustrie, sucht nach Auswegen aus der Krise. Ähnlich kritisch steht es um die Fluggesellschaft Alitalia, auch sie vor der Auflösung der IRI 1994 in Staatsbesitz. Daher werden inzwischen auch in Kreisen der Großindustrie Stimmen laut, die Berlusconis neoliberalen Kurs nicht länger mittragen wollen. So beklagt Luca Cordero di Montezemolo, der Vorsitzende des Industriellenverbandes Confindustria, es fehle in Italien an einer Industriepolitik. Zugleich zeigt er sich aufgeschlossen für eine engere Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften und gilt bei den Linksdemokraten als Hoffnungsträger. Nun ist Montezemolo aber gleichzeitig auch der Präsident des Autokonzerns Fiat. Seine Distanz zu Berlusconi beruht daher nicht nur auf Vorbehalten etablierter Industriekreise gegenüber dem Em-
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porkömmling mit der unsauberen Weste, sondern auf einer anderen Wirtschaftsstrategie, nämlich der Rückkehr zur bekannten, schon im Faschismus verfolgten Praxis der Subventionspolitik für die nationale Großindustrie nach dem Motto: Die Profite werden privatisiert, die Verluste werden sozialisiert. Der geschichtsvergessene Montezemolo nennt dies »eine neue Periode des italienischen Kapitalismus«. Nachdem Fiat von der Privatisierungswelle profitiert hatte, fordert ihr Präsident nun für den angeschlagenen Konzern wieder staatliche Hilfe à fonds perdu, die »Rettung« eines Privatunternehmens durch öffentliche Mittel. Mit dieser Strategie der Rettung (salvataggio) hat das italienische Großkapital nicht nur im Faschismus, sondern auch in der Zeit danach gute Erfahrungen gemacht. Ein keynesianischer Klassenkompromiss zwischen Großkapital und Großgewerkschaften könnte erneut auf der Tagesordnung stehen, jene Konstellation also, von der Populisten immer befürchtet haben, sie gehe zu Lasten eines Dritten - des kleines Mittelstandes.
Perspektiven und Entwicklungsmöglichkeiten der Lega Der Niedergang der Lega Nord zeigt, dass sie nicht von der hauptsächlich im Süden verankerten AN bedroht wird, sondern von Berlusconis FI, die ihr in ihren norditalienischen Stammgebieten viele Wähler abspenstig machen konnte. Daher ist Bossi darum bemüht, die Identität seiner Partei zu stärken und seinen Föderalpopulismus abzugrenzen vom Medienpopulismus Berlusconis. Auch hier ist der Unterschied hervorzuheben. Der Kontakt Berlusconis zum Volk ist virtueller Art. Zwischen Führer und Volk ist ein Medium geschaltet, das eine künstliche Gemeinschaft untereinander isolierter Menschen schafft, die nur über den »großen Kommunikator« miteinander verbunden sind. Im Gegensatz zu diesem virtuellen Scheinpopulismus des Medienzars steht Bossis realer oder genuiner Populismus. Bossi beschreitet einen für seine Anhänger und Sympathisanten real erlebbaren Weg der direkten zwischenmenschlichen Ansprache, wozu auch die häufig belächelten Rituale einer konkreten Vergemeinschaftung gehören.
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Mit Blick auf die Parlamentswahlen von 2006 strebte Berlusconi die Eingliederung der Lega in einen Mitte-Rechts-Verbund unter seiner Führung an, was Bossi erwartungsgemäß von sich wies. Perspektivisch schwebt Bossi eher die Koexistenz von Schwesterparteien vor, einer nationalen und einer regional verankerten, analog zum Verhältnis von CDU und CSU. Die Zukunft wird zeigen, ob die Lega Nord nur ein historisches Intermezzo war oder ob sie sich auf Dauer als regionale Ausprägung einer bürgerlichen Volkspartei wird etablieren können. Wie viele populistische Bewegungen vor ihr, ist auch die Lega Nord vor allem als Agenda-Setter und Protestbewegung gegen ein verrottetes, ineffizientes politisches System angetreten, und hat, neben anderen Kräften, wesentlich zu dessen Zusammenbruch beigetragen. Die Aufteilung des politischen Spektrums in ein links-libertäres und ein rechts-autoritäres Feld hat sie um eine weitere Variante bereichert, eine rechts-libertäre. Bewegungen wie die norditalienische Lega sind auch Indikatoren für eine theoretische Neuorientierung der Rechten mit dem Ziel, den Nationalstaat zu verabschieden zugunsten einer neuen geopolitischen »Raumordnung«. Der »populistische Moment« war in Italien, wie auch anderswo, eingetreten durch Frustrationen über ausgebliebene Reformen, durch eine lange währende Dauerkrise der politischen Repräsentation, durch verkrustete, mit der organisierten Kriminalität verfilzte Strukturen und nicht zuletzt durch sozio-ökonomische Veränderungen in Nord- und Nordostitalien. Die politisch innovativen Impulse der Lega Nord sind darin zu suchen, dass sie die in der Ersten Republik lange vernachlässigten Forderungen nach mehr Autonomie der Regionen und Kommunen auf die Tagesordnung gesetzt und maßgeblich dazu beigetragen hat, das längst überfällige Ende des alten Patronagesystems, der Herrschaft der Parteibarone mit ihrem Zugriff auf den Staatssektor, einzuleiten. Eigentlich wäre dies die Aufgabe einer linksoppositionellen Volkspartei gewesen. In den achtziger Jahren hatte sich Craxi zwar bemüht, seine PSI in Konkurrenz zu den Kommunisten als Volkspartei der linken Mitte aufzubauen, vertrat aber faktisch eine Politik für Aufsteiger und Arrivierte und war selbst zu tief in die korruptiven Praktiken der Ersten Republik verstrickt, um als Alternative fungieren zu können. Die kommunistische Partei
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dagegen war zu sehr mit sich selbst und der Suche nach ihrer postkommunistischen Identität beschäftigt. Es zeigt sich, dass die von der Lega Nord ausgehenden Impulse inzwischen längst auch vom Mitte-Links-Bündnis aufgriffen werden. Damit könnte aber die Lega in die Modernisierungsfalle geraten und langfristig der auch von ihr ausgelösten Veränderung des Landes zum Opfer fallen.
5.3 Pim Fortuyn: Trendsetter der Netzwerkgesellschaft Der niederländische Populist Pim Fortuyn beschrieb sich als »Ästhet und Basisdemokrat, Sonntagskind und Desperado, Dadaist mit Gladiatorenhaupt«. Er sorgte in den neunziger Jahren für Unruhe, Provokation, Wahlerfolge, ein glanzvolles Begräbnis - und für Ruhe. Wer spricht noch von seinem exzessiven Lebensstil, wen interessieren noch seine Schoßhündchen Kenneth und Carla, sein Palazzo in Rotterdam, seine Anwesen in Italien, sein Glamour als Medienstar? Von Interesse sind dagegen auch heute noch seine Thesen.
Die Rückkehr der Sophisten Wilhelmus Simon Petrus Fortuijn stilisierte seinen Namen zu Fortuyn und sich selbst zum Kunstwerk. Eines seiner Vorbilder sei Silvio Berlusconi, sagte er. Eher erinnert Fortuyn an einen anderen Italiener, den es nach dem Ersten Weltkrieg ebenfalls kurzfristig in die Politik drängte, bevor er sein Werk in einem Palazzo am Gardasee vollendete: Gabriele D'Annunzio, auch er Ästhet, Desperado, Dadaist mit Gladiatorenhaupt, auch er ein egomanischer Selbstdarsteller und Erotomane, der vor allem stilprägend auf Mussolini gewirkt hat. Fortuyn, so muss man aus seiner Vita schließen, gehörte zu jenen Söhnen des konservativen, überdies katholischen Bürgertums, die dessen Werte tief verinnerlicht haben, aber zu intelligent, zu narzisstisch, zu ruhelos und erfolgssüchtig sind, um sich mit dem Konservatismus als Lebensform anzufreunden. Lustvoll zelebrierte er sein
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Anderssein als enfant terrible aus guter Familie. Fortuyn war kein Theoretiker der Politik, sondern Soziologe mit dem Schwerpunkt Organisations- und Managementsoziologie. Als begabter Selbstvermarkter in Presse und Medien machte er Wissen zu Geld. Man kann Fortuyn einen Sophisten nennen, einen jener Wanderlehrer, die schon in der Antike gegen die »Meisterdenker« und Systembauer zu Felde zogen und der alten Oligarchie den Kampf ansagten. Gegen das Denken in Systemen beharrten sie auf Individualität, Subjektivität, auf erkenntnistheoretischem Konstruktivismus und pflegten vor allem die Kunst der Rhetorik. Plato nannte sie Spiegelfechter, denen es nicht auf Wahrheit und Recht, sondern auf die Überlistung des Gegners mit allen Kunstgriffen der Rhetorik ankomme — eine frühe Kritik am populistischen Stil sozusagen. Sophisten sind im vulgären Sinne des Wortes geschäftstüchtige Schwätzer, und geschäftstüchtig war Fortuyn allemal. Hatte einer der Klassiker des Konservatismus, Edmund Burke, die Ära nach 1789 noch als »Zeitalter der Sophisten« kritisiert, so gab Fortuyn dem konservativen Denken nun zweihundert Jahre später einen postmodernsophistischen Anstrich. Fortuyn hatte Gespür für die Wellenbewegungen von Zeitströmungen. Waren in den sechziger Jahren linke Tendenzen im Aufwind, engagierte sich Fortuyn zunächst weit links, dann gemäßigt links bei der sozialdemokratischen Partei, der PdvA. Als sich der Wind drehte, entdeckte er den »Versorgungsstaat« als Feind, der alsbald flankiert wurde vom Islam als einer »unterentwickelten« Religion.
Die Rückkehr zum menschlichen Maß Doch so opportunistisch, wie es scheint, war Fortuyn keineswegs. Unter der Oberfläche des jeweils Medienwirksamen hatte er Grundüberzeugungen, die ihn inhaltlich als klassischen Populisten unter postmodernen Bedingungen ausweisen. Auch Fortuyn steht in der Tradition des populistischen Anti-Etatismus. Seine entscheidenden Koordinaten lauten nicht »rechts oder links«, sondern »groß oder klein«, Zentralstaat oder föderative Strukturen. Der Untertitel zu seinem 1992 erschienenen Buch An das Volk der Niederlande stellt
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Fortuyns Programm dar: Die »Vertragsgesellschaft« ist die Alternative zur klassischen oder »echten« (Ernst Forsthoff), über den gesellschaftlichen Interessen stehenden Staatlichkeit. Fortuyn konstatiert, der Zentralstaat habe historisch seinen Höhepunkt überschritten, verfüge aber noch über mächtige Bastionen, die es nun zu schleifen gelte: Das Steuermonopol, die Bürokratie, die Technokraten, die korporativen Eliten, die das Einfallstor für einen Faschismus in neuem Gewand darstellen. »Wenn ich an einen neuen Faschismus denke, dann denke ich nicht so sehr an Le Pen, Schönhuber, den Vlaams Blok oder bei uns an Janmaat mit seinem aus dem Ruder laufenden Fremdenhass [...]. Nein, wenn ich an einen neuen Faschismus denke, dann denke ich an die fleißigen, arbeitsamen Technokraten [...], die unsere Müllsäcke öffnen, um festzustellen, ob wir Anweisungen übertreten, die über die Möglichkeiten philosophieren, die die Informatik bietet, um das Verhalten von Bürgern zu kontrollieren [...]«. (Fortuyn 1992: 27f.)31 Er denke an die Abhörmöglichkeiten, um Steuerhinterzieher dingfest zu machen, an das ganze korporative Bauwerk von Versicherungs-, Versorgungsund Gesundheitseinrichtungen, die den Menschen zur Apathie verdammen und seine Selbsttätigkeit lähmen. Der neue Faschismus werde sich auf Samtpfoten einschleichen, auf den Wogen neuer technologischer Möglichkeiten, getragen von einer anonymen Bürokratie. Im Vergleich zu Pim Fortuyns medienwirksamem polig entre-preneurship nimmt sich die italienische Lega Nord provinziell aus. Auf ihre folkloristischen Rituale, ihren Bezug auf das Keltentum oder den von Bossi gepflegten traditionellen italienischen Männlichkeitskult hätte der intellektuelle, überdies homosexuelle Fortuyn nur ironisch reagiert. Für die biederen Anrufungen des niederländischen Volkes durch den damaligen sozialdemokratischen Bürgermeister von Rotterdam mit der rhetorischen Floskel ons soort mensen (etwa: unser-eins, wir alle, wir Holländer) hatte Fortuyn nur Spott übrig. Das »Volk« war gestern. Seit den neunziger Jahren steht der mündige Bürger im Zentrum populistischer Diskurse. Und doch verkündete Fortuyn 31 Zu Hans Janmaat, bis zu seinem Tod 2002 Vorsitzender der Centrumdemokraten und Vertreter eines liberal-konservativen Staatsnationalismus, der bereits die Ausländer- und Immigrantenfrage ins Zentrum seiner Politik gerückt hatte, vgl. Lucardie 2003: 182
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nichts anderes als die Lega Nord, als Bossi oder der ihn bis 1994 beratende Rechts- und Politiktheoretiker Gianfranco Miglio: Besinnung auf das menschliche Maß, Rückkehr zur Kleinteiligkeit, Selbstbestimmung von Kleinproduzenten, die Überwindung der traditionellen Staatlichkeit durch föderative Strukturen, die Vertragsgesellschaft mit ihrer Abwertung des öffentlichen Rechts zugunsten des Zivilrechts. Auch der Gegner ist der gleiche - der »Leviathan« des modernen Wohlfahrtsstaates. Aber statt sich auf den altehrwürdigen Althusius32 zu berufen, beschritt Fortuyn den modernen, ihm als Managementberater vertrauten Weg, den der Netzwerktheorie.
Netzwerkkonzepte als dritter Weg zwischen Staat und Markt Seit den achtziger Jahren prägen, ausgehend von der Soziologie, Begriffe wie Netzwerke, Netzwerkdenken und neue Formen von Governance die Debatten. Netzwerktheoretiker gehen vor dem Hintergrund der weltweiten Digitalisierung von einem veränderten Kräfteverhältnis zwischen Staat und Gesellschaft aus und stehen in der Tradition der älteren Pluralismustheorie. Zunächst geht es dabei um die empirische Frage, inwiefern die öffentliche Politik durch private Akteure ergänzt, geschwächt oder verdrängt wird. Gibt es, mit anderen Worten, neue Wege zwischen dem Staat als hierarchisch regierendem Akteur und dem freien Marktgeschehen zivilrechtlich organisierter Gruppen, die, untereinander vernetzt, den Staat nur noch als Gesprächskoordinator anrufen, als Instanz gesellschaftlicher Integration aber unterlaufen? Kann sich die Gesellschaft auf dezentralisierte, polyzentrische Weise selbst regulieren? Diesem Denken in Vernetzungen und Verbundsystemen kommt, was zum Beispiel für den Erfolg der Lega Nord maßgeblich war, entgegen, dass auch die alten, hierarchischen Strukturen in der Industrieproduktion inzwischen überlebt sind und sich hier eine neue, postfordistische Produktionsweise von miteinander kooperierenden, 32 Johannes Althusius (1563-1638) gilt als einer der Klassiker des Föderalismus. Er forderte einen genossenschaftlichen Staatsaufbau, einen >sozietalen Föderalismus< und proklamierte ein Widerstandsrecht gegen eine >tyrannische< Obrigkeit.
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vernetzten Kleinbetrieben entwickelt hat. »Netzwerke«, so Fortuyn, »sind in nahezu allen Sektoren die neue Organisationsform«. (Ebd.: 68) Die modern organisierte Welt beruhe auf business-units und Netzwerkorganisationen. Der megalomane Wahn und die Formel big is beautiful gehörten der Vergangenheit an. »Das ist einerseits eine Rückkehr zum menschlichen Maß und der relativ kleinen, übersichtlichen Gruppe, andererseits aber keine völlige Rückkehr zu der Zeit, als die Welt noch übersichtlich und gut war«. (Ebd.: 76) Waren kleine Einheiten früher autark und nach innen gerichtet, so sei das heute dank der Informatik und der neuen, flexiblen Vernetzungsmöglichkeiten nicht mehr der Fall. Fortuyn geht davon aus, dass die großen, zentralistisch geführten Konzerne, auch in multinationaler Ausprägung, ihre Hochphase bereits hinter sich hätten. Die Zukunft liege bei profitorientierten Netzwerkorganisationen mit relativ kleinen Betriebseinheiten. Überdies passe diese Organisationsform besser zum individualistischen, mündigen Mitarbeiter und zur neuen Vertragsgesellschaft, dem Modell der Zukunft. »Wir wollen keine Einförmigkeit, sondern Maßwerk. Wir wollen kleinförmige Organisationen, aber mit den Vorteilen des Operierens in größeren, flexibleren Verbänden. [...] Wir haben genug von all den arroganten Politikern und Bürokraten, die glauben zu wissen, was für uns gut ist«. (Ebd.: 84) Vor allem im Bildungsbereich nimmt Fortuyn die Megalomanie aufs Korn. Die Konzentration im schulischen Bereich habe zu anonymen, technokratisch geführten Lernfabriken geführt. Auch hier gilt: Rückkehr zum menschlichen Maß und zur Kleinteiligkeit. In nostalgischen Worten schildert Fortuyn seine eigene Schulzeit in einer solchen kleinen Schule mit großem Gemeinschaftsgeist. »Die Arbeit in kleinen business-units und das Operieren dieser Einheiten im Rahmen von strategischen Netzwerken kann auch hier seinen Nutzen unter Beweis stellen. Auf diese Weise wird das kleine und übersichtliche, kurzum das menschliche Maß, kombiniert mit den Vorteilen in größerem Maßstab«. (Ebd.: 202f.)
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Gildensozialismus und »assoziative Demokratie« Den Gegenpol zur Steuerung, Planung oder Konzertierung »von oben« in Politik oder Wirtschaft bildet ein polyzentrisches, pluralistisches Aushandeln, das, in Analogie zum Markt, auf spontanen, je nach Interessenlage zustande kommenden Vertragsabsprachen der Marktteilnehmer beruht. Diese Position wird von Populisten, auch von Fortuyn, favorisiert. Dies ist per se aber keine rechte Sichtweise, zeigt sich doch, dass Theoretiker der »assoziativen Demokratie«, insbesondere der Brite Paul Hirst, ähnliche Thesen zur Föderalisierung und Dezentrierung vertreten, allerdings von links. »Ein assoziationalistischer Wohlfahrtsstaat wäre dezentralisiert und pluralistisch, er wäre in autonome Regionen eingeteilt, in unterschiedliche und miteinander konkurrierende freiwillige Assoziationen und in zahlreiche funktional-unterschiedliche Diensdeistungssektoren«. (Hirst 1996:170) Hirst beruft sich ausdrücklich auf den britischen Gildensozialismus, aus dem in den zwanziger Jahren bereits der Pluralismustheoretiker Harold Laski hervorgegangen war.33 Auch Hirst konstatiert das Ende der fordistischen Massenproduktion, die einer flexiblen Produktionsweise mit flachen Hierarchien gewichen sei. Fordern Populisten, von Poujade über Bossi bis zu Jörg Haider, primär eine aktive Mittelstandsförderung, so propagiert auch Hirst: »Eine assoziative Ökonomie würde Menschen ermutigen, einen eigenen Betrieb aufzumachen, als selbständige Handwerker oder Händler oder in kleinen Firmen. Sie würde dafür sorgen, dass eine kleine Firma oder ein partnerschaftliches Unternehmen leichter an Kapital gelangen könnte, vorausgesetzt, dass die Angestellten dazu ermutigt würden, sich als Anteilseigner auf der Grundlage eines partizipatorischen Managements daran zu beteiligen«. (Hirst 1996: 134; ähnlich auch Haider 1997:129)
33 Zur Geschichte des assotiationalism als Staats- und Gesellschaftskonzept jenseits von liberalem Individualismus und sozialistischem Kollektivismus und seiner Kritik am zentralisierten, souveränen Staat mit seiner Bürokratie vgl. Hirst 1996: 15. Vorläufer sind hier, wie auch bei dem Rechtspopulisten Gianfranco Miglio, Otto von Gierkes Arbeiten zum Genossenschaftswesen und das Werk des anarchistischen Theoretikers Proudhon.
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Hirst geht mit seinem Konzept des associationalism, das im Prinzip weder rechts noch links sei, davon aus, dass freiwillige Assoziationen und die Sphäre der Gesellschaft, aus der sie hervorgehen, dem Staat gegenüber nicht länger sekundär und untergeordnet sein dürfen. Im Gegenteil, das Verhältnis von Staat und freien Assoziationen wird geradezu umgekehrt, was zur Folge hat, dass der Staat nicht mehr die volle und alleinige Souveränität beanspruchen könne (Hirst 1996: 25£). Die Staatsfunktionen werden auf ein Minimum reduziert und der Staat spielt nur noch eine regulierende Rolle, was gleichzeitig zum Abbau der »paternalistischen« Bürokratie führen werde (ebd.: 196). Demokratische selj-govemance bedeutet größere Kontrolle der Bürger über ihre Angelegenheiten in einem dezentralisierten Modell. Der Staat werde dadurch von den Ansprüchen partikularer Gruppen endastet und könne sich auf seine eigentliche Rolle als Hoheitsorgan und Ordnungsfaktor konzentrieren. Big government, so Hirst, sei auf Kosten individueller Rechte und Freiheiten gewachsen. Zur Entlastung des Staates trage auch die Dezentralisierung funktionaler Repräsentation auf die Territorien unterhalb des Nationalstaats bei, wobei sich die Beziehungen zwischen staatlichen Institutionen und freien Zusammenschlüssen allein auf lokaler oder regionaler Ebene abspielen. Ein zentrales Problem ergibt sich jedoch bei der Frage nach gesellschaftlicher Solidarität oder nationalem Zusammenhalt jenseits von gruppenspezifischen oder regionalen Egoismen. Populisten wie Fortuyn oder die Theoretiker der Lega Nord vertreten einen konstruktivistischen Standpunkt: Nationaler Zusammenhalt ist ein ideologisches Konstrukt, hinter dem sich Herrschaftsinteressen verbergen. Gesellschaftliche Integration ergibt sich allein und ausschließlich in Analogie zum Marktgeschehen nach den jeweiligen Interessen der daran Beteiligten. In diesem Modell in der Tradition des liberalen Konstitutionalismus gibt es keine Staatsbürger mehr, sondern nur noch private und autonome Marktbürger. Gesellschaft, verstanden als Privatrechtsgesellschaft, ergibt sich als Summe privater Assoziationen und bedarf keiner demokratischen Legitimation mehr.
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Reduktion oder Überwindung von Staatsfunktionen Politiknetzwerke werden als dritter Weg zwischen hierarchischem Regieren von oben und völliger Staatsabstinenz verstanden. Dieser dritte Weg wird als vernetztes Zusammenspiel diverser Akteure, als Zwischen- oder Mischform zwischen privat und öffentlich konzipiert, wobei die Grenzen zwischen den beiden Sphären nicht immer klar zu ziehen sind. Die Einbeziehung inoffizieller Akteure (Interessengruppen, Industrie-, Wohlfahrts- oder sonstige Verbände) in politische Problemlösungsversuche ist nicht neu und geschieht als Lobbyarbeit bereits seit langem, wurde aber von einem liberal-parlamentarischen Standpunkt in den fünfziger Jahren noch als Demokratie bedrohende »Herrschaft der Verbände« (Theodor Eschenburg) kritisiert. Lobbyarbeit implizierte überdies, dass Partikularinteressen inoffiziell in das politische System eingespeist werden, wohingegen das Netzwerkkonzept den vormals privaten Akteuren einen semi-offiziellen Status verleiht und in den politischen Entscheidungsprozess einbezieht. Den normativen Bezugsrahmen des parlamentarischen Rechtsstaats verlassen die Netzwerk- oder Governance-Theoretiker aus Gründen funktionaler Notwendigkeit. Die Einbeziehung privater Akteure in die Politik sei aus Gründen höherer Kompetenz und zur Entlastung des »überforderten« Staates systemnotwendig. In diesem Konzept funktionaler Abhängigkeiten und Interdependenzen ist der Staat nur noch ein Netzwerk unter anderen Netzwerken; seine Autonomie konkurriert mit der zahlreicher anderer Organisationen. Ein typisches Netzwerk zeichnet sich durch schwache interne Bindungen aus und besteht in der Regel aus drei Akteuren: aus sich freiwillig engagierenden Mitgliedern der Bürgergesellschaft (civil society), aus Vertretern der Industrie- oder Geschäftswelt sowie dem Staat, die gemeinsam Lösungsstrategien für regionale oder themenzentrierte Probleme entwickeln und aushandeln. Dieser Governance-Ansatz geht nicht mehr von einem hierarchischen Regierungshandeln von oben nach unten aus, sondern von einem minimalen staatlichen Akteur neben anderen Akteuren. Er schreibt daher nur die alte Pluralismustheorie in neuer Begrifflichkeit fort, damit aber auch die alten demokratietheoretischen Probleme.
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Wird nämlich der Staat nicht nur in seiner hierarchischen Struktur, sondern auch in seiner Souveränität geschwächt, so bedeutet dies eine Krise der Repräsentation des politischen Willens in den Parlamenten. Diese werden zu Orten unverbindlicher Debatten einer entscheidungsschwachen »diskutierenden Klasse« (Carl Schmitt) und damit zu jenen »Schwatz- oder Quasselbuden«, die die antiparlamentarische Rechte seit jeher in ihnen sieht. Die eigentlich bedeutsamen Entscheidungen werden dagegen in einem undurchschaubaren Graufeld von ad hoc-Zusammenschlüssen in den demokratisch nicht kontrollierten Netzwerken getroffen. Arthur Benz spricht von der Tendenz zu einer »postparlamentarischen Demokratie« (vgl. Benz 1998 und 2001), einer Tendenz, die von den populistischen Diskursen explizit befördert wird.
Der Sozialstaat entlässt seine Kinder in die Vertragsgesellschaft Fortuyn räumt ein, dass das korporative Modell der Absprachen zwischen den »Großen« (dem Staat, der Industrie und den Gewerkschaften) durchaus erfolgreich war, inzwischen aber dysfunktional und modernisierungshemmend geworden sei. Paradoxerweise untergrabe nämlich gerade der Erfolg dieses Modells seine Grundlage. Das (korporative) Dreiparteienhandeln führte zu Wirtschaftswachstum, zur Verteilung der Wohlfahrt und zu höheren Schulabschlüssen der erwerbstätigen Bevölkerung. Das Gesundheitssystem und die soziale Absicherung brachten ein Gefühl von Sicherheit und Unabhängigkeit mit sich, damit aber mündige, gebildete Bürger, die aus der Sicht Fortuyns dieser staatlichen Stützen nun nicht mehr bedürfen. Immer mehr Menschen entfalteten sich individuell und entwickelten eigene Vorstellungen von Wohlbefinden und eigene Lebensperspektiven. Dieser Entwicklung werde am besten durch die Vertragsgesellschaft Rechnung getragen, in der dem Minimalstaat nur noch die Funktion eines Auffangnetzes für die wirklich Bedürftigen zukommt. Der Abbau der aus populistischer Sicht immer »paternalistischen« und bevormundenden Bürokratie soll durch Dezentralisierung ehemals zentralstaatlicher Aufgaben auf Mikro-Einheiten und durch Privatisierung von Staatsdiensten erfolgen (Fortuyn 1992: 193 und 198).
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Fortuyns Leitbild ist der mündige, kalkulierende Bürger in der Vertragsgesellschaft. Das bedeutet einerseits größere Wahlfreiheit, andererseits größere Verantwortung für die Folgen der Wahl. An die Stelle staatlicher Versorgung und Bevormundung des postemanzipatorischen Bürgers tritt der Vertrag, der Rechte und Pflichten regelt. »Wer keine Vorsorge für morgen trifft, der soll es morgen auch merken«. (Ebd.: 69) Ziel ist die Stärkung von Eigenverantwortlichkeit und größerer Wahlmöglichkeit, denn »[...] in allen kapitalistischen Ländern entwickelt sich der Versorgungsstaat zu einer regelrechten, sich fortschleppenden Krise. Der Engel der Barmherzigkeit hat ein Monstrum geboren. Das Monstrum der anonymen, bürokratisch geleiteten und beherrschten Solidarität«. (Fortuyn 1997: 13) Fortuyn, wie auch Haider mit seiner Kritik am Turbo- oder Rambokapitalismus, tritt gegen den »amoralischen Individualismus«, gegen den »Kasinokapitalismus« an; er kritisiert den »parlamentarischen Kapitalismus amerikanischen Zuschnitts« und verurteilt den »verschwenderischen und versklavenden Konsumismus«, für den Menschen nur Handelsware sind (Fortuyn 1992: 17; 1997: 14; Haider 1997: 129). Fortuyns Ideal ist die Gruppensolidarität auf funktionaler und flexibler Grundlage, da der »mündige, kalkulierende Bürger« eher Individualist als Kollektivist sei. Das Modernisierungsproblem der niederländischen Gesellschaft sei vor allem eine Frage der richtigen Steuerung, die beim Abbau des öffentlichen Sektors anzusetzen habe. Die künftige Gesellschaft hat für Fortuyn die gleichen Konturen wie auch für die Lega Nord, nämlich Dezentrierung des Staates zugunsten autonomer Gebietskörperschaften, der Regios. Die Tendenz zur Regionalisierung, wie sie sich allenthalben bereits abzeichne, werde zu europäisch vernetzten, hoch entwickelten Regionen führen. Da die Landesgrenzen dabei eine immer geringere Rolle spielen, führt dies zu einer Erosion des Zentralstaats. Analog zu den Vorstellungen der Lega Nord soll nicht nur das Steuermonopol auf die Regio übergehen, sondern auch die Zuständigkeit für das Gesundheitswesen, für Bildung, ökonomische Entwicklung und Infrastruktur. Wo der Zentralstaat bisher alle regionalen Unterschiede eingeebnet und nivelliert, wo er »erzwungen«, »aufgenötigt« und »auferlegt« hat, wird er in Zukunft im Rahmen eines föderativen Staates zu einem gleichberechtigten Gesprächspartner der Regio (Fortuyn 1992: 31). Ging es im 18.
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Jahrhundert vor allem um die Pressefreiheit, so heute um die Befreiung von der Geißel des niederländischen Korporatismus. Fortuyn bemängelt die »Zähflüssigkeit« der niederländischen Gesellschaft, deren Ursache er in der Versäulung der Absprachenpolitik sieht. Besonders ausgeprägt zwischen 1953 und 1965, regelten die politischen Eliten untereinander die Politik, die Wirtschaft, die soziale Sicherheit und die Kultur. Dieses versäulte System effizienter, aber von der Öffentlichkeit abgeschotteter Kooperation hat nun, so Fortuyn, eine korporative Elite hervorgebracht, »ein großes Karussel von Kooptationen, von untereinander Pöstchen zuspielenden Leuten«. (Fortuyn 1992: 87) Diese »professionelle Kaste« spreche eine eigene Sprache, lebe in einer eigenen, abgeschotteten Kultur und verfolge eigene Karrierepfade, was den Abstand zwischen Wählern und Gewählten unüberbrückbar mache (ebd.: 73). In den Niederlanden wurde die Praxis der korporativen Absprachenpolitik und des konsensuellen politischen Aushandelns hinter verschlossenen Türen das Polder-Modell genannt (vgl. Lucardie 2003: 185; Cuperus 2003b). Dessen Effektivität stellt auch Fortuyn nicht in Frage, hebt aber im Namen der aus diesem Modell Ausgeschlossenen — neuer Aufsteiger und städtischer Unterschichten — dessen Schattenseiten hervor, ist effektive Kooperation doch nur möglich »in oligarchischen, elitären, intransparenten und selektiven Politikstrukturen«. (Benz 1998: 212) Gegen dieses vermeintlich »eherne Gesetz der Oligarchie« (Robert Michels) macht Fortuyn auf drei Ebenen Front: Erstens sei die Effektivität dieses politischen Absprachenmodells inzwischen nicht mehr gegeben. Vielmehr zeigten sich Verkrustungs- und Stagnationserscheinungen, die sich effektivitäts- und innovationshemmend auswirkten. Zweitens sei der mündige Bürger heute nicht mehr bereit, den politischen Preis, nämlich »paternalistische Bevormundung« und Ausschluss aus dem Elitenkartell, zu bezahlen. Schließlich kehre man, drittens, auch im Produktionssektor dem hierarchischen Denken längst den Rücken zugunsten der Netzwerkorganisation. Fortuyn fasst dies in die Metapher vom »plumpen Elefanten« (den unbeweglichen, zähflüssigen Großorganisationen in Staat und Wirtschaft), die nun abgelöst würden vom »Balletttänzer«, der für rasche, innovationsfreudige Beweglichkeit steht.
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Mit diesen Argumenten empfahl sich Fortuyn als kritischer Zeitdiagnostiker und zugleich als moderner Politiker auf der Höhe der Zeit. Dabei trat er nicht eindimensional als Neoliberaler auf, sondern kombinierte Formen der »assoziativen Demokratie« mit dem Abbau des Sozialstaats und zugleich mit konservativen Elementen wie dem Ruf nach dem menschlichen Maß und nach kleinteiligen Strukturen in Politik und Wirtschaft. Diese Kombination unterscheidet ihn von Liberalen als Vertretern des parlamentarisch-repräsentativen Systems und des globalisierten Großkapitals. Lag in dieser Kombinatorik der Erfolg des politischen Sophisten Pim Fortuyn? Kritische Beobachter geben ihm in den entscheidenden Aspekten Recht. Fortuyn habe den Finger auf reale Missstände und Demokratiedefizite gelegt, die bei den alten und neuen Ausgeschlossenen zu Unmut und Protest geführt hätten. Diese Ausgeschlossenen sind jene, deren Interessen und Probleme in der versäulten niederländischen Politik nicht berücksichtigt wurden und die keine Mitspracherechte hatten. Davon betroffen waren einerseits Unterschichten in innerstädtischen Vierteln mit hohem Ausländeranteil und andererseits neue Aufsteiger im privaten Dienstleistungssektor wie Immobilienmakler, Börsenspekulanten, Werbefachleute oder, wie der schwedische Populist Bert Karlsson, Betreiber von Vergnügungsparks oder in der Unterhaltungsindustrie Tätige. Es handelt sich hier um teilweise durchaus prosperierende Aufsteiger, die aber weder dem alten Bürgertum noch den großkapitalistischen Sektoren in Industrie und Hochfinanz zugerechnet werden können. Auch Kritiker des Fortuyn-Populismus wie der niederländische Politikwissenschaftler Rene Cuperus konzedieren: Es hat in der Tat ein administrativ-technokratischer Führungsstil in der niederländischen Politik, vor allem in der (violetten) Koalition zwischen der konservativ-liberalen WD und der sozialdemokratischen PdvA, vorgeherrscht. Die politisch-bürokratische Elite hat sich in der Tat unter der so genannten Haager »Käseglocke« abgeschottet. Das von Fortuyn angeprangerte Polder-Modell, der Dreiparteiendialog zwischen Regierung, Arbeitsgebern und Arbeitnehmern, hat durchaus entpolitisierend gewirkt und ist als Diktat von oben empfunden worden (Cuperus 2003b: 8). Für dieses korporative Dreieckshandeln
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(tripartisering) gebe es, wie Fortuyn betont, in seinem Weltbild keinen Platz.
Der postmoderne Populismus der Mitte Der liberalkonservative Fortuyn war kein Rechtsextremist, sondern das Sprachrohr einer neuen liberalen Mitte mit konservativen Untertönen. Mit dem Agenda-Setting vor allem in zwei Bereichen, der Kritik am bürokratisch-technokratisch verwalteten Wohlfahrtsstaat und der Kritik an der niederländischen Einwanderungspolitik, ist es ihm gelungen, eine paradoxe Klammer zwischen den Modernisierungsgewinnern im freiberuflichen Sektor und den sich von Immigration bedroht fühlenden städtischen Unterschichten herzustellen, was den großen Volksparteien immer weniger gelang.34 Deren korporatives Absprachenmodell hatte ursprünglich den guten Sinn, durch Kompromisse den Klassenkonflikt zwischen Kapital und Arbeit zu entschärfen und den sozialen Frieden zu garantieren. Dies ist ihnen, wie auch Fortuyn einräumt, durchaus gelungen, nur sei inzwischen die Zeit über dieses Modell hinweggegangen. In der Verknüpfung von libertären und konservativen Elementen vertrat Fortuyn einen »postmodernen Populismus« (Cuperus). Man muss hier deutlich unterscheiden zwischen den Staatszielmodellen einerseits, bei denen Fortuyn die gleichen Forderungen wie die Lega Nord aufstellte, und der kulturellen Toleranzschwelle gegenüber Normabweichung andererseits, die bei Fortuyn schon aus biographischen Gründen höher lag als in traditionalistisch eingestellten Milieus. Fortuyn vertrat eine modernere Variante des Populismus als die Lega Nord, aus folgendem Grund: Die Lega setzt auf ältere Formen des sozialen Kapitals, das in die Netzwerke einfließt, nämlich auf die traditionellen Familienbande in kleinen Familienbetrieben, was sich kulturell in einem größeren Traditionalismus auswirkt. Fortuyn hat dagegen neue, nicht mehr familienzentrierte Betriebe vor Augen, die 34 Dies gilt beispielsweise auch für die skandinavischen populistischen Bewegungen der 1990er Jahre. Vgl. für Norwegen Lorenz 2003: 202; für Schweden Westlind 1996: 153 ff.
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geprägt sind von sich überkreuzenden, funktionalen, schwachen Bindungen zwischen den am Netzwerk Beteiligten, sei es über lose Bekanntschaften, Freundschaften oder informelle Geschäftskontakte. Ähnlich wie Francis Fukuyama 1992 geht auch Fortuyn davon aus, dass diese fluiden Formen der Selbstorganisation jenseits von hierarchischen, staatsinterventionistischen Strukturen, aber auch jenseits traditioneller, patriarchaler Familienbetriebe, nicht zu einem Abbau der Demokratie, sondern zu ihrer Vollendung führen werde. Auch in Fragen der Ausländer- und Einwanderungspolitik zeigen sich, wenn schon nicht in der Sache, so doch in der Argumentationsweise, Unterschiede zwischen dem Niederländer und Umberto Bossi. Lega-Anhänger verkörpern die traditionalistische, bornierte Variante der Fremdenfeindlichkeit. Anders dagegen der intellektuelle Fortuyn, der als postmoderner Populist raffinierter mit Paradoxien spielen konnte. Eine davon ist die Aversion gegen den Islam im Namen von Freiheitlichkeit, Toleranz, Weltoffenheit und Anerkennung von Außenseitern. Auch im Falle der in Holland ansässigen Surinamesen argumentierte Fortuyn nicht mit der Brechstange eines kruden Rassismus, sondern trat auch hier als Anwalt der politischen Kultur in den Niederlanden auf, die es gegen die in Indonesien und Surinam verbreitete Korruption und den dortigen Klientelismus zu verteidigen gelte. Das erinnert an die Rollenverteilung im deutschen Antisemitismus Ende des 19. Jahrhunderts: Für die ungebildeten Massen den rohen Rassenantisemitismus, für das Bildungsbürgertum den kulturalistischen Feinschliff, damals vertreten von den Geschichts- und Sozialwissenschaftlern Heinrich von Treitschke und Werner Sombart (vgl. Priester 2003: 146ff.). Populisten richten sich gegen die Absprachenpolitik im »korporatistischen Dreieck« und vertreten eine Form des pluralistischen Verbands- oder Assoziationsdenkens, damit aber auch eine Dispersion der Souveränitäten) und der klassischen Mechanismen der Repräsentation des Volkswillens in den Parlamenten. Sind sie deswegen undemokratisch? Versteht man Demokratie ausschließlich als parlamentarische Demokratie, dann sind sie es durchaus, zumindest der Tendenz nach. Sie versuchen, das parlamentarische Entscheidungshandeln, das ihnen zu zähflüssig und zu bürgerfern erscheint, aufzubrechen durch Formen der direkten Demokratie. Aber schon zur
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Zeit der Weimarer Republik hat der sozialdemokratische Staatsrechtler Hans Kelsen Vorschläge gemacht, wie mit Forderungen nach direktdemokratischen Elementen umgegangen und Populisten damit der Wind aus den Segeln genommen werden kann: durch Banalisierung von Volksentscheiden und Referenden nach Schweizer Muster, durch die Einführung des Rechts von Gruppen, direkte Gesetzesinitiativen einzuleiten oder durch die Abschaffung der parlamentarischen Immunität.
Ineffizienz des Parlaments und Inkompetenz der Politiker Die von Populisten ausgehende Gefahr liegt nicht in der Einführung direktdemokratischer Elemente, sondern auf einer ganz anderen Ebene. Populisten sind nur die Speerspitze einer allgemeinen, auch von Netzwerktheoretikern oder Vertretern der »assoziativen Demokratie« (Hirst) getragenen Tendenz zum Gruppenpluralismus und eines pluralistischen Verbändestaates. Vor dem Hintergrund ihres eingefleischten Anti-Etatismus agieren Populisten lediglich konsequenter. Der Abbau des Sozialstaats ist dabei nur eine Facette, die aus nahe liegenden Gründen im Vordergrund der Wahrnehmung steht, aber bekanntlich auch von den etablierten Parteien in Angriff genommen wird. Dahinter zeichnet sich aber ein genereller Angriff auf die bisherige Staatlichkeit und den Modus der Repräsentation ab — die Entwertung des Parlaments und der Parteien in ihrer bisherigen Form. Das entscheidende, keineswegs nur von Populisten, sondern auch von ihren Erzfeinden, den Technokraten, vorgetragene Argument lautet, die in den Parteien und im Parlament versammelten Eliten seien in Sachfragen inkompetent und überdies sei die Arbeit in diesen Gremien zu langwierig und daher ineffektiv. Diese Kritik ist nicht neu. Das Effektivitätsprinzip oder Prinzip der Leistungsstärke war einer der Kerngedanken der antiparlamentarischen Korporativismustheoretiker vor der Heraufkunft des Faschismus. Mayer-Tasch bemerkt dazu: »Als ein Hauptargument der Effektivitätskritik erweist sich nämlich der Hinweis auf den geringen Sachverstand der auf der Grundlage des allgemeinen Stimmrechts gewählten Parteien-Parlamente. [...] Im Zeichen des Prinzips der
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Leistungsstärke erfolgt aber nicht nur die Kritik an der Sachkompetenz der Parlamente, sondern auch die Kritik an der Belastung der Parlamente mit den Aufgaben der Sozial- und Wirtschaftsgesetzgebung«. (Mayer-Tasch 1971: 70f.) Wenn aber die politischen Repräsentanten als inkompetent abgewertet werden, stellt sich die Frage, wo denn Kompetenz zu finden sei. Vier idealtypische Antworten sind denkbar: a. Kompetenz liegt bei den Wirtschaftsführern, die direkt und unvermittelt in die Politik gehen: Das Entrepreneur-Modell (Berlusconi/Ross Perot/Tapie), b. Kompetenz liegt bei den staatsfreien, aus der Gesellschaft heraus agierenden privaten Interessengruppen und berufsständischen Organisationen, die ihre Interessen in Analogie zum Markt durch privatrechtliche Verträge verfolgen: das Privatrechtsmodell in der Vertragsgesellschaft (Miglio/Fortuyn), c. Kompetenz ergibt sich durch die Vernetzung von privaten und öffentlichen Akteuren, wobei jene am >kompetentesten< sind, die sich die größten Vorteile in diesen semiöffentlichen Grauzonen des Aushandelns zu verschaffen wissen: das Governance-Modell. Damit steht aber wieder die alte, kritisch bereits gegen die Pluralismustheorie vorgebrachte Frage im Raum, wer denn jene vertritt, die kein Verhandlungspotential besitzen, die sich nicht vernetzen und in Verbänden oder Interessengruppen organisieren können, d. Das vierte Modell ergibt sich als Kombination der beiden letztgenannten. Der Modus parlamentarischer Repräsentation, demzufolge Politik in den Parlamenten zu initiieren, zu verhandeln und in Gesetzgebung umzusetzen sei, wird ausgehöhlt und transformiert zugunsten eines korporativstaatlichen Modells, wobei der alte, belastete Begriff des Korporativstaats in zeitgemäßer Nomenklatur als organic governance oder postparlamentarische governance erscheint, als ein System »von Organisationen, durch Organisationen und für Organisationen« (Andersen/Eliasson (Hg.) 1996: 266; vgl. auch Benz 2001: 272).
Die Wiederkehr der »organischen« Gesellschaftsordnung Kern dieses Ansatzes ist, dass die Interessen der Bürger nicht mehr allein von gewählten Abgeordneten vertreten werden, sondern von
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Vertretern funktionsbezogener Organisationen, bei denen zunehmend auch die Zuständigkeit für die öffentlichen Aufgaben liegt. Das ist aber nichts anderes als das alte Konzept des Korporativismus, verstanden als »organische« Vertretung von Berufs- und Interessengruppen an Stelle der »mechanischen« — nur auf mechanischer Stimmenzählung beruhenden - Vertretung der >abstrakten< Staatsbürger in den Parlamenten. Dazu Alain de Benoist, der Theoretiker der Neuen Rechten, der hier den unverfänglichen, positiv besetzten Begriff der partizipatorischen Demokratie verwendet: »Der Hauptvorteil der partizipatorischen Demokratie ist es, die Verzerrungen, die sich durch die Repräsentation ergeben haben, zu korrigieren [...]. Sie allein erlaubt es, ein Miteinander von sozialen Beziehungen wieder herzustellen, die charakteristisch sind für eine organische Gesellschaftsordnung, ohne welche die Demokratie nichts ist als eine einfache Reihung formeller Prozeduren«. (de Benoist 2000; Hervorhebung von mir, K.P.) Der Korporativismus beruhte ursprünglich auf der Idee der staatsfreien, autonomen Selbstorganisation der »Produzenten« oder, in heutiger Diktion, auf heterarchisch vernetzten Systemen und selbst gesteuerter Kooperation dieser Netzwerke. Das ist das populistische Stadium mit dem Ziel einer föderal-korporativen Ordnung nach dem Ende der alten Staatlichkeit. Da aber mit dieser Idealvorstellung große, wiederum ineffektive Reibungsverluste verbunden sind und sich überdies gesellschaftliche Integration nicht von selbst durch das Handeln bloßer Marktteilnehmer einstellt, wird die Utopie vollkommener Staatsfreiheit zugunsten der Realität modifiziert. Die Umwandlung der Korporationen oder Berufsstände in Staatsorgane war der letzte Schritt in diesem Kontinuum und mündete historisch in das faschistische oder autoritäre Modell.35 Eine moderne, weniger hierarchische und zentralistische Variante zeichnet sich ab, wenn nämlich die außerparlamentarische Abspra-
35 Der Korporativismus stieß in seiner ursprünglichen, staatsfreien Form auf das Wohlwollen vieler Anarcho-Syndikalisten, die z.B. in Italien mit dem Frühfaschismus sympathisierten. Die Korporationen wurden aber in den autoritären und faschistischen Regimen der Zwischenkriegszeit (Italien, Spanien) in Staatsorgane transformiert. Für südamerikanische populistische Regime gilt ähnliches. Vgl.Vilas, 1992: 405f.
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chenpolitik zwischen privaten und öffentlichen Akteuren nach dem Netzwerk- oder Governance-Modell auf Dauer gestellt wird, oder, um das Bild von Mayer-Tasch aufzugreifen, wenn der politische Impressionismus in den politischen Kubismus übergeht (Mayer-Tasch 1971: 11). Aus dem fluiden, offenen, spontanen, akteurszentrierten Stadium des networking gehen diese temporären Formen des Aushandelns zwischen Staat und regionalen oder berufsspezifischen Gruppenvertretern in das Stadium der Institutionalisierung über. Wir hätten dann eine neue Form von Korporativismus unter den Bedingungen der heutigen, durch die Digitalisierung vorangetriebenen Vernetzungsmöglichkeiten. Das postparlamentarische Modell, in dem die Grenzen zwischen privat und öffentlich verschwimmen, hat zur Folge, dass die Entscheidungs- und Kontrollfunktion des Parlaments abgebaut wird zugunsten eines unverbindlichen Debattierzirkels.36 Ein solches zahn- und machtloses Parlament könnte offiziell durchaus weiter bestehen. Seiner politischen Funktion wäre es aber beraubt zugunsten einer rein symbolischen (vgl. Andersen/Burns 1996: S. 246-250). Populisten stehen am Beginn eines solchen Prozesses, was auch gewisse Widersprüche erklärt. So schien Fortuyn auf den ersten Blick das Gegenteil anzustreben, wenn er sich gegen die »Verzunftung« und korporative Abschottung der herrschenden Eliten wandte. Allerdings sprach er im Namen einer potentiellen, bislang noch ausgeschlossenen Gegenelite von neuen Aufsteigern und musste daher zunächst im Namen einer Anti-Partei gegen die herrschenden Oligarchien antreten. Als Postmoderner bereitete Fortuyn den Boden für die Verflüssigung und Auflösung der alten Strukturen; sein Tod hat
36 In diese Richtung weisende Ideen einer Transformation des Parlaments werden keineswegs nur von Populisten vertreten, sondern auch von Politikwissenschaftlern wie z.B. Benz, die zwar eine Kombination von Parlamentarisierung und Absprachenpolitik (der sog. kooperativen Politik) anstreben, für die größere Effizienz der außerparlamentarischen Kooperation zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren aber einen Preis bezahlen: Die Entmachtung des Parlaments zu einem bloßen Organ öffentlicher, unverbindlicher Einflussnahme. Vgl. Benz, 1998: 216: »[...] in Bereichen, in denen staatliche Entscheidungen durch Verhandlungen erreicht werden, [muss] die Kontrollfunktion der Parlamente insofern zurückgenommen werden, als sie nicht die Verhandlungsspielräume und Kooperationsfähigkeit von Regierungen und Verwaltungen einengen darf«.
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ihn davor bewahrt, Perspektiven für die Zeit danach entwickeln zu müssen. Dagegen dachte der staatstheoretisch versiertere Gianfranco Miglio in längeren historischen Zusammenhängen und wusste, wie dieses Modell der Zukunft lautet: das föderal-korporative System, das sich vom historischen Faschismus zwar hinsichtlich des Grades der Zentralisierung unterscheiden würde, nicht aber in der Unterminierung des Parlamentarismus und der Transformation der Parteien in ihrer bisherigen Form. Der Populismus ist nur einer von mehreren Versuchen, einen dritten Weg jenseits der alten Staatlichkeit zu beschreiten. Vorstellungen von einer dezentrierten, pluralen, polyzentrischen, supranationalen Gesellschaft sind seit den siebziger Jahren auf philosophischer und gesellschaftstheoretischer Ebene durch den Postmodernismus ebenso befördert worden wie durch Governance- und Netzwerktheorien oder durch den Kommunitarismus. Auch der Populismus Pim Fortuyns und der Lega Nord steht als >schwache<, vermeintlich theorielose Ideologie in diesem Kontext. Vor dem Hintergrund der Krise der industriellen Großproduktion und der politischen Repräsentation durch Parlament und Parteien gewinnt die Suche nach dritten Wegen erneut an Aktualität. Im europäischen Kontext ist die populistische Variante der dritte Weg von rechts. Aber es ist nicht die alte, auf eine hierarchische Gesellschaftsordnung und einen starken Staat setzende Rechte, die hier zu Wort kommt, sondern eine höchst ambivalente, zwischen rechts und links schwankende, gewissermaßen fluide Rechte im Übergang und als Suchbewegung, wie sie aus der Zeit vor dem Faschismus bekannt ist. Da der Populismus aber, wie oben ausgeführt, in der westlichen Hemisphäre bisher nie allein als reine Mittelstandsbewegung hegemoniefahig war, wird er entweder wieder von einer der Volksparteien als bloßes Ferment absorbiert werden oder er wird den Weg zu einem führerzentrierten Massenklientelismus gehen. In beiden Fällen wird sich das Genuine am Populismus verflüchtigen oder gar zu etwas qualitativ Anderem mutieren.
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5.4 Bernard Tapie und Silvio Berlusconi: Populisten oder politische Unternehmer? Etwa zwanzig Jahre nach dem Ende des poujadistischen Intermezzos gelang es in Frankreich erneut einem Außenseiter, sich, wenn auch wiederum nur vorübergehend, politisches Gehör zu verschaffen: Bernard Tapie, ein Name, der nicht nur mit kometenhaftem Aufstieg und gesellschaftlichem Glamour, sondern auch mit dubiosen Machenschaften in Verbindung gebracht wird. Narziss, Großmaul, begnadeter Kommunikator, Showstar, Gaukler, Volksheld, Fußballmanager, viel versprechender Sanierer maroder Firmen, Millionär, sunny boy und Publikumsliebling - Tapie verkörperte als »Gewinner« die französische Version des Aufstiegs vom Tellerwäscher zum Millionär. Die Herkunft aus dem Arbeitermilieu schadete ihm keineswegs; sie beflügelte nur die Illusion der »kleinen Leute«, dass auch ihre Träume von Geld, Erfolg und Aufstieg Wirklichkeit werden können. Tapie, 1943 als Sohn einer Krankenschwester und eines aus Spanien eingewanderten Heizungsmonteurs geboren und aufgewachsen in einem Pariser Vorort, gab seinen erlernten Beruf als ElektronikIngenieur bald auf, als er erkannte, dass sein Showtalent rascher zu Geld zu machen wäre. Tätigkeiten als Chansonsänger, Firmenberater und Verkäufer von Fernsehapparaten in den sechziger Jahren waren nur Zwischenstationen auf dem Weg zum selbstständigen Unternehmer. Ende der siebziger Jahre wurde Tapie bekannt als Sanierungskünstler, der Pleitefirmen zu symbolischen Schleuderpreisen aufkaufte und wenig später mit Gewinn veräußerte. Auf der Strecke blieben zahlreiche Arbeiter und Angestellte, die der Sanierung zum Opfer fielen. 1979 gründete der umtriebige Tapie ein Finanzimperium, das aus einem Konglomerat von Mode- und Sportartikelfirmen, einer Reformhauskette sowie Elektronik- und Messgeräteherstellerfirmen bestand. Beteiligungen an Fernsehgesellschaften, Mitte der neunziger Jahre der Einstieg bei der deutschen Sportartikelfirma Adidas und nicht zuletzt sein Amt als Präsident des Fußballclubs Olympique Marseille begleiteten den unaufhaltsamen Aufstieg des Einwanderersohnes
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aus der Pariser Arbeitervorstadt, des Mannes mit dem Midashändchen, dem alles, was er in Angriff nahm, zu Gold wurde. Der »große Kommunikator« und kapitalistische Hoffnungsträger Tapie, jung, dynamisch, progressiv, fiel dem damaligen Staatspräsidenten Mitterand auf, der Tapie als politisches Zugpferd gewinnen konnte. Tapie kandidierte an der Seite der Sozialisten, aber als Mitglied der unabhängigen linksliberalen Partei der Radikalsozialisten. Dieser Mouvement radical de gauche (MRG) war Anfang der siebziger Jahre aus einer Spaltung der französischen Radikalen, einer linksliberalen Partei, hervorgegangen, trat 1981 in die Regierung Mitterand ein und Tapie wurde mit dem Amt des Städtebauministers belohnt. Bei den Kantonalwahlen 1994 gewann Tapie mit spektakulären 68 Prozent der Stimmen seinen Wahlkreis Marseille, traditionell eine Hochburg des rechtsextremen Front national. Im gleichen Jahr gelang es ihm, bei den Europawahlen für den MRG mit der Liste Energie Radicale 12 Prozent zu erzielen, was als sensationell galt, zumal es die Sozialisten nur auf 14,5 Prozent brachten. Bemerkenswert war das Ergebnis auch deswegen, weil die von dem Rechtsextremen JeanMarie Le Pen geführte Liste »Gegen das Europa von Maastricht! Auf, Frankreich!« es zwar noch auf stattliche 10,5 Prozent brachte, aber wählersoziologisch auf dem gleichen Feld von Tapie hatte geschlagen werden können. Mitterands Kalkül schien aufzugehen. Mit dem populären, schlagfertigen, redegewandten Tapie hatte er einen »Volkshelden« als linkes Gegengewicht gegen den rhetorischen Populismus Le Pens ins Feld geführt. Nur ein linker Populismus, so schien es, konnte den rechten in die Schranken weisen. Der umtriebige Unternehmer Tapie nahm sich den italienischen Multimillionär Silvio Berlusconi zum Vorbild. Bis in die Details ähneln sich die Stationen ihrer Karrieren — die Nähe zum Showgeschäft, der Aufstieg als self-made-man, die Nutzung oder der Aufbau eigener Fernsehkanäle, die mit Charme und Dauerlächeln überschminkte Affinität zu dubiosen Geschäftspraktiken, zu Korruption und Steuerdelikten und nicht zuletzt ihr Eintritt in die Politik als »politische Unternehmer«. Beide verkörpern, wenn auch mit unterschiedlichem Erfolg, den Typus des entrepreneurs, bei dem die Grenzen zwischen politischen und ökonomischen Interessen sich überschneiden und schließlich ineinander übergehen. Für den Politik-
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Unternehmer ist grundsätzlich alles Geschäft, die Politik ebenso wie die Bau- oder Fernsehbranche; alles ist ein Unternehmen, der Staat ebenso wie eine Privatholding. Der Unternehmer empfiehlt sich als Phänotyp der Stunde, als prädestiniert für den Handel schlechthin, gleichgültig ob mit Stimmen oder mit Gebrauchtwagen. Als Medienstar und Werbestratege weiß er, wie die Massen umworben werden müssen, als Sanierer weiß er, wie auch der Staat saniert werden kann. Diese Einstellung zur Politik ist aber das diametrale Gegenteil dessen, was den Impetus des Populismus ausmacht. Der Politiker als Unternehmer fungiert weder als Sprachrohr des »gemeinen Mannes« noch vertritt er Forderungen nach Selbstbestimmung, Partizipation, Dezentralisierung der Macht oder Mittelstandsförderung. Im Gegensatz zum populistischen Föderalismuskonzept ist der politische Unternehmer zudem in der Regel Zentralist. Er ist andererseits aber nicht unbedingt fremdenfeindlich oder rassistisch, vielmehr ist er, politisch gesprochen, von grenzenloser Prinzipienlosigkeit und Wendigkeit, wenn es dem Geschäft dient. Er ist, kurz gesagt, ausschließlich Unternehmer und dies auch in der Politik. Ein solcher entrepreneur kann sich populistisch genannter Mittel bedienen, obschon Zweifel aufkommen, ob populistisch hier das angemessene Adjektiv ist oder ob man nicht eher von medienwirksam sprechen sollte. Entscheidender aber ist, dass dieser Typus, auch wenn er scheinbar als Außenseiter gegen das Establishment antritt, in der Politik keineswegs eine neue Erscheinung ist.
Schumpeters »realistische« Demokratietheorie Was als neue Entwicklung wahrgenommen wird, ist nur in der Nutzung zeitgemäßer Medien neu, nicht der Sache nach. Schon Mitte des letzten Jahrhunderts hat der amerikanische Ökonom und Sozialwissenschaftler österreichischer Herkunft, Joseph A. Schumpeter, als geistiger Vater der »realistischen« Demokratietheorie diese unternehmerische Praxis von Politikern nicht nur analysiert, sondern auch legitimiert. »Parteipolitiker und Parteimaschinen sind nur die Antwort auf die Tatsache, dass die Wählermasse keiner anderen Haltung als der Panik fähig ist, und sie bilden einen Versuch, den politischen
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Konkurrenzkampf genau gleich wie die entsprechenden Praktiken eines Wirtschaftsverbandes zu regulieren«. (Schumpeter 1950: 450) Schumpeter leitete zu Beginn der 1950er Jahre die »realistische«, elitentheoretisch untermauerte Wende in der Demokratietheorie ein. Die normative Begründung der Demokratie, verstanden als Souveränität des Volkes, wecke nicht nur unrealistische Erwartungen, sondern verhülle auch schamhaft, dass Demokratie, wie jede andere Regierungsform, ein Geschäft von Eliten sei, die um Marktanteile kämpfen. Die Demokratie habe gegenüber anderen politischen Regimen lediglich den Vorzug, dass sie zwei Alternativen zur Auswahl stelle. Diese Ansicht sei weder frivol noch zynisch, sondern lege, und zwar in heilsamer Absicht, nur den Finger auf die den Eingeweihten längst bekannte Tatsache, dass Politik, auch und gerade in der Demokratie, ein Geschäft wie jedes andere sei. »Was die Geschäftsleute nicht verstehen, ist, dass ich genau so mit Stimmen handele, wie sie mit Öl handeln«, zitiert Schumpeter einen Politiker und kommentiert: »Wer diesen Ausspruch, der einem der erfolgreichsten Politiker, der je gelebt hat, zugeschrieben wird, nicht so in sich aufgenommen hat, dass er ihn zeitlebens nicht mehr vergisst, steckt politisch gesprochen noch in den Kinderschuhen«. (Ebd.: 453f.) Gerade diese Praxis des politischen Establishments oder der politischen »Kaste« ist es aber, die Populisten immer aufs Korn genommen und angeprangert haben. Muss also der Begriff des Populismus erweitert werden um eine neue Komponente, die als Telepopulismus oder Cyperpopulismus bezeichnet wird? Haben wir es hier mit neuen Facetten oder einer neuen Qualität des Populismus zu tun? Oder handelt es sich eher um die Paradoxie eines Anti-Populismus, der sich populistisch genannter Stilmittel bedient? Der Handel mit Stimmen, gleich aus welcher Richtung, Schicht oder Bevölkerungsgruppe diese kommen, ist schon deswegen nicht populistisch zu nennen, weil das Wahlvolk hier nur noch als Konsument angesprochen und mit entsprechenden Werbestrategien umworben wird. Es handelt sich bei diesen Politikunternehmern und ihren meist dubiosen, mafiosen Netzwerken um eine medial vermittelte Form des Klientelismus. Der politische Unternehmer umwirbt als Boss oder Patron seiner Firma eine Käuferschicht für ein Produkt, das aus ihm selbst besteht. Er selbst bietet sich mit völlig in-
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haltsleeren Eigenschaften wie »Energie« oder »Kompetenz« zum politischen Kauf an, zur Stimmabgabe für ihn persönlich (vgl. Schöpfer 2002: 28). Dafür legt er im Gegenzug seine Imago in die Waagschale, das imaginäre Versprechen eines ähnlich raschen Aufstiegs, wie er selbst ihn als Kind »kleiner Leute« geschafft hat. Diese klientelistische Tauschbeziehung funktioniert werbepsychologisch ähnlich wie die bekannte Marlboro-Reklame. Wer diese Marke wählt, kauft nicht nur eine Zigarette, sondern eine Imago — die des ungebundenen, in die Ferne schweifenden Cowboys, die Suggestion von weiten Horizonten, neuem Aufbruch, außeralltäglichen Erlebnissen, dazu einen Hauch Abenteuer, eine Prise unberührter Natur oder was immer der Käufer in diese Imago hineinprojizieren mag. Bernard Tapie gewann Stimmen nicht mit einem konkreten politischen Programm, sondern mit der Werbemarke »Radikale Energie«, was sich ähnlich inhaltsleer, aber energetisch aufgeladen ausnimmt wie der Name von Berlusconis Partei Forza Italia (Vorwärts, Italien!). Der Mann Tapie, selbst ein Energiebündel und Hansdampf-in-allenGassen, verkörpert als Identifikationsfigur das Programm.
Der Anarcho-Kapitalist als Politikunternehmer Ist es berechtigt, den Unterschied zwischen Berlusconi und Tapie darin zu sehen, dass der eine ein Rechtspopulist, der andere ein Linkspopulist ist? Diese Zuordnungen erscheinen fragwürdig, unterstellen sie doch ideologische Gegensätze, die nicht gegeben sind. Weder ist Tapie links im sozialistischen, noch Berlusconi rechts im autoritären oder faschistischen Sinne des Wortes. Beide gehören vielmehr, und das rückt sie einander nahe, politisch ins Umfeld des Liberalismus in seiner anarcho-kapitalistischen Ausprägung, für den der Staat, als Sozialstaat ebenso wie als Rechtsstaat, nur ein Hindernis ist. Erinnert sei auch daran, dass Berlusconi seine politische Karriere keineswegs an der Seite der damaligen italienischen Rechten in der christdemokratischen Partei begann, sondern der von Bettino Craxi geführten sozialistischen Partei nahe stand und sie finanziell tatkräftig förderte. Symptomatisch für den Zustand der italienischen Sozialisten war Anfang der neunziger Jahre, dass Craxi, wie auch zahlreiche
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andere italienische Politiker, wegen Bestechung und Korruption unter Anklage gestellt wurde, aber der Strafverfolgung durch Umzug nach Tunesien auswich. Er selbst verstand dies als »Exil« und stellte sich als Opfer einer politischen Hetzkampagne dar. Erst nachdem 1992 das gesamte Parteiensystem Italiens zusammengebrochen war, stieß Berlusconi in das Vakuum und gründete 1994 seine eigene Partei, die sich als Sammlungsbewegung der Mitte und damit als Nachfolgeorganisation der italienischen Christdemokraten positionierte. Dabei nahm er eine genuin populistische Bewegung wie die Lega Nord unter Umberto Bossi und eine rechts-autoritäre Partei, die Alleanza Nationale unter Gianfranco Fini, als Koalitionspartner auf. Solche Möglichkeiten standen Tapie nicht offen. Als politisches Leichtgewicht war er eine Nummer zu klein, um selbst nach der Macht zu greifen. Aber weder Tapie noch Berlusconi traten als Gegner der endemisch um sich greifenden Korruption in ihren Ländern auf, sondern als deren Nutznießer und Profiteure. Ihre vermeintliche Gegnerschaft zum Establishment bezog sich nicht auf das Dickicht von Korruption, Bestechung und Vetternwirtschaft in den etablierten Parteien. Sie hatten keineswegs vor, dieses Dickicht zu lichten. Daher empfahlen sie sich auch nicht als politische Saubermänner, die den Augiasstall auszumisten gedachten, sondern nur als effizientere, >energischere< und modernisierte Variante der alten, verschlissenen Parteigranden. Das Image einer Aversion gegen das Establishment konnten die beiden Parvenüs nur deswegen aufrechterhalten, weil diese sich gegen einen ganz anderen Gegner richtete: den Rechtsstaat. Allein die Tatsache, dass jemand ein gesellschaftlicher Außenseiter und politischer Aufsteiger ist, prädestiniert ihn ebenso wenig zum Populisten wie seine bloße Popularität als Schlagersänger, Medienstar oder Fußballmanager. Es bedarf vielmehr eines Humus, auf dem dieser neue Typus des Anti-Populisten im Gewand des Populisten erst gedeihen kann. Dieses Umfeld muss durch drei Faktoren gekennzeichnet sein, damit Außenseiter politische Erfolgsaussichten haben. Es muss ein Zustand der politischen Verkrustung gegeben sein, in dem die politischen Eliten mit ihren regulären Karriereverläufen als Kartell fungieren, das den Aufstieg von Außenseitern verhindert. Ferner muss dieses Kartell konkurrenzlos und politisch markt-
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beherrschend auftreten. Dies war in Italien vor 1994 in so hohem Maße gegeben, dass die christdemokratische Partei bereits als Einheitspartei bezeichnet werden konnte. Zweitens führt dies dazu, dass Gegenkräfte als nicht politikfähig ausgegrenzt oder, in geringerem Umfang, von den Parteien an der Macht kooptiert werden. Drittens schließlich hat dies einen Zustand der politischen Blockierung zur Folge, in dem das gleiche politische Personal in nominell immer neuen, substantiell aber unveränderten Konstellationen, Allianzen, Verbindungen, Netzwerken und Koalitionen rotiert. In diesem politischen Treibhaus gedeihen in besonderem Maße all jene Erscheinungen, die Populisten stets auf schärfste bekämpft haben: Korruption, Vettern- und Günstlingswirtschaft, informelle Absprachenpolitik, Postenschacher, die Vermischung von politischen und ökonomischen Interessen, Politik im Interesse der special interests der Großindustrie oder der Hochfinanz.
Anti-Staatlichkeit als corporate identity Gerät ein solchermaßen blockiertes System in die Krise, kann es, wie die Beispiele Tapie und Berlusconi zeigen, dazu kommen, dass populistisch auftretende, aber funktional als Anti-Populisten wirkende Außenseiter ihre Chance erhalten. Sie werden, wie Tapie, als frischer, dynamischer Juniorpartner kooptiert oder sie besetzen, wie Berlusconi, ein parteipolitisches Vakuum. In beiden Fällen war und ist ihre Funktion aber die gleiche: Sie demonstrieren, dass die Blockierung des politischen Systems durch Parvenüs aufgebrochen werden kann, und zwar individuell, durch individuelle Eigenschaften und Leistungen, die sie bereits durch ihre Erfolge als Manager unter Beweis gestellt haben. Ferner betonen sie, dass ihr individueller Aufstieg zu einem kollektiven werden kann, wenn der Staat nicht als Bremser fungiert, sei es als Sozialstaat, der dynamischen Unternehmern wie ihnen immer wieder Knüppel zwischen die Beine wirft, sei es als Rechtsstaat, der in Gestalt von Richtern und Staatsanwälten politisch motivierte »Hetzkampagnen« gegen sie initiiert. Der Kampf dieser neuen Politikunternehmer richtet sich nicht gegen die bekannte, von Populisten bekämpfte Trias der drei »Großen«, auch nicht gegen
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Expertentum und Technokratie, sondern gegen das letzte Bollwerk eines noch unabhängigen Staates, die Rechtssprechung. Der universalisierende Rechtsstaat erscheint als neuer »Leviathan« und paradoxerweise als Einfallstor für einen neuen Totalitarismus, der Männer wie Craxi sogar ins Exil getrieben habe. Illegale Handlungen werden auf diese Weise zu Aktionen eines legitimen Widerstandes aufgewertet. Die Manie von Verschwörungen ist zwar auch bei den neuen Politikunternehmern ausgeprägt, wird aber um 180 Grad gewendet, denn sie fühlen sich nicht als Opfer einer Verschwörung der »Großen«, zu denen sie als Vertreter des Big Business längst selbst gehören, sondern vielmehr der kleinen Beamtenschaft in der Justiz. Berlusconis Staatsverständnis reduziert sich auf das einer Firma. Daher kann er in der Justiz als Sachwalterin des Rechtsstaates auch nur eine Konkurrenzfirma sehen, die es darauf abgesehen hat, ihm Marktanteile zu entreißen. Seine notorischen Ausfälle gegen Richter und Staatsanwälte haben nicht nur den trivialen Hintergrund, von den gegen ihn anhängigen Prozessen abzulenken, sondern unterminieren das liberal-demokratische Staatsverständnis grundlegend. Sie sind nicht Taktik, sondern Strategie. Als Anarcho-Kapitalist vertritt Berlusconi das Ideal einer Gesellschaft ohne Staat, ruft indessen aber nicht nach vorstaatlichen Assoziationen und Zusammenschlüssen und ist auch nicht als Förderer des Mittelstandes in Erscheinung getreten, sondern stets nur als Förderer seiner Eigeninteressen. Berlusconi sieht den Staat nicht analog zu einer Firma, sondern identitär: Der Staat ist nicht wie eine Firma zu behandeln, sondern ist selbst eine Firma. Die Gesellschaft dagegen wird nicht als Sphäre der Selbstorganisation von »Produzenten« gesehen, sondern reguliert sich nach informellen Freundschaftsbeziehungen, verstanden als vertikale diadische Beziehungen nach dem Muster von Patron und Klient (vgl. Ginsborg 2003: 43). Dieser bis auf die Antike zurückgehende Klientelismus gehört zu den »deep rooted elements in Italian history« (ebd.), mit denen Berlusconi keineswegs bricht, sondern in deren Tradition er steht.
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Das Phänomen Tapie Bernard Tapies Werdegang ist symptomatischer für den Politiker als entrepreneur als der Berlusconis, weil Tapie nicht über so viel Kapital wie sein italienisches Vorbild verfügte, um sich straffrei außerhalb des Gesetzes stellen zu können. Daher tritt die kriminelle Seite seiner Karriere deutlicher hervor: Veruntreuung, Hehlerei, Bilanzfälschung, Bestechung, erkaufte Spielausgänge seines Fußballclubs, Zeugenbeeinflussung, Korruption, Unterschlagung, Aufhebung der parlamentarischen Immunität, Aberkennung des politischen Mandats, Verlust des passiven Wahlrechts — das sind nur einige Stationen im Leben des Bernard Tapie, bei dem Aufstieg und Fall dicht beieinander liegen. Schließlich folgte 1997 die erste Verurteilung zu zwei Jahren Haft, davon acht Monate ohne Bewährung. Im gleichen Jahr wurde Tapie zu weiteren drei Jahren Haft verurteilt, davon 18 Monate ohne Bewährung. Aber einsitzen musste das Multitalent Tapie keineswegs. Stets gelang es ihm, sich mit Geldstrafen freizukaufen oder unter Auflagen der Inhaftierung zu entgehen. Inzwischen ist Tapie, der sich, wie auch Craxi und Berlusconi, als Opfer politischer Hetzkampagnen darzustellen weiß, wieder als Direktor jenes Sportvereins in Marseille tätig, aus dessen Kasse wenige Jahre zuvor unter seiner eigenen Ägide etwa 30 Millionen DM verschwunden waren. Und auch als Schauspieler, Entertainer und Buchautor ist Tapie wieder im Geschäft. Hazardeure wie er sind die vom Neoliberalismus, besonders in der Phase der New Economy, gehätschelten Stehaufmännchen. Silvio Berlusconi ist der mutmaßlich reichste Mann Italiens. Ein Mann, für den buchstäblich alles nicht nur käuflich, sondern auch kaufbar ist, kann sich daher eine gewisse Reputation als Ehrenmann und legitimer Staatslenker zulegen. Bernard Tapie war das kleinere Kaliber und in seinem Auftreten als vermeintlich linker Populist auch zwiespältiger. Seine kurze Karriere als Politiker gleicht eher der eines Irrwischs, der sich kurzfristig in die Politik verirrte, dort für einige Medienhypes sorgte und inzwischen auf unverfänglicherem Terrain wieder seiner Berufung als Entertainer und »großer Kommunikator« nachgeht.
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Die Einschätzung seines Wirkens variiert daher stärker als die der Politik Berlusconis und schwankt zwischen Zuschreibungen wie Tapie la pègre (Tapie, Mann der Unterwelt) und Tapie, c'est Doriot (Tapie gleich Doriot). Jacques Doriot war in den dreißiger Jahren einer jener Wanderer zwischen den politischen Welten, für die rechts- und linksextrem austauschbar wurden. Er begann als Mitglied der kommunistischen Partei und wandte sich 1936 dem Faschismus zu. Mit seiner Partei Parti Populaire Francais war er als Volksführer im Arbeitermilieu äußerst erfolgreich. Polemische Zuschreibungen wie die genannten erfassen das Phänomen Tapie aber nicht und verwenden Kategorien, die der politischen Vergangenheit angehören. Denn Tapie war kein Mann der Unterwelt, sondern jemand, der sich äußerst geschickt legaler Möglichkeiten wie Steuerabschreibungen und Mehrfachverwertung seiner zahlreichen Talente zunutze machte. Als Geschäftsmann handelte er risikobereiter, tollkühner und skrupelloser, aber nicht grundsätzlich anders als andere Unternehmer, zumal zahlreiche Formen der Wirtschaftskriminalität als bloße Kavaliersdelikte gelten und Steuerhinterziehung in einem Land wie Italien ein wahrer Volkssport ist. Tapie der Unterwelt zuzuschlagen, erfasst daher nicht die Grauzonen, in denen das umtriebige Multitalent operierte. Auch Berlusconi ist kein Mann der Unterwelt im üblichen Wortsinne, sondern allenfalls einer geheimen »Unterwelt« für die gesellschaftliche »Oberwelt«. So bewegte er sich vor seiner politischen Karriere in einem auch von Politikern des alten Parteiensystems gern frequentierten Sumpf, bestehend aus der Mafia, dem katholischen Laienorden Opus Dei und der Freimaurerloge Propaganda 2 (P 2), also in geheimen Männerbünden, die durch das spezifisch italienische Verständnis von Männerfreundschaft als verschworener Klientelbeziehung zusammengehalten werden. Ebenso abwegig wie die Zugehörigkeit zur Unterwelt ist die Tapie unterstellte Nähe zum Faschismus. Tapie unterschied sich von der Welt eines Jacques Doriot vor allem dadurch, dass die großen ideologischen Gegensätze zwischen Kommunismus und Faschismus in den neunziger Jahren, der Zeit von Tapies größten politischen Erfolgen, nicht mehr gegeben waren. Tapie fischte nicht in rechtsextremen Gewässern im Trüben, sondern war ausdrücklich als Kontrahent
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Jean-Marie Le Pens aufgestellt worden. Andererseits war es aber auch nicht sein Ziel, die Arbeiterschaft, das neue Subproletariat oder andere Marginalisierte nach links zu mobilisieren oder eine aktive Mittelstandspolitik zu betreiben. Vielmehr fungierte der erfolgreiche Aufsteiger als Hoffnungsträger und Energiespender für eine neue Mitte, die für das Regierungsbündnis unter Mitterand gewonnen werden sollte. Links bedeutet im Falle Tapie daher lediglich eine kulturelle Chiffre und steht für Aufgeschlossenheit, Vorurteilslosigkeit, Modernität und unbürgerliche Lebensformen. Tapie ist ein typisches Phänomen der entideologisierten, neuen liberalen Mitte, die nicht erst von Blair und Schröder, sondern schon von dem Sozialisten Mitterand umworben wurde. Tapie einen Populisten zu nennen, wirft, wie auch bei seinem Vorbild Berlusconi, etliche Probleme auf: Zunächst die Tatsache, dass er nicht von außen kam, sondern aus dem damals von Mitterand repräsentierten politischen System, dies sogar in so hohem Maße, dass man ihn mit seiner Verstrickung in rechtswidrige Praktiken, vor allem in Korruption und Bestechung, nur als Spitze des von Mitterand errichteten Eisbergs bezeichnen muss. Weder klagte Tapie direktdemokratische Mitspracherechte ein, noch wandte er sich an die »Vergessenen« oder die »schweigende Mehrheit« im Lande. Er polemisierte weder gegen Bonzen, Bürokraten, Experten oder Technokraten noch gegen die Mächte des Geldes, zu denen er selbst zählte. Anders als Ross Perot in den USA verfolgte er auch keine spezifisch mittelstandspolitischen Ziele. Er war lediglich die Stimme seines Herrn, ein redegewandter Herold der Sache Mitterands, ein Propagandist ohne eigene programmatische Substanz, dafür aber das lebende Beispiel für inhaltsleere Energie und raschen, wenn auch dubiosen sozialen Aufstieg, kurzum ein Liberaler in der Phase des Niedergangs des Liberalismus. Bleibt man bei der Analyse dieses politischen Unternehmertums auf Begriffe wie Links- oder Rechtspopulismus fixiert, so entgeht einem, dass Tapie ein Phänomen der inzwischen auch von den Sozialdemokraten umworbenen »neuen« Mitte war und auch Berlusconi hier seine größte Anhängerschaft findet. Politiker wie Tapie und Berlusconi stellen nur zwei Seiten der gleichen Medaille dar. Beide lösten sich aus der Verbindung von Wirtschafts- und Rechtsstaatsli-
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beralismus und machten damit den Weg frei für ihren Aufstieg als politische Unternehmer. Auch wenn der politische entrepreneur, wie mit Schumpeter zu zeigen war, kein neues Phänomen ist, so ist das Neue daran gleichwohl, dass es nicht mehr als Normabweichung, sondern als Norm postuliert werden kann. Der politische Unternehmer operiert nicht mehr im Verborgenen. Er muss keine ideologische Schminke auftragen, keine hehren Ziele proklamieren, sondern verkündet öffentlich und lautstark, was seine Vorgänger nur hinter vorgehaltener Hand zu äußern wagten. Er muss seinen unternehmerischen Realismus, seine Auffassung von Politik als Geschäft und vom Staat als Firma nicht mit idealistischen Floskeln vertuschen, sondern erhebt die pragmatische Weltsicht des Wirtschaftsmanagers zum obersten politischen Wert. Mit Berlusconi, Tapie und dessen »Paten« Mitterand waren und sind indessen andere Gefahren verbunden als ihr Pragmatismus. Mit diesen Sumpfblüten des Liberalismus, die auch das Etikett »sozialistisch« tragen können, erreichte die Entideologisierung der westlichen Parteien ein Stadium, wo rechts und links nichts mehr bedeuten, dafür um so mehr die Qualitäten von Condottieri, die schon der junge Mussolini ins Zentrum seiner Diskurse gerückt hatte: Energie und Tatkraft um ihrer selbst willen, Aufschwung, Dynamik, Elan, power und leadership, Skrupellosigkeit, Verschlagenheit und Männerbündelei, unter welcher Flagge auch immer. Dass diese Tendenz zur personalistischen Führerzentrierung schon lange vor Tapie und Berlusconi begonnen hatte, nämlich mit den Sozialisten Craxi und Mitterand, dass auch sie bereits glaubten, als leader keinen rechtsstaatlichen Normen mehr unterworfen zu sein, zeigt nur, dass die vermeintlichen Populisten Tapie und Berlusconi weder eine Alternative zum alten Establishment waren noch je sein wollten. Berlusconi trat nicht generell gegen das Parteienestablishment an, sondern war als aktiver finanzieller Förderer des PSI und guter amico Bettino Craxis Teil desselben. Was die geschickte Nutzung der Medien angeht, so kann dies kein Kriterium für Populismus sein. Hier geht es wie mit der Erfindung des Buchdrucks. Sobald ein Medium verfügbar ist, wird es auch genutzt, und zwar von allen. »Fernseh«- oder »Medienpopulismus« sind nur Verlegenheitsfloskeln ohne analytisches Erklärungspotential,
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denn wenn es danach ginge, wäre Gerhard Schröder gewiss ein Populist von Graden gewesen. Als politische Unternehmer wissen Tapie und Berlusconi aber auch, wie die Massen zu erreichen sind — durch Brot und Spiele, vor allem durch den Fußball. Definieren genuine Populisten wie jüngst noch Bossi den Mittelstand als Inbegriff des »produktiven« Volkes und bauen auf dessen nationale oder regionale Identität, setzte ein postmoderner Populist wie Fortuyn auf den mündigen Bürger, so setzen Tapie und Berlusconi auf die Massen. Sie befördern also jenen Prozess der Vermassung und Anonymisierung, sei es vor dem Bildschirm oder im Fußballstadion, der gerade den Widerstand von Populisten gegen die Schattenseiten der modernen Gesellschaft ausgelöst hat. Die Menschen werden nicht als in beruflichen oder lokalen Gemeinschaften lebende Personen angesprochen, sondern als amorphe, zufällig und kurzfristig zusammenkommende Masse, als von einem Gönner oder Patron abhängige, passive Klientel. Überdies ist Berlusconi in der Staatsfrage ein Zentralisierer und steht auch hier im Gegensatz zur populistischen Tradition. Diese Unterschiede machen deutlich, dass wir es bei Tapie und Berlusconi nicht mit echten Populisten zu tun haben, sondern mit Managern, die auch politische Erfolge zu managen wissen, dabei nicht einmal mit der Ruchlosigkeit von Demagogen, sondern mit der Seichtigkeit von Entertainern. Ihnen fehlt, mit anderen Worten, ein Bezug zum konservativen »Denkstil« (Mannheim) und zum Konservatismus als Gesellschaftsentwurf und Weltsicht, der jedem genuinen Populisten eigen ist. Versteht man unter Populismus aber nur eine bestimmte Rhetorik und einen Stil, dann entgehen einem diese signifikanten Unterschiede. Paul Ginsborg vertritt die überzeugende These, Berlusconi sei kein »natural populist leader«. »At most we can say that populism enters strongly into his linguistic armoury, but that the material constitution of his project remains another. Umberto Bossi, with his rough and direct language, regional base and grassroots social movement, fits the populist much better«. (Ginsborg 2003: 43) In Zeiten der Verkrustung und Stagnation der politischen Eliten ergreifen Männer wie Berlusconi oder Tapie ihre Chance und fungieren als politisches Schmieröl, um ein blockiertes, festgefahrenes
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politisches Fahrzeug wieder gangbar zu machen. Beide zeigen mit Nachdruck, dass ihre Form des Populismus nur vordergründig als Kritik am politischen Establishment zu verstehen ist, in Wahrheit aber einen Angriff auf den Rechtsstaat darstellt. Den Weg zur Macht treten sie nur deswegen an, um unter dem Schutz der parlamentarischen Immunität oder direkt an den Schalthebeln der Macht Bedingungen zu schaffen, unter denen sie ungehindert jenem Imperativ folgen können, den der französische »Bürgerkönig« Louis Philippe nach 1830 proklamiert hatte: Bereichert Euch! Das war indessen nie das Ziel von Populisten. Tapie und Berlusconi zeigen aber auch, dass die Krise der politischen Repräsentation nicht erst von ihnen ausgelöst wurde, sondern im Falle Italiens bereits vorlag, im Falle Frankreichs durch die autokratische, vor Korruption und Bespitzelung seiner Gegner nicht zurückschreckende Politik Mitterands. Erst vor diesem Hintergrund einer von innen heraus wuchernden Delegitimation und Unterhöhlung des repräsentativen Systems schlägt die Stunde der politischen Unternehmer der liberalen Mitte. Ganz im Sinne von Schumpeters Realismus machen sie offenkundig, was unter der Decke bereits seit langem praktiziert wurde. Nicht sie sind die eigentliche Gefahr, sondern der Humus, auf dem sie gedeihen.
6. Ausblick
Der große Systemgegensatz zwischen Kapitalismus und Kommunismus, zwischen parlamentarisch-repräsentativer Demokratie und Diktatur hat das 20. Jahrhundert als »kurzes Jahrhundert« (Eric Hobsbawm) zwischen 1918 und 1989 beherrscht. Neben diesen beiden Gegnern hat es zahlreiche Suchbewegungen nach dritten Wegen zwischen Individualismus und Kollektivismus gegeben, deren Wurzeln bis weit ins 19. Jahrhundert zurückreichen. Zu den wichtigsten zählen auf dem linken Spektrum die Sozialdemokratie, auf dem rechten der Faschismus und in der Mitte die christliche Soziallehre, die nach 1945 Eingang in die christdemokratischen Volksparteien gefunden hat. Zugleich brachte dieses »kurze« Jahrhundert, ausgelöst durch die Erkämpfung des allgemeinen Wahlrechts, eine Integration der bis dahin aus der Politik Ausgeschlossenen in das politische System. Erstmals in der Geschichte wurde das Staatsvolk identisch mit dem Wahlvolk, ein Prozess, der gerade im bürgerlichen Lager ein Umdenken notwendig machte. Große Massenintegrationsparteien traten an die Stelle der älteren, klassen- oder schichtspezifisch ausgerichteten und formierten sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu den christdemokratischen und sozialdemokratischen Volksparteien. Ihre große Syntheseleistung zwischen Konservatismus bzw. Sozialismus und Liberalismus stand unter dem Signum des »Sozialen«. Leitbegriffe oder Selbstbezeichnungen wie soziale Marktwirtschaft, Sozialstaat, soziale Demokratie, christlich-soziale Union, Sozialpakt, Sozialpartnerschaft etc. prägten und prägen immer noch unsere politische Kultur bis hin zu Schlagworten wie »Sozialverträglichkeit«. Als Kräfte der »sozialen Verantwortung« und des »sozialen Ausgleichs« signalisierten die Volksparteien, dass sie die »schweigende Mehrheit«,
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die Menschen »draußen im Lande« nicht aus den Augen verlieren, seien es die lohnabhängigen Massen oder der selbstständige Mittelstand von Gewerbetreibenden, Handwerkern und Kleinunternehmern. Auch der Populismus ist eine solche Suche nach einem dritten Weg zwischen Individualismus und Kollektivismus. Er beruht auf der Gleichsetzung von »Volk« mit dem selbstständigen Mittelstand oder den »kleinen Leuten«. Diese »kleinen Leute« fühlen sich seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert zunehmend in Bedrängnis durch die »Großen«, die sie »von oben« und »von unten« in die Zange nehmen. Zu diesen »Großen« zählen nicht nur das große, international operierende Kapital, sondern, als Sprachrohr der Arbeiterschaft in der Großindustrie, auch die Gewerkschaften. Ihnen zur Seite tritt als Dritter im Bunde der Staat, der aus populistischer Sicht nur deren Interessen vertritt. Diese drei Gegner von Populisten treiben die gesellschaftliche Modernisierung voran, die ihrerseits zu Megalomanie tendiert — zu Großstädten, Großproduktion, zu großen Konzentrationen in allen gesellschaftlichen Sphären, angefangen beim Handel bis zu den großen »Lernfabriken« im Bildungswesen, was wiederum zur Anonymisierung von Verantwortlichkeiten und zur »Vermassung« führt. Populisten nehmen indessen nicht an Modernisierung per se Anstoß, sondern am Modus ihrer Durchsetzung. Dazu zählt einmal eine zu große Geschwindigkeit. Sie wird als Belastung und Zumutung empfunden, weil gewachsene Lebenswelten, Traditionen, Wertorientierungen und Lebensformen zu rasch in Frage gestellt und über Bord geworfen werden. Dazu gehören zum anderen aber die Instrumente dieser Modernisierungsstrategie, nämlich eine elitäre, intransparente Absprachenpolitik der drei »Großen« sowie ein ganzes Heer »niederer Dämonen«, die im weitesten Sinne als Staatsbedienstete fungieren: Bürokraten, Experten in undurchschaubaren Gremien und Beraterstäben, praxisorientierte Wissenschaftler und nicht zuletzt Technokraten, die das »zweckrationale Handeln« (Max Weber) auf Kosten des affektiven und des traditionalen Handelns zum obersten Gebot erheben. Populisten mobilisieren daher nicht gegen Eliten schlechthin, sondern vorrangig gegen sozialplanerisch tätige Aufklärungseliten. Diese gelten als paternalistische, arrogante, bevormundende New
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Class, die den Staatssektor aus wohlverstandenem Eigeninteresse unnötig aufbläht und durch bürokratische »Zähflüssigkeit« verkrustet. Gegen diese staatsnahen Planungs- und Exekutiveliten machen Populisten im Namen freier, mündiger, nachemanzipatorischer Bürger Front. Angestrebt wird eine Privatrechts- oder Vertragsgesellschaft, in welcher der Staat als Garant gesellschaftlicher Integration und als Anwalt der sozial Schwachen obsolet wird. Populistischer Widerstand formiert sich immer dann als eigenständige Bewegung, wenn eine Krise der Repräsentation vorliegt, wenn also die Menschen »draußen im Lande« sich politisch nicht mehr repräsentiert und ernst genommen fühlen. Bezogen auf die westliche Hemisphäre trat Populismus als eigenständiges Phänomen immer nur kurzfristig als Protestbewegung und als Agenda-Setter in Erscheinung. Populisten sprechen im Namen des »produktiven Volkes«, verstanden als Werte schaffende Produzenten, seien es Bauern, Gewerbetreibende oder andere selbstständige Zwischenschichten. Aus der Idealisierung dieser hart arbeitenden Menschen resultiert aber eine dem Populismus inhärente, spezifische Einäugigkeit. Vor dem Hintergrund einer liberalkonservativen Mentalität, die sich selten oder nie zu einer Ideologie verdichtet, stellen Populisten nur Begleiterscheinungen der Modernisierung an den Pranger, vor allem den Verlust der ökonomischen Selbstständigkeit, den Zwang zur (LohnAbhängigkeit, der als Absinken in die »Sklaverei« wahrgenommen wird. Lohnabhängigkeit entwertet und entwürdigt Menschen aus populistischer Sicht ebenso wie ein Luxusleben, das nur auf Börsenspekulation und anderen Formen rascher Bereicherung ohne erkennbare Arbeitsleistung beruht. Populisten, so war zu zeigen, vertreten das frühliberale Ideal einer weitgehend staatsfreien Gesellschaft. Werte wie Selbstständigkeit, Selbsttätigkeit, Selbstbestimmung, Selbsthilfe, Vertrauen in die eigenen Kräfte und die des familiären und sozialen Nahbereichs rangieren vor jeder Staatstätigkeit. Die Selbstorganisation freier Bürger und Bürgerinnen, sei es in den amerikanischen townmeetings, in bäuerlichen Genossenschaften oder anderen staatsfreien Zweckverbänden auf beruflicher oder lokaler Basis hat für Populisten oberste Priorität. Sie unterscheiden sich damit von jenen Konservativen, die, bei aller Kritik am Sozialstaat, doch den Staat als Leviathan verteidigen. Spätes-
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tens durch die Industrialisierung sei, so Ernst Forsthoff, die Idealvorstellung von der sich selbst stabilisierenden, staatsfreien Gesellschaft ad absurdum geführt worden. (Forsthoff 1971: 23) Werden ihr Gesellschaftsideal und ihre Lebensweise bedroht, können sich Populisten - wie in den USA — Hilfe suchend an den Staat wenden. Sie tun dies aber nicht mit der Perspektive, sich durch sozialstaatliche Zuwendungen alimentieren zu lassen und damit in Abhängigkeit zu geraten. Vielmehr klagen sie jene Gemeinwohlorientierung des Staates ein, die in Westeuropa von den christdemokratischen Parteien vertreten wurde, nämlich Garantie »fairer« Marktchancen, Abfederung von Risiken des internationalen Wettbewerbs, Hilfe zur Selbsthilfe, Förderung des Mittelstandes als »Rückgrat der Nation« (Poujade), Subsidiarität und eine Gesellschaftsordnung, in der jedem das Seine (suum cuique) zukommt und nicht von einem umverteilenden Staat in eine »falsche« Richtung kanalisiert wird. Je mehr nun diese »kleinen Leute« als Produzenten sozial und ökonomisch absinken und je anomischer und perspektivloser ihre Lage wird, desto rabiater treten sie auf. Sie werden anfällig für Demagogen mit ihren Heilsversprechungen und für Hassprediger, die zu »kompensatorischer Kriegführung« (David J. Saposs) übergehen und nach Sündenböcken suchen. Populistische Bewegungen können dann in gefährliche Nähe zu faschistischen Strömungen und Tendenzen geraten. Eine der interessantesten, bislang noch unzureichend beantworteten Fragen in der Populismusforschung ist die nach dem »Umschlagen« oder der »Inversion« des Populismus zum Bonapartismus oder Semifaschismus. Da der Populismus in der Regel im Bewegungsstadium verharrt, kann die Frage, was geschieht, wenn Populisten an die Macht gelangen, nur tentativ beantwortet werden. Am Beispiel der beiden populistisch genannten Regime unter Long und Wallace in den USA konnte gezeigt werden, dass der Weg zu einem führerzentrierten Massenklientelismus oder Semifaschismus beschritten wird und die soziale Basis sich in die unteren Segmente der Gesellschaft verlagert. In einem solchen Regime wird dann das praktiziert, was in diametralem Gegensatz zum genuinen Verlangen von Populisten steht: Nicht Erhaltung und Förderung der Selbstständigkeit und Abbau des staatlichen Eingriffs in die sozial-strukturellen Beziehun-
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gen, sondern umgekehrt Ausbau des Staatssektors zur Befriedigung einer staatsabhängigen Klientel, deren Loyalität durch staatliche Vergünstigungen und Patronage erkauft wird. Mit der oben aufgeworfenen Frage ist zugleich auch die nach der Reichweite des Populismusbegriffs gestellt. Die Grenze zum Faschismus liegt in der Staatszielbestimmung; dagegen liegt die unübersehbare Nähe beider Phänomene auf sozialpsychologischer Ebene — in Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Antisemitismus, in der Suche nach Sündenböcken und dem Hang zu Verschwörungstheorien. Der für Populisten konstitutive Anti-Etatismus hat dazu geführt, dass sie in den 1990er Jahren vor allem als Kritiker des Wohlfahrtsund Sozialstaats in Erscheinung getreten sind. Populisten wie Fortuyn, Bossi, Haider, aber auch die skandinavischen Populisten, die kurzzeitig von sich reden machten, deren Bewegungen aber inzwischen zu politischen Randphänomenen geschrumpft sind, traten den Angriff gegen das »sozialdemokratische Zeitalter«, gegen den raffgierigen »Steuerstaat« und den »umverteilenden«, immer neue Begehrlichkeiten weckenden und Anspruchshaltungen fördernden Sozialstaat an. Die gegenwärtig stattfindende Umorientierung oder der »Umbau« der westeuropäischen Sozialstaaten zu welfare communities, zu mehr Eigenverantwortung und zu größerer Selbstvorsorge, hat diesen populistischen Bewegungen den Wind aus den Segeln genommen. Es bleibt abzuwarten, ob sie sich künftig mit der anderen Facette ihres Wirkens, ihrer Kritik an der Einwanderungspolitik, an »zurückgebliebenen« Religionen und Kulturen, an Ausländerkriminalität und ausländischen »Sozialschmarotzern« mehr Gehör verschaffen können. Populismus wurde hier vorwiegend als rechtes, und zwar als rechts-libertäres Phänomen identifiziert, das strikt gegen die etatistische Rechte mit ihrer Sehnsucht nach dem starken (National-) Staat abzugrenzen ist. Im Gegensatz zu dieser Rechten sind Populisten heute weniger denn je Nationalisten, sondern propagieren Regionalisierung, Föderalisierung und Dezentralisierung. Gibt es indessen nicht auch einen Linkspopulismus und haben gerade die amerikanischen Populisten nicht auch zahlreiche progressive Impulse ausgelöst? Sind die dortigen »neuen« Populisten der 1970er Jahre nicht ein Pendant zu den »neuen sozialen Bewegungen« in Europa, die sich mehrheitlich als links, wenn auch nicht im sozia-
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listischen Sinne, verstanden? Zweifellos gibt es auch einen Linkspopulismus, nur hat er in Deutschland so gut wie keine Wurzeln. Linkspopulismus hat nur dort einen gesellschaftlichen und politischen Nährboden, wo entweder die anarchistische Tradition nachwirkt oder wo andere Traditionen linker Selbstorganisation verankert sind, etwa im Genossenschaftswesen, im Anarcho-Syndikalismus, im französischen Mutualismus oder im britischen Gildensozialismus, der dem linken Konzept der »assoziativen Demokratie« zugrunde liegt. Hier stehen politische Denker wie Otto von Gierke, vor allem aber Pierre Joseph Proudhon Pate, nicht dagegen Marx mit seinem Staatszentralismus. Links- und Rechtspopulisten, und das kennzeichnet sie als Angehörige einer gemeinsamen politischen Familie, haben den gleichen Gegner: den »keynesianischen Leviathan« (Bossi) bzw. den Staatsinterventionismus mit seinen bürokratischen Großapparaten, ganz gleich, unter welcher Regimeform er sich zeigt. Die Reduktion des Populismus auf einen bloßen Stil oder eine rhetorische Anrufungspraxis erscheint dagegen analytisch nicht tragfähig. Sie verwässert und dehnt das Phänomen zur Unkenntlichkeit. Der Blick auf die Grobschlächtigkeiten der »linguistic armoury« (Paul Ginsborg) populistischer Führer, auf provokantes Auftreten oder auf die geschickte Nutzung von Massenmedien ist einseitig und verkennt, dass medienwirksame Selbstdarstellung unter den heutigen Bedingungen einer »Videokratie« zum Markenzeichen auch von Politikern des »Establishments« gehört. Popularität ist nicht mit Populismus zu verwechseln. Erst in Verbindung mit dem populistischen Staatszielmodell auf der Grundlage des populistischen Menschen- und Gesellschaftsbildes erhalten Aussagen zu Stil und Auftreten populistischer Wortführer einen, wenn auch begrenzten, Stellenwert.
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POPULISMUS
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