Andreas Hepp · Marco Höhn · Waldemar Vogelgesang (Hrsg.) Populäre Events
Erlebniswelten Band 4 Herausgegeben von Winfried Gebhardt Ronald Hitzler Franz Liebl
Zur programmatischen Idee der Reihe In allen Gesellschaften (zu allen Zeit und allerorten) werden irgendwelche kulturellen Rahmenbedingungen des Erlebens vorproduziert und vororganisiert, die den Menschen außergewöhnliche Erlebnisse bzw. außeralltägliche Erlebnisqualitäten in Aussicht stellen: ritualisierte Erlebnisprogramme in bedeutungsträchtigen Erlebnisräumen zu sinngeladenen Erlebniszeiten für symbolische Erlebnisgemeinschaften. Der Eintritt in dergestalt zugleich ‚besonderte’ und sozial approbierte Erlebniswelten soll die Relevanzstrukturen der alltäglichen Wirklichkeit – zumindest partiell und in der Regel vorübergehend – aufheben, zur mentalen (Neu-)Orientierung und sozialen (Selbst-)Verortung veranlassen und dergestalt typischerweise mittelbar dazu beitragen, gesellschaftliche Vollzugs- und Verkehrsformen zu erproben oder zu bestätigen. Erlebniswelten können also sowohl der ‚Zerstreuung’ dienen als auch ‚Fluchtmöglichketen’ bereitstellen. Sie können aber auch ‚Visionen’ eröffnen. Und sie können ebenso ‚(Um-)Erziehung’ bezwecken. Ihre empirischen Erscheinungsweisen und Ausdrucksformen sind dementsprechend vielfältig: Sie reichen von ‚unterhaltsamen’ Medienformaten über Shopping Malls und Erlebnisparks bis zu Extremsport- und Abenteuerreise-Angeboten, von alternativen und exklusiven Lebensformen wie Kloster- und Geheimgesellschaften über Science Centers, Schützenclubs, Gesangsvereine, Jugendszenen und Hoch-, Avantgarde- und Trivialkultur-Ereignisse bis hin zu ‚Zwangserlebniswelten’ wie Gefängnisse, Pflegeheime und psychiatrische Anstalten. Die Reihe ‚Erlebniswelten’ versammelt – sowohl gegenwartsbezogene als auch historische – materiale Studien, die sich der Beschreibung und Analyse solcher ‚herausgehobener’ sozialer Konstruktionen widmen.
Winfried Gebhardt (
[email protected]) Ronald Hitzler (
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Andreas Hepp · Marco Höhn Waldemar Vogelgesang (Hrsg.)
Populäre Events Medienevents, Spielevents, Spaßevents 2., überarbeitete Auflage
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
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1. Auflage 2003 2., überarbeitete Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010 Lektorat: Frank Engelhardt VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-15770-2
Inhalt
Andreas Hepp, Marco Höhn und Waldemar Vogelgesang Einleitung: Perspektiven einer Theorie populärer Events......................................7
I
Populäre Medienevents
Andreas Hepp Stefan Raab, Regina Zindler und der Maschendrahtzaun: Ein populäres Medienereignis als Beispiel der Eventisierung von Medienkommunikation ...............................................................................37 Iris Eisenbürger Stars, Sterne und unendliche Weiten: Die Events der Trekkie-Szene .............. 113 Andreas Hepp und Veronika Krönert Der katholische Weltjugendtag als Hybridevent: Religiöse Medienereignisse im Spannungsfeld zwischen Mediatisierung und Individualisierung .........................................................................................149
II
Populäre Spielevents
Waldemar Vogelgesang LAN-Partys: Die Eventisierung eines jugendkultuellen Erlebnisraums ..........173 Jeffrey Wimmer, Sylvia Klatt, Olga Mecking, Jana Nikol, Eliana Pegorim, David Schattke und Stefanie Trümper „Beyond the Game“?! Die World Cyber Games 2008 in Köln als populäres Spielevent der Computerspielindustrie ............................................213 Philipp Lorig und Waldemar Vogelgesang Paintball: Sport oder Kriegsspiel? – Räuber und Gendarm als Event für Erwachsene .................................................................................239
6 III Populäre Spaßevents Marco Höhn Tot aber glücklich. Halloween – die Nacht der lebenden Toten als Event-Mix ....................................................269 Bettina Krüdener und Jörgen Schulze-Krüdener Da war noch was: Zur Eventisierung des Jugendbrauchtums in der Region am Beispiel der Spaßfeten ..........................................................299
Autorinnen und Autoren .....................................................................................317
Einleitung: Perspektiven einer Theorie populärer Events Andreas Hepp, Marco Höhn und Waldemar Vogelgesang
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Populäre Events und Vergemeinschaftung: Eine Einführung in die Thematik
In der Einleitung der ersten Auage aus dem Jahr 2002 nahmen wir Bezug auf eine damals breite öffentliche Debatte, nämlich die Diskussion um die Frage, ob mit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 das „Ende der Spaßgesellschaft“ (Krämer 2001) gekommen sei, wie es in einem Artikel der taz vom 24. Oktober 2001 hieß. In Abgrenzung zu der damaligen Debatte in den Medien entwickelten wir das Argument, dass die öffentliche Diskussion um ein mögliches Ende der „Spaßgesellschaft“ sich eher auf einer vordergründigen Phänomenebene bewegt: Wenn man langfristige Fragen des Wandels unserer heutigen Populär- und Medienkulturen im Blick haben möchte, erscheint es in Abgrenzung dazu wichtiger, den Blick auf grundlegendere Wandlungsprozesse zu lenken, die sich in solchen öffentlichen Diskussionen wie die um das mögliche Ende der Spaßgesellschaft kristallisieren. In diesem Zusammenhang erschienen uns insbesondere zwei Punkte wichtig. Erstens verweist die Diskussion um „Spaßgesellschaft“ auf Phänomene, die mit dem Begriff des „Events“ in Verbindung gebracht werden. „Spaßgesellschaft“ heißt, dass man sich zunehmend auf außeralltäglichen Events vergnügt und es vor allem die Medien sind, die solche Events inszenieren bzw. deren Inszenierung unterstützen. Geht man analytisch heran, so sind (populäre) Events also nicht einfach ein Aspekt der „Spaßgesellschaft“, sondern der in der öffentlichen Debatte verbreitete Gebrauch des Ausdrucks „Spaßgesellschaft“ verweist auf einen tiefgreifenden soziokulturellen Wandel, nämlich den der Eventisierung von Populär- und Medienkultur. Dieser wird – so würde man es aus heutiger Perspektive zusätzlich formulieren – gerade wiederum an „9/11“ deutlich, indem der 11. September selbst nicht nur ein Medienevent gewesen ist (vgl. Zelizer/Allan 2002), sondern ebenfalls zu einem zunehmend relevanten Bezugspunkt der Auseinandersetzung um Bedeutungen in der gegenwärtigen Populär- und Medienkultur geworden ist. Zweitens macht die öffentliche Diskussion um „Spaßgesellschaft“ deutlich, dass solche nachhaltigen und weit reichenden Transformationsprozesse wie die
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Andreas Hepp, Marco Höhn und Waldemar Vogelgesang
der Eventisierung nicht einfach durch ein einzelnes Ereignis, für das die Terroranschläge vom 11. September 2001 ein Beispiel sind, gestoppt werden können, auch wenn solche Ereignisse einschneidende Veränderungen zur Folge haben. Ein (mögliches) Abrücken oder eine Nichtverwendung von Ausdrücken wie dem der „Spaßgesellschaft“ in der Medienberichterstattung muss also nicht bedeuten, dass ein umfassenderer Prozess des kulturellen Wandels, wie ihn die Eventisierung darstellt, als solcher zum Erliegen gekommen wäre. Vielmehr sollten solche semantischen Verschiebungen dazu anregen, die bestehenden Wandlungsprozesse empirisch noch differenzierter anzuschauen. Bezieht man diese Argumente auf den Zeitpunkt der Abfassung der Einleitung – nämlich Juli 2009 –, so wird deren Reichweite schlagartig deutlich: Im Sommer 2009 – rund acht Jahre nach dem in der taz proklamierten Ende der „Spaßgesellschaft“ – erleben wir eines der größten populären (Medien-)Events der letzten Jahre, nämlich den Tod Michael Jacksons und die anschließende Trauerfeier, über die weltweit live im Hörfunk, im Fernsehen und im Internet berichtet wurde. Die globale Berichterstattung repräsentiert – und generiert – einen Typus von Medienereignis, der mit zwei strukturell unterschiedlichen Formen von Vergemeinschaftung einhergeht. Zum einen erzeugt das Ereignis für die Dauer der Berichterstattung ein unsichtbares Band zwischen den Mitgliedern der globalen Trauergemeinde im Sinn einer medienvermittelten, translokalen Vergemeinschaftung. Zum anderen wird das Event auch zum Bezugspunkt von lokaler Vergemeinschaftung, wenn es beispielsweise den Auslöser von Treffen lokaler Fangruppen bildet, die sich in ihren gemeinsamen Trauerpraxen ihren geteilten Sinnhorizont als Fans von Michael Jackson bestätigen. Betrachtet man hier einmal mehr die öffentliche Debatte als Teil dieses Ereignisses, so fällt auf, dass dieses (Medien-)Event wiederum Anlass für Reexionen ist, in denen diesmal das Ende einer „globalen Populärkultur“ konstatiert wird. So ndet sich einmal mehr in der taz ein Artikel, in dem Carsten Zorn argumentiert, dass dieses Ereignis „das absehbare (beziehungsweise schon längst eingetretene) Ende der Populärkultur, wie sie für vier, fünf Generationen zu einem selbstverständlichen Teil ihres Lebens geworden war“ (Zorn 2009), dokumentiert. Eine solche Einschätzung wird von Carsten Zorn damit begründet, dass „nicht zuletzt auch die Bedeutung des Internets“ dazu beigetragen habe, dass eine solche Zentrierung von Kommunikation und Aufmerksamkeit auf eine einzelne Person wie im Falle von Michael Jackson zukünftig nicht mehr vorstellbar sein würde. Die heutige Populärund Medienkultur ist – so die Folgerung – vielfältiger, fragmentierter geworden. Sicherlich ist Carsten Zorn dahingehend zuzustimmen, dass die Etablierung der digitalen Medien Teil eines ausgeprägten kulturellen Wandels ist. Unseres Erachtens sollte man aber wiederum vorsichtig damit sein, hier ein „Ende“ zu proklamieren. Wenn man das (Medien-)Event anlässlich des Todes von Michael Jackson näher
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betrachtet, so stellt man fest, dass es sich auch im Internet durch eine Zentrierung von Kommunikation auszeichnet (Hepp/Couldry 2009), und zwar ebenfalls in scheinbar so dezentralen Kommunikationsplattformen wie Twitter. Vor diesem Hintergrund erscheint es uns wichtig, einmal mehr den Blick auf Eventisierung als solche zu lenken. Sie repräsentiert unseres Erachtens einen umfassenden Prozess des kulturellen Wandels, der prototypisch auch in der eventförmigen Todes- und Trauerinszenierung von Michael Jackson zum Ausdruck kommt. Während sich mit der Etablierung von Satellitenfernsehen, Internet, iPod und anderen (digitalen) Medien unsere verschiedenen Kommunikationsräume und kommunikativen Konnektivitäten sicherlich immer weiter ausdifferenzierten bzw. fragmentierten, stellen (Medien-)Events gerade ein gegenläuges Moment dar. Sie zentrieren über verschiedenste Kanäle, Medien und Angebotsformen hinweg Kommunikation auf einen bestimmten thematischen Kern und machen so selbst bei Konikthaftigkeit zumindest potenziell bei aller (kommunikativer) Fragmentiertheit eine translokale Vergemeinschaftung möglich. In gewissem Sinne lässt sich eine solche Aussage auch für andere Formen von Events verallgemeinern: Gerade mit zunehmender Fragmentierung, Individualisierung und Differenzierung sind Events eine herausragende Ressource gegenwärtiger Vergemeinschaftung (Hitzler et al. 2001). Aus solchen Überlegungen ergibt sich die nach wie vor bestehende Aktualität des vorliegenden Buchs, wegen der wir uns entschlossen haben, sechs Jahre nach dem Ersterscheinen eine überarbeitete und erweiterte Zweitauage herauszugeben: Einerseits haben die von uns ursprünglich durchgeführten Fallstudien zu populären Events bis heute Bedeutung, indem sie als solche den Prozess der Eventisierung von Populär- und Medienkultur dokumentieren. Andererseits ist die aktuelle Entwicklung dieses Wandlungsprozesses durch neue Studien kritisch zu reektieren. Beides haben wir versucht, in der Neuauage dieses Buchs zu realisieren: So enthält sie auf der einen Seite überarbeitete Fassungen von Aufsätzen der Erstauage, die unseres Erachtens ganz zentrale Aspekte populärer Events fassen. Auf der anderen Seite werden zwei neue Fallstudien von jüngeren populären Events, die die Langfristigkeit des Transformationsprozesses deutlich machen, hinzugefügt. Bevor wir zu einer Darstellung der Ergebnisse der verschiedenen Studien kommen, werden zunächst der Begriff des populären Events sowie das forschungsmethodische Vorgehen näher expliziert.
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Eventisierung: Aspekte eines kulturellen Wandels
Zu den geläugen soziologischen Gesellschaftsdiagnosen der Gegenwart gehört die Beobachtung der Auösung von traditionellen Wertmaßstäben und Gemeinschaftsformen. Ursprünglich gesellschaftlich vorgeprägte Rollen und Lebenspläne
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Andreas Hepp, Marco Höhn und Waldemar Vogelgesang
werden individuell verfügbar, geraten zunehmend in die Hoheit des Einzelnen. Er kann – zumindest prinzipiell – seine Arbeit, seinen Beruf, seine Vereins-, Partei-, Kirchen- oder Gruppenmitgliedschaft sowie seine kulturellen und ästhetischen Vorlieben frei wählen und wechseln. Er ist der Bastler seines Lebens, das im Spannungsverhältnis zwischen Globalisierungs- und Partikularisierungsprozessen unter der Devise steht: Man hat keine Wahl, außer zu wählen. Wie sehr die Organisation des eigenen Lebens in der individualisierten Gesellschaft bereits zur Norm, wenn auch nicht zwangsläug damit einhergehend zur Normalität, geworden ist, stellt auch Sighart Neckel (2000: 40) nachdrücklich heraus: „Für die Zeitdiagnose der Entscheidungsabhängigkeit unseres Daseins ist es im Übrigen gleichgültig, ob uns das Leben in Wirklichkeit doch eher geschieht, statt eine Kette von Wahlakten zu sein. Dies ändert nichts daran, dass in der reexiven Moderne dem Individuum alle Ereignisse seiner Biograe als subjektive Entscheidungen zugerechnet werden. Allein nämlich, dass jeder weiß, dass es bei anderen anders ist, stellt den eigenen Lebensverlauf unter Begründungspicht und gebiert den Handlungszwang, sich als Person selber ernden zu müssen.“
Das Projekt des eigenen Lebens ist somit aufs Engste mit einer Politik der Wahl verknüpft, die zwar nicht notwendig als zwanghaft empfunden wird, aber immer mit Exklusionserfahrungen einhergeht und zwar in der Form, dass die Entscheidung für etwas die Nicht-Verfügbarkeit von etwas anderem impliziert. In seiner Gesamtheit kann man diesen gesamtgesellschaftlichen Transformationsvorgang, für den der schwedische Anthropologe Ovar Löfgren (1995) die anschauliche Metapher vom „Leben im Transit“ geprägt hat, als einen widersprüchlichen Prozess der kulturellen Differenzierung begreifen, einen Prozess, bei dem die „ehemals hierarchisch verwaltete Hochkultur […] nicht einfach durch eine nivellierte Allerwelts- oder Massenkultur abgelöst worden [ist], sondern eine Fülle von miteinander konkurrierenden Spezialkulturen entstanden [ist], die gleichsam als Enklaven von einer Allerweltskultur umgeben sind“ (Winter/Eckert 1990: 144). Kulturelle Differenzierung meint also Diversikation von Kultur, d. h. das Herausbilden einer Fülle und Vielfalt von „Stilen“ (Hebdige 1988), „Spezialkulturen“ (Winter/Eckert 1990), „Szenen“ (Hitzler et al. 2001) oder „Fankulturen“ (Vogelgesang 2008) und damit von neuen Organisations- und Vergesellschaftungsformen, denen gemeinsam ist, dass sich ihre identitätsstiftende Kraft nicht länger auf ähnliche soziale Lagen gründet, sondern auf ähnliche Lebensziele und alltagsästhetische Schemata (Schulze 1993). Paradoxerweise hängen umgekehrt die Möglichkeiten solcher Wahlen wiederum von unterschiedlichen Formen des sozialen und kulturellen Kapitals ab, auch wenn dieses nicht (mehr) eindimensional auf Klassenlagen zurückgeführt werden kann.
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Dieser Prozess der kulturellen Differenzierung ist auch ein Prozess der fortschreitenden Kulturalisierung von Ökonomie bzw. Kommerzialisierung von Kultur. Zunehmend sind die ökonomisch relevanten Waren in spätmodernen Gesellschaften weniger ‚materielle Kulturprodukte‘ (Autos, Kühlschränke, etc.) im industriellen Verständnis, sondern Dienstleistungen und als Sinnangebote fassbare ‚immaterielle Kulturwaren‘ (Medienprodukte, Veranstaltungen, etc.).1 Folgt man der Argumentation von Winfried Gebhardt, Ronald Hitzler und Michaela Pfadenhauer (2000: 11), so lässt sich in diesem Prozess der progressiv fortschreitenden kulturellen Differenzierung auch eine verstärkte „Eventisierung von Kultur“ ausmachen. Für die Angehörigen einzelner segmentärer kultureller Verdichtungen – wie wir zusammenfassend die Spezialkulturen, Szenen und Fankulturen bezeichnen wollen –, wird es im Zuge dieser kulturellen Pluralisierungs- und Diversizierungsprozesse immer schwieriger, sich ihrer Zusammengehörigkeit zu versichern. Der wesentliche Grund hierfür ist darin zu sehen, dass die Zugehörigkeitsbedingungen zu den neuen, posttraditionalen Gemeinschaftsformen wesentlich diffuser, offener und unverbindlicher sind. Entsprechend erscheinen neue soziale Mechanismen notwendig, sich genau dieser temporalen und partikularen Zugehörigkeit zu versichern. Diese Funktion erfüllen – wenn auch nicht ausschließlich und allein – Events. Auch die neuere Identitätsdiskussion trägt dieser Entwicklung Rechnung. Denn in Zeiten zunehmender Wahlfreiheiten rückt nicht nur das individuelle Tun und die Eigenverantwortung ins Zentrum der Daseinsgestaltung, sondern eine „Kultur der Selbstsorge“ (Foucault 1993). Gemeint ist damit, dass Identität heute zunehmend partizipative oder multiple Identität ist, da aufgrund individuell arrangierter räumlicher, zeitlicher, sachlicher und sozialer Rollentrennungen mehrere (Teil-) Identitäten und Selbstdarstellungen neben- und nacheinander existieren. In der posttraditionalen Gesellschaft löst sich die diachrone und synchrone Einheit der Persönlichkeit auf, mit der Konsequenz, dass individuelle Identitätsinszenierungen zu einer strategischen Daueraufgabe werden. Wo die Relevanz von Rollen und Traditionen abnimmt, wächst die Bedeutung von situativen Selbstdarstellungen. Identität ist für die heutige (junge und ältere) Generation gleichbedeutend mit Selektion, Identitätsmanagement lautet das Gebot der Stunde. In spätmodernen Gesellschaften wird Identität somit weniger in der innengeleiteten Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit konstituiert, wie dies in früheren Zeiten durch institutionalisierte Biograegeneratoren (beispielsweise der Beichte, in Tagebüchern oder poetischen Texten) der Fall war, die eine retrospektive Identitätsarbeit ermöglichten (Hahn 1988). Vielmehr ist eine „außenbezogene Managementkompetenz“ (Willems 2000: 59) gefragt, d. h. die Fähigkeit, bei relativer
1 Stuart Hall (2002) hat in diesem Sinne neben der epistemologischen Zentralität von Kultur von einer substanziellen Zentralität von Kultur in gegenwärtigen westlichen Gesellschaften gesprochen.
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innerer (psychischer) Offenheit eine bewegliche Identitätspolitik zu betreiben und möglichst viele Selbste zu verwirklichen. Indem Medien dabei zentrale Ressourcen sind, werden Identitäten mehr und mehr zu „Medienidentitäten“ (Hepp et al. 2003; Hepp 2006: 274), wobei gerade in den jüngeren Generationen Formen medialer Identitätsarbeit (Vogelgesang 2009) allgegenwärtig sind. Wie ist vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen nun aber ‚Event‘ begrifflich zu fassen? Was meint dieser umfassend in die gegenwärtige Alltagssprache implementierte Ausdruck? Für Winfried Gebhardt (2000) sind Events als eine spezische Variante des Fests zu begreifen, das als einzigartiges Erlebnis geplant ist, sich eines kulturellen und ästhetischen Synkretismus bedient, im Schnittfeld verschiedener Existenzbereiche steht und ein exklusives Gemeinschafts- und Zusammengehörigkeitsgefühl vermittelt. Von einer fortschreitenden oder akzelerierenden Eventisierung der gegenwärtigen Kultur kann man deshalb sprechen, weil das Event mit dem Verlust von auf Stand, Klasse oder familiäre Lebensgemeinschaft bezogenen Festen zunehmend die dominante Form des Festlichen wird. Events sind folglich als aus dem Alltag herausgehobene, performativ-interaktive Veranstaltungen zu begreifen, die raumzeitlich verdichtet sind und eine hohe Anziehungskraft für relativ viele Menschen haben: „Gelingenderweise bieten Events den Teilnehmern somit typischerweise außergewöhnliche Chancen, sich sozusagen wie in einem Kollektiv-Vehikel aus Lebens-Routinen heraustransportieren zu lassen und zeitweilig an symbolisch vermittelten, mehrkanaligen Sinnenfreuden zu partizipieren“ (Hitzler 2000: 403). Nach einem solchen Verständnis sind Events als komplexe, mehrstuge Konstruktionsprozesse zu begreifen, die von einem Ereigniskern ausgehen und sich in drei Hauptphasen gliedern lassen: erstens der Phase der Produktion bzw. Organisation der Voraussetzungen, zweitens der Phase der Konstruktion bzw. dem Stattnden im Vollzug und drittens der Phase der Rekonstruktion bzw. Bearbeitung im Rückblick. Dabei wird das Event als ein interaktives Phänomen begriffen, d. h. der Produzent kann es ebenso wenig allein ‚machen‘, wie der Konsument ohne die vom Produzenten geschaffenen Rahmenbedingungen für sein eigenes Event-Erleben auskommt. Entsprechend entsteht ein Event in einer „verwickelten Dialektik des Miteinander-Machens“ (Hitzler 2000: 404). Folgt man solchen Argumentationen, so kann man heutige Populär- und Medienkulturen als zunehmend eventisiert begreifen. Gemeinsames Erleben kristallisiert sich immer häuger an kommerziell produzierten, aber erst in der Interaktion mit den Beteiligten konstituierten Events. Wie wir allerdings über solche Überlegungen hinausgehend argumentieren wollen, erscheint es sinnvoll, Events als Teil von Populär- und Medienkultur zu theoretisieren, wenn man deren Spezik in der heutigen Kulturlandschaft gerecht werden möchte.
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Populäre Events: Sechs Punkte einer Annäherung
Die Aneignung von populären Kulturprodukten zielt neben der Generierung von Bedeutungen auf das Erleben von Vergnügen. An dieser Stelle treffen sich – trotz aller Differenzen – Arbeiten aus dem Umfeld der Cultural Studies und aktuelle Studien aus der Tradition der deutschsprachigen Kultursoziologie. Gerhard Schulze (1993) beispielsweise streicht in seinem unter dem Titel „Die Erlebnisgesellschaft“ publizierten Entwurf einer Kultursoziologie die erlebnisrationale Durchdringung der gegenwärtigen Kultur heraus. Hierunter versteht er eine Systematisierung der Erlebnisorientierung, d. h. dass Menschen in gegenwärtigen Erlebnisgesellschaften zum Manager ihres Erlebens werden, dass sie gezielt spezische Situationen aufsuchen, die ein kalkulierbares Erleben sichern, das letztlich Spaß-Erleben ist. In der Tradition der Cultural Studies kann auf John Fiskes (1989: 26 ff.) Unterscheidung von nanzieller und kultureller Ökonomie der Kulturproduktion verwiesen werden, eine Differenzierung, mit der er betont, dass unabhängig von der kommerziellen Orientierung der Kulturindustrie, die letztlich auf Gewinnmaximierung fokussiert ist, die kulturelle Orientierung der Menschen gesehen werden muss, die auf eine Produktion von Vergnügen zielt. Vor dem Hintergrund solcher Überlegungen kann man formulieren, dass ein Spezikum der Populär- und Medienkulturen der gegenwärtigen westlichen Gesellschaften das Erleben von Vergnügen ist – und es ist gerade dieser Zusammenhang, der sich in der Medienberichterstattung selbst im Begriff der „Spaßgesellschaft“ niedergeschlagen hat. Diese Spaßorientierung bedienen Events in hohem Maße, weswegen sie zu einem festen Bestandteil gegenwärtiger Populärkulturen geworden sind. Deshalb lassen sie sich als populäre Events bezeichnen. Greifbar wird deren Spezik, wenn man sie traditionellen rituellen Festen wie etwa Weihnachten gegenüberstellt. Rituelle Feste
Populäre Events
transzendierende Unterbrechung des Alltags
routinisiertes Außeralltäglichkeitserleben
gesellschaftlich dominierend
segmentiell dominierend
wiederkehrend
inszenierte Einzigartigkeit
vorgeplant
kommerzialisiert
feierlich
spaßig
harmonisierend
polarisierend
Tabelle 1
Rituelle Feste vs. populäre Events
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2.
3.
Andreas Hepp, Marco Höhn und Waldemar Vogelgesang Rituelle Feste und populäre Events sind zunächst einmal Alltagsunterbrecher, aber auf eine unterschiedliche Art und Weise. Die besondere Funktion von rituellen Festen ist dabei darin zu sehen, dem Alltag eine tiefergehende, in religiösen und nationalen Traditionen verwurzelte Bedeutung zu verleihen. Populäre Events sind dagegen in weiten Teilen fester Bestandteil der alltäglichen Populärkultur und insofern routinisiert, als man sie und ihre Erlebnisversprechen hochgradig erwartet: Kein Fernseh- oder Radioprogramm ohne Programmevent, keine Veranstaltungskalender ohne Ankündigung herausragender Ereignisse, kein Sportverein ohne zentrale Events. In diesem Sinne gehören populäre Events zu unseren alltäglichen Routinen. Ihr Spezikum ist hier allerdings darin zu sehen, dass sie gerade in der routinisierten Verfügbarkeit die Möglichkeit bieten, auf einfache und erlebnisrational kalkulierbare Weise Alltag zu durchbrechen. Populäre Events ermöglichen ein routinisiertes Außeralltäglichkeitserleben. Populäre Events haben nicht die zentrale Stellung, die typischerweise rituellen Festen zukommt. Bei letzteren handelt es sich um Feierlichkeiten, die ganze Gesellschaften dominieren, und selbst da, wo das einzelne rituelle Fest scheinbar auf eine kleinere Gemeinschaft fokussiert ist (bspw. die Hochzeit), ergibt sich die Spezik eines solchen Festes dadurch, dass seine Bedeutung im Relevanzraum der Gesamtgesellschaft verortet ist. Populäre Events entfalten ihr dominierendes Potenzial hingegen in Bezug auf spezielle segmentärkulturelle Verdichtungen wie bspw. eine Szene oder Fankultur, für die sie eine herausragende Bedeutungsressource sind. Außerhalb von solchen kleinen kulturellen Lebenswelten sind populäre Events mitunter bedeutungslos. So wird beispielsweise ein Freeclimbing-Event nur in der entsprechenden Szene als Highlight erlebt, darüber hinaus wird es möglicherweise kaum zur Kenntnis genommen. Populäre Events verweisen so typischerweise nicht auf Sinnangebote, die jenseits ihres kulturellen Rahmens liegen. Das heißt, sie verkörpern keine universalistischen Weltdeutungen, sondern generieren ein aktuelles und situatives Sinnangebot, das primär im Erlebnishandeln und dem damit verbundenen Lebensstil (z. B. einer Szene) verankert ist. Populäre Events besitzen einen hohen Aktualitäts- und Ausnahmecharakter, auch wenn sie in einem bestimmten Turnus stattnden. Um als besonderes Ereignis zu gelten, muss ihre Einzigartigkeit immer wieder neu inszeniert werden. Auch wenn dies auf der Basis routinisierter Muster geschieht – beispielsweise die alljährliche Motto-Suche bei der Love Parade –, so ist hier doch eine deutliche Differenz zu rituellen Festen zu sehen, die in ihrer Grundstruktur letztlich unverändert wiederholt werden. Weihnachten, Ostern und andere rituelle Feierlichkeiten kehren jedes Jahr auf dieselbe Weise wieder.
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Hingegen scheint kein Event ohne seinen Exklusivitätsanspruch, ohne sein Versprechen eines spezischen Erlebnispotenzials zu funktionieren. Mit rituellen Festen teilen populäre Events, dass sie vorgeplant sind und im Vorfeld angekündigt werden. Eine grundlegende Differenz besteht allerdings darin, dass sie darüber hinaus umfassend kommerzialisiert sind. Tendenziell werden populäre Events mit Hilfe eines gezielten (Event-)Marketings beworben, können also jenseits von Kommerzialisierungsprozessen nicht gefasst werden. Dies hängt letztlich damit zusammen, dass populäre Events ab einer gewissen Größenordnung nur mit erheblichem nanziellem Aufwand zu realisieren sind, aber auch damit, dass bestimmte ‚Marken‘ selbst für spezische Erlebnispotenziale stehen. In der Kommerzialisierung treffen sich so wirtschaftliche und populärkulturelle Interessen. Populäre Events werden nicht mit Ehrfurcht und Feierlichkeit präsentiert, wie dies für viele rituelle Feste bezeichnend ist, sondern zielen auf Unterhaltung und Spaßhaben. Sie stellen auf einen bestimmten Erlebniskern bezogene Vergnügungsangebote dar und verwandeln den Alltag in zeitlich begrenzte „Kulissen des Glücks“ (vgl. Schulze 1999). Hierüber begründet sich ihre wachsende Popularität, die sie zu einem festen Bestandteil von Populärkultur werden lässt. Während rituelle Feste auf eine umfassende soziale Integration einer Gesellschaft ausgerichtet sind, ist dies beim populären Event nicht der Fall. Ihre Integrationsleistung ist primär auf eine spezische segmentär-kulturelle Verdichtung bezogen. Innerhalb dieser segmentären Verdichtung sind populäre Events wichtige Kristallisationspunkte für umfassendere Beziehungs- und Kommunikationsnetzwerke mit gemeinsamen kulturellen Praktiken. Da solche segmentären Verdichtungen aber auch von Abgrenzung und Exklusivität leben, ist ein weiterer Aspekt populärer Events in einer nach außen gerichteten Polarisierung zu sehen. So repräsentieren populäre Events für Außenstehende einen Typus von Sonderveranstaltungen, anhand derer sich einzelne populärkulturelle Sinnangebote fassen und von der eigenen Sinnwelt abgrenzen lassen. Populäre Events sind dadurch in weitreichende Auseinandersetzungen 2 um kulturelle Bedeutungen eingebunden.
An diesen sechs Aspekten einer idealtypischen Annäherung an populäre Events sollte die Grundorientierung unserer Argumentation deutlich geworden sein: 2 Deutlich wurde dies in Deutschland am Beispiel der Auseinandersetzungen um den Termin der Love Parade 2001. Hier ging es nicht einfach nur darum, wann die Love Parade in Berlin statt nden soll und wann nicht, hier ging es um eine Kritik beispielsweise von ökologischen Gruppierungen sowohl an der örtlichen Verschmutzung durch die Love Parade als auch an der sich im gegenwärtigen Deutschland verbreitenden ‚Spaßkultur‘.
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Es geht darum, populäre Events als charakteristischen Bestandteil gegenwärtiger, spätmoderner Gesellschaften zu fassen. Selbstverständlich ist eine solche Gegenüberstellung von rituellen Festen und populären Events überzeichnend, was insbesondere an der Eventisierung von rituellen Festen wie Weihnachten zu sehen ist. Jedoch ermöglicht diese Typisierung eine allgemeine Tendenz der Eventisierung von Populärkultur zu fassen. Populäre Events können dabei nicht einfach quantizierend beschrieben werden nach dem Motto: Ein Event, an dem viele teilnehmen, ist populär. Michel de Certeau (1988: 80 ff.; Krönert 2009: 80 ff.) war es, der bezogen auf einen anderen Zusammenhang, nämlich das Fernsehen, polemisch feststellte, man müsse nicht weiter quantizierend die vor dem Fernsehen verbrachte Zeit messen, sondern sich damit befassen, was die Rezipierenden während dieser Zeit tun, wenn man Aussagen dahingehend machen möchte, welche Bedeutung dieses im Alltag der Leute hat. Diese Warnung von de Certeau ist auch für den Gegenstand, um den es uns hier geht, berechtigt: Möglicherweise genießen bestimmte Events ein großes Interesse im Sinne einer Teilnahme von vielen an ihnen. Daraus direkte Schlüsse im Hinblick auf ihren Stellenwert in spezischen kulturellen Segmenten zu ziehen, wäre aber verkürzend. In einem solchen Falle würde man mit einem unterkomplexen Begriff von Populärkultur im Sinne eines „quantitative index“ arbeiten, den schon Storey (1997: 7) zu Recht kritisiert: „Popular culture is simply culture that is widely favoured or well liked by many people.“ Das Problem bei einem solchen quantizierenden Verständnis von Populärkultur ist, dass hiermit praktisch alles weit Verbreitete zu Populärkultur erklärt wird und man sich mit diesem Verständnis kaum auf die Widersprüchlichkeit von Populärkultur einlässt, die sich gerade in ihrem Spannungsverhältnis zwischen kommerzieller Produktion und individueller Aneignung ergibt (Hepp 2004a: 44 ff.). Uns geht es in diesem Buch darum, die Spezik einzelner populärer Events herauszuarbeiten, indem wir sie nicht einfach als Massen-Vergnügen deuten, sondern sie im Hinblick auf ihre Funktion und Bedeutung innerhalb einzelner kultureller Segmente analysieren. Populärkultur in spätmodernen Gesellschaften erscheint nämlich nicht als ein kohärentes Ganzes, sondern als ein komplexer, hochgradig fragmentierter Zusammenhang.
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Mediatisierung und Eventisierung: Populäre Events als Translokalitätsphänomen
Medien stellen eine relevante Ressource für die Genese von populären Events dar. Bei praktisch allen der hier betrachteten Events sind Medien in irgendeiner Weise involviert. Am deutlichsten ist dies sicherlich bei populären Medienevents, bei denen der Erlebniskern medial bestimmt ist. Aber auch andere populäre Events
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wären ohne Medienkommunikation kaum denkbar: Auf den großen LAN-Partys der Computerspieler ist das Spielvergnügen ein medial vermitteltes, Halloween konnte vermutlich nur durch eine extensive Medienkommunikation – man denke hier beispielsweise an die verschiedenen Halloween-Szenen in Hollywood-TeenagerFilmen – zu dem populären Ereignis werden, das es heute ist. Auch bei anderen populären Events werden Medien nicht nur zur Kommunikation der Teilnehmer und Organisatoren untereinander verwendet, sondern sie sind integraler Bestandteil eines mehrdimensionalen Spaß-Settings. Aus diesem Grund wollen wir hier einen etwas differenzierteren Blick darauf werfen, welchen Status Medien für populäre Events haben. Generell ist der Bezug zwischen Medien und populären Events im Rahmen eines weitergehenden Prozesses zu sehen, den Friedrich Krotz (2007) als Mediatisierung des Alltags bezeichnet hat. Unter Mediatisierung ist hier ein Metaprozess sozialen Wandels zu verstehen, der sich letztlich durch die gesamte Menschheitsund Kulturgeschichte hindurch verfolgen lässt und der dadurch gekennzeichnet ist, dass sich immer mehr und komplexere Kommunikationsformen entwickelten, mediale Kommunikation immer häuger und länger in immer mehr Lebensbereichen und auf immer mehr Themen bezogen stattndet. Dass dieser Prozess der Mediatisierung des Alltags sich beschleunigt hat, machen die Entwicklungen der letzten Jahre deutlich: Radio und zunehmend auch Fernsehen sind keine Medien mehr, denen man sich konzentriert widmet, sie werden quasi ‚nebenbei‘ und zunehmend überall im Alltag genutzt. Zuerst das Fax und Telefon, dann aber vor allem der Computer haben die verschiedensten Bereiche des Berufs- und Privatlebens erobert und Arbeit ist in einer Vielzahl von Berufen ‚Medienarbeit‘ (d. h. Arbeit unter Nutzung von Medien) geworden. Aber auch der Alltag selbst wird zunehmend zum Thema der Medien: Man denke hier an die verschiedenen Daily Talks und Daily Soaps oder Comedy-Sendungen, in denen der Alltag bzw. das Eintreten des Alltags in das Fernsehen – wie beispielsweise bei „TV Total“ oder „ZAPP“ – selbstreexiv dargestellt ist. Ganz allgemein kann festgehalten werden, dass dieser Prozess der Mediatisierung ein Prozess der Entgrenzung im zeitlichen (immer mehr Medien stehen in immer größerer Anzahl zu verschiedensten Zeitpunkten mit festen Inhalten zur Verfügung), räumlichen (Medien nden sich an immer mehr Orten und verbinden immer mehr Orte) und auch im sozialen Sinne (durch ihre extensive Verfügung sind Medien zunehmend kommunikationsund gemeinschaftsstiftend) ist. Wir möchten argumentieren, dass die Prozesse der Mediatisierung und Eventisierung in Beziehung zueinander stehen. Indem der Alltag zunehmend mediatisiert wurde, haben viele Medien bzw. Medieninhalte ihre herausragende Stellung verloren. Nimmt man das Beispiel des Fernsehens, so kann man sagen, dass mit dessen Ausdifferenzierung in verschiedene Kanäle und Vollprogramme ein Überangebot
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entstanden ist, das letztlich auf das grundlegende Problem einer „Ökonomie der Aufmerksamkeit“ (Franck 1998) verweist: Es ist nicht mehr so wie in den 1950er und 1960er Jahren, dass beispielsweise einzelne Krimiserien mit Einschaltquoten von bis zu 90 % ohne weiteres Zutun zu einer herausragenden kommunikativen Ressource für weite Teile der Bevölkerung werden. Vielmehr sind die Programmanbieter in der fragmentierten Fernsehlandschaft gezwungen, einzelne Sendungen als spezische ‚Ereignisse‘ zu inszenieren und sie kommunikativ so mit einem spezischen Erlebnisversprechen zu verbinden, wenn sie überhaupt die Chance haben wollen, angesichts der Programmfülle eine hinreichende Aufmerksamkeit auf sich ziehen zu können. Die Mediatisierung des Alltags verweist letztlich wiederum auf die Auseinandersetzung mit Medienereignissen, die ihrerseits eine spezische Typik erkennen lassen: Zum einen handelt es sich um rituelle Medienereignisse wie der Präsentation von Sportveranstaltungen (beispielsweise Olympiaden oder Weltmeisterschaften), zum zweiten um herausragende politische Medienereignisse (z. B. Wahlkämpfe) und drittens um populäre Medienereignisse, deren Besonderheit in ihrer Fokussierung auf bestimmte Segmente der Populärkultur zu sehen ist.3 Mediatisierung und Eventisierung hängen aber auch in einem weiteren Punkt miteinander zusammen. So ist ein Aspekt der Mediatisierung darin zu sehen, dass sie zu einer räumlichen Entgrenzung geführt hat. Diese Formulierung darf nicht in dem Sinne missverstanden werden, dass mit der Mediatisierung weite Bereiche des Alltags ihren Orts-Status verlieren würden. Vielmehr sind Lokalitäten mittels Medien in komplexe kommunikative Netzwerke eingebettet, durch die sie sich zwar verändern, aber nicht auösen. Es ist im letzten Jahrhundert durch verschiedene Medien (Telegrae, Film, Telefon, Radio, Fernsehen, Internet) ein komplexes und globales Konnektivitätsgefüge entstanden, in das die verschiedensten Lokalitäten kommunikativ eingebunden sind. Dieser Zusammenhang ist es, der sich als Globalisierung der Medienkommunikation charakterisieren lässt (vgl. Hepp 2006). Vor diesem Hintergrund sind populäre Events – wie verschiedene andere aktuelle Kulturformen auch – als Translokalitätsphänomen zu begreifen: Populäre Events verweisen auf unterschiedliche segmentäre Verdichtungen wie Fankulturen und Szenen, die in der heutigen Zeit nicht mehr als an einem Ort bestehend begriffen werden können, sondern letztlich selbst als Netzwerke zu beschreiben sind, deren Bestand durch Medien aufrechterhalten wird. Diese Netzwerke sind mit einer potenziell globalen Ausdehnung translokal. Deutlich wird dies etwa an der Star Trek-Fankultur, die einerseits über eine feste Lokalitäts- und Treffpunktstruktur verfügt, deren Mitglieder andererseits aber durch geteilte mediale Repräsentationen und medienvermittelte Kommunikation miteinander verbunden 3 Eine detaillierte Analyse der Eventisierung der aktuellen deutschen Radiokultur ndet sich bei Hepp 2004b, zur Eventisierung des Kinos siehe Hepp/Vogelgesang 2000. Zu Medienereignissen vgl. neben Dayan/Katz 1992 die Beiträge in dem Band Couldry et al. 2010.
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sind. Deshalb macht es überhaupt erst Sinn, von einer Fankultur zu sprechen: Zwar sind die verschiedenen Trekkie-Clubs lokal, indem sie sich als örtliche Fangruppen mit örtlich bezogenen Veranstaltungen konstituieren. Aber erst durch spektakulär inszenierte Medienereignisse wie den großen Conventions und durch die Nutzung insbesondere des Internets stehen diese lokalen Gemeinschaften in kommunikativer Verbindung zueinander. Die internationale Trekkie-Kultur ist somit ein Amalgam aus lokalen und translokalen Begegnungs- und Kommunikationsräumen. Insofern macht es die Globalisierung der Medienkommunikation möglich, dass sich anhand populärer Events kulturelle Gemeinschaften als Kern segmentärer Verdichtungen bilden, die einerseits lokalbezogen sind, deren das Lokale überschreitende, sinnstiftende Kontextualisierung – wir sprechen hier von translokalem Sinnhorizont – sich andererseits aber nicht durch eine Einbettung in die vorgestellte Gemeinschaft der Nation ergibt. Zu Recht hat Benedict Anderson (1996: 15 ff.) darauf hingewiesen, dass alle Gemeinschaften, die größer sind als lokale Gemeinschaften mit ihren Face-to-Face-Kontakten (Dorfgemeinschaften, Nachbarschaften usw.) „vorgestellte Gemeinschaften“ sind. Während translokale Sinnhorizonte von Gemeinschaft historisch gesehen lange Zeit durch die Religion hergestellt wurden, also auf religiösen Legitimationen basierten, ist in der Neuzeit an die Stelle der Religion zunehmend die Nation getreten. Auffällig ist dabei, dass bei der Herstellung und Sicherung der nationalen Gemeinschaftsidee Medien die Funktion von Transmissionsriemen übernehmen, zuerst insbesondere die Presse, dann das Radio und das Fernsehen. Ohne die Medien mit ihren Erzählungen der Nation könnten lokale Manifestationen des Nationalen – das Fußballspiel, das Denkmal usw. – ihre Funktion für eine nationale Gemeinschaftsbildung nicht erfüllen, d. h. es wäre kaum erfahrbar, was diese für die Nation bedeuten. Die Besonderheit der vorgestellten Gemeinschaft der Nation ist also ihr translokaler Sinnhorizont bei einer gleichzeitigen territorialen Beschränkung, d. h. der Umstand, dass Nationen als auf ein bestimmtes Territorium begrenzt konstruiert werden. Entsprechend kann man die vorgestellte Gemeinschaft der Nation als eine territoriale Gemeinschaft begreifen. Entscheidend für eine Auseinandersetzung mit populären Events scheint aber, dass diese zwar ebenfalls auf eine das Lokale überschreitende, aber dennoch grundsätzlich andere Form der Gemeinschaftsbildung als die der Nation verweisen – nämlich auf die Bildung deterritorialer, translokaler Gemeinschaften verschiedener segmentärer kultureller Verdichtungen. So hat die Globalisierung der Medienkommunikation und das damit entstehende komplexe kommunikative Konnektivitätsnetzwerk die Bildung von Gemeinschaften beschleunigt, die gerade nicht in den territorialen Grenzen einer Nation aufgehen: Die Computerspieler-Szene, aber auch viele Fan- und Jugendkulturen durchbrechen in ihrer Gemeinschaftsbildung die territorialen Schranken der Nation. Dabei bleiben solche deterritorialen Kulturgemeinschaften durch Events ebenso lokal erfahrbar, wie sie sich in ihrem
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medial gestützten Netzwerk translokal erstrecken. Zwar haben die Mitglieder dieser Gemeinschaften nach wie vor ihre nationalkulturellen Zugehörigkeiten, gerade beim populären Eventerleben tritt dieser Umstand jedoch in den Hintergrund. Auch wenn solche Aspekte der Deterritorialisierung von Gemeinschaften nicht bei allen im Folgenden betrachteten populären Events die gleiche Relevanz haben, so verweisen sie doch auf Entwicklungstendenzen, die bei einer Auseinandersetzung mit der Eventisierung einbezogen werden müssen: Populäre Events in einer mediatisierten Welt erscheinen kaum hinreichend thematisierbar, wenn man sie nicht auch in Bezug zur Globalisierung der Medienkommunikation sieht.
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Zur Forschungsmethodik: Ethnograsche Annäherung an populäre Events
Populäre Events repräsentieren soziale Großereignisse mit Einmaligkeitscharakter. Ihre möglichst authentische und facettenreiche Abbildung, und das zeigt sich durchgehend in allen Beiträgen, erfolgt durch Rückgriff auf ein Ensemble von Erhebungsstrategien und Auswertungsverfahren, wie sie vor allem für die Forschungspraxis einer „lebensweltlichen Ethnograe“ (Honer 1993) konstitutiv sind. Die hier vorgelegte Sammlung von Studien ist hervorgegangen aus den Arbeiten der interdisziplinären Forschungsgruppe Jugend- und Medienkultur an der Universität Trier bzw. aus empirischen Studien, die in den letzten Jahren am IMKI (Institut für Medien, Kommunikation und Information) der Universität Bremen realisiert wurden. Die soziologischen bzw. kommunikations- und medienwissenschaftlichen Untersuchungen wurden über einen Zeitraum von rund zehn Jahren mittels unterschiedlicher Einzelmethoden realisiert. Gleichwohl besteht über diese Vielfalt der einzelnen Fallstudien hinweg ein geteiltes, qualitatives Methodenverständnis, das wir im Folgenden skizzieren möchten.
Lebensweltliche Ethnograe als soziales Abenteuer Forschung in ethnograsch-qualitativer Tradition bedeutet zunächst einmal, dass am Beginn der Erkundungen etwa in der Szene der computerbegeisterten Spieler oder in jugendkulturellen Spaßmilieus die Aufforderung stand: „going native“. Vor Ort und aus erster Hand wurde in den verschiedenen „Fallstudien“ (Hepp 2008) die Begegnung mit Wirklichkeitsbereichen gesucht, über die bisher nur ein vages Vorwissen vorhanden war. Bisweilen erwies es sich als hilfreich, bereits vorhandene Erfahrungen zu suspendieren beziehungsweise durch eine Strategie „künstlicher Dummheit“ (Hitzler 1997) zu ersetzen, um den Blick frei zu machen, zu weiten,
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aber auch zu schärfen für die Sichtweisen und Relevanzen derer, die das Praxisfeld von populären Events konstituieren und tradieren, also hier zu Hause sind. Es sind die alltäglichen Praktiken und Handlungsmuster, Wissensbestände und Artefakte der Szenen- und Eventakteure, die es möglichst ungeltert zu registrieren galt. Das Forschungsobjektiv war gleichsam auf Weitwinkel gestellt: Natürliche Kommunikation an Originalschauplätzen sollte möglichst dokumentarisch erfasst werden. Dabei waren die Girtlerschen (1996: 379) „10 Gebote der Feldforschung“ nicht nur inspirierend, sondern bisweilen auch leitend. Insbesondere die zehnte Regel seines Feld-Dekalogs weist auf eine gerade bei der Erforschung populärer Events notwendige und nicht ironisch gemeinte Nähe zum Feld hin: „Du musst eine gute Konstitution haben, um dich am Acker, in stickigen Kneipen, in der Kirche, in noblen Gasthäusern, im Wald, auf staubigen Straßen und auch sonstwo wohl zu fühlen. Dazu gehört die Fähigkeit, jederzeit zu essen, zu trinken und zu schlafen.“ Die Anstrengung der ethnograschen Forschung besteht aber nicht nur im Zugang und in der Teilnahme an meist völlig fremden Ereignissen, sondern auch – und vielleicht sogar in erster Linie – im möglichst unvoreingenommenen Einlassen auf die Wirklichkeit der handelnden Personen. Denn Ethnograe gewinnt ihre Erkenntnisse auf der Basis einer Rekonstruktion der Erfahrungen und Deutungsmuster der Erforschten und ihrer interaktiven und kollektiven Handlungspraxis. Notwendig ist dazu eine Vorgehensweise, die Roger E. Park einmal als „go into the district“, „get the feeling“ oder „become acqainted with the people“ umschrieben hat. Nur wer in der Lage ist, sich auf das Unvertraute und Unbekannte einzulassen, hat Chancen, fremde Gewohnheiten und Lebenswelten auch tatsächlich zu erkennen und zu erschließen. Oder wie Anne Honer (1993: 53) so treffend formuliert: „Soziologische Ethnograe muss die ‚Fremde‘ aufsuchen, sozusagen entgegen der Gewissheit des ‚Denkens-wie-üblich‘, des ‚Und-so-weiter‘, der ‚Vertrautheit der Standpunkte‘, mit denen der gemeine Alltagsverstand (auch mancher Soziologen) alles zu okkupieren pegt, was als einigermaßen vertraut oder auch nur bekannt in seinem Horizont erscheint. Soziologische Ethnograe muss, in voluntativer Abkehr von der fraglosen ‚Reziprozität der Perspektiven‘, stets damit rechnen, dass […] ‚das Abenteuer gleich um die Ecke‘ beginnt, und dass ‚gleich um die Ecke‘ tatsächlich ‚das Abenteuer‘ beginnt.“
Auch wenn der Feldzugang bisweilen schwer fällt, es gilt unter allen Umständen eine ethnozentristische Perspektive zu vermeiden und die fremden Sozialwelten prinzipiell als eigenständige Handlungs- und Sinnräume zu begreifen und zwar im Sinne des symbolischen Interaktionismus, wonach Menschen in ihren Handlungen mit anderen subjektive Bedeutungen produzieren und auf der Basis dieses subjektiven Sinns wiederum handeln. Herbert Blumer (1981: 96) hat dies kurz und prägnant so umschrieben: „Man muss den Denitionsprozess des Handelnden erschließen,
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um sein Handeln zu verstehen.“ Ethnograsche Forschung versucht also offen zu legen, wie die Subjekte ihre Umwelt, ihre sozialen Beziehungen, Ereignisse und Erfahrungen interpretieren und damit diesen Sinn verleihen. Das bedeutet, sie muss möglichst nahe an die alltäglichen Denk-, Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsmuster herankommen, um aus der Binnenperspektive eine andere Welt in unserer Welt transparent zu machen. Denn nur wer in unbekanntes soziales oder kulturelles Terrain eintaucht, kann etwas entdecken und verstehen. Nur wer sich auf die hier herrschenden Sprachcodes, Interaktionsformen und Spielregeln einlässt, schafft die Voraussetzung für eine offene und partizipative Kommunikation, wird innerhalb des untersuchten Praxisfeldes ernst genommen und darf auf dessen besseres Verständnis außerhalb hoffen. Bisher ist sichtbar geworden, dass Ethnograe weniger als eine Forschungsmethode zu verstehen ist, sondern viel eher als eine Bezeichnung für das schwierige Verhältnis des Forschers zu dem zu beschreibenden und zu deutenden Untersuchungsfeld. Denn es geht, wie sich gezeigt hat, zunächst einmal nicht darum, wie Max Weber (1904/1988: 207) in seinem berühmten Objektivitäts-Aufsatz schreibt, „Ordnung in das Chaos der […] Tatsachen zu bringen“, sondern dieses Chaos zuallererst einmal zu produzieren, sprich: die Gegenstandsperspektivität der Erforschten aufzudecken. Dabei fungiert der ethnograsch arbeitende Forscher selbst als wichtiges Forschungsinstrument. Er oder sie wird nämlich zwangsläug zum Bestandteil des untersuchten Feldes und die Interaktionen im Feld, die soziale Rolle, die dem Forschenden zugewiesen wird, die Probleme und Fettnäpfchen, in die er gerät, sind relevante Erkenntniselemente. Seine Beobachtungen, Eindrücke, Emotionen sind wichtige Daten im Forschungsprozess und sollten deshalb auch unbedingt in Forschungstagebüchern dokumentiert werden. Die Reflexivität des eigenen Forschungshandelns ist nicht zuletzt auch deshalb so wichtig, weil die Betonung der heuristischen Funktion ethnograscher Forschung leicht zu einem induktionistischen Missverständnis führen kann. „Diesem Missverständnis zufolge emergieren“, so Udo Kelle und Susann Kluge (1999: 12), „zentrale Kategorien und Konzepte quasi von selber aus dem Datenmaterial, wenn der Forscher oder die Forscherin möglichst voraussetzungslos an ihr empirisches Untersuchungsfeld herangehen.“ Diese naiv empiristische Sichtweise wird weder der Komplexität von Verstehensprozessen im Allgemeinen noch der Rolle des Feldforschers im Besonderen gerecht. Zwar gilt es als eine der Stärken lebensweltlicher Ethnograe, dass Relevanzsetzungen nicht von vorgängigen Forschungshypothesen überblendet werden, aber der Forschende muss sich immer wieder selbstkritisch die Frage stellen, ob die Nähe zum Untersuchungsfeld nicht möglicherweise seine Darstellung einfärbt. Denn die intensive Teilnahme am Lebensalltag einer fremden Kultur kann leicht zu nicht intendierten – und vor allem zu nicht erkannten – Formen der Entkulturation führen.
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Es ist eine Art Schwellenposition zwischen Engagement und Distanzierung, zwischen Partizipation und Reexion, die der Ethnograf nden muss, um wirklichkeitsnahe Wahrnehmungen deutend zu durchdringen. Sich dieses gestuften Involvements und der widersprüchlichen Rollen des Teilnehmers-als-Beobachter sowie des Beobachters-als-Teilnehmer bewusst zu machen, mindert die Gefahr der „over-identication“ und des „over-rapport“, also zum „kulturellen Überläufer“ zu werden, wie dies der Ethnologe Karl-Heinz Kohl (1987: 7) einmal genannt hat. Letztlich gibt es aber keinen Idealtypus der ethnograschen Repräsentation. Feldnahe Methoden sind weder per se ein Garant für eine vorurteilsfreie Wirklichkeitserschließung, noch sind sie für Fehlinterpretationen anfälliger als andere Forschungsmethoden. Jedoch sind sie in einer Gesellschaft, die in eine immer größere Zahl von Milieus, Spezialkulturen und Szenen zerfällt, vielfach unentbehrlich, um die Lebenswirklichkeit der betreffenden Personen und Formationen zu erhellen und zu entschlüsseln. Hier kommt dem ethnograsch Forschenden mehr und mehr die Rolle eines Dolmetschers zu, der für die Allgemeinheit übersetzen muss, was die anderen tun und denken. Dass dabei eine gewisse Skepsis und Vorsicht gegenüber der Qualität der eigenen Erkundungen und Analysen angezeigt ist, zeichnet den erfahrenen sozialwissenschaftlichen Feldforscher aus. Seine Feldannäherung und Dateninterpretation weist damit, so ein Vergleich von Roland Girtler (2001), Parallelen zu den Navigationskünsten jenes antiken Steuermanns auf, den wir aus der griechischen Mythologie kennen, der seinen Weg zu neuen (kulturellen) Ufern zwischen Scylla und Charybdis nden musste.
Fallkontrastive und diskursive Auswertungsstrategien Die Grundintention der Ethnograe besteht, zusammenfassend formuliert, in der rekonstruktiven Erfassung der in Sinnbezügen konstituierten sozialen Wirklichkeit. Für die Datengewinnung bedeutet dies, Strategien und Methoden zu nden, die geeignet sind, soziale Lebenswelten und Alltagswelten gleichsam von innen aufzuhellen und ausgehend hiervon angemessene Theorien zu entwickeln (Krotz 2005). Dabei lassen sich grundsätzlich zwei Datentypen unterscheiden: Einige Daten produziert das soziokulturelle Feld (hier: die untersuchten populären Events und ihre Akteure) selbst, andere werden durch den Einsatz explorativer Methoden erzeugt. Zu den Informationsquellen, die bereits vorhanden waren, zählten bei den Recherchen eine Fülle von Materialien, Dokumentationen und Artefakten, die von den Fanzines4 der Trekkies über das Gruselequipment der Halloween-Partys bis 4
Fanzines sind Szenezeitschriften, die von Fans für Fans gemacht werden. Sie werden gewöhnlich nicht kommerziell vertrieben und sind zum Selbstkostenpreis über einen Versand oder auf Fantreffen erhältlich. Sie enthalten Berichte, Kritiken oder Kommentare – und zwar je nach Szene etwa über
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zu den – außen und innen – umgestalteten Computern der LAN-Spieler reichten.5 Teilnehmende Beobachtungen und auf thematischen Leitfäden basierte Interviews hingegen dienten der Generierung von neuen Daten und Perspektiven. Durch eine komplementäre und kompositorische Verwendung der auf diese Weise verfügbar gemachten empirischen Dokumente erhoffen wir uns eine maximale Veranschaulichung der relevanten populär- und eventkulturellen Sinn- und Handlungsmuster sowie der entsprechenden Gesellungsformen – und zwar ganz im Sinne der Leitmaxime ethnograsch operierender Sozialforschung: „Die Aufgabe besteht darin, die erforschte soziale Welt so lebensnah zu beschreiben, dass der Leser ihre Bewohner buchstäblich sehen und hören kann“ (Glaser/Strauss 1998: 103). Als besonders fruchtbar erwiesen sich in diesem Zusammenhang die auf einem thematischen Leitfaden basierenden, offenen und narrativ ausgerichteten Interviews, in denen die Akteure sich in ausführlicher Form zu ihrer Szenen- und Gruppenmitgliedschaft bzw. Eventerfahrung äußern konnten und dies auch mit großer Bereitwilligkeit und Detailfreudigkeit taten. Alle Gespräche wurden – mit ihrem Einverständnis – aufgezeichnet. Diese Registrierungsform besitzt zunächst einmal den Vorteil, sich voll auf die Gesprächssituation und den Gesprächsablauf konzentrieren zu können. Viele Befragte bestätigten uns am Ende des Interviews, dass sie die Aufnahme nicht gestört habe. Auch die Interviewer waren einhellig der Meinung, dass durch diese Aufzeichnungsform ihre volle Flexibilität erhalten blieb, ja sich dadurch erst ein dialogischer Prozess entwickeln konnte. Die Gesprächsprotokollierung mit Hilfe einer Aufnahme hat aber nicht nur eine emphatische und kommunikative Funktion, sondern sie ist auch eine wertvolle Ressource für die Interpretationsarbeit. Denn sie gestattet, um eine Unterscheidung von Jörg Bergmann (1985) aufzugreifen, neben einer rekonstruierenden auch eine registrierende Datenkonservierung, wodurch es möglich wird, Deutungsprozesse in der direkten Interaktion – und zwar gleichermaßen zwischen den Feldakteuren wie zwischen Feldakteuren und Forschern – aufdecken zu können. Nach Abschluss der qualitativen Befragung erfolgte eine vollständige Transkription der einzelnen Interviews. Dabei wurden sie aus Gründen der leichteren Lesund Zitierbarkeit ins Hochdeutsche übertragen und den Regeln der Schriftsprache angepasst. Um die durch dieses Verfahren nicht auszuschließenden Sinnverzerrungen zu verringern, wurden diese Schritte immer wieder in der Forschungsgruppe neue und alte Musikalben, über Filme und Fernsehserien, über Stars, Regisseure, geschnittene oder indizierte Filme bzw. Songs. Zudem enthalten sie Beiträge über Clubtreffen, besondere Ereignisse und Events und haben Rubriken für Leserbriefe sowie für Kleinanzeigen. 5 Die für die beschriebenen eventkulturellen Praxisfelder charakteristischen Ausdrücke, Redewendungen, Namen von Personen und Bezeichnungen für Treffpunkte und Veranstaltungen sowie die Originalzitate aus den narrativen Interviews und Gruppendiskussionen sind durch Kursiv-Schreibweise kenntlich gemacht.
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überprüft und anhand der Aufnahmen kontrolliert. Im Anschluss daran begann die eigentliche Auswertungsarbeit. Dazu wurde eine in der hermeneutischen Tradition stehende Analyse und Deutung vorgenommen, die sowohl der originären Sichtweise der einzelnen Akteure als auch einer vergleichenden Systematisierung ihrer eventkulturellen Praxisformen Rechnung trug. Analytisch und auswertungstechnisch sind in diesem Zusammenhang zwei Interpretationsschritte zu unterscheiden. Im ersten Schritt zielte die Rekonstruktion auf individuelle Handlungs- und Sinnprole. Sie kann als Einzelfallanalyse bezeichnet werden. Bei der anderen Auswertungsform wurde eine typologisierende Interpretation angestrebt. Aus den Einzeläußerungen wurden dabei fallübergreifend Strukturen und Zusammenhänge eventrelevanter Ereignisse und Institutionen herausgearbeitet. Wir fragten hier in erster Linie nach bestimmten vorherrschenden Mustern, die dann in Form eines Textextraktes oder einer themenbezogenen Synopse, welche die Einheit der Transkripte auöste, in die Auswertung miteinbezogen wurden. Diese Vorgehensweise erlaubt eine über die „Ethnograe des Partikularen“ (Abu-Lughod 1996: 29) hinausgehende Aufdeckung der hinter singulären Aussagen sichtbar werdenden sozialen Strukturen und Vergesellschaftungsprozesse. Die endgültige Interpretation beruht damit – neben der Verwendung von Sekundärdaten – auf einer zweifachen, intensiven Auseinandersetzung mit dem Transkript, wobei durch Rückgriff auf konversationsanalytische Verfahren auch Sinnsetzungen durch die spezische Kommunikationspraxis von Forschungsgruppen aufgedeckt werden sollten. Denn Überinterpretationen und Verabsolutierungstendenzen sind im qualitativ ausgerichteten Forschungsprozess leicht möglich, wenn die Filterfunktion des Forschers bei der Datenanalyse nicht hinreichend mitreektiert wird. Mit Nachdruck ist deshalb nochmals daran zu erinnern, dass „der ethnograsche Text weder identischer Abdruck der Forschung noch der Deutungspraxis ist, sondern gleichermaßen eine Deutung der zurückliegenden Forschungs- und Deutungspraxis“ (Reichertz 1992: 342). Zur Aufdeckung entsprechender Sinnkonstitutionsprozesse haben sich in unseren ethnograschen Studien zwei Diskursformen bewährt. Zum einen sind Forschungsgruppen immer als Interpretationsgemeinschaften zu verstehen. In Anlehnung an kultur- und rezeptionstheoretische Überlegungen der Cultural Studies ist es unser Ziel, im gemeinsamen Diskurs die Interpretationen der einzelnen Projektteilnehmerinnen und -teilnehmer zu intersubjektivieren. Die basale kommunikative Strategie ist dabei eine themenbezogene Konversations-Interaktion mit den beiden Teilmustern der Darstellung von Sachverhalten und des Aushandlungsprozesses. Den Einstieg in die Interpretationsarbeit bildet die rekonstruierende Darstellung von Sachverhalten durch ein Mitglied der Projektgruppe. Dies können berichtende Sachverhaltsdarstellungen sein, die beispielsweise durch teilnehmende Beobachtung erhoben wurden, aber auch einordnende Sachverhaltsdarstellungen
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wie etwa die Schilderung theoretischer Bezüge. Im folgenden Interaktionsschritt des Aushandelns wird über den so dargestellten Sachverhalt mit dem Ziel einer Einigung diskutiert, wobei es uns aber nicht zwangsläug um die Etablierung und Durchsetzung einer Gruppenlesart geht, was möglicherweise zu einer Diktatur des kleinsten gemeinsamen Nenners führen könnte. Vielmehr sollen verschiedene – auch oppositionelle – Deutungen ins Forschungsergebnis einießen, denn mitunter verweisen solche Differenzen auf unterschiedliche Bedeutungsaspekte ein und desselben Materials, die allenfalls als Paradoxien fassbar sind. Diese Vorgehensweise ermöglicht, das zeigt unsere Erfahrung gerade im Hinblick auf die Rekonstruktion und das Verständnis eventtypischer Praxisformen und Erlebnismuster immer wieder, eine umfassendere Sicht auf deren Bedeutungsvielfalt und beugt einer vorschnellen Monopolisierung einzelner Deutungsaspekte oder übereilten Konsensbildungen vor. Auch wenn sich das Konzept und die Praxis der diskutierenden Interpretationsgemeinschaft für unsere Auswertungsarbeit als sehr fruchtbar erwiesen haben, greifen wir vielfach noch auf eine zusätzliche Deutungshilfe zurück: die Feldsubjekte selbst. In Anlehnung an das aus der Handlungsforschung stammende Verfahren der kommunikativen Validierung (Lechler 1982) suchen wir mit ihnen – und dies nicht nur bei konigierenden Erklärungsmustern innerhalb der Forschungsgruppe – den kommunikativen Austausch über unsere Interpretationen der vorliegenden Datenmaterialien. Die Logik der teilnehmenden Beobachtung kehrt sich dabei in gewisser Weise um: Nicht wir beobachten die Untersuchungspersonen, sondern sie beobachten uns. Diese Form des Zweitdialogs hat sich als wichtige Kontrollinstanz der Validierung – und des Öfteren auch der Korrektur – unserer eigenen Deutungen erwiesen. Auch wenn durch den hohen Grad an diskursiver Selbstreexivität der Forschungsprozess bisweilen erheblich verlängert wird, die wirklichkeitsnahe Rekonstruktion eventkultureller Handlungs- und Gesellungsformen ist eine lohnende Entschädigung hierfür. Und manchmal eröffnen solche kommunikativen Rückkoppelungen auch ganz andere Fragestellungen. Denn es waren nicht zuletzt Hinweise von Feldakteuren während der gemeinsamen Interpretationsarbeit, die uns anzeigten, dass wir in unserer Forschungsgruppe des Öfteren bestimmte Metaphern verwendeten, um komplexe Sachverhalte kommunikativ zu fassen. Was wir seit den Studien von Lakoff und Johnson (1980) über alltägliche Kognitionen und Repräsentationen wissen, scheint auch für Forschungsgruppen zu gelten: Wir reden (und denken) in Bildern. Welche Metaphern – wir sprechen von Bildfeldern – in der Gruppendiskussion als Interpretationshilfen produktiv sind, variiert sicherlich von Arbeitsgruppe zu Arbeitsgruppe. Zentral ist aber, jedenfalls ist dies unsere Selbstbeobachtung, dass sie es sind. Was sich hier nochmals in aller Deutlichkeit zeigt, ist der interpretative Charakter ethnograscher Forschung – auch oder gerade in der Auswertungs- und
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Schreibphase. Um zu verhindern, dass der Ethnograf bei seinen Analysen und Deutungen vorschnell Objektivierungen Raum gibt oder sich von den verwendeten Sprachbildern gefangen nehmen lässt, sollte seine Autorität immer wieder produktiv – sprich: kommunikativ – verunsichert werden. Dies impliziert, so auch Rainer Winter (2001: 56) aus der Perspektive der Cultural Studies, „den Dialog sowohl in der Forschungspraxis als auch im Schreibprozess, in den die Untersuchten einbezogen werden sollten, zu einem konstitutiven Prinzip zu machen.“ Und er ergänzt: „Dies bedeutet nicht nur eine kommunikative Validierung der Forschungsergebnisse, sondern ein Einbringen der ‚Stimmen‘ der Beobachteten in die Texte der Ethnografen. Dies ist z. B. über autobiograsche Texte, über Dialoge, aber auch über literarische Texte und verschiedene Formen von Performance möglich. Diese Ergänzungen erlauben es, Erfahrungen, Emotionen und im Alltag gelebte ethische Prinzipien einzubringen, die in auf Kohärenz angelegten realistischen Texten leicht verloren gehen. Die Steigerung der dialogischen Sensibilität geht einher mit einer Dekonstruktion der institutionellen, paradigmatischen, kulturellen und persönlichen Rahmen, die die jeweilige Untersuchung bestimmen. Dieser Prozess bedeutet keine Außerkraftsetzung, sondern ein Bewusstmachen der oft impliziten Rahmenvorstellungen des Forschungsprozesses.“ (ebd.)
Unsere Feldstudien bestätigen letztlich, dass ethnograsche Forschung durch die Begegnung und Auseinandersetzung mit anderen, fremden populärkulturellen Sozial- und Sinnwelten ein, um mit Barbara Friebertshäuser (1997: 503) zu sprechen, „soziales Abenteuer“ darstellt, verbunden mit kontinuierlichen theoretischen, methodologischen und methodischen Reexionen, Inspirationen und Innovationen – und bisweilen auch tiefgehenden Verunsicherungen. Sie auszuhalten und in produktive Strategien und Instrumente der Erkenntnis zu transponieren, ist Anspruch und Antrieb unseres lebensweltbezogenen Forschungshabitus. Im Gegensatz zur quantitativen Forschung, die Häugkeit und Verbreitung von bereits bekannten Merkmalen und Zusammenhängen ermittelt, also eher eine Vermessung sozialer Realität vornimmt, ist für die ethnograsche Feldforschung kennzeichnend, dass bisher Unbekanntes, Fremdes oder auch Übersehenes für den wissenschaftlichen Diskurs entdeckt, offen gelegt und erschlossen wird. Unsere Feldforschung in den Szenen und Settings der gegenwärtigen Eventkultur ist Ausdruck und Beleg für die Fruchtbarkeit des ethnograschen Zugangs zur Analyse der sich immer weiter ausdifferenzierenden populärkulturellen Praxen und Erlebnisweisen.
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Andreas Hepp, Marco Höhn und Waldemar Vogelgesang Medienevents, Spielevents und Spaßevents: Die Themen
Die konstatierte zunehmende Eventisierung gegenwärtiger Populär- und Medienkulturen kann bezogen auf populäre Events entlang von drei Erlebnisachsen gesehen werden, nämlich der des Medien-Erlebens, der des Spiel-Erlebens und der des Spaß-Erlebens. Diese Differenzierung führt zu einer Unterscheidung von drei Arten von populären Events: populäre Medienevents, populäre Spielevents und populäre Spaßevents. Unter populären Medienevents sind solche Events zu verstehen, deren Erlebniskern medial vermittelt ist. Während Medien in der heutigen Gesellschaft für nahezu alle populären Events einen wichtigen Referenzpunkt bilden, erschließen sich populäre Medienereignisse darüber, dass ihr Erlebniskern medial vermittelt ist. Bei populären Spielevents steht im Kern ein vergnügliches Spielerleben. Es geht um die Teilnahme an einem denierbaren Spiel mit explizierbaren Regeln und Ritualen, das in einzelnen kulturellen Segmenten eine herausragende, bedeutungsstiftende Stellung hat. Populäre Spaßevents sind solche Events, bei denen das kollektive Spaßerleben im Mittelpunkt steht. Hier geht es, wenn man so will, um das Erleben von ‚Vergnügen an sich‘, wobei die Spezik dieser Events darin zu sehen ist, dass das Vergnügen erlebnisrational kalkulierbar sein muss. Gleichwohl ist eine solche Typologisierung nicht zu starr zu sehen, was gerade medienbasierte Spielevents zeigen: Zwar handelt es sich bei LAN-Partys insofern um populäre Spielevents als die Teilnahme an einem Spiel den Fokus des Events ausmacht – gespielt wird dieses Spiel allerdings medienbasiert, wodurch sich umfassende Bezüge zu Medienevents ergeben. Populäre Medien-, Spiel- und Spaßevents sind über unser Grundverständnis von populären Events hinaus durch eine weitere Gemeinsamkeit gekennzeichnet. So fällt auf, dass sich bei ihnen verschiedene gestufte Eventformen unterscheiden lassen. Bei den nachfolgenden Betrachtungen in diesem Buch geht es deshalb auch darum, zu zeigen, dass in Bezug auf die jeweiligen kulturellen Segmente nicht nur ein einzelnes populäres Event von Relevanz ist, sondern komplexe Gefüge von Mini-, Meso- und Mega-Events. Dies verweist nochmals darauf, dass keines der betrachteten Beispiele losgelöst von den segmentären Verdichtungen zu sehen ist, innerhalb derer es jeweils steht. Mit der Beschreibung von populären Events geht es also immer auch um die Beschreibung von Fankulturen, Szenen und anderen kulturellen Formationen. Neben dieser Gemeinsamkeit gibt es aber auch erhebliche Differenzen zwischen den einzelnen populären Events, die sich aus ihrer jeweiligen kulturellen Spezik herleiten. Während einzelne populäre Events wie etwa Halloween durchaus in Bezug auf rituelle Feste gesehen werden müssen, deren eventisiertes Pendant der Spätmoderne sie darstellen, haben viele andere mit rituellen Festen überhaupt
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nichts mehr gemein. Solche Differenzen zwischen den einzelnen populären Events verweisen damit über sie hinaus auf einen umfassenden kulturellen Wandel, in dem Prozesse der performativen Bildung von Gemeinschaften – Christoph Wulf u. a. (2001) sprechen hier von einer zunehmenden „Ritualisierung des Sozialen“ – mit der fortschreitenden Eventisierung von Populärkultur miteinander verschmelzen – eine Entwicklung, die andere Formen von Festlichkeit zurücktreten lässt. Der erste Teil – populäre Medienevents – des vorliegenden Buchs befasst sich mit drei Themen, nämlich mit dem Medienereignis Regina Zindler/Maschendrahtzaun, den Events der Trekkie-Fankultur, die sich um die Serie „Star Trek“ konstituiert hat, sowie dem religiösen hybriden Medienevent des katholischen Weltjugendtags. Bei den ersten beiden Studien handelt es sich um Untersuchungen, die aus der ersten Auage dieses Buchs aufgenommen wurden, die Analyse des Medienevents Weltjugendtag geht auf ein 2005 bis 2007 realisiertes und von der deutschen Forschungsmeinschaft (DFG) nanziertes Projekt zurück. Der erste Beitrag von Andreas Hepp setzt sich mit einem von der Berichterstattung über das Stefan Raab-Lied „Maschendrahtzaun“ ausgehenden Medienereignis um den „Alltagsstar“ Regina Zindler auseinander, das um die Jahreswende 1999/2000 weit über die eigentlich auf Raab bzw. „TV Total“ bezogene Fankultur hinaus Aufmerksamkeit auf sich zog. Der Stellenwert, den dieses Medienevent bis heute in der deutschen Populär- und Medienkultur hat, wird daran deutlich, dass es auch im Jahr 2009 in den Medien als Referenzpunkt für eine bestimmte Form der Eventisierung zitiert wird. Im zweiten Beitrag von Iris Eisenbürger stehen diejenigen mit Medienbezug generierten Events im Mittelpunkt, die zentrale Kristallisationspunkte der Star Trek-Fankultur sind. Auch hierbei handelt es sich um eine Fankultur, die weit über den Zeitraum hinaus, in dem die Studie ursprünglich realisiert wurde, Bestand hat, nicht zuletzt durch die Form ihrer verschiedenen Events. Schließlich zeigt die dritte Fallstudie von Andreas Hepp und Veronika Krönert am Beispiel des katholischen Weltjugendtags, wie Religion als Medienevent inszeniert wird. Im Ergebnis wird so ein religiöses Hybridevent greifbar, das neben Momenten heutiger Populär- und Medienkultur auch Aspekte religiöser Rituale integriert. Entsprechend kann dieses Event als ein herausragendes Beispiel heutiger „populärer Religion“ (Knoblauch 2009) verstanden werden. Im zweiten Teil – populäre Spielevents – werden zunächst unterschiedliche Typen von LAN-Partys, also Computerspiel-Events, bei denen über lokal aufgebaute Netzwerke gegeneinander gespielt wird, näher beleuchtet. Der in der ersten Auage dieses Buchs enthaltene, nun korrigierte und überarbeitete Beitrag von Waldemar Vogelgesang geht insbesondere der Frage nach, welchen Status die verschiedenen gestuften Eventformen der LAN-Partys bei der Genese einer ComputerspielerFankultur haben. Hieran schließt sich der Beitrag von Jeffrey Wimmer, Sylvia Klatt, Olga Mecking, Jana Nikol, Eliana Pegorim, David Schattke und Stefanie Trümper
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Andreas Hepp, Marco Höhn und Waldemar Vogelgesang
an, bei dem es sich um eine im Jahr 2008 realisierte empirische Untersuchung zu den „World Cyber Games“ in Köln handelt. Gerade die Gegenüberstellung einer LAN-Party um 2000 mit einem populären Computer-Spielevent des Jahres 2008 macht die nachhaltigen Entwicklungsdimensionen der Eventisierung von Populärund Medienkultur deutlich. Der dritte, stark fallanalytisch orientierte Beitrag von Philipp Lorig und Waldemar Vogelgesang befasst sich mit Paintball-Spielevents und stellt wiederum eine im Hinblick auf die öffentliche Diskussion aktualisierte Fassung einer Studie von 2001 dar. Paintball wird hier – entgegen der aktuellen öffentlichen Diskussion – nicht als martialisches Kriegsspiel beschrieben, sondern als eine durch Eventisierungsprozesse geprägte Fun-Sportart rekonstruiert, die zwar an militärische Kampfstrategien angelehnt ist, vom Ablauf her aber als Mannschaftswettkampf organisiert wird, der nach festen Regeln abläuft und bei dem durch das Abschießen von Farbkugeln Gegner als ‚besiegt‘ markiert werden. Der dritte Teil des Bandes befasst sich mit zwei populären Spaßevents, die bereits in der Erstauage dieses Buchs behandelt wurden. In einem ersten Beitrag setzt sich Marco Höhn mit der Eventisierung von Halloween auseinander. Ausgehend von seinen keltischen Ursprüngen wird hier die wechselvolle Geschichte eines traditionsreichen Ereignisses nachgezeichnet, das in der jüngeren Vergangenheit zur Ausbildung einer wachsenden Zahl von ‚Grusel-Enklaven‘ geführt hat. Der Beitrag von Bettina Krüdener und Jörgen Schulze-Krüdener thematisiert das Phänomen der Eventisierung von Jugendbrauchtum. Am Ende dieses Eventisierungsprozesses stehen Spaßfeten, die Rückbezüge auf ältere Brauchtumsformen kaum mehr erkennen lassen. Insgesamt hoffen wir, dass durch eine solche kontrastive Gesamtschau der von uns konstatierte Prozess der Eventisierung von Populär- und Medienkultur nachvollziehbar und veranschaulicht wird. Hierdurch wollen wir deutlich machen, dass die Nachhaltigkeit dieses Prozesses gerade durch differenzierte Fallstudien der jeweils zu einem aktuellen Zeitpunkt dominierenden populären Medien-, Spielund Spaßevents deutlich wird. Vielleicht bietet dieses Buch so Anregungen für weitere Fallstudien zu populären Events. Nicht möglich gewesen wäre die so vorliegende zweite Auage des Buchs „Populäre Events“ ohne das Mitwirken und die Unterstützung verschiedener Personen. Danken möchten wir zuerst einmal den Herausgebern der Reihe „Erlebniswelten“ – namentlich Winfried Gebhardt, Ronald Hitzler und Franz Liebl – bzw. dem Verlag für Sozialwissenschaften für das Interesse an der erweiterten und überarbeiteten Neuauflage dieses Buchs. Bei der Redaktion haben uns vor allem zwei Personen unterstützt, denen wir ebenfalls danken möchten. Dies ist zum einen Heide Pawlik, die uns organisatorisch und redaktionell mehrfach unter die Arme griff, zum anderen Cindy Roitsch, die Literaturverzeichnisse vereinheitliche und die Manuskripte Korrektur las. Ohne solche Unterstützungen wäre das vorliegende Buch nicht möglich gewesen.
Einleitung
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Einleitung
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I
Populäre Medienevents
Stefan Raab, Regina Zindler und der Maschendrahtzaun: Ein populäres Medienereignis als Beispiel der Eventisierung von Medienkommunikation Andreas Hepp
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Einleitung: Maschendrahtzaun 2008
Am 25.3.2008 war im Feuilleton der taz eine kurze Notiz zu lesen, in der der diskutierte Bau einer Elbtalbrücke in Dresden und der damit möglicherweise verbundene Verlust des Weltkulturdenkmal-Titels wie folgt kommentiert wurde: „Eines der schönsten Missverständnisse des deutschen Kulturbetriebs hat sich rund um diese vermaledeite Brücke ergeben. Die Dresdner denken, die ganze Welt würde auf ihre Regionalmetropole gucken, weil es ja doch ums Weltkulturerbe geht. Und Dresden eh der Nabel der Welt ist. Die Welt selbst guckt mal schnell hin, und denkt sich: Oje, das ist ja eine der durchgedrehtesten Provinzpossen, die es in Deutschland so gibt. Wären wir in Großbritannien oder Amerika, hätte ein großer Fernsehsender längst eine Comedyserie im Brückengegnermilieu angesiedelt und könnte sich vor Quotenrekorden kaum retten. Die meisten Beteiligten würden sich wahrscheinlich sogar selbst spielen. Man stelle sich das vor: eine Fernsehserie, die daherkommt wie die Bildungsbürgervariante von Stefan Raabs ‚Maschendrahtzaun‘! Viel besser geht’s eigentlich nicht. Aber uns fragt ja niemand.“
Interessant an diesem Zitat erscheint der sich an dessen Ende ndende, kurze Verweis auf „Stefan Raabs ‚Maschendrahtzaun‘“. Hiermit wird der Bezug zwischen einer aktuellen kulturellen Diskussion und einem Medienevent hergestellt, das zum Zeitpunkt des Erscheinens des zitierten Artikels mehr als acht Jahre zurück lag, nämlich das Medienevent um Regina Zindler und den Maschendrahtzaun. Entsprechend steht das Zitat dafür, inwieweit sich ein Medienevent in das ‚öffentliche kulturelle Gedächtnis‘ einschreiben konnte. Doch was verbirgt sich hinter diesem Medienevent? Wie konnte es zu dem werden, was es heute zu sein scheint? Diese Fragen will der vorliegende Artikel beantworten. Er geht auf eine original 2003 in der ersten Auage dieses Buchs publizierte Studie zurück, die geringfügig überarbeitet wurde. Die Notwendigkeit
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Andreas Hepp
für eine solche Überarbeitung ergab sich dadurch, dass an verschiedenen Stellen aus heutiger Perspektive Erklärungen zu weiteren Entwicklungen bzw. Verweise zu aktueller Forschungsliteratur eingefügt werden mussten. Inhaltlich und in ihren Ergebnissen erscheinen die Analysen bis heute auf nachdenklich machende Weise aktuell: Was als eine kontextbezogene Fallstudie eines zu einem bestimmten Zeitpunkt typischen Medienevents angelegt war, wird zu einer in gewissem Sinne medienhistorischen Analyse, die den sich radikalisierenden Prozess der Eventisierung der Medienkommunikation verstehen hilft. So lässt sich die in der Untersuchung konstatierte Tendenz hin zur Eventisierung von Medienkommunikation bis heute ausmachen. Hiermit ist gemeint, dass (populäre) Medienevents zunehmend integraler Bestandteil von medialer Kommunikation werden. Unter populären Medienevents sind – wie wir bereits in der Einleitung herausgestrichen haben – in einer ersten Annäherung aus dem Alltag besonders herausgehobene medienvermittelte Ereignisse zu begreifen, die außergewöhnliche Chancen bieten, sich in einem ‚Kollektiv-Vehikel‘ aus Lebensroutinen heraustragen zu lassen, um für eine bestimmte Zeit an symbolisch vermittelten, mehrschichtigen Erlebnisqualitäten zu partizipieren bzw. diese zu generieren.1 Events bilden sich um einen Erlebniskern, der im Falle von populären Medienevents medial vermittelt und jenseits dessen nicht fassbar ist. Medienevents sind dabei umfassend in den Prozess der gesellschaftlichen Auseinandersetzung um Bedeutung lokalisiert. Als ein herausragendes Medienevent der Jahreswende 1999/2000 kann das Medienereignis „Regina Zindler/Maschendrahtzaun“ gelten. Worum es sich bei diesem Medienereignis im Kern handelt, macht ein Zitat von Dieter Prokop deutlich, der sich in „Der Medien-Kapitalismus“ mit diesem Medienereignis auseinander gesetzt hat. Das Lied „Maschen-Draht-Zaun“ von Stefan Raab, das zusammen mit der von Brainpool produzierten und auf Pro7 ausgestrahlten Sendung TV TOTAL den Ausgangspunkt für das Medienereignis darstellt, fasst er wie folgt: „In Maschendrahtzaun singt Raab selbst, er spielt einen Country-Mann, er singt mit einer Country-Band. Seine Gedanken kreisen um einen Maschendrahtzaun. Dazwischen hört man Tonausschnitte – im Videoclip sieht man das Gesicht in Großaufnahe – einer älteren Frau aus dem Volk, die todernst im sächsischen Akzent das Wort ‚MaschenDraht-Zaun‘ sagt. Das war ein Ausschnitt aus der Fernsehserie R ICHTERIN BARBARA SALESCH, in der eine echte Richterin vor echten Klägern und Angeklagten Prozesse zu einem rechtskräftigen Urteil führt.“ (Prokop 2000: 295)
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Zur allgemeinen De nition von Events vgl. Hitzler 1998 und 2000, zu Medienevents die Beiträge in Couldry/Hepp/Krotz 2009. Ansätze einer ‚Soziologie des Events‘ wurden formuliert bei Schulze 1999; Gebhardt, Hitzler et al. 2000. Zum Begriff des populären Medienevents im Detail vgl. – neben der Einleitung – den zweiten Abschnitt des vorliegenden Beitrags.
Stefan Raab, Regina Zindler und der Maschendrahtzaun
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Ziel der vorliegenden, erstmals wie gesagt im Jahr 2003 veröffentlichten und geringfügig überarbeiteten Studie ist es, anhand dieses Medienereignisses „Zindler/ Maschendrahtzaun“ exemplarisch Zusammenhänge herauszuarbeiten, die helfen, den bis heute auszumachenden Trend zur Eventisierung von Medienkommunikation innerhalb der gegenwärtigen, deutschen Populär- und Medienkultur einzuschätzen. Das Materialkorpus, auf das sich die weitere Argumentation stützt, umfasst auf Produzentenseite 4 Expertengespräche mit an dem Medienereignis Zindler/Maschendrahtzaun beteiligten Medienschaffenden, die transkribiert und qualitativ-inhaltsanalytisch ausgewertet wurden. Daneben wurde mittels E-Mail der Produzent einer der von Rezipierenden erstellten, auf das Medienereignis bezogenen Internetseiten befragt. Auf Produktseite wurden insgesamt 73 Fernsehsendungen und 99 Zeitungsartikel zu dem Medienevent ausgewertet. Die Argumentation auf Rezipientenseite stützt sich auf die Analysen von 18 Leitfaden-Interviews mit Rezipierenden. Aufgrund des qualitativen Designs und der exemplarischen Auswahl eines populären Medienereignisses, auf das sich die Auswertung konzentriert, kann und will die Studie keinen Anspruch auf Repräsentativität erheben. Das qualitative Design ermöglicht jedoch, Muster und Zusammenhänge herauszuarbeiten, die eine weitere Theoretisierung von populären Medienevents ermöglichen. Konkret zielt die Untersuchung dabei auf zweierlei. Erstens wird der Versuch unternommen, exemplarisch die Genese eines populären Medienereignisses herauszuarbeiten. Hierbei wird das Medienereignis nicht einfach als eine von den Medienschaffenden ‚gemachte‘ und erfolgreiche Vermarktungskampagne begriffen, sondern als ein sich in der Interaktion zwischen Produzierenden und Rezipierenden entwickelndes Phänomen. Ein solches Verständnis versucht dem Sachverhalt gerecht zu werden, dass populäre Medienevents einerseits auf einen medial generierten Erlebniskern fokussiert sind, andererseits sich als Ereignis aber erst in der Aneignung dieses Erlebniskerns konstituieren. Zweitens zielt die Studie darauf, exemplarisch grundlegende Aspekte der Kulturbedeutung von Medienevents in der gegenwärtigen, zunehmend kulturell differenzierten deutschen Gesellschaft herauszuarbeiten. Die wachsende kulturelle Differenzierung als deren Teil die Ausdifferenzierung des dualen Mediensystems begriffen werden kann, hat dazu beigetragen, dass die postulierte soziale Integrationskraft von Medien zumindest als diskussionswürdig erscheint: Es kann nicht mehr davon ausgegangen werden, dass einzelne Fernsehsendungen wie die Gassenfeger der 1960er Jahre von einem so großen Bevölkerungsanteil rezipiert werden würden, dass sie als verbindende, semiotische Ressource per se eine gesellschaftliche Integrationskraft hätten. Eine solche integrative Funktion können Medien allenfalls bezogen auf die Berichterstattung über bestimmte Ereignisse ausüben, die sendungs- und senderübergreifend erfolgt, ein Gedanke, der insbesondere auf Daniel Dayan und Elihu Katz zurück geht.
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Andreas Hepp
Allerdings lassen sich aktuelle, populäre Medienereignisse nicht bruchlos in ein solches an Konzepten moderner Gesellschaft orientiertes Integrationsverständnis einordnen. Vielmehr weist die fortschreitende kulturelle Differenzierung darauf hin, dass populäre Medienereignisse adäquaterweise als Translokalitätsphänomene zu fassen sind. Hierin ist die eigentliche Kulturbedeutung von Medienereignissen zu sehen. Der Versuch ihrer Beschreibung als Translokalitätsphänomene zeigt allerdings, dass die Auseinandersetzung mit Populärkulturen und Translokalität einer weitergehenden Theoretisierung bedarf, die perspektivisch die Aufarbeitung entsprechender Theorieansätze in diesem Bereich notwendig erscheinen lässt (vgl. Hepp 2002). Im Einzelnen gliedert sich die Studie wie folgt: Ausgehend von einer theoretischen Annäherung an populäre Medienevents (vgl. Kap. 2) wird auf der Basis des erhobenen Materials die kulturelle Produktion und die Konstitution des Medienevents nachgezeichnet (vgl. Kap. 3). Diese lässt sich im Spannungsverhältnis zwischen den auf die Aufmerksamkeit der Rezipierenden zielenden Produktionsstrategien der Medienschaffenden einerseits und deren Aufmerksamkeitsgewährung andererseits begreifen. Kapitel 4 setzt sich mit dem medialen Diskurs des Medienereignisses auseinander, wobei dieser in Abgrenzung zu rituellen Medienereignissen nicht als ‚versöhnend‘ begriffen wird, sondern als eingebettet in diskursive Auseinandersetzungen. Insgesamt geht es dabei um die Konstruktion eines Alltagsstars – nämlich Regina Zindler –, wobei bewährte Muster der Fernsehkommunikation bezogen auf das populäre Medienereignis transformiert werden. Grundlegend ist der Diskurs des Medienereignisses auf die Frage der soziokulturellen Denition von ‚Normalität‘ fokussiert, weswegen das Event als Teil einer weitergehenden diskursiven Auseinandersetzung des Normalismus begriffen werden kann. Die Aneignung des populären Medienevents (vgl. Kap. 5) weist darauf hin, dass die Grundhaltung der Rezipierenden im Aneignungsprozess als ein ‚skeptisches Vergnügen‘ zu charakterisieren ist. Dabei ist die Aneignung des Medienevents durch Prozesse von lokaler Kommerzialisierung wie eine Rückbindung an die weitergehende diskursive Auseinandersetzung um das Medienereignis geprägt. Darüber hinaus fällt auf, dass das Internet insbesondere für die Entwicklung von ‚touristischen Fanaktivitäten‘ bereits 1999/2000 eine relevante Kommunikationsinfrastruktur geworden ist. Das letzte und sechste Kapitel der Untersuchung versucht, das Medienereignis als Translokalitätsphänomen zu fassen und Perspektiven für weitere sich daraus ergebende Forschungsfragen aufzuzeigen.
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Populäre Medienevents in einer spätmodernen Gesellschaft
Wenn hier einleitend etwas unscharf von einer Tendenz hin zur Eventisierung von Medienkommunikation gesprochen wurde, so ist damit nicht gemeint, dass
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Medienereignisse – etwas verkürzt verstanden als verschiedene Sendungen und Formate übergreifende, auf einen spezischen Kern bezogene Sinnangebote – ein vollkommen neues Phänomen wären. In gewissem Sinne gab es große Ereignisse in den elektronischen Medien allen voran im Fernsehen seit Beginn ihrer Geschichte. Man denke beispielsweise an die Fernsehübertragungen verschiedener großer Sportereignisse oder Zeremonien.2 Allerdings hat sich mit populären Medienevents eine für die gegenwärtige Populär- und Medienkultur spezische Form des Medienereignisses entwickelt, die quer zu bisherigen eher rituellen bzw. zeremoniellen Formen des Medienereignisses liegt. Populäre Medienereignisse haben mehr mit anderen auf Spaß und Unterhaltung fokussierten populären Events zu tun, wie man sie aus der Welt der spätmodernen Erlebnisgesellschaft kennt, denn mit solchen schon aus den Anfängen der Geschichte der elektronischen Medien bekannten rituellen Medienereignissen. Dies lässt eine reformulierte theoretische Annäherung an (populäre) Medienevents als notwendig erscheinen. Events werden auch in der Auseinandersetzung mit der aktuellen Populär- und Medienkultur unter Perspektive der die Medien- und Kommunikationswissenschaft seit ihren Anfängen bewegenden Frage der Integrationsleistung von Medien thematisiert.3 Hierbei wird Medienereignissen das Potenzial zugesprochen, in einer kulturell differenzierten Gesellschaft mit ebenso differenzierten Medienangeboten integrierend zu wirken: Auch wenn eine einzelne Fernsehsendung nicht mehr wie der ‚Gassenfeger‘ der 1960er Jahre in dem Sinne integrieren kann, dass aufgrund von Einschaltquoten jenseits von 90 % weite Teile der Bevölkerung diese als semiotische Ressource teilen, so können dies gegenwärtig vielleicht noch Medienereignisse leisten, an deren Berichterstattung verschiedene Sender, Sendungen und Genres beteiligt sind. Knut Hickethier beispielsweise geht in seiner Darstellung der Geschichte des deutschen Fernsehens davon aus, dass die kollektive Wirkung eines Fernsehangebots dann besonders hoch einzuschätzen ist, wenn es ihm gelingt, große Teile der Gesellschaft zu einem gemeinsamen Erlebnis zusammen zu bringen und damit die Gesellschaft auf gemeinsam gesehene Sendungen bzw. geteilte Themen zu verpichten. Indem mit der kulturellen Differenzierung – in Bezug auf Medienkommunikation beschleunigt durch die Einführung des dualen Systems – sich sowohl die Fernsehprogramme als auch ihre Publika differenziert haben, scheinen die grundlegenden Integrationsleistungen des Fernsehens durch 2 Bezogen auf das Fernsehen kann man davon sprechen, dass es Medienereignisse vor der Ausdifferenzierung einer Vielzahl von Fernsehgenres gab. So war beispielsweise im Dritten Reich die Frühgeschichte des Mediums beeinusst durch das Ereignis der Olympischen Spiele von 1936 – ähnlich wie das Live-Fernsehen der 1950er Jahre geprägt war durch das Ereignis der Krönung Elisabeths der II. 3 Zur Problematik einer ausschließlichen Orientierung auf die (möglichen) Integrationsleistungen von Medien in zunehmend kulturell differenzierten Gesellschaften siehe Ang 1996: 162 und Hepp 2004b: 95–99.
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Andreas Hepp
einzelne Sendungen abgenommen zu haben: Die Wahrscheinlichkeit, dass eine signi kante Zahl von Personen ein und dieselbe Fernsehsendung rezipiert, ist gering – und damit auch die Möglichkeit einer im obigen Sinne verstandenen Integrationsleistung. In Bezug auf Integrationsleistung sind für Hickethier an die Stelle von Einzelsendungen Medienereignisse getreten: „Integrationseffekte erzeugen stattdessen Ereignisse, über die in einem längeren Zeitraum berichtet werden kann und die sich durch eine kontinuierliche Berichterstattung als bedeutsam etablieren, so dass sich einerseits die verschiedenen Programme daran beteiligen können, andererseits sich das Publikum auf das Ereignis und seine mediale Transformation entsprechend einstellen kann“ (Hickethier 1998: 538). In der Folge zählt er dann Ereignisse auf, die seiner Meinung nach dieses Kriterium Ende der 1990er Jahre erfüllen wie das Oder-Hochwasser oder der Tod von Prinzessin Diana im Jahr 1997. Das Fernsehen bleibt für ihn so auch in einer spätmodernen Gesellschaft das Medium sozialer Integration. Die Überlegungen Hickethiers können als charakteristisch für die Auseinandersetzung mit Medienevents in der Medien- und Kommunikationswissenschaft gelten. Zurück geht diese Vorstellung von – wie ich sie in Anschluss an unsere Überlegungen in der Einleitung dieses Bands nennen möchte – rituellen Medienereignissen auf eine Untersuchung von Daniel Dayan und Elihu Katz (vgl. zum aktuellen Diskurs hierzu die Beiträge in Couldry/Hepp/Krotz 2010). Als ‚rituell‘ kann man diese deshalb begreifen, weil es bei ihnen letztlich selbst da, wo solche Medienereignisse Überschreitungen ritueller Schranken sind, um die Bestätigung bzw. konstruktive Veränderung solcher Riten geht. Dayan und Katz begreifen Medienereignisse als ein spezisches Genre des Fernsehens, wobei sie acht Kriterien als konstitutiv begreifen (vgl. Dayan/Katz 1992: 4–9). Erstens stellen Medienereignisse Unterbrechungen sowohl der alltäglichen Routine als auch des fortlaufenden Fernsehprogrammes dar. Zweitens ist diese Unterbrechung monopolistisch in dem Sinne, dass sich alle Kanäle von ihrem geplanten Programmablauf lösen und das Event aufgreifen. Drittens ist das Geschehnis live, d. h. Medienereignisse werden direkt übertragen. Viertens werden Events ‚außerhalb‘ von Medien organisiert, sie nden jenseits der Studios statt und werden nicht von den Fernsehanstalten initiiert. Fünftens sind Medienevents vorgeplant, werden im Vorfeld angekündigt und beworben. Sechstens werden Medienereignisse mit Ehrfurcht und Feierlichkeit präsentiert. Siebtens sind sie nicht auf Konikt fokussiert, sondern auf Versöhnung. Achtens schließlich elektrizieren sie große Publika. Die Nähe dieser acht Kriterien zu den in der Einleitung heraus gestrichenen sechs Aspekten ritueller Feste ist offensichtlich. Ausgehend von dieser Grunddenition unterscheiden Dayan und Katz drei Idealtypen von Medienereignissen, verstanden als jeweilige Skripts ihrer Konstitution, nämlich den Wettkampf („contest“), die Eroberung („conquest“) und die
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Krönung („coronation“). Diese denieren sie nach den in Tabelle 1 zusammengefassten Kriterien. Diese Übersicht der drei Idealtypen von Medienereignissen, die in deutlicher Parallele zu den von Max Weber differenzierten drei Herrschaftsformen gebildet sind,4 macht sehr gut deutlich, warum sich hiermit – ebenso wie mit der Grunddenition von Dayan und Katz – letztlich nur eine spezische rituelle Form von Medienereignissen fassen lässt, die man als ‚modern‘ bezeichnen kann. Letztlich arbeiten Dayan und Katz bei ihrer Typologie von Medienereignissen mit einer Vorstellung, wonach diese im weitesten Sinne als Zeremonien und Rituale auf Regelbestätigung in einer in ihrem Wertkonsens homogenen, nationalen Gesellschaft fokussiert sind: Wettbewerb und Krönung vermitteln ganz offensichtlich, dass (gesamt-)gesellschaftlich geteilte Regeln als wertvoll bzw. traditionsgebunden beizubehalten sind, und auch die charismatische Regelüberschreitung der Eroberung ist auf einer höheren Ebene wiederum regelbestätigend, da es hier um die Transformation von Regeln geht, die wenn man so will, eine Regelbestätigung auf ranghöherer (Entwicklungs-) Stufe zur Folge hat. Was sich in dieser Typologie nicht oder nur schwer fassen lässt, sind Medienevents in einer spätmodernen Gesellschaft kultureller Differenzierung, die eben nicht durch einen einheitlichen Regel- und Werthorizont gekennzeichnet ist, in der Eroberung im klassischen Sinne nicht mehr denkbar erscheint und die weniger traditionell als posttraditionell ist (vgl. Giddens 1996). Event-Typ Dimension
Wettkampf
Eroberung
Krönung
Periodizität
Fest
Nicht fest (einmalig)
Nicht einmalig (wiederkehrend)
Regeln
Vereinbarte Regeln
Keine Regeln
Brauch, Tradition
Orte (Bühnen)
Arena, Stadion, Forum, Studio
Schwellen des sozialen Raums, Grenzen, Beschränkungen
Straßen, Kirchenschiffe, städtische Prachtalleen
Kontrahenten
Mann vs. Mann
Held vs. Normen, Glaube, Natur
Ritual vs. Realität Personen vs. Symbole
Wetthaltung
Ausgeglichen
Gegen Helden
Gegen Rituale
4 Daniel Dayan und Elihu Katz weisen explizit darauf hin, dass sie sich an Max Webers Herrschaftstypologie angelehnt haben (vgl. Dayan/Katz 1992: 25).
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Andreas Hepp
Drama
Wer wird gewinnen?
Wird es der Held zustande bringen?
Wird es das Ritual zustande bringen? Verdient der Prinzipal die heiligen Symbole? Kann die Wirklichkeit draußen gehalten werden?
Rolle des Leiters
Einhalten der Regeln. Der Beste gewinnt. Der Verlierer hat eine weitere Chance.
Umgestalten der Regeln. Gewähren von Diskontinuität. Großer Sprung für die Menschheit.
Verkörperung der Regeln. Symbolisierung von Kontinuität
Rolle des TV Moderators
Neutral (kein Anhänger)
Bardisch
Ehrfurchtbietend, priesterlich
Rolle des Publikums
Bewertung
Zeuge sein: sich beeindrucken lassen; Helden Charisma zusprechen; Vorenthalten von Unglauben
Erneuerung des Vertrags mit dem Zentrum; Treue geloben
Botschaft
Regeln sind das oberste
Regeln können verändert werden
Regeln sind traditionsgebunden
Form von Autorität
Rational-Legal
Charismatisch
Traditional
Beziehung zum Koniktmanagement
Rahmt, miniaturisiert, vermenschlicht Konikte
Überwindet Konikt durch Anhängerschaft und Identikation
Bietet Aussetzen des Konikts durch Beschwören der Grundwerte einer Gesellschaft
Zeitliche Orientierung
Gegenwart
Zukunft
Vergangenheit
Tabelle 1
Dimensionen von Wettkampf, Eroberung und Krönung, Quelle: D. Dayan/Katz 1992: 33 f., Übersetzung A. H.
Dieser fehlende Fokus auf Medienereignisse in einer spätmodernen Gesellschaft kann Dayan und Katz sicherlich nicht zum Vorwurf gemacht werden, streichen sie doch explizit heraus, sich mit Medienereignissen innerhalb von modernen
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Gesellschaften befassen zu wollen (vgl. Dayan/Katz 1992: 14). Allerdings ist genau hier die Grenze ihrer Typologie zu sehen: Mit ihr lässt sich nur schwer die gegenwärtige an Bedeutung gewinnende Form von Medienevents fassen, nämlich das populäre Medienereignis.5 Beispiele für solche populären Medienevents sind das Fernsehereignis ‚Big Brother‘,6 das Filmereignis ‚Titanic‘7 oder aber das hier untersuchte Medienereignis ‚Regina Zindler/Maschendrahtzaun‘. Wie unterscheiden sich populäre Medienevents nun von den von Dayan und Katz betrachteten rituellen Medienereignissen? Der Hauptunterschied wird deutlich, wenn man sich nochmals die acht Punkte Medienevent-Denition der beiden Autoren vor Augen führt und hiervon populäre Medienereignisse abgrenzt. 1.
2.
Im Gegensatz zu rituellen Medienereignissen sind populäre Medienevents zuerst einmal keine eigentlichen Unterbrechungen des fortlaufenden Fernsehprogramms oder Medienangebots. Vielmehr sind die Sendungen, die sie konstituieren, vorwiegend geplanter Teil der regulären Angebotstruktur. Allerdings bieten sie den Rezipierenden die Möglichkeit, in einer routinisierten Medienrezeption auf einfache und erlebnisrational kalkulierbare Weise ihren Alltag zu durchbrechen. Hierdurch ermöglichen populäre Medienevents ein routiniertes Außeralltäglichkeitserleben von populären Events im Allgemeinen. Die Stellung von populären Medienereignissen im Programm ist allenfalls als segmentiell dominant zu charakterisieren, aber nicht als monopolistisch wie im Falle von rituellen Medienereignissen. Populäre Medienereignisse dominieren das zu einer bestimmten Zeit über verschiedene Kanäle und Medien behandelte Themenspektrum in einem bestimmten Segment8 als eine herausragende semiotische Ressource, sie ‚verdrängen‘ aber aufgrund ihrer Stellung nicht Inhalte in allen anderen Segmenten, wie es rituelle Medienereignisse tun. Allerdings können Teil populärer Medienereignisse durchaus auch ‚Sondersendungen‘, ‚Specials‘ und andere ausschließlich auf sie fokussierte Medienprodukte sein, aber eben im Rahmen laufender populärer Medienangebote eines bestimmten Segments wie beispielsweise
5 Dass populäre Medienereignisse zunehmend an Bedeutung gewinnen, heißt umgekehrt aber nicht, dass rituelle Formen von Medienereignissen für die aktuelle Populär- und Medienkultur vollkommen irrelevant wären. Siehe dazu u. a. Hepp 2004a, 2004b: 324–348. 6 Vgl. dazu die detaillierte Untersuchung von Mikos et al. 2000. 7 Siehe hierzu die von Waldemar Vogelgesang und mir vorgelegte Studie Hepp/Vogelgesang 2000. 8 Mit ‚Segment‘ sind hier bestimmte Formatbereiche gemeint, wie beispielsweise der von BoulevardMagazinen. Auch hier den Ausdruck ‚Segment‘ zu verwenden, erscheint deshalb nahe liegend, weil solche Programmsegmente ausgehend von Zielgruppenvorstellungen der Medienschaffenden – wenn auch nicht unidirektional – auf bestehende kulturelle Segmente verweisen.
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5.
6.
Andreas Hepp die Sondersendung eines Boulevardmagazins, die sich ausschließlich oder primär mit dem populären Medienereignis auseinander setzt. Auch populäre Medienereignisse sind in dem Sinne ‚aktuelle‘ Geschehnisse, da sie sich mit der Berichterstattung entwickeln und nicht im Nachhinein berichtet werden. Allerdings wird hier nicht live von einem Großereignis (beispielsweise einem Sportwettkampf oder einer staatlichen Zeremonie) berichtet, sondern das, was sich hier kontinuierlich entwickelt, spielt sich (primär) innerhalb der Medien und ihrer Aneignung ab. Dies verweist direkt auf den nächsten Abgrenzungspunkt zwischen rituellen und populären Medienereignissen. In Abgrenzung zu rituellen Medienevents werden populäre Medienevents zumindest in ihrer Frühphase nicht ‚außerhalb‘ von Medien strukturiert, sondern sind umfassend medial initiiert. So sind sie eben deswegen als populäre Medienereignisse zu begreifen, weil sie jenseits des Medialen nicht greifbar sind. Populäre Medienereignisse sind „diskursive Ereignisse“ und kein „Diskurs über ein Ereignis“ (Fiske 1994: 4), was vielleicht die adäquate Umschreibung ritueller Medienereignisse ist. Hiermit ist gemeint, dass populäre Medienereignisse ausschließlich in ihrer medialen Produktion, diskursiven Konstruktion und Aneignung fassbar sind. Ob ‚Big Brother‘, ‚Titanic‘ oder Zindler, gemeinsam ist ihnen ihre im medialen Diskurs begründete Existenz. Eng mit ihrer ausschließlichen medialen Generierung hängt zusammen, dass populäre Medienevents nicht nur wie rituelle Medienereignisse vorgeplant sind und im Vorfeld angekündigt und beworben werden. Die Differenz besteht darin, dass populäre Medienereignisse ebenso kommerzialisiert sind, wie andere gegenwärtige Events auch. Tendenziell gehen populäre Medienereignisse von einzelnen medialen Produkten aus, die mithilfe eines gezielten, medienbezogenen (Event-) Marketings im Sinne einer Marken-Etablierung beworben werden (vgl. Willems 2000: 63–67).9 Es geht hier auf dieser Ebene also um die Umsetzung einer allgemein aus dem gegenwärtigen Marketing bekannten Strategie innerhalb der Medien.10 Populäre Medienereignisse werden gerade nicht mit Ehrfurcht und Feierlichkeit präsentiert, vielmehr zielen sie auf ‚Unterhaltung‘ und ‚Spaß haben‘ ab. Sie stellen auf einen bestimmten Erlebniskern bezogene, medial vermittelte Angebote an die Rezipierenden dar, sich zu vergnügen. Nur in dem Maße, wie populäre Medienereignisse Rezipierenden dieses Vergnügen bereiten, können sie populär d. h. zum Teil von Populär- und Medienkultur werden. In diesem
9 Mit der Marken-Etablierung als einer Strategie aktuellen Medienmanagements hat sich insbesondere Gabriele Siegert auseinander gesetzt (vgl. Siegert 2000). 10 Zum Event-Marketing vgl. beispielsweise Kinnebrock 1993; Graf 1998, zur Notwendigkeit, hier an etablierte Marken anzuküpfen Sistenich/Zanger 2000: 375. In Bezug auf Medien siehe Höhn 2004.
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Sinne sind sie ebenso wie andere aktuelle Events als Unterhaltungsangebote nur in der Interaktion zwischen Produzierenden und Rezipierenden zu fassen. Sie entwickeln eine „Eigendynamik“ (Gebhardt 2000: 20), und ihre Handlungsspielräume hängen vergleichbar dem Techno-Event vom Rezipierenden ab (vgl. Pfadenhauer 2000: 111). Während rituelle Medienereignisse gerade nicht auf Konikt, sondern auf Versöhnung fokussiert sind, ist dies beim populären Medienereignis anders. Zwar muss ihr Erlebniskern für verschiedene Rezipierende bzw. Publika anschlussfähig sein, Anschlussfähigkeit kann aber nicht mit Koniktfreiheit gleichgesetzt werden. So fällt auf, dass gerade zwei der umfassenden populären Medienereignisse der Jahre 1999 und 2000, nämlich ‚Regina Zindler/Maschendrahtzaun‘ und ‚Big Brother‘ sehr kontrovers diskutiert und scheinbar auch sehr different angeeignet wurden.11 Populäre Medienevents scheinen – vielleicht auch aufgrund ihrer umfassenden Ökonomisierung – also in umfassende kulturelle Auseinandersetzungen lokalisiert zu sein, was dem Vergnügen, das sie bereiten (können) aber keinen Abbruch tut. Schließlich beschäftigen populäre Medienereignisse wie auch rituelle Medienereignisse große Publika. Die Differenz muss – und dies hängt eng mit dem obigen Punkt der Auseinandersetzung um sie zusammen – aber darin gesehen werden, dass populäre Medienevents nicht wie rituelle Medienereignisse in dem Sinne elektrizieren, dass sich alle in gleicher Form daran beteiligen. Sinnvollerweise sollte man bei populären Medienereignissen besser davon sprechen, dass sie die Aufmerksamkeit zumindest eines spezischen kulturellen Segments, möglicherweise aber auch einer Vielzahl von Publika genießen. Während nämlich die Zahl der Publika, die sie elektri zieren, durchaus beschränkt sein mag, ist die Zahl derjenigen, die in die Auseinandersetzung um sie eingebunden sind und sie entsprechend aufmerksam verfolgen, möglicherweise ungleich größer. Charakteristisch für populäre Medienereignisse ist also weniger die Elektrizierung von einzelnen Publika sondern die Aufmerksamkeit einer Vielzahl von Publika.
Insgesamt lassen sich demnach populäre und rituelle Medienereignisse wie folgt gegenüber stellen:
11
So spielt auch bei der alltäglichen Aneignung von Big Brother eine Auseinandersetzung mit ethischen Fragen eine nicht unerhebliche Rolle (vgl. Mikos et al. 2000: 177–179).
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Andreas Hepp rituelles Medienereignis
populäres Medienereignis
Routinisierungsgrad
Unterbrechung von Routine
routinisiertes Außeralltäglichkeitserleben
Stellung im Programm
Monopolisieren des Programms
dominieren eines Programmsegments
Geschehen
live
kontinuierlich entwickelt
Strukturierung
medienextern
medienintern
Produktion
geplant
kommerzialisiert
Präsentation
ehrfurchtsvoll und feierlich
Unterhaltend und spaßorientiert
Koniktorientierung
versöhnend
polarisierend
Fokus von Publika
Elektrizierung
Aufmerksamkeitsgenerierung
Tabelle 2
Gegenüberstellung von populären und rituellen Medienereignissen
Diese Gegenüberstellung macht noch einmal deutlich, warum das rituelle Medienevent eher als modern, das populäre Medienevent eher als spätmodern begriffen werden kann: Das rituelle Medienereignis ist Repräsentationsinstanz herausragender, außermedialer Ereignisse einer Gesellschaft, inszeniert für diejenigen, die von der örtlichen Teilnahme an dem Ereignis ausgeschlossen sind. Populäre Medienevents hingegen entstehen medienintern als Teil eines selbstreferentiellen ‚Unterhaltungsuniversums‘. Deshalb können sie aufgrund der auf sie bezogenen, über mehrere Publika hinweg geteilten Aufmerksamkeit bei weiterhin bestehenden Differenzen ein gemeinsam rezipier- und kommunizierbares Unterhaltungsangebot bieten. Sicherlich bestehen insbesondere bei (Sport-)Wettkämpfen Übergangsbereiche zwischen rituellen und populären Medienereignissen. Dies ergibt sich dadurch, dass hier die Grenzen zwischen Medialem und Nicht-Medialem durch eine fortschreitende „Mediatisierung“ (Krotz 2007) insbesondere von Fun-Sportarten verschwimmen. Dennoch bleibt die Notwendigkeit bestehen, zumindest idealtypologisch zwischen beiden Grundarten von Medienereignissen zu unterscheiden. Ein populäres Medienereignis ist eben nicht per se als Integrationsinstanz einer modernen Gesellschaft zu begreifen, sondern stellt ein kommerzialisiertes Unterhaltungs- und Auseinandersetzungsobjekt einer kulturell differenzierten Gesell-
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schaft dar, das sich in einer komplexen Interaktion zwischen Medienschaffenden und Rezipierenden konstituiert. Wie solche populären Medienereignisse in ihrer Kulturbedeutung einzuordnen sind, soll im Weiteren nun exemplarisch an dem populären Medienevent ‚Regina Zindler/Maschendrahtzaun‘ aufgezeigt werden. Der Einfachheit halber soll es dabei kurz als Medienevent oder Medienereignis bezeichnet werden, wohl wissend dass es sich bei ihm im engeren Sinne um ein populäres Medienereignis handelt.
3
Kulturelle Produktion und die Konstitution des Medienevents: Zwischen Eigendynamik und „Competition“
Das zum Zeitpunkt des Medienereignisses ‚Regina Zindler/Maschendrahtzaun‘ eigenständige Medienunternehmen BRAINPOOL TV AG12 gehörte zu den erfolgreichen Medienrmen, die 1999/2000 am neuen Markt gehandelt wurden. Beispielsweise bezeichnet die Wirtschaftswoche Brainpool als den „größten deutschen Comedyanbieter“ (Reischauer 1999: 165) oder SPIEGEL Reporter charakterisiert Brainpool als die Firma, für die der neue Markt wie Pop funktioniert: „Rummel verkauft Aktien“ (Brinkbäumer 2000: 30). Gerade diese letzte Formulierung verweist auf eine Konzeptionalisierung von Events als Marketing-Strategie im Rahmen einer popularisierten Ökonomie der Aufmerksamkeit: Medienevents werden hier nicht nur als Teil einer vollständig integrierten Wertschöpfungskette angesehen, zu der bei Brainpool die Vermarktung ein und desselben Inhalts über Free TV, Pay TV, Enhanced TV, Internet, Merchandising, als Produktmarke und eben als Event zählt (vgl. Rother/Groscurth 1999: 8). Die Events werden darüber hinaus als Maßnahmen angesehen, um die Aufmerksamkeit von Anlegerinnen und Anlegern auf das jeweilige Medienunternehmen zu lenken, was sich letztlich in Aktiengewinnen niederschlagen soll. Wäre also ein Medienevent wie das Medienereignis Zindler/Maschendrahtzaun als ein ‚Hype‘ zu verstehen, inszeniert um die Aufmerksamkeit der Anleger zu erheischen? Ganz in diesem Sinne charakterisiert auch Börse On-line am 26.09.2000 die CD mit Stefan Raabs aktueller Schröder Parodie „Hol mir ma ne Flasche Bier“ als einen Hit, von dem die Brainpool TV AG nicht nur über den Gewinn der verkauften CD-Exemplare protiert, sondern ebenso durch den indirekten Gewinn der Aufmerksamkeit von 900.000 Fans, die in den ersten Tagen den Song von der Homepage von TV TOTAL geladen haben. Dass ein solcher Fokus von Aufmerksamkeit den Börsenwert beeinusst, wird dort offen – wenn auch 12 Die BRAINPOOL TV AG wurde 1994 gegründet und war vom November 2001 an Tochterrma der VIVA MEDIA AG bzw. mit deren Übernahme durch MTV Teil von Viacom. Seit Dezember 2006 ist BRAINPOOL wieder eigenständig.
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kritisch – eingestanden: „Auf Grund der erfolgreichen Projekte von Stefan Raab besitzt der Wert allerdings viel Kursfantasie“ (Müncher 2000). Ein solcher Diskurs, der im weitesten Sinne die kreative Praxis der Medienschaffenden einem Primat der Ökonomie unterordnet, eignet sich kaum, um die Konstitution des Medienereignisses Zindler/Maschendrahtzaun angemessen zu fassen. Dass dies stark vereinfachend und deshalb problematisch ist, wird daran deutlich, dass in diesem Diskurs bestimmte Muster kapitalistischer Besitzverhältnisse als alleinige Einussinstanzen auf die kreative Arbeit von Medienschaffenden konzeptionalisiert werden. Sicherlich kann ökonomischer Druck dazu führen, dass in Medien unorthodoxe oder oppositionelle Ideen nicht verbreitet werden. Eine solche Betrachtungsperspektive der „(industriellen) Produktion von Kultur“ (Negus 2002) tendiert aber dazu, auf der Ebene einzelner Organisationen die Dynamik kultureller Produktionsprozesse aus den Augen zu verlieren. Es wird verkannt, dass die Produktion von Kulturwaren stets in einem weiteren Kontext ihrer kulturellen Signikationsprozesse gesehen werden muss. Was relevant ist, ist also weniger eine Betrachtungsperspektive der industriellen Produktion von Kultur als vielmehr eine Perspektive der kulturellen Produktion. Mit einer Perspektive der kulturellen Produktion ist ein Zugang zur Sphäre der Medienproduktion gefasst, bei dem diese in ihrem weiteren soziokulturellen Kontext gesehen wird, innerhalb dessen die Produktionspraktiken des Medienschaffenden als Signi kationsprozesse lokalisiert sind. Dass ein solcher kulturtheoretischer Blickwinkel notwendig ist, um auch den ökonomischen Erfolg des Medienereignisses Zindler/Maschendrahtzaun zu erfassen, machen Äußerungen von Christoph Schulte-Richtering deutlich, der als Redakteur bei TV TOTAL für den Kontakt zu Regina Zindler und die Betreuung des Ereignisses zuständig gewesen ist. So charakterisiert dieser die CD „MaschenDraht-Zaun“ als „großes Projekt und als eine der Geschichten […] die über mehrere Wochen hin […] gefeaterd werden die auf einmal dann auch • n Medieninteresse erwecken“. Es geht also darum, durch geschickte Strategien im weitesten Sinne Aufmerksamkeit zu wecken. Das Event ist für die Redakteure bei TV TOTAL aber ein umfassenderes kulturelles Phänomen, ein ‚größeres Ganzes‘, über das sie nach eigener Auffassung nur eine sehr bedingte Kontrolle haben. Um hier SchulteRichtering nochmals zu zitieren: „die ganze Geschichte ist eigentlich ein großes Rad an dem Barbara Salesch ihr Gerichtsrädchen gedreht hat wir haben das Rad ein bisschen weiter gedreht wir haben Comedy daraus gemacht als die ganze Geschichte für uns erledigt war […] also die Magazine haben dann deren Rädchen weiter gesponnen“
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Dies verweist darauf, dass man grundlegend zwischen der kulturellen Produktion einzelner, an dem Medienereignis beteiligter Medientexte/-produkte unterscheiden muss und der Artikulation des Medienereignisses insgesamt. Offensichtlich ist dies, wenn man sich vergegenwärtigt, welche Medien und Medienprodukte an der Artikulation des Medienereignisses Zindler/Maschendrahtzaun beteiligt waren: Die wichtigsten Fernsehsendungen sind hier neben der SAT.1 Sendung R ICHTERIN BARBARA SALESCH, Pro7 TV TOTAL bzw. Stefan Raabs Lied „MaschenDraht-Zaun“, das zu den Berichten von RTL EXPLOSIV und SAT.1 BLITZ führte. Aber auch Sendungen wie Pro Sieben TAFF, S.A.M. und MORNINGSHOW, SAT.1 AKTE 99, 18:30 und FRÜHSTÜCKSFERNSEHEN, RTL PUNKT 12, GUTEN ABEND DEUTSCHLAND und LIFE – LUST ZU LEBEN, ARD BRISANT und PLUSMINUS sowie MDR Super Illu TV und Hier ab vier waren an der Konstitution des Medienereignisses beteiligt.13 Hinzu kommen eine Reihe von Artikeln in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften und Merchandising-Produkten. Diese sind – ausgehend von der allgemeinen Phaseneinteilung bei Events (vgl. dazu die Einleitung dieses Bandes) – in die drei Phasen des Medienereignisses einzuordnen: 1. die Frühphase des Events (vom Zindler-Auftritt bei Richterin Salesch am 28. Oktober 1999 über das Aufgreifen bei TV TOTAL bis zum Erfolg der CD „Maschen-Draht-Zaun“), 2. die Hochphase des Events mit dem Wettstreit zwischen RTL und SAT.1 (Mitte Dezember 1999 bis Februar 2000) und 3. die Auslaufphase des Medienevents (ab März 2000). Geht man von der hier skizzierten Perspektive der kulturellen Produktion aus, so ist es vor allem eine Frage, die in Bezug auf das Entstehen des Medienereignisses an Relevanz gewinnt. Dies ist die Frage danach, wie die Aktivitäten der Medienschaffenden in dem Gesamt der weiteren Ereignisartikulation zu kontextualisieren sind. Eine Antwort darauf möchte ich bezogen auf das populäre Medienereignis ‚Zindler/Maschendrahtzaun‘ in zwei Schritten geben: Erstens möchte ich herausarbeiten, dass die Entwicklung eines Medienereignisses wie das von Zindler/Maschendrahtzaun für die Medienschaffenden in solchem Maße eine Eigendynamik hat, dass sie sich phasenweise deagentiviert fühlen, sich weniger als ‚Produzenten‘ des Medienevents denn als Teil der Artikulation des Medienevents begreifen. In einem zweiten Teil möchte ich näher auf die Hochphase des Medienereignisses als ‚Competition‘ eingehen und auf die trotz aller Erfahrung von Eigendynamik bestehenden Strategien der Medienschaffenden, die sehr wohl auf Aufmerksamkeit zielen, hier allerdings gewendet als kulturtheoretische Kategorie.
13
Insgesamt be nden sich 73 Sendungen in unserem Analysekorpus der das Medienereignis konstituierenden Fernsehsendungen. Siehe dazu die Auswertung der an dem Medienereignis beteiligten Medientexte, auf die sich die weitere Argumentation in Teilen stützt.
52 3.1
Andreas Hepp Die Eigendynamik des Medienereignisses: Rezipierende als Produzenten?
Die Erfahrung der Eigendynamik wird von allen an dem Medienereignis beteiligten, interviewten Medienschaffenden mit nur geringen Unterschieden geteilt, angefangen von Barbara Salesch über Christoph Schulte-Richtering von TV TOTAL bis hin zu Martin Pack von RTL EXPLOSIV und Michael Bockheim von SAT.1 BLITZ. Für Barbara Salesch war der Nachbarschaftsstreit Zindler/Trommer, den sie in ihre Schiedsgerichtssendung RICHTERIN BARBARA SALESCH aufnahm, als Nachbarschaftsstreit zuerst einmal ein „Null-acht-fünfzehn-Fall“.14 Dass der Fall Ausgangspunkt eines Medienereignisses sein konnte, lag zum damaligen Zeitpunkt jenseits ihrer Vorstellungen, auch als ihre Redakteure ihr erzählten, dass der Ausschnitt ihrer Sendung bei TV TOTAL gezeigt wurde und sie in der zweiten Dezemberwoche 1999 ihren Auftritt bei TV TOTAL hatte. Sie wurde von dem Medienereignis überrannt. Aber auch die Medienschaffenden von TV TOTAL sehen sich mit einer Eigendynamik des Medienereignisses konfrontiert. Wie bereits herausgestrichen, wurde das Lied „Maschen-Draht-Zaun“ gezielt als „große[s] Projekt“ ausgewählt. Die Mechanismen und Vermarktungsstrategien waren dabei die bereits mit den „Ö La Palöma Boys“ erprobten. Vor Produktion der CD wurde von Regina Zindler die Erlaubnis eingeholt, die entsprechenden Tonausschnitte ihres Fernsehauftritts bei Richterin Barbara Salesch gegen eine Beteiligung von 10 Pfennig pro CD zu verwenden. Zu diesem Zeitpunkt rechnete das Team von TV TOTAL schon damit, „dass es wahrscheinlich ein Erfolg werden würde“, auch wenn die Ausmaße des Events in der späteren Hochphase nicht abzusehen waren.15 So war mit der Veröffentlichung der CD „Maschen-Draht-Zaun“ ein Prozess der Event-Artikulation in Gang gesetzt, der für TV TOTAL selbst nicht mehr kontrollierbar war. Schulte-Richtering spricht hier von einem „Schneeball“, den sie losgerollt haben und der mit jeder Umdrehung bei seiner Bewegung den Berg der Medienberichte hinunter größer und größer wurde.16
14 Grundlage für die Auswahl war ausschließlich ihr generelles Inszenierungskriterium der Abschließbarkeit des Falls in 2 Stunden. Zwei Stunden pro Fall haben sich als geeignete Ausgangsbasis von Material herausgestellt, das auf die Dauer einer Sendung zusammen geschnitten werden kann. 15 Aufgrund des Eindrucks bei dem entsprechenden Vorgespräch, dass Regina Zindler nicht mit den medialen Inszenierungsmechanismen umgehen könnte, traf man die Absprache, dass Zindler alle Interviewanfragen an TV TOTAL weiterleiten sollte, es sei denn sie entschließt sich explizit anders. Gegenüber einem Auftritt von Zindler in TV TOTAL war man aus dem gleichen Grund skeptisch. 16 Nachdem dieser Ball ins Rollen gekommen ist, wechselten die Redakteure von TV TOTAL in der Hochphase des Events auch grundlegend ihre Kommunikationsstrategie und blockten weitere Anfragen zu Auftritten ab. Das Argument für diesen Strategiewechsel war letztlich, dass Zindler selbst nicht mit den Inszenierungsmechanismen des Fernsehens umgehen konnte und sich das Medienereignis mehr und mehr verselbstständigte.
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Eine ähnliche Erfahrung der Eigendynamik machen auch die Redaktionen von BLITZ und EXPLOSIV. Der leitende Redakteur von BLITZ, Michael Bockheim, gesteht, dass die Sender zu dem Ereignis Zindler zuerst zwar „gerne was machen wollten“, dann aber „das ganze ne Eigendynamik“ gewann, die sie letztlich überrollte: „da gab’s keine Strategien es gab auch keine Konzeptionen sondern die Geschichte entwickelte sich von Tag zu Tag.“ Für ihn bestehen bei einem Medienereignis wie Zindler/Maschendrahtzaun Mechanismen die sich einfach verselbständigen: das Zuschauerbedürfnis ist mit der Regina erfüllt worden“. Ähnlich schildert auch Martin Pack, zuständiger Redakteur bei RTL EXPLOSIV das Erleben des Medienereignisses: „wir waren völlig erschreckt darüber dass das gar nicht mehr aufhörte […] wir waren Teil dieses Spektakels weil wir darüber berichtet haben aber sozusagen auch […] von dieser Dynamik mitgerissen worden […] die Leute wollten’s sehen wir haben alle gesagt nach einer Woche nee also Leute das ist keine Geschichte mehr […] und die Leute rennen uns die Bude ein“. Solche Formulierungen sind insofern von Interesse, weil sie einen Hinweis darauf geben, wen die interviewten Medienschaffenden als eigentlichen ‚Produzierenden‘ des Medienereignisses ansehen, nämlich „die Leute“. Handelt es sich hier um den Legitimationsversuch der eigenen medialen Praxis? Oder wie sind solche Formulierungen einzuschätzen? In gewissem Sinne verweisen sie auf einen Gedankengang, den innerhalb der Cultural Studies John Fiske theoretisiert hat, nämlich dass grundlegend zwischen der nanziellen Ökonomie der Medienindustrie und der kulturellen Ökonomie der Rezipierenden zu differenzieren ist. Innerhalb der nanziellen Ökonomie geht es um die Zirkulation zweier Waren, nämlich einerseits um das Programm, das von Studios und Produktionsrmen an die Sender verkauft wird, andererseits um die Ware Publikum, die von Programmen produziert und an die Werbekunden verkauft wird.17 Die Rezipierenden wiederum produzieren Bedeutungen und Vergnügungen für sich selbst, was nach Fiske als kulturelle Ökonomie von der nanziellen Ökonomie zumindest partiell entkoppelt ist (vgl. Fiske 1989: 26). Dies ist soweit nichts Neues, ebenso wie die bereits häuger zitierte, idealtypologische Differenzierung von Michel de Certeau (1988) zwischen Strategie und Taktik (siehe auch Krönert 2008), wonach die Medienschaffenden die Möglichkeit haben, strategisch zu handeln, d. h. ihr Handeln selbst berechnend zu bestimmen. Das Aktionspotenzial der Rezipierenden dagegen ist taktisch, d. h. sie sind auf die Ressourcen der Medienschaffenden angewiesen. Bezieht man dies allerdings auf die kulturelle Produktion des Medienereignisses, so wird diese differenziert fassbar. Die Rezipierenden nutzen das Medienereignis Zindler/Maschendrahtzaun dazu, sich daran zu vergnügen, unabhängig
17 Prinzipiell ist hier auch der Aktienmarkt einzuordnen, dessen Produzenten die Produktionsgesellschaften, dessen Waren die Aktien und dessen Kunden die Anleger sind – im weitesten Sinne auch Rezipierende.
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davon, welche Bedeutungen sie damit verbinden. Die Vergnügungen können – wie die „Maschen-Draht-Zaun“-Partys in und außerhalb von Auerbach (dem Wohnort von Regina Zindler), Fanseiten im Internet oder als privates Vergnügen entstandene Cover-Versionen des Lieds – Formen annehmen, die von den Medienschaffenden zuerst einmal in keinster Weise intendiert waren. Gerade deshalb verändert die taktische Aneignung der Rezipierenden aber den Aktionsraum der Medienschaffenden, und das ist es, was diese als ‚Eigendynamik‘ erleben.
3.2
Strategien der kulturellen Produktion: „Competition“ um die Aufmerksamkeit der Rezipienten?
Aus der oben beschriebenen Dynamik der Ereignisproduktion lässt sich allerdings trotz aller Produktivität von Rezipierenden nicht folgern, dass die Medienschaffenden ihr strategisches Handeln aufgeben würden. Sie sind diejenigen, die die Medienprodukte produzieren, auch wenn die Rezipierenden an der Artikulation des Medienereignisses Anteil haben. Inwieweit das Handeln der Medienschaffenden strategisch geleitet ist, macht bereits die Strategie des Abblockens jeglicher Interviewanfragen durch Barbara Salesch deutlich, die damit erreichen wollte, dass sie nicht zu stark mit dem Medienereignis in Verbindung gebracht wurde. Allerdings nahm sie, wie sie selbst sagt, die positive Begleiterscheinung des Medienereignisses, nämlich die Aufmerksamkeitssteigerung ihrer Sendung gegenüber, bereitwillig in Kauf. Dieser Fokus auf Aufmerksamkeitssteigerung ist für alle an dem Medienereignis beteiligten Produktionsrmen kennzeichnend. Insofern haben Fragen der Aufmerksamkeit sehr wohl etwas mit der Artikulation des Medienereignisses zu tun. Allerdings ist es nicht möglich, diese ausschließlich als Verteilungsproblem knapp verfügbarer Ressourcen zu konzeptionalisieren, wie es Georg Francks Ökonomie der Aufmerksamkeit nahe legt (vgl. Franck 1998, S. 21 f.). Bezogen auf die Beschäftigung mit Medienevents ist gleichzeitig sowohl Reiz als auch Grenze seiner Ökonomie der Aufmerksamkeit, dass er Medien im Allgemeinen und den Starkult der Medien im Speziellen nur auf der Basis einer Tauschtransaktionsbegrifichkeit fasst: Je höher die Aufmerksamkeit, die jemand in den Medien genießt, desto höher seine Quote, desto höher seine nanziellen Gewinne aus der Sendung – ob nun direkt über den Markt der Werbekunden oder indirekt über den Aktienmarkt. Um die Beschränkung einer solchen reinen Transaktionsbegrifichkeit zu verdeutlichen ist es notwendig, den Ausdruck ‚Aufmerksamkeit‘ analytisch sehr differenziert zu verwenden. Aufmerksamkeit ist nämlich nichts, was die Medienschaffenden durch welches strategische Handeln auch immer kontrollierbar erreichen können. Aufmerksamkeit ist wie Unterhaltung auch eine Rezeptionskategorie:
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Hörende gewähren einem Vortrag Aufmerksamkeit oder auch nicht, und ebenso sind es Rezipierende, die einer Medienpersönlichkeit Aufmerksamkeit widmen und sie damit zum Alltagsstar und möglicherweise Kern eines Medienevents machen. Man kann strategisch agieren, um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass mehr Rezipierende ihre Aufmerksamkeit widmen, man kann sie aber nicht erzwingen.18 Letztendlich – und hier ist man bei einer weiteren Differenzierung angelangt – geht es bei den an der Konstitution des Medienereignisses beteiligten Sendungen aber gar nicht darum, die Aufmerksamkeit der Rezipierenden auf das Medienereignis Zindler/Maschendrahtzaun zu lenken. Es geht nicht um die Herstellung einer allgemeinen Aufmerksamkeit gegenüber Zindler/Maschendrahtzaun, also die auf den Alltagsstar bezogene Aufmerksamkeit, der im Sinne von Ronald Hitzler den Erlebniskern des Medienevents symbolisiert. Vielmehr zielen die Strategien der Medienschaffenden auf die Herstellung einer sendungsfokussierten Aufmerksamkeit, wobei in der Hochphase des Medienevents die allgemeine Aufmerksamkeit dem Medienereignis gegenüber mehr und mehr zum Mittel wird. So steht im Mittelpunkt der Strategien von TV TOTAL in der Frühphase des Medienereignisses klar ein Kultmarketing, dem einerseits keine zusätzlichen Ressourcen zur Verfügung stehen, wie dies bei anderen aus der Werbeindustrie bekannten Kampagnen der Fall ist, das andererseits aber auf die Ressource einer etablierten, bereits Aufmerksamkeit genießenden Fernsehsendung mit ebenso etablierten, Aufmerksamkeit genießenden Internetseiten zurückgreifen kann. Das Kultmarketing bestand darin, dass das Lied „Maschen-Draht-Zaun“ strophenweise am 15.11., 22.11. und 29.11.1999 in TV TOTAL präsentiert wurde, allerdings in Rückbezug auf eine schon bestehende „Geschichte“, nämlich die des Nachbarschaftsstreits zwischen Zindler und Trommer. Parallel dazu wurde kontinuierlich auf den Internetseiten von TV TOTAL Informationen zur CD zur Verfügung gestellt.19 Insgesamt wird dabei die Sendung TV TOTAL bzw. Stefan Raab als Marke bzw. Brand genutzt, um einen weiteren Publikumserfolg zu ermöglichen.20 Über den Erfolg dieses Kultmarketings kann man sich sicherlich kaum streiten: Die CD „Maschen-Draht-Zaun“ wurde über eine Million Mal verkauft. Gleichzeitig 18 Darauf, dass Aufmerksamkeit eine Rezeptionskategorie ist, weist auch Georg Franck hin, wenn er bei seinen Darlegungen zu Massenmedien von der Perspektive des Publikums aus argumentiert (vgl. Franck 1998: 147–151). 19 Dass die Strategie des Kultmarketings, wie es Christoph Schulte-Richtering nennt, weitgehend dem entspricht, was in der einschlägigen Literatur auf Aufmerksamkeit zielendes Event- oder Erlebnismarketing genannt wird, liegt auf der Hand: Die CD „Maschen-Draht-Zaun“ wurde in Bezug auf eine schon bestehende ‚Erlebniswelt‘ vermarktet, und zwar die der Fernsehcomedy, die zum Zeitpunkt des Medienereignisses schon auf TV Total fokussiert gewesen ist. Hierfür ist die Verleihung des Deutschen Fernsehpreises 1999 an TV TOTAL deutliches Zeichen. 20 Zur zunehmenden Bedeutung von Branding als Marketingstrategie auch im Medienbereich vgl. die differenzierte Darstellung von Gabriele Siegert in Siegert 2000.
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Andreas Hepp
entwickelten sich die Marktanteile und Zuschauerzahlen von TV TOTAL in der Zeit des Medienevents wie folgt:
Abbildung 1
Zuschauer und Marktanteile von TV TOTAL im Verlauf des Medienevents (1999–2000), Quelle: Eigene Darstellung auf Basis der Daten von BAINPOOL TV AG
Was man hier konstatieren kann, ist dreierlei: Erstens ist es TV TOTAL gelungen, durch die Strategie des Kultmarketing von „Maschen-Draht-Zaun“ die schon bestehende sendungsfokussierte Aufmerksamkeit auf TV TOTAL etwas zu steigern. Hierfür stehen die Quoten und Marktanteile, die sich allerdings in der Phase des Kultmarketings bei weitem nicht so sprunghaft nach oben bewegten, wie man vermuten mag: Am 8.11. betrugen die Zuschauerzahlen 2,71 Millionen, der Marktanteil 14,7 %, am 29.11. 2,8 Millionen und 15 %. Die Spitze lag am 15.11. mit 3,11 Millionen Zuschauenden und 17,4 % Marktanteil. Zweitens – und das ist möglicherweise das Entscheidende – wurde dadurch eine allgemeine Aufmerksamkeit auf Zindler als Alltagsstar gelenkt, und es war diese, die in der Hochphase des Medienereignisses von anderen Sendungen und Sendeanstalten genutzt wurde. Bemerkenswert ist an dieser Stelle aber noch ein dritter Aspekt, nämlich dass die Strategie des Kultmarketings letztlich eine semiotische Strategie ist. Das heißt. die Medienschaffenden von TV TOTAL nutzen verschiedene, fest in Diskurse eingebundene Materialien als Ressourcen, die gerade durch die Offenheit von Comedy das Medienereignis
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Zindler/Maschendrahtzaun für eine Vielzahl von Rezipierenden anschlussfähig machen. Wie Martin Pack es formuliert: „sie ist ja sozusagen Kult geworden weil die Leute sich sozusagen • für jeden war was drin • die einen konnten sich echauferen darüber über die arme Frau die ja lächerlich gemacht wird die anderen haben gesagt ist doch einfach nur lustig ist doch schön und die dritten sagten das nd ich super das ist genau sozusagen ein gewisses Comedy-Verständnis • dem das zugrunde liegt“
Besonders deutlich wird das Wechselverhältnis von allgemeiner und sendungsbezogener Aufmerksamkeit, wenn man sich den Wettstreit zwischen RTL EXPLOSIV und SAT.1 BLITZ näher ansieht, der zwar – wie die interviewten Vertreter beider Sendungen beteuerten – auf ‚Verlangen‘ der Rezipierenden entstanden ist, den sie aber letztlich versucht haben, strategisch für sich zu nutzen. Sieht man sich die Äußerungen von Pack und Bockheim zu dem Medienereignis nämlich etwas differenzierter an, so zeigt sich recht schnell, dass sie nur auf der Ebene der allgemeinen Aufmerksamkeit gegenüber Zindler/Maschendrahtzaun von einer Eigendynamik überrollt wurden. Ausgehend von dieser kennen sie aber sehr wohl brauchbare Strategien, die Aufmerksamkeit auf die eigene Sendung zu lenken, d. h. eine sendungsfokussierte Aufmerksamkeit zu erreichen. In den Worten Packs: „wir konnten diesen Kult nicht aufhalten wir konnten daran teilhaben“. Strategie von RTL EXPLOSIV war es, nicht nur zu beobachten, was passiert, d. h. wie es zu dem Kultlied „Maschen-Draht-Zaun“ mit seinem Alltagsstar Regina Zindler kam und wie Fans sich dieses aneignen, sondern „Geschichten zu erzählen.“ Dem kam zugute, dass RTL EXPLOSIV mit Stefan Schwarz in den Hochphase des Medienereignisses einen Mitarbeiter hatte, „der sozusagen als einziger Reporter völlig emotional Zugang“ zu Regina Zindler hatte, was sie dafür nutzten, exklusive Geschichten zu produzieren. Geschichten erzählen heißt im Klartext, für Zindler einen neuen Zaun von OBI stiften lassen und ihr dessen Installation schenken, um über ihre Freude darüber berichten zu können. Es heißt auch, mit Herrn und Frau Zindler in ein Hotel zu ‚iehen‘, um sie von einer gänzlich anderen Seite kennen zu lernen, oder mit Zindlers nach Paris zu fahren, um ihre geheimen Wünsche zu erkunden. Sendungsbezogene Aufmerksamkeit sollte also erzielt werden, indem Geschichten ‚erzählt‘ wurden, deren Exklusivität darin bestand, dass niemand anders sie gemacht hatte. Aber auch SAT.1 agierte strategisch mit dem Versuch, sich durch vertragliche Absicherungen Vorteile zu verschaffen, um so Zugang zu exklusiven Inhalten zu haben. So insistieren sie – wenn auch erfolglos – darauf, dass Regina Zindler vertraglich an SAT.1 gebunden sei, da das Medienereignis mit R ICHTERIN BARBARA
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Andreas Hepp
SALESCH von einer SAT.1 Sendung den Ausgang genommen hatte.21 Damit hätte ihnen auch Zindler und die auf sie gerichtete, allgemeine Aufmerksamkeit zugestanden. Gleichzeitig nahm die Redaktion von BLITZ auch die Nachbarn unter Vertrag, um hier über die Exklusivität der Produktion von Geschichten was den ‚Gegner‘ von Zindler betrifft zu verfügen: Nach Beschädigung des RTL-Zauns durch Fans wollte SAT.1 einen nur mit großem Aufwand zerstörbaren Stahlzaun spenden und installieren, wozu das Interesse bei Trommer groß und bei Zindler klein war. Insgesamt ist die Competition zwischen RTL EXPLOSIV und SAT.1 BLITZ also wie folgt zu charakterisieren: Beide Redaktionen versuchten durch ihre Strategien, über die jeweils exklusiveren Geschichten über das Medienereignis Zindler/ Maschendrahtzaun zu verfügen, um hierdurch eine sendungsbezogene Aufmerksamkeit zu erzielen. So aber haben sie die zentrale Voraussetzung für die Artikulation und den Fortbestand des Medienereignisses Zindler/Maschendrahtzaun erst geschaffen: Die allgemeine Aufmerksamkeit diesem gegenüber steigerte sich mit jeder ‚erzählten Geschichte‘ und dies führte zur Hochphase des Medienereignisses.
3.3
Fazit: Kulturelle Produktion und Aufmerksamkeit
Ausgangspunkt meiner Argumentation war die Behauptung, dass sich die Artikulation des Medienereignisses nur im Rahmen einer Theorie der kulturellen Produktion adäquat beschreiben lässt. Diese Formulierung versucht deutlich zu machen, dass die symbolische Praxis der Medienproduktion in ihrem kulturellen Kontext zu fassen ist. Die Analysen haben gezeigt, dass sich das Medienereignis neben der kulturellen Produktion einzelner Medienprodukte wie Fernsehsendungen und CDs erst durch die allgemeine Aufmerksamkeit der Rezipierenden Zindler als Alltagsstar gegenüber konstituieren kann. Letztlich entsteht das Medienereignis in der Interaktion 22 zwischen Aufmerksamkeitssteigerung der Rezipierenden und der kulturellen Produktion der Medienschaffenden, was auf die Notwendigkeit 21 Aus dieser Perspektive wurde „unser Baby […] aus dem Kinderwagen genommen […] und wurde ein paar mal vorgeführt und dann hat man gedacht o Gott irgendwie halt das ist ja doch kompliziert das muss ja gefüttert und irgendwie betreut werden und dann hat man das schnell irgendwo wieder liegen lassen“. Solche Äußerungen, die deutlich auf den Wettstreit verweisen, führen nochmals vor Augen, dass auch wenn die diffuse Aufmerksamkeit Zindler/Maschendrahtzaun gegenüber sich in einer Eigendynamik entwickelt hat, die jenseits der ‚Kontrolle‘ der Medienschaffenden lag, sie sich doch sehr wohl angestrengt haben, durch strategisches Handeln eine auf ihren Sender bezogene, spezische Aufmerksamkeit zu erzielen. 22 Michael Jäckel hat darauf aufmerksam gemacht, dass die Spezi k von Medienkommunikation ist, dass hier Kommunikation ohne Interkation (zwischen Produzierenden und Rezipierenden) statt nden kann (Jäckel 1997: 94). Vielleicht ist hier eine weitere Spezi k von populären Medienereignissen zu sehen: Sie stellen eine Form der Medienkommunikation dar, die selbst hochgradig interaktiv ist.
Stefan Raab, Regina Zindler und der Maschendrahtzaun
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der Differenzierung zwischen kultureller Produktion und Konstitution eines Medienereignisses verweist. Um in diesem Sinne die Artikulation des Medienereignisses Zindler/Maschendrahtzaun angemessen zu theoretisieren bietet es sich nochmals an, Fiskes Unterscheidung zweier Ökonomien elektronischer Medien aufzugreifen, diese allerdings umfassend zu erweitern. Geht man wie bereits herausgestrichen grundlegend davon aus, dass Aufmerksamkeit wie auch Vergnügen Rezeptionskategorien sind, so gelangt man zu folgendem Schema:23
Abbildung 2
Artikulationszusammenhang eines populären Medienevents
Insgesamt macht eine solche Visualisierung dreierlei deutlich: (1.) Aufmerksamkeit entsteht nicht unabhängig von Bedeutung und Vergnügen, d. h. nur wenn hinreichend viele Rezipierende Angeboten der Medien Bedeutungen abgewinnen können und sich an ihnen vergnügen, bringen sie diesen gegenüber eine Aufmerksamkeit auf. (2.) Aufmerksamkeit ist zwar eine Kategorie der kulturellen Aneignung der Rezipierenden, jedoch weniger auf individuelle Rezipierende denn auf Publika bezogen. Das heißt eine bemerkenswerte Aufmerksamkeit entsteht erst, wenn verschiedene Interpretationsgemeinschaften von Rezipierenden einen bestimmten (Alltags-) Star 23 In der Grundanalge orientiert sich das Schema an der Differenzierung von nanzieller und kultureller Ökonomie bei John Fiske (1989). Sie geht allerdings über dessen Unterscheidung insofern hinaus, als diese zwei Bereiche nicht als eigenständige ‚Sphären‘ gedacht werden, sondern als wechselseitig aufeinander gerichtete Bereiche von kultureller Produktion und Aneignung. Ebenso wird in das Schema der Bereich der Aufmerksamkeitsgenese einbezogen und der Prozess der kulturellen Aneignung weiter differenziert.
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fokussieren. (3.) Aufmerksamkeit kann nicht 1 : 1 in Beziehung gesetzt werden mit dem Verkauf von ‚Publikum‘ an die Werbekunden als in Einschaltquoten gemessene Zuwendung. So sind es eben soziokulturell lokalisierte Publika, die bemerkenswerte Aufmerksamkeit stiften, und nicht das per Quote gemessene Publikum. Ebenso ist der ‚Konsument‘ von Aufmerksamkeit keinesfalls das Programm eines Senders an sich, sondern der (Alltags-) Star, dem gegenüber eine allgemeine Aufmerksamkeit aufgebracht wird, die das Medienereignis entstehen lässt. Dabei darf wie gesagt nicht außer Acht gelassen werden, dass die Aufmerksamkeit, die die Rezipierenden einem Alltagsstar widmen, von den Bedeutungen und Vergnügungen abhängt, die dieser ihnen vermittelt. Und diese sind nicht einfach durch die Produktivität der in einzelnen Interpretationsgemeinschaften lokalisierten Rezipierenden bestimmt, sondern ebenso durch den weiteren Diskurs in dem der Alltagsstar lokalisiert ist. Insofern erscheint eine differenzierte Betrachtung des Diskurses als Kontext des Medienevents unabdingbar, um dieses in seiner Gesamtheit einschätzen zu können. Dies soll im Weiteren geleistet werden.
4
Der Diskurs des Medienevents: Normalismus und die Konstruktion eines Alltagsstars
Befragt man die Medienschaffenden dahingehend, was Zindler/Maschendrahtzaun letztlich zu einem populären Medienereignis gemacht hat, so ist deren Rationalisierung eindeutig: Zindler wurde von den Rezipierenden zum (Alltags-)Star gemacht. Michael Bockheim meint hierzu, „wenn jemand gekommen wäre mit diesem Zindler-Drehbuch der wäre von allen Sendern abgequatscht worden […] so was […] über einen Promi das wär’ nicht nachvollziehbar Regina Zindler war irgendwie halt wie aus dem nichts kommend dockte sie bei allen Privatmedien an und verließ die als Star […] Popdiva im rosafarbenen Kampfanzug.“ Martin Pack charakterisiert sie ganz ähnlich als „Kultstar, eine Rolle, die er wie folgt fasst: es sind Alltagsstars es sind keine richtigen • Stars es ist Kult und für eine Zeit stehen die sozusagen nicht für 15 Minuten im Rampenlicht sondern für einen ganzen Monat im Rampenlicht und sie genießen das und das belastet die Kultstars auch sie haben davon noch sozusagen ihren Effekt und die Zuschauer wie gesagt sehen’s gern sie wollen alles wissen weil sie plötzlich ganz nah dran sind weil sie plötzlich jemanden haben der Kult ist das könnte mir auch passieren das ist vielleicht der Effekt“. Versucht man, solche Äußerungen von Medienschaffenden zu systematisieren, so rationalisieren sie in der Beschreibung von Zindler als Alltagsstar zumindest zwei allgemeine Entwicklungstendenzen der aktuellen Populär- und Medienkultur, nämlich erstens eine zunehmende ‚außeralltägliche Veralltäglichung‘ des Star-
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tums durch den Alltagsstar, zweitens eine Tendenz zur möglichst authentischen Thematisierung der Grenzen alltäglicher Normalität. In seiner Auseinandersetzung mit dem Startum weist Werner Faulstich auf Probleme der Denition des Ausdrucks ‚Star‘ hin. Diese ergeben sich – und genau dies klingt in den Statements der befragten Medienschaffenden an – dadurch, dass Star ein relationaler Begriff ist. Ein Star wird, wie es Faulstich formuliert, „gemacht – nicht durch Werbung, Kommerz, Religion, Psychologie oder Marketingstrategien, sondern durch uns: die Fans“ (Faulstich 2000: 295). Die Beziehung zwischen Star und Rezipierenden ist also wechselseitig. Ebenso wie die Rezipierenden auf die Medienprodukte der Medienschaffenden als Angebote für die Kristallisation eines Stars angewiesen sind, sind die Medienschaffenden auf die Aufmerksamkeit der Rezipierenden angewiesen, die erst einen Star generiert. Im Kern kann der Begriff Star vielleicht anhand von drei Schlagwörtern gefasst werden, wie Werner Faulstich herausstreicht, nämlich Leistung, Image und Kontinuität. Stars erfüllen eine spezische, soziokulturelle Leistung für ebenso spezische Publika, haben ein spezisches, inszeniertes Image und setzen die Kontinuität der Aufmerksamkeit von Rezipierenden voraus. Dabei ist die Beziehung von Star und Rezipierenden als ein spannungsreiches Wechselverhältnis von Nähe und Distanz zu charakterisieren. Der Star ist wie es Peter Ludes nennt für die Rezipierenden „personalisierte Außeralltäglichkeit“ (Ludes 1997: 88). Stars können nicht einfach Dinge, es handelt sich bei ihnen vielmehr um Personen mit einer ihnen spezischen (medial inszenierten) Individualität, und es ist diese Personalisierung von bestimmten Bedeutungen, die die Rezipierenden reizt. Entsprechend werden Stars stets als ‚einer von uns‘ konstruiert, im Sinne einer prinzipiellen Zugehörigkeit zu ‚uns Menschen‘. Gleichzeitig wird dem Star aber eine hiervon abweichende Außeralltäglichkeit zugesprochen, der „Star ist die Inszenierung des Außerordentlichen, des Elitären, des Unerhörten“ (Faulstich 2000: 299). Er ist derjenige, der die alltägliche Norm überschreitet, letztlich aber um sie als soziokulturell existente Grenze zu bestätigen. In diesem Sinne ist der Star die prototypische Verkörperung der obersten Gruppenwerte und -normen. Es fällt auf, dass das, was hier als Alltagsstar bezeichnet wird, sich nicht bruchlos in diese Vorüberlegungen zu einer Theorie des Stars von Werner Faulstich einordnet. Alltagsstars erfüllen zwar auch wie die von Faulstich theoretisierten Stars spezische Leistungen und haben ein klar umrissenes Image, jedoch haben sie nicht die Kontinuität von anderen aus den Medien bekannten Stars: Sie sind Star nur für einen sehr beschränkten Zeitraum von wenigen Wochen oder Monaten, um dann wieder im Nichts zu verschwinden.24 Auch lassen sie sich nicht als eine 24 Dass Alltagsstars sich nicht einfach unter die Rubrik „Sternchen“ im Sinne von Faulstich subsumieren lassen, ist dadurch zu erklären, dass sie in den Monaten ihres Startums eine Aufmerksamkeit genießen, wie ansonsten nur „Superstars“.
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personalisierte Außeralltäglichkeit fassen, sondern sind vielmehr eine Art von außeralltäglicher Veralltäglichung. So sind aktuelle Alltagsstars des Fernsehens in dem Sinne außeralltäglich, als ihr Starstatus sie über das alltägliche Leben erhebt. Gleichzeitig bleiben sie in dem Sinne in einer Alltäglichkeit verhaftet, dass ihre Inszenierung als Star auf ihre Authentizität und Normalität fokussiert ist.25 Wenn man so will, ist der Alltagsstar einer von uns, der kurzzeitig zum Star wird, weil wir es wollen. Hierdurch wird der Alltagsstar zum herausragenden Erlebniskern von populären Medienereignissen. Dies macht bezogen auf Alltagsstars auch eine Re-Interpretation desselben notwendig, was Werner Faulstich als „Kultstatus“ (Faulstich 2000: 299) von Stars bezeichnet. Faulstich begreift diesen Kultstatus als eine Phase in der Starkarriere, in der der Star sich zurück zieht. In gewissem Sinne kann man diesen Rückzug als eine Re-Veralltäglichung des Stars begreifen: Er gliedert sich hierdurch wieder in das alltägliche Leben ein, allerdings ohne seinen Starstatus vollkommen zu verlieren, weil nach wie vor eine hinreichende Zahl von Personen ihm bzw. seinem vergangenen Starbild Aufmerksamkeit widmen. Hierdurch wird er zum Kult. Ähnlich wird auch von den Medienschaffenden in Bezug auf Alltagsstars von einem Kultstatus gesprochen, sicherlich nicht zu Unrecht. Auch hier sind die Stars ja ‚veralltäglicht‘, aber nicht im Sinne eine ReVeralltäglichung als Phase der Starkarriere, sondern im Sinne einer spezischen Karriere als Alltagsstar, die sich nie von ihrer alltäglichen Lokalisierung löst: Der Alltagsstar ist als Mediatisierung einer ‚authentischen Person‘ des Alltags Kultstar, ein Prozess, in dem Alltagsstars zu außeralltäglichen Ereignissen – zum Erlebniskern von populären Medienereignissen – werden, ohne den Rückbezug zum Alltäglichen zu verlieren. Dies verweist direkt auf die zweite Kontextualisierung, die notwendig erscheint, um die diskursive Konstruktion von Regina Zindler als Alltagsstar zu fassen, nämlich die Lokalisierung von Alltagsstars in weitergehende Diskurse des Normalismus. Jürgen Link hat die verschiedenen Weisen der diskursiven Produktion von Normalität in Anlehnung an Michel Foucault als „Normalismus“ bezeichnet (vgl. Link 1997). Beim Normalismus handelt es sich um eine diskursive Strategie, einzelnen Subjekten einer kulturell differenzierten Gesellschaft einen Orientierungsrahmen durch die Konstruktion „symbolischer Landschaften“ zu 25 In gewissem Sinne können Fernsehstars generell als Vorläufer von Alltagsstars begriffen werden. Wie John Fiske in Anschluss an die Arbeiten von Dyer 1987 und Bennett/Woollacott 1987 herausarbeitet, ist der Star des Fernsehens insbesondere Star serieller Genres und nicht wie im Film einzelner, herausragender Werke. Dieser Fernsehstar ist allein durch die zeitliche Struktur serieller Genres durch eine gewisse Annäherung an den Alltag gekennzeichnet: Serien greifen primär Themen des Alltags auf, auch wenn sie diese mittels eines emotionalen Realismus in artizelle Welten transferieren (vgl. Ang 1986), und werden parallel zur Alltagszeit erzählt. Der Schritt, auch Personen des Alltags selbst als Star zu inszenieren, ist hier nicht weit entfernt, insbesondere wenn man die zunehmende Verbreitung von Formaten wie Daily Soaps in Betracht zieht.
Stefan Raab, Regina Zindler und der Maschendrahtzaun
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bieten, der es ermöglicht, die eigene „Normalität“ und „Abweichung“ zu verorten. Entsprechend bietet der Normalismus aus subjektiver Perspektive auch in differenzierten und pluralistischen Gesellschaften die Sicherheit einer Orientierung. Die Leistung der Medien bei der Konstruktion solcher diskursiver Landschaften ist es, durch „typische Charaktere“ (Link 1997: 338) die Grenzen von Normalität abzustecken. Und genau hierfür scheinen – betrachtet man die aktuelle Entwicklung von Populärkultur – Alltagsstars geradezu prädestiniert. Alltagsstars wie Regina Zindler stehen also in Beziehung mit dem Diskurs des Normalismus. Auf einer ersten Ebene entstammen sie dem Alltag selbst und damit der ‚Welt des (scheinbar) Normalen‘: Sie sind – wie es Schulte-Richtering formuliert – kleine Leute, die man anfassen kann und entsprechend dem Zentrum dessen entsprungen, was man alltägliche Normalität bezeichnen kann. Auf einer zweiten Ebene verlassen sie aber diese ‚Normalitätszentren‘ des Alltags, einerseits durch ihr ‚anormales‘ Starsein selbst, andererseits durch besondere Eigenschaften, die die Voraussetzung ihrer Inszenierung als Alltagsstar sind. Im Falle Regina Zindlers sind dies die ihr zugesprochene Starrheit, Unversöhnlichkeit und Einfachheit, die den eigentlich ‚normalen‘ Nachbarschaftsstreit zwischen ihr und Trommer zum ‚anormalen‘ Kuriosum machen. Das wird deutlich, wenn man die Konstruktion des Alltagsstars Regina Zindler in den Medien näher betrachtet.
4.1
Fernsehberichte über den Alltagsstar: Reality Soap und doppelte Anormalität
An der Fernsehberichterstattung des Medienereignisses Zindler/Maschendrahtzaun waren zwischen November 1999 und April 2000 insbesondere die Sender SAT.1 (BLITZ, AKTE 99, GUTEN A BEND DEUTSCHLAND, FRÜHSTÜCKSFERNSEHEN, Stern TV), RTL (EXPLOSIV, PUNKT 12, LIFE LUST ZU LEBEN), Pro7 (TV TOTAL, TAFF und S.A.M.) und der MDR (SUPER ILLU TV) beteiligt.26 Die Übersicht der Verteilung von Fernsehberichten über Regina Zindler/Maschendrahtzaun im oben genannten Zeitraum (vgl. Abbildung 3) verweist dabei auf unterschiedliche Häugkeiten von Beiträgen in den bereits herausgestrichenen Phasen des Medienereignisses. Eine geringere Zahl von Beiträgen ndet sich in der Frühphase des Medienereignisses (vom Zindler-Auftritt bei Richterin Salesch am 28. Oktober 1999 über das Aufgreifen bei TV TOTAL bis zum Erfolg der CD „Maschen-Draht-Zaun“), die Mehrzahl der 26 Insgesamt liegt der weiteren Argumentation eine qualitativ-inhaltsanalytische Auswertung von 73 Beiträgen zu dem Medienereignis zugrunde, die von der Redaktion TV TOTAL aufgezeichnet und archiviert wurden. Auch wenn es der Fall sein kann, dass möglicherweise einige kürzere Berichte zu dem Medienereignis in diesem Korpus nicht enthalten sind, so wird doch davon ausgegangen, die wichtigsten Beiträge erfasst zu haben.
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Andreas Hepp
Beiträge in der Hochphase des Events (Mitte Dezember 1999 bis Februar 2000) und wiederum eine nur geringe Zahl von Beiträgen in der Auslaufphase (ab März 2000). Diesen einzelnen Phasen entsprechen – wenn auch nicht 100 % deckungsgleich – Typen der Berichterstattung über das Medienereignis, bei denen Regina Zindler als Alltagsstar jeweils unterschiedlich konstruiert wird (vgl. Tabelle 3).
Abbildung 3
Verteilung der Fernsehberichte 12.11.1999–17.4.2000
In der Entstehungsphase des Medienereignisses dominiert eine Kuriositätsberichterstattung, die sich ausgehend von dem Erfolg von Stefan Raab mit der Single „Maschen-Draht-Zaun“ mit Regina Zindler als Kuriosum auseinandersetzt. Die Präsentation Zindlers geschieht dabei über die verschiedenen Beiträge hinweg relativ einheitlich: Man führt Zindler mit starkem Rückbezug auf den CDErfolg „Maschen-Draht-Zaun“ von Raab ein und bedient dabei das Stereotyp der Streitlustigen. Die Rekonstruktion der Medienkarriere von Regina Zindler erfolgt stark ironisierend, wobei man Zindler mit Spottnamen belegt. Wie diese Präsentation der Kuriositätsberichterstattung im Detail vonstatten geht, macht exemplarisch der Beitrag über Regina Zindler vom 15.11.1999 in S.A.M. (Pro7) deutlich. Hier wird Zindler bereits mit dem auch in der späteren Berichterstattung noch häug verwendeten Spottnamen „Zaunkönigin“ eingeführt. Auch wenn man sie (noch) nicht kennt, so sei doch das Wort bekannt, „mit dem die Hausfrau aus Sachsen reich und berühmt wurde“, nämlich Maschendrahtzaun. Diese ironisierende Darstellung durchzieht den gesamten Beitrag, der das Stereotyp der Streitlustigen sofort bedient, wenn zur Vorstellung von Zindler eine Sequenz mit einem Streit-
Stefan Raab, Regina Zindler und der Maschendrahtzaun
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gespräch zwischen ihr und Trommer am Zaun gezeigt wird. Diese Streitsequenz wird als Kern eines ‚märchenhaften Konikts‘ präsentiert, wenn hier von „unseren Helden“ gesprochen wird. Entsprechend erscheint auch die weitere Entstehung des Medienereignisses als ‚paradox-märchenhaft‘: Es war zugleich „ein Skandal und ein Erfolg“, wenn aus Zindlers Aussprache der Wörter Maschendrahtzaun und Knallerbsenstrauch „die wesentlichen Zutaten für den jüngsten Gassenhauer eines gewissen Herrn Raab“ wurden. Der in dem S.A.M.-Beitrag ebenfalls in einem Ausschnitt eingeblendete Auftritt Zindlers bei Richterin Barabara Salesch machte sie so zum Popstar, auch wenn sie lieber nicht reich geworden wäre, sondern bei dem Fernsehgericht Recht bekommen hätte. Diese umfassende Fixiertheit Zindlers auf das Recht-Bekommen wird in dem Beitrag abschließend inszeniert, indem Zindler mit der Aussage ihres Streitgegners Trommer konfrontiert wird, es wäre nicht schlecht, wenn er etwas von der Scheibe des Gewinns an dem Raab-Lied abbekommen hätte, wobei allerdings sein Trost sei, dass Zindler „zum Gespött der Nation“ geworden ist. Hierauf reagiert Zindler wiederum aufgebracht, wenn sie äußert „jetzt auch noch ne Bedeilichung zu verlangen • das das nd ich eine ganz große Unverschämdheit […] also ich nde nich • dass ich der Depp der Nation bin“. Weitere Perspektiven des Medienereignisses werden in dem Beitrag thematisiert, wenn er mit dem Off-Kommentar abgeschlossen wird, dass Zindler „noch mehr Sprachschätze [hat] die hitverdächtig sind“.
Entstehungsphase: Thematisierung der doppelten Anormalität
Zeitraum
Typ der Berichterstattung
Oktober
Kuriositätsberichterstattung
Strategien der Präsentation Zindlers (RZ) -
November
-
Dezember
-
Hochphase:
Dezember
Kompetitive Berichterstattung
-
Aushandlung der Normalitätsgrenze
Januar
-
Februar
-
Einführung mit starkem Rückbezug auf das Lied von Raab Bedienung des Stereotyps der Streitlustigen Ironisierende Rekonstruktion der Medienkarriere von RZ Belegung von RZ mit Spottnamen Konstruktion eines anhaltenden Konikt- und Erlebnisraums um RZ Fokus auf Umgang RZs mit dem Medienereignis Differenzierung der Darstellung Zindlers je nach Sender RZ wird zunehmend Star einer Alltags-Soap
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Andreas Hepp Starberichterstattung
-
Auslaufphase:
März
Chiffre von Normalität
April
Tabelle 3
Kurzverweise
-
RZ wird ironisierend aber professionell als Star präsentiert Für RZ bestehen Räume zur Selbstdarstellung Starrolle wird über aktuellen Konikt hinaus behandelt RZ wird als Bedeutungschiffre thematisiert
Typische Formen der Berichterstattung über das Medienereignis
Diese Skizze des exemplarischen S.A.M.-Beitrags macht deutlich, worauf die Kuriositätsberichterstattung in der Entstehungsphase des Medienereignisses fokussiert ist: Die Kuriosität im Sinne einer doppelten Anormalität ist darin zu sehen, dass eine gewöhnliche Person einerseits durch ihre Aussprache der Wörter Maschendrahtzaun und Knallerbsenstrauch in einem Fernsehauftritt zum Popstar werden konnte. Andererseits besteht eine ‚Anormalität‘ von Zindler selbst, die in der Unversöhnlichkeit, Starrheit und Einfachheit ihres Auftretens zu sehen ist. Dabei macht das Beispiel des S.A.M.-Berichts – in Vorgriff auf die kompetitive Berichterstattung – deutlich, dass diese ‚Anormalität‘ als solche inszeniert ist: Das Stereotyp der Streitlustigen wird dadurch bedient, dass neuer Streit provoziert wird, nämlich ein Konikt zwischen Trommer und Zindler um die Frage, ob ersterer an dem Gewinn beteiligt werden sollte oder nicht. Die in dem Interview angeregte Antwort wurde Zindler zugespielt und damit der aggressive Wortausbruch Zindlers provoziert. Dies macht deutlich, dass sich Regina Zindler geradezu als einer der „RandCharaktere“ (Link 1997: 338) anbietet, die die imaginäre Grenze des Normalen markieren, Dabei scheinen die beiden Pole der doppelten Anormalität von Zindler in der Kuriositätsberichterstattung wechselseitig aufeinander bezogen zu sein: Ihre negativ markierte Anormalität der Unversöhnlichkeit hat durch einen – sicherlich auch nicht ‚normalen‘ Glücksfall – sie zu einer gewissermaßen positiv konnotierten Anormalität gebracht, nämlich die des schnell reich gewordenen „Popstars“. Hierdurch verbindet Zindler die beiden Gruppen von typischen Charakteren miteinander, auf deren Basis Normalismus im medialen Diskurs verhandelt wird: die „Minderheiten mit hoher funktional erhöhter Risikobereitschaft“ (Link 1997: 338) wie Manager, Playboys, Spezialpolizisten, Politiker oder Künstler, und die einfach „Abnormale[n]“ (Link 1997: 338) wie Kriminelle, Neurotiker oder krankhaft Streitsüchtigen. Während charakteristischerweise der Wechsel von
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einer Gruppe zur anderen von der ‚Positivgruppe‘ aus gedacht wird – Jürgen Link nennt hier das Beispiel des Kriminellen als durchgedrehten Manager – ist für die diskursive Konstruktion von Regina Zindler in der Medienberichterstattung ein anderer Wechsel kennzeichnend: Die durch ihre Unversöhnlichkeit Anormale wird durch einen Medienauftritt zum (Alltags-)Star. Trotz prinzipieller positiver Einordnung von Startum bleibt in diesem Fall allerdings die grundlegende ‚Negativmarkierung‘ erhalten,27 ein zusätzlicher Aspekt, weswegen ihr Stardasein eben das des Alltagsstars und sie somit ein Kuriosum bleibt. Die Tendenz, den Gegenstand, über den berichtet wird, nachhaltig zu inszenieren, dominiert insbesondere die kompetitive Berichterstattung in der Hochphase des Medienereignisses. Diese steht im Kontext der Rezipienten-Aktivitäten vor dem Haus von Regina Zindler: Angeregt durch die Berichterstattung über Zindler fährt eine zunehmende Zahl von Personen zu ihrem Wohnort, um sich dort von der Authentizität des Geschehens zu überzeugen und damit gleichzeitig Gegenstand der medialen Inszenierung zu werden. Diese in der Fernsehberichterstattung so dargestellten ‚Fan-Aktivitäten‘ müssen wiederum in Bezug auf die Artikulation eines anhaltenden Konikt- und Erlebnisraums um Regina Zindler durch die Teams der beiden Sender RTL und SAT.1 gesehen werden. Diese Artikulation zielt – wie die Analysen der Produzenteninterviews gezeigt haben – strategisch darauf, jeweils exklusive Inhalte der Berichterstattung zu sichern und ist so kompetitiv gegen den jeweils anderen Sender gerichtet. Damit einher geht ein Fokus auf Regina Zindlers Umgang mit aktuellen Konikten und dem Medienereignis selbst. Die Berichterstattung über das Medienereignis ist so als Inszenierung zirkulär, d. h. das Geschehen, über das berichtet wird, verschwimmt mit den selbstinduzierten Folgen der Berichterstattung, die wiederum Gegenstand der weiteren Berichterstattung werden. Insgesamt zeichnet sich dabei eine zunehmende Differenzierung der Darstellung Zindlers je nach Sender ab, die sich durch einen unterschiedlichen Zugang zu Regina Zindler ergibt: Während RTL durch den direkten Zugang zu Zindler zunehmend die Geschehnisse aus personaler Perspektive der inszenierten Figur – nicht realen Person – Regina Zindler darstellt, übernimmt SAT.1 eher die Perspektive der Koniktgegner von Regina Zindler – wiederum als Figuren inszeniert. Gemeinsam ist beiden Sendern aber, dass der Inszenierungsaufwand ihrer Berichterstattung zunimmt. Besonders deutlich wird dies an der bereits diskutierten doppelten ‚Schenkung‘ eines neuen Zauns zwischen den Grundstücken der Streitparteien. Beide Sender treiben hier das Geschehen um den Maschendrahtzaun weiter voran und konstruieren so unterschiedliche ‚Gegenstände‘ der
27 Gerade das belegen die in der Kuriositätsberichterstattung immer wieder auftauchenden ironisierenden Spottnamen wie „Zaunkönigin“, durch die die ‚doppelte Abweichung‘ Zindlers von Normalitätserwartungen im Diskurs des Humors verhandelbar wird.
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Berichterstattung. So berichtet RTL GUTEN A BEND DEUTSCHLAND am 4.1.2000 Folgendes aus Auerbach: „die Souvenirjäger aus der Nacht haben anscheinend verpasst • den Original-Maschendrahtzaun zu erwerben der gestern von RTL • Radio PSR und der Chemnitzer Morgenpost auf dem Auerbacher Neumarkt zugunsten von Amnesty International verkauft wurde •• über zweihundert Stücke aus dem Zaun gingen reisend weg und brachten gut dreitausend Mark •• währenddessen wurde bei Regina Zindler ein neuer Zaun von RTL errichtet • doch • sie hatte schon so eine Vorahnung“
Einen Tag später stellt SAT.1 BLITZ wie folgt die Geschehnisse in Auerbach dar: Sprecherin: R. Zindler: Sprecherin: H. J. Zindler: Sprecherin:
R. Zindler: Trommer: R. Zindler: Sprecherin:
wir erinnern uns • gestern morgen Entsetzen in Auerbach •• der schöne neue Maschendrohdzaun von Regina Zindler zerstört • zerschnitten • geschändet • wir haben es ihnen gezeigt • rücksichtslose Souvenirjäger waren am Werk wer macht sowas als der üble Frevel entdeckt wird • ist der ärger groß • wieder ein mal • für Regina Zindler sind die Schuldigen schnell gefunden • es sind die üblichen Verdächtigen sie haben überhaubt kei • kei Anstandsgfühl • überhaubt kei Anstandsgefühl in Menschen gechenüber ja des sie ma Sachen ne woll me de Leutn ma n gfalln dun woll me ma gude Nachbarn sein •• des geht gar net in ihrn Gehirn rein aber kurze Zeit später haben sich die Wogen geglättet • BLITZ • hat einen Spender für einen neuen Zaun gefunden
Die Differenz der beiden Berichterstattungen ist ebenso offensichtlich wie ihre Gemeinsamkeit: Während SAT.1 überhaupt nicht darüber berichtet, dass der ‚neue Zaun‘ von Regina Zindler bereits durch die Spende eines anderen Fernsehsenders zustande gekommen ist, bedient sich der Sender nach der zweiten Zerstörung eines neuen Zauns der Idee von RTL, nur dass die Spende diesmal nicht an Regina Zindler sondern an ihren Nachbar Trommer geht. Sowohl RTL als auch SAT.1 versuchen also durch das Schaffen ständig neuer ‚Mini-Events‘ das Geschehen vor dem Haus von Regina Zindler und damit das Medienereignis als Gesamt am Laufen zu halten. Hierbei bedienen sich die beiden Sender durchaus aus den Medien bekannter Erzählmuster, was letztlich in der Inszenierung einer Reality-Soap des Normalismus
Stefan Raab, Regina Zindler und der Maschendrahtzaun
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unter der Beteiligung zweier Sender kumuliert.28 Die Rahmung der kompetitiven Berichterstattung aus Auerbach als Soap leisten die Sender selbst, wenn sie ihre Beiträge – wie es im oben bereits zitierten SAT.1 BLITZ-Beitrag der Fall ist – als ein „Schauspiel […] wie aus einer Seifenoper“ einleiten, die Beteiligten als Helden bezeichnen und das Set als die für eine Soap typische Nachbarschaft fassen. Aus dem ‚paradox-märchenhaften Konikt‘ der Kuriositätsberichterstattung ist so der strukturierte Handlungszusammenhang einer Seifenoper geworden. Der unterschiedliche Zugang der beiden kompetitiv berichtenden Sender RTL und SAT.1 zu den Akteuren kumuliert im Verlauf der Hochphase des Medienereignisses zunehmend in zwei unterschiedlichen Handlungssträngen der Reality-Soap: Während SAT.1 primär den Handlungsstrang der Geschehnisse um die Nachbarschaft und vor dem Haus der Zindlers erzählt, erzählt RTL primär den Handlungsstrang der Flucht Zindlers vor ihren ‚Fans‘ nach Paris. Beide Handlungsstränge sind insofern ineinander verwoben, als Zindler von Paris aus ihre ‚Fans‘ zur Zurückhaltung ermahnt oder aber Trommer – ebenfalls auf einer Kurzreise nach Berlin – Regina Zindler via Fernsehen ein Friedensangebot unterbreitet und zu Hause den Knallerbsenstrauch versetzt. Letztendlich kann man diese zunehmende Zubewegung der Sender auf ein bekanntes Erzählmuster der Populärkultur als einen Prozess der populären Ästhetisierung des Medienereignisses begreifen, bei dem das gesamte Geschehen an Textualität gewinnt. Regina Zindler wird in diesem Prozess zunehmend auf einer zweiten Ebene Alltagsstar, nämlich nicht mehr nur der Alltagsstar des Lieds von Stefan Raab, sondern darüber hinaus Alltagsstar einer – wenn man es so will – eigenen Reality-Soap um die Geschehnisse in ihrer Nachbarschaft. Auch diese Reality Soap entfaltet ihr Bedeutungspotenzial im Rahmen des Diskurses des Normalismus. Im weitesten Sinne geht es um die Verhandlung der Abnormalität von Zindler auf der einen Seite und gleichzeitig um eine Normalisierung Zindlers auf der anderen Seite – jeweils in der Zuordnung zu einem Handlungsstrang. Die Berichterstattung aus Auerbach fokussiert die Abnormalität Zindlers selbst, die sie in ihrer unmittelbaren alltäglichen Nachbarschaft zur Außenseiterin im Sinne eines typischen Charakters normalistischer Abgrenzung macht. Zindler wird über die Berichterstattung hinaus durch ihre Wutausbrüche als langjährige Außenseiterin konstruiert, ebenso wie ihre gegenwärtige Alltagsstarrolle sie zur Außenseiterin macht. Insofern markiert sie doppelt die Grenze von Normalität in Auerbach. Ein ganz anderer Normalismus ist für den Handlungsstrang der Flucht aus Auerbach kennzeichnend. Hier wird versucht, die ‚normalen Seiten‘ von 28 Zur zunehmenden Hybridisierung der Formate von Reality Show, Daily Talk und Soaps vgl. die Beiträge im Texte Sonderheft 3 der Zeitschrift medien praktisch, insbesondere die Beiträge von Mikos 2000, Göttlich 2000 und Winter 2000. Dass auch die Inszenierungsstrategien von Big Brother im Format der Reality Soap kumulieren, zeigen Mikos et al. in ihrer Studie zu der Sendung (vgl. Mikos et al. 2000: 101–104).
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Regina Zindler aufzunden, d. h. ein Bild von ihr zu konstruieren, das sie nicht nur deshalb als Alltagsstar präsentiert, weil sie durch einen alltäglichen Konikt zum Star wurde, sondern selbst als Star ein ‚normaler‘ Mensch mit ‚normalen‘ Wünschen (Ruhe, Orientierung, Erholung, etc.) geblieben ist. Auch wenn die beiden Handlungsstränge der Reality Soap also in vollkommen unterschiedliche Richtungen zu zielen scheinen, so ist ihnen doch ihre Einbettung in den Diskurs des Normalismus gemeinsam. In diesem Diskursrahmen ist auch die in der Hochphase des Medienereignisses einsetzende Starberichterstattung zu sehen. Diese kennzeichnet all solche Medienbeiträge, die sich mit dem Startum Zindlers selbst auseinandersetzen. Regina Zindler wird dabei ironisierend aber professionell als Star präsentiert, wobei für sie beschränkte Räume zur Selbstdarstellung bestehen. Ein Beispiel für eine solche Starberichterstattung ist das Regina Zindler-Interview von Günther Jauch in Stern TV (SAT.1). Jauch begrüßt Zindler hier mit einer bei Star-Interviews sehr phrasenhaften, sicherlich nur ironisch zu verstehenden Formulierung – „dass ich das noch erleben darf dass ich sie hier treffe“. Scheinbar lässt das Geschehen um den Alltagsstar für Jauch kaum eine andere Auseinandersetzung mit Zindler denn eine ironische zu. Umgekehrt bedient sich Jauch aber durchaus gängiger Muster von Star-Interviews, wenn er Regina Zindler mir einer relativ offenen Einstiegsfrage – „wie gefällt ihnen das was die ganze Zeit um sie herum passiert“ – die Möglichkeit der Selbstdarstellung gibt. Zwar fragt er bei einzelnen Antworten konfrontativ nach, treibt sie aber in keiner Phase des Interviews gänzlich in die Enge. Dies trifft selbst bei solchen Stellen zu, an denen die Äußerungen Zindlers in hohem Maße kompromittierend sind, beispielsweise wenn sie Jauch bejahend antwortet, sie sei eine Rapperin. Für Regina Zindler besteht im Rahmen der Starberichterstattung also ein gewisser Raum zur Selbstdarstellung, wenn sie die paradoxen Grundanforderungen an ihre Rolle als Alltagsstar erfüllt: Sie muss mit ihrem Auftritt ihre Anormalität ‚authentisch‘ unter Beweis stellen, also deutlich machen, dass sie über das Normale hinausgehend unversöhnlich, starr und einfach ist – und trotzdem eine Person des ‚normalen‘ Alltags bleibt. Es geht also um eine Inszenierung von ‚normaler Anormalität‘. Ein solches Spannungsverhältnis zwischen professionellem Umgang einerseits und Ironisierung andererseits ist auch für die weiteren Starberichte über Regina Zindler in der Hochphase des Medienereignisses kennzeichnend. Hier lässt sich mit der Promotion der CD von Regina Zindler und den Knallerbsen eine partielle Professionalisierung des Auftretens von Zindler ausmachen. Mit dieser Professionalisierung scheint aber auch das Ende von Regina Zindler als Alltagsstar einher zu gehen: Mit den Berichten über die Aufnahmen zu dem Lied „Frieden am Zaun“ und der damit verbundenen Promotion tritt die Spezik von Regina Zindler als Alltagsstar in den Hintergrund – sie droht zum Star im eigentlichen
Stefan Raab, Regina Zindler und der Maschendrahtzaun
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Sinn des Wortes zu werden. Mit diesem Relevanzverlust von Zindler als semiotischer Ressource im Rahmen eines Diskurses des Normalismus zeichnet sich auch das Ende des Medienereignisses ab. Selbst weitere Entgleisungen Zindlers wie bei einem Konzertauftritt können dies nicht wieder rückgängig machen.29 Dies trifft auch für die weiteren, eher wieder das Handlungsgeschehen in Auerbach in den Mittelpunkt rückenden Berichte zu (beispielsweise über die Anzeige von Regina Zindler wegen Tierquälerei ihres Katers, den Streit um Videoaufnahmen der Nachbarn, Streichung des Arbeitslosengeldes und den Ausug der Zindlers auf eine Kölner Karnevalsveranstaltung). In der Auslaufphase des Medienereignisses nden sich dann zumeist vereinzelte Kurzthematisierungen, in denen auf Regina Zindler Bezug genommen wird. Typische Beispiele für solche Kurzthematisierungen sind ein Vergleich von Angela Merkels politischen Querelen mit dem Nachbarschaftsstreit von Regina Zindler um den Maschendrahtzaun (MDR AKTUELL vom 14.2.2000) oder ein Kurzstatement von Regina Zindler als Expertin in einem Nachbarschaftsstreit. Es genügt hier ein Verweis auf Regina Zindler um zu markieren, dass eine politische Auseinandersetzung die Grenzen des Normalen übersteigt, und ihre Befragung als Expertin reicht, um die Gefahr einer nicht-normalen Eskalation eines Nachbarschaftsstreits zu markieren. Solchen Kurzthematisierungen ist gemeinsam, dass Regina Zindler nicht mehr als Alltagsstar Teil einer diskursiven Auseinandersetzung um einen Normalismus ist, sondern im Prozess dieser Auseinandersetzung ihre Bedeutung so sehr zu einem „Rand-Charakter“ der Denition von Normalitätsgrenzen kondensiert ist, dass die Erwähnung ihrer Person als Chiffre eben dasjenige impliziert, was ihre Anormalität im Kern ausmacht: eine über das Alltägliche hinausgegehende Bereitschaft zum Streit über Alltägliches. Letztlich steht hierfür auch der zu Beginn des Artikels zitierte Verweis auf den Maschendrahtzaun aus dem Jahr 2008.30
29 Bei dieser Entgleisung wird sie ihrer Rolle als Alltagsstar nicht gerecht, da es sich hier um einen öffentlichen Auftritt handelt und nicht den Rahmen der inszenierten Reality Soap. Bei einem solchen Konzertauftritt fordern die Besucher zumindest so viel Professionalität an die Starrolle, dass sie erlebnisrational kalkulierbar unterhalten werden. Die Anormalität des Stars darf also das eigene Erleben nicht einschränken. Gerade dies geschieht aber in den Ausbrüchen Zindlers, die einen Fortgang der musikalischen Präsentation unmöglich machen. 30 In diesem Kontext sind auch Einzelberichte der Auslaufphase des Medienereignisses über die aktuelle Entwicklung des Lebens von Regina Zindler zu sehen: Letztlich dienen sie der Bestätigung des differenzierten Stereotyps der streitlustigen, einfachen Regina Zindler, das sie zu einem „RandCharakter“ macht.
72 4.2
Andreas Hepp Die Presseberichterstattung: Zwischen Starberichterstattung und metamedialer Normalisierungsinstanz
In den von uns ausgewerteten Zeitungen und Zeitschriften31 wurde im Zeitraum vom 19.11.1999 (erster Zeitungsartikel, wobei in der BILD-ZEITUNG der erste Artikel am 29.11. erschien) bis zum 4.10.2000 (letzter erfasster Artikel in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG) in insgesamt 99 Artikeln über das Medienereignis berichtet. Der Kern der Berichterstattung umfasst den Zeitraum vom 19.11. bis zum 30.4.2000. Dabei verteilten sich die einzelnen Artikel wie folgt auf die verschiedenen Zeitungen:
Abbildung 4
Häugkeit der Artikel über Zindler/Maschendrahtzaun
Diese Übersicht macht – ebenso wie die Verteilung der Artikel über den Zeitraum des Medienereignisses (s. u.) – deutlich, dass die Berichterstattung über Zindler/ Maschendrahtzaun nicht nur ein Phänomen der Boulevardpresse gewesen ist, sondern auch etablierte Tages- und Wochenzeitungen bzw. Zeitschriften darüber 31 Die für die Printauswertung herangezogenen Zeitungen und Zeitschriften orientieren sich an der Auswahl, die Medien Tenor (Institut für Medienanalyse und Internetanalyse) für Printauswertungen zugrunde legt. Insgesamt sollte die Auswahl sicher stellen, dass sowohl die überregionale als auch regionale Presse herangezogen wird, und zwar sowohl aus den alten wie aus den neuen Bundesländern.
Stefan Raab, Regina Zindler und der Maschendrahtzaun
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berichtet haben. Insofern hatte – neben dem Fernsehen – die gesamte deutsche Presselandschaft an der Artikulation des Medienereignisses Zindler/Maschendrahtzaun teil. Dabei kann man konstatieren, dass die Berichterstattung der Presse ebenso mit einem Diskurs des Normalismus verwoben ist wie die des Fernsehens. Allerdings ist hierbei die Stellung der Presse eine andere. Betrachtet man die Art und Weise, wie Zindler in der Presseberichterstattung konstruiert wird, so lassen sich über die verschiedenen Artikel hinweg fünf Grundtypen der Konstruktion unterscheiden. Der erste Grundtyp ist eine Konstruktion von Zindler als Opfer, und zwar entweder als ‚Opfer‘ des Fernsehens bzw. der Medien im Speziellen oder aber der (Medien-) Gesellschaft im Allgemeinen. Der Alltagsstar wird insbesondere als durch die mediale Berichterstattung dargestellt vermittelt. Dem gegenüber steht eine Berichterstattung – für die auch der bereits zitierte SUPERILLU-Artikel steht – in der Zindler als ‚Aktive‘ konstruiert wird, die zwar von der Entwicklung des Medienereignisses im positiven Sinne überrascht wurde, diese letztlich aber für sich zu nutzen wusste. Dieser Typ der Berichterstattung über Zindler ist insbesondere gegen Ende der Hochphase des Medienereignisses dominant, in der der Versuch unternommen wird, die allgemeine Aufmerksamkeit dem Alltagsstar gegenüber zu nutzen, um unabhängig von Raab die zweite CD von „Regina Zindler und den Knallerbsen“ zu lancieren. Ein im Kern der Hochphase des Medienereignisses zu lokalisierender Typ der Konstruktion Zindlers ist der der ‚Kultgur‘. Hier interessiert letztlich an Zindler ihr AlltagsstarDasein an sich, d. h. Zindler als Fokus der Aufmerksamkeit einer zunehmenden Zahl von Personen. Ein eher ablehnender Typ der Konstruktion des Alltagsstars ist die Konstruktion von Zindler als ‚negative Person‘, bei der insbesondere die Thematisierung abweichender Züge des Alltagsstars im Mittelpunkt steht, die als ablehnenswert gewertet werden. Einen Schritt weiter noch geht hier der letzte Typ der Konstruktion des Alltagsstars, nämlich der der Darstellung Zindlers als ‚psychisch kranke Person‘. Abweichungen von einer Norm werden hier nicht nur gewertet, sondern darüber hinaus auch pathologisiert. Dass die einzelnen Grundtypen der Konstruktion des Alltagsstars in der Presseberichterstattung weniger in Reinform auftreten, sondern die Darstellung von Zindler in den einzelnen Artikeln zumeist Mischformen der Grundtypen sind, machen insbesondere die Darstellungen von Zindler als psychisch kranker Person deutlich: Letztendlich wird die Frage einer psychischen Krankheit in der Presseberichterstattung primär in Bezug auf eine mögliche Opferrolle behandelt – Zindler wird nach dieser Konstruktion psychisch krank, weil sie die Medien deformiert haben.
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Abbildung 5
Andreas Hepp
Verteilung der Artikel über Zindler/Maschendrahtzaun 29.11.1999–4.10.2000
Betrachtet man die Presseberichterstattung über eine solche Unterscheidung von Grundtypen der Konstruktion von Zindler hinaus, so erscheint es sinnvoll, die Artikel nach ihrer Gattungs-Zugehörigkeit in zwei Gruppen zu differenzieren. Neben längeren Kommentaren über das Medienereignis sind dies kürzere Meldungen und Artikel, in denen über das aktuelle Geschehen um Regina Zindler berichtet wird. Grundlegend sind letztere Artikel – ähnlich wie ein Teil der Fernsehberichterstattung auch – primär als eine spezische Form der (Alltags-) Starberichterstattung um Regina Zindler zu begreifen, d. h. sie setzen sich diskursiv mit Regina Zindler als Alltagsstar selbst auseinander. Dabei wird Zindler ironisierend als (Alltags-)Star selbst präsentiert und ihr Weg als solcher nachgezeichnet. Die Formen, deren sich die Presseberichterstattung dabei bedient, sind die aus der populären Starberichterstattung allgemein bekannten. Die Deutlichkeit, mit der Regina Zindler als ostdeutscher (Alltags-)Star konstruiert wird, ist sicherlich untypisch, in den weiteren Grundmustern der Starberichterstattung der Hochphase des Medienereignisses aber exemplarisch ist ein Artikel, der am 9.12.1999 in der Boulevard-Zeitschrift SUPER ILLU erschienen ist (vgl. dazu Abbildung 6): Personalisierend wird der Alltagsstar mit einer Kurzcharakteristik seiner Person eingeführt, was als Ausgangspunkt für die Darstellung des aktuellen Verlaufs des Medienereignisses genommen wird, die ebenfalls stark personalisierend geschieht. Kennzeichnend für die Berichterstattung über den Alltagsstar ist darüber hinaus, dass in den Artikeln auf aktuelle Koniktpotenziale verwiesen wird, im Falle des SUPERILLU-Artikels der mögliche „Neid-Effekt“, den die Einnahmen Zindlers durch die Raab-CD bei den Nachbarn auslösen können. Wie gesagt ist die positive Konnotierung des Sächsischen – „p fg, wie Sachsen nun mal sind“ – in dem Artikel eher atypisch und nur durch die spezische Zielgruppe der Zeitschrift
Stefan Raab, Regina Zindler und der Maschendrahtzaun
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SUPERILLU zu erklären,32 bei der Personalisierung der auf den Alltagstar bezogenen Berichterstattung über die Geschehnisse des Medienereignisses und der Betonung des Fortbestehens von Koniktpotenzial handelt es sich jedoch um Muster, die generell für die Starberichterstattung insbesondere der Boulevard-, Lokal- und Regionalpresse charakteristisch sind. Arbeitslose aus Sachsen stürmt Hitparaden Leute – Helden, Verlierer, Aufsteiger, Absteiger Regina Zindler aus Auerbach – Der Song vom „Maschendrooathzauun“ machte Regina Zindler über Nacht berühmt „Das isser, man Maschendrooath-zauun!“ Regina Zindler zeigt auf das berühmte Drahtgeecht und kann gar nicht begreifen, dass alle Welt das gesächselte Wort so ulkig ndet und gleich noch ein Song daraus gemacht wurde. Aber pfg, wie Sachsen nun mal sind, freut sie sich über die Tantiemen, die sie für den Hit bekommt. „Ich wär ja mit der Muffe gepufft, wenn ich ablehnen würde“, sagt die arbeitslose Sekretärin und will in SUPER ILLU gleich alles richtigstellen, was ihr mittlerweile angedichtet wird. „Sonst glauben die Leute tatsächlich, ich bin bald Millionär!“ Angefangen hatte es mit einem Auftritt der streitbaren Frau in der SAT 1-Sendung „Ein Fall für Richterin Barbara Salesch“ am 28.10. Vor Millionen TV-Zuschauern klagte Regina Zindler ihren Gartennachbarn an. Der Grund: sein Knallerbsenstrauch. „Der wuchs über meinen Maschendrooathzauun. Bei Regn wurde dr nass und rostet nu“, beschwerte sie sich im feinsten vogtländischen Sächsisch. Vor dem TV-Gericht zog Regina Zindler zwar den Kürzeren, aber anschließend das große Los. TV-KultModerator Stefan Raab amüsierte sich derart über Regina Zindlers Fernsehauftritt, dass er in seiner Comedy-Show „TV Total“ das Wort „Maschendrooathzauun“ immer und immer wieder einspielte. Seine Studiogäste waren total aus dem Häuschen. Für Ulknudel Raab, der schon „Ö la Palöma Blanca“ zum Hit gemacht hatte, ist Sächsisch nach wir vor kultig. So schrieb er ein Lied mit Reginas „Maschendrooathzauun“-Zitat als Refrain. Die CD mit dem Song wurde bereits in der ersten Woche 250 000-mal verkauft, inzwischen sogar 500 000-mal. Und Regina Zindler war baff, als ihr erster Scheck über 5000 Mark ins Haus atterte – ein Vorschuss, denn für jede verkaufte CD kassiert sie 10 Pfennig Tantieme. „Schön, das Geld kann ich wirklich gebrauchen“, freut sich die Vogtländerin. Mit ihrem Mann HansJoachim (49), einem Schweißer, lebt sie bescheiden im kleinen Häuschen ihrer Mutter. „Wir wurschteln uns durch, sind zufrieden. Vom Geld haben wir einen neuen Elektroherd gekauft. Unser alter war hinüber, hatte schon 22 Jahre auf dem Buckel.“ Der Neid-Effekt. „Manche Leute glauben, ich würde jetzt im Geld schwimmen.“ Sogar der Nachbar mit dem Knallerbsenstrauch meint, er müsste an den Einnahmen beteiligt werden. Regina Zindler: „Es gab auch böse Telefonanrufe. Unglaublich, was da an Unterstellungen hochkocht. Zum Beispiel, ich hätte Stefan Raab einen Rüpel genannt. So’n Quatsch! Ich nde seinen Spott prima. Klar, zunächst war ich sauer, als er meinen ‚Maschendrooathtzauun‘ auf die Schippe nahm. Aber er ist so witzig – er könnte glatt ein Sachse sein.“ SUPER ILLU vom 09.12.1999, Ausgabe 50, S. 86
Abbildung 6
Starberichterstattung in SUPERILLU
32 SUPER ILLU ist zum Zeitpunkt der Untersuchung eines der wenigen Printerzeignisse, die vorrangig den Markt der neuen Bundesländer fokussieren.
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Andreas Hepp
Bereits die Unterscheidung von fünf Grundtypen der Konstruktion von Zindler macht deutlich, inwiefern auch die Presseberichterstattung durch einen Diskurs des Normalismus geprägt ist. So geht es bei dem Thematisierungstyp der ‚negativen Person‘ um die Konstruktion Zindlers als von der Normalität Abweichende, im Fall des Typs der ‚psychisch kranken Person‘ darüber hinaus um eine Konstruktion Zindlers als pathologische Deformierung des Normalen – wie auch immer diese Pathologie zu erklären ist. Wie weit der Diskurs des Normalismus die Print-Berichterstattung prägt, wird aber insbesondere deutlich, wenn man die zweite Gruppe von Artikeln über das Medienereignis näher betrachtet, nämlich die Kommentare. Die kommentierende Berichterstattung – insbesondere in der überregionalen Presse33 – berichtet in Abgrenzung zur Starberichterstattung weniger personalisierend über den Fortgang des Medienereignisses, sondern es wird ‚normalisierend‘ zu dem Medienereignis Stellung genommen. Exemplarisch sei hier ein Artikel der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG als Beispiel der kommentierenden Berichterstattung aus dem Beginn der Hochphase des Medienereignisses herausgegriffen, um deren Grundmuster zu verdeutlichen (vgl. Abbildung 7).34 Wie das Beispiel zeigt, ist die kommentierende Berichterstattung auf eine medienkritische Thematisierung des Medienereignisses fokussiert. Es geht hier einerseits um die Identikation von Zusammenhängen, die als charakteristisch für das Medienereignis angesehen werden – im Falle des Artikels der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG die „Endlosschleife“. Solche identizierten Zusammenhänge werden dann in den Verlauf des Medienereignisses eingeordnet und einer Wertung unterzogen, wie im vorliegenden Fall eine Kritik des „Systems“, das eine „Endlosschleife“, als die das Medienereignis angesehen wird, erst ermöglicht. Insgesamt lassen sich diese kommentierenden Artikel als eine metamediale Normalisierungsinstanz begreifen. ‚Metamedial‘ meint in diesem Zusammenhang, dass weniger über Zindler bzw. ihren Nachbarschaftsstreit als solche berichtet wird, sondern dass das populäre Medienereignis selbst Gegenstand der Auseinandersetzung ist. Eine Normalisierungsinstanz stellt die kommentierende Berichterstattung in der Presse deshalb dar, weil es auch hier um ein diskursives Verhandeln der Grenze von Normalität geht – allerdings eben weniger auf Zindler als „Rand-Charakter“ bezogen als auf die Frage, wie eine Normalität von Populärkultur gegenwärtig zu denieren
33 Im Einzelnen berichtete die Süddeutsche Zeitung am 11.12.1999, 14.12.1999, 24.12.1999, 8.1.2000, 10.1.2000, 17.2.2000, 11.4.2000 und 2.9.2000 über das Medienereignis, die FAZ am 14.12.1999, 11.1.2000, 12.1.2000, 8.2.2000 und 22.2.2000, die Welt am 14.12.1999, 10.1.2000, 9.3.2000, 18.3.2000, 13.5.2000, 15.8.2000, Der Spiegel am 27.12.1999, 3.1.2000, 7.1.2000, 24.1.2000, 5.2.2000 und 25.4.2000 die taz am 8.1.2000, 12.1.2000, 29.1.2000 und 17.8.2000 und Die Zeit am 12.1.2000. 34 Dass das Medienereignis auch von Zeitungen aufgegriffen wurde, die sich eher hochkulturellen Wertorientierungen verpichtet fühlen, belegt einmal mehr seinen Stellenwert in der deutschen Medienlandschaft zur Jahreswende 1999/2000.
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ist. Exemplarisch wird dies am Schlussabsatz des Artikels in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG deutlich, wo explizit die Frage gestellt wird, ob mit dem Medienereignis „Grenzen überschritten“ wurden – Grenzen dessen, was in der Populärkultur eines dualen Systems als ‚normal‘ zu akzeptieren ist. Der argumentative Punkt in dem Kommentar ist, dass hier zwar kein Einzelner eine Grenze überschritten habe, allerdings das zunehmende Aufgreifen von Alltagsstars systematisch die Gefahr einer Grenzüberschreitung beinhaltet – und zwar deshalb, weil es sich bei den Alltagsstars um Amateure handelt. Die ambierte Frau Zu den unterschätzten Phänomenen dieser Welt gehört die Endlosschleife. Mit ihrer Hilfe schafft es selbst ein simpler Computer, der immer nur Eins dazu zählen kann, mit Millionen zu rechnen. Medien können das auch. Einer entdeckt eine Kleinigkeit. Andere greifen das auf. Und drehen es ein bisschen weiter. Und noch ein bisschen. Weil die Geschichte immer größer wird, kommt keiner mehr an ihr vorbei. Eine Endlosschleife ist eine feine Sache: Mit ihr können immer mehr Medien immer mehr Geschichten produzieren, ohne dauernd neue Themen in der „realen Welt“ recherchieren zu müssen. Was ist wirklicher als ein Medienphänomen? Auf einem Grundstück im Vogtland wächst ein Strauch in einen Maschendrahtzaun. Die Zaunbesitzerin Regina Z. macht den Fehler, dieses Thema aus ihrer kleinen Realität in die große Medienrealität zu bringen – zu Richterin Barbara Salesch aus Sat 1. Die erste Schlaufe. Ein Mitarbeiter von TV Total auf Pro Sieben sieht die Sendung und entdeckt, dass das Wort „Maschendrahtzaun“, sächsisch dahergeplappert, Komik hat. Stefan Raab baut es in die Sendung ein, als Schnipsel zuerst, dann als Teil des Liedes Maschen-Draht-Zaun. Und, ja, es war saukomisch! Eigentlich wäre die Geschichte hier zu Ende, die Leute im Dorf hätten vielleicht ein paar Tage drüber geredet, aber was solls. Raab weiß aber, dass es nicht wirtschaftlich ist, ein Lied nur einmal zu singen. Er nimmt es auf und bringt es als Single heraus. Sie verkauft sich (bis jetzt) über 620 000 Mal. Die Medien drehen die Geschichte weiter, berichten über Frau Z., die zehn Pfennig pro CD bekommt. Kamerateams fragen die Leute im Dorf, was sie von Frau Z. halten. Die sagen, sie hätten die immer schon für eine dumme Kuh gehalten. Frau Z., überfordert von ihrer Kuh-Rolle in einem heißlaufenden Medienzirkus, erleidet einen Nervenzusammenbruch. Schlecht für Frau Z., gut für die Endlosschleife. Denn jetzt wandert die Geschichte wieder zurück von Pro Sieben zu Sat 1, wo sie ja auch begann: Der „investigative“ Ulrich Meyer darf mit Akte 99 als Geier ran. Er hat Frau Z. im Studio, nutzt sie für seine Zwecke wie Raab für seine, verliert aber sichtlich die Geduld, als die langsame Frau bestreitet, dass die CD ohne ihr Einverständnis veröffentlicht wurde. Es ist ein Gespräch, das wieder Material liefert. Das zum Beispiel TV Total auf Pro Sieben prima ausschlachten könnte. Das Beängstigende: Es gibt irgendwie keinen einzelnen Punkt, an dem einer eindeutig Grenzen überschritten hat. Und doch ist das alles aus dem Ruder gelaufen. Es liegt am System. Und daran, dass die TV-Protagonisten, die uns unterhalten, heute meist nicht mehr Prominente sind, sondern Amateure. Die Fernsehleute haben entdeckt, dass das viel spannender und echter ist. Gefährlicher ist es auch. STEFAN NIGGEMEIER Süddeutsche Zeitung vom 11.12.1999/Seite 22
Abbildung 7
Kommentierende Berichterstattung in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG
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Unabhängig davon wie man diese Meinung einschätzt, so zeigt sie doch, wie sehr es in diesem Artikel darum geht, ‚Entgleisungen‘ innerhalb der Populär- und Medienkultur in einer Landkarte, der Normalisierung zu verorten. In diesem Sinne handelt es sich bei solchen kommentierenden Artikeln in der Hochphase des Medienereignisses um eine aktuelle Form der populären Medienkritik, die auf ‚Normalisierung‘ fokussiert ist.
4.3
Fazit: Der Diskurs der Normalisierung und populäre Medienereignisse
Ausgangspunkt für die Argumentation in diesem Kapitel war die, in Überlegungen zum Artikulationszusammenhang eines populären Medienereignisses skizzierte Vorstellung, dass das Medienereignis Zindler/Maschendrahtzaun in einem spezischen Diskurs lokalisiert ist, der die kulturelle Produktion der Medienschaffenden mit der kulturellen Aneignung der Rezipierenden verbindet (vgl. Abbildung 2). Dabei wurde in Anlehnung an die Überlegungen von Jürgen Link argumentiert, dass dies insbesondere der Diskurs des Normalismus ist, also die medial vermittelte, gesellschaftliche Auseinandersetzung um die Grenzen der Denition von Normalität. In diesem Zusammenhang lässt sich die mediale Inszenierung des Alltagsstars Zindler – der den Erlebniskern des populären Medienereignisses Zindler/Maschendrahtzaun bildet – als Konstruktion einer jener „Rand-Charaktere“ begreifen, die die Aushandlung von Grenzen der Normalität ermöglichen. Ähnlich wie in Daily Talks rücken populäre Medienereignisse „Störungen des ‚normalen Alltags‘ in den Mittelpunkt“ (Mikos 2000: 7) und machen sie so kommunikativ verhandelbar. Dies geschieht, indem sie mittels Alltagsstars diese personalisieren, und zwar „nicht immer aus der ‚Zentralperspektive‘ der Normalität, sondern eben manchmal auch von den Rändern des gerade noch Erlaubten her“ (Mikos 2000: 7). Ein solcher Vergleich zu Daily Talk Sendungen macht nochmals die Besonderheit von Alltagsstars bzw. der auf sie bezogenen, populären Medienevents greifbar, die sie zu einem zunehmend an Bedeutung gewinnenden Teil der aktuellen Populärkultur macht: Alltagsstars sind als ‚außeralltägliche Veralltäglichungen‘ umfassend dem Alltag einer kulturell differenzierten Gesellschaft mit ihren verschiedensten (Ab-) Normalitäten des Alltagslebens entsprungen, werden in ihrer medialen Inszenierung aber über dieses Alltägliche selbst erhoben. Insofern erscheinen sie als hochgradig geeignete semiotische Ressourcen, um plurale Landkarten alltäglicher Normalität auszuhandeln, denn sie stellen keine von dominanten Gruppen (beispielsweise Parteien oder Kirchen) favorisierten Normgrenzen dar, sondern verkörpern Grenzmarkierungen des multiplen, gegenwärtigen Alltags. Entsprechend ermöglichen sie zumindest prinzipiell eine weit pluralere Auseinandersetzung um gesellschaftliche Werte als beispielsweise explizite Moralisierungen in Mediensendungen wie dem
Stefan Raab, Regina Zindler und der Maschendrahtzaun
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Wort zum Sonntag, das in seiner ursprünglichen Form vielleicht nicht zufällig historisch ist: Einer kulturell differenzierten Gesellschaft entspricht weit mehr ein differenzierter Diskurs um Normalität, auch wenn sie ohne ihn nicht bestehen kann. Genau einen solchen Diskurs ermöglichen mit relativer Aufmerksamkeit populäre Medienereignisse wie Zindler/Maschendrahtzaun. Allerdings – und hier ist eine Einschränkung der bisherigen Darlegungen in diesem Kapitel zu machen – muss die kulturelle Aneignung der Rezipierenden nicht zwangsläug hierin aufgehen.
5
Die kulturelle Aneignung des Medienevents: Vergnügen, Erlebnisschichten, Auseinandersetzung und touristische Fankultur
Ähnlich wie das Format Big Brother auch (vgl. dazu Mikos et al. 2000: 153–158), zielt TV TOTAL auf das Publikum von Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Dass die Sendung hierbei zum Zeitpunkt der Untersuchung durchaus erfolgreich ist, macht ein Vergleich der allgemeinen Marktanteile und der Marktanteile in der Gruppe der 14 bis 49-Jährigen deutlich (vgl. Abbildung 8). Bereits diese Gegenüberstellung lässt erkennen, dass die Anteile am jüngeren Publikum klar über den Anteilen des Publikums in seiner Gesamtheit liegen – im Mittelwert um 11,34 %. Letztlich ist der Erklärungswert solcher Angaben bezogen auf Prozesse der kulturellen Aneignung aber relativ gering. So reproduzieren solche statistischen Angaben von Marktanteilen den Blick der Medienschaffenden auf eine ‚Zielgruppe‘ im Gesamt eines dispersen Publikums im Singular, eine Konstruktion, die dem Verkauf von Werbezeiten an die werbetreibende Industrie dient. Diese Konstruktion von Publikum als Marktgröße macht es möglich, der für die Werbezeiten zahlenden und damit den ökonomischen Erfolg einer Sendung im Privatfernsehen sichernden Industrie zu vermitteln, dass ihre Werbung bei TV TOTAL ‚richtig‘ platziert ist, da sie damit die für sie relevante ‚Käuferschicht‘ erreichen, eben ein möglichst junges, gegenwärtig und in der Zukunft konsumfreudiges, markenorientiertes Publikum. Wie bereits bei der Herausarbeitung des Artikulationszusammenhangs von populären Medienereignissen angedeutet, greift eine solche Perspektive aus zwei Gründen zu kurz, um die kulturelle Aneignung des Medienereignisses zu fassen. Erstens würde man mit der Übernahme dieser Perspektive sich nicht mit dem Medienereignis selbst auseinandersetzen, sondern würde die Perspektive von vornherein auf die Sendung TV TOTAL und ihr anvisiertes Publikum einschränken. Dass ein solcher Zugang kaum angemessen sein kann, hat die bisherige Argumentation deutlich gemacht: Das populäre Medienereignis Zindler/Maschendrahtzaun nimmt zwar von TV TOTAL und dem Lied „Maschen-Draht-Zaun“ des Moderators Stefan Raab seinen Ausgang – vermittelt durch ein auf diesen als Marke bezogenes „KultMarketing“. Die interaktive Artikulation des Ereignisses, in der die Rezipierenden
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mit ihrer Aufmerksamkeitswidmung dem Alltagsstar Zindler gegenüber ihren umfassenden Anteil haben, lässt sich hierüber aber nicht fassen.
Abbildung 8
Marktanteile TV TOTAL 8.3.1999–19.6.2000
Zweitens stellen die Rezipierenden kein disperses Publikum sozial vereinzelter Menschen dar, wie durch die Konstruktion von Zuschauerzahlen und Marktanteilen durch die Marktforschung der Medienschaffenden suggeriert wird. Das Publikum konstituiert sich vielmehr aus einer Reihe von Interpretationsgemeinschaften, d. h. aus sozialen Gruppen (Cliquen, Freundeskreise, etc.) in die der einzelne Rezipient bzw. die einzelne Rezipientin eingebunden ist und die zum Teil in umfassendere kulturelle Segmente (Fankulturen, Szenen usw.) eingebettet sind. Diese Interpretationsgemeinschaften decken sich nicht zwangsläug mit der Lebensgemeinschaft der Rezipierenden, mit ihrer „häuslichen Welt“ (Hepp 1997), was insbesondere bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit ihren ausgeprägten Freundeskreisen und Cliquen evident ist.35 Auch können Interpretationsgemeinschaften aus biograscher Perspektive nur vorübergehende Bezugsgruppen sein, denen man eine kurze Zeit zugehört, wie dies bei Fangruppen der Fall sein kann, die man gewissermaßen als ‚Tourist‘ zur vorübergehenden Medien- und Freizeitheimat wählt. Nichtsdestotrotz zeichnen sich Interpretationsgemeinschaften insbesondere durch drei Spezika aus: Sie sind typischerweise auf bestimmte Mediengenres oder -formate fokussiert, sind durch bestimmte kollektive Interpretationsmuster gekennzeichnet und darüber hinaus durch weitere geteilte Muster des auf Medien
35 Zu jugendlichen Videocliquen, die als eine außer-häusliche Interpretationsgemeinschaft begriffen werden können, vgl. beispielsweise die detaillierte und instruktive Studie von Vogelgesang 1991.
Stefan Raab, Regina Zindler und der Maschendrahtzaun
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bezogenen sozialen Handelns.36 In diesen Interpretationsgemeinschaften ist die kulturelle Aneignung der Rezipierenden umfassend lokalisiert, als Teil von ihnen entwickeln Rezipierende die Bedeutungen und Vergnügungen, die sie Medienprodukten abgewinnen können. Davon sind – wenn man so will auf einer höheren Abstraktionsebene – Publika zu unterscheiden, eine Größe, auf die Medienschaffende sich mit ihrem Konstrukt der ‚Zielgruppe‘ fokussieren, die aber nicht mit diesem verwechselt werden darf. Mehrere ähnlich strukturierte Interpretationsgemeinschaften konstituieren Publika, die bestimmte Muster und Praktiken des Umgangs mit Medien teilen, ohne dass deren Mitglieder aber in einer direkten kommunikativen Beziehung zueinander stehen würden. Die Existenz verschiedener Publika erklärt sich darüber, dass Mitglieder verschiedener Interpretationsgemeinschaften ähnliche Prozesse von Sozialisation durchlaufen haben, sich in ähnlichen Szenen benden etc. Allerdings sind Publika – Interpretationsgemeinschaften vergleichbar – in einer kulturell differenzierten Gesellschaft zunehmend im Fluss und weit weniger stabil, als es sich die Medienschaffenden mit ihren Versuchen der Konzeptionalisierung einzelner Zielgruppen wünschen. Grundlegend ist, bezogen auf populäre Medienevents, erst die Aufmerksamkeit verschiedener Publika hinreichend, um einen (Alltags-)Star und damit auch ein Medienereignis zu begründen. Die Annäherung an solche Publika und die für sie spezischen Muster und Praktiken der kulturellen Medienaneignung ist kein leichtes Unterfangen. Man kann einerseits einen induktiven Weg gehen, indem man sich mit der Aneignung von Rezipierenden in einzelnen Interpretationsgemeinschaften auseinandersetzt und versucht, hierbei kulturelle Muster herauszuarbeiten, die für umfassendere Publika charakteristisch sind.37 Umgekehrt ist es aber auch möglich, mittels umfassenderer Studien allgemeine Zusammenhänge der Aneignung einzelner Medienprodukte herauszuarbeiten, um hieraus – gewissermaßen deduktiv – Zusammenhänge auf der Ebene von Publika zu typisieren. Im Weiteren wird der erste dieser beiden Wege gegangen, nicht zuletzt deshalb, weil populäre Medienereignisse Phänomene sind, die bisher kaum in der Medien- und Kommunikationswissenschaft im Hinblick auf ihre Kulturbedeutung untersucht worden sind. Entsprechend stützt sich die weitere Argumentation auf qualitative, leitfadenorientierte Interviews, in denen 18 Rezipierende aus den alten und neuen Bundesländern auf ihre Aneignung des Medienereignisses Zindler/ Maschendrahtzaun befragt wurden (vgl. Tabelle 4). Die weiteren Darlegungen verstehen sich als Versuch, hieraus bestimmte Muster der kulturellen Aneignung 36
Vgl. dazu die detaillierte Darstellung von Lindlof 1988. Diesen Weg ist Janice Radway in ihrer Studie Reading the Romance gegangen, allerdings ohne immer klar zwischen der Interpretationsgemeinschaft als real bestehender, sozialer Gruppen und den Publika als davon abstrahierender Größe zu differenzieren (vgl. Radway 1984; Radway 1987; Radway 1988). 37
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des populären Medienevents zu extrahieren, die sich möglicherweise auf größere Publika übertragen lassen.
5.1
Skeptisches Vergnügen: Aufmerksamkeitsgenese und Medienschaffende
Betrachtet man den Ausgangspunkt für die Aufmerksamkeit der Rezipierenden dem Medienereignis gegenüber, so sind zumindest zwei Arten von Aufmerksamkeitsgenese zu unterscheiden, nämlich ersten die medien-initiierte und zweitens die interaktions-initiierte. Medien-initiierte Aufmerksamkeitsgenese meint, dass die Rezipierenden durch Medien selbst auf das Ereignis aufmerksam geworden sind, bei interaktions-initiierter Aufmerksamkeitsgenese werden die Rezipierenden über personale Kommunikation auf das Medienereignis aufmerksam. Relevante Medienprodukte einer medien-initiierten Aufmerksamkeitsgenese sind – insbesondere bei Fan-Touristen, die schon eine Grundaufmerksamkeit der Sendung gegenüber aufbringen – die Raab-Sendung TV TOTAL selbst und andere Fernsehsendungen, in denen über das Medienereignis berichtet wurde. Von den 18 Befragten sind 8 durch die Sendung TV TOTAL und Stefan Raabs dortige Präsentation des Lieds „Maschen-Draht-Zaun“ auf Regina Zindler aufmerksam geworden, wobei alle mehr oder weniger regelmäßige Rezipierende von TV TOTAL sind und der Sendung positiv gegenüber stehen.38 Typischerweise wird von solchen Rezipierenden, wie es eine 22-jährige Azubi fasst, „jeden Montag pünktlich 22:10 Uhr“ TV TOTAL eingeschaltet, eine Sendung, die sie als „sehr unterhaltsam“ empnden, insbesondere wegen Stefan Raabs ironisch-sarkastischer Präsentation des Fernsehgeschehens der vorherigen Woche. Indem Regina Zindler in TV TOTAL präsentiert wurde, war für die Auszubildende ihr Weg zum ‚Kult-Star‘ bereits vorgezeichnet. Dabei verschmelzen die Darbietung bei TV TOTAL, das Lied „Maschen-Draht-Zaun“ und die weitere Berichterstattung über Zindler zu einem Kultphänomen: „naja als ((lacht)) Kult es wurde dann von Woche zu Woche zu mehr kult •• und •• es kam ja auch sofort dieses Maschendrahtzaunlied • was der Stefan Raab gemacht hat •• und • von daher war‘s halt dann doch schon • Kult“. Aber auch wenn man nicht zum Kreis der regelmäßigen TV TOTAL Rezipierenden gehört, hatte man gute Chancen, durch Fernsehen auf das Medienereignis aufmerksam zu werden, wie eine 34-jährige Diplom-Ingenieurin, die Regina Zindler erstmals am 12.01.2000 in Günther Jauchs Stern TV-Interview sah.
38
Im Einzelnen waren dies die in den Interviews 3, 7, 8, 11, 12, 13, 14 und 16 befragten Rezipierenden..
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# 11
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Tabelle 4
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ledig
ledig
Trier (West)
Trier (West)
Trier (West)
Übersicht der befragten Rezipierenden
Heizungsbauer
Krankenhauspege-Schülerin
Hausmeister
(Ost)
(West)
verheiratet, 2 Kinder
ledig
Azubi Handelskauffrau, zum Zeitpunkt der Aufnahme Hilfsarbeiterin bei der Expo
(Ost)
Ilmenau (Ost)
Ilmenau (urspr. West)
Ilmenau (urspr. West)
Ilmenau (Ost)
Ilmenau (urspr. West)
Ilmenau (urspr. West)
Wiesbanden (West)
Coppanz (Ost)
Jena (Ost)
Eisenberg (Ost)
Ilmenau (Ost)
Ilmenau (urspr. West)
ledig
ledig
Speditionskaufmann, zum Zeitpunkt der Aufnahme Wehrdienstleistender
Physiotherapeutin
verheiratet
ledig
ledig
ledig
ledig
ledig
ledig
verheiratet
ledig
ledig
ledig
verheiratet (?)
Familienstand Wohnort (Ost/West)
Selbstständige Wirtin
Student
Student
Studentin
Student
Studentin
Diplomingenieurin
Pharmazieingenieurin
Versicherungsinspektorin
Physiklaborantin
Studentin
Geschäftsführer
Alter G. Beruf
Musik, Computer, Zeitschriften (Computer & Heavy Metal), TV
Radio, TV, Regionalzeitung
Regionalzeitung, Radio, TV, Computer
Musik, Zeitung, TV, Radio
Computer, TV, Radio, Zeitung
Zeitung, TV, Radio, Computer
TV, Radio, Zeitung
TV, Internet, Radio, Zeitung/Zeitschriften
Internet, TV, Radio
Internet, TV, Radio, Zeitung
Radio, TV, Internet, Zeitung
Internet, TV, Zeitung, Radio
TV, Radio, Zeitung/Zeitschriften
TV, Zeitung, Radio
TV, Radio, Zeitung/Zeitschriften
Radio, TV, Zeitschriften
Zeitung, TV, Radio
TV, Zeitung, Internet
genutzte Medien (nach Häugkeit und Dauer)
Stefan Raab, Regina Zindler und der Maschendrahtzaun 83
84
Andreas Hepp
Neben dem Fernsehen ist das Radio das zweite entscheidende elektronische Medium, durch das die Rezipierenden auf das Medienereignis aufmerksam geworden sind.39 Typischerweise handelt es sich hier um Personen, die gegenüber TV TOTAL keine sendungsbezogene Aufmerksamkeit aufbringen, sondern die in ihrem alltäglichen Fluss der Radiorezeption zufällig das Lied „Maschen-Draht-Zaun“ gehört haben. Diesen Rezipierenden el das Lied – wie es ein befragter Geschäftsführer ebenso wie eine Studentin und eine Versicherungsinspektorin formulieren – als „gewöhnungsbedürftig“ und „ziemlich albern“ auf, was aber dazu beitrug, dass sie sich für das Lied und seinen Kontext „zu interessieren“ begannen. Das Lied als solches regt also durch die irritierende Verbindung von Country-Musik, gebrochen-englischem Gesang und sächsischen Zindler-Samples dazu an, die Aufmerksamkeit auch über das einmalige Hören hinaus darauf zu fokussieren. Wie es eine 22-jährige Krankenhauspege-Schülerin formuliert: „im Radio und als ich das Lied gehört hab • zum ersten mal dieses von Stephan Raab […] und auch im Radio und ähm dann hab isch gar net gewusst was des is • und hab das erst so im • im im nachhinein von Freunden irgendwie Bekannten dann hat dann jeder so irgendwie und ich wusst am Anfang mit Maschendrahtzaun gar nichts anzufangn und dann kam halt der richtige Medienboom • […] • hm •• ja also morgens hab ich dieses Lied gehört • und äh nix dabei gedacht ähm Stephan Raab • und dann ähm •• kam dann in der Schule • kam halt hier und da Maschendrahtzaun und da hab ich mal nachgefragt und ja dann is halt erzählt dass wohl diese Regina Zindler • im Fernsehen aufgetretn ist und dann kam ja auch ganz häug ähm • kam dann auch im Fernsehen immer Ausschnitte • wo das immer wieder gezeigt wurde diese eine Szene“
Dieser Verweis auf das Gespräch mit Bekannten macht bereits deutlich, dass das Medienereignis sehr schnell zu einer für die Alltagsunterhaltung relevanten, semiotischen Ressource geworden ist. Dies trug mit dazu bei, dass eine Anzahl von Rezipierenden interaktions- und nicht medienvermittelt auf das Medienereignis aufmerksam geworden ist.40 In den Worten einer 22-jährigen Physiotherapeutin: „ich habe das gar nicht so mitbekommen und dann ganz plötzlich über meine Eltern über Freunde und so wurde dann drüber geredet und •• ja • und dann habe ich dann halt die Geschichte eigentlich nur so mündlich mitbekommen durch Gespräche durch Erzählungen“. Die interaktionsvermittelte Aufmerksamkeitsgenese muss aber nicht von privaten Gesprächen ausgehen. Das Medienereignis war durchaus auch Gesprächsstoff in öffentlichen Räumen. So wurde beispielsweise eine 21-jährige Studentin durch ein zufällig gehörtes Gespräch in einem Café hierauf aufmerksam. Auch wenn man auf das Medienereignis durch das Gespräch mit
39 40
Dies waren die Interviewten 1, 2, 4, und 17. Unter den befragten Rezipierenden waren dies die in den Interviews 5, 9, 10 und 15 Befragten.
Stefan Raab, Regina Zindler und der Maschendrahtzaun
85
Bekannten, Freunden oder der Familie aufmerksam geworden ist, so hat man es hierdurch doch – so wie es eine 46-jährige Pharmazie-Ingenieurin formuliert – „mit Abständen“ verfolgt und dann auch mehr oder weniger zufällig die eine Sendung oder den anderen Artikel hierzu zur Kenntnis genommen. Dieses Ineinandergreifen der zwei Arten von Aufmerksamkeitsgenese – medien-initiierte und interaktions-initiierte – ist als ein wechselseitiger Prozess zu begreifen. Das etwas längere Zitat aus dem Interview mit der KrankenhauspegeSchülerin macht diesen Zusammenhang sehr deutlich: Zwar war ihre Aufmerksamkeit ursprünglich durch ein Medium – nämlich das Radio – initiiert, eine weitere Aufmerksamkeitssteigerung fand jedoch in der Interaktion mit Freunden und Bekannten statt. Dies verweist darauf, inwieweit bei dem Medienereignis Zindler/Maschendrahtzaun Mediendiskurse und Alltagsdiskurse ineinander greifen, ja – um es überspitzt zu formulieren – inwieweit eine Differenzierung dieser beiden Diskursbereiche an Stringenz verliert. Die weitere Artikulation des Medienereignisses ist für die Rezipierenden dann auch etwas, das für sie ein eigendynamischer Prozess ist. Ganz ähnlich wie diese begreifen sie die Artikulation des Medienereignisses in Begrifichkeiten einer nur schwer fassbaren Eigendynamik, unabhängig davon, ob sie das Event nun intensiver verfolgt haben oder nicht. Hierauf weist die Häugkeit von deagentivierten Formulierungen hin, mit denen die befragten Rezipierenden die Artikulation des Medienereignisses zu fassen suchen. Da wird das Medienereignis als „Spirale“ charakterisiert, die sich „so hoch geleiert hat“, davon gesprochen, dass es „nich geplant war, sich’s halt ein bisschen verselbstständigt hat und anfänglich bestimmt nich“ so abzusehen war. Allerdings differenzieren die befragten Rezipierenden klar zwischen dem Lied Raabs bzw. seiner Vermarktung und der späteren Berichterstattung über Regina Zindler. Wie es eine befragte 41-jährige Wirtin formuliert, wollte Raab ihrer Meinung nach „die ganze Sache halt verulken was draus geworden ist das war für ihn zu dem damaligen Zeitpunkt […] unvorhersehbar.“ Und die bereits zitierte Krankenhauspege-Schülerin stellt fest, dass das Medienereignis dann „irgendwie“ zwischen den Sendern „pendelt“. An solchen Formulierungen fällt auf, dass sich die Rezipierenden nicht der Rolle derjenigen bewusst sind, die dem Medienereignis gegenüber die für die Artikulation notwendige Aufmerksamkeit aufgebracht haben. Die entscheidende Frage ist für sie vielmehr, welche Strategien und Ziele die Medienschaffenden im Prozess der Konstitution des Medienereignisses verfolgt haben. Und auch hierbei sind sie sich in ihrer Meinung weitgehend einig: Den Medienschaffenden geht es um Geld und Quote. Raab wollte in den Worten eines 22-jährigen Speditionskaufmanns mit dem Lied und der CD „wieder mal ein bissel Geld […] verdienen ein bissel • Einschaltquoten“ hochtreiben. Dies geschieht dadurch, wie es eine befragte Studentin formuliert, dass durch die strophenweise Präsentation des Lieds
86
Andreas Hepp
die „Neugierde“ der Leute auf TV TOTAL gelenkt wird. Die Sendung ist für einen anderen Studenten „Sprungbrett und Werbeplattform“ für die Vermarktung des Lieds gewesen. Dass es hierbei offensichtlich um die Nutzung einer bestehenden, sendungsbezogenen Aufmerksamkeit geht, ist auch den Rezipierenden klar. So stellt der Student weiter fest: „naja was irgendwie Aufmerksamkeit erzeugt kann man ja auch::: äh gleich zu Geld umwandeln“. Dass es sich hierbei nicht um die ‚akademisierte Perspektive‘ von Studierenden handelt, machen die Äußerungen des zu dem Medienereignis befragten Speditionskaufmanns deutlich, der dieses als eine „Geldverdienungsmaschine“ bezeichnet, von der alle daran beteiligten Fernsehanstalten protieren. Wie sind solche Äußerungen der Rezipierenden nun in ihrer Gesamtheit einzuordnen? Grundlegend lassen sie sich dahingehend interpretieren, dass die Rezipierenden den Medienschaffenden unabhängig von ihrem Bildungsstand und Alter eine Skepsis gegenüber aufbringen. Ihnen ist klar, dass von der Firma Brainpool die Sendung zur Vermarktung der CD von Raab genutzt wurde – sehr genau beschreiben sie hier das, was Schulte-Richtering von Brainpool als Kultmarketing bezeichnet hat. Ebenso ist ihnen klar, dass auch die anderen Sender mit ihren Berichten Geld verdienen – das Medienereignis als Geldverdienungsmaschine nutzen wollen. Dennoch nden die Rezipierenden an dem Medienereignis Vergnügen und widmen ihm eine entsprechende Aufmerksamkeit. In Anlehnung an John Fiske lässt sich dies als skeptisches Vergnügen bezeichnen (vgl. Fiske 1993: 45). Dieses skeptische Vergnügen konstituiert sich im Spannungsverhältnis zwischen einem vergnüglichen Verfolgen des Medienereignisses einerseits und einer kritischen Haltung gegenüber den Medienschaffenden andererseits. Die Rezipierenden verfügen nicht nur über ein Wissen über die Produktion und Vermarktung des Medienereignisses, gleichzeitig nehmen sie dazu eine sehr distanzierte und bisweilen auch radikal ablehnende Position ein.41 Dies verweist auf ein generelles Moment populärer Wissensformen bezüglich Medienereignissen wie Zindler/Maschendrahtzaun: Populäres Wissen hat nicht die Möglichkeit, wie ofzielle Formen des Wissens, sich in machtvollen Diskursen festzuschreiben, sondern ist gezwungen, unter Einbezug dominanter Diskurse in deren Freiräumen als eigenes Wissen zu artikulieren. Dies geschieht über paradoxe Formen von Kritik oder, wie John Fiske es formuliert, über eine „ießende Skepsis“ (ebd.) gegenüber Medienereignissen. Diese Skepsis lässt sich als eine Taktik charakterisieren, zwischen den unausweichlichen Widersprüchen von Marktgegebenheiten und Individualbedürfnissen einen 41
Ähnliche Zusammenhänge haben Waldemar Vogelgesang und ich bezogen auf den Film ‚Titanic‘ herausgearbeitet (vgl. Hepp/Vogelgesang 2000). Für die hier befragten Kinogänger ist das Medienereignis ‚Titanic‘ umfassend geplant und als Mega-Event inszeniert, wobei sie aber mitreektieren, inwieweit ihre eigenen lmspezischen Erwartungen durch subtile Vermarktungsstrategien, die sich bis auf die kultursynkretistische Verwendung lmsprachlicher Mittel erstrecken, beeinusst sind.
Stefan Raab, Regina Zindler und der Maschendrahtzaun
87
Ausgleich zu nden. Die skeptische Grundhaltung vieler Rezipierender steht also einem vergnüglichen Umgang mit dem populären Medienevent nicht im Wege, vielmehr ist sie untrennbarer Teil des populärkulturellen Vergnügens.
5.2
Erlebnisschichten: Momente des Erlebens und lokale Kommerzialisierung
Aus Rezipierendenperspektive bietet ein Medienereignis wie Zindler/Maschendrahtzaun eine Vielzahl von vorstrukturierten Erlebnismomenten, die eben ein solches Medienereignis ausmachen (vgl. Hitzler 1998; Hitzler 2000). Diese lassen sich bei einem populären Medienereignis wie Zindler/Maschendrahtzaun als Erlebnisschichten charakterisieren. Charakteristische Erlebnisschichten des Medienereignisses sind – neben dem Erlebniskern des Alltagsstars Zindler selbst – die gemeinsame Rezeption des Medienereignisses, das gemeinsame Gespräch hierüber und die Performance (beispielsweise das Nachspielen und Nachsingen des Lieds bzw. Tanzen dazu und die Teilname an auf das Medienereignis bezogenen Partys). Gemeinsam ist den unterschiedlichen Erlebnisschichten, dass jeweils das kollektive Erleben des Medienereignisses im Mittelpunkt steht, wobei dies – wie insbesondere an Partys deutlich wird – umfassend an lokale Kommerzialisierungsprozesse rückgebunden ist.
Abbildung 9
Erlebnisschichten eines populären Medienereignisses
Die Erlebnisschicht der Rezeption der Comedy-Sendung TV TOTAL scheint – gerade bei den Jüngeren der befragten Rezipierenden – tendenziell ein Gruppenphänomen in ihrer Interpretationsgemeinschaft zu sein. Das heißt man rezipiert die Sendung nicht alleine, sondern in der Gruppe, wobei hier das gemeinsame Sich-Belustigen
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Andreas Hepp
über das Gesehene im Mittelpunkt der Aneignung steht. Wie es eine befragte 22-jährige Studentin formuliert, wird TV TOTAL in ihrem Freundeskreis meistens zusamm rezipiert, da „das dann irgendwie noch lustiger“ ist. Aber auch für andere Studierende ist die Rezeption von TV TOTAL ein gemeinsames Erleben, das man im Freundeskreis genießt.42 Solche Äußerungen verweisen darauf, dass ein erster Erlebnismoment des Medienereignisses die gemeinsame, wiederholte Rezeption einer Fernsehsendung in der Gruppe darstellt. Von einer strukturierten Erlebnisschicht kann man hier insofern sprechen, als das Genre der Comedy-Sendung einen klaren Rahmen für ein gemeinsames Sich-Vergnügen eröffnet. Dieser ist im Sinne von Gerhard Schulze erlebnisrational kalkulierbar (vgl. Schulze 1993: 431–436), d. h. die Rezipierenden wissen, dass ihnen die Rezeption der Sendung TV TOTAL und Stefan Raabs als ‚Marke‘ einen Rahmen für ein gemeinsames Sich-Vergnügen bieten. Diese erlebnisrationale Kalkulierbarkeit trägt dazu bei, dass die gemeinsame, vergnügliche Rezeption von TV TOTAL zu einem regelmäßig wiederkehrenden Ereignis im Wochenverlauf werden kann. Wie bereits in Bezug auf die Aufmerksamkeitsgenese diskutiert, sind Gespräche bei der Aneignung des Medienereignisses von zentralem Stellenwert. Dabei hat die Face-to-Face-Interaktion über ihre aufmerksamkeitsgenerierende Funktion hinaus einen vergnügen-bereitenden Wert an sich, weswegen Gespräche als eine weitere Erlebnisschicht des Medienereignisses zu begreifen sind. Bemerkenswert ist hier, dass das Medienereignis nicht nur bei denjenigen, die es kontinuierlich verfolgt haben, Gesprächsthema ist. Auch Rezipierende, die wie die befragte Versicherungsinspektorin nicht regelmäßig die Sendung TV TOTAL ansehen, haben sich „drüber unterhalten“ und konnten dem einen spezischen Erlebniswert abgewinnen: „das bringt Entspannung vom Alltag“.43 Ab einem gewissen Zeitpunkt war es fast unvermeidlich, in Gespräche über das Medienereignis verwickelt zu werden, was der interviewte Speditionskaufmann wie folgt fasst: „selbst die die das nicht geguckt haben haben dann irgendwann mitgekriegt dass da irgendwas sein muss • und haben dann halt mal reingeschalten oder so und es wusste im Endeffekt nachher • jeder wer Regina Zindler ist und es wusste auch jeder • wer Maschendraht ist • oder was er für eine Bedeutung hat“. Die Erlebnisschicht des gemeinsamen Gesprächs über einen Alltagsstar als Kern eines populären Medienereignisses ist also darin zu sehen, dass hier eine semiotische Ressource zur Verfügung steht, die über verschiedene lokale Kontexte hinweg hinreichend spezisch ist, um auf ihrer Basis eine Beziehungskommunikation zu ermöglichen, bei der die Aushandlung von Werten im Zentrum steht. 42 Dies wird in den Interviews 2, 7, 8 und 9 herausgestrichen, deren Interviewte die Sendung bevorzugt gemeinsam mit Freunden und Freundinnen rezipieren. 43 Insgesamt wird die Aussage, sich über das Medienereignis unterhalten zu haben, in den Interviews 3, 4, 9, 14, 16, 17 und 18 gemacht.
Stefan Raab, Regina Zindler und der Maschendrahtzaun
89
Genau hierauf weisen Formulierungen hin, wie diejenige, dass man Zindler im Gespräch als primitiv bestätigt hat, um sich gemeinsam über sie aufzuregen, oder aber dass Zindler als semiotische Ressource geeignet ist, sich im Gespräch mit dem eigenen Vorgesetzen die Ablehnung gegenüber bestehenden Kommerzialisierungstendenzen in den Medien zu bestätigen. Im weitesten Sinne geht es bei der Erlebnisschicht des gemeinsamen Gesprächs um das Entrüsten und Echauferen dem Alltagsstar gegenüber, was an sich eine spezische Form des Vergnügens darstellt. Dass hierbei die Erlebnisschicht des gemeinsamen Gesprächs und der Rezeption ießend ineinander übergehen, wird an der Äußerung einer 25-jährigen Studentin deutlich, die feststellt: TV TOTAL „is ja ein wiederkehrendes Ereignis jeden =jeden= Montag Abend • .hhh und äh • damit äh komm ja auch::: wie gesagt dann immer wieder neue Gags dazu und dann • .hhh • ja • hhh. gibt’s da n neuen Gesprächsstoff logischerweise • ne“. Als dritte Erlebnisschicht eines Medienereignisses wie Zindler/Maschendrahtzaun kann man die Erlebnisschicht der Performance charakterisieren. Im Gegensatz zur Rezeption und zum Gespräch über die semiotische Ressource geht es hier um Handlungen der Rezipierenden, die als aus dem Alltag herausgehobene Formen der Interaktion gerahmt und ‚alltags-ästhetisch‘ markiert sind (vgl. Knoblauch 1998: 308). Performances sind dabei durch eine deutliche Episodenstruktur gekennzeichnet, d. h. sie haben einen Anfang, eine Abfolge überlappender aber isolierbarer Phasen und ein Ende. Eine für das Medienereignis Zindler/Maschendrahtzaun charakteristische ‚Mini-Performance‘ ist das Nachsingen des Lieds, teilweise spontan im Alltag, teilweise aber auch in einstudierten Auftritten vor einem Publikum. Die Erlebnisschicht der Performance schließt darüber hinaus das Tanzen zum Lied ein, wie es eine Azubi für einen Club schildert, wo das Lied in der Hochphase des Medienereignisses Teil des festen Repertoires war: „ich bin halt jeden Donnerstag in den Club • in den H-Club • und als das Lied kam haben wir immer wirklich voll dazu losgelegt ich weiß nicht das war irgendwie so ein ((lacht)) • so ein Massen •• irgendwie so ((lacht)) • es war irgendwie mitreissend haben wir halt voll dazu losgetanzt • das hat mich halt selbst überrascht“. Was die Azubi hier schildert, ist, dass das Erleben des Medienevents gerade als Performance ein Kollektivvergnügen darstellt, d. h. erst in der gemeinsamen Performance für sie das Gruppenerleben, das das Medienereignis ausmacht, fassbar ist. Dies hilft zu verstehen, warum das populäre Medienereignis nicht ohne die Maschendrahtzaunpartys zu denken ist, die nicht nur – teilweise medieninszeniert – vor dem Haus von Regina Zindler in Auerbach stattfanden, sondern auch an anderen Lokalitäten. Während aus der Perspektive des Eventerlebens solche Partys klar als Teil der Erlebnisschicht der Performance zu werten sind, so machen sie umgekehrt eine Kommerzialisierung des Medienereignisses auch im Lokalen greifbar. Ähnlich wie beim Versuch der Sendeanstalten, die allgemeine Aufmerksamkeit dem Alltagsstar Zindler gegen-
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Andreas Hepp
über durch die eigene Berichterstattung als sendungsbezogene Aufmerksamkeit auf das eigene Medienprodukt zu lenken, so wird hier versucht, die allgemeine Aufmerksamkeit dem Medienereignis gegenüber zu nutzen, um lokal Gewinn zu erzielen. Deutlich wird dies an dem Fallbeispiel einer Maschendrahtzaun-Party, die in Ilmenau durchgeführt wurde. Organisiert wurde die Party von der Pächterin einer Gaststätte in einem einer Burschenschaft gehörenden Haus. Kern der Party war – neben Live-Auftritten von Musikern und dem Eröffnen der Party durch das Aufschneiden eines Maschendrahtzauns – die Versteigerung eines Porzellan-Services im Maschendrahtzaun-Design, das in einem lokalen Porzellanwerk auf Anregung der Pächterin in geringer Auage angefertigt wurde. Der Erlös der Versteigerung kam einer lokalen Kinderkrebshilfe zu, d. h. in dem direkten Verkauf lag für die an der Organisation Beteiligten kein Gewinn. Dass es vielmehr um den indirekten Aufmerksamkeitsgewinn ging, machen die Äußerungen des Geschäftsführers der Porzellanfabrik, die das Maschendrahtzaun-Service anfertigt, deutlich. Für ihn bestand der Erfolg darin, dass das Fernsehen und Radio über sein Service berichteten und damit seine Firma von der allgemeinen Aufmerksamkeit Zindlers gegenüber protierte.
Abbildung 10
Maschendrahtzaun-Porzellan
Im Vergleich hierzu hat die Versteigerung auf der Party und ihr eher schleppender Verlauf eine geringere Bedeutung: „wenn so was in der ARD läuft dann gucken natürlich auch viele andere • Medienvertreter • ja und in den tagen danach kam hier permanent Anrufe • .hhh das ich dann am Telefon fü/für irgendwelche • .hhh
Stefan Raab, Regina Zindler und der Maschendrahtzaun
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Radiosender aber kreuz und quer durch Deutschland von • von Hamburg bis • bis München“. Ganz ähnlich ist auch die Maschendrahtzaun-Party aus der Perspektive der Lokalwirtin einzuschätzen, die nach Auskunft zweier Burschenschafter versucht hat, durch die Maschendrahtzaun-Party ihre Gaststätte „ein bisschen bekannter zu machen, um die Wirtschaft a weng anzukurbeln“. Auch für solche lokalen Beteiligten scheint – wie für die Medienschaffenden – ein Zusammenhang zu gelten, den der bereits zitierte Student und Burschenschafter wie folgt fasst: „was irgendwie Aufmerksamkeit erzeugt kann man ja auch::: äh gleich zu Geld umwandeln“. Es geht um eine lokale Kommerzialisierung des populären Medienereignisses. Die Betrachtung der einzelnen Erlebnisschichten des Medienereignisses aus der Perspektive der Rezipierenden verweist also zumindest partiell auf ein Paradox: Die das Medienereignis konstituierende, einzelne Interpretationsgemeinschaften übergreifende Aufmerksamkeit der Rezipierenden entsteht erst dann, wenn eine gewisse Komplexität von Erlebnisschichten erreicht ist, die jeweils vorstrukturierte Erlebnismomente anbieten. Dies sind wie herausgearbeitet neben dem Vergnügen der gemeinsamen Rezeption selbst das lokal übergreifend mögliche Gespräch, dessen Erlebniswert im gemeinsamen Entrüsten und Echauferen zu sehen ist. Vor allem aber hat die das Alltägliche überschreitende populäre Ereignisperformance einen zentralen Stellenwert. Das Paradoxon besteht hier darin, dass erst wenn solche Erlebnisschichten als vorstrukturierte Erlebnismomente den Rezipierenden zur Verfügung stehen, deren Aufmerksamkeit dem Medienereignis gegenüber steigt. Gleichzeitig sind es die Rezipierenden aber selbst, die diese Erlebnismomente in ihrer Aneignung erst schaffen. Dies verweist nochmals auf die komplexe Interdependenz der Aktivitäten von Medienschaffenden und Rezipierenden bei der Artikulation eines populären Medienereignisses. Das Fallbeispiel der Party als Form der lokalen Kommerzialisierung hat dabei gezeigt, dass das Vergnügen der Rezipierenden kein ökonomisch naives Vergnügen ist, sondern auch sie das Medienereignis für sich zu nutzen wissen. Teil des skeptischen Vergnügens ist also die Fähigkeit zur Nutzung populärer Medienprodukte im Rahmen eigener ökonomischer Interessen.
5.3
Das Ereignis als diskursive Auseinandersetzung: Ein Alltagsstar zwischen Trash und Polarisierung
Während bisher die äußeren Erlebnisschichten des Medienereignisses im Mittelpunkt der Analyse standen, soll es im Weiteren um den Erlebniskern des Medienevents gehen – den Alltagsstar Regina Zindler. Die Konstruktion von Zindler aus Perspektive der Rezipierenden deckt sich hier nicht vollkommen mit den durch eine Analyse des Diskurses um Normalismus herausgearbeiteten Bedeutungsmomenten (vgl. Kap. 4). Betrachtet man den im Diskurs des Normalismus lokalisierten
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Andreas Hepp
Alltagsstar als eine spezische semiotische Ressource, so ist er aus Perspektive der Rezipierenden nicht von Stefan Raab bzw. TV TOTAL als weiterem Rahmen zu trennen. Bereits bezogen auf Stefan Raab fällt aber dessen polarisierende Bewertung auf: Während er auf der einen Seite eher positiv als „Schwiegermuttertyp“ bewertet wird, der „witzig“ seine Inhalte „cool rüber“ bringt und dabei – trotz aller Kalkulation – „fair“ bleibt, schätzen andere ihn wesentlich kritischer ein. Hier wird er als „sehr arrogant“ charakterisiert, als „sehr dreist“ und „sehr von sich eingenommen“. Und auch die Rezipierenden, die Raab als Menschen sympathisch nden, weisen darauf hin, „dass er andere benutzt nur um seinen Erfolg eben zu genießen“. Ähnlich ist auch die Einschätzung der Sendung TV TOTAL selbst, die die Rezipierenden als kontrovers markieren, wenn sie sie als „dreist, fresch, brutal“ bezeichnen. Während für manche TV TOTAL „Kult“ ist, ist die Sendung für andere „unterhalb der Gürtellinie“. Insgesamt wird sowohl Stefan Raab als auch TV TOTAL in einem – wie man es nennen könnte – polarisierenden Rahmen angeeignet. Dies verweist auf einen spezischen Stellenwert, den die Sendung TV TOTAL für die Rezipierenden hat: Sicherlich ist sie als Comedy-Sendung, in der Auftritte und Ausschnitte aus anderen Sendungen ‚verulkt‘ werden, keine politische Sendung im Sinne eines Nachrichten-Magazins. Indem in ihr der ‚Trash‘ anderer Sendungen aber durch ironisierendes Aufgreifen thematisiert wird, kristallisieren sich an TV TOTAL allgemeinere Konikte um die aktuelle Medien- bzw. Populärkultur. Deren Tendenz zur Konsum- und Werbeorientierung bzw. kommerziell begründeten Zielgruppen- und Unterhaltungsxierung wird im Trash als unbeabsichtigte Überzeichnung dieser Tendenzen greifbar. In ihrem Sammelband „Trash Aesthetics“ weisen I. Q. Hunter und Heidi Kaye darauf hin, dass der Begriff ‚trash‘ im Rahmen einer Auseinandersetzung um kulturelle Wertigkeit zu sehen ist, in die die wissenschaftliche Beschäftigung mit Medien eingebettet ist (vgl. Cartmell, Hunter et al. 1997). Während aus Perspektive der bürgerlichen Medienkritik Fernsehästhetik im Rahmen einer allgemeineren, hochkulturellen Ästhetik gesehen wird, weichen die Ästhetiken des Unterhaltungsfernsehens umfassend hiervon ab. Dass dabei aktuelle Formate wie Daily Talk oder Daily Soap als ‚trash‘ bezeichnet werden, ist letztlich als eine Strategie der Abwertung im Rahmen einer kulturellen Distinktion anzusehen. Entsprechend kann es bei wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit dem Phänomen des Trashs nicht darum gehen, solche Wertungen unreektiert zu übernehmen, sondern sie als Position in einer Auseinandersetzung um kulturelle Unterschiede zu begreifen. Lothar Mikos hat hier darauf hingewiesen, dass in ‚Trash-Formaten‘ wie Daily Talks die „Codes des aufgeklärten, rationalen Diskurses der bürgerlichen Öffentlichkeit“ (Mikos 2000: 6) eine allenfalls untergeordnete Rolle spielen, solche Formate aber gerade deshalb den aus den durch einen rationalen Diskurs geprägten Talk-Shows ausgegrenzten Rezipierenden
Stefan Raab, Regina Zindler und der Maschendrahtzaun
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einen medialen Artikulationsraum eröffnen, was wiederum im bürgerlichen Aufklärungsverständnis als positiv zu bewerten wäre. Solche Zusammenhänge machen deutlich, dass explizite kulturelle Wertungen, wie sie mit dem Ausdruck ‚trash‘ verbunden werden, als Teil weitergehender Auseinandersetzungen gesehen werden müssen, die allerdings alles andere als eindimensional sind. Dieser polarisierende Rahmen deniert grundlegend auch die Bedeutung des Alltagsstars Regina Zindler aus Perspektive der Rezipierenden. Begreift man Zindler hier nicht als Person, sondern als eine semiotische Ressource, deren Aneignung durch verschiedene Lesarten geschehen kann, so sind es insbesondere vier Aneignungsweisen von Zindler, die vorherrschend sind, nämlich eine Konzeptionalisierung von Zindler als ‚primitiv‘, zweitens eine Konzeptionalisierung von Zindler als ‚einfach‘, drittens eine Konzeptionalisierung von Zindler als ‚passiv/ benutzt‘ und schließlich viertens eine Konzeptionalisierung von Zindler als ‚aktiv/ überlegen‘.44 Dass sich die einzelnen Adjektive gegenseitig nicht ausschließen – so kann man beispielsweise sehr wohl ‚benutzt‘ und ‚einfach‘ sein – macht schon deutlich, dass die einzelnen Konzeptionalisierungen ießend ineinander übergehen können. Jedoch beschreiben sie typisierend die Aneignung des Alltagsstars Zindler als semiotische Ressource: kulturelles Niveau
Handlungsfähigkeit
Zindler als ‚primitiv‘
„son richtscher • Bauerntrampel“; „ nicht also vie/• hohen Intelligenzquotienten“; „vom Bildungsstand nicht unbedingt das höchste […] primitiv“
Zindler als ‚einfach‘
„gewöhnliche Art […] einfache Art un […] •• sozial tiefer gestellt“; „einfache Frau die im endeffekt ja völlig belanglos ist“; „sehr durchschnittlich normal“
Zindler als ‚passiv/ benutzt‘
„hat ihr einer gefehlt an der Seite der gesagt hat das machen wir und das machen wir nicht“
Zindler als ‚aktiv‘/ ,überlegen‘
Tabelle 5
„später da war dann schon bisschen wat gespielt also äh manipuliert worden“; „geliebt sich in den Mittelpunkt zu stellen“
Zindler als semiotische Ressource
Die Tabelle verdeutlicht mit den exemplarischen, den Transkripten der RezipierendenInterviews entnommenen Passagen, dass die Auseinandersetzung mit Zindler als semiotischer Ressource insbesondere entlang zweier Achsen erfolgt, nämlich der
44 Insbesondere die Dichotomie aktiv/passiv ist auch umfassend Referenzpunkt der kommentierenden Berichterstattung über das Medienereignis in der Presse (vgl. Kap. 4.2).
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des ‚kulturellen Niveaus‘ und der der ‚Handlungsfähigkeit‘. Im weitesten Sinne geht es bei der Auseinandersetzung um Zindler also erstens um die Frage, inwieweit sie eher im positiven Sinne als zur ‚einfachen Bevölkerung gehörend‘ zu bewerten ist oder ob sie als ‚primitiv‘ und ‚unintelligent‘ auf eher individueller Ebene ausgegrenzt wird. Ähnlich ist auch zweitens der Werthorizont bei der Frage der Handlungsfähigkeit von Zindler mit einem Gegensatz zwischen passivem Opfer des Medienereignisses und aktivem Nutznießer eine Dichotomie. Dass es insbesondere die Frage des kulturellen Niveaus ist, die polarisierend auf die Rezipierenden wirkt, wird in den Rezipierenden-Interviews daran deutlich, dass die Äußerungen häug dann stark emotionalisierend und wertend sind, wenn sie hierauf Bezug nehmen. Da wird Zindler nicht nur als „Bauerntrampel“ charakterisiert, sondern ebenso als „Meckertante“ und „herrlich bescheuert“. Wie ist diese Auseinandersetzung mit dem ‚kulturellen Niveau‘ Zindlers einzuordnen? Worum geht es den Rezipierenden bei der Auseinandersetzung hiermit? Letztendlich kann man davon sprechen, dass hier der allgemeine Diskurs von Normalismus dahingehend speziziert wird, anhand von Zindler die Denition von dem zu verhandeln, wie das ‚normale Fernsehpublikum‘ in seiner ‚kulturellen Wertigkeit‘ einzuschätzen ist. Indem die Befragten selbst als Rezipierende Teil genau dieses Publikums sind, geht es dabei auf selbstreexiver Ebene also darum, im Prozess der Aneignung des Mediendiskurses die eigene Position zu bestimmen. Gemeinsam ist den verschiedenen Einschätzungen von Zindler hier, dass sie deren ‚kulturelles Niveau‘ als niedrig einschätzen, wobei die Einschätzungen dahingehend differieren, ob diese grundlegende Einordnung in eher positiv wertendem (‚einfach‘) oder eher negativ wertendem Rahmen (‚primitiv‘) geschieht. Dies verweist darauf, was der für die Rezipierenden vergnügen-bereitende Aspekt von Zindler als Alltagsstar ist: Die niedrige Einschätzung ihres ‚kulturellen Niveaus‘ ermöglicht die Selbstpositionierung als höherstehend, was dem Mechanismus der Legitimation des eigenen Konsums von ‚Trash-Sendungen‘ gleichkommt. Auch wenn solche Medienprodukte ‚Trash‘ sind, so konstruiert man sich selbst als distanziert zu einer solchen ‚Trash-Kultur‘, wenn man deren Protagonisten als solche einschätzen kann. Die Aufmerksamkeit, die Zindler als semiotische Ressource zukam, war also zumindest in Teilen darin begründet, dass sie gleichzeitig die Möglichkeit der Abgrenzung und des Vergnügens an Fernseh-Trash bot. An diesem Punkt stellt sich die Frage, inwieweit von den Rezipierenden kulturelle Wertigkeit in Bezug auf eine Dichotomie Ost/West konstruiert wird, d. h. ob es für die Rezipierenden hier um die Konstruktion eines Stereotyps des „dummen Ossi[s]“ geht, wie es eine der Befragten formuliert. Eine solche Interpretation mag auf den ersten Blick nahe liegen, spielt doch der sozial im Vergleich beispielsweise zum Bayerischen niedrig markierte sächsische Dialekt bei der Konstitution des Medienereignisses eine Rolle, wenn die sächsisch ausgesprochenen Worte „Maschen-
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Draht-Zaun“ und „Knallerbsenstrauch“ in dem Lied von Stefan Raab gesampelt wurden.45 So weist eine ostdeutsche Studentin auch darauf hin, dass sie mit dem sächsischen Dialekt ein „bisschen • Blödheit verbindet“ und eine andere, aus dem Westen stammende und in Ostdeutschland studierende Rezipientin geht davon aus, dass sie nicht wüsste, ob das „so witzig geworden wäre, wenn das ne Saarländerin gesagt hätte mit ihrem • Slang oder ihrem Dialekt“. Auch eine westdeutsche Krankenhauspegeschülerin gesteht: „seit mittlerweile elf Jahren Mauerfall sind die Leute wenn wenn Sächsisch geredet wird das nden se immer noch • amüsant • also so aber ich bin genauso • ich red zum Beispiel zu Hause Pfälzisch“. Jenseits von dieser Einigkeit darüber, dass bei dem Medienereignis das Spiel mit der negativen Markierung des sächsischen Dialekts eine Rolle spielt – allerdings als eben sächsisch und nicht ostdeutsch –, unterscheiden sich die Auffassungen der Befragten aus den alten und neuen Bundesländern erheblich dahingehend, welche Bedeutung die ostdeutsche Herkunft Zindlers hat. Überspitzt formuliert könnte man sagen, für die Ostdeutschen ist diese als ‚normal‘ markiert und hat entsprechend keine Bedeutung, für die Westdeutschen ist sie als ‚abweichend‘ markiert. Die Normalmarkierung für die Ostdeutschen wird insbesondere an dem fehlenden Bezug zwischen der in ihrem Alltag sehr wohl Bedeutung habenden ‚Ostalgie‘ und Regina Zindler als semiotischer Ressource deutlich. Grundlegend ist für Ostdeutsche ‚Ostalgie‘ ein Interpretationsrahmen auch von Medieninhalten, wobei Ostalgie als eine spezische lokale Form der Identitätsarbeit begriffen werden kann. Ein befragter ostdeutscher Speditionskaufmann beschreibt Ostalgie wie folgt: „Ostalgie ist meiner Meinung nach • äh • 3 • hängt das damit zusammen dass •• sich das alles so nach •• hinten also Richtung DDR-Zeiten • äh wendet • also was weiß ich also wir kaufen jetzt nur noch Ost-Produkte • aber nicht weil sie •• sicherlich schmecken sie vielleicht besser • aber vorrangig kaufen wir sie ja weil sie von uns sind • oder wir feiern irgendwelche FDJ-Parties oder irgendsowas • also das ist meiner Meinung nach Ostalgie oder • wir •• kaufen wieder Mifa-Fahräder • aber • sicherlich sind sie gut aber • äh • wir kaufen sie erstmal in erster Linie weil sie von uns sind • also jetzt nicht von uns aus Deutschland sondern von uns • im sinne von wir Ost-Deutschen •• das ist meiner Meinung nach so Ostalgie • aber das mit der Zindlern • nee • ich glaube wenn die aus •• Franken gewesen wäre und hätte komisch geredet • und hätte mit ihrer Kittelschürze da um sich gehauen • oder wenn sie aus • dem tiefsten Bayern gewesen wäre ich glaube da hätten wir alle genauso gelacht“
Dieses längere Zitat ist in zweifacher Hinsicht aufschlussreich. Erstens fasst der Speditionskaufmann hier detailliert, was unter Ostalgie zu verstehen ist: ‚Ostal-
45 Zur Wertigkeit von Dialekten im Allgemeinen siehe Löfer 1985, der auch auf die negative Bewertung des Sächsischen im Speziellen eingeht (vgl. Löfer 1985: 157–159).
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gie‘ meint als Ableitung aus Nostalgie, dass bestimmte als ostdeutsch markierte Ressourcen (Lebensmittel, Partys usw.) gezielt gewählt werden, um hierdurch sich wechselseitig die eigene Identität als ‚Ostdeutsch‘ zu kommunizieren. Es geht hier also um die wechselseitige Bestätigung einer eigenen Identität und damit die Konstitution eines Wir-Gefühls über bestehende Differenzen hinaus. Dabei wird das Medienereignis Zindler explizit aus solchen Prozessen der Bedeutungskonstruktion ausgeschlossen. So machen auch andere aus Ostdeutschland stammende Rezipierende deutlich, dass sie das Medienevent Zindler nicht mit Ostalgie verknüpfen.46 Allerdings – und dies ist in diesem Zusammenhang das vielleicht Interessante – unterstellen sie westdeutschen Rezipierenden, dass bei der Aneignung des Medienereignisses das Sich-Lustig-Machen über die Ostdeutschen durchaus ein möglicher Bezugsrahmen gewesen ist. Explizit sagt die Pächterin der Kneipe in dem Burschenschaftshaus „naja es ich • kann kann schon sein dass das jetzt • von den westlichen Seiten halt • mehr so gesehn wurden • die Ossis sind eh blöd. Und der befragte ostdeutsche Speditionskaufmann stellt fest: ich fand‘s nachher gut dass er nicht gesagt hat die ist aus dem Osten • sondern er hat gesagt sie ist aus dem Vogtland ‚ne aus Plauen war die • und damit war das ja schon wieder regional beschränkt • und da ist auch dieser • Ost-West-Konikt sage ich mal auch schon wieder entschärft wurden“. Während für die Ostdeutschen Regina Zindler als semiotische Ressource also wenig mit der mit Ostalgie verbundenen, lokalen Identitätsarbeit zu tun hat, spielt eine Auseinandersetzung mit dem ‚westdeutschen Blick‘ auf die Ostdeutschen sehr wohl eine Rolle. So wird bei den befragten westdeutschen Rezipierenden Regina Zindler in wesentlich größerem Maße als ‚Ostdeutsche‘ konstruiert. Von einer befragten Auszubildenden wird beispielsweise grundlegend als problematisch angesehen, dass sich bei dem Medienereignis „ganz Deutschland […] lustig gemacht [hat] über • eine Ost-Deutsche“, ein westdeutscher Hausmeister stellt fest, „dass de Leut so ne Lieder anstimmen mit so diesem ähm Sächsischen • das is schon ma lustisch so ne“, schiebt aber nach einer vier-sekündigen Pause nach „aber äh ob da jez keine politischen Hintergründe da ziehen will isch denk mir man lacht darüber un da is die Sach erledigt un da is die Sache vergessn ne“. Und für den befragten westdeutschen Heizungsbauer ist Regina Zindler „vielleicht • so ein bisschen auf’n Osten gemacht“. Dass hier die Markierung ‚Ostdeutsch‘ wesentlich stärker im Vordergrund steht als bei den Befragten aus den neuen Bundesländern mag möglicherweise daran liegen, dass bei den Westdeutschen wesentlich geringere Differenzierungskriterien diesbezüglich zur Verfügung stehen als bei den Ostdeutschen selbst. Die Einordnung von Zindler als Vogtländerin misslingt hier. So 46
Von den acht in den neuen Bundesländern geborenen Befragten meint keiner, dass das Medienevent bzw. die Aufmerksamkeit, die Zindler als Alltagsstar gegenüber aufgebracht wurde, mittels Ostalgie zu erklären wäre.
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fällt zumindest auf, dass die ursprünglich aus dem Westen stammenden, jetzt in Ostdeutschland Studierenden – ähnlich wie die Ostdeutschen selbst – abweisen, dass das Medienereignis etwas mit ‚Ostdeutsch‘ zu tun hätte und davon ausgehen, dass allenfalls der sächsische Dialekt die komische Wirkung von Zindler verstärkt hätte. Dass bei Westdeutschen insgesamt aber eine Tendenz dazu besteht, bezogen auf das Medienereignis das Kriterium Ost/West wesentlich stärker in den Vordergrund zu rücken als Ostdeutsche dies tun, macht folgende Schilderung einer ostdeutschen Physiotherapeutin deutlich: „dann waren halt auch welche dabei die das halt • super lustig gefunden haben und dann waren halt auch welche dabei die haben gesagt oh Scheiße die Frau tut mir einfach nur leid so ne • warum macht die das mit sich warum lässt die das mit sich machen so ne • ist doch abartig • ja und dann wurde das halt wieder ein Gespräch und • naja •• gut ich muss vielleicht auch sagen da waren vielleicht auch welche dabei die aus den alten Bundesländern dabei waren und dann eben welche aus den neuen Bundesländern und dann gab’s halt dieses Gespräch ja jetzt beweist sich doch mal wieder der dumme Ossi und bababa • ja das war schon heftig fand ich manchmal echt ganz schön unangenehm und ich bin auch jetzt froh das jetzt alles vorbei ist mit dieser Frau ((lacht)) •• so gut wie •• aber sie hat halt auch Geld gemacht muss man auch mal so sehen ne •• ich meine sie hat auch klar den nutzen •• von dieser ganzen Sache • hat sie ja auch hm“
In diesem Zitat wird nochmals zusammengefasst, worum es den Befragten bei der Auseinandersetzung mit Regina Zindler als semiotischer Ressource ging. Einerseits konnte man sich lustig machen über sie, wenn man sich von ihrem ‚primitiven Niveau‘ abgrenzt und sie so als abweichend und sie sich selbst als über TrashPhänomenen stehend konstruiert. Andererseits konnte man auch mit ihr mitfühlen, wenn man sie als Teil der ‚einfachen Leute‘ versteht und Zindler als eine Person begreift, die von den Medien manipuliert wurde. Ostdeutsch/Westdeutsch macht in diesem generellen, polarisierenden Rahmen nur Sinn, wenn man sich überzogener Stereotypen wie dem des „dummen Ossi“ bedient. Und dass man zum Schluss froh war, wenn „alles vorbei ist mit dieser Frau“, hängt mit einer Sättigung der ihr gegenüber aufgebrachten Aufmerksamkeit zusammen. Die Analyse hat gezeigt, dass durch unterschiedliche Wertrahmen von den Rezipierenden Zindler als semiotische Ressource lokal multiperspektivisch konstruiert wird. Der „Normalismus“, in dem Zindler als Alltagsstar steht, ist also nicht für alle derselbe. Vielleicht ist es letztendlich dies, was den Alltagsstar als Erlebniskern des Medienereignisses interessant macht: Er ist als Teil der translokal zugänglichen Trash-Kultur spezisch genug, um polarisierend zu wirken, lässt als semiotische Ressource aber genügend Spielraum, um in unterschiedlichen Wertungen verschiedene Normalismen zu konstruieren. Insofern bietet sich Zindler geradezu
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als Material für eine alltägliche, Vergnügen bereitende Auseinandersetzung um Tendenzen der aktuellen Medien- und Fernsehkultur an. Dieser Aspekt der Auseinandersetzung spielt auch bei den sich auf das Medienereignis fokussierenden Fan-Kulturen eine Rolle.
5.4
Touristen der Fan-Kultur: Das Internet als Medium der Fans
In der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Fantum populärkulturellen Produkten gegenüber ist es üblich, eine Fankarriere zu unterscheiden. Hierbei wird die individuelle Entwicklung von Fans als eine soziokulturell vermittelte Karriere beschrieben, in der in einer hierarchischen Abfolge verschiedene distinguierte Typen des Fantums durchlaufen werden. Fankarrieren werden nicht als objektive, strukturell ‚verfestigte‘ Durchschnittskarrieren begriffen, sondern vielmehr als Sequenzen, die sich im Bewusstsein der innerhalb einer Fankultur Aktiven entwickelt haben. Für die einzelnen Typen sind dabei im Kontext der Fankultur unterschiedliche Aneignungspraktiken charakteristisch, aber auch eine jeweils eigene Lokalisierung innerhalb der Fankultur: Während der „Novize“ sich an der Peripherie einer Fankultur bendet – im eigentlichen Sinne noch nicht als Fan zu charakterisieren ist –, bendet sich der „Tourist“ am Übergang vom gewöhnlichen, interessierten Zuschauer zum (zeitweiligen) Mitglied einer Fankultur. Die eigentliche Fankultur konstituieren aber der „Buff“ und der „Freak“. Zwar ist die Fankarriere, wie sie Roland Eckert et al. (1991) und Rainer Winter (1995) darlegen, primär in der Auseinandersetzung mit Fans von Horrorlmen entwickelt worden, jedoch lassen sich bezogen auf jeden Typ – „Novize“, „Tourist“, „Buff“ und „Freak“ – grundlegende Aspekte herausstreichen, die sich auch auf andere Fankulturen übertragen lassen. Der „Novize“ ist jemand, der mit einem bestimmten Genre erste, möglicherweise auch ‚negative Erfahrungen‘ gemacht hat. Negative Erfahrungen können hier beispielsweise wie beim Horrorlm dadurch begründet sein, dass die Wahrnehmung der Novizen in einem alltäglichen Rahmen erfolgt und auf explizite Darstellungen von Gewalt mit Ablehnung und negativen Emotionen reagiert wird. Zu den „Touristen“ zählen jene Personen, die nach ersten (negativen) Erfahrungen ihr Interesse für ein spezisches Genre entwickelt haben und weitergehende, explorierende Aktivitäten entwickeln. Hierzu zählt in erster Linie ein intensiver Konsum des betreffenden Genres und von zusätzlichem Informationsmaterial (beispielsweise Zeitschriften und Bücher), aber auch erste üchtige Kontakte zu anderen Fans mit einzelnen Ausügen in die Fanwelt. Der „Buff“ bendet sich im Herzen der Fankultur, er hat ein dauerhaftes Interesse an dem Genre entwickelt, auf das sie bezogen ist, und partizipiert häug über viele Jahre an ihr. Die Differenz zum „Novizen“ manifestiert sich zum einen in einem umfassenden
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Wissen sowohl über die jeweiligen Medienprodukte und -genres als auch über die favorisierten Lesarten der Fankultur, ein Wissen, das die „Buffs“ durch intensive Rezeption und Lektüre von Fanzines aufbauen. Zum anderen manifestiert sie sich in einer Reihe von fanspezischen Praktiken, zu denen das Sammeln, aber auch das „Re-Reading“ und Schreiben von Artikeln, Filmkritiken oder Leserbriefen gehört. Hier zeigen sich soziale Hierarchisierungen innerhalb der Fankultur, indem das Verfügen über Wissen und der Besitz beispielsweise von Kopien spezischer Filme als Distinktionsmerkmale fungieren. Der „Freak“ schließlich ist der letzte Typus innerhalb einer Fankarriere, wobei die Hauptdifferenz zwischen ihm und dem „Buff“ in dem Maße seiner Produktivität besteht. Die „Freaks“ sind zwar die zahlenmäßig kleinste Gruppe innerhalb einer Fankultur, jedoch sind sie es, die deren Fortbestand sichern, indem sie die verschiedenen Treffen veranstalten und Fanzines herausgeben. Eine Distinktion gegenüber den anderen Fans erfolgt dadurch, dass die „Freaks“ sowohl in ihrem Wissen als auch in ihrem gesammelten Besitz diese um ein Vielfaches übertreffen und über weit mehr Fankultur-spezische Erlebnisse zu ‚berichten‘ wissen – ein Sachverhalt, der von den „Freaks“ in ihrer Selbstdarstellung auch inszeniert wird. Bezogen auf die Aneignung des Medienereignisses Zindler/Maschendrahtzaun fällt auf, dass das Fantum ein ‚Touristen-Phänomen‘ ist, d. h. daran insbesondere Rezipierende beteiligt sind, die einen kurzen Ausug in die Welt des Fantums machen. Zunehmenderweise ist dabei das Internet das Medium, in dem die Fan-Touristen ihre Aktivitäten entfalten. Charakteristisch ist der Umgang einer der befragten Studenten und Burschenschafter mit dem Medium. Er empndet gegenüber Stefan Raab und TV Total eine umfassende Begeisterung und hat als regelmäßiger Internetnutzer in das Internetangebot von TV Total „ab und zu ma reingeschaut“, beurteilt dieses allerdings als „net so besonders“. Aufgesucht hat er die Homepage der Fernsehsendung, weil der den Text des Liedes „MaschenDraht-Zaun“ gesucht hat. Dass es hier um Aktivitäten geht, die ins touristische Fantum übergehen, wird deutlich, wenn man in Betracht zieht, was der Student darüber hinaus im Internet bezogen auf Stefan Raab und TV Total im Allgemeinen bzw. das Medienereignis im Speziellen gesucht hat: So hat er das Lied „MaschenDraht-Zaun“ „als mp3“ im Internet geladen und generell sammelt er mithilfe des Hybridmediums Internet die Texte der Lieder von Stefan Raab: „ich sammel’ halt immer so • zu den einzelnen Liedern • n bissel texte dazu“.
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Abbildung 11
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Internetseiten von Rezipierenden zu dem Medienereignis
Solche ‚touristischen Sammel-Aktivitäten‘ stehen in deutlichem Bezug zu einer auf das populäre Medienevent Zindler/Maschendrahtzaun bezogenen Performance, indem der Student die Texte dazu verwendet, um zusammen mit Freunden die Lieder nachzusingen. Auch die bereits zitierte Auszubildende, in deren Freundeskreis zu dem Lied gerne getanzt wurde, besucht in der Hochphase des Medienereignisses die Homepage von TV Total, um den Text des Liedes nochmals durchzulesen. Am weitesten gehen allerdings die ‚touristischen Aktivitäten‘ des zweiten befragten Informatik-Studenten und Burschenschafters, der regelmäßig „parallel zur Sendung“ die Homepage von TV Total betrachtet, „so nach dem Motto er blendet es ja auch immer ein“. Dabei sammelt er mithilfe des Internets nicht nur Liedtexte, er berichtet auch, bei einem Mail-Wettbewerb mitgemacht zu haben. Über solche auf das Internetangebot von TV Total bezogene Aktivitäten hinaus, nutzt der Student auch die von Fans selbst erstellten Internetangebote, beispielsweise das Internetangebot von maschendrahtzaun.de. Hierbei handelt es sich – neben der Anti-Zindler-Seite – um eine der größeren, von Privatpersonen erstellten Internetseiten, die sich mit dem Medienereignis Zindler/Maschendrahtzaun auseinandersetzen.Dass es zu Regina Zindler mit Maschendrahtzaun.de und der Anti-Regina Zindler Homepage sowohl eine ‚pro‘ als auch eine ‚contra‘
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Webseite von Rezipierenden gibt, verweist grundlegend nochmals darauf, dass es sich bei Regina Zindler um eine polarisierende, semiotische Ressource handelt. Während die Anti-Zindler-Homepage dazu dient, die Ablehnung des Medienereignisses zu artikulieren, ist die Maschendrahtzaun.de-Seite eine Fanseite im engeren Sinne des Wortes: Hier nden die Rezipierenden Hinweise auf aktuelle Entwicklungen des Medienereignisses, können Videos, Sounds und Bilder von Regina Zindler und anderen Akteuren des Medienereignisses herunterladen, ebenso wie sie virtuelle Postkarten verschicken, an Chats teilnehmen oder einen Newsletter zu Zindler abonnieren können. Daneben bietet die Homepage mit einem Gästebuch den Rezipierenden die Möglichkeit, ihre Meinung zu Zindler und dem Medienereignis zu artikulieren. Hier wird an der Art der Einträge deutlich, dass die Mehrzahl der Personen – wenn sie die auf Zindler gerichtete Aufmerksamkeit nicht für völlig andere Dinge wie beispielsweise den Verkauf von Telefonkarten nutzen wollen, was wiederum als lokale Kommerzialisierung zu begreifen ist – eher en passant zumeist scherzhaft ihre Meinung über den Alltagsstar deutlich machen. Man ndet also vor allem kürzere Sprüche, in denen Zindler in Schutz genommen oder diffamiert wird, in einzelnen Fällen aber auch einmal ein ironisches Gedicht auf sie:
Abbildung 12
Ausschnitt aus dem Gästebuch von Maschendrahtzaun.de
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Dies verweist nochmals darauf, dass das populäre Medienereignis insbesondere ein ‚Touristen-Phänomen‘ gewesen ist, auch wenn mittlerweile auf Stefan Raab bezogen eine ausdifferenzierte Fan-gemeinschaft besteht.47 Wegen der durch verschiedene Editoren bestehenden Einfachheit, mit der Webseiten gestaltet und ins Netz gestellt werden können, ist es ohne weitergehenden Aufwand möglich, eigene kleinere Webangebote zu dem Medienereignis ins Netz zu stellen. Ein Beispiel hierfür ist die bereits erwähnte Anti-Zindler-Homepage, die nicht wie Maschendrahtzaun.de über eine eigene Domain verfügt, sondern die persönliche Homepage eines AOL-Mitglieds ist. Indem sich die Anti-ZindlerHomepage gegen die Präsentation von Zindler in den Medien wendet, ist sie nicht positivem Fantum zuzuordnen, sondern eher einem Anti-Fantum. Der Ausdruck ‚Anti-Fantum‘ bezieht sich hier nicht auf eine Abwehrhaltung gegen Fantum an sich, sondern gegen Zindler als Medienereignis. Allerdings ist ein solches AntiFantum selbst als Teil des Medienereignisses zu begreifen, einerseits, indem auch eine öffentliche Kritik der Darstellung Zindlers mit dazu beiträgt, Aufmerksamkeit auf diese zu lenken, andererseits ist gerade das Beziehen von Anti-Positionen umfassender Teil des Medienereignisses selbst, wenn man die Spezi k von Zindler als semiotischer Ressource in ihrer Polarität begreift.48 Das heißt in der Logik der polarisierenden Auseinandersetzung um Zindler ist eine Anti-Zindler-Seite das notwendige Gegenstück zu einer Seite wie Maschendrahtzaun.de. Wie gesagt manifestiert aber die technisch weniger professionelle Machart der Anti-Zindler-Webseite ihre eher touristische denn im Kern einer Fanszene lokalisierte Herkunft: Es geht bei ihr darum, ein momentanes in diesem Fall ablehnendes Involvement in das Medienereignis auszudrücken, und nicht darum, durch eine aufwendig gestaltete Seite die eigene Position in einer differenzierten Fankultur zu sichern. Dies legen auch die in einer schriftlichen Befragung gemachten Äußerungen der Urheber der Webseite nahe,49 die die Entscheidung für das Erstellen der Webseite als relativ spontan skizzieren. Als ausschlaggebenden Grund, dass der Mann der Befragten die Seite gestaltet hat, gibt diese ihre eigene Ablehnung des ‚Erfolgs‘ von Zindler an: Es hat sie „einfach angeödet, wie diese unmögliche, dekadente Frau sich zur Medienqueen entwickelt hat“. Die umfassende Ablehnung Zindlers hat dann zu Erstellung der Anti-Zindler-Seite geführt, die nach Darstellung ihrer Urheber überwiegend positiv aufgenommen wurde, denn „keiner kann
47 So existiert seit 1999 eine ausdifferenzierte Fanseite zu TV TOTAL http://www.raab-fans.de, ebenso wie ein Newsletter, der von den Machern der Homepage getragen wird. 48 Siehe dazu die Darlegungen in Kap. 4.4. 49 Geführt wurde die E-Mail-Befragung mit der Frau des Urheberehepaars, da der Mann, der die Seite gestaltete, aufgrund beruicher Belastungen für eine schriftliche Befragung nicht zur Verfügung stand.
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wirklich Fan von Frau Z. sein“.50 Die ‚außeralltägliche Alltäglichkeit‘ Zindlers wird hier gewissermaßen zum Ablehnungskriterium. Dieses Anti-Fantum weist auf eine Vielschichtigkeit des Umgangs der an dem Medienereignis beteiligten ‚Fankultur-Touristen‘ mit dem Gegenstand ihrer Auseinandersetzung hin: Sicherlich ist es keine Begeisterung wie für einen Star des traditionellen Hollywood-Kinos, die ihre touristischen Aktivitäten motivieren, viel eher ist dies eine Auseinandersetzung mit den Prozessen, durch die eine gewöhnliche Person zum Alltagsstar werden kann. Eine Kritik solcher Prozesse in der Öffentlichkeit der an dem Medienereignis Interessierten kann also als konstitutiver Bestandteil des touristischen Vergnügens an diesem verstanden werden. Dies hilft erklären, dass eine beträchtliche Zahl von Personen bereit war, als Tourist in den Fantaumel um Zindler für eine gewisse Zeit einzutauchen. Den Ausdruck des Touristen kann man dabei im Einzelfall auch wörtlich verstehen: So gehört zu den auf den Alltagsstar bezogenen touristischen Aktivitäten neben dem Sammeln von Liedtexten oder -dateien bzw. der Kommunikation mit anderen Interessierten über das Internet auch die Fahrt nach Auerbach, dem Wohnort von Regina Zindler. Die Motivation für diese im doppelten Sinne des Wortes touristische Fahrt beschreibt eine befragte Physiotherapeutin am Beispiel ihres Vaters, der zum Wohnort Zindlers fuhr: „mein Vater fand das ja so abgefahren die ganze Sache weil das ist ja auch nicht weit weg von unserem Heimatort •• und meine Tante die wohnt in der Nähe da und da hat er halt • als er sie besucht hat • ist er halt durchgefahren durch diesen Ort • und weil er halt so neugierig war • und das auch alles gut verfolgt hat • ist er dann eben auch mal hingefahren zu ihrem Haus ((lacht)) •• und hat halt erstmal die Leute befragt aus dem Ort halt wo denn das Haus ist und die waren auch alle schon total genervt und richtig sauer • richtig wütend das überhaupt noch Leute jetzt • es war auch schon ziemlich spät vielleicht ein halbes Jahr nach dem ganzen geschehen oder so • und die waren richtig sauer das es überhaupt noch Leute gibt die sich dafür interessieren die waren richtig genervt • und •• dann war er halt dort und da war aber nichts besonderes so es war einfach nur • ja das Haus und dann ist er weitergefahren •• aber es war schon ziemlich heftig auch was man immer so mitbekommen hat so die ganzen Anwohner • war ja alles ganz schön krass so •• ja •• genervte Leute und dann die Partys vor ihrem Haus und dann • was weiß ich 500 Leute die dann jeden Abend da waren und • nonstop da • Party gemacht haben • da habe ich schon davon mitbekommen klar aber ich war da nicht dort • um Gottes willen“
Dieses Fallbeispiel macht nochmals einen Sachverhalt grundlegend deutlich: Touristen widmen dem Medienereignis eine Aufmerksamkeit, die über das eigentliche
50 Die Einträge im Gästebuch unterscheiden sich allerdings nicht sehr von den Einträgen der Maschendrahtzaun.de-Fanseite.
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Verfolgen der Berichte über Zindler hinaus geht, ebenso wie sie umfassendere auf das Medienereignis bezogene Aktivitäten entfalten. Allerdings sind sie keine Mitglieder einer stabilisierten und differenzierten Fankultur. Hierin ist vielleicht ein Spezikum von auf Alltagsstars bezogenen populären Medienevents zu sehen. Während sich um traditionelle Stars der Medien durch die langjährige Aufmerksamkeit, die ihnen zukommt, eine umfassende, auf sie bezogene Fan-Kultur als „Weekend-only World“ (Jenkins 1992: 287) konstitutieren kann, ist dies bei Alltagsstars, die nur über eine beschränkte Zeit Aufmerksamkeit genießen, anders. Hier entfalten sich Fanaktivitäten entweder als touristische Aktivitäten, die keine Möglichkeit der Verstetigung haben, oder aber – wie im Einzelfall mit Maschendrahtzaun.de geschehen – das Fantum dem Alltagsstar gegenüber wird von einem allgemeinen Fantum getragen, hier nämlich dem Fantum gegenüber Stefan Raab. Wenn also in den Medienberichten über Fans in Auerbach berichtet wird, so sind dies zumeist Touristen der Fanszene. Und wenn sich Rezipierende wie die befragte Krankenhauspege-Schülerin über die Fans in Auerbach echauferen „mit diesen • Partys vor ihrem Haus […] [die] ganz ganz schlimm und lächerlich“ sind, dann echauferen sie sich auch über ihr eigenes touristische Interesse selbst. Dies wirft nochmals ein neues Licht auf das Internet als Medium der touristischen Fanaktivität. Das Internet bietet sich deshalb für eine touristische Fanaktivität geradezu an, weil mit diesem Medium einerseits ein leichtes Sammeln – angefangen vom Liedtext bis hin zu Musikstücken und Videoausschnitten –, andererseits auf ebenso leichte Weise ein Austausch mit anderen Interessierten möglich ist. Die Zugangsschranken sind ungleich niedriger als beispielsweise bei der Teilnahme an einer Fan-Convention, für die man häug Mitglied einer Fangemeinschaft sein muss, ohne die man überhaupt nicht von dieser erfährt. Schließlich bietet das Internet die Möglichkeit, selbst wenn man nur touristische Interessen für ein Medienereignis hat, eigene Inhalte zu veröffentlichen – und so am Diskurs der Fans teilzunehmen. Auch hier bestehen mit dem Internet Möglichkeiten eines stärker egalisierten Fantums. Letztendlich lässt sich hierüber begründen, warum dieses zu dem präferierten Artikulationsmedium der Fans und Anti-Fans des populären Medienereignisses geworden ist: Im Internet stehen Artikulationsmöglichkeiten auch dann zur Verfügung, wenn sich bezogen auf den Gegenstand des eigenen Fantums bisher keine ausdifferenzierte Fankultur etablieren konnte.
5.5
Fazit: Eventerleben als skeptisches Vergnügen
Gegenstand der Betrachtung in diesem Kapitel war die kulturelle Aneignung des populären Medienereignisses Regina Zindler/Maschendrahtzaun, deren Muster bezogen auf einzelne, in spezischen Interpretationsgemeinschaften lokalisierte
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Rezipierende herausgearbeitet wurden. Hierbei hat sich gezeigt, dass die Rezipierenden dem Medienereignis nicht nur deshalb eine umfassende Aufmerksamkeit widmen, weil der Alltagsstar Zindler durch seine Einbettung in einen weitergehenden Diskurs des Normalismus eine relevante Ressource zur Aushandlung von Normalität in einer kulturell differenzierten Gesellschaft darstellt. Daneben eröffnet sich eine Reihe von weiteren, von dem Alltagsstar Zindler ausgehenden Erlebnisschichten, die bis zur gemeinsamen Performance von Partys oder der Erstellung von Seiten im Internet reichen. In diesem gesamten Prozess sind die Rezipierenden aber alles andere als naiv: Sie wissen das populäre Medienereignis zu nutzen, wie das Beispiel der lokalen Kommerzialisierung einer Party gezeigt hat, und sind umgekehrt gegenüber den Marketingstrategien der Medienschaffenden umfassend skeptisch. All dies lässt es sinnvoll erscheinen, das Vergnügen der Rezipierenden an dem Medienereignis als skeptisches Vergnügen zu beschreiben. Bei der Betrachtung der kulturellen Aneignung durch die Rezipierenden ist wiederholt ein Ausdruck gefallen, nämlich der der Lokalität bzw. Lokalisierung. Nicht nur wurde eine auf die lokalen Bedürfnisse der Rezipierenden bezogene Kommerzialisierung des Medienereignisses herausgearbeitet, auch wird beispielsweise die für die Rezipierenden bestehende Bedeutung des Alltagsstars in Bezug auf lokale Lebenszusammenhänge und Interpretationsgemeinschaften entwickelt. Gleichzeitig entstammt Regina Zindler als Alltagsstar mit Auerbach aus einer klar gefassten Lokalität, die die Fan-Touristen auch besuchten. Aus solchen Zusammenhängen lässt sich ein adäquater Ansatz der Theoretisierung von populären Medienevents entwickeln, nämlich ein Ansatz, der sie nicht einfach als Integrationsinstanzen, sondern als Translokalitätsphänomene begreift.
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Zur Kulturbedeutung des Ereignisses: Populäre Medienevents als Translokalitätsphänomen
Ausgangspunkt der vorliegenden Studie war die Differenzierung von rituellen und populären Medienereignissen. Dabei wurde argumentiert, dass erstere in bisherigen Studien primär als mediale Integrationsinstanz einer Gesellschaft angesehen wurden, wobei dieser Interpretationsansatz nicht problemlos auf populäre Medienereignisse übertragen werden kann. Dies hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass letztere in wesentlich stärkerem Maße aus Perspektive der Rezipierenden theoretisiert werden müssen, wenn man einen adäquaten Zugang zu ihnen als Teil einer kulturell differenzierten Gesellschaft nden möchte: Populäre Medienereignisse entstehen in der Interaktion zwischen Produzierenden und Rezipierenden, sie lassen sich nicht einfach als ‚Marktkampagnen‘ begreifen.
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Dass die Aneignung eines populären Medienereignisses ein Prozess der lokalen Kontextualisierung ist, hat bezogen auf das Medienevent Zindler/Maschendrahtzaun die Auswertung des Materials auf verschiedenen Ebenen ergeben. Partys und Performances nden ebenso wie auf das Medienereignis bezogene Gespräche und die gemeinsame Rezeption an bestimmten Lokalitäten statt, sind – wenn man so will – lokale Sinngebungsprozesse. Auch eine detailliertere Betrachtung der Aneignung des Medienereignisses hat gezeigt, dass dieses als semiotische Ressource je nach Kontext unterschiedlich konstruiert wird. Dabei kann die Auseinandersetzung mit dem Alltagsstar auch als Teil der lokalen Identitätsarbeit begriffen werden, wie das Beispiel der Ostalgie gezeigt hat. Allerdings wäre es umgekehrt absurd, das populäre Medienereignis auf solche Lokalisierungsaspekte zu reduzieren. Seine Spezik ist ja darin zu sehen, dass es die Aufmerksamkeit von Rezipierenden aus verschiedenen lokalen Interpretationsgemeinschaften auf sich gezogen hat und damit erst zu einem populären Medienereignis wurde: Zindler war als Alltagsstar und ‚typischer Charakter‘ eine semiotische Ressource, die Rezipierenden an verschiedensten Lokalitäten zugänglich ist und ein Aspekt der kulturellen Auseinandersetzung um sie war die Frage, warum eine Alltagsperson allein aufgrund ihres Auftritts in einer Schiedsgerichtssendung zu einem die verschiedensten Orte übergreifenden (Alltags-)Star werden konnte. Diese Besonderheit von Zindler ist aus dieser Perspektive also darin zu sehen, dass vermittelt durch ein populäres Medienevent in einer Vielzahl von Kontexten eine Auseinandersetzung um einen Nachbarschaftsstreit und seine mediale Inszenierung stattfand. Solche Überlegungen weisen deutlich auf einen Gegensatz zwischen rituellen und populären Medienereignissen hin: Rituelle Medienevents stellen Repräsentationsöffentlichkeiten dar, die gerade auf Integration fokussiert sind. Im gemeinsam vollzogenen Ritus einer Festlichkeit, eines Wettkampfes oder einer Siegerfeierlichkeit werden medienvermittelte, kollektive Identi kationsinstanzen angeboten. In diesem Sinne sind rituelle Medienereignisse integrierend. Populäre Medienereignisse hingegen sind nicht mit solchen Konzepten zu fassen, sie sind Teil eines selbstreferentiellen Unterhaltungsuniversums und repräsentieren jenseits ihrer medialen Inszenierung nichts: Regina Zindler ist nur in ihrer medialen Inszenierung Alltagsstar, an sich ist sie arbeitslose Sekretärin und Hausfrau. Entsprechend stellen populäre Medienereignisse auch keine integrierende Öffentlichkeit her. Vielmehr sind sie ein translokales Angebot, sich gemeinsam in und durch einen Prozess kultureller Auseinandersetzung zu vergnügen.
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Verzeichnis der Transkriptionssymbole • •• •x• viellei/ geh| ja =ja=
kurze Pause bzw. kurzes Absetzen (ca. 0,25 Sekunden) längere Pause bzw. längeres Absetzen (ca. 0,5–0,6 Sekunden) Pause von x Sekunden Abbruch eines Wortes oder einer Äußerung Unterbrechung durch einen anderen Sprecher am Turnende betont gesprochen schnell, bei Doppelung sehr schnell gesprochen; schneller Anschluß einer nachfolgenden Äußerung ja::: Dehnung eines Vokals °ja° Leise, bei Doppelung sehr leise gesprochen ja¿ steigende, bei Doppelung stark steigende Intonationskurve ja¡ fallende, bei Doppelung stark fallende Intonationskurve (ja) unsichere Transkription (&&) Unverständliches ((lacht)) Parasprachliches; nicht-sprachliche Handlungen .hhhh hörbares Einatmen hhhh. hörbares Ausatmen {sehr höich} Information zum Gesprächsverlauf bzw. zum Kontext des Gesprächs
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Stars, Sterne und unendliche Weiten: Die Events der Trekkie-Szene Iris Eisenbürger
1
Vorbemerkung
STAR TREK ist ein typisches Phänomen unseres von Medien nachhaltig geprägten Erlebniszeitalters, noch dazu ein äußerst ausdauerndes. Basierend auf den mittlerweile sechs Serien und zehn Kinolmen1 umfassenden Medienprodukten haben sich in den vergangenen drei Jahrzehnten international vernetzte Fangemeinden etabliert. Die selbsternannten Trekkies2 treffen sich jährlich zu Tausenden anlässlich zahlreicher kleinerer und größerer Meetings und Happenings. Ihre Charakteristika und ihr Faszinosum gilt es zu beschreiben und zu erklären. Eine Szenen- und Eventethnograe liefert hierzu den empirischen Schlüssel. Mittels teilnehmender Beobachtung von szeneninternen Veranstaltungen und narrativen Interviews mit zahlreichen Trekkies werden die verschiedenen Abstufungen und Facetten des sich Auslebens im STAR TREK-Universum aufgedeckt und gleichzeitig die relevanten Angebote einer ‚gestuften Eventbildung‘ detailgenau beschrieben. Auf drei Typen von Veranstaltung gilt es dabei besonders hinzuweisen: Erstens die internen Clubtreffen – und hier insbesondere das Trek-Dinner –, die durch ihre Interaktionsdichte und -regelmäßigkeit die „focal concerns“ (Miller 1958: 6) der Trekkie-Gilde darstellen. Zweitens die Kinonächte, die wesentlich sporadischer stattnden und mit einem hohen Organisationsaufwand der Clubmitglieder verbunden sind. Und drittens die großen Mega-Events, die sogenannten Conventions, die als vollständig kommerzialisierte Foren und Meetings die absoluten Highlights der Trekkie-Szene sind. Alle drei Veranstaltungstypen erfüllen für die Fans bestimmte Funktionen, die sich teilweise überschneiden, aber auch deutlich voneinander unterscheiden. Besondere Aufmerksamkeit soll bei den 1
Vgl. dazu Tab. 1. Der in der breiten Öffentlichkeit bekannte Ausdruck ‚Trekkie‘ wird immer wieder irrtümlich zu Begriffen wie ‚Groupie‘ oder ‚Junkie‘ in Beziehung gesetzt. Vor allem im englischen Sprachraum stößt er deshalb bei den STAR TREK-Fans weitestgehend auf Ablehnung und wird von ihnen durch den Begriff ‚Trekker‘ ersetzt. In Deutschland hingegen ndet er auch weiterhin durch die Fans selbst Verwendung, sodass mir ein entsprechendes Fan-Label zulässig erscheint. 2
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Iris Eisenbürger
folgenden Darstellungen dem Trierer STAR TREK-Club ‚Utopia Planitia‘3 gelten, dessen Mitglieder wir beim Besuch der genannten Trekkie-Settings forschend begleitet haben. In der Rolle von ‚Feldexperten‘ und ‚Felddolmetschern‘ haben sie uns nicht nur in eine fremde Welt hinein geführt, sondern auch zu deren besserem Verständnis ganz wesentlich mit beigetragen.
STAR TREK-SERIEN UND FILME BIS 2002
SERIE
KÜRZEL
PRODUKTIONSZEIT-
SCHIFF
CAPTAIN
RAUM
R AUMSCHIFF ENTERPRISE (STAR TREK – THE ORIGINAL SERIES)
TOS
1966–1969
Enterprise NCC-1701
James T. Kirk
R AUMSCHIFF ENTERPRISE – DAS NÄCHSTE JAHRHUNDERT (STAR TREK – THE NEXT GENERATION)
TNG
1987–1994
Enterprise NCC-701 D
Jean-Luc Picard
STAR TREK – DEEP SPACE NINE
DS9
1993–1998
Raumstation Deep Space Nine
Benjamin Sisko
STAR TREK – VOYAGER
1995–2001
Voyager
Kathryn Janeway
ENTERPRISE
2001–2005
Enterprise NX-01
Jonathan Archer
STAR TREK – Zeichentrick (THE A NIMATED A DVENTURES)
1973–1974
Enterprise NCC-1701
James T. Kirk
3 ‚Utopia Planitia‘ bezeichnet ursprünglich eine Gesteinsformation auf dem Planeten Mars. In der durch STAR TREK kreierten Realität allerdings handelt es sich dabei um eine Raumstation, die im 24. Jahrhundert im Orbit um den Mars schwebt und die als Werft für Raumschiffe dient, insbes. des Raumschiffes Enterprise D, bekannt aus der Serie ‚R AUMSCHIFF ENTERPRISE – DAS NÄCHSTE JAHRHUNDERT‘. Der STUP e. V., gegründet am 7.1.1995, hat seinen Sitz in Trier, einer Stadt im Südwesten Deutschlands, Oberzentrum der Region. Zum Zeitpunkt der Untersuchung (Frühling 2001) hatte der Club 84 Mitglieder. Gut die Hälfte davon stammt aus Trier und der näheren Umgebung bis Luxemburg, es nden sich aber auch vereinzelt Mitglieder aus weit entfernten Städten wie Köln, Berlin, Hamburg und München. Der STUP besitzt Mitglieder zwischen 16 und 46 Jahren, wobei die Mehrzahl unter 27 Jahren alt ist. Drei Viertel der hier organisierten Trekkies sind männlich.
Stars, Sterne und unendliche Weiten: Die Events der Trekkie-Szene PRODUK-
K INOFILM
SCHIFF
CAPTAIN
STAR TREK: Der Film
1979
Enterprise NCC-1701
James T. Kirk
STAR TREK II: Der Zorn des Khan
1982
Enterprise NCC-1701
James T. Kirk
STAR TREK III: Auf der Suche nach Mr. Spock
1984
Enterprise NCC-1701
James T. Kirk
STAR TREK IV: Zurück in die Gegenwart
1986
Enterprise NCC-1701 A
James T. Kirk
STAR TREK V: Am Rande des Universums
1989
Enterprise NCC-1701 A
James T. Kirk
STAR TREK VI: Das unentdeckte Land
1991
Enterprise NCC-1701 A
James T. Kirk
STAR TREK VII: Treffen der Generationen
1994
Enterprise NCC-1701 B&D
James T. Kirk & Jean-Luc Picard
STAR TREK VIII: Der erste Kontakt
1996
Enterprise NCC-1701 E
Jean-Luc Picard
STAR TREK IX: Der Aufstand
1998
Enterprise NCC-1701 E
Jean-Luc Picard
STAR TREK X: Nemesis
2003
Enterprise NCC-1701 E
Jean-Luc Picard
STAR TREK XI
2009 (in Vorbereitung)
Enterprise NCC-1701
James T. Kirk
Tabelle 1
2
TIONSJAHR
115
Auistung aller bisheriger STAR TREK-Serien und Kinolme
STAR TREK: Narrative Struktur und Fantum
Seit nunmehr über 40 Jahren wirbt das Label STAR TREK für spannende und qualitätsreiche Unterhaltung im Science-Fiction-Bereich und hat in dieser Zeit mit seinen Serien und Kinolmen Kultstatus erreicht. Die narrative Grundidee ist dabei die Darstellung einer Zukunft, in welcher der Mensch den unendlichen Weltraum bereist und sich in einem Reigen unzähliger Außerirdischer selbstbewusst zu behaupten weiß. Die Raumschiffe von STAR TREK – meist handelt es sich um ein Schiff namens ‚Enterprise‘ – sind auf oft mehrjährigen Reisen unterwegs, um Unbekanntes zu erforschen und neue Welten zu entdecken. Die Erde ist nach dramatischen kriegerischen Auseinandersetzungen (3. Weltkrieg etc.) gerade noch einmal ihrem Ende entronnen und hat sich mittlerweile in einen fast paradiesisch anmutenden Planeten verwandelt. Die Bewohner haben Kontakte zu den Völkern
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Iris Eisenbürger
anderer Gestirne und Galaxien geknüpft, da man dank eines überlichtschnellen (Warp-)Antriebs die enormen Entfernungen zwischen den Sternen problemlos überbrücken kann. Die Erde bildet zusammen mit vielen weiteren Welten die ‚Föderation der vereinten Planeten‘, eine Art interstellare UNO. Für die Sicherheit der Föderation und Expeditionen ist die Sternenotte zuständig, zu der auch die Enterprise gehört. Die Konikte, die im interstellaren Raum zwischen Androiden, Aliens und Menschen ausgefochten werden, sind aber angelehnt an aktuelle und sehr irdische Themen und Problemlagen wie bspw. Rassendiskriminierung, Drogensucht oder die Cyberspace-Problematik, welche meist auf friedliche und gleichzeitig sehr dem westlichen Denken verhaftete Weise gelöst werden. Die Geschichte der STAR TREK-Serie beginnt 1966 mit ihrem ersten Erscheinen auf US-amerikanischen Bildschirmen. Von Anfang an nimmt die zunächst nicht besonders zahlreiche, dafür aber bereits ungewöhnlich begeisterte Fangemeinschaft eine wichtige Stellung für das Fortbestehen der Serie selbst ein, denn nach den Angaben von NBC verhinderten mehrere hunderttausend Protestbriefe das frühzeitige Absetzen der zunächst massenuntauglich eingeschätzten Serie. Auch in Deutschland bilden sich nach der Übernahme von RAUMSCHIFF ENTERPRISE ins Fernsehprogramm Anfang der 70er Jahre genauso schnell Trek-Gemeinschaften wie auf der anderen Seite des Atlantiks. Und auch hier bleibt die Fangemeinde während der ersten zehn Jahre eher klein. Doch mit dem ersten Kinolm von 1978 – STAR TREK: The Movie – vervielfältigt sich die Fanszene beinah über Nacht. Hinzu kommt, dass durch den Erfolg des Films STAR WARS (1977) das ScienceFiction-Genre insgesamt einen starken Aufschwung nimmt. STAR TREK wird neben STAR WARS zum erfolgreichsten Objekt des Fankultes, wobei der Durchbruch zum ‚Megakult‘ dann mit der neuen Serie STAR TREK – THE NEXT GENERATION (kurz TNG) gelingt, die weltweit hohe Einschaltquoten erreicht (vgl. Dewi 1997: 20 f.). Der offensichtliche Erfolg der neuen Serie veranlasste Paramount, die Produktionsrma von STAR TREK, noch eine dritte – STAR TREK – DEEP SPACE NINE (kurz DS9) – und eine vierte Serie – STAR TREK – VOYAGER – zu produzieren. Die vorläug letzte Produktion der Endlos-Serie lief im Herbst 2001 in den USA unter dem schlichten Titel ENTERPRISE an. Auch wenn in den letzten Jahren eine Schwankung in den Zuschauerzahlen zu beobachten ist, durch die Ausweitung der Vermarktung in Form von Kinofassungen, Fanprodukten und Großveranstaltungen zählt die STAR TREK-Serie zu den erfolgreichsten Medienprodukten aller Zeiten.4 Entsprechend groß ist auch das 4 Das hohe Niveau an Einschaltquoten von ‚STAR TREK – DAS NÄCHSTE JAHRHUNDERT‘ (besonders im ersten Drittel der 90er Jahre) konnte allerdings durch die folgenden Serien ‚DS9‘, ‚VOYAGER‘ und ‚ENTERPRISE‘ nicht gehalten werden. Die letztere Serie ‚ENTERPRISE‘ sollte schon nach drei Staffeln vorzeitig eingestellt werden, was allerdings wie schon einst bei der Ursprungsserie heftige Fanproteste, diesmal in Form von Internetseiten, E-Mailschwemmen und Telefonanrufen bei Paramount,
Stars, Sterne und unendliche Weiten: Die Events der Trekkie-Szene
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medienwissenschaftliche Interesse. So wurden die Serienfolgen und ihre KinoAbleger inhaltsanalytisch bereits unter verschiedenen Aspekten untersucht wie etwa die den ktionalen Inszenierungen zugrundeliegenden mythischen Raumvisionen (vgl. Maier 1996) oder ihre moralischen und ethischen Implikationen (vgl. Wanning 1997). Auch die Rezeptionsformen der Fankultur sind gut dokumentiert (z. B. Wenger 2006). Vor allem zum jugendlichen STAR TREK-Fantum liegen aufschlussreiche Untersuchungen vor (vgl. Tulloch/Jenkins 1995; Barth/vom Lehm 1996). Ihr Tenor ist einhellig und deckt sich mit meinen Beobachtungen: Wie in allen medienbezogenen Aneignungsstilen von Jugendlichen zeigen sich auch bei ihrer Auseinandersetzung mit STAR TREK starke Differenzen. Vom gelegentlichen Betrachten einzelner Serienfolgen über regelmäßige Sympathisanten-Stammtische in Kneipen bis zu langlebigen Fanclubs spannt sich dabei der Bogen des Fantums. Es sind gerade die Fanclubs5, die den Kern der Sozialwelt der STAR TREKAnhänger bilden. Sie veranstalten Filmfestivals, schreiben Filmkritiken, geben Fanmagazine heraus und organisieren die Clubtreffen. Dass diesbezüglich auch die Trierer Trekkies nicht untätig sind, ist unter der Überschrift: ‚Gemeinsam mit Kirk‘ folgender Pressemitteilung zu entnehmen: „Arm in Arm mit Kirk, Scotty, Spock und Pille können sich derzeit alle STAR TREK-Fans in der Trierer Stadtbücherei zeigen. Als Pappkameraden stehen die großen Helden der Kultserie R AUMSCHIFF ENTERPRISE und der STAR TREK-Filmreihe inmitten einer großen Ausstellung. Der Trierer Fanclub … trug zahlreiche Glaskästen prall gefüllt mit Ausstellungsmaterial zusammen: Plakate, Bücher, Videos und Zeitschriften sowie Uniformen und andere Fan-Artikel. Zur Eröffnung der Ausstellung wurde der in clubeigener Regie erstellte Kurzlm ‚Enterprise goes Alliance‘ aufgeführt“ (Trierischer Volksfreund v. 27.6.1996: 10).
auslöste, was zu einer Fortsetzung der Serie führte. Da die Einschaltquoten jedoch immer noch unter dem erhofften Niveau blieben, wurde ‚ENTERPRISE‘ nach vier Staffeln dann doch eingestellt. Das Unterhaltungsprodukt STAR TREK zieht indessen weniger neue Fans an, der harte Kern ist aber nach wie vor dabei (Brigitte, Pressesprecherin der FedCon). 5 Bei meinen Recherchen konnte ich keine komplette Auistung aller deutschen Fanclubs aus ndig machen. Allerdings ist für viele Clubs, wie mir Christian, Vorsitzender des STUP, in einem Interview bestätigte, eine gut gemachte Homepage ein wichtiges Aushängeschild. Die Seite http://www. startrekforum.de/fanclubs.htm listet 24 (25 im Jahr 2001) Clubs auf (Angaben vom 15.11.2007). Beim Betrachten der gewonnenen Liste fällt auf, dass sich neben den allgemeinen STAR TREK Clubs (OSTFC, STUP, United Federation of STAR TREK Fans) auch Foren nden, die sich um einzelne Charaktere gebildet haben, sei es um eine bestimmte Seriengur (Raumstation James T. Kirk, The Fifth House: Deanna Troi Fanclub) um den Schauspieler selbst (William Shatner Association, Leonard Nimoy Fanclub), um eine ganze Rasse (Ferengi Alliance, Khemorex Klinzhai Klingonenclub) oder eben auch Clubs, die sich als eigenes Raumschiff sehen (USS Highlander, USS Saxonia, USS Europe). Der bekannteste und größte Club Deutschlands, der OSTFC (Of zieller STAR TREK Fanclub), ehemals STCE, hält seine Mitgliederzahl seit Jahren konstant bei 8.500 (Angabe vom 14.11.2007).
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Weitere Aktivitäten, Stilelemente und Sinnmuster des STAR TREK-Fantums konnte ich bei meinen Gesprächen mit den Mitgliedern des Trierer Fanclubs sowie bei Beobachtungen auf diversen Veranstaltungen eruieren. Gleichsam prototypisch zeigt sich hier, was auch für die anderen Fanclubs charakteristisch ist: Der Club bietet den Fans einen geschützten Raum, um ihre Faszination auszuleben. Es dreht sich alles um Enterprise und Co. Man unterhält sich über die neuesten technischen Innovationen der Raumschiffe, über die (ktiven) Galaxien und ihre Bewohner, gestaltet Filmnächte, Partys, Videoabende oder nutzt die gemeinsame Zeit, Neuigkeiten über Produktion und Protagonisten auszutauschen. Dabei bereitet es den Fans sichtlich Vergnügen, die narrative Struktur der STAR TREK-Serie und -Filme zu entschlüsseln und ihre Dekodierkompetenz gegenüber dem Durchschnittspublikum deutlich herauszustellen: „Die normalen Leute, also ich meine jetzt die Nicht-Trekkies, die sehen das Ganze wirklich nur als eine Kinderserie, wo irgendwelche Typen mit Phasern rumlaufen und auf Außerirdische schießen. Aber Leute, die sich damit beschäftigen, die den Hintergrund in den Serien kennen, auch den politischen und den sozialen Hintergrund, die sehen sich die einzelnen Folgen und Filme ganz anders an. Wer weiß denn schon, dass es nicht in einem Hollywood-Schinken den ersten schwarz-weißen Kuss der amerikanischen Filmgeschichte gab, sondern in einer Folge der STAR TREK-Serie. Oder wenn man sich THE NEXT GENERATION betrachtet, da ist z. B. auch der Fall der Sowjetunion drin, aber nicht direkt dargestellt, sondern verschlüsselt am Beispiel der Klingonen gezeigt. So gibt es immer Parallelen zum Zeitgeschehen, und das macht die Serie auch so interessant. Wenn man jetzt aber guckt, ganz ohne Vorwissen und die Zusammenhänge nicht kennt, dann hat man es schwer, sich in ihr zurechtzunden. … Wer ohne Hintergrundwissen guckt, für den ist STAR TREK nur eine von vielen Unterhaltungsserie, und der kriegt gar nicht mit, dass hier Themen wie Homosexualität, Rassenkonikte, Umweltzerstörung und technische Entwicklungen angesprochen werden, die uns alle betreffen“ (Christian).
Die Differenziertheit und Reektiertheit in der Auseinandersetzung mit den STAR TREK-Episoden zeigt, wie wenig ihre Fans mit dem Stereotyp vom distanzlosen und verschrobenen Zuschauer gemein haben. Auch die immer wieder unterstellte Vermischung von eigener Welt und Filmwelt entbehrt für sie jedweder Relevanz. Im Gegenteil, es ist gerade die dramaturgische Umsetzung von Grenzlinien zwischen dem Bereich des Bekannten und Vertrauten und der Sphäre des Unbekannten und Fremdartigen, die den besonderen Reiz der STAR TREK-Inszenierungen ausmachen und die – durchaus auch kontroverse – Auseinandersetzungen darüber innerhalb der Fangemeinschaft forcieren. So sind einige Fans davon überzeugt, dass „die Serie zum Nachdenken darüber anregt, wie sich die Welt im nächsten Jahrtausend entwickeln wird (Oliver) oder sehen in ihr den Entwurf einer neuen, zukunftsfä-
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higen Gesellschaft, in der Toleranz und Pazismus herrschen“ (Holger). Andere dagegen sind hier sehr viel skeptischer und halten gleichermaßen das Technik-, Menschen- und Gesellschaftsbild für unrealistisch: „Gene Roddenberry (Produzent der STAR TREK-Serie; I. E.) stellt wie Jules Verne Fantasiewelten dar. Sie sind zwar viel ausgefeilter und komplexer, aber genauso unrealistisch. Zum Beispiel der Warp-Antrieb, das ist eine interessante technische Spielerei, aber ansonsten völlig utopisch. Für noch unwahrscheinlicher halte ich seine Vorstellung, wie die Menschen in Zukunft zusammenleben werden. Von wegen Glück und Harmonie, das ist doch blanke Utopie. In STAR TREK wird der gute Mensch gepredigt, aber der Mensch ist meiner Meinung nach nicht gut. Da brauch’ ich mir nur die Geschichte der letzten hundert Jahre anzuschauen und weiß, dass das, was in der Serie und in den Filmen dargestellt wird, absolut keine Perspektive hat. Ich glaube nicht, dass es zu einer Einigung auf der gesamten Welt kommen wird, dafür sind die Differenzen einfach zu groß“ (Claire).
Wie unterschiedlich auch immer die Fans die zukünftige Realisierbarkeit der STAR TREK-Welt einschätzen, in jedem Fall werden in und durch die Serie bestimmte Problemlagen und Entwicklungen zum Thema, d. h. sie sensibilisiert die Fans für zentrale kulturelle, ethnische und ökologische Fragestellungen. Sie ist mithin eine Art Themenressource, die eine je spezische Koppelung an die eigene Lebens- und Vorstellungswelt erlaubt, wobei das Erkennen der Differenz zwischen ktiven und realen Räumen und Möglichkeiten zum konstitutiven Rezeptionsmerkmal wird. Dass die Fans durch ihr Outt, ihre Sprache und ihre Feten bisweilen Ausnahmesituationen herstellen, „die bei manch Außenstehendem wohl Assoziationen an eine Laienspielschar aus fernen Galaxien auslösen dürften“ (Holger), darf nicht den Blick dafür verstellen, dass die Trekkies „mit beiden Beinen auf der Erde stehen“ (Marco) und bewusst und kontrolliert mit ihren irdischen und außerirdischen Welten umgehen.
3
Kleine Happenings und lokale Erlebnisräume
Zur Verstetigung der STAR TREK-Lebenswelt und zur Stärkung des Wir-Bewusstseins sind verlässliche Treffpunkte und sich wiederholende kleine Happenings von großer Bedeutung. Hier manifestiert und reproduziert sich nicht nur die Kultur der Szene, sondern auch das subjektive Zugehörigkeitsgefühl des Mitglieds. Hier werden die ästhetisch-stilistischen Gemeinsamkeiten effektvoll ‚in Szene gesetzt‘, wobei die Handlungsfelder und Szenarien aber eine durchaus unterschiedliche Intention und Größenordnung haben können. So lassen sich in der ‚lokalen Sphäre‘ der Fanszene um STAR TREK zwei wichtige Ereignistypen unterscheiden: das monatlich
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stattndende Trek-Dinner und die etwas seltener veranstalteten Kinonächte. Beide Veranstaltungsformen bedeuten für die Fans Alltagszäsuren, wenn auch mit einem unterschiedlichen Erlebniswert.
3.1
Trek Dinner6 – ein Abend mit netten Leuten
„Da treffen sich Leute, die genauso verrückt, durchgeknallt und wahnwitzig sind wie ich“, sagt der 16-jährige Nicolas in einem Interview und meint damit das im monatlichen Turnus stattndende Trek-Dinner des STUP e. V. in Trier. Oder wie ein anderes Clubmitglied feststellt: „Hier ndet man nur Leute, die auf einer Wellenlänge sind, mit denen man einen netten Abend verbringen möchte“ (Marco). Alle Clubmitglieder heben hervor, dass es ihnen in erster Linie darum geht, nicht mit ihren Interessen allein zu bleiben, sondern mit anderen darüber sprechen – und manchmal auch streiten – zu können. Es ist gerade das fundierte STAR TREK-Wissen und der Expertenstatus der Einzelnen, die immer wieder Anlass zu lebhaften Auseinandersetzungen bieten. „Bei unseren Treffen, so das Clubmitglied Florian, wird des Öfteren gefrotzelt: Hast du die Anspielung bemerkt oder die Verknüpfung zu einer früheren Folge? Darüber mit anderen zu reden und zu debattieren, das macht die Treffen so interessant und abwechslungsreich.“ Das Trek-Dinner ist aber nicht nur ein Debattierzirkel, es ist auch eine Informationsbörse – und das STAR TREK-Universum bietet dazu viel Anschauungsmaterial: Serienrelevante Themen wie die Entwicklung der Charaktere oder der Erzählstruktur, aber auch logische Fehler bei der Technik- und Handlungsinszenierung oder das Privatleben der zahlreichen Schauspieler geben Anlass zum Disput. Natürlich unterhält man sich darüber hinaus auch über Themen, die nichts mit STAR TREK zu tun haben. Auch wird schon einmal über andere Trek-Fans oder -Clubs kräftig abgelästert (Iris). Die Alltagskommunikation in all ihren Facetten ist insofern auch für das Trek-Dinner bezeichnend. Aber es gibt einen thematischen Fokus: die ktionale Welt von STAR TREK und ihre lmische Generierung. Sie bilden eine schier unerschöpiche kommunikative Ressource. Und dabei verlieren Schicht- oder Milieuunterschiede, die zwischen den Fans bestehen, völlig an Bedeutung: „Die STAR TREK-Fans, das sieht man an unseren Vereinsmitgliedern, die kommen von überall her. Was sich da so versammelt und im Verein trifft, das sind Ärzte, Studenten, Schüler, Leute aus der Arbeiterklasse, Anwälte, Rentner und Hausfrauen“
6 Die Seite http://www.trekdinner.de listet im Jahr 2001 143 Trekdinner in Deutschland auf, 2008 sind es noch 91. Diese Abnahme der Fantreffen trägt dem Umstand Rechnung, dass in den letzten Jahren keine neue STAR TREK-Serie produziert wurde und der neue Kinolm lange auf sich warten ließ, wodurch das Faninteresse etwas eingeschlafen ist, bzw. sich auf andere Serien (z. B. Galactica) ausrichtet.
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(Oliver). Sie eint die Liebe zu STAR TREK, die im geselligen Rahmen der Trek-Dinner immer wieder aufs Neue bestätigt und bestärkt wird. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang noch folgende Beobachtung, die ich während der Trek-Dinner machen konnte und die in den Interviews auch immer wieder angesprochen wurde: STAR TREK-Fans sind wahre Science-FictionFreaks. Ihr Interesse an der Welt des Fiktionalen und Unbekannten geht weit über die Dramaturgie der STAR TREK-Serien und -Filme hinaus. Sowohl STAR WARS als auch BABYLON 5 oder in der jüngeren Vergangenheit STARGATE, FARSCAPE oder ganz neu GALACTICA nden bei ihnen großen Zuspruch, genauso wie die Mystery-Serie AKTE X und seit neustem LOST oder Fantasy-Reihen wie XENA oder HERKULES. Eher selten beschäftigt sich ein Fan ausschließlich mit STAR TREK: „Es ist schön, wenn man jemanden hat, mit dem man sich austauschen kann, mit dem man sich wirklich versteht. Man kann dann sehr schnell anknüpfen an die vielen Science-FictionThemen. STAR TREK ist ja nur ein kleiner Baustein in diesem unendlichen Kosmos von Literatur und Filmen, die sich mit fernen Welten beschäftigen“ (Florian). Es ist also der Science-Fiction-Bereich insgesamt, der die Kommunikationsthemen der Trek-Dinner dominiert. Mit Gleichgesinnten startet man Fantasiereisen in die Sphären des Unverfügbaren und Unerreichbaren, um den ( ktiven) Raum jenseits des (realen) Raums diskursiv auszuloten. Fraglos bieten die Aktivitäten und Sessions der STAR TREK-Clubs ihren Mitgliedern die Möglichkeit, gemeinsame kulturelle Praktiken auszuleben und sich als Teil einer großen Gemeinschaft zu fühlen. Aber das gemeinsame Eintauchen der Trekkies ins Imaginäre unterliegt ganz offensichtlich auch Gewöhnungs- und Veralltäglichungsprozessen. Ablesbar ist dies zum einen an der Tatsache, dass im Laufe der Zeit die ktionalen Robinsonaden in der Club-Agenda ihren Exklusivitätstatus einbüßen. Zum anderen – und dadurch beeinusst – werden die Treffen der Clubmitglieder thematisch unspezischer. Zwar sind die STAR TREK-Serien und -Filme nach wie vor wichtig für die Fans, aber nicht mehr mit der gleichen Ausschließlichkeit wie noch in der Zeit unmittelbar nach der Clubgründung: „Früher, in den Gründungszeiten, saßen da zehn bis fünfzehn Leute in Uniformen, da wurde STAR TREK so richtig gelebt. Man hat sich gemeinsam einen Video lm angeschaut und ist so richtig in die Filmwelt eingetaucht. Um nur eine kleine Episode zu erzählen: Ein Mitglied ist durch seine Beziehungen beim saarländischen Rundfunk an Originaltapes gekommen, frisch aus Amerika. Wir haben dann den Pilotlm von VOYAGER gezeigt, über ein Jahr bevor er nach Deutschland kam. Dann haben die Leute geklatscht, es war richtig wie eine kleine Kinonacht. Mittlerweile gilt vielen STAR TREK nur noch als Alibi, um Freunde zu treffen, und man redet über ganz banale Dinge“ (Marco).
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Was in der Kleingruppenforschung immer wieder nachgewiesen werden konnte, zeigt sich auch bei den Fanclubs der STAR TREK-Szene: ihr Themenzentrismus wird zunehmend sozial gerahmt. Während die primär auf STAR TREK bezogenen kulturellen Praktiken wie das gemeinsame Ansehen von Videos oder das Tragen von Uniformen bei den Treffen immer sporadischer werden, wird das kommunikative und interaktive Spektrum vielfältiger. So dient das Trek-Dinner heute durchaus auch als Anknüpfungspunkt für weitere freizeitbezogene Aktivitäten wie gemeinsame Kneipentouren, Disko- und Kinobesuche, wobei der ausgewählte Film keinesfalls immer aus dem Science-Fiction- oder Fantasy-Bereich stammen muss. Die Freundschaften, die sich durch den Club gebildet haben, werden für viele zum Selbstzweck, Clubveranstaltungen weiterhin zu besuchen: „Es gibt wohl ein oder zwei Leute, die den STAR TREK-Kult heute noch ausleben, aber dafür gibt es auch Leute, die noch im Verein sind, obwohl sie sich überhaupt nicht mehr für STAR TREK interessieren, einfach weil die Gruppe so gewachsen ist, weil sie sich dort einen Freundeskreis aufgebaut haben“ (Olli). Die Ausweitung der sozialen Aktivitäten – und das bestätigten mir auch die Mitglieder anderer Fanclubs – hat den Gratikationsverfall der STAR TREK-Thematik kompensiert und dadurch das Überleben der Clubs gesichert. Auch das Trek-Dinner hat den für Gruppenveranstaltungen typischen Prozess des Wandels vom unifunktionalen Forum zur multifunktionalen Kontaktbörse durchlaufen und auf diese Weise seinen Charakter als exklusives Fanmeeting verloren. Der Kristallisationspunkt des STAR TREK-Clubs ‚Utopia Planitia‘ – das Trek-Dinner – hat sich somit vom Mini-Event zu einer Zusammenkunft eines Freundeskreises entwickelt. Im Gegenzug wurde dadurch aber das Binnenselbstverständnis und Zusammengehörigkeitsgefühl auf eine breitere und beständigere soziale Basis gestellt. Ähnlich wie der Ablauf des Trek-Dinners hat sich auch die öffentliche Auseinandersetzung mit den Trekkies ‚normalisiert‘. Die allgemeine Akzeptanz der Serie und ihrer Fans ist im Zuge ihrer Omnipräsenz in Printmedien, Fernsehen und Kino stark gewachsen: „Früher hieß es immer: R AUMSCHIFF ENTERPRISE, pfui, wie kann man so etwas kucken. Und als sich der Begriff STAR TREK dann durchgesetzt hatte, dann wurde er immer mit einem weichen D ausgesprochen: Star Dreck. […] Man ist immer in Verteidigungsstellung gegangen, vor allem, wenn man nach den Hobbys gefragt wurde. […] ‚Du bist doch so ein Sternenfan,‘ hieß es dann meistens, weil sie nicht genau wussten, was es war. Ich habe dann immer schon STAR TREK gesagt, damit ich nicht R AUMSCHIFF ENTERPRISE sagen musste, denn mit STAR TREK wussten die meisten nichts anzufangen. Aber mit R AUMSCHIFF ENTERPRISE: ‚So einen Quatsch siehst du dir an?‘ […] Ich sage mal, als STAR TREK-Fan hat man es schwerer gehabt, als die meisten Science-FictionFans […] Inzwischen sagt aber niemand mehr etwas gegen STAR TREK. STAR TREK-Fan, Schalke-Fan, Westernhagen-Fan, das ist doch gleich. Früher musste man sein Hobby
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noch mehr rechtfertigen, sich verteidigen. Ich glaube, inzwischen können die Trekkies überall auftreten, ohne großartig belächelt zu werden“ (Iris).
Von der gerade in den 90er Jahren kräftig angewachsenen Zahl an Medienkulturen und Fanclubs protieren ganz offensichtlich auch die Trekkies. Sie erfahren heute im Allgemeinen eine größere Akzeptanz und werden bisweilen sogar durch das Umfeld unterstützt. In einer Medienlandschaft, die von Science-Fiction- und Fantasy-Produkten aller Art geprägt ist, nimmt STAR TREK keine Sonderstellung mehr ein. Im Gleichschritt haben auch die Fans an Akzeptanz in der Öffentlichkeit gewonnen und stellen keine ‚Randgruppe‘ mehr dar. Ihr Fantum ist Teil einer populärkulturellen Politik des Vergnügens, das sich nahtlos in die bunt-plurale Welt zeitgenössischer Szenen einfügt (vgl. Hitzler/Bucher/Niederbacher 2001).
3.2
Kinonächte – eine geballte Ladung STAR TREK mit Gleichgesinnten „Video ist immer nur eine aufgewärmte Erinnerung aus der Konserve, während man im Kino eine geballte Ladung Star Trek geboten bekommt“ (Florian).
Innerhalb dieses populärkulturellen Rahmens der STAR TREK-Szene gibt es neben den Dinnerpartys eine weitere feste Größe, die für die Fans ein absolutes Muss (Mandana) darstellt: die Kinonächte. Seit Mitte der 90er Jahre bis zum Zeitraum der Befragung in 2001 hat es sieben Kino-Events dieser Art in Trier gegeben, wobei der örtliche Fanclub sich aktiv an deren Organisation und Durchführung beteiligt hat. „Ja unsere Kinonächte, das ist etwas, wo sehr viel Arbeit von allen Beteiligten drinsteckt. Da haben wir uns wirklich engagiert und uns buchstäblich Nächte um die Ohren gehauen“ (Olli). Vom Angebot an Fanaccessoires bis zur Verpegung der Kinobesucher mit Fastfoodprodukten, Kaffee und Energy-Drinks (‚Warp4‘) reichte dabei die Unterstützung, um die anwesenden STAR TREK-Cineasten gleichermaßen bei Laune und Kondition zu halten. Denn bei einer Vorführungsdauer – sieht man einmal von kleineren Pausen ab – von bis zu 18 Stunden ist neben dem Filmenthusiasmus auch eine ganze Menge Stehvermögen gefragt. Für die Fans trennt sich bei diesem Filmmarathon auch die Spreu vom Weizen, weil zu diesen lmischen Night-Sessions nur die wirklichen Fans kommen (Nicolas). Nur sie bringen die Bereitschaft mit, die anstrengende Tortur des stundenlangen gemeinsamen Ausharrens auf engstem Raum auf sich zu nehmen, während die bloß Science-Fiction-Interessierten sich im Laufe der Nacht nach und nach verabschieden. Ein gestandener Trekkie hat diesen fantypischen Selektionsprozess so umschrieben: „Es ist wie in Gottfried Kellers Novelle vom ‚Fähnlein der sieben Aufrechten‘: am Schluss sind wir unter uns“ (Hendrik).
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Aber es gibt unter den STAR TREK-Fans auch eine Fraktion, die das Flair und die atmosphärische Dichte schätzen, die durch ein breites Publikum hervorgerufen werden. Vor allem bei den Vorpremieren nden sich neben den Trekkies nämlich immer auch zahlreiche Filmfans, die allein schon durch ihre große Zahl das Kino als Erlebnisort umgestalten: „Das war ein Erlebnis für sich: STAR TREK VIII – Der erste Kontakt. Und das Ganze in vier Kinosälen gleichzeitig. Das war mittwochs um 0:00 Uhr, und da hatten fünfhundert Trierer nichts Besseres zu tun, als die Kinosäle zu füllen und sich die Premiere anzukucken; mit großem Applaus und toller Stimmung“ (Marco). Hinzu kommt, dass ähnlich wie bei den Kinonächten auch hier einige STAR TREK-Fans in Uniformen erscheinen, was die Besonderheit dieses Kinoereignisses noch unterstreicht. Es geht hier also nicht nur um den Film und den exklusiven Charakter des Früher-Seins, sondern auch um eine spezische Rezeptionssituation, die aus dem Alltag herausgehoben ist bzw. diesen transformiert in ein besonderes Spaß- und Erlebnissetting. Das außeralltägliche Spektakel, das sich bisweilen im Zuschauerraum abspielt, ist analog den Filmhandlungen durch Exzentrizität und Übertreibung gekennzeichnet, wobei Outt und Habitus der Hardcore-Trekkies bei einem neutralen Beobachter durchaus den Eindruck erwecken können, dass es sich hierbei um Pendler zwischen realen und ktionalen Räumen handelt und zwar in Anlehnung an Woody Allens Film ‚The Purple Rose of Cairo‘, wo er seinen Helden aus der Leinwand treten und seine Heldin ins Imaginäre des cineastischen Spiels eintauchen lässt. Auch wenn die STAR TREK-Anhänger die Differenz zwischen Film- und Alltagswelt immer wieder betonen, so schafft es der Kinorahmen doch, eine Sondersituation zu konstituieren, die auch die Filmaneignung einfärbt, d. h. die ktionalen Szenarien lösen bei ihnen einen Prozess der Partizipation aus, der in gleicher Weise die Wahrnehmung und die Gefühle berührt. Obwohl sie diese lmischen Suggestivkräfte prinzipiell hinterfragen können – und das z. B. im Rahmen der Trek-Dinner auch machen –, so besteht ein Teil ihres Filmerlebens darin, dies in der Rezeptionssituation gerade nicht zu tun. Immer wieder betonen die Fans nämlich, dass die faszinierenden (Welt-)Raumbilder und die Qualität eines imposanten Tones in Dolby Surround in Verbindung mit dem Kinosetting eine Form des Involvements auslösen, wodurch die mit dem Film transportierten Emotionen verstärkt und das gemeinsame Erleben der Abenteuer und das Mitebern mit den Charakteren auf der Leinwand intensiviert werden. Die Atmosphäre macht es aus, sagt Iris und spricht vielen Teilnehmern solcher Events aus der Seele. Und sie ergänzt: „Die Filme an sich hat man ja auf Video oder 15mal im Fernsehen gesehen. […] Aber im Kino sitzt man mit den ganzen Fans zusammen und weiß, dass alle dasselbe denken wie man selbst, dass die Leute neben einem in der gleichen Stimmung sind.“
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Der zeitlich und räumlich abgeschlossene Ort der Kinonacht kreiert eine Art Schutzzone, in der Emotionen und Affekte erlaubt sind, ja gerade erwartet werden, denn der Besuch im Kino kommt einer durch den Zuschauer gebuchten Reise durch Phantasiewelten gleich. Es geht stets darum, vollständig in der virtuellen Handlung aufzugehen, und den Moment intensiver, bunter und voller zu erfahren. So können auch männliche Zuschauer bei der Zerstörung von Raumschiffen tief ergriffen werden: „Da sind dann Leute, die STAR TREK wirklich genießen, die auch mal eine Träne vergießen, wenn die Enterprise zerstört wird. Ich habe wirklich geweint, als die Enterprise D abgestürzt ist. Normalerweise heule ich nicht bei Filmen. Ich habe seit Jahren nicht mehr geweint, aber wenn eine Enterprise vernichtet wird, dann schon“ (Nicolas).
Neben dem emotionalen Rezeptionstypus ndet sich auch ein stärker kognitiver. Für diesen besteht die Quintessenz der Filmnächte darin, das Schicksal der Helden bzw. einen Großteil der gesamten STAR TREK-Entwicklung zeitlich verdichtet erleben und genießen zu können: „Besonders reizvoll nde ich den großen Bogen, der bei den Filmen entsteht. Über die sieben Jahre entwickeln sich die Personen weiter. Und wenn jetzt dies oder das passiert, dann ist man gerührt und denkt sich, das ist schön, das gönne ich dem richtig. […] Die Crew wird älter und gemächlicher, und die Leute rennen nicht mehr brüllend durch die Gegend wie in den früheren Folgen“ (Florian). Die schon aus den Serien bekannten und vertrauten Charaktere machen gleichsam im Zeitraffer eine für den Zuschauer direkt erlebbare Entwicklung durch, die von Abenteuern einzelner Crewmitglieder, dem Geschick des gesamten Schiffes mitsamt dem sichtbaren Alterungsprozess der Mannschaft bis hin zur Übergabe der Vorherrschaft von der Klassikcrew Captain Kirks zur NEXT GENERATION, d. h. den Charakteren der zweiten Serie um Captain Picard, reichen kann.7 Die Synchronizität zwischen dem Alter der lmischen Protagonisten und dem persönlichen Lebensalter der Fans unterstreicht die Verbundenheit und wird von ihnen auch als Authentizitätsgenerator wahrgenommen. Neben der emotionalen und kognitiven Dimension spielen für die Fans, wenn auch in abgeschwächter Form, pragmatische Überlegungen bei den Filmnächten eine Rolle. Im Gegensatz zu den Conventions, nden diese oft im näheren Umkreis statt und sind daher leichter zugänglich. Darüber hinaus ist der Preis auch für weniger 7 Während die ersten sechs STAR TREK-Kinolme alle vollständig von der Klassik-Crew bestritten werden, ermöglicht im siebten Film ,Treffen der Generationen‘ ein Zeitphänomen namens Nexus das persönliche Aufeinandertreffen der beiden chronologisch eigentlich Jahrzehnte nacheinander lebenden Captains der Original-Enterprise (Kirk) und der neuen Enterprise (Picard). Alle weiteren Filme (VIII–X) stehen bisher im Zeichen von TNG. Zum Kummer vieler Fans sind bisher noch keine DS9- und VOYAGER-Kinolme in Aussicht.
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üppig ausgestattete Portmonees erschwinglich. Der Spaß- und Erlebniswert, so ein mit beiden Eventformen vertrauter Fan, ist aber vergleichbar: „Es ist ähnlich wie bei einer Convention, nur ist es billiger und meist näher an Zuhause dran, also schneller zu erreichen. Es ist aber derselbe Effekt“ (Marco). Gleichwohl ist den Fans bewusst, dass das cineastische Angebot keineswegs immer so reichhaltig war wie heute und es einstmals große Hindernisse zu überwinden galt, um an das so geliebte Medienprodukt heranzukommen. STAR TREK hat heute durch seine jahrzehntelangen mehr oder weniger stetigen Publikumserfolge einen Stammplatz in den Programmen der Kinos errungen, während es früher mit sehr viel größerem Aufwand verbunden war, den neu angelaufenen Film im Kino sehen zu können. Vom Angebot ganzer Kinonächte konnte keine Rede sein: „Damals Anfang der 80er Jahre, wenn die STAR TREK-Filme dann endlich auch einmal hierher kamen, dann liefen sie unten in diesem Schammelkino, wo jetzt das Royal drin ist. Das hieß früher Gloria und war das erste Sexkino Triers. […] Dann lief der Film nur eine Woche, und du hattest gerade mal Zeit es zwei Mal zu schaffen ihn zu sehen, und dann ein Jahr warten, bis er auf Video herauskam. Das war schon herb“ (Iris).
4
Highlights in der STAR TREK-Szene: Conventions
Zu den markantesten Ereignissen in der STAR TREK-Sozialwelt zählen fraglos die Conventions. Was sich bei den Filmnächten bereits abzeichnete, erfährt hier eine dramaturgische und organisatorische Steigerung und wird von den Teilnehmern als ein totales Erlebnis wahrgenommen. In diesen Veranstaltungen der Superlative werden die szenetypischen Inszenierungs- und Vergnügungsformen so kompiliert und komprimiert, dass bei den Fans bisweilen der Eindruck entsteht, in einer anderen (Raum-)Welt zu sein: „Die Conventions sind Spektakel pur und man könnte meinen, die Enterprise sei tatsächlich gelandet“ (Hendrik). Einen ersten Eindruck von diesem Erlebnisszenario soll ein kurzer ethnographischer Bericht bieten, den ich unmittelbar nach dem Besuch einer Convention verfasst habe.
4.1
Die FedCon 9 vom 7. April 2001: Ein Erlebnisprotokoll
Als ich aus der Straßenbahn steige, fällt es mir nicht schwer, den Weg zum Maritim Hotel zu nden: Ich folge einfach einigen uniformierten Mitpassagieren. Auf dem kurzen Fußmarsch habe ich auch meinen ersten Kontakt zur Spezies der STAR TREK-Fans, die heute hier zu Tausenden zusammengekommen sind, um ihre
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Lieblingsserie zu zelebrieren. Ich tausche ein paar freundliche Worte mit Ilja aus, der aus Moskau stammt und jetzt in Aachen wohnt. Die imponierende Drehtür des Maritim-Hotels durchschreitend, zeigt sich mir auf einen Blick, dass hier heute kein gewöhnlicher Ärzte- oder Juristenkongress stattndet, sondern dass eine andere Art von Interesse die Anwesenden zusammengeführt hat. Es gibt niemanden in grauem Anzug oder Kostüm, statt dessen bleibt das Auge des Öfteren mit Erstaunen an bunten Gewändern und langen Togen haften, an der ungewöhnlichen Form eines Ohrs oder fremdartigen Stirnwülsten und Gesichtsfarben, während sonderbare Geräusche von weiter vorn dann und wann das Ohr überraschen. Aber noch steht eine lange Schlange zwischen mir und dem Eintauchen in die fremden Welten, die mich in den Kongressräumen des Hotels erwarten. Endlich – bestückt mit ID-Card und neongelbem FedCon-Armband – darf ich eintreten. Der erste Eindruck täuscht nicht: Es sind wirklich viele Menschen in Alien- und Sternenottenmontur erschienen und verbreiten mit ihrem fremdartigen Look eine Idee davon, wie es auf einer Raumstation im STAR TREK-Universum aussehen mag. Zunächst verschlägt es mich in den Sektor der Ferengi: Händler vertreiben in gleich zwei Sälen ihre verschiedensten Produkte. Hier gibt es alles, was das Trekkie-Herz begehrt, oder vielleicht auch, was es bisher nie dachte zu begehren: Poster mit fremdartigen Planetenlandschaften, Baukästen der verschiedensten Raumschiffe, T-Shirts des Hard Spock Cafe von Vulkanien, Plastikguren zum Nachstellen der Filmszenen, sämtliche Soundtracks, Trading- und Autogrammkarten der STAR TREK-Charaktere, dazwischen echte Autogramme von Shatner über Stewart bis Mulgrew, und – hoppla – auch von der Popsängerin Jennifer Lopez. Zwischen den Ständen drängen sich die Fans, die teils gelangweilt, teils fasziniert die Vielfalt an Merchandising beäugen. Mich zieht es weiter. Ich schlängele mich durch die Menge, vorbei an Ständen der Paramount und von Premiere, von Computerspielvertreibern und Internetorganisationen, die alle ein potenzielles Klientel in den hier Versammelten vermuten, und ab und zu stolpere ich über ein Kamerateam, das sich auf einen besonders schön maskierten Fan gestürzt hat, um den Menschen draußen den Trekkie zu präsentieren, wie man ihn sich schon immer vorgestellt hat. Und sie sind wirklich schön anzusehen, die kriegerischen Klingonen und die echsenartigen Cardassianer, die unheimlichen Borg und die affenartigen Vorta, manchmal lässt sich die strahlenförmige Haarpracht eines Zentauri ausmachen oder die Montur eines der anderen Aliens, die nicht aus dem STAR TREK-Universum stammen, sondern aus der Science-Fiction-Serie BABYLON 5. Auch Storm Trooper aus STAR WARS haben sich unter die ‚Außerirdischen‘ der Convention gemischt. Aus dem Holodeck dröhnen ab und zu Geräusche eines Raumschiffantriebs oder die bekannten Melodien der verschiedenen STAR TREK-Serien. Hier kann
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man es sich gemütlich machen und u. a. die neusten Folgen der Serie VOYAGER bewundern, die bisher in Deutschland noch gar nicht im öffentlichen Fernsehen ausgestrahlt wurden. Doch der größte Anziehungspunkt der Federation Con ist die Main Bridge, d. h. der große Saal, in dem sich die Stars präsentieren. Hier zeigt sich der Nachteil meines Tagestickets: Ich darf nicht in den Hauptsaal hinein. Ein Blick auf das strahlende Gelb meines Armbands hat dem Türsteher verraten, dass ich nicht zur Elite der Wochenendbesucher gehöre, für die ein Platz fest reserviert ist. Man verweist mich auf die ‚billigen‘ Plätze der Galerie. Doch auch von hier oben lässt sich das Treiben auf der Bühne ganz gut beobachten, die durch die Attrappe einer Beamvorrichtung und eines Weltraum-Shuttels einen spacigen Touch erhält. Was ist eigentlich ein ‚Guestpanel‘‚ frage ich mich und erhalte die Antwort. Vorne steht Colm Meany, der Darsteller des Chief O’Brian in THE NEXT GENERATION und in DEEP SPACE NINE. Vier Mikrophone, die symmetrisch im Raum verteilt sind, erlauben es den Fans unten im Forum und oben auf der Empore, direkt Fragen in mal holprigem, mal ießendem Englisch an den beliebten Schauspieler zu stellen, die dieser ausführlich und interessant beantwortet. Man fragt Persönliches: Wie er denn seine vielen Filmdrehs gleichzeitig gemeistert habe, wie er über den Plot bestimmter Folgen denke, ob er Europa oder die USA bevorzuge, welches Programm im Holodeck er besuchen würde, wenn er die Möglichkeit dazu hätte, und auch, was er als Ire vom Nordirlandkonikt halte. Schließlich überreicht der Ungarische Fanclub ihm gar ein kleines Präsent. Die Fans sind zufrieden mit dem sympathisch wirkenden Mann, der ihnen eine gute Show liefert, das zeigt der kräftige Applaus und die vollbesetzten Plätze. Ein ganz anders Bild bietet sich bei Jennifer Lien, der Darstellerin der Kes in VOYAGER. Sie versteht es nicht, das Publikum zu unterhalten, denn ihre Antworten sind kurz und unmotiviert. Dementsprechend leer ist der Saal und müde die Stimmung. Als die kleine blonde Frau endlich äußert, dass sie eine kleine Geschichte erzählen will, applaudiert man heftig, ob aus Freude oder Ironie ist nicht ganz klar. Auch mich kann ihre Darbietung nicht lange fesseln. Stattdessen schaue ich mir lieber an, was die oberen Räumlichkeiten an weiteren Abenteuern erwarten lassen. Während unten dem Trekkie eher die Serie mit all ihren Haupt- und Nebenprodukten präsentiert wird, scheinen die oberen Räumlichkeiten die Domäne der Fankultur selbst zu sein. Einmal abgesehen von einem Massagesalon nden sich hier mehrere Räume, in denen Fans ihre eigenen Erzeugnisse rund um STAR TREK ausstellen. Mein erstaunter Blick fällt auf bunte Gemälde, äußerst realistische Zeichnungen der Charaktere, selbst erfundene Comics, Modelle der Raumschiffe, nachgebaute Waffen, vom Phaser aus Kunststoff bis zum metallischen Bat’leth, ein Stickbild der Voyager-Crew. In einem weiteren Raum hat ein Schneider seine kreativ gestalteten Kostüme ausgestellt, die täuschend echt aussehen. Ein Klingone wird gerade zurecht gemacht,
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schwarze Striche auf der Stirn sollen die Kopfwülste darstellen, die prachtvolle Rüstung, die auch aus der Hand des schick in eine weiße Phantasieuniform gekleideten Schneiders stammt, hat er schon angelegt. Mehrere tausend Mark kostet ein solches Kostüm. Eine Frau in Sternenottenuniform fällt mir auf, denn ihre Brust ziert eine gefährlich aussehende Wunde, Blut klebt an Händen und im Gesicht. Ich bewundere die Authentizität ihrer Aufmachung und sie mokiert sich darüber, dass in STAR TREK so selten Blut zu sehen sei, obwohl doch so oft gekämpft würde. Gerne posiert sie mit dem Klingonen in einem imaginären Kampf verstrickt für unsere Kameras und spuckt plötzlich Blut: Um so echt wie möglich zu erscheinen, hat sie extra für uns auf eine Blutkapsel gebissen.
Abbildung 1
Gestellte Kampfszene zweier Fans in der Verkleidung der beiden ‚Erzfeinde‘ Sternenotte und Klingonen
Vor dem nächsten Raum, in dem sich verschiedene STAR TREK-Fanclubs präsentieren, um neue Mitglieder zu werben, sitzt ein Junge und verkauft Lebkuchen in der Form des Sternenotten-Emblems. Er ist sehr enthusiastisch und sympathisch, genauso wie die Mitarbeiter der FedCon selbst, denen ich im FedCon-Büro begegne. Sie arbeiten hier ehrenamtlich und betonen, dass das erste Ziel der ganzen Veranstaltung darin besteht, den Fans eine Möglichkeit zu bieten, in großem Rahmen zusammenzukommen und endlich einmal die Stars von STAR TREK live zu erleben. Im Stillen denke ich mir, dass in höheren Etagen der kommerzielle Gedanke sicher von größerer Wichtigkeit sein wird. Denn für ein solch aufwendiges Unternehmen, wie es Dirk Bartholomä mit dem Conventions-Konzept auf die Beine gestellt hat, liegen Steigerungsraten sozusagen in der Natur der Sache.
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Etwas später führe ich ein Interview mit zwei täuschend echt maskierten Talaxianern und einem Klingonen. Es handelt sich um eine ganze Fanfamilie: Vater, Mutter, Bruder und Tochter sind zusammen angereist, um hier eines der absoluten Highlights der STAR TREK-Szene mitzuerleben. Das Verkleiden spielt dabei für sie eine große Rolle: Jedes Jahr muss die Maskierung besser und außergewöhnlicher sein, betonen sie, und tatsächlich habe ich keine vergleichbare Talaxianer-Kostümierung auf der gesamten Convention ausmachen können. Das Kostüm ist mit sehr viel Akribie und Sinn für das Praktische erstellt worden, denn Gummischläuche fanden genauso ihre Verwendung wie eine blonde Fastnachtsperücke. Hauptsache das Ergebnis stellt etwas Besonderes dar. Ich frage, ob es nicht sehr heiß ist, unter all dem Latex auf dem Kopf und in den wattierten Polstern der Uniform. Natürlich sei es heiß, ist die logische Antwort, aber andere Menschen würden im Urlaub am Strand schwitzen, und sie eben unter dem Latex. Diesen Argumenten kann ich mich nicht erwehren und lache mit. Zwischendurch treffe ich im Erdgeschoss die Mitglieder des STUP, die aus Trier bzw. Frankfurt angereist sind. Mandana stellt mich ihrer Netz-Rollenspielergruppe vor. Normalerweise trifft man sich selten im realen Leben, kommuniziert stattdessen regelmäßig in Chatrooms, wo man miteinander imaginäre Abenteuer mit eigenen STAR TREK-Charakteren und -Schiffen erlebt. So können Personen an einem gemeinsamen abenteuerreichen Flug teilnehmen, obwohl sich die verschiedenen Crewmitglieder körperlich in den unterschiedlichsten Ecken Deutschlands aufhalten. Voraussetzung ist nur ein Internetzugang und die Mitgliedschaft bei AOL und schon kann man Sternenottenofzier werden und über verschiedene Entwicklungsphasen in der genau denierten militärischen Hierarchie aufsteigen bis hin zum Captain eines eigenen Raumschiffes. Eine weitere Möglichkeit des Auslebens der eigenen Kreativität bietet sich dem Trekkie im Kostümwettbewerb der FedCon. Hier präsentiert sich dem geneigten Auge der Zuschauer und der Jury ein Reigen an ausgefallenen Kostümen und Darbietungen. Sei es ein Vulkanierkind, eine Bauchtänzerin vom Zentauri, eine Arie aus einer klingonischen Oper oder die bekannteste Boygroup der Galaxis: Take This! Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt, und so lasse ich mich durch mehr oder weniger interessante und geschmackvolle Darbietungen ergötzen. Beim Kostümwettbewerb werden Preise verliehen und zwar u. a. für das originellste Kostüm, die beste Präsentation und die größte Ähnlichkeit mit einem existierenden Charakter. Den Rest des Abends lasse ich mich nur noch berieseln oder besser: unterhalten. Die Euphorie der Menschenmenge steckt mich an, und der Auftritt von Alexander Siddig, des Darstellers des Dr. Julian Bashir in DEEP SPACE NINE, lässt mich die Teenagermädchen verstehen, die in jeder an ihn gerichtete Frage ihre Begeisterung und ihr Schwärmen für diesen unterhaltsamen und attraktiven Mann
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ausdrücken. Um 23 Uhr gehen die Veranstaltungen zu Ende, aber in der Pianobar des Hotels fängt die Party erst richtig an. Die klugen Fans verirren sich hierher, weil sie hoffen, einen der Schauspieler zu treffen, die sich ab und zu gerne unter das Volk mischen. Und tatsächlich lassen sich ein paar bekannte Gesichter in den verrauchten und durch gedämpftes Licht illuminierten Ecken des Raumes ausmachen. Die Tanzäche ist proppenvoll, und es wird heftig getanzt. Das ist der letzte Abend der Convention, denn morgen gehen die Veranstaltungen nur noch bis 17 Uhr. Doch noch ist keine Abschiedsstimmung zu spüren: Man will sich amüsieren und unterhalten werden. Und genau dies wird dem FedCon-Besucher auch geboten.
4.2
Die Geschichte: Vom beschaulichen Fantreffen zum kommerzialisierten Megaevent
Die erste größere Zusammenkunft von STAR TREK-Fans fand im Jahre 1972 in New York statt. Erwartet hatte man einige hundert Teilnehmer, doch tatsächlich erschienen mehr als 3.000 Fans. Die Presse berichtete ausführlich über das bunte Treiben der ersten Trekkie-Generation und dürfte damit nicht unwesentlich zum Erfolg der Veranstaltung – und vor allem ihrer Nachahmung –beigetragen haben. Denn bereits im nächsten Jahr waren es schon 6.000 Science-Fiction-Fans, die den Weg nach New York oder zu den zahlreichen anderen STAR TREK-Conventions in den USA fanden, die wie Pilze aus dem Boden schossen. Seitdem ist nicht nur ihre Zahl stetig gewachsen, sondern auch ihr Umfang. Das „Mekka-Event“ (Hendrik) für die eingeeischten Fans ist dabei die Grand Slam STAR TREK-Convention in Kalifornien, die zu ihren besten Zeiten jährlich mehr als 10.000 Besucher aus aller Welt anlockte.8 Insgesamt gibt es allein in den USA im Jahr fast 100 Veranstaltungen, wo sich die Fangemeinde ein farbenprächtiges Stelldichein gibt (vgl. Jindra 1994: 39). In Deutschland setzte die Popularität von STAR TREK-Conventions erst sehr viel später ein. Es war der 1976 gegründete STAR TREK Club Europe (STCE9), der in den 80er Jahren als einer der ersten Clubs bundesweite Großveranstaltungen für die Fans organisierte. Zwar war die Teilnehmerzahl noch recht klein, aber es fanden sich bereits hier Trekkies aus den unterschiedlichsten Ländern ein. Eine Befragte erinnert sich:
8 Die Grand Slam Star Trek Convention hat indessen auch mit dem Produktionstief von STAR TREK zu kämpfen und sich 2003 zunächst auf Star Wars und dann schließlich auf das gesamte Science Fiction-Genre ausgeweitet, um weiterhin ein großes Publikum anzusprechen. 9 Heute nennt sich der Club OSTFC (Ofzieller STAR TREK Fanclub), da er inzwischen zum ofziellen Fanclub veredelt wurde.
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Iris Eisenbürger „Die ersten Conventions, also diese kleinen Treffen von 60 Fans – jetzt muss man sie klein nennen, obwohl wir sie damals nicht als klein empfunden haben – fanden in der Nähe von Augsburg statt. Damals war es schon der besondere Reiz, dass die Leute von überallher zusammenkamen, aus ganz Deutschland und Österreich. Teilweise hatten wir auch vereinzelte Fans aus Holland dabei, sogar eine Australierin und eine Amerikanerin, das war natürlich etwas ganz Besonderes. Aber, wie gesagt, das war alles noch recht klein“ (Brigitte).
Und es musste fast nochmals ein Jahrzehnt vergehen, bis die Conventions ihre organisatorischen Kinderkrankheiten abgestreift und sich zu einem exklusiven Szene-Highlight entwickelt hatten. Entscheidend hierfür waren die Bildung der ‚Federation Convention‘10 Anfang der 90er Jahre als ständiger Ausrichter und die Einbindung von Schauspielern aus den Serien oder den Filmen in das Veranstaltungsprogramm. Dies war der Startschuss für eine stetig wachsende Teilnehmerzahl an den ‚FedCons‘ und ihre zunehmende Kommerzialisierung. Mittlerweile hat die FedCon enorme Ausmaße angenommen und war stets die mit Abstand größte Veranstaltung dieses Typs in Deutschland.11 Im Jahr 2001 wurden nach Angaben der Geschäftsführung für die dreitägige Veranstaltung rd. 5.500 Eintrittskarten verkauft.12 Entsprechend groß ist der Arbeits- und Organisationsaufwand, sodass mittlerweile ein eigener Stab fest Angestellter aber vor allem auch vieler freiwilliger Helfer sich in einjähriger Vorlaufzeit um die Planung und den reibungslosen Ablauf der Veranstaltung samt Bearbeitung der Anmeldungen, Betreuung der Händler und Sponsoren, rechtlicher Absicherung, Anmietung und Ausstattung 10
Der Name ist angelehnt an die ‚Föderation der Vereinten Planeten‘ des STAR TREK-Universums. Inzwischen ist die FedCon die letzte große STAR TREK-Convention in Deutschland. Alle anderen Veranstaltungen dieser Art scheiterten an den sinkenden Besucherzahlen und wurden in den letzten Jahren eingestellt, sei es, dass sie Insolvenz anmelden mussten (z. B. Galileo7) oder sie sich anderen Medienprodukten zuwandten (wie z. B. die DenevaCon, die zur LostCon wurde und sich nunmehr mit gleichnamiger Mysterieserie befasst). In der Pressemappe der FedCon 2008 heißt es dazu: „Durch die Entscheidung, früh genug weit über den STAR TREK-Tellerrand hinauszuschauen, konnte die FedCon ihre Besucherzahlen stets konstant halten und ist heute die einzige noch verbliebene große Convention zum Thema STAR TREK und Science Fiction in ganz Deutschland“. In der Tat wurden seit 1997 zunehmend Gaststars anderer Genre-Serien (BABYLON 5, STARGATE, GALACTICA etc.) zur FedCon eingeladen und bilden Attraktionspunkt für viele Fans. STAR TREK bildet allerdings nach wie vor den Schwerpunkt. 12 In den letzten Jahren haben die Besucherzahlen der FedCon leicht nachgelassen und sich dann bei 4.000 eingependelt. Auch 2008 werden laut Aussage der Pressesprecherin der FedCon wieder 4.000 Besucher erwartet. Dazu äußert sich die Pressemappe 2007 folgendermaßen: „STAR TREK bietet im Moment nichts Neues für die Fans, eine neue Serie ist nach der Einstellung von STAR TREK: ENTERPRISE noch nicht in Sicht, ein weiterer Kinolm bendet sich erst in der Planungsphase. Dadurch ist das Interesse der Fans leider ein wenig geschwunden und die FedCon verkleinert sich ein bisschen. Die Veranstaltung wird aber aus diesem Grund wieder persönlicher und die Fans und Besucher wirken aktiver am Gelingen der Convention mit.“ 11
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der Räumlichkeiten sowie die Einladung der Stars kümmern muss. Genau diese Professionalität wissen die Besucher aber auch zu schätzen: „Die FedCon ist eine sehr gut organisierte Con, das muss man einfach sagen. Ich war schon auf anderen Cons, da war die Organisation einfach beschissen, oder da waren drei Gaststars und 800 Leute Publikum, also nicht ein Viertel von dem, was heute hier ist“ (André). Und die Teilnehmer sind durchaus bereit, für dieses Erlebnisangebot etwas tiefer in die Tasche zu greifen: „Das Wochenende wird vom Preis her einer zweiwöchigen Mallorcareise entsprechen, aber das ist meine erste Con, und einmal will ich das mitmachen“ (Oliver). Die Fans haben aber durchaus auch ein kritisches Preis-Leistungs-Bewusstsein und sind sehr wohl bereit, ihren Unmut zu äußern, wenn Teile des Angebotes nicht ganz den Erwartungen entsprechen. Denn die Conventions stehen heute unter einem enormen Konkurrenzdruck und müssen Vergleichen mit anderen Events standhalten. Die Zeiten, wo kleinste Veranstaltungen oder laienhaft organisierte einfache Fantreffen die Trekkies zufrieden stellen konnten, sind im Zeitalter von Mega-Events wie Starlight Express, Expo oder Love Parade endgültig vorbei: „Das ist immer ein Hasspunkt auf jeder Convention, wenn ein Schauspieler Scheiße ist. Dann könnte ich mich tot ärgern. Dann würde ich am liebsten ans Mikro rennen und ihn von der Bühne werfen. Das ist meiner Meinung nach ein Unding. Die bekommen richtig Kohle dafür, dass sie herkommen. Es ist nichts anderes als eine Show, die sie bieten müssen, aber die muss rüberkommen“ (André).
Es sind allerdings nicht nur einzelne Programmpunkte, die von den Fans negativ bewertet werden, sondern für manch einen ist die Kommerzialisierung insgesamt zu weit getrieben worden: Es ist einfach überteuert (Iris). Aber dies ist eine Auffassung, die von den Fans keineswegs einhellig vertreten wird. So wird eingewendet, dass nicht nur wirtschaftliche Interessen bei der Organisation der Conventions verfolgt würden, wie dies üblicherweise bei Mega-Events der Fall ist. Die FedCon sei konzipiert worden als Forum von Fans für Fans, und auch heute würde diese ursprüngliche Motivation, die ja auch zur Grundidee von STAR TREK selbst passt, noch fortbestehen. So argumentiert auch eine Mitarbeiterin im FedCon-Büro: „Dass einer davon reich wird, das ganz sicher nicht. Es ist noch sehr viel Idealismus dahinter. Idealismus ist ja auch etwas, was aus dem STAR TREK-Universum kommt. Dem fühlen sich viele von uns verschworen“ (Brigitte). Dass die Gagen für die Stars und das aufwändige Rahmenprogramm ein entsprechendes Budget voraussetzen, steht für alle außer Frage. Aber gerade unter den zahlreichen freiwilligen Helfern ist ein gewisser Enthusiasmus noch deutlich spürbar: „Wir als Helfer, wir zahlen die Autogramme wie jeder andere auch. Es ist nicht so, dass wir die umsonst bekommen. Das hier ist, wie soll man sagen, ehrenamtliche Tätigkeit“ (Brigitte).
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Aufs Ganze gesehen ist aber eine zunehmende Kommerzialisierung der STAR TREK-Conventions unverkennbar. Wie bei allen großen Events ist das Erlebnisversprechen der Einzigartigkeit auch hier eng mit der Größe und Marketingorientierung der Veranstaltung verbunden. Notwendig ist deshalb die Rückbindung an nanzstarke Sponsoren sowie die Vermietung von Standächen. So nahmen im Jahr 2001 etwa 30 Händler aus unterschiedlichen Ländern an der FedCon teil, um den Wissensdurst und die Sammlerleidenschaft der Fans zu befriedigen. Angefangen von einschlägigen Werken aus der Science-Fiction-Literatur über sämtliche Soundtracks der Filme, aber auch Soloplatten der Schauspieler, Trading-Karten, Plastikguren, Alienmasken und Sternenottenuniformen bis hin zu Fun-Produkten und Enterprise-Tassen ndet sich hier alles, was der Merchandising-Markt hergibt. Das Angebot ist groß und verleitet leicht zu ungeplanten Einkäufen: „Bei solchen Gelegenheiten werden auch die etwas gesitteteren STAR TREK-Fans in Versuchung geführt (Marco). Hier kann sich der Fan seine lang gehegten Wünsche erfüllen und auch seltene Artefakte ausndig machen: Jetzt habe ich mein Nimoy-Autogramm,13 und damit habe ich eines der größeren Ziele meines Lebens erreicht (Holger). Die Leidenschaft für ihr Hobby wird auch in folgender Aussage sehr deutlich: Man hat schließlich Freude und Spaß, wenn man sich solche Kostüme zulegt. Aber wie teuer das ist, darauf darf man in dem Moment nicht kucken. Man muss die Zeit, die man im Leben hat, für das nutzen, was einem Spaß macht“ (Monika). Während entsprechende Zeit- und Geldinvestitionen unter den Fans eine Selbstverständlichkeit sind, reagieren Arbeitskollegen, Freunde und auch Familienmitglieder nicht selten mit kritischen Bemerkungen und Unverständnis: „Wenn ich zur FedCon wollte, da musste ich mir ja immer frei nehmen. Die Reaktion der Arbeitskollegen war eher so: ‚Du gibst so viel Geld für so einen Scheiß aus?‘ […] Letztens habe ich schon gesagt, dass ich nächstes Jahr dann und dann frei haben möchte. ‚Was,‘ kam die Antwort, ‚für so einen Scheiß musst du dir frei nehmen?‘ Und über die 100 €, die ich für den Eintritt bezahle, haben sie sich auch aufgeregt. Und Hotel und Merchandising noch dazu. ‚Selbstverständlich,‘ sage ich dann immer, ‚für das Autogramm vom Geordi14 habe ich 180 € ausgegeben.‘ Das versteht da keiner […] Ja, manche geben eben Geld für Briefmarken oder Münzsammlungen aus. Weshalb soll ich dann kein Geld für Science-Fiction ausgeben“ (Jeannot)?
So ist der Fan oft mehr als einmal bereit, Geld in eine Convention zu investieren, denn für einen Großteil der Besucher ist die Teilnahme kein einmaliges Vergnügen, sondern eine periodisch wiederkehrende Angelegenheit. Nach eigenen Angaben lagen am Ende der FedCon 9 bereits rund 1.500 Anmeldungen für die nächste
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Leonard Nimoy: Darsteller des Mr. Spock in der Original-Serie R AUMSCHIFF ENTERPRISE. Geordi La Forge: Ingenieur in der Serie R AUMSCHIFF ENTERPRISE – DAS NÄCHSTE JAHRHUNDERT.
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Veranstaltung vor. Ein Grund für die Reservierungen liegt nicht zuletzt in der geschickten Verkaufsstrategie der FedCon-Organisatoren: Je früher die Karte nämlich erworben wird, desto billiger ist sie. Zudem hat der Kartenerwerb im Vorverkauf den Vorteil, auch einen guten Platz zu bekommen, von dem die Bühne aus geringer Entfernung zu überblicken ist: Es ist wie im Theater: Die ersten Reihen sind einfach die besten (Hendrik). Viele Besucher der STAR TREK-Conventions sind ganz offensichtlich Wiederholungstäter und Dauergäste, die sich auch von steigenden Preisen nicht abschrecken lassen: „Auf der FedCon ist nach wie vor volles Haus, obwohl die Preise sowohl für Eintritt als auch Essen immer höher werden. Der harte Kern der Trekkies strömt dorthin und ist auch bereit, mehr Geld auszugeben. Es wird von Jahr zu Jahr schwieriger, Karten zu bekommen, sie sind immer früher weg. Wenn man sein Wunschticket haben will, dann muss man sich für die Con bereits im Vorjahr anmelden“ (Oliver).
Die wachsende Popularität der Events im Allgemeinen und der STAR TREK-Conventions im Speziellen lässt sie zu einem festen Bestandteil von Populärkultur werden. Obwohl der Zuspruch zum eigentlichen Medienprodukt, also den STAR TREK-Serien und -Filmen, eher rückläug ist, nehmen die Conventions an Umfang zu und zeigen sich so als typisches Phänomen des modernen Erlebniszeitalters. Ein Trekkie fasst diesen Sachverhalt treffend zusammen: „Das ist ja das Paradoxe: Obwohl der Umsatz und die Zuschauerzahlen der Serie zurückgehen, werden diejenigen, die es wirklich hardcoremäßig machen, eigentlich immer enthusiastischer. Die Cons nehmen an Größe und Umfang zu, während die große Allgemeinheit sich immer weniger für STAR TREK interessiert“ (Marco).15
4.3
Selbstverwandlungen: Maskierungen, Metamorphosen und alternative Identitäten
Die Organisatoren von Conventions geben sich in der Regel sehr viel Mühe, um das Bild einer anderen Realität, die man ‚STAR TREK-Universum‘ nennen könnte, zu entwerfen bzw. nachzubilden. Aber nicht zuletzt sind es die Fans, die in ihrer extraterrestrischen Aufmachung entscheidend das Setting prägen und die bühnenhaft gestalteten Räumlichkeiten farbenfroh füllen. Dies ist auch ein Punkt, den die Besucher besonders schätzen, wie ein Fan und Teilnehmer mehrerer Conventions anschaulich beschreibt: 15 Diese Aussage aus dem Jahr 2001 hat gewissermaßen prophetischen Charakter. Zwar hat sich das Angebot an Conventions inzwischen (2008) gelichtet, die FedCon jedoch, die sich durch ein hohes Niveau an Professionalität auszeichnet und sich stets den Zeichen der Zeit anzupassen wusste, konnte ihr zahlreiches Publikum halten, wenn sie auch nicht mehr gewachsen ist.
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Iris Eisenbürger „Ein Riesensaal, alle kommen in futuristischen Uniformen oder irgendwelchen verrückten Looks, und man fühlt sich in einen Star Trek-Film versetzt. Man könnte meinen, man wäre in einer riesigen Kongresshalle aus dem Star Trek-Kinolm gelandet, der Botschafter kommt angereist und fünf oder sechs Delegierte. Alle haben Uniformen, und man fühlt sich in die Zeit versetzt. Man spricht auch mit den Leuten teilweise so wie in den Filmen. Da kommen wirklich Leute an, machen den vulkanischen Handgruß ‚Live long and prosper‘. Es ist Urlaub vom Alltag, und ich glaube, das ist es, was die Leute hier erleben wollen, sich mit anderen Fans austauschen, auch mit den Leuten persönlich sprechen, was man im Internet nicht machen kann, weil alles auf die Tastatur beschränkt ist, hier kann man das live vor Ort machen“ (Marco).
Die theatralische Atmosphäre der Conventions ermöglicht – und erleichtert – den Fans das Eintauchen in eine fremde, aufregende Welt, wo man sich in karnevalesker Manier alternative Rollen und Charaktere zulegen kann, angefangen vom menschlichen Sternenottenofzier über den immer logischen Vulkanier oder den aggressiven Klingonen bis hin zum fremdartigen Maschinenwesen, dem Borg. Die STAR TREK- Serie mit all ihren fremdartigen Wesen offeriert den Fans eine breite Palette an Schablonen für Kostüme und Masken aller Art. Besonderer Wert wird darauf gelegt, dass sie in langwieriger Handarbeit selbst angefertigt wurden und möglichst ausgefallene und schwierige Motive zum Gegenstand haben: „Zuerst hatten wir zusammengeschneiderte Pullover, einen roten und einen schwarzen, die ich dann in der Form der Uniform zusammengesetzt habe. […] Der Klingone war unsere Maske vom letzten Jahr, und dieses Jahr musste wieder etwas Neues her. Deshalb haben wir den Talaxianer16 gewählt. […] Du kannst ja mal in den Zeitschriften nachsehen, in denen man sich Kostüme von STAR TREK bestellen kann. Da wirst du nichts an talaxianischen Masken nden, zumindest bis jetzt noch nicht“ (Monika).
Doch es ist nicht nur die kreative Verkleidung, von der eine besondere Faszination der Conventions ausgeht und die ihnen den Stempel einer Exklusivveranstaltung aufprägen, sondern auch eine besondere Form der Selbstdarstellung und Selbstverwandlung der Teilnehmer. Denn von ihnen wird erwartet, dass sie in Gestik und Mimik ihre Serien-Protagonisten imitieren und auch kleine Darbietungen auf der Bühne aufführen. Die Spannbreite der mehr oder weniger gelungenen Auftritte reicht von einer einfachen Präsentation des Kostüms über kleine Sketche bis hin zu ganzen Gesangsdarbietungen auf Klingonisch. Eine besondere Attraktion bildet die „berühmteste Boygroup des Universums: Take This!“, wie sie sich mit einem kleinen Augenzwinkern selbst betitelt, die schon seit mehreren Jahren ihr außerirdisches Musikrepertoire zum Besten gibt. Mittlerweile hat die kleine 16
Die Talaxianer gehören zu einer Spezies, die nur in der Serie: ‚STAR TREK – VOYAGER‘ vorkommt.
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Formation schon semi-professionellen Charakter angenommen und eine eigene Single des Auftrittsliedes herausgebracht. Fraglos haben Conventions für die Fans den Status einer Sondersituation, die den Alltag überhöhen und transzendieren. Vor allem durch die Maskierungen und Rollenwechsel entsteht eine Atmosphäre, die sehr stark an Karnevalsveranstaltungen oder Fastnachtsbräuche erinnert. Ausgehend von diesem performativen Situationsund Handlungstyp konzediert der russische Kultur- und Literaturtheoretiker Michail Bachtin ganz allgemein eine zunehmende „Karnevalisierung des Alltags“, die in besonderer Weise in sogenannten „Zeitinseln“ sichtbar wird, in denen Tabus gebrochen werden dürfen und der Einzelne eine befristete „Auszeit“ nehmen kann. Hier hat er die Möglichkeit, dem normalen Dasein für ein paar Stunden zu entkommen, sich kurzfristig in ein anderes Wesen zu verwandeln und somit seine Alltagsrolle befristet sterben zu lassen (vgl. Bachtin 1990). Dabei spielen Maskierungen und die damit möglich werdenden Identitätswechsel eine zentrale Rolle. Im Karneval wie auf den Conventions ermöglichen sie, in eine „zweite Haut“ (Hendrik) zu schlüpfen, in der die geheimsten Wünsche sanktionsfrei ausgelebt werden können. Aber es ist nicht nur der Rollen- und Identitätswechsel, den Maskierungen und Kostümierungen ermöglichen, sondern mit ihnen ist auch eine besondere Form von Aufmerksamkeitsprämie verbunden. Besonders ausgefallene Kreationen werden nämlich sehr leicht zum Blickfang und erzeugen Bewunderung und Anerkennung. Ihnen ist sogar ein eigener Programmpunkt gewidmet, wo bei einem Kostümwettbewerb Preise für die besten Verkleidungen verliehen werden. Zusätzlich besteht für die weiblichen Teilnehmer die Möglichkeit, beim sonntäglichen Contest zur ‚Miss FedCon‘ nominiert zu werden. Entsprechend groß ist dann auch das Medieninteresse: „Wir haben daran viel Spaß, und wir fallen gerne mal auf und zeigen das, was eben nicht jeder hat. Das ist wie in einer kleinen Boutique, weil es unser jeweiliges Kostüm nur einmal gibt. […] In zwei Zeitungen sind wir heute drin gewesen, dann haben wir gestern Interviews gemacht: WDR, Premiere, Sat1. Es ist unheimlich viel. Man kommt sich wie ein kleiner Ministar vor. Die anderen sind Nebensache, wir sind jetzt dran“ (Monika).
Es sind vor allem die eigenhändig angefertigten Outts, die in den Fokus der Aufmerksamkeit geraten. Nicht so hoch im Kurs stehen dagegen Nachbildungen, die in einschlägigen Fanshops und Versandgeschäften gleichsam von der Stange geordert werden können. Entsprechend abwertend fallen für diese „fantasielosen Maskenkäufer“ (Hendrik) dann die Urteile aus. Wer aber durch seine originelle Eigenproduktion gleichermaßen von Fans und Medien wahrgenommen und bewundert wird, der schlüpft selbst in die Rolle eines Stars. Für einen Tag wird dem Alltag der Rücken gekehrt und das selbst gebastelte ausgefallene Kostüm dient als
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Eintrittskarte in eine Glamourwelt von Schauspielern und Medien. Die normalerweise von Berühmtheiten als lästig empfundenen Aufmerksamkeitsbezeugungen seitens der Medien werden dabei zum Indikator der eigenen Wichtigkeit: „Man bekommt hautengen Kontakt mit den Fernseh-Leuten, und außerdem bekommt man auch mit, was die Schauspieler immer vor der Kamera leisten müssen: das heiße Licht, und wie sie ganz starr in die Kamera kucken müssen“ (Monika).
Abbildung 2
Talaxianer in klingonischer Uniform
Andere Fans hingegen suchen eher die authentische Atmosphäre von ScienceFiction- und Weltallszenarien, um sich in die Rolle des Außerirdischen oder des Sternenottenofziers hineinzufühlen. Die Identikation mit dem angenommenen Charakter und das Wissen darüber sind bei ihnen sehr ausgeprägt, während sie bei der Gruppe der Kostümierer eher oberächlich ist. Nicolas beispielsweise – ein STAR TREK-Experte – nutzte die Gelegenheit des Besuchs der ‚STAR TREK World Tour‘, um dort im entsprechenden Ambiente und mit passender Verkleidung eigene kleine Abenteuer mit Gleichgesinnten durchzuspielen. Dabei gebrauchte er virtuos sein detailreiches STAR TREK-Wissen: „Ich habe mit einer anderen Besucherin so gespielt, als seien wir wirklich Kommandanten der Sternenotte: ‚Ja,
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ich bin beim Geheimdienst tätig, die Sektion 3117 kennen sie vielleicht nicht.‘ In diesem Stil liefen die Dialoge. Das war cool“ (Nicolas). Allerdings sind bei den meisten verkleideten Teilnehmern beide Motivationen – das Auffallenwollen und das Eintauchen in fremde Welten – vorhanden, und nicht zuletzt verbindet beide Typen die STAR TREK-Philosophie der Zusammengehörigkeit, die gerade auf den Conventions auch als starkes Gemeinschaftsgefühl erlebbar wird.
Abbildung 3
Fanart: Ölbild mit der Schmiedeszene eines Bath’let, des traditionellen Kampfschwertes der Klingonen
Eine weitere Möglichkeit der Präsentation des eigenen serien-spezischen Wissens ist durch eine Ausstellung von Fan-Art gegeben. Das obere Stockwerk des Maritim Hotels ist während der FedCon zu großen Teilen nämlich den kreativen Schöpfungen von Fans rund um das STAR TREK-Universum gewidmet. Hier zeigt
17 ‚Sektion 31‘ ist eine erstmals in DS9 auftauchende streng geheime Untersektion des Geheimdienstes der Föderation.
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sich besonders deutlich, dass Fantum keineswegs ausschließlich passive Konsumtion des Medienproduktes bedeutet, sondern ganz im Gegenteil die Fans zu eigenen Kreationen inspiriert, die von ihren Schöpfern auch gern einem größeren Publikum zugänglich gemacht werden. Die Palette der Gegenstände reicht dabei von kunstvollen Zeichnungen der verschiedensten Aliens oder beeindruckenden Ölgemälden mit spacigen Motiven über Stickbilder der Voyagerbesatzung bis hin zu genauen maßstabverkleinerten Nachbauten der verschiedenen Raumschiffe oder lebensgroßen Repliken von Bat’leths, dem klingonischen Kampfschwert. Bisweilen wildern die Fans regelrecht in dem Symbolrevier, das die Serie ihnen liefert, und benutzen die medialen Vorgaben zu höchst fantasievollen Eigenproduktionen (vgl. Jenkins 1992: 24 ff.). Und dass die Fans ihre Werke dann auch mit Stolz dem Kennerpublikum der FedCon präsentieren, beweisen die jährlich der Fan-Art gewidmeten Räume, die dem bewundernden – und manchmal auch kritischen – Auge des szeneninternen Betrachters harren.18
4.4
Guest-Panels: Stars zum Anfassen
Stars (waren und) sind Kristallisationspunkte für Fankulturen und tragen damit auch entscheidend zur symbolhaften Verselbstständigung von Medienszenen bei. Ihnen kommt eine wesentliche Bedeutung für den Zusammenhalt und die Identität der Gruppe bzw. der einzelnen Mitglieder zu. Denn sie werden einerseits als Repräsentanten von bestimmten Grundüberzeugungen wahrgenommen und andererseits als Orientierungsinstanzen, die dem Einzelnen Leitbilder und Handlungsmaximen vorgeben, wie er mit den Anforderungen der Gesellschaft umgehen und dabei seine eigene Identität behaupten und festigen kann (vgl. Sommer 1997: 122). Doch ist es nicht nur die Identikation, die vom Fan gesucht wird, sondern im gleichen Maße auch die Wertschätzung des Idols. Fans wollen das Idol für sich haben und von ihm geliebt werden. Ein eingeeischter STAR TREK-Veteran hat die symbiotische Beziehung auf die Formel gebracht: „Wir können nicht ohne die Stars leben und die nicht ohne uns“ (Hendrik). Und in der Tat bietet das STAR TREK-Universum eine äußerst breite Palette von Charakteren, mit denen sich die Fans identizieren. Dabei sind es keineswegs nur 18
In den letzten Jahren hat sich der Bereich, welcher auf der FedCon der Fanart bzw. dem Austausch unter Fans gewidmet ist, eher vergrößert, so konnte man bspw. 2007 u. a. einem Chor lauschen, der die STAR TREK-Hymne als Gesang vortrug, verschiedene Fan-Filme ansehen oder an Workshops zur Erlernung des Schaukampfes oder der Fertigkeit, aus einem Lady-Shaver einen Kommunikator herzustellen, teilnehmen. Darüber hinaus dient die FedCon seit 2006 als Plattform, wo den Trekdinnern Deutschlands die Möglichkeit zum Treffen im Großen geboten wird.
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die heldenhaft inszenierten Protagonisten, die großen Zuspruch von den Trekkies erhalten, sondern auch am Rand agierende oder mit reichlich Schwächen und Handicaps behaftete Figuren wie beispielsweise der charakterlich zweifelhafte Ferengie Quark oder der durch seine Blindheit physisch eingeschränkte Ingenieur der Enterprise, Geordi La Forge, mit dem sich vor allem körperlich behinderte STAR TREK-Fans in besonderem Maße identizieren. Zu den Serien-Idolen sucht man aber auch die physische Nähe und den persönlichen Kontakt, um die Unmittelbarkeit der gegenseitigen Wertschätzung zum Ausdruck zu bringen. Somit bilden für die meisten Fans die Auftritte der Schauspieler einen Höhepunkt der Conventions: „Es gibt Möglichkeiten, Autogramme von den Stars zu erhaschen und zu sehen, wie sie privat sind. Die Con bietet die einzige Möglichkeit, so etwas zu erleben. In erster Linie sind es wirklich die Schauspieler, die man zum Anfassen nahe da hat, die das Flair der Cons ausmachen“ (Marco). Der Fan erhält auf den Conventions die einzigartige Gelegenheit, die Schauspieler von STAR TREK und auch von anderen beliebten Genre-Serien hautnah (Oliver) erleben zu können, wobei gleich mehrere Begegnungsmöglichkeiten geboten werden. An erster Stelle steht dabei das ,Guest-Panel‘. Im Programm angekündigt, nden stündlich Auftritte der verschiedenen eingeladenen Stars statt. Für diese Zeit stehen sie den Fans Rede und Antwort, die sich durch ihre gezielten Fragen immer wieder als wahre Experten des Medienproduktes entpuppen. Aber nicht nur Details zur Produktion einzelner Folgen oder zum Plot zukünftiger Filme werden erfragt, sondern auch persönliche Einstellungen und private Belange und nur selten wird eine Antwort verweigert. Die Stars unterhalten ihre Anhänger zudem mit kleinen Geschichten und manchmal sogar kurzen Gesangs- oder Showeinlagen. Doch der Kernpunkt der Guest-Panels ist die direkte Interaktion zwischen Fan und Star, deren Themen und Gesprächsformen bisweilen partnerschaftliche Züge annehmen können und eine mythische Einheit symbolisieren: Wir sind alle Teil der STAR TREK-Sozialwelt. Für wenige Momente wird dem Trekkie ein Status als Experte und als wahrer ‚Macher‘ der Serie zuerkannt, verbunden mit einem Blick hinter die Kulissen: „Vor allem die Panels, die die Stars auf den Cons halten, sind immer sehr interessant. Man kann hier den Stars Fragen stellen und erfährt viele spannende Dinge, etwa wie es bei den Dreharbeiten zugeht, ob es da vielleicht Pannen gegeben hat und wie lange es dauert, bis eine bestimmte Szene abgedreht ist. Ein wenig auch privat, ob der zufrieden mit der Rolle ist oder wie er die Rolle bekommen hat. […] Ich habe das Gefühl, man lernt hier die Schauspieler erst richtig kennen. […] Das ganze ist wie eine große STAR TREK-Familie“ (Jeannot).
Während bei den Guest-Panels die Fans ihren geliebten und verehrten Idolen recht nahe kommen – „das hat manchmal schon richtig was Persönliches“ (Hendrik) –,
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ist das zweite Kontaktangebot, die Autogrammstunden, wesentlich distanzierter. Zudem bietet sich diese Möglichkeit nur dem privilegierten Inhaber einer Wochenendkarte. Obgleich dadurch die Zahl schon erheblich eingeschränkt wird, ist dennoch eine genaue Organisation der Fan-Massen von Nöten. Jeder Besucher erhält nur einmal die Gelegenheit zur ‚Autogrammjagd‘, und zwar genau zu dem Zeitpunkt, wenn seine Nummer auf der Eintrittskarte ihn dazu berechtigt. Wer weder beim Guest-Panel noch bei den Autogrammstunden erfolgreich war, dem bleibt als letzte Möglichkeit des individuellen Kontakts, einem der Stars abends in der hoteleigenen Jazz-Bar oder in der Fan-Disco zu begegnen. Insgesamt ist für viele Fans die Chance des persönlichen Treffens ihrer Stars ein großer Anreiz zum Besuch der Conventions und markiert auch in besonderer Weise den exklusiven Status dieser Veranstaltung für die Fankultur um STAR TREK: „Die Atmosphäre ist schon toll bei den Conventions. Im Endeffekt ist das schon ein gewisses Highlight im Jahr, und man freut sich darauf, dass Schauspieler da sind, die ein bisschen was erzählen und denen man hier vielleicht sogar persönlich begegnet ist“ (André). Gleichwohl wissen die Fans dabei meist gut zu unterscheiden, welche Beweggründe die einzelnen Schauspieler zum Besuch der Conventions motivieren und rechnen es den Darstellern hoch an, wenn ihnen anzumerken ist, dass sie kommen, um den Trekkies ihre Achtung und Wertschätzung zu zeigen und sie zu unterhalten, und nur in zweiter Linie wegen den durchaus üppigen Gagen. Es zählt die Show, die geliefert wird, auch wenn das, was mit dem Anschein des Authentischen daherkommt, letztlich auch nur als Star-Image inszeniert ist. So sieht mancher Fan die Guest-Panels auch sehr nüchtern: „Mein längstes Gespräch mit einer Schauspielerin waren mal vier Wörter oder so. Da ist nicht mehr drin, denn im Endeffekt bist du für die auch nur einer der zahlungswilligen Kunden, die alle Videos kaufen und somit das eigene Einkommen sichern. Natürlich nden viele es gut, dass sie einen so großen Fankreis haben. Das merkt man bei einigen. Andere kommen wirklich nur für die Kohle her“ (André).
Das Guest-Panel gehört dennoch zu den beliebtesten Programmpunkten der Conventions. Obwohl sich durch den Inszenierungscharakter der Auftritte die Vorstellung, einen Blick hinter die Fassade des Rollen-Images zu erhalten, sozusagen den ‚wahren‘ Menschen zu sehen, als Illusion entpuppt, die Präsentation der Stars unterstreicht die Einzigartigkeit der jeweiligen Veranstaltung. Sie sind es, die den Conventions den Charakter des Einmaligen und Unverwechselbaren verleihen. Auch wenn die FedCon jährlich stattndet, in der Erinnerung der Fans sind die einzelnen Veranstaltungen untrennbar mit den jeweils anwesenden Stars verbunden: „Das non plus ultra: Spock nicht nur auf der Brücke der Enterprise, sondern auf der Bühne der FedCon; … unvergesslich“ (Hendrik).
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Fazit: Gestufte Eventformen in der Trekkie-Szene
Wir leben heute in einer Erlebnisgesellschaft, so fasste Gerhard Schulze Anfang der 90er Jahre den Fokuswechsel vom weltbezogenen Subjekt zur subjektbezogenen Welt in anschauliche Worte, und beschrieb damit die simultane Entwicklung der Expansion des Möglichkeitsraums einerseits und der individuellen Verwirklichung einer Vision des Mehr-und-Mehr-Könnens andererseits (vgl. Schulze 1992). Heute bewegen sich die Zeitgenossen routiniert zwischen den Kulissen des Glücks, die sie als Nachfrager selbst mitgestaltet haben, denn der Einzelne arrangiert die Welt im Hinblick auf sich selbst, orientiert an der Kernidee, durch ein geschicktes Management der äußeren Umstände die gewünschten inneren Wirkungen und Zustände herzustellen. Auf diese Weise entsteht eine unendliche Formenvielfalt, bei der der Erlebnismarkt als Generator ständig neuer Konkretisierungen einiger weniger allgemeiner Formschemata wirkt. Die Inszenierung von Erlebniswelten gehört unabdingbar zum Alltag der Nachmoderne. Fast alles wird zum Erlebnisthema gemacht und gleichzeitig wächst eine neue „Erlebnisgeneration“ (vgl. Opaschowski 2000) heran, die ganz selbstverständlich mit ihrem wichtigsten Ausdrucksmittel, den Events, zu leben weiß. Die Faszination für die Eventkultur lässt sich schlagwortartig mit den Begriffen des sinnlichen Erlebens, der Unterhaltung und der Erfahrung von Wir-Gefühl fassen und steht im Gegensatz zur relativen Erlebnisarmut des privaten, schulischen und beruichen Alltags. Events sind somit ihrer Begrifichkeit nach „aus unserem modernen Alltag herausgehobene, raum-zeitlich verdichtete, performativ-interaktive Ereignisse mit hoher Anziehungskraft für relativ viele Menschen“ (Hitzler 2000: 402). Den meisten medienzentrierten (jugend-)kulturellen Szenen dient das Event als strukturell unverzichtbares Element des Szene-Lebens, denn es erfüllt auf außergewöhnliche Weise die Funktionen der Herstellung, Aktualisierung und Intensivierung von starken, wenn auch situations- und ereignisabhängigen, Kollektivgefühlen und der Gestaltung und Festigung szenetypischer kultureller Praktiken. So nutzen auch die Fans der Serie STAR TREK die Veranstaltungsform ‚Event‘ zur Herstellung parallelweltlicher Räume, in denen ein intensiveres Ausleben des Fantums möglich ist. Innerhalb der Trekkie-Gemeinschaft haben sich drei Veranstaltungsformen herausgebildet, die der Szene als Ankerpunkte dienen und in ihrer Gesamtheit alle Bedürfnisse der Fans befriedigen: das Trek-Dinner, die Kinonacht und die Convention. Das Trek-Dinner als clubinternes Treffen bietet einen lokalen Anlauf- und Kontaktpunkt zur Herstellung von Gemeinsamkeit und zum Kennenlernen von Gleichgesinnten. Dass sich dabei im Laufe der Zeit das Themenspektrum erweitert und die Treffen sich mehr und mehr zu einem lockeren Beisammensein eines Freundeskreises entwickeln, tut dem eigentlichen Fantum keinen Abbruch, denn
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immer noch werden gemeinsame Projekte in Angriff genommen, wie das Erstellen von Fanzines oder STAR TREK-Kalendern, das Drehen eigener Fan-Filme, die Mitorganisation von Kinonächten oder die gemeinsame Fahrt zu den Conventions. Nichtsdestotrotz haben die allmonatlichen Zusammenkünfte der Trek-Dinner ihren Außeralltäglichkeitscharakter weitestgehend verloren. Man könnte auch sagen: Das Fantum ist im Alltag angekommen. Denn gerade im privaten Rahmen der Trek-Dinner gelingt es den Fans wie zu keiner anderen Gelegenheit, STAR TREK als selbstverständlichen Teil ihres Daseins auszuleben. Die Kinonächte dagegen heben sich wesentlich stärker vom Alltag ab. Während einer meist mehrstündigen „STAR TREK night session“ (Hendrik) können die Fans einen Teil des eigentlichen Medienprodukts – die Kinolme – gemeinsam mit anderen Trekkies auf intensive Weise erleben und genießen. Entweder handelt es sich dabei um die Vorpremiere eines neu anlaufenden Kinolms oder um eine ‚wirkliche‘ Kinonacht, wo verschiedene STAR TREK-Filme hintereinander gezeigt werden. Fans nutzen diese Veranstaltungen für die typische Fanpraktik der intensiven Aneignung durch wiederholtes Schauen, wobei das Kinosetting und die Gesellschaft von Gleichgesinnten in besonderer Weise eine Affekt- und Erlebnissituation konstituieren, die von den Fans als essentieller Bestandteil einer Politik des STAR TREK-Vergnügens gesehen wird. Aufgrund ihrer Semi-Kommerzialisierung und des dementsprechend höheren Organisationsaufwandes können die Kinonächte als Mini-Events bezeichnet werden, die den Teilnehmer ein außeralltägliches und spaß-orientiertes Erlebnis bieten. Zu den absoluten Erlebnishöhepunkten der Trekkie-Szene zählen aber die Conventions. Sie bieten mit einer Vielfalt von durch besonders aufwändige Organisations- und Produktionsleistungen zusammengestellten Aktivitäten ein buntes Forum für alle Arten von Fanpraktiken. Im Merchandising-Bereich kann der Trekkie sich mit den zum Ausleben seines Fantums nötigen Accessoires versorgen, im Fanbereich kann er seine eigenen Kreationen von Fan-Art ausstellen und die Schöpfungen anderer Fans bewundern. Die Begegnung mit einer Vielzahl von Menschen, die alle ein ähnliches Interesse bewegt, vergewissert ihn der Relevanz seines eigenen Steckenpferdes und verstärkt das Bewusstsein zu einer großen Fangemeinschaft zu gehören. Die spacig-authentische Kulisse, um die sich die Ausrichter der Conventions stets bemühen, versetzt die Teilnehmer in eine Parallelwelt, ermöglicht „Urlaub vom Alltag“. Zusätzlich helfen Kostüme und Masken dem Besucher, sich in anderen Identitäten zu erproben – sei es die eines Aliens, Sternenottenof ziers oder „Mini-Stars“. Doch nicht nur beim Kostümwettbewerb können die Trekkies selbst aktiv werden, sondern auch bei den sogenannten Guest-Panels, wo sie die Möglichkeit haben, mit Schauspielern der Serie zu sprechen oder ein kurzes Fan-Interview mit ihnen zu führen. Diese Begegnungen brennen sich den meisten regelrecht in die Erinnerung ein und werden
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rückblickend als das non plus ultra der gesamten Veranstaltung wahrgenommen. Daran ändert auch die zunehmende kommerzielle Ausrichtung der Conventions wenig. Zwar wird die „Kommerz-Spirale“ (Hendrik) von den Fans sehr wohl gesehen, aber ihnen ist auch bewusst, dass das reichhaltige, spaß-orientierte und auf Einzigartigkeit ausgerichtete Angebot der Conventions ohne ein entsprechendes Marketingkonzept nicht zu realisieren ist, zumal diese Veranstaltungen mit einer Vielzahl von Erlebnisangeboten konkurrieren und ihre Attraktivität für die zunehmend anspruchsvolleren Besucher behaupten müssen.19 Die beschriebenen drei szenischen Treffpunkte und Events sind gleichwohl mehr als Erlebnis- und Gemeinschaftsstifter für örtlich begrenzte Gruppierungen. In einer Zeit zunehmender Globalisierung, in der sich Identitäten mehr und mehr von besonderen Zeiten, Orten und Traditionen lösen, können medial vermittelte kulturelle Ressourcen für den Einzelnen relevanter werden als diejenigen vor Ort. Allerdings wird es wiederum notwendig, diese translokalen Angebote im lokalen Lebensraum zu realisieren und mit den primären Lebenszusammenhängen in Verbindung zu setzen. Der besondere Reiz globaler Medienangebote, durch weltweit vernetzte Kommunikationssysteme an vielen Orten zugänglich zu sein, weitet sich auf die Ebene des persönlichen Austausches ihrer Fans aus, welche allerorts kommunikative Zentren für fantypische Unternehmungen nden können, sei es das eigene Wohnzimmer, die örtliche Techno-Disko oder das monatliche Treffen der Fans von STAR TREK. Szenische Treffpunkte und Veranstaltungen können somit mehr und mehr als lokale Manifestationen translokaler Populärkulturen angesehen werden. Gerade medial vermittelte Kulturprodukte wie STAR TREK erreichen durch ihre weltweite Verbreitung eine große Fangemeinde, wobei jedoch den Events und Treffpunkten eine wichtige Rolle als Knotenpunkte im Netz des fantypischen Austausches zukommt. Hier wird die translokale Identität des Trekkies materiell und körperlich erfahrbar. Die einzelnen szenischen Eventtypen unterscheiden sich indessen durch ihren jeweiligen Grad der Vernetzung: Happenings, wie Trek-Dinner oder Kinonächte, kommen zwar allerorts vor, sind jedoch allein von Relevanz für eine kleine Gruppe örtlich organisierter Trekkies und somit nur lokal vernetzt, während die großen Conventions als überlokale Interaktionsorte der Fan-Gemeinschaft dienen und von Fans vieler verschiedener Regionen besucht werden. Aber nicht nur der Grad der Vernetzung steigt mit der jeweils nächsten Eventstufe an, sondern auch der jeweilige Organisationsaufwand und das Ausmaß der Alltagstranszendierung und Bedeutungsauadung der Happenings. Während das Trek-Dinner einer ‚Entzauberung‘ unterworfen ist, stellt die Kinonacht immer 19 Wie schwierig sich diese Konkurrenzsituation gestaltet, zeigt sich daran, dass fast alle größeren Conventions in den letzten Jahren aufgegeben wurden und nur die mit großer Professionalität ausgerichtete FedCon übrig geblieben ist.
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noch ein kleines Highlight der STAR TREK-Fanwelt dar und die Convention bietet gleichsam ein außeralltägliches Erlebnisspektakel auf höchstem Niveau. Auf allen drei Veranstaltungsebenen können sich Fans in gestufter Intensität mit ihrem bevorzugten Medienprodukt beschäftigen und ihren Lebensstil ‚STAR TREK‘ ausleben.
Abbildung 4
Vernetzungsstruktur von Events
Auch wenn es sich dabei nur um eine begrenzte ‚Weekend-Only-World‘ (vgl. Jenkins 1992) handelt, so gehört die dort ausgelebte Teilidentität gleichwohl zur Gesamtheit aller partizipativen Identitäten des modernen Menschen und erfüllt vielfältige Funktion, die von der Verortung in einem sozialen Feld über die affektive Selbsterfahrung im kollektiven Miteinander bis zum lockeren Spiel mit dem eigenen Selbst reichen. Somit gehören mediale Eventkulturen wie die der STAR TREK-Fans heute unabdingbar zur nachmodernen Erlebnisgesellschaft dazu. Und die Hoffnung der Trekkies bleibt, dass die in der Serie propagierten Ideale, die sie heute (noch) in ihren Szenen-Enklaven ausleben, eines Tages für die gesamte Menschheit in Erfüllung gehen mögen.
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Der katholische Weltjugendtag als Hybridevent: Religiöse Medienereignisse im Spannungsfeld zwischen Mediatisierung und Individualisierung Andreas Hepp und Veronika Krönert
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Medienevents und Religion
Die Diskussion um Medienevents weist seit ihren Anfängen Bezüge zu religiösen Fragen auf. So konstatieren bereits Daniel Dayan und Elihu Katz (1992) insofern eine enge Verbindung zwischen Medienevents und Religion, als Medienereignisse „mit zeremonieller Verehrung und in einem Tonfall, der Heiligkeit und Ehrfurcht zum Ausdruck bringt“ (ebd. 12), präsentiert werden und sie „in der Zivilreligion eine Rolle spielen“ (ebd. 16): „Wie religiöse Feiertage bedeuten größere Medienevents eine Unterbrechung von Routinen, arbeitsfreie Tage, Normen der Teilnahme an Zeremonien und Ritualen, […] die Erfahrung der Integration in ein kulturelles Zentrum.“ (ebd.) Auch darüber hinaus nden sich in der Forschung zu Medienereignissen immer wieder Verweise auf Religion. Eric Rothenbuhler (1988: 78) etwa beschreibt in seinen frühen Arbeiten die Olympischen Spiele als rituelles Medienevent mit einer quasi-religiösen Dimension, und ähnlich untersucht auch Knut Lundby (1997: 161) „sakrale Momente“ in der Eröffnungsfeier der Olympischen Winterspiele in Norwegen 1994. Im Folgenden werden wir diese Diskussion aufgreifen und sie zugleich in eine neue Richtung wenden. Bislang befasste sich die Theoriebildung zu Medienevents und Religion in erster Linie mit der ‚quasi-religiösen‘ Funktion ‚ritueller Medienevents‘, wie sie Dayan und Katz in ihrer bis heute wegweisenden Studie im Blick hatten. Danach würden Medienereignisse heute Formen und Funktionen annehmen, die vormals sakrale religiöse Feiern innehatten. Obwohl dieser Aspekt nach wie vor bedeutsam ist, müssen wir darüber hinaus auch die wachsende Zahl von religiösen Feierlichkeiten berücksichtigen, die gezielt als Medienevents inszeniert werden. Beispiele hierfür sind außeralltägliche Fernsehgottesdienste, massenmedial verbreitete Kirchentage oder die katholischen Weltjugendtage. Wenn wir diese religiösen Medienereignisse angemessen verstehen wollen, so unsere grundlegende These, können wir sie nicht einfach als eine mögliche Aus-
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Andreas Hepp und Veronika Krönert
prägung „ritueller Medienevents“ fassen. Sie sind vielmehr hybride Phänomene, und zwar in doppelter Hinsicht: Auf der einen Seite beinhalten sie Momente traditionaler religiöser Festlichkeit wie beispielsweise liturgische Elemente oder Gebete. In der Inszenierung als ‚rituelles Medienevent‘ werden diese Momente jedoch transformiert, nämlich mediatisiert. Auf der anderen Seite greifen solche religiösen Medienereignisse Aspekte ‚populärer Medienevents‘ auf, die – wie beispielsweise Musikfestivals oder Fernsehereignisse im Stil von Big Brother und Deutschland sucht den Superstar – durch ihre Nähe zur Konsumkultur charakterisiert sind. Diese Inszenierungen weisen in Zeiten der Globalisierung zudem stets über den nationalen Kontext hinaus auf den ‚deterritorialen‘ Charakter religiöser Vergemeinschaftungen, also auf Glaubensgemeinschaften für deren „Verdichtung“ (Löfgren 2001; Hepp/Couldry 2009) (national-)territoriale Zugehörigkeit nur von geringer Bedeutung ist. Eine Auseinandersetzung mit gegenwärtigen religiösen Medienereignissen muss diesen doppelt hybriden Charakter berücksichtigen. Entwickelt wird dieses Kernargument anhand eines konkreten Beispiels, nämlich des katholischen Weltjugendtags. Dieser geht zurück auf das Jahr 1986 als Papst Johannes Paul II. anlässlich des „Internationalen Jahres der Jugend“ der Vereinten Nationen die ‚Jugend der Welt‘ zu einem internationalen Treffen nach Rom einlud. Seitdem feiert die katholische Kirche alle zwei bis drei Jahre einen ‚Weltjugendtag‘ und zwar nicht nur als ein lokales Großereignis mit bis zu einer Million Teilnehmenden, sondern auch als Medienereignis, das der katholischen Kirche weit über das Gastland hinaus in Ländern mit großteils katholischer Bevölkerung eine Medienpräsenz verschafft wie sonst allenfalls zu Weihnachten oder Ostern. Während der Weltjugendtag von Seiten der katholischen Kirche nicht zuletzt deshalb als Möglichkeit gesehen wird, mit jungen Katholiken in Kontakt zu treten, befürchten Kritiker mit diesem Ereignis den ‚Ausverkauf‘ des Katholizismus. Insgesamt weisen diese divergierenden Perspektiven wiederum auf den hybriden Charakter des Medienevents. In einem interdisziplinären Forschungskonsortium, an dem Teams aus insgesamt vier Universitäten beteiligt waren, untersuchten wir nicht nur Eventorganisation und Eventerleben vor Ort, sondern auch den Weltjugendtag als Medienevent (vgl. Forschungskonsortium WJT 2007). Unsere Analysen beruhen zum einen auf Interviews mit Repräsentanten der katholischen Kirche und mit Medienschaffenden aus den Bereichen Fernsehen, Presse und Bildmedien, die für die kulturelle Produktion des Medienevents verantwortlich waren. Darüber hinaus liegen unserer Argumentation für Deutschland und Italien vergleichende, quantitative wie qualitative Inhaltsanalysen zur Weltjugendtagsberichterstattung in Presse und Fernsehen zugrunde. Schließlich wurden Interviews mit jungen Katholiken aus diesen beiden Ländern zur Aneignung der Weltjugendtagsberichterstattung geführt, sowie Statements von Weltjugendtagsteilnehmenden ausgewertet, die während des
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Ereignisses im Rahmen eines partizipativen Radioprojekts gesammelt worden waren (siehe dazu Hepp/Adler/Krönert 2005). Die Auswertung dieses vielfältigen Materials erfolgte aus einer „transkulturellen Perspektive“ (Hepp 2009; Hepp/Couldry 2009): Ziel dieser Herangehensweise war es, den Weltjugendtag über mögliche nationale Differenzen hinweg als transkulturell angelegtes Medienevent in den Blick zu nehmen und damit den Katholizismus als (mediatisierte) deterritoriale Glaubensgemeinschaft insgesamt untersuchen zu können. Da es im Rahmen dieses Bandes nicht möglich ist, die Forschungsergebnisse insgesamt zu diskutieren (siehe dazu Hepp/Krönert 2009), werden wir, um die anfangs dargestellten Überlegungen zum hybriden Charakter des Medienevents verständlich zu machen, nur einige exemplarische Aspekte des Medienevents Weltjugendtag aufgreifen. Zunächst geht es jedoch darum, unsere Analysen in die übergreifenden Zusammenhänge religiösen Wandels im Spannungsfeld von Individualisierungs- und Mediatisierungsprozessen einzuordnen. Vor diesem Hintergrund werden wir auf der Basis empirischer Ergebnisse den Hybridcharakter des Weltjugendtags als religiösem Medienevent näher betrachten. Dies führt uns dann zu einigen generalisierenden Anmerkungen zur Analyse religiöser Medienevents.
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Religionswandel zwischen Individualisierung und Mediatisierung
Um religiöse Medienevents im Detail erfassen zu können, sind zunächst einige einleitende Bemerkungen zum gegenwärtigen religiösen Wandel notwendig. In den 1980er und 1990er Jahren hat sich in den Sozialwissenschaften die Säkularisierungsthese weit verbreitet, die davon ausgeht, dass in „postmodernen Konsumgesellschaften“ Religion an Bedeutung verlöre. Folglich wurde das Thema Religion in der Auseinandersetzung mit Medienkommunikation eher vernachlässigt. Während eine solche wissenschaftliche Haltung in den USA (Hoover 1997) und Lateinamerika (Martín-Barbero 1997) schon früh kritisiert wurde, beginnt sich die Einsicht, dass Religion, auch wenn sich ihre öffentliche Rolle verändert haben mag, nie vollkommen verschwunden ist, in der deutschen Medien- und Kommunikationsforschung erst langsam durchzusetzen. Als Spiegelbild der Säkularisierungsthese erscheint somit die These der ‚Wiederkehr der Religion‘, zumindest bezogen auf Europa, irreführend. Viel eher sind wir Zeugen, wie stets vorhandene Formen des Religiösen auf neue Art und Weise reartikuliert werden. Um diese Reartikulationen des Religiösen zu untersuchen, argumentiert Ulrich Beck (2008) für eine an der Individualisierungstheorie orientierte Perspektive. Individualisierung meint dabei gerade nicht eine wachsende ‚Isolation‘ oder ‚Atomisierung‘ des bzw. der einzelnen, sondern vielmehr, dass Eigenverantwortlichkeit – wie unterschiedlich auch immer sie wahrgenommen werden
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mag – und damit zugleich der Zwang, Wahlentscheidungen zu treffen, in mehr und mehr Lebenskontexten zum bestimmenden kulturellen Muster wird (Beck/ Beck-Gernsheim 1994). Eine in diesem Sinne verstandene Individualisierung kennzeichnet auch den Bereich des Religiösen, wie Beck in Anlehnung an die Überlegungen Peter L. Bergers (1979) betont: „Der Einzelne baut sich aus seinen religiösen Erfahrungen seine individuelle religiöse Überdachung, seinen ‚heiligen Baldachin‘.“ (Beck 2008: 31) Religiöse Individualisierung bezeichnet demnach die Notwendigkeit, sich einen Glauben als „eigenen Gott“ anzueignen, und zwar in einem reexiven Prozess, der von den Entscheidungen des Individuums getragen wird, und nicht in erster Linie durch soziale Herkunft und/oder religiösen Organisationen bestimmt wird. Die Individualisierung des Religiösen bedeutet somit weniger das Ende von Religion und Glauben, sie führt vielmehr zu neuen in sich gebrochenen Erzählungen „säkularer Religiosität“ (ebd.). Aufgabe einer mit Religion und deren Wandel befassten Forschung muss es entsprechend sein, diese Artikulationen individualisierter Religion zu erfassen. Mit Blick auf religiöse Medienereignisse ist bemerkenswert, wie Ulrich Beck die Medien in seine Reexion des Wandels des Religiösen einbezieht: Teil der Individualisierung des Religiösen ist demnach eine „Massenmedialisierung von Religion“ (Beck 2008: 55), d. h. eine fortschreitende Inszenierung religiöser Institutionen und deren wichtigster Repräsentanten in den Massenmedien. Als Beispiele nennt Beck Medienevents wie die Begräbnisfeierlichkeiten für Papst Johannes Paul II., die Wahl seines Nachfolgers oder den so genannten ‚Karikaturenstreit‘. Auch wenn diese Ereignisse weder Kirchen noch Tempel füllen, bieten sie die Chance für deterritoriale religiöse Inszenierungen in globalisierten Medien. Die gegenwärtig zu beobachtenden religiösen Individualisierungsprozesse verweisen also zugleich auf die Mediatisierung des Religiösen, da Medien heute zu den wichtigsten „Vermittlern“ von Glaubensangeboten über Territorien und Traditionen hinweg zählen. In der Folge „sind die historisch gegeneinander isolierten Weltreligionen gezwungen, im grenzenlosen Raum massenmedialisierter Öffentlichkeit und Nachbarschaft miteinander zu konkurrieren und zu kommunizieren“ (Beck 2008: 169). In Überlegungen wie diesen ndet sich also das bereits erwähnte Argument, dass ‚die Medien‘ heutzutage zur zentralen ‚Vermittlungsinstanz‘ von ‚Glauben‘ geworden sind. Während diese mit Blick auf die Individualisierung des Religiösen durchaus sinnvoll erscheinen, ist es in Bezug auf religiöse Medienevents notwendig, genauer zu reektieren, was ‚Mediatisierung‘ von Religion im Detail bedeutet. In seinem Buch „Religion in the Media Age“ beschreibt Stewart Hoover diesen Zusammenhang wie folgt: „In the relation between ‚religion‘ and ‚the media‘, the latter are, in many ways, in the driver’s seat.“ (Hoover 2006: 284). Damit bringt er bildhaft zum Ausdruck, was das Mediatisierungskonzept zu fassen sucht und was
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Beck und andere aus soziologischer und religionswissenschaftlicher Perspektive meist nicht weiter differenzieren: nämlich dass die An- und Übernahme medialer Kommunikationsformen durch religiöse Institutionen keinesfalls als neutraler Akt gesehen werden kann. Denn die Art und Weise, wie diese Institutionen in den Medien artikuliert werden, lässt deren ‚Sinnangebot‘ nicht unberührt. Zugleich hilft uns das Konzept der Mediatisierung (Thompson 1995; Krotz 2007; Hepp 2009) an dieser Stelle, zu spezizieren, was Hoover mit der Metapher des ‚Fahrersitzes‘ meint. Wenn wir mit „Mediatisierung“ die wachsende Verbreitung „technischer Kommunikationsmedien“ in unterschiedlichen sozialen und kulturellen Bereichen meinen, wird deutlich, dass dieser Prozess neben einer quantitativen auch eine qualitative Dimension hat: An immer mehr Orten und in verschiedenen sozialen Situationen sind heute immer mehr Medien zu immer mehr Zeiten zugänglich. Dieser Zuwachs geht zugleich einher mit der Transformation kommunikativer Formen und weiterer soziokultureller Kontexte. Beides wird für religiöse Institutionen insofern zur Herausforderung, als sie sich im „media age“ nicht mehr außerhalb dieser Mediatisierungsprozesse stellen können. Folgen wir Nick Couldry (2003), der es als wesentlichen Aspekt des „Medienzeitalters“ – oder besser: heutiger „Medienkulturen“1 – ansieht, dass Medien erfolgreich als „unhinterfragtes gesellschaftliches Zentrum“ inszeniert werden, wird die Bedeutung von Mediatisierung für Religion deutlich: Jegliche Form von Religion oder Spiritualität, die Teil des „Zentrums“ von Gesellschaften sein möchte, muss sich in „den Medien“ präsentieren – und Medienevents sind eine herausragende Art und Weise, dies zu tun. Gestützt wird dieses Argument durch spirituelle Bewegungen innerhalb der traditionalen Kirchen und darüber hinaus. So teilen etwa ‚New Age‘, die PngstBewegung oder auch spirituelle Strömungen innerhalb des gegenwärtigen WellnessBooms Hubert Knoblauch (1999: 101 ff.) zufolge einen Fokus auf elektronische Medien. In den Medien konstituiert sich damit eine Art „Sinnmarkt“ (Winter/ Eckert 1995), der als „Zentrum“ von Gesellschaft präsentiert wird, im Zuge von Globalisierungsprozessen jedoch zugleich als fragmentiert und deterritorialisiert zu begreifen ist. Religion und Spiritualität sind Teil dieser Prozesse. Sie müssen sich in den Medien präsentieren, wenn sie als „Glaubensangebote“, d. h. als Ressourcen individualisierter Glaubensgemeinschaften bzw. als Baustein eines persönlichen, wiederum individualisierten Glaubens, wahrgenommen werden wollen. 1
Als „Medienkulturen“ fassen wir alle Kulturen, deren primäre kulturelle Ressourcen über technische Kommunikationsmedien vermittelt werden (siehe auch Bignell 2000; Kellner 1995; Real 1996). Ein solches Begriffsverständnis geht in Abgrenzung zu Überlegungen des französischen Postmodernismus nicht davon aus, dass diese Kulturen per se als „Simulacrum“ (Baudrillard 1994) anzusehen wären; eine solche Perspektive verweist vielmehr auf die Vorstellung, dass „die Medien“ in gewisser Weise als „Zentrum“ dieser Kulturen artikuliert werden (für einen ähnlichen Ansatz siehe Couldry 2003).
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Dies allerdings ist kein ‚neutraler‘ Akt, in dem Sinne, dass Medien von religiösen oder spirituellen Gemeinschaften einfach „benutzt“ würden. Als „Technologie und kulturelle Form“ (Williams 1990) üben Medien vielmehr eine gewisse „Prägkraft“ auf die Art und Weise aus, wie Religion und Spiritualität kommuniziert werden – letztere werden „mediatisiert“: So macht es das Fernsehen erforderlich, dass entsprechende Inhalte mittels ansprechender Symbole und Praktiken visuell kommuniziert werden; im Internet müssen religiöse Äußerungen sich in einem weiter gefassten Diskurs über ‚Glauben‘ und ‚Nicht-Glauben‘ positionieren, und so fort. Als ein dominantes Muster mediatisierter Religion können wir in diesem Zusammenhang das „Branding“ von Religion verstehen. So geht Mara Einstein (2007: 35) davon aus, dass „sich der Marktplatz religiöser Praktiken gewandelt hat“. Seit Menschen ihre Religion frei wählen können, seien Kirchen und Glaubensgemeinschaften zunehmend zum „Branding“ ihrer Glaubensangebote gezwungen. Auch Lynn Schoeld-Clark sieht ein „religious lifestyle branding“ (SchoeldClark 2007: 27) als Charakteristikum des gegenwärtigen „spiritual marketplace“ an. Branding in dem hier verwendeten Sinne beschreibt im wesentlichen einen kommunikativen Prozess, in dessen Verlauf „aufbauend auf den so genannten Markenkern, der das ureigene Kompetenzgebiet und das zentrale Nutzenversprechen einer Leistung oder eines Produkts umfasst, […] die Marke positioniert [wird], mit dem Ziel, sich von Konkurrenzprodukten hinreichend zu unterscheiden und ins ‚relevant set‘ der KonsumentInnen aufgenommen zu werden.“ (Siegert 2000: 75) Wenn Religion in den Medien als „Glaubensangebot“ kommuniziert wird, geschieht dies also – so die These – auf diese Art und Weise. Auch wenn die Übertragung eines Marketing-Konzepts wie „Branding“ auf den Bereich des Religiösen dann fragwürdig erscheinen kann, wenn die Analogiebildung übertrieben wird2, macht sie doch zwei wesentliche Aspekte der Mediatisierung von Religion (und Spiritualität) greifbar: Erstens setzen Mediatisierungsprozesse Religion (und deren „Anbieter“) unter Druck, sich in verschiedensten Medien zu präsentieren. Denn nur wenn ein „Glaubensangebot“ über verschiedene Medien hinweg verbreitet wird, kann es sich überhaupt „im Zentrum“ von Medienkulturen positionieren. Die jeweilige religiöse „Kernbedeutung“ muss also mittels einer entsprechenden „Marke“ in Fernsehen, Radio, Presse und Internet umfassend kommuniziert werden. An dieser Stelle kommt der Aspekt „ritueller Medienereignisse“ als herausragende Möglichkeit, sich als Teil dieses Zentrum zu inszenieren, ins Spiel.
2 Siehe dazu etwa das anregende Buch von Ballardini (2005), das sich stellenweise allerdings im Metaphernfeld der (kritischen) Beschreibung der katholischen Kirche in der Sprache des Marketings verliert.
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Zweitens führt Mediatisierung dazu, dass religiöse Institutionen wie die Kirchen den Raum des Sakralen als ihren „exklusiven Kommunikationsraum“ verlieren. Denn Medienöffentlichkeiten bzw. Medienpublika stellen sich heute mehr und mehr als kommerzialisierte Räume eines sich verschärfenden Produktwettbewerbs dar. Vor diesem Hintergrund verweist die Branding-These auf die Notwendigkeit, dass sich auf Religion innerhalb dieses kommerzialisierten medialen Kommunikationsraums präsentieren muss, womit schließlich Momente „populärer Medienevents“ an Bedeutung gewinnen. Allerdings – und dies ist der Punkt, an dem eine direkte Übertragung des Branding-Konzepts zu kurz greift – „religiöses Branding“ ist insofern etwas Besonderes, als die „Marke“, um die es dabei geht, selbst eine spezielle ist: Bis heute gilt als Kern von Religion – auch in den Medien – ein „transzendenter“ oder „sakraler“ Anspruch (vgl. Lundby 2006, Sumiala-Seppänen 2006). „Branding Religion“ bedeutet also Religion innerhalb eines „profanen“ Kommunikationsraums zu präsentieren, der durch vorwiegend kommerzialisierte Medien konstituiert wird, dabei aber nicht den „sakralen“ Anspruch preis zu geben. Wie diese Balance hergestellt werden kann und welchem Veränderungsdruck das Religiöse dabei ausgesetzt ist, wird am Beispiel des katholischen Weltjugendtags als hybridem religiösem Medienevent deutlich.
3
Der Weltjugendtag als hybrides religiöses Medienevent
Wie weiter oben bereits dargestellt, müssen wir, wenn wir uns mit dem Weltjugendtag als religiösem Medienevent befassen wollen, im Auge behalten, dass er als solches Momente „ritueller Medienereignisse“ ebenso wie Aspekte kommerzialisierter und unterhaltungsorientierter „populärer Medienevents“ umfasst. Diese Hybridität ist zugleich Ausdruck gegenwärtiger Individualisierungs- und Mediatisierungsprozesse im Bereich des Religiösen. Deutlich wird dies, wenn wir uns folgendes Beispiel genauer ansehen.
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Abbildung 1
Andreas Hepp und Veronika Krönert
„Bravo Bene“-Poster zum Weltjugendtag (Quelle: Bravo, Ausgabe 34/05 vom 17.8.05)
Dieses Bild Benedikts XVI. erschien in der Hochphase des Medienevents, wenige Tage vor dem ersten Deutschland-Besuch des Papstes, als großformatiges Poster in der Jugendzeitschrift Bravo (600.000 verkaufte Exemplare im 1. Quartal 2006) – und zwar als erstes Poster zum Thema Religion in der 50-jährigen Geschichte des Hefts überhaupt. Auf der einen Seite handelt es sich dabei um ein offensichtlich religiöses Motiv mit sakralen Implikationen: Es zeigt das Kirchenoberhaupt vor tiefblauem Himmel mit weißen Wolken, seine Hand halb zum Gruß, halb zum Segen gehoben. Ins Auge fallen vor allem der glitzernde Fischerring und das leuchtende Brustkreuz, die zunächst vor allem die sakrale Dimension zu betonen scheinen. Gleichzeitig ist das Poster jedoch deutlich populärkulturell gerahmt. So erinnert der Stil dieser Darstellung stark die Vermarktung populärer Musik-, Film- oder Fernsehstars. Durch das Wortspiel „Bravo, Bene!“ wird zudem eine persönliche Beziehung zu Benedikt XVI. als ‚religiöser Berühmtheit‘ suggeriert. Damit macht das Bravo-Poster deutlich: Als oberster Repräsentant der katholischen Kirche und „Star“ des Weltjugendtags verkörpert der Papst in den Medien nicht nur das Außeralltägliche und „Heilige“ des Glaubens, sondern macht ihn auch anschlussfähig für das Populäre jugendlicher Alltags- und Medienkultur. Wie
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eine „Marke“ hält er diese scheinbaren Gegensätze zusammen und macht damit das Spezische des Weltjugendtags als religiösem Hybridevent medial vermittelbar. Zum Ausdruck kommt diese Spannung zwischen den sakralen und populären Momenten des Glaubens auch in der Art und Weise, wie der Weltjugendtag als Hybridevent in den Medien dargestellt wird.
3.1
Zur Produktion des Medienevents: Inszenierungsversuche des Sakralen und Freiräume des Populären
Anhand der Interviews, die wir mit dem Pressesprecher des für die Realisierung des Ereignisses verantwortlichen Weltjugendtagsbüros, dem für die Gestaltung der liturgischen Zeremonien während des Weltjugendtags zuständigen Geistlichen und verschiedenen Medienvertretern geführt haben, lässt sich zeigen, dass die katholische Kirche in der Weltjugendtagsvorbereitung unterschiedliche Schwerpunktsetzungen verfolgte, die mit den „sakralen“ und „populären“ Aspekten des Medienevents korrespondieren. Alles, was in den Bereich des „Sakralen“ fällt, wird mit großer Sorgfalt und unter weitgehender Kontrolle der katholischen Kirche produziert. Der Eröffnungsgottesdienst, die Papstbegrüßung auf dem Rhein, die Vigil und schließlich die Abschlussmesse auf dem Marienfeld; jede dieser liturgischen Veranstaltungen wurden bis ins Detail hinein akribisch geplant. Um die sakrale Dimension des Katholizismus, der sich – in den Worten eines unserer Gesprächspartner – mit dem Weltjugendtag aufs „freie Feld“ wagt, in seiner „Unverwechselbarkeit“ greifbar zu machen, konzentrierte die katholische Kirche ihr Know how und ihre Ressourcen – und das ihrer „Medienpartner“3 – somit auf die Inszenierung des Sakralen. Dabei ging es vor allem darum, „das Mysterium des Glaubens“ medial in Szene zu setzen. Oder wie es der zuständige Bereichsleiter formuliert: „Wenn ich den Leuten den Eindruck gebe, hier ist jetzt alles gesagt worden, dann haben wir das Wesentliche verpasst, denn es bleibt eben auch das Geheimnisvolle; […] dass auch der Letzte meint verstanden zu haben, das ist doch nicht Religion.“ Pointiert lässt sich die kulturelle Produktion des Sakralen in drei Punkten zusammenfassen: 1.
Zugang: Der Zugang für die Medienschaffenden zu den sakralen Veranstaltungen wurde von Seiten der katholischen Kirche, d. h. konkret des Weltju-
3 Eine herausragende, allerdings genau de nierte Rolle spielen in diesem Zusammenhang der so genannte Host-Broadcaster (in diesem Fall der WDR) und die weiteren ofziellen Medienpartner des Weltjugendtagsbüros (u. a. die Bild-Zeitung Köln).
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2.
3.
Andreas Hepp und Veronika Krönert gendtagsbüros, kontrolliert, indem unter allen akkreditierten Journalisten eine begrenzte Anzahl so genannter Pool-Karten vergeben wurde, ohne die man nicht in den Pressebereich bzw. auf die Pressetribünen gelangen konnte. Eine unabhängige, d. h. nicht (primär) auf das Weltbild des WDR angewiesene Berichterstattung unmittelbar vom Ort des Geschehens war entsprechend nur mit Erlaubnis des Veranstalters möglich. Umgekehrt ist die katholische Kirche – gemäß ihres Anspruchs, „medienwirksam ein positives Image zu vermitteln und durch den Weltjugendtag ein Mittel zur gelungenen Reputationspege nutzen“ (so die Formulierung im internen Kommunikationskonzept) – auf eine breite und im Grundtenor positive Medienberichterstattung über den Weltjugendtag angewiesen, wodurch einer zu rigiden Zugangsbeschränkung Grenzen gesetzt waren. Inszenierungsfokus: Im Fokus der Inszenierung stand eine im Sinne der katholischen Kirche angemessene Berichterstattung über die sakralen Veranstaltungen, die entweder auf den Papst (bspw. beim Abschlussgottesdienst auf dem Marienfeld) oder aber auf eine andere hochrangige Kirchenpersönlichkeit (bspw. bei den Eröffnungsgottesdiensten) fokussiert war. Je nach Dramaturgie übernahmen die anwesenden „Pilger“ im Hinblick auf die mediale Inszenierung bestimmte Symbolfunktionen (bspw. die der Gemeinde) und bildeten damit – zumindest in der Wunschvorstellung der inszenierenden Seite – eine Identikationskulisse: Die Zuschauer zuhause sollen sich in die jeweilige Rolle hineinversetzen und das Geschehen über die Medien vermittelt miterleben können. Gestaltungsspielräume: Die von Seiten der katholischen Kirche eingeräumten Gestaltungsspielräume erlaubten es den Medienschaffenden kaum, auf den Verlauf des sakralen Geschehens Einuss zu nehmen. Rücksprachen fanden allenfalls da statt bzw. Freiräume wurden da eingeräumt, wo es – insbesondere für den WDR als Host-Broadcaster – um die technischen Anforderungen einer (aus Perspektive der katholischen Kirche) angemessenen Übertragung der Inszenierung ging. Darüber hinaus bestanden Gestaltungsspielräume allenfalls in einer redaktionellen Nachbearbeitung des Weltbilds.
Im Gegensatz dazu bestehen im Bereich des „Populären“ für Journalisten erheblich größere Gestaltungsspielräume. So werden Straßen und das Rheinufer von den Verantwortlichen zwar durchaus als wichtige „Schauplätze“ in die Inszenierung mit einkalkuliert. Eine vergleichbare Kontrolle wie im Bereich des „Sakralen“ ist dort jedoch unmöglich, da öffentliche Plätze für jeden und damit auch für Journalisten frei zugänglich sind. Die Inszenierungsversuche des Medienevents stoßen im Bereich des „Populären“ somit an ihre Grenzen, und entsprechend tritt die katholische Kirche hier in den Hintergrund. Damit wird der öffentliche Raum zu dem Ort, an
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dem die Medienschaffenden ihre eigenen „Geschichten“ und „Perspektiven“ auf das Geschehen nden. Nicht selten rücken dabei ausgelassenes Feiern, Fragen der Sexualität und andere „populäre“, und „kirchenkritische“ Themen in den Fokus.
3.2
Zur Repräsentation des Medienevents: Katholizismus als deterritoriale Glaubensgemeinschaft
Um die scheinbaren Widersprüche zwischen „sakralem Gottesdienst“ und „populärer Party“ zu überbrücken, wird auf kirchlicher Seite ebenso wie auf journalistischer die Figur des Papstes als verbindendes „Markensymbol“ herangezogen: Nicht nur die zentralen Zeremonien werden, soweit sie als Medienzeremonien von Bedeutung sind – als Teil des päpstlichen Besuchsprogramms dargestellt. Gleichzeitig werden die unkontrollierbaren öffentlichen Räume in die kulturelle Produktion des Weltjugendtags eingebunden, indem sich der Papst im Rahmen seines ofziellen Programms in ihnen bzw. durch sie hindurch bewegt, wie etwa beim Auto-Corso durch die Kölner Innenstadt oder über das Marienfeld.
Abbildung 2
Das hybride religiöse Medienevent Weltjugendtag
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Entsprechend lässt sich die Weltjugendtagsberichterstattung entlang einer triadischen Struktur aus „Sakralem“, „Populärem“ und „Papst“ beschreiben, innerhalb derer sich die einzelnen Themenfelder der Berichterstattung verorten lassen.4 Ausgehend von Fragen nach dem Verlauf des Events, d. h. zur Entstehungsgeschichte, zur Organisation und zur Nachhaltigkeit des Weltjugendtags, die zwischen diesen Polen angesiedelt sind, lassen sich stets Bezüge zum Sakralen, zum Populären sowie zur Mediengur des Papstes ausmachen. Das „Sakrale“ wird, wie in der Abbildung oben grasch dargestellt, vor allem in der Auseinandersetzung mit der inhaltlichen Ausgestaltung des Ereignisses bzw. in Darstellungen von Glaubenspraktiken und -traditionen greifbar. Für den Bereich des „Populären“ steht dagegen das Teilnehmerprogramm, das nicht nur sakral ausgerichtet ist, sondern eben auch Pop-Konzerte und andere Formen jugend- bzw. populärkulturellen Feierns einschließt. Wichtig sind in diesem Zusammenhang Berichte über die Stimmung und Atmosphäre vor Ort, die meist als friedlich und ungezwungen dargestellt wird und deren mediale Repräsentation sich stärker an Mustern populärer Berichterstattung orientiert. Thematisiert wird hier aber auch die Kommerzialisierung des Ereignisses, etwa indem das Merchandising zum Event oder entsprechende Souvenirs Gegenstand der Weltjugendtagsberichterstattung werden. Schließlich wird der Weltjugendtag in den Medien tendenziell als „PapstEvent“ verhandelt. Das heißt über mögliche inhaltliche Schwerpunktsetzungen einzelner Berichte und die unterschiedlichen Medien in Deutschland und Italien hinweg ndet eine Zuspitzung des Medienevents auf den Aspekt des Papstbesuchs statt. Dabei wird im Bereich des „Sakralen“ vor allem das öffentliche Auftreten des Amtsinhabers thematisiert, wobei immer wieder die vergleichsweise konservativen Positionen des Papstes hinsichtlich religiöser Praxis und Tradition zur Sprache gebracht werden. Stimmung und Atmosphäre, Pilgerprogramm und Kommerzialisierung werden dagegen vor allem unter dem Blickwinkel der Papstbegeisterung oder -verehrung verhandelt. Unser Begriff des hybriden religiösen Medienevents bringt genau diese Gleichzeitigkeit von ritueller Festlichkeit und populärem Vergnügen in der Weltjugendtagsberichterstattung zum Ausdruck: die sakrale Aura religiöser Medienrituale neben populären Formen heutiger Medienkultur. Dass beides wie selbstverständlich
4 Die folgenden Aussagen beruhen auf einer mehrstugen quantizierenden wie quali zierenden Inhaltsanalyse der deutschen und italienischen Print- und Fernsehberichterstattung über die unterschiedlichen Phasen des Medienevents. Der zugrunde liegende Materialkorpus umfasst 2786 Beiträge, davon 2215 aus Deutschland und 571 aus Italien, die im Zeitraum zwischen Januar und November 2005 in lokalen und überregionalen bzw. nationalen, kirchlichen und nicht-kirchlichen Organen unterschiedlicher Ausrichtung erhoben wurden. Im Detail siehe dazu Hepp/Krönert 2009.
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Teil ein und desselben Medienevents sein kann, wird möglich durch den Papst, der als Mediengur die Rolle eines verbindenden Markensymbols übernimmt. Als hybrides religiöses Medienevent müssen wir den Weltjugendtag jedoch darüber hinaus auch in seinem globalen Kontext betrachten. Denn letztlich lässt sich dieses Event nur verstehen, wenn man die katholische Kirche nicht als national fokussiert begreift, sondern als transkulturelle Institution, deren Jahrhunderte lange Geschichte weit über den national-territorialen Rahmen hinaus weist. Als zielführend erweist es sich in diesem Zusammenhang, das Medienevent vor dem „Sinnhorizont“ des Katholizismus als „deterritorialer Glaubensgemeinschaft“ (Hepp/Krönert 2009) zu betrachten.5
Abbildung 3
Katholizismus als deterritoriale Glaubensgemeinschaft
Verständlich wird dies, wenn man die fünf Themenfelder der Auseinandersetzung mit dem Katholizismus näher betrachtet. Dabei geht es um Glaubenswerte und die kirchliche Dogmatik; um Kirche als Gemeinschaft mit einem per se deterritorialen und transkulturellen Selbstverständnis; um das Verhältnis von Kirche und Jugend, das wiederum auf eine deterritoriale katholische Jugendkultur verweist; um Ökumene, d. h. um das Verhältnis zwischen Katholizismus und anderen christlichen
5 Für eine Diskussion des Konzepts der Deterritorialisierung siehe Garcia Canclini 1995 sowie Tomlinson 1999.
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und nicht-christlichen Glaubensgemeinschaften; und schließlich um die Kirche als über nationale Grenzen hinweg tätige Organisation. Was die Entwicklung dieser Themenfelder im Verlauf des Medienevents betrifft, fällt im Vergleich der deutschen und italienischen Berichterstattung zunächst die Bedeutung des Themas Ökumene auf, die sich im Wesentlichen auf den Besuch des Papstes in der Kölner Synagoge und Treffen des Kirchenoberhaupts mit Vertretern der islamischen sowie der protestantischen Glaubensgemeinschaften zurückführen lässt. Für unser Untersuchungsinteresse ist jedoch vor allem das Thema „Kirche als Gemeinschaft“ von Interesse, da es Aufschluss darüber gibt, wie die Glaubensgemeinschaft des Katholizismus in den Medien artikuliert wird. In zahlreichen Artikeln und Fernsehbeiträgen wird die katholische Glaubensgemeinschaft in ihrem globalen Anspruch thematisiert. Typische Bezeichnungen, die auf ihre „nationenübergreifenden Verbindungen“ verweisen, sind beispielsweise „Weltkirche“ und „Weltreligion“ oder Katholizismus als „sozialistische Internationale“. Typisch für diese Art der Berichterstattung ist folgender Artikel aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Unter der Überschrift „Vereinte Nationen unter dem Kölner Dom“ formieren sich die „Souvenirjäger und Gottsucher aus aller Welt“ zur „mobilen Generalversammlung der Vereinten Nationen“: „[…] Der in die Hunderttausende gehenden Zahl junger Menschen aus aller Welt, die sich seit Tagen dem Schrein nähern, lächelt Johannes Paul II – er starb im April – als überlebensgroßes Mosaik aus tausenden Passfotos hoch über ihren Köpfen entgegen. ‚Thank you JP II‘ ist unter dem Bild zu lesen. Sein Nachfolger heißt Benedikt XVI., und auch er herrscht, glaubt man den Sprechchören, über ganze Divisionen von Jugendlichen in aller Welt: ‚Esta es la juventud del Papa.‘ Wirklich aus aller Welt? Der neu gestaltete Bahnhofsvorplatz ist samt der ebenfalls neuen Treppe, die von dort zum Kölner Dom hinausführt, seit Tagen eine Art mobiler Generalversammlung der Vereinten Nationen. Das Durchschnittsalter der Gäste in Alt-Köln dürfte freilich um einiges unter dem der Diplomaten und Beamten in New York liegen. Und fröhlicher geht es zu und lautstärker. Brasilianische Sambagruppen sind noch die harmloseste Erscheinungsform, zumal die Bekleidung der Tänzer in Köln sich von der in Rio de Janeiro ungefähr so weit unterscheidet wie ein Lodenmantel vom String-Tanga. Schwieriger ist es, sich der Dynamik einer Polonaise zu entziehen, mit der Südkoreaner den Bahnhofsvorplatz durchpügen. […]“ (FAZ 20.8.05: 3)
Ausgehend von diesem Beispiel lässt sich das Muster, das der Repräsentation des Katholizismus als deterritorialer religiöser Gemeinschaft zugrunde liegt, folgendermaßen fassen: Jugendliche aus unterschiedlichen Teilen der Erde, die regionale Lieder singend und Fahnen schwenkend durch die Straßen ziehen, verkörpern hier auf friedliche Art und Weise den globalen Anspruch des Katholizismus. Freilich liegt dieses Szenario bereits im Namen des Events – Weltjugendtag – begründet.
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Entsprechend ist es nicht weiter verwunderlich, dass Medien solche Bilder benutzen, um Kirche als Gemeinschaft darzustellen. Gleichwohl werden die (mediatisierten) Einzelereignisse rund um den Weltjugendtag in den deutschen und italienischen Medien so zur lokalen Manifestation des deterritorialen Anspruchs der katholischen Kirche.
3.3
Zur Aneignung des Medienevents: Individualisierte Glaubensstile
Mit Blick auf das (religiöse) Alltagsleben und dessen Wandel interessiert schließlich, wie ein hybrides religiöses Medienevent wie der Weltjugendtag angeeignet wird (Hoover 2006: 113–146). Dazu haben wir beim Weltjugendtag zwei unterschiedliche Aneignungsformen untersucht: zum einen die „Talk-to-Him-Box“, ein partizipatives Radioprojekt während des Weltjugendtags in Köln, das Aufschluss gibt über die Mediatisierung des Weltjugendtagserlebnisses vor Ort, und zum anderen die Aneignung des Medienevents durch junge Katholikinnen und Katholiken aus Deutschland und Italien von zu Hause aus.
Abbildung 4
„Talk-to-Him-Box“ auf dem Kölner Wallraf-Platz
Bei der „Talk-to-Him-Box“ handelt es sich um ein Partizipationsexperiment des Westdeutschen Rundfunks WDR auf dem Kölner Wallrafplatz in unmittelbarer Nähe des Kölner Doms. In einem mit moderner Aufnahmetechnik ausgestatteten und entsprechend gestalteten Container konnten Weltjugendtagsbesucher und Passanten Wünsche, Sorgen, Meinungen, Fragen und Bitten an „ihn“ richten, wobei bewusst offen gehalten wurde, ob dabei der Papst oder aber eine ‚göttliche
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Andreas Hepp und Veronika Krönert
Instanz‘ angesprochen werden sollte. Eine Auswahl der Statements wurde jeden Tag im Weltjugendtagsradio bzw. im Hörfunkprogramm des Westdeutschen Rundfunks gesendet. 689 der rund 800 aufgezeichneten Beiträge wurden von uns inhaltsanalytisch sowie hinsichtlich soziodemographischer Merkmale der Teilnehmenden ausgewertet. Dabei zeigen die Botschaften nicht nur, wie sehr der katholische Glauben der jugendlichen Teilnehmerinnen und Teilnehmer individualisiert ist, sondern auch in welchem Ausmaß sie das Angebot annehmen, dies über die Medien „ins Zentrum der Gesellschaft“ hinein zu kommunizieren. Folgendes Statement einer jungen Kanadierin illustriert dies exemplarisch: „Ich komme aus Kanada, aus dem Quebec. Ich bin 31 Jahre alt und ich werde gefragt, was ich glaube. Ich glaube zuerst an mich und, wenn ich mich traue, an Gott; aber ich glaube vor allem an die Menschheit.“ Innerhalb dieses individualisierten Katholizismus gewinnen unterschiedliche katholische Gruppierungen als Referenzpunkte religiöser Identitätsartikulation an Bedeutung. Beispiele, die in der Box erwähnt werden, sind neben verschiedenen Ordensgemeinschaften auch neue religiöse Bewegungen wie die Schönstatt-Bewegung sowie lokale Gruppen. Auch wenn diese Gruppierungen zweifelsohne religiöse Orientierungspunkte bieten und den persönlichen Glauben ihrer Mitglieder beeinussen, überrascht doch, in welchem Umfang selbst bekennende Anhänger in ihren Statements von den ofziellen Positionen ihrer Gruppe abweichen. Beispielhaft sei hier zunächst auf einen Franziskanermönch verwiesen, der die Unterschiede zwischen den Weltreligionen in Frage stellt: „Ich glaube dass wir alle irgendwie an Gott glauben. Gott hat vier Buchstaben, ob man ihn Gott nennt, Allah nennt, Jehova nennt, Gott ist alles und ist das Leben.“ In einem anderen Beispiel kehrt ein Mädchen, das sich kurz zuvor zusammen mit einer Freundin noch zu Opus Dei bekannt hat, nochmals alleine in die Box zurück, um ihre Glaubenszweifel los zu werden: „ich war eben mit meiner Freundin […] da. Also gut, ich möchte noch etwas sagen, es ist … also, es fällt mir sehr schwer, jetzt darüber zu reden. Nun gut, was ich ihm noch sagen möchte, ist dass wir eben viel über Berufung und so geredet haben. Und die Wahrheit ist, dass ich das gar nicht will, es ist die Berufung von Opus Dei, der Ruf von denen… ich möchte das nicht, aber es fällt mir sehr schwer, denn ich liebe Gott nicht so, dass ich ihm mein Leben schenken kann […] Mir macht das sehr viel Angst, und ich habe auch Angst vor Gott. Ich weiß nicht warum, aber ich spüre Angst. Deshalb möchte ich ihn bitten für mich zu beten, dass ich zu Gott nde, oder auch meinen Prinzen. Mir würde es gefallen zu heiraten…“.
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Die Selbstverständlichkeit, mit der die ofziellen Positionen der katholischen Kirche bzw. anderer katholischer bzw. christlicher Gruppierungen in der Box geäußert werden, steht zugleich für die Vielfalt religiöser Überzeugungen und Wertvorstellungen innerhalb des Katholizismus insgesamt: Leute, die die konservativen Positionen des Vatikans in Fragen der Sexualmoral verteidigen, melden sich ebenso zu Wort wie homosexuelle Katholiken und Katholikinnen, Vertreter eines traditionellen Frauenbilds ebenso wie kritische Stimmen, die selbstbewusst eine stärkere Rolle von Frauen in der Kirche einfordern. Wie different auch immer die in der Box artikulierten Vorstellungen von „Katholisch Sein“ sein mögen, die meist jugendlichen Sprecher verbindet eine Bezugnahme auf den Papst als „Star“ des Weltjugendtags. Obwohl viele seiner moralischen und religiösen Positionen abgelehnt oder zumindest in Frage gestellt werden, teilen sie in der Mehrheit eine gewisse Begeisterung für den Papst als derjenigen Figur, die in der Lage ist, die Vielfalt gelebter (katholischer) Religiosität zu integrieren und – nicht zuletzt über Medien – öffentlich sichtbar zu vertreten. Vergleichbare Prozesse religiöser Individualisierung lassen sich auch in den Interviews ausmachen, die wir mit 27 jugendlichen Rezipientinnen und Rezipienten des Medienevents aus Deutschland und Italien geführt haben, die sich im weitesten Sinne als katholisch begreifen. Auf Basis dieser Daten lassen sich zwei typische Artikulationsmuster individualisierter jugendlicher Religiosität ausmachen: Zum einen eine so genannte „Ich-Religiosität“, zum anderen eine „Gruppen-Religiosität“. Während sich ich-religiös orientierte Jugendliche die religiöse Vielfalt unter dem Aspekt der Selbstndung und Selbstentfaltung aneignen, konzentriert sich die Auseinandersetzung mit Glaubensfragen und religiösen Sinnangeboten unter dem Vorzeichen der Gruppen-Religiosität innerhalb einer lokalen Bezugsgruppe. In beiden Fällen wird der katholische Glaube jedoch als ein mögliches Glaubensangebot wahrgenommen, das den persönlichen Lebensumständen entsprechend angeeignet wird und somit individualisiert ist. Exemplarisch bringt diese Chris, ein 20-jähriger Student aus dem Trierer Raum zum Ausdruck. Auf die Frage, welche Bedeutung die Kirche in ethisch-moralischen Fragen für ihn habe, antwortet er: „Für meine Begriffe ist es nicht mehr ganz zeitgemäß. Insofern orientier ich mich da nicht so sehr dran und versuch meine eigene Einstellung dazu zu nden, die […] sich jetzt nicht unbedingt an dem orientieren muss, was die Kirche so vorgibt. […] Toleranz gegenüber Homosexuellen zum Beispiel […], da versuch ich doch eindeutig toleranter zu sein als jetzt grad in der letzten Zeit die Kirche so vorgibt (.2.). […] Sag’ ma mal einfach so, dass jeder das Recht auf eine freie Meinung hat […], jeder Mensch auch seinen freien Willen hat, dass Gott das ja auch gar nicht anders gewollt hat, und insofern dass damit auch jeder seine eigene Meinung haben darf, und dass die halt nicht immer dem entsprechen muss, was von irgendwelchen […] Autoritäten vorgegeben ist.“
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Entsprechend machen sich junge Katholiken das Medienevent des Weltjugendtags gerade nicht als etwas zueigen, das Antworten auf religiöse Fragen verspricht, sondern vielmehr als Ausdruck eines in seiner Vielfalt lebendigen und fröhlichen Glaubens. Attraktiv ist der Weltjugendtag für die Jugendlichen also nicht aufgrund seiner inhaltlichen Botschaften, sondern weil er ein anderes, hybrides Bild von Religion vermittelt und damit im Kontrast steht zur ofziellen Religion, wie sie durch die kirchlichen Institutionen verkörpert wird. Dazu Ben, ein 28-jähriger Student aus Bremen: „Kirche ja oder Christentum, glaube das hat ja in Deutschland immer so, so’n bisschen ’n bisschen so’n Nischendasein und gerade katholische Kirche hat immer was mit angestaubt und ’n bisschen mit Vorurteilen behaftet, und das fand ich schon SEHR sehr interessant, dass dem so viel Aufmerksamkeit geschenkt wurde und dass dann auch plötzlich da Leute interviewt wurden, Politiker, Prominente quer durch die Reihen, von denen man bis dato gar nicht wusste, dass sie eigentlich in irgendeiner Form sei es katholisch oder evangelisch sind, aber für die Glaube ’ne Rolle spielt, die sich dann aber dazu geäußert haben. Von daher (.1.) hab ich das schon als sehr positiv empfunden.“
Auch wenn der Weltjugendtag als „Kontrastprogramm“ zur Kirche im Alltag von fast allen Jugendlichen positiv beurteilt wird, nimmt das Medienevent selbst je nach religiöser Orientierung unterschiedlichen Stellenwert im Alltag des oder der einzelnen ein: Während er für ich-religiös orientierte Jugendliche kaum mehr als ein üchtiges Ereignis im Strom medial vermittelter Glaubensangebote darstellt, wird das Medienereignis für gruppen-religiös orientierte Jugendliche zum wichtigen „Glaubensimpuls“, sobald es in der Gruppe als solches diskutiert wird. In beiden Fällen spielt wiederum der Papst eine Schlüsselrolle. Auch wenn seine inhaltlichen Positionen abgelehnt werden, wird er von den Jugendlichen doch als moralische Figur und über die Unterschiede hinweg verbindendes Symbol des Katholizismus anerkannt. Alles in allem machen diese wenigen Beispiele deutlich, wie sehr „Glaube“ unter den Jugendlichen, die sich selbst als katholisch bezeichnen, individualisiert ist. Zugleich wird damit auch greifbar, in welcher Hinsicht Medienevents wie der Weltjugendtag für die Artikulation des Katholizismus als deterritorialer religiöser Gemeinschaft bedeutsam sind: Statt in eine „Glaubensgemeinschaft geteilter Werte“ zu integrieren, stellen sie innerhalb des „mediatisierten Zentrums“ von Gesellschaft Ressourcen für individualisierten Glauben bereit.
Der katholische Weltjugendtag als Hybridevent 4
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Religiöse Hybridevents als „branding religion“
Ausgangspunkt dieses Beitrags war das Argument, dass religiöse Medienereignisse wie der Weltjugendtag nicht einfach als rituelle Medienevents gefasst werden können, in dem Sinne, dass bestimmte religiöse Zeremonien in den Medien vollzogen werden. Sie müssen vielmehr als Hybridevents verstanden und damit auch auf Momente populärer Medienevents hin untersucht werden. Denn in Medienkulturen wird Religion zunehmend als Medienevent inszeniert. Religiöse Festlichkeit wird dadurch nicht nur zum Gegenstand von Medienberichten, sondern zugleich auch von populären Ausdrucksformen kommerzialisierter Medienkulturen durchdrungen. Diese Transformationsprozesse verweisen wiederum auf Fragen eines übergreifenden religiösen Wandels, nämlich auf die zunehmende Individualisierung und Mediatisierung von Religion. Der Weltjugendtag stellt ein geeignetes Fallbeispiel dar, um diese Zusammenhänge deutlich zu machen und damit zugleich den Hybridcharakter religiöser Medienevents zu konkretisieren. Seine Spezik und seinen Reiz als hybrides religiöses Medienevent entfaltet der Weltjugendtag im Spannungsfeld zwischen den hochgradig kontrollierten religiösen Medienzeremonien einerseits, die in ihrem rituellen Charakter die sakrale Dimension katholischen Glaubens repräsentieren, den an populären Medienformaten orientierten Repräsentationen unkontrollierten jugendlichen Feierns andererseits, und schließlich dem Papst als katholischem „Markensymbol“. Als Repräsentant des Katholizismus und „Star“ des Weltjugendtags hält er die scheinbar widerstrebenden Pole des Sakralen und Populären zusammen und macht damit zugleich den „Markenkern“ des Katholizismus als von einer transkulturellen Vielfalt an Werteorientierungen gekennzeichneten deterritorialen Glaubensgemeinschaft greifbar. An diesem Punkt unterscheidet sich dieses auf die Marke ‚Papst‘ fokussierte religiöse „Marketing“ kaum von anderen Formen des Branding.
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II Populäre Spielevents
LAN-Partys: Die Eventisierung eines jugendkultuellen Erlebnisraums1 Waldemar Vogelgesang
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„Erlebe Dein Leben!“ Virtuelle Robinsonaden zwischen SimCity und CyberSociety
Viele Anzeichen deuten darauf hin, dass uns nach dem Agrar- und Industriezeitalter jetzt das Erlebniszeitalter bevorsteht. Bereits ein üchtiger Blick in den Freizeitbereich zeigt: Der Abenteuer- und Erlebnismarkt explodiert geradezu. Von Extremsportarten über Risikotourismusofferten bis zu den Rave-Partys der Techno-Freaks reicht der Bogen der Grenzübertritte vom Gewohnten zum Ungewohnten, vom Alltag zum Außeralltäglichen. Gesucht wird vermehrt nach Ereignissen, „die aus dem normalen Zusammenhang des Lebens herausfallen,“ wie dies Georg Simmel (1983: 16) einmal umschrieben hat. Waren diese Außeralltäglichkeitserfahrungen in früheren Zeiten aber noch „Inseln im Leben“, also von einer gewissen Seltenheit gekennzeichnet, so werden sie in der Gegenwart zum zentralen Verhaltenstypus. „Es entsteht“, so konstatiert Gerhard Schulze (1992: 52), „das Projekt des schönen Lebens.“ Dass sich die Realisierung dieses Projekts angesichts der forcierten Entwicklung interaktiver Medien und neuer Teletechnologien verstärkt auch in virtuellen Szenarien vollzieht und sich dabei vor allem Jugendliche als virtuelle Erlebnisavantgarde hervortun, konnten wir in mehreren empirischen Studien nachweisen. Sehr plastisch hat dies eine 22-jährige Studentin beschrieben, die wir im Rahmen unseres Forschungsprojekts ‚Jugendliche Netzfreaks‘ befragt haben: „Mich haben bereits als Schülerin die künstlichen Computerwelten interessiert. Im 3-D-Format in fremde Räume eintauchen, sich darin zu bewegen und sie auch mitzugestalten, habe ich schon immer als etwas sehr Anregendes und Aufregendes empfunden. Aber viele Simulationen waren damals doch sehr bieder, sehr gekünstelt. Heute dagegen sind die Cyberwelten wahnsinnig komplex und auch beeindruckend 1
Für ihre intensiven Recherchen in den unterschiedlichen LAN-Gruppierungen und die konstruktiven Analysen und Interpretationshilfen danke ich herzlich Serge Draut, Markus Gamper, Stefan Maßmann, Falko Reker und Christoph Spieß.
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Waldemar Vogelgesang wirklichkeitsnah. Das fängt bei den Computerspielen an. ‚SimCity‘ zum Beispiel, das ist ein Mikrokosmos, eine Welt im Kleinen. Oder zum Beispiel ‚Active Worlds‘ oder ‚Second Life‘. Das sind riesige Kunstwelten mit zigtausend Unterwelten, von denen jede ein eigenes Klima, eine eigene Vegetation und eine andere Zivilisation hat, ja sogar eigene Friedhöfe, wo an bestimmten Gräbern die Netizens täglich Blumen, Kreuze und Gedichte hinterlassen. Alles was du in diesem Cyberland machst oder bist, du machst oder bist es in Gestalt einer ktiven Spielgur, dem Avator.“
Der soziologisch spannende – und erklärungsbedürftige – Ausgangspunkt ist hier die Beobachtung, dass spezische Computernutzungen in Verbindung mit den Möglichkeiten der Netzkommunikation einen neuen virtuellen Lebens- und Erlebensraum generieren, der alles bisher Dagewesene in den Schatten zu stellen scheint. Beseelt von einer Art Kolumbus-Gefühl gehen immer mehr Jugendliche immer häuger per Computer und Netz auf Entdeckungsreise in fremden Welten. So wie die Abenteurer in früheren Zeiten unbekannte Erdteile erkundet haben, so werden heute die virtuellen Regionen der Computer- und Netzwelt erobert. Werden die Robinsonaden, die im 18. Jahrhundert das Fernweh gestillt haben, im Zeitalter der ‚Wunschmaschine‘, wie Sherry Turkle (1986) den Computer einmal bezeichnet hat, und der Datenhighways nun Wirklichkeit? Schenkt man Rudolf Richter (1998: 320) Glauben, dann „verbindet die Vernetzung Jugendliche stärker als frühere Generationen in virtuellen Räumen. Diese Auswirkungen werden soziologisch zwar reektiert, es gibt aber kaum soziologische Studien über mögliche strukturelle Veränderungen. Hier ist Soziologie in verstärktem Maße gefordert, […] die konstruktiven Einüsse der neuen Medien auf das soziale Leben der Jugendlichen detailliert herauszuarbeiten.“ Dieser Einschätzung ist weitestgehend zuzustimmen. Zum einen dürfte Konsens darüber herrschen, dass Jugendliche in wachsender Zahl die neuen interaktiven und vernetzten Medienformen für sich zu nutzen wissen. Sehr treffend und prägnant hat Douglas Kellner (1997: 311) den für die Gegenwart bezeichnenden (neu-)medialen Habitus der Jugendlichen charakterisiert: „Die heutige Jugend ist die erste Generation, die erste Gruppe, die von Beginn an Kultur als Medien- und Computerkultur kennengelernt hat. Jugendliche spielen Computer- und Videospiele, ihnen steht ein Überangebot an Fernsehkanälen zur Verfügung, sie surfen durch das Internet, schaffen Gemeinschaften, soziale Beziehungen, Gegenstände und Identitäten in einem ganz und gar neuen und originären kulturellen Raum.“ Zum anderen besteht hinsichtlich ihrer differenzierten Beschreibung und Analyse aber immer noch ein Mangel an handlungs- und szenennahen Studien, auch wenn eine Trendwende hin zu qualitativen Untersuchungen unterschiedlichster Couleur
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unverkennbar ist.2 Zwar birgt das dazu notwendige Szeneninvolvement im Laufe der Forschung immer die Gefahr des ‚going native‘ in sich, aber letztlich sind auch in der Netzwelt Insider-Recherchen unverzichtbar, um aus der Binnenperspektive eine andere Welt in unserer Welt transparent zu machen. Nur wer in unbekanntes soziales, kulturelles oder auch virtuelles Terrain eintaucht, kann etwas entdecken und verstehen. Nur wer sich auf die hier herrschenden Sprachcodes, Interaktionsformen und Spielregeln einlässt, schafft die Voraussetzung für eine gleichwertige und gegenseitige Kommunikation, wird innerhalb des untersuchten Praxisfeldes ernst genommen und darf auf dessen besseres Verständnis außerhalb hoffen. Wie wichtig und notwendig dies gerade im Kontext der Computer- und Netzwelt ist, zeigen die immer wieder verbreiteten kulturkritischen Pauschaldiagnosen, die für das „Reich des digitalen Doubles der Welt“ (Weibel 1991: 57) einen ultimativen und irreversiblen Niedergang jedweder körperlichen, sozialen und historischen Erfahrung prophezeien. Solche Kassandrarufe stehen, wie eine wachsende Zahl von empirischen Studien zeigen, in einem eklatanten Widerspruch zur Kultur der virtuellen Sphäre und ihrer produktiven Inbesitznahme gerade durch die junge Generation. Zwar mag die Entgrenzung der Optionen, die in der virtuellen Medienkommunikation gleichsam auf die Spitze getrieben wird, unter bestimmten Umständen ein Gefühl der Orientierungslosigkeit erzeugen – eine Form der Psychodynamik, die für die paradigmatische Gestalt der Gegenwart, den Wählenden, nicht eben untypisch ist –, aber die Spiel- und Online-Kids haben sich mit diesem Zustand nicht nur abgefunden, sondern angefreundet. Sie sind gleichsam die Nomaden im neuen Multiversum, die sich auf realen wie digitalen Pfaden gleichermaßen heimisch fühlen. Vielleicht sind ihre Wanderungen bisweilen auch Gratwanderungen, aber als Bedrohung werden sie nicht erlebt, sondern viel eher als zeitgemäße Begegnungs- und Kommunikationsformen aber auch Inszenierungs- und Erlebnisfelder. Am Beispiel der Video- und Computerspieler – und hier insbesondere der LAN-Gemeinschaften – sollen deren vergnügliche Wechselgänge zwischen On- und Ofine, zwischen Realität und Virtualität als neuem Typus von intermediärem und eventisiertem Handlungsraum erörtert werden.
2
Video- und Computerspiele: Die Faszination der elektronischen Spielwiesen
Wenn in den 1980er und 1990er Jahren etwas die Spielwelt der Kinder und Jugendlichen verändert hat, dann sind dies die sogenannten elektronischen Spielwiesen. 2 Besonders hervorzuheben sind hier die ethnographisch ausgerichteten Netzrecherchen von Adamowsky (2000); Bahl (1997); Döring (1999); Miller/Slater (2000); Nachez/Schmoll (2002); Richard (2000); Sander/Malo (2002); Thimm (2000).
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Gemeint sind damit Tele-, Video- und Computerspiele sowie Play Stations, die zunehmend die Freizeitwelt der Heranwachsenden erobern. Ursprünglich zur Auockerung ihrer Berufsarbeit von professionellen Programmierern erfunden, verselbstständigte sich diese Entwicklung jedoch recht bald und führte zu einer ungeheueren Fülle von Spielgeräten und -programmen. Mittlerweile sind – nicht zuletzt durch die fortschreitende Verbreitung von Computern und Spielkonsolen – Gimmicks und Simulationen, Strategie- und Sportspiele, Adventures und Ego-Shooter zu einer festen Spielgröße im Freizeitbudget geworden, deren graphische, tontechnische und interaktive Potenziale ein Faszinosum für junge Menschen darstellen.3 Was 1962 mit der Tennissimulation ‚Pong‘ begann und inzwischen zu einem bedeutenden und ausdifferenzierten Marktsegment der Unterhaltungsindustrie geworden ist, hat aber von Anfang an sehr kontroverse Diskussionen ausgelöst. Vor allem spektakuläre Gewalthandlungen Jugendlicher – in der jüngeren Vergangenheit etwa die tödlichen Schüsse eines Jugendlichen auf Passanten in Berchtesgaden im Jahr 1999 oder der Amoklauf eines Schülers in Erfurt im Jahr 2002 oder in Emsdetten im Jahr 2006 – werden immer wieder in Verbindung gebracht mit gewalthaltigen Computerspielen. Was dabei sichtbar wird – und darauf wird noch dezidiert einzugehen sein – ist ein reexartiger Rückgriff auf eine Kausallogik, in deren Namen es zu regelrechten moralischen Feldzügen gegen jedwede Form der Mediengewalt kommt. Entsprechende Begründungsversuche entpuppen sich bei näherem Hinsehen aber als Sackgasse, denn mediale Aneignungsprozesse sind sehr viel komplexer, als es in diesen ‚Einbahnstraßen-Paradigmen‘ angenommen wird. Nimmt man die Erkenntnisse aus der Gewaltforschung mit hinzu, wonach als Ursachen für die Entstehung von Jugendgewalt primär innerfamiliäre Gewalterfahrungen, soziale Benachteiligung, schlechte Ausbildung und Zugehörigkeit zu aggressiven und devianten Jugendcliquen ausschlaggebend sind (vgl. Pfeiffer 1999), dann relativiert dies die Aussagekraft von medialen Kausalzuschreibungen doch ganz erheblich. Natürlich impliziert diese Feststellung keinen Rekurs auf die immer wieder vertretene These der Wirkungslosigkeit der Massenmedien, aber sie macht deutlich, dass die mediale Spurensuche theoretisch und empirisch ein schwieriges Geschäft 3 Dass der Spieleboom ungebrochen ist, lässt sich an der Umsatzzahlen – mittlerweile hat die Computerspiel- die Filmbranche überügelt – genauso ablesen, wie an den ständigen Neuentwicklungen, deren Innovationsdynamik auf der jährlich stattndenden ‚Games Convention‘ in Leipzig besonders markant zum Ausdruck kommt. Auch die hochschulische Informatikausbildung reagiert mit Studiengängen wie etwa ‚Digitale Medien und Spiele“ (an der FH Trier) auf diese Entwicklung. Über die einzelnen Spielarten dieses Mediums sowie das Spielverhalten der meist jugendlichen Nutzer informieren die Arbeiten von Bühl (2000); Fromme/Meder (2001); Klimmt (2001); Krambrock (1998); Quandt et al. (2008). Dass sich das Nutzungsverhalten an Geldspielautomaten völlig anders darstellt, soll hier ausdrücklich festgestellt werden; vgl. Schmid (1994).
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darstellt. Für die Forschungspraxis bedeutet dies, dass eine Medienforschung, die es sich zur Aufgabe macht, sowohl mediale Veralltäglichungsprozesse als auch den Einuss von Medien auf die Formierung jugendspezischer Verhaltensmuster und Rezeptionssettings zu thematisieren, eine hohe Sensibilität für lebensweltliche und biographische Kontexte entwickeln muss. In mehrjähriger Arbeit hat unsere Forschungsgruppe durch eine Kombination von quantitativen und qualitativen Forschungsstrategien versucht, die notwendige Wirklichkeitsnähe herzustellen, um die Formen und Beweggründe jugendlicher Medienzuwendung ebenso offenzulegen wie ihre Aneignungsstile und Verarbeitungsweisen. Die zentrale forschungsleitende Perspektive gründet dabei in der Prämisse, dass Medien nicht an sich existieren, sondern immer nur für sich, d. h. in sozialen wie individuellen, kommerziellen wie kulturellen, biographischen wie aktuellen Deutungszusammenhängen. Man nutzt sie, lernt sie zu nutzen oder lehrt, wie sie zu nutzen sind. Man gestaltet seinen Tagesablauf, seine Freizeit mit ihnen. Ebenso werden die Phantasien, die Gefühle, die Wünsche und auch die persönlichen Beziehungen in der Interaktion mit den Medien verändert. Ein solches Verständnis von Medienrezeption zielt nicht auf eine kausal-analytische Interpretation (Was machen die Medien mit den Jugendlichen?), vielmehr geht es um die Rekonstruktion jener Realitäten, in denen Medien für die Rezipienten bedeutsam werden (Was machen die Jugendlichen mit den Medien?). Dabei hat sich gezeigt, dass die Vielfalt von Nutzungs- und Codierungsmöglichkeiten, die Medien eröffnen, zur Herausbildung von spezialisierten personalen Identitäten und jugendeigenen Szenen und Spezialkulturen führen können – auch im Bereich von Video- und Computerspielen. Unstreitig ist in diesen neuzeitlichen Spielparadiesen eine Konzentration auf die abgeschlossene Welt des Spielrahmens und auf die eigenen Fähigkeiten zu beobachten, jedoch nicht im Sinne einer Individualistenkultur ideosynkratischer Einzelgänger, sondern in Form einer gruppensportlichen Auseinandersetzung mit anderen Spielakteuren. Zwar mag es im Einzelfall durchaus zur Abkapselung und Selbstisolierung kommen, aber das Bild vom Computerspieler, der in seinem Zimmer sitzt und hinter heruntergelassenen Rolläden seine perversen Phantasien austobt, ist ein Mythos. Die Realität offenbart uns vielmehr eine differenzierte Fankultur mit eigenen Rekrutierungs- und Hierarchisierungsstrategien und mit gemeinsam geteilten Normen, Ritualen und Selbstverständlichkeiten, die der Spielnovize vielfach in Ratgebern und Regelwerken für Computerspieler nachlesen kann. Gelingt durch Übung, Wahrnehmungs- und Gedächtnisschulung dann eines Tages der Sprung in die Klasse der Meister, dann eröffnen sich dem Spielbegeisterten neue Bedeutungs- und Bezugswelten, die – sei es im wettkampfmäßigen Leistungsvergleich oder im lustvoll-autonomen Eindringen in unerreichbar geglaubte Fantasy-Sphären – neben der Vergrößerung individueller Freiräume der
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Selbstdarstellung und Selbstdenition auch eine zunehmende erlebnisorientierte Auadung des Alltags mit sich bringen. Dies bestätigen auch die Ergebnisse einer Studie, die die Kölner Medienpädagogen Jürgen Fritz und Wolfgang Fehr (1995: 21) durchgeführt haben: „Die Spiele faszinieren, weil sie von den Spielern benötigt werden, um ‚gute Gefühle‘ zu bekommen. Der Spielcomputer als ‚Mister feel good‘ ist begehrt, weil er positive Emotionen bewirken kann: Er vermag Vergnügen, Spaß und Freude zu bereiten, Gefühle von Leistungsfähigkeit und Kompetenz zu vermitteln sowie Distanz zur Lebenswelt zu schaffen. […] Das emotionale Erleben sollte dabei möglichst ‚dicht‘ und ‚intensiv‘ sein. Ein faszinierendes Spiel vermittelt ein ‚Wirklichkeitsgefühl‘ und bewirkt damit eine Steigerung des emotionalen Erlebens. Je wirklichkeitsgetreuer die virtuelle Welt,“ so die Autoren, „desto höher die Erlebnisdichte.“ Aber es ist nicht nur die Wirklichkeitsnähe, deren Erforschung im Übrigen in der angloamerikanischen Medienwissenschaft als ‚perceived reality approach‘4 eine lange Tradition hat, die ein besonderes Unterhaltungserlebnis beim Computerspielen vermittelt, sondern auch eine spezische Form von Interaktivität, die dem Spieler gleichermaßen emotionale und kognitive Kontrollpotenziale bieten. Torben Grodal (2000: 211 f.) stellt diesen Aspekt mit Nachdruck heraus „Interactive media like video games create a further sophistication of media consumption by enabling consumers to switch between a passive control of their emotional and cognitive states (by actively selecting one-way media) and an active control of these states (by choosing interactive media). These interactive media are still in their infancy for reasons related to the kinds of stories that, for technical reasons, can be enway in which they enable players to stimulate an interactive control of human faculties and emotions in possible worlds.“ Hinzu kommt, dass das Eindringen in die virtuellen Spielwelten und die Fokussierung auf die Spielhandlung hohe Spannung – und auch Entspannung – erzeugen. Spielen lenkt vom Alltag ab und wird bisweilen sogar zur Therapie. Vor allem die sogenannten ‚Abschießspiele‘ bieten die Möglichkeit, aggressive Impulse auszuagieren. Gerade bei männlichen Jugendlichen konnten wir immer wieder beobachten, wie aus Alltagserfahrungen resultierende negative Gefühle wie Angst oder Wut durch bestimmte Spieltypen und -praktiken absorbiert werden. Nicht das Spiel erzeugt aversive Stimmungen und Affekte, jedenfalls haben wir hierfür keine Anhaltspunkte gefunden, sondern außerhalb des Spiels gemachte Frusterfahrungen werden in den Spielrahmen übernommen und beim Spielen abgebaut.
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Die wahrgenommene Realitätsnähe – englisch ‚perceived reality‘ – wurde bisher in der Medienund Kommunikationswissenschaft hauptsächlich im Kontext der Fernsehrezeption untersucht (vgl. Hawkins 1977; Potter 1986, 1988; Rothmund et al. 2001a, 2001b). Eine aufschlussreiche Adaption dieses Konzepts auf hochinteraktive Video- und Computerspiele haben Klimmt/Vorderer (2002) vorgelegt.
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Auf eine weitere, interessante Entwicklung im Spielverhalten ist noch hinzuweisen. Vergleicht man nämlich die von uns in den 1990er Jahren eruierte Spielertypologie – der Sportler, der Denker, der Dramaturg (vgl. Eckert et al. 1991) – mit aktuellen Befunden, so ist ein neuer Typus hinzugekommen: ‚der Netzspieler‘. Dabei sind es vor allem 15- bis 25-Jährige, die in sogenannten Multiplayer-Spielen ihren Erlebnishunger gemeinschaftlich stillen. Denn ganz gleich ob Schach, Fußball, Poker, das Ballerspiel ‚Quake‘, das Kriegsspiel ‚Command & Conquer‘ oder das Simulationsspiel ‚Siedler‘, diese Spiele nden immer häuger auch auf untereinander (selbst-)vernetzten Computern statt. Von zwei bis über tausend Spielern kann dabei die Gruppengröße reichen. Allerdings lassen sich – in Abhängigkeit von der Gruppenstärke – unterschiedliche Gesellungstypen unterscheiden, die den sogenannten LANs (= Lokal Area Networks) als neuen Formen populärer Events ihr besonderes Gepräge geben. Ihre nachfolgende empirisch-ethnographische Beschreibung stützt sich dabei neben der Teilnahme an entsprechenden Veranstaltungen auf zahlreiche narrative Interviews mit Spielern und Organisatoren sowie intensive Online-Recherchen und Zeitschriftenanalysen.
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Local Area Networks: Genese und Transformation einer neuen jugendkulturellen Medienszene
3.1
LAN-Partys – ein Stimmungsbericht (von Stefan Maßmann)
Sie möchten Unterstützung für eine LAN-Party haben – mit dieser Bitte kamen im März 2001 drei Gymnasiasten im Alter von 16 und 17 Jahren auf uns, als Hauptamtliche in der Jugendarbeit Tätige, zu. LAN stehe für ein Netzwerk von Computern, so erläuterten sie uns enthusiastisch, das man dazu nutzen möchte, miteinander und gegeneinander verschiedene Computerspiele zu spielen. Ich hatte bereits von derartigen Veranstaltungen gehört, aber in meinem Kopf schwirrte ein Bild von Spielhallenatmosphäre umher, und so konnte ich mir nicht recht vorstellen, worin der Partycharakter einer Veranstaltung liegen könnte, auf der Computerkids in einer vollständig virtuellen Welt irgendwelche Kämpfe austrugen. Mit diesem unzureichenden Wissen stand ich nicht allein da, sondern meinen KollegInnen ging es ähnlich, was auch den drei Jungs nicht verborgen blieb. Aber der Versuch, etwas für uns Neues auszuprobieren, kann ja nichts schaden, dachten wir, und so ging es naiv aber zuversichtlich ans Werk, schließlich hatten die drei schon kleinere LANs veranstaltet. Unsere Hilfe war lediglich dann gefragt, wenn es um Rahmenbedingungen wie die Zugangsmöglichkeiten zu städtischen Einrichtungen ging, Verträge geschlossen werden mussten, da die Jugendlichen noch nicht volljährig waren, oder wenn
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Kontakte zur örtlichen Presse hergestellt werden sollten. Die gesamte inhaltliche, technische und logistische Planung und Umsetzung wurde von den Jugendlichen aber selbstständig auf die Beine gestellt. In ständigem Kontakt haben sie uns über ihre Aktivitäten berichtet, wobei sie mit einer beachtenswerten Zielstrebigkeit ans Werk gingen, die nur durch Zwischenfragen von Laien wie mir gebremst wurde. Dass man nebenbei mal eine Homepage einrichtet, damit sich alle Besucher online anmelden können, und weshalb es von Bedeutung ist, dass sich jeder schon dort in einen Sitzplan eintragen kann und somit genau weiß, wo sein Platz in der Halle sein wird, war für sie selbstverständlich, nicht jedoch für uns. Gleiches galt für die Dimensionen an Strombedarf und die Wichtigkeit von Lüftungs- und Kühlmöglichkeiten, sowie vielen anderen technischen Voraussetzungen, die vor Ort gegeben sein sollten. Aber diese Dinge wurden von den drei Jugendlichen – sie selbst nannten sich dem Szenenjargon entsprechend ‚Orgas‘ – souverän abgeklärt. Selbst das Finden von Sponsoren für die Siegerpreise wollten sie unbedingt selbst bewerkstelligen, und dies auch dann noch, als ihnen sowohl die lokalen Händler als auch die Internetrmen sehr reserviert begegneten. Der Erfolg gab ihnen aber letztlich Recht, ihre Beharrlichkeit und ihr Engagement hatten sich ausgezahlt. Mir war der gesamte Ablauf der LAN-Party auch dann noch schwer vorstellbar, als die Rahmenbedingungen bereits Kontur annahmen. Die Party sollte in der Stadthalle stattnden, wobei ein Limit von 110 TeilnehmerInnen, die ihren eigenen PC mitzubringen hatten, nicht überschritten werden sollte. Gespielt werden sollte nur samstags und sonntags, wobei es sich dabei noch um eine kleine LAN handeln würde, wie uns die Jugendlichen versicherten. Dies rechtfertige auch eine Teilnahmegebühr in Höhe von 15 DM – ein Betrag, der deutlich unter der Summe läge, die für eine 3-Tage-LAN üblicherweise zu entrichten ist. Weiterhin wurde festgelegt, dass für die Halle ein absolutes Rauch- und Alkoholverbot gilt und keine indizierten Spiele gespielt werden dürfen, da auch Jugendliche unter 18 Jahren mitspielen sollten. Diese – im Vergleich zu anderen LAN-Partys – durchaus restriktiven Regelungen stießen aber sowohl bei den Organisatoren als auch den Spielern auf Verständnis und die anfänglichen Befürchtungen, dass hierdurch Jugendliche abgeschreckt würden, stellten sich schnell als unbegründet heraus. Innerhalb kurzer Zeit waren die Plätze vergeben und mit jedem Tag, mit dem die Veranstaltung näher rückte, wurden die Online-Diskussionen auf der Homepage der Gruppe lebhafter. Binnen zehn Wochen wurde diese Seite über 15.000 mal aufgerufen. Bereits vier Wochen vor der Veranstaltung waren die Plätze vergeben und nur wenige Tage danach hatten auch alle ihre Teilnahmegebühr überwiesen. Nun war klar: 109 Jungs und ein Mädchen werden gegeneinander antreten. Ende Juli war es dann endlich soweit. Das Wochenende war eines der heißesten des Jahres und die meisten Jugendlichen zog es wohl eher ins Schwimmbad, als es am Samstagvormittag dann ernst wurde. Bereits ab 10 Uhr trudelten einzelne
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Jugendliche ein, die von ihren Eltern oder von Freunden gebracht wurden, nur wenige kamen mit dem eigenen Auto, da die meisten unter 18 Jahren alt waren. Die Spieler luden ihre Computer und prall gefüllten Kühltaschen und alles was sie sonst noch für wichtig ansahen, damit sie und ihr Spielequipment die Hitzeschlacht unbeschadet überstehen konnten, in aller Ruhe aus. Ventilatoren, Schlafsäcke, Ersatzkleidung und Glücksbringer gehörten zur Grundausstattung, ein Minibackofen oder ein Zelt dagegen doch eher zu den exotischen Mitbringseln. Wie auf einem Flughafen bei einem Pilotenstreik sah es im Eingangsbereich der Halle aus, wo sich alle Teilnehmer registrieren lassen mussten und ihre Plätze in der Halle zugewiesen bekamen. Taschen, Gepäckstücke, Monitore und Computer in allen nur erdenklichen (selbst umgestalteten) Varianten stapelten sich für den Außenstehenden wirr und unkontrolliert im Foyer, während die eintreffenden Spieler sich anmeldeten. Das alles verlief recht locker und ähnelte eher einem netten Plausch mit Freunden als der Vorbereitung auf einen anstehenden Wettkampf, wo in martialischen Schlachten virtuelle Gegner außer Gefecht gesetzt werden sollten. Es bedurfte keiner besonderen Aufmerksamkeit um zu erkennen: Die Spiele-Freaks waren hier unter ihresgleichen und die Vorfreunde auf die LAN-Session allseits spürbar. Nach und nach begannen die Jugendlichen dann in der Halle ihre Computer aufzubauen und mit gegenseitiger Hilfestellung an die Switches, die zur Vernetzung der Computer dienen, anzuschließen. Auch dies geschah alles im freundlichen Plauderton, man unterhielt sich, scherzte, von Eile oder gar Hektik keine Spur. Viele kannten sich persönlich, da sie gemeinsam zur Schule gehen oder sich auf anderen Veranstaltungen bereits begegnet waren, manche dagegen nur unter dem ‚nickname‘ (kurz: nick) – einem Tarnnamen, den sie im ‚virtual life‘ des Internets verwenden –, wobei sich hier nun die Gelegenheit bot, die entsprechende Person auch einmal im ‚real life‘ kennen zu lernen – und natürlich auch deren Geräteausstattung. Denn viele Computer waren sehr auffällig umgestaltet. So sägten einige LAN-Teilnehmer das Logo ihres Lieblingsspiels hinein, andere verwendeten ein durchsichtiges Gehäuse, das den Blick freigab auf ein mit Leuchtdrähten ausgestattetes Innenleben, und zu den ganz exotischen Eigenkreationen zählten fraglos Computer, bei denen die Einzelbestandteile in einem Holzgestell, einem Alukoffer oder einer Bierkiste Platz gefunden hatten. Auch wenn nicht alle Computer so spektakulär umgestaltet waren, so hatten sie doch alle irgendwie ihre eigene Note und wenn es nur Glücksbringer und Luftballons waren, die man am Monitor befestigt hatte, oder Aufkleber aus den Juniortüten von McDonalds, die im Laufe der beiden Spieltage reichlich Zuspruch fanden. Fast sechs Stunden lang kamen Jugendliche an und ganz nebenbei veränderte sich auch das Bild der Halle. Sah es am Morgen noch nach einem Familienfest aus, so ähnelte sie am Nachmittag eher der NASA-Leitzentrale: komplett verdunkelt und nur erleuchtet von etwa 120 Computermonitoren und einer Bildäche, auf
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die ein Videobeamer die aktuellen Informationen zum Turnierablauf projizierte. Mittlerweile hatten die meisten hinter den Bildschirmen Platz genommen und nur wenige liefen noch zwischen den langen Sitzreihen hin und her, um irgendwelche kleineren Probleme zu beheben. Auch die Orgas hatten ihre Plätze in der Nähe der Steuerungscomputer (Server) eingenommen, die sie selbst aufgebaut und funktionsfähig gemacht hatten. Später berichteten sie uns voller Stolz, dass sowohl der Intranetserver, der allen angeschlossenen Computern den Turnierplan und weitere Informationen zur Verfügung stellte, als auch der Gameserver, der die Spielprogramme zugänglich machte, störungsfrei liefen. Unsere Anerkennung hierfür war mit dem Geständnis verbunden, dass wir den eigentlichen Turnierstart irgendwie verpasst hatten. Uns sei nur aufgefallen, dass es irgendwann in der Halle doch recht leise geworden sei und die Konzentration und Anspannung der Spieler sichtlich zugenommen habe. Was uns allerdings nicht entging, war die rege Kommunikation untereinander. Per Headset, einer Kombination aus Mikrophon und Kopfhörer, tauschten die Spieler Informationen aus und wirkten dabei wie Fluglotsen oder Mitglieder eines Callcenters, die kurz und knapp irgendwelche Anweisungen übermittelten. Wie wir später erfuhren, galten diese Hinweise den Mannschaftskameraden. Denn gespielt wurde im Multi-Player-Modus, also in kleinen Gruppen, dies sich gegenseitig mit allerlei Tricks und Finten auszumanövrieren suchten. Vor allem, als sich die Reihen zum ersten Mal etwas lichteten, weil einige Teams bereits ausgeschieden waren, bot sich Gelegenheit, das vernetzte Spielgeschehen etwas genauer zu beobachten, indem ich mehreren Teams über die Schultern schauen und das virtuelle Gerenne und Schießen aber auch die sprachlichen Äußerungen und Hinweise plötzlich in einen Zusammenhang stellen konnte. Es war beeindruckend, das gesamte Spielszenario aus ganz unterschiedlichen Perspektiven zu sehen. Während die Spieler ausschließlich ihre Spielgur sehen, hatte ich auch die Möglichkeit, einen Blick auf die Bildschirme der Gegner zu werfen und konnte dabei sehen, wie sich die Teams per Absprache positionierten, wenn ein Gegner entdeckt oder vermutet wurde, welche unterschiedlichen Strategien in Sekunden angedeutet und wieder verworfen wurden, und wie eine Unachtsamkeit oder ein Abstimmungsfehler zum spielentscheidenden Nachteil werden konnte, aber auch wie ein genialer Spielzug oder eine geschickte Mannschaftsstrategie ein Team auf die Siegerstraße brachte. Jeder der Beteiligten hatte offensichtlich die schier unendliche Fülle von digitalen Landschaften, in denen sie spielten, ganz genau im Kopf. Was auf den ersten Blick wie ein wirres Geballere aussah, entpuppte sich beim näheren Hinsehen als ein hochkomplexes Spielgeschehen, wo in atemberaubender Geschwindigkeit virtuelle Kämpfe ausgetragen wurden und gleichzeitig höchste Konzentration und präzise Kooperation des gesamten Teams gefordert war.
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Für die Spieler waren deshalb die Turnierpausen sehr willkommen. Es galt sich zu entspannen und für die nächste Spielrunde den Akku wieder aufzuladen. Der Pizzabote hatte in dieser Zeit alle Hände voll zu tun und dass es für ihn ein einträgliches Geschäft werden sollte, zeigte sich schon nach kurzer Zeit an den Massen von leeren Pappkartons, die an den Wänden zu Türmen aufgeschichtet wurden. Die Spieler hatten hierfür keinen Blick. Ihr Interesse galt dem vorangegangenen Spielgeschehen. Überall wurde gefachsimpelt. Dies gab auch uns Gelegenheit, etwas mehr über das Computerspiel zu erfahren, das in der ersten Runde gespielt wurde. Bereitwillig gaben uns die Jugendlichen darüber Auskunft, dass es sich um das Lieblingsspiel aller LAN-Partys handelte: ‚Counterstrike‘. Man berichtete uns, dass CS, wie sie das Spiel abkürzten, erstmals vor etwa drei Jahren im Internet auftauchte und von zwei Studenten aus dem Spiel ‚Half-Life‘ weiterentwickelt wurde. Im Spiel gibt es zwei rivalisierende Gruppen, die sich während der Spielrunde in fester Position gegenüber stehen: Terroristen und Counter-Terroristen. In einer Vielzahl von virtuellen Szenarios müssen sie bestimmte Aufgaben möglichst ohne eigene Verluste erledigen. So müssen die Counter-Terroristen z. B. im ‚GeiselSzenario‘ innerhalb eines bestimmten Zeitlimits Gefangene aus den Händen der Terroristen befreien oder sie müssen im ‚Bomben-Szenario‘ die von den Terroristen gelegten Bomben aufspüren und entschärfen. Die virtuellen Landschaften – im CS-Jargon ‚Levels‘ genannt – erstrecken sich von arabischen Wüstenschlössern bis zu riesigen LKW-Garagen in New York, von supermodernen Bürogebäuden bis zu verwinkelten Hinterhöfen. Dass uns dieses kleine Universum von animierten Bildwelten am Anfang wie ein riesiger zusammenhangloser Bilderteppich vorgekommen sei, dessen Sequenzen an schnell geschnittene Video-Clips erinnerten, wurde von den CSFans nicht weiter kommentiert: Man müsse sich halt in diesen Welten auskennen und auch die Regeln beherrschen, um sich hierin dann auch bewegen zu können. Zum Beispiel eine Mauer, die so hoch ist, dass man nicht über sie hinüberspringen kann: einfach die Space-Taste drücken. Aber wer zur Verbesserung seiner Treffsicherheit einen ‚aim bot‘ einsetzt, also ein kleines Zusatzprogramm, das dafür sorgt, dass die Kugeln den Gegner auch wirklich treffen, dem werde der Rechner sehr schnell vor die Halle gestellt. Wer auf diese oder ähnliche Weise die CS-Regeln verletze – in der Sprache der Fans heißt dies, bei einem ‚cheat‘ erwischt zu werden –, der manövriere sich selbst ins Abseits. Und die gänzlich Unverbesserlichen stünden auf einer schwarzen Liste, die den LAN-Organisatoren bestens bekannt sei. Sich Regeln geben und diese auch zu befolgen, das sei für das Spielen wie für die LAN unverzichtbar. Dagegen helfen blindes Ballern oder Alleingänge niemandem weiter. CS sei ein Interaktions- und Kooperationsspiel, bei dem nicht das Töten im Vordergrund steht, sondern der Teamgeist. Alles dreht sich um erfolgreiche Kommunikation unter den Spielpartnern und das geschickte
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Einsetzen von Täuschungsmanövern. Dass dies nur mit einer gehörigen Portion Trainingseiß zu erreichen sei, müsse man ja wohl nicht eigens betonen. Nach dieser Lehrstunde in Sachen Counterstrike und Online-Spielkultur konzentrierten wir uns wieder auf den weiteren Fortgang der Veranstaltung. Denn die LAN-Party war mittlerweile zu einer echten körperlichen Herausforderung geworden. War es draußen, wie bereits erwähnt, einer der heißesten Tage des Jahres, so wurden die Temperaturen im Innern der Halle vor allem durch die von den Computern abgestrahlte Wärme locker getoppt und auch der Sauerstoffanteil der Luft bewegte sich auf einem recht niedrigen Niveau. Dies tat der Spielfreude und Begeisterung der Jugendlichen aber keinen Abbruch. Ganz langsam konnte ich erahnen, warum man bei den LAN-Treffen von Party sprach, denn die Veranstaltung nahm immer mehr den Charakter eines Happenings an, man hatte gemeinsam Spaß und genoss dies sichtlich. Das Alkoholverbot spielte keine Rolle für die Beteiligten, ihr Ziel war es schließlich, möglichst gut zu spielen und jede Minute auszukosten, da solche Veranstaltungen vor Ort rar sind. Davon konnten sich auch Eltern, Freunde und auch manch neugieriger Besucher überzeugen, der von der Veranstaltung durch die Presse erfahren hatte. Denn wir hatten bei der Planung Wert darauf gelegt, dass es auch ‚öffentliche Fenster‘ geben solle, damit Interessierte einer solchen Veranstaltung einen Besuch abstatten konnten. Auch wenn die große Hitze in der Halle und die Gewaltbilder auf den Monitoren von manchem Besucher nicht gerade als einladend empfunden wurden, insgesamt war die Resonanz aber durchweg positiv. Die lockere, spielerische und angenehme Atmosphäre – und dies trotz der recht widrigen äußeren Bedingungen – dürfte so manchem Erwachsenen seine Skepsis gegenüber LAN-Partys doch etwas genommen haben. Gegen 23 Uhr war dann das letzte Turnier des ersten Spieltags abgeschlossen. Ein Teil der Jugendlichen versuchte recht schnell ein ruhiges Plätzchen für die Nacht zu nden, die meisten spielten aber noch weiter und erst weit nach Mitternacht zogen sich dann immer mehr Teilnehmer zurück, um drei oder vier Stunden zu schlafen. Ein paar Unentwegte hielten aber die ganze Nacht aus und waren dementsprechend sichtlich übermüdet, als es am nächsten Morgen mit den Turnieren weiterging. Eine gute Platzierung erzielte keiner von ihnen. Nachdem man sich frisch gemacht hatte, was wegen der Temperaturen zwar erforderlich aber wegen der Örtlichkeit etwas problematisch war, und manche ihre frische Kleidung angezogen hatten, ging es dann im Ablauf wieder wie gewohnt weiter. Auch wenn die Fitness aller doch deutlich gelitten hatte, die Endspiele verliefen trotzdem äußerst spannend. Und kaum ein Jugendlicher verließ vorher die Halle, vielmehr versammelten sich die ausgeschiedenen Teilnehmer um die Computer der noch im Wettkampf verbliebenen Teams. Man wollte sehen, welche Tricks die
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Besten auf der Pfanne hatten, begutachtete diese auch anerkennend und gratulierte den Siegern zu einem furiosen Finale. Zu Ende ging die LAN genauso, wie sie angefangen hatte. Nach der großen Preisverleihung, bei der es auch einen besonders starken Applaus für die Orgas gab, verließen die Jugendlichen tröpfchenweise die Halle, nachdem sie gemächlich ihre Computer abgebaut und ihre sonstigen Mitbringsel zusammengepackt hatten. Man unterstützte sich dabei und hatte so nochmals Gelegenheit, einen interessierten Blick auf die Hardware der anderen zu werfen. Der Abschied war herzlich und für viele bereits mit einer Verabredung für die nächste LAN verbunden. Draußen warteten bereits die Eltern oder Freunde, die die Gerätschaften in Empfang nahmen und im Auto verstauten. Manch einer musste aber auch auf seinen Fahrer etwas warten und saß dann doch recht einsam vor der Halle – abgekämpft, mit roten Augen und todmüde. Übrig blieben in der Halle die drei Orgas, denen die Anstrengung ebenfalls ins Gesicht geschrieben stand. Aber das positive Feedback ließ sie das Schlafdezit vergessen und sie waren zudem sichtlich erfreut darüber, dass ihr Netzwerk auch unter den Extrembedingungen der letzten beiden Tage störungsfrei lief. Während sie das umfangreiche technische Equipment routiniert in transportable Einzelteile zerlegten, dachte bestimmt noch niemand von ihnen an die nächste LAN-Party. Diese hat zwischenzeitlich bereits stattgefunden und auch an ihr haben wieder über 100 Computerspieler aus der gesamten Region und alle Clans der Gegend teilgenommen. Auch sie wurde von den drei Jugendlichen äußerst professionell organisiert und durchgeführt. Beide Veranstaltungen waren für mich eine eindrucksvolle Erfahrung und eine Bestätigung dafür, dass LAN-Partys für viele Jugendliche bereits Kultstatus haben. Die hier beobachtete und erlebte Begeisterungsfähigkeit, Selbstständigkeit, technische Versiertheit und nicht zuletzt der allgegenwärtige Spaßfaktor passen so gar nicht zu der kritischen und ablehnenden Haltung, auf die man gerade in Pädagogenkreisen immer wieder stößt, wenn die Rede auf LAN-Partys und die dort erzeugte Gewaltbereitschaft unter den Jugendlichen kommt. Wie hat ein Jugendlicher doch so treffend in einem Gespräch gesagt: „In jeder Disco und bei jedem Fußballspiel gibt es mehr Schlägereien als auf einer LAN-Party.“ Es drängt sich der Eindruck auf, dass viele Bedenkenträger keine Vorstellung von dem Vermögen und dem Vergnügen der Computerspieler haben, in andere Handlungsräume – und zwar gleichermaßen virtuelle und reale – einzutauchen. Die digitalen Spektakel der LAN-Partys erschließen sich ganz offensichtlich nicht aus der Distanz.
186 3.2
Waldemar Vogelgesang Die LAN-Szene und ihre Vergemeinschaftungsformen
In Übereinstimmung mit einem weiten Spektrum von Sozial- und Medienwissenschaftlern ist zu konstatieren: Jugendzeit ist Medienzeit und Jugendszenen sind vermehrt Medienszenen. Von Video-Cliquen bis zu den Grufties, von Black MetalFans bis zu den Cyberpunks, von HipHoppern bis zu den Online-Rollenspielern spannt sich heute der Bogen von medienzentrierten Stilformen und Jugendformationen, die sich oft schneller verwandeln, als der forschende Blick zu folgen vermag.5 Auch die sogenannten neuen Medien – Computer und Internet – sind dabei zu einem idealen Anknüpfungspunkt für jugendkulturelle Sozialwelten geworden. Als beinah prototypisch für diese Entwicklung kann das PC-Spiel in Gruppen angesehen werden. Ursprünglich nur im Einpersonen-Modus spielbar, werden immer mehr Video- und Computerspiele als Ensemblespiele konzipiert, wobei die Spielgemeinschaften auch räumlich entgrenzt im Internet operieren. Was Joachim Höich (1996: 268) bereits Mitte der 1990er Jahre gesagt hat, bewahrheitet sich für die Gamer-Szene in der Gegenwart nachdrücklich: „Jedes Medium eröffnet aufgrund multipler Kommunikationskanäle die Teilhabe an einer Vielzahl potentieller ‚sozialer Welten‘ […] und ‚elektronischer Gemeinschaften‘, die sich nachgerade durch medienspezische Gebrauchsweisen, Bedeutungshorizonte, auf die Medien hin bezogene Identitäten und Distinktionsinteressen unterscheiden.“ Am Beispiel unterschiedlicher Spiele-Settings – den Privat-LANs, den LAN-Partys und den LAN-Events – soll dies näher verdeutlicht werden.
3.2.1 Privat-LANs: Spielvergnügen in der häuslichen Umgebung Die Ursprünge des LAN-Booms, wie er sich heute als fester Bestandteil der Jugendkultur zeigt, liegen fraglos im privaten Bereich. Es waren jugendliche Computer- und Spielefreaks, die Zuhause oder bei Freunden Versuche starteten, Computer miteinander zu verbinden und im Multi-Player-Modus verfügbare Spie5 Zum jugendkulturellen Stilmarkt und seiner Transität vgl. Baacke et al. (1998); Farin (2001); Moser (2000); Müller-Bachmann (2002); Schröder/Leonhardt (1998). Auch wenn der ethnographisch arbeitende Jugendforscher angesichts der unzähligen Varianten von Cliquen und Jugendkulturen bisweilen in die Rolle des ‚gehetzten Feldhasen‘ gerät – Analogien zu einem Märchen von Ludwig Bechstein sind (nicht) zufällig –, so gilt jenseits aller inter- und intraszenischen Differenzierungen, dass die einzelnen jugendlichen Stiltypen über eine starke identitätsstiftende Kraft verfügen. Sie sind keineswegs nur „Konfektionsware“, wie Odo Marquard (zit. n. Bolz 1995: 89) meint, sondern ihr distinktives und kreatives Potential ist den jugendlichen Gruppen- und Szenenmitgliedern nach wie vor bewusst und verfügbar. Die Fülle, Vielfalt und Temporalität der Stilsprachen darf nicht gleichgesetzt werden mit einem Substanzverlust von Stilen, vielmehr reagieren die Jugendlichen auf den allseits tobenden Stil- und Distinktionskampf mit einer Betonung der ‚kleinen Unterschiede‘.
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le auf diese Weise zum Laufen zu bringen. Was von den großen kommerziellen Herstellern von Unterhaltungselektronik ausschließlich für die Spielkonsolen vorgesehen war, sollte gleichsam in eigener Regie und vor allem unter Zuhilfenahme der eigenen PCs simuliert werden. In gewissem Sinn den von uns in den 1980er Jahren untersuchten Video-Cliquen ähnlich, werden dadurch auch die vernetzten Computerspiele verstärkt zum Gruppenereignis. Während die Videokids jedoch ohne große Vorbereitung ihren Action- und Horrorspektakel frönen konnten, sind die Spieletreffen an aufwendige Vorarbeiten geknüpft, wie uns ein Jugendlicher recht anschaulich zu schildern wusste: „Wir treffen uns meist am Wochenende bei einem aus unserer Clique. Das ist dann jedesmal irrsinnig aufwendig, weil jeder seinen eigenen PC mitbringt und wir die Geräte dann gemeinsam vernetzen. Das hat am Anfang super Probleme gemacht, weil man ja Zugriff auf den Rechner der anderen hat. Da waren Abstürze vorprogrammiert“ (Fabian, 15 Jahre). Immer wieder nden sich in den Interviews Hinweise darauf, welche Herausforderung die Vernetzung der Computer für die Jugendlichen darstellt. Während viele sich vorher um solche technischen Dinge nicht sonderlich gekümmert haben, sind sie nun mehr oder weniger gezwungen, sich auch damit intensiv auseinander zu setzen. Learning by doing heißt die Devise in der ersten Lernstufe, wobei aber nach und nach an die Stelle des Versuch-Irrtum-Lernens ein größeres Wissen über die unterschiedlichen Vernetzungsformen aber auch andere Neuerungen im Hard- und Softwarebereich tritt: „Der technische Aspekt ist auch sehr interessant, z. B. nach welcher Variante ich ein Netz aufbaue, denn da gibt es durchaus verschiedene Möglichkeiten. Die lernt man aber mit der Zeit kennen. Auch dass man sich mit seinen Spielpartnern über die aktuellen Graphikkarten, Prozessoren und solche Sachen unterhalten kann, denn die Qualität der Spiele hängt eng mit der technischen Weiterentwicklung im Hardwaresektor zusammen“ (Pièrre, 22 Jahre). Die Gruppe wird für die Jugendlichen zu einer Art Wissensdrehscheibe und Sozialisationsagentur in Computer- und Netzfragen, wobei die Strategien des Selbermachens und der ständigen Marktbeobachtung eine wichtige Rolle spielen. Denn nur die neuesten Graphik- und Soundkarten garantieren eine exzellente Bildund Tonqualität und kommen damit dem Wunsch der Spieler nach einer möglichst realitätsnahen Darstellung der Spielhandlungen sehr entgegen. Nicht nur das Spielen scheint ihnen also sichtlich Vergnügen zu bereiten, sondern auch die selbstständige und optimale Herstellung der Spielvoraussetzungen. Mit Stolz wird deshalb immer wieder darauf verwiesen, dass es gerade die Virtuosen unter den jugendlichen Spielefreaks sind, die durch ihr Können und ihre Phantasie ständig neue virtuelle Szenarios und Spiellevels kreieren. Das Spiel Counterstrike gilt ihnen dabei als Musterbeispiel und dies nicht nur, weil es von zwei Studenten aus einem anderen Computerspiel weiterentwickelt wurde, sondern weil von der riesigen Spielergemeinde – allein in Deutschland wir ihre
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Zahl auf etwa eine Million geschätzt – fast täglich neue Spielwelten programmiert werden, deren narrative Struktur mittlerweile so komplex ist, dass es selbst für die ausgebufften Spieler manchmal schon einer intensiven Suche bedarf, bis sich die Kombattanten darin gefunden haben. Tilmann Baumgärtel (2002: 35) konstatiert in diesem Zusammenhang treffend: „Was früheren Generationen Knete, Malkasten oder Balsaholz waren, ist für die Generation LAN die ‚game engine‘ des Spiels: ein Medium, mit dem man kreativ sein und gestalten kann. In diesem Fall gleich ein ganze Welt – ein Universum, das nach den eigenen Regeln funktioniert und in dem man seine eigenen Abenteuer erleben kann. Nebenbei lernt man gleich noch, wie man hoch komplexe 3-D-Modelling-Programme bedient, die wohl die meisten deutschen Informatikprofessoren überfordern würden.“ Wie wichtig den Jugendlichen in den Spieluniversen der Ego-Shooter, in denen sie lmanalog aus der Perspektive der subjektiven Kamera ihre ktiven Kämpfe austragen, die Kontrolle über das Geschehen ist, wurde immer wieder betont. Die wiederkehrenden Handlungen und die narrative Komplexität werden für sie zu Landkarten virtueller Szenarios, die man sich nach seinen Vorstellungen aneignen kann. „Beim Spielen,“ so umschreibt dies Felix, 17 Jahre, „da wählt jeder seinen Weg. Auch wenn man bei den Ego-Shootern den Ausgang kennt, dann ist das Entscheidende doch, wie man dahin kommt, welche Strategie man wählt. Und ich kann meinen Plan mittendrin im Spiel ändern, wenn ich sehe, dass etwas schief läuft.“ Ein anderer hat die Bedeutung, jederzeit ins Spiel eingreifen und den Verlauf ändern zu können, folgendermaßen zum Ausdruck gebracht: „Bei Counterstrike gibt es natürlich auch Regeln, wie bei allen Computerspielen halt, aber wie ich sie anwende, das ist wichtig. Es ist schon irgendwie so wie beim Schachspiel, man versucht in allen Spielsituationen den Überblick zu behalten. Aber das Ganze passiert halt in Sekundenbruchteilen und die entscheiden dann über Sieg oder Niederlage“ (Leon, 19 Jahre). Es ist offensichtlich, dass von der Bewegungs- und Handlungsfreiheit, die durch die variantenreiche Spieldramaturgie möglich werden, eine starke Faszination für die Spieler ausgeht. Sie wählen ihren ganz individuellen Weg durch das Labyrinth der fast unzähligen computergenerierten Spielwelten, d. h. sie übernehmen eine wichtige Regiefunktion für den Spielverlauf. Aber sie sind keine Einzelkämpfer, sondern letztlich kommt man nur zum Erfolg, wenn das eigene Vermögen und Geschick und die Gruppentaktik erfolgreich aufeinander abgestimmt sind. Denn es geht bei Ego-Shooter-Spielen nicht nur darum, sich allein oder in einer Kampfgemeinschaft den Weg freizuschießen, sondern immer auch um taktische Ziele, z. B. eine Basisstation einzunehmen oder Geiseln zu befreien. Bereits für die Privat-LANs gilt somit: Das individuelle Handeln ist teammäßig ausgerichtet. Aber der Wettkampfcharakter spielt dabei noch eine vergleichsweise geringe Rolle. Im Mittelpunkt des gemeinschaftlichen Spiels stehen die Geselligkeit und
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das Gruppenerlebnis, die Ausgelassenheit und die Ungezwungenheit. Man ist hier nicht nur unter Alters-, sondern in erster Linie unter Seinesgleichen, trägt in und mit der Gruppe die ktiven Scharmützel aus – und dies alles in einer den Routinecharakter des Alltags auösenden Fetenatmosphäre. Entsprechend beschreibt Marius, 17 Jahre, seine aus acht Mitgliedern bestehende Spielclique auch als „Zockerteam, bei dem es so richtig abgeht.“ Und er ergänzt. „Angesagt ist bei unseren Treffen Spaß pur, Action und coole Sprüche aller Art. Weil wir uns halt super gut kennen, da kann das denn schon mal sein, dass da plötzlich einer losbrüllt: ‚Da, du Penner, jetzt habe ich dir gerade eine Rakete in den Arsch gejagt.‘ So was ist aber nicht böse gemeint, da fühlt sich auch niemand beleidigt. Das hängt halt mit der Gaudi untereinander zusammen.“ Es ist also keineswegs zutreffend, dass an die Stelle der personalen Kommunikation eine Spielxierung und ein sozial isoliertes Abgleiten in irgendwelche Gewaltszenarien treten würden, wie immer wieder von besorgten Pädagogen und Eltern zu hören ist. Im Gegenteil, auch – oder gerade – die kollektiven Baller- und Abschießspiele sind eingebunden in expressive Verhaltensmuster, gekoppelt an Witz, Spaßmachen und Albernheiten und letztlich Ausdruck mediums- und szenegenerierter Flip-Praxen. Die vielzitierten Privat-LANs sind demnach – ähnlich wie die Aktivitäten vieler anderer Medienfangruppen – auch ein Befreiungsversuch von den Rationalitätsanforderungen und der Problembeladenheit der modernen Alltagsrealität. Sie sind ein Freiraum und Aufbruch zu anderen, außeralltäglichen Erlebnisformen und generieren, wie ihre Anhänger immer wieder hervorheben, gleichermaßen einen virtuellen und realen Raum für Nähe, Vergnügen und Geselligkeit. Florian, 18 Jahre, bestätigt dies und macht darüber hinaus noch darauf aufmerksam, dass auch LAN-Gruppen eine Geschichte haben und stellt an seinem Beispiel den Werdegang und die Atmosphäre bei den Privat-LANs nochmals in aller Deutlichkeit heraus: „Unsere erste eigene LAN war an einem Samstag bei einem Freund zu Hause. Ich erinnere mich noch genau, wir waren zu viert und hatten uns vorgenommen, ‚Duke‘ und ‚Doom‘ – (es handelt sich dabei um die ersten Multi-Player-Spiele; W. V.) – über ein Netzwerk zu spielen. Mit Nullmodemkabel und normaler Vernetzung für vier PCs wollten wir die Spiele im two-and-two-Modus spielen. Ich weiß nicht mehr, aber es waren ‚zig Versuche notwendig, bis das Netz einigermaßen funktionierte. Aber so ng es an. […] Wir haben schnell gemerkt, wie geil das ist. Wann immer einer sturmfrei hatte, wurden die PCs mitgebracht und losgezockt. Erst waren es ganz kleine Treffen, denn am Anfang hatte ja nicht jeder einen PC. Irgendwann kamen dann sechs PCs, dann acht und am Schluss spielten wir zu zehnt. Einmal in den Ferien hatten wir sogar ein ganzes Haus, dort waren wir dann mit sechzehn Leuten. […] Für diejenigen, die neu hinzukamen, für die Newbies, ist das ziemlich schnell gegangen, bis sie in der Gruppe akzeptiert waren. Die meisten hatten vorher schon gespielt, aber in der Gruppe gibt es wesentlich mehr taktische Möglichkeiten, wie
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Waldemar Vogelgesang man so ein Spiel aufziehen kann. Man muss Aufgaben gemeinsam erledigen, sich abstimmen, als Team eben spielen. […] Heute sind wir ein fester Kreis von acht Leute, super Typen. Und bei den Treffen wird längst nicht mehr nur gespielt. Da wird etwas zu Essen und Trinken mitgebracht und manchmal grillen wir auch gemeinsam. Wir wollen einfach zusammen sein, Party machen, das ist wichtig. Natürlich wird auch über Technik geredet und über die Spiele, über clevere Schachzüge und hinterhältige Fallen, die man den anderen gestellt hat. […] Spielen und alles, was so dazu gehört, das ist halt ein Gemeinschaftserlebnis geworden.“
3.2.2 LAN-Partys: Situative Vergemeinschaftung und performative Raumgestaltung Es waren die kleinen Privat-LANs, aus denen ndige und spielbegeisterte Computerfreaks in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre einen neuen Typus von Netzspiel entwickelt haben, für das sich in der jugendlichen Spielerszene der Begriff LAN-Party eingebürgert hat. Was in den eigenen vier Wänden begann, erhielt auf diesen Veranstaltungen gleichsam eine überlokale Plattform. Denn hier wurde den „Heimspielern“ (Timo, 16 Jahre) die Gelegenheit geboten, andere ShooterCliquen kennen zu lernen, gegen diese zu spielen und sich mit ihnen im Spiel zu messen. Gegenwärtig werden hierzulande jedes Wochenende bis zu einhundert solcher LANs mit Namen wie ‚Leavin‘ The Reality Behind‘, ‚eXtremezocken‘ oder ‚MagicLAN‘ durchgeführt. Die Teilnehmerzahlen schwanken dabei zwischen zwanzig und mehreren hundert, wobei die Teilnahme jedem offen steht, sofern er mit der nötigen Hard- und Software ausgestattet ist. Weitere Vorleistungen sind – sieht man einmal von der Teilnahmegebühr, die zwischen fünf und fünfundzwanzig Euro liegt – nicht nötig: „Einfach die Kiste einstöpseln und los geht’s“, wie dazu Uwe, ein 17-jähriger Spielefreak, kurz und prägnant meinte. Hier wird ein erster, wichtiger Unterschied zu den Privat-LANs sichtbar: LAN-Partys sind vororganisiert. Die große Teilnehmerzahl erfordert nämlich eine längerfristige Planung und umfassende Koordination. Ein passender Veranstaltungsort muss gefunden werden, Sponsoren sind zu rekrutieren und nicht zuletzt ist die entsprechende technische Ausrüstung (Netzwerkkabel, Switches/Hubs, Server etc.) zu beschaffen und aufzubauen. Um diese Aufgaben efzient zu lösen, haben sich zahlreiche Organisationsteams, die sogenannten ‚Orgas‘, gebildet, die sich fast ausschließlich auf die Durchführung solcher Veranstaltungen konzentrieren und deren Mitglieder dabei auch ein hohes Spezialwissen erwerben. Und manche sehen darin auch durchaus eine Chance, aus ihrem Hobby später vielleicht einmal einen Beruf zu machen. Thomas, ein 21-jähriger Informatikstudent, bestätigte uns dies: „Ich habe mit zehn schon am Rechner gesessen, mit fünfzehn meine erste
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LAN organisiert und mit achtzehn in den Ferien bei einem Autohändler in Trier als Systemadministrator gejobbt. Das Informatikstudium war dann fast zwangsläug.“ Aber im Interview spricht er auch noch einen anderen Aspekt an, der ihm in diesem Zusammenhang wichtig ist: „Wer LANs organisiert, hat natürlich ein Spezialwissen in Netzwerktechnik, aber er muss sich auch mit Managementfragen auseinander setzen. Sponsoring, die Verwaltung der Eintrittsgelder, Haftungsfragen, dies sind alles Dinge, die bei einer größeren LAN geregelt werden müssen. Wir haben uns deshalb in einem Verein zusammengeschlossen. Das machen viele Orgas so, nicht zuletzt auch deshalb, weil dadurch die Risiken besser kalkulierbar werden.“ Auch wenn Spezialisierungs- und Professionalisierungstendenzen unverkennbar sind, so stehen auf den LAN-Partys doch die Geselligkeit und das Vergnügen im Mittelpunkt. Organisatoren und Spieler bilden über ein verlängertes Wochenende – die Spieldauer reicht von einem bis zu drei Tagen – eine Interessen- und Spaßgemeinschaft, bei der die Begeisterung für ein bestimmtes Computerspielgenre eine starke Bindung zwischen den Anwesenden erzeugt. Simon, 19 Jahre, drückt dies so aus: „LAN-Party ist für mich ein Begriff für Zusammengehörigkeit. Die Leute haben dasselbe Hobby, sie treffen sich, reden miteinander, spielen miteinander und haben Spaß zusammen. Man hat dieselben Interessen, dieselbe Leidenschaft. Man kennt sich vielleicht nur aus dem Internet, trifft sich hier mal und kann dann miteinander reden und spielen.“ Gruppensoziologisch handelt es sich bei den LAN-Partys mithin um szenetypische Interaktionsgemeinschaften, die in einem zeitlich begrenzten Rahmen eine hohe Kontakt- und Erlebnisdichte garantieren und denen im Blick auf die gesamte LAN-Szene auch eine nachhaltige identitäts- und zugehörigkeitsstiftende Bedeutung zukommt.
3.2.3 LAN-Events: Die (Selbst-)Professionalisierung einer Jugendszene im Spannungsfeld zwischen Spaßwettkämpfen und Leistungssport Auch wenn LAN-Partys bereits deutliche Professionalisierungstendenzen aufweisen, die organisatorischen und logistischen Leistungen der Super-LANs, in der Szene LAN-Events genannt, haben eine andere Dimension. Angefangen von ihrer Größe – so kann die Teilnehmerzahl bis zu mehreren tausend reichen – über den Kommerzialisierungsgrad bis zu international ausgerichteten Turnieren weisen sie Strukturmerkmale auf, wie sie für institutionalisierte Großveranstaltungen im Freizeit- und Kulturbereich im Sinne von „populären Events“ (Hepp/Vogelgesang 2003) bezeichnend sind. Zu den ersten Sessions dieser Art in der LAN-Szene kann eine Veranstaltung in Schweden im Jahre 2002 gezählt werden, die unter dem Namen ‚Dreamhack Summer 2002: Total World Domination‘ vom 13. bis zum
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16. Juni in der Stadt Jönköping stattfand und an der mehr als fünftausend Spieler aus der ganzen Welt teilgenommen haben. Was zunächst einmal auffällt, ist die Steigerungsqualität und Professionalität, mit der auf den Einmaligkeitscharakter der Mega-LANs verwiesen wird. Dies beginnt bereits mit der Bezeichnung. Häug nden sich hier bestimmte Hochwerttitel, die Aufmerksamkeit wecken und das Gigantische herausstellen. ‚WordLAN‘, ‚Total Play‘ oder ‚World Cyber Games‘ sind Beispiele hierfür und signalisieren den LAN-Fans, dass hier etwas Besonderes – und auch für die Szene Außeralltägliches – geboten wird, sozusagen ein Spiel-Happening der Extraklasse. Die Teilnehmer – auch hier handelt es sich in der Regel um männliche Jugendliche oder junge Männer – codieren im Übrigen den Mega- und Eventcharakter dieser Veranstaltungen ganz ähnlich: „Was mich so fasziniert an den Riesen-LANs, das ist der Eventcharakter. Es geht zwar wie bei den LAN-Partys Freitagmittag los und dauert bis Sonntagabend, aber da wird auf einem ganz anderen Niveau gezockt. Das Ganze ist immer auch super professionell organisiert“ (Adrian, 20 Jahre). Zudem wird in aufwendigen PR-Kampagnen mit Hinweisen auf eine sehr sorgfältige Ablauf- und Serviceplanung geworben: Organisations- und Technikserviceteams stehen ebenso zur Verfügung wie Cateringdienste und eine genügend große Anzahl an Ruheräumen. Und als besonderen Body-Service engagieren manche Organisatoren von Groß-LANs Physiotherapeuten, um die verkrampften Rückenmuskeln der Hardcore-Spieler zu lockern. Neben der ‚Rundumversorgung‘ zeichnen sich die Mega-LANs vor allem aber durch eine wachsende Kommerzialisierung aus. Wie rasant sich diese Entwicklung vollzogen hat, lässt sich an der Äußerung eines 26-jährigen Orgas ablesen, der mit seinem Team LAN-Veranstaltungen im Saar-Lor-Lux-Raum organisiert: „Die erste größere LAN haben wir im Jahr 2000 in Luxemburg durchgeführt. Damals hat das Siegerteam einen Scheck von 1.000 Euro bekommen. Aus heutiger Sicht sind das Peanuts. Und wenn man die internationale LAN-Gaming-Szene im Blick hat, dann allemal. Die Organisatoren von Super-LANs haben hier ein Budget im sechs- oder gar siebenstelligen Bereich“ (Eric). Diese extreme Kommerzialisierung ist nur durch ein starkes Engagement der Hard- und Softwareindustrie möglich geworden. Sie sehen ganz offensichtlich in den LAN-Events eine optimale Plattform, um für ihre Produkte zu werben. Bereits an den Werbebannern auf den Homepages der Organisatoren wird sichtbar, wie Produkt- und Sponsorenwerbung gleichsam kurzgeschlossen werden, denn der Hinweis auf die Veranstaltung ist aufs Engste gekoppelt mit Verweisen auf den – oder die – Geldgeber. Auch in den gemieteten Hallen und nicht zuletzt bei der Preisverleihung, die ähnlich wie bei den großen Tennisturnieren von den PR-Managern oder Geschäftsführern der SponsoringFirmen vorgenommen werden, ist die Präsenz der Geldgeber allgegenwärtig.
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Dass die Kommerzialisierung der LAN-Szene auch Einuss auf die Form und Funktion des netzbasierten Computerspielens nehmen würde, war anzunehmen. Aber wie gravierend die Unterschiede zwischen den ‚E-Sportlern‘ und den ‚Hobby-LANern‘ sind, ist doch einigermaßen überraschend. Während auf den häuslichen Privat-LANs oder den lokalen LAN-Partys vornehmlich Freundescliquen ihrem virtuellen Spielvergnügen nachgehen oder sich gegebenenfalls spontane Spielergemeinschaften zusammen nden, spielen auf den großen LAN-Events Mannschaften gegeneinander – in der Szenensprache ‚Clans‘ genannt –, die in ihrer Struktur Sportvereinen recht nahe kommen. Intern weisen die Clans, deren Mitgliederzahlen zwischen zehn und fünfzig variieren, eine deutliche hierarchische und aufgabenbezogene Differenzierung auf. In täglich stundenlangen Trainingssitzungen und Taktikbesprechungen gilt es ein Können und eine Perfektion zu erreichen, die auch einen entsprechenden Marktwert haben. Die Professional Gamer (kurz: Pro-Gamer oder Pros) spielen mithin auf einem sehr hohen Niveau, „das sich auch entsprechend versilbern lässt,“ wie dies Lorenz, ein 24-jähriger ClanLeader, sehr plastisch umschreibt. Auch wenn die Protorientierung der Spitzenspieler ihnen in der LAN-Szene den kritischen Beinamen ‚Elite-Geier‘ eingetragen hat, ihr spielerisches Vermögen steht außer Frage. Ob sich LAN-Turniere und -Ligen jedoch dauerhaft einen Platz im internationalen Sportgeschäft sichern können, bleibt abzuwarten. Daniela Illing (2006: 100) ist zunächst einmal zuzustimmen, wenn sie im Blick auf die Kommerzialisierung der LAN-Szene feststellt: „Diese Entwicklung hat ihren bisherigen Zenit in der Herausbildung von protorientierten Spielern gefunden, die, teilweise vertraglich gesponsert von Spiele-Herstellern oder anderen IT-Firmen, von LAN zu LAN tingeln. In Amerika und Asien gibt es bereits Berufsspieler, die ihren Lebensunterhalt zumindest teilweise mit Preisgeldern bestreiten. In Deutschland ist eine solche Professionalisierung kaum zu erwarten, da das Computerspielen nicht als Sportart anerkannt ist, sondern ein Nischendasein als reine Freizeitbeschäftigung fristet.“ Wie auch immer die weitere Entwicklung der LAN-Szene und ihrer Protagonisten aussehen wird, einstweilen gilt: Wie im Pro-Fußball handelt es sich auch bei den Pro-Gamern um eine kleine Gruppe von Spitzenspielern, die mit den LAN-Partys als einer neuen Form von ‚virtuellem Breitensport‘ nicht mehr allzu viel gemeinsam haben.
3.3
Die Welt der LANer: Strukturmerkmale eines selbst geschaffenen Spiel- und Sozialraums
Die bisherigen ethnographischen Einblicke in die jugendliche LAN-Welt ließen drei szenetypische Vergemeinschaftungsformen sichtbar werden. Sie generieren
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soziale Räume, die sich aufgrund unterschiedlicher Anforderungsstrukturen, Relevanzmuster und kommunikativen Beziehungen deutlich voneinander unterscheiden. Sie repräsentieren ‚kleine Lebenswelten‘, die durch eine Art Dialektik von Zuordnung und Abgrenzung eine relativ klare Grenzziehung nach außen sowie Zugehörigkeitsgefühlen nach innen bestimmt sind. Allerdings sind die Grenzen offen und überschreitbar, vorausgesetzt man folgt den Spielregeln der intraszenischen Spezialisierung und Professionalisierung. Dass diese Regeln nicht nur Leitorientierungen individuellen Verhaltens darstellen, sondern ganz grundsätzlich soziale Ordnung innerhalb – und außerhalb – der LAN-Szene sichern, soll im Weiteren an spezischen Formen ‚normierten Verhaltens‘ näher untersucht werden.
3.3.1 ‚Unsichtbare‘ Ordnungsmuster und ‚sichtbare‘ Inszenierungsstrategien Ganz gleich welchen Gemeinschaftstypus man in der LAN-Szene betrachtet, es handelt sich immer um Interaktionsgemeinschaften, bei denen die Begeisterung für ein bestimmtes Computerspielgenre eine kommunikative Klammer zwischen den Anwesenden bildet. Damit aus dieser kommunikativen Klammer jedoch ein gemeinschaftliches Spiel wird, sind verlässliche Regeln notwendig. Zwar ist es durchaus angezeigt, in einer Wettkampfsituation nicht allzu viele Einzelheiten von den eigenen Fertigkeiten und der gewählten Strategie der Mitspieler preiszugeben. Es kann im Gegenteil sogar nützlich sein, eine gezielte Falschinformation zu streuen, die sich als taktisch geschickter Bluff erweisen kann. Dennoch gibt es in der Ego-Shooter-Szene aber bezüglich des Spielens ein ungeschriebenes Gesetz: „Don’t cheat, betrüge nicht“ (Timo, 16 Jahre). Wer gegen diesen Spielkodex verstößt, d. h. sich z. B. durch ‚Wallhacking‘ (Durchsichtigmachen von Wänden im Spiel) oder ‚Point Tropping‘ (Generierung von höheren Ressourcenbeständen) einen unlauteren Vorteil verschafft, dem ist der Ausschluss aus der LAN-Party sicher. „Im Wiederholungsfall,“ so erklärt uns Kai, ein 20-jähriger Orga, „ndet er sich schnell auf einer schwarzen Liste wieder.“ Diese Aussage verdeutlicht, wie wichtig es den Spielern ist, dass bestimmte Regeln eingehalten werden. Nur sie garantieren einen fairen Wettstreit, eine verlässliche Ordnung im Ablauf der Veranstaltung und eine Atmosphäre der Freundschaft. Aber es geht hier nicht nur um die Einhaltung von Regeln, sondern auch darum, dass es die Jugendlichen selbst sind, die diese Regeln aufgestellt haben, über deren Einhaltung wachen und im Übertretungsfall Sanktionen verhängen. Dass die Ordnungsstiftung im Minikosmos LAN-Party dabei auf ganz ähnliche Weise erfolgt wie im ‚real life‘, ist ihnen voll bewusst. Denn wie in der Realität erfordert das Überleben und Gewinnen in der virtuellen Welt Einsatz, Arbeit, Lehrzeit und Kooperation, um zum Ziel zu kommen und erfolgreich zu sein. Übertretungen
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werden hier wie in der Alltagswirklichkeit bestraft, wobei der Sanktionsrahmen von Missbilligung über Verwarnungen bis zum Spielausschluss reichen kann. Die Spieler organisieren ihre Verhaltensweisen also gemäß einem Kodex, der durch Normen und Werte geprägt ist, die denen der Realwelt entsprechen. Ob diese ‚Normtreue‘ auch außerhalb des virtuellen Spielrahmens gilt, also auf das gesamte LAN-Setting übertragbar ist, müsste noch genauer untersucht werden. Denn gegenüber der LAN-Szene wird immer wieder der Verdacht geäußert, ihre Treffen seien ein Umschlagplatz für Raubkopien jedweden Genres. „Einige der Besucher von LAN-Partys,“ so auch die Einschätzung von Illing (2006: 96), „melden sich sogar ausschließlich an, um die Festplatten zu füllen und brechen ihre Zelte auf der Party ab, sobald die Jagd nach den gesuchten Daten erfolgreich beendet ist.“ Dies mag für Einzelfälle vielleicht zutreffend sein, auch wenn wir bei unseren Recherchen auf keine Jugendlichen gestoßen sind, die LAN-Partys ausschließlich zu dem Zweck besuchen, sich im großen Stil Raubkopien zu beschaffen. Wer trotzdem illegal Software tauscht und dabei entdeckt wird, muss mit empndlichen Sanktionen seitens der Organisatoren rechnen: „Wer im Spiel oder außerhalb des Spiels bei Betrügereien erwischt wird, den setzen wir samt Rechner kurzerhand vor der Tür,“ so die eindeutige und kompromisslose Feststellung eines Orgas (Bernd, 24 Jahre). Und er ergänzt: „Wir haben eine Hausordnung für die Teilnehmer und darin heißt es unmissverständlich: zero tolerance for leechers6!“ Die Nähe, Verfechtung und Durchdringung von Spiel- und Alltagswelt zeigt sich bei den jugendlichen Mitgliedern der LAN-Szene aber nicht nur bei den Normbindungen auf der sozialen Ebene. Auch im Blick auf die ‚individuelle Identitätsarbeit‘, die angesichts fortschreitender gesamtgesellschaftlicher Individualisierungsprozesse das „Projekt des eigenen Lebens“ (Beck 2001) zunehmend ins Zentrum der eigenen Daseinsgestaltung rückt, bieten LAN-Veranstaltungen und -Gemeinschaften unterschiedlichste ‚Inszenierungsbühnen‘, verbunden mit performativen Selbstdarstellungen, die auf Kreativität, Unverwechselbarkeit und Authentizität zielen. Der Kampf um Aufmerksamkeit und Anerkennung, vor dem die Jugendlichen auch im Alltag permanent stehen, ndet auf den LAN-Sessions gleichsam ideale Anknüpfungspunkte und Ressourcen. Besonders nachdrücklich wird dies an der Umrüstung und am Design des eigenen Computers deutlich. Die Devise heißt: „Umbauen, denn Standard ist langweilig und oft auch viel zu langsam“ (Timo, 16 Jahre). Die Veränderungen beziehen sich dabei zum einen auf die technische Seite des Computers und werden im Szenejargon als ‚Overclocking‘ bezeichnet. Zum Ausdruck gebracht wird damit eine besondere Form des PC-Tunings, um höhere Taktfrequenzen zu erzielen und
6 Als ‚leecher‘ werden in der LAN-Szene Personen bezeichnet, zutreffender: diskreditiert, die sich auf LAN-Partys primär als ‚Software-Sauger‘ gerieren.
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den Rechner dadurch leistungsfähiger zu machen. Die als Nebenfolge dieser Aufrüstung unvermeidliche Wärmeproduktion wird durch aufwendige Kühlsysteme aufgefangen, die von selbst entwickelten riesigen Luft- und Wasserkühlern bis zu komplizierten Stickstoffverfahren reichen. Der individuellen ‚Kühlphantasie‘ sind hier fast keine Grenzen gesetzt – ein Umstand, der selbst unter den SzeneInsidern staunendes Anerkennen auslösen kann, welche eigenwilligen technischen Lösungen hier bisweilen gefunden werden. Neben den technischen Innovationen gibt es aber auch ästhetische, die dem Computer eine sehr individuelle Note geben. Diese beziehen sich auf die Umgestaltung des Gehäuses und haben mittlerweile unter dem Stichwort ‚Case Modding‘ einen regelrechten Ideen- und Zubehörmarkt entstehen lassen, dessen eigenwilligste Kreationen – oft mit Bastelanleitungen – auf zahlreichen Hardwareseiten im Internet bewundert werden können. Eine beliebte Veränderung ist z. B. der Einbau eines ‚Windows‘, das den Blick freigibt auf farbige Platinen, phosphorisierende Steckkarten, Leuchtdrähte oder Blinkanlagen, die im Zusammenwirken bisweilen an Videoinstallationen erinnern und das Innenleben des Rechners als höchst artiziell erscheinen lassen. Technisch und handwerklich begabte Spieler gehen sogar noch einen Schritt weiter und bauen die Systemkomponenten in leere Bierkisten, Koffer oder Vitrinen ein und stilisieren den Computer auf diese Weise zum absoluten Unikat und individuell designten Gesamtkunstwerk. Neben solchen Eigenkreationen sind es auf den LAN-Partys aber auch die Spielkompetenzen, die die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Gerade bei den Endspielen bilden sich um die im Turnier verbliebenen Spieler regelrechte Trauben von Interessierten, die gebannt mitverfolgen, welche Taktik gewählt wird, wie gut die einzelnen Teams aufeinander abgestimmt sind und welche Spielvariante letztlich den Sieg brachte. Auch wenn man möglichst erfolgreich sein möchte – „es weckt schon den Ehrgeiz in dir, für dein Team gut zu spielen und möglichst weit zu kommen“ (Kai, 16 Jahre) –, im Kern steht für die Spielgemeinschaften doch der Spaß im Vordergrund. Während des Spiels existiert keine Verbissenheit, unbedingt als Bester aus den virtuellen Schlachten und Kämpfen hervor zu gehen. Zwar wird darüber debattiert, wie welcher Abschuss zustande kam, aber die Highscore-Liste ist, sieht man einmal von den Pro-Gamern ab, nur eine Nebensache. Das bedeutet, auch wenn man in verschiedenen Cliquen spielt und jedes Team den Ehrgeiz hat, alle Facetten seines Könnens zu demonstrieren, so bleiben der Wettkampfcharakter und Siegeswille doch eingebunden in ein Gruppenereignis, bei dem Spaß und Geselligkeit unverzichtbare Komponenten sind. Dies zeigt sich auch bei den Siegerehrungen am Ende des Turniers, denn der ideelle Wert des Gewinns ist dabei weitaus bedeutsamer als der materielle Wert möglicher Sach- oder Geldpreise. Sie sind vielfach auch Anlass für wochenlange Diskussionen in den Internetforen der
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LAN-Fans, wer wirklich der Beste war und welches Team den genialsten Coup gelandet hat.
3.3.2 Medienkompetenzen und individuelle Wissensnavigation: Die ‚bildungsdemokratische‘ Dimension der LAN-Szene Neben der Fähigkeit zum selbstbestimmten und kommunikativen Handeln sollte in der sich immer deutlicher formierenden Wissens- und Informationsgesellschaft eine weitere Schlüsselqualikation vermittelt werden: Medienkompetenz (vgl. Schell et al. 1999). Denn gerade die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien sind gegenwärtig – und verstärkt in der Zukunft – in vielen beruichen aber auch privaten Lebenssituationen präsent und ihre Beherrschung wird für jeden eine unabdingbare Forderung. Immer häuger wird diese Kompetenz deshalb in den Rang einer vierten Kulturtechnik gehoben. Das bedeutet, für künftige Generationen soll neben Lesen, Schreiben und Rechnen auch der Umgang mit Computer und Multimedia zu einer Selbstverständlichkeit werden. Auch wenn der Erwerb von Computer- und Internetqualikationen zu einer breit gefächerten Bildungsoffensive geführt hat, so protieren von entsprechenden Angeboten und Maßnahmen nicht alle Jugendlichen in gleicher Weise. Es sind nämlich in erster Linie die Bildungsprivilegierten, die sich mit den neuen Medien besonders intensiv beschäftigen. Die in der bekannten Medienthese der Wissenskluft (digital gap) zum Ausdruck gebrachte ungleiche Verteilung von Medienkompetenzen ndet hier auf dramatische Weise Bestätigung, wie die Ergebnisse unserer Jugendstudie zeigen (vgl. Vogelgesang 2001). 80 60
76 62
Bildung
49 43 40 24 20
15
hoch mittel niedrig
0 Computer
Internet
Nutzungsintensität: tägl./wöchentlich
Abbildung 1
Computer- und Internetnutzung nach Bildungsstatus (Angaben in Prozent)
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Auch wenn zwischenzeitlich die Nutzung der IUK-Medien nochmals zugenommen hat (vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2007), es sind nach wie vor die bildungsprivilegierten Jugendlichen, die sowohl über intensivere als auch selektivere Aneignungsmuster verfügen, wobei sich ganz offensichtlich eine Verschiebung vom ‚digital divide‘ zur ‚digital inequality‘ vollzieht (vgl. Kutscher/ Otto 2004). Dass gerade die Hauptschüler die unfreiwillige Computer- und Internetabstinenz als enttäuschend und resignativ erleben, ist in den Gesprächen mit den Jugendlichen des Öfteren angesprochen worden: „An uns ist der moderne Medien-Zug doch längst vorbeigefahren“ – Originalton eines 15-Jährigen, der sich zum Befragungszeitpunkt auf Lehrstellensuche befand. Neben schulischen Angebotsverbesserungen sind deshalb verstärkt auch im außerschulischen Bereich Maßnahmen und Projekte durchzuführen, die junge Menschen in breiter Front an das Internet heranführen. Hier ist Jugendarbeit in besonderer Weise gefordert, gleichsam als letzte Bastion einer nichtkommerzialisierten Wissens- und Kompetenzvermittlung. Mit zahlreichen Initiativen im Rahmen aktiver Medienarbeit trägt sie dem bereits Rechnung. Eine vielversprechende Maßnahme – gerade für die bisher auch stark benachteiligte Landjugend (vgl. Eisenbürger/Vogelgesang 2005) – stellen mobile Formen außerschulischer Medienpädagogik dar. Sie sind eine wichtige Ergänzung vorhandener stationärer Angebote in Schulen und Jugendeinrichtungen bzw. können mit diesen – ganz im Sinne der Philosophie des Internets – auch vernetzt werden. Sie sind aber auch eine wichtige, niederschwellige Anlaufstelle für all diejenigen, die bisher mit den neuen Medien noch nicht in Kontakt gekommen sind. Auf ein entsprechendes Modellprojekt sind wir in einem unserer Erhebungsgebiete (Landkreis Trier-Saarburg) aufmerksam geworden: „Mit dem neuen Kooperationsprojekt ‚webmobil‘ soll Medienpädagogik überall im Landkreis möglich werden. Schnell, modern und exibel will der zum Computerterminal umfunktionierte Transporter vorhandene Lücken im medienpädagogischen Angebot, besonders im ländlichen Raum, schließen“ (Steffen 2001, 12). Aber es sind vielfach auch die Jugendlichen selbst, die vorhandene mediale Ungleichheiten – gleichsam in eigener Regie – in ihrer Freizeit bzw. in ihren Szenen kompensieren. So konnten wir bereits in unseren früheren Jugend- und Medienstudien (vgl. Eckert et al. 1991; Wetzstein et al. 1995) aufdecken, wie eigenwillig und in vielen Fällen auch kompetent sich die heutige junge Generation zu Hause, bei Freunden oder in Cliquen und (elektronischen) Gemeinschaften mit den neuen Medien auseinander setzt. Das Spielen auf untereinander (selbst-) vernetzten Computern setzt diese Form medialer Eigensozialisation nicht nur fort, sondern scheint sie noch zu forcieren, wobei die erworbenen Kompetenzen weit über den Spielrahmen hinausreichen können: „Die LAN-Szene ist eine Do-ityourself-Szene, von Fans für Fans organisiert, wobei vom reinen Spieler bis zum
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Map-Programmierer, vom Clan-Leader bis zum Orga-Team vieles möglich ist. Und wer hier Kohle machen will, der kann das auch tun“ (Rudi, 23 Jahre). Die Art und Weise, wie sich in den unterschiedlichen Spielesettings eine jugendkulturelle Szene organisiert und reproduziert, verweist auf einen Typus von Handlungsfähigkeit resp. Metakompetenzen, die in der neueren bildungs- und berufssoziologischen Diskussion unter Begriffen wie Selbst-Ökonomisierung, entgrenzter Qualikation oder Arbeitskraftunternehmer gefasst werden (vgl. Voß 2000). Die LAN-Szene repräsentiert aber nicht nur eine neue Form des Qualikationserwerbs, die weitgehend an der alltäglichen Praxis der Jugendlichen angekoppelt ist – eine Entwicklung, die im Übrigen auch in anderen Jugendkulturen nachweisbar ist (vgl. Hitzler 2004) –, sondern sie ebnet in gewisser Weise auch milieu- und herkunftsgebundene Bildungsunterschiede ein resp. überspringt sie. Denn auf LAN-Partys nden sich Hauptschüler genauso häug wie Realschüler und Gymnasiasten – ein Faktum, das den beschriebenen Trend einer bildungsabhängigen Computer- und Internetnutzung umzukehren scheint: „Wenn du auf eine LAN gehst, triffst du alle möglichen Typen. Da sind Leute von der Hauptschule, von der Uni, aus unterschiedlichen Berufen. Der Schulabschluss ist völlig unwichtig. Was zählt ist, dass du was im Kopf hast, und dass man dies im Spiel genauso merkt, wie man es am Casemodding der Kiste (gemeint ist der PC; W. V.) sieht“ (Thomas, 22 Jahre). Die egalisierende Funktion der LAN-Szene zeigt sich nicht zuletzt auch daran, dass die Klassenlage und das Bildungsniveau der Eltern zwar einen dominanten Einuss auf das Bildungsverhalten der Kinder haben, aber diese Unterschiede sind nicht mehr signikant bezüglich der bildungsspezischen Herkunft der jugendlichen LAN-Fans. Ein Vergleich des Bildungsstatus der Eltern mit dem ihrer Kinder resp. deren Zugehörigkeit zur LAN-Szene verdeutlicht dies. Jugendliche Bildungsniveau des Kindes
Eltern
Tabelle 1
Bildungsniveau: Vater
Zugehörigkeit zur LAN-Szene
hoch
mittel
niedrig
ja
nein
hoch
75
19
6
25
75
mittel
43
39
18
22
78
niedrig
28
42
30
21
79
Korrespondenzen zwischen dem Bildungsniveau der Eltern (hier: des Vaters) und dem Bildungsstatus des Kindes resp. seiner Zugehörigkeit zur LAN-Szene
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Auch wenn dieser Zusammenhang angesichts der erst wenige Jahre existierenden jugendlichen LAN-Szene nicht überinterpretiert werden darf, so deutet sich in diesen Befunden doch an, dass bildungs- und medienkulturelle Kapitalien auf recht unterschiedlichen Wegen erworben werden können. Während die klassische Schulbildung nach wie vor von den Eltern regelrecht vererbt wird, scheint Medien-Bildung doch zunehmend auch szenevermittelt zu sein. Fraglos sind im Blick auf die befürchtete Spaltung der Gesellschaft entlang der Internet-Linie vielfältige Bildungsanstrengungen zwingend notwendig. Ansonsten ist es sehr wahrscheinlich, dass neue soziale Verwerfungen entstehen bzw. vorhandene vertieft werden. Aber dass bestimmte Jugendszenen ein Gegengewicht gegen die befürchtete Ausbildung einer „medialen Klassengesellschaft“ (vgl. Jäckel/ Winterhoff-Spurk 1996) darstellen können, ist auch deutlich geworden. Dass dabei Formen medialer Selbstsozialisation einhergehen können mit der Entwicklung und Förderung einer allgemeinen lebenspraktischen Handlungskompetenz – und zwar im Sinne einer szenegebundenen Eigenökonomie, Selbst-Professionalisierung und Subsistenzsicherung –, zählt zu den vielleicht spannendsten Ergebnissen unserer Forschungen. Ob diese an grundlegenden Interessen und Notwendigkeiten ansetzenden jugendkulturellen Formen von „life politics“ (vgl. Giddens 1997) und „spielerischem Unternehmertum“ (Pfadenhauer 2000), wie sie gerade für exible Erwerbsbiographien in nach-modernen Gesellschaften immer bezeichnender sind, letztlich erfolgreich sein werden, bleibt abzuwarten. Entsprechende Tendenzen jugendeigener Sub- und Existenzpolitik sind jedoch – gerade in den neueren medienzentrierten Jugendszenen – unübersehbar.
3.3.3 Brutale Spiele – brutale Spieler? Wie Jugendliche in der LAN-Community mit gewalthaltigen Spielen umgehen „Wir sind keine ferngesteuerten Killer,“ diese Äußerung eines 17-jährigen jugendlichen Computerspielers kann stellvertretend dafür zitiert werden, unter welchen Generalverdacht die ‚Ballerspieler‘ sich immer wieder gestellt sehen. Dieser lässt sich auf die Formel bringen: Vom Ego-Shooter zum Amokläufer? Wie kaum ein anderes Ereignis hat hier die Amoktat eines 19-Jährigen in Erfurt im April 2002 die Diskussion um die Wirkung von Gewaltdarstellungen – auch oder gerade in Computerspielen – wieder entfacht. Vor allem nachdem bekannt wurde, dass der Todesschütze ein begeisterter Counterstrike-Spieler war, stand für viele fest: Ein Computerprogramm der Firma Sierra Entertainment hat den Amokläufer von Erfurt trainiert. Auch wenn wir zwischenzeitlich wissen, dass die Rolle des Spielprogramms allenfalls darin bestand, eine Art Drehbuch für die Tat geliefert zu haben, und die eigentlichen Ursachen in einer Kette von Demütigungen, Aus-
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grenzungen und Anerkennungsverlusten liegen (vgl. Heitmeyer 2002), bleibt die Frage nach möglichen Gefährdungen durch mediale Gewaltdarstellungen auf der Tagesordnung (vgl. Vogelgesang 2005). Sie führt jedoch gerade angesichts bestimmter dramatischer Gewaltereignisse immer wieder zu hoch emotionalen und polarisierenden Diskursen nach dem Motto: Wer Monstern in den Medien freien Lauf lässt, erzeugt am Ende Medienmonster – eine Dramatisierungspraxis, die es geboten erscheinen lässt, eine sachliche und subtile Annäherung an die Mediengewaltproblematik zu (ver)suchen. In einem ersten Schritt ist hierzu ein Blick in die Geschichte hilfreich. Dabei zeigt sich, dass die Frage nach den Wirkungen von Gewaltdarstellungen eine lange, aber höchst uneinheitliche Tradition besitzt. Schon in der griechischen Antike begegnen wir zwei diametral entgegengesetzte Auffassungen, die bis in die Gegenwart Bestand haben. Da ist einerseits die Vorstellung Platons, dass Menschen vor Inhalten geschützt werden müssten, die schädliche Einüsse auf ihre Persönlichkeit nehmen. Insbesondere Kinder und Jugendliche seien vor Märchen und Sagen zu bewahren, die ihrem Reifungsgrad nicht entsprechen. Aber bereits Aristoteles kritisierte die Auffassung seines Lehrers und formulierte eine Gegenposition in Form der Katharsisthese. Danach bewirke das Betrachten gewalttätiger Szenen im Theater oder bei Gladiatorenkämpfen einen Abbau des Aggressionspotentials beim Zuschauer. Wer hat nun Recht? Platon oder Aristoteles – oder vielleicht beide? Ohne vorschnell der einen oder anderen Auffassung beipichten zu wollen, soviel ist unbestreitbar: Die Frage der Gewaltdarstellungen und ihrer Effekte bewegt die Menschen, seit es Medien gibt. Mit dem Aufkommen der Massenmedien nimmt sie jedoch an Dramatik zu. So nden sich in den ausgangs des 16. Jahrhunderts in Deutschland weit verbreiteten ‚Newen Zeitungen‘ so realistische Beschreibungen von Gewalttaten und Grausamkeiten, dass kritische Stimmen bereits damals sehr eindringlich vor gefährlichen Wirkungen auf die Leserschaft warnten. Mit der massenhaften Verbreitung der so genannten Trivialliteratur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und dem Aufschwung der Kinematographie Anfang dieses Jahrhunderts verschärft sich die Diskussion ein weiteres Mal. Prophezeit wurde ein schier endloser Gefahrenkatalog, der von sexueller Desorientierung über die Anstiftung zu Verbrechen bis zur Senkung des kulturellen Niveaus reichte. Seither sind in schöner Regelmäßigkeit ähnliche Aufklärungsfeldzüge zu beobachten: In den fünfziger Jahren gegen Rock‘n‘ Roll, in den Sechzigern gegen Comics, in den Siebzigern gegen Zeichentricklme, in den Achtzigen gegen Horror- und Splatterlme und in der letzten Zeit verstärkt gegen bestimmte Typen von Computerspielen (Stichwort: Ego-Shooter). Letztlich ist die Geschichte der Medien immer auch eine Geschichte der Medienkritik, bis in die Gegenwart geprägt von Misstrauen und Ressentiments gegen jedwede technische, inhaltliche und dramaturgische Neuerung. Gewiss haben viele dieser Befürchtungen rückblickend keine empirische
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Bestätigung gefunden. Trotzdem bleibt das darin sichtbar werdende Erschrecken bestimmter gesellschaftlicher Gruppen ein erklärungsbedürftiger Tatbestand.7 Aber nicht nur in der öffentlichen Debatte, sondern auch in der wissenschaftlichen gibt es eine Art Dauerstreit über die Frage, welche Wirkungen von Gewaltdarstellungen ausgehen können. Gegenwärtig den höchsten Kurswert haben lerntheoretische Erklärungen. Danach übernehmen bestimmte Medieninhalte die Rolle von Stimulatoren oder Verstärkern. Immer wieder genannt werden auch Gewöhnungs- und Abstumpfungseffekte. Aber auch die gegenteilige Auffassung wird vertreten. Wie schon am Beispiel der aristotelischen Dramentheorie kurz angesprochen, wird Gewaltdarstellungen auch eine Art Ventilfunktion zugeschrieben, d. h. beim Betrachten von Gewalt- und Mordszenen wird ein Abbau von aggressiven Impulsen für möglich gehalten. Welche Theorie hat nun die größte Erklärungsrelevanz? Unsere Antwort fällt eher skeptisch aus, denn in dieser allgemeinen Form halten wir die Frage für nicht beantwortbar, jedenfalls nicht aus sozial- und medienwissenschaftlicher Sicht. Denn die über fünftausend verschiedenen Studien, die allein zur Problematik von Gewaltdarstellungen im Fernsehen vorliegen, machen eines deutlich: Einfache Antworten gibt es nicht. Über die Gründe hierfür besteht in der Medienforschung weitestgehend Konsens. Michael Kunczik (1988: 10) bringt sie auf den Punkt, wenn er feststellt: „Angesichts der komplexen Fragestellungen, die gegenwärtig von der Wirkungsforschung untersucht werden, sind eindeutige, unbezweifelbare Beweise gar nicht mehr zu erwarten, weil die Randbedingungen, unter denen Medien wirken, viel zu komplex sind, als dass es möglich wäre, sie in einem konsistenten Satz von Hypothesen zusammenzufassen.“ Viele Medienforscher nehmen angesichts der Komplexität des Gegenstandes Zuucht bei Kann-Formulierungen. Ja es drängt sich bisweilen der Eindruck auf, die Gewaltwirkungsforschung werde zu einer Art Konjunktiv-Disziplin. Einüsse werden für möglich gehalten, aber …; zwei Beispiele hierzu. „Exzessiver Medienkonsum,“ so Bründel und Hurrelmann (1994: 7), „ob es sich um Fernsehen, Videolme oder musikalische Videoclips handelt, kann in Interaktion mit sozialen und persönlichen Faktoren beim Zustandekommen von Angst, Aggression und Gewalttätigkeit gegen sich selbst und andere eine wichtige Rolle spielen, kann Verhaltensmuster anbieten, den Gebrauch von Aggressionen als selbstverständlich oder gar legitim erscheinen lassen und eine feindliche Weltsicht erzeugen. 7 Wie stark der öffentliche Gewaltdiskurs von Empörung und Irrationalität bestimmt ist und welche wahrnehmungsbeeinussende Rolle die mediale Berichterstattung in diesem Zusammenhang spielt, zeigt eine Inhaltsanalyse, die Klaus Merten (1999: 228) im Zeitraum von 1991 bis 1995 vorgenommen hat, und deren Fazit lautet: „Das berichtende Medium (die Frankfurter Rundschau) bevorzugt […] eindeutig die negativere Berichterstattung, wirkt damit als maßgeblicher Kritiker und erzeugt so eine Wirklichkeit, die viel bedrohlicher erscheint […] als die, die auf der Basis wissenschaftlicher Befunde zur Mediengewaltforschung gezeichnet werden kann.“
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Bei ständigem Konsum kann es zu einer Fixierung auf ein niedriges moralisches Niveau, zu einer unbewussten Identikation und Übernahme der in den Texten angesprochenen Hass- und Wutgefühle sowie zu einer scheinbar gerechtfertigten antisozialen Einstellung kommen.“ Auch Jo Groebel (1993: 23 f.) argumentiert in ähnlicher Weise: „Gewaltbereitschaft ist nur unter ganz bestimmten Bedingungen eine mögliche Konsequenz des Medienangebots. […] Die Dimensionen sind im Einzelnen: Bedürfnisstruktur, Eigenschaften des Medienangebots, situationale und kulturelle Bedingungen, Kurz- oder Langfristigkeit der Wirkungen/Interaktionen. […] Auch die häug eingeforderten praktischen Präventionsmaßnahmen lassen sich besser verwirklichen, wenn man nicht pauschal von den Wirkungen oder Nicht-Wirkungen spricht, sondern die Wirkungsumstände präziser bestimmt. Hier vor allem sehe ich Forschungsbedarf für die Zukunft: Weitere Eingrenzung der Bedingungskonstellationen, unter denen Wirkungen zustande kommen.“
Wir halten dies ebenfalls für ein sinnvolles, aber äußerst schwieriges Unterfangen. Denn erstens ist kritisch zu bedenken, dass die Möglichkeitsform immer in der Gefahr steht, als eine Art Generalklausel, nach der nichts unmöglich ist, missbraucht zu werden. Zweitens darf die Frage nach Bedingungskonstellationen nicht dazu führen, Kindern und Jugendlichen von vornherein eine passive Medienrolle zuzuweisen, denn die neuere Jugend- und Medienforschung konnte überzeugend nachweisen, dass die Heranwachsenden in aller Regel keine Medienopfer sind, sondern mit Medien und ihren (auch gewalthaltigen) Inhalten höchst eigenwillig umgehen. Und drittens ist zu bedenken, dass Medien vermehrt zu Anknüpfungspunkten für Jugendszenen werden, wobei es in der jüngeren Vergangenheit zu einer wahren Ination von medienzentrierten Stilformen und Jugendformationen gekommen ist. Gerade innerhalb dieser jugend- und medienkulturellen Arena haben wir in unserer Forschungsgruppe zahlreiche Studien durchgeführt und dabei festgestellt, dass in den medialen Gebrauchsstilen der untersuchten jugendlichen Musik-, Film-, Computer- und Netzfreaks sich nicht nur eine besondere Medienkompetenz manifestiert, sondern sie stiften auch affektive Allianzen und szenentypische Erlebnisformen. Ihre alltagsüberhöhenden Praktiken sind Beispiele dafür, dass unter (post-)modernen Lebensbedingungen und Daseinsverhältnissen die affektuelle und erlebnismäßige Integration sich immer weniger gesamtgesellschaftlich als vielmehr in Spezialkulturen und abgegrenzten Raumzonen vollzieht. Vor allem die Freaks, also die Gruppe von Jugendlichen, die am tiefsten in der jeweiligen Spezialkultur verwurzelt sind, entwickeln eine erstaunliche Virtuosität bei der Funktionalisierung äußerer (medienbestimmter) Umstände für innere (affektuelle) Zustände. Sie sind letztlich prototypische Repräsentanten der für die Gegenwartsgesellschaft von Gerhard Schulze (1992) diagnostizierten zunehmenden Dominanz von Erlebnisrationalität.
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Aber es sind offensichtlich nicht nur die kleinen Fluchten aus der Monotonie des Alltags, die den Reiz bestimmter Medien ausmachen, sondern auch die damit gegebene Möglichkeit, Frustrationen und aggressive Impulse zu bewältigen. So leben beispielsweise die jugendlichen Action- und Horrorfans bei der Filmrezeption (vgl. Vogelgesang 1991) oder die Heavy Metal-Anhänger beim Musikhören und auf Konzerten (vgl. Roccor 1998) innerlich das aus, was sie äußerlich nicht zeigen können, weil aggressive Umgangsstile im Alltag in hohem Maße negativ sanktioniert sind. Auch die jugendlichen Video- und Computerspieler haben in den Interviews des Öfteren erwähnt, dass gerade die Ballerspiele für sie auch eine Art Ventilfunktion haben, wie in den folgenden Aussagen sehr deutlich wird: „Spielen heißt für mich relaxen. Vor allem wenn ich allein spiele, kann ich dabei wunderbar entspannen. Ich laufe durch einige Maps und ballere so rum, ohne an irgendwas zu denken. Da kann ich auch den ganzen Frust loswerden, der sich am Tag so angestaut hat“ (Fabian, 15 Jahre). „Das klingt jetzt makaber, aber wenn du eine Figur abgeknallt hast und die so richtig zerfetzt wird, da geht bei mir Druck weg, das ist für mich Stressabbau. Man fühlt sich nach dem Geballere irgendwie lockerer, ausgeglichener“ (Timo, 16 Jahre). „Irgendwie musst du doch mit dem ganzen Mist um dich herum fertig werden, auch mal abschalten, an nichts denken, sonst hält man das nicht aus. Ich weiß, Ego-Shooter sind vielleicht nicht so das Wahre, aber ich kann da echt Aggressionen loswerden. […] Das ist wie so ’ne Art Stress-Sauna“ (Frank, 18 Jahre).
Auch wenn die Gründe der jugendlichen Computerspieler für die Attraktivität der neuen Generation von Abschießspielen sehr vielschichtig sind, ganz offensichtlich werden beim Spielen, das entsprechende Setting vorausgesetzt, auch subjektive Gewalt- und Aggressionsphantasien gebunden. Die kathartische Funktion des Spielens ist dabei untrennbar gekoppelt an das Wissen und Bewusstsein, dass man sich in einem Spielrahmen bewegt. Auch wenn die Spielszenarien möglichst nah an der realen Welt ausgerichtet sind, in der Vorstellung der Spieler sind es ktive Räume, und nur in ihnen sind die Gewaltexzesse erlaubt. Für das Erleben von Spannung – wie auch Entspannung – durch das Spielen gilt: „Die dargestellte extreme Gewalt soll eingeschlossen bleiben im ktiven Raum. Die Mehrheit der Spieler besitzt davon ein klares Bewusstsein und die Grenze ist deutlich gezogen zwischen der Kampfarena und dem, was außerhalb des Spielfeldes passiert, zwischen den ktionalen gewalttätigen Formen innerhalb des Spiels und einem freundschaftlichen Rahmen außerhalb des Spiels“ (Nachez/Schmoll 2002: 7). Entgegen der These vom Distanzverlust, wonach unter dem Einuss der Medien reale und ktionale Räume zunehmend diffundieren, ist im Gegenteil die Differenz
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zwischen Virtualität und Realität nachgerade konstitutiv für ihre Medienkompetenz und ihre Erlebnisformen. Keineswegs verlieren die gestandenen Spielefreaks den Kontakt zur Realität, auch permutieren sie nicht im Sinne des Grafti: ‚Life is xerox, we are just a copy‘. Vielmehr sind sie kompetente Pendler zwischen sozialen und medialen Welten und dies nicht selten mit einer Selbstverständlichkeit und Selbstsicherheit, die an Woody Allens Film ‚The Purple Rose of Cairo‘ erinnert, wo er seinen Helden aus der Leinwand treten und seine Heldin ins Imaginäre des cineastischen Spiels eintauchen lässt. Im Kontext der Diskussion einer medialen Sublimierung von Aggressivität ist noch auf einen weiteren Aspekt hinzuweisen. Denn die Intensität und Faszination, mit der Jugendliche emotions- und actiongeladene Medien-Spektakel goutieren, deuten darauf hin, dass in bestimmten Gruppen und Szenen das fortlebt, was Zivilisation und Gesellschaft domestizieren und disziplinieren woll(t)en. Mithin ist die Begeisterung für die schrillen Töne des Black und Death Metal, die harten und aufwühlenden Bilder der Horror- und Splatterlme und die ktiven Kämpfe und Schlachten einiger Videospiele nicht per se als jugendgefährdend oder gar pathologisch einzustufen, sondern sie sind eingelagert in einen gesamtgesellschaftlichen Prozess der erlebnismäßigen Spezialisierung. Im Sinne der neueren Zivilisationstheorie handelt es sich dabei um einen Vorgang der ‚Informalisierung‘ (vgl. Wouters 1979), der zur Elastizierung herrschender Verhaltensstandards und zur Kultivierung von Emotionen in teil- oder subkulturellen Nischen führt. An die Stelle einer ächendeckenden und umfassenden Affektkontrolle tritt die partielle Entzivilisierung. In bewusster Distanz zu den Selbstdisziplinierungsanforderungen auf gesamtgesellschaftlicher Ebene entstehen affektive Räume und Situationen, in denen gezielt außeralltägliche Zustände hergestellt werden. Der erlebnisorientierte Medienhabitus vieler Jugendszenen kann somit als Indiz dafür genommen werden, dass die Entemotionalisierung des Alltags und die stereotype Vorverlegung von Selbstzwängen, vor allem in der Vor- und Frühadoleszenz, weitreichende Konsequenzen für das Ausleben von Sinnlichkeit, Körperlichkeit und Emotionalität haben. Die Suche nach dem besonderen Erlebnis- und Nervenkitzel tritt an die Stelle ‚zivilisierten Handelns‘ und boykottiert in jugend- und subkulturellen Nischen die Durchschnittlichkeit und Gleichförmigkeit des alltäglichen Lebens. Als ‚sensation-seeking people‘, ‚Alltagsips‘ oder ‚action-orientiert‘ bezeichnet die Jugendforschung allgemein diesen Verhaltenstypus, der sich in der Gegenwart in immer neuen Erlebnis- und Eventformen entfaltet. Das Medienzeitalter evoziert demnach nicht nur die „technikgestützte Herstellbarkeit von Gefühlen,“ wie Roland Eckert (1988: 11) meint, sondern auch eine neue Form medieninduzierter Läuterung und Befried(ig)ung – und dies eingebunden in fantypische Aneignungsmuster und Jugendwelten mit eigenen Stilelementen und Verhaltensformen.
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Angesichts solcher Befunde ist zu fragen, ob nicht viele Medienkritiker letztlich ein sehr normatives Medienverständnis haben. Denn ihre erbitterten Reaktionen auf den jugendlichen Gewaltkonsum erinnern bisweilen an Kassandrarufe, deren Lautstärke, so legt die Vorurteilsforschung nahe, die eigenen Ängste und Inkompetenzen im Umgang mit bestimmten medialen Formen der Gewaltdarstellung und medienvermittelten Jugendkulturen offensichtlich überdecken soll. Wenn man sich nicht dem Verdacht aussetzen will, Zuucht bei bestimmten Sprachhülsen und überkommenen Allgemeinplätzen zu nehmen, sondern angemessen – und das bedeutet: lebenswelt- und szenenorientiert – über Ego-Shooter und ihr meist jugendliches Publikum zu sprechen, dann muss man sich offen und unvoreingenommen darauf einlassen. Ansonsten steht man in der Gefahr, in einer engen, ethnozentristischen Perspektive verhaftet zu bleiben und sich zum weltfremden Kulturmoralisten und Jugendschützer zu stilisieren, der im Handstreich bestimmte Filmgenres und Rezipientengruppen in Acht und Bann schlägt. Daraus nun aber den Schluss zu ziehen, mediale Gewaltdarstellungen hätten prinzipiell keinen Einuss auf reale Gewalthandlungen, halten wir jedoch für unzulässig. Sowohl in Einzelfällen – vor allem bei einer devianten Persönlichkeitsstruktur –, als auch in bestimmten Jugendgruppierungen sind Stimulationswirkungen und Nachahmungseffekte nicht auszuschließen. Gerade in gewaltzentrierten Szenen, wie etwa Jugendbanden oder Skinhead-Gruppen, aber auch in den Reihen der jugendlichen Waffenfreaks können Gewaltlme zur Legitimierung von diffusen Weltanschauungen und aggressiven Handlungsmustern verwandt werden. Auch in einer anderen Jugendszene, den Fascho-Cliquen, sind wir auf Formen medialer Verstärkung und Rechtfertigung gestoßen. Hier waren es insbesondere Kriegslme, in denen zum Mythos gewordene Soldatentugenden und Heimatideale zum rechtsradikalen Menschen- und Weltbild der Gruppenmitglieder in Beziehung gesetzt wurden. Aber, um es zu wiederholen, der Kämpfer ‚Rambo‘ oder der Soldat ‚Steiner‘ dürften in aller Regel nur dann relevante Modelle sein, wenn sie an die Lebenssituation und Sinnwelt der Jugendlichen und ihrer Szenen anschließbar sind. Dies wird auch durch einen anderen Befund deutlich: die Selbstaufwertung durch mediale Berichterstattung. In Bezug auf die Eskalation von fremdenfeindlicher Gewalt, stellt dies Helmut Willems (1993: 232 f.) mit Nachdruck heraus: „Die Medien stellen eine Art ‚Aufmerksamkeitsprämie‘ für Gewaltanwendung bereit […] und erzeugen ein Gefühl kollektiver Bedeutsamkeit und eine entsprechende Aufwertung vom Schläger zum Kämpfer zum Helden.“ Zahlreiche Nachahmungstaten im Kontext der Gewalt an Schulen dürften ähnlich motiviert sein. Denn auffällig ist, dass die spektakulären Gewaltaktionen in Littleton und Erfurt zu einer regelrechten Tatserie im schulischen Bereich geführt haben. Die Vermutung liegt nahe, dass der detaillierten Berichterstattung auch hier eine Auslöserfunktion zukommt und – von einem bestimmten Tätertypus – als individuelle Belohnung
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wahrgenommen wird. Über diese Plausibilitätsannahme hinaus liegen hierfür aber bisher noch keine gesicherten Daten vor. Hier ist Forschung dringend geboten.8 Allerdings ist bereits jetzt offenkundig: Zwischen gewaltdisponierten Jugendlichen resp. gewaltafnen Gruppierungen und den jugendkulturellen Medienszenen – vor allem den hier näher untersuchten Computerspielern – liegen Welten. Diese Differenz zu ignorieren kann gefährliche Kurzschlüsse nach sich ziehen und zu wirklichkeitsfremden Zuschreibungen und schlimmen Diskriminierungen führen. Auch die Amoktat von Erfurt ist vor diesem Hintergrund sehr differenziert zu betrachten: „Eines ist unmissverständlich festzustellen: Ego-Shooter-Spiele generieren per se keine Amokläufer. Welche Macht- und Gewaltphantasien man auch immer am Bildschirm ausagiert haben mag, für das, was in der Realität passiert, sind die Gründe auch zuallererst in der Realität zu suchen“ (Theunert et al. 2002: 142).
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Fazit: Die LAN-Szene als Prototyp jugendkultureller Vergesellung, virtuoser Selbstdarstellung und kreativer Medienaneignung
Auch wenn die LAN-Community, wie im Übrigen alle Jugendkulturen, gleichermaßen durch markt- wie szenengenerierte Innovations- und Differenzierungsprozesse charakterisiert ist, die jeder Beschreibung etwas Flüchtiges und Unvollständiges geben, so ist doch unverkennbar, dass sie aus einer facettenreichen Symbiose von jugend- und medienkulturellen Elementen besteht. Hier ndet der in der neueren Jugend- und Szenenforschung besonders herausgestellte und hinlänglich ausgewiesene Trend zur Separierung und Segregation von „interessenhomogenen Cliquen“ (Wetzstein et al. 2005), „posttraditionalen Vergemeinschaftungen“ (Hitzler 1998) bzw. „deterritorialen Vergemeinschaftungen“ (Hepp 2004) als immer bedeutungsvoller werdende informelle Sozialisationsinstanzen eine Fortsetzung und stilgebundene 8 Empirisch gesicherter sind hingegen medieninduzierte Nachahmungstaten aufgrund von Enthemmung, Imitation und Überidenti kation (vgl. Brosius/Esser 1995). Das bisweilen lebensbedrohliche Gefahrenpotential, das realen wie ktionalen Modellen hier zukommen kann, ist als ‚Werther-Effekt‘ bezeichnet worden. Tatsächlich war eine Selbstmordwelle von Werther-Lesern die verhängnisvolle Konsequenz einer totalen Identi kation mit dem Romanhelden. Dass auch heute noch eine starke Suggestionswirkung von medialen Vorbildern und Inszenierungen ausgehen kann, zeigen etwa die Schülerselbstmorde, die sich nach der Ausstrahlung des sechsteiligen Films ‚Tod eines Schülers‘ ereigneten. Ähnliche Reaktionen wurden auch unter den Grunge-Fans befürchtet, nachdem sich ihr Idol, Kurt Cobain, am 8. April 1994 erschoss. Aufgrund einer in der Geschichte der Popmusik einmaligen Fanbetreuung, ist es nur vereinzelt zu Nachfolgeselbstmorden gekommen. Allerdings hat bei zahlreichen Anhängern, wie wir in einer biographisch ausgerichteten Fanstudie zeigen konnten, der Tod ihres Idols Formen der Trauer hervorgerufen, wie sie üblicherweise in unserem Kulturkreis nur beim Tod von Familienmitgliedern oder nahen Verwandten vorkommen (vgl. Maßmann 1995).
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Steigerung. Denn die LAN-Szene und ihre Fraktionen repräsentieren einerseits ‚Identitätsmärkte‘, wo Jugendliche frei vom Routine- und Anforderungscharakter ihrer sonstigen Rollenverpichtungen Selbstdarstellungsstrategien erproben und einüben, sich gleichsam im Gruppen-Spiel und Gruppen-Spiegel ihrer personalen wie sozialen Identität vergewissern können. Andererseits sind sie aber auch ‚Kompetenzmärkte‘, auf denen eine spezische Sozialisierung und Formierung des Mediengebrauchs stattndet. Dass dieses Medien- und Wissenskapital aber nicht nur innerhalb der Szenen einen Kurswert hat, sondern auch außerhalb, zeichnet sich immer stärker ab. In einer umfangreichen Expertise hat Ronald Hitzler (2004) diese neuen Formen ‚entgrenzter Qualikation‘ näher untersucht. Was hier für vier unterschiedliche Jugendkulturen – einschließlich der LAN-Szene – beschrieben wird, deckt sich mit unseren Forschungsergebnissen: Szene-Quali kationen werden mehr und mehr zu Markt-Quali kationen. Vor allem die Szeneveteranen und Mitglieder des ‚inner circle‘ verfügen über einen Typus von Handlungskompetenz, die in der neueren Qualikations- und Identitätsdebatte auch als „unternehmerisches Selbst“ (Bröckling 2007) gefasst wird. Netzwerkadministration und Eventmanagement, Teamfähigkeit und Regelbefolgung, Disziplin und Selbstkontrolle, wie sie für das Qualikationsprol von LAN-Freaks charakteristisch sind, haben schon fast den Rang von Schlüsselqualikationen für eine beruiche Karriere. Die LAN-Szene repräsentiert aber nicht nur eine neue Form des entgrenzten und exibilisierten Qualikationserwerbs, sondern sie hat auch eine soziale Egalisierungsfunktion. Denn die unter Begriffen wie ‚digital gap‘, digital divide‘ oder ‚digital inequality‘ diskutierten schicht- und bildungsabhängigen – und damit sozial ungleich verteilten – Kompetenzen im Umgang mit Computer und Internet nden sich unter den Netzspielern nicht. Sowohl in unserem Jugendsurvey aus dem Jahr 2000 (vgl. Vogelgesang 2001) als auch bei den ethnographischen Recherchen in den unterschiedlichen LAN-Settings und -Gruppen ließen sich keine Unterschiede im (formalen) Bildungsniveau der Spieler nachweisen. Denn vom Hauptschüler bis zum Studenten waren alle ‚Bildungsgruppen‘ vertreten. Die Selbstwahrnehmung der jugendlichen LANer geht im Übrigen in die gleiche Richtung: „Auf LAN-Partys oder bei uns im Clan ndest du vom Arbeiterjugendlichen bis zum Professorensprössling die unterschiedlichsten Jugendlichen. Spielen, Spaßhaben und selber was auf die Beine stellen, nur das zählt. Dass man eine entsprechende PC-Ausstattung hat oder sich bastelt, versteht sich von selbst“ (Moritz, 21 Jahre). Auch wenn die ‚bildungsdemokratische‘ Dimension der LAN-Szene und die in ihr vorhandenen Formen medialer Selbstsozialisation und individueller Wissensnavigation durchaus als wirksame Strategien gegen die befürchtete „digitale Exklusion der Jugend“ (Theißen/Weckbecker 2003) entlang der Internet-Linie angesehen werden können, so erschöpft sich darin keineswegs ihr Innovationspotential. Denn
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der hier beobachtbare informelle Lernhabitus hat sowohl für einen offenen, sozial resp. szenisch kontextualisierten Bildungsbegriff (vgl. Münchmeier et al. 2002) als auch der Theorie kommunikativer Aneignung (vgl. Hepp 2005) weitreichende Konsequenzen. Sie vertiefend auszuloten, ist Aufgabe künftiger Theorie- und Forschungsarbeit. Soviel ist aber bereits heute für die LAN-Communities evident: Sie sind zu einem entgrenzten Lernfeld jenseits institutionalisierter Bildungseinrichtungen geworden und leisten einem Selbstverständnis Vorschub, wie es für exible Erwerbsbiographien in der heutigen Zeit immer bezeichnender wird.
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Waldemar Vogelgesang
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Waldemar Vogelgesang
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„Beyond the Game“?! Die World Cyber Games 2008 in Köln als populäres Spielevent der Computerspielindustrie Jeffrey Wimmer, Sylvia Klatt, Olga Mecking, Jana Nikol, Eliana Pegorim, David Schattke und Stefanie Trümper „Bei der Eröffnungszeremonie trug man eine elektronische Fackel herein, dann marschierten virtuelle Rennfahrer, Kampfsportler, Soldaten, Gitarristen, Wirtschaftsstrategen und Fußballspieler in die Arena. Auf ihren Trainingsanzügen waren Nationalaggen aufgenäht, sie schlürften isotonische Getränke. Beim Abspielen der Hymne war man endgültig davon überzeugt, einer Sportveranstaltung beizuwohnen.“ (SZ, 10.11.08)
1
Computerspielkulturen und das Spielevent World Cyber Games in Zeiten der Ökonomisierung
Computerspiele1 haben in den letzten Jahren ungemein an Popularität gewonnen und sich zu einem bedeutenden Teil der Unterhaltungsbranche entwickelt. Ob on- oder ofine gespielt, ziehen Computerspiele inzwischen nicht nur Kinder und Jugendliche in ihren Bann, sondern zunehmend auch Erwachsene (vgl. die Beiträge in Quandt u. a. 2008). Empirisch äußert sich dieser Prozess u. a. in neuen Vergemeinschaftungsformen und neuen kommunikativen Interaktionsarten (vgl. grundlegend Krotz 2008). Aus kommunikations- und medienwissenschaftlicher Perspektive ist v. a. der Umstand interessant, dass es sich beim Computerspielen um ein höchst komplexes kommunikatives Phänomen handelt, das in einer weltweiten, vielschichtigen und zumeist oft nur virtuellen Spielkultur verwurzelt ist. Große 1
Streng genommen wäre der Begriff ‚digitales Spiel‘ analytisch passender als der Begriff ‚Computerspiel‘, da ersterer sich als Oberbegriff für alle Möglichkeiten anbietet, wie ein Spiel anhand digitaler Techniken gespielt werden kann. Damit sind die verschiedenen Spielplattformen wie Konsolen und Computer als auch mobile Geräte wie Handhelds oder Mobiltelefone mit eingeschlossen (vgl. Kerr 2006: 4). Aufgrund der Popularität und Geläugkeit des Begriffs ‚Computerspiel‘ bei den Besuchern der WCG und dessen Eingeführtheit in den deutschen Game Studies wird dieser im vorliegenden Beitrag verwendet.
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Wimmer/Klatt/Mecking/Nikol/Pegorim/Schattke/Trümper
Spielevents wie die World Cyber Games (WCG) machen die globale Spielszene gesellschaftsweit in realiter sichtbar und greifbar. Die WCG sind vermutlich das größte und bekannteste Spielevent der Welt und werden seit dem Jahr 2000 von der koreanischen Agentur International Cyber Marketing organisiert. 2008 fanden die WCG vom fünften bis zum neunten November in Köln statt. Gerade auf den Kontext der WCG, die weltumspannende Computerspielkultur, die laut Veranstalter fast schon Potential zu einer Revitalisierung der Zivilgesellschaft besitzt, wird von Seiten der Organisatoren ostentativ ein besonderes Augenmerk gelegt: „Der WCG-Slogan ‚Beyond the Game‘ verdeutlicht, dass die WCG nicht bloß ein großes Turnier ist (sic!), sondern darüber hinaus auch die Welt miteinander verbindet (sic!), um Harmonie und Freunde durch geteilte Emotionen zu fördern. Der WCG-Slogan steht auch für die Hoffnung auf Frieden. Diese Hoffnung ist auch auf den Turnieren zu spüren, in denen die Teilnehmer aus aller Welt zu gegenseitigem Respekt ermutigt werden, um ein attraktives ‚Weltkulturfestival‘ zu schaffen. Dieses ‚Weltkulturfestival‘, das weder sprachliche noch kulturelle Barrieren kennt, will dem Respekt für allgemeine moralische Grundsätze über alle nationalen Grenzen hinweg Ausdruck verleihen.“ (Quelle: http://www.wcg.com/6th/2009/overview/general_de.asp) (01.10.2008)
Aus analytischer Perspektive kann man Computerspielkultur(en) in Anlehnung an Andreas Hepp (2004) als einen immer bedeutender werdenden Teilaspekt aktueller Medienkultur verstehen, dessen primäre Bedeutungsressource sich in digitalen Spielen manifestiert und die v. a. mittels technischer Kommunikationsmedien wie z. B. Handhelds oder Konsolen vermittelt bzw. zur Verfügung gestellt wird. Um zu erfassen, was unter Spielkultur in Bezug auf Computerspiele verstanden werden kann, ist es sinnvoll die Überlegungen von Frans Mäyrä (2008) aufzunehmen. Ihm zufolge sollte der Fokus der Game Studies auf der Interaktion zwischen Spiel und Spieler sowie auf den sich daraus ergebenden Kontext liegen. Computerspielkultur(en) beziehen sich somit auf die verschiedenen Weisen und z. T. höchst differenzierten Praktiken des täglichen Umgangs mit Computerspielen, die damit zusammenhängenden jeweils recht unterschiedlichen Erlebnisse und Erfahrungen als auch deren Einbettung in den Alltag der Spieler (vgl. grundlegend Butler 2007). Die Einsicht, dass Computerspielen nicht losgelöst im luftleeren Raum statt ndet sondern sich stets auf reale und konkrete Kontexte bezieht, konkretisieren Geoff King und Tanya Krzywinska (2006: 38): „Gameplay does not exist in a vacuum, any more then games do as a whole. It is situated instead, within a matrix of potential meaning-creating frameworks. These can operate both at a local level, in the specic associations generated by a particular episode of gameplay and in the context of broader social, cultural and ideological resonances.“
„Beyond the Game“?!
215
Für Mäyrä (2008: 28) werden Spielkulturen daher am besten als spezische Subkulturen des Spielumgangs (z. B. LAN-Gamer, Modder) analytisch greifbar: „Game cultures are often recognized as subcultures organized around games and playing, bringing together enthusiastic players who organize in their speech and behaviour the meanings attached to these play forms.“ Besonders im Fokus der jüngeren Forschung stand dabei das Merkmal von Computerspielkulturen, welches Mäyrä (2008) „rituals“ nennt – wie v. a. Treffen von Gamern und die damit einhergehenden Vergemeinschaftungsprozesse bei LAN-Partys, MUDs und Browser-Spielen, die dadurch vollzogene Einbindung des Spielerlebens in reale Kontexte und den dadurch generierten Bedeutungscharakter des Spielens (z. B. Götzenbrucker 2001, Hepp & Vogelgesang 2008). Die Erforschung von Spielkultur in ihrer Rolle als (oftmals jugendliche) Subkultur vernachlässigt aber einerseits die ‚schweigende Mehrheit‘ der ‚casual gamers‘ und deren Spielerleben, da diese nicht über die Merkmale von Subkulturen sichtbar werden, aber nichtsdestotrotz die Mehrzahl der Computerspieler ausmachen (vgl. Quandt/Wimmer 2008). Andererseits ist zu berücksichtigen, dass die Grenzen zwischen den verschiedenen Manifestationen von Spielkultur nicht als feststehend oder gar als essentialistisch zu verstehen sind, sondern vielmehr allein Ausdruck sich stetig verschiebender und verändernder Bedeutungsprozesse darstellen.2 Daher sind in der Analyse der sozialen und kulturellen Implikationen von Onlinespielen die verschiedenen Elemente der Bedeutungsprozesse, die das kommunikativ vermittelte Phänomen Computerspiele ausmachen, in ganzheitlicher Weise in Betracht zu ziehen. Eine Orientierung an den Kreislauf der Medienkultur (Hepp 2004) macht dabei zwei wichtige analytische Einsichten deutlich, einerseits den der prozesshaften Genese von Computerspielkulturen und andererseits den dahinterstehenden Kontext der Ökonomisierung. Zum Verständnis der Genese von Computerspielkulturen hilft es, sich die verschiedenen, v. a. medial vermittelten Artikulationsebenen von (Medien-)Kultur in einem Kreislauf verschränkt vorzustellen. Hepp folgend können hier fünf Prozessebenen differenziert werden:
Die Ebene der (ökonomischen) (Re-)Produktion von und innerhalb von Computerspielen beschreibt „die Strukturen, Praktiken und Prozesse der
2 Weitere Dimensionen von Spielkulturen sind neben den skizzierten Subkulturen im Sinne spezischer Spielgemeinschaften individuelle Spielerkulturen (z. B. spezische Spielertypen und die z. T. höchst differenzierten Spielarten), Spielmetakulturen (z. B. Fanzines bzw. der kreative Umgang mit Computerspielen, besonders mit ihren technischen Aspekten im Rahmen von poaching- und moddingPhänomenen etc.) und auf einer gesellschaftlichen Makroebene Computerpiele als kulturelle Objekte (z. B. Computerspiele als Brands im Prozess der Konvergenz der Unterhaltungsindustrie etc.) (vgl. zu dieser Heuristik exemplarisch Egenfeldt-Nielsen et al. 2008).
216
Wimmer/Klatt/Mecking/Nikol/Pegorim/Schattke/Trümper ‚Hervorbringung‘ von Kulturprodukten“ (Hepp 2006: 72). Bezogen auf Spiele bezeichnet diese Ebene demzufolge v. a. den Bereich der Spielindustrie und damit auch der Spielentwicklung. Repräsentation bezeichnet die „Artikulationsebene der ‚Darstellung‘ von Kultur in Kulturprodukten“ (ebd.). Bei Computerspielen geht es auf dieser Artikulationsebene also z. B. insbesondere um die Darstellung von Gewalt oder Gender in Spielen, deren Bedeutungszuschreibung durch die Spieler aber auch um die Darstellung von Spielen und Computerspielkulturen im öffentlichen Diskurs (Nagenborg 2009). Regulation stellt die Artikulationsebene von Kultur dar, „die Einussnahmen nichtproduzierender Institutionen und Formationen (bspw. Politik) auf Kultur fasst“ (ebd.). Bezogen auf Computerspiele geht es hier also zum Beispiel um gesetzliche Bestimmungen über Spielinhalte oder die Festlegung von Altersgrenzen zum Jugendschutz durch die USK (Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle). Aneignung ist die Artikulationsebene von Kultur, „die den Prozess des aktiven ‚Sich-Zu-Eigen-Machens‘ von Kultur als Lokalisierung im Alltag fasst“ (ebd.). Ein herausragendes Beispiel dafür ist das Entstehen spielspezischer Normen und Regeln innerhalb von Spielgemeinschaften wie z. B. Computerspiel-Clans (Wimmer u. a. 2008). Identikation bezeichnet die Artikulationsebene von Kultur, „die den (fortlaufenden) Prozess der Konstitution von Identität auf Basis vermittelter Muster und Diskurse beschreibt“ (ebd.). Sichtbar wird diese Artikulationsebene zum Beispiel bei Mitgliedern eines Clans oder einer Szene, die bestimmte Kleidungsstücke tragen oder bestimmte Sprachausdrücke verwenden, um damit ihre Clan- oder Szenenzugehörigkeit auszudrücken und sich von NichtMitgliedern abzugrenzen.
Als zweiten Aspekt gilt es festzuhalten, dass digitale Spiele und ihre Spielkulturen zwar für sich alleinstehend untersucht werden können, allerdings in ihrer Komplexität erst verstanden werden, wenn sie im Kontext eines gewaltigen Veränderungsprozesses gesehen werden, der seinen Ausdruck in sich wandelnden Medien- und Kommunikationsformen ndet. Konkret ist hier auf die gegenwärtigen, gesellschaftsprägenden Prozesse der Mediatisierung, Individualisierung, Globalisierung und Ökonomisierung von Alltag und Gesellschaft zu verweisen (vgl. hierzu ausführlich Krotz 2007: 161 ff.), in deren Kontext gerade Computerspiele verortet werden können (für diese Argumentation vgl. grundlegend Simon 2006, im besonderen Fall des Spielevents WCG vgl. Hutchins 2008). Mehr noch: Computerspiele stellen aufgrund ihrer Entstehungs- und Aneignungskontexte
„Beyond the Game“?!
217
vielmehr idealtypische kommunikative Manifestationen und Antreiber ebendieser gesellschaftlichen Veränderungsprozesse dar (Wimmer 2008). Diese eher abstrakten Überlegungen lassen sich gut an dem Spannungsverhältnis von kommerzieller Produktion und individueller Aneignung der Computerspiele festmachen (z. B. Becker 2004, Schäfer 2006). Viele Computerspiele werden mit einem hohen nanziellen Aufwand produziert. Die Computerspielindustrie hat dabei in den letzen Jahren enorm an Umfang zugelegt (Müller-Lietzkow u. a. 2006). Die Veranstalter der WCG verweisen allerdings nur relativ versteckt auf ihrer Homepage auf das für sie enorme ökonomische Potential der Spielindustrie hin. Begründet wird dies v. a. mit Marketingerlösen, die in letzen Jahren scheinbar astronomisch gestiegen sind: „Die schnell wachsende Teilnehmerzahl an den World Cyber Games verdeutlicht das Vorhandensein eines großen, unterversorgten Marktes. Schätzungen gehen davon aus, dass das Wachstum in der näheren Zukunft vor allem durch die Kapazitäten zur Abdeckung dieses Marktes beschränkt sein wird.“ (http://www.wcg.com/6th/inside/ wcgc/wcgc_structure_de.asp) (1.10.2008)
Für den ‚normalen‘ Betrachter der Homepage viel expliziter werden von Organisatoren gleichzeitig spezische Erlebnispotentiale im Sinne eines ‚Festivals‘ digitaler Spielkultur als Sinn und Zweck der WCG in den Vordergrund gerückt: „Die World Cyber Games sind das weltweit erste ‚Cyber Game Festival‘ und wurden ins Leben gerufen, um eine starke Cyberkultur aufzubauen. Die besten Spieler der Welt treffen sich in verschiedenen Städten, um ihre Begeisterung für Spiele zu teilen und Spaß zu haben.“ (ebd.)
Vor dem Hintergrund dieses offensichtlichen Spannungsverhältnisses zwischen Industrie und (Computerspiel-) Kultur wird nun im Beitrag der Versuch unternommen, den Bedeutungscharakter und die verschiedenen Artikulationsebenen des Spielevents WCG und der dabei öffentlich beobachtbaren Computerspielkultur(en) mit Hilfe eines Mehrmethodendesigns in Anlehnung an die Event-Analyse des Forschungskonsortiums WJT (2007) auf den Grund zu gehen.3 Konkret standen dabei drei Ebenen der Analyse im Vordergrund. Auf der Artikulationsebene der Event-Produktion wurden die Aktivitäten der Veranstalter und Teilnehmer mit Leitfadeninterviews und teilnehmender Beobachtung erfasst. Die Analyse der Event-Repräsentation umfasste die Pressearbeit der Veranstalter (Pressekonferenzen, Pressematerial und -mitteilungen etc.) sowie die Berichterstattung in Zeitungen, Fernsehsendungen und Onlinemedien im Rahmen einer qualitativen 3 Die empirische Fallstudie erfolgte im Rahmen eines zweisemestrigen Forschungsseminars im Master Medienkultur der Universität Bremen. Die Autoren stellen gerne auf Anfrage den Korpus der Analyse zur Verfügung.
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Wimmer/Klatt/Mecking/Nikol/Pegorim/Schattke/Trümper
und quantitativen Inhaltsanalyse. Die Ebene der Event-Aneignung, das ‚Sichzu-Eigen-machen‘ der WCG durch die Teilnehmer und Besucher, wurde durch Leitfadeninterviews und teilnehmende Beobachtung exploriert. Die Auswertung erfolgte nach Standards sowohl der Grounded Theory (Glaser/Strauss 1998, Krotz 2005) als auch der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring (2003).
2
Domestizierung der Spielindustrie: Die Produktion der WCG und deren Wahrnehmung
Nach Angaben der Veranstalter haben an dem Spielevent 800 Spieler und Spielerinnen4 aus 78 Ländern teilgenommen und in 14 Computerspielen ihr Bestes versucht. Ihre Leistungen wurden dabei von knapp 500 Journalisten und über 20.000 Besuchern beobachtet. Ein Teilbereich der Kölner Messe wurde dabei in verschiedene ‚Areas‘ aufgeteilt: der sogenannte VIP-Room, Raum für Journalisten etwas außerhalb der Messe und in der Messe selber ein Empfang sowie die verschiedenen, z. T. auch altersbeschränkten Bereiche für das Austragen der Spiele. Die Auswahl von Köln als Austragungsort der WCG hatte verschiedene Gründe. Zum einen gilt Köln als internationale Messestadt, zum anderen wollten die Veranstalter daran anknüpfen, dass die Stadt Köln schon mehrere Spielevents erfolgreich organisiert hatte. Der von den Veranstaltern postulierte Wandel vom traditionellen Sport hin zum ESport sollte so plastisch veranschaulicht werden. Ferner wurde betont, dass sich gerade in den letzten Jahren die Computerspielindustrie in Nordrhein-Westfalen sehr gut entwickelt habe. Als historisches Vorbild der WCG werden seit ihrer Entstehung stets die Olympischen Spiele angeführt, um nachhaltig eine Art ‚natürliche‘ Entwicklung vom Sport zum E-Sport zu symbolisieren (ein Slogan der WCG lautet „Evolution of Competition“). Wie in Olympia geht es hier in mittlerweile 14 Computerspielen um den Wettbewerb zwischen Teams oder Einzelspielern aus verschiedenen Ländern. Der Gewinner bekommt einen Geldpreis und den Ruhm, als Weltbester eines Computerspiels zu gelten. Das Logo, das direkt an das Olympia-Logo erinnert, soll mit seinen vier Ringen (rot, blau, gelb und grün) die „globale WCG-Welt“ symbolisieren, „in der Menschen aus aller Welt friedlich und harmonisch miteinander agieren können“; das schwarze Hintergrundfeld des Logos hingegen „die unendlichen Möglichkeiten des Cyberspace.“ Es gibt ebenfalls eine Hymne („Beyond The Game“) und ein virtuelles olympisches Feuer. Laut Veranstalter sollen so die 4 Ganz im Gegensatz zu ihrem Publikum ist die Quote weiblicher Spielerinnen an den WCG vernachlässigbar, so dass die Wettbewerbe klar eine männliche Domäne sind. Der Spiegel formulierte vor diesem Hintergrund sehr pointiert, dass die „meiste(n) Frauen aus dekorativen Gründen engagiert“ seien. (http://www.spiegel.de/netzwelt/web/0,1518,437731,00.html) (1.10.2009)
„Beyond the Game“?!
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olympische Idee wie Fair Play, Wettbewerb aber auch Freundschaft und Frieden sowie interkulturelle und internationale Kontakte auch im Rahmen der WCG zum Ausdruck kommen. Zumindest wird somit die Seriosität des Spielevents gewährleistet, aber auch die Aufmerksamkeit der Sponsoren und der Medien geweckt. Vor diesem knapp skizzierten Hintergrund soll sich nun der Frage gewidmet werden, welches Ausmaß die Kommerzialisierung der Spielkultur(en), also die Fokussierung auf wirtschaftliche Interessen, im Rahmen des Spielevents WCG aufweist. Diese zeigt sich auf den ersten Blick über eine Monetarisierung des Spielerfolgs. So haben die Spieler die Aussicht auf hohe Preisgelder im Fall eines Gewinns. Insgesamt wurde in Köln um Geld- und Sachpreise im Wert von 470.000 $ gespielt. Seit Beginn der WCG ist eine starke Zunahme dieser Monetarisierung des Spielerfolgs zu verzeichnen (vgl. Tabelle 1). Jahr
Ort
Länder WCG-Spieler* Spieltitel
Preisgeld in $
2000
Seoul, Südkorea
17
168.000
4
200.000
2001
Seoul, Südkorea
37
389.000
6
300.000
2002
Daejon, Südkorea
45
450.000
6
300.000
2003
Seoul, Südkorea
55
600.000
7
350.000
2004
San Francisco, USA
63
1.000.000
8
420.000
2005
Singapur
67
1.250.000
8
435.000
2006
Monza, Italien
70
1.300.000
8
462.000
2007
Seattle, USA
75
1.500.000
12
448.000
2008
Köln, Deutschland
78
1.600.000
14
470.000
2009
Chengdu, China
65
–
12
500.000
* Teilnehmer an den an den nationalen Vorentscheidungen
Tabelle 1
Kennzahlen der WCG von 2000 bis 2009 (Quelle: http://wcg.com/6th/inside/wcgc/wcgc_structure_de.asp, eigene Schätzungen)
Auch bei anderen, eher traditionellen Spiel- und Sportevents geht es natürlich z. T. um hohe Preisgelder. Die Monetarisierung des Spielerfolgs ist somit auf den ersten Blick eine durchaus übliche Form der Kommerzialisierung von Sport- und Spielevents und nicht spezisch für die WCG. Auch das Sponsoring ist relativ üblich, allerdings hat die nanzielle und/oder materielle Unterstützung (z. B. in Form von Computerausstattung) der WCG und der teilnehmenden Teams eine neue Qualität. Denn der v. a. medial hergestellte Bezug von E-Sport und Sport (siehe ausführlicher Kapitel 3) beinhaltet als Kernelement das Thema Sponsoring.
220
Wimmer/Klatt/Mecking/Nikol/Pegorim/Schattke/Trümper
Dieses Spezi kum verdeutlicht indirekt eine Äußerung der Advanced Cyber Entertainment, die als deutscher Organisator und Veranstalter hinter den WCG in Köln steht: „Also wir haben vor vier Wochen ein Teamcamp bei Adidas als Warm-up gehabt […] es gab Workshops zum Thema psychologische Vorbereitung auf Wettkämpfe, auf Medientraining, auf generell, was erwartet einen hier überhaupt auf den WCG, es gab klassischen Sport: […] also es war wirklich eine sehr starke Teambildungsmaßnahme.“
Mit dieser Aussage wird das Training und die Wettkampfvorbereitung des deutschen Nationalteams indirekt auf eine Stufe mit klassischen, professionell betriebenen Sportarten, wie beispielweise Fußball, gehoben und als Folge dessen auch der Stellenwert des Sponsoring. Dessen Intensität wird von den Spielern und den Funktionären der Teams wie bspw. vom Coach des deutschen Nationalteams („Das gehört eigentlich dazu. Die Sponsoren wollen ja auch ihre Produkte irgendwie an Land bringen“) als überaus ‚normal‘ empfunden. Der Einuss der Sponsoren kann hierbei nicht unterschätzt werden. Samsung als Hauptsponsor der WCG entscheidet maßgeblich darüber mit, welche Preisgelder ausgelobt und welche neuen Spiele eingeführt werden. Ein gutes Beispiel dafür ist das Spiel Asphalt 3, das direkt mit der Vermarktung eines neuen Mobiltelefons zusammenel. Konsequent erscheint hier nur, dass der Marketingdirektor von Samsung einer der Redner in der Eröffnungsveranstaltung war. Team-Sponsoren ermöglichen die Reisen der Teilnehmer zu den WCG und haben darüber hinaus in den einzelnen Ländern einen sehr starken Einuss. So ist Pedro Sachez5 als Angestellter der Firma Samsung nicht nur für die brasilianische Nationalmannschaft als Teamleiter verantwortlich, sondern auch für die Organisation der WCG in Brasilien. Er nennt auch den Grund des Sponsorings: „Wir wollen uns bei den Jugendlichen bekannt machen, damit sie sich in fünf Jahren, wenn sie kaufkräftige Kunden werden, an die Marke erinnern können und Samsung dann mit diesen Spielen in Verbindung bringen.“ Diese Äußerung weist klar auf die mit Sponsoring intendierte Zielgruppengenerierung, d. h. die Akquise neuer Käufer, die entweder zur angestrebten Zielgruppe gehören oder eine neue bilden könnten, hin. Doch dieser Stellenwert der Zielgruppengenerierung für die Unternehmen wird nicht nur von Unternehmensvertretern, sondern natürlich auch von den Besuchern der WCG wahrgenommen. So urteilt Jan-Hendrik, ein 25-jähriger Zuschauer: „Also ich denke, das ist genau deren Zielgruppe. Und insofern ist das eine absolute Notwendigkeit, dass die hier sind. […] Ich glaube, es ist eher für die Firmen blöd, die
5
Namen der Befragten sind geändert.
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nicht hier sind. […] Jetzt haben wir hier ungefähr sechs Stände von Samsung, die ganz viel Technik mit ganz viel Hostessen verkaufen, die übrigens sehr gut aussehen, und mich lässt das komplett kalt. Ich meine, das ist ein optimaler Platz für die, um ihre Sachen anzubringen. Deswegen hab ich da gar keine Wertung für.“
Diese Meinung kommt auch in einer Äußerung einer 20-jährigen deutschen Studentin zum Tragen, die die Notwendigkeit des Sponsorings für die WCG betont: „Es ist schon nervig, aber das Game ist auch gesponsert. Also ich sag mal, es ist ein toleriertes Übel. Denn wenn es das nicht so wäre, dann gäbe es wahrscheinlich keine WCG oder zumindest nicht in diesem Umfang. Also ich sehe es als toleriertes Übel an.“ (Interview Pia)
Ähnlich bewertet der 18-jährige Finne Joaquim die Rolle des Sponsorings für die WCG und die beteiligten Teams: „Yeah, I think it’s good. There’s obviously a lot of money involved, and its helping pushing forward the business. I think it’s positive.“ Diese Aussagen verweisen auf das Spannungsverhältnis von WCG, Computerspielkulturen und Sponsoren. Die WCG würden ohne die nanzielle und materielle Unterstützung der Unternehmen nicht oder nur eingeschränkt stattnden können und die Unternehmen versprechen sich mit der Unterstützung eine rentable Investition in die Zukunft beziehungsweise die Akquise einer zukünftigen Zielgruppe. Für die Teilnehmer gehört das Sponsoring zu ihrem Spielalltag dazu bzw. es herrscht eine große Akzeptanz, denn für sie werden die Wettkämpfe durch die Geld- und Sachleistungen der Industrie erst ermöglicht. Eine breite Kommerzialisierung zeigt sich weiterhin auch darin, dass der Großteil der Messehalle von den Sponsoren als bunte Spieläche für Werbemaßnahmen genutzt wird. Es werden zahlreiche neue Produkte vorgestellt, Werbegeschenke verteilt und Dutzende von Gewinnspielen veranstaltet (siehe Abbildung 1). Die Werbeplakate der Sponsoren zieren große, freie Flächen. Zusätzlich läuft die Werbung auch auf den Leinwänden der Hauptbühne. Derartige Formen der Werbung sind nicht ungewöhnlich für die Kommerzialisierung von Spielevents und stellen an sich keine Besonderheit der WCG dar. Besucher Yang Hui, 33 Jahre, meint somit auch: „They were everywhere […] It’s just a normal commercial thing. Nothing special.“
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Abbildung 1
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Gewinnspiel- und Werbestand des Hauptsponsors
Die Reaktionen manch anderer Besucher zeigen allerdings, dass die Zunahme und das Vorhandensein von Werbung auf den WCG keinesfalls immer bereits als absolute Normalität wahrgenommen werden, sondern durchaus auffallen. Der 20-jährige Branbuna stellt fest: „Mir ist das auch aufgefallen. Erstmal diese Samsung-Stände und dann permanente Samsung-Werbung auf der Main-Stage.“ Der 19jährige Philipp empndet die Werbestände als „etwas übertrieben“, meint jedoch: „aber es gehört natürlich dazu“. Generell wird Werbung wie vorher skizziert Sponsoring von den Besuchern akzeptiert oder sogar als positiv empfunden. Spezisch für die WCG ist allerdings, dass die Werbung zu einem Störfaktor für die Spieler werden kann. Der Teammanager des österreichischen Nationalteams berichtet: „Bei solchen Events stört die Spieler der Lärm von den Messeständen. […] Weil der Lärm schon wirklich teilweise das Spielverhalten beeinussen kann.“ Eine derartige Störung durch Werbung ist auf anderen Sportevents in dieser Form nicht zu nden, da dort in der Regel entweder eine räumliche Trennung vom Wettkampf stattndet oder die Werbung diskret (zum Beispiel Bannerwerbung beim Fußballspiel) stattndet, so dass die Spieler nicht vom Wettkampf abgelenkt werden. Ebenfalls ungewöhnlich für andere Events ist der bewusste Verzicht von Werbung auf der Hauptbühne (dies gilt allerdings nicht für Werbelme auf den dazugehörigen Leinwänden). So erklärt der Veranstalter: „[…] auf der Bühne ist kein einziges Logo, auch das ist natürlich sehr olympisch, weil es ja auch bei der Olympiade keine Werbung gibt“. Da die WCG die Olympiade des E-Sports darstellen, wurde also im Sinne des olympischen Gedankens darauf verzichtet, auf der Hauptbühne Werbung zu platzieren. Der Kontrast zu den ansonsten überall vorhandenen Werbeächen wird dadurch umso auffälliger. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Zunahme von Sponsoring und Werbung auf den WCG keine ungewöhnliche Form der Kommerzialisierung darstellt, sondern auch für andere Events charakteristisch ist. Bezüglich der
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Wettkampf-Computerspiele zeigt sich jedoch eine besondere Ausprägung der Kommerzialisierung der WCG: eine Ökonomisierung der Spielauswahl, die ein Vertreter der WCG folgendermaßen erklärt: „Das wichtigste ist, es muss Spieler für das Spiel geben. […] Da fallen noch viele andere Dinge mit rein, zum Beispiel: Wie ist die Bestimmung des Publishers? Gibt es Updates? […] Wenn man im Turnier feststellt, es gibt ein Problem mit irgendwas, macht der Publisher da irgendwas, oder stellt er es einmal ins Regal und sagt: In einem Jahr kommt die Nachfolgeversion, was soll ich damit noch machen? Wie ist die Übertragbarkeit, also kann ich das Ganze auch alleine attraktiv zeigen, um es für Zuschauer begeisternd zu machen? […] es gibt neue Konzepte wie Guitar Hero, es gibt neue Plattformen mit Handys – müssen wir das natürlich auch abdecken.“
Anders als bei anderen Sportevents haben sich die Computerspiele auf den WCG also nicht aus einer Tradition heraus entwickelt. Gespielt werden nur solche Spiele, die ökonomisch erfolgreich sind.6 Diese Art der Kommerzialisierung ist einzigartig für die WCG und auf anderen Sportevents in dieser Form nicht zu nden. Da die Spieler, aber auch Hunderttausende von Jugendlichen zuhause, sich immer wieder neue Spielversionen zulegen müssen, um fortlaufend an den Wettkämpfen der WCG teilnehmen zu können, erzielen die Spielhersteller somit auch einen Prot durch ein permanentes Updating der Spielversionen, das führt u. U. auch dazu, dass erst wenige Monate vorher bekannt gegeben wird, welche Version des Spiels auf den WCG nun tatsächlich gespielt wird.7
3
Branding E-Sport: Die mediale Repräsentation der WCG
In einem zweiten Schritt wird nun der Fokus auf die medialen Repräsentation(en) im Rahmen der WCG gelegt. Zu diesem Zweck wurden die medialen Botschaften mittels zweier Fragestellungen herausgearbeitet: (1) Was waren die Kommunikationsziele der PR-Akteure der WCG und (2) wie wurden die WCG in den Medien dargestellt?
6 Folgende Spiele waren Bestandteil der WCG: Fifa Soccer 2008 (Electronic Arts), Need for Speed: Pro Street (Electronic Arts), Command & Conquer 3: Kanes Rache Wars (Electronic Arts), StarCraft: Brood War (Vivendi/Blizzard), WarCraft III: The Frozen Throne (Vivendi/Blizzard), Age of Empires III: The Asian Dynasties (Microsoft), Carom 3D (NeoAct), Red Stone (L&K Logic Korea), Virtua Fighter 5 (Sega), Project Gotham Racing 4 (Microsoft/Bizarre), Counter-Strike: 1.6 (Vivendi/ Valve), Halo 3 (Microsoft/Bungee), Guitar Hero 3 (Activision) und Asphalt 3 (Gameloft). 7 Allerdings wurden auf WCG auch ältere Versionen von Computerspielen gespielt, was mit dem Training der Spieler in der jeweiligen Version zusammenhängt und wieder an die Parallelen zum traditionellen Sport erinnert.
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Unter medialen Botschaften wird in diesem Zusammenhang das mediale bzw. journalistische Angebot im Prozess der kulturellen Bedeutungsproduktion verstanden (Hepp 2006: 71 f.), wobei die Bedeutungsproduktion hier lediglich auf zwei Ebenen untersucht worden ist: auf der Ebene der Produktion die PR-Arbeit vor und während der WCG und auf der Ebene der Repräsentation die journalistischen Beiträge (Medientexte). Methodisch wurden zum einen qualitative Leitfadeninterviews mit Experten (PR-Manager und Marketing-Akteure) geführt. Zum anderen galt es, verschiedene Zeitungsartikel mit einer qualitativen Inhaltsanalyse zu untersuchen. Schon das Setting der WCG wurde unmittelbar für die Medien gestaltet. Die Eröffnungsveranstaltung erinnerte an die Eröffnungszeremonie der Olympiade und ließ sich sehr gut im Fernsehen beobachten (sogar besser als wenn man dabei war). Die Pressekonferenz wurde zwar nicht sehr gut besucht, auffällig war allerdings die große Zahl der Journalisten, die akkreditiert wurden. Für diese war ein separater Presseraum mit Computern und Internetverbindung bereitgestellt, es wurden auch zahlreiche Werbegeschenke (Rucksäcke, Flyer, Pressemappe, CDs) vergeben. Auffällig war auch der crossmediale Bezug: Am Rande der WCG wurde ein Reality TV-Format entwickelt und gedreht („WCG GameQuest“) in dem zwölf Teilnehmer gegeneinander spielen und die Spiele im ‚wirklichen Leben‘ nachahmen sollten. Dieses Fernsehformat schien auch aus unserer Beobachterperspektive der eigentliche Sinn der Pressekonferenz gewesen zu sein.
3.1
Kommunikationsziele der WCG-Organisatoren
Bei den zentralen Kommunikationszielen geht es v. a. um das beabsichtigte öffentliche Erscheinungsbild der WCG; welches Bild sich die Teilnehmer und Besucher letztendlich davon machten, ist davon erstmal unabhängig zu sehen (vgl. Kapitel 2). Ob die angestrebten Kommunikationsziele sich in den Medienberichten über die WCG tatsächlich widerspiegeln, wird im Anschluss untersucht. Die durch die Auswertung der Experteninterviews entwickelten vier Hauptkategorien werden durch die von uns auf den WCG durchgeführten Beobachtungen gestützt aber auch z. T. widerlegt. Dieser Umstand bezieht sich insbesondere auf die ofzielle Pressekonferenz zu Beginn des Spiel-Events. Ein zentrales Kommunikationsziel der Organisatoren war es, die Parallelen zwischen E-Sport und Sport aufzuzeigen. Dabei ging es nicht darum, die Frage zu beantworten, ob E-Sport denn nun Sport sei. Der Verweis auf die unterschiedlichen Denitionsmöglichkeiten von Sport lässt die Antwort zur Auslegungssache werden: Ist Angeln, Schach oder Golf denn ein Sport? Dass die Parallelen nicht unbedingt in der körperlich-physischen Leistung des Hochleistungssportlers und des E-Sportlers zu nden sind, ist offensichtlich. Die Ähnlichkeiten liegen deutlicher in
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den Strukturen, insbesondere die Professionalisierung des E-Sports wurde von den PR-Akteuren hervorgehoben: Psychologische Betreuung, Teambildungsmaßnahmen und Medientraining gehören zu den Vorbereitungen der Nationalmannschaft, hier will man die Ähnlichkeiten zum Sport verortet wissen (vgl. Kapitel 2). Es geht in erster Linie nicht darum, Computerspielen zu einer sportlichen Disziplin zu erheben, sondern einen ähnlichen Stellenwert wie beim Prosport zu erreichen. Dies verdeutlicht auch die Anlehnung an die olympische Idee. Hymne, Fahne und Flaggeneinmarsch auf den WCG betonen einerseits den internationalen Charakter der Veranstaltung, grenzen diese aber gleichzeitig als eigenständiges Event von anderen Events der Computerspielkultur klar ab. Ein zweites Anliegen war es, was im Widerspruch zu den von uns auf den WCG durchgeführten Beobachtungen steht, das Event als Unterhaltung für jedermann zu präsentieren, d. h. Entertainment durch das Mitverfolgen der Wettkämpfe und die Möglichkeit zu klettern oder andere Sportarten anzubieten. Vor Ort wirkte die Veranstaltung aber eher als von Sponsoren und Unternehmen getragenes Event für Insider, die hier als Mitglieder der Spielkultur rund um die WCG zu verstehen sind und weniger als ein offenes Angebot für jedermann. Dies zeigt sich auch an der Beobachtung, dass es für Besucher keine Ruhezonen oder echte Möglichkeit für ein Mittagessen oder einen Imbiss gab, wenngleich es ein Restaurant für die Spieler gab. Außer zu Stoßzeiten am Wochenende bzw. zu den Finalspielen der einzelnen Spieldisziplinen waren so insgesamt auch nur wenige Besucher zu sehen. Der Großteil des anwesenden Publikums bestand gerade in den Vorrunden aus den Spielern, Pressevertretern, Organisatoren und Sicherheitskräften. Diese Form von Ingroup-Orientierung zeigt sich auch darin, dass nirgendwo die Regeln der einzelnen Wettspiele erklärt wurden, so dass man als Nicht-Gamer keine Möglichkeit hatte, dem Spielverlauf wirklich zu folgen bzw. Begeisterung für ein Spiel zu entwickeln. Auf den ersten Blick wirkten Spieler, aber auch die Zuschauer bei den einzelnen Spielen meist emotionslos, was aber vermutlich größtenteils deren Konzentration geschuldet war. Dies bedeutet allerdings nicht, dass sie keine Begeisterung empfanden. Sie schienen diese allerdings nicht so sehr nach außen zu tragen. Es stellt sich daher grundsätzlich die Frage, ob der Besuch der WCG in diesem Sinne allein als ein Spielevent für die Gamer und die damit verbundenen E-Sport-Kultur zu sehen ist, die mediale Vermittlung des Spiel-Events dagegen klar an die breite Öffentlichkeit gerichtet ist.8 Dieses Vorgehen diente einem dritten, zentralen Ziel der PR-Akteure: dem Abbau von Stereotypen in Bezug auf Computerspiele. Der Begriff des ‚Nerds‘ als auch der oft in den Medien zu ndende Zusammenhang von Gewalt und Computerspielen
8
Wenngleich natürlich die E-Sport-Szene intensiv die Übertragung der Wettkämpfe verfolgt.
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rahmen das Thema ‚Games‘ gerade in der deutschen Berichterstattung oftmals in einem negativen Kontext. So führt ein Vertreter der zuständigen PR-Agentur aus: „E-Sportler sind Sportler war … das Hauptziel, das wir verfolgt haben. Und wenn wir uns das in der Rückbetrachtung anschauen, hat sich das auch ganz gut durchgesetzt. Was auf jeden Fall nicht passiert ist, und das war so das Hauptziel, dass die Gamer so dargestellt werden, wie vorher auch, nämlich einsam, verpickelt, fettleibig, im Keller sitzend.“
Dieser Rahmen soll für die WCG 2008 erst gar nicht in den Medien entstehen. Dazu diente die zu Beginn der WCG durchgeführte Pressekonferenz, eine von einem Imagelm dominierte Show, die die oben bereits erwähnten Kriterien von Professionalisierung und zugleich ökonomischer Relevanz des E-Sports unterstrich. Argumente der PR-Akteure gegen die Klischeerahmung des Events sind der Facettenreichtum und Einzug von Games in den Alltag der Menschen. Damit wird einerseits auf die Normalität von Computerspielen in der heutigen Zeit verwiesen, andererseits sollen Klischees entkräftet werden, dass Computerspieler allein aus einer homogenen Gruppe von verhaltensauffälligen männlichen Jugendlichen bestehen würden. Der besondere Umgang mit Journalisten war ein zentrales Instrument, Stereotype in den Medien von vornherein zu vermeiden. Zahlreiche Redaktionstouren und Einzelgespräche mit den Leitmedien wurden genutzt, um die aus Sicht der PR-Akteure wichtigsten Informationen im Bezug auf die WCG zu vermitteln. Der konkrete Imageaufbau der WCG als viertes Kommunikationsziel entstand durch die immer wieder genannten Kennzahlen der WCG (vgl. Tabelle 1). Diese Zahlen sollen die Themen Internationalität, Transkulturalität und Wirtschaftlichkeit ansprechen und letztendlich die zentralen Fakten darstellen, die von den Medienvertretern und dem Publikum mit den WCG assoziiert werden. Welches Bild von den WCG wurde nun in den unterschiedlichen Medienberichten konstruiert?
3.2
Journalistische Darstellung der WCG
Um die Auswirkungen der intendierten Kommunikationsziele auf die Berichterstattung nachvollziehen zu können, wurde aus den insgesamt 1.731 journalistischen Beiträgen, die allein im Monat November 2008 in TV, Print- und Onlinebereich erschienen sind, eine Auswahl vorgenommen.9 Diese umfasste jeweils einen Artikel aus den folgenden sechs Zeitungen: Süddeutsche Zeitung (SZ), Neue Zürcher
9 Die Gesamtzahl der erschienenden Beiträge wurde bei der WCG betreuenden PR-Agentur Fink & Fuchs, die für die Monate März bis Dezember 2008 eine umfassende Clipping-Analyse durchgeführt hat, erfragt.
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Zeitung (NZZ), die tageszeitung (taz), Der Tagesspiegel, Badische Zeitung und Weser Kurier (WK), wobei aus dem WK zwei Artikel in das Sample genommen wurden. Die Auswahl der Artikel erfolgte bewusst nach drei Kriterien: Erstens sollten sie idealtypisch die Bandbreite der gesamten Berichterstattung über die WCG repräsentieren. Zweitens ließ sich über das Interview mit einem PR-Akteur bereits ermitteln, welche Beiträge aus seiner Perspektive als besonders gelungen eingestuft wurden und welche die angestrebten Kommunikationsziele nicht zufriedenstellend wiedergegeben haben. Drittens sollten sowohl regionale als auch überregionale Tageszeitungen die Grundlage des Samples bilden. Eine erste Analyse der Visualisierung des Settings der WCG anhand der TV-Beiträge (RTL und ZDF) macht deutlich, dass hier mit sehr ähnlichen Kameraeinstellungen gearbeitet worden ist (z. B. Totalen und Halbtotalen von Spielern, die vor den Bildschirmen sitzen, Split-Screen von Spielern und Bildschirmszenario etc.) (vgl. Abbildung 2).
Abbildung 2
TV-Berichterstattung über die WCG (Quellen: Quellen: RTL Aktuell, 07.11.08, Quelle: ZDF heute nacht, 06.11.08, Quelle: ZDF heute nacht, 06.11.08, Quelle: ZDF heute, 06.11.08)
Somit erschien in diesem Zusammenhang eine Inhaltsanalyse der Zeitungsartikel und der über den Text vermittelten Bilder ertragreicher. Aus den Artikeln galt es Kategorien für die mediale Botschaften der WCC zu generieren. Insgesamt ließen sich auf diese Weise vier solcher medialen Botschaften ermitteln:
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Die WCG werden erstens als Sportevent skizziert, indem zunächst eine Art denitorische Eingrenzung erfolgt, was die WCG sind. In diesem Zusammenhang werden sie als „olympische Computerspiele“ (SZ), „Weltmeisterschaft der virtuellen Athleten“ (NZZ), als „eine Art Weltmeisterschaft für Computerspiele“ (taz) umschrieben, oder es wird ein klarer Vergleich angestellt: „Was für Sportler die Olympischen Spiele sind für Computerspieler die WCG“ (WK). Für die Beschreibung der WCG werden in allen Artikeln die von den PR-Akteuren generierten Kennzahlen (800 Computerspieler aus 78 Ländern, eine halbe Millionen US-Dollar Preisgeld) aufgegriffen. Des Weiteren wird die Professionalisierung des Events abgebildet, indem Parallelen zu traditionellen Pro-Sport Events gezogen werden (Nationalmannschaften, Flaggen, Trainingsanzüge, Hymnen, Betreuer). Dies geschieht auch über die Darstellung der medial durchdrungenen Kulisse der WCG (300 PCs, 42 Spielkonsolen, laute Musik, Bühnenshow, Moderation, Großleinwände). Zudem ndet der Faktor Kommerzialisierung und zunehmende Einuss des Sponsorings als Folge der Professionalisierung der Computerspielkulturen in der SZ und taz Erwähnung (z. B. dass trotz großer Beliebtheit beim Publikum keine Spiele von Nintendo gespielt wurden). Als zweite Kernbotschaft ist die Diskussionslinie, ob sich E-Sport als professionelle Sportart in Europa etablieren kann, in allen Artikeln mehr oder weniger stark ausgeprägt vorhanden. Sie wird beispielsweise angestoßen über den Vergleich zu Südkorea, wo „das Zocken am PC längst als Sport akzeptiert“ (SZ) sei und die Akteure „in Stadien spielen, von Fans umschwärmt werden und mit Computerspielen Hunderttausende Dollar verdienen“ (Der Tagesspiegel). Als drittes Charakteristikum lässt sich festhalten, dass die WCG verstärkt als Anlass genommen werden, um in der Berichterstattung übergeordnete Fragen wie eine durch das Spielen gesteigerte Gewaltbereitschaft zu diskutieren oder gängige Klischees zu durchbrechen, wie z. B. dass Computerspieler ‚Nerds‘ sind. In allen Artikeln wird die eher kritische Perspektive auf digitale Spiele zu Gunsten einer Akzeptanz des Computerspielens als neues Sportphänomen thematisiert. Dies geschieht entweder mittels Zitaten von Spielern „Es gibt einige falsche Vorurteile über uns Gamer […]. Wir sind kommunikative Menschen und das Zocken fördert sogar den Austausch untereinander“ (WK) oder Beschreibungen, dass Spieler „keine vereinsamten Kellerkinder sind, sondern ambitionierte und professionelle Sportler“ (SZ). Eine Ausnahme stellt hier allein der Artikel im Tagesspiegel dar. Dort wird der kritische Blick auf E-Sport und Shooter-Spiele unter anderem durch eine Expertenmeinung gestützt, einem Zitat der Psychologin, die die deutsche Mannschaft betreut. Sie „sieht Spiele wie Counter-Strike kritisch: ‚Friedlicher machen sie nicht‘“ (Tagesspiegel). Als viertes Muster der Berichterstattung werden Computerspiele als eine Tätigkeit beschrieben, die differenzierte und teilweise auch hochkomplexe Hand-
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lungsmuster erfordert. Bei der medialen Abbildung stehen dabei kleinteilige Beschreibungen der Koordination von Körper und virtueller Spieloberäche im Vordergrund: „Mit Kopfhörern auf den Ohren, […] hochkonzentriert nach vorne gebeugt, kommandiert er seine Einheiten auf dem virtuellen Schlachtfeld, […] wechselt mit der Maus in Sekundenschnelle die Kartenausschnitte, nebenher iegen seine Hände über die Tastatur. Rund 200 Mausklicks und Tastaturkürzel pro Minute schafft er – so genannte ‚Actions per Minute‘.“ (Badische Zeitung)
Ebenso wird der Vergleich zu konkreten anderen vorstellbaren Phänomen angestellt: „Ihre Hand-Augen-Koordination dürfte einen Bomberpiloten glücklich machen, ihre Finger bewegen sich wie die Tentakeln eines Tintensches über Tastatur und Controller […].“ (SZ). Was neben diesen vier grundlegenden Botschaften bei der Analyse zudem aufgefallen ist, waren die Unterschiede in der Darstellung zwischen den Regionalzeitungen (WK und Badische Zeitung) und den überregionalen Tageszeitungen. Bei den beiden genannten Regionalzeitungen stand die Portraitierung eines Akteurs aus der jeweiligen Region, der als Spieler an den WCG teilgenommen hat im Fokus. Die WCG selbst bildeten dort lediglich den Rahmen und wurden weniger detailliert beschrieben. Dieser Aspekt lässt sich jedoch aus der Logik und Routine der professionellen journalistischen Berichterstattung heraus erklären (Nachrichtenfaktoren wie Aktualität und Nähe). Strukturell ist aufgefallen, dass die Ressortzuordnung des Themas und des Events unterschiedlich gehandhabt wurde. Lediglich in der taz erschien der Artikel im Sportteil. Bei den anderen Zeitungen wurde der Text auf der Jugendseite (WK, Badische Zeitung), auf der Seite Mobil-Elektronik (NZZ) oder wie beim Tagesspiegel in der Rubrik Weltspiegel platziert, die dem PolitikRessort zugeordnet ist. Generell ist festzuhalten, dass die angestrebten Kommunikationsziele sich in den untersuchten Medienberichten wiedernden lassen. Die von Seiten der PRAkteure festgelegten Kennzahlen sind in fast allen Berichten wiederzunden und bilden somit die wesentlichsten Bezugspunkte. Zentrale Anliegen, wie der Abbau von Stereotypen als auch die Betonung des hohen Professionalisierungsgrades der WCG, wurden in den Artikeln thematisiert. Im Kern ist damit ein weiteres wesentliches Kommunikationsziel der PR-Akteure erreicht, dass die Debatte über Computerspiele durch das Spielevent WCG insgesamt in einem offeneren Rahmen als dem bisher von Stereotypen geprägten Diskurs abläuft. Kritische Ansichten fallen dabei trotzdem nicht aus der Berichterstattung, wie etwa der diskutierte Zusammenhang von Ego-Shootern und Gewalt. Die Parallelen zum Sport und den Olympischen Spielen rücken das Event aber insgesamt in den Kontext einer professionalisierten Veranstaltung, wobei dem Computerspielen auf den WCG
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eine trainierte Kompetenz zugeschrieben wird, die ihren Ursprung in der heutigen Mediensozialisation ndet. Ob die WCG letztendlich als Sportevent anzusehen sind, stellt sich als ein etwas unklarer Punkt heraus. Dies zeigt auch die unterschiedliche Ressortzuteilung in den untersuchten Zeitungen.
4
‚Die Welt zu Gast bei Freunden‘: (Trans-)nationale Bedeutungsdimensionen der Aneignung des Spielevents WCG
Bereits auf der Eröffnungsveranstaltung der WCG wurden die Flaggen aller vertretenen Nationen auf die Bühne gerufen und nebeneinander aufgestellt (vgl. Abbildung 3). Hier wird der Umstand deutlich, dass Spielevents wie die WCG auch Identitätsräume für ein komplexes Wechselspiel für die kommunikativ vermittelten Prozesse von Re- und Deterritorialisierung darstellen können (vgl. Morley/Robins 1995). Wenn man bedenkt, dass die WCG von einer Marketingagentur zusammen mit einem Unternehmen entworfen wurden und eben nicht gleichsam ‚urwüchsig‘ aus einer Computerspielkultur entstanden, gilt es hier zu überprüfen, inwieweit das von den Organisatoren im Selbstverständnis als global und grenzüberschreitend postulierte Spielevent auch von den Akteuren des Events vor Ort (Spieler, Besucher, Sponsoren und Event-Organisatoren) als solches empfunden wurde. Über die Auswertung der Interviews sowie anhand der teilnehmenden Beobachtung haben sich Hinweise auf die verschiedenen, sich überlagernden lokalen, nationalen und globalen Bedeutungsdimensionen im Rahmen der WCG gefunden. Sofort augenscheinlich ist die starke nationale Identizierung seitens der Spieler. Viele Spieler nden es wichtig und sind stolz darauf, ihre jeweiligen Heimatländer zu repräsentieren; diesbezüglich führt der brasilianische Gamer Gabriel aus: „Ja, das macht mich stolz. Vor allem weil die Brasilianer überall schlecht angesehen und bewertet werden. Ich bin Patriot. Brasilien ist Brasilien.“ Darüber hinaus halten die Spieler es für besser, in Nationalmannschaften aufgeteilt zu sein, als in länderübergreifende Teams oder Clans. Dies wird u. a. vom 18-jährigen Joaquim dadurch erklärt, dass es so fairer sei und das Niveau höher werde: „Yes, because if you have international teams, you pick the best players in the whole world. It’s unbeatable. I think it’s better in national teams.“ Zudem wird oft die Ähnlichkeit mit den Olympischen Spielen unterstrichen: „Es gibt auf der Welt Spiele, die keine nationalen Spiele sind, wo nicht die Nationen spielen, sondern Teams. Und es ist auch gut so. WCG sollen ein Olympiaspiel bleiben. Das ist die einzige Möglichkeit, dass unsere polnische Mannschaft irgendwo hinfährt und die Chance bekommt, mit der weiß-roten Fahne auf dem Podium zu stehen.“ (Tomas Hajto, Manager des polnischen Teams).
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Abbildung 3
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Eröffnungsveranstaltung der WCG 2008
Diese Dimension der Reterritorialisierung des Spielerlebens im Rahmen des Spielevents wird also durch den Wettbewerb zwischen den Nationen verstärkt. Es wird von den Befragten oft betont, dass die WCG ein Event von besonderer Bedeutung sind, nicht nur wegen der Größe, sondern gerade eben auch wegen der Wettkämpfe zwischen den Nationen. Man muss sich dabei bewusst sein, dass die Anlehnung an die Olympiade nicht nur von den Organisatoren im Vorfeld als Marketingstrategie geplant war, sondern auch von den Spielern als Identitätselement ihrer Computerspielkultur akzeptiert wird. Hier wird eine grundlegende Spannung bzw. Bedeutungsdimension der SpielEvents deutlich, die eines näheren Blickes wert ist. Einerseits haben die WCG als Event aufgrund des deterritorialen Charakters der Computerspielkultur und der kommunikativen Vermittlungsmechanismen gerade von Onlinespielen einen stark translokalen Bezug, der auch wie eingangs skizziert von den Organisatoren und PR-Akteuren (über-)betont wird. Zugleich ndet auf dem Spielevent aber auch ein stete territoriale Identikation statt, die auf symbolischer Ebene durch nationale Referenzpunkte z. B. durch die Verwendung von Hymnen und Flaggen deutlich wird (vgl. Abbildungen 4 und 5).
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Abbildung 4
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Deutsche Mannschaft steht auf, um die deutsche Hymne zu singen
Diese unterschiedlichen, scheinbar konigierenden Artikulationsebenen spiegeln sich in allen Aspekten der WCG wider. Einerseits ist es eine Vielzahl von Gamern aus unterschiedlichen Ländern, die sich untereinander in den Jugendherbergen Kölns anfreunden, andererseits sind es stets auch Nationen, die gegeneinander auftreten. Die Spieler sehen die WCG in diesem Kontext: Sie sind stolz darauf, ihre Land repräsentieren zu dürfen, sehen sich als Pole, Deutscher oder Brasilianer. Von Seiten der Organisatoren und PR-Akteure wird zusätzlich ein weiteres Bild entworfen: Es sind nicht Länder, die gegeneinander auftreten, sondern größere geographischkulturelle Räume, die auch in der Farbgebung des Logos ihre Entsprechung nden. So wurden in der Pressekonferenz die Gewinner des sogenannten paneuropäischen, panasiatischen und panamerikanischen Wettkampfes vorgestellt. Die Organisatoren und Marketing-Spezialisten bemühen sich, mit Hilfe von Slogans wie „crossing barriers“ und „feel and enjoy“ ein Gefühl einer großen, transnationalen Gemeinde zu schaffen, die Erfolge feiert, aber auch Spaß daran hat. So soll der unterhaltende und der verbindende Aspekt von Computerspielen hervorgehoben werden. Positiv fällt aus, dass aus traditionellen Sportarten bekannte Fan-Rivalitäten im Bereich der Computerspielkultur gänzlich unbekannt sind.
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Abbildung 5
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Brasilianisches Counter-Strike-Team vor dem Spiel
Das zugrundeliegende Spannungsverhältnis der WCG wird allerdings in einer Reihe von länderspezischen Klischees bei den nationalen wie internationalen Gästen offensichtlich. Dies sei an einem Beispiel festgemacht. Von einigen Gesprächspartnern, besonders von denen, die von außerhalb Deutschland kamen, wurde die deutsche Organisation stark kritisiert. Viele erwarteten von den Deutschen, dass die WCG perfekt organisiert sei und waren enttäuscht, wenn es zu Fehlern kam. Andererseits wurde den Organisatoren und der Stadt Köln vorgeworfen, keine Rücksicht auf die internationalen Gäste zu nehmen und die Spiele nur in Deutsch zu kommentieren, oder gerade die deutschen Spieler auf der privilegierten Hauptbühne spielen zu lassen. Auch die Atmosphäre auf den WCG wurde oft als „deutsch“ eingestuft. Dies wird allerdings oft mit Unwissenheit erklärt: „Es gibt ganz viele Leute, die sagen ‚ah ich mag keine Deutschen‘ und die nie die Gelegenheit hatten, Deutsche kennenzulernen,“ so der 18-jährige Brasilianer
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Gabriel. Aus den hier angebrachten Beispielen geht hervor, dass es sich nicht um ein stringentes Image der Deutschen handelt, sondern individuelle Vorurteile der Besucher zum Ausdruck kommen. Es sind auch oft die ausländischen Spieler, welche die „deutsche“ Atmosphäre der Wettkämpfe kritisieren. Diese Vorurteile beziehen sich dabei nicht nur auf die Atmosphäre und Organisation, sondern auf das Spielverhalten im Allgemeinen. So wurden vielfach Koreaner als besonders ‚meisterlich‘ im Computerspielen bezeichnet. „In Brasilien sind viele Spieler bei Need for Speed und Carom3D gut. Sie spielen auch Fifa gut, aber verlieren, was die Konzentration angeht. Die Brasilianer sind sehr von dem Umfeld beeinusst, die Europäer sind eher kalt, die Koreaner zeigen nicht, was sie fühlen. Wenn ein Brasilianer einen Spielzug verliert, schüttelt er den Kopf.“ (Pablo Soares, brasilianischer Gamer).
Korea dient dabei erwartungsgemäß oft als ein Musterbeispiel, wie sich die Spieler und Experten die zukünftige Entwicklung von Computerspielen als professionelle Tätigkeit in ihren eigenen Ländern vorstellen. Es wird aber auch eine entgegengesetzte Tendenz, die des alltäglichen Kulturaustausches, bei den WCG erkennbar. Da sich bei den WCG verschiedenen Nationen in einem Land treffen, können die Spieler, die sich meistens nur durch das Internet kennen, sich Face-to-Face kennenlernen und etwas über die Persönlichkeit und die Kultur der anderen Spielern erfahren. Dies wurde von vielen Spielern als der wichtigste Aspekt der WCG überhaupt angegeben. Idealtypisch kann das an der Aussage des deutschen Studenten Branbuna verdeutlicht werden: „Also ich nde es echt einen Mix an Kultur. Das nde ich echt sagenhaft. Hier trifft sich alles. Korea, Japan, China, Holländer, Russen, alles mögliche. Ich nde es echt super, wie sich hier auch alle Leute verstehen.“ Neu geschlossene Freundschaften und Bekanntschaften werden dann wiederum über das Internet weiter fortgesetzt.
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Fazit
Die Fallstudie zeigt auf, dass die Computerspielkultur im Rahmen des Spiel-Events WCG zugleich einen de- wie auch einen re-territorialisierenden Charakter besitzt – was schon im Selbstverständnis der Veranstalter ostentativ angelegt ist. Allerdings entspricht die Realität der Spielevents WCG einer etwas anderen als der von den Organisatoren und PR-Akteuren intendierten. Während die WCG vor Ort quasi als ein gigantisches LAN stattnden, werden die ofziellen Wettbewerbsspiele der WCG wie z. B. Command & Conquer 3 oder Counter-Strike von Abertausenden Jugendlichen weltweit täglich in ihrer Freizeit gespielt. Die Erfahrung des individuellen Spiels in einem lokalen und alltäglichen Kontext ist strukturell somit an
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ein transnationales und dabei höchst kommerzialisiertes Spielsystem gebunden. Das Ausmaß an Popularität einzelner Spieler ist gleichzeitig ein immenser Pool sowohl an potentiellen Teilnehmern als auch an Publikum. Die weltweit tätige südkoreanische Agentur ICM hat diese Anziehungskraft geschickt marktgerecht kapitalisiert, so dass mittlerweile ein harter Wettbewerb um die Ausrichtung der jährlich stattndenden und für einige Beteiligten ziemlich lukrativen Turniere entstanden ist. Das Ansehen der WCG als authentischer Ort von Computerspielkultur hat bei den von uns befragten Spielern und Besuchern allerdings kaum an der zunehmenden Ökonomisierung gelitten. Im Gegenteil: Für viele Gamer ist dieser Prozess ein Zeichen für die gesellschaftliche Anerkennung und Etablierung von Computerspielen. Die Unterhaltungsindustrie, die hinter dem Spielevent und hinter den einzelnen Wettbewerbsspielen steht, scheint so in der alltäglichen Praxis des Spielens domestiziert zu sein. Dazu kommt, dass das höchst erfolgreiche öffentliche Branding des Computerspielens als E-Sport wenig Platz für andere Formen von Computerspielkultur(en) und deren Bedeutung für den Alltag der Spieler lässt, sei es auf den WCG oder auch zu diesem Zeitpunkt im öffentlichen Diskurs. Mit Hilfe der zunehmenden Kommerzialisierung und Professionalisierung von Computerspielkultur hat bereits auch eine Veränderung auf der strukturellen Ebene der Produktion des Spielevents stattgefunden. Es wird immer weniger wichtig, in welchen Land die WCG stattnden: Die Hauptsponsoren sind global vertreten, die grundlegenden Strukturen gegeben und das Event soll so ähnlich wie möglich, unabhängig davon in welchen Land es stattndet, aussehen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass allein ein v. a. ökonomisch begründetes Bemühen seitens der Organisation zu erkennen ist, die WCG als Event einer eigenen, transnationalen Spielkultur zu präsentieren, denn seitens der Gamer wird das Spielevent auf der Ebene der Aneignung noch durchaus stark in nationalen Bezügen empfunden. Die eher oberächliche Orientierung an der Symbolik der Olympischen Spiele bzw. dass die olympischen Werte auf den WCG nicht immer den gleichen Stellenwert wie in der Realität haben, zeigte sich plastisch in der Situation, als die digitale Fackel aufgrund eines Programmfehlers ‚erlosch‘ und auf der Anzeigetafel nur noch ein Quellcode zu sehen war, was aber seitens der Organisatoren, Spieler oder Publikums keine weiteren Reaktionen hervorrief.
Literatur Badische Zeitung (2008): Gold gezockt – E-Sport: Pascal Pfefferle (20) aus Ehrenkirchen hat bei den WCG in Köln den WM-Titel geholt. Fudder war dabei. 12.11.2008, S. 15. Becker, Barbara (2004): Zwischen Allmacht und Ohnmacht. Spielräume des ‚Ich‘ im Cyberspace. In: Thiedeke, U. (Hrsg.): Soziologie des Cyberspace. Wiesbaden: VS, S. 170–192.
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Wimmer/Klatt/Mecking/Nikol/Pegorim/Schattke/Trümper
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Paintball: Sport oder Kriegsspiel? – Räuber und Gendarm als Event für Erwachsene Philipp Lorig und Waldemar Vogelgesang
1
Bunte Ballermänner in der Abschusslinie
In der Zeitschrift DER SPIEGEL war in der Ausgabe 20/2000 unter der Überschrift „Kriegsspiele – Aus für Gotcha-Kämpfe“ folgendes zu lesen: „Nordrhein-Westfalens Innenminister Fritz Behrens (SPD) will schärfer gegen so genannte Paintball- und Gotcha-Spiele vorgehen. Die Geländespiele, bei denen Mannschaften aus Druckluftwaffen mit Farbe gefüllte Gelatine- oder Plastikkugeln aufeinander abfeuern, simulierten die ,Tötung von real existierenden Menschen‘, heißt es in einem Schreiben des Innenministeriums an die Bezirksregierungen in Nordrhein-Westfalen. Weil dabei teilweise gegen Waffengesetz und öffentliche Ordnung verstoßen werde, sollen die örtlichen Behörden die Spiele untersagen. Die Polizei wird angewiesen, Spieler und Veranstalter strafrechtlich zu verfolgen.“
Bereits zuvor, im Jahr 1998, hatte sich der bayerische Innenminister Beckstein für ein Paintballverbot ausgesprochen. Der neuerliche Vorstoß seines nordrheinwestfälischen Amtskollegens zeigte bereits erste Konsequenzen: In dem kleinen Städtchen Hemer wurde der Betrieb einer Paintballhalle untersagt. Der Widerspruch des Hallenbetreibers zog als Fall bis vor das Oberverwaltungsgericht in Münster, der Prozess wurde jedoch verloren. Noch weitere öffentliche Verbotsforderungen und -androhungen könnten an dieser Stelle zitiert werden, ihr Tenor ist immer der gleiche: Paintball wird als paramilitärisches Kriegsspiel angesehen, die Spieler als verschrobene Sonderlinge und Waffennarren. Gegen diese diskriminierende Sichtweise setzen sich die Paintballer aber entschieden zur Wehr, um die Vorwürfe gegen ihren Sport zu entkräften. In einem ersten Schritt gründeten sie 1998 den Deutschen Paintballverband (DPV), in dem sich die Szenenaktivisten zu einer Interessengemeinschaft zusammenschlossen, deren Ziel es u. a. ist, Aufklärungsarbeit zu leisten und Paintball ein positives Image als neuer Trend- und Funsportart zu geben. Wie schwierig es aber ist, „die Betonmauer von Unwissenheit und Vorurteilen, die gegenüber Paintballern besteht,
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Philipp Lorig und Waldemar Vogelgesang
einzureißen“, hat uns der erste Vorsitzende des Verbandes, Dennis König, in einem Gespräch dargelegt. Und er ergänzt: „Das allgemeine Verbot von Paintball, wie es in dem Spiegel-Artikel ausgesprochen wird, ist so nicht richtig. Lediglich das öffentliche Spielen wurde in NRW verboten. Das bedeutet im Klartext, dass Spielfelder von Vereinen weiterhin geöffnet sind, allerdings müssen die Teilnehmer auf dem Spielfeld über eine Vereinsmitgliedschaft verfügen. Das Spielen auf Vereinsspielfeldern ist also weiterhin gestattet. Genauso wie das Eröffnen eines Vereinsspielfeldes unter der Beachtung der geltenden Gesetze.“
Zwischenzeitlich wurde im Freistaat Bayern durch ein neutrales Gutachten1 bei Gericht die Aussage erwirkt, dass es sich bei Paintball nicht um ein menschenverachtendes Spiel handelt, wie dies zuvor von Kritikern behauptet wurde. Im Gegenteil, das Spiel wurde per Gerichtsbeschluss für legal erklärt, allerdings mit einer strengen Alters- und Sicherheitsregelung. Einen weiteren Erfolg im Kampf um Anerkennung und gesellschaftliche Aufwertung können die Paintballenthusiasten verzeichnen: Ihre Sportart wurde in den saarländischen Betriebssportverband aufgenommen. Insgesamt aber ist die öffentliche Haltung nach wie vor durch Skepsis, Angst und Ablehnung geprägt – und dies, obwohl nach Auskunft des Verbandes gegenwärtig in Deutschland etwa fünfzigtausend Paintballer aktiv diesen Sport betreiben. Auch weltweit verzeichnet das Spiel große Zuwachsraten. Die folgende ethnograsche Beschreibung der Paintballer versucht, ein möglichst realitätsnahes Bild ihrer Aktivitäten sowie Organisations- und Veranstaltungsformen zu zeichnen und dabei auch zu ergründen, worin die besondere Faszination dieses neuen Funsports liegt.
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Paintball: Funsport in der Erlebnisgesellschaft
Sport ganz allgemein, wie wir ihn heute kennen, ist das Produkt eines langen Entwicklungsprozesses und war keinesfalls immer eine Selbstverständlichkeit. Eingeführt im England des 18. Jahrhunderts in den Eliteschulen des Adels und Großbürgertums zur körperlichen Übung (vgl. Bourdieu 1985: 577 ff.) und selbst nach dem Zweiten Weltkrieg noch fast ausschließlich als wettkampforientiertes Angebot für junge Männer gedacht, erfuhr Sport erst in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts eine Ausweitung auf breite Bevölkerungsschichten. Durch die individuelle Anpassung des Sportangebots an die Interessenlagen der unterschiedlichsten Sporttreibenden und seine Abkehr von institutionalisierten Strukturen erhält der Sport auch – oder gerade – im Zeitalter der Individualisie1
Die vollständige Urteilsbegründung ist unter dem Aktenzeichen RO11K97.02270 (16.6.1998) einzusehen.
Paintball: Sport oder Kriegsspiel?
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rung seine ganz besondere Relevanz als eine der primären Freizeitbeschäftigungen und körperbezogenen Ausdrucksformen. Konnte man noch in den 1950er Jahren von einer im allgemeinen körperfeindlichen Einstellung sprechen, so wird der Körper heute mehr und mehr zu einem individuellen Projekt und erweist sich als konstituierendes Element der Patchwork-Identität (vgl. Haubl 1995: 21 ff.). Sport treiben wird zur inszenierten Suche nach der eigenen Identität und somit auch zu einer Suche nach immer neuen Möglichkeiten, sich und seinen Körper zu erleben. Das Auftauchen der verschiedensten und zunehmend exotischeren Sportarten auf den Erlebnismärkten ist Ausdruck dieses Wertewandels. Neben dem ursprünglich vorherrschenden Motiv der körperlichen Auseinandersetzung und Selbstbestätigung mit anderen im Wettkampf, sind heute immer mehr Sporttreibende nicht mehr allein an Leistung interessiert, sondern auch an Gesundheit, Fitness, Geselligkeit und vor allem Spaß (vgl. Cachay/Thiel 2000: 116 ff.). So erlebten in den letzten Jahren gerade die so genannten Funsportarten wie bspw. Free-Climbing, Skaten, Bungee-Jumping, Beach-Volleyball, Streetball und eben auch Gotcha2 bzw. Paintball einen enormen Aufschwung. Es handelt sich dabei um Sportarten, die alle zunächst kaum institutionalisiert sind, sondern als selbstorganisierte und erlebnisorientierte Freizeitbeschäftigungen zu Kristallisationspunkten eigener Gruppen und Szenen werden.
2.1
Was ist Paintball?
Paintball gehört vom Typus zu den Sportspielen, wie bspw. auch der Fußball. Jedes Sportspiel basiert auf einem Regelwerk und sieht Sanktionen für Regelverstöße vor. Die Spielpartner – bei Paintball die zwei gegnerischen Mannschaften – agieren in einem örtlich und zeitlich festgelegten Rahmen auf einem Spielfeld, und das Spielresultat – nämlich Sieg oder Niederlage – wird zum Gradmesser für die Spielleistung. Ziel des Spiels ist es, die Fahne der gegnerischen Mannschaft zu erobern und die eigene zu schützen. Die Spieler schießen dabei mit so genannten Markierern bunte Farbkugeln auf die Mitglieder der gegnerischen Mannschaft ab, welche beim Aufprall platzen und einen Farbeck hinterlassen, wodurch der Getroffene als ‚markiert‘ gilt und das Spielfeld für den Rest des Spiels verlassen muss. Das wichtigste Equipment beim Paintball ist der Markierer3, ein schusswaffenähnlich aufgebautes Gerät, das durch ein Druckmittel, meist CO2 oder gepresste Luft, die Kugeln auf eine Geschwindigkeit von über 200 km/h beschleunigt. Die 2 Der Name Gotcha leitet sich vom englischen Ausdruck „I’ve got you“ bzw. der umgangssprachlich verkürzten Form „got ya“ ab. 3 Der Markierer fällt im Waffengesetz unter die Kategorie Schreckschusspistole, und seine Verwendung ist erst ab 18 Jahren und auf „befriedetem Besitztum“ gestattet (1. WaffV §2 bzw. WaffG §34 Abs.1).
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Philipp Lorig und Waldemar Vogelgesang
Höchstreichweite liegt bei etwa 200 Metern, gespielt wird allerdings in einem Abstand von 10 und 30 Meter. Ein Markierer für den Einsteiger kostet etwa 100 EURO, ein mikrochipgesteuertes High-End-Produkt hingegen allein in der Grundausstattung über 1.500 EURO und samt dem zusätzlich zu erwerbenden Luftsystem mehr als 2.000 EURO. Als Munition für die Markierer dienen Farbkugeln, die dem Funsport Paintball ihren Namen verliehen haben. Bei ihnen handelt es sich um runde Gelatinekugeln, die mit Kartoffelstärke, Lebensmittelfarbe und Wasser gefüllt sind und einen Durchmesser von ca. 1,7 cm (Kaliber 68) aufweisen. Der Inhalt der Kugel ist gesundheitlich unbedenklich, leicht zu entfernen und ökologisch abbaubar, ein besonders wichtiges Kriterium, da immer noch recht viele Spielfelder in Fluren und Wäldern liegen. Ein weiterer notwendiger Ausrüstungsgegenstand ist die Gesichtsmaske. Sie schützt das Gesicht – und im Besonderen die Augen – vor dem direkten Auftreffen der Kugeln. Bei allen Modellen sitzt ein Plexiglas direkt vor den Augen, während rundherum zum Schutze des restlichen Gesichts und der Ohren Plastik- oder Neoprenteile angebracht sind. Nach den internationalen Regelwerken hat eine Maske das komplette Gesicht sowie die Ohren zu schützen. Ist dies nicht der Fall, kann ein Spielausschluss erfolgen. Ski- oder Arbeitsbrillen sind nicht zum Paintballspielen geeignet, da sie entweder nicht den gewünschten Kopfbereich abdecken oder ganz einfach nicht dem Aufpralldruck eines Paintballs standhalten würden. Bezüglich der Kleidung der Paintballer beherrschen Funktionalität und/oder individueller Geschmack das Bild. So tragen Anfänger, die im Szenenjargon ‚Rookies‘ genannt werden, häug robuste und bequeme Straßenkleidung, Teamspieler dagegen verfügen über professionelle Mannschaftsuniformen oder spezielle modische Paintball-Designs. Allerdings gilt auf einigen Spielfeldern die ,No Camo‘-Devise4, das bedeutet, dass soldatische Tarnbekleidung nicht erwünscht ist, um die Distanz des Paintballspiels zu Militärübungen möglichst groß zu halten. Richtig ausgerüstet und mit der ausreichenden Menge Kugeln versorgt, muss nun noch ein geeignetes Spielfeld gefunden werden. Allerdings ist das ,freie‘ Spielen im nächstgelegenen Wald illegal. Es gibt von gesetzlicher Seite strenge Auagen, die ein Paintballfeld erfüllen muss. Fast alle diese Auagen dienen dem Schutz Dritter, also außenstehender und unbeteiligter Personen. Diese Regelungen gelten auch auf Privatgrundstücken. So muss ein Spielfeld durch ein rundherum angebrachtes Auffangnetz gesichert sein, wenn kein natürlicher oder anderer Schutz vorhanden ist, wie etwa eine Mauer. Dieses Netz verhindert das unkontrollierte Austreten der abgeschossenen Kugeln aus dem Spielbereich. Weiterhin dienen sie als Abgrenzung des jeweiligen Spielfeldes. Der Zugang zu den Spielfeldern muss ebenfalls abgesichert sein, im Minimalfall durch Warnschilder, welche auf die von 4
No Camo = No Camouage.
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Paintball ausgehende Verletzungsgefahr hinweisen. Abhängig von den örtlichen Behörden kann es jedoch auch zur Picht gemacht werden, den kompletten Spielfeldbereich durch einen unpassierbaren Zaun zu umschließen, was einen hohen nanziellen Aufwand erfordert.
Abbildung 1
Paintballer in Deckung
Oft nden Paintballspiele in Wäldern statt, wobei ein Waldbereich durch ein Netz umrandet wird. So können Bäume aber auch zusätzlich aufgestellte Barrikaden wie Bretter, Holzverschläge, Plastiktonnen und Reifenstapel als Deckung für die Spieler dienen, um sich vor den gegnerischen Kugeln zu schützen. Spielfelder auf Wiesen, welche keine natürlichen Deckungen wie Bäume aufweisen, gewährleisten indessen eine größere Chancengleichheit bei den beiden gegeneinander antretenden Mannschaften, da hier die Deckungen (meist Plastikrohre oder aufblasbare Ballons) auf den beiden Spielfeldhälften spiegelbildlich angeordnet werden, so dass die Teams die gleichen Voraussetzungen vor nden. Die Größe solcher ,Sup-Airfelder‘ richtet sich in der Regel nach dem Teamformat, d. h. wie viele Spieler pro Team
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Philipp Lorig und Waldemar Vogelgesang
starten dürfen. Die Anzahl der Spieler sollte auf beiden Teamseiten gleich sein. Die gängigsten Formate sind Spielstärken von fünf, sieben und zehn. Aber auch im One-against-one- und Two-against-two-Modus wird gespielt. In Deutschland vorherrschend ist jedoch zumeist die Fünf-Personen-Variante. Spiele mit einer sehr großen Anzahl an Spielern werden als ,Big Games‘ bezeichnet. Bei solchen Veranstaltungen können mehrere hundert Spieler auf einmal in einem Spiel aktiv sein. Entsprechend groß und vielfältig sind dann auch die Spielfelder gestaltet. Neben der Spieleranzahl ist auch der Spielverlauf variabel gestaltbar. Die einfachste Variante ist die ,Elimination‘. Hier hat das Team gewonnen, das zuerst alle gegnerischen Spieler markiert und somit aus dem Spiel entfernt hat. Die gängigste Form hingegen wird mit Hilfe einer Fahne gespielt. Beim ,Capture the ag‘ besitzen beide Teams jeweils eine eigene Fahne, die sich am Startpunkt bendet. Ziel ist es, sich unter Zuhilfenahme der Markierer einen Weg zur gegnerischen Fahne zu bahnen, diese zu reißen und anschließend in die eigene Startbase, d. h. den Ausgangspunkt des Teams, zurückzubringen. Ist die gegnerische Fahne erobert und in die eigene Base gebracht, ist das Spiel zu Ende, auch wenn sich noch gegnerische Spieler im Spiel be nden. Ähnlich ist das Prinzip des Spiels ,Centerag‘. Hier bendet sich jedoch nur eine Fahne auf dem Spielfeld und zwar genau in der Mitte zwischen den beiden Startpunkten. Ziel ist es auch hier, die Fahne zu erreichen und an sich zu bringen. Jedoch muss die Fahne in die gegnerische Base gebracht werden. Meistens werden diese Spielvarianten unter Zeitlimits gespielt, d. h. ein Spiel kann auch unentschieden enden. Im Turnierpaintball sind Zeiteinschränkungen fester Bestandteil des Spiels, ebenso wie eine Punkteverteilung für einzelne Aktionen, wie z. B. das Markieren gegnerischer Spieler, das Reißen der gegnerischen Fahne, ihr Wiederaufhängen innerhalb der vorgegebenen Zeit am vorgesehenen Ort. Die Punktezahl kann jedoch auch negativ beeinusst werden. Dies geschieht zum Beispiel durch Strafpunkte, die ein Team während eines Spiels erhält. Strafpunkte werden etwa dann abgezogen, wenn Markierer benutzt werden, die das für das Spiel vorgesehene Geschwindigkeitslimit überschreiten. Ein inzwischen genormtes Punktesystem wird bei den meisten deutschen und auch internationalen Turnieren, die im FünfPersonen-Modus statt nden, angewandt, sowie bei den Ligaspielen und den Turnieren zur Deutschen Meisterschaft. Weitere Strafen sind bei Sicherheitsverstößen und bei unfairem Verhalten möglich. Bemerkt ein Schiedsrichter – im Paintball ,Marshall‘ genannt – zum Beispiel, wie ein markierter Spieler versucht, den Treffer zu entfernen (,Wischen‘) oder trotz eines Treffers weiterzuspielen (,Playing on‘), muss je nach Grad der Unsportlichkeit ein weiterer oder auch mehrere Mannschaftsmitglieder des betreffenden Spielers das Spielfeld verlassen. Es sind also die Marshalls, die einen reibungslosen Spielablauf garantieren. Sie nehmen die Zeit, starten und beenden
Paintball: Sport oder Kriegsspiel?
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das Spiel. Darüber hinaus haben sie dafür zu sorgen, dass regelgerecht gespielt wird. Ihr Urteil entspricht – wie beim Fußballspiel – einer Tatsachenentscheidung und eine von ihnen ausgesprochene Sanktion kann nicht mehr widerrufen werden. Bei den Turnieren wird meistens auf ein umfangreiches – entweder selbst erstelltes oder anderes national oder international gültiges – Regelwerk zurückgegriffen. Standard sind hier zumeist das deutsche Liga-Regelwerk oder das US-amerikanische Regelwerk der National Professional Paintball League (NPPL).
2.2
Geschichte des Paintball
Heute ist Paintball eine Freizeitaktivität, der mehrere hunderttausend, meist männliche Spieler unterschiedlichster Herkunft und beruicher Betätigung über die ganze Welt verteilt nachgehen. Die Paintballindustrie macht bereits seit einiger Zeit Umsätze von jährlich mehr als einer Milliarde Dollar, dabei gibt es diesen Funsporttyp erst seit etwas länger als 20 Jahren. Wie ng Paintball eigentlich an? In den USA wurden im Forst- und Farmbereich Farbmarkierer genutzt, um vom Fahrzeug aus die auf einem oft großächigen Gelände verteilten Bäume oder Vieh zu markieren, die gefällt bzw. das geschlachtet werden sollten (vgl. Action Pursuit Games 1999a: 37 ff.). Die dabei verwendeten Markierer wurden in den frühen 1980er Jahren schließlich zweckentfremdet, denn drei Freunde – Bob Gurnsey, ein Sportartikelverkäufer, Hayes Noel, ein Börsenmakler und Charles Gaines, ein Schriftsteller aus New Hampshire – erkannten, dass sich diese Geräte auch zu einem Spiel untereinander eignen und erfanden gleichsam eine neue Funsportart: Paintball. Im Juni 1981 organisierten sie das erste Spiel mit noch provisorischem Charakter: Zwölf Spieler hatten sich eingefunden um im ,Capture the ag‘-Modus gegeneinander anzutreten. Der Gewinner eroberte damals alle Fahnen ohne auch nur einen Schuss abzugeben. Nicht ganz ein Jahr später wurde bereits das erste Feld für Paintballspiele in Rochester (New York) eröffnet und im Laufe des gleichen Jahres auch das erste Unternehmen – Pursuit Marketing Inc. (PMI) – gegründet, das ausschließlich Paintballartikel vertrieb (vgl. Action Pursuit Games 1999b: 21 ff.). Im Jahre 1983 kam es zur ersten Paintballmeisterschaft, bei der damals bereits ein Preisgeld von 14.000 Dollar lockte. Ebenfalls 1983 wurde das erste Feld außerhalb der USA in Betrieb genommen und zwar in Toronto, Kanada. Ein Jahr später etablierte sich Paintball in Australien unter dem Namen Skirmish Games und 1985 gelangte das Spiel schließlich nach England. In den USA kam es inzwischen zu einer starken Verbreitung des Paintballs und im Jahr 1988 schließlich zur Gründung einer internationalen Paintball-Vereinigung, der International Paintballplayers Association (IPPA). Ihr Ziel ist es, als nicht kommerzielle Einrichtung die
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Philipp Lorig und Waldemar Vogelgesang
Weiterentwicklung und das Wachstum des Paintballsports voranzutreiben und sich um die Sicherheit im Paintball zu bemühen. In den späten 1980er und Anfang der 1990er Jahre erreichte Paintball schließlich auch einen gewissen Bekanntheitsgrad in Frankreich, Dänemark, Deutschland und in anderen Ländern Europas. Bereits 1988 – und damit recht früh im europäischen Vergleich – wurden die ersten Paintballspieler in Deutschland aktiv. Initiiert von US-amerikanischen Soldaten, die hier stationiert waren, erfolgten im Jahr 1989 die ersten Vereinsgründungen. Nichtsdestotrotz verlief hierzulande die Entwicklung von Paintball bedeutend schleppender als in den USA. Um 1993 existierten höchstens 30 Teams, zudem wurden die wenigen Turniere dieser Zeit zumeist von Paintball-begeisterten US-Soldaten organisiert und fanden entsprechend auch auf amerikanischem Militärgelände statt. Doch ab 1993 wurde Paintball auch in Deutschland zunehmend populärer. In der Folge gründeten sich immer mehr Vereine und Teams, ebenso nahm die Anzahl von Turnieren stetig zu. Im Jahr 1995 fanden erstmalig Ligaspiele statt, unterteilt in die Klassen ,Pro‘ und ,Amateur‘. Sie wurden zum Grundstein für die heute bestehenden vier regionalen Ligen – die Süd-, West-, Nord- und Ostliga – und die mittlerweile im Jahresturnus stattndenden Deutschen Meisterschaften, wo die besten Teams aus den einzelnen Ligen aufeinandertreffen. Um die Attraktivität der Wettkämpfe zu erhöhen, können auch Teams aus dem benachbarten Ausland in den Ligen mitspielen. So nehmen z. B. in der Südliga seit ihrer Gründung die österreichischen ,Daltons‘ teil. Ein anderes ausländisches Team sind die Schweizer ,Concilium Dei‘, die in den Jahren 2000 und 2001 sogar Deutscher Meister wurden. Mit der wachsenden Anzahl an Paintballturnieren, Paintballfeldern und Teamgründungen weitete sich auch der Paintball-Handel in Deutschland aus. Immer mehr Paintball-Shops und Versandrmen wurden gegründet. Insgesamt gibt es heute ca. 80 Geschäfte, die Paintballartikel vertreiben (vgl. Facefull 2001: 168 ff.). Ihre Hauptabnehmer sind die etwa 180 bis 200 Teams, deren Zahl weiter wächst und denen ein immer größeres Angebot an Spielmöglichkeiten zur Verfügung steht. Denn Turniere nden über das ganze Jahr nahezu an jedem Wochenende statt. Auch so genannte ‚Major-Tournaments‘ mit internationaler Beteiligung und hohen Preisgeldern sind keine Seltenheit mehr. Allerdings ist die Anzahl von Paintballfeldern mit derzeit etwa 50 im Vergleich zu England und Frankreich in Deutschland noch relativ klein. Ein Turnierveranstalter nennt die Gründe: „Die hohen Sicherheitsauagen und das super bürokratische Genehmigungsverfahren sind wie Daumenschrauben. Nur wer einen langen Atem hat und die nötigen Mittel, hat bei uns überhaupt eine Chance, ein Paintball-Event auszurichten“ (Sigi).
Paintball: Sport oder Kriegsspiel? 2.3
247
Paintball: Ein paramilitärisches Training?
Die paramilitärische Note des Spiels mit seiner quasi kriegerischen Handlungsstruktur lässt Paintball immer wieder ins Kreuzfeuer der Kritik geraten, die sich besonders an Schlagworten wie ‚Kriegsverherrlichung‘, ,Rechtsradikalismus‘ und ‚das Schießen auf einen Menschen‘ entzündet. Die großen Vorbehalte seitens Medien, Polizei und Vertretern öffentlicher Einrichtungen werden dabei besonders geschürt durch die immer wieder auftauchenden Hinweise auf (rechts-)extreme Paintballgruppen. So werden etwa in den USA vereinzelt Kriegsschauplätze aus dem Zweiten Weltkrieg nachgestellt, wobei die Spieler zum Teil in original SS-Uniformen gegeneinander kämpfen. Die Mehrheit der deutschen wie auch der internationalen Paintball-Szene distanziert sich jedoch vehement von dieser radikalen Spielvariante. Trotzdem bringen solche Veranstaltungen die Paintballer unter einen hohen Rechtfertigungsdruck und erschweren ihre Versuche, Paintball einerseits vom Vorwurf der Gewaltverherrlichung zu befreien und andererseits zu einer anerkannten und etablierten Sportart werden zu lassen.
Abbildung 2
Spielgeschehen auf einem Sup-Airfeld
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Philipp Lorig und Waldemar Vogelgesang
Um das Image „vom positiven Funsport Paintball“ (Sigi) in die Öffentlichkeit zu tragen, wird neben einer strikten Ablehnung von kriegsverherrlichenden Bezügen in vielen Vereinssatzungen auch explizit ein Aufnahmeverbot für Personen mit rassistischer oder rechtsextremer politischer Gesinnung festgelegt (vgl. Steinmetz 2000a: 373). Auch bei spielbezogenen Namen und Bezeichnungen wird Wert auf die Vermeidung von Ausdrücken gelegt, die eine Konnotation zu Schusswaffen bzw. Tötung aufweisen. So werden etwa die Begriffe ‚Waffe‘ und ‚erschießen‘ durch ‚Markierer‘ und ‚markieren‘ ersetzt. Auch die Paintballindustrie sorgt mit einem farbenfrohen Design mehr und mehr dafür, dass die Markierer die Afnitäten zu Schusswaffen verlieren. Doch nicht nur das wichtigste Sportutensil wird so einem unmilitärischen Bild angepasst, sondern auch die Spieler selbst. So war die deutsche Paintballgemeinschaft Vorreiter der ‚No-Camo‘-Bewegung, die sich inzwischen auch auf internationalen Turnieren durchgesetzt hat und sich in einem breiten Angebot an Spezialkleidung für den Paintballsport niederschlägt, bei der jede Ähnlichkeit zu Militäruniformen ausdrücklich vermieden wird. Zudem erinnern auch die Spielfelder durch die zunehmend verwendeten Sup-Airfelder mit ihrem farbenfrohen Hüpfburgdesign viel eher an einen bunten Spielparcours für Kinder als an ein militärisches Gelände. Eine weitere Strategie zur Etablierung und Normalisierung des Paintballspiels ist seine zunehmende Versportlichung. Ein wichtiger Schritt ist dabei die institutionelle Konsolidierung in Form von Vereinen. Was zunächst nur als individueller Spaß in lockerer Gemeinschaft begann, wird mehr und mehr an professionellen Normen und leistungsorientierten Strukturen ausgerichtet. Der Deutsche Paintball Verband e. V., ursprünglich „aus der Notlage des 1998 seitens der Politik angedachten Paintballverbots in Bayern heraus gegründet“ (Dennis König), ist zwischenzeitlich zu einem Ordnungsorgan für die professionelle Abwicklung des Spielbetriebs geworden. Aber nicht nur die Paintball-Szene wurde stärker institutionalisiert und reglementiert, sondern auch das Spiel selbst: „Gotcha hat sich zu Paintball entwickelt, d. h. raus aus dem Wald und rauf auf die Konzept-Felder“ (Dennis König). Denn die künstlichen Spielfelder weisen – anolog zum Fußballoder Handballfeld – eine symmetrische Struktur auf und sind zudem von außen gut einsehbar, was eine faire Wertung durch die Schiedsrichter ermöglicht und damit für absolute Chancengleichheit der Mannschaften sorgt. Hinzu kommt die Einführung eines verbindlichen Regelkanons. Denn vor allem die Entstehung der professionellen Ligen verlangte die Angleichung der unterschiedlichen Spielregeln, um einen exakten Vergleich der einzelnen Spielleistungen zu garantieren. Großer Wert wird von den organisierten Paintball-Fans auch auf Sicherheit gelegt. Dazu gehört das Überprüfen der Schusskraft der Markierer vor den Spielen, welche höchstens 7,5 Joule bzw. 240 km/h Austrittsgeschwindigkeit betragen darf. Aber auch auf den richtigen Schutz der Augen – die beim Paintball gefährdetsten
Paintball: Sport oder Kriegsspiel?
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Körperteile – wird geachtet, und die Bauart einer entsprechenden Schutzbrille ist auch im Regelwerk der NPPL detailliert festgehalten. Aber auch der Schutz der Zuschauer muss gewährleistet sein. Aufwändige Sicherheitsvorkehrungen verhindern einen unkontrollierten Austritt von Paintballkugeln aus dem Spielfeld. „Die verirrte Kugel“, so umschreibt ein Spieler den Sicherheitsstandard der professionellen Wettkampffelder, „sowas ist bei Spielen in freier Natur immer möglich, nicht aber auf den geschützten Konzept-Feldern“ (Dominik). Es sind aber gerade diejenigen Spieler, die unerlaubt auf öffentlich zugänglichem Gelände spielen, die für Gefährdungen sorgen und damit entscheidend zum schlechten Ruf des Paintball-Sports beigetragen haben: „Es gibt immer noch Spieler, die illegal im Wald rumschießen, teils aus Absicht, teils aus Unwissenheit. Das Bild, das dadurch auf die Paintballergemeinschaft insgesamt fällt, wenn man eine solche illegale Gruppe entdeckt, ist sehr schlecht und wirkt sich negativ auf unseren gesamten Sport aus“ (Dennis König). Alles in allem blicken die Paintball-Fans zuversichtlich in ihre sportliche Zukunft und hoffen, dass sie einerseits durch verstärkte Öffentlichkeitsarbeit und andererseits durch eine Professionalisierung und Normierung ihrem Spiel zunehmend Normalitätscharakter verleihen können, verbunden mit einer breiten Akzeptanz in Medien, Politik und Öffentlichkeit. So wäre es für den Vorsitzenden des Deutschen Paintballerverbandes „das Größte, wenn Paintball so akzeptiert wäre, wie Boxen und Fechten dies sind.“ Und er fügt hinzu: „Man muss den Leuten nur vor Augen führen, dass dieser Sport von Ärzten, Designern, Musikern, Studenten, Soldaten, Zivildienstleistenden und vielen mehr betrieben wird. Das ist eben ein Sport für jedermann“ (Dennis König).
2.4
Faszinosum Paintball
„Paintball gibt mir den Ausgleich zu meinem normalen Arbeitsleben. Hier bekomme ich eine gehörige Portion Adrenalin, treibe Sport, verbessere regelmäßig mein Können und bin mit meinen Kumpels zusammen“ (Dominik) – dies sagt ein passionierter Paintballspieler und beschreibt damit die Hauptmotive des ‚Faszinosums Paintball‘, auf die in den Interviews auch seine Sportkollegen immer wieder verwiesen haben: Nervenkitzel, Selbstbestätigung und Teamgeist. Ähnlich wie bei vielen Extremsportarten (bspw. Free-Climbing, Bungee-Jumping, Surfen) bietet auch der Abenteuersport Paintball eine Art Kick-Erlebnis. Zum einen gerät der Spieler durch die spannungsreiche Situation in ein regelrechtes Wechselbad der Gefühle – Sven, ein 27-jähriger Paintball-Fan, spricht von „extremen emotionalen Ups and Downs“ –, die ihn völlig in die Spielhandlung einbeziehen. Wie bei einem „Flow-Erlebnis“ entsteht ein starkes Gefühl der Unmittelbarkeit und
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Authentizität, das ihn völlig aus alltäglichem Denken heraustreten lässt und in ihm ein intensives emotionales und physisches Selbsterleben im Hier und Jetzt auslöst (vgl. Allmer 1995: 85). Zum anderen – und hierin liegt der entscheidende Unterschied zu Extremsportarten – besteht zwar für den Paintball-Spieler keine unmittelbare Gefahr für Leib und Leben, dennoch führt auch das gefahrlose Spiel mit der gespielten Gefahr ein Angsterleben herbei, das ihm einen „starken Adrenalinpusch“ (Sven) verschafft. Paintball erzeugt – wie Sport ganz allgemein – einen von den Zwängen und formellen Normen des Alltags abgeschirmten Erlebnisraum, der dem Spieler die Möglichkeit gibt, das eigene Verhalten selbst zu bestimmen und unmittelbar erregende Gefühle zu erleben. Emotionen können ohne Rücksichtnahme auf andere Erwägungen öffentlich und doch weitestgehend gesellschaftlich toleriert ausgelebt werden. So besteht gerade der Reiz sportlicher Auseinandersetzung im Rahmen einer ganz eigenen Ästhetik des körperlichen Kampfes immer auch darin, „dass das im Alltag geltende Pazismus-Gebot zivilisiert aufgehoben wird“ (Bette/Schimank 2000: 312). In vielen Sportarten – und Paintball macht hier keine Ausnahme – können die im alltäglichen Miteinander verpönten und unterdrückten archaischen Dispositionen umgewandelt und in einer Form von ‚positiver Aggressivität‘ kontrolliert ausgelebt werden. Doch stellt der Sport insgesamt keine wirkliche Gegenwelt zum alltäglichen Leben dar, sondern er reektiert die Strukturen unserer Leistungsgesellschaft durch seine Afnität zum Wettbewerb (vgl. Haubl 1995: 17 f.). Denn im Sport – und so auch im Paintball – bilden sich meist auch Statushierarchien und Rangsysteme aus, ein Umstand, den gerade Jugendliche als Prolierungschance für sich zu nutzen wissen. Diese Möglichkeit der Selbstinszenierung und des Anerkennungsgewinns erhält besondere Relevanz vor dem Hintergrund der zunehmenden Individualisierung und Enttraditionalisierung, also dem Auösen verbindlicher Milieus und Normensysteme – eine Entwicklung, von der gerade Jugendliche betroffen sind und sie mit der Notwendigkeit konfrontiert, im Patchworkstil gleichermaßen das eigene Selbst wie den eigenen Körper zu gestalten. Wenn das Dasein zunehmend zum individuellen Design wird, dann übernimmt in diesem Zusammenhang der Sport eine ganz besondere Rolle: „Auf der Basis eines normierten Wettkampfsystems können Jugendliche durch sportliche Leistungen auf sich aufmerksam machen und ihren Wert erhöhen, indem sie lange vor beruichen Erfolgen sportbezogene Leistungen erbringen, die nicht nur bei Gleichaltrigen, sondern auch bei den Erwachsenen hohe Anerkennung und Würdigung nden. […] Hier können sie sich mit Erwachsenen im direkten Vergleich messen und für einen begrenzten Zeitraum das ‚Ghetto der Gleichaltrigen‘ durchbrechen. Die den Jugendlichen zugeordnete Rolle der Unterordnung wird beim sportlichen Wettkampf unterbrochen und bisweilen durch den Sieg ins Gegenteil verkehrt, d. h. es kommt
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zur sofortigen und umfassenden Gratikation und zur unmittelbar erfahrenen Selbstwirksamkeit“ (Brinkhoff/Ferchhoff 1990: 112).
So ‚verkörpert‘ der geformte und leistungsstarke Körper eine erfolgreiche IchInvestition, die besonders deutlich im Wettkampfsport zum Ausdruck kommt. Denn sportliche Siege übermitteln zum einen die Möglichkeit, für einen kurzen Zeitraum zum Star und Helden zu werden, zum anderen sind sie sichtbare und nachdrückliche Beweise für die individuelle Handlungsmacht (auch) im Alltag. Doch dass dieser selbstverantwortlich modellierte Körper auch Krisenpotential enthält, ist die Kehrseite der Medaille. Was beim einen verlässlicher Bezugspunkt in einer durch normative Unsicherheit geprägten Zeit ist, löst im Falle häugen Versagens beim anderen neben Selbstzweifel auch ablehnende Reaktionen der Gleichaltrigengruppe aus. Nichtsdestotrotz nimmt Sport einen wichtigen Platz in der Lebens- und Freizeitgestaltung gerade junger Menschen ein und trägt mit dazu bei, ihren verstärkten Bedarf nach individueller Selbstbestimmung und Anerkennung zu befriedigen. Sport unterstützt somit auch das soziale Verhalten durch die freiwillige Einordnung in eine Gemeinschaft, die Einhaltung von Regeln und die Einübung von Mechanismen zur kontrollierten Koniktlösung (vgl. Schulze-Krüdener 1999: 209 f.). Vor allem Teamsportarten wie Fußball, Handball, Eishockey oder Paintball tragen mit ihrer Rollenpluralität im mannschaftlichen Zusammenspiel dazu bei, dem Individuum gemeinschaftsbezogene Lebenseinstellungen zu vermitteln, denn auch wenn „dem Rookie zunächst die eigenen ,Markierungsleistungen‘ von größter Wichtigkeit sind, so stellt er doch bald fest, dass die Teamarbeit und Kooperation das A und O für den Sieg sind, denn im Paintball ist strategisches Spielen einfach unverzichtbar“ (Dominik). Jedoch erstreckt sich dieses Gemeinschaftsgefühl nicht nur auf die eigenen Teammitglieder, sondern schließt auch andere Paintball-Spieler mit ein, selbst wenn sie zur gegnerischen Mannschaft gehören: „Paintball ist für mich Sport. Aus Teamspielern sind Freunde geworden, für die ich jederzeit mein letztes Hemd geben würde und umgekehrt. Man freut sich auch auf die befreundeten Teams bei den Turnieren. Vor und nach dem Spiel blödelt man herum, doch im Spiel selbst gibt man 100 %, um den Gegner zu besiegen. Es freut mich jedes Mal einen Spieler aus Berlin zu treffen, den ich bereits vor Jahren kennen gelernt habe“ (Jörg). Aus den gemeinsamen Interessen und Begegnungen entwickeln sich vielfach auch Freundschaften, die sehr persönlich sein können. Es ist eine Art von übereinstimmendem Lebensgefühl, das gerade den ‚inner circle‘ der Paintball-Szene auszeichnet, und bisweilen gerade bei den Spielveteranen eine Mentalität erzeugt, „Teil einer großen Familie zu sein“ (Sigi).
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Philipp Lorig und Waldemar Vogelgesang Vom Waldfeld zur Weltliga: Funsport-Events im Überblick „Ganz besonders freut mich, dass sich Paintball als Trend entwickelt. Während man sich früher auf ein paar Spielchen mit Freunden im Wald traf, entwickeln die Teams heute auf Big Games und Turnieren einen wahren Sportsgeist. Man trainiert regelmäßig, um seine Technik und das Teamspiel zu verbessern, um beim nächsten Mal den Gegner zu übertrumpfen. Der Sport und seine Mannschaft entwickeln sich zu einer Marke, die mit professionellem Auftreten sich selbst und die Sponsoren promoten. Dazu kommt, dass das negative Image langsam verschwindet und immer mehr Fernsehsender positive Reportagen über den Sport drehen“ (Dennis König).
In anschaulicher Weise ist hier die Entwicklung des Paintballs von einem Spaßspiel zu einer ernsthaften Sportart beschrieben. Vorangetrieben durch eine fortschreitende Professionalisierung und Versportlichung in Form eines neu geschaffenen normierten Regelwerks und der Organisation größerer Sportereignisse und überlokaler Ligen, wurde diese Funsportart zunehmend attraktiver für eine breitere Klientel. Wie sehr – und mit welcher Geschwindigkeit – die Gestaltung und Durchführung von Paintballveranstaltungen sich in kurzer Zeit verändert haben, zeigt sich im Rückblick besonders deutlich. Anfang der 1990er Jahre gab es kaum feste Teams und nur einige Paintballfelder, deren Betreiber – meist US-amerikanische Soldaten – die ersten provisorischen Turniere organisierten, während in den USA schon seit knapp einem Jahrzehnt jährlich große, umfassend kommerzialisierte Mega-Turniere stattfinden wie bspw. der NPPL-World-Cup in Orlando, das bislang größte Turnier der Welt. In Deutschland war man dagegen noch weit von einem solchen überlokalen Status entfernt, denn die ersten Turniere waren lokal begrenzte Happenings. Bei den teilnehmenden Teams handelte es sich durchweg um örtliche Mannschaften oder spontan gebildete Gruppierungen. Die Startgebühren, wenn überhaupt welche eingefordert wurden, waren gering, so wie auch die ausgeschütteten Preise und Gewinne. Die Organisation dieser Turniere war auf das Notwendigste beschränkt. Da sich jedoch meist zuwenig Teams anmeldeten, wurde seitens der Veranstalter nach und nach mehr Werbung gemacht, um das jeweilige Turnier für die einzelnen Mannschaften durch mehr Gegner attraktiver zu machen. Gleichzeitig hatten sich interessierte Paintballer durch amerikanische Szenenzeitschriften und einschlägige Internet-Adressen Informationen über die Veranstaltungen verschafft. Im Gleichschritt mit der wachsenden Aufmerksamkeit vergrößerten sich auch die Paintball-Turniere nach und nach, die Organisation wurde professioneller, ablesbar nicht zuletzt auch an einem attraktiven Rahmenprogramm, das den Erlebniswert der Veranstaltung erheblich steigerte. Durch diese zunehmende Attraktivität konnten die Turniere auf eine stetig wachsende Nachfrage zählen, denn dort konnten sich die Paintballer endlich in größerem Rahmen mit Gleichgesinnten messen, sich mit
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ihnen austauschen und gemeinsam Spaß haben. Finanzieller Gewinn war jedoch Nebensache, denn die Veranstaltungen waren organisiert von Paintballern für Paintballer, um Spielanlässe und Begegnungsstätten zu schaffen. Mit steigender Professionalisierung und Kommerzialisierung der Turniere und wachsendem Bekanntheitsgrad innerhalb der Paintball-Gemeinde wurden allerdings immer höhere Startgelder für die Teilnahme erhoben, um die Ausgaben für die Organisation der Veranstaltung zu decken, die durch intensive Werbung und die Schaffung einer gut funktionierenden Infrastruktur anfallen. Denn die Turnierveranstalter sahen sich indessen mit der Herausforderung konfrontiert, ihr eigenes Event von den vielen anderen abzuheben, um seine Attraktivität zu steigern. Die Konkurrenz wurde zahlreicher und Kommerzialisierung beherrschte mehr und mehr das Bild. Zudem wurden Paintballturniere zunehmend als Werbeplattform verschiedenster Unternehmen genutzt und von ihnen entsprechend gesponsert. Durch diese größere nanzielle Unterstützung stiegen auch die Gewinnprämien, wodurch wiederum mehr Spieler an den Wettkämpfen teilnehmen wollten. Ähnlich wie in den USA entstanden auch in Europa und speziell in Deutschland einige hoch kommerzialisierte Master-Turniere. Außerdem kam es zur Ausdifferenzierung von Veranstaltungen für professioneller ausgerichtete Teams und für Amateur- und Rookiespieler. Die Ligeneinteilung beschleunigte den Professionalisierungs- und Eventisierungsprozess zusätzlich. Denn analog zur Champions League im Fußball wurde auch im Paintball eine Superliga geschaffen, an deren Veranstaltungsserie aber nicht nur die besten Mannschaften Europas teilnehmen konnten, sondern aus aller Welt. Erstmals 1999 unter dem Namen ‚Millenniumserie‘ durchgeführt, werden diese Topevents der Paintball-Szene seit dem Jahr 2000 heute unter dem Etikett ‚European Professional Paintball Circuit‘ (EPPC) vermarktet. Die EPPC-Turniere eröffnen neue Dimensionen in dem Turniergeschehen und beeindrucken durch ihre Professionalität: Hier treffen mehr als 100 Teams aus verschiedenen Ländern aufeinander. Geboten wird „ein Mega-Ereignis, um auch wirklich die besten Teams dazu zu bewegen, an diesen Turnieren teilzunehmen“ (Sigi). Das ‚Marshalling‘ wird von international anerkannten Schiedsrichtern übernommen, die ‚Staging‘Bereiche, d. h. die Aufenthaltsorte für die Teams bieten ausreichend Platz sowie Abstell- und Trainingsmöglichkeiten, für die Versorgung mit Getränken und Essen sind renommierte Catering-Dienste zuständig und last but not least sorgt ein hochkarätiges Rahmenprogramm aus Einzelwettbewerben, Verlosungen, Tradeshows, Partys etc. bei Spielern und Zuschauern gleichermaßen für ein Paintball-Vergnügen der besonderen Art. Die europäischen Turniere haben somit den Standard der großen Turniere der USA mindestens eingeholt. Viele amerikanische Professional-Teams (kurz: Pro-Teams genannt) haben diese Entwicklung erkannt und besuchen bereits
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die EPPC-Turniere, wobei außerdem die erreichten Punkte in der Wertung der amerikanischen NPPL übernommen werden. Laurent Hamet, Hauptorganisator des World Cups in Toulouse und der EPPC-Turniere, resümierte im Anschluss an die ‚Maxs Masters 2000‘ die Entwicklung im Paintball-Sektor in Europa folgendermaßen: „Vor den USA brauchen wir uns nicht mehr zu verstecken, das Niveau der Turniere in Europa geht stetig in die Höhe“ (gotcha sport 2000: 30). Die beeindruckende Entwicklung der Maxs Masters-Serie zeigt sich auch an den Rahmendaten, die uns die Veranstalter eines entsprechenden Paintball-Events, das in der Biermetropole Bitburg durchgeführt wurde, zur Verfügung gestellt haben. Die Maxs Masters 2002 – einige Daten ORGANISATION Beschäftigte Personen (Organisation und Aufbau)
ca. 35
Beteiligte Firmen
ca. 20
Aussteller / Sponsoren TEILNEHMER
ca. 15
Teams (aus 18 Nationen)
75
Spieler
ca. 750
Marshalls REZIPIENTEN
ca. 50
Zuschauer
ca. 1.200
DAUER Dauer des Turniers Vorbereitungsphase und Planung (samt Aufbau) Nachbereitung (samt Abbau) LOGISTIK Spielfelder
3 Wochen 5 (75 × 45m)
Verschossene Kugeln
Tabelle 1
3 Tage ca. 3 Monate
über 3 Millionen
Organisationsstruktur und Teilnehmer am Maxs MastersTurnier in Bitburg
Eine zusammenfassende Betrachtung der Entwicklung der Paintball-Veranstaltungen zeigt anschaulich, wie sich innerhalb eines Jahrzehnts aus kleinen Treffen erlebnishungriger Abenteuersportfans durch eine zunehmende Versportlichung und Professionalisierung der Spiel- und Organisationsformen hoch angesehene und stark frequentierte Szenen-Events bilden konnten, die mit einer Vielzahl an Highlights
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auf und außerhalb des Spielfeldes jedem aktiven – und auch passiven – Teilnehmer ein routinisiertes Außeralltäglichkeitserlebnis mit Einzigartigkeitscharakter bieten. Die zunehmende Kommerzialisierung, besonders in Form von Sponsoring, ermöglicht die professionelle Organisation der Events und steigert zusätzlich noch deren Attraktivität für die Paintballspieler, da immer höhere Siegprämien winken. Dass dabei die große Zahl der international zusammengesetzten Spielergilde den ‚Paintball-Majors‘ einerseits einen kosmopolitischen Anstrich verleiht und andererseits das Spiel selbst durch ein Aufgebot von interessanten Gegnern spannender macht, ist positiver Nebeneffekt der Größe und Globalität des Events.
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Eine Paintballer-Karriere: Biograsche Notizen eines Spielers
Im Folgenden ist die Paintballer-Karriere von Markus König aufgezeigt – und zwar von den ersten Erfahrungen als Rookie über das Amateur-Dasein bis hin zum angehenden Pro. Dabei steht der Begriff Pro nicht für einen Spieler, der vom Paintball lebt, sondern für einen Paintball-Fan, der stark in die Szene involviert ist. Im Jahr 1993 wurde ich zum ersten Mal mit Paintball konfrontiert. Neugierig gemacht durch die Erzählungen eines amerikanischen GI, der selbst Paintball spielte – ein Spiel, das ich ansonsten nur aus dem Film ,Gotcha‘ kannte –, folgte ich schließlich dessen Einladung, um diese Art der Freizeitbeschäftigung einmal selbst auszuprobieren. An einem Sonntag trafen wir, d. h. mein Bruder, ein weiterer Freund und ich, den Paintball spielenden GI. Sein Name war John, und er bezeichnete sich selbst als absoluten Paintballfreak. Von ihm erhielten wir damals gegen einen geringen Kostenaufwand ein paar Leihmarkierer, Masken und die notwendigen Kugeln. Obwohl unsere Markierer nur schlecht funktionierten, die Kugeln brachen bereits im Lauf, entschieden wir uns schon an diesem Tag, dass dies nicht der letzte Kontakt mit Paintball gewesen war. Unser Ehrgeiz besser zu werden war geweckt, denn an den ersten Spieltagen spielte nahezu jeder andere besser als wir. In den folgenden Wochen begann ich, mir mehr Informationen über Paintball zu beschaffen und herauszunden, welche Spielprodukte es gibt und wo Paintballartikel verkauft werden. Die Besuche eines von Amerikanern betriebenen Paintballfeldes wurden regelmäßig, ich suchte durch Tipps und Beobachtung der erfahrenen Spieler mein Spiel zu verbessern und wuchs so step by step in die Rolle des Rookie hinein. Bald schon kaufte ich mir paintballadäquate Kleidung, und auch der Wunsch nach einem eigenen Markierer wurde immer stärker. Bereits zu diesem Zeitpunkt hatte ich mehrere Freunde vom Paintballspielen überzeugen können, so dass wir eine kleine Gruppe deutscher Spieler inmitten all der Amerikaner waren, mit denen wir uns aber gut verstanden.
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Schließlich kauften wir in neulinghafter Unwissenheit in einem Waffenladen in der nächstgrößeren Stadt einige überteuerte Markierer und Masken. Der Händler hatte wohl zu diesem Zeitpunkt selbst kaum Ahnung davon, was genau er da verkaufte. Trotz des hohen Preises von ca. 430 EURO waren wir damals alle stolz auf unsere neuen Errungenschaften, die wir immer öfter auf dem Spielfeld auszuprobieren suchten, manchmal sogar mehrmals pro Woche. Ende 1993 wurde ich dann von John gefragt, ob ich Interesse hätte, für eine zweite Mannschaft des lokalen amerikanischen Vereins auf einem Paintballturnier in Heidelberg zu spielen. Ich war mir der großen Ehre bewusst, sagte spontan zu und errang gleich bei meinem ersten Turnier mit meiner Mannschaft den dritten Platz. Der Erfolg schmeckte nach mehr, ja mich hatte eine richtige Spielleidenschaft gepackt. Es war für mich klar, dass ich in Zukunft noch mehr Turniere spielen wollte, denn auch die ganze Stimmung hatte mich beeindruckt. Stand man sich während des Spiels adrenalingefüllt gegenüber, so war der Umgang miteinander außerhalb des Spielfeldes durch Freundschaft und Kollegialität bestimmt. Das nächste Spiel musste her und fand 1994 in Belgien statt. Hier allerdings waren wir der Konkurrenz nicht gewachsen, zum einen durch mangelndes Können, zum anderen durch die eingeschränkte Leistungsfähigkeit unserer Markierer. Die Folge war der Kauf eines neuen Gerätes, das ich diesmal jedoch zu einem besseren Preis über den Paintballhändler bezog, der auch unser Feld mit Kugeln versorgte. 1995 bekamen wir dann die Chance, das erste Mal bei einer Liga mitzuspielen. Es handelte sich um den vierten von fünf Spieltagen in der Südliga, der zu dieser Zeit einzigen Liga Deutschlands. Ein Team war ausgefallen und da unser Spielfeld der Austragungsort war, durften wir eine Ersatzmannschaft stellen. Erwartungsgemäß wurden wir Letzter, aber wir konnten zumindest einzelne Spiele gewinnen. Nun begannen aber Leute abzuspringen, mit denen ich angefangen hatte zu spielen, da es ihnen zu ernst wurde oder weil sie dachten, sie könnten nicht mehr mithalten. Hinzu kam der ständig wachsende nanzielle Aufwand, bedingt durch immer mehr Trainings- und Spieltage. So gründeten wir zu zweit ein neues Team, natürlich auch mit der Absicht, überwiegend auf Turnieren zu spielen. Aus diesem Grund schauten wir uns auf unserem Heimatspielfeld nach begabten und motivierten Spielern um, aus denen wir unser neues Team zusammen stellten. Nach einigen gemeinsamen Trainingstagen folgte das erste Turnier. Die Mühen wurden hier zum ersten Mal belohnt, denn wir erreichten einen hervorragenden zweiten Platz. Es folgten weitere erfolgreiche Turniere, und schließlich meldeten wir uns mit diesem Team im Jahr 1998 bei der Südliga an, welche uns glücklicherweise auch aufnahm, was für unbekannte Teams keinesfalls eine Selbstverständlichkeit ist. Die ersten zwei Spieltage waren durch Niederlagen gekennzeichnet, jedoch in den drei darauf folgenden Tagen konnten wir uns zumeist im Mittelfeld behaupten. Ein achter Platz von zwölf teilnehmenden Teams erschien uns daher zwar noch gut,
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aber eindeutig verbesserungsfähig. In der Folge spielten wir noch weitere kleine Turniere. Ich war bereits zum Amateurspieler geworden, der am Wochenende auf dem Heimspielfeld selbst Paintballgeschichten erzählen und Tipps geben konnte. Wir hatten den Kontakt zum Kugellieferanten des Feldes bereits ausgeweitet und wurden nun durch diesen mit besseren Preisen unterstützt, sozusagen unser erstes Sponsoring. Die zeitweise bis zu zehn Teammitglieder unserer Mannschaft wechselten in dieser Zeit ständig, was die Kooperations- und Spielfähigkeit des Teams schwächte. Dies realisierend führten wir festere Mitgliedschaften ein, unterteilten die Mannschaft in zwei je fünfköpge Teams samt Reservespieler, wobei die persönliche Leistung die Zugehörigkeit zur jeweiligen Gruppe entschied. Diese Maßnahmen waren erfolgreich: Mein Team wurde 1999 West-Liga Meister, wobei diese Liga zu einer der Besten zählt. Im Jahr 2000 konnten wir diesen Erfolg sogar wiederholen. Bereits im Jahre 1999 war ich neben meiner Spielertätigkeit auch in den Vorstand des Vereins gewählt worden. Durch diese ehrenamtliche Tätigkeit konnte ich noch andere Seiten des Paintballs kennenlernen. Ich bin verantwortlich für die Finanzen des Vereins, den Einkauf der Paintballartikel und die Public Relations. Nach Unstimmigkeiten mit unserem bisherigen Zulieferer für Kugeln und weitere Produkte, wechselten wir zu einem anderen Paintballhändler aus der Nähe Frankfurts, welcher uns für 1999 das erste Mal ein Sponsoring anbot, was nochmals erhöht werden sollte, wenn Erfolge in diesem Jahr zustande kämen. Dies war ja, wie bereits erwähnt, der Fall, so dass wir 2000 bereits gesponsert in die neue Saison gingen. Endlich konnten wir es uns leisten, neben den nationalen Turnieren auch zwei ausländische Turniere in Holland und Frankreich zu besuchen. In Frankreich nahmen wir am größten europäischen Turnier teil, zu dem auch die professionellen Teams aus den Vereinigten Staaten anreisten. Es gehört zur EPPC (European Professional Paintball Circuit), die eine Art Europa-Liga darstellt. Hier schlossen wir im Mittelfeld ab. Für 2001 erhielten wir neue Unterstützung durch drei weitere Sponsoren, zwei davon sogar aus den USA, was uns zu einem der bestgesponserten Teams im deutschsprachigen Raum macht. Dementsprechend hat sich auch die Anzahl der Turniere erhöht, die wir bestreiten. Drei Turniere der EPPC standen neben den nationalen Turnieren auf dem Plan. Hinzu kommt, dass regelmäßig Spieler unseres Vereins bei anderen befreundeten Teams aushelfen. Bereits drei unserer eigenen Spieler haben wir von anderen Teams abgeworben. Es gab natürlich andererseits auch Versuche, Spieler unseres Kaders abzuwerben. Allein ich habe in den letzten Jahren von drei Teams, die besser gesponsert werden als wir, Angebote bekommen, welche u. a. eine Ausrüstung im Verkaufswert von ca. 2.000 EURO enthielten. Mittlerweile bin ich in der Szene einigermaßen bekannt, habe auch schon für ein nationales Paintballmagazin einzelne Beiträge geschrieben und selbst
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Turniere ausgerichtet. Ich bin zu einem angehenden Pro geworden, zumindest, was deutsche Verhältnisse angeht. Ich habe Kontakte zu vielen anderen Teams, zu den deutschen Händlern und Veranstaltern und darüber hinaus zu einigen amerikanischen Firmen. Auch die Redakteure der deutschen Paintballmagazine sind mir bekannt, und ich ihnen. Im Radio konnte ich mich bereits zwei Mal zu ,unserem‘ Sport äußern. Dies zeigt, dass ich heute in diesen Sport stark integriert bin und etwas mitbewegen kann. Nahezu vergessen sind die Tage, als ich mit einem Billigmarkierer als Zielscheibe und Übungsobjekt anderer durch den Wald rannte. Meine Ausrüstung hat heute einen Wert von mehreren Tausend Euro. Ich besuche jährlich mittlerweile ca. 13 bis 15 Turniere und bin darüber hinaus noch nahezu jedes Wochenende auf unserem eigenen Feld. Was mir am besten daran gefällt, sind die entstehenden Freundschaften zu Gleichgesinnten aus mehreren Ländern. Alleine in unserem ersten Team spielen heute Deutsche, Amerikaner, Niederländer und Luxemburger. Des Weiteren lerne ich durch Paintball andere Länder kennen. Allein im letzten Jahr konnte ich so Holland, Dänemark, Frankreich, Belgien und die USA besuchen. Hinzu kommen noch die zahlreichen deutschen Turnierplätze, wie z. B. Berlin und Frankfurt. Doch immer noch ist es so, dass bei jedem Spiel und ganz gleich bei welchem Turnier das Adrenalin kurz vor dem Startsignal durch mein Blut schießt. Die Verbindung von Teamspiel und individuellem Können macht diesen Sport auch noch im achten Jahr für mich interessant. Aufhören möchte ich erst, wenn ich körperlich nicht mehr mithalten kann. Die Paintball-Szene möchte ich aber auf keinen Fall missen, da ich hier sehr viele Freunde gefunden habe, mit denen ich den Kontakt noch lange aufrecht erhalten möchte.
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Fazit – Paintball: Eine eventisierte Funsportart „Paintball ist für mich zu einer Lebensart geworden, um die ich mein ganzes Leben aufbaue. Jeder nächste Schritt ist explizit geplant: Fahre ich in den Urlaub, schaue ich, wo dort das nächste Feld ist, aber meistens fahre ich gar nicht in Ferien, denn dafür bleibt keine Zeit vor lauter Paintball. Paintball ist mein Leben“ (Dennis König).
So beschreibt ein Fan die Relevanz, die Paintball für seine Lebensgestaltung und Alltagsplanung hat. Paintballspiele und -turniere sind zum Mittelpunkt geworden, um die herum die anderen Aktivitäten organisiert werden. Allerdings weisen Paintballfans – wie die Ausübenden jeder anderen Sportart auch – ein breites und in seiner Intensität höchst unterschiedliches Spektrum der Beschäftigung damit auf. So gibt es die Freizeitsportler, die hin und wieder am Wochenende einen spannungsreichen Ausgleich zur Arbeitswelt suchen, aber auch die promäßigen
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Turnierspieler, die kein Paintballevent auslassen und sich zusätzlich noch bei Paintballzeitungen und -verbänden engagieren. Und schließlich gibt es die Spieler, die meist illegal in Waldgebieten oder stillgelegten Fabrikanlagen „herumballern“ (Sigi) und dadurch entscheidend zum negativen Bild der Paintballer in der Öffentlichkeit mit beitragen. Ein großes Anliegen der meisten Paintballanhänger ist die Beseitigung der aus ihrer Sicht ungerechtfertigten Vorwürfe und Vorurteile, weshalb sie sich bewusst und gezielt von rechtsextremen oder gewaltverherrlichenden Gruppierungen, die es in kleiner Zahl auch in ihren Reihen gibt, distanzieren. Ihr Zusammenschluss in Vereinen verfolgt dabei immer auch das Ziel, eine positive Imagebildung in der Öffentlichkeit zu bewirken und zu befördern, aber auch ihrem Spiel im Zuge einer umfassenden Professionalisierung und Versportlichung eine feste Ordnungsstruktur zu geben, es gleichsam zu normalisieren und auf diesem Wege auch sozial akzeptabler zu machen. „Man muss das Spiel einfach sehen, um es zu verstehen und die Vorurteile loszuwerden“, so drückt Dominik die Hoffnung vieler Paintballer aus. Denn sie sind der festen Überzeugung, dass die meisten Leute bei einem Besuch der Paintballspielstätten und Painballturniere ihre Vorurteile beiseite räumen würden, da sie mit eigenen Augen sehen könnten, dass es sich bei Paintball nicht um ein mörderisches Spiel mit Tötungssimulationen handelt, sondern um einen neuen erlebniszentrierten Funsport. Auch sind sie zuversichtlich, dass die Medien ihnen durch eine neutrale Berichterstattung in Zeitungen und im Fernsehen eine größere Akzeptanz bei der Bevölkerung verschaffen – und zwar besonders dadurch, dass die großen TV-Sportsender, wie etwa Eurosport, der die EPPC-Turniere im Jahr 2000 erstmals übertragen hat, auf die neue Sportart nicht nur aufmerksam machen, sondern sie auch popularisieren. Es sind in erster Linie die aufwändig inszenierten und organisierten Großturniere, die mit national und international renommierten Gegnern und attraktiven Veranstaltungsformen einen regelrechten Paintball-Boom ausgelöst haben. Denn ähnlich wie ein großes Fußballspiel ist auch ein Paintball-Event ein transnationales Ereignis, das gleichermaßen das Interesse der Spieler und der Zuschauer auf sich zieht. Ob Paintball in der Zukunft eine endgültige Anerkennung als seriöser Sport erfahren wird, bleibt abzuwarten. Fest steht jedoch, dass dieses Spiel bisher bereits viele Fans gefunden hat, die in ihrer Freizeit mit großem Vergnügen und weitestgehend gewaltlos die ngierten Scharmützel inszenieren. Was allerdings als eine Art Live-Rollenspiel in Räuber-und-Gendarm-Manier begann, hat sich zu einer neuen Funsportart entwickelt, deren Topveranstaltungen zunehmend Event-Charakter besitzen. Dieser Trend nährt die Hoffnung der Fans, dass Paintball in nicht allzu ferner Zeit ein anerkannter Funsport sein wird: „Ich möchte irgendwann mit meinem Enkel ins Frankfurter Waldstadion gehen und ein Paintball-Bundesligaspiel verfolgen, und das genau so selbstverständlich, als wäre es die Eintracht“ – dies
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ist der Wunsch von Lars, einem Paintball-Enthusiasten der ersten Stunde, und er gibt damit der Hoffnung vieler Fans Ausdruck, ihre Sportart möge in Zukunft den ihrer Meinung nach gebührenden Platz in der gesellschaftlich akzeptierten Sportarena erhalten.
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Nachtrag: Paintball im Fokus öffentlicher Aufmerksamkeit und Kritik
Seit ihren Anfängen steht die Paintball-Szene unter einer Art kritischer Dauerbeobachtung. Gerechtfertigt werden der Argwohn und die Skepsis gegenüber den Szeneakteuren damit, dass desensibilisierende und nachahmende Auswirkungen der gewalthaltigen Spielabläufe für möglich gehalten werden. Die hinter solchen kausalistischen Wirkungsattribuierungen stehenden Ängste – und dies ist nicht zuletzt auch in der Mediengewaltforschung immer wieder beschrieben worden (vgl. Vogelgesang 2005) – werden durch bestimmte dramatische Gewaltereignisse gleichsam zyklisch aktiviert und forciert. Für die Paintball-Szene war solch ein einschneidendes Ereignis die Amoktat eines 17-jährigen Schülers aus Winnenden, der im März 2009 fünfzehn Menschen und anschließend sich selbst tötete, die zu einer Verschärfung der Kritik an den Szenemitgliedern geführt hat. Die öffentliche Auseinandersetzung, die in ihrer Struktur und Verlaufsform Moralkampagnen ähnelte, gipfelte in zwei Forderungen: einer Verschärfung des Waffengesetzes und einem Verbot von Paintball. Begründet wurde das Paintball-Verbot insbesondere damit, dass diese waffenafne Spielform „eine Simulation des Tötens“ darstelle und der Amoktäter Tim K. neben gewalthaltigen Computerspielen auch Softair-Pistolen besessen habe. Deutschlandweit wurde über den Verbotsantrag in den Tages- und Wochenzeitungen intensiv berichtet, so dass Paintball durch den verstärkten Nachrichtenwert des Themas über Wochen die Agenda der öffentlichen Diskussion bestimmte. So schrieb z. B. die Süddeutsche Zeitung am 7. Mai 2009: „Jetzt also Paintball. Eine Sportart, die laut der deutschen Paintball-Liga von 15.000 bis 20.000 Menschen ausgeübt wird, soll gesetzlich verboten werden. Darauf haben sich die Innenexperten von Union und SPD geeinigt. […] ‚Beim Paintball wird das Töten simuliert‘, begründet der Unions-Fraktionsvize Wolfgang Bosbach seine Lust aufs Verbieten.“5
5 Boie; Johannes: Paintball: Lust am Verbot. Abschaffen! Zensieren! In: Süddeutsche Zeitung 07.05.2009. URL:/politik/169/467740/text/ (Abruf am 10.07.2009).
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Allerdings traf die Verbotsforderung auf wenig Verständnis in der Presselandschaft und wurde in vielen Kommentaren kritisiert und negativ bewertet. Der Tagesspiegel schrieb am 10. Mai 2009 zum Thema Verbotsantrag: „Sich gegenseitig mit Farbkugeln zu beschießen, Paintball genannt, soll […] verboten werden. Die Politik hält das für menschenverachtend und eine Animation künftiger Amokläufer. Mit dieser Logik ist auch das Tragen von Spielzeugpistolen zum Cowboykostüm zu verbieten. […] Es ist lächerlich, als Konsequenz aus Winnenden ein nur für Erwachsene erlaubtes Spiel zu verbieten – aber auch bedrohlich.“6
Eine ähnlich harsche Kritik ndet sich in einem Kommentar in der Süddeutsche Zeitung vom 14. Mai 2009: „Die Koalition hat weder den Willen noch die Kraft, jene Waffen, mit denen getötet wird, effektiv zu kontrollieren, ganz zu schweigen vom Verbot. Stattdessen verständigt man sich auf symbolistische Kinkerlitzchen wie den Bann des Militärspiels Paintball. […] Zur mörderischen Gesinnung trägt Paintball nichts bei. Der eine kämpft mit dem Florett gerne auf der Planche, der andere schleicht sich im grünen Goretex an Rehe an, und der dritte ballert Farbkügelchen auf Mitspieler, die das wollen. […] Viele kompetitive Hobbys oder Sportarten, in denen es zu Er- oder Ich-Situationen kommt, haben solche archaischen Wurzeln. Zwar verstehen Bosbach und Kollegen davon augenscheinlich nichts, aber verbieten wollen sie Paintball trotzdem, während die Beretta erlaubt bleibt. Das ist keine Politik, sondern deren Simulation.“ 7
Nicht zuletzt durch die ächendeckende und massive Kritik in den Medien wurde der Verbotsantrag nach kurzer Zeit in einen Prüfantrag umgewandelt: „Wir wissen einfach noch zu wenig darüber, wie gefährlich das Spiel wirklich ist,“ so begründete der CDU-Innenpolitiker Reinhard Grindel die Abänderung des Antrags. Dazu kommentiert die Wochenzeitung Die Zeit im Internet: „Dass die Koalition an diesem besonders umstrittenen Punkt nun einen Rückzieher macht, ist nicht zuletzt dem massenhaften Protest der Paintball-Fans zu verdanken. Diese hatten in den vergangenen Tagen Abgeordnete mit Protest-Mails überschwemmt. Viele Kollegen hätten sich daraufhin an ihn gewandt und gebeten, die Entscheidung zu überdenken, berichtete Wiefelspütz (innenpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion A. d. V.).“8
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Maroldt, Lorenz: Verbotspolitik. Peng, du bist tot! In: Der Tagespiegel 10.05.2009. URL: http://www. tagesspiegel.de/zeitung/Titelseite-Paintball;art692,2793975 (Abruf am 11.07.2009). 7 Kister, Kurt: Neues Waffenrecht. Simulation von Politik. In: Süddeutsche Zeitung 14.05.2009. URL:/ politik/892/468457/text/ (Abruf am 10.07.2009). 8 Schuler, Katharina: Koalition zieht Paintball-Verbot zurück. In: Zeit Online. 14.05.2009. http://www. zeit.de/online/2009/21/paintball-kein-verbot (Abruf am 12.07.2009).
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Neben der überwiegend negativen Kommentierung des Verbotsantrags in der Presse ist auch auf die Protest- und Aufklärungsaktionen der Paintball-Szene zu verweisen, durch die die öffentliche Wahrnehmung ihres Sports in ein anderes Licht gerückt und das „Bauernopfer“ des Paintball-Verbots – so Arne Petry, Sprecher der Deutschen Paintball Liga – in der medialen Öffentlichkeit angeprangert wurde.9 Der erwähnte E-Mail-Protest war nur eine von zahlreichen öffentlichkeitswirksamen Aktionen. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang auch die Petition ‚Waffenrecht – Gegen ein Verbot von Spielen‘, die am 8. Mai 2009 im Deutschen Bundestag eingereicht wurde und deren Inhalt an dieser Stelle in voller Länge wiedergegeben werden soll: „Der Deutsche Bundestag möge das geplante Verbot von Sportarten wie Paintball/ Gotcha und Laserdrome ablehnen. Ein Verbot dieser Sportarten stellt reine Symbolpolitik da, ohne jeglichen Nutzen. Bei Paintball und Laserdrome treten zwei Spieler oder ganze Mannschaften in einem sportlichen Wettstreit gegeneinander an. Der Akt des Tötens ist hier ebenso abstrakt wie beim Schachspiel oder beim Fechten. Ähnlich dem Fechten werden zwar auch hier dank Schutzkleidung ‚ungefährliche‘ Waffen aufeinander gerichtet, doch kann dieses genauso wenig sittenwidrig sein wie das Wasserpistolenspiel von Kindern im Freibad oder ‚Cowboy und Indianer‘ spielen.“10
Die öffentlichen Aktionen der Paintballer gegen die Diskreditierung ihrer Sportart waren zwar primär auf Außenwirkung angelegt, aber sie führten auch zur Bildung von neuen szeneninternen Organisationsformen wie der Gründung der ‚Deutschen Paintball Partei‘ (DPP) als Interessenvertretung von Spielern, Händlern und Liga-Verantwortlichen und des ‚Forums Pro Paintballsport‘ und seiner Internet-Plattform. Die von diesen Institutionen betriebene Öffentlichkeitsarbeit verfolgt das Ziel, Paintball als eine sportzentrierte und hochgradig reglementierte Szene darzustellen, deren Charakterisierung sich scharf von dem in der Politik skizzierten Bild einer gewaltbereiten, wehrsportähnlichen Vereinigung potentieller Amokläufer abhebt. Geprägt ist das szenische Selbstbild und Selbstverständnis von einer zunehmenden Professionalisierung, Normierung und denitorischen Nähe zu anderen Sportarten. Sehr subtil wird auch auf die Wortwahl geachtet. Um der Öffentlichkeit und Politik möglichst wenig Angriffsäche zu bieten und um Assoziationen zu Kriegs- und martialischen Schussspielen zu vermeiden, wird innerhalb der Szene auch nicht von Pistolen oder Waffen gesprochen, sondern – wie in der Szeneethnographie ausführlich dargelegt – von ‚Markierern‘, wobei
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Vgl. Wäschenbach, Julia: Paintball: Sie wollen doch nur spielen. In: Der Tagesspiegel 08.05.2009. Deutscher Bundestag: Petition Waffenrecht – Gegen ein Verbot von Spielen z. B. Paintball vom 08.05.2009. https://epetitionen.bundestag.de/index.php?action=petition;sa=details;petition=4145 (Abruf am 21.07.2009). 10
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mittlerweile auch peinlich genau darauf geachtet wird, keine an Blut erinnernde rote Farbe Spiel im Spiel zu verwenden. Abschließend ist festzuhalten, dass ausgehend von klassischen soziologischen Sportdenitionen Paintball wesentliche Elemente des Sports wie z. B. künstlich-sozial normierte Bewegungsabläufe, Leistungsprinzipien, eine starke Reglementierung durch soziale Normen und Vereinsstrukturen enthält (vgl. Heinemann 2007). Auch vor dem Hintergrund der Unterscheidung von frühen Volksspielen und modernem Sport erfüllt Paintball so gut wie alle Kriterien (formale Organisation, xierte Regeln, soziale Kontrolle durch Ofzielle, kontrollierte und sublimierte Erzeugung von Kampfstimmung und Nachdruck auf Geschicklichkeit statt Gewalt und Kraft), die für modernen Sport charakteristisch sind (vgl. Dunning/Sheard 1979). Kampfund Angriffslust nden im körperliche Kraft und Geschicklichkeit erfordernden, kontrollierten Wettkampf des Paintballs ihren gesellschaftlich erlaubten Ausdruck, bei dem nicht rohe Gewalt, sondern kontrollierte und regulierte Aggression zum Erfolg führt (vgl. Elias/Dunning 1984). Auch wenn es im Paintball – wie etwa beim Boxen, Fechten und vielen weiteren kompetitiven Sportarten mit Wettkampfabläufen – zu Konfrontationssituationen des Er oder Ich kommt, kann nicht von einer erhöhten Gewaltbereitschaft der Paintball-Spieler ausgegangen werden, zumindest nicht in der Form, wie sie der öffentliche Diskurs über Paintball zuweilen nahe legt. Zu dieser Schlussfolgerung kommt auch Linda Steinmetz in ihrer ethnographischen Studie über die deutsche Paintball-Szene. In von der Alltagsrealität abgekoppelten Räumen spielen die Paintballer zwar „Gewalt und Kampf, dies aber nicht anders als das Indianerspiel von Kindern oder Ritterspielen bei Burgfesten, wo Gewalt nicht wirklich ausgeübt wird. In der den Werten von Frieden und Freiheit verpichteten Gegenwartsgesellschaft suchen Paintballspieler wie viele andere Menschen (z. B. Horrorfans, Sadomasochisten, Hooligans) Gewaltstimulationen, um auf diese Weise spezische Gefühle zu realisieren. […] Wir haben es hier mit hoch erlebnisrationalen Gruppen zu tun, die ihre Stimulation im Kampf suchen. Ihr Selbstverständnis ist untrennbar mit dieser Motivation verbunden“ (Steinmetz 2000b: 7). Aus diesem Blickwinkel zielt der Paintball-Verbotsantrag der Bundesregierung nicht auf die Verhinderung weiterer Amoktaten und jugendlicher Gewaltausbrüche, sondern auf die Stigmatisierung und Diskriminierung einer jugend- und sportkulturellen Szene, für die – gerade aus Sicht der neueren Zivilisationstheorie (vgl. Wouters 1999) – Prozesse der erlebnismäßigen Spezialisierung, professionellen Normierung und kodizierten Sanktionierung charakteristisch sind. Was in spätmodernen Gesellschaften im Allgemeinen und im Abenteuer- und Risikosport im Besonderen zählt, ist situationsangepasstes Handlungs- und Emotionsmanagement. ‚Rahmung‘ und ‚Modulation‘ im Sinne Goffmans (1977) bestimmen jeweils, was zulässig und/oder gefordert ist. An die Stelle genereller Affektkontrollen tritt
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das Erlernen von Situationsdenitionen und Trennregeln. Damit überkommene ‚Angst- und Wirkungsbastionen‘ nicht weiterhin transportiert werden, nicht neuerlich alter Wein in neue Schläuche abgefüllt wird, sollte die künftige Szenen- und Sportforschung eine Prämisse beherzigen, die Alois Hahn (1987: 157) jedweder sozialwissenschaftlicher Forschung und Theoriebildung ins Stammbuch geschrieben hat: „Es kommt auf die Trennung der Ebenen an.“
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III Populäre Spaßevents
Tot aber glücklich. Halloween – die Nacht der lebenden Toten als Event-Mix Marco Höhn
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Einleitung
Warum gibt es eigentlich Halloween in Deutschland? Diese Frage steht derzeit sehr oft im Hintergrund diverser Forschungsarbeiten – wobei die Antwort leider auch regelmäßig offen bleibt. So wurde in der Zeitschrift für Volkskunde (2001) ein Überblick gegeben, wie denn in anderen europäischen Ländern Halloween gefeiert wird und welchen Stellenwert das Fest jeweils hat, um dann mit noch mehr Fragezeichen scheinbar ratlos vor dem deutschen Phänomen zu stehen. Einige noch immer im Dunkeln liegende Aspekte des Komplexes Halloween wurden zwar angesprochen, dann allerdings nicht weiter beleuchtet (vgl. Korff 2001). Auch das Amt für rheinische Landeskunde hat Rheinländer befragt1, wer woher Halloween kennt, wie und wie oft man Halloween feiert usw., um schließlich zum Ergebnis zu kommen: Halloween wird gefeiert, weil Verkleidungen sowie Partys mit Alkohol und Musik auch schon immer in Deutschland beliebt waren, ein kultureller Austausch mit Amerika besteht und der Zeitgeist offen für Veränderungen ist. Dieses wird dadurch noch unterstützt, dass Unternehmen ein kommerzielles Interesse haben mit Halloween Geld zu verdienen, die Medien verstärkt über Halloween berichten und Halloween ein modernes und unverbindliches Image hat (vgl. Röckel 2001). Zu einem ähnlichen Resümee kommt auch Dewald (2002) in seiner kleinen Kulturgeschichte von Halloween. Dies alle sind nicht übermäßig gewinnbringende neue Erkenntnisse und helfen auch nicht wirklich zu verstehen, welche Bedeutung der Brauch für Halloween-Fans hat und über welche Performance er ausgeübt wird. Die Frage, wie Halloween nach Deutschland gekommen ist, ist also nicht die entscheidende. Der Weg kann dabei nicht das Ziel des Erkenntnisinteresses sein. Natürlich ist Halloween ein wichtiges Thema in den Medien und wird über diese
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Die Befragung lief mit Hilfe eines Online-Fragebogens ab, der sechs geschlossene und eine offene Frage enthält. Ob so ein derart komplexes Phänomen wie Halloween hinreichend erfasst werden kann, sei dahin gestellt. Ein explorativer Zugang mittels ethnographischer Feldforschung scheint hier doch eher angebracht und wird im weiteren Verlauf vorgestellt.
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transportiert – immer wieder wird von den Halloween-Teilnehmern die Rolle der Medien als Vermittlungsinstanz und Aneignungshilfe betont.2 Hier lässt sich auch ein von Jahr zu Jahr verstärkter Trend bei den Medienunternehmen3 erkennen, nicht nur den 31. Oktober selbst, sondern auch die Tage davor z. B. mit ‚HalloweenSpecials‘ von amerikanischen Fernsehserien (Simpsons, Roseanne, etc.) oder mit besonderen Halloween-Motiven versehene Fernsehsendungen vor allem im Bereich der Infotainment-/Boulevard-Sendungen, zu begleiten. Diese ‚Specials‘, die auf dem amerikanischen Medienmarkt mitunter auch als herausragende kreativ-künstlerische Leistung sehr beliebt sind, stehen in einer langen Tradition von Spiellmen, wie z. B. The Crow, Sleepy Hollow, etc. oder eigentlichen Horror-Filmen wie z. B. der Halloween-Reihe oder der Scream-Reihe, die alle das alte Thema ‚Rückkehr der Toten (mit anschließender Rache an den Lebenden, die den Tod verursacht haben)‘ immer wieder aufgreifen. Die „Mediatisierung des Alltags“ (Krotz 2001) scheint eben immer auch eine Veralltäglichung der Medien mit sich zu ziehen, sodass gegen aufkommende Langeweile nur außeralltägliche Events wie Halloween helfen. Natürlich ist Korff (2001) zuzustimmen, dass Halloween so gesehen das Produkt einer gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit ist – doch dann muss nachgefragt werden, wie diese medial vermittelte Wirklichkeit der Rezipienten aussieht: Wie gestalten Menschen, vor allem Jugendliche, Halloween und welche Bedeutung verbinden sie damit? Ebenso gern nutzen natürlich auch Unternehmen anderer Branchen Halloween in der Herbstaute – noch bevor das Weihnachtsgeschäft startet – als Umfeld, um mit Bezug auf Halloween Werbung zu machen und schwunghaften Handel zu treiben. Und dies nicht nur im ‚klassischen‘ Produktportfolio der Kostüme, Masken und Accessoires. Längst gibt es bei einer amerikanischen Burger-Kette schon ‚Halloween-Wochen‘ in Ergänzung zu den ‚mexikanischen Wochen‘ oder anderer gastronomischer Events, mit Monster-Actionguren, Cheeseburger, kleiner Cola, Pommes Frites und original ‚Grusel-Ketchup‘ im Happy-Meal. Und sogar sonst eher biedere Gummibärchen-Hersteller springen auf den fahrenden Zug und stellen 200g-Beutel unter dem Titel ‚Haribo Happy Hariween‘ mit sechs verschiedenen Motiven wie Hexe, Totenkopf, Spinnennetz, Fledermaus, Fratze und Mephisto in den Geschmacksrichtungen Orange, Wildkirsche, Erdbeere, Limette, Brombeer und Tropical-Punch her.4 Zudem sorgt die Halloween-Deko-Welle mit nicht zuletzt auch Plastik-Kürbissen für weitere Bekanntheit. 2 So z. B. von Anne (18 Jahre): „[…] ich hab von Halloween das meiste aus irgendwelchen amerikanischen Soaps oder Comedy-Serien mitgekriegt. Und ich denk mal nich, daß ich da die Ausnahme bin […]“. 3 Dies ist vor allem bei privaten Fernsehsendern, aber auch teilweise bei Zeitungen und Zeitschriften, Radiosendern und auch verstärkt bei Internetangeboten zu beobachten. 4 Sehr kulturpessimistisch sieht Honeyman (2008) gerade in den Angeboten der Süßigkeitenindustrie der USA die Ursache einer unkritischen Konsumhaltung, die Kindern über Halloween vermittelt wird.
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Auch hier ist Korff (2001) zu folgen, wenn er in diesem Zusammenhang Fiske (1989: 35) zu Rate zieht: „Every act of consumption is an act of cultural production, for consumption is always the production of meaning“. Doch welche Bedeutungen werden hierbei produziert? Wer konsumiert wie und warum? Halloween kann mit Sicherheit nicht nur alleine als starker Aufmerksamkeitsgenerator oder auf den kommerziellen Charakter reduziert betrachtet werden. Es gibt Halloween nicht nur als Massenphänomen weil Marketing-Strategien auf dieses Thema setzen. Befragt man Halloween-Teilnehmer in einem explorativen, qualitativ-ethnographischen Leitfadeninterview zur Bedeutung und dem Erleben, so werden hier ganz spezische Sinnmuster deutlich, die differenziert betrachtet werden müssen. Nur so kann den wichtigen Fragen, wer, warum und wie in Deutschland Halloween feiert, auf den Grund gegangen werden – ganz im Sinne der ‚grounded theory‘: auf dem Boden der Tatsachen, bzw. Daten. Dabei sollen allerdings Erscheinungsformen von Halloween, wie z. B. als Event, die, wie oben schon erwähnt, nicht rein als kommerziell erfasst werden können, nicht übersehen werden – im Gegenteil, gerade sie lohnt es sich näher zu betrachten, denn hier wird im differenzierten Konsum bzw. in der Aneignung die unterschiedliche Bedeutung für verschiedene Halloween-Fangemeinden sichtbar.
Exkurs: Historischer Abriß Die Geschichte von Halloween beginnt vor über zweitausend Jahren zu einer Zeit als Irland, Schottland, Wales, England und der Norden Frankreichs die Kerngebiete der keltischen Stämme bildeten. Die Kelten der Bronzezeit hatten vier Großfeste, die eng mit dem jahreszeitlichen Geschehen in der Natur verbunden waren: Imbolc am (heutigen) 1. Februar, Beltane am 1. Mai, Lugnasad am 1. August und Samhain am 1. November (vgl. Moore 1996). Beltane und Samhain hatten dabei noch einen herausragenden Stellenwert, denn am Ende des Winters (Beltane) sollte das Vieh auf die Weiden geführt werden und am Ende des Sommers (Samhain) musste das Vieh wieder sicher in den Stallungen sein. Für die Kelten, in deren Siedlungsgebieten der Winter früh begann und spät endete, waren dies sehr wichtige Zeitpunkte im Jahr, da sie überwiegend von ihren Herden und von der Jagd lebten. Samhain war zudem ein Erntefest, denn auch die Felder mussten bis zu dieser Zeit abgeerntet sein. So wurde der Sommer dann mit großen Eß- und Trinkgelagen verabschiedet (vgl. Bannatyne 1990). Zugleich war Samhain aber auch das keltische Neujahrsfest und somit der heiligste und wichtigste Tag im Jahr. Von Beginn an war dieser Tag dem Totengott gewidmet, der dem Fest auch seinen Namen gab, welches den Kelten half, eine Verbindung mit ihren Vorfahren und ihrer Herkunft zu knüpfen. An Samhain, so
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der Glaube, sei nämlich der Schleier zwischen der Welt der Lebenden und der Welt der Toten geöffnet. Die Seelen der Toten, die das vergangene Jahr über verstorben waren und z. T. in niederen Tieren gelebt haben, kommen noch einmal – wenn es dunkel wird – zu ihren Häusern und Verwandten zurück, um anschließend vom Totengott ins Reich der Toten geleitet zu werden. So wurden abends große Feuer (bonre), entweder zur Begrüßung oder zur Vertreibung der Geister, entfacht. Die Feuerstellen in den Häusern wurden gelöscht und mit dem neuen großen Feuer, dass am letzten Tag des Oktobers entfacht wurde, wieder in Brand gesetzt um diesen Tag des Übergangs und der Erneuerung zu symbolisieren. Ein weiterer Brauch war das Bereitstellen von Speisen und Getränken, um die Geister zu besänftigen oder um die ehemals Verwandten noch einmal im heimischen Haus zu begrüßen. Grauenvolle Masken wurden getragen um die Geister glauben zu lassen, man sei einer von ihnen und – natürlich um nicht selbst erkannt zu werden. Aber vieles liegt im Unklaren: „We can only guess at the connections people made between the harvest of crops, the slaughter of animals, and the death of human beings in the cycle of life; or between the ritualized and stylized offering of food to spirits and their representatives: real human beings who need food to live“ (Santino 1994: XV). Allerdings wurden nicht nur eher harmlose Bräuche praktiziert. Der 1. November beinhaltete neben dem Großfest Samhain noch ein weiteres Fest, Taman genannt. Die Kelten glaubten, dass die Sonne den Winter über geschwächt wird und sie befürchteten, dass sie eines Tages nicht mehr aufgeht. Mit Taman wurde die Sonne geehrt und Baal, der Sonnengott, angebetet. Offenbar waren die bonre auch dazu da, um die schwächer werdende Sonne zu stärken, quasi sie wieder zu erwärmen. Weissagungen und Magie sollten an diesem Tag eine ganz besondere Kraft haben und so waren Druiden gefordert wie an keinem anderen Tag im Jahr, sie versuchten den Verlauf des kommenden Winters und auch des nächsten Jahres vorauszusagen. Pferde, die heiligen Tiere des Sonnengottes, wurden in den großen Feuern geopfert und aus den Bewegungen ihrer Todeskämpfe versuchten die Druiden die Zukunft zu lesen. Dies wurde noch bis 400 n. Chr. praktiziert. Es gibt auch Hinweise darauf, dass Strafgefangene in Weidenkägen, die die Form von Tieren hatten, verbrannt wurden (vgl. Linton/Linton 1950 und Bannatyne 1990). Die Römer, die 61 n. Chr. nach Großbritannien kamen, beendeten die Menschenopfer. Dafür beeinussten sie die Inselbevölkerung mit ihrem Fest Pomorum, welches der gleichnamigen Erntegöttin gewidmet war, die wiederum, dem römischen Glauben nach, mit dem Gott des Jahreswechsels, Vertumnus, liiert ist. Aufgrund der Tatsache, dass Pomorum ebenfalls am 1. November gefeiert wurde und es Samhain inhaltlich erstaunlich ähnlich war, verschmolzen die römischen und keltischen Feierlichkeiten mit ihren Bräuchen zu einem Fest, dass später manchmal Lamasabhal genannt wurde. Die Römer brachten auch Äpfel (die Früchte der Liebe
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und der Fruchtbarkeit) und Nüsse mit diesem Brauch in Verbindung, was sich bis in die heutige Zeit halten sollte (vgl. Bannatyne 1990). Irland konvertierte durch St. Patrick ca. 300-400 n. Chr. zum Christentum. Im Zuge der Christianisierung wurden lokale Religionen mit ihren Riten und Bräuchen nicht etwa verboten und abgeschafft, sondern einfach und erstaunlich pragmatisch umdeniert und in christliche Konzepte eingebettet. Santino (1994: XVI) formuliert dies wie folgt: „Thus, in A. D. 601 Pope Gregory I instructed his priests that if, for instance, a group of people worshipped a tree, rather than cut the tree down, leave it standing but consecrate it to Christ. Instruct the people to gather regularly at the same site, Gregory wrote, but explain to them that they were no longer worshipping the tree, but He for whom the tree was consecrated.“ Auf diese Weise wurde der 1. November im 8. Jahrhundert von Papst Gregor III. zum heute noch praktizierten Feiertag Allerheiligen erklärt. Dieser Feiertag wurde von der katholischen Kirche eingeführt, weil die Tage in einem Jahr nicht ausreichten um alle Heiligen zu verehren. So ist Allerheiligen ein Tag für alle bekannten und unbekannten Märtyrer, denen kein eigener Tag zugesprochen werden konnte. Da im Bewusstsein der Bevölkerung ohnehin der 1. November mit dem Tod allgemein verknüpft war, schien dies auch ideal zu passen. Zudem wurden der alte Glaube und das Vorhandensein von magischen Kräften und übernatürlichen Wesen, die einst ein eher wildes und mächtiges Image hatten, umdeniert. Nun standen sie im Rufe etwas Böses darzustellen, das Werk des Teufels eben. Doch etwa 900 n. Chr. musste die Kirche feststellen, dass dies alles nichts nützte. Die Nacht vor Allerheiligen, All hallow’s eve, wurde weiterhin, nur leicht abgeändert in der Tradition von Samhain gefeiert. Der Name wandelte sich später von All hallow’s eve über Hallow even in die heute gebräuchliche Bezeichnung Halloween. Um diesem Treiben etwas entgegen zu setzen und es allmählich zu absorbieren, wurde um die Jahrtausendwende ein weiterer Feiertag am 2. November eingeführt: Allerseelen. Hier sollten den Seelen aller letztjährig Verstorbenen gedacht werden – eine offensichtlichere Annäherung an Samhain, als dies Allerheiligen war (vgl. Santino 1994 und Linton/Linton 1950). Doch auch dies brachte nicht immer den gewünschten Erfolg. Es dauerte bis ins 14. Jahrhundert, bis dieser Tag überall eingeführt war. Zudem machten der Kirche Hexen und andere von der alten keltischen Religion beeinusste Kulte zu schaffen. Die Landbevölkerung führte neben dem Christentum auch diesen Glauben fort, allerdings gilt die damals praktizierte Magie heute als weiß, nicht als schwarz (vgl. Linton/Linton 1950). Die Kirche schritt aber erst im Mittelalter massiv ein um heidnische Praktiken zu unterbinden und seit der Reformation gelten sie als Ketzerei. Als Resultat formierten sich die Hexenkulte fast europaweit in Opposition zur katholischen Kirche. In ihren Riten machten sich die Anhänger oftmals über die Kirche lustig, nahmen aber auch viele keltische Praktiken wieder auf. So
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entstand der Glaube, dass sich der Fürst der Finsternis mit seinem Gefolge und den Hexen zu den vier keltischen Großfesten an ganz bestimmten Orten versammelt. Bekannt sind in diesem Zusammenhang abseits der britischen Inseln der Blocksberg in Schweden, der Brocken in Deutschland und die Wälder der Ardennen in Frankreich. Bonre wurden nun entzündet um Hexen zu vertreiben, denn die alte Idee, dass Feuer Geister und ähnliche Wesen vertreiben kann, lebte fort, in diesem Fall mit Unterstützung der Kirche. Aus diesem Grund wurden angebliche Hexen verbrannt – nicht unbedingt um sie noch in besonderem Maße zu foltern. Bauern drapierten ihre Mistgabeln mit Stroh, setzten sie in Brand und gingen damit über die Felder um Hexen davor abzuhalten das Ackerland für die Früchte des nächsten Jahres zu verhexen. Schwarze Katzen, die nicht nur als Symbol für Hexen galten sondern als andere Lebensform von Hexen selbst, wurden in einigen Gegenden Irlands und Schottlands noch bis ins 20. Jahrhundert an Halloween verbrannt (vgl. Linton/Linton 1950). Es war an Halloween, 31. Oktober 1517, als Luther seine 95 Thesen in Wittenberg veröffentlichte und damit die Reformation in Gang setzte. Der Grund dies an jenem Tag zu unternehmen, war einfach: Noch immer galt die Nacht vom 31. Oktober zum 1. November als etwas Magisches oder Heiliges und viele Menschen gingen in die Kirche, an deren Tor der Protest zu lesen war. Dieser richtete sich unter anderem auch gegen die Verehrung der Relikte Heiliger, die am folgenden Tag zu Allerheiligen stattfand. Nachdem sich die reformatorischen Bestrebungen Luthers, Calvins und anderer durchgesetzt hatten, wurde für die Protestanten der Allerheiligen-Feiertag abgeschafft. Entgegen der Erwartung, dass es ohne All Hallows Day auch keinen All Hallows Eve mehr geben wird, setzten sich die alten Gewohnheiten und Bräuche doch ein weiteres Mal durch. Halloween wurde weiterhin gefeiert, allerdings veränderte sich der Festtag im protestantisch dominierten England in eine andere Richtung als dies im katholischen Irland oder in Schottland der Fall war (vgl. Bannatyne 1990 und Linton/Linton 1950). Am 5. November 1605 versuchte der ‚Revolutionär‘ Guy Fawkes, im Auftrag der katholischen Fanatiker Robert Catesby und Thomas Winter, das von Protestanten beherrschte englische Parlament in die Luft zu sprengen. Der Anschlag konnte allerdings äußerst knapp verhindert und Fawkes gefasst werden. Er wurde gehängt, ertränkt und gevierteilt. Genau ein Jahr später erklärte das englische Parlament den 5. November zum „nationalen Dankfeiertag“. Halloween, was fälschlicherweise in dieser Zeit mit der katholischen Kirche in Verbindung gebracht wurde, verlor an Bedeutung, die traditionellen Bräuche aber gingen auf den Guy Fawkes Day über. Dies war zugleich ein Akt der protestantischen Regierung um die Unabhängigkeit vom Papst zu verdeutlichen und so wurden folglich in den streng protestantischen Regionen Englands nicht nur Guy Fawkes-Puppen in den großen Feuern verbrannt,
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sondern auch Strohguren, die den Papst darstellen sollten. Dieser Brauch hat sich bis heute erhalten, wobei von Zeit zu Zeit auch andere Personen das Schicksal des Papstes teilen mussten, so z. B. Napoleon, Kaiser Wilhelm II. der Ab del Nasser. Ein weiterer bis heute durchgeführter Brauch ist die mischief night in der Nacht vor dem 5. November, in der Kinder und Jugendliche ihr Unwesen treiben und den Erwachsenen meist harmlose Streiche spielen dürfen – etwas, das sich auch in Irland und Schottland an Halloween bis heute hält (vgl. Bannatyne 1990). Diese kurze Zusammenfassung der historischen Entwicklung in Europa zeigt vor allem eines: Viele Einüsse gesellschaftlicher, religiöser und politischer Art haben das Fest, welches einmal als Samhain begann, über die Jahrhunderte hinweg verändert, den neuen Gegebenheiten angepasst und den Menschen neue Formen und Möglichkeiten des kulturellen Ausdrucks gegeben. In der Zeit kurz vor der Kolonialisierung Amerikas existierten also vielfältige Möglichkeiten Halloween zu feiern, auch unter anderem Namen. Hinzu kamen ähnliche Bräuche und andere regionale Traditionen außerhalb der britischen Inseln, die nun von Auswanderern in den neuen ‚Schmelztigel‘ Amerika überführt wurden. Im 16. und 17. Jahrhundert begannen Europäer den nordamerikanischen Kontinent zu entdecken und erobern. Die Spanier setzten erste Expeditionen in Florida, New Mexico und Südkalifornien ab. Engländer und Holländer siedelten sich im Nordosten an, Franzosen fuhren die großen Flussläufe hinauf, Deutsche, Iren und Schotten fanden Farmland in Pennsylvania und Schweden noch tiefer im mittleren Westen sowie im Bereich der großen Seen. Die Größe der europäisch-stämmigen Population blieb jedoch relativ bescheiden, um 1680 lebten gerade einmal 200 000 Einwanderer in den USA. Erst im 17. und 18. Jahrhundert brachten massive Auswanderungswellen Millionen von Europäern in die dann auch unabhängige USA. Arbeitslosigkeit als Folge der industriellen Revolution, Überbevölkerung mit ihren sozialen Folgeproblemen, Hungersnöte durch Missernten und nicht zuletzt religiöse Verfolgungen waren die „Push“-Faktoren, die Menschen quer durch Europa ihr Glück und ihre Freiheit in Amerika suchen ließen. Jede einzelne Bevölkerungsgruppe in ihren noch nicht unabhängigen Kolonien hatte ihre höchsteigenen religiösen und folkloristischen Bräuche mitgebracht, die nun ungestört in aller Freiheit ausgeübt werden konnten. Dass man dabei zunächst lange Zeit unter sich blieb und wenig Kontakt zu anderen europäisch-stämmigen Gruppen hatte, sorgte dafür, dass eine einheitliche amerikanische Brauchkultur für die Halloween-Zeit im Herbst zunächst nicht entstehen konnte. So siedelten strenge Puritaner, die Feierlichkeiten eher abgeneigt waren, schwerpunktmäßig in Massachusetts, New Hampshire und Connecticut, feierfreudige protestantische Holländer kolonialisierten New York, Deutsche und Schweizer brachten ihren Glauben an Magie und Hexen mit nach Pennsylvania, Katholiken feierten Allerheiligen in Maryland und Virginia erlebte eine Mischung aus katholischen und
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keltischen Feierlichkeiten, die jeweils von der eigentlich protestantischen Church of England mitgebracht wurden (vgl. Bannatyne 1990). Die Wurzeln des amerikanischen Halloweens sind somit in Virginia zu nden. In dieser größten aller neuen Kolonien dominierten englische Siedler, die der Church of England angehörten. Sie feierten den Guy Fawkes Day, allerdings nicht so überschwänglich wie im Mutterland, da die anglikanische Kirche zwar protestantisch, aber nicht in dem Maße papstfeindlich eingestellt war, wie andere protestantische Gruppen. In Virginia lebte aber auch eine Minderheit von Angehörigen protestantischer Sekten, so z. B. schottische Presbyterianer, französische Hugenotten, deutsche Lutheraner und Quäker, die den anti-katholischen Beigeschmack des Festes bereitwillig aufgriffen um daraus den amerikanischen Guy Fawkes Day, der Powder Plot Day oder Pope’s Day genannt wurde, zu entwickeln. In den von Puritanern beherrschten Neuengland-Staaten, vor allem in Massachusetts, versuchten die Kirchenoberen den Pope‘s Day abzuschaffen. Heidnische Bräuche der Kelten waren verpönt, wurden sogar als teuisch angesehen und der relativ freizügige Charakter des Festes war ihnen ein Dorn im Auge. Doch die einfachen Siedler ließen nicht davon ab – so entstand quasi als Kompromiss eine „entschärfte“ Form des Guy Fawkes Day. Nur vereinzelt wurden Strohpuppen durch die Straßen getragen und entzündet, die politische Dimension des Festes blieb aber erhalten und wurde gegebenenfalls neuen Umständen angepasst: So wurde beispielsweise neben der Papstgur auch ein stamp man in Brand gesetzt als Protest gegen die unpopuläre stamp tax. Nach und nach lockerten die Puritaner dann bis zur Amerikanischen Revolution die Bestimmungen und Pope’s Day näherte sich wieder Guy Fawkes Day an. Maskierungen und auch das Heischen wurde geduldet. Während der Revolution aber verschwand diese Art des Feierns und auch anschließend wollte man wohl die katholischen Franzosen, die den Revolutionären zu Hilfe kamen, nicht in Verlegenheit bringen. 1833 wurde Pope’s Day dann endgültig abgeschafft (vgl. Bannatyne 1990). Die umfangreiche Volksgruppe der Deutschen brachte ihren Glauben an Hexen, an okkulte Praktiken und übernatürliche Magie mit nach Pennsylvania. Auch in den nördlicheren Neuengland-Staaten war ein gewisser Hexenglaube auszumachen, doch die deutsche Sichtweise betrachtete Hexen als explizit böse Wesen, die auf ihren Besenstielen zu schwarzen Messen, den bloody sabbaths reiten, wovon eine am 31. Oktober gefeiert wird. Spätestens seitdem werden Hexenkulte eng mit Halloween in Verbindung gebracht und auch die Vorstellung der bösen Hexe hat sich als dominierendes Bild bis heute erhalten. Eine weitere große Einwanderergruppe in Pennsylvania waren Schotten und Iren, die weiterhin Halloween in der keltischen Tradition feierten. Hier sind auch, so Bannatyne (1990), die Wurzeln des „Trick or Treat“ als wichtiges Element des amerikanischen Halloweens zu nden. Junge Männer zogen singend und mit
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grotesken Masken kostümiert durch die Straßen und forderten Äpfel, Nüsse und auch Geld ein. Die Androhung eines Streiches ndet sich hier allerdings noch nicht. Nach der Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten wuchsen die verschiedenen Religionsgruppen stärker zusammen und die Herkunft der Einwanderer spielte eine immer geringere Rolle. Im Zuge dieser Demokratisierung wurde auch Halloween weniger exklusiv, eher öffentlicher als privat und vor allem säkulärer. Trotzdem dominierten die Protestanten die amerikanische Gesellschaft, so dass Thanksgiving noch einen höheren Stellenwert hatte als Halloween. Aber bald entwickelten sich so genannte Play Partys in der Zeit um Halloween, auf denen viele Familien zusammenkamen um bei Tanz, Gesang und Festmahlen hauptsächlich die Apfelernte zu feiern. Die Formen von über die Schulter geworfenen Apfelschalen sowie ins Feuer geworfenen Nüssen wurden zur Wahrsagung verwendet. So sollte nicht nur die Zukunft allgemein vorhergesagt werden, sondern auch die künftigen Ehemänner junger Frauen. Dieser, auch auf den britischen Inseln weit verbreitete Brauch, bekam dann auch seinen Namen aus dem Ursprungsland: Snap Apple Night oder Nut Crack Night. Auch Geistergeschichten und Erzählungen von lebenden Toten wurden in das Fest integriert, was bis heute ein fester Bestandteil geblieben ist. „It is a universal human trait to bring the dead back through the telling of stories, and […] it is just as universal to associate tales of the dead with a community gathering“ (Bannatyne 1990: 59). Im beginnenden 19. Jahrhundert erlebte Halloween durch enorme Einwanderungswellen aus Irland einen entscheidenden Aufschwung. Die Hungersnöte von 1820 und vor allem die von 1846 trieben über eine Million Iren in die USA. Sie siedelten sich zuerst im Nordosten, später dann aber sehr schnell auch in allen anderen Teilen des neuen Landes an und überall wo sie hinzogen, brachten sie ihr noch sehr vom keltischen Ursprung beeinusstes Halloween mit. Die Praktiken der feierfreudigen Iren wurden ebenso schnell von den spaßliebenden Amerikanern übernommen. Weissagungen mit nur von Kerzenlicht beleuchteten Spiegeln in der Nacht, auch wieder mit Nüssen und Äpfeln und auch erste Formen des Trickor-Treat, die sich aus dem Soul-Caking entwickelten waren eine willkommene Abwechslung. Die größte Entdeckung der Iren hingegen war der Kürbis. Musste man in Irland noch mit Kartoffeln oder Rüben von eher kläglichem Wuchs vorlieb nehmen, so konnte man nun den großen amerikanischen Kürbis genussvoll zur Laterne aushöhlen, dessen orangefarbener Schein noch besonders eindrucksvoll wirkte und somit zu dem Halloween-Symbol schlechthin wurde. Diese Laterne wurde Jack O’Lantern genannt, nach der irischen Erzählung von Jack, der den Teufel überlistet hat und so weder in den Himmel noch in die Hölle muss, sondern weiter auf der Erde wandelt und ein Licht in der Nacht braucht. (vgl. Bannatyne 1990). Der Brauch, der Kindern erlaubte, an Halloween den Erwachsenen kleine und harmlose Streiche zu spielen, war fast die einzige erwähnenswerte Entwicklung,
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die Halloween im 19. Jahrhundert nach Ankunft der Iren durchmachte – abgesehen davon, dass Halloween immer mehr an Popularität zunahm. Doch dieses harmlose Treiben wurde in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zum Problem. In den 20er Jahren wandelte sich dies in Richtung Ausschreitungen, Diebstahl und Rowdytum. So wurde versucht, diesen Brauch zu institutionalisieren indem mehr organisierte Kinderfeste unter Aufsicht Erwachsener an Halloween durchgeführt wurden. Eine Antwort auf Vandalismus und Anarchie in den Straßen war Trickor-Treat, welches sich in den 30er Jahren ausbreitete. Trick-or-Treat bedeutet, dass Kinder in kleinen Gruppen durch ihre Nachbarschaft ziehen und vor jedem, vor allem mit Kürbissen dekorierten Haus halten und Süßigkeiten fordern (treat), damit sie den Bewohnern keinen Streich spielen müssen (trick). Dies half dann zumindest nach und nach die Gewalt auf den Straßen einzudämmen, denn das Heischen und die Streiche spielten sich nun mehr in der Öffentlichkeit ab als zuvor. Heutzutage begleiten Eltern ihre Kinder sogar bis vor die Haustüren, so dass es hier nicht mehr zu unkontrolliertem Vandalismus kommt, wobei die Gründe paradoxerweise heute in der Furcht vor gewalttätigen Nachbarn zu suchen sind (vgl. Bannatyne 1990 und Tuleja 1994). Bis zu dieser Zeit waren alte Bräuche, wie z. B. Wahrsagungen, die auch von Erwachsenen praktiziert wurden, fast verloren gegangen. Aus Halloween hatte sich mehr und mehr ein reines Kinderfest entwickelt. Dies änderte sich jedoch nach dem 2. Weltkrieg. In den 60er Jahren entdeckten immer mehr Erwachsene in den Großstädten das Fest für sich. Erste kleine Partys im übersichtlichen Rahmen wurden gegeben, wo natürlich Verkleidungszwang herrschte. Der Ablauf war nicht anders als jede andere Party auch, nur das Motto war neu. Parallel dazu kam es allerdings in den Städten wiederholt zu Ausschreitungen, die bis heute z. T. nicht eingedämmt werden konnten. So ist der 30. Oktober in Detroit als Devils Night bekannt, ein Anlass zur Gewalttätigkeit in Form von Brandstiftung, Vandalismus und Plünderungen. Die Nacht, die zuvor nur den Kindern gehörte (im eigentlichen Sinne war allerdings nur der Abend den Kindern vorbehalten) wurde in den 70er Jahren zunehmend von Jugendlichen und jungen Erwachsenen okkupiert und so bereitete sich das Fest zunehmend einen Weg durch alle Bevölkerungsgruppen und Milieus. Paraden in den Schwulenvierteln von New York (Greenwich Village) und San Francisco (Castro) entwickelten sich zu einem Highlight des Festes, so dass heutzutage bis zu einer Million Menschen die Straßen säumen um eine Parade der Selbstdarstellungen von aufwendig maskierten Halloween-Fans zu sehen, die eine Mischung aus Love-Parade, Christopher Street-Day und Mardi Gras darstellen (vgl. Santino 1994 und Kugelmass 1994).
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Eventisierung
Das heute wohl wichtigste, zur Vermarktung und damit auch zur Produktion der kulturellen Bedeutung Halloweens beitragende Instrumentarium ist seine Inszenierung als Erlebnis, bei dem sich das ursprüngliche Fest in den Charakter eines Events wandelt. Nicht zuletzt die Selbstinszenierung über das Halloween-typische Maskieren im Sinne des distinktiven Mottos „Ich will halt anders sein als die Anderen“ (in Anlehnung an Eckert u. a.: 2000) und das somit ermöglichte partielle aber gezielte Loslassen von der ächendeckenden Affektkontrolle, erfordert ein Emotionsmanagement, welches als Teil einer sich in modernen Gesellschaften ausbreitenden Erlebnisrationalität gesehen werden kann, wie sie Schulze (1992) sieht. Demnach ist Erlebnisrationalität die Funktionalisierung äußerer Umstände für das Innenleben. Der Mensch ist aktiv in die rationale Suche nach Erlebnissen eingebunden, hat er passende Möglichkeiten gefunden, wird das Ereignis erst zum Erlebnis wenn es als innerer Zustand hergestellt ist. Erlebnisse sind somit subjektive Konstruktionen. Ereignisse gelten vor allem dann als erlebnisreich, so Hitzler (2000), wenn sie Affekte nach dem Motto „Ein bisschen Spaß muss sein!“ ermöglichen. Allerdings scheint es vermehrt auch kommerziell ausgerichtete Konstruktionshilfen zu geben – in Form von marktgerechter Erlebnisinszenierung als Event, in dem Rahmenbedingungen vorproduziert und nicht mehr vom Rezipienten/ Konsumenten zu erbringen sind. Als Event bezeichnet Hitzler (2000: 402): „Aus unserem spät-, post-, bzw. reexiv-modernen Alltag herausgehobene, raum-zeitlich verdichtete, performativ-interaktive Ereignisse mit hoher Anziehungskraft für relativ viele Menschen. […] Diese Anziehungskraft resultiert wesentlich aus dem ‚Versprechen‘ einer hohen, teilnehmerspezisch vorangelegten, typischerweise verschiedene Kulturformen übergreifenden Spaß-Erlebens. D. h. Events sind vorproduzierte Gelegenheiten zur massenhaften Selbst-Inszenierung der Individuen auf der Suche nach einem besonderen (und besonders interessanten) ‚eigenen Leben‘“. Schulze (1998) betont zumindest vier Faktoren, die den Event-Charakter ausmachen, nämlich die Einzigartigkeit, bzw. Vergänglichkeit, die Episodenhaftigkeit – so dass der Ablauf einen gewissen Spannungsbogen mit einer inszenierten Dramaturgie aufweist, das Entstehen eines Gemeinschaftsgefühls und auch die Erfordernis eines Minimums an Beteiligung des Publikums selbst. Wie in der Einleitung in diesem Band dargestellt, ist im Rahmen einer Theorie des populären Events zunächst ein prinzipieller Unterschied von populären Events (Love Parade, Big Brother, etc.) zu rituellen Events (Weihnachten, Nationalfeiertag) auszumachen. Im weiteren Verlauf dieses Beitrages wird herauszuarbeiten sein, inwiefern Halloween eher zwischen den beiden Eventtypen steht und welche Merkmale für welchen Typus sprechen.
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Wie auch immer man Event denieren mag in einer Zeit, in der dieser Begriff ein Modewort ist, so scheint es doch einen Trend hin zur Eventisierung zu geben, den auch z. B. Gebhard (2000) im Bereich des Festlichen (hauptsächlich durch Entzauberung der Festkultur hin zur Betonung des Nutzlos-Spielerischen und der Möglichkeit des Sich-Gehen-Lassens gepaart mit dem Prinzip der Gewinnmaximierung wo das Fest zum Selbstzweck wird) und Krüdener/Schulze-Krüdener (2000) im Bereich jugendlicher Brauchformen (durch den Zwang zum Bestehen auf dem Erlebnismarkt durch Innovationen in traditionellen Bräuchen und durch touristische ‚Ausbeutung‘) sehen. In diesem Beitrag soll nun vor dem Hintergrund all dieser und anderer theoretischer Überlegungen gezeigt werden, welche Hinweise für eine Eventisierung von Halloween vorliegen und wie die spezische Struktur und der Ablauf dieses Events im Erleben der Teilnehmer aussieht.
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Differenzierte Event- und Teilnehmertypen
Die im Folgenden dokumentierte qualitative Studie dient einer rein explorativethnographischen Sichtung des Feldes, wobei als methodische, bzw. methodologische Leitlinie galt: „Ethnographische Forschung versucht […] offenzulegen, wie die Subjekte ihre Umwelt, ihre sozialen Beziehungen, Ereignisse und Erfahrungen interpretieren und damit diesen Sinn verleihen. Das bedeutet, sie muß möglichst nahe an die alltäglichen Denk- und Wahrnehmungs- Bewertungs- und Handlungsmuster herankommen, um aus der Binnenperspektive eine andere Welt in unsere Welt transparent zu machen. Denn nur wer in unbekanntes soziales oder kulturelles Terrain eintaucht kann etwas entdecken und verstehen.“ (Vogelgesang/ Schulze-Krüdener 2002: 52–53). Die Analyse des Befragungsmaterials ermöglicht eine Typenbildung, die über den Einzelfall hinausgehende Sinnzusammenhänge eröffnet. Die differenzierte Beschreibung erfolgt dabei in Anlehnung an das Konzept des ‚Idealtypus‘ von Weber (1976: 10): „Damit mit diesen Worten etwas Eindeutiges gemeint sei, muß die Soziologie ihrerseits ‚reine‘ (‚Ideal-‘)Typen von Gebilden jener Art entwerfen, welche je in sich die konsequente Einheit möglichst vollständiger Sinnadäquanz zeigen, eben deshalb aber in dieser absolut idealen reinen Form vielleicht ebenso wenig je in der Realität auftreten wie eine physikalische Reaktion, die unter Voraussetzung eines absolut leeren Raumes errechnet ist.“ Die identi zierten Typen sollen im einzelnen ‚Novize‘, ‚Grusel-Fan‘ und ‚neo-pagan‘ heißen. Sie zeichnet unterschiedliche Grade des Wissens, der Erfahrung, der Involviertheit und der Bedeutung aus. Die Begriffe dienen gleichzeitig als Organisationsprinzip für die Aufarbeitung des empirischen Materials, als auch für die Abbildung der unterschied-
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lichen Teilnahmeformen. Sie stellen nicht unbedingt aufeinander folgende Schritte auf einer Freizeitkarriereleiter dar, die ein Fan ohne weiteres durchschreiten kann. Gerade der Schritt zum ‚neo-pagan‘ ist qualitativ ein derart gewaltiger, dass ein konsequent lineares Durchschreiten der Typen selten vorstellbar ist. Lediglich der Schritt vom ‚Novizen‘ zum ‚Grusel-Fan‘ ist oftmals denkbar. Damit unterscheidet sich die Halloween-Fangemeinde von anderen Jugendszenen, die z. B. auch von der ‚Trierer Jugend- und Medienforschungsgruppe‘ untersucht wurden. Trotzdem bietet sich eine Anlehnung an die begrifiche Markierung an, wie sie von der Gruppe um Eckert (1990) vorgenommen wurde.
Die ‚Halloween-Novizen‘ – „… das ist halt mal was anderes.“ Schon der Begriff des ‚Novizen‘ weist darauf hin, dass diese Gruppe meist nur für einen Tag bzw. eine Nacht in die Halloween-Welt eintaucht, sich diesen Lebensstil quasi wie ein Kurzbesucher aneignet, d. h. keinen direkten Bezug dazu aufbaut, sondern die Befriedigung des Feierbedürfnisses auf eine nicht ganz alltägliche Art anstrebt. Dies lässt sich auch am Ablauf der Halloween-Feier ablesen, die beim ‚Novizen‘ meist im schon vororganisierten Rahmen eines (Jugend-)Clubs o.ä. stattndet. Halloween ist dabei für den ‚Novizen‘ nur ein Anlass von vielen, sich ins Partygetümmel zu stürzen („… also ich hab da nich das Gefühl, daß die Party irgendwie anders ist als andere Partys. Is halt ne Themenparty und das ist ja momentan eh in von daher …“ Anne, 18 Jahre). Es gibt auf diesen organisierten Veranstaltungen zwar einige Requisiten in Form von Dekoration („… mit Gespenstern und Kürbisgesichtern und so weiter …“ Anne, 18 Jahre). und auch Verkleidungen um des Verkleidens Willen, es scheint aber ansonsten eher halbherzig und ohne Skript abzulaufen („Ich glaube, wir haben gar nich so weit gedacht, dass es jetzt eigentlich ne Party is, wo es um Tote oder düstere Seiten geht, sondern es ging eigentlich nur ganz oberächlich um Verkleiden an sich, ohne irgendwelche größere Auslagen …“ Nico, 21 Jahre). Hier zeigt sich, wie wichtig die einfache Verfügbarkeit einer Halloween-Party ist. Der ‚Novize‘ muss ohne Probleme ein solches Event nden, was durch die Veranstaltungen in den ortsüblichen Locations gesichert ist. Des Weiteren muss der ‚Novize‘ ohne größeren Aufwand teilnehmen können, im Höchstfall sich eine Verkleidung besorgen, aber eben bitte ohne größere Auslagen. Werden diese Bedingungen erfüllt, ist es ein leichtes den angekündigten Spaß auf sein Eintreten hin zu kalkulieren, denn nun kann, da es ja Vergleichsmöglichkeiten mit anderen, fast alltäglichen, Mottopartys gibt, sehr rational nach Erlebnis geprüft und ausgewählt werden („… es ist der typische Partypowerpack rauf und runter da also […] sonst war nichts irgendwie spezielles […] und das fand ich
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ganz witzig, weil das ist bei uns daheim bei dieser einen Party genauso, also es is auch wirklich nich dann für die Leute, die es ganze Jahr so rumlaufen, sondern für das breite Volk vielleicht mal.“ Anne, 18 Jahre). Den ‚Novizen‘ bedeutet Halloween durch die Austauschbarkeit und aufgrund des geringen Involvements nicht viel („Also ich renn jetzt auch nich an Halloween rum und denk mir, heute ist irgendwie die Nacht des Teufels oder Hexen sind unterwegs, sondern …. also ich verbind mit dem Tag nix besonderes eigentlich …“ Anna, 18 Jahre). Der Spaß steht im Vordergrund, aber trotzdem ist Halloween kein Anlass, um eine besondere Emotionalität auszuleben. Es ist Spaß, geselliges Treffen, zwar nicht alltäglich, aber ohne Kontrollverlust („… ich würde so en Anlass nie dazu benutzen, um jetzt irgendwie großartig auszuticken, also ich denk mir, wenn man das normal nicht kann, nd ich’s ziemlich kläglich, wenn man so’n Anlass braucht um irgendwie da über die Strenge zu schlagen“ Nico, 21 Jahre). Der Sinn ist also einzig und allein im Spaß-Erleben selbst zu nden, das sich nur innerhalb dieser speziellen Situation in diesem festgelegten Rahmen einstellt. Eine Besonderheit, die von großer Bedeutung ist, ist die Verkleidung. Sie stellt den wichtigsten Aspekt von Außeralltäglichkeit dar. Halloween bietet für die ‚Novizen‘ eine unverbindliche Möglichkeit der Maskierung und stellt so den idealen Rahmen dar, um eine sonst verborgene Seite der Persönlichkeit auszuleben, solange dies aber auch nicht zu weit geht („… klar stand dieses Verkleiden im Vordergrund, was ja auch bei Halloween mit ne große Rolle spielt, allerdings, ähm, wurden da jetzt keine Halloween-Rituale oder sonstwas gefeiert.“ Nico, 21 Jahre). Halloween hat für den Novizen weder eine herausragende Stellung im Vergleich zu anderen Mottopartys oder ähnlichen Events, auch wird Halloween nicht mit besonderer Feierlichkeit zelebriert, dennoch besitzt es einen gewissen Ausnahmecharakter, der in einer Art Eskapismus aus dem Alltag mündet („… ja also ich mein, das trifft vielleicht schon so’n bißchen zu, ja Flucht vielleicht nich ganz, aber […] ungefähr vielleicht diese Richtung, also bei den meisten Leuten, die sich gern verkleiden, oder auf so Partys gehen …“ Anna, 18 Jahre). Den ‚Novizen‘ ist es schon bewusst, dass Halloween für sie kommerziell als Event organisiert, und auch sonst, z. B. auf dem Dekorationsmarkt, als nette Abwechslung für die Kunden, inszeniert wird („Weil halt, ich nehm an, das ist wie bei dem Valentinstag, der war früher bei uns auch eigentlich nich so gebräuchlich. Also da kann man halt ne Menge Geld mit machen und jetzt feiert’s plötzlich jeder, also mit Kärtchen und Geschenken und Blumen und ich denk, […] so wird es auch mit Halloween laufen. Kann halt noch mal Geld damit machen.“ Anna, 18 Jahre), was aber dem Spaß offensichtlich nicht hinderlich ist. Es zeigt auch, dass es kaum oder wenn, dann nur rudimentäres und verschwommenes Wissen über Halloween gibt („ich wüßt nich mal wann’s Datum is genau, wenn man mir das nich sagen würde“ Anna, 18 Jahre). Wer ein solches
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Fest nicht selbst organisieren muss und nicht so stark involviert ist, der interessiert sich offensichtlich nicht so sehr für das Hintergrundwissen, da es ja nur eine von vielen Themenpartys ist („Also ich weiß eigentlich nur, das was man mir erzählt hat und ich glaub das war irgendwas ….. ähm …. ne den Winter vertreiben kann’s gar nich sein um die Zeit. Oder man wollte die Hexen vertreiben oder … aber ich bin mir nich sicher …“ Anna, 18 Jahre).
Die ‚Grusel-Fans‘ – „… das ist so ein bisschen mystisch, so schön gruselig.“ Für den ‚Grusel-Fan‘ ist Halloween ein Anlass, um seinen ganz spezischen Bedürfnissen nachzukommen, d. h. sich auf eine Art und Weise zu zeigen und einen Teil seiner Persönlichkeit auszuleben, der sonst eher im Verborgenen gehalten wird: Das Böse, der Spaß am Gruseln und das Vergnügen am Unheimlichen ist ausnahmsweise erlaubt. Die kontrollierte Lust am Grauen, deren Erzeugung in der hoheitlichen Verfügung des Einzelnen liegt, weist Gemeinsamkeiten mit der Verwandlung von Angst in Lust aus, wie sie Eckert (1990: 48) auch am Beispiel der Horrorlm-Fans aufgezeigt hat: „Der entscheidende zivilisatorische Schub ist, dass die Individuen nicht mehr wie im Mittelalter von kollektiv geteilten Ängsten überwältigt werden, sondern dass die wachsende Selbstkontrolle, der die einzelnen unterworfen sind, auch ihre Phantasien und Ängste erfasst. Diese werden immer weniger unfreiwillig durch äußere Ursachen ausgelöst. Ihre Erzeugung, die durch das Fehlen realer Gefahren einen spielerischen Charakter gewinnt und sich so in Lust verwandelt, liegt immer mehr im Belieben des Einzelnen.“ Diese besondere Bedeutung drückt sich schon darin aus, wie der ‚Grusel-Fan‘ Halloween feiert. Er verlässt sich nicht auf vorinszenierte Veranstaltungen, sondern richtet Halloween-Partys selbst aus oder vergnügt sich im kleinen Kreis auf Feiern von engen Bekannten und Freunden. Wichtig sind dabei Requisiten und Dekorationen, die eingesetzt werden, um den Ort und die Feier zunächst als außeralltäglich zu markieren („Zu Halloween haben wir den großen Raum mit Spinnweben und Stoff zugehängt und an den Wänden und als Raumteiler Pressspanplatten, die meine Schwester mit lustigen Skeletten verziert hatte, aufgestellt. Außerdem wurden der Fußboden und Türen mit Efeuranken bedeckt. […] Die Türklingel, beziehungsweise ein Trittschalter waren mit der Nebelmaschine gekoppelt. Und im Garten, der nach Friedhof aussah, sorgten dann noch Xenonblitz- und Flackerlampen für eine richtige Gewitterstimmung.“, Stefan 25 Jahre). Die Vorbereitungen können also ein enormes Ausmaß einnehmen, es werden keine Kosten und Mühen gescheut. Von ausgehöhlten Kürbissen über Kerzen und Fackeln, schwarzen Tüchern, künstlichen Spinnweben,
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‚Gruselkeksen‘ mit Botschaft bis hin zu bunt gefärbten Snacks ist alles dabei, was eine Halloween-Fete von anderen abhebt Typisch für ‚Grusel-Fans‘ ist, dass sie sich aus diversen anderen Jugendszenen rekrutieren, die eine große ästhetische Nähe zum Halloween-Stil aufweisen – wie z. B. Rollenspieler, Dark-Waver, Gothics, Horrorlm-Freaks, etc. Halloween ermöglicht ihnen einmal im Jahr ihren Stil zu präsentieren ohne auf Ablehnung zu stoßen, sowie auch das kurzzeitige Angebot an speziellen Accessoires auszunutzen („… deshalb ist Halloween jetzt eigentlich für mich, das is für mich eigentlich gar nicht dieses Verkleiden, das ist für mich das Normale. […] und deshalb ist Halloween auch en riesen Spaß, weil auch in den Geschäften davor, die Zeit davor, da geh ich immer so gern in die Spielzeugläden, weil es gibt da diese Fledermäuse, Plastikedermäuse, Spinnen, dann so Skelettrasseln und also so tolle Accessoires, die ndest zu sonst gar nicht und ähm das passt alles und … ich kauf mir dann auch viel so für zu Hause um dekorieren“ Alice, 19 Jahre). Halloween ist also auch ein fester Bestandteil spezieller Szenen der Populärkultur, z. B. eben der ‚Grufties‘. Dies führt zumindest dann aber auch zu dem Problem, dass der Halloween-Stil innerhalb des alltäglichen ästhetischen Settings des GruftieDaseins als nicht besonders außeralltäglich gelten kann, was sich sehr einfach in der folgenden amüsanten Bemerkung kristallisiert: „Nur wie soll sich ein Gruftie bloß an Halloween verkleiden?“ (Ute 21 Jahre). So ist dieses Erleben eher als routinisierte Außeralltäglichkeit zu bezeichnen. Jeder ‚Grusel-Fan‘ weiß was er an Erlebnis erwarten kann, da er dies in seiner kleinen Lebenswelt regelmäßig so oder ähnlich auskosten kann. Um dieses Dilemma nun zu umgehen und um Halloween doch einen gewissen Ausnahmecharakter zurückzugeben, muss mittels Rahmung und Inszenierung die Halloween-Party als ein Ort gekennzeichnet werden, der sich eben doch von z. B. Depeche-Mode-Partys, wie sie fast alltäglich in der Gruftie-Szene zu nden sind, abhebt. Hier sind die besonderen und aufwendigen Dekorationen und Accessoires als Hilfsmittel zu nennen. („Ja halt von der Dekoration her und … ja ich würd’s eigentlich hauptsächlich an der Dekoration festmachen und dass die Stimmung halt vielleicht en bißchen festlicher war. Also dass vielleicht die Leute sich mehr Mühe gegeben haben mit ihrem Styling.“ Alice, 19 Jahre). Darüber hinaus ist auch ein erstes Einbauen von zumindest ansatzweise rituellen Handlungen in Form von Tänzen o.ä., die aber keinen festgelegten Skripten oder Abläufen unterliegen („Ich glaub, wir machen einfach. Ob das wirklich so geht, ist die Frage. Wir nennen das einfach mal so Hexentänze. Und .. was wir damals, oder was eben damals so gemacht wurde, war dann mit so Farbbändern, die dann … da war, stand en Baum recht frei, günstig, da wurden dann so Farbbänder angehängt […] Und da wurde eben so en bißchen gesungen und geträllert und dazu dann eben mit diesen Farbbändern gespielt einfach in dem Sinne, ob das jetzt wirklich von den
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Schritten her der richtige Tanz gewesen ist, das möchte ich mal nicht behaupten […] das war jetzt einfach von den Schrittfolgen sicher kein überlieferter Tanz, der so … geschrieben worden ist, sondern das war einfach das … so wie es uns gerade eingefallen is einfach.“ Kristin, 25 Jahre). Ein ganz zentraler Punkt ist auch hier die Verkleidung, die dann oftmals über das ‚normale‘ Gruftie-Outt hinaus geht („… also ich hab weiße Schminke, dann halt …. ganzen ja Vampirzähne gibt’s ja auch und dann halt auch … so Kajal, roten Lippenstift und auch …. ja die Haare halt manchmal kannst de ja auch ansprühen. Aber meine sind ja halt schon sehr dunkel, also die sind ja schon schon fast schwarz, deshalb mach ich da nichts dran. Ja und die Klamotten halt ähm so … halt sehr …. also so en bißchen abgefahren. […] Ja ähm … so Hexenröcke mit Spitze und ähm … dann so hohe Stiefelchen, so Hexenstiefelchen und …. ja Handschuhe und einige die hatten auch so richtige Hexenhüte an“ Alice, 19 Jahre). Die Lust am Verkleiden, sich im richtigen Rahmen unter Gleichgesinnten selbst zu inszenieren und alles andere außen vor zu lassen, ist wohl die größte Bedeutung der Maskerade an Halloween („Ja …. vielleicht diese Zeigefreudigkeit, also noch extremer aussehen. Dass man dann sich noch mehr Mühe gibt und noch wilder austeilt und dann irgendwie einfach wirklich das macht, wozu man Lust hat. […] Und deshalb suchst du dir schöne Kleidung aus und … dann fühlst du dich den ganzen Abend viel besser und dann an Halloween gibst du dir noch mehr Mühe und ziehst dich noch schöner an und schminkst dich besser und das ist dann wirklich …. also en perfekter Abend dann. Und du merkst es ja dann auch, die anderen geben sich ja auch Mühe und das ist dann …. ja es is dann nich so egal, wie du dann aussiehst“ Alice, 19 Jahre). Dies macht somit auch die besondere Stellung von Halloween aus: Man trifft sich als ‚Grusel-Fan‘ zumindest dann einmal im Jahr innerhalb der Szene (seien es nun Rollenspieler oder ‚Grufties‘), setzt seinen Stil in Szene, schaut sich um und wird selbst auf seine ästhetische Präsenz hin begutachtet. Zwar dominiert Halloween nicht diese Spezialkulturen, denn daneben gibt es z. B. für die ‚Grufties‘‚ noch andere wichtige Events (wie etwa Szene-Convents oder auch die Walpurgisnacht), aber es stellt einen für die Szene bedeutsamen, immer wieder neu inszenierten Kristallisationspunkt ästhetischer Stile und kultureller Praktiken dar. Die sich hier vollziehende Integration nach innen (in die Szene) geht dabei natürlich auch einher mit Desintegration nach außen. Unterstützt wird diese Distinktion durch Maskerade, die als Selbstinszenierung eines Teils der Persönlichkeit offensichtlich auch zur Abgrenzung von anderen Halloween-Fans (den ‚Novizen‘) und von der Allgemeinheit, die es geradezu zu schocken gilt, dient („Aber ich merk das halt, wenn ich auf der Strasse geh oder wenn ich in nem Lokal bin, die Leute sind total entsetzt […] ja ich weiß nich, was in den Leuten dann vorgeht, aber die gucken dann schon en bißchen, also neugierig oder halt erschreckt oder … ir-
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gendwie so en bißchen … angeekelt“ Alice, 19 Jahre) („Anders sein mit Absicht. Selbstdarstellung, wir verkleiden uns. Ja genau. Und andere … ja andere vor den Kopf stoßen, ja wahrscheinlich. En bißchen doch, wenn so ne alte Oma dich im Bus sieht“ Eva, 18 Jahre und Sabine 24 Jahre). Somit ist es leicht vorstellbar, wie sich kulturelle Auseinandersetzungen an Halloween und den beteiligten Szeneangehörigen entzünden können. In enger Verbindung zur erwähnten Stellung im Leben der Szenen steht auch die deutlich ausgeprägtere Ehrfurcht vor und Zelebrierung von Halloween. Der Reiz des Bösen, des Dunklen und Düsteren macht die besondere Atmosphäre aus („Äm, ja das ist halt kein christliches Fest und äm du hast dann dieses ganze Grusel- und Gespensterzeug drumrum und dieses Hexenzeug. Also ist so en bißchen mystisch. Also … ist halt reizvoller. Ja, ist es halt ne andere Art Spaß zu haben, bißchen – ja doch schon“ Alice, 19 Jahre). Eine andere, feierlichere Art Spaß zu haben als bei den ‚Novizen‘ also, dennoch aber auch nicht soweit, dass es zu kultischen Handlungen kommt („Eines ist mir bei solchen Festivitäten schon wichtig: Ich unterstütze weder Götter noch Kulte. […] Wenn wir z. B. eine gruselige Atmosphäre schaffen wollen, dann gelingt es uns auf schon beschriebene Art und Weise und nicht vordergründig durch okkulte Symbolik. Wir verwenden zwar schon das Kreuz oder das Pentagramm aber ein umgedrehtes Kreuz oder ein auf der Spitze stehendes Pentagramm verwende ich nicht und verbitte ich mir auch bei meinen Gästen. […] Gerade Halloween ist eine Feierlichkeit in einem Rahmen, der für viele hart an der Grenze des guten Geschmacks ist. Bisher haben bei unseren Feiern Kirchgänger und Esoteriker genau wie Ungläubige viel Spaß gehabt. Und wenn das eines Tages nicht mehr so sein sollte, werde ich nicht mehr mitfeiern, denn dann ist es keine Feier mehr, sondern ein Kult oder sowas.“ Stefan, 25 Jahre). Die Bedeutung im Feiern von Halloween als Fest mit einem düsteren und morbiden Image liegt offensichtlich auch in der Sinnsuche. Oftmals wird es als Antwort oder als Alternative einer unübersichtlichen, anonymen und beliebigen postmodernen Lebensweise gesehen („Weil‘s wahrscheinlich alles so dieses Irrationale is, was aus der heutigen Zeit ziemlich verbannt ist eigentlich …“ Eva, 18 Jahre und Sabine, 24 Jahre). Ansonsten ist der Sinn eher in der Verankerung des Lebensstils zu suchen. Um zumindest diese ‚Sinnnische‘, wie auch immer sie aussehen mag, zu erhalten, fürchten die ‚Grusel-Fans‘ nichts mehr als die Kommerzialisierung und Ausbreitung von Halloween, zumal sie diese Tendenz natürlich schon wahrnehmen. Dabei kommt Halloween zugute, dass es als Fest mit einem gewissen Ursprung automatisch Sinn zugeschrieben bekommt: („Also ich persönlich nd’s einfach irgendwie schön, was zu feiern, wo ich dann auch das Gefühl habe, es hat sogar noch en Ursprung, es hat sich nicht irgendeiner ausgedacht und beschlossen wir feiern jetzt heute, nur weil ich das gut nde,
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sondern es hat einfach irgendwo in einem Volk, in nem europäischen Volk sogar, hat es einfach en Ursprung“ Kristin 25 Jahre). Hier wird schon eine Nähe zu den ‚Neo-Pagan‘ deutlich. Der große Unterschied zwischen den beiden Typen liegt allerdings darin, dass ‚Grusel-Fans‘ allenfalls an keltischer Kultur, oder das was dafür gehalten wird, interessiert sind, dies aber nicht als Grundlage einer religiösen Betätigung ansehen. Sie experimentieren auch nur ein wenig mit Versatzstücken des Okkulten oder Esoterischen, um die Halloween-Party als besonders außeralltäglich aufzuwerten („Ja ich hätte gerne noch en paar Programmpunkte gehabt, wie eben wenn jetzt Tischerücken oder irgend so was … Ja das wär schön gewesen … Sowas okkultes irgendwie noch mit reinbringen. Ich wär so gern auf en Friedhof gegangen mit den Grablichtern, das hätt ich so gut gefunden, aber bei dem Wetter …“ Eva 18 Jahre und Sabine 24 Jahre).
Die ‚Neo-Pagan‘ – „… und dann werden die Gottheiten aufgerufen.“ Der amerikanische Begriff ‚Neo-Pagan‘, also Neu-Heide, besagt schon, dass es sich hier um eine religiöse Gruppe handelt, die sich z. T. auf keltische Religionsaspekte bezieht, bzw. das was sie dafür hält, und sich deutlich von anderen, gesellschaftlich anerkannten, religiösen Gruppen und Bewegungen abgrenzt. Hier geht es also nicht mehr um Spaß und besonderes außeralltägliches Vergnügen, sondern hier wird der Schritt vom Fantum oder einer Jugendszene hin in die Welt einer privatisierten Religion unternommen. Damit kommen diese Gruppierungen den kultischen Gemeinschaften nahe, wie sie Knoblauch (1989: 505) beschrieben und dabei in Anlehnung an Luckmann, den Begriff der „unsichtbaren Religion“ verwendet hat: „Damit bezeichnet man einen zunehmenden Synkretismus, die Pluralität und die Marktorientierung der religiösen Institutionen einerseits, die Privatisierung, ‚Bricolage‘ und ‚Subjektivierung‘ religiöser Glaubensformen andererseits“. Zum Typus des ‚Neo-Pagan‘ sind sehr viele Gruppen zu zählen, die sich mit Formen des Religiösen beschäftigen, die an keltische Überlieferungen angelehnt sind. Auch in dem größten, aus den USA stammenden Hexenkult wicca (dem alle Befragten angehören) gibt es verschiedene Strömungen und ‚Schulen‘, die Halloween jeweils unterschiedlich streng organisiert mit etwas anderen Bedeutungen feiern. Diese einzelnen Richtungen genau zu differenzieren, kann in dieser Arbeit nicht erfolgen. Im Folgenden werden einige Beispiele aus ‚gemäßigten‘ Gruppierungen beschrieben, die auch nicht unbedingt als Idealtypen der Paganisten zu verstehen sind. Welchen Strömungen in diesem Bereich man auch immer besonderes Augenmerk schenkt, es wird deutlich, dass Halloween ganz anders abläuft als bei den vorherigen Idealtypen ‚Novize‘ und ‚Grusel-Fan‘. Dies beginnt schon damit, dass
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der Begriff ‚Halloween‘‚ als eine Bezeichnung für ein kommerzialisiertes Event verstanden und eher abgelehnt wird. Somit kommt bei den Paganisten die alte Bezeichnung Samhain wieder zum tragen, um den keltischen Bezug des Festes zu betonen. Samhain ist hier eines der hohen religiösen Feste, an dem eine von mehreren Zusammenkünften5 zelebriert wird, welche lediglich ein anderes Thema aufweist: Das Verabschieden des alten Jahres, was Samhain zu einer Feier mit relativ dominanter Stellung im Jahresverlauf der ‚Neo-Pagan‘ macht. Das Skript des Ablaufs ist bei der Gruppe der folgenden Paganistin relativ offen, so dass sich jeder Beteiligte einbringen kann („Also dann werden die Elemente aufgerufen und gebeten ihren Schutz zu verleihen, also so symbolhaft, und auch ihre Kraft und ihre Energie und dann könnte man beispielsweise dementsprechend was die Menschen halt benötigen, […] dann würden dann die Gottheiten aufgerufen werden, dementsprechend wie die Leute verbunden sind mit kulturellen Traditionen. Manche Leute beziehen sich da auf nordische Gottheiten, manche Menschen können sich wirklich nur an was ganz abstraktem wie männliches, weibliches kosmisches Prinzip halten usw. […] Ihre Segnung wird dann halt angerufen und erbeten und dann wäre der Platz, zeitlich, um halt bestimmte Arbeiten zu machen, so Abschlußarbeiten beispielsweise oder für Leute die darauf Wert legen irgendwie zu versuchen, […] das kommende Jahr noch zu ergründen per Tarotkarte oder was weiß ich, dann würde sowas stattnden können. […] Da ist wirklich nur der Phantasie der einzelnen Person Grenzen gesetzt, wie man bestimmte Sachen macht.“ Patricia 28 Jahre). Der Alltag erfährt hier also eine deutliche Zäsur. Er wird unterbrochen um über ihn reexiv nachzudenken, abzuschließen und ihn damit zu bewältigen. Somit stellt Samhain zum einen eine Spielart der vormodernen Feier dar (vgl. Gebhard 1987), zum anderen werden hier Aspekte eines Rituals deutlich, was im Folgenden weiter ausgeführt wird. Obwohl der Inhalt sehr offen gestaltet werden kann, ist die Feier deutlich gerahmt. Auch die Markierung als Außeralltäglichkeit, z. B. durch Requisiten („Kerzen jeweils für das männliche und das weibliche kosmische Prinzip und ein Altar in der Mitte“ Patricia 28 Jahre) oder durch ein besonders feierliches Outt wird betont: „Ich habe da immer darauf wertgelegt schon eine Robe anzuziehen […] es ist halt um ein bißchen zu betonen ‚Der Alltag hat hier aufgehört‘, wir sind nicht mehr im Alltag, sondern jetzt ist Festtag“ Patricia 28 Jahre). Diese religiöse Zusammenkunft bedarf natürlich trotz aller Offenheit einer gewissen Vorbereitung und Organisation, wie die anderen Feierlichkeiten der Gruppe auch. Hier spielt ein Priester oder eine Priesterin eine große Rolle („Hoheprister oder Hohepriesterinnen entwerfen meist das Ritual, weil das ist halt ihre Funktion,
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Die anderen Hochfeste der ‚Neo-Pagan‘ sind, wie schon im historischen Überblick erwähnt: Imbolc am 1.Februar, Beltane am 1. Mai (auch als Walpurgisnacht bekannt) und Lugnasad am 1. August.
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auch ihre Fähigkeit, sie haben halt die meiste Erfahrung. Das heißt der Ablauf, also wie werden die Elemente aufgerufen, also den Wortlaut beispielsweise oder wie wenden wir uns an diese weiblichen, männlichen kosmischen Prinzipien, wie machen wir das, wie soll das ablaufen, tagsüber, abends, das Inhaltliche sowohl als auch das Logistische drumherum wie es aussehen soll, inwiefern ziehen wir bestimmte Leute ein, lassen sie halt bestimmte Formulierungen entwerfen“ Patricia 28 Jahre). Es wird deutlich, dass die Handlungen nicht nur auf Worte reduzierbar sind, sondern szenischen Aufführungen gleichen, mit gerichteten, symbolisch aufgeladenen körperlichen Gesten. Sie haben eine festgelegte Eröffnung („Dann wird erstmal der Kreis rituell gereinigt mit Salz und Wasser. […] Dann wird halt dieser Bereich quasi mit Salz und wasser benetzt und dabei wird halt dann einfach ein Schutzspruch ausgesprochen, also das dieser Kreis für diese Zeit halt ein gesegneter und ein heiliger Ort ist.“ Patricia, 28 Jahre) und einen festen Abschluss („Nachdem dann der Inhalt des Rituals mit persönlichen Arbeiten geschlossen ist […] dann kommt dann sacred meal. Also ich würde halt irgendwas mit Keksen halt so mit Zimt und so weiter und halt malt cider machen. Dann wird halt dieses sacred meal gesegnet und dann verteilt. […] Das ist eigentlich schon so der Beginn des Endes, eigentlich so eher der Abschluß des ganzen.“ Patricia, 28 Jahre). Sie sind somit ohne weiteres als Rituale zu bezeichnen (vgl. Bukow 1984, van Gennep 1986 und Hoffmann/Schröder 1996). Rituelle Handlungen sind kollektivorientiert und es entsteht durch ihre Ausführung ein Gruppenbezug. Die Gruppe damit gleichsam zu festigen, ist offensichtlich sehr wichtig für die ‚Neo-Pagan‘, denn sie stehen vor dem Problem, Gleichgesinnte überhaupt erst einmal zu treffen um sich in einer Gruppe zu organisieren. Oftmals bleiben sie, sei es dadurch, dass sie zahlenmäßig einfach zu wenige sind oder auch durch Furcht vor Vorurteilen und Ablehnung ihrer Umwelt, alleine („Vorher war ich halt so alleine und das hat mich interessiert. […] Wicca kannte ich viel früher und habe mich viel früher alleine damit auseinandergesetzt. Bis ich mit anderen Gleichgesinnten zusammenkam, das hat Jahre gedauert. Einfach weil wir können nicht irgendwo unsere Kirche aufbauen und sagen ‚und hier ist jetzt unser heiliger Kreis und da kommen wir jeden Sonntag zusammen‘. […] Es ist einfach ein bißchen schwieriger mit anderen Menschen in Kontakt zu treten.“ Azadeh 32 Jahre). Dieses ‚Brüten im stillen Kämmerlein‘ auf der Suche nach Sinn und Antworten könnte dafür mitverantwortlich sein, dass diese Religion privatisiert und ‚zusammengebastelt‘ wird. Die Art wie dabei gebastelt wird, bleibt so undeutlich wie die Wege der Informationsbeschaffung. Es hängt wohl viel vom Zufall ab und von dem, was der Einzelne für richtig oder wahr hält, wenn Maßstäbe oder Veri kationsmöglichkeiten fehlen. Die größte Rolle spielt Literatur, sowie die mündliche Überlieferung während einer Art Ausbildung vor der Initiation („Und diese Sachen, diese
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rituellen Abläufe, sind vermittelt in Literatur und also auch in Ausbildung. Und daher kommen unsere Strukturen.“ Azadeh 32 Jahre). Zumindest im Rahmen dieser Informationsbeschaffung sind die Gruppen oftmals Teil des ‚kultischen Milieus‘, das Knoblauch (1989) nachgezeichnet hat. Das Netzwerk von Zeitschriften über Esoterikläden und -messen bis hin zu nichtwissenschaftlichen Instituten funktioniert hier wohl sehr gut. „Das kultische Milieu wird zwar ideologisch von gemeinsamen Vorstellungen getragen, sozial aber hat es sich als Markt etabliert; es basiert auf dem kommerziellen Vertrieb besonderer Dienstleistungen, wie etwa bewusstseinssteigernde, körperharmonisierende Therapien, die Weckung verborgener Kräfte, besonderer Erfahrungen, die Erzeugung eines besonderen Wissens usw.“ (Knoblauch 1989: 516). Der Grad der Kommerzialisierung ist allerdings ein deutlich geringerer als bei den ‚Novizen‘ oder den ‚Grusel-Fans‘ („Sonst wird das halt mündlich überliefert, also einfach durch learning by doing.“ Azadeh, 32 Jahre). Außer Literatur werden nur noch einige Devotionalien und Kleidung angeboten und auch dies ist relativ schwierig über eher dünn gesäte Special-Interest-Läden zu beziehen. („Ein Weg ist z. B. in einen Esoterikladen zu gehen und zu sagen ‚Ich möchte was über Hexen wissen, in Deutsch.‘ beispielsweise, und schon kommt man an die Literatur oder über eine Sache kommt man über Zitate an andere Sachen. Und dann kommt man eventuell an eine Adresse, wo dann steht, ‚Wenn sie Interesse haben – Steinkreis e. V.‘ beispielsweise und schon hat man Kontakt mit Menschen und fängt an ein bißchen auszutauschen“ Patricia 28 Jahre). „Die Kulte und noch mehr deren Öffnung zum kultischen Milieu bieten ein vorzügliches Beispiel für solche Sozialformen der Religion, die zum Privatleben kaum in einem anderen Verhältnis stehen als etwa ein Tennisverein. Die inhaltliche Folge der Privatisierung ist die Bricolage, die Konstruktion eines Fleckerlteppichs aus Elementen diverser Weltansichten […]“ (Knoblauch 1989: 519): Schnell wird deutlich, welche grundlegenden Unterschiede zu anderen, anerkannten Religionen bestehen: „Denn die ‚magische Qualikation‘ ist nun nicht mehr auf einige ‚Charismatiker‘ beschränkt, sondern eignet jedermann, sie ist gewissermaßen veralltäglicht und demokratisiert. […] Prinzipiell kann jeder Mensch zum Schamanen oder zur Hexe werden“ (Knoblauch 1989: 509). Das macht sich auch bei der Art und der inneren Organisation der Gruppe bemerkbar („Da ist ein Kreis und dann gibt es andere Menschen, die bevorzugen oder es ist ihnen nicht möglich in einem festen Kreis, oder in einer Gemeinde sozusagen, ihre Feiertage und spirituellen Bedürfnisse auszuleben. Freiiegende Hexe nennt man das, glaube ich, in Deutsch. […] Da gibt es immer so ein Kernkreis von Menschen, der immer wieder zusammenkommt und dann gibt es halt mehr so Satellitenmenschen, die halt kommen, wenn es sie gerade interessiert, aber die nicht so fest mit der Gruppe verbunden sind oder sich so fest verpichtet fühlen. […] Dann gibt es Strömungen dieser Religion, die halt nicht gerade so hierarchisch strukturiert sind und nicht so geschlossen sind und
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dann kann es sein, dann bringt das eine Mitglied ihre beste Freundin mit, weil die gerade Bock hat sich das mal anzugucken usw.“ Azadeh, 32 Jahre). Es zeigt sich hier also, was Knoblauch (1989: 514) zur Entwicklung der kultischen Gruppen formuliert: „Die ‚kultische‘ Form der Religion folgt offensichtlich nicht mehr der herkömmlichen Systematik religiöser Vergemeinschaftung, die zur Kirche hin tendiert; vielmehr zeugt die ‚Öffnung‘ der Kulte von einem sozusagen ‚strukturellen Synkretismus‘ der Sozialformen, die sich an aus anderen institutionellen Bereichen bekannten Vergemeinschaftungsformen orientieren kann“. Dennoch muss es die Gruppe trotz aller Offenheit und Demokratisierung und der damit einhergehenden Fragilität schaffen, die Mitglieder des inneren Zirkels und die periphären Teilnehmer nach innen zu integrieren, da die Gefahr der Zerstreuung der ‚Neo-Pagan‘ in Kleinstgruppen und Individuen, wie schon beschrieben, einfach zu groß ist. Diese relative Abgeschlossenheit führt dann auch dazu, dass diese Gruppen und ihre Praktiken nicht in der Öffentlichkeit präsent sind und somit auch kaum Aufmerksamkeit erfahren, was den Mitgliedern aber oftmals nur recht ist. Samhain bedeutet, wahrscheinlich wie andere große Feiern der ‚Neo-Pagan‘ auch, im außeralltäglichen Rahmen die Möglichkeiten zur Besinnung zu nden („Der letzte Moment war Alltag und […] da hab ich mich mit Gott weiß was beschäftigt und jetzt hab ich das alles abgelegt in diesem Moment und ich bin jetzt an einem heiligen Ort, andere Menschen gehen in die Kirche und durch das Türzufallen fällt das auch von ihnen ab, ich habe nicht den Vorteil einer Tür, die hinter mir zufällt, ich mache das halt auf einer geistigen Ebene oder halt auf einer rituellen Ebene indem ich halt bestimmte Handlungen vollziehe“ Azadeh, 32 Jahre). Anders als bei den anderen Typen gibt es keine Form von Ausgelassenheit, kein kathartisches Ausleben von im Alltag ‚verbotenen‘ Emotionen. Der Sinn ist nicht im Erleben innerhalb eines Lebensstils einer Szene zu sehen, es ist eher der Aspekt der ‚Ganzheitlichkeit‘, der hier zum Tragen kommt und den auch Knoblauch (1989) als zentral sieht („Ich hab das immer als etwas ganz wunderbares gefunden, auch weil ich viel mit Meditation gearbeitet habe, es war etwas wie Grenzenerweiterung, aber nicht im Sinne von ich drehe jetzt irgendwie ab wie LSD, sondern ich bin noch trotzdem meiner selbst bewußt und auch meiner Umwelt und trotzdem das Gefühl diese Grenzen, die wir auf der materiellen Ebene leben, in der wir leben, das diese für einen Moment abfallen, daß ich in dem Moment ein bißchen der gesamten Größe dessen bewußt werde dessen wir alle auch teilhaben“ Patricia, 28 Jahre). Persönliche Sinnndung steht bei den ‚Neo-Pagan‘ im Vordergrund. Es ist vielleicht als Reaktion auf eine zu willkürlich erlebte Zeit der Postmoderne zu sehen, die wenig Raum bietet um im Strom der Schnelllebigkeit innezuhalten und sich seiner selbst und seiner Umwelt zu vergewissern („Es ist für mich auch die Zeit über Verluste nachzudenken, Verluste, was habe ich daraus gelernt, Sachen
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die nicht gut gegangen sind, die schief gegangen sind, Menschen, die ich verloren habe, ob das durch den Tod oder durch andere Instanzen“ Azadeh, 32 Jahre).
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Fazit
Halloween hat einen gewissen Stellenwert auf dem Markt der jugendkulturellen Angebote in Deutschland erreicht. Betrachtet man dieses Phänomen näher, so wird deutlich, dass es sich um mehr als nur eine kurzlebige Mode oder einen Trend handelt. Erstaunlich ist die Entwicklung, die dieses Fest seit der Bronzezeit genommen hat – es wurde den jeweiligen Bedingungen ständig neu und exibel angepasst. Dies setzte sich auch im 20. Jahrhundert fort, so dass Halloween sich vom Gruselfest für Kinder zu einem Event auch für Jugendliche und Erwachsene entwickelte. Dies war zugleich der Startpunkt um – natürlich auch über Medien und als Thema in der Werbung –, in Mitteleuropa (wieder) Einzug zu nden und so begeistern sich seitdem viele deutsche Jugendliche für Halloween-Partys und nutzen diese als Forum, um sich wenigstens einmal im Jahr in sehr außeralltäglicher Form als das in Szene zu setzen, was sonst verboten ist: Als das Böse, das Dunkle und Geheimnisvolle. Halloween ist quasi eine Nische, in der die Zivilisation für eine Nacht ein wenig aufgehoben wird, in der man im allgemein akzeptierten Rahmen sonst verborgene Teile seiner Persönlichkeit durch Maskierung zum Ausdruck bringen und nach erfolgreicher Verwandlung der Angst, die Lust ausleben kann, quasi nach dem Motto: Tot sein und Spaß dabei haben. Hierbei gibt es natürlich differenzierte Bedeutungs- und Erlebnismuster. So lässt sich eine einfache Typologisierung der Teilnehmer vornehmen – in ‚Halloween-Novizen‘, die vor allem den unverbindlichen Spaß des außeralltäglichen Erlebens suchen, über die ‚Grusel-Fans‘, die sich aus vielen anderen Jugendszenen rekrutieren und den Reiz des Dunklen, Düsteren und Mystischen im spielerischen Rahmen und immer auch in Distinktion zu anderen Gruppierungen ausleben, bis hin zu den ‚Neo-Pagan‘, die den keltischen Wurzeln nachspüren und von diesen inspirierte kultische Riten vollführen. Die Ähnlichkeit zum Aufbau anderer populärkultureller Szenen ist auffällig und hier spielt somit auch die Kommerzialisierung und Vermarktung des Phänomens eine immer größere Rolle. Das heute wohl bedeutendste Instrumentarium zur Vermarktung Halloweens ist seine Inszenierung als Erlebnis, bei dem sich die ursprüngliche Feier in den Status eines Events wandelt. Dabei sind qualitative Unterschiede im Eventcharakter je nach Fan-Typus zu erkennen. So sind eher populäre Aspekte zu nden, die sich deutlich von den ebenfalls vorhandenen rituellen Aspekten abgrenzen lassen (siehe Tabelle 1).
Tot aber glücklich Eventaspekte Beziehung zum Alltag
293 Die ‚Novizen‘
Die ‚Grusel-Fans‘
Die ‚Neo-Pagan‘
erlebnisrationaler Eskapismus
routinisierte Außeralltäglichkeit
transzendierte Unterbrechung
Stellung des Events
keine besondere
besondere Stellung in der Szene
dominante Stellung in der Spezialkultur
Ausnahmecharakter/Einzigartigkeit
austauschbar aber aktuell
regelmäßige Neuinszenierung des schon Alltäglichen
ritueller, festgelegter Ablauf
Sinnangebot
situatives Sinnangebot, im Erlebnis verankert
Sinnangebot im Le- universalistische bensstil verankert Weltdeutung, religiöses Angebot
Grad der Kommerzialisierung
hoch, marketingun- mittel, Special-Interstützt terest-Vermarktung
gering, kommerzresistent
Grad der Feierlichkeit
gering, Unterhaltungs- und Spaßcharakter
mittel, ausgeprägte Ehrfurcht
hoch, Charakter eines Großfestes
Integrationsleistung
bezogen auf kurzfristige Situation
bezogen auf spezielles kulturelles Setting
umfassende Integration in die Gruppe
Aufmerksamkeits- hoch, da populäre leistung Veranstaltung
mittel, da Sonderveranstaltung
gering, da Nichtöffentlich
Tabelle 1
Fantypus und Event-Charakter (eigene Darstellung)
Im Einzelnen wären dies (in Anlehnung an die in der Einleitung dieses Bandes dargestellten Aspekte einer Denition von populären Events) die Beziehung zum Alltag, die sich für den ‚Novizen‘ so gestaltet, dass Halloween trotz einmaliger Ereignung im Jahr als relativ alltäglich angesehen wird, da es nur eine Mottoparty unter vielen ist. Hier kann also aus der Erfahrung und mit einer gewissen Erlebniskompetenz rational kalkuliert und dem Alltag entohen werden. Für den ‚GruselFan‘ ist Halloween eine Möglichkeit aus seiner alltäglichen Szeneherkunft heraus routiniert eine trotzdem außergewöhnliche Nacht in Umgebung seiner bekannten Lebenswelt zu erleben. Der ‚Neo-Pagan‘ hingegen durchbricht mit Samhain den Alltag radikal um ihn reexiv zu hinterfragen und ihn transzendental zu bewältigen. Die Stellung des Events Halloween ist für den ‚Novizen‘ keine besondere. Er nutzt es auch nicht als ästhetische Ressource, denn für ihn ist alles austauschbar. Für den ‚Grusel-Fan‘ hingegen ist Halloween einer von wenigen Kristallisationspunkten seiner Spezialkultur und besitzt deshalb in seiner Szene einen schon
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besonderen Stellenwert, auch als Quelle neuer Stilelemente. Für den ‚Neo-Pagan‘ ist die Stellung Samhains schon eine sehr dominante, da es eines von vier Großfesten ist und als Jahresabschluss eine Besonderheit darstellt. Der Ausnahmecharakter ist für den ‚Novizen‘ kaum gegeben, was mit der Austauschbarkeit als Mottoparty zusammenhängt, allerdings besitzt Halloween hier einen hohen Aktualitätscharakter, da es sich ja nur in relativ langen Abständen wiederholt. Für den ‚Grusel-Fan‘ muss Halloween dagegen jedes Jahr neu und besonders aufwendig inszeniert werden, um sich überhaupt noch vom sonst schon alltäglich gewordenen Stil der Szenen abzuheben und einen höheren Einzigartigkeitscharakter zu erreichen. Für den ‚Neo-Pagan‘ ist ein Ausnahmecharakter nur schwer zu erkennen, da er die rituellen Handlungen immer wieder im Jahresablauf inszeniert und diese sich nicht oder nur im geringen Ausmaß von der Verabschiedung des Jahres an Samhain unterscheiden. Das Sinnangebot ist für den ‚Novizen‘ im situativen Erleben verankert. Hier macht nur der Spaß an Halloween den Sinn aus. Etwas anders als beim ‚GruselFan‘, der den Sinn innerhalb des kulturellen Rahmens seiner Szene nden kann. Hier kann er seinen Stil in einer für ihn bekannten Nische gefahrlos ausleben. Für den ‚Neo-Pagan‘ stellt Samhain dagegen ein religiöses Sinnangebot dar, das über die eigene Lebenswelt oder den eigenen kulturellen Rahmen weit hinausreicht. Was den Grad der Kommerzialisierung angeht, so ist dieser bei den ‚Novizen‘ sehr stark ausgeprägt. Halloween-Partys u. ä. werden längst unter Marketinggesichtspunkten organisiert und gemanagt. Beim ‚Grusel-Liebhaber‘ ist dies nicht so einfach möglich, denn er verabscheut den Kommerz und vorinszenierte Großveranstaltungen, sondern nimmt das Heft lieber selbst in die Hand, um seine eigenen Vorstellungen mithilfe diverser, dann aber wieder im Rahmen des Eventmarketing vermarkteter, Accessoires und Requisiten zu verwirklichen. Beim ‚Neo-Pagan‘ ist die Kommerzialisierung kaum ausgeprägt – schlicht und einfach auch weil der Markt innerhalb dieser Spezialkultur zu klein und uninteressant für Event-Pros ist. Der Grad der Feierlichkeit hängt stark mit der Bedeutung und der Stellung von Halloween für den jeweiligen Fan-Typus zusammen. Bei den ‚Novizen‘ ist er sehr gering ausgeprägt – hier ist nur der Spaß- und Unterhaltungscharakter zu nden. Bei den ‚Grusel-Fans‘ ist schon mehr Erfurcht vor Halloween zu erkennen und hier sind die Abläufe auch schon deutlich feierlicher und festgelegter. Für den ‚Neo-Pagan‘ ist Samhain als Hochfest Auslöser und Ort ritueller Handlungen. Sie werden sehr feierlich inszeniert und gerahmt. Die Integration, die Halloween für die ‚Novizen‘ leisten kann, ist nur sehr gering. Allenfalls kurzfristig in der Situation der Halloween-Party, aber auch dann nur unter erschwerten Bedingungen, da die Teilnehmer oftmals als das gewöhnliche Partyvolk zu heterogen strukturiert sind. Die Integrationsleistung für
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die ‚Grusel-Fans‘ ist dagegen deutlich höher, aber auf das spezische kulturelle Setting bezogen. Hier ist, wie schon erwähnt, Halloween ein Kristallisationspunkt eines umfassenden Beziehungsnetzwerkes mit gemeinsam geteilten kulturellen Praktiken. Bei den ‚Neo-Pagan‘ ist die Integration nur auf die sehr kleine Lebenswelt bezogen, dort aber wegen des fragilen Zustandes von großer Wichtigkeit und somit sehr umfassend. Die Aufmerksamkeitsleistung für Personengruppen, die keine Teilhabe an Halloween haben, ist bei den ‚Novizen‘ sehr hoch, da es sich hier um sehr populäre Veranstaltungen im bekannten Rahmen handelt. Dies ist bei den ‚GruselFans‘ weniger stark ausgeprägt, da es sich doch eher um Sonderveranstaltungen sehr spezieller Szenen handelt, wobei hier aber das Koniktpotential im Rahmen kultureller Auseinandersetzungen deutlich stärker ausgeprägt ist. Die ‚Neo-Pagan‘ hingegen handeln abseits der Öffentlichkeit und tragen somit zu einer Aufmerksamkeitsleistung nur sehr gering bei. Zusammenfassend lässt sich also erkennen, dass das Halloween der ‚Novizen‘ einen sehr ausgeprägten Populärcharakter aufweist. Für die ‚Grusel-Liebhaber‘ trifft dies nur eingeschränkt zu und für die ‚Neo-Pagan‘ eigentlich überhaupt nicht. Hier kommt der rituelle Charakter zum Vorschein und rückt Halloween/Samhain deutlich in die Nähe ritueller Events. Somit ist ein Wandel vom Populärevent zum rituellen Event parallel zum Ansteigen des Ausmaßes an Involvement quer über die drei Fan-Typologien erkennbar. Dies ist in der Tabelle 1 noch einmal verdeutlicht. Die Wandlungen qualitativer Art vom populären zum rituellen Event lassen Halloween also keinen eindeutigen Event-Charakter zukommen – die Bezeichnung als Event-Mix mit sowohl populären, als auch rituellen Aspekten scheint hier sinnvoll zu sein.
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Da war noch was: Zur Eventisierung des Jugendbrauchtums in der Region am Beispiel der Spaßfeten Bettina Krüdener und Jörgen Schulze-Krüdener
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Jugendbrauchtum als oft übersehene Facette des Jugendlebens im ländlichen Raum
Während sich die sozialwissenschaftliche Betrachtung von jugendlichen Lebenswelten darin überschlägt, immer neue jugendkulturelle Stile und Praxisformen zu entdecken und diese in immer schnelleren Rhythmen als populäre, urban-globale ‚In-Kulturen‘ zu deuten und sogar als kulturelle Produktivkraft beschleunigend auf den Globalisierungsprozess wirkend zu verorten (vgl. Villányi/Witte/Sander 2007), stellen Formen und Felder jugendlicher Brauchinszenierung mit historischen Wurzeln oder alten Traditionen als Ressource und Aktionsfeld jugendkultureller Selbststilisierung, Vergemeinschaftung und Praxis eine oft übersehene, bisweilen ignorierte Facette des Jugendlebens und der Jugendszenen dar. Jugendbräuche gelten als überholt, antiquiert, rückwärtsgewandt oder als Marginalien und folkloristische Relikte, die in die Asservatenkammer volkskultureller Restbestände gehören, also überhaupt nicht zum Bild einer zukunftsorientierten, innovativen, selbstbestimmten und populärkulturell geprägten Jugend zu passen scheinen. Dass Brauchformen aber zum Jugendalltag gehören und ein relevanter Teil im Ensemble jugendeigener Kommunikations-, Gruppen- und Erlebnismuster sind, hat bereits vor einiger Zeit eine Untersuchung zur Lebenswelt von Jugendlichen in städtischer und ländlicher Umgebung deutlich gemacht (vgl. Vogelgesang 2001: 87 ff.): Zwei Drittel aller Befragten im Alter von 14 bis 25 Jahren geben an, aktiv an Jugendbräuchen teilgenommen zu haben. Insbesondere in ländlichen Räumen gibt es eine Vielzahl tradierter Brauchtumsformen, deren seit alters her überlieferte Traditionen weit in die Vergangenheit hinein reichen, häug aber im Laufe der Jahre ihren Stellenwert verloren und teilweise nachhaltige Veränderungen hinsichtlich ihrer Ursprungsbedeutung erfahren haben. Mailehenversteigerung, Schariwari, Misrule, Pngstquak, Laxemkochen, Martinsfeuer, Fastnacht, Schützenfest, Kirchweih usw. sind Beispiele dafür, dass zu bestimmten Anlässen oder Jahreszeiten historisch verbürgte Traditionen nach wie vor gepegt werden oder
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Bettina Krüdener und Jörgen Schulze-Krüdener
aber, nachdem sie vorübergehend verschwunden waren, wieder als Ort von Kommunikation und Kommerz sowie als Bühne für Selbstdarstellungen und kollektive Inszenierungen zurückkehren. Vielfach werden die herkömmlichen Brauchtumsformen von den Jugendlichen (teilweise) modiziert und modernisiert. So hatte beispielsweise das sogenannte (Mai-)Lehenausrufen – das ehemals dem Verkuppeln und Verheiraten der ledigen Dorfbewohnerinnen zugedacht war – bis Anfang der 1990er Jahre noch den Zuschnitt in Form eines Balls. Heute wird es im Gewand einer Disco inszensiert und zum Teil ‚eventisiert‘ – mit Karaoke und Tombola (vgl. Krüdener/SchulzeKrüdener 2000). Dieses neue Mischungsverhältnis von Traditionsaspekt und Eventisierung ist nicht nur eine Folge der Bewegungen und Veränderungen (in) der Lebenswelt der jungen Menschen (vgl. Andresen 2005, Ferchhoff 2007), sondern auch Ausdruck der Umstrukturierung ländlicher Lebensräume (vgl. Krüdener 2000; Gentner/ Krüdener 2001). In den letzten Jahrzehnten hat eine Modernisierung des Landes stattgefunden und auf’m Land ist mehr los (als man denkt). Auf dem Land ist ‚nix los‘ – die Lebenssituation von Jugendlichen im ländlichen Raum wurde lange Zeit mit Schlagworten wie Langeweile, Perspektivlosigkeit, geringe Freizeitangebote usw. umschrieben. Diese Einschätzung korrespondierte mit einem Bild, dass die Dorföffentlichkeit nur wenig Verständnis für die jugendkulturellen Anliegen und Freiraumbedürfnisse Jugendlicher hat. Dieser Umstand – so wurde geschlussfolgert – macht es oft schwer, salopp gesagt, auf dem Land was los zu machen. Aus diesem Grunde ist vor allem die Jugend viel unterwegs – irgendwo muss doch etwas loszumachen sein. Das Land ist aber seit den 1970er-Jahren nicht mehr rein dörich geprägt und der Modernisierungsprozess ländlicher Jugendwelten mit dem Stadt-LandParadigma nicht mehr hinreichend erfassbar: Das Gegensatzpaar Stadt/Land ist diffus geworden. Zwischen Dorf und Stadt hat sich die Region als Bezugsgröße der modernen Vergesellschaftung des ländlichen Raums geschoben, wobei die Lebenslage der Jugendlichen von dieser neuen Regionalität besonders erfasst und geprägt ist (vgl. Kröcher 2007). Heute haben die ländlichen Regionen ein modernes Gesicht mit einer Vielzahl kultureller Strömungen sowie Ausdifferenzierungen und unterscheiden sich vom urbanen Raum durch die Erreichbarkeit zur nächsten Einzelstadt, durch die wirtschaftlichen Potenziale und ferner durch die EinwohnerInnenzahlen (vgl. Lange 2001). Insgesamt hat sich der ländliche Raum entwickelt. Unter Land sind heute die von den urbanen Metropolen und ihren Ballungsgebieten abgewandten Räume zu kennzeichnen. Diese Räume sind aber auch in sich regional strukturiert und gegliedert: So gibt es das Dorf in der Region und die Region im Dorf. „Im Kontext des neuen ländlichen Selbstbewusstseins, der ‚neuen Erreichbarkeiten‘ über den Konsum, […] (stehen) Jugendliche auf dem
Da war noch was: Zur Eventisierung des Jugendbrauchtums in der Region
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Land heute vor der persönlichen Entwicklungsaufgabe, für sich eine moderne Identität zu nden, die nicht nach der Großstadt schielt und einen Lebensbegriff vom Land beinhaltet, der über Konsum und Mobilität hinausgeht. Der Jugendstatus heute ist nicht mehr wie früher auf das Dorf angewiesen, ist über das Dorf hinaus regional organisiert. […] Die Jugendlichen auf dem Land orientieren sich heute deutlich am regionalen Nahraum ‚zwischen Dorf und Stadt‘. […] Das Besondere an dieser regionalen Orientierung ist, dass die Jugendlichen sich weder von ihrem Heimatdorf abkapseln noch bruchlos urbane Stile übernehmen. […] Von den Jugendlichen wird die regionale Umwelt als ein Raum erlebt, den sie sich selbst und auf andere Weise aneignen und gestalten können, als dies in der traditionellen Dorfwelt vorgegeben ist“ (Böhnisch/Funk 1991: 10). Das Dorf ist somit nicht mehr prägender, sondern nur noch mitprägender Teil der jugendlichen Entwicklung. „Die Aufwertung des Regionalen geht einher mit einer Abwertung des Lokalen und des Urbanen. Region wird zum eigentlichen Bewegungs- und Erlebnisraum. Das Dorf wird zum regionalen Stützpunkt und lokalen Standbein, die Stadt zum jederzeit für Kurztrips erreichbaren Fun-Raum“ (Herrenknecht 2000: 50). Die Region ist zum neuen Jugend-Raum auf dem Lande geworden. Die Regionalorientierung ist zwar der Haupttrend ländlichen Jugendlebens, aber zugleich ist ein Mix zwischen lokalen und regionalen Lebenswelten und ein Mix zwischen dorfzentrierten und eher regionalorientierten Jugendlichen festzustellen. Fassen wir zusammen: Trotz der Bedingungen einer Mobilitätsgesellschaft (vgl. Tully 1999) orientieren sich viele Jugendliche nach wie vor regional und nden in der Region ihre Szene und jugendkulturelle Richtung. Jugendbräuche sind Beispiele dafür, dass zu bestimmten Anlässen oder Jahreszeiten historisch verbürgte Traditionen nach wie vor gepegt werden oder aber, nachdem sie vorübergehend aus der dörichen Kultur verschwunden waren, wieder zurückkehren. Typologisch lassen sich vier Formen und Felder jugendlicher Brauch-Inszenierung unterscheiden, in denen jeweils Bedeutungsschichten von Event sichtbar werden:
die Revitalisierung von historischen Brauchformen (z. B. Johannisfeuer, Burgbrennen, Lehenausrufen); die Ethnisierung von Brauchformen, indem kulturelle Muster und Traditionen der Herkunftsländer von ausländischen Jugendlichen zur Identitätssicherung verwandt werden; die (Re-)Importierung von Brauchformen (z. B. Halloween) und – um diese Brauchform geht es im Weiteren – jugendliche Brauchformen ohne historische Wurzeln und Traditionen (z. B. selbstorganisierte Open-Air-Partys, Spaßfeten)
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Im Widerspruch zu ihrer sonstigen (häug) nebensächlichen Stellung im dörichen Geschehen haben von Jugendlichen organisierte Dorfveranstaltungen – auch wenn sie hauptsächlich für die Gleichaltrigen organisiert werden und die Älteren bei einigen Brauchbestandteilen sogar ausgeschlossen sind – eine hohe Bedeutung: Dorfkultur ist immer zu guten Teilen selbstgemachte Kultur, und die Gruppe der Jugendlichen gehört zu den wichtigsten Akteurinnen und setzt kulturelle Traditionen fort. In dieser Situation erhalten kulturelle Praxisformen, wobei jeder Ort und jede Gemeinde eigene Namen und Formen entwickelt haben, ihre identitätsstiftende Funktion und verschaffen den Jugendlichen nicht nur einen Experimentierraum zur Selbstinszenierung, Selbstgestaltung und Selbstndung, sondern zudem ein Selbstbehauptungs- und Abgrenzungspotential sowie eine Art von Machtstellung gegenüber der Dorfgemeinschaft, was vielen Jugendlichen bewusst ist: „Für das Doreben sag ich mal, ist das ganz besonders wichtig. Die ganzen Omas kommen aus den Türen raus, die sind voll begeistert, das sieht man denen in den Augen an, das ist sensationell. Die sind echt immer ganz stolz, da sind wir dann immer die Lieblinge vom Dorf, wirklich. Das ist für das Prestige vom Jugendhaus unheimlich wichtig, dass die Traditionen gehalten werden.“ Unsere Studien in brauchvermittelten Jugendgruppierungen zeigen, dass jugendliche Brauchgruppen als eine Jugendszene mit einem spezifischen jugendkulturellen Rahmen in einem regional begrenzten Raum zu fassen sind, die sich deutlich nach außen als gleichaltrige Dorfclique abgrenzt, nach innen ein ausgeprägtes Zugehörigkeitsgefühl produziert und insgesamt als Reaktion auf weithin beobachtbare gesamtgesellschaftliche Differenzierungs- und Pluralisierungsprozesse zu verstehen ist. Im sozial akzeptierten Bereich der Gestaltung der Regionalkultur können sich Jugendliche mehr oder weniger der dörichen Kontrolle und Beobachtung entziehen und erregen mit ihren an überlieferten Traditionen orientierten oder angelehnten Brauchaktivitäten nicht nur die Aufmerksamkeit der Dorfgemeinschaft, sondern übernehmen darüber hinaus auch in der regionalen Kultur soziale Funktionen und entfalten eine starke soziale Integrationskraft. Ausgehend von diesen Erkenntnissen und Alltagserfahrungen bzw. -deutungen haben die beiden AutorInnen dieses Beitrages (zusammen mit dem Trierer Soziologen Waldemar Vogelgesang) im Rahmen eines interdisziplinär konzipierten Forschungsprojektes ‚Jugendbrauchtum – Formen, Funktionen und Gemeinschaftserfahrungen in der dörichen und städtischen Kultur‘ in umfassender und systematischer Weise nach Ereignissen oder Institutionen gesucht, die Bräuche repräsentieren oder diese organisieren.1 1
Unsere Forschungsaktivitäten zu zeitgenössischen Formen des Jugendbrauchtums sind bereits seit einigen Jahren abgeschlossen. Dies bedeutet aber nicht im Umkehrschluss, dass die hier vorgestellten Szenebeschreibungen nicht mehr zutreffend sind. Nach wie vor haben wir Kontakte zur Jugendbrauchtumsszene und beobachten die unterschiedlichen jugendkulturellen Praxisformen im
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Im Weiteren werden zwei posttraditionelle Spaßbräuche im Sinne einer SzeneEthnographie als Fallbeispiel für Populäre Events beschrieben und analysiert. Grundlage hierfür ist die Fülle des Beobachtungs- und Interviewmaterials unseres Feldforschungsprojektes, aus dem im Text bestimmte Passagen oder Äußerungen (gekennzeichnet durch Kursiv-Schreibweise) direkt zitiert werden (Kapitel 2). Das Anliegen ist es, die Eventelemente dieser Brauchvariante aufzudecken, wobei von besonderem Interesse ist, welche Akteure mit welchen Motivationen ihre Spaßevents „in Szene setzen“, organisieren und nanzieren, welche typischen Ablaufstrukturen und Formen die Fest-Veranstaltungen erkennen lassen und wie dieses außergewöhnliche gesellige Großereignis im ländlichen Raum von den Akteuren reektiert wird. Im Anschluss an diese Auszüge einer ‚Szene-Ethnographie‘ werden resümierend strukturelle Ähnlichkeiten und Querverbindungen der beschriebenen Szenen hervorgehoben, wobei der Fokus auf das Herausarbeiten von Eventelementen bei Spaßfeten im Sinne einer posttraditionellen Brauchvariante liegt (Kapitel 3).
2
Spaßfeten als kulturelle Praxisform im ländlichen Raum: Zwei Szenedarstellungen
Die Pluralisierung der jugendkulturellen Lebensstile ist im heutigen Dorf Wirklichkeit geworden und die Modernisierung ländlicher Lebenswelten ndet im Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne, zwischen Dorfverbundenheit und Mobilitätsmöglichkeiten und zwischen döricher Verbandsarbeit bzw. Vereinstätigkeit und selbst gewählten Cliquen und Jugendszenen statt. In dieser Situation lässt sich der Doppelcharakter der ländlichen Jugendkultur folgendermaßen bestimmen: „Auf der einen Seite dorfunabhängig und regional orientiert, auf der anderen Seite mit einem Bein im Dorf stehend, an der dörichen Erwachsenenkultur und dem späteren Erwachsenensein ausgerichtet. Landjugendliche, so könnte man vereinfacht sagen, leben zwischen zwei Welten und versuchen, diese auszugleichen. Sie partizipieren am allgemein urbanen-industriellen Strukturwandel, müssen aber zugleich mit den besonderen ländlichen regionalen Sozialwelten umgehen können“ (Böhnisch u. a. 1997: 18). Eine oft übersehene Facette der ländlichen Jugendwelten im (regionalen) Dorf stellt das Fortbestehen und die Neuerschaffung von klassischen Festen, aber auch von posttraditionellen Spaßbräuchen oder Spaßfeten dar. Die Liste von selbstorganisierten Spaßfeten, die als turnusmäßig stattndende Ereignisse für die Jugendlichen Brauchstatus haben und auf die wir bei unserer ethnographischen
ländlichen Trierer Raum. Die beiden skizzierten Spaßbräuche nden auch im Jahr 2008 statt und haben nach wie vor eine hohe Anziehungskraft.
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Feldforschung bei jugendlichen Brauchkulturen mit ihrer exiblen, kontextbezogenen methodenpluralen Forschungsstrategie in der Trierer Region gestoßen sind (vgl. Schulze-Krüdener/Vogelgesang 2001; Schulze-Krüdener 2008), reicht vom Indianertreffen in Kenn, der Brandel-Fete in Wincheringen bis zur Nellbudparty in Kasel. Bei unseren ethnographischen Feldforschungsrecherchen sind wir auf eine Jugendgruppe gestoßen, die uns darauf aufmerksam machte, dass wir unbedingt auch ihre Spaßfete – die Nellbudparty – berücksichtigen und als Brauchvariante ohne historische Vorläufer behandeln sollten, wie aus dem Auszug aus einem Interview mit einem 22-Jährigen aus der Gruppe deutlich wird: „Bei Jugendbräuchen, da denken doch viele zunächst einmal an etwas Verstaubtes und Ultralangweiliges. Aber unsere Nellbudparty, die wir seit Anfang der 90er Jahre in einer Weinbergshütte veranstalten, das ist auch Brauch, weil diese Treffen für uns wie für die Besucher bereits Tradition besitzen, ja für manche sogar schon richtigen Kultstatus haben. Was als Minifete begann, hat im letzten Jahr rund 3000 Leute angezogen. Unser Motto ist: Spaß pur für einen Tag und eine Nacht. Dass wir dabei nicht so professionell zu Werke gehen, wie die Junggesellensolidarität in Schönecken mit ihrer Eierlage am Ostermontag, das wissen wir, aber das wollen wir auch gar nicht. Was dort abläuft, geht schon sehr in Richtung Ritual und öffentliches Theater, ist perfekt durchorganisiert und vom Ablauf her völlig festgelegt. Unsere Spaßparty ist viel lockerer, unkonventioneller und manchmal auch recht chaotisch. Aber von der Tradition her, da ist das für uns genauso ein Brauch, aber jetzt nicht so mit dem ofziellen Schnickschnack, sondern eben ein Spaßbrauch.“ Diese Schilderung markiert den Beginn unserer Forschung über Spaßfeten als posttraditionell zu etikettierendes Angebot von Vergemeinschaftung und forcierte die Idee, umfassender und systematischer nach Happenings oder Ereignissen zu suchen, die Spaßfeten repräsentieren. Im Folgenden wird in zwei ‚Szenebeschreibungen‘ der geschichtliche Hintergrund, der Aufwand zur Produktion der Rahmenbedingungen (Maßnahmen, Finanzierung etc.) und Formen sowie Ablaufstrukturen dieser Fest-Veranstaltung am Beispiel der Nellbudparty und des Indianertreffens dargestellt.
2.1
Szenedarstellung Nellbudparty: Was als Geburtstagsparty begann …
Der Ursprung Anfang der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts haben zehn 16 bis 17 Jahre alte Jugendliche aus Kasel – einer Gemeinde im ländlich geprägten Landkreis Trier-Saarburg – die Idee, ihren Geburtstag mit Freunden und Freundinnen
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gemeinsam im Rahmen einer großen Party zu feiern. Der dortige Jugendraum mit dem Namen Teestübchen – der nicht etwa so heißt, weil hier während der sogenannten Teesaison von Oktober bis Ende Juni ausschließlich Tee konsumiert wird, sondern man „einen im Tee hat“ – kommt aufgrund seiner Größe nicht in Betracht. Aus diesem Grund dient der weit vom Dorf entfernte Platz neben der als Nellbud(e) bekannten Weinbergshütte als Veranstaltungsort für die Teeparty oder Nellbudparty als krönender Saisonabschluss für die Mitglieder des Teestübchens. Der Treffpunkt wird den Dorfjugendlichen vom Besitzer zur freien Verfügung gestellt mit der Verpichtung der Instandhaltung und Pege. Dieser Treffpunkt ist weit genug vom Dorf entfernt, um niemanden zu stören und zugleich nicht zu weit entfernt, um nicht noch bequem erreichbar zu sein. Wie in den Jahren zuvor ndet auch im Jahr 2008 die Party statt: „Vorbei an den Tennisplätzen geht’s einen vielleicht etwas steilen Weg bergauf bis hin zur Nellbud. Nicht wie in den Jahren davor ndet die Party vor der Hütte sondern auf den neuangelegten Platz oberhalb statt. Er bietet mehr Raum. Parkmöglichkeiten gibt’s im Dorf. Eintritt ist wie immer frei!“
Das Management Die Nellbudparty ndet alljährlich an einem Wochenende im Juli statt. Bereits im Frühjahr beginnt die Organisation: „Dann wird erst Mal darüber beraten, wie alles ablaufen soll, wie die Organisation ist, was wir noch besorgen müssen, was vorher erledigt werden muss.“ Der Verlauf der Party ist an keine festen Regeln gebunden und die Organisatoren sind in den Tagen vor der Party für den äußeren Rahmen der Veranstaltung zuständig: Theken müssen gezimmert, ein Lagerfeuer vorbereitet, die Getränke geordert und eine Zeltstadt errichtet werden. Immer wieder wird auf die Organisationskompetenz der Gruppe verwiesen. So heißt es in einem Interview: „Viele Leute wissen schon direkt, was sie zu tun haben und die Jüngeren werden dann noch beim Thekendienst oder als Spendensammler eingeteilt und das läuft eigentlich immer ganz gut und alles ist ziemlich eingespielt.“ In der Woche vor dem Ereignis laufen die Vorbereitungen auf Hochtouren und die Organisatoren haben Urlaub genommen, um auch tagsüber arbeiten zu können: „Es ist schon so viel Arbeit, dass wir donnerstags anfangen müssen aufzubauen, damit wir samstags fertig sind.“ Am Donnerstag werden sechs Zelte aus früheren französischen Armeebeständen aufgebaut, die örtliche Feuerwehr gräbt die Feuerstelle aus und an den Folgetagen wird das Stromaggregat geliefert, die Musikanlage und die Beleuchtung installiert, werden die Banner aufgehängt und die Theken aufgestellt. Die Organisatoren selbst nutzen diese in ihrer Sicht „ruhige, intime Atmosphäre“, um schon einmal gruppenintern zu feiern.
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Was zunächst als kleines Geburtstagsfest von zehn männlichen Jugendlichen einer ländlichen Gemeinde in der Nähe von Trier geplant war, hat inzwischen Volksfestcharakter angenommen, ohne dass diese Wandlung von den Organisatoren gewollt oder etwa durch Werbemaßnahmen gefördert wurde. Nahmen in den Anfangsjahren nur die tatsächlich eingeladenen Jugendlichen aus dem Freundeskreis an der Party teil, besuchten in den letzten Jahren bis zu 3.000 Gäste die Großfete, darunter zunehmend auch ältere DorfbewohnerInnen, darunter auch einige, die „zufällig am Festgelände vorbeifahren, um irgendwelche Gartenabfälle zu kompostieren und diese Arbeit zufälligerweise den ganzen Tag bis spät in die Nacht anhält.“ Hinsichtlich der Alterstruktur weist die Gruppe, in der das Geschlechterverhältnis recht ausgeglichen ist, mit 16 bis 35 Jahren eine große Spannbreite auf. Mittlerweile ist aus dem Kasseler Teestübchen ein eingetragener, gemeinnütziger Verein mit 106 Mitgliedern (davon 27 fördernd; Stand 2004) geworden, der das Doreben prägend mitgestalten will. Der Vorstand besteht aus den Vorsitzenden, dem Kassenführer, der Schriftführerin und darüber hinaus aus einem Verpegungsmeister, Getränkemeister und Putzkolonnenmeister.
Die Finanzierung Trotz der hohen Besuchszahlen läuft die Finanzierung bis heute nach dem aus den Gründerjahren stammenden Modell ab. Für die Gäste ist alles frei: Weder wird bei dieser nicht eingezäunten „Wald- und Wiesenparty“ Eintritt erhoben noch müssen Getränke und Speisen bezahlt werden, denn man kann sich von den eigenen Freunden weder den Eintritt noch jedes Bier bezahlen lassen. Und dies gilt selbstverständlich auch für deren mitgebrachten Freunde. Also einigte man sich auf folgende Variante: Die vierzigköpge Organisationsclique legt mit einem Pro-Kopf-Beitrag von 75,Euro den nanziellen Grundstock und der fehlende Restbetrag soll über Spenden, die in zwei Schichten in einem „Holzkasten“ gesammelt werden, am Abend der Fete eingetrieben werden (wobei „die Ehrlichen für die anderen mit bezahlen“). In den letzten Jahren ist dies aber zunehmend schwieriger geworden. „Warum spenden, denken wohl die meisten, wenn man nicht einmal die Veranstalter kennt?“ Lockte die Spaßfete anfänglich nahezu ausschließlich Dorfjugendliche an, so hat sie sich mittlerweile zu einem Fest mit regionalem Zuschnitt gewandelt, so dass die Veranstalter verstärkt über Strategien nachdenken, wie man wieder „eine Fete für eine geschlossene Gesellschaft“ daraus machen könnte, um Kosten und Risiken wieder unter Kontrolle zu bekommen. Gegen eine weitere Kommerzialisierung spricht u. a., dass die Party, die bislang ein Privatfest ist, dann ofziell angemeldet und eine Schankerlaubnis eingeholt sowie die GEMA-Gebühr entrichtet werden muss usw. Die Organisatoren sind sich einig, dass sie den Trend zu immer höheren
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Besuchszahlen stoppen wollen. Es soll versucht werden, das Ganze einzudämmen und die Party „wirklich nur noch für unsere Leute ausrichten und dass wir dann darauf achten, wer alles dahin kommt.“
Der Ablauf Was macht die Faszination und die Atmosphäre dieser Spaß-Fete aus, die keinen bestimmten Ablauf hat? „Die Fete fängt irgendwann gegen acht Uhr an, wir haben die ganze Zeit über etwas zu tun, der Bierstand, der Rippchenstand muss besetzt sein – für die Leute, die zu unserer Fete kommen, gibt es eigentlich keine spezielle Attraktion, zu trinken gibt es immer was, zu essen stundenweise, Musik ist da, und was die Leute sonst noch so machen, bleibt denen überlassen.“ Ein anderer Organisator umschreibt die Attraktivität dieses Ereignis folgendermaßen: „Wir haben ein großes Feuer, da kann man rundherum sitzen, man kann trinken oder kann es sein lassen, egal. Man trifft viele Leute, es gibt laute Musik, einfach locker das Ganze, Spaß eben.“ Oder es wird in Abgrenzung zu Großveranstaltungen der Wiedersehenseffekt bei der Nellbudparty besonders herausgestellt: „Da gehst du hin und du kennst jeden.“ Ein anderer Akteur stellt gleichfalls heraus: „das Tolle an der Nellbudparty ist, dass man eigentlich fast jeden kennt, der da rum läuft. Es ist halt nicht so wie beim Altstadtfest oder wie Zurlauben, da geht man so hin und muss erst lange suchen, bis man jemanden trifft.“ Vielleicht ist es aber auch der Anreiz- und Nachahmungscharakter, der einige anlockt: „Viele Jugendliche haben die Schnauze voll von den völlig durchkommerzialisierten Feten und Events. Die holen sich hier auch Tipps, wie man so was wie die Nellbudparty selber auf die Beine stellen kann. Das ist vielleicht auch ein bisschen so eine Art Mutmachen und Selbstbestätigung. Man hat zwar sehr viel Arbeit damit, aber es ist irgendwie ein tolles Erlebnis, wenn dann alles glatt läuft und man einfach seinen Spaß hat.“ Aber auch das intensive bis exzessive Konsumieren von Alkohol – „über fünfhundert Kisten Bitburger Stubbis werden am Samstagabend geleert“ – spielt eine wichtige Funktion und gehört als Merkmal kultureller Identität wie auch als Ausweis von Zugehörigkeit selbstverständlich zur lokalen Kultur. Es wird sich aber gegen den Vorwurf einer Komafete gewehrt und darauf verwiesen, dass die Diskriminierung als ‚Saufgruppe‘ nur der Versuch einer Disziplinierung darstellt, die Anbindung dieser Brauchvariante an die döriche Öffentlichkeit in Frage zu stellen. Der 22-jährige Björn fühlt sich durch diese Kritik in eine Abwehrhaltung gedrängt und reagiert mit einem prononcierten Vergleich: „Ja also den Ausdruck Komafete, den hab’ ich noch nie leiden können, der ist’ auch nicht von unseren Leuten erfunden […] also das ist so ein Ausdruck, der irgendwie von den Gegnern von dem Ganzen kommt. […] Der Ausdruck ist in meinen Augen Schwachsinn, also
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absolut, absoluter Quatsch. Ja, wer sich natürlich ins Koma trinken will, der soll’s machen, das ist sein Problem, aber die Sache ist nicht so ausgelegt, dass jetzt alle das machen. […] Genauso können wir auch eine Disco Komaparty nennen.“
2.2
Szenedarstellung Indianerfete: Was als Kinderspiel begann …
Der Ursprung Der geschichtliche Hintergrund der Indianerfete liegt bereits über zwanzig Jahre zurück. Auf der Basis heterogener Informationen unserer GesprächspartnerInnen lässt sich in Bezug auf den Ursprung sagen, dass Ende der 1970er Jahre zwei rivalisierende, aber vom Auseinanderbrechen bedrohte männliche Jugendcliquen aus dem Dorf Kenn (in der Nähe von Trier) auf die „Idee kamen, zusammenzurücken, um gemeinsam etwas zu unternehmen, weil im Dorf für die Jugend sonst nichts los ist.“ Hatten sich die Clique von ‚oben‘ und die Clique von ‚unten‘ bis dato wiederholt auf einer Streuobstwiese zum Cowboy- und Indianer-Spiel getroffen, wo „mit Äpfeln Schlachten gemacht und auch immer welche von der gegnerischen Partei gefangen und für längere Zeit verkehrt herum den Baum heraufgezogen wurden“, wurde in der Folgezeit die ehemals cliquenbezogenen Treffpunkte als gemeinsame Orte der Begegnung und für unterschiedlichste Cowboy-Indianer-Aktivitäten genutzt: Im Winter das Blockhaus im Bungert (zentral im Dorfkern liegend) und als „Sommerresidenz“ dient die Hütte im Kundel an der Mosel gelegen. Aber Anfang der achtziger Jahre werden beide Treffpunkte, in denen die Kenner Jugendlichen zusammenkommen, mit der Ausweisung eines Neubaugebietes „platt gemacht“ bzw. infolge der Zusammenlegung von Flussgrundstücken durch „eine warme Feuerwehrübung von der Ruwerer Feuerwehr abgesenkt.“ Nahezu zeitgleich mit dem Verlust ihrer Treffpunkte beginnen viele Cliquenmitglieder eine Berufsausbildung und können zunehmend weniger Freizeit miteinander verbringen. In dieser Situation entschließen sich die Mitglieder, einmal im Jahr ein Indianertreffen mit Zelten, Lagerfeuer etc. direkt am Moselufer zu organisieren. Das Motto lautet: „Ein Wochenende mit denen so richtig was los machen, mit denen man früher Indianer und Cowboy gespielt hat.“
Das Management Die Planung und Konzeption des Indianertreffens bedarf einer mehrmonatigen Organisation. Der thematische Fokus dieser Spaßfete spiegelt sich in der atmosphärischen Dichte von mehreren Lagerfeuern, Marterpfahl, zwei Tipis, einer
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Bank ansässig in einer Art Saloon, Essensständen etc. wider. Zur Gewährleistung eines reibungslosen Ablaufes der Veranstaltung werden in der Woche vor dem Indianertreffen zwei Tage Holz gehackt, mittwochs das Grundstück an der Mosel gemäht, ab Donnerstag hunderte von Fleischspießchen gesteckt, um dann freitags und samstags alles aufzubauen. In den letzten Jahren hat sich die Zeichen- und Symbolsprache erweitert: So gilt während der Veranstaltung ausschließlich eine eigene Geldwährung (Indianergeld, keine Bons), die im Nachhinein ganzjährig bei der örtlichen Sparkasse wieder zurückgetauscht werden kann, aber auch beim nächsten Indianertreffen seine Gültigkeit behält. Die Einführung dieser Indianer-Dollarnoten hat einen „einfachen Hintergrund: Wir mussten feststellen, bei soviel Leuten hinterm Kassenstand, da gibt et Sodom und Gomorrha. Jeder fängt an zu wechseln, jeder tatscht an der Kasse rum. Auch hat Geld immer ausgesehen wie en Sau und es ist bei allen Festen heute so, das aus hygienischen Gründen diejenigen, die Essen ausgeben, nicht mit Geld in Kontakt kommen sollen.“ Bereits längere Tradition hat der Verkauf von T-Shirts, die ganzjährig von Akteuren (aber auch zunehmend von Gästen) zu allen möglichen Gelegenheiten getragen werden („das wirkt unheimlich“) und zusammen mit anderen Kommunikationsmedien (wie Flyer, Plakate und Banner an publikumswirksamen Orten oder Mundpropaganda) in der Sicht der Akteure maßgeblich dazu beigetragen haben, dass das Indianertreffen nach Jahren, in denen nicht einmal die Grundkosten gedeckt waren, auch in „nanzieller Hinsicht ein Erfolg“ ist. Kommen in den ersten Jahren nur ca. sechzig Dorfjugendliche zum Indianertreffen, entwickelt sich das Indianertreffen seit 1989 zu einer Großfete, an der – einige Jahre zeitgleich mit der Nellbudparty im nur wenige Kilometer entfernten Kasel (im Jahr 2008 zeitversetzt am 16./17.8.2008) – bis zu 1.700 Gäste teilnehmen – darunter „Kinder bis hin zu steinalten Rentnern“ aus dem Dorf. So packen etwa Dorfbewohner auf dem Festgelände ihr „Campingstühlchen aus und setzen sich den ganzen Abend da hin, trinken zwei Bier und fahren wieder nach Hause.“ Um den mit einer Großveranstaltung verbundenen Organisationsaufwand und die Verantwortung auf mehrere Schultern zu verteilen, wird 1997 der Verein Grillfreunde Bungert e.V. mit 25 Mitgliedern beiderlei Geschlechts gegründet. Der Schritt in die Vereinsgründung wird vom Akteur, der bis dahin für die Schankgenehmigung, Anmeldung beim Ordnungsamt, Organisation des Rettungsdienstes etc. als Privatperson verantwortlich war, folgendermaßen begründet: „Die Verantwortung ist mir zu groß, das wächst mir über den Kopf. […] Da brauchen nur zwei Blödmänner aneinander zugeraten, die da Zoff kriegen und das artet dann in eine Keilerei aus. […[ Deshalb haben wir den Verein gegründet, um das Indianertreffen unter einer sicheren Führung weiterzumachen.“
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Die Finanzierung An den Indianertreffen in den ersten Jahren, bei denen die Dorfjugendlichen mit ihren eingeladenen Gästen unter sich waren, funktionierte die Bezahlung der Getränke ohne ‚kontrollierende Einussnahme‘: „Das war alles Vertrauenssache: wenn einer ein Bier geholt hat, hat er einfach eine Mark in die Kasse reingeschmissen.“ Parallel mit der Entwicklung zu einer Großveranstaltung geht jedoch eine Kommerzialisierung einher. „Wenn du so ein Ding planst und die Arbeit hast, Hunderte von Fleischspieße herstellst, das Notstromaggregat, Musikanlage leihst und weiß Gott was alles. Da geht em Teufel sein Geld druff. Also haben wir übergelegt, das entsprechend größer aufzuziehen und verstärkt Werbung, T-Shirts zu machen.“ Diese Aussage weist zum einen darauf hin, dass es den Organisatoren darum geht, keinen nanziellen Verlust einzufahren. Zum anderen werden nanzielle Potentiale ausgemacht bzw. vermutet: Mit dem Gewinn sollen nicht nur die jährlichen Unkosten für die „aufwendigen“ Karnevalswagen gedeckt werden, sondern auch um „irgendwann das große Ziel wahr werden zu lassen, ein eigenes Vereinsheim zu haben.“
Der Ablauf Die Indianerfete besitzt kein fest strukturiertes Programm und auch keinen bestimmten Ablauf. Trotzdem übt diese Spaßfete eine Faszination auf eine wachsende Anzahl junger Menschen im regionalen Dorf aus. Die Organisatoren bedienen sich der Formsprache des ‚Wilden Westens‘ mit Lagerfeuerromantik direkt an der Mosel, Indianerzelten etc. und der Alkohol tut das seine, um die Stimmung zu heben. Aber die Assoziationen vieler ErstbesucherInnen, die mit dem Indianertreffen unmittelbar verknüpft werden, erfüllen sich nicht: Die „Tipi stehen nur für ein bisschen Symbolik. Letztendlich, das haben wir schon oft festgestellt, sind viele enttäuscht, weil da keine Indianer in Federkluft rumlaufen. Einige kommen sogar mit ihren Kindern und wollen ihnen einmal einen richtigen Indianer zeigen; das ist natürlich nicht so und es wird wahrscheinlich auch nie soweit kommen. Das kann man vergessen.“
3
Fazit: Zur Eventisierung von Spaßfeten
Spaßfeten werden von den jugendlichen AkteurInnen selbst als ein lockerer und unkonventioneller Spaß-Brauch bezeichnet, „bei dem alles erlaubt ist, was Spaß macht.“ Es gibt keine Aktionen, nur Musik, Kommunikation und Alkohol (vgl.
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zu dem in diesem Beitrag ausgeblendeten Aspekt des Jugendschutzes Faulde 2003; Krüdener 2007). An den beiden Szenebeschreibungen wird deutlich, dass Spaßfeten einzigartige bzw. außergewöhnliche, vom Alltag herausgehobene SpaßEreignisse sind, denen von den Akteuren Brauchstatus zugeschrieben wird, die eine hohe Anziehungskraft für viele Menschen im regionalen Dorf haben und den Teilnehmenden „außergewöhnliche Chancen (bieten), sich sozusagen wie in einem Kollektiv-Vehikel aus Lebens-Routinen heraustransportieren zu lassen und zeitweilig an symbolisch vermittelten, mehrkanaligen Sinnenfreuden zu partizipieren“ (Hitzler 2000: 403). Was ursprünglich als ein kleines Privatfest geplant war, hat inzwischen regionale Ausmaße angenommen, ohne dass die Organisatoren diese Wandlung ihrer Spaßfete gewollt oder gefördert haben. Aus der Privatparty ist ein offenes Fest geworden, das für alle Jugendlichen im regionalen Dorf offen steht, „ein Muss ist“ und für andere „einfach zum Doreben dazu gehört.“ Auch im Internet sind Rückmeldungen zu den Spaßfeten zu lesen: „Es war super geil da. Kam um halb 6 nach Hause. Da war die Hölle los, war noch nie irgendwo gewesen. Wo so viele Leute auf einem Haufen waren. Nächstes Jahr bin ich auf jeden Fall wieder da.“ Der mit einer solchen Massenveranstaltung verknüpfte organisatorische Rahmen der Spaßfeten-Produktion – hierzu zählen neben Vorbereitung, Durchführung und Abwicklung des Festes auch die Gewährleistung sicherheitsrechtlicher Auflagen – führt seitens der AkteurInnen dazu, nach Strategien zu suchen, wie die Teilnahmezahl gesenkt werden kann, um sowohl Kosten als auch Risiken wieder unter Kontrolle zu bekommen. Um einen reibungslosen Ablauf des Großereignisses im regionalen Dorf, dessen Minimalismus bereits eine Attraktion ist, sicherzustellen, bedarf es einem monatelangen Vorlauf mit detailliertem Zeitplan und konkreten Absprachen in Bezug auf Zuständigkeiten etc. Insbesondere in der Woche unmittelbar vor dem Ereignis müssen von den Organisatoren die vielfältigen, zeitintensiven Bereitstellungs- und Aufbauarbeiten koordiniert und ausgeführt werden. Im Vorfeld des eigentlichen Ereignisses übernachten die Akteure auf dem Veranstaltungsgelände in ihren Schlafsäcken und bezeichnen diese Tage vor der eigentlichen Party als die „schönsten, weil samstags mittlerweile so viele Leute da sind, dass man selbst nicht mehr so viel feiern kann.“ An der Fete selbst – für alle unbestritten „der eigentliche Höhepunkt des Festes“ – schätzen sie, dass sie wenigstens einmal im Jahr Gelegenheit haben, alle ihre Freunde und Bekannte einzuladen: „Ich freue mich richtig darauf, weil ich da Leute treffe, die ich sonst nicht sehe. Aber eigentlich kriegt man es an dem Abend dann doch nicht hin, mit allen geredet zu haben, weil so viele Leute da sind.“ Für alle AkteurInnen spielt das gesellige Zusammensein unter Freunden/Freundinnen die zentrale Rolle und die Organisatoren bedauern in diesem Zusammenhang die zunehmende Anonymisierung durch die großen
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Teilnahmezahlen. In dieser Situation erleben und genießen sie die Tage vor dem eigentlichen Fest besonders intensiv. Neben vielen Gemeinsamkeiten wird in den beiden Szenenbeschreibungen auch Unterschiedliches sichtbar: So lehnen die OrganisatorInnen der Nellbudparty als Event-ProduzentInnen (im Gegensatz zu denen des Indianertreffens) eine Kommerzialisierung und Gewinnorientierung ihrer Spaß-Fete strikt ab und halten an der ursprünglichen Zweckfreiheit der Veranstaltung fest. Aber auch die OrganisatorInnen des Indianerfestes sind „an einem Punkt angekommen, wo wir keine weitere Werbung machen wollen. Die Größenordnung, die unser Event erreicht hat, das langt uns vollkommen.“ – Soweit die zusammenfassenden Einblicke aus erster Hand, die bis auf wenige Ausnahmen strukturelle Ähnlichkeiten aufdecken. Das Spezikum unseres ethnographischen Zugangs an Spaßfeten ermöglicht Einsichten in jugend- und binnenkulturelle Phänomene, die zum Verständnis dieser jugendkulturellen Praxisform im ländlichen Raum beitragen. Ziehen wir ein Resümee, dann ergibt sich folgendes Bild: Spaßfeten sind raum-zeitlich festgelegte und verdichtete, performativ-interaktive Ereignisse, die jugendeigene Kommunikations-, Gesellungs- und Erlebniswelten generieren. Auch wenn sie keine historischen Wurzeln wie beispielsweise das Lehenausrufen haben und kaum älter als zwei Jahrzehnte sind, sind Spaßfeten im Selbstverständnis der AkteurInnen habitualisierte Konventionen von klassischen Brauchformen und spielen im Prozess jugendkultureller Pluralisierung und Diversizierung als Ressource und Aktionsfeld jugendlicher Selbststilisierung und Vergemeinschaftung eine gewichtige Rolle. Entsprechend den klassischen Brauchformen sind Spaßfeten als posttraditionelle Brauchvariante multifunktional und befriedigen als außeralltägliche Großereignisse bzw. Massenveranstaltungen im ländlichen Raum mehrere Bedürfnisse gleichzeitig. Das bedeutet, sie sind erstens Ort von Geselligkeit und Produktion bzw. Stabilisierung von Wir-Bewusstein, zweitens Bühne für jugendeigene Formationen, Selbstinszenierung sowie kollektiver Selbststilisierung und schließlich drittens Treffpunkte jenseits von generations- und geschlechtsspezischen Erfahrungshorizonten, die kommunikative Bezüge zwischen Gleichaltrigen, aber auch zwischen Jung und Alt generieren. Aufs Ganze betrachtet lassen sich die Inszenierungen und Institutionalisierungen von Spaßfeten mit ihren spezischen kulturellen Mustern, Zeichen und Gesellungen als zeit- und kontextgebundene Gruppenhandlungen deuten, die in den Alltag eingebunden sind, aber über ihn hinausweisen und sozusagen einen „festlichen Kristallisationspunkt im Szeneleben“ darstellen (Ministerium für Frauen, Jugend, Familie und Gesundheit des Landes Nordrhein-Westfalen 2000: 24). Die Spaßfeten-Szene lässt sich als eine Jugendszene mit einem spezischen jugendkulturellen Rahmen in einem regional begrenzten Raum fassen, die sich deutlich nach außen als Clique abgrenzt, nach innen ein ausgeprägtes Zugehörig-
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keitsgefühl produziert. Das Erleben von Geselligkeit, die jugendkulturellen Kommunikationsmuster und die szenetypischen Erlebnisformen sind ausschlaggebend für die erlebnisrationale Teilhabe Jugendlicher an Situationen, Ereignissen und Vergemeinschaftungen, die besondere aus dem Alltag heraustretende und diesen transzendierende Erfahrungen stiften. Des Weiteren sind Spaßfeten Ausdruck und Symbol einer von der Erwachsenengeneration akzeptierten Dorfkultur, die den Resonanzboden für die Integration der Jugendlichen in die döriche Gemeinschaft bilden und das Ausleben adoleszenztypischer Bedürfnisse (wie Spaßhaben, Selbstdarstellung, Autonomie) ermöglichen. Ohne gezieltes Marketing stellen die Spaßfeten ein Erlebnis- und Begegnungsangebot dar, das sich so charakterisieren lässt: „Spaßhaben in freier Natur und in lockerer Runde mit netten Typen, das ist unser Leitspruch.“ Sie generieren eine Nähe- und Gemeinschaftssituation, die zwar aus dem Alltag herausragt, aber durch auf Harmonie, Frohsinn, Natürlichkeit und Unmittelbarkeit angelegte Erlebnisschemata auch tief in ihm verwurzelt ist. Dass authentische, spontane und gemeinschaftliche Spaßerfahrungen ihr Publikum nden (und binden), lässt sich sowohl an der geschilderten Faszination für einen wachsenden Kreis von Jugendlichen als auch an den hohen Besuchszahlen ablesen. In dieser Situation ist es durchaus zu rechtfertigen, – wie es auch die Szenegänger selbst tun – von einem Event in der Region zu sprechen und dies ist kein kurzlebiger Trend. Mit unserer Brauchtumsstudie haben wir uns einem vernachlässigten Bereich der Jugendforschung zugewendet. Jugendkulturen werden vorwiegend in urbanen Räumen untersucht, wahrscheinlich weil sie sich in Städten viel häuger zu sozialen Problemen entwickeln. Der Blick auf das Dorf bzw. die Region erweitert die Perspektive und zeigt Formen jugendkultureller Praxis außerhalb städtischer Enge. Es geht allerdings nicht darum, eine Idylle zu zeichnen. Das Dorf unterliegt genauso dem andauernden Modernisierungsprozess wie die Stadt (vgl. Schulze-Krüdener 2007). Eine stärkere Thematisierung des Verhältnisses von Stadt und Land (wie auch Region) könnte zu weiteren neuen Beschreibungsformen und Erkenntnissen über jugendkulturelle Szenen führen.
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Schulze-Krüdener, Jörgen (2008): Jugendbrauchtum im Blick sozialpädagogischer Ethnograe. Eine Entdeckungsreise in eine wenig beachtete jugendkulturelle Szene. In: Thole, W. u. a. (Hrsg.): „Auf unsicherem Terrain“. Ethnographische Forschung im Kontext des Bildungs- und Sozialwesens. Wiesbaden: VS (im Erscheinen). Tully, Claus J. (Hrsg.) (1999): Erziehung zur Mobilität. Jugendliche in der automobilen Gesellschaft. Frankfurt/Main, New York: Campus. Villányi, Dirk/Witte, Matthias D./Sander, Uwe (Hrsg.) (2007): Globale Jugend und Jugendkulturen. Aufwachsen im Zeitalter der Globalisierung. Weinheim/München: Juventa. Vogelgesang, W. (2001): „Meine Zukunft bin ich.“ Alltag und Lebensplanung Jugendlicher. Frankfurt/Main, New York: Campus.
Autorinnen und Autoren
Iris Eisenbürger, M. A., studierte Soziologie, Psychologie und spanische Philologie in Trier. Zwischen 2002 und 2005 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fach Soziologie an der Universität Trier. Forschungsschwerpunkt: Jugend- und Mediensoziologie. Veröffentlichungen u. a.: „Video“ (mit W. Vogelgesang, München 2005. In: Hüther, J./Schorb, B. (Hrsg.): Grundbegriffe Medienpädagogik. S. 401–407). Andreas Hepp, Dr. phil. habil., ist Professor für Kommunikationswissenschaft am IMKI (Institut für Medien, Kommunikation und Information) der Universität Bremen. Forschungsschwerpunkte: Kommunikations- und Mediensoziologie, inter- bzw. transkulturelle Kommunikation, Medien- und Kommunikationstheorie, Cultural Studies, Medienwandel, Methoden qualitativer Medien- und Kommunikationsforschung sowie Medienrezeption bzw. -aneignung. Veröffentlichungen u. a.: „Cultural Studies und Medienanalyse“ (Wiesbaden 1999, 2004), „Netzwerke der Medien. Medienkulturen und Globalisierung“ (Wiesbaden 2004), „Transkulturelle Kommunikation“ (Konstanz 2006), „Medien – Event – Religion. Die Mediatisierung des Religiösen“ (mit V. Krönert, Wiesbaden 2009). Marco Höhn, Dipl.-Soz., ist Universitätslektor am IMKI (Institut für Medien, Kommunikation und Information) der Universität Bremen. Forschungsschwerpunkte: Jugend- und Medienkulturen, Medienevents, Medienökonomie und -soziologie. Veröffentlichungen u. a.: „Visual kei: Vom Wandel einer ‚japanischen Jugendkultur‘ zu einer translokalen Medienkultur“ (Online-Publikation: http://www. jugendszenen.com 2008,), „Visual kei. Eine mädchendominierte Jugendkultur aus Japan etabliert sich in Deutschland“ (Berlin 2007. In: Rohmann, Gabriele (Hrsg.): Krasse Töchter. Mädchen in Jugendkulturen. Berlin: Archiv der Jugendkulturen Verlag, S. 45–54). Veronika Krönert, Dipl.-Medienwissenschaftlerin, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am IMKI (Institut für Medien, Information und Kommunikation) der Universität Bremen. Forschungsschwerpunkte: Medien- und Religionswandel, Medienidentitäten, Medienevents, transkulturelle Medienforschung. Veröffentlichungen: „Megaparty Glaubensfest. Weltjugendtag: Erlebnis – Medien – Organisation“ (mit W. Gebhardt, A. Hepp, R. Hitzler u. a., Wiesbaden 2007), „Medien – Event – Religion. Die Mediatisierung des Religiösen“ (mit A. Hepp, Wiesbaden 2009).
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Autorinnen und Autoren
Bettina Krüdener, Dipl. Päd., ist Referentin für „Jugendpege und Sport“ im Kreisjugendamt des Landkreises Trier-Saarburg und Lehrbeauftragte an der Universität Trier im Fach Pädagogik. Arbeitsschwerpunkte: Kinder- und Jugendarbeit auf dem Land, Jugendbildung, konzeptionelles und methodisches Handeln in der Kinder- und Jugendhilfe, Projektmanagement, soziale Netzwerkarbeit, Kinder- und Jugendschutz, Schulsozialarbeit. Philipp Lorig, Dipl. Soz., ist Doktorand und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie der Universität Trier. Forschungsschwerpunkte: Soziologie der Armut, soziale Ungleichheit und Ausgrenzung, Soziologie der Jugend und Jugendkulturen. Veröffentlichungen u. a.: „Unpolitische Jugend? Jugendliche Lebenswelten als politisch-partizipatorische Lernfelder“ (mit W. Vogelgesang, Schwalbach 2008. In: Kursiv: Journal für politische Bildung, 2, S. 64–76). Jörgen Schulze-Krüdener, Dr. phil., Diplom-Päd., ist wissenschaftlicher Angestellter im Fach Pädagogik, Abteilung Sozialpädagogik an der Universität Trier. Forschungsschwerpunkte: Jugend(hilfe)forschung, Professionsforschung, Aus-, Fort- und Weiterbildung von sozialen Berufen, regionalbezogene soziale Arbeit. Veröffentlichungen u. a.: „Lebensalter und Soziale Arbeit: Jugend“ (Baltmannsweiler 2009), „Elternarbeit in der Heimerziehung“ (mit H. G. Homfeldt, München 2007 und „Praktikum – eine Brücke schlagen zwischen Wissenschaft und Beruf“ (Bielefeld 2001/2003). Waldemar Vogelgesang, Dr. phil. habil., Privatdozent für Soziologie an der Universität Trier. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Jugend-, Medien- und Kultursoziologe sowie Migrationsforschung. Mitbegründer der interdisziplinären Forschungsgruppe „Jugend, Medien und Kultur“ (JMK), die seit 1995 empirisch im Bereich Jugend-, Medien- und Kulturforschung arbeitet. Veröffentlichungen u. a.: „Megaparty Glaubensfest. Weltjugendtag: Erlebnis – Medien – Organisation“ (mit W. Gebhardt, A. Hepp, R. Hitzler u. a., Wiesbaden 2007), „Jugendliche Aussiedler“ (Weinheim, München 2008), „Jugend, Alltag und Kultur“ (Wiesbaden 2010, in Druck). Jeffrey Wimmer, Dr. phil., ist Juniorprofessor für Kommunikationswissenschaft am Institut für Medien- und Kommunikationswissenschaft (IfMK) der TU Ilmenau. Forschungsschwerpunkte: Soziologie der Medienkommunikation insbesondere digitale Spiele, Öffentlichkeit und Gegenöffentlichkeit, internationale und globale Kommunikation. Veröffentlichungen u. a.: „Die Computerspieler“ (Hrsg. mit T. Quandt und J. Wolling, Wiesbaden 2008, 2009), „(Gegen-)Öffentlichkeit in der Mediengesellschaft“ (Wiesbaden 2007).