Revolte der Verlorenen (Enchantress of Venus) Von Leigh Brackett Aus dem Amerikanischen übersetzt von Fritzheinz van Do...
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Revolte der Verlorenen (Enchantress of Venus) Von Leigh Brackett Aus dem Amerikanischen übersetzt von Fritzheinz van Doornick
1. Kapitel Langsam fuhr das Schiff durch die Rote See und durchquerte die milchigen Dunstschleier. Seine Segel hingen schlaff vor dem schwachen Wind. Der aus dünnem, leichten Metall erbaute Rumpf trieb geräuschlos dahin, vor seinem Bug öffnete sich die Oberfläche des seltsamen Meeres in schweigenden Flammenströmen. Die Nacht sank hernieder und ein indigofarbener Streifen tauchte im Westen auf. Der Mann, der unter dem Namen Stark bekannt war, stand allein an der hinteren Reling und blickte in die Ferne. Er war voller Ungeduld; zugleich verspürte er in sich die Anzeichen einer drohenden Gefahr so stark, daß es ihm war, als ob selbst der heiße Wind nach Drohung rieche. Der Steuermann lag müde über seinem Ruder. Er war ein großer Mann mit milchfarbener Haut und hellem Haar. Er sprach nicht, aber Stark wußte, daß sich die blassen, unter halbgeschlossenen Lidern liegenden Augen oft berechnend und mit geheimem Neid auf ihn richteten. Der Kapitän und die beiden anderen Mitglieder der Mannschaft des kleinen Schiffes befanden sich vorn und nahmen ihre 3
Mahlzeit ein. Ein- oder zweimal hörte Stark ein Lachen – fast verhalten und rasch verklingend. Es war, als teilten sich jene in einen persönlichen Scherz, von dem er ausgeschlossen bleiben sollte. Die Hitze war drückend. Schweiß rann über Starks dunkles Gesicht. Sein Hemd klebte ihm am Rücken. Die Luft war schwer von Feuchtigkeit, durchtränkt von der feuchten Fruchtbarkeit des Landes, das westwärts hinter dem ewigen Nebel brütete. An diesem Meer war etwas Unheilvolles. Sogar für diese Welt war die Rote See kaum mehr als eine Sage. Sie lag hinter den Bergen der Weißen Wolke, jener hohen Grenzwand, die fast den halben Planeten verbarg. Nur wenige Menschen hatten diese Grenze überschritten, um in die großen Geheimnisse der Venus einzudringen, und noch weniger waren danach zurückgekehrt. Stark war einer dieser Handvoll Männer. Zuvor hatte er dreimal die Berge überquert, und einmal war er fast ein Jahr lang ausgeblieben. Aber niemals hatte er sich so richtig an die Rote See gewöhnen können. Die See führte kein Wasser. An seiner Stelle befand sich eine gasförmige Masse, die aber dicht genug war, die schlanken Metallschiffe zu tragen, und das Gas schien wie in innerem Feuer zu brennen. Stark konnte deutlich die Flammenläufe erkennen, die wie in einer trägen Strömung dahinliefen. Er beobachtete die kleinen, schlangengleichen Funkenausbrüche nach oben, sah, wie diese verschmolzen und so ineinander übergingen, daß die Oberfläche der See fast wirkte wie ein Kosmos aus roten Sternen. Das Bild war sehr schön, wie es sich von der blauen, glänzenden Dunkelheit der Nacht abhob, schön und fremdartig. Stark hörte das Tappen nackter Füße, und Malthor, der Kapitän, gesellte sich zu ihm. Im Zwielicht sahen seine Umrisse schwach und fast geisterhaft aus. 4
„Bevor die zweite Wache vorüber ist, werden wir Shuruun erreichen“, sagte er. Stark nickte. „Ausgezeichnet.“ Die Reise war ihm endlos lang vorgekommen, und die Enge auf dem schmalen Deck hatte an seinen Nerven gezehrt. „Shuruun wird dir gefallen“, fuhr der Kapitän jovial fort. „Unser Wein, unsere Speisen, unsere Frauen – alles ist hervorragend. Wir empfangen nicht viele Besucher. Wie du sehen wirst, leben wir ziemlich abgeschlossen. Aber diejenigen, die kommen …“ Er lachte und schlug Stark auf die Schulter. „O ja, du wirst in Shuruun glücklich sein.“ Es kam Stark vor, als ob dieses Lachen bei der unsichtbaren Mannschaft ein Echo fände; sie schien zu horchen und in Malthors Worten einen verborgenen Witz zu entdecken. „Das ist ja fein“, sagte er. „Vielleicht möchtest du gern bei mir wohnen“, schlug Malthor ihm vor. „Wegen des Preises würden wir uns schon einigen.“ Er hatte auch für die Überfahrt von der Küste her einen hohen Preis gefordert, einen übermäßig hohen Preis sogar. „Nein“, erwiderte Stark. „Du brauchst keine Angst zu haben“, bemerkte der Venusianer in vertraulichem Ton. „Die Fremden, die nach Shuruun kommen, haben alle dieselben Gründe für ihr Eintreffen. Man kann sich dort ausgezeichnet verstecken. Wir befinden uns außerhalb jeglichen Zugriffs.“ Er hielt abwartend inne, aber Stark biß auf den Köder nicht an. Dann kicherte er und fuhr fort: „Shuruun ist in der Tat ein so sicherer Platz, daß die meisten Fremden beschließen, für immer dort zu bleiben. Und in meinem Haus könnte ich dir …“ „Nein“, wiederholte Stark müde. Der Kapitän zuckte die Achseln. „Wie du willst. Überlege dir meinen Vorschlag aber doch noch – für alle Fälle.“ Er blickte 5
nach vorn in den roten, sich windenden Nebel. „Ah, kannst du sie erkennen?“ Er deutete in die Ferne, und Stark erkannte die schattenhaften Umrisse von Klippen. „Wir kommen jetzt in die Meerenge.“ Malthor wandte sich ab und nahm selbst das Ruder in die Hand, während der Steuermann sich auf das Vorderdeck zu den anderen begab. Das Schiff begann an Geschwindigkeit zuzunehmen. Stark erkannte, daß sie in eine Strömung geraten waren, die auf die Klippen zutrieb. Ein Strom von Feuer schien sich in der Meerestiefe noch rascher als sie dahinzubewegen. Die dunkle Wand kam ihnen schnell näher. Anfänglich konnte Stark keine Durchfahrt erkennen. Dann aber tauchte ein schmaler roter Streifen zwischen den Klippen auf, wurde breiter und schließlich zu einem Damm aus kochenden Flammen, die die schroffen Felsen umzüngelten. Roter Nebel stieg rauchähnlich auf. Das Schiff schwankte, machte einen Satz nach vorn und wurde dann wie eine Nußschale in das Inferno getrieben. Gegen seinen Willen griff Stark fester an die Reling. Die See, die Luft, das Schiff – alles schien in rotes Blut getaucht, als flammende Nebelfetzen an Ihnen vorbeiflogen. Dabei versuchte die wild durch die Meerenge hastende Strömung nicht das geringste Geräusch. Plötzlich hatten sie die Enge hinter sich gelassen und befanden sich auf dem ruhigeren und geschützteren Teil der Roten See. Nach der schrecklichen Hast, mit der sie die Meerenge durchfahren hatten, schien es Stark, als bewege sich das Schiff kaum noch vorwärts. Seine Ungeduld und das im Unterbewußtsein schlummernde Gefühl der Gefahr wurden stärker. Er begann langsam auf Deck hin und her zu gehen, mit dem leichten, nervösen Schreiten einer Raubkatze. Die warme, feuchte Luft nahm ihm fast den Atem und war nicht im mindesten mit der sauberen Trockenheit des Mars vergleichbar, von dem er erst kürzlich gekommen war. Es war bedrückend still. 6
Plötzlich blieb er mit zurückgeworfenem Kopf stehen. Er hatte ein eigenartiges Geräusch vernommen, das schwach von dem langsamen, leichten Wind herbeigetragen wurde. Es kam von überall und doch von nirgendwo – ohne Quelle und Ursprung. Es schien fast, als habe die Nacht selbst gesprochen, die heiße, blaue Venusnacht, die einen seltsamen Eindruck in ihm hinterließ. Das Geräusch wurde schwächer, erstarb schließlich und vermittelte ihm ein Gefühl schmerzender Trauer; als ob der ganze Jammer und alles Weh der Venuswelt in dieser verzweifelten Klage ihren Ausdruck gefunden hätten. Stark erschauerte. Einen Augenblick lang war es vollkommen still. Dann hörte er abermals diesen Laut, diesmal nur in einem tieferen Ton. Immer noch schwach und weit entfernt, wurde er von den wunderlichen Launen der schweren Luft länger erhalten und zu einem steigenden und fallenden Gesang, der an seinen Nerven zerrte. Es waren keine Worte, es gehörte überhaupt nicht zu jenen Klagen, die der Worte bedurften. Plötzlich war es wieder still. Stark wandte sich zu Malthor: „Was war das?“ Malthor sah an ihm vorbei. Er schien es überhaupt nicht gehört zu haben. „Dieser klagende Laut“, drängte Stark ungeduldig. „Ach, das. …?“ Der Venusianer zuckte die Achseln. „Ein Spiel des Windes. Er seufzt in den Felsenklippen an der Meerenge.“ Er gähnte, räumte dem Steuermann wieder seinen Platz ein und stellte sich neben Stark. Der Erdenmensch beachtete ihn nicht. Aus irgendeinem Grund hatte der leise, durch den Nebel klingende Laut, sein Unbehagen noch gesteigert. Die Zivilisation hatte nur mit leichter Hand über ihn hinweggestrichen. Er war von Kindheit an von Wesen halbmenschlichen Ursprungs aufgezogen worden, und seine Sinneswahrnehmungen waren 7
noch immer diejenigen eines Wilden. Sein Gehör war außerordentlich gut. Malthor log. Dieser Schmerzensschrei war nicht durch den Wind hervorgerufen worden. „Ich habe mehrere Erdenmenschen gekannt“, sagte Malthor und ging auf ein anderes Thema über. „Keiner von ihnen war wie du.“ Ein unbehagliches Gefühl hinderte Stark, auf dieses Thema einzugehen. „Ich komme nicht von der Erde“, antwortete er ausweichend. „Ich komme vom Merkur.“ Malthor dachte über seine Worte nach. Die Venus ist eine wolkige Welt, auf der keiner jemals die Sonne, geschweige denn einen Stern sah. Der Kapitän hatte nur gelegentlich von dem Vorhandensein anderer Planeten gehört. Erde und Mars waren ihm Begriffe, aber Merkur war ihm ein unbekanntes Wort. Stark gab ihm eine kurze Erklärung: „Merkur ist der Planet, der der Sonne am nächsten liegt. Es ist dort sehr heiß. Die Sonne brennt wie ein riesiges Feuer, und es gibt keine Wolken, um sie abzuschirmen.“ „Deshalb also ist deine Haut so dunkel“, rief Malthor aus, hielt seinen eigenen, bleichen Arm neben den von Stark und schüttelte den Kopf. „Ich habe niemals eine solche Hautfarbe gesehen und auch nicht solche starken Muskeln“, sagte er bewundernd. Er blickte auf und fuhr freundlich fort: „Ich wünschte, du würdest bei mir wohnen. Du wirst in Shuruun keine bessere Wohnung finden. Ich warne dich! Es gibt Leute in der Stadt, die versuchen, aus den Fremden einen Vorteil zu schlagen. Sie rauben sie aus und oftmals töten sie sie sogar. Außerdem bin ich allen als ehrenwerter Mann bekannt. Unter meinem Dach würdest du sicher schlafen.“ 8
Er schwieg einen Augenblick und fügte dann mit einem Lächeln hinzu: „Ich besitze auch eine Tochter, eine ausgezeichnete Köchin, die sehr schön ist.“ Wieder ertönte das wehmütige Klagen, leise und eindringlich. Es war ein Echo der Warnung vor einem Schicksal unvorstellbaren Ausmaßes. Zum drittenmal sagte Stark: „Nein!“ Es bedurfte keiner inneren Stimme, die ihm mitteilen mußte, daß es besser für ihn war, sich von dem Kapitän fernzuhalten. Der Mann war ein Schurke, und gewiß kein unbedeutender. Ein stechender, ärgerlicher Blick blitzte kurz in Malthors Augen auf. „Du bist zu hartnäckig und wirst bald erleben, daß Shuruun nicht der richtige Ort für hartnäckige Leute ist!“ sagte er düster. Dann wandte er sich ab und ging. Jetzt änderte das Schiff seinen Kurs. Malthor kam wieder zum Achterdeck und gab Befehle. Stark sah vor sich Land auftauchen – einen dunklen Flecken in der Nacht, und dann die unklaren Umrisse einer Stadt. Fackeln brannten auf den Kais und in den Straßen. Sogar die niedrigen Häuser wurden von dem brennenden Meer beleuchtet. Shuruun war eine plumpe und häßliche Stadt, die unscheinbar auf der felsigen Küste hockte und ihr zerfetztes Hemd in Blut getaucht zu haben schien. Das Schiff näherte sich jetzt der Mole. Stark vernahm hinter sich ein Flüstern, dann leise Bewegungen und das vorsichtige Tappen nackter Füße. Er drehte sich mit der überraschenden Schnelligkeit eines Tieres, das sich bedroht fühlt, und hatte dabei eine Hand an den Revolver gelegt. Ein von dem Steuermann geschleuderter Bolzen schlug wuchtig gegen seinen Schädel. Schwankend und halbblind durch den Schmerz sah er die Umrisse von Männern, die sich gegen ihn warfen. 9
Hart und leise ertönte Malthors Stimme. Ein zweiter Bolzen kam durch die Luft geflogen und traf Stark an der Schulter. Hände wurden auf ihn gelegt; kräftige, feste Körper warfen ihn zu Boden. Starks Zähne blitzten gefährlich auf. Malthors Kopf kam in seine Nähe, und blitzschnell schnappte sein Gebiß tief in das Fleisch einer Wange. Dann begann er zu knurren und stieß ein Geräusch aus, daß nicht mehr aus einer menschlichen Kehle zu stammen schien. Es schien den überraschten Venusianern, als ob der Mann, den sie angegriffen hatten, plötzlich durch irgendeine Zauberei zum wilden Tier geworden sei. Der Mann mit der verletzten Wange schrie auf. Dann kam es auf Deck zu einem lautlosen Kampf, zu einem schrecklichen, schmerzreichen Ringen. Unvermittelt erhob sich der große dunkle Körper, machte sich frei von den angreifenden Händen und schwang sich leicht über die Reling. 2. Kapitel Stark fiel langsam durch eine seltsame Welt. Das Atmen bereitete ihm keine Schwierigkeiten, wie es in einem aus Wasser bestehenden Meer der Fall gewesen wäre. Die Gase der Roten See vermochten es, das Leben zu bewahren, und die Geschöpfe, die in ihm lebten, hatten fast normale Lungen. Zuerst war Stark nur darauf bedacht, sein Gleichgewicht zu bewahren. Er war noch immer etwas betäubt von dem Schlag und fühlte, wie der Ärger in ihm stieg. Der primitive Mensch in ihm, dessen Name nicht Stark, sondern N’Chaka lautete, der in den Flammenden Tälern des Zwielichtgürtels des Merkur gekämpft, gehungert und gejagt hatte, der Dinge erlernt hatte, die er niemals vergessen würde, dieser primitive Mensch wollte umkehren, um Malthor und seine Männer zu erschlagen. Er bedauerte, daß er ihnen nicht gleich die Gur10
geln zerfetzt hatte, denn jetzt würde er niemals vor ihnen in Sicherheit sein. Aber der Mann Stark, der im Namen der Zivilisation noch bedeutend bitterere Dinge hatte erfahren müssen, kannte die Gefahr, die ihm drohte, wenn er dem in ihm lebenden, primitiven Geist seinen Willen ließ. Er flüchte über seinen schmerzenden Kopf und verfluchte die Venusianer in dem rauhen, bescheidenen Dialekt, der seine Muttersprache war. Aber er kehrte nicht um. Die Zeit für Malthor würde schon noch kommen. Er kämpfte seine Wut nieder und begann auf die Küste zuzuschwimmen. Von einer Verfolgung war nichts zu bemerken, und er vermutete, daß Malthor beschlossen hatte, ihn entkommen zu lassen. Er rätselte über die Ursachen dieses Angriffs. Um einen Raubüberfall konnte es sich nicht handeln, da er nichts mit sich führte, außer den Kleidern auf dem Leibe und eine geringe Geldsumme in der Tasche. Nein, es mußte einen anderen Grund geben – einen Grund, der mit Malthors Aufforderung, in seinem Haus Wohnung zu nehmen, zusammenhing. Stark lächelte, doch es war kein angenehmes Lächeln. Er dachte an Shuruun und an die Dinge, die die an den Küsten der Roten See lebenden Menschen von dieser Stadt erzählten. Bei diesen Gedanken verhärtete sich sein Gesicht. Die trüben Feuer, durch die er jetzt schwamm, erinnerten ihn an frühere Zeiten, da er sich ebenfalls in der Roten See bewegt hatte. Damals war er nicht allein gewesen. Helvi hatte sich bei ihm befunden, der große Sohn eines kleinen Barbarenkönigs – küstenaufwärts bei Yarell. In den kristallenen Wäldern des Meeresgrundes hatten sie seltsame Tiere gejagt und hatten in den Flammen gebadet, die aus dem Herzen der Venus selbst herausströmten, um diesen Ozean zu speisen. Dann war Helvi nach Shuruun gegangen und niemals zurückgekehrt … 11
Stark schwamm weiter. Im roten Nebel unter sich sah er etwas, das seine Aufmerksamkeit erregte. Vor Überraschung runzelte er die Stirn. Unter ihm befanden sich Bäume – große Waldriesen, die ihre Äste nach oben streckten und deren Zweige sich sanft in der Richtung der Strömung bewegten. Stark war erstaunt. Die Wälder, in denen Helvi und er gejagt hatten, waren kristallisiert gewesen und hatten nicht eine Spur von Leben erkennen lassen. Die dort beobachteten „Bäume“ waren ebenso wenig Pflanzen wie die Korallenriffe in den südlichen Ozeanen von Terra. Das hier unter ihm aber waren echte Bäume, oder waren zumindest welche gewesen. Stark wagte sich nicht in die schattenhafte Dichte unterhalb der obersten Zweige. Eine eigenartige Angst befiel ihn beim Anblick dieses seltsamen Waldes, der in den Tiefen des Golfes träumte – versunken und vergessen, als wundere er sich, warum die Vögel verschwunden waren und mit ihnen die warmen Regen und das Tageslicht. Er stieg wieder zur Oberfläche hinauf und wirkte dabei wie ein riesiger, dunkler Vogel, der über den Zweigen schwebte. Ein unheimliches Gefühl, ein Verlangen, möglichst rasch diesen unirdischen Ort zu verlassen, trieb ihn an. Sein halbwilder Sinn erschauerte unter einer Vorahnung des Bösen, und diese Ahnung war so groß, daß es seines ganzen anerzogenen, gesunden Menschenverstandes bedurfte, um sich einzureden, daß er nicht von Dämonen verfolgt wurde. Schließlich erreichte er die Oberfläche und bemerkte, daß er in der roten Tiefe seine Richtung verloren hatte. Er hatte einen großen Bogen geschlagen, so daß er sich jetzt unterhalb von Shuruun befand. Ohne Eile schwamm er bis an das Ufer und kletterte dann über die schwarzen Felsen an das Land. Er stand vor einer schmutzigen Gasse, die in die Stadt hin12
einführte. Ihr folgte er. Dabei ging er weder schnell noch langsam, bewegte sich aber mit lauernder Spannung. Hütten aus Flechtwerk und Lehm ragten aus dem Nebel, wuchsen an Zahl und wurden schließlich zu einer Straße von Wohnhäusern. Hier und dort blitzte das Licht durch die schlitzartigen Fenster. Ein Mann und eine Frau standen nebeneinander in einer niederen Tür. Sie sahen ihn und sprangen zur Seite, wobei die Frau einen leisen Schrei ausstieß. Stark ging weiter. Er schaute nicht zurück, wußte aber, daß sie ihm in geringer Entfernung folgten. Die Gasse zog sich schlangenähnlich durch eine Vielzahl eng beieinander stehender Häuser. Weitere Lichter und weitere Menschen wurden sichtbar – große, weißhäutige Menschen aus den Sümpfen, mit blassen Augen und langem Haar, das die Farbe neuen Flachses hatte. Auf ihren Gesichtern lag der Ausdruck von gierigen Wölfen. Und zwischen ihnen schritt Stark mit seinem schwarzen Haar und seiner sonnengebräunten Haut. Die anderen sprachen nicht und versuchten auch nicht, ihn anzuhalten. Sie sahen ihn nur aus dem roten Nebel heraus an – in einer seltsamen Mischung von Neugierde und Angst. Einige folgten ihm, hielten sich aber ein gutes Stück hinter seinem Rücken. Eine Gruppe von kleinen, nackten Kindern tauchte zwischen den Häusern auf und rannte rufend, aber außer Reichweite neben ihm her. Bis dann einer der Jungen einen Stein warf und dabei etwas Unverständliches rief – unverständlich bis auf das Wort „Lhari!“ Dann blieben sie alle entsetzt stehen, um hierauf schreiend zu flüchten. Stark setzte unbeirrt seinen Weg durch das Viertel der Spitzenmacher fort und kam, ohne es zu wollen, an die Kais. Der Schein der Roten See durchdrang die Luft, so daß es schien, als sei der Nebel aus lauter winzigen Blutstropfen zusammengesetzt. 13
Über dem ganzen Ort lag ein Geruch, der ihm nicht gefiel – eine Mischung von Schlamm, aneinander gedrängten Körpern und Wein, wozu noch das Aroma des Vela-Mohnes kam. Shuruun war eine unsaubere Stadt und stank vor Schmutzigkeit. Doch es gab da noch etwas anderes, Verborgenes, das Starks Nerven mit eisigen Fingern packte. Angst! Er sah ihren Schatten in den Augen der Menschen, hörte ihren Klang im Unterton ihrer Stimmen. Die Wölfe von Shuruun fühlten sich in ihrem eigenen Zwinger nicht wohl und sicher. Und als er sich dieser Erkenntnis klar geworden war, wurde Starks Schritt ganz unbewußt fester und kriegerischer, während seine Augen kälter und härter blickten. Er kam an einen großen Platz an der Hafenseite. Von hier aus konnte er die geisterhaften Schiffe erkennen, die an den Molen vertäut waren, sah die aufgestapelten Weinfässer, sowie den Wirrwarr von Masten und Seilen, die sich von dem brennenden Hintergrund des Golfs abhoben. Hier leuchteten auch viele Fackeln, und der Platz war von großen, breiten Gebäuden umgeben. Von den Veranden her hörte man Gelächter und Stimmengeräusche; irgendwo sang eine Frau zum melancholischen Trällern einer Rohrflöte. Ein in der Ferne auftauchender Lichtschein erregte Starks Aufmerksamkeit. Die in diese Richtung führenden Straßen schienen auf einen Hügel zu führen, und als er seine Augen anstrengte, um den Nebel zu durchdringen, erkannte er undeutlich das große Gebäude eines Schlosses, das auf den unteren Klippen hockte und von oben auf die Straßen von Shuruun blickte. Stark zögerte etwas und ging dann über den Platz auf die größte der Schenken zu. In dem offenen Raum hielt sich eine Anzahl Leute auf, die in ihrer Mehrzahl Frauen und Seeleute waren. Sie waren ausgelassen und etwas angetrunken, hielten aber bei seinem Erscheinen in ihren Gesprächen inne und blickten auf ihn, um sich dann 14
langsam zurückzuziehen, ohne die Augen von ihm abzuwenden. Ein seltsames Schweigen beherrschte den Raum, dem sich ein nervöses Zittern zugesellte, und das jeden der Anwesenden durchfuhr. Einige Männer lösten sich von den Veranden und aus den Türen der Weinschenken. Plötzlich zeigte eine Frau mit ungekämmtem Haar auf Stark und begann zu lachen. Es hörte sich wie das Gelächter einer Hysterischen an. Stark sah seinen Weg plötzlich von drei großen, starken und jungen Männern versperrt. Sie hatten harte Münder und Augen und blickten ihn wild an, wie Hunde es vor dem Töten tun. „Fremder“, sagten sie. „Erdenmensch!“ „Ein Ausgestoßener“, berichtigte Stark, es war nur eine halbe Lüge. Einer der Männer kam einen Schritt näher. „Bist du wie ein Drache über die Berge der Weißen Wolke geflogen? Bist du vom Himmel herabgefallen?“ „Ich kam auf Malthors Schiff.“ Ein Seufzen ging über den Platz, als der Name Malthor fiel. Die kühnen Gesichter der jungen Männer verzerrten sich vor Enttäuschung. Doch ihr Anführer sagte scharf: „Ich war auf dem Kai, als Malthor landete, doch du warst nicht an Bord!“ Jetzt war es an Stark, ein Lächeln zu zeigen. Im Licht der Fackeln blitzten seine Augen kalt und klar wie Eis in der Sonne. „Fragt Malthor nach dem Grund! Fragt den Mann mit der zerrissenen Wange. Vielleicht aber“, fügte er sanft hinzu, „würdet ihr es auch gern von mir erfahren?“ Die jungen Männer sahen ihn unentschlossen an. Stark stellte sich mit gespannten Muskeln kampfbereit auf; die Frau, die vorhin gelacht hatte, kam näher und blickte ihn durch den Vorhang ihrer wirren Haare an. Ihr Atem ging schwer und roch nach Wein. 15
Plötzlich sagte sie: „Er kam aus dem Meer. Von dort ist er gekommen. Er ist …“ Einer der jungen Männer schlug ihr heftig auf den Mund. Sie taumelte und fiel vornüber in den Schlamm. „Nun?“ fragte Stark die jungen Leute. „Habt ihr einen Entschluß gefaßt?“ „Entschlüsse …“, spottete eine Stimme hinter ihm. „Dazu braucht man ein Hirn.“ Die Stimme klang rauh und sprach die flüssigen Vokale der Venussprache nur unbeholfen aus. „Und Hirn haben die Jungens nicht“, sagte die Stimme weiter, „sonst würden sie sich um ihre Arbeit kümmern statt hier zu stehen und einen Fremden anzugaffen.“ Die jungen Burschen wandten sich um. Neben Stark tauchte der Mann auf, der gesprochen hatte. Er stand auf den Stufen der Gaststätte. Er war ein Erdenmensch, und zunächst glaubte Stark, daß er sehr alt sei, weil sein Haar weiß und sein Gesicht tief gefurcht war. Sein Körper war von Fieber zerfressen, und die Muskeln waren zu knotigen Strängen über den Knochen geworden. Er stützte sich schwer auf einen Stock. Eines seiner Beine war mißgestaltet und schrecklich zernarbt. Er begann, auf die jungen Leute loszuschimpfen, sagte ihnen, daß sie Idioten seien, Mißgeburten aus den Sümpfen und ohne jede Erziehung, und wenn sie der Geschichte des Fremden nicht glaubten, könnten sie ja zu Malthor gehen und ihn fragen, wie jener es vorgeschlagen hatte. Schließlich drohte er ihnen mit dem Stock. „Geht jetzt! Geht fort! Laßt mich allein mit meinem Bruder von der Erde!“ Der weißhaarige Erdenmensch winkte Stark zu sich, und als Stark vor ihm stand, sagte er atemlos und fast ärgerlich: „Du befindest dich in einer Falle!“ 16
Stark warf einen Blick über seine Schulter. An der Ecke des Platzes hatten die drei jungen Leute einen vierten Mann getroffen, der an seiner Wange einen Verband trug. Sie verschwanden sofort in einer Seitengasse, aber Stark hatte zuvor Malthor doch erkannt. Es war der Kapitän, den er gebrandmarkt hatte. Vor lauter Fröhlichkeit sagte der gelähmte Mann in venusianischer Sprache: „Komm mit herein, Bruder, und trink’ mit mir. Wir werden dabei von der Erde sprechen.“ 3. Kapitel Die Gaststätte war nicht übermäßig vornehm. Sie bestand aus einem einzigen, riesigen Raum, der von einem Strohdach bedeckt war. An einer Seite waren die Schilfrolläden zur Hälfte hochgezogen worden. Der Boden bestand aus Holzsplittern, die man über den Schlamm gestreut und dann festgetreten hatte. Dann gab es noch eine lange und niedrige Bar, kleine Tische, schäbige Häute und verschmutzte Kissen als Sitzgelegenheit, und in einer Ecke die Unterhalter, zwei alte Männer mit Trommel und Rohrflöte, sowie zwei übelgelaunte, müde aussehende Mädchen. Der gelähmte Mann führte Stark an einen Ecktisch, sank dort nieder und rief nach Wein. Seine dunklen, von vielen Schmerzen trübe gewordenen Augen brannten jetzt vor Erregung. Seine Hände zitterten. Noch ehe Stark sich hingesetzt hatte, begann er bereits zu reden, und seine Worte überstürzten sich, als ob er sie nicht schnell genug über die Lippen bringen könnte. „Wie ist es jetzt auf der Erde? Hat sich irgend etwas verändert? Sagen Sie mir, wie es ist! Die Städte, die Lichter, die gepflasterten Straßen, die Frauen und die Sonne! O Gott, was würde ich darum geben, die Sonne wieder sehen zu können, und Frauen mit dunklen Haaren und schönen Kleidern.“ Er lehnte sich nach 17
vorn und starrte hungrig in Starks Gesicht, als ob sich in ihm die Antworten auf seine Fragen widerspiegelten. „Um Gottes willen, sagen Sie mir alles! Reden Sie englisch mit mir und erzählen Sie mir von der Erde.“ Er redete jetzt beinahe wie ein zivilisierter Mensch und hatte sogar auf das Duzen verzichtet. Stark antwortete ihm in englischer Sprache. „Seit wann sind Sie hier?“ fragte er. „Das weiß ich nicht. Wie kann man denn die Zeit errechnen auf einer Welt ohne die Sonne, ohne den verdammtesten kleinen Stern, den man betrachten könnte? Vielleicht sind es zehn oder hundert Jahre? Wie soll ich das wissen? Erzählen Sie mir jetzt von der Erde!“ Stark lächelte müde. „Ich bin auch schon lange Zeit nicht mehr dort gewesen. Dort nämlich erwartete mich die Polizei mit einem Begrüßungskomitee. Doch als ich sie zum letzten Mal sah, hatte sie sich noch nicht verändert.“ Der gelähmte Mann erschauerte. Er blickte jetzt nicht Stark an, sondern sah an ihm vorbei in die Ferne. „Herbstliche Wälder“, philosophierte er, „rot und golden auf den braunen Hügeln. Schnee … Ich kann mich entsinnen, wie es bei der Kälte war. Dann biß einen die Luft, wenn man sie einatmete. Und die Frauen trugen Schuhe mit hohen Absätzen. Sie hatten keine großen, nackten Füße, die durch den Schlamm wateten, sondern kleine, spitze Absätze, die auf dem Asphalt klapperten.“ Plötzlich blickte er Stark an, und seine Augen waren wütend und voller Tränen. „Warum, zum Teufel, mußten Sie nach hier kommen und mich daran erinnern? Ich bin Larrabee. Ich lebe in Shuruun. Ich bin schon immer hier gewesen und werde hier bleiben, bis ich sterbe. Es gibt keine Erde! Sie ist verschwunden! Schauen Sie 18
nur hinauf in den Himmel, und Sie werden sehen, daß sie verschwunden ist! Es gibt nichts, nichts, außer Venuswolken und Schlamm.“ Er zitterte und drehte den Kopf hin und her. Ein Mann kam und brachte Wein, stellte ihn nieder und ging wieder fort. In der Schenke war es sehr ruhig. Ein weiter Raum um die beiden Erdenmenschen war leer. Etwas entfernt von ihnen lagen Leute auf den Kissen, schlürften den Wein und blickten sie in seltsamer Erwartung an. Plötzlich lachte Larrabee. Es war ein rauher Laut, der aber eine echte Fröhlichkeit in sich barg. „Ich weiß nicht, warum ich mich nach der Erde sehne – vor allem in der letzten Zeit. Ich habe nicht sehr viel an sie gedacht, seit ich hier bin.“ Doch er hielt seinen Blick abgewandt, und als er sein Glas hob, zitterte seine Hand so stark, daß er den Wein verschüttete. Stark sah ihn ungläubig an. „Larrabee?“ fragte er. „Sie sind Mike Larrabee! Sie sind der Mann, der eine Million Kreditscheine aus dem Tresor der ‚Royal Venus’ stahl?“ Larrabee nickte. „Und ich bin damit entkommen – direkt über die Berge der Weißen Wolke, von denen man sagt, daß sie nicht zu überfliegen seien. Und wissen Sie, wo diese Million jetzt ist? Sie liegt auf dem Grund der Roten See – zusammen mit meinem Schiff und meiner Mannschaft, da draußen im Golf. Der Himmel mag wissen, warum ich noch lebe.“ Er zuckte die Achseln. „Nun, ich wollte nach Shuruun, als wir aufliefen, und ich bin auch richtig an mein Ziel gelangt. Warum sollte ich mich also beklagen?“ „Dann sind Sie also nach irdischer Berechnung seit neun Jahren hier“, meinte Stark. Er hatte Larrabee zuvor niemals gesehen, aber er erinnerte sich der Bilder, die vom Polizeifunk 19
über alle Fernsehschirme verbreitet worden waren. Larrabee war damals ein junger Mann gewesen. Larrabee erriet seine Gedanken. „Ich habe mich verändert, nicht wahr?“ Lahm antwortete Stark: „Jedermann hielt Sie für tot!“ Larrabee lachte. Dann wurde es für eine Weile sehr still. Starks Ohren bemühten sich, die von draußen kommenden Geräusche aufzunehmen, aber es waren keine zu hören. Plötzlich fragte er: „Was hat es mit dieser Falle auf sich, in der ich mich befinden soll?“ „Ich will Ihnen etwas darüber sagen“, erwiderte Larrabee. „Es gibt keinen Weg hinaus. Ich kann Ihnen nicht helfen. Selbst wenn ich es könnte, würde ich es nicht tun. Ich kann es wirklich nicht.“ „Danke“, entgegnete Stark trocken. „Dann sagen Sie mir wenigstens, was hier vorgeht.“ „Hören Sie“, erklärte Larrabee, „ich bin ein Krüppel und ein alter Mann dazu. Shuruun ist gewiß nicht der schönste Platz des Sonnensystems, an dem man sein Leben verbringen kann. Aber ich lebe … Ich habe eine Frau, eine schlampige Dirne, das gebe ich zu, doch in ihrer Art ist sie mir gut genug. Sie werden dort drüben einige dunkelhaarige Kinder im Schlamm herumtollen sehen. Es sind die meinen. Ich besitze etwas Geschick, Knochen einzurenken und ähnliche Hilfe zu leisten. So kann ich dann, sooft ich will, umsonst trinken – und ich will es ziemlich oft. Wegen meines Beines hier brauche ich mir keine Sorgen zu machen. Aber fragen Sie mich nicht, was vorgeht. Ich möchte es auch gar nicht wissen.“ Stark antwortete mit einer Frage: „Wer sind die Lhari?“ „Möchten Sie sie gern treffen?“ Larrabee schien diesen Gedanken erheiternd zu finden, „Dann gehen Sie hinauf zum Schloß. Dort leben sie. Sie sind die Herren von Shuruun und freuen sich immer, Fremde zu empfangen.“ 20
Plötzlich beugte er sich etwas vor. „Wer sind Sie überhaupt? Wie heißen Sie, und warum, zum Teufel, sind Sie hierhergekommen?“ „Mein Name ist Stark, und für mein Kommen hatte ich denselben Grund wie Sie.“ „Stark …“, wiederholte Larrabee langsam und mit prüfendem Blick. „Das schlägt bei mir eine vertraute Saite an. Es kommt mir vor, als wenn ich damals einen Steckbrief gelesen hätte – ausgeschrieben gegen irgendeinen Narren, der eine Eingeborenenrevolte in einer Jupiterkolonie angezettelt hatte. Es handelte sich um einen großen, kaltäugigen Burschen, den man einfach als den ‚wilden Mann vom Merkur’ bezeichnete.“ Er nickte vor sich hin und war mit sich selbst zufrieden. „Wilder Mann, was? Nun, Shuruun wird Sie schon zähmen.“ „Vielleicht“, antwortete Stark. Seine Augen wanderten unablässig hin und her. Sie beobachteten Larrabee, beobachteten den Eingang und die dunkle Veranda sowie die Trinkenden, die nicht miteinander redeten. „Da wir eben von Fremden sprechen – einer kam zur Zeit der letzten Regen nach hier. Er war ein Venusianer von der Oberen Küste – ein großer, junger Mann. Ich habe ihn gekannt. Vielleicht könnte er mir helfen.“ Larrabee knurrte zufrieden. Er hatte seinen eigenen und dazu auch Starks Wein ausgetrunken. „Niemand kann Ihnen helfen. Und was Ihren Freund anbelangt, so habe ich ihn niemals gesehen. Ich beginne anzunehmen, daß es besser gewesen wäre, wenn auch ich Sie niemals getroffen hätte.“ Plötzlich griff er nach seinem Stock und stand mühselig auf. Er sah Stark nicht an, sagte aber rauh: „Sie gehen besser wieder hinaus!“ Dann drehte er sich um und humpelte unsicher zur Bar. Stark erhob sich. Er blickte Larrabee nach, und wieder zogen 21
sich seine Nasenlöcher bei dem unverkennbaren Geruch der Angst zusammen. Dann verließ er das Lokal – auf demselben Weg, den er gekommen war, durch die vordere Tür. Keiner trat ihm entgegen. Der Platz draußen war leer. Es hatte zu regnen begonnen. Stark blieb einen Augenblick auf den Stufen stehen. Wieder hatte er dieses komische Gefühl der Angst, das er nicht zu deuten vermochte. Ärgerlich schimpfte er sich einen Narren. Er hätte Malthor und die drei jungen Leute gern gesehen. Aber es gab hier nichts, das er bekämpfen konnte, außer dem leisen Regen. Er trat in den warmen und nassen Schlamm, in den er bis an seine Knöchel sank. Ein Gedanke kam ihm, er lächelte und ging nunmehr aus einer bestimmten Absicht heraus, langsam den Platz entlang. Der Regen strömte stärker. Die Tropfen fielen auf Starks nackte Schultern und schlugen klatschend auf den schlammigen Boden. Der Hafen war hinter brodelnden Nebelwolken verschwunden. Sowie das Wasser auf die kochende Oberfläche der Roten See fiel, wurde es sofort in Dampf umgewandelt. Die Kais und die benachbarten Straßen waren in dem undurchdringlichen Nebel verschwunden. Bläuliche Blitze zuckten auf, und ein grollender Donner folgte ihnen. Stark folgte jetzt dem schmalen Weg, der hinauf zum Schloß führte. Manchmal tauchten die blitzenden Lichter des Schlosses auf der Anhöhe auf, wurden aber sofort wieder durch den ansteigenden Nebel verdeckt. Ein greller Blitz erhellte die Nacht, und durch den Lärm des nun folgenden Donners war es Stark, als ob er eine rufende Stimme vernehme. Er blieb stehen, halb an den Boden gekauert und eine Hand auf seine Waffe gelegt lauschte er. Wieder ertönte der Schrei – die Stimme eines Mädchens, die im Rauschen des Regens kaum vernehmbar war. Dann sah er 22
sie – eine kleine, weiße Gestalt, die auf ihn zurammte, strauchelte, und dann wieder wie gehetzt weiterlief. Stark drückte sich gegen eine Hauswand und wartete. Es schien niemand bei ihr zu sein, obwohl sich das Mädchen in der Dunkelheit und bei diesem Unwetter kaum richtig beobachten ließ. Jetzt hatte sie ihn erreicht und blieb in einiger Entfernung von ihm stehen, sah ihn an und blickte dann wieder fort – in einer fast seltsamen Unentschlossenheit. Ein greller Blitz beleuchtete ihre Gestalt. Sie war jung, noch nicht lange über die Kinderjahre hinaus, und hübsch dazu – hübsch in einer seltsamen Art. Ihre Lippen zitterten, als ob sie ein Schluchzen unterdrücken müsse, ihre Augen waren sehr groß und furchtsam. Ihr nasser Rock schlug um die langen Beine, und zeichnete eine vollendete Figur. Ihre Schultern glänzten in der Feuchtigkeit so weiß wie Schnee. Das helle Haar hing tropfend über ihren Schultern. Freundlich fragte Stark: „Was wünschst du?“ Sie sah ihn an – einem nassen Hund so ähnlich, daß er unwillkürlich lächeln mußte. Es war, als habe dieses Lächeln alle in ihr vorhandene Entschlußkraft getötet, denn schluchzend sank sie auf die Knie. „Ich kann es nicht tun!“ klagte sie. „Er wird mich töten, aber ich kann es nicht tun!“ „Was kannst du nicht tun?“ fragte Stark geduldig. Sie sah zu ihm auf. „Laufen Sie fort“, bat sie ihn flehend. „Laufen Sie sofort davon! Sie werden in den Sümpfen zugrunde gehen, aber das ist besser, als einer der Verlorenen zu sein.“ Sie reckte ihm ihre dünnen Arme entgegen. „So laufen Sie doch, laufen Sie, so schnell Sie können!“
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4. Kapitel Die Straße war leer. Nichts deutete darauf hin, daß irgendein Mensch diese Szene beobachtet hätte. Stark beugte sich vor, faßte das Mädchen und zog es neben sich unter den Dachvorsprung. „Nun“, meinte er tröstend, „so versuche doch einmal, nicht mehr zu weinen und erzähle mir, was das alles bedeuten soll!“ Von einzelnen Seufzern und wildem Schluchzen unterbrochen, erfuhr er ihre Geschichte. „Ich bin Zareth“, sagte sie, „Malthors Tochter. Er hat Angst vor dir – vor allem wegen jener Dinge, die du ihm auf dem Schiffe antatest. Er befahl mir, dich auf dem Platz zu beobachten, bis du aus der Gaststätte kommen würdest. Dann sollte ich dir folgen …“ Sie unterbrach sich, und Stark klopfte ihr beruhigend auf die Schulter. „Sprich weiter!“ Inzwischen war ihr ein neuer Gedanke gekommen. „Versprichst du mir, mich nicht zu schlagen, wenn ich es dir sage?“ Sie sah auf seine Waffe und erschauerte. „Ich verspreche es!“ Sie forschte in seinem Gesicht, soweit sie es in der Dunkelheit vermochte. Dann schien sie etwas von ihrer Angst verloren zu haben. „Ich sollte dich aufhalten, ich sollte dir sagen, was ich bereits erklärt habe: daß ich nämlich Malthors Tochter bin, und den ganzen Rest. Und ich sollte dir erklären, daß es mein Auftrag sei, dich in einen Hinterhalt zu locken, ich aber die Absicht hätte, dir zu helfen. Ich sei unfähig, dir etwas anzutun, weil ich Malthor und alles, was mit den Verlorenen zusammenhängt, hasse. So hättest du mir geglaubt und wärst mir gefolgt, und ich hätte dich in einen Hinterhalt bringen müssen.“ 24
Sie schüttelte den Kopf und begann wieder zu weinen, diesmal allerdings etwas ruhiger. Sie war nur noch ein Kind, ein sehr bemitleidenswertes und erschrecktes Kind. Und Stark war froh, daß er Malthor gekennzeichnet hatte. „Aber ich kann dich nicht in den Hinterhalt bringen; ich hasse Malthor, auch wenn er mein Vater ist – weil er mich schlägt!“ „Und die Verlorenen!“ „Manchmal höre ich sie zur Nachtzeit, wie sie dort draußen, jenseits des Nebels, singen – es sind schreckliche Laute.“ „Das ist es“, nickte Stark. „Ich habe es schon gehört. Wer sind die Verlorenen, Zareth?“ „Ich kann es dir nicht sagen“, antwortete Zareth. „Es ist verboten, über sie zu sprechen. Außerdem“, endete sie ehrlich, „weiß ich es nicht einmal. Leute verschwinden, und das ist alles. Nicht unsere eigenen Leute von Shuruun. Aber Fremde wie du, und ich bin sicher, daß mein Vater in die Sümpfe geht, um unter den dort ansässigen Stämmen Menschen zu jagen. Auch glaube ich, daß er von einigen seiner Seefahrten Menschen mitbringt, die von gekaperten Schiffen stammen. Warum, und wofür sie bestimmt sind, weiß ich nicht. Ich habe nur ihren Gesang vernommen.“ „Sie leben dort draußen im Golf, nicht wahr?“ „Das werden sie wohl; dort gibt es so viele Inseln.“ „Und was ist mit den Lhari, den Herren von Shuruun? Wissen sie nicht, was hier vorgeht, oder sind sie ebenfalls mit im Komplott?“ Sie erschauerte und erwiderte: „Es ist uns nicht gestattet, die Lhari zu befragen. Wir dürfen uns nicht einmal wundern über das, was sie tun. Die, die es wagten, verschwanden aus Shuruun, und keiner weiß, wohin.“ Stark nickte. Einen Augenblick dachte er schweigend nach. Dann berührte Zareths kleine Hand seine Schulter. „Geh’“, sagte sie. „Geh’ und verschwinde in den Sümpfen. 25
Du bist stark, und es ist etwas an dir, das dich von den anderen Menschen unterscheidet. Du wirst vielleicht leben und deinen Weg finden.“ „Nein, ich habe noch etwas zu erledigen, bevor ich Shuruun verlasse.“ Er nahm Zareths hellen Kopf zwischen seine Hände und küßte ihre Stirn. „Du bist ein süßes Kind, Zareth, und tapfer dazu. Sage Malthor, daß du genauso handeltest, wie er es befahl, und daß es nicht deine Schuld sei, wenn ich dir nicht folgte.“ „Er wird mich auf alle Fälle schlagen“, entgegnete Zareth ergeben. „Vielleicht aber doch nicht ganz so stark.“ „Er hat überhaupt keinen Grund, dich zu schlagen, wenn du ihm die Wahrheit sagst. Du kannst ihm erklären, daß ich nicht mit dir gehen wollte, weil es meine Absicht sei, das Schloß der Lhari aufzusuchen!“ Es entstand ein langes, bedrückendes Schweigen, während Zareths Augen sich langsam vor Entsetzen weiteten. Der Regen schlug auf das Dach, Nebel und Donner überrollten Shuruun. „Zum Schloß?“ flüsterte sie. „O nein. Geh’ in die Sümpfe oder laß dich von Malthor fangen, aber meide das Schloß.“ Sie ergriff seinen Arm, und ihre Finger krallten sich bittend in sein Fleisch. „Du bist ein Fremder und weißt nicht … Bitte, gehe nicht dort hinauf!“ „Warum nicht?“ fragte Stark. „Sind die Lhari denn Dämonen? Nähren sie sich von Menschenfleisch?“ Er löste ihre Hand sanft von seinem Arm. „Du solltest lieber gehen, Sag’ deinem Vater, wo ich bin, falls er mir nachkommen will.“ Zareth wich langsam zurück und blickte ihn an wie einen Menschen, der auf der Schwelle der Hölle steht, der nicht tot, aber schlimmer als tot ist. Einmal versuchte sie, zu sprechen; dann schüttelte sie den Kopf und drehte sich um. Sie rannte davon, als ob sie den Anblick Starks nicht länger ertragen könnte. Eine Sekunde später war sie verschwunden. 26
Seltsam gerührt blickte Stark ihr einen Augenblick nach. Dann trat er wieder in den Regen und ging den steilen Weg hinauf, der zum Schloß der Herren von Shuruun führte. Der Nebel verwirrte ihn. Er mußte seinen Weg ertasten, und als er höher kam und sich über der Stadt befand, war er ganz in der trüben Röte verloren. Ein heißer Wind wehte, jeder Blitz färbte den roten Nebel zu einem höllischen Purpur. Die Nacht war erfüllt von einem lauten Zischen – dem Geräusch des in den Golf strömenden Regens. Einmal blieb er stehen, um seinen Revolver in einer Felsspalte zu verstecken. Schließlich stolperte er gegen einen gemeißelten Pfeiler aus schwarzem Stein und sah über sich das Tor – eine massive, aus Metall gegossene Mauer. Es war versperrt, und das Hämmern seiner Fäuste verursachte nur ein schwaches Geräusch. Dann entdeckte er den Gong – eine riesige Scheibe aus gehämmertem Gold, die neben dem Tor angebracht war. Stark hob den bereitliegenden Hammer und schlug auf den Gong, dessen Klang den grollenden Donner noch übertönte. Ein vergitterter Schlitz wurde geöffnet, und die Augen eines Mannes blickten ihn an. Stark ließ den Hammer fallen. „Öffnet mir“, sagte er. „Ich will mit den Lhari sprechen.“ Von drinnen klang ein belustigtes Gelächter an sein Ohr. Stimmfetzen wurden durch den Wind über die Mauer getragen, und dann vernahm er wieder dieses häßliche Lachen. Langsam öffneten sich die großen Flügel des Tores – eben so weit, um ihm Einlaß zu gewähren. Er trat ein, und knirschend fiel das Tor wieder hinter ihm zu. Stark stand in einem großen, offenen Hof, in dessen Mauern ein aus Hütten bestehendes Dorf lag – mit offenen Schuppen, die als Küchen dienten. Dahinter waren die Pferche angebracht für die Tiere, und zwar für die flügellosen Drachen, die gefangengenommen und als Zugtiere benutzt wurden. 27
Das alles aber konnte er durch den Nebel nur teilweise und undeutlich erkennen. Die Männer, die ihn eingelassen hatten, sammelten sich um ihn und schoben ihn vorwärts, um ihn in dem aus den Hütten fallenden Licht zu betrachten. „Er will mit den Lhari sprechen“, rief einer den Frauen und Kindern zu, die neugierig auf ihren Türschwellen standen. Die Worte wurden aufgenommen und weitergegeben, worauf sich ein großes Gelächter erhob. Stark blickte die Lachenden an, sagte aber kein Wort. Es waren seltsame Leute, die ihn umstanden. Offenbar waren die Männer so etwas wie Wächter und Krieger der Lharis, denn sie trugen den Harnisch der Kämpfer. Die Frauen und Kinder schienen ihre Familien darzustellen, und alle lebten hinter den Mauern des Schlosses und hatten mit Shuruun wenig zu tun. Doch vor allem überraschten ihn ihre rassischen Eigenarten. Sie hatten sich mit den blassen Stämmen der Sümpfe vermischt, die Shuruun bevölkert hatten, und es gab viele mit milchweißem Haar und weißen Gesichtern. Aber selbst diese Gesichter trugen einen fremden Stempel. Stark war überrascht, denn die Rasse, deren Name auf seiner Zunge lag, war hinter den Bergen der Weißen Wolke unbekannt, war fast überall auf der Venus unbekannt angesichts der ewigen Nebel, die hier dampften. Sie blickten ihn sehr neugierig an und wunderten sich vor allem über seine Haut, sein schwarzes Haar und die ihnen ganz ungewohnte Gesichtsform. Die Frauen stießen einander an, kicherten und flüsterten. Eine von ihnen sagte laut: „Sie werden eine Tonnendaube benötigen, um diesen Hals zu umfassen.“ Die Wächter schlossen sich enger um ihn. „Nun, wenn du die Lhari sehen willst, werden wir es dir nicht verwehren“, erklärte ihr Anführer. „Zunächst aber wollen wir dich durchsuchen.“ 28
Speerspitzen berührten ihn von allen Seiten. Stark leistete keinen Widerstand, während sie ihn bis auf die Shorts und Sandalen entkleideten. Er hatte etwas Ähnliches erwartet, und ihr Tun belustigte ihn. Sie konnten ihm nicht viel wegnehmen. „In Ordnung“, sagte der Anführer dann. „Komm mit!“ Das ganze Dorf trat hinaus in den Regen, um Stark bis an die Schloßtür zu begleiten. Sie zeigten das gleiche schreckliche Interesse an ihm, das bereits die Leute von Shuruun bewiesen hatten – nur mit einem Unterschied: Sie wußten, was ihn erwartete, wußten es alle, und deshalb gefiel ihnen das Spiel. Der große Toreingang zum Schloß war viereckig und glatt, wirkte aber trotzdem nicht roh und häßlich. Das Schloß selbst war aus schwarzem Stein erbaut worden. Jeder Block war zu einem vollkommenen Viereck gemeißelt und wirkte in sich von kühler Schönheit. Das Tor selbst war aus demselben Metall hergestellt worden wie die Hofpforte. Auch es war dunkel gestrichen, aber nicht verrostet. Der Führer der Wächter rief dem im Schloß befindlichen Schließer zu: „Hier ist einer, der mit den Lhari sprechen will.“ „Das soll er auch“, lachte der Pförtner. „Ihre Nacht ist lang und trübe.“ Er öffnete das schwere Tor und rief die Losung in die Halle hinein. Jetzt tauchten Diener aus dem Schatten auf, die in Seide gekleidet waren und juwelenbesetzte Halsbänder trugen. An dem gutturalen Geräusch ihres Lachens erkannte Stark, daß sie keine Zungen besaßen. Er stockte. Der Eingang glänzte wohl strahlend vor ihm auf, aber ihm war, als ob Übles dahinter liege. Vielleicht war Zareth weiser gewesen als er, als sie ihn vor den Lhari warnte. Dann fielen ihm Helvi und verschiedene andere Dinge ein, und seine Furcht ging in Ärger über. Blitze erhellten den Himmel. Der letzte Schrei des ersterbenden Sturmes erschütterte den Boden unter seinen Füßen. Er 29
schob den grinsenden Pförtner zur Seite, ging ins Schloß und brachte einen Schleier roten Nebels mit. Er achtete nicht auf das Zufallen des Tores, das leise klang wie der Fußfall des Todes. Fackeln leuchteten hier und dort an den Wänden, und in ihrem rauchigen Schein konnte er erkennen, daß die große Eingangshalle in ihrer Bauart der Pforte ähnlich war – glatt und ungeschmückt, aus behauenem Fels hergestellt. Sie war hoch und weit, in ihrer Architektur spiegelte sich eine ruhige Würde wider, die ihre eigene Schönheit besaß und eindrucksvoller war als die Lieblichkeit der zerstörten Paläste, die er auf dem Markt von Shuruun gesehen hatte. Die Wände trugen weder Gemälde noch Fresken oder Schmuck. Es war, als ob die Erbauer gefühlt hätten, daß die Halle sich selbst genug war in ihrer massiven Vollendung der Linien mit den düster glänzenden, polierten Steinen. Ein wenig schmuckähnlich wirkten lediglich die hohlen Fensteröffnungen, die sich dem roten Nebel öffneten, der durch sie in die Halle eindrang. Und in den Fensteröffnungen waren hier und dort noch Scherbenreste zu sehen, die unter den Windstößen gegen die Gitter schlugen und einen Schimmer vergangener Pracht und Größe erkennen ließen. Ihn überkam ein seltsames Gefühl. Seine wilde Erziehung hatte ihm eine fast übernatürliche Empfindlichkeit gegenüber Eindrücken gebracht, die von anderen Menschen überhaupt nicht oder nur andeutungsweise verspürt wurden. Und wie er so durch die Halle ging, gefolgt von den zungenlosen Geschöpfen in ihren Seidenkleidern mit den glänzenden Halsbändern, wurde ihm plötzlich etwas bewußt. Das Schloß war nichts anderes als die Ausbreitung der Gedanken seiner Erbauer, ein verwirklichter Traum. Stark fühlte, daß dieser dunkle, kühle, zeitlose Traum seinen Ursprung nicht in einem Geist wie dem seinen gefunden hatte oder überhaupt dem Geist irgendeines Menschen ähnlich war, den er jemals gesehen hatte. 30
Dann hatten sie das Ende der Halle erreicht, ihr Weg endete vor niederen Türen aus Gold, die ebenso einfach gehalten waren. Er vernahm ein leises Scharren, das leichte Gleiten von Füßen, das Hin- und Hergehen der Diener, und beobachtete Blicke aus ihren belustigten Augen. Die goldenen Türen schwangen auf. Stark stand den Lhari gegenüber. 5. Kapitel Beim ersten Anblick sahen sie wie Geschöpfe aus, die einem Fiebertraum entronnen waren – sehr hell und sehr weit entfernt, in einen nebligen Schleier gehüllt, der ihnen ein Aussehen unirdischer Schönheit verlieh. Der Ort, an dem der Erdenmensch sich jetzt befand, war gebaut wie eine Kathedrale und dies sowohl in ihrer Größe als auch Höhe. Doch vor allem herrschte an den Seiten und nach oben finstere Dunkelheit, so daß man den Eindruck gewinnen konnte, als ob der gewaltige Raum sich grenzenlos in alle Richtungen erstrecke, und die Wände selbst nur schattenhafte Phantasmen der Nacht seien. Der schwarze Stein unter seinen Füßen war poliert und hatte einen seltsamen Glanz, ohne jede Tiefe, wie Wasser in einem dunklen Teich. Nirgends schien es feste und greifbare Substanzen zu geben. Weit entfernt von dieser schattenhaften Weite brannten mehrere Lampen – wie eine Milchstraße von kleinen Sternen – die ein silbernes Licht auf die Herren von Shuruun warfen. Als Stark eintrat, war im Raum kein Geräusch zu vernehmen, denn das Öffnen der goldenen Tür hatte die Aufmerksamkeit der Lhari erweckt. Jetzt blickten sie auf den vor dem Eingang stehenden Fremden. Stark begann, durch das Schweigen auf sie zuzuschreiten. Plötzlich ertönte in dem undurchdringlichen Nebel zu seiner 31
Rechten ein scharfes Kratzen und Scharren von Reptilklauen, und dann wurde so etwas wie ein ärgerliches Murmeln laut. Das alles wurde durch ein gewaltiges Echo zu einem lauten, teuflischen Flüstern verstärkt, das ihn ganz umgab und erfaßte. Stark schwang herum, zusammengeduckt und verteidigungsbereit. Seine Augen brannten, und sein Körper war in kaltem Schweiß gebadet. Der Lärm steigerte sich und kam auf ihn zu. Von dem entfernten Lampenschein her ertönte das klingende Gelächter einer Frau – dünner Kristall, der sich gegen das Gewölbe brach. Das Scharren und Knurren steigerte sich zu einem höllischen Crescendo, und Stark sah einen Schatten auf sich zuspringen. Seine Hände streckten sich aus, um den Stoß aufzufangen, aber dieser blieb aus. Die seltsame, auf ihn zuspringende Gestalt entpuppte sich als ein Junge von etwa zehn Jahren, der hinter sich an einer Schnur einen Drachen zerrte, einen jungen Drachen, zahnlos und frisch aus dem Ei gekrochen, und der mit aller verfügbaren Energie gegen diese Vergewaltigung protestierte. Stark richtete sich wieder auf. Er fühlte, wie ihn die Wut überkam, er glaubte sich erniedrigt und war doch erleichtert. Der Knabe blickte ihn durch silberne Locken an. Dann warf er ihm ein sehr schmutziges Wort zu und lief davon, wobei er den kleinen Drachen trat und stieß, bis das Tierchen wütete wie ein ausgewachsener Drachen. In dem großen Gewölbe hörte es sich an, als ob tatsächlich ein solches Riesentier in Zorn geraten sei. Dann begann eine Stimme zu sprechen – langsam, rauh und geschlechtslos. Sie klang dünn durch das Gewölbe, sehr dünn sogar – aber auch die mordende Stahlklinge ist dünn. Sie führt eine unerbittliche, eherne Sprache, und ihr Wort ist endgültig und unwiderruflich. Die Stimme sagte: „Stelle dich ins Licht!“ Stark folgte der Aufforderung Als er sich den Lampen näherte, 32
änderte und festigte sich der Blick der Lhari. Ihre Schönheit blieb, aber es war nicht mehr dieselbe Schönheit. Sie hatten aus der Ferne wie Engel ausgesehen. Nun, da er sie genau betrachten konnte, kam Stark der Gedanke, daß sie sehr gut die Kinder Luzifers sein könnten. Sie zählten sechs Personen, den Knaben eingeschlossen: zwei Männer, die so alt sein mochten wie Stark und irgendein kompliziertes Brettspiel zwischen sich stehen hatten, ohne es im Augenblick zu betrachten; eine Frau, in herrlich weiße Seide gekleidet, die ihre Hände einfach im Schoß liegen hatte und gar nichts tat, und eine weitere Frau Sie war etwas jünger und nicht ganz so schön wie die andere, ließ dafür aber ein sehr stürmisches und lebhaftes Aussehen erkennen. Sie trug eine kurze, rote Tunika und an der linken Hand einen plumpen Lederhandschuh, auf dem ein fliegendes Raubtier saß, dessen scharfe Augen mit einer Kappe bedeckt waren. Der Knabe stand mit arrogant erhobenem Kopf neben den beiden Männern. Von Zeit zu Zeit versetzte er dem kleinen Drachen einen Stoß oder Tritt, worauf das Tier mit seinen zahnlosen Kinnbacken nach ihm schnappte. Der Kleine schien stolz darauf zu sein, etwas Böses tun zu können und Stark fragte sich, wie er sich wohl gegen das Tier benehmen würde, wenn dasselbe erst einmal seine Zähne bekommen hatte. Ihm fast gegenüber, etwas seitlich, auf einem Berg Kissen gelagert, ruhte ein dritter Mann. Er war verunstaltet durch einen unbeholfenen, verkrüppelten Körper mit langen, spinnbeinähnlichen Armen. In seinem Schoß lagen ein Schnitzmesser und ein Holzblock, an dem der Krüppel wohl eben gearbeitet hatte. Das Bildwerk, an dem er schnitzte, war noch nicht vollendet, aber man sah bereits jetzt, was es einmal werden sollte: eine unförmig dickte Kreatur, die zur Hälfte Frau, zur anderen Hälfte die Inkarnation der Hölle war. 33
Voller Überraschung erkannte Stark, daß das Gesicht dieses körperlich verunstalteten Mannes von allen Anwesenden die menschlichsten Züge aufwies und zugleich am schönsten war. Seine Augen blickten alt in seinem knabenhaften Gesicht, und schienen tieftraurig zu sein in ihrem Wissen. Sein Lächeln war mitfühlender als Tränen. Sie alle blickten Stark aus ruhelosen, hungrigen Augen an. Sie waren die reine, unverfälschte Rasse, deren Faust über den Völkern der Sümpfe lag, ein Volk, gewohnt, über Sklaven zu herrschen. Sie selbst entstammtem dem Volk der Wolken, jenem Volk, das auf den Hochebenen zu Hause war, Könige ihrer Welt auch in den weiten Gebieten, die zum Land vom Berge der Weißen Wolke gehörten. Es war seltsam, sie hier zu finden – auf der dunklen Seite und jenseits des Grenzwalles. Aber sie waren hier. Wie sie in diese Gegend gekommen waren, warum sie ihre kühlen, reichen Gebiete aufgegeben hatten, um in den Sümpfen zu leben, konnte Stark sich nicht vorstellen. Aber sie waren unverkennbar die Herren. Die stolze, feine Bildung ihrer Körper, ihre alabasterfarbene Haut, ihre Augen, die alle Farben und doch keine in sich trugen, ganz wie der Abendhimmel, ihr Haar endlich, das reines Silber war, sie dünkten ihn unverkennbar. Sie sprachen nicht, sondern schienen auf die Erlaubnis zum Reden zu warten. Stark fragte sich, wer wohl die stählern klingende Aufforderung an ihn gerichtet haben mochte. Dann kam es wieder: „Komm her! Komm näher!“ Er blickte hinter sich, blickte hinter den Kreis der Lampen in den Schatten und sah die Sprecherin. Sie lag auf einem niederen Bett, ihr Kopf war von silbernen Kissen gestützt. Ihr großer, unglaublich gigantischer Körper war von einer silbernen Decke verhüllt. Nur ihre Arme waren entblößt, zwei formlose Massen weißen Fleisches, die in winzigen 34
Händen endeten. Von Zeit zu Zeit griff sie nach den Speisen, die neben ihr standen. Dabei schnaufte sie schwer vor Anstrengung. Danach schluckte sie den Bissen mit schrecklicher Gier hinunter. Ihre Züge mußten sich schon vor langer Zeit in zitternde Formlosigkeit aufgelöst haben – ausgenommen ihre Nase, die sich aus diesem Fett erhob. Sie war gebogen, grausam und dünn wie der harte Schnabel des Geschöpfes, das auf dem Handgelenk des Mädchens saß. Und ihre Augen … Stark blickte in ihre Augen und erschauerte. Dann warf er einen raschen Blick auf die halbfertige Schnitzerei in dem Schoß des Krüppels und wußte, welche Gedanken diesen bei seiner Arbeit gelenkt hatten. Halb Frau, zur anderen Hälfte Hölle und Schlechtigkeit, dazu stark und sehr mächtig. Ihre Kraft lag ausschließlich und enthüllt in ihren Augen, so daß jedermann sie sehen konnte. Es war eine zerstörende Kraft. Sie konnte Berge niederreißen, aber niemals etwas aufbauen. Er sah, wie sie ihn anblickte. Ihre Augen bohrten sich in die seinen, als ob sie in sein Inneres eindringen und dieses studieren wollten. Er begriff, was sie erwartete: Er sollte die Augen niederschlagen, unfähig, ihren Blick zu ertragen. Da lächelte er und sagte: „Ich habe schon Blicke mit der mörderischen Felsechse gewechselt, wobei entschieden werden sollte, wer von uns den anderen verzehre. Und dabei bin ich Sieger geblieben.“ Sie wußte, daß er die Wahrheit sprach. Stark erwartete, daß sie jetzt in Zorn ausbrechen würde, aber das tat sie nicht. Ein ungeheures Zittern erschütterte sie und erwies sich schließlich als lautloses Gelächter. „Seht ihr das?“ fragte sie und wandte sich den anderen zu. „Seht ihr das, ihr Burschen von Lhari? Keiner von euch wagt es, mich anzusehen! Aber hier ist ein großes, dunkles Geschöpf 35
gekommen, die Götter mögen wissen, woher – und es steht vor euch und muß euch beschämen!“ Sie sah Stark wieder an. „Welches dämonische Blut hat dich hervorgebracht, daß du weder Furcht noch Vorsicht erlernt hast?“ Stark antwortete düster: „Ich erlernte beide, noch ehe ich gehen konnte. Aber ich erlernte auch etwas anderes – ein Gefühl nämlich, das man Ärger nennt.“ „Und du bist ärgerlich?“ „Frage Malthor, ob ich es bin – und warum!“ Er bemerkte, daß die beiden Männer ein wenig aufblickten, während sich auf den Zügen des Mädchens ein angedeutetes Lächeln zeigte. „Malthor“, wiederholte der Koloß auf dem Bett und verzehrte einen Fetzen Fleisch. „Das ist ja interessant. Aber Wut auf Malthor allein dürfte dich nicht nach hier gebracht haben. Ich bin neugierig auf deine Erzählung, Fremder. Sprich!“ „Ich werde es tun!“ Stark blickte sich um. Der Ort war ein Grab, eine Falle. Bereits die Luft roch nach Gefahr. Die jüngeren Leute beobachteten ihn schweigend. Keiner von ihnen hatte gesprochen, seit er eingetreten war – bis auf den Knaben, der ihn verflucht hatte. Das alles war mehr als unnatürlich. Das Mädchen beugte sich etwas nach vorn und schlug gleichgültig gegen das Wesen auf ihrem Handgelenk, bis es sich bewegte und seine messerähnlichen Klauen mit einem gewissen Vergnügen vorstreckte und einzog. Ihr auf Stark ruhender Blick war kalt und kaum interessiert. Aber von allen Anwesenden war sie die einzige, die in ihm den Mann sah. Für die anderen war er ein Problem und eine Zerstreuung, jedoch weniger als ein Mensch. „Zur Zeit der letzten Regen kam ein Mann nach Shuruun“, begann Stark seinen Bericht. „Sein Name war Helvi, und er war der Sohn eines kleinen Königs aus der Gegend von Yarell. Er 36
kam nach hier, um seinen Bruder zu suchen, der ein Tabu gebrochen hatte und um sein Leben geflohen war. Helvi wollte ihm sagen, daß der auf ihm ruhende Bann gelöst sei und er heimkehren dürfte. Keiner von ihnen kehrte zurück.“ Die bösen kleinen. Augen blinzelten vergnügt inmitten der Fettpolster. „So bin ich denn nach hier gekommen, um Helvi zu suchen, der mein Freund ist.“ Wieder war diese Explosion des Fleisches zu hören, dieses fast lautlose Gelächter, das sich dann in so seltsamer Weise in dem Gewölbe fortsetzte. „Die in dir lebende Freundschaft muß sehr groß sein, Fremder. Nun gut, die Lhari sind keine Unmenschen. Du sollst deinen Freund finden.“ Als ob sie ihnen damit das Zeichen gegeben habe, ihr Schweigen zu brechen, fielen jetzt auch die jüngeren Leute in ein Gelächter, das die Halle erdröhnen ließ. Es hörte sich an, als ob Dämonen in der Hölle sich erheiterten. Nur der Krüppel lachte nicht, sondern beugte seinen hellen, schönen Kopf über seine Arbeit und seufzte. Das Mädchen sprang plötzlich auf. „Noch nicht, Großmutter! Behalte ihn eine Weile.“ Die kalten, grausamen Augen wandten sich ihr zu. „Und was willst du mit ihm anfangen, Varra? Willst du ihn an einen Strick binden, wie Bor es mit seinem Drachen tut?“ „Vielleicht, obwohl ich glaube, daß eher eine große Kette erforderlich wäre, um ihn zu halten.“ Varra drehte sich um und blickte Stark an – dreist und kühl. Sie maß seine Breite und seine Größe, betrachtete die Form seiner mächtigen Muskeln und die eiserne Linie seines Kinnes. Sie lächelte. Ihr Lächeln war sehr lieblich – rot wie die gefährlichen Früchte eines Sumpfbaumes, in deren Süße sich der bittere Tod verbarg. 37
„Er ist ein Mann“, sagte sie dann. „Der erste Mann, den ich sehe, seit mein Vater starb!“ Die beiden Männer am Spieltisch erhoben sich mit roten, ärgerlichen Gesichtern. Einer trat vor und griff rauh nach dem Arm des Mädchens. „So bin ich also kein Mann?“ fragte er mit überraschender Freundlichkeit. Er lachte heiser. „Das klingt recht traurig in den Ohren desjenigen, der dein Gatte werden soll. Es ist wohl am besten, wir stellen die Dinge jetzt schon richtig, noch ehe wir geheiratet haben.“ Varra nickte. Stark sah, wie sich die Finger des Mannes voller Wut in ihren Arm preßten, aber sie zuckte nicht. „Es ist hohe Zeit, das alles einmal klarzustellen, Egil. Du hast genug von mir ertragen müssen. Die Zeit deiner Zähmungsversuche hat auch für meinen Geschmack schon zu lange gedauert.“ Sie lachte leise. „Jetzt möchte ich erlernen, meinen Nacken zu beugen und meinen Herrn anzuerkennen.“ Einen Augenblick lang dachte Stark, daß sie es wirklich so meinte, denn der spöttische Unterton in ihrer Stimme war nur schwach. Dann stieß die Frau in Weiß, die sich die ganze Zeit nicht gerührt hatte und auch nicht daran dachte, ihren Gesichtsausdruck zu wechseln, dasselbe dünne Gelächter aus, das er zuvor schon einmal gehört hatte. Hieran, und an der blutroten Farbe, die Egil ins Gesicht stieg, bemerkte Stark, daß Varra diese Sätze ihrem Verlobten herausfordernd ins Gesicht geschleudert hatte. Der Knabe stieß ein höhnisches Gelächter aus, wurde aber durch einen Stoß zurechtgewiesen. Varra warf Stark einen Blick zu. „Möchtest du für mich kämpfen?“ fragte sie. Nunmehr war es an Stark, zu lachen. „Nein“, antwortete er. 38
Varna zuckte die Achseln. „Sehr gut“, meinte sie. „Dann kämpfe ich eben für mich selbst.“ „Weib“, grollte Egil, „ich werde dir zeigen, wer ein Mann ist. Du nichtsnutzige, kleine Zänkerin!“ Mit einer Hand streifte er den Gürtel ab und beugte sich zu dem Mädchen hinüber – offenbar, um sie mit dem Riemen zu verprügeln. Der aufgestörte Raubvogel, ein von der Erde stammender Falke, der auf Varras Handgelenk gefesselt war, schlug mit den Flügeln und krächzte mit sich bewegendem, bedecktem Kopf. Unglaublich schnell, so daß ihre Hände kaum zu verfolgen waren, riß Varra dem Falken die Haube ab und warf Egil den Vogel direkt ins Gesicht. Egil ließ das Mädchen los und hob die Arme, um die Krallen und den scharfen Schnabel abzuwehren. Die breiten Flügel hämmerten gegen ihn. Egil schrie. Der Knabe Bor kam näher und kreischte vor Freude. Begeistert tanzte er auf und ab. Varra verhielt sich vollkommen ruhig. Die auf ihrem Arm befindlichen Quetschungen, hervorgerufen durch Egils harten Griff, färbten sich schwarz, aber sie berührte sie nicht einmal. Egil stolperte gegen den Spieltisch, und riß die elfenbeinernen Figuren mit sich. Dann taumelte er über ein Kissen und fiel lang zu Boden, während die Krallen des Falken seine Tunika zerfetzten und dann in seinen Rücken griffen. Varra stieß einen schrillen Pfiff aus. Der Vogel gab Egils Hinterkopf einen letzten Sehnabelhieb und kehrte dann an seinen Platz auf Varras Handgelenk zurück. Sie liebkoste den Vogel und wandte sich an Stark. Ihren Blicken konnte er entnehmen, daß sie gewillt war, ihr Tier auch gegen ihn zu hetzten. Aber sie schüttelte schließlich den Kopf, nachdem sie ihn lange gemustert hatte. „Nein“, sagte sie und setzte dem Vogel die Haube wieder auf. „Du würdest ihn töten.“ 39
Egil hatte sich erhoben und war in dem dunklen Teil des Raumes verschwunden, wo er an einer Armwunde saugte. Sein Gesicht war schwarz vor Wut. Der andere Mann sah Varra an. „Wenn du mir versprochen wärst“, sagte er bedeutungsvoll, „würde ich wissen, wie dir dein Temperament auszutreiben ist.“ „Komm und versuche es“, antwortete Varra. Der Mann zuckte die Achseln und setzte sich. „Es ist nicht meine Aufgabe. Ich habe für den Frieden in meinem eigenen Hause zu sorgen.“ Er blickte auf die Frau in Weiß, und Stark erkannte, daß ihr vorher ausdrucksloses Gesicht nunmehr unterwürfige Furcht zeigte. „Das tust du“, stimmte Varra zu, „und wenn ich Arel wäre, würde ich dich im Schlaf erstechen. Aber du kannst unbesorgt ruhen; sie hat nicht den Mut, so etwas zu tun.“ Arel erschauerte und blickte auf ihre Hände. Der Mann begann, die am Boden liegenden Figuren wieder aufzuheben. Er sagte ganz nebensächlich: „Eines Tages wird Egil dir den Hals umdrehen, und ich werde nicht weinen, wenn ich dabei zusehe.“ Die ganze Zeit hindurch hatte die alte Frau geschaut und gegessen, gegessen und geschaut, und ihre Augen glänzten vor Begeisterung. Dann sagte sie voller Geist: „Da streiten sie sich wie die jungen Falken in ihrem Nest, und deshalb behalte ich sie auch in meiner Nähe. Sie sind so interessant zu beobachten – alle, außer Treon hier.“ Sie deutete auf den verkrüppelten Jüngling. „Er tut nichts, gar nichts. Er ist langweilig mit seinem sanften Mund, schlimmer als Arel. Wie kann man nur mit einem solchen Enkel geschlagen sein … Zum Glück besitzt seine Schwester Feuer für zwei.“ Sie stieß ein stolzes Knurren aus. Treon erhob den Kopf. Dann begann er zu sprechen, seine Stimme klang wie Musik und tönte mit unheimlicher Lieblichkeit durch den Raum: „Langweilig bin ich vielleicht, Großmutter, 40
und schwach an Körperkräften auch. Ich gestehe das gern ein. Aber ich werde der letzte der Lhari sein. Der Tod sitzt bereits wartend auf den Türmen und wird euch alle vor mir holen. Ich weiß es, denn die Winde haben es mir erzählt.“ Er wandte seine leidenden Augen Stark zu und lächelte. Dieses tiefe Lächeln war so voller Weh und Ergebenheit, daß das Herz des Erdenmenschen zu schmerzen begann. Aber es lag auch eine Dankbarkeit in diesem Lächeln, als ob ein langes Warten nun sein Ende gefunden habe. „Du“, sagte er sanft, „du Fremder mit den stolzen Blicken. Ich sah dich kommen – aus dem Dunkel hervortretend. Wo du den Fuß hinsetztest, blieb eine blutige Spur zurück. Deine Arme waren gerötet bis an die Ellenbogen, und auch deine Brust war mit dieser Röte befleckt, während auf deine Stirn das Symbol des Todes gezeichnet war. Da wußte ich es, und der Wind flüsterte es mir bestätigend ins Ohr. Es ist so … Dieser Mann wird das Schloß niederreißen, und seine Steine werden Shurman zerschmettern. Er wird die Verlorenen befreien!“ Er lachte sehr ruhig. „Schaut ihn euch an, ihr alle, denn er wird euer Verhängnis sein!“ Einen Augenblick war es entsetzlich still. Stark, in dem der Aberglaube einer wilden Rasse tief verwurzelt war, fühlte, wie die Kälte ihm bis in die Haarwurzeln stieg. Dann fragte die alte Frau verächtlich: „Wurde dir das alles von den Winden mitgeteilt, mein Idiot?“ Mit überraschender Kraft und Sicherheit hob sie eine reife Frucht und warf sie gegen Treon. „Stopfe dir deinen Mund damit“, sagte sie dazu. „Deine Prophezeiungen machen auf mich keinen Eindruck.“ Treon blickte auf den roten Saft, der über seine Tunika in den Schoß lief und dabei auch über die Schnitzerei rann. Der zur Hälfte geformte Kopf des Holzbildes war mit ihm bedeckt, und es sah aus, als ob er blute. 41
„Nun“, fragte Varra und kam auf Stark zu, „was denkst du von den Lhari? Was hältst du von den stolzen Lhari, die sich nicht herablassen wollen, ihr Blut mit dem Vieh der Sümpfe zu mischen? Mein halb schwachsinniger Bruder, meine schweigsamen Vettern und dieses kleine Ungeheuer Bor, welches der letzte Zweig von unserem Stamme ist … Wunderst du dich jetzt, daß ich Egu meinen Falken entgegenwarf?“ Sie wartete auf eine Antwort – mit zurückgeworfenem Kopf. Ihre silbernen Locken umwehten ihr Gesicht wie Sturmwolken. Es war viel Großtuerei an ihr, die Stark gleichzeitig störte und begeisterte. Eine Höllenkatze, dachte er, aber eine sehr reizvolle – und kühn bis zur Herausforderung. Kühn – und ehrlich. Ihre Lippen waren gewölbt, drückten halb Ärger, halb ein Lächeln aus. Plötzlich zog er sie an sich und küßte sie. Dabei hielt er ihren schlanken Körper an sich gepreßt, als wäre sie eine Puppe. Und er hatte es nicht eilig, sie wieder loszulassen. Als er es schließlich tat, grinste er und fragte: „War es das, was du wolltest?“ „Ja“, erwiderte Varra, „das war es, was ich wollte.“ Dann wandte sie sich um, und ihr Kinn schob sich in gefährlicher Weise nach vorn. „Großmutter …“ Sie sprach nicht weiter. Stark sah, daß die alte Frau versuchte, sich aufzusetzen. Ihr Gesicht rötete sich vor Anstrengung und in dem schrecklichsten Zorn, den er jemals erblickt hatte. „Du …“, stieß sie keuchend dem Mädchen entgegen. Sie würgte an ihrer Wut und Atemnot. Dann erschien leisen Fußes Egil im Licht und trug in seiner Hand einen Gegenstand, der aus schwarzem Metall und seltsam geformt war – mit einer stumpfen und dicken Mündung. „Leg dich zurück, Großmutter“, sagte er. „Ich hatte die Absicht, das hier für Varra zu benutzen. Aber …“ Noch während er sprach, drückte er auf einen Knopf, und 42
Stark, der in die schützende Dunkelheit springen wollte, schlug nieder und blieb wie ein Toter liegen. Es hatte keinen Knall, keinen Blitz und nichts Ähnliches gegeben. Da war nur eine große Hand gewesen, die ihn plötzlich in das Vergessen stieß. Egil beendete seinen Satz: „Aber ich sah ein besseres Ziel.“ 6. Kapitel Rot … rot … rot … Die Farbe des Blutes. Überall, wohin er blickte, sah er Blut. Er erinnerte sich jetzt. Der Gegner hatte sich auf ihn gestürzt. Sie hatten auf dem nackten, glänzenden Felsen gegeneinander gekämpft. Nor ließ N’Chaka töten. Der Herr der Felsen war sehr groß, ein Riese unter den Echsen, und N’Chaka war klein. Der Herr der Felsen hatte N’Chaka zurückgeschleudert, noch ehe der hölzerne Speer mehr als seine Flanke hatte antasten können. Doch es war seltsam, daß N’Chaka noch immer lebte. Der Herr der Felsen mußte sattgefressen gewesen sein, und nur das hatte ihn gerettet. N’Chaka knurrte – nicht vor Schmerz, sondern aus Scham. Er hatte versagt. Er hatte auf einen großen Triumph gehofft und hatte einem Stammesgesetz nicht gehorcht, das einem Knaben verbietet, die Jagdbeute eines Mannes anzugreifen. Und er hatte versagt … Der Alte würde ihn jetzt nicht mit dem Gürtel und dem Speer der Mannbarkeit belohnen. Der Alte würde ihn zur Bestrafung mit kleinen Peitschen den Frauen übergeben. Tika würde über ihn lachen, und es würde lange Jahre dauern, ehe der Alte ihm die Erlaubnis geben würde, erneut auf eine Männerjagd auszuziehen. Es war Blut in seinen Augen. Er blinzelte, um sie sauber zu bekommen. Der Instinkt des Weiterlebenwollens war stärker in 43
ihm. Er mußte aufstehen und davonkriechen, ehe der Herr der Felsen zurückkehrte, um ihn zu fressen. Doch die Röte wollte nicht verschwinden. Sie schwamm und floß seltsam fleckig vor ihm her, Er blinzelte wieder und bemühte sich, seinen Kopf zu heben, brachte es aber nicht fertig. Die Angst wurde übermächtig in ihm. Es war alles falsch gewesen. Er konnte sich selbst klar sehen – einen nackten Knaben, taumelnd vor Schmerz, der sich erhob und über die Felsen und Steine wankte, um in die Sicherheit der Höhle zu klettern. Er konnte das Bild deutlich erkennen und brachte es doch nicht fertig, sich zu bewegen. Alles war falsch. Zeit, Raum, das Universum verdunkelten und drehten sich. Eine Stimme sprach zu ihm, eine Mädchenstimme, es war nicht diejenige von Tika – und die Sprache klang seltsam. In seinen Gedanken wurde die Erinnerung wach. Tika war tot, der Alte war tot, und mit ihm alle die anderen. In ihm zitterte die Erinnerung an die bitteren und grausamen Dinge. Die Stimme sprach wieder und nannte ihn bei einem Namen, der nicht der seine war. Sie nannte ihn Stark. Die Erinnerung teilte sich auf, in ein Kaleidoskop einzelner, zusammenhangloser Bilder – Fragmente, die vorüberhuschten. Er befand sich mitten unter ihnen. Er war verloren, und das Entsetzen ließ einen Schrei aus seiner Kehle dringen. Sanfte Hände berührten sein Gesicht. Er hörte freundliche Worte, schnell und milde gesprochen. Die Röte festigte und klärte sich, obgleich sie nicht verschwand. Und ganz plötzlich war er wieder er selbst. Er lag auf dem Rücken, und Zareth, Malthors Tochter, schaute auf ihn herab. Jetzt wußte er, was die Röte bedeutete. Er hatte sie zuvor zu oft gesehen, um es nicht zu wissen. Er befand sich irgendwo an 44
der Küste des Roten Sees – jenes Ozeans, in dem der Mensch atmen konnte. Doch er konnte sich nicht bewegen. Das hatte sich nicht geändert und war nicht verschwunden. Sein Körper war tot. Das Entsetzen, das er zuvor verspürt hatte, war nichts im Vergleich zu der Agonie, die ihn jetzt erfaßte. Er lag begraben in seinem eigenen Körper und blickte zu Zareth auf. Er ersehnte sich die Antwort auf eine Frage, die er nicht zu stellen wagte. Sie erkannte es an den Blicken seiner Augen. „Es ist alles in Ordnung“, sagte sie und lächelte. „Es wird bald wieder vorbei sein, und dann ist alles gut. Es war nur die Waffe der Lhari. Irgendwie schläfert sie den Körper ein, aber er wird wieder aufwachen.“ Stark entsann sich des schwarzen Gegenstandes, den Egil in den Händen gehalten hatte. Es mußte sich um einen Strahlenwerfer gehandelt haben, der irgendwelche Strahlen von hoher Frequenz aussandte, die dann die Nervenzentren lähmten. Er war verwundert. Das Wolkenvolk war barbarischer Herkunft, obwohl es auf einer höheren Kulturstufe stand als die Stämme am Rand der Sümpfe. Es war kaum denkbar, daß sie diese technische Entdeckung selbst gemacht hatten. Dann stellte er sich die Frage, woher die Lhari eine solche Waffe wohl bekommen haben mochten, bis ihm einfiel, daß dies gleichgültig war und kaum etwas ausmachte – gerade in diesem Augenblick nicht. Erleichterung überkam ihn und brachte ihn gefährlich nahe an die Tränengrenze. Die Wirkung würde verschwinden … Damit war er seiner vorerst größten und wichtigsten Sorge enthoben. Er blickte Zareth wieder an. Ihr blasses Haar wehte in dem leichten, vom Meer herbeiströmenden Wind – eine milchige Wolke, die sich vom roten Himmel abhob. Er sah nun, daß ihr Gesicht müde und voller Schatten war, während in ihren Augen ein Ausdruck tiefster Hoffnungslosigkeit lag. 45
Diese Augen hatten gelebt, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Sie waren erschrocken gewesen, nicht zu hell, aber voller Erregung und angefeuert von einem gewissen Mut. Nun hatten sie auch dieses letzte Lebensgefühl verloren. Sie trug ein Band um den weißen Hals, ein Band, einen Ring aus dunklem Metall, dessen Ende für alle Zeiten aneinander geschweißt war. „Wo sind wir?“ fragte er unsicher. Sie antwortete, und ihre Stimme klang tief und hohl über das Meer hinweg: „Wir sind am Ort der Verlorenen!“ Stark blickte an ihr vorbei, er konnte nicht weit sehen, da es ihm unmöglich war, den Kopf zu wenden. Ein großes Verwundern überkam ihn. Schwarze Wände und ein schwarzes Gewölbe über ihnen – eine große Halle, die ähnlich aussah wie die, in dem er die Lhari getroffen hatte. „Hier ist eine Stadt“, sagte Zareth traurig. „Du wirst sie bald sehen. Und du wirst nichts anderes mehr erblicken bis die Stunde deines Todes gekommen ist.“ Mit sehr sanfter Stimme fragte Stark: „Wie bist du nach hier gekommen, Kleine?“ „Wegen meines Vaters … Ich werde dir alles sagen, was ich weiß, obwohl es wenig genug ist. Malthor ist lange Zeit hindurch der Sklavenhändler der Lhari gewesen. Es gibt verschiedene Kapitäne, die diesen Beruf ausüben; es handelt sich hier jedoch um etwas, über das man niemals sprach. Selbst ich, seine Tochter, konnte es nur vermuten. Ich war meiner Sache erst sicher, als er mich hinter dir herschickte.“ Sie lächelte bitter. „Jetzt bin ich hier, mit dem Ring der Verlorenen um den Hals, aber auch Malthor befindet sich unter uns.“ Sie lachte wieder, aber diesmal war es selbst für Stark ein böses Gelächter. Dann sah sie ihn an, und ihre Hand streckte sich schüchtern aus, um sein Haar zu berühren – fast, als wollte sie es streicheln. Ihre Augen waren groß, sanft und voller Tränen. 46
„Warum bist du nicht in die Sümpfe gegangen, als ich dich warnte?“ „Jetzt ist es zu spät, sich darüber noch Gedanken zu machen“, antwortete Stark. „Du sagtest, daß Malthor sich hier als Sklave aufhalte?“ „Ja.“ Wieder befand sich dieser Ausdruck der Bewunderung und des Staunens in ihren Augen. „Ich weiß nicht, was du den Lhari getan oder gesagt hast, aber Fürst Egil kam mit einer fürchterlichen Wut herunter und beschimpfte meinen Vater, bezeichnete ihn als einen Narren, weil er dich nicht hatte halten können. Mein Vater winselte und entschuldigte sich, und alles wäre gut ausgegangen, wenn ihn nicht seine Neugier überwältigt hätte. So fragte er denn den Fürsten Egil, was eigentlich geschehen war. Malthor sagte nämlich, du benähmst dich wie ein wildes Tier, und er hoffe, daß du Prinzessin Varra nichts angetan hättest. An Egils Wunden könne er nämlich sehen, daß es offenbar Ärger gegeben habe. Fürst Egil wurde blutrot, und ich dachte, daß er einen Anfall bekommen würde.“ Stark nickte. „So etwas hätte er natürlich nicht sagen dürfen.“ Die komische Seite der ganzen Angelegenheit fiel ihm auf, und er begann plötzlich, schallend zu lachen. „Malthor hätte seinen Mund halten sollen.“ „Egil rief seine Wache und befahl ihr, Malthor gefangenzunehmen. Als er dann merkte, was geschehen sollte, versuchte er, alle Schuld auf mich abzuwälzen. Er behauptete, ich habe dich entkommen lassen.“ Jetzt lachte Stark nicht mehr. Leise sprach sie weiter: „Egil war wahnsinnig vor Wut. Ich habe oft gehört, daß alle Lhari wahnsinnig seien, und jetzt glaube ich, daß es keine Übertreibung war. Auf jeden Fall befahl er, auch mich mitzunehmen, denn er wollte Malthors Brut, so sagte er, für immer in den Sümpfen verschwinden lassen. So sind wir hier.“ 47
Es folgte ein langes Schweigen. Stark fand kein Wort des Trostes, und was die Worte der Hoffnung anbelangte, so wollte er zumindest warten, bis er so weit war, daß er seinen Kopf heben konnte. Vielleicht hatte Egil ihn doch für immer gelähmt, denn als er erwachte, war er überrascht, doch am Leben zu sein. Wieder blickte er auf Zareths Halsreifen. Sklave … Sklave in der Stadt der Verlorenen … Was, zum Teufel, konnten sie mit Sklaven beginnen – hier, direkt an der Meeresküste … Oder waren sie … Er blickte sich starr, mit gesteigertem Entsetzen um und begriff plötzlich die ganze, schreckliche Wahrheit: Sie befanden sich hier nicht an der Küste oder auf irgendeiner Insel der Roten See, sondern auf dem Grunde des Meeres selbst! Jetzt verstand er auch, warum er damals an Bord die Stimmen der Klagenden so gut vernommen hatte. Die schweren Gase schienen die Geräusche bemerkenswert gut zu leiten, und seltsam war daran lediglich die Tatsache, daß der Anschein erweckt wurde, eine Stimme komme gleichzeitig von überall. Plötzlich vernahm Stark einen trüben Stimmenlärm, der auf ihn zukam. Er versuchte zu schauen, und Zareth, die begriff, was er wünschte, drehte vorsichtig seinen Kopf. So konnte er in die Richtung des Geräusches blicken. Die Verlorenen kehrten von irgendeiner Arbeit zurück, deren Art er noch nicht kannte und die ihm vorerst auch gleichgültig war. Aus dem undurchdringlichen Nebel traten sie ein in die lange Weite der Halle, die durch ein trübrotes Licht erhellt war. Sie bewegten sich langsam, und ihre weißen Körper hinterließen Spuren fahler, roter Flammen. Es war die Schar der Verdammten, die durch eine seltsame, rotbeleuchtete Hölle zog, müde und hoffnungslos. Sie sanken auf. den Strohsäcken nieder, die nebeneinander aufgereiht, auf dem Steinboden lagen. Dort blieben sie liegen, vollkommen 48
erschöpft. Ihr blasses Haar flatterte in dem vom Meer kommenden Wind. Und jeder von ihnen trug einen Halsreifen. Nur ein Mann legte sich nicht hin, sondern kam sofort auf Stark zu. Er war ein großer Barbar, der beim Vorwärtsschreiten so mächtig die gewaltigen Arme bewegte, daß er in rote Nebelfetzen richtig eingehüllt war. Stark erkannte sein Gesicht. „Helvi!“ rief er und lächelte ihn begrüßend an. „Bruder!“ Helvi kauerte sich nieder. Zu jener Zeit, da Stark ihn gekannt hatte, war er ein großer und hübscher Bursche gewesen. Seither war er zum Manne gereift, und die Erlebnisse schwerster Stunden hatten tiefe, grimmige Linien um seinen Mund gegraben. Die Knochen seines Gesichtes traten stark hervor. „Bruder“, wiederholte er und blickte Stark mit Tränen in den Augen an, dessen er sich nicht schämte. „Du Narr!“ Er verfluchte Stark in grimmiger Wut, weil er nach Shuruun gekommen war, um nach einem Verrückten zu suchen, der denselben Weg gegangen und jetzt schon so gut wie tot war. „Wärst du mir denn nicht gefolgt?“ fragte Stark. „Gewiß, aber ich bin auch nur ein unwissendes Kind der Sümpfe“, rief Helvi aus. „Du hingegen kommst aus dem Raum, du kennst andere Welten, du kannst lesen und schreiben. Du solltest vernünftiger sein!“ Stark grinste. „Ich bin noch immer ein unwissendes Kind der Felsenberge.“ Sein Mund verzog sich. „Folglich sind wir beide Narren. Wo ist Tobal?“ Tobal war Helvis Bruder, der das Tabu gebrochen und in Shuruun Schutz und Zuflucht gesucht hatte. Offensichtlich hatte er schließlich für immer den Frieden gefunden, denn Helvi schüttelte den Kopf. 49
„Ein Mann kann es hier nicht sehr lange aushalten. Es genügt nicht, eben nur atmen und essen zu können. Tobal hat seine Zeit überschritten, und ich bin dem Ende der meinen sehr nahe gekommen.“ Er hob die Hand und senkte sie schnell wieder. Dabei blickte er auf die flammenden Feuerfetzen, die seinen Arm umtanzten. „Der Geist stirbt vor dem Körper“, sagte er so gleichgültig, als ob diese Tatsache ihm vollkommen unwichtig sei. Dann ergriff Zareth das Wort: „Helvi hat dich unablässig bewacht, während die anderen schliefen!“ „Und nicht ich allein“, ergänzte Helvi. „Die Kleine stand dauernd neben mir.“ „Mich bewacht?“ fragte Stark verwundert. „Warum?“ An Stelle einer Antwort deutete Helvi auf einen in der Nähe befindlichen Strohsack. Dort lag Malthor, die Augen halb geöffnet und voller Bosheit grinsend. Die frische Narbe leuchtete auf seiner Wange. „Er meint“, sagte Helvi, „daß du auf dem Schiff nicht gegen ihn hättest kämpfen dürfen …“ Stark fühlte, wie ein Schauer des Entsetzens über seinen Rücken lief. Hier hilflos liegen zu müssen und zu sehen, wie Malthor auf ihn zukam, mit krallenartig geöffneten Händen, die nach seiner Kehle griffen … Er machte den leidenschaftlichen Versuch, sich zu bewegen, gab es schließlich aber stöhnend auf. Helvi grinste. „Jetzt wäre eigentlich der richtige Augenblick gekommen, mit dir zu ringen, Stark“, sagte er. „Du weißt doch, daß ich dich niemals bezwingen konnte!“ Er gab Starks Kopf einen leichten Schlag, der sanft und zärtlich gedacht war. „Einmal wirst du mich erneut bezwingen“, fügte er hinzu. „Schlafe jetzt und mach dir keine Sorgen!“ Er stellte sich schützend neben Stark, und wider Willen 50
schlief dieser ein. Zareth kauerte zu seinen Füßen wie ein kleiner Hund. Hier unten im Herzen der Roten See gab es keine Zeit. Man kannte kein Tageslicht, kein Morgengrauen, keine Dunkelheit. Keine Winde bliesen, und weder Regen noch Sturm unterbrachen die endlose Stille. Nur die seltsamen Strömungen flüsterten ab und zu und suchten ihren Weg ins Nichts, rote Flecken tanzten, und die große Halle wartete und erinnerte an die Vergangenheit. Auch Stark wartete. Wie lange es dauerte, hätte er nicht zu sagen vermocht, aber er war an das Warten gewöhnt. Er hatte es am Fuße der Großen Berge erlernt, deren Gipfel sich stolz abhoben, um die Sonne zu sehen. Und ihr Zeitgefühl hatte er übernommen. Nach und nach kehrte das Leben in seinen Körper zurück. Mitunter kam einer der Mischlingswärter und ritzte mit einem Messer leicht seine Haut, um seine Reaktion festzustellen. Allerdings rechnete dieser Mann nicht mit Starks Selbstbeherrschung. Der Erdenmensch ertrug die leichten Schnitte, bis er die Herrschaft über seine Glieder wiedergewonnen hatte. Dann sprang er auf und schlug den Mann fast durch die ganze Halle. Dabei schrie er vor Wut. In der nächsten Arbeitsperiode wurde Stark mit den übrigen hinaus zur Stadt der Verlorenen gebracht. 7. Kapitel Stark hatte schon früher Orte besucht, die ihn durch ihre Eigenart und ihre Seltsamkeit bedrückt hatten Er kannte Sinharat, die liebliche Korallen- und Goldruine, die verloren in den Marswüsten lag, hatte Yekkara und Valkis besucht, die Städte am Unteren Kanal, die nach Blut und Wein stanken, sowie die Klippenhöhlen van Arianrhod auf dem Übergang zur Nachtseite. Er war auch in den Grabstätten von Callisto gewesen. 51
Aber dieses hier war ein Alpdruck, wie ihn kein Mensch in seinen schlimmsten Träumen jemals erlebt hatte. Er blickte sich um, während er in der langen Reihe der Sklaven ging, und fühlte ein starkes Erschauern seines Körpers, wie er es nie zuvor gekannt hatte. Da waren weite Straßen, mit polierten Steinblöcken gepflastert, glatt wie ein Spiegel aus Ebenholz. Er sah Gebäude, groß und stattlich, rein und glatt, von einer ruhigen Stärke, die die Zeiten überdauern konnte. Sie waren vollkommen schwarz, ohne die geringste Spur einer Bemalung oder Verzierung, die die strengen Formen etwas gemildert hätte. Nur hier und dort sah er ein Fenster, das wie ein verlorener Edelstein durch die Röte schimmerte. Er erblickte Weinreben, die wie Schnee über die Steine hinabfielen, Gärten mit Rasen und Blumen, die sich hell auf ihren grünen Stengeln erhoben und ihre Blüten einem Tageslicht entgegenhielten, das längst verschwunden war, während ihre Köpfe sich im Winde neigten. Das alles war ungemein geschmackvoll, anziehend. Die Zweige waren beschnitten, und der frische Boden schien erst an diesem Morgen umgegraben zu sein – durch wessen Hand? Stark entsann sich des großen Waldes, der auf dem Grunde des Golfes träumte, und erschauerte abermals. Er mochte jetzt nicht daran denken, vor wie langer Zeit diese Blumen ihre jungen Blüten dem letzten Licht geöffnet hatten, das sie jemals sehen sollten. Denn sie waren tot – tot wie der Wald, für immer strahlend und tot. Stark dachte, daß dies hier allerdings schon immer eine schweigsame Stadt gewesen sein mußte. Eine stille Stadt. Es war unmöglich, sich hier lärmende Mengen vorzustellen, die über diese riesigen Straßen einem Marktplatz zuströmten. Diese schwarzen Wände waren nicht dazu geschaffen, Lachen oder frohe Lieder widerhallen zu lassen. Sogar die Kinder mußten 52
sich schweigsam die Gartenpfade entlang bewegt haben – kleine, weise Geschöpfe, zu einer alten Würde geboren. Er begann nun die Bedeutung dieses dunklen Waldes zu verstehen. Der Golf von Shuruun war nicht immer eine Bucht gewesen. Er war einstmals ein Tal, reich und fruchtbar, mit dieser herrlichen Stadt in den Armen. Hier und da auf den Hängen mochten irgendwelche Adelige oder Philosophen gewohnt haben, und das Schloß der Dhari stellte wahrscheinlich den letzten Überrest, eine bescheidene Erinnerung an diese Zufluchtsstätten dar. Irgendein Wall oder Felsen hatte die Rote See von diesem Tal zurückgehalten. Dann, aus irgendwelchen Gründen, war eines Tages der Wall zusammengebrochen, und die trüben roten Nebel hatten sich langsam in die fruchtbaren Gründe ergossen, waren höher gestiegen, hatten die Türme und Dächer in ihre Flammen eingehüllt und das Land für immer überschwemmt. Stark fragte sich, ob die Menschen wohl vorher gewußt hatten, daß das Unglück sie heimsuchen würde, ob sie wohl ausgegangen waren, um ihre Gärten ein letztes Mal zu richten, so daß sie in den Gasen des Meeres in ihrer Vollkommenheit erhalten bleiben mußten. Die Reihen der Sklaven wurden von Wächtern angetrieben, die mit denselben schwarzen Waffen ausgerüstet waren, wie auch Egil sie gegen Stark benutzt hatte. Sie mußten auf einem großen Platz zusammentreten, dessen Weite im roten Nebel zerfloß und dessen Umfang nicht zu erkennen war. Stark blickte auf eine Ruine. Ein großes Gebäude im Mittelpunkt des Platzes war zusammengebrochen. Nur die Götter mochten ahnen, welche gewaltige Kraft seine Wände zersprengt und die riesigen Blöcke aufgehäuft hatte. Dies war der einzige zerstörte Teil der Stadt – ein Berg von Trümmern. Sonst waren nirgends die Anzeichen einer Vernichtung zu sehen. Anscheinend war die Stelle, an der sie sich befanden, einmal 53
der Platz der Tempel gewesen. Diese standen unversehrt an ihren Orten, und die trüben Feuer strömten durch die offenen Säulenhallen. Es war Stark, als ob er tief in ihrem Inneren Standbilder erkenne – riesige Statuen, die in dem von einem gelegentlichen Aufflackern erhellten Dunkel vor sich hin brüteten. Doch ihm blieb nicht die Zeit, sie gründlich anzuschauen. Die Aufseher schoben sie fluchend weiter. Nun sah er auch, wozu die Sklaven verwendet wurden. Sie mußten die Trümmer des eingestürzten Gebäudes wegtransportieren. Helvi flüsterte ihm zu: „Seit 16 Jahren arbeiten und sterben hier die Menschen, und die Arbeit ist noch nicht einmal zur Hälfte beendet.“ „Warum wollen die Lhari sie überhaupt getan haben?“ „Ich will dir sagen, warum: weil sie wahnsinnig sind, ebenso wahnsinnig, wie es manchmal die Sumpfdrachen werden!“ Es schien tatsächlich Wahnsinn zu sein, in dieser Anhäufung von Felsen in einer toten Stadt auf dem Grunde des Meeres zu arbeiten. Es war wirklich Wahnsinn. Und doch waren die Lhari, wenn sie auch wahnsinnig waren, keine Narren. Es gab einen Grund für diese Arbeit, und Stark war sicher, daß es ein überzeugender Grund war, überzeugend zumindest für die Lhari. Ein Aufseher kam auf Stark zu und stieß ihn rauh gegen einen Karren, der bereits zur Hälfte mit zerbrochenem Felsgestein beladen war. Stark zögerte. Seine Augen wurden böse, aber Helvi sagte rasch: „Los, du Narr, oder möchtest du wieder auf dem Rücken liegen?“ Er warf einen Blick auf die gegen ihn gerichtete, abzugsbereite, kleine Waffe und wandte sich dann zögernd um, um zu gehorchen. Und damit begann sein Dienen. Es war ein seltsames Leben, 54
das er hier führte. Eine Zeitlang versuchte er, die Zeit nach den Perioden des Arbeitens und des Schlafens abzuschätzen. Doch er verlor bald jeden Zeitbegriff, zumal dieser ja ganz unwichtig war. Er arbeitete zusammen mit den anderen, schob die Riesenblocks zur Seite, säuberte die Keller, die teilweise schon freigelegt waren, und stützte schwache Wände ab. Die Sklaven blieben bei ihrer alten Gewohnheit und nannten die Arbeitsperioden „Tage“ und die Schlafperioden „Nächte“. Jeden Tag kam Egil oder sein Bruder Cond, um sich von dem Fortgang der Arbeiten zu überzeugen, und um sich dann mit gerunzelter Stirn und enttäuscht wieder zu entfernen. Meist befahlen sie dann, daß die Arbeit rascher getan werden müsse. Auch Treon hielt sich oft lange hier auf. Er kam langsam, in seiner seltsamen Gangart angekrochen, und setzte sich wie ein blasser Wasserspeier auf die Steine. Er sprach niemals und sah nur mit seinen traurig-schönen Augen den Arbeitern zu. Er erweckte in Stark eine unklare Ahnung. Es war irgend etwas Schreckliches in Treons schweigender Geduld, als warte er auf das Eintreffen eines dunklen Verhängnisses, das lange hinausgezögert, aber unvermeidlich war. Stark entsann sich der Prophezeiung und erschauerte. Nach einiger Zeit der Beobachtung stellte er fest, daß die Lhari die Trümmer des Gebäudes abtragen ließen, um an die darunter liegenden Gewölbe zu gelangen. Die großen, dunklen und bereits freigelegten Keller und Höhlen hatten nichts enthalten. Aber die Brüder hofften weiter. Wieder und wieder tasteten Egil und Cond die Wände und Böden ab und bewegten sich dabei in alle Richtungen. Regelmäßig erzürnten sie sich, weil es so lange dauerte, die von ihnen gesuchten unterirdischen Labyrinthe zu erreichen. Was sie zu finden hofften, ahnte keiner. Auch Varra kam oft allein zu ihnen. Sie kam durch den trü55
ben Nebel und sah zu, lächelte ein heimliches Lächeln, und ihr Haar war wie zerstäubtes Silber, wenn die Strömung mit ihm spielte. Für Egil hatte sie nichts als kurze Worte. Dafür hielt sie ihre Augen auf den großen, dunklen Erdenmenschen gerichtet, und es war ein Blick in ihnen, der sein Blut zum Kochen brachte. Egil war nicht blind, und so erregten ihre Blicke auch sein Blut, doch in einer anderen Art. Zareth erkannte seinen Blick. Sie hielt sich stets so nahe wie nur möglich bei Stark, verlangte keinerlei Gunstbeweise, folgte ihm aber in ruhiger Ergebenheit überall hin. Sie schien glücklich zu sein, wenn sie ihm nahe sein konnte. Eines „Nachts“ in der Sklavenbaracke kauerte sie neben seinem Strohsack, ihre Hand auf sein nacktes Knie gelegt. Sie sprach nicht, und ihr Gesicht war unter der Masse ihres Haares verborgen. Stark drehte ihren Kopf um, so daß er sie erblicken konnte, und schob die blasse Haarwolke sanft fort. „Was macht dir Kummer, kleine Schwester?“ Ihre Augen waren groß und von unbekannter Furcht überschattet. „Es ist nicht an mir, zu sprechen“, antwortete sie. „Warum nicht?“ „Weil …“ Ihre Lippen zitterten, und dann sagte sie plötzlich: „Oh, ich weiß, daß es närrisch ist, aber die Frau der Lhari …“ „Was ist mit ihr?“ „Sie beobachtet dich! Sie beobachtet dich immer! Und Fürst Egil ist böse. Sie beabsichtigt etwas, und das wird dir nur Unheil bringen, das weiß ich.“ „Ich glaube“, sagte Stark grimmig, „daß die Lhari uns schon alles erdenkliche Unheil angetan haben.“ „Nein“, antwortete Zareth in seltsamem Wissen, „denn unsere Herzen sind noch immer rein!“ 56
Stark lächelte. Er beugte sich über sie und küßte sie. „Ich werde vorsichtig sein, kleine Schwester.“ Plötzlich warf sie die Arme um seinen Hals und klammerte sich an ihn. Starks Gesicht wurde nüchterner. Er versetzte ihr einen leichten, liebkosenden Schlag – fast unbeholfen. Da eilte sie davon, um sich auf ihrem Strohsack zusammenzurollen, den Kopf in die Arme vergraben. Stark legte sich nieder. Sein Herz war traurig, und seine Augen wurden feucht. Die rote Ewigkeit zog sich weiter dahin. Stark erfuhr, was Helvi gemeint hatte, als er damals sagte, daß der Geist vor dem Körper gebrochen werde. Der Meeresgrund war kein Lebensraum für die Geschöpfe des Landes. Er lernte auch die Bedeutung der Metallreifen kennen, die sie um den Hals trugen, und hörte, wie Tobal ums Leben gekommen war. Helvi erklärte ihm: „Hier gibt es genau festgelegte Grenzen. Innerhalb dieser Grenzen dürfen wir uns bewegen, wenn wir nach der Arbeit dazu noch den Wunsch und die Stärke haben. Jenseits der Grenzen haben wir nichts zu suchen, und es besteht auch nicht die geringste Möglichkeit, zu entkommen, selbst wenn man die Schranke durchbricht. Wie das möglich ist, weiß ich nicht; ich weiß nur, daß die Halsbänder den Schlüssel dazu darstellen.“ Nachdenklich sah er den Freund an. „Wenn ein Sklave sich der Grenze nähert, dann blitzt sein Halsband wie im Feuer auf, und der Sklave fällt zu Boden. Ich habe es selbst versucht und weiß daher Bescheid. Man ist zur Hälfte gelähmt, kann aber immer noch zurück in die Sicherheit kriechen. Wenn man aber wahnsinnig ist, wie Tobal es war, und heftig gegen die Schranke anrennt …“ Mit seinen Händen machte er eine schneidende Bewegung. Stark nickte. Er unternahm nicht den Versuch, Helvi die Grundsätze der Elektrizität oder der elektronischen Vibrationen 57
zu erklären, doch es war ihm ziemlich klar, daß die Kraft, durch die die Lhari ihre Sklaven zurückhielten, etwas von dieser Art sein mußte. Die Halsbänder fungierten dabei als Leiter – vielleicht für die gleiche Art von Strahlen, die auch aus den Handwaffen kamen. Wenn das Metall die unsichtbare Grenzlinie durchbrach, dann löste es wahrscheinlich einen Strahl von der zentralen Kraftstation aus, ähnlich, wie Elektronenaugen die Türen öffnen konnten. Es ertönten Alarmglocken als Warnung – und dann folgte der Tod … Die Grenzlinien waren ziemlich weit gezogen. Sie umschlossen die ganze Stadt und griffen auch noch ein gutes Stück in den Wald hinein. Dazu gab es für die Sklaven nicht die Möglichkeit, sich zwischen den Bäumen zu verbergen, denn mit denselben, schwächeren Strahlen konnte man die Halsbänder aufspüren. Die Strafen aber, die einem geflohenen und wiedereingefangenen Mann drohten, waren so hart, daß keiner auf den närrischen Gedanken kam, dieses Spiel zu versuchen. Natürlich war es ganz verboten, die Oberfläche aufzusuchen. Die einzige, ihnen zugängliche Stelle war die Insel, auf der sich die Kraftzentrale befand, und nach hier durften die Sklaven mitunter zur Nachtzeit kommen. Die Lhari hatten nämlich herausgefunden, daß die Sklaven länger lebten und besser arbeiteten, wenn sie gelegentlich reine Luft atmen und einen Black auf den Himmel werfen konnten. Sehr oft schloß Stark sich dieser Pilgerfahrt an. Sie kamen aus den roten Tiefen nach oben, zogen durch schwankende Feuerbänder, die von der Strömung angetrieben wurden, durchzogen die Wolken roter Flecken und kamen dann durch die trüben, düsteren stillen Stellen, die wie Blutlachen aussahen. Es war, als ob eine Gesellschaft weißer Geister durch die Flammen schreite, Geister, die sich aus ihren Gräbern erhoben hatten, um einen Blick auf die Welt zu werfen, der sie verlorengegangen waren. 58
Es machte ihnen nichts aus, daß sie müde waren; es berührte sie nicht, daß sie später kaum die Kraft hatten, in die Baracken zurückzukehren, um dort zu schlafen. Sie fanden erneute Stärke. Wieder auf dem offenen, festen Boden gehen zu können, das ewige rote Gas los zu sein und damit das schwere Gewicht, das auf der Brust lagerte, hinaufzublicken in die heiße blaue Nacht der Venus und den Duft der Lihabäume zu atmen, der vom Landwind nach hier getragen wurde – dabei fanden sie erneute Kräfte. Hier sangen sie, saßen auf den Felsen der Insel und blickten durch den Nebel hinüber zur Küste, die sie niemals wiedersehen würden. Es war ihr Singen, das Stark gehört hatte, als er mit Malthor über den Golf kam – ein wortloser Schrei des Schmerzes und des Jammers. Jetzt befand er sich selbst unter den Verlorenen, preßte Zareth an sich, um sie zu trösten, und mischte seine eigene tiefe Stimme in diesen bescheidenen Vorwurf an die Götter. Während er so am Boden saß und heulte wie der Wilde, der er in Wahrheit war, studierte er genau die Energiezentrale – ein eckiges Blockhaus auf der Mitte eines Platzes. In den Nächten, da die Sklaven sich hier aufhielten, wurden Wächter aufgestellt, um sie von der Zentrale fernzuhalten. Das Blockhaus wurde in doppelter Weise durch die Schockstrahler bewacht. Der Versuch, es durch Gewalt zu erobern, würde für alle den Tod bedeuten. Stark gab diesen Gedanken vorübergehend auf. Es gab nicht eine Sekunde, da er sich nicht mit Fluchtplänen trug, doch er war schon zu lange hier, um sinnlos mit dem Kopf gegen eine Steinmauer zu rennen. Ebenso wie Malthor würde er warten. Zareth und Helvi änderten sich etwas nach Starks Eintreffen. Obgleich sie niemals von einem Ausbruch sprachen, verloren doch beide den Ausdruck der Hoffnungslosigkeit. Stark sprach weder über Pläne noch gab er Versprechungen ab. Aber Helvi 59
kannte ihn schon seit langer Zeit, und das Mädchen hatte für alles, was er tat, Verständnis. So trugen sie die Köpfe wieder aufrecht. Dann, eines „Tages“, am Ende der Arbeit, tauchte Varra lächelnd im roten Nebel auf und bat ihn zu sich. Starks Herz machte einen großen Sprung. Ohne einen Blick zurückzuwerfen, verließ er Helvi und Zareth und ging mit ihr die breite Straße hinab, die zum Wald führte. 8. Kapitel Sie ließen die großen Gebäude und die stattlichen Plätze hinter sich und liefen unter den Bäumen dahin. Stark haßte den Wald. Die Stadt war bereits schlimm, aber sie war ehrlich, wollte nichts anderes als tot sein, abgesehen von diesen gespenstischen Gärten. An diesen großen Bäumen hingegen war etwas Erschreckendes. Sie waren voller Blätter, mit blühenden Ranken besetzt, erfüllt von dem reichen Gebüsch und Unterholz des Urwaldes. Sie sahen aus wie eine Masse von Körpern, die durch die Kunst des Todes zu lieblichen Bildern geworden waren. Sie schwankten sanft hin und her, wenn die Flammen sie durchdrangen, und die Zweige bewegten sich leicht in dieser schrecklichen Parodie des Windes. Stark fühlte sich hier wie ein Gefangener, und unter den steifen Blättern und Ranken wäre er fast erstickt, so beklemmend wirkte auf ihn diese Umgebung. Doch er blieb nicht zurück, und Varra – offensichtlich sehr glücklich – huschte zwischen den großen Stämmen hin und her. „Ich bin oft hierhergekommen, seit ich in dem Alter war, allein auszugehen“, sagte sie. „Es ist wundervoll. Hier kann ich fliegen und schweben wie einer meiner Falken.“ 60
Sie lachte und pflückte eine goldene Blume für ihr Haar. Dann schwebte sie wieder davon, und ihre weißen Beine blitzten auf. Stark folgte ihr. Er erkannte, was sie andeuten wollte. Hier, in diesem seltsamen Meer, waren die von ihnen durchgeführten Bewegungen ebensosehr ein Fliegen wie ein Schwimmen, da der Druck den Bemühungen des Körpers entsprach. Man fühlte sich von einer seltsamen Art von Erregung durchzittert, wenn man von den Baumspitzen kopfüber hinabstürzte durch ein Dickicht von Zweigen und Ranken, um dann wieder aufwärts zu schweben. Varra spielte mit ihm, und er wußte es. Er hätte sie leicht fangen können, aber er tat es nicht. Nur ab und zu umfaßte er sie, um ihr seine Stärke und Überlegenheit zu beweisen. So eilten sie weiter und zogen Flammenströme hinter sich her – ein schwarzer Falke, der eine weiße Taube durch Traumwälder jagte. Aber die Taube war in dem Horst eines Adlers flügge geworden. Schließlich wurde Stark des Spiels müde. Er fing sie ein, und sie schwebten Seite an Seite weiter. Noch immer bewegten sie sich zwischen den Bäumen hin und her, erfüllt von dem berauschenden Gefühl eines schwerelosen Fluges. Dann küßte sie ihn. Zuerst war ihr Kuß eigenartig schwach, wandelte sich dann, und Starks innerer Zorn drückte sich in einer neuen Art von Empörung aus. Er faßte sie rauh und grausam an, und sie lachte – ein kleines, stolzes, lautloses Lachen. Dann küßte er zurück. Dabei entsann er sich, wie er einmal gedacht hatte, daß ihr Mund wie eine bittere und zugleich süße Frucht sei, die einem Mann Schmerzen verursachte, wenn er sie nur berührte. Endlich riß sie sich los. Sie setzte sich auf einen großen Ast, lehnte sich an den Stamm und lachte. Ihre Augen blitzten Stark grausam an. Er nahm zu ihren Füßen Platz. „Was willst du von mir?“ fragte er. 61
Sie lächelte, und es war nichts Scheues und Verborgenes an ihr. Sie war kühn wie eine neue Klinge. „Ich werde es dir sagen, wilder Mann.“ Er fuhr auf. „Woher hast du diesen Namen?“ „Ich habe mich bei dem Erdenmenschen Larrabee nach dir erkundigt. Der Name paßt dir ausgezeichnet.“ Sie beugte sich zu ihm. „Du sollst wissen, was ich von dir will: Erschlage mir Egil und seinen Bruder Cond. Auch Bor, der schlimmer werden wird als beide zusammen, muß sterben. Ich werde dies aber selbst übernehmen, wenn du es nicht über dich bringst, Kinder zu töten. Denn Bor ist bedeutend mehr Ungeheuer als Kind. Großmutter wird nicht immer am Leben bleiben, und wenn meine Vettern aus dem Wege geräumt sind, stellt sie für uns keine Bedrohung mehr dar. Treon zählt nicht.“ „Und wenn ich es tue, was geschieht dann?“ „Du bekommst die Freiheit – und mich! Du wirst Shuruun an meiner Seite regieren.“ Starks Augen blitzten spöttisch auf. „Für wie lange Zeit, Varra?“ „Wer weiß das, und was macht es schon aus? Die Jahre sorgen für sich selbst.“ Achselzuckend sah sie ihn an. „Das Blut der Lhari ist schwach geworden, und es ist Zeit, daß es aufgefrischt wird. Nach uns werden unsere Kinder regieren, und sie werden Männer sein.“ Wieder lachte Stark. Diesmal brüllte er vor Lachen. „Es ist den Lhari also nicht genug, daß ich ihr Sklave bin. Jetzt soll ich also auch noch Henker und Herdenbulle sein. Warum, Varra? Weshalb? Aus welchem Grunde wählst du ausgerechnet mich?“ „Weil du, wie ich schon einmal sagte, der erste Mann bist, den ich seit dem Tode meines Vaters getroffen habe. Außerdem ist etwas an dir …“ Sie schob sich näher heran, und ihre Lippen 62
berührten leicht die seinen. „Glaubst du denn, daß es so schlimm ist, mit mir zu leben, wilder Mann?“ „Es ist nicht schlimm“, murmelte er, „sondern nur gefährlich.“ Er küßte sie, und sie flüsterte: „Ich dachte, du fürchtest keine Gefahr!“ „Im Gegenteil; ich bin ein vorsichtiger Mann.“ Er hielt sie etwas von sich entfernt, damit er ihr klar in die Augen sehen konnte. „Auch ich habe den Wunsch, Egil etwas zurückzuerstatten, aber ein Mord liegt mir fern. Der Kampf muß in gerechter Weise ausgetragen werden. Auch Cond wird auf sich aufpassen müssen.“ „Gerecht … War Egil gerecht, mit dir oder mit mir?“ Er hob die Schultern. „Wir gehen entweder meinen Weg, oder überhaupt keinen!“ Sie überlegte eine Weile und nickte dann. „In Ordnung.“ „Was Cond anbelangt, wirst du ihm eine Blutforderung übergeben, und sein Stolz wird ihn mit mir kämpfen lassen.“ „Alle Lhari sind stolz“, bemerkte sie bitter, „das ist unser Fluch. Er wurde uns aufgeprägt, dieser Stolz, wie du noch herausfinden wirst.“ „Noch eines: Zareth und! Helvi müssen freigelassen werden, und überhaupt muß diese Sklaverei ein Ende finden.“ Sie starrte ihn an. „Du sprichst große Worte, wilder Mann.“ „Ja oder nein?“ „Ja und nein! Zareth und Helvi sollst du haben, wenn du darauf bestehst, obwohl die Götter wissen mögen, was du an diesem blassen Kinde findest.“ Sie lächelte spöttisch. „Ich bin keine Närrin, Stark. Und was das andere anbelangt, so merke dir, daß nur zwei dieses Spiel spielen können.“ Eine Weile schwieg er, um dann zu fragen: „Varra, was suchen die Lhari auf dem Grunde des Meeres?“ Sie überlegte eine Weile, und ’begann dann: „Ich glaube, wir 63
haben schon lange Zeit von dieser Stadt gewußt Aber sie hat niemals etwas für uns bedeutet, bis mein Vater von ihr plötzlich fasziniert wurde. Manchmal blieb er tagelang hier unten und suchte, forschte. Er war es, der die Waffen und die Energiemaschinen auf der Insel entdeckte. Dann fand er eines Tages die Karte und das metallische Buch, die an einem geheimen Platz verborgen gewesen waren. Das Buch war in einer Bilderschrift verfaßt worden, als ob beabsichtigt gewesen sei, irgendwelchen Leuten die Möglichkeit zu geben, es auch in künftigen Zeiten zu entziffern. Die Karte zeigte den Platz mit dem zerstörten Gebäude und dem Tempel, sowie einen Plan der darunter liegenden Katakomben. Das Buch hingegen sprach von einem Geheimnis – von einem Geheimnis des Wunders und der Angst. Mein Vater gewann sofort die Überzeugung, daß das Gebäude absichtlich zerstört worden war, um den Eingang zu den Katakomben, in denen das Geheimnis verborgen war, für immer zu verschließen. Und er beschloß, das Geheimnis ausfindig zu machen.“ „Das dauert schon sechzehn Jahre und kostet das Leben anderer Menschen.“ Stark erschauerte. „Um welches Geheimnis handelt es sich, Varra?“ „Es geht um die Möglichkeit, das Leben zu beherrschen. Wie es sich verwirklichen lassen soll, weiß ich nicht. Hingegen weiß ich, daß man als Beherrscher dieses Geheimnisses fast allmächtig ist, und man eine Rasse von Riesen, von Ungeheuern oder von Göttern entstehen lassen kann. Du begreifst, was das für uns bedeuten würde – für uns, eine stolze und sterbende Familie.“ Stark war entsetzt bei der Vorstellung, wie ungeheuerlich viel Schlechtes sie unternehmen konnten, wenn sie jemals dieses Geheimnis entdecken würden. Varra fuhr fort: „Es stand aber auch eine Warnung in dem Buch. Ihre Bedeutung war nicht ganz klar, aber es schien, als 64
ob die Alten fühlten, daß sie gegen den Willen der Götter gehandelt hatten. Weshalb sie bestraft worden waren – vielleicht durch eine Seuche. Sie waren eine seltsame und nichtmenschliche Rasse. Auf jeden Fall zerstörten sie das große Gebäude und schufen damit ein Hindernis für jeden, der nach ihnen suchen würde. Anschließend haben sie wohl die Rote See hereingelassen, die ihre Stadt für immer bedecken sollte. Sie müssen trotz ihres großen Wissens recht abergläubische Kinder gewesen sein.“ „Dann habt ihr also ihre Warnung mißachtet und niemals daran gedacht, daß eine ganze Stadt gestorben war, um ihren Nachfahren eine solche Mahnung zu hinterlassen?“ Sie zeigte ihm die Zähne. „Du bist schlauer, als es gut für dich wäre. Und jetzt lebe wohl!“ Sie gab ihm einen leichten Kuß und verschwand dann aufwärts, über die Baumwipfel hinweg, wohin er ihr nicht zu folgen wagte. Langsam kehrte er zur Stadt zurück – ziemlich erregt und sehr gedankenvoll. Als er den großen Platz erreichte und eben sein Nachtquartier aufsuchen wollte, blieb er plötzlich angespannt stehen. Irgendwo in einem der schattenhaften Tempel war das Läuten einer Glocke zu vernehmen, die ihren tiefen, pulsierenden Ton durch das Schweigen sandte. Es erklang sehr langsam wie das Schlagen eines sterbenden Herzens. Zu den Glockentönen aber mischte sich das schwache Geräusch von Zareths Stimme, die seinen Namen rief. 9. Kapitel Er überquerte den Platz, bewegte sich vorsichtig durch die roten Nebel – und dann sah er sie. Es war nicht schwer, sie zu finden. Sie befand sich in einem 65
der größten Tempel, und Stark glaubte, daß der Eingang zu dem zerfallenen Haus ihm einmal gegenüber gelegen hatte. In diesem Tempel stand eine riesige Statue, das Standbild einer Gestalt, die wohl eingesetzt worden war, über die Gelehrten und Philosophen zu wachen, die hierherkamen, um ihre großen und manchmal auch schrecklichen Träume zu träumen. Die Philosophen waren verschwunden, die Gelehrten hatten sich selbst vernichtet, aber die Statue war geblieben und blickte noch immer auf die untergegangene Stadt – warnend, mit zugleich segnend erhobener Hand. Jetzt lag Zareth auf seinen reptilähnlichen Knien. Malthor stand neben ihr, und er war es, der die Weihglocke geläutet hatte. Nun hatte er sein Läuten unterbrochen, und Zareths Worte klangen laut und deutlich in Starks Ohren. „Geh weg! Geh weg! Sie warten auf dich! Komm nicht hier herein!“ „Ich warte auf dich, Stark“, rief Malthor lächelnd. „Hast du Angst, zu mir zu kommen?“ Er griff in Zareths Haar und schlug sie zweimal langsam ins Gesicht. Jeder Ausdruck verließ Starks Gesicht. Es wurde fahl und tot bis auf seine Augen, die plötzlich einen funkelnden Glanz annahmen. Er begann, auf den Tempel zuzugehen – nicht einmal sehr schnell, aber er ging in einer Art, die nicht einmal eine Armee hätte aufhalten können. Zareth begann, sich zu bewegen. Sie wollte wohl versuchen, sich von ihrem Vater loszureißen. „Egil ist hier!“ schrie sie. „Es ist eine Falle!“ Wieder griff Malthor nach ihr, und diesmal schlug er sie so heftig, daß sie erneut gegen die Statue stürzte, auf dieses Standbild, das mit seinen sanften Augen aus Edelsteinen auf sie blickte und doch nichts sah. „Sie fürchtet um dich“, spottete Malthor. „Sie weiß, daß ich 66
dich töten werde, wenn ich es kann. Nun, vielleicht ist Egil hier; vielleicht auch nicht. Aber sicherlich ist Zareth hier, und ich habe sie geschlagen. Und ich werde sie wieder schlagen, so lange sie lebt, damit ich sie für ihren Verrat an mir bestrafen kann.“ Er keuchte vor Wut. „Und wenn du sie retten willst, du fremder Hund, dann mußt du mich töten. Hast du Angst?“ Stark hatte Angst. Malthor und Zareth waren allein im Tempel. Die Säulenhalle war leer bis auf die trüben Nebel des Meeres. Jetzt trat er schnell unter die Schatten das Daches, ging durch die Säulen und hinterließ eine Spur von Feuer. Malthor blickte in seine Augen, und sein Lächeln erstarrte, um schließlich zu verschwinden. Er kauerte sich nieder. In diesem letzten Augenblick, da der dunkle Körper sich auf ihn stürzte, zog er aus dem Gürtel ein verborgenes Messer und stach zu. Die Sklaven wurden täglich nach Waffen untersucht, und selbst das Mitführen von Steinsplittern war ihnen verboten. Jemand mußte ihm dieses Messer gegeben haben. Jemand … Der Gedanke blitzte durch seinen Kopf, während er versuchte, dem tödlichen Stoß auszuweichen. Es schien zu spät zu sein, viel zu spät, denn die Wucht seines Sprunges trieb ihn auf die Spitze zu. Doch Reflexe, die schneller waren als die eines Menschen, die blitzschnelle Reaktion eines Wilden; Muskeln, die sich anspannten, um das Gleichgewichtszentrum zu verlagern, Hände, die in die Röte faßten, um sie zu zwingen, ihren eigenen Gesetzen zu widersprechen … Die Klinge fuhr über seine Brust und ritzte sie, drang aber nicht in sie ein. Während Stark noch nach seinem Gleichgewicht suchte, sprang Malthor ihn an. Sie klammerten sich aneinander, und die Messerklinge glitzerte rot – eine hungrige Zunge, die danach lechzte, Starks Leben zu verzehren. Stark stieß ein tiefes, tierisches Heulen aus, und plötzlich 67
hatte er Malthors messerbewaffnete Faust zwischen den Zähnen. Plötzlich gab es ein schauerlich knirschendes Geräusch, und der Arm sank leblos herab. Das Messer löste sich aus der Hand und fiel zu Boden. Malthor schrie nicht mehr. Er machte den Versuch davonzulaufen, als Stark ihn losließ, aber es war ein zweckloser Versuch. Er stieß keinen Laut aus, als Stark ihm das Genick brach. Er warf den leblosen Körper zu Boden, der Leichnam wurde von dem Sog der Strömung durch die Halle getrieben, berührte hier und dort eine schwarze Säule und trieb schließlich hinaus auf den Platz. Vorsichtig entfernte Stark sich von dem Mädchen, das jetzt schwach versuchte, sich auf den Knien der Statue aufzurichten. Er blickte nach oben und rief einer kaum sichtbaren, im Schatten unter dem Dach verborgenen Gestalt etwas zu. „Malthor rief deinen Namen, Egil. Warum bist du nicht gekommen?“ Oben, in der ungeheuren Dunkelheit der Säulen unter dem Dach, war eine Bewegung zu sehen. „Warum sollte ich?“ fragte Fürst Egil. „Ich hatte ihm die Freiheit versprochen, falls er dich töten würde. Doch es scheint, daß er es nicht fertigbrachte, obgleich ich ihm ein Messer und dazu ein Betäubungsmittel gab, um deinen Freund Helvi aus dem Wege zu räumen.“ Er kam herab. Stark konnte ihn jetzt deutlich sehen. Er war in eine Tunika aus gelber Seide gekleidet und trug die gefährliche schwarze Waffe in der Hand. Der Lauf der Waffe deutete direkt auf Stark, und Egils Finger lag am Abzug. Diesmal wollte er mit voller Energie schießen. Statt Lähmung sollte es diesmal der Tod sein. Stark maß die Entfernung zwischen sich und Egil. Er würde gestorben sein, noch ehe er zuschlagen konnte. 68
Dann sagte plötzlich eine Stimme: „Wird es auch deutlich sein, wie und warum ich starb, Egil? Denn wenn du sie tötest, mußt du auch mich töten!“ Woher Treon gekommen war, und wann, wußte Stark nicht zu sagen. Aber er stand hier, neben der Statue, und seine Stimme war voller Musik, während seine Augen hell glänzten. Egil war zusammengefahren und fluchte wütend. „Du Narr! Du verzerrtes Ungeheuer! Wie bist du hierhergekommen?“ „Ich bin hier, Egil, und das allein zählt. Und du wirst diesen Fremden, der mehr Tier ist als Mensch, und dazu männlicher als jeder von uns, nicht erschlagen. Die Götter benötigen ihn!“ Er hatte sich beim Sprechen weiter bewegt, so daß er jetzt zwischen Stark und Egil stand. „Geh aus dem Weg!“ keuchte Egil. Treon schüttelte den Kopf. „Sehr gut“, meinte Egil wutentbrannt. „Wenn du es willst, sollst du ebenfalls sterben.“ Das Licht in Treons Augen wurde heller. „Dies ist ein Weg des Todes“, sprach er sanft, „aber nicht des seinen oder meinen.“ Egil rief ein kurzes, böses Wort und hob die Waffe. Und dann entwickelten sich die Dinge sehr schnell. Stark sprang hoch, schnellte sich nach oben und flog über Treons Kopf hinweg. Er durchschnitt die roten Gase wie ein brennender Pfeil. Egil wich etwas zurück und richtete seine Waffe nach oben, während seine Finger an den Abzug fuhren. Etwas Weißes warf sich zwischen Stark und Egil und nahm die ganze Stärke der Ladung in sich auf. Etwas Weißes … Der Körper eines Mädchens, gekrönt von fließendem Haar, mit einem Metallband, das hell um den schlanken Hals glänzte. Zareth … 69
Unbemerkt war sie bis an eine Stelle gekrochen, wo ein letzter Sprung sie zwischen Stark und den Tod bringen mußte. Die Wucht seines Sprunges schleuderte Stark über sie hinweg. Nur ihr Haar streichelte sanft seine Haut. Dann lag er auf Egil, und nun geschah alles so schnell, daß der Herr von Lhari nicht die Zeit fand, einen weiteren Schuß abzufeuern. Stark entriß ihm die Waffe. In ihm war alles kalt, eiskalt, und es war eine seltsame Wildheit in ihm, daß er nichts außer Egils Gesicht sehen konnte. Treon stand da und sah zu. Er beobachtete, wie das Blut dunkel in das Meer strömte, und horchte in das plötzliche Schweigen hinein. Dann sah er den Leib, der einmal sein Vetter gewesen war, durch die langsame Strömung dahintreiben. Stark begab sich nun zu Zareth. Das Mädchen atmete noch. Ihre Augen wandten sich Stark zu, und sie lächelte. Stark war blind durch die Tränen, die aus seinen Augen rollten. Seine ganze Wut war mit Egils Tod von ihm abgefallen. Jetzt war nichts zurückgeblieben als ein großes Mitleid, unsägliche Trauer und ein verwunderter Schrecken. Er nahm Zareth sehr sanft in seine Arme, drückte sie zart an sich und spürte, wie seine Tränen auf ihr feines Gesicht fielen. Und er wußte, daß sie tot war … Etwas später kam Treon zu ihm und sagte leise: „Zu diesem Ende wurde sie geboren. Sie wußte es und war glücklich. Sogar jetzt lächelt sie noch. Und das soll sie auch, denn sie hatte einen besseren Tod als die meisten von uns.“ Er legte seine Hand auf Starks Schulter. „Komm, ich werde dir zeigen, wo du sie hinlegen kannst Sie wird dort sicher sein, und morgen kannst du sie begraben, wo immer du willst“ Stark erhob sich, nahm die leichte Bürde auf und folgte ihm. Treon ging an den Sockel, auf dem die Statue stand. Er drückte in einer bestimmten Reihenfolge auf verschiedene, ver70
borgene Vertiefungen, und ein Teil der Steine glitt lautlos zurück und legte Steinstufen frei, die hinabführten. 10. Kapitel Treon führte ihn hinab in die Dunkelheit, die nur von den trüben Feuern erleuchtet war, die sie selbst in Bewegung setzten. Hier gab es keine Luftströmungen. Das rote Gas stand unbeweglich zwischen den Mauern des Ganges, der aus dem Stark so oft bekanntgewordenen, schwarzen Stein erbaut worden war. „Hier sind die Gruften“, sagte Treon. „Wir befinden uns in dem Labyrinth, das auf der Karte eingezeichnet ist, die mein Vater fand.“ Und er sprach von der Karte, wie Varra es getan hatte. Sicher und zielbewußt schritt er dahin, sein ungestalter, verkrüppelter Körper bewegte sich ohne zu zögern durch verschiedene Gänge, vorbei an Türen, die nicht erkennen ließen, was sich hinter ihnen im Schatten verbarg. „Hier liegt die Geschichte der Stadt begraben; hier befinden sich die Archive, die Bücher und all das Wissen, das sie nicht zerstören mochten. Waffen gibt es hier nicht. Sie waren kein kriegerisches Volk, und ich glaube, daß die Waffe, die wir Lhari zum Angriff benutzt haben, nur zu Verteidigungszwecken gedacht war – als Schutz gegen die wilden Tiere und die plündernden primitiven Eingeborenen der Sümpfe.“ Mit großer Anstrengung lenkte Stark seine Gedanken von der leichten, mitgeführten Last ab. „Ich glaubte immer, daß die Gruften sich unter dem zerstörten Gebäude befunden hätten“, sagte er. „Das glaubten wir alle. Wir sollten es auch annehmen, und deshalb wurde das Gebäude vernichtet. Sechzehn Jahren lang haben wir Lhari Männer und Frauen ums Leben gebracht, indem wir sie zwangen, die schweren Steine abzutragen. Auch 71
der Tempel war auf der Karte eingezeichnet. Wir glaubten, er sei nur gekennzeichnet worden, damit das große, zerstörte Gebäude besser zu erkennen war. Aber dann begann ich mich zu fragen …“ „Seit wann weißt du denn Bescheid?“ „Noch nicht sehr lange. Vielleicht seit zwei Regenzeiten. Doch es bedurfte langer Überlegungen und vieler Versuche, bis ich das Geheimnis dieses Durchgangs herausgefunden hatte. Ich kam nachts hierher, wenn die anderen schliefen.“ „Und du hast es ihnen nicht gesagt?“ „Nein“, erwiderte Treon. „Du glaubst wahrscheinlich, daß der Sklaverei des Todes ein Ende gemacht worden wäre, wenn ich es gesagt hätte?“ Er schüttelte den Kopf. „Kannst du dir nicht vorstellen, was geschehen wäre, wenn meine Familie ein Mittel besitzen würde, eine Welt zu zerstören, wie diese Stadt vernichtet wurde? Nein, es war schon besser, daß ich schwieg.“ Dann schob er Stark zur Seite – zwischen goldene Türen, die halb offen standen, in eine so große Halle, daß man in dem stehenden roten Nebel ihren Umfang gar nicht abschätzen konnte. „Das war die Gruft der Könige“, sagte Treon sanft. „Laß die Kleine hier!“ Sie standen in geraden Reihen nebeneinander, diese Ruhestätten aus schwarzem Marmor – in so langen und weiten Reihen, daß es kein Ende für sie zu geben schien, so weit das Auge reichte. Und auf ihnen schliefen die alten Könige. Ihre wunderbar einbalsamierten Körper waren mit seidenen Mänteln bedeckt, die Arme hatten sie auf der Brust gekreuzt, und auf ihren klugen, nichtmenschlichen Gesichtern lag der Ausdruck tiefen Friedens. Sehr sanft legte Stark das Mädchen Zareth auf ein Marmorbett, bedeckte sie mit Seide und faltete ihre Hände. Und nun war ihm, als ob auch ihre Züge den Ausdruck tiefen Friedens angenommen hätten. 72
Dann ging er mit Treon wieder hinaus und dachte, daß niemand würdiger war als Zareth, in der Halle der Könige zu ruhen. Schließlich erreichten sie das Ende des Ganges. Dort, in dem trüben roten Schein stand eine Gestalt wartend vor einer schwarzen, verschlossenen Tür – eine groteske, unglaublich verunstaltete Gestalt, eine so schreckliche Mißgeburt, daß Treons Krüppelhaftigkeit neben ihr fast schön erschien. Aber das Gesicht dieser Mißgeburt war dasjenige der Bildnisse und alten Könige, und die eigenen dunklen Augen hatten einmal Weisheit und Wissen enthalten. Eine der siebenfingrigen Hände war noch immer schlank und empfindsam. Stark wich zurück. Der Anblick verursachte ihm physischen Ekel, und er wäre am liebsten umgekehrt. Treon aber drängte ihn weiter vorwärts. „Geh’ näher; er ist tot, einbalsamiert. Aber er besitzt eine Botschaft für dich. Er hat die ganze Zeit auf dich gewartet, um dir diese Botschaft zu übermitteln.“ Zögernd trat Stark vorwärts, und plötzlich schien das Ding zu sprechen. „Schau mich an! Schau mich an und überlege, ehe du dir die Macht aneignest, die hinter dieser Tür verborgen ist!“ Mit einem Aufschrei sprang Stark zurück, und Treon lächelte. „So geschah es mir ebenfalls, als ich das erste Mal hierherkam. Seither aber habe ich es viele Male angehört. Die Gestalt spricht zu dir nicht mit einer Stimme, sondern durch den Geist; außerdem redet sie nur dann, wenn man eine bestimmte Stelle überschritten hat.“ Er bewegte sich wieder vorwärts, und noch einmal erhob sich die telepathische Stimme zu ihm. „… Wir haben mit den Geheimnissen der Götter in unerlaubter Weise gespielt. Wir hatten nichts Böses geplant, doch wir liebten die Vollendung und wünschten, alle lebenden Wesen 73
fehlerlos zu bilden, wie unsere Häuser und Gärten. Wir wußten nicht, daß diese Absieht gegen das göttliche Gesetz war. Ich war einer von denjenigen, die den Weg erkannten, die lebende Zelle zu verändern. Wir benutzten die unsichtbare Kraft, die vom Land der Götter jenseits des Himmels kam, und wir verstanden es, sie zu bändigen, daß wir lebendiges Fleisch so formen konnten, wie die Töpfer ihren Lehm gestalten. Wir heilten die Kranken und ließen diejenigen groß und stark einherschreiten, die verkrüppelt aus dem Ei geschlüpft waren. Einige Zeit hindurch waren wir wie Brüder und den Göttern gleich. Sogar ich selbst kannte den Ruhm der Vollendung. Aber dann kam die Abrechnung. Die Zelle, die einmal dazu angeregt worden war, sich zu verändern, fand kein Ende mehr, sondern setzte ihre Entwicklung fort. Der Wuchs ging nur langsam voran, und eine Weile merkten wir es nicht. Als wir es dann feststellten, war es zu spät. Wir wurden zu einer Bevölkerung von Ungeheuern, und die Macht, die wir benutzt hatten, war nutzlos. Je mehr nämlich wir uns bemühten, das schreckliche Fleisch in seine normalen Formen zurückzubringen, um so mehr wuchsen die gereizten Zellen, wuchsen und wuchsen, bis die Körper, an denen wir arbeiteten, wie Gegenstände aus feuchtem Schlamm waren, die sich bereits änderten, wenn, man sie anblickte. Und die Bewohner der Stadt vernichteten sich selbst, einer nach dem anderen. Diejenigen unter uns, die übrigblieben, erkannten den Richtspruch der Götter und die sich hieraus ergebende Pflicht. Wir machten alles bereit und ließen die Rote See über uns und alle unsere Nachfahren unserer Art hinwegfließen, um unsere Sünde für alle Zeiten zu verbergen. Aber wir vernichteten nicht unser Wissen. Vielleicht war es unser Stolz, der es uns verbot, aber wir brachten es nicht fertig, es zu tun. Vielleicht können andere und klügere Rassen das Böse von ihm hinwegnehmen und nur das Gute in ihm bewahren. 74
Denn es ist gut für alle Kreaturen, vielleicht nicht vollkommen, aber doch gesund und stark zu sein. Doch achte auf diese Warnung, wer du auch immer sein magst, der ihr lauscht. Wenn deine Götter eifersüchtig sind und dein Volk nicht die Weisheit hat, dort weiterzumachen, wo wir bei der Arbeit mit dieser Energie versagten, dann berühre sie nicht. Im anderen Falle wirst du mit deinem ganzen Volke ebenso werden wie ich.“ Stark erschauerte und blickte auf die Gestalt. Treons Augen glänzten und vertieften sich, versanken in einen eigenen, ganz persönlichen Traum. Er ging vorwärts, und als Stark ihn begleiten wollte, schob er ihn zur Seite und sagte: „Nein, hieran hast du keinen Anteil.“ Er schüttelte den Kopf. „Die Winde baten mich, zu warten, bis der Tag reif war, vom Baum des Todes zu fallen. Ich habe gewartet, bis heute zum Morgengrauen … Da sagte mir der Wind, daß jetzt die Zeit zum Sammeln der Frucht gekommen sei …“ Er wandte sich um, und Stark machte keine Bewegung, zu folgen. Er sah Treons gebeugten Körper zurückweichen, bis er den schrecklichen Wächter hinter sich gelassen hatte und vor der schwarzen Tür stand. Die langen dünnen Arme streckten sich vor und schoben den Riegel zur Seite. Langsam schwang die Tür auf: Stark blickte durch die Öffnung in einen Raum, der ein Gebäude auf Kristallstangen und Scheiben enthielt, die auf einem Metallrahmen befestigt waren. Das alles glitzerte und blinkte in einem unruhigen, bläulichen Licht, das sich trübte und dann wieder erhellte, als ob es in irgendwelcher starken Weise pulsiere. Dann erkannte er noch einen anderen Apparat – verwickelte Röhren in langen Reihen, und daneben Kondensatoren. Das war wohl das Herz, das noch immer lebende Herz. Treon trat ein und schloß die Tür hinter sich. Als er sehr lange gewartet hatte, glaubte er, daß Treon tot 75
sein müsse. Doch er rührte sich nicht. Er wallte nicht in diesen Raum gehen, um nachzusehen. Plötzlich sprang er auf, und es überlief ihn ein kalter Schweiß. Durch den Gang hallte das Lärmen splitternden Metalls, ein Zerschmettern und Fallen, dem sich ein hoher, singender Ton anschloß, der sich hierauf ins Nichts verlor. Die Tür sprang auf. Ein Mann kam heraus, ein großer, aufrechter Mann, schön wie ein Engel, ein Mann mit starken Gliedern und Treons Gesicht, Treons traurigen Augen. Der Raum hinter ihm war dunkel. Das pulsierende Kraftherz schwieg. Die Tür wurde wieder geschlossen und verriegelt. Treons Stimme sprach: „Es sind noch Platten mit Aufzeichnungen da und so viele Teile des Apparates, daß das Geheimnis nicht vollkommen verloren wurde. Es ist nur außer ihrer Reichweite.“ Er kam zu Stark und streckte seine Hand aus. „Laß uns als Männer miteinander kämpfen, und fürchte dich nicht! Ich werde sterben, lange, bevor dieser Körper sich ändert.“ Er lächelte, ein erinnerndes Lächeln, das voller Mitleid für alles Leben war. Stark ergriff seine Hand und drückte sie. „Gut“, sagte Treon. „Und nun führe mich, Fremder, mit den grimmigen Augen. Diese Prophezeiung ist die deinige, der Tag gehört dir, und ich, der ich mein ganzes Leben lang wie eine Schnecke herumgekrochen bin, weiß wenig von einem Kampf. Führe mich, und ich werde dir folgen.“ 11. Kapitel Die Insel war in dichten Nebel und die blaue Dunkelheit der Nacht eingehüllt. Stark und Treon krochen schweigend durch die Felsen, bis 76
sie sahen, wie durch die Fensterschlitze der Energiestation die Fackeln leuchteten. Hier befanden sich sieben Wächter, von denen fünf sich im Blockhaus aufhielten, während zwei von ihnen das Gelände abgingen. Als sie sich dem Blockhaus in entsprechender Weise genähert hatten, verschwand Stark lautlos wie ein Schatten in der Dunkelheit. Nach einer Weile entdeckte er eine ihm passende Stelle und kauerte sich dort nieder. Nicht einmal drei Meter von ihm entfernt spazierte ein Wachposten, gähnte und blickte hoffnungsvoll zum Himmel hinauf, um dort die ersten Anzeichen des Morgengrauens zu entdecken. Treons Stimme ertönte, die süße, nicht zu verwechselnde Stimme. „Hallo, Wächter! Nach hier!“ Der Posten blieb stehen und sah sich um. Jenseits des Gebäudes wurden Schritte laut. Sandalen bewegten sich über den weichen Boden, und dann tauchte der zweite Posten auf. „Wer hat da gesprochen?“ fragte er. „Ist es der Herr Treon?“ Sie blickten in die Dunkelheit, und Treon antwortete mit einem Ja. Er war jetzt so weit hervorgetreten, daß sie den blassen Schimmer seines Gesichts erkennen konnten. Seinen Körper hielt er verborgen und außer Sicht zwischen den Felsen und dem in ihnen wachsenden Gesträuch. „Beeilt euch und macht schnell“, befahl Treon. „Sagt den Leuten, daß sie das Tor öffnen.“ Er sprach hastig und atemlos, als ob er erschöpft sei. „Es hat sich eine Tragödie, ein Unglück ereignet. Sagt ihnen, daß sie öffnen sollen.“ Einer der Männer gehorchte und lief davon, um dann gegen die massive, von innen verrammelte Tür des Blockhauses zu hämmern. Der andere Wächter stand fassungslos da und starrte in die Dunkelheit. Dann öffnete sich die Tür, und eine Flut gelben Fackellichtes fiel in den roten Nebel. 77
„Was ist denn los?“ fragten die Männer von drinnen. „Was ist geschehen?“ „Kommt heraus!“ schrie Treon jetzt mit lauter Stimme. „Mein Vetter ist tot! Fürst Egil ist tot! Er wurde von einem Sklaven ermordet.“ Diese Worte wirkten. Drei oder vier Männer kamen herausgestürzt, und in dem Lichtkreis war ihr Entsetzen deutlich zu erkennen. Sie schienen offenbar zu fürchten, daß sie für dieses Verbrechen verantwortlich gemacht werden könnten. „Ihr kennt den Sklaven“, fuhr Treon fort. „Es handelt sich um diesen großen, schwarzhaarigen Burschen von der Erde. Er hat den Fürsten Egil erschlagen und ist dann in den Wald geflüchtet. Jetzt brauchen wir zusätzliche Wächter, die ihn verfolgen, und weitere Leute, um die Sklaven zu bewachen, unter denen eine Meuterei ausgebrochen ist. Du und du …“ er deutete auf die vier größten Männer, „ihr brecht sofort auf und schließt euch den Verfolgern an. Ich werde mit den anderen hierbleiben.“ Beinahe hätten sie gehorcht. Die vier Wächter machten zwei oder drei zögernde Schritte. Dann aber blieb einer stehen und sagte sorgenvoll: „Mein Fürst, es ist uns aber verboten, unsere Posten zu verlassen, gleichgültig, aus welchem Grunde. Wir müssen unbedingt hierbleiben. Fürst Cond würde uns erschlagen, wenn wir uns entfernen würden.“ „Ihr fürchtet also Fürst Cond mehr als mich“, sagte Treon ergeben. „Gut, ich verstehe.“ Und er trat vor. Ein Stöhnen erhob sich, und dann ein greller Aufschrei. Die drei aus dem Blockhaus gekommenen Männer trugen nur ihre Schwerter bei sich, aber die beiden patrouillierenden Wachposten waren mit Schockwaffen ausgestattet. Einer von ihnen kreischte wie ein Weib. „Es ist ein Dämon, der mit Treons Stimme spricht.“ Die beiden schwarzen Waffen hoben sich. 78
Hinter ihnen feuerte Stark rasch hintereinander zwei Schüsse ab, und die Männer, für Stunden kampfunfähig gemacht, fielen zu Boden. Dann sprang er zur Tür. Dort stieß er mit zwei Männern zusammen, die ebenfalls in das Blockhaus flüchten wollten. Der dritte hatte sich umgewandt, um Treon mit seinem Schwert zurückzuhalten, bis er sich selbst ebenfalls den Rückweg erkämpft hatte. Stark, der wußte, daß Treon unbewaffnet war und erkannte, daß er sich in der Gefahr befand, von dem Schwert verletzt oder gar getötet zu werden, feuerte erneut auf die beiden Flüchtenden, stürzte mit ihnen zu Boden und riß dabei den gegen Treon angehenden, schwertbewaffneten Wächter zu Boden. Er wurde in ein Gewirr von Armen und Beinen verwickelt, und ein Schlag warf ihm die Schockwaffe aus den Händen. Doch jetzt griff Treon ein. Er gefiel sich in seiner neuen Stärke, griff einfach einen Mann beim Hals und schleuderte ihn zur Seite. Doch die Wächter waren große und starke Männer, die verzweifelt kämpften. Stark war zerschlagen und blutete aus einer Mundwunde, ehe er einen letzten Hieb anbringen konnte. Jemand rannte an ihm vorbei und stürzte durch die Tür hinein. Treon schrie auf. Aus den Augenwinkeln sah Stark den Lhari halbbetäubt am Boden sitzen. Die Tür fiel ins Schloß. Stark zog die Schultern ein und sprang. Er schlug mit solcher Wucht gegen die schwere Tür, daß er fast den Atem verlor. Die Tür sprang auf, und zugleich hörte man einen Schmerzensschrei. Ein Mann stürzte zu Boden. Stark hastete nach vorn und sah, wie die letzten Wächter sich auf der Erde rollten. Einer von ihnen sprang auf und hob sein Schwert, wozu er bis dahin noch keine Zeit gefunden hatte. Doch Stark dachte nicht daran, stehenzubleiben. Er warf sich auf den Mann, noch ehe er das Schwert gänzlich aus der Scheide gezogen hatte, und schlug ihn nieder. 79
Außer den am Boden liegenden Wächtern war kein Mann zu sehen. Die anderen waren offenbar geflohen, um Alarm zu schlagen. Der Mechanismus der Anlage war ziemlich einfach. Er war in einem großen, schwarzen Metallbehälter untergebracht, der die Form und Größe eines Sarges hatte. Dort erblickte er Gitter, Linsen und Skalenscheiben. Aus dem Apparat ertönte ein leises Summen, doch so genau Stark sich auch umblickte, er konnte nicht entdecken, wo eigentlich die Energiequelle zu finden war. Vielleicht handelt es sich wirklich um kosmische Strahlen. Er schloß das, was er für den Haupthebel hielt, und das Summen erstarb. Aus den Linsen erstarb das flackernde Licht. Dann hob er das Schwert des erschlagenen Wächters und zerstörte alles, was zu zerstören war. Anschließend ging er hinaus. Treon erhob sich und schüttelte den Kopf. Er lächelte fein. „Es scheint, daß Kraft allein für einen Kampf nicht genügt“, meinte er. „Man muß auch die erforderliche Geschicklichkeit besitzen.“ „Die Schranken sind verschwunden und der Weg ist frei“, erklärte ihm Stark. Treon nickte und ging mit ihm zurück in die See. Diesmal trugen sie beide sechs Schockwaffen mit sich – Waffen für den Krieg. Während sie schnell durch die roten Tiefen eilten, fragte Stark: „Was ist mit den Leuten von Shuruun? Wie werden sie kämpfen?“ „Malthors Brut und seine Freunde werden für die Lhari einstehen“, antwortete Treon. „Ihre ganze Hoffnung liegt bei ihnen. Die anderen werden warten, bis es sich entschieden hat, in welche Richtung sich das Kriegsglück wendet. Sie hätten sich längst gegen die Lhari erhoben, wenn sie es gewagt hätten, denn wir haben ihnen stets nur Furcht und Bangen eingeflößt. 80
Aber sie werden abwarten und sehen, um sich danach zu entscheiden.“ Sie gingen hinunter zu den Sklavenhallen und -baracken. Treon blieb draußen., um zu wachen. Stark ging hinein und nahm die Waffen mit. Die Sklaven schliefen noch immer. Einige von ihnen träumten offenbar und stöhnten im Traum. Andere lagen da wie Tote mit ihren weißen, reglosen Gesichtern. Es waren Sklaven – 104 Sklaven, die Frauen einbegriffen … Stark rief sie an, sie erwachten und fuhren voller Entsetzen von ihren Strohsäcken auf. Es entstand ein großer Lärm, Stark ermahnte sie zur Ruhe. Helvis Stimme wiederholte seine Worte. Der große Barbar war aus seinem Betäubungsschlaf erwacht. Sehr kurz, nur in angedeuteten Umrissen, erzählte Stark, was geschehen war. „Ihr seid nunmehr vom Halsband befreit“, endete er. „Heute entscheidet es sich, ob ihr weiterleben oder sterben wollt, als Menschen und nicht als Sklaven.“ „Wer will mit mir nach Shuruun gehen?“ Sie antworteten mit einer einzigen Stimme, der Stimme der Verlorenen-Menschen, die in der Tiefe gelebt hatten und nun sahen, daß sich das Bahrtuch des Todes unmerklich hob. Die Verlorenen, die wieder Hoffnung zu schöpfen begannen … Stark lachte. Er fühlte sich glücklich. Er gab Helvi und drei anderen ausgesuchten Männern die Waffen. Helvi blickte ihm in die Augen und lachte ebenfalls. Von draußen rief Treon: „Sie kommen!“ Stark gab Helvi einige rasche Anweisungen, nahm einen Mann mit sich und eilte mit ihm hinaus. Zusammen mit Treon verbargen sie sich zwischen den Büschen des wunderbaren, stillen Gartens, der sich draußen im leblosen Glanz erstreckte. Die Wächter trafen ein – zwanzig große, bewaffnete Männer, 81
um die Sklaven zu einer neuen Arbeitsperiode zu bringen, um sie zu zwingen, in nutzloser Weise die Steine hinwegzuschleppen. Dann sprachen die verborgenen Waffen mit ihren schweigsamen Zungen. Acht der Wächter fielen in der Halle; neun verloren draußen ihr Leben. Zehn Sklaven starben mit leuchtendem Halsband, ehe die restlichen drei Wächter überwältigt waren. Jetzt besaßen sie 20 Schwerter für 94 Sklaven, die Frauen eingerechnet. Der erste schwache Schimmer des Morgengrauens brach durch die Wolken, als sie zwischen den Felsen unterhalb des Schlosses der Lhari auftauchten. Dort wurden sie von Stark verlassen, der wie ein Schatten die Klippen hinaufhuschte bis an jene Stelle, an der er seine Waffe versteckt hatte – damals, in jener ersten Nacht, da er zum ersten Mal nach Shuruun gekommen war. Stark kehrte zu den anderen zurück. Eine seiner Waffen gab er einem Sumpfländer, der – mit kaltem Wahnsinn in den Augen – den Augenblick des Kampfes kaum erwarten konnte. Dann sprach er einige letzte Worte mit Helvi und kehrte hierauf zusammen mit Treon unter die Oberfläche des Meeres zurück. Jetzt übernahm Treon die Führung. Er begab sich mit Stark bis unter die Klippen und zeigte ihm dort eine runde Öffnung, die im Stein angebracht war. „Dieser Eingang ist vor langer Zeit angelegt worden“, sagte er dabei, „damit die Lhari und ihre Sklavenhändler kommen und gehen konnten, ohne gesehen zu werden. Begleite mich und sei jetzt sehr still!“ Ihre einzige Hoffnung bestand darin, die anderen zu überraschen. Treon meinte, daß sie nur zu zweit Erfolg haben würden. Wären sie mehrere, so würden sie mit Gewißheit entdeckt und von den Händen der Wächter getötet werden. 82
Sie erreichten eine glatte Steinwand. Hier preßte Treon sich an eine Seite, und ein großer Block drehte sich langsam um seine Achse. Sie traten ein und kamen in einen Raum, in dem soeben ein gähnender Diener dabei war, eine Fackel zu ersetzen. Der Mann drehte sich um und flüchtete eine lange, schlecht beleuchtete Halle entlang. Es war eine Kleinigkeit für Stark, ihn einzuholen. Er schlug ihm einmal mit seiner Waffe über den Kopf, und der Mann fiel kraftlos zu Boden. Treon kam näher. Sein Gesicht drückte eine so harte Entschlossenheit aus und seine Augen leuchteten so wild, daß Stark erschauerte. Er führte ihn durch eine Reihe leerer Räume, die vollkommen schwarz waren. Sie trafen keinen Menschen. Schließlich blieben sie vor einer kleinen, goldenen Tür stehen. Treon blickte Stark noch einmal an, nickte, schob die Flügel auf und ging hindurch. 12. Kapitel Sie standen innerhalb der großen Halle, die sich endlos durch die Dunkelheit erstreckte. Noch immer brannte die Gruppe silberner Lampen – ebenso wie damals, und innerhalb ihres Strahlenkreises saßen die Lhari und blickten verblüfft auf die Fremden, die hier durch ihre private Tür eingedrungen waren. „Kennt ihr mich?“ fragte er. Ein seltsamer Schauer durchfuhr sie. Jetzt, ebenso wie neulich, ergriff die alte Frau als erste das Wort, und ihre Augen waren so unbeherrscht wie ihr unmäßiger, unstillbarer Hunger. „Du bist Treon“, sagte sie, und ihr ganzer riesiger Körper bebte. Der Name hallte flüsternd erst und dann schreiend von den Wänden wider. 83
Treon! Treon! Treon! Cond sprang vorwärts und berührte mit zitternden Händen den starken, aufrechten Leib seines Vetters. „Du hast es entdeckt!“ rief er aus. „Du hast das Geheimnis gefunden!“ „Richtig!“ Treon hob sein silbernes Haupt und lachte – ein schönes, klingendes Lachen, das von allen Ecken zurückgeworfen wurde. „Ja, ich habe das Geheimnis entdeckt – und es ist vernichtet, für immer aus eurer Reichweite entfernt. Egil ist tot – und damit ist der große Tag der Lhari gekommen!“ Es entstand ein langes, endlos langes Schweigen. Dann flüsterte die alte Frau: „Du lügst!“ Treon wandte eich Stark zu. „Fragt ihn, den Fremden, der euer Schicksal auf seiner Stirn geschrieben trägt! So fragt ihn doch! Fragt ihn, ob ich lüge!“ Conds Gesicht nahm einen Ausdruck an, der nicht mehr menschlich war. Er stieß ein seltsames, keuchendes Geräusch aus und sprang dann an Treons Kehle. Plötzlich schrie Bor auf. Er allein wurde durch das Auffinden und den Verlust des Geheimnisses nicht allzu sehr betroffen, und nur er allein schien die Bedeutung von Starks Hiersein zu verstehen. Er schrie, blickte auf den großen, dunklen Mann, lief hierauf durch die Halle und brüllte nach den Wächtern. Er schrie gellend, und das Echo hallte entsetzlich von den Wänden wider. Er lief durch die großen Türen hinaus, und während er sie öffnete, drang von draußen das Geräusch eines Kampfes in den großen Raum. Die Sklaven mit ihren Schwertern und Keulen, mit ihren Steinen und Felsbrocken waren von den Klippen her über den Wall gekommen. Stark störte ihn nicht. Die alte Frau sprach, fluchte, befahl und erstickte fast an ihrer eigenen Wut, ohne daß jemand sie beachtete. 84
Arel begann zu lachen. Sie rührte sich nicht, und ihre Hände blieben bewegungslos und offen in ihrem Schoß liegen. Varra sah Stark an und haßte ihn. „Du bist ein Narr, wilder Mann“, sagte sie. „Du wolltest nicht nehmen, was ich dir bot. Nun, so wirst du gar nichts haben außer dem Tod … Nimm!“ Sie schob die Haube von ihrem Falken und warf ihn gegen Stark. Dann zog sie ein Messer aus ihrem Gewand und stieß es Treon in die Seite. Treon begann zu schwanken. Sein Griff lockerte sich, und Cond taumelte hinweg, halb erwürgt, mit schaumbedecktem Mund. Er zog sein kurzes Schwert und begann, auf Treon einzuschlagen. Wilde Flügelschläge trafen Starks Kopf, und die Klauen suchten nach seinen Augen. Mit der linken Hand griff er nach oben, faßte das Tier an einem Bein und hielt es fest – nicht sehr lange, aber lange genug, um einen kurzen Schuß auf Cond abzugeben, der diesen wie einen Baum fällte. Dann drehte er dem Falken den Hals um. Er warf die Kreatur vor Varras Füße und hob den zu Boden gefallenen Revolver wieder auf. Jetzt stürzten endlich die Wächter in den unteren Teil der Halle, und er begann, auf sie zu feuern. Treon saß am Boden, und das Blut tropfte gleichmäßig aus seiner Seite. Doch er hatte die Schockwaffe in der Hand und lächelte noch immer. Von draußen war ein großer, wilder Lärm zu vernehmen. Dort kämpften Menschen, töteten und starben, schrien ihren Triumph oder ihren Jammer in die Venus-Welt. Das Echo wütete in der Halle, und das Knallen von Starks Pistolenschüssen war lauter als das Krachen von Kanonenschlägen. Die nur mit Schwertern bewaffneten Wächter fielen wie reifer Weizen vor der Sichel des Schnitters, aber es waren viele, zu viele, und es schien ausgeschlossen, daß Stark und Treon ihnen 85
lange Widerstand leisten konnten. Die alte Frau kreischte entsetzlich, bis sie plötzlich schlagartig verstummte. Helvi tauchte im Gewimmel auf, begleitet von einer Gruppe von Sklaven, die an ihren Halsbändern erkenntlich waren. Der Kampf löste sich in ein wirbelndes Chaos auf. Stark ließ seine Schußwaffe fallen, denn er hatte Angst, seine eigenen Leute zu treffen. Er ergriff das Schwert eines gefallenen Wächters und begann, sich einen Weg bis zu dem Barbaren zu bahnen. Plötzlich schrie Treon seinen Namen. Er machte einen hastigen Sprung zur Seite und entfernte sich damit von dem Mann, gegen den er eben kämpfte. Dann sah er, wie Varra mit gezücktem Dolch zu Boden fiel. Sie war hinter ihm aufgetaucht, um ihn meuchlings zu erstechen. Treon hatte sie beobachtet, ihn gewarnt und seine Waffe gerade im rechten Augenblick abgefeuert. Zum ersten Mal traten jetzt Tränen in Treons Augen. Eine Art Übelkeit überkam Stark. Es war schrecklich, dieser Familie zuzusehen, die sich selbst zerfleischte. Jetzt fand er sich Rücken an Rücken mit Helvi, und als sie gemeinsam ihre Schwerter schwangen, erwuchs ihnen neuer Mut. Helvi hatte eine Schockwaffe aus demselben Grund wie vorhin Stark seinen Revolver fortgeworfen. „Es war ein guter Kampf, mein Bruder“, sagte Helvi. „Wir können nicht gewinnen, aber wir können einen guten Tod finden, der besser ist als Sklaverei.“ Es sah aus, als ob Helvi recht behalten sollte. Die Sklaven, die durch die lange Haft unglücklicherweise geschwächt waren, wurden langsam zurückgedrängt. Der Strom ging jetzt in die andere Richtung, und Stark wurde mit ihm hinausgespült, kämpfte aber unablässig weiter. Das große Tor stand weit offen. Hinter ihm stand das Volk von Shuruun, beobachtend und zurückhaltend – wie Treon es 86
gesagt hatte. Sie würden erst abwarten und sehen, um dann das Zünglein an der Waage zu spielen. Ganz vorn, auf seinen Stock gestützt, stand Larrabee, der Erdenmensch. Stark machte sich von der ihn umgebenden Menge frei. Er sprang auf die Mauer, schwer atmend, blutig, mit einem tropfenden Schwert in der Hand. Er schwenkte es einige Male, um auf sich aufmerksam zu machen, und wandte sich an die Männer von Shuruun: „Worauf wartete ihr denn, ihr Hasenfüße und Weiber? Die Lhari sind tot, und die Verlorenen sind frei! Müssen wir von der Erde denn die ganze Arbeit für euch tun?“ Dabei sah er Larrabee in die Augen. Larrabee gab den Blick zurück, und seine dunklen, leidenden Augen waren erfüllt von einer bitteren Heiterkeit. „O ja“, antwortete er auf Englisch, „warum nicht?“ Er warf den Kopf zurück und lachte. Die Bitterkeit war verschwunden. Er stieß einen hohen, aufrührerischen Schrei aus und hob seinen Stock wie eine Keule. Dann bewegte er sich auf das Tor zu, und die Männer von Shuruun folgten ihm. Danach war alles vorbei. Sie fanden Bors Körper in den Ställen, in die er in seiner Angst geflohen war, als der Kampf begann. Die durch den Blutgeruch wie wahnsinnig gewordenen Drachen hatten ihn hier sehr bald getötet. Helvi war am Leben geblieben, ebenso wie Larrabee, der sich, nachdem er die Leute von Shuruun zum Kampf aufgeputscht hatte, zurückzog und vorsichtig von jeder Gefahr fernhielt. Stark kehrte in die große Halle zurück. Er ging langsam, denn er war sehr müde, und wohin er seinen Fuß setzte, war eine blutige Spur. Treon sah ihn kommen und nickte ihm lächelnd zu. „Es geschah, wie ich es ankündigte“, sagte er leise. „Ich habe sie alle überlebt …“ Arel hatte endlich ihr wahnsinniges Lachen unterbrochen. Sie hatte nicht versucht, davonzulaufen. Die Schlacht war über 87
sie hinweggegangen und hatte sie unbemerkt zu ihrem Opfer gemacht. Die alte Frau lag still – ein bewegungsloser Fleischberg, wie gefällt auf ihrem Bett ruhend. Ihre Hand umfaßte noch eine reife Frucht, die sie im Augenblick ihres Todes zerquetscht hatte. Und der rote Saft tropfte durch ihre Finger. „Jetzt gehe auch ich“, sagte Treon, „und ich bin zufrieden. Durch mich, mit mir verschwindet der letzte von unserem verfaulten Blut, und die Venus wird dadurch sauberer werden. Begrabe meinen Leichnam tief in der Erde, du Fremder mit den wilden Augen; ich möchte nicht, daß er jemand als Schaustück dient.“ * Stark lehnte am Heck und sah, wie die dunkle Masse von Shuruun langsam im roten Nebel verschwand. Die Decks waren überfüllt von der Schar fremder Sklaven, die heimkehrten. Die Lhari waren verschwunden, die Verlorenen für immer befreit, und Shuruun war nichts anderes als ein Hafen an der Roten See. Die Bewohner würden zwar noch immer Wolfsköpfe und Piraten sein, aber das war nur natürlich und unabwendbar. Das schwarze Übel hingegen war verschwunden. Stark war froh, als die Stadt langsam seinen Blicken entschwand, und er würde sich noch mehr freuen, wenn die Rote See erst ganz hinter ihnen lag. Ein aufkommender Wind trieb das Schiff den Golf hinab. Stark dachte an Larrabee, der zurückgeblieben war – mit seinen Träumen von Winterschnee und sauberen Straßen, von Frauen mit zarten Füßen und hohen Absätzen. Es kam wohl daher, weil er zu lange in Shuruun gelebt und damit den Mut verloren hatte, es zu verlassen. „Armer Larrabee“, sagte er zu Helvi, der neben ihm stand. „Er wird den Schlamm immer noch verfluchen und dann in ihm sterben.“ 88
Jemand lachte hinter ihm. Er hörte einen hinkenden Schritt, der über das Deck klapperte, drehte sich um und sah Larrabee auf sich zukommen. „In der letzten Minute habe ich meine Absicht geändert“, sagte er. „Bis jetzt war ich unten, denn ich wollte meine schlammige Brut nicht mehr sehen und durch sie in Versuchung geraten, meinen Plan umzustoßen.“ Er lehnte sich neben Stark und schüttelte den Kopf. „Sie werden schon ohne mich fertig werden. Ich bin ein alter Mann und habe das Recht, mir meinen Sterbeplatz zu suchen. Ich kehre mit Ihnen zur Erde zurück.“ Stark blickte ihn an. „Ich begebe mich nicht auf die Erde.“ Larrabee seufzte. „Nein?“ Er nickte. „Ich glaube, daß Sie es nicht tun. Eigentlich sind Sie ja auch kein richtiger Erdenmensch, sondern nur durch einen Irrtum des Blutes zu einem solchen geworden. Wohin wollen Sie dann gehen?“ „Ich weiß es noch nicht. Ich verlasse die Venus, weiß aber noch nicht, wohin ich ziehe.“ Larrabees Augen blickten ihn von der Seite an. Ein ruheloser, kaltäugiger Tiger in der Gestalt eines Mannes, so hatte Varra sich über ihn geäußert. Er hat etwas verloren, hatte sie hinzugefügt. Er wird es sein ganzes Leben suchen und niemals finden. Danach wurde es still. Der rote Nebel hüllte sie ein, der Wind erhob sich und trieb sie vorwärts. Ganz schwach und weit entfernt ertönte eine stöhnende Klage, ein Geräusch wie unterbrochenes Singen, das Starks Körper erschauern ließ. Alle an Bord hörten es. Sie lauschten – schweigsam, mit weitgeöffneten, großen Augen, und irgendwo begann eine Frau zu weinen. Stark schüttelte sich. 89
„Es ist nur der Wind“, sagte er rauh, „der sich in den Felsen an der Meerenge fängt.“ Die Töne erhoben sich und sangen – müde, unsagbar trauernd. Und jener Teil von Stark, der N’Chaka hieß, sagte ihm, daß er log. Es war nicht der Wind, der so traurig durch die Nebel sang. Es waren die Stimmen der Verlorenen, die für immer verloren waren. Zareth, die in der Königshalle schlief, und alle die anderen, die niemals die träumende Stadt verlassen, niemals das Licht wiedersehen würden. – Ende –
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