Rosannas Tochter
Das Buch Bei einem Autounfall stirbt Rosanna, die geheimnisvolle ExFreundin des jungen Rechtsanwalts...
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Rosannas Tochter
Das Buch Bei einem Autounfall stirbt Rosanna, die geheimnisvolle ExFreundin des jungen Rechtsanwalts Josch. Sie hinterlässt ihre vierzehnjährige Tochter Aimée, ein Mädchen zwischen Kindheit und erwachender Weiblichkeit, dem plötzlich der Boden unter den Füßen fehlt. Josch und seine Frau Nela nehmen sie bei sich auf. Der Zeitpunkt könnte ungünstiger nicht sein – Josch ist völlig überlastet mit seiner Kanzlei, und Nela hat gerade den Zuschlag für ein heiß umkämpftes Filmprojekt bekommen. Dennoch bemühen sich beide, dem traumatisierten Mädchen zu helfen. Doch kaum hat Aimée wieder Halt gefunden, beginnt sie mit aller Kraft, Nela zu bekämpfen. Mit erstaunlicher Raffinesse versucht sie, die vermeintliche Rivalin um Joschs Liebe aus dem Feld zu schlagen. Egal, was Nela tut, nun kann sie nur noch verlieren. Als auch noch Aimées Vater auftaucht, ist das Gefühlschaos perfekt. Die Autorin Amelie Fried wurde 1958 in Ulm geboren. Nach ihrem Studium moderierte sie etliche Fernsehsendungen, darunter Live aus dem Alabama, Live aus der alten Oper, Stern-TV und Kinderella. Derzeit ist sie Gastgeberin der Talkshow 3 nach 9. Sie bekam zahlreiche Fernsehpreise. Für ihr erstes Kinderbuch Hat Opa einen Anzug an? erhielt sie 1998 den Deutschen Jugendliteraturpreis, ihr zweites Kinderbuch Der unsichtbare Vater kam auf die Auswahlliste. Ihre BestsellerRomane Traumfrau mit Nebenwirkungen, Am Anfang war der Seitensprung, Der Mann von nebenan sowie Liebes Leid und Lust wurden bereits verfilmt. Die Verfilmung von Glücksspieler und Rosannas Tochter steht bevor. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in der Nähe von München.
Amelie Fried
Rosannas Tochter Roman
Umwelthinweis: Dieses Buch wurde auf chlorfrei gebleichtem Papier gedruckt.
Ungekürzte Lizenzausgabe der RM Buch und Medien Vertrieb GmbH und der angeschlossenen Buchgemeinschaften Copyright © 2005 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Einbandgestaltung: Bille Weidenbach Einbandfotos: getty/Dimitri Vervits (Mädchen), getty/Patricia McDonough Satz: C. Schaber Datentechnik, Wels Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck Printed In Germany 2007 Buch-Nr. 090862 www.derclub.de www.donauland.at www.bertelsmannclub.ch www.nsb.ch
Ein Gewitter zog auf an diesem Nachmittag. Eigentlich kein Wunder, dachte Nela. Wenn in meinem Leben etwas Bedeutsames passiert, gibt es Unwetter. Schon bei ihrer Geburt hatte es angeblich geblitzt und gedonnert, von ihrem ersten Schultag war sie klatschnass, mit aufgeweichter Schultüte und vor Nässe quietschenden Schuhen nach Hause gekommen, weil ihre Mutter vergessen hatte, sie abzuholen, und bei ihrer Hochzeit war ein regelrechter Hagelsturm niedergegangen, der innerhalb von Minuten die Autos der Hochzeitsgäste in einen Haufen Versicherungsfälle verwandelt hatte. Es donnerte. Nela zuckte zusammen. Nein, sie hatte keine Angst, sie saß bei Gewitter nur gern an einem sicheren Ort und hielt sich die Ohren zu. Also kuschelte sie sich aufs Sofa, zog sich eine Decke über den Kopf und zählte den Abstand zwischen Blitz und Donner. Jede Sekunde ein Kilometer, hatte sie an jenem ersten Schultag gelernt. Mit beruhigenden Worten hatte die Lehrerin das ängstliche Gemurmel der Kinder gedämpft. Dann hatte sie allerhand über Gewitter erzählt, unter anderem, wie gering die Wahrscheinlichkeit ist, vom Blitz getroffen zu werden, aber das hatte Nela nicht beruhigen 6
können. Auf Wahrscheinlichkeit gab sie bis heute nichts, sie glaubte an Zufälle, glückliche – und unglückliche. Unruhig sah sie auf die Uhr. Hoffentlich kam Josch bald nach Hause. Heute war die Nachricht eingetroffen, auf die sie so lange gewartet hatte, eine sensationelle Nachricht, und sie brannte darauf, ihm davon zu erzählen. Meist kam Josch erst um zehn, elf Uhr abends aus seiner Kanzlei; und manchmal wurde er schon frühmorgens zum Flughafen gerufen, wo er die Abschiebung irgendeines armen Kerls verhindern sollte, der hier auf ein besseres Leben gehofft hatte. Es war nicht leicht, einen ruhigen Moment mit ihrem Mann, dem streitbaren Rechtsanwalt, zu finden, aber heute hatte er ihr fest versprochen, um sieben da zu sein. Die ersten Regentropfen fielen, der Wind war noch stärker geworden. Eine heftige Bö ließ die Zweige der Birke vor dem Haus gefährlich nah ans Fenster schnellen. Im nächsten Moment donnerte es so laut, dass Nela sich noch tiefer ins Sofa duckte. Plötzlich begann eine Art Rauschen, sie spähte unter der Wolldecke hervor. Eisregen. Ein kühler Hauch wehte durchs Zimmer, schnell lief sie zum Fenster. Die Hagelkörner waren zwar klein, bedeckten aber bereits zentimeterhoch den Boden. Es sah aus, als hätte es mitten im Juni geschneit. Nela schloss das Fenster und kehrte zum Sofa zurück.
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Ein seltsames Gefühl, dachte sie, wenn Träume in Erfüllung gehen. Solange ich es mir gewünscht habe, war ich voller Energie. Jetzt, wo ich es geschafft habe, sollte ich jubeln vor Freude, aber irgendwie fühle ich mich nur leer. Kurz vor sieben. Josch müsste jeden Moment kommen. Wie immer, wenn er heimkehrte, würde er seine Jacke aufhängen, die Schuhe ausziehen, die lederne Aktentasche, die sie ihm geschenkt hatte, auf einen Stuhl im Flur legen, seine Hände am Gästewaschbecken waschen und rufen: Bist du da? Dann würde er einen Blick ins Arbeitszimmer und ins Wohnzimmer werfen und, falls er sie dort nicht fände, in die Küche gehen. Er würde sie in den Arm nehmen, an ihrem Hals schnuppern und ein kleines, brummendes Geräusch machen, das so viel hieß wie: Ich bin so froh, wieder bei dir zu sein. Nela lächelte in sich hinein. Sie liebte diese kleinen Rituale, sie gaben ihr Sicherheit und ließen sie daran glauben, dass es auch am nächsten Abend so sein würde, am übernächsten und an allen weiteren Abenden. Es war kein Zufall, dass Josch Rechtsanwalt geworden war. Er schätzte klare Regelwerke und überschaubare Sachverhalte. Trotzdem war er kein gefühlloser Paragraphenreiter; sein Engagement für Asylsuchende und straffällig gewordene Ausländer beruhte auf einem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Er war kein Mann großer Worte, sondern jemand, der am liebsten handelte. Sentimentalität war ihm zuwider, übertriebenen
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Emotionen begegnete er mit verständnislosem Schweigen. Manchmal fragte sich Nela, warum sie sich ineinander verliebt hatten. Sie war ganz anders als Josch, ungeduldig, aufbrausend, übertrieben empfindsam. Bei ihr kam das Handeln oft vor dem Denken, sie verhielt sich intuitiv und vertraute ihren Gefühlen mehr als ihrer Vernunft. Vielleicht war das der Grund für die Anziehungskraft zwischen ihnen: Jeder hatte, was dem anderen fehlte. Sie waren Kopf und Bauch; zusammen ergaben sie ein neues, vollständiges Wesen. Was liebst du an mir?, hatte sie gefragt, als Josch das erste Mal vom Heiraten sprach. Alles, sagte er. Das gilt nicht, erwiderte sie. Zähl mir jede einzelne meiner guten Eigenschaften auf! Aber ich liebe alles an dir, beharrte Josch, außer … dass du immer alles so genau wissen willst. Ich liebe auch alles an dir, sagte sie spöttisch, außer, dass du mir immer so wenig sagen willst. Heißt das, wir passen nicht zusammen?, fragte er. Im Gegenteil, sagte sie, das heißt, wir passen perfekt zusammen. Wir sind so unterschiedlich, dass uns – falls wir daran nicht verzweifeln – nie langweilig miteinander sein wird. Dieses Gespräch lag ein gutes Jahr zurück, kurz darauf hatten sie geheiratet. Das Rauschen schwoll an, Nela pirschte sich zum Fenster. Die Hagelkörner waren jetzt so groß 9
wie Tischtennisbälle und schienen jede Sekunde zu wachsen. Sie ließ die Wolldecke, an der sie sich festgeklammert hatte, fallen und rannte zur Wohnungstür. Der Mini! Sie musste den Mini retten! Dieses Auto war nicht irgendein Auto, und es war durch keine Versicherung zu ersetzen. Sie lief durch den Hausflur, öffnete die schwere Holztür zur Straße und wollte losrennen, aber mehrere Hagelgeschosse trafen sie am Kopf Sie schrie auf vor Schmerz, hielt die Arme über den Kopf, aber die Eisstücke schmerzten so, dass sie zurück in den Hausflur flüchtete. Der Wagen stand keine zwanzig Meter von ihr entfernt. Verzweifelt sah sie sich nach etwas um, mit dem sie sich hätte schützen können, im Hausflur stand nur der Kinderwagen einer Familie aus dem dritten Stock, die jedes Jahr ein Baby bekam. Sie versuchte, die Haube abzureißen, um sie als Schutz zu verwenden, aber sie verbog nur das Scharnier. Es war sowieso zu spät. Die Hagelstücke hatten Hühnerei-Größe erreicht, und so sah Nela hilflos zu, wie ihr knallroter, zwanzig Jahre alter Mini unter dem Dauerbeschuss zerbeult wurde. Sie merkte, wie ihr die Tränen übers Gesicht liefen, und schämte sich. Es war doch nur ein Auto. Man durfte sein Herz nicht an leblose Gegenstände hängen. Aber, verdammt, dieses Auto hatte am Morgen ihrer Hochzeit vor dem Haus gestanden, nur ein paar Meter entfernt von der Stelle, wo es jetzt stand, es war mit Blumen geschmückt gewesen,
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und im Rückfenster hatte ein handgeschriebenes Schild verkündet: ›Just married!‹ Josch hatte sie geküsst, ihr den Schlüssel in die Hand gedrückt, und sie waren zum Standesamt gefahren. Dort warteten schon ihre Freunde, Kollegen und Familienmitglieder, also Nelas Eltern und ein paar Tanten und Cousins von Josch. Vermutlich gab es nichts Unromantischeres als so eine Trauungszeremonie; es war ungefähr, als hätten sie gemeinsam den Kaufvertrag für eine Sitzgarnitur unterschrieben, nachdem der Verkäufer die Pflegeempfehlungen heruntergeleiert hatte. Warum Nela der Hochzeit zugestimmt hatte, konnte sie nur schwer erklären. Sie hielt Heiraten nicht nur für spießig und altmodisch, auch objektiv sprach in ihren Augen einiges dagegen. Jede dritte Ehe scheiterte, die meisten anderen waren unglücklich, und Steuern sparten sie auch nicht, weil sie beide gleich wenig verdienten. Die Bezeichnungen ›mein Mann‹ und ›meine Frau‹ hatten etwas unsympathisch Besitzergreifendes, mit dem sie nichts zu tun haben wollte, und eigentlich fand sie, dass die Liebe keinen staatlichen oder gar kirchlichen Segen brauchte. Trotzdem hatte sie in dem nüchternen Behördenzimmer gestanden, die Knie weich wie Sülze, und gegen die Rührung gekämpft. Unfassbar, dass tief in ihr immer noch etwas von dem kleinen Mädchen steckte, das glaubte, die Hochzeit wäre das Happyend und nicht der Anfang eines langen, oft steinigen Weges. 11
Als sie Josch begegnet war, hatte sie die Dreißig überschritten und die Hoffnung längst aufgegeben, dass der richtige Mensch für sie existierte, weil sie immer etwas an einem Mann störte, die Art, wie er ging, die Bücher, die er las, die Worte, die er gebrauchte, die Gedanken, die er dachte. Sie war überzeugt gewesen, dass es keinen Mann gäbe, den sie lieben könnte und von dem sie sich lieben lassen wollte. Vielleicht hatte sie deshalb auch nichts gemerkt, als er eines Tages vor ihr stand. Es war in einem Gerichtssaal. Josch vertrat eine kurdische Familie bei ihrer Klage gegen die Abweisung ihres Asylantrages. Nela hatte Familie Özgay bei einer Türkeireise kennen gelernt und ihr Schicksal in einer Fernsehreportage dokumentiert. Muhlis, der Mann, war verfolgt und gefoltert worden, seine Frau Hürdem litt unter Angstzuständen, die Kinder konnten nicht zur Schule gehen. Die Familie war nach Deutschland geflüchtet und hatte, nachdem ihr Asylantrag abgelehnt worden war, Kontakt zu Nela aufgenommen und sie gebeten, als Zeugin vor Gericht für sie auszusagen. Und da war dieser junge Anwalt, der seine Fragen präzise formulierte und die Antworten in Sekundenschnelle auf Ungereimtheiten abzuklopfen schien. Seine ruhige, professionelle Art imponierte ihr. Im Laufe der Verhandlung merkte Nela, wie sie begannen, sich die Bälle zuzuspielen. Josch 12
argumentierte juristisch kompetent und sachlich, sie versuchte, eine möglichst einfühlsame Schilderung dessen zu geben, was sie in der Türkei gesehen hatte. An diesem Tag trafen sie das erste Mal zusammen, Kopf und Bauch, und sie erwiesen sich als gutes Team. Die Verhandlung endete mit einem Erfolg: Der Richter erteilte die Genehmigung für die Eröffnung eines zweiten Asylverfahrens, die Familie erhielt eine weitere Chance. Während das Urteil verkündet wurde, trafen sich ihre Blicke. Josch lächelte ihr zu, unsicher sah Nela zur Seite. Beim Verlassen des Gerichtssaals hörte sie seine Stimme neben sich. Glückwunsch, sagte er, dieses Urteil ist Ihnen zu verdanken. Zu viel der Ehre, wehrte sie ab. Nein, wirklich, beharrte er, Ihr Bericht war hervorragend. Das Kurdenproblem wird hierzulande ziemlich einseitig behandelt, und nie erfährt man etwas über die Menschen, um die es geht. Mich interessieren nur die Menschen, sagte Nela, Ideologien interessieren mich nicht. Da haben wir was gemeinsam. Josch hielt ihr seine Visitenkarte hin. Rufen Sie mich an, falls Sie mal juristischen Rat brauchen, okay? Danke, sagte sie und schob die Karte in ihre Jackentasche. Oder wenn Sie mal einen Kaffee trinken wollen, ergänzte er und grinste ein bisschen verlegen.
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Überrascht musterte sie ihn. Sie hatte nicht die Absicht, auch nur einen weiteren Gedanken an diesen Rechtsanwalt zu verschwenden, der zwar brillant und sympathisch war, aber doch einer dieser Anzugträger, die sie unter erotischen Gesichtspunkten stinklangweilig fand. Männer, die Nela interessierten, mussten aussehen, als wären sie nach viermonatiger Gefangenschaft aus einem Terroristencamp geflüchtet oder hätten gerade einen Achttausender bestiegen. Sie mussten unrasiert sein, durften weder Oberhemd noch Krawatte tragen, und wenn sie nach Wald oder Lagerfeuer rochen, war ihr das lieber als Rasierwasser. Noch nie hatte sie sich für einen Mann mit einem akademischen Beruf interessiert; ihre Liebhaber waren Reiseleiter, Musiker oder Filmleute, viele arbeiteten gar nicht oder lebten von Gelegenheitsjobs. Zu ihrer eigenen Überraschung aber ging ihr der ordentlich gekämmte Rechtsanwalt mit Anzug und Schlips nicht mehr aus dem Kopf Immer wieder sah sie ihn vor sich, wie er mit präzisen Worten und ausdrucksvollen Bewegungen seiner langen, schmalen Hände begründete, warum dieser oder jener Paragraph des Ausländergesetzes hier uneingeschränkt griff und man deshalb die Familie nicht in die Türkei zurückschicken dürfe. Hinter seiner Sachlichkeit spürte sie einen verborgenen Zorn, eine wilde Entschlossenheit, der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen. Eine Woche später, am Abend bevor sie nach Mexiko reisen sollte, rief Nela ihn an. 14
Eigentlich finde ich Männer in Anzügen langweilig, sagte sie, aber vielleicht besitzen Sie ja auch eine Jeans, dann könnten wir zusammen was trinken gehen. Soll ich mein Che-Guevara-T-Shirt dazu anziehen?, fragte er. Könnte nicht schaden, erwiderte sie und musste lächeln. Sie trafen sich in einer Bar und blieben sitzen, bis sie schloss. Dann gingen sie in Nelas Wohnung und redeten, bis es hell wurde. Josch brachte sie zum Flughafen, und die folgenden drei Wochen verbrachte sie damit, sich zu fragen, warum er sie zum Abschied nicht geküsst hatte. Na, vollkaskoversichert?, fragte ein Mann, der sich zum Schutz gegen den Hagel ein Kuchenblech über den Kopf hielt und offenbar die Gesellschaft eines Leidensgenossen suchte. Meiner ist der blaue BMW da drüben, welcher ist Ihrer? Der rote Mini, sagte Nela gepresst. Ach so, sagte er nach einem kurzen Blick, der ist ja sowieso nicht mehr viel wert. Der Hagel ließ endlich nach. Nela wartete, bis nur noch ein paar vereinzelte Regentropfen fielen und der Himmel langsam aufklarte, dann näherte sie sich zögernd ihrem Auto. Es war noch schlimmer, als sie befürchtet hatte. Keine Dellen, sondern regelrechte Krater, in denen das Wasser stand, abgesplitterter Lack, die Frontscheibe zerschlagen, Hagelkörner auf den Sitzen und im Fußraum. Sie umkreiste den Wagen 15
mehrmals, als hoffte sie, dass wie im Film die Zeit gleich rückwärts laufen würde, dass die Hagelkörner vom Wagen wegspringen, das Blech sich zurückbiegen, die Glasscherben sich zusammenfügen würden, aber das Wunder blieb aus. Der Mini war das Symbol ihrer Liebe und Zusammengehörigkeit. Nun war es zerstört. Niedergeschlagen ging sie ins Haus zurück. Was, zum Teufel, findest du an dem staubtrockenen Kerl, hatte Tom sie gefragt, als er Josch auf einer Party ihrer Filmfirma kennen gelernt hatte. Tom war Kameramann und der einzige Mann, der in der Firma geduldet wurde. Lydia meinte, Frauen hätten biologisch bedingt keinen Blick für Bilder. Sie würden immer das große Ganze sehen, Atmosphäre, Stimmungen und so. Der Blick fürs Detail, für den entscheidenden Ausschnitt, sei dem Jäger und Sammler Mann vorbehalten. Eindeutig eine sexistische Haltung, aber Nela war ganz froh darüber. Die Weiberwirtschaft in der Frauen-FilmFirma ging ihr manchmal auf die Nerven. Tom begleitete sie bei Dreharbeiten, wenn sie die Kamera nicht selbst bediente. Er war ein angenehmer Gefährte, neugierig und offen, dabei aber nachdenklich. Es gab nichts, worüber sie mit Tom nicht hätte reden können, und es gab niemanden, mit dem sie so gut schweigen konnte. Zwischen ihnen herrschte eine Selbstverständlichkeit, die sie sonst nur aus 16
Beziehungen mit anderen Frauen kannte. Sie musste nicht ständig darüber nachdenken, wie sie gerade aussah oder ob das, was sie sagte, auch wirklich intelligent genug war. Ohne dass sie je darüber gesprochen hätten, war Tom so etwas wie ihr bester Freund geworden. Eine Weile sah es sogar so aus, als könnten sie ein Paar werden, aber dazu war es dann doch nicht gekommen. Und dann hatte sie Josch kennen gelernt. An Toms Reaktion hatte sie gemerkt, dass es ihm etwas ausmachte. Was, zum Teufel, findest du an dem staubtrockenen Kerl? Vielleicht war es so etwas wie ein Gefühl des Angekommenseins. Jahrelang war ihr Leben eine einzige Flucht gewesen, erst Josch hatte ihr gezeigt, dass es für die meisten Probleme eine andere Lösung geben kann, als wegzulaufen. Sein Verhalten schien berechenbar, seine Liebe verlässlich, und dafür war sie dankbar – und das Wichtigste: Josch versuchte nicht, eine andere aus ihr zu machen. Er akzeptierte ihre Unrast und protestierte nicht, weil sie fast die Hälfte des Jahres unterwegs war. Er schien begriffen zu haben, dass sie das Filmemachen nicht nur liebte, sondern besessen davon war. Hätte sie wählen müssen zwischen dem Leben mit ihm und ihrer Arbeit als Dokumentarfilmerin – sie hätte sich wohl für die Arbeit entschieden. Josch ahnte das und hatte sie nie vor die Wahl gestellt. Die letzten drei Jahre hatte Nela um ein Filmprojekt gekämpft, an dem ihr Herz hing wie an 17
keinem anderen. Sie hatte Konzepte geschrieben, Finanzierungsmodelle entworfen, Sponsoren gesucht, hatte unzählige Telefonate geführt und EMails geschickt, und vor zwei Monaten war sie nach New York geflogen, um endlich die Frau zu treffen, über die sie den Film drehen wollte: Jane Goodall, die berühmteste Schimpansenforscherin der Welt. Ihre persönliche Begegnung hatte wohl den Ausschlag gegeben, wenige Tage später erhielt sie eine E-Mail von Jane: Liebe Nela, es war wundervoll, dich kennen zu lernen, ich mag die Power, mit der du deine Ziele verfolgst! Manchmal dachte ich, du bist genau wie ich, als ich jung war – leidenschaftlich und stur. Ich bin sicher, wir sehen uns bald wieder, bis dahin good luck, deine Jane. Jane Goodall war gerade siebzig geworden, ihre Kräfte ließen nach, und sie würde bald nicht mehr dreihundert Tage im Jahr unterwegs sein können, um Vorträge zu halten und Interviews zu geben. Sie wollte die Chance wahrnehmen, mit einem Film über ihr Leben eine Art Vermächtnis zu schaffen. Und seit heute wusste Nela, dass sie den Film drehen sollte. Sie verehrte Jane, seit sie ein Kind war. Die Frau, die 1957 als Dreiundzwanzigjährige allein nach Afrika gereist war, um sich ihren Traum vom Leben unter wilden Tieren zu erfüllen, war für sie zum Idol und Vorbild für ihr eigenes Leben geworden. Sie bewunderte ihren Mut, ihr Selbstbewusstsein 18
und ihren Kampfgeist. Jane hatte sich gegen sämtliche Vorurteile und Widerstände behauptet, denen sie als Frau und Wissenschaftlerin ausgesetzt war. Und Nela hatte gleich gespürt, dass sie ein ganz besonderer Mensch war, warmherzig und gebildet, eigensinnig und humorvoll. Nela teilte Janes Leidenschaft für Schimpansen. Wie Jane hatte auch sie als Baby statt eines Teddys einen Stoffschimpansen geschenkt bekommen; der von Jane hieß Jubilee und saß noch heute in ihrem Elternhaus in England auf einem Bett. Nelas Schimpanse hatte Jeetah geheißen. Leider existierte er nicht mehr; ihre Mutter hatte ihn eines Tages weggeworfen, als sie auf Klassenfahrt gewesen war. Schon auf der Treppe hörte sie das Telefon, rannte die letzten Stufen hoch, schloss die Wohnungstür auf und meldete sich atemlos Ja? Ich bin’s. Josch! Was ist los? Bist du in den Hagel gekommen? Sie hörte seinen Atem am anderen Ende der Leitung. Sag schon, ist alles in Ordnung? Nela, es ist was passiert. Nein, es ist nichts, dachte sie, uns kann doch nichts passieren. Was?, fragte sie schwach. Es hat … einen Unfall gegeben. Einen Unfall? Ihre Stimme klang plötzlich ganz schrill. Wer? Du? Nein, nicht ich. Rosanna. Ich bin auf dem Weg ins Krankenhaus. Ich rufe dich wieder an. 19
Rosanna. Rosanna? Nelas Erinnerung kehrte wie aus weiter Ferne zurück. Die Frau, mit der Josch vor ihr zusammengelebt hatte. Als Nela und er sich ein paar Monate kannten, hatte Josch sie zu Rosanna aufs Land mitgenommen. Die Bilder dieser ersten Begegnung hatten sich Nela tief eingeprägt. Noch heute sah sie die kräftige Gestalt vor sich, die breitbeinig in einem Gemüsebeet stand, ihre dunklen Locken, die um den Kopf tanzten, als sie mit kräftigem Ruck einen Kohlrabi herauszog. Ihre kräftige, erdverschmierte Hand, mit der sie sich durchs Gesicht fuhr und einen Schmutzstreifen auf der Stirn hinterließ. Sie hörte ihr unbändiges Lachen, fühlte die Sinnlichkeit, die von Rosanna ausging. Nela fühlte sich schwach und blutarm neben ihr. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Josch jemanden wie sie lieben konnte, nachdem er diese Frau geliebt hatte. Still und eingeschüchtert stand sie da und hätte sie am liebsten nur angestarrt. Mit ausgestreckten Armen kam Rosanna auf sie zu und küsste sie rechts und links auf die Wangen. Ciao, sagte sie und lächelte, dabei musterte sie Nela neugierig, als wollte sie herausfinden, ob sie eine würdige Nachfolgerin wäre. Nela spürte Joschs Unbehagen; dieses Zusammentreffen schien ihm nun doch nicht sonderlich angenehm zu sein.
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Rosanna bat sie in die Stube, bewirtete sie mit Wein und selbst gemachter Lasagne. Sie zeigte Nela das Haus und, in einem Schuppen daneben, ihre Bilder. Sie malte farbige, expressive Landschaften und Gesichter. Eigentlich ging beides ineinander über. Auch Gesichter sind Landschaften, erklärte sie, deshalb ist es dasselbe. Ihre Herzlichkeit machte Nela beklommen, sie konnte sie nicht so erwidern, wie sie gern gewollt hätte. Die ganze Zeit fragte sie sich, welchen Grund Josch gehabt haben könnte, diese faszinierende Frau aufzugeben. Aus seinen Erzählungen hatte sie nur heraushören können, dass er es gewesen war, der Rosanna verlassen hatte. Den Grund hatte er ihr verschwiegen, und sie hatte nicht gewagt, ihn danach zu fragen. Und dann war da noch dieses Kind, Aimée, aus einer früheren Beziehung. Vater unbekannt, hatte Rosanna bei der Geburt angegeben. Kann man wohl so sagen, wenn einer kommt und geht nach Belieben und man sich fragt, warum man sich seine Rückkehr überhaupt wünscht. Nachdem das Kind da war, hatte er sich offenbar nie mehr bei Rosanna gemeldet. Nela hatte Aimée danach noch zweimal gesehen. Einmal hatten sie ein Wochenende zu dritt verbracht. Sie gehört zu meinem Leben, hatte Josch gesagt, ich hoffe, du wirst sie mögen. In Nelas Ohren hatte es wie eine Drohung geklungen. 21
Aimée war damals elf gewesen, ein kräftiges, dunkles Mädchen mit der wilden Haarpracht ihrer Mutter. Sie gab Nela die Hand, murmelte ein leises Hallo und würdigte sie danach keines Blickes mehr. Sie machten einen Spaziergang durch den Park und aßen Kuchen, den Nela gebacken hatte. Aimée beschäftigte sich die meiste Zeit mit einem Gameboy und gab zerstreute Antworten auf ihre Fragen. Während der ganzen Rückfahrt starrte sie aus dem Fenster und summte vor sich hin. Sie ist schüchtern, erklärte Josch flüsternd, sie kommt wenig mit Menschen in Berührung. Ein zweites Mal hatte Nela das Kind vor ungefähr einem Jahr in einem Café getroffen, wo sie eine Verabredung mit Josch hatte. Sie war erstaunt gewesen, Aimée dort zu sehen. Rosanna hat einen neuen Freund, sagte Josch erklärend, als Nela an den Tisch kam, Aimée wollte unbedingt mit mir darüber sprechen. Die Augen des Mädchens waren gerötet, es knetete seine Finger. Bevor Nela etwas sagen konnte, flog Rosanna ins Café, strahlend, die widerspenstigen Haarschlangen mit einem bunten Tuch gebändigt, einen Hauch Rosmarin um sich. Wieder küsste sie Nela auf die Wangen, ciao, Nela, wie geht’s? Gut, und dir? Benissimo, ich bin verliebt! Sie rief es so laut, dass die Leute sich amüsiert nach ihr umwandten. Nela sah den beiden nach, als sie das Lokal verließen, die eine das Abbild der anderen, das Mädchen widerstrebend an Rosannas Hand, einen 22
letzten Blick zu Josch werfend, dessen Gesicht einen merkwürdig verschlossenen Ausdruck angenommen hatte. Nela stand noch immer neben dem Telefon. Ihre Glieder waren wie erstarrt. Mit steifen Schritten ging sie zurück in die Küche, wo ihr kalt gewordener Tee vom Nachmittag stand. Sie trank ihn, er schmeckte bitter. Als die Tasse leer war, blieb sie am Küchentisch sitzen. Wartete. Irgendwann, sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, klingelte es wieder. Sie stürzte zum Telefon. Ja? Ich bin’s. Danach Schweigen, eine Sekunde zu lang. Die Sekunde, in der man weiß, dass der andere etwas Furchtbares sagen wird. Sie hörte ein Geräusch am anderen Ende der Leitung, ein Schlucken oder Schluchzen, vielleicht auch nur einen tiefen Atemzug. Rosanna ist tot, sagte Josch. Aimée war mit im Wagen, sie ist verletzt. Ich bleibe die Nacht im Krankenhaus. Natürlich, sagte Nela. Natürlich bleibst du dort.
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Erschöpft wachte Nela am nächsten Morgen auf. Sie hatte wenig geschlafen und schlecht geträumt, ihr Gehirn marterte sie mit Bildern der toten Rosanna. Es hat Nachteile, sich beruflich mit der Herstellung von Bildern zu befassen; Nela hatte die Angewohnheit entwickelt, sich zu allem den passenden Film vorzustellen. Und sie gab sich nicht mit wackeligen Amateuraufnahmen zufrieden, nein, ihre Filme waren in Cinemascope und Dolby Stereo. Sie hätte gern mehr über den Unfall gewusst. Selbst die schlimmsten Tatsachen schienen ihr erträglicher zu sein als diese Phantasien. Zu ihrer Erleichterung meldete Josch sich bald. Wie geht’s dir, fragte sie, wie geht’s dem Kind? Sie hat nur leichte Verletzungen, sagte er mit müder Stimme, einen gebrochenen Arm, ein paar Schnitte, eine Gehirnerschütterung. Sie sah ihn vor sich, das Haar verwirrt, weil er ständig mit der Hand hindurchfuhr, die Haut grau vor Anstrengung, die Augen gerötet. Schon oft hatte sie ihn so gesehen, nach einer Nacht mit zu wenig Schlaf und zu viel Aufregung. Menschliche Dramen hielten sich nicht an Stundenpläne, und sie gehörten zu seinem Beruf Nur dass es ihn diesmal persönlich betraf, dass er nicht nach Hause kommen und die Gefühle abschütteln konnte. 24
Weiß Aimée schon …? Nein, sagte Josch. Rosannas Eltern sind bei ihr. Wir werden es ihr sagen, sobald es ihr besser geht. Ich hoffe nur … er brach ab. … dass sie nicht fragt? Ja. Ich will sie nicht anlügen müssen. Nela spürte, wie sehr ihn dieser Gedanke quälte. Wie sollte er Aimée beibringen, dass ihre Mutter nicht kommen würde, um Süßigkeiten und ein Kuscheltier mitzubringen, eine kühle Hand tröstend auf ihre Stirn zu legen und ihr leise, liebevolle Worte ins Ohr zu flüstern? Dass sie nicht mit einem gebrochenen Bein im Nebenzimmer liegt und in ein paar Tagen wieder aufstehen und fröhlich über den Flur humpeln würde? Wie ist es überhaupt passiert?, fragte Nela leise. Sie sind in den Sturm gekommen, sagte Josch, Rosanna hat die Kontrolle über den Wagen verloren und ist über die Gegenspur auf die andere Seite geschleudert, gegen einen Baum. Nela sah vor sich, wie der Wagen in Zeitlupe auf den Baum zuschliddert, sich um ihn herumfaltet wie ein Stück Stoff, noch einmal zurückfedert und schließlich zur Ruhe kommt, bis nur noch schreckliche Stille herrscht. Sie wollte weiter fragen, aber sie wagte es nicht. Nela? Bist du noch dran? Ja. Ich habe alle Termine für heute abgesagt und bleibe bei Aimée. Bist du da, wenn ich heute Abend heimkomme?
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Natürlich bin ich da, sagte sie. Kann ich irgendwas tun? Nichts, sagte er. Und dann noch: Ich liebe dich, Nela. Das hatte sie seit ihrer Hochzeit nicht mehr von ihm gehört. Aber das weißt du doch, sagte er jedes Mal verlegen, wenn sie ihn scherzhaft mit der Frage quälte, ob er sie eigentlich liebe. Ja, sie wusste es. Komisch, dass erst jemand sterben musste, bevor er es ihr sagen konnte. Komisch, dass dieser Jemand Rosanna war. Sie hörte seine Stimme noch, als sie die knarzende Holztreppe zu den Büros der Frauen-Film-Firma hochstieg, die sich in einer ehemaligen Textilfabrik befanden. An den Türen hingen noch die alten emaillierten Schilder: Weberei, Spinnerei, Farbbad, Stofflager. Nelas Zimmer lag am Ende eines langen Flurs, einem Hindernisparcours mit Filmdosen und Lichtkoffern, an den Wänden hingen Plakate und Urkunden von Preisen, die sie und ihre Kolleginnen bekommen hatten. Der wertvollste war ein Bundesfilmpreis für eine Dokumentation über deutsche Terroristinnen der Siebzigerjahre. Kaum hatte Nela die Etage der Firma betreten, pfiff Tamara, die Empfangssekretärin, zweimal kräftig durch die Finger, und aus den Räumen kamen ihre Kolleginnen, die Nela beglückwünschen wollten. Vorneweg marschierte Lydia auf waffenscheinpflichtigen Highheels, im hautengen 26
schwarzen Kleid, das rote Haar wie eine lodernde Flamme um den Kopf. Sie schwenkte eine Magnumflasche Champagner und strahlte übers ganze Gesicht. In ihrer frühen Jugend hatte sie öffentlich BHs verbrannt und für Gleichberechtigung demonstriert, später fand sie, der männlichen Übermacht in allen Bereichen sei am besten durch weibliche Penetranz zu begegnen. Sie gründete die Frauen-Film-Firma und lehrte fortan Fördergremien, Redakteure und Kinobetreiber das Fürchten. Für ihre feministischen Weggenossinnen von einst war sie zum Feindbild geworden; sie verübelten ihr nicht nur den Erfolg, sondern auch ihren unkonventionellen Weg dorthin. Mit typisch ›weiblichen Waffen‹ habe sie gekämpft und damit die Sache der Frau verraten. Nur weil ich für Gleichberechtigung bin, muss ich noch lange keine beschissenen Klamotten tragen, pflegte Lydia darauf gelassen zu entgegnen. Sie presste Nela an ihren Busen und drückte ihr einen schmatzenden Kuss auf die Wange. Glückwunsch, Nelly, altes Schlachtross! Du hast uns vor der sicheren Pleite bewahrt, weißt du das eigentlich? Nun übertreib mal nicht, sagte Nela verlegen. Ich übertreibe nicht, sagte sie, uns ist gerade die Themen-Reihe für Arte weggebrochen. Ohne den Affenfilm könnten wir einpacken!
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Nela hatte es längst aufgegeben, Lydia davon abzuhalten, sie Nelly zu nennen und die Schimpansen Affen. Ist das wahr?, fragte sie erschrocken. Ja, es stimmt, bestätigte Karin. Sie war die dritte Teilhaberin und für die Finanzierung der Projekte zuständig. Im Gegensatz zu Lydia trat sie eher zurückhaltend auf, aber wenn es darauf ankam, konnte sie äußerst zäh sein. Das Goodall-Projekt ist unsere Rettung, fuhr sie fort, ich habe schon Interessenten aus Frankreich, England, Dänemark und Holland. Wenn es so weitergeht, kann ich uns nächstes Jahr Urlaubsgeld auszahlen! Inzwischen standen alle strahlend und lachend um Nela herum. Tamara hatte Sektkelche aus der Küche geholt und stellte sie auf dem Empfangstresen in einer Reihe auf. Lydia ließ den Korken der Magnum knallen und schenkte die Gläser ein, ohne abzusetzen. Auf die Retterin der Frauen-Film-Firma, sagte sie und erhob ihr Glas, auf die Affen dieser Welt, und natürlich auf Jane! Danke, sagte Nela, vielen Dank! Um ehrlich zu sein, in den letzten drei Jahren habe ich nicht daran gedacht, dass dieses Projekt finanziell so wichtig für uns werden könnte. Ich habe einfach nur darum gekämpft, meinen ganz persönlichen Traum zu realisieren, und ich werde alles tun, um den Film zu einem Erfolg zu machen! Die Frauen applaudierten, Nela sah in all die glücklichen Gesichter und fühlte sich elend. Wie 28
gern hätte sie die Freude ausgekostet, diesen Moment genossen, auf den sie so lange gewartet hatte. Aber die Bilder des Unfalls in ihrem Kopf ließen sie nicht los. Später, in ihrem Büro, ließ sie sich auf ihren Schreibtischstuhl fallen und schaltete den Computer ein. Auf ihrem Tisch stapelte sich Material über Jane, Texte ihrer Vorträge, Fotos, Bücher. Im Internet klickte sie die Website von Janes Institut an, auf der man ein Video abrufen konnte. Sie hatte es schon unzählige Male angesehen, aber jedes Mal wieder war sie fasziniert von den Bildern aus Afrika und von Janes klarer Stimme, die in sorgfältig artikuliertem Englisch von ihrem Anliegen berichtete. Es ging Jane Goodall längst nicht mehr nur um die Erforschung und Rettung der Schimpansen, sie wollte die Menschen aufrütteln und dazu bewegen, nicht länger sich selbst, die Natur und ihre Mitgeschöpfe zu zerstören. In ihren einfachen Worten klang dieser Appell so zwingend, so folgerichtig, dass Nela nicht verstehen konnte, wie irgendjemand sich ihm entziehen konnte. Bei dem Gedanken, bald mehrere Wochen mit Jane zu verbringen, sie auf einer Reise zu den wichtigsten Stationen ihres Lebens zu begleiten, fühlte sie nun doch so etwas wie Glück. Nela erinnerte sich noch genau an ihre erste Begegnung mit einem lebenden Schimpansen. Es war der Tag ihres neunten Geburtstages, ihr Vater 29
hatte seine Beziehungen spielen lassen und eine Sonderführung im Tierpark organisiert. Natürlich hatte er keine Zeit gehabt, sie zu begleiten, deshalb war sie allein mit ihrer Mutter. Die ekelte sich vor den meisten Tieren, vor ihrem Geruch und ihrem Aussehen; auf hohen Absätzen stakste sie unglücklich durch die Stallungen und Käfige und hielt sich die Nase zu. Nela dagegen war hingerissen. In Begleitung eines Wärters durfte sie einen Elefanten füttern und eine Riesenschlange berühren, sie kam bis auf Armeslänge an einen Löwen heran und kitzelte durch die Gitterstäbe einen Alligator am Kopf, bis er sein Maul auf- und zuklappte. Der Höhepunkt aber war ein Besuch im Affenhaus, wo zwei Schimpansenbabys in Windelhöschen herumturnten, sich in erstaunlicher Geschwindigkeit quer durch den Käfig hangelten und wild an einem aufgehängten Reifen schaukelten. Nela kreischte auf vor Vergnügen, und als hätte einer der Kleinen sie als gleichartiges Wesen erkannt, hangelte er sich zu ihr und sprang auf ihren Arm. Sie hörte ihre Mutter aufschreien, doch ihr war klar, dass sie ihr niemals zu Hilfe gekommen wäre, nicht einmal, wenn ein Tiger sich auf sie gestürzt hätte. Zwischen Entsetzen und Entzücken stand Nela da, spürte die haarigen Ärmchen um ihren Hals und neugierige, ledrige Lippen auf ihrer Wange. Die anderen Besucher lachten und deuteten mit dem Finger auf sie. Nela fühlte sich geschmeichelt durch 30
die Sympathiebekundung des Tieres und war sehr stolz. Später las sie von Jane Goodalls erster Begegnung mit einem Schimpansen, die nicht in einem Zoo stattgefunden hatte, sondern in freier Wildbahn. Jane war einem Schimpansen, den sie wegen seiner grauen Barthaare David Greybeard nannte, schon eine Weile gefolgt. Er hatte seine Scheu vor ihr verloren und ließ sie nahe herankommen. Als Begrüßungsgeschenk bot sie ihm auf der flachen Hand eine Ölpalmenfrucht an, die sie auf dem Boden gefunden hatte. David sah Jane an und ergriff die Frucht, ließ sie aber gleich wieder fallen. Dafür nahm er Janes Hand und hielt sie fest. Jane war überzeugt, dass er ihr mit dieser Geste zeigen wollte, dass er zwar die Frucht nicht wollte, aber wusste, dass sie gute Absichten hatte. Was findest du bloß an den blöden Affen?, fragte ihre Mutter, als Nela auch später immer wieder begeistert von dem Schimpansenbaby erzählte. Schimpansen sind Primaten, erklärte Nela ihr verächtlich, mit denen bist du verwandt. Wenn du sagst, dass sie blöd sind, heißt das, du bist selber blöd. Ihre Mutter schwieg, und Nela spürte befriedigt, dass es ihr gelungen war, sie zu kränken. Ihr leidenschaftliches Interesse für die Schimpansen wurde nach diesem Erlebnis noch heftiger, und als sie älter wurde, trug sie sich zeitweise mit dem Gedanken, ebenfalls Schimpansenforscherin zu werden. Sie fürchtete aber, dass Jane Goodall schon alles erforscht hatte, 31
was in Bezug auf ihre Lieblingstiere herauszufinden war, deshalb gab sie den Plan wieder auf, träumte aber seither davon, Jane eines Tages persönlich zu treffen. Es war fast elf, als Nela endlich die Wohnungstür hörte. Sie sprang vom Sofa auf und lief Josch entgegen. Seine Wangen waren wie von einem grauen Schleier überzogen, seine Augen lagen tief in den Höhlen. Das weiße Hemd, das er am Morgen zuvor gut gelaunt angezogen hatte, war zerknittert und durchgeschwitzt. Sie umarmten sich schweigend. Ich muss unbedingt unter die Dusche, murmelte er. Was zu essen? Er nickte dankbar. Gern, aber mach dir keinen Stress. Wie so oft, wenn er spät nach Hause kam, ging Nela in die Küche, um eine Kleinigkeit für ihn vorzubereiten. Komisch, dachte sie, dass man einfach weitermacht wie vorher, auch wenn gerade etwas Schreckliches passiert ist. Für eine Reportage hatte sie mal eine Familie besucht, deren neunjährige Tochter entführt und ermordet worden war. Der Vater war mit der Todesnachricht nach Hause gekommen, hatte wortlos den Hund gefüttert, den Rasen gemäht, den Abendbrottisch gedeckt. Niemand aus der Familie hatte gewagt, ihn anzusprechen. Als seine Frau das Schweigen durchbrochen und zaghaft das Wort ›und?‹ ausgesprochen hatte, war er weinend 32
zusammengebrochen. Die Frau hatte stumm den Tisch zu Ende gedeckt. Nela setzte sich Josch gegenüber an den Küchentisch. Sie stellte einen Teller mit Mozzarella und Tomatenscheiben vor ihn hin. Josch trug seinen alten, verwaschenen Kimono aus Studentenzeiten, und sie nahm sich vor, ihm zum nächsten Geburtstag endlich einen richtigen Bademantel zu schenken. Er aß schweigend, sie goss Wein nach und reichte ihm den Brotkorb. Als sie damals aus Mexiko zurückgekommen war, hatte sie ihm eine SMS geschrieben: Warum hast du mich zum Abschied nicht geküsst? Er hatte geantwortet: Das frage ich mich seit drei Wochen. Wann kommst du endlich? Und Nela: Sofort, wenn du willst. Sie hatten die Nacht zusammen verbracht und nicht mehr als fünf Sätze gesprochen. Erst später merkte Nela, dass Josch nie besonders viel sprach. Nie wusste sie genau, was in ihm vorging, immer blieb ein Rest Geheimnis um ihn. Als sein Teller leer war, hob er den Kopf. Danke, sagte er und seufzte erleichtert auf, ich hatte seit gestern nichts mehr gegessen. Aimée hat mich nicht weggelassen. Sie hat mich festgehalten und wollte nicht mal, dass ich aufs Klo gehe oder zum Telefonieren. Aber jemand hätte dir was bringen können, sagte Nela. Er zuckte die Schultern. Daran habe ich nicht gedacht. 33
Das ist typisch, dachte Nela halb verärgert, halb gerührt. Josch würde ohne weiteres verhungern, nur um niemandem zur Last zu fallen. Aimée wusste es schon, sagte er plötzlich. Nach dem Unfall war sie noch bei Bewusstsein. Sie hat ihre Mutter sterben sehen. Nela starrte ihn entsetzt an. Sie spricht nicht, fuhr Josch leise fort, ich musste alles aus ihr herausfragen. Sie hat nur genickt und den Kopf geschüttelt. Plötzliches Verstummen durch Schock, man kennt das von Folteropfern und anderen Traumatisierten. Eine Weile schwiegen beide. Schließlich nahm Nela einen großen Schluck Wein und fragte: Was wird jetzt aus ihr? Josch rieb sich das Gesicht. Ihre Großeltern nehmen sie auf, sagte er, die sind rührend, eine richtige italienische Großfamilie mit jeder Menge Tanten und Onkels. Sie betreiben einen Gemüseladen und ein Feinkostgeschäft. Natürlich, die Großeltern, dachte Nela merkwürdig erleichtert. Das Kind ist ja nicht alleine auf der Welt, es hat eine Familie. Spricht sie italienisch?, fragte sie weiter. Wenig, sagte Josch. Rosanna hatte nicht viel Kontakt zu ihren Eltern, ihre Herkunft war ihr peinlich. Aber wieso? Ich habe es nie verstanden, sagte er kopfschüttelnd, die Eltern sind sehr liebe Menschen. Aber Rosanna glaubte, sie wäre zu Höherem bestimmt.
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Nela dachte an Rosannas Bilder, die Landschaftsgesichter und Gesichtslandschaften. Zuerst hatte sie angenommen, Rosanna könnte von ihrer Malerei leben, dann hatte sie erfahren, dass sie außerdem naive, bäuerliche Hinterglasbilder machte und auf Weihnachtsmärkten und Dulten verkaufte. Das war es, was Geld einbrachte, nicht ihre Kunst. Außerdem hatte sie Italienisch an der Volkshochschule unterrichtet, aber ihr Auftreten ließ nie einen Zweifel daran, dass sie sich als Künstlerin fühlte und auch so behandelt werden wollte. Josch wusste nicht, dass Nela und sie sich ein weiteres Mal gesehen hatten. Kurz vor der Hochzeit hatte Nela angerufen und sie um ein Treffen gebeten. Der Gedanke, Josch könnte diese faszinierende Frau immer noch lieben, hatte sie einfach nicht losgelassen. Sie wollte herausfinden, was zwischen den beiden noch war, wenn man so was überhaupt herausfinden kann. Sie trafen sich zum Mittagessen in einer Pizzeria, deren Wirt ein Verwandter von Rosanna war. Mit einem Schwall italienischer Worte, begleitet von kehligem Lachen, begrüßte sie ihn und die Belegschaft. Wieder stand Nela eingeschüchtert daneben; es kam ihr vor, als schrumpfte sie in Rosannas Gegenwart. Ich bestelle für dich, va bene?, fragte Rosanna, und Nela wagte nicht zu widersprechen. Der Wirt fuhr ein köstliches Gericht nach dem anderen auf. Rosanna aß mit sichtlichem Genuss, trank kleine Schlucke Weißwein dazu und forderte 35
Nela auf zuzugreifen. Nelas Magen war wie zugeschnürt. Sie wusste nicht, wie sie das Gespräch beginnen sollte. Plötzlich sah Rosanna sie prüfend an und sagte: Du hast Angst, er liebt dich nicht genug, stimmt’s? Wie kommst du darauf?, fragte Nela überrascht. Ich kenne ihn. Rosanna lächelte wissend und schob eine Gabel mit Auberginen in den Mund. Nachdem sie geschluckt hatte, fuhr sie fort: Er ist … irgendwie nicht zu greifen, und man hat immer das Gefühl, er brauche einen überhaupt nicht, aber man selbst wäre verloren ohne ihn. Das macht einen wahnsinnig. Rosanna lachte kurz auf. Also, mich hat es wahnsinnig gemacht. Nela nickte zustimmend. Ich fühle mich, als müsste ich ständig beweisen, dass ich seiner Liebe würdig bin, gestand sie. Du musst ihm nichts beweisen, erwiderte Rosanna. Du bist die Frau, für die er sich entschieden hat. Er will dich. Du musst nur wissen, ob du ihn auch willst. Weißt du, sagte Nela, manchmal kommt es mir so vor, als wäre er noch nicht bereit für eine neue Beziehung. Als wäre die Geschichte zwischen euch in Wirklichkeit noch nicht vorbei. Sie sah Rosanna direkt ins Gesicht auf der Suche nach einer verräterischen Regung, einem Zucken. Aber Rosanna blieb völlig ruhig. Wir sind seit drei Jahren getrennt, sagte sie. Drei Jahre können lang sein, sagte Nela, oder sehr kurz.
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Rosanna nickte. Du hast Recht. Aber für mich waren sie lang genug. Nela blickte zweifelnd. Und für ihn? Rosanna musterte sie mit schräg gelegtem Kopf und schien zu überlegen. Er würde dich nicht heiraten, sagte sie schließlich, wenn er sich seiner Sache nicht sicher wäre. Klingt nicht gerade nach einer Entscheidung aus Leidenschaft, sagte Nela mit schiefem Grinsen. Ach, weißt du, gab Rosanna tröstend zurück, Ehen, die aus Leidenschaft geschlossen werden, sind nicht die haltbarsten. Und Josch ist sowieso nicht der Typ, der sich Hals über Kopf in ein Abenteuer stürzt. Außer bei dir, dachte Nela und spürte einen Stich Eifersucht. Für dich hat er alles stehen und liegen lassen. Wieder war es, als hätte Rosanna ihre Gedanken gelesen. Schau uns an, sagte sie, wir hatten bestimmt eine leidenschaftliche Beziehung, und trotzdem ist sie gründlich schief gegangen. Vielleicht gerade deshalb. Was war eigentlich der Grund für eure Trennung?, fragte Nela und hoffte, dass die Antwort auf diese Frage alles erklären würde. Das ist schwer zu sagen, murmelte Rosanna ausweichend. Nela sah auf ihren Teller und nahm zwei Bissen. Sie konnte den Gedanken nicht abschütteln, dass Josch sich nur für sie entschieden hatte, weil er
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Rosanna nicht haben konnte, was immer die Gründe dafür sein mochten. Rosanna beugte sich vor und nahm Nelas Hand. Hör zu, sagte sie, Josch war sehr wichtig für mich, und er ist wie ein Vater für mein Kind. Aber unsere Liebesgeschichte ist vorbei. Ich bin sehr froh, dass er dich gefunden hat, mit dir kann er glücklich werden. Wir haben uns gegenseitig nicht glücklich gemacht, wir haben uns zerfleischt. Nela erwiderte dankbar ihren Händedruck. Was Rosanna sagte, entsprach dem, was Josch gesagt hatte – mit fast den gleichen Worten. Sie hatte keinen Grund zu zweifeln. Und trotzdem blieb auch nach diesem Gespräch ein leiser Argwohn in ihr zurück. Woran denkst du? Joschs Stimme holte sie zurück in die Gegenwart, in der es Rosanna nicht mehr gab. Als Nela das bewusst wurde, übermannte sie Traurigkeit. Sie hatte Rosanna wirklich gern gehabt. Wie lange muss Aimée im Krankenhaus bleiben?, fragte sie. Josch zuckte die Schultern. Ein paar Tage? Die äußeren Verletzungen sind nicht schlimm, die werden sicher schnell heilen. Aber danach … Du musst dich jetzt um sie kümmern, sagte Nela energisch, das bist du Rosanna schuldig. Ich weiß nicht, sagte er, die Großeltern würden es als Einmischung empfinden. Ich bin nicht mal verwandt mit Aimée, und bei den Italienern zählt nur die Familie. 38
Ach was, sagte Nela, jetzt kommt es darauf an, dem Kind zu helfen, das müsst ihr gemeinsam tun! Josch trank sein Glas aus und stellte es auf den Tisch zurück. Es ist komisch, sagte er nachdenklich, mein Beruf ist es, Leuten zu helfen, und eigentlich habe ich immer das Gefühl, ich kann es. Diesmal nicht. Ich fühle mich so … hilflos. Du schaffst das, sagte Nela. Wenn es einer schafft, dann du. Die Beerdigung war eine Woche später, aber Nela wollte nicht hingehen. Sie hatte Angst vor Beerdigungen. Jedes Mal entlud sich ihre Anspannung in hysterischem Lachen, gerade dann, wenn es am ergreifendsten war. Als sie Josch davon erzählte, fürchtete sie, er könnte sich im Stich gelassen fühlen, aber fast schien es, als wäre er erleichtert. Mach dir keine Gedanken, sagte er, wenn ich nicht müsste, würde ich selbst nicht gehen. Wird Aimée dabei sein?, fragte Nela. Er nickte. Sie will unbedingt mitkommen. Glaubst du, sie ist stark genug? Nelas ehrlich empfundene Anteilnahme für Aimée war gemischt mit einer selbstquälerischen Neugier, die sie selbst nicht verstand. Ich weiß es nicht, sagte Josch, sie spricht immer noch nicht. Ich habe sie auch noch kein einziges Mal weinen sehen. Wie seltsam, sagte Nela. Sicher versucht sie, tapfer zu sein. Was tust du, um sie zu trösten? 39
Josch sah überrascht auf, als habe er nicht mit ihrer Anteilnahme gerechnet. Na ja, sagte er, ich lese ihr vor, ich spreche mit ihr, ich streichele sie, ich bewache ihren Schlaf. Plötzlich sah Nela ihn vor sich, halb hingestreckt auf dem Krankenhausbett neben Aimée, die sich an ihn schmiegt und seinen Worten lauscht. Es war ein inniges, fast idyllisches Bild. Sie empfand einen Stich Eifersucht, für den sie sich im gleichen Augenblick schämte. Während Rosanna beerdigt wurde, brachte Nela den Mini auf den Schrottplatz. In der Werkstatt hatte man ihr gesagt, die Kosten für die Wiederherstellung des Autos überstiegen seinen Wert um das Anderthalbfache, außerdem sei demnächst wohl mit einem finalen Motorschaden zu rechnen. Es war ihr wehmütig ums Herz, als sie ihre letzte Fahrt antraten, der Mini und sie. Die Frontscheibe war provisorisch geflickt, der Rückspiegel immer noch zersprungen. Vermutlich galt der Wagen nicht mehr als verkehrssicher, und sie hätte ihn abschleppen lassen müssen, aber sie wollte unbedingt noch einmal damit fahren. Unterwegs kamen ihr die Orte in den Sinn, die Josch und sie mit dem Auto besucht hatten. Die Toskana, Amsterdam, Prag. Nie hatte der Mini sie im Stich gelassen, immer war er sofort angesprungen, ein paar Mal hatten sie sich darin geliebt, zweimal sogar darin übernachtet.
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Auf dem Schrottplatz musste sie fünfzig Euro bezahlen. Sie durfte zusehen, wie das kleine, rote Auto in den Fängen eines riesigen Greifers über den Platz schwebte und in der Blechquetsche landete. Das Geräusch des knirschenden Metalls ließ sie zusammenzucken, sie dachte an den Unfall, sah den zerstörten Wagen am Baum. Sie sah den Sarg vor sich, sah Aimée am Grab stehen, zwischen Josch und ihrer Großmutter. Sie sah das Gesicht des Mädchens, das immer größer wurde, ihre dunklen, unergründlichen Augen, aus denen keine Träne floss.
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Zwei Tage nach der Beerdigung fuhr Josch ins Krankenhaus, um Aimée abzuholen. Sie saß in ihrem Zimmer auf dem bereits gemachten Bett und wartete, eine Tasche in der Form eines Teddybären an sich gepresst. Ihr linker Arm war noch verbunden, eine Platzwunde am Haaransatz mit einem Pflaster verklebt. Sie trug dasselbe dunkelblaue Kleid wie bei der Beerdigung; es war zu kurz und schlecht geschnitten, ihre Großmutter hatte es für sie besorgt. Sie starrte auf den Fußboden, Josch wusste nicht, ob sie sein Eintreten überhaupt wahrgenommen hatte. Er setzte sich neben sie, umfasste ihre Schulter und drückte sie an sich. Sanft sagte er: Komm, wir gehen. Die Schwestern, denen sie auf dem Flur begegneten, strichen dem Mädchen über den Kopf oder zogen sie zum Abschied kurz an sich. Josch fuhr langsam und defensiv; als er unerwartet bremsen musste, zuckte Aimée zusammen und klammerte sich mit beiden Händen an den Sitz. Ihre Augen waren angstvoll geweitet. Josch legte beruhigend seine Hand in ihren Nacken. Ihre Haut war feucht von Schweiß. Er fuhr über die Landstraße, die zu Rosannas Haus führte; unzählige Male war er sie gefahren, das erste Mal vor elf Jahren. 42
Rosanna hatte ihn eingeladen, ihre Tochter kennen zu lernen. Er war nervös gewesen wie vor dem Staatsexamen, ihm war klar, dass der Weg zu Rosannas Herz über ihre Tochter führte. Wenn das Kind ihn ablehnte, dachte er, konnte er gleich einpacken. Erst auf der Fahrt kam ihm der Gedanke, dass vielleicht auch er das kleine Mädchen nicht mögen könnte. Er fand Kinder nicht grundsätzlich süß, manche fand er sogar ausgesprochen schrecklich. Es war Mitte März, Reste von Schnee bedeckten die Landschaft, aber die ersten grünen Blättchen sprossen bereits an den kahlen Ästen. Nach einer knappen Stunde Fahrt erreichte er das Dorf. Die Zufahrt zum Haus war schlammig, beim Aussteigen landete er mit seinen frisch geputzten Schuhen im Schmutz. Das Haus war klein, alt und ganz aus Holz. Ein geschnitzter Balkon lief ringsherum, neben der Haustür standen ein schwerer Holztisch und zwei Bänke, die aus halbierten Baumstämmen gemacht waren. Im Bauerngarten blühten ein paar Schneeglöckchen, die ersten Tulpen bohrten sich durch die Erde. Da keine Klingel zu entdecken war, klopfte er an die Haustür. Innen lief Musik, er glaubte, Mozarts Zauberflöte zu erkennen. Komme gleich, hörte er Rosannas Stimme, gleich darauf kamen schnelle Schritte eine Holztreppe hinabgepoltert, und die Tür ging auf. Da bist du ja!, sagte sie strahlend und küsste ihn auf den Mund. 43
Josch folgte ihr in die Küche. An einem Tisch saß das kleine Mädchen, das er vom Foto kannte, und malte mit Wasserfarben. Aimée, das ist Josch, der Freund, von dem ich dir erzählt habe. Die Kleine sah von ihrem Bild auf und musterte ihn prüfend. Sag wenigstens Hallo, forderte Rosanna sie auf Aimée kletterte von der Bank und lief zu ihr, Rosanna ging in die Hocke und umarmte sie. Aus sicherer Entfernung, den Arm um den Hals ihrer Mutter geschlungen, den Daumen im Mund, beäugte das Kind den Besucher. Dann nestelte es an Rosannas Pullover, als wollte es sich darunter verstecken. Rosanna wehrte ab, Aimée fing an zu jammern, und da begriff Josch. Verwirrt sah er zur Seite. Er verstand nicht viel davon, aber das Kind schien ihm entschieden zu groß, um noch gestillt zu werden. Was sollte er sagen, wie sich verhalten? Er setzte sich auf die Bank und ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Die Küche diente offenbar auch als Wohnraum und war ziemlich unordentlich. Auf dem Dielenboden lagen Spielzeug und Bücher, an der Wand stand ein altes Sofa, auf dem Kuscheltiere und Puppen saßen. Auf der Anrichte war alles Mögliche abgelegt, von alten Zeitungen über ein Wollknäuel mit Stricknadeln bis zu einem Topf voller Nüsse. Rosanna hatte ihren Widerstand aufgegeben und Aimée so in den Arm genommen, dass sie trinken konnte. Während das Kind nuckelte, bog es den 44
Kopf nach hinten und sah Josch unverwandt an, als wollte es ihm zu verstehen geben, dass dies sein Terrain war und er unerwünscht. Josch wich seinem Blick aus. Gleich darauf hörte es auf zu saugen, richtete sich auf und zog den Pullover seiner Mutter mit einer heftigen, fast herrischen Bewegung wieder herunter. Rosanna lächelte entschuldigend, und er senkte verlegen den Blick. Der Wechsel von der begehrenswerten Frau zur stillenden Mutter verwirrte ihn, auf ein solches Erlebnis war er nicht gefasst gewesen. Aber eines war klar: Wenn er die Mutter wollte, müsste er auch das Kind wollen. Soll ich uns was kochen?, schlug Rosanna vor und begann, mit Küchengeräten zu hantieren. Hier, sagte sie und schob ihm ein Holzbrettchen mit einer Zwiebel und einem Messer hin, ganz klein, bitte! So gut Josch konnte, schnitt er die Zwiebel in Stücke. Seine Augen tränten. Das erregte Aimées Aufmerksamkeit, sie deutete mit dem Finger auf sein Gesicht. Bist du traurig?, fragte sie neugierig. Nein, erklärte er, die Zwiebeln beißen in den Augen. Dann beiß doch zurück!, sagte sie und lachte. Josch musste lächeln, Rosanna fuhr ihrer Tochter mit der Hand durch die Locken. Kleine Klugscheißerin, sagte sie zärtlich. Geht sie schon in den Kindergarten?, fragte Josch. Frag sie doch selbst! 45
Er genierte sich ein wenig, trotzdem fragte er Aimée: Gehst du schon in den Kindergarten? Sie sah ihn mit schräg gelegtem Kopf an, ihr Ausdruck erschien ihm fast ein wenig spöttisch, so als hätte er eine ziemlich dumme Frage gestellt. Klar, ich bin doch schon drei! Entschuldige, sagte Josch, das wusste ich nicht. Aimée wandte sich wieder ihrem Bild zu. Josch betrachtete die farbigen Streifen und Wellen. Was malst du da?, versuchte er die Unterhaltung fortzusetzen. Sie blickte auf. Was siehst du? Na ja, ich sehe Streifen, sagte er, aber was sie zu bedeuten haben, das musst du mir erklären. Bilder muss man nicht erklären, stellte Aimée fest und wandte sich wieder ihrem Werk zu. Also, zeig her, sagte er und rückte näher zu ihr hin. Ich sehe eine Wiese mit Blumen und einem Pferd darauf, und darüber scheint die Sonne. Und das da sind zwei Vögel. Verblüfft sah Aimée ihn an. Woher weißt du das? Das sehe ich. Sie schwieg und schien zu überlegen, wie Josch mehr auf dem Bild sehen konnte, als sie gemalt hatte. Und, habe ich Recht? Sie nickte widerstrebend. ›Ich brech’ die Herzen der stolzesten Frauen‹, trällerte Rosanna lächelnd. Sie stellte eine Schüssel Spaghetti und einen Topf mit einer würzig duftenden Tomatensoße auf den Tisch.
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Greif mal hinter dich, bat sie, in der Schublade ist Besteck. Josch verteilte drei Gabeln und hielt die Teller hoch, damit Rosanna die Spaghetti auftun konnte. Die Selbstverständlichkeit der Situation berührte ihn. Es war, als hätten sie immer schon in dieser Küche gemeinsam zu Mittag gegessen. Josch fühlte sich, wie er sich bisher noch nirgends gefühlt hatte: Er fühlte sich zu Hause. Beim Essen fragte ihn Aimée: Was siehst du jetzt? Ich sehe ein kleines Mädchen mit einem großen, roten Mund, antwortete Josch. Neugierig sprang sie auf und lief aus der Küche. Dann kam sie zurück, die Tomatensoße mit dem Handrücken verwischend. Du hast gar nichts Besonderes gesehen, sagte sie enttäuscht. Was hätte ich denn sehen sollen?, fragte er. Einen Clown, natürlich. Nach dem Essen brachte Rosanna Aimée zum Mittagsschlaf in ihr Zimmer. Solange sie weg war, spülte Josch das Geschirr ab. Espresso?, bot sie an, und er nickte. Die teure, neue Espressomaschine passte nicht in die ansonsten eher einfach ausgestattete Küche. Ein Geschenk meiner Eltern, erklärte Rosanna, sie konnten den Gedanken nicht ertragen, dass ich mir keinen anständigen italienischen Kaffee machen kann!
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Josch nahm sich vor, beim nächsten Mal Espressobohnen mitzubringen, die waren teuer, und Rosanna war immer knapp bei Kasse. Mit einer nachlässigen Bewegung schob sie die Tiere und Puppen zur Seite und ließ sich aufs Sofa fallen. Komm her, sagte sie lächelnd und wies auf den Platz neben sich. Sie tranken den Espresso und stellten die Tassen ab. Rosanna zog die Füße aufs Sofa und lehnte sich an Josch. Wie findest du sie? Aimée? Erstaunlich, sagte er. Erstaunlich? Na ja, sie ist eine ausgeprägte Persönlichkeit. Rosanna lachte auf. Kann man wohl sagen! Aber sie gefällt mir, sagte Josch, ich mag eigenwillige Frauen. Rosanna zog sein Gesicht mit beiden Händen zu sich heran. Ihr Kuss schmeckte süß und nach Kaffee, ihre Hände knöpften sein Hemd auf, und es störte ihn überhaupt nicht, dass es auf dem staubigen Küchenboden landete. Sie hatten das Haus erreicht. Josch hielt an und blieb sitzen. Auch Aimée machte keine Anstalten auszusteigen. Er lehnte sich zu ihr, legte die Hand auf ihre Schulter, die sie abwehrend hochgezogen hatte. Ich weiß, dass es schwer für dich ist, sagte er, aber es muss sein.
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Aimée rührte sich nicht. Wie erstarrt saß sie da, den Blick nach unten gerichtet. Josch stieg aus und ging um den Wagen herum. Er öffnete die Beifahrertür und wartete. Aimée bewegte sich nicht. Er beugte sich zu ihr herunter. Wir packen nur das Nötigste ein, sagte er, alles andere hole ich später. Er nahm ihre Hand und zog sie sanft aus dem Auto. Kraftlos stand sie da, als würden ihr gleich die Beine versagen, und so legte er stützend den Arm um ihre Hüfte. Langsam gingen sie auf das Haus zu. Josch schloss die Haustür auf, und sie traten ein. In der Küche herrschte das vertraute Durcheinander; alles sah aus, als hätte Rosanna nur eben kurz den Raum verlassen. Er sah sich um, es hatte sich wenig verändert. Nur eine neue Spülmaschine stand neben dem Herd. Die Luft war stickig, er öffnete das Fenster. Dann entdeckte er den Mülleimer, zog die Tüte heraus und verknotete sie. Aimée stand regungslos da. Willst du von hier was mitnehmen? Sie bewegte langsam den Kopf hin und her. Lass uns raufgehen, sagte er und nahm sie am Arm. Mit jeder Treppenstufe wurde sie langsamer, oben angekommen, verbarg sie ihr Gesicht an seiner Schulter. Er hielt sie fest und wartete, bis sie sich beruhigt hatte. Sein Blick fiel durch die geöffnete Schlafzimmertür. Über einem Stuhl hingen Kleidungsstücke von Rosanna, am Boden ein Paar 49
schwarze Spangenschuhe mit elegantem Absatz, die er vor einiger Zeit noch an ihr gesehen hatte. Vorsichtig schob er Aimée in Richtung ihres Zimmers. Als sie es mit steifen Schritten erreicht hatte, sah sie sich ratlos darin um. Lass dir Zeit, sagte Josch. Wie von unsichtbarer Hand gezogen, ging er ins Schlafzimmer. An der Wand lehnte ein Bild, dessen Wirkung außerhalb des Ateliers Rosanna wohl hatte prüfen wollen. Ihr Duft hing noch in der Luft, eine eigenwillige Mischung aus Rosmarin, warmer Haut und Ölfarbe, die er von Anfang an geliebt hatte. Das Bett war ungemacht, die Decke halb auf den Boden gerutscht. Die Falten im Laken zeigten, wo sie gelegen hatte. Josch trat näher und strich mit der Hand darüber; fast glaubte er, ihre Wärme zu spüren. Ein langes, dunkles Haar kringelte sich auf dem Kopfkissen. In ein paar Tagen würde er noch mal zurückkommen und alles ausräumen müssen. Es waren bereits Nachmieter für das Haus gefunden. Josch hatte mit dem Eigentümer vereinbart, dass Rosannas Bilder vorerst im Schuppen bleiben könnten, bis geklärt wäre, was mit ihnen geschehen sollte. Er griff auf den Schrank und holte einen Koffer herunter, den er Aimée in ihr Zimmer brachte. Sie ging planlos herum, nahm Gegenstände in die Hand und legte sie wieder weg.
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Ich helfe dir, sagte Josch, nahm ihren Wecker, ihre Schultasche und ihre Kuscheltiere und legte alles in den Koffer. Such du die Kleider raus, sagte er, und deine Bücher und CDs. Während Aimée Bügel hin und her schob, legte er ein gerahmtes Foto, das auf dem Nachttisch gestanden hatte, mit dem Glas nach unten zu den Plüschtieren. Aimée drehte sich zu ihm und hielt eine bestickte Jeansjacke hoch, die ihr viel zu klein war. Weißt du noch?, schien ihr Blick zu fragen. Josch nickte lächelnd. Sie hatten die Jacke auf einer ihrer Italienreisen gekauft, auf einem Trödelmarkt in der Nähe von Bologna. Aimée betrachtete nachdenklich die bunten Stickereien, dann hängte sie die Jacke wieder in den Schrank. Stück für Stück nahm sie ihre Kleidungsstücke in die Hand und betrachtete sie. Die meisten legte sie wieder zurück, als würden sie nicht mehr zu ihr gehören. Es war, als nähme sie Abschied. Von ihrer Kindheit, ihrer Mutter, ihrem ganzen bisherigen Leben. Josch konnte es nicht länger mit ansehen. Ich warte unten auf dich, sagte er, und sie nickte ihm flüchtig zu. Er setzte sich in die Küche und lauschte auf die Geräusche aus dem oberen Stockwerk, die Schritte, das Öffnen und Schließen von Schranktüren, das Aufziehen und Zuschieben von Schubläden.
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Gleich, dachte Josch, gleich geht die Tür auf, und Rosanna ist wieder da. Seine Brust krampfte sich zusammen. Nachdem er Aimée bei ihren Großeltern abgeliefert hatte, fuhr Josch nach Hause. Immer wieder sah er den Abschiedsblick des Mädchens vor sich, einen Blick so voller Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung, dass er es am liebsten sofort wieder mitgenommen hätte. Er wusste, dass Aimée dort nicht bleiben wollte, sie kannte ihre Großeltern ja kaum. Gleichzeitig aber waren sie jetzt ihre einzigen Angehörigen, und Rosanna hätte sich diese Lösung gewünscht. Als er die Wohnungstür aufschloss, kam Nela ihm entgegen. Wie geht’s dir?, fragte sie Anteil nehmend. Beschissen, sagte er knapp. Nela wollte ihn umarmen, er entzog sich und flüchtete in die Küche. Geräuschvoll kramte er im Schrank, goss sich einen Cognac ein und kippte ihn runter. Dabei versuchte er, die Tränen zu unterdrücken. Nach einer Weile ging Nela ihm nach. Ist alles okay?, fragte sie. Er nickte. Ja. Tut mir leid. Kein Problem, sagte Nela, und nach einer Pause: Spricht Aimée eigentlich wieder? Er musste sich räuspern, um den Kloß in seinem Hals loszuwerden. Nein, antwortete er. Ich frage mich, wie das bei ihren Großeltern werden soll. Als ich gegangen bin, 52
hat sie mich angesehen, als hätte ich sie zum Tode verurteilt. Dabei hat Sergio ihr ein Zimmer voller Spielsachen hergerichtet, alles Dinge, die früher Rosanna gehört haben. Und Clara hat gekocht wie für eine große Feier. Sie haben ihre Tochter verloren, jetzt ist die Enkelin ihr einziger Trost. Hoffentlich verkraftet Aimée das alles, sagte Nela zweifelnd. Sie wird schon darüber hinwegkommen, sagte Josch, als wollte er sich selbst gut zureden, schließlich ist sie nicht das einzige Kind, das seine Mutter verloren hat. Natürlich nicht, sagte Nela, aber sie fühlt sich so. Ich weiß, sagte er und ließ sich kraftlos auf einen Stuhl fallen. Seit dem Unfall war er täglich mehrmals zwischen dem Krankenhaus und seiner Kanzlei hin und her gehetzt, hatte bis spät in die Nacht gearbeitet, zu wenig geschlafen, kaum gegessen. Du brauchst dringend Erholung, sagte Nela, lass uns ein paar Tage an den Kochelsee fahren! Dort gab es eine kleine Pension mit grünen Fensterläden, wildem Wein, Zimmern mit luftigen Vorhängen und einem Kruzifix über dem Bett. Nela wollte im Garten unter einem Baum sitzen oder um den See spazieren. Und abends Bier aus Steinkrügen trinken und schwer verdauliche Mahlzeiten essen. Ich kann jetzt keinen Urlaub nehmen, wehrte Josch ab, in der Kanzlei ist zu viel liegen geblieben. Nur zwei, drei Tage, bettelte sie.
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Du denkst immer, Wegfahren wäre eine Lösung, sagte er und schüttelte den Kopf. Seit ich dich kenne, bin ich so viel weggefahren, wie in meinem ganzen Leben nicht. Aber Wegfahren i s t eine Lösung, sagte Nela. Wegfahren schafft Distanz, man sieht die Dinge mit anderen Augen, Probleme relativieren sich. Ich bin immer für eine Weile weggefahren, wenn es schwierig wurde, und immer war es leichter, wenn ich zurückkam. Man kann nicht vor allem flüchten, sagte Josch. Ich will nicht flüchten, verteidigte sie sich, du fehlst mir nur so. Du mir auch, sagte Josch, und sein Blick ging endlich nicht mehr durch sie hindurch. Bei ihrer Ankunft am Kochelsee regnete es. Sie packten aus und hängten die nassen Sachen über Stühle und Bettpfosten. Die nette Pensionswirtin, die sonst immer kochte, war übers Wochenende bei einer kranken Tante. Ihr muffiger Mann empfahl ihnen den Seewirt. Es war noch zu früh fürs Abendessen. Nela zog Josch zu sich aufs Bett und schmiegte sich an ihn. Sie schliefen beide ein, bevor ihnen auch nur einfallen konnte, miteinander zu schlafen. Als Nela aufwachte, hörte sie eine Stimme aus dem Bad. Schlaftrunken stand sie auf und öffnete die Tür, Josch saß auf dem Badewannenrand und telefonierte. Sie schloss die Tür und ging wieder ins Bett. Sie hatten sich versprochen, die Handys nicht zu benutzen. 54
Seit ihrem letzten Besuch waren die Zimmer mit Fernsehern ausgestattet worden. Nela griff zur Fernbedienung und zappte ohne Ton ein bisschen herum. Nachrichten, Werbung, Vorabendschrott. Dümmliche, geschminkte Gesichter, die wichtigtuerisch die Münder bewegten. Unbegreiflich, dass Menschen ihre wertvolle Lebenszeit damit verschwendeten, sich solchen Müll anzusehen. Josch kam aus dem Bad. Ich musste dringend mit Pit sprechen, sagte er schnell, wie um ihrer Frage zuvorzukommen. Pit war sein Partner in der Kanzlei. Kannst du mal zwei Tage nicht an andere denken, sondern nur an dich und mich?, fragte Nela, und ihre Stimme klang gereizt. Tut mir leid, sagte Josch schuldbewusst und küsste sie auf die nackte Schulter. Er zog ihren Kopf zu sich, suchte ihren Mund mit seinem. Abrupt entwand sich Nela seiner Umarmung. Was war damals eigentlich schlimmer für dich, fragte sie unvermittelt, die Trennung von Rosanna oder die Trennung von Aimée? Josch sah sie überrascht an, dann richtete er den Blick in die Ferne, als läge dort die Antwort auf ihre Frage. Warum willst du das wissen? Weil es mich interessiert. Ich kann das nicht beantworten. Warum nicht? Weil ich es nicht weiß.
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Hier geht’s nicht um Wissen, sagte Nela, hier geht’s um Gefühle. G-e-f-ü-h-l-e, schon mal was davon gehört? Josch schwieg. Er konnte sehr ausdauernd schweigen, wenn ihm ein Thema nicht gefiel. Ich sage es dir, sagte Nela energisch, es war die Trennung von Aimée. Woher willst du das wissen? Josch fühlte sich sichtlich ertappt. Als wir uns kennen lernten, hast du mir zuerst von ihr erzählt. Du hast nicht von deinem Beruf gesprochen, nicht von Rosanna, nicht von eurer Trennung, sondern von Aimée. An unserem ersten Abend in dieser Bar hast du fast nur von ihr erzählt. Was sie am liebsten isst, was du ihr zum Geburtstag geschenkt hast, wie sie aussieht, wie sie geweint hat, als du ausgezogen bist. Ich dachte die ganze Zeit, sie wäre deine Tochter. Sie i s t meine Tochter, sagte er. Es ist egal, ob man ein Kind gezeugt hat oder nicht, wenn man es liebt. Nela fühlte einen Stich. Sie fragte sich, was zukünftig schwerer für sie zu ertragen wäre: seine Liebe zu Aimée oder seine Liebe zu Rosanna. Und dann dachte sie: Wie gut, dass ich sie wirklich gemocht habe. Sonst wäre ich womöglich froh, dass sie tot ist. Es hatte aufgehört zu regnen. Nela sprang aus dem Bett und lief ans Fenster. Lass uns essen gehen, sagte sie.
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Hand in Hand spazierten sie am See entlang. Ein paar Enten flatterten auf, als sie einen Steg betraten, der durch das Schilf hindurch in den See führte. Sie setzten sich nebeneinander auf das feuchte Holz und sahen ins Wasser, das an dieser Stelle ganz flach war. Am Grund lagen bemooste Steine und ein Autoreifen, von einem Schwarm kleiner Fische umringt. Die Abendsonne schien nach dem Regen besonders kräftig und ließ das Wasser aufleuchten. Nela lehnte sich an Joschs Schulter und schloss die Augen. Was für ein seltsamer Mensch er ist, dachte sie. Sie kannte niemanden, der sich so sehr für andere einsetzte und dabei gleichzeitig so unbeteiligt wirken konnte. Ihr war schon der Gedanke gekommen, dass er mit seinem Engagement womöglich seine Gefühllosigkeit bekämpfte. Vielleicht waren ihm fremde Menschen in Wahrheit gleichgültig, und weil er das nicht ertrug, setzte er sich bis zur Erschöpfung für sie ein. Im Seewirt bestellten sie Fassbier und Schweinebraten, und obwohl Nela wusste, dass sie wahrscheinlich Albträume kriegen würde, aß sie beide Knödel auf. An den Nebentischen saßen fröhliche Reisegruppen und Familien mit Kindern. Die Kellnerinnen trugen Dirndl und Gesundheitssandalen, sie konnten fünf Maßkrüge
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in jeder Hand stemmen und sprachen alle Gäste mit Du an. Alles war ganz normal, und Nela erzählte endlich von den bevorstehenden Dreharbeiten mit Jane. Und in vier Wochen geht’s los!, sagte sie am Schluss und sah Josch erwartungsvoll an. Er schwieg und betrachtete die Tischplatte. Freust du dich denn nicht für mich? Natürlich freue ich mich, sagte er und sah alles andere als erfreut aus. Aber? Na ja, ich dachte … Was?, fragte Nela ungeduldig. Josch sah auf. Willst du wirklich den Rest deines Lebens durch die Weltgeschichte rasen? Schließlich bist du zweiunddreißig, allmählich könntest du doch wirklich zur Ruhe kommen, findest du nicht? Verständnislos sah Nela ihn an. Du meinst, ich soll zu Hause bleiben und deine Wäsche waschen? Nein, natürlich nicht. Ich meine nur, es gibt nichts mehr, wovor du weglaufen musst. Du könntest einfach mal da bleiben! Nela war perplex. Was war los mit Josch? Er hatte noch nie versucht, sie von einem Film abzuhalten oder Einfluss auf ihre beruflichen Entscheidungen zu nehmen. Sie schrieb es seiner Erschöpfung zu. Vielleicht wünschte er sich einfach, in dieser schwierigen Zeit nicht alleine zu sein. Aber ich fahr doch erst in einem Monat, sagte sie tröstend. Und für wie lange? 58
Na ja, vier bis sechs Wochen können es schon werden. Josch blickte stumm auf den Tisch und schob zwei Bierdeckel hin und her. Er entschuldigte sich und ging zur Toilette. Als er nach zehn Minuten nicht zurück war, stand Nela auf und steuerte die breite Steintreppe an, die zu den Toiletten hinunterführte. Er stand mit dem Rücken zu ihr in einer Nische, das Handy am Ohr, und bemerkte sie nicht. Nela ging zum Tisch zurück. Als er dann kam, hatte er einen abwesenden Ausdruck auf dem Gesicht. Mit wem hast du telefoniert? Ich hab nur meine Mailbox abgehört. Willst du Nachtisch? Er reichte Nela die Speisekarte. Danke, keine Lust mehr, sagte sie. Ich auch nicht, sagte Josch und legte die Karte zur Seite. Auch in dieser Nacht machte Josch keinen Versuch, mit ihr zu schlafen; Nela hatte das Gefühl, er wäre sehr weit weg von ihr. Eine Weile lagen sie Bauch an Rücken, aber als Nela kurz vor dem Wegdämmern war, rollte sie sich auf ihre Seite. Jedes Mal wenn sie nachts aufwachte, hörte sie, wie Josch sich unruhig hin und her warf Gegen halb sechs war es dann hell im Zimmer. Sie hatten vergessen, die Fensterläden zu schließen. Leise stand Nela auf und ging aufs Klo. Auf dem Rückweg fiel ihr Blick auf Joschs Kleider, die über 59
einer Stuhllehne hingen. In der Brusttasche seiner Jacke steckte das Handy. Nela tat vor sich selbst so, als hätte sie es nicht gesehen. Draußen ging gerade die Sonne auf, sie trat ans Fenster und blinzelte ins Licht. Als sie sich umdrehte, blickte sie wieder auf das Telefon. Mit zwei Schritten war sie am Stuhl und griff danach. Schon wach?, hörte sie Joschs verschlafene Stimme und zog schnell die Hand zurück. Eigentlich nicht, sagte sie und ging wieder ins Bett. Josch streckte den Arm nach ihr aus. Komm, brummte er, und sie rutschte rückwärts zu ihm, bis sie sein erigiertes Glied an ihrem Po spürte. Sie krümmte die Knie und bog sich ihm entgegen. Danach schliefen sie wieder ein, er noch in ihr. Was wollen wir heute machen?, fragte Josch beim Frühstück in so aufgesetzt munterem Tonfall, dass Nela um ein Haar vorgeschlagen hätte, lieber gleich nach Hause zu fahren. Aber so schnell wollte sie nicht aufgeben. Wir könnten ein Boot mieten, schlug sie vor, allein auf dem Wasser, nur du und ich, was hältst du davon? Josch hob die Hand zu einer imaginären Kapitänsmütze, und wenig später ruderten sie in einem mahagonifarbenen Holzboot über den See, genauer gesagt: Josch ruderte, und Nela streckte ihr Gesicht mit geschlossenen Augen der Sonne entgegen. Später löse ich dich ab, versprach sie träge. 60
Die sanften Bewegungen des Bootes machten sie schläfrig. Traumbilder tauchten auf, helle, leichte Sommerszenen, in denen sie sich selbst als Kind sah, zuerst in einer Wiege unter einem Baum, dann in einer Hängematte. Sie hörte entferntes Lachen und Rufen, dann war da das Gesicht ihrer Mutter, in lauter Scherben zerfallen, die nicht mehr richtig zusammenpassten. Darf ich dich was fragen? Nela schreckte hoch. Klar, sagte sie und schob die Sonnenbrille in die Stirn. Wie stellst du dir dein Leben in zehn Jahren vor? In zehn Jahren? Keine Ahnung. Eigentlich so, wie jetzt. Oder wir ziehen ins Ausland, irgendwohin, wo es warm ist! Und wo ich arbeitslos sein werde, sagte Josch trocken. Du könntest ja was anderes machen, sagte Nela, eine Strandbar oder einen Surfbrett-Verleih. Sehr verlockend. Spöttisch hob Josch eine Augenbraue. Wie stellst du dir denn dein Leben in zehn Jahren vor?, fragte sie zurück. So wie jetzt. Mit dir. Vielleicht mit Kindern. Kinder?, fragte Nela. Na ja, sagte Josch, Kinder kommen, wann sie wollen. Und gehen, wann sie wollen. Ach so, sagte Nela, ich dachte immer, man hätte einen gewissen Einfluss darauf. Josch lächelte. Ich meine das in einem metaphysischen Sinn. Was ist mit dir, möchtest du nicht irgendwann Mutter sein? 61
Nela verzog das Gesicht. Ehrlich gesagt, mir reicht es vollauf, eine Mutter zu haben. Josch ruderte plötzlich schneller, mit kräftigen, fast wütenden Bewegungen. Hör mal, sagte sie plötzlich und berührte seinen Arm, sodass er in der Ruderbewegung innehielt, ich reise übrigens nicht, um nicht bei dir zu sein. Ich reise, um bei m i r zu sein. Verstehe ich nicht, sagte er, warum kannst du das nicht zu Hause? Weil man in der Fremde sein muss, um sich selbst wahrzunehmen. In meiner vertrauten Umgebung bin ich immer Teil dieser Umgebung und verschwimme mit ihr. Erst wenn um mich her alles fremd ist, kann ich erkennen, wer ich bin. Sehr schön, sagte er, auch wenn ich es nicht verstehe. Macht nichts, sagte sie. Er nahm die Ruderbewegung wieder auf, und sie schwiegen. An der anderen Seite des Sees, bei einer idyllischen Gartenwirtschaft, legten sie an und vertäuten das Boot. Nela bestellte einen Salat mit warmem Ziegenkäse, Josch einen Kaiserschmarrn mit Apfelkompott. Die Fliegen surrten um sie herum, und obwohl sie einen Platz im Schatten hatten, war es heiß und drückend. Lass uns gehen, bat Nela, als sie aufgegessen hatten. Josch zog den Geldbeutel aus seiner Gesäßtasche und schob ihn ihr zu. 62
Zahl schon mal, bat er, stand auf und ging ins Innere des Gasthauses. Die Jacke mit dem Handy hing über seinem Stuhl. Ohne zu überlegen, griff Nela hinüber. Wiederholungstaste. Cardello, las sie auf dem Display. Aimées Großeltern. Am nächsten Tag fuhren sie bereits mittags ab, obwohl es dafür keinen Grund gab. Aber Nela spürte Joschs Unruhe, und es erschien ihr sinnlos, einen weiteren Tag zu vertrödeln. Schweigend saß sie im Wagen neben ihm. Kurz bevor er in ihre Straße einbog, sagte sie: Komm schon, fahr zu ihnen. Es lässt dir doch keine Ruhe. Dankbar, als hätte er auf diesen Vorschlag gewartet, sah Josch sie an. Du hast Recht. Kommst du mit? Ich weiß nicht, sagte sie plötzlich unsicher. Ich möchte, dass du mitkommst, entschied er und bog bei der nächsten Gelegenheit ab. Er fuhr in ein ruhiges Viertel mit Einfamilienund Reihenhäusern am südlichen Stadtrand. Vor einem einfachen, älteren Haus parkte er. Als sie das Gartentor öffneten, kam ihnen Aimées Großvater entgegen, ein untersetzter Mann Anfang sechzig mit einem Schnurrbart. Er begrüßte Josch mit einer Umarmung und nahm Nelas Hand in seine. Josch stellte sie einander vor.
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Nela, wiederholte Sergio ihren Namen, was bedeutet das? Cornelia, erklärte sie. Als Kind konnte ich meinen Namen nicht aussprechen. Kommt mit nach hinten, bat er, wollt ihr was trinken? Sie folgten Sergio über den Rasen zur Terrasse, wo sie von Rosannas Mutter und zwei weiteren Verwandten begrüßt wurden. Man sah, dass Clara gerade geweint hatte. Sie wischte sich mit einem Tuch über das Gesicht und steckte es anschließend in den Ärmel ihrer Bluse. Ach, Josch, seufzte sie und umarmte ihn ebenfalls. Wo ist Aimée, fragte Josch, wie geht es ihr? Die Mienen verdüsterten sich. Nicht gut, sagte Sergio, gar nicht gut. Sie liegt den ganzen Tag im Bett und spricht nicht. Sie isst auch nicht, ergänzte Clara. Stimmt nicht, widersprach ihr Mann, sie isst wenig, aber du kochst zu viel. Clara begann erneut zu weinen. Was kann ich denn sonst tun?, schluchzte sie. Josch und Nela wechselten einen Blick. Kann ich zu ihr?, fragte Josch. Natürlich, erwiderte Sergio und sah Josch nach, als er ins Haus ging. Sein Blick verriet Hilflosigkeit und Verzweiflung. Nela fühlte sich unbehaglich. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, und war dankbar, als Sergio das Wort an sie richtete. Haben Sie Rosanna gekannt? 64
Nicht sehr gut, antwortete Nela. Sie hätte bei Josch bleiben sollen, dann wäre es vielleicht nicht passiert, sagte Clara. Nela sah sie überrascht an, aber Claras Gesicht verriet keinerlei Berechnung. Sie war offenbar ganz in ihrer Trauer gefangen, ganz in den quälenden Gedanken, die alle mit einem Was-wäre-gewesenwenn beginnen und ins Leere führen. Es tut mir so leid, sagte Nela hilflos. Nach ungefähr einer Viertelstunde kehrte Josch zurück. Er sah niemanden an. Und, hast du etwas erreicht?, fragte Sergio. Hat sie mit dir gesprochen? Nein, sagte Josch. Am besten, ihr lasst ihr Zeit. Auch ein Kind hat das Recht auf Trauer. Clara nickte nachdenklich. Wir drängen zu sehr, sagte sie in Richtung ihres Mannes, wir sollten geduldiger sein. Josch tätschelte mitfühlend ihre Hand. Ihr seid wunderbare Menschen, du und Sergio. Aimée wird eines Tages sehr froh sein, dass sie euch hat. Hoffentlich, seufzte Clara und wischte wieder ein paar Tränen weg.
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Es
war zwei Uhr nachts. Das Klingeln des Telefons hatte Nela aus dem Schlaf gerissen. Benommen angelte sie nach dem Hörer. Wer ist da? Schweigen. Mama, bist du das? Schweigen. Was willst du?, fragte sie eisig. Nela sprach seit ihrer Hochzeit nicht mehr mit ihrer Mutter. Es gab gute Gründe dafür, und sie hatte keineswegs die Absicht, daran etwas zu ändern. Wie geht’s dir, mein Liebes?, hörte sie nun tatsächlich ihre Stimme. Du rufst mich nach einem Jahr mitten in der Nacht an, um mich zu fragen, wie’s mir geht? Ist es schon so spät? Es ist zwei Uhr, sagte Nela gereizt, und ich muss morgen früh raus. Gute Nacht. Warte, leg nicht auf! Mama, ich habe dir gesagt, du sollst mich mit deinen nächtlichen Anrufen verschonen. Wenn du mit mir reden willst, dann ruf mich an, wenn du klar im Kopf bist, verstanden? Mit einem Knopfdruck beendete sie das Gespräch und legte sich wieder zurück. 66
Josch war aufgewacht und sah sie fragend an. Deine Schwiegermutter, sagte sie finster. Sieh mal an, sagte Josch, die wilde Marianne. Was wollte sie denn? In diesem Moment klingelte das Telefon wieder. Nela ließ es klingeln. Der Anrufbeantworter schaltete sich geräuschvoll ein, die Nachricht wurde aufgezeichnet, ohne dass man sie hörte, dann spulte das Band zurück. Gleich darauf klingelte es wieder. Nela begriff, dass ihre Mutter sie den Rest der Nacht terrorisieren würde. Sie griff nach dem Telefon und fauchte: Lass mich in Ruhe, verdammt noch mal! Ich habe bald Geburtstag. Na und? Es ist mein sechzigster. Wahrhaftig ein Anlass zum Feiern, sagte Nela sarkastisch. Ich möchte euch einladen, dich und Josch. Verdammt, dachte Nela erschöpft, warum kann sie nicht einfach aus meinem Leben verschwinden? Danke, sagte sie matt, wir überlegen es uns. Sie beendete die Verbindung und zog den Telefonstecker aus der Wand. Dann legte sie sich wieder neben Josch und starrte in die Dunkelheit. Sie feiert ihren sechzigsten und hat uns eingeladen. Josch lachte auf. Und sie glaubt wirklich, dass wir kommen?
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Nela wandte ihm das Gesicht zu. Sein Profil zeichnete sich undeutlich gegen den dunklen Hintergrund ab. Das heißt, du würdest nicht mitgehen? Er drehte den Kopf in ihre Richtung. Nein. Aber geh du ruhig hin. Warum sollte ich? Findest du es nicht ziemlich anstrengend, sie zu hassen? Sie zu lieben war noch viel anstrengender, sagte Nela seufzend. Du musst sie nicht lieben, erwiderte Josch. Es reicht, wenn du sie einfach nimmst, wie sie ist. Nela schüttelte den Kopf. Ich glaube nicht, dass ich das jemals schaffe. Na, dann lass dich weiter quälen, sagte Josch und küsste sie flüchtig. Wenig später hörte Nela seine ruhigen Atemzüge. Zwei schmale Lichtstreifen fielen durch die Ritzen der Jalousie und zogen sich wie die Gleise einer Spielzeugeisenbahn über die Wand und die Decke. Manchmal, wenn sie nicht einschlafen konnte, stellte Nela sich vor, dass sie in einem winzigen Waggon auf den Lichtgleisen in den Himmel führe wie der kleine Hävelmann. Früher, in ihrem Kinderzimmer, hatte das Licht merkwürdige Inseln an die Wand geworfen; damals hatte sie sich ausgemalt, wie sie auf einer von ihnen davonschwimmen würde, auf einem sanft dahinfließenden Fluss, der sie in fremde Länder trüge, wo die Menschen freundlich lächelten und ihr zur Begrüßung bunte Fische schenkten. 68
Einmal, sie musste acht oder neun gewesen sein, baute sie mit Hansi, dem Sohn der Haushälterin, ein Floß aus Luftmatratzen und Besenstielen, die sie mit Paketschnur vertäuten. Hansi klaute den Kinderwagen seines kleinen Bruders, sie banden das Floß darauf fest und fuhren zum nahe gelegenen Fluss, der nicht sanft dahinplätscherte, sondern ziemlich reißend war. Trotzdem kamen sie fast zwei Kilometer weit, bevor sie kenterten. Hansi wäre ertrunken, wenn ihm nicht ein beherzter Spaziergänger eine Hundeleine zugeworfen hätte. Nela verfing sich in den Zweigen eines umgestürzten Baumes und wurde wenig später ebenfalls geborgen. Seit damals glaubte sie fest daran, dass ihr nichts zustoßen würde. Nela wusste nicht, warum sie sich schließlich doch entschlossen hatte, die Einladung ihrer Mutter anzunehmen, nach allem, was gewesen war. Wahrscheinlich hoffte sie immer noch, eines Tages würde sich etwas ändern; sie hoffte es mit der sturen, kindlichen Zuversicht, mit der sie ihrer Mutter fast ihr Leben lang begegnet war. Als Kind war sie jeden Morgen mit dieser Hoffnung erwacht, die gleich darauf von der Gewissheit abgelöst wurde, dass sich nichts geändert hatte. Dass ihre Mutter immer noch fremd und beängstigend war und nie mehr so werden würde wie früher. Damals, in ihren ersten Lebensjahren, hatte Nela das Glück gefühlt, das ihre Mutter im Zusammensein mit ihr empfand. Sie erinnerte sich 69
an den zarten Maiglöckchenduft ihres Parfüms, wenn ihre Hände sich zärtlich auf Nelas Körper legten. Später war ihr Blick meist ins Leere gegangen, sie hatte einen scharfen, unangenehmen Geruch ausgeströmt, und ihre Berührungen waren unachtsam und grob geworden. Der Weg zum Haus war bereits voll geparkt, Nela musste wenden und den Wagen etwas weiter entfernt abstellen. Während sie zurückging, fragte sie sich, warum sie nicht einfach umkehrte und wegführe, aber da kam ihr die Mutter schon mit ausgebreiteten Armen entgegen. Nela, Liebes! Wie schön, dass du gekommen bist! Alles Gute, Mama, sagte Nela knapp. Sie wusste nicht, wie oft sie ihre Mutter nüchtern erlebt hatte. Früher schlief sie bis mittags, meist stand sie gerade auf, wenn Nela aus der Schule kam. Den halben Nachmittag verbrachte sie im Bad, vor Sonnenuntergang hatte sie bereits eine halbe Flasche Sekt geleert. Um diese Zeit war sie zärtlich und liebevoll; sie neckte Nela, machte Späße mit ihr und ließ sie ihre Kleider anprobieren. Sie schuf einen Raum nur für sie beide, einen Kokon, in den sie sich und ihre Tochter einwob für ein, zwei süße Stunden. Wenn die Flasche leer war, wurden ihre Bewegungen fahrig, ihre Stimme schleppend. Nela wusste bald, dass es dann Zeit war, sich in Sicherheit zu bringen, denn wenig später konnte es sein, dass ihre Mutter cholerisch herumbrüllte, die Haushälterin beschimpfte oder einen Streit mit dem Vater begann.
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Nela schämte sich für das schrille Lachen ihrer Mutter, für ihre vulgären Ausbrüche, ihre plötzlich einsetzenden Weinkrämpfe. Sie schämte sich, wenn ihr Vater zum hundertsten Mal den Hausarzt kommen ließ, damit er die Tobende mit einer Spritze ruhig stellte. Und Nela schämte sich, weil sie immer noch, trotz allem, nicht aufhören konnte, ihre Mutter zu lieben. Jedes Wort, jede zärtliche Berührung versetzte sie in Entzücken, jede Zurückweisung stieß sie in einen Abgrund der Verzweiflung. Dieses Wechselbad der Gefühle bewirkte Ähnliches wie der Alkohol: Es machte Nela süchtig. Süchtig nach der Liebe ihrer Mutter. Wie sehe ich aus? Marianne drehte sich kokett um sich selbst. Sie trug ein modisches Kostüm in leuchtendem Orange und eine antike Silberkette, die Nela ihr aus Mexiko mitgebracht hatte. Ihr Haar war kürzer und mit rötlichen Strähnen durchzogen, die das Grau überdeckten. Ihre Haut wirkte frisch, die Augen klar. Du siehst toll aus, sagte Nela voll ehrlicher Bewunderung. Ich war in der Klinik, sagte sie, die haben wirklich ein Wunder an mir vollbracht! Sie lachte auf ihre etwas übertriebene Weise, breitete die Arme aus und warf den Kopf zurück. Na, endlich, sagte Nela. Sie wusste nicht mehr, wie oft sie ihre Mutter angefleht hatte, einen Entzug zu machen. Nicht einmal als sie im Vollrausch in ein Schaufenster 71
gerast war und für ein Jahr den Führerschein abgeben musste, war Marianne zur Vernunft gekommen. Nela hatte sofort nach dem Abitur die Flucht ergriffen. Sie ging für zwei Monate nach Südamerika, dann reiste sie mit der transsibirischen Eisenbahn von Russland nach China, anschließend fuhr sie ein halbes Jahr durch Asien. Später war sie in Australien und Neuseeland. Sie konnte gar nicht weit genug weg sein von zu Hause, ihrem Elternhaus, ihrer Mutter. Marianne winkte: Komm rein, es sind schon fast alle da! Sie ging vor Nela her ins Haus, das groß genug war für zwei Bereiche, einen für sie und einen für ihren Mann. Durch einige Umbauten konnten sie sogar separate Eingänge benutzen und mussten sich nur begegnen, wenn sie zufällig gleichzeitig den Keller oder die Garage betraten. Nela hatte sich immer gefragt, warum die beiden sich nicht einfach scheiden ließen, zumal ihr Vater seit Jahren eine Freundin hatte. Marianne war seine Sekretärin gewesen; ihretwegen hatte er sich von seiner ersten Frau getrennt. Mariannes Aufstieg von der kleinen Angestellten zur Gattin eines reichen und mächtigen Verlegers war so ziemlich das Schlimmste gewesen, was ihr hatte zustoßen können. Nie war sie das Gefühl losgeworden, ein Eindringling zu sein, niemals wirklich Teil der Gesellschaft werden zu können, in der ihr Mann sich bewegte. Jede Einladung war eine Mutprobe 72
gewesen, jeder öffentliche Auftritt eine Qual. Sie merkte, dass es leichter ging, wenn sie ein, zwei Gläser getrunken hatte. Dann löste sich ihre Zunge, die belanglosen Floskeln perlten mühelos aus ihr heraus, ihre Angst ließ nach. Irgendwann konnte sie nur noch unter Menschen, wenn sie getrunken hatte. Und bald trank sie auch, wenn sie alleine war. Sie zog Nela an der Hand hinter sich her bis in die geräumige Wohnhalle, in der ungefähr dreißig Gäste standen. Nela begrüßte die Leute, die sie kannte. Andere wurden ihr vorgestellt, aber sie merkte sich keinen der vielen Namen. Wo ist Josch?, fragte Marianne, als fiele ihr erst jetzt ein, dass ihre Tochter ja verheiratet war. Er konnte nicht, sagte Nela ausweichend, er lässt dich grüßen. Ist er noch so … engagiert? Wenn du damit meinst, ob er immer noch Asylbewerber verteidigt statt Pharmakonzerne, sagte Nela, dann ja. Lange hatte ihre Mutter versucht, ihr Josch auszureden. Sie hatte sich darüber mokiert, dass er das Kunststück fertig brächte, als Anwalt so wenig zu verdienen wie ein Aushilfskellner. Hatte behauptet, er habe es vermutlich auf Nelas Erbe abgesehen, das er dann sicher irgendwelchen dubiosen, politischen Gruppierungen spenden würde. Dass er ein Träumer sei, der ihre Tochter in Armut darben lassen würde, da diese ja unglücklicherweise auch kein Geld verdiene mit ihrer Filmerei. 73
Marianne tat so, als hätte sie Nelas Bemerkung nicht gehört. Nimm dir doch was zu essen, sagte sie und deutete auf das Büfett, das zwischen den beiden hohen Terrassentüren aufgebaut war. Aufgeregt flatterte sie zur Tür, als dort neue Gäste erschienen. Nela nahm sich etwas Salat und Meeresfrüchte und stellte sich an einen der weiß gedeckten Bistrotische. Ein Kellner bot Getränke an, sie nahm ein Wasser. Die Umgebung erschien ihr fremd, obwohl sie in ihrem Elternhaus stand, in dem sie Weihnachtsfeste gefeiert hatten, in dem ihre tote Oma aufgebahrt gewesen war, wo sie, hinter einem Paravent versteckt, den Streitereien ihrer Eltern gelauscht hatte. Dabei hatte sie manchmal davon geträumt, sich in einen Schimpansen zu verwandeln, der keckernd und schreiend am Kronleuchter hin- und herschwang, um die lauten Stimmen zu übertönen. Ob ihre Mutter den Schimpansen überhaupt bemerkt hätte? Vermutlich hätte sie ihn für ein Trugbild ihres alkoholvernebelten Gehirns gehalten. Wo ist Vater?, fragte Nela, als ihre Mutter mit den Neuankömmlingen an ihren Tisch kam. Er musste verreisen. Schon gehört, dass er Elinor heiraten will? Was? Aber … ihr seid doch noch nicht mal geschieden! Die Scheidung läuft, sagte Marianne. Weißt du, was die Anwältin gesagt hat? Lohnt sich das denn 74
noch, in Ihrem Alter? Sie lachte laut und warf den Kopf zurück. Ist das nicht köstlich? Die beiden Gäste entpuppten sich als Bekannte aus dem Golfclub. Wie fast alle in ihrem Viertel war auch Nelas Mutter Clubmitglied; hin und wieder spielte sie ein paar Abschläge, ohne sich im Geringsten dafür zu interessieren. Aber noch immer sehnte sie sich danach, dazuzugehören. Mit dem Glas in der Hand ging Nela auf die Terrasse und blickte in den weitläufigen Garten, der das Haus umrahmte. Hier hatte sie als Kind ihre einsamen Bahnen gezogen, in Selbstgespräche oder in eine Unterhaltung mit ihrer imaginären Freundin Bente vertieft, manchmal begleitet von Assja, der ständig scheinschwangeren Schäferhündin, der treuen Gefährtin ihrer Kindertage. Da sie es nicht wagte, Freundinnen mit nach Hause zu bringen – sie konnte ja nie wissen, welche Szenen ihre Mutter wieder aufführen würde –, phantasierte Nela sich eine Welt zurecht, die sie nach Belieben bevölkerte. Sie inszenierte ganze Theaterstücke im Kopf. Da drüben, bei der Ligusterhecke, hatte Senta, das fliegende Pferd, die Büsche durchbrochen und war mit ihr auf dem Rücken nach Samarkand geflogen. Im Swimmingpool wäre sie auf ihrer einsamen Insel mit aufblasbarer Palme fast verdurstet, wenn sie nicht Assja dazu gebracht hätte, mit einer Seven-Up-Dose im Maul zu ihr rüberzuschwimmen. Das Gartenhaus aus hellgrau verwittertem Holz, mit kunstvollen Schnitzereien 75
verziert wie ein russischer Teepavillon, hatte ihr als Schloss, Gefängnis und Schiff gedient. Wenn sie zurückdachte, hatte sie keineswegs das Gefühl, eine unglückliche Kindheit verlebt zu haben. Sie war einsam gewesen, aber frei; niemand hatte sie beaufsichtigt oder kontrolliert, ungestört hatte sie sich ihren Phantasien hingeben können. Wenn nur die verzauberte Königin im Haus nicht gewesen wäre, die sich jeden Moment in einen Feuer speienden Drachen verwandeln konnte oder in eine gefährlich schmeichelnde Hexe. Nela, wie schön dich zu sehen!, hörte sie eine Stimme. Sie drehte sich um, hinter ihr stand Hugo Seidler, die rechte Hand ihres Vaters und engster Freund ihrer Eltern. Für sie war er immer wie der Lieblingsonkel gewesen. Scherzhaft deutete er einen Handkuss an, dann lachte er und zog Nela in seine Arme. Wie geht’s dir, Mädchen? Immer noch glücklich verheiratet? Nela nickte. Ja, alles bestens. Wie sieht’s mit Nachwuchs aus? Ihr gehört doch hoffentlich nicht zu diesen Karrieretypen, die nicht mal mehr Zeit für Sex haben? Nein, sagte sie verlegen, wir sind ja erst ein Jahr verheiratet. Das wird schon, sagte er, bist ja noch jung. Schon gehört, dass Elinor ein Kind kriegt? Nela hielt sich mit der linken Hand an der Terrassenbrüstung fest, ihre Rechte umklammerte
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das Glas so fest, dass die Fingerknöchel weiß wurden. Nein, sagte sie, keine Ahnung. Ja, dein alter Herr wagt es noch mal, mit achtundsechzig. Ganz schön mutig. Schade nur, dass deine Mutter aus dem Haus raus muss. O ja, murmelte sie, schade. Also dann! Hugo zog ihren Kopf zum Abschied an sich, mach’s gut, mein Mädchen! Er verschwand im Haus, Nela sah ihm nach. Dann folgte sie ihm. Die untere Gästetoilette war besetzt, so ging sie die breite Treppe in den ersten Stock hinauf. Auf dem Weg zum Bad kam sie am Schlafzimmer ihrer Mutter vorbei. Die Tür war nur angelehnt. Mama? Sie stieß die Tür auf, ihre Mutter saß vor der Frisierkommode und sah in den Spiegel. Ja, mein Liebes? Nela betrat das Zimmer und schloss die Tür. Wie geht’s dir, Mama? Wunderbar, warum fragst du? Ich habe … von Elinor gehört. Will Papa deshalb heiraten? Ich nehme es an, sagte sie, und es gehört sich ja auch so. Macht es dir denn gar nichts aus?, fragte Nela ungläubig. Wieder das aufgesetzte Lachen. Aber warum sollte es? Elinor ist ein dummes, kleines Ding, du kennst sie ja. Dein Vater und ich sind die besten Freunde, daran wird sich nichts ändern. 77
Nela fand es beängstigend, wie ihre Mutter sich die Dinge zurechtlegte, mit der Wirklichkeit hatte das nicht das Geringste zu tun. Ihr Vater betrachtete seine Frau als kranken Menschen, er hatte Mitleid mit ihr, aber er war weit davon entfernt, ihr bester Freund zu sein. Seit dem Gespräch mit Hugo hatte Nela sogar den Eindruck, er wollte sie nun endgültig ihrem Schicksal überlassen, und das machte ihr Angst. Will Vater wirklich, dass du ausziehst? Ich möchte sowieso zurück in die Stadt, sagte Marianne, es ist mir zu einsam hier draußen. Sie griff nach einem Stift und zog die Lippenkonturen nach. Ihre Hand zitterte, zweimal musste sie neu ansetzen. Nela legte den Kopf schräg und fixierte sie im Spiegel. Ob ihre Mutter jemals damit aufhören würde, sich und andere zu belügen? Warum wolltest du eigentlich, dass ich heute komme?, fragte sie. Überrascht hielt Marianne inne und sah sie an, die Lippen umrandet wie bei einem Clownsmund. Es sah grotesk aus. Es ist mein Geburtstag! Ich wollte meine Tochter dabeihaben, ist das so ungewöhnlich? Nela lachte bitter auf. Du wolltest deinen Freunden demonstrieren, dass ich dir verziehen habe. Was redest du denn da bloß? Sie malte ihre Lippen aus und spitzte sie zu einem Kussmund. Die ganze Zeit hatte Nela den Gedanken weggeschoben, aber nun konnte sie nicht anders, 78
sie musste an den Tag ihrer Hochzeit denken, der so viel versprechend begonnen und so katastrophal geendet hatte. Als Josch und sie am Standesamt vorfuhren, warteten bereits die Gäste; als sie ausstiegen, klatschten alle. Sie erhaschte einen Blick auf ihre Mutter, die neben ihrem Vater stand, daneben Elinor, die sich besitzergreifend an seinen Arm klammerte. Nela hatte sich immer gewundert, mit welcher Nonchalance Marianne mit der Geliebten ihres Mannes umging. Sie war von großer Liebenswürdigkeit ihr gegenüber, behandelte sie wie ein Mitglied der Familie oder eine besonders geschätzte Freundin. Diese Haltung machte sie unangreifbar. Nach der Trauung standen sämtliche Mitarbeiterinnen der Frauen-Film-Firma Spalier und bewarfen das Brautpaar mit Reis, außerdem hielten sie den Tag in Bild und Ton fest. Das Fest fand auf dem Lande statt, in einer idyllischen Gastwirtschaft mit Blick auf die Berge. Das Essen war hervorragend, Nela und Josch bekamen liebevoll ausgewählte Geschenke, es gab einige Reden, unter anderem von Tom, der seinen Schmerz über Nelas Verlust mit einer sehr persönlichen und selbstironischen Ansprache kompensierte, was Nela, die seine Schüchternheit kannte, besonders rührte. Sie hatte das Gefühl, dieser Tag könnte tatsächlich ein Glückstag werden.
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Gegen Abend trafen die Mitglieder der Band ein, Nela kümmerte sich um fehlende Verlängerungskabel und Getränke. Als sie in den Gastraum zurückkehrte, merkte sie, dass der Geräuschpegel sich verändert hatte: Die vor kurzem noch lebhaften Gespräche waren verstummt, nur noch gedämpftes Murmeln war zu hören. Sie fing einen Blick ihres Vaters auf, und im nächsten Moment ertönte die schleppende, durchdringende Stimme ihrer Mutter. Er ist nicht gut für sie, habe ich zu ihr gesagt, aber welche Tochter hört schon auf ihre Mutter? Es folgte Gekicher, dann lallte sie weiter. Seht euch die Braut an mit ihrer Frauen-Filmwasweißdennich-Firma, wisst Ihr eigentlich, wie viel Geld von mir da drinsteckt? Hunderttausend! Alles Scheiße! Hugo Seidler, der mit Marianne am Tisch saß, beugte sich vor und wollte besänftigend seine Hand auf ihre legen. Sie schlug ihn weg und schrie: Fass mich nicht an, du! Durch ihre heftige Bewegung fegte sie ein Glas zu Boden, das klirrend zersprang. Im Raum herrschte schlagartig Stille, nur aus der Wirtshausküche drangen dumpfe Geräusche wie aus einer anderen Welt. Nela lief zum Tisch ihres Vater. Tu was!, flehte sie. Bitte! Du weißt, was dann passiert, sagte er warnend. Das ist mir egal! Sie war den Tränen nahe.
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Ihr Vater erhob sich und ging zu seiner Frau, fasste sie am Arm und sprach beruhigend auf sie ein. Nela sank auf einen Stuhl und vergrub das Gesicht in den Händen. Mein Gott, wie oft sie das schon erlebt hatte! Bei ihrer Kommunion, bei ihrer Abiturfeier, beim fünfzigsten Geburtstag ihres Vaters, beim achtzigsten ihrer Oma – Marianne ließ wahrhaftig keine Gelegenheit aus. Nelas Vater versuchte, seine betrunkene Frau vom Stuhl hochzuziehen, sie fing an zu schreien und um sich zu schlagen. Lass mich los!, schrie sie. Das ist die Hochzeit meiner Tochter, du hast kein Recht … Hilfe! Lass mich los, du … du Schwein! Nela ertrug es nicht länger, sie rannte aus dem Gasthaus. Der Himmel hatte sich verdüstert, in der Ferne grollte es. Als die ersten Blitze aufzuckten, kamen die Gäste aus dem Haus gelaufen, aufgeregte Stimmen riefen durcheinander. Ein Gewitter, schnell, mach das Verdeck zu! Die Fenster sind auf, hier, nimm den Autoschlüssel! Nela flüchtete entsetzt in die Garage der Wirtsleute, wo sie den Mini hatten abstellen dürfen, und drückte sich gegen die raue Wand. Sie hörte, wie Josch nach ihr rief, war aber unfähig zu antworten. Er kam näher und sah sich suchend um. Als er sie nicht fand, kehrte er um und ging wieder hinein. In wenigen Sekunden wurde es stockfinster, der Donner rollte heran, Nela begann zu zittern. Ihre Arme und Beine waren wie gelähmt, sie schaffte es 81
nicht, sich in Bewegung zu setzen und ins Gasthaus zurückzulaufen. Dann regnete es, gleich darauf kam der Hagel. Wenigstens passiert dem Mini nichts, dachte sie trotz ihrer Panik. Die Hochzeitsgäste liefen durcheinander und versuchten, ihre Autos zu retten. Es gab nicht genügend Platz unter den Bäumen, manche gaben auf, zuckten die Schultern und rannten, die Hände über dem Kopf, zurück ins Haus; andere fuhren ein Stück weiter auf der Suche nach einer geschützten Stelle. Nela sah, wie ihr Vater Marianne zum Auto zog. Sie schrie und schlug mit der Handtasche nach ihm. Die zuckenden Blitze ließen ihre Bewegungen seltsam ruckartig erscheinen. In diesem Moment ertappte Nela sich bei dem Wunsch, ihre Mutter möge von einem Blitz getroffen und endgültig zum Schweigen gebracht werden. Ich will unbedingt hören, wie’s dir geht, sagte Marianne und schraubte den Lippenstift zu, aber jetzt muss ich wieder runter. Bleib doch bis morgen, dann können wir beim Frühstück ein bisschen plaudern! Oh, eine Privataudienz, sagte Nela bissig. Marianne drehte sich auf dem Frisierhocker um, und ihr Blick verriet nicht, ob sie die Unbeteiligte nur spielte oder ob sie den Hochzeitsskandal tatsächlich verdrängt hatte. Liebes, lass mich jetzt bitte einen Moment alleine, ja? Ist gut, sagte Nela resigniert, bis später. 82
Was hatte sie sich nur von diesem Besuch erhofft, warum glaubte sie immer noch, die glatte, schöne Hülle durchdringen und dahinter etwas finden zu können? Nur wenn ihre Mutter betrunken war, fiel die Maske. Aber das Gesicht, das dann zum Vorschein kam, hätte Nela lieber nicht gekannt. An der Tür zögerte sie, drehte sich noch mal um. Ihre Mutter hatte sich gebückt, entdeckte sie im Spiegel, richtete sich ruckartig wieder auf. Mit ein paar schnellen Schritten war Nela bei ihr, griff unter die Kommode und zog eine Flasche hervor. Aber …, protestierte Marianne. Du hast mich angelogen, sagte Nela. Nein, ich … nur ein kleiner Schluck, ich habe das Essen nicht vertragen. Ich denke, du warst in der Klinik? War ich ja auch, sagte Marianne. Botox, Lidstraffung, Fettabsaugen. Nela griff sich an die Stirn. Ich Idiot! Und ich dachte, du hättest endlich einen Entzug gemacht! Einen Entzug?, fragte Marianne empört. Wieso denn? Ich habe kein Alkoholproblem, wie oft muss ich dir das noch sagen? Nela sah angeekelt auf die Flasche in ihrer Hand und ließ sie auf den rosefarbenen Marmorboden fallen, wo sie zerbrach. Der aufdringliche Geruch von Gin erfüllte den Raum.
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Josch
und sein Partner Pit hatten ihre Anwaltskanzlei in einem früheren Ladengeschäft im Stadtzentrum, das ebenerdig und von der Straße her einsehbar war. Das sollte die Hemmschwelle für Mandanten senken. Josch saß in seinem Büro, um sich herum eine fünfköpfige kurdische Familie. Der Mann, im grauen Anzug mit breiter Krawatte, den Schnauzer sorgfältig gestutzt, hockte breitbeinig auf einem Stuhl, neben ihm seine deutlich jüngere Frau mit Kopftuch, ein Baby im Arm. Josch musste an Maria und Josef auf Herbergssuche denken. Wer klopfet an? Oh, zwei gar arme Leut. Was wollt ihr denn? Oh, gebt uns Herberg heut! Auf dem Boden spielten zwei kleine, schwarzhaarige Jungen, vielleicht drei und fünf Jahre. Karim, der Dolmetscher, saß mit dem Rücken zum Fenster zwischen ihnen, sodass er alle im Blick hatte. Herr Arslan sprach langsam und stockend, als suche er nach den richtigen Worten, die Frau hielt die Augen zu Boden gerichtet, Josch hätte nicht sagen können, ob sie zuhörte oder mit den Gedanken woanders war. Karim machte dem Mann Zeichen, wann er innehalten sollte, dann übersetzte er. 84
Es waren immer die gleichen Geschichten von Achtung, Verfolgung, Misshandlung. Anfangs der Versuch, sich möglichst unauffällig zu verhalten, dann Auflehnung, Resignation, Flucht. Die Schilderungen waren sich so ähnlich, dass Josch sie hätte mitsprechen können. Entweder die Menschen erzählten, was sie erlebt hatten, oder sie erzählten, was sie glaubten, erzählen zu müssen, um ihr Ziel zu erreichen. Eigentlich machte es keinen Unterschied, sie suchten alle dasselbe: ein besseres Leben, ein Leben in Sicherheit. Manchmal schlug sein Mitgefühl in Wut um und die Wut in Müdigkeit. Dann fand er, es wäre nicht seine Aufgabe herauszufinden, welche Teile der Erzählung der Wirklichkeit entsprangen und welche der Vorstellungskraft. Oder einfach nur dem Empfinden. Menschen können sich auch verfolgt fühlen, wenn keine reitenden Horden hinter ihnen her sind. Josch sah seine Aufgabe darin, ihr Anliegen zu vertreten. Oh, durch Gottes Lieb wir bitten, öffnet uns doch eure Hütten! Oh, nein, nein, nein! Oh, lasset uns doch ein! Das kann nicht sein! Wir wollen dankbar sein. Diese Familie war mit einer Schlepperorganisation gekommen, die ihnen fast ihr gesamtes Vermögen und ihre Papiere abgenommen hatte. Ihr Asylantrag war vom Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge abgelehnt worden, nun wollten sie einen zweiten Antrag stellen und notfalls klagen.
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Sie wohnten behelfsweise bei Verwandten; neun Personen in einer winzigen Dreizimmerwohnung. Wenn sie uns zurückschicken, bringe ich uns alle um, übersetzte Karim. Der Mann hatte sich vorgebeugt und starrte Josch an. Seine Frau hob den Blick vom Boden. Der ältere Junge ließ sein Plastikauto gegen den Papierkorb fahren und machte das Geräusch eines Aufpralls nach. Nein, es kann einmal nicht sein, da geht nur fort, ihr kommt nicht rein! Josch nickte Karim zu und begann, routinemäßig abzuspulen, was er in diesen Fällen sagen musste. Wie viel Zeit zwischen den Anträgen liegen dürfe, dass für einen zweiten Antrag neue Beweismittel nötig seien, dass auslösendes Ereignis und Flucht nicht zu weit auseinander liegen dürften, dass sein Honorar in monatlichen Raten bezahlt werden könne, dass der Dolmetscher extra koste. Was er nicht sagte, war, dass er selbstverständlich davon ausgehe, sein Geld nicht oder nur teilweise zu erhalten, dass auch Karim für einen Bruchteil des üblichen Dolmetscherhonorars arbeite und dass es pro Fall sage und schreibe 80,50 Euro Beratungsbeihilfe vom Staat gebe. Was die Kanzlei bei diesen Fällen draufzahlte, musste sie sich bei lukrativeren wieder zurückholen. Josch und Pit verteidigten betrügerische Teppichhändler, Schutzgelderpresser, Immobilienhaie. Bei diesen Fällen ging es oft um ziemlich viel Geld, entsprechend hoch fiel das 86
Anwaltshonorar aus. Trotzdem blieb am Ende des Monats nur gerade genug zum Leben. Josch stand auf und ging um den Tisch herum, um seine Klienten zu verabschieden. Er reichte Herrn Arslan die Hand, nickte seiner Frau aufmunternd zu und strich den Knaben über die Köpfe. Als sie gegangen waren, räumte er die Spielsachen in die Kiste zurück und stellte sie ins Regal. In Gedanken versunken, setzte er sich an seinen Schreibtisch. Zurzeit fiel es ihm schwer, sich zu konzentrieren. Sein Handy klingelte. Er drückte den Knopf, ohne aufs Display zu sehen, und meldete sich. Niemand antwortete. Hallo, wer ist da?, rief er in den Hörer, aber am anderen Ende hörte er nur Atmen. Dann wurde die Verbindung unterbrochen. Er rechnete nach, das war bereits der dritte Anruf dieser Art. In seinem Handymenü öffnete er die Ruflisten und überprüfte die Nummern der eingegangenen Anrufe. Für den letzten Anrufer stand auf dem Display Cardello. Nach ein paar Wochen kam es Nela fast so vor, als hätte es nie einen Unfall gegeben. Ihr Leben verlief wieder in den gewohnten Bahnen, nur Joschs merkwürdig distanziertes Verhalten erinnerte sie immer wieder daran, dass etwas passiert war, was auch sie betraf, wenn sie auch noch nicht genau wusste, auf welche Weise.
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Sie spürte nur, dass Josch verändert war, dass er oft abwesend schien und noch weniger sprach als sonst. Vor allem sprach er nicht mehr von Aimée, er besuchte sie nicht, schien nicht mal mit ihr zu telefonieren. Nela fand das unverständlich; er konnte das Mädchen doch nicht so im Stich lassen! Immer wieder nahm sie sich vor, ihn darauf anzusprechen, aber dann ließ sie es doch bleiben. Plötzlich, an einem Samstag, sagte er: Lass uns heute zu Aimée fahren. Überrascht sah sie ihn an. Es war ein verhangener, für den Juli eher kühler Tag, und niemand saß auf der Terrasse der Cardellos. Clara, die noch verhärmter aussah als beim vorherigen Mal, öffnete die Tür. Sie umarmte Josch und drückte Nela die Hand, ohne sie anzusehen. Josch schien nervös und gleichzeitig wie erlöst; lebhaft erkundigte er sich bei Clara nach Aimées Befinden. Aus der Unterhaltung konnte Nela schließen, dass Josch dort so lange nicht aufgetaucht war, weil Sergio ihn ausdrücklich darum gebeten hatte. Schlagartig begriff sie, was Josch quälte und warum er sich ihr nicht anvertraute. Dieses Mädchen ließ ihn nicht los. Das war nichts, was bald vorbei sein würde. Das war eine Liebesgeschichte. Clara führte die Gäste in ein Zimmer mit schweren, dunklen Möbeln. Was für eine Gruft, dachte Nela, hier hätte ich als Kind nicht bleiben mögen. 88
Mit resoluten Schritten kam Sergio und klopfte Josch auf die Schulter. Na, wie geht’s?, fragte er merkwürdig knapp. Er gab Nela die Hand, auch er sah ihr nicht ins Gesicht. Es war alles ganz anders als bei ihrem letzten Besuch. Und wie geht’s bei euch?, fragte Josch, nachdem alle sich gesetzt hatten. Gut, sehr gut, sagte Sergio, Aimée geht’s viel besser. Clara nickte zustimmend. Spricht sie wieder?, fragte Josch hoffnungsvoll. Nein, noch nicht, aber wir verstehen sie trotzdem. Sie isst wie ein Scheunendrescher, sagte Clara und lächelte. Das ist ja wunderbar, sagte Josch. Möchte sie uns nicht sehen? Ja, natürlich, ich hole sie, sagte Sergio, stand auf und ging aus dem Zimmer. Aimée, hörte man ihn rufen, komm runter, Besuch ist da! Als nichts passierte, ging er nach oben; eine Tür wurde geöffnet, man hörte seine gedämpfte Stimme. Schließlich kam er zurück, an der Hand Aimée. Fast hätte Nela vor Schreck aufgeschrien. Das Mädchen war so mager, dass ihm die Kleidung am Körper schlotterte, es war blass, seine Augen dunkel umschattet. Sie isst wie ein Scheunendrescher, ja?, sagte sie wütend. Sie wächst eben, sagte Sergio knapp. Ist normal für ein Mädchen in ihrem Alter.
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Josch war offenbar ebenso schockiert wie sie. Er stand auf und ging auf Aimée zu, die ihn ansah, als wäre er ein Fremder; ohne ein Lächeln, ja, ohne ein Zeichen des Erkennens. Er zog sie an sich, sie reagierte nicht. Sie wirkte so schwach, dass Nela fürchtete, sie würde gleich umfallen. Josch zog sie neben sich aufs Sofa und legte ihr den Arm um die Schultern. Es sah aus, als halte er sich an ihr fest. Habt ihr sie zum Arzt gebracht?, fragte er Clara. Warum zum Arzt, erwiderte Clara, sie ist nicht krank. Wenn sie nicht krank ist, kann sie zur Schule gehen. Geht sie zur Schule? Clara schüttelte den Kopf. Hat sie Kontakt zu anderen Kindern, liest sie, malt sie? Keine Reaktion. Habt ihr einen Psychologen zurate gezogen? Kopfschütteln. Hat sie in den vergangenen vier Wochen irgendetwas anderes getan, als im Bett zu liegen?, fragte Josch mit erhobener Stimme. Clara und Sergio schwiegen und blickten vor sich auf den Boden. Was sich hier abspielte, war in Nelas Augen ein Fall von Kindesmisshandlung. Am liebsten hätte sie den beiden Alten die Meinung gesagt, aber sie hielt sich zurück. Wenn Sergio wütend werden und sie beide rauswerfen würde, könnten sie überhaupt nichts mehr für Aimée tun.
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Zu ihrer Erleichterung nahm Josch die Sache in die Hand. Er wandte sich zu Aimée. Möchtest du mit uns kommen? Keine Reaktion. Josch fasste sie an der Schulter und sagte eindringlich: Aimée, du hast letztes Mal auf einen Zettel geschrieben, dass du zu mir möchtest! Und du hast versucht, mich anzurufen! Überrascht sah Nela auf. Davon hatte er kein Wort gesagt. Stimmt das, Aimée?, fragte Sergio, zutiefst gekränkt. In Claras Augen traten Tränen. Ja, es stimmt, sagte Josch heftig, dann wandte er sich wieder Aimée zu. Wenn du willst, nehme ich dich sofort mit! Aimée bewegte langsam den Kopf von einer Seite zur anderen, den Blick starr auf den Boden gerichtet. Josch wiederholte seine Frage, diesmal fast schreiend, als wäre Aimée schwerhörig: Willst du mit uns kommen, mit Nela und mir? Wieder schüttelte Aimée den Kopf. Was habt ihr mit ihr gemacht, fragte Josch aufgebracht, habt ihr sie unter Drogen gesetzt? Jetzt reicht es aber, sagte Sergio. Sie hat deutlich gesagt, dass sie nicht mit euch gehen will, und jetzt lasst sie in Ruhe. Das alles ist schwer genug für uns! Er nahm Aimée an der Hand und zog sie vom Sofa hoch. Vieni, carissima, ich bringe dich nach oben.
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Hilflos sahen Josch und Nela zu, wie er das Mädchen aus dem Zimmer schob. Lass uns gehen, flüsterte Nela, wir finden schon einen Weg. Widerwillig stand Josch auf, berührte im Vorbeigehen Clara, die in sich zusammengesunken dasaß, und ging mit Nela Richtung Haustür. Sie wussten beide, dass sie nichts gegen den Willen des Kindes und seiner Großeltern unternehmen konnten. In diesem Moment polterte es über ihnen, eine Tür wurde aufgerissen, schnelle Schritte waren zu hören. Josch und Nela drehten sich um und sahen, wie Aimée die Treppe herunterkam, so schnell es ihr geschwächter Körper zuließ. Oben erschien Sergio. Wo willst du hin, rief er, komm zurück! Aus dem Wohnzimmer stürzte Clara und versuchte, Aimée aufzuhalten. Sie umklammerte das Mädchen, das sich mit all seiner Kraft wehrte. Schließlich befreite es sich, und Clara sank weinend auf eine Treppenstufe. Ein keuchendes Geräusch kam aus Aimées Brust, heiser und verzweifelt, und sie flog Josch in die Arme. Er fing sie auf und brachte sie im Laufschritt zum Wagen. Als sie losgefahren waren, sprach eine Weile keiner von ihnen. Schließlich blickte Josch in den Rückspiegel und sagte streng: So, und als Erstes bringen wir dich ins Krankenhaus! 92
Aimées Gesicht verzog sich entsetzt. Nach einer Kunstpause fuhr Josch fort: Es gibt nur eine Möglichkeit, wie du das verhindern kannst. Du versprichst uns, dass du ab sofort vernünftig essen wirst! Josch hatte Erfahrung mit Flüchtlingen, die ihrer Abschiebung durch einen Hungerstreik entgehen wollten. Er wusste, dass diese Härte nötig war, um zu verhindern, dass jemand sich zu Tode hungerte. Auch bei Aimée schien sie ihre Wirkung nicht zu verfehlen. Das Mädchen riss die Augen auf und nickte. Versprichst du es?, fragte Josch eindringlich. Aimée nickte noch mal, heftiger. Gut. Zufrieden lenkte er den Blick zurück auf die Straße. Was ist mit ihren Sachen?, fragte Nela. Die hole ich später, sagte Josch und drückte aufs Gas, als ginge es darum, vor einer Feuersbrunst zu flüchten. Zu Hause betteten sie Aimée aufs Sofa. Was möchtest du essen?, fragte Josch, und sie schüttelte gewohnheitsmäßig den Kopf. Als sie seine drohende Miene sah, besann sie sich und schrieb nach einigem Nachdenken ›Nudelsuppe‹ auf einen Zettel, den Josch ihr gebracht hatte. Kein Problem, sagte Nela erleichtert. Sie war froh, dass sie etwas tun konnte; sie fühlte sich ganz unsicher neben dem schweigenden Mädchen, das sie bisher keines Blickes gewürdigt hatte.
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Während sie Nudeln kochte und Brühwürfel mit heißem Wasser übergoss, richtete Josch das Gästezimmer her. Erst wenige Tage vorher hatte er dort ausgemistet und Staub gesaugt, als hätte er geahnt, dass sie Besuch bekommen würden. Nela füllte drei Teller und stellte sie auf ein Tablett. Sie setzen sich zu Aimée ans Sofa, löffelten die Suppe und beobachteten sie unauffällig. Schmal und Mitleid erregend saß das Mädchen zwischen zwei dicken Kissen. Zuerst ließ sie ihren Teller unberührt, hielt nur den Löffel in der Hand, wie um zu signalisieren, dass sie gleich anfangen würde. Ist noch heiß, sagte Nela entschuldigend. Irgendwann tauchte Aimée den Löffel ein und rührte im Teller herum. Na los, sagte Josch und lächelte ihr aufmunternd zu. Sie führte den Löffel zum Mund, pustete und schlürfte die Flüssigkeit mit einem leichten Geräusch ein. Der Ärmel ihrer Bluse rutschte hoch und legte ein Stück Haut mit einer frischen Narbe frei. Mit konzentriertem Gesichtsausdruck zerkaute sie die Nudeln, als hätten sie einen Geschmack, den sie nicht kannte. Sie schluckte und nahm einen zweiten Löffel. Nela musste an die kleinen Vögel im Garten ihrer Eltern denken, die aus dem Nest in der alten Buche gefallen waren und die sie als Kind mit Zuckerwasser aus der Puppenflasche gefüttert
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hatte. Jedes Tröpfchen, das in den winzigen Vogelmägen gelandet war, hatte sie mit Stolz erfüllt. Aimée aß die Suppe fast auf. Danach lehnte sie sich in die Kissen und schloss die Augen. Josch strich ihr sanft mit der Hand über die Stirn, dann nickte er Nela zu, und sie verließen den Raum. In der Küche machte Nela Kaffee, und sie setzen sich an den kleinen Klapptisch. Sie hatte eine Menge Fragen, aber sie spürte, dass nicht der richtige Moment war, sie zu stellen. Mit der Hand strich sie über die Tischplatte. Der ist zu klein für drei, sagte sie leise. Als Josch gegen Abend bei Sergio und Clara anrief, stand Nela dabei und hörte zu. Er sagte nur wenig; am anderen Ende hingegen wurde offenbar viel gesprochen. Also, ich komme dann gleich, sagte er nach einer Weile und beendete das Gespräch. Fragend blickte er zu Nela. Kann ich dich für eine Stunde mit ihr alleine lassen? Klar, sagte sie, dabei war ihr alles andere als wohl bei dem Gedanken. Was, wenn Aimée plötzlich durchdrehte? Das Mädchen war schwer traumatisiert, konnte man wissen, ob es sich nicht etwas antun würde? Eigentlich fühlte Nela sich der Situation nicht gewachsen, aber das hätte sie niemals zugegeben. Als Josch weg war, ging sie ins Wohnzimmer. Wenn du mich brauchst, ruf einfach nach mir, sagte sie und lächelte Aimée zu. Dann wurde ihr 95
klar, was für eine idiotische Aufforderung das war. Das Mädchen sprach seit Wochen nicht, es würde auch jetzt nicht nach ihr rufen. Aimée erwiderte nicht mal ihren Blick. Einen Moment blieb Nela unschlüssig an der Tür stehen, dann zog sie sich mit einem Buch ins Schlafzimmer zurück und ließ die Tür offen. Es gelang ihr nicht, sich aufs Lesen zu konzentrieren; unruhig horchte sie Richtung Wohnzimmer, dazu spukten ihr die Bilder des Nachmittags im Kopf herum. Clara, die verzweifelt versuchte, Aimée festzuhalten, das Einzige, was ihr von ihrer Tochter geblieben war. Sergio, der mit Strenge Aimées Gehorsam erzwingen wollte, wenn er schon ihre Liebe nicht gewinnen konnte. Und Aimée, das bedauernswerte Kind, an dem – wie in der Parabel vom Kaukasischen Kreidekreis – gezerrt wurde und das eher zugrunde gehen wollte, als seinen Großeltern wehzutun. Aus dem Wohnzimmer kam ein Geräusch. Nela stand auf und ging durch den Flur bis zur Tür. Das Mädchen drehte ihr den Rücken zu, seine Schultern zuckten. Na, endlich, dachte Nela und war fast erleichtert. Aimée hatte die Beerdigung durchgestanden, ihr Zuhause verlassen, ihre trauernden Großeltern ertragen. Und sie ganze Zeit hatte sie still die Lippen zusammengepresst, niemand hatte sie weinen sehen. Nun, endlich, musste sie nicht mehr stark sein.
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Nela setzte sich auf den Rand des Sofas und sprach sanft auf sie ein, liebevolle, tröstende Worte, wie man sie zu einem kleinen Kind sagt. Worte, die Nela vor langer Zeit von ihrer Mutter gehört hatte. Sie hob die Hand und strich zart über Aimées Rücken. Das Schluchzen ließ langsam nach, das Mädchen atmete ruhiger. Als das Telefon klingelte, musste Nela aufstehen, um den Apparat zu erreichen. Ich bin’s, sagte Josch, kannst du Aimée fragen, ob sie das Bücherbord haben möchte, das Sergio ihr gebaut hat? Wenn ja, müssten wir es auseinander nehmen, sonst passt es nicht ins Auto. Sie ging zum Sofa zurück. Josch möchte wissen, ob er das Bücherbord mitbringen soll, das dein Großvater für dich gebaut hat. Ohne nachzudenken, schüttelte Aimée den Kopf Nein, sagte Nela ins Telefon und hörte, wie Josch sagte, danke, Sergio, aber wir holen es dann ein andermal. Sie kehrte zu Aimée zurück. Willst du ein bisschen fernsehen?, fragte sie und schaltete den Apparat ein, ohne auf eine Reaktion zu warten. Sie zappte durch die Kanäle, suchte nach einem Programm ohne Nachrichten von Unfällen oder harmonische Familienszenen. Folgsam sah Aimée zum Bildschirm, sie interessierte sich für nichts. Dann kam Josch mit zwei Koffern und ein paar Kartons zurück, die er ins Gästezimmer trug. Wie ist es gegangen?, fragte er flüsternd. 97
Gut, sagte Nela. Aimée kam mit geröteten Augen aus dem Wohnzimmer und sah sich suchend um. Hier ist die Toilette, sagte Nela und zeigte auf die Badezimmertür, und da vorne ist noch eine. Aimée zögerte, dann ging sie den längeren Weg bis zum Gästeklo. Hat sie geweint?, fragte Josch erstaunt. Nela nickte. Ein Segen, sagte er aufseufzend. Diese Selbstbeherrschung war ja schon nicht mehr normal! Als Aimée zurückkam, zog Josch sie ins Gästezimmer, wo sie unschlüssig stehen blieb. Er zeigte ihr, was er alles mitgebracht hatte: Kleidung, Bücher, Stofftiere, Spiele. Du kannst ja schon mal mit dem Auspacken anfangen, schlug er vor, Nela und ich machen so lange das Abendbrot. Hast du einen Wunsch? Sie schüttelte den Kopf Dann kramte sie in einer Kiste und zog ihren Discman und ein paar CDs hervor, damit legte sie sich aufs Bett. Du hast mir was versprochen, sagte Josch. Er ging, um einen Zettel zu holen, dann drückte ihr einen Stift in die Hand. Nach langem Nachdenken schrieb sie: Grießbrei. Grieß war nicht im Haus. Nela fiel die kinderreiche Familie aus dem dritten Stock ein, sie lief nach oben und klingelte. Die Frau öffnete, es herrschte ein Höllenlärm, drei Kinder liefen, das Geräusch einer Sirene imitierend, durch die Wohnung, ein viertes plärrte im Hintergrund. 98
Entschuldigen Sie die Störung, schrie Nela mit angestrengtem Lächeln gegen den Krach an, hätten Sie wohl ein bisschen Grieß für mich? Klar, rief die Frau, lief in die Küche und kam mit einem Päckchen wieder. Guten Appetit! Während Nela die Treppe nach unten ging, überlegte sie, wie viel Milch man wohl verwendete und ob sie überhaupt Apfelmus hatte. Zimt war noch da, von Weihnachten. Sie hatte zuletzt Grießbrei gegessen, wenn sie als Kind bei Hansi übernachten durfte, meist, wenn ihre Mutter sich wieder halb bewusstlos getrunken hatte. Hansis Mutter kochte all die Süßspeisen, die bei Nela zu Hause verpönt waren, weil auf Kalorien geachtet wurde. Milchreis, Kaiserschmarrn, Zwetschgenknödel, Grießbrei. Damals hatte sie beschlossen, nie mehr etwas anderes zu essen, wenn sie erst mal groß wäre. Josch mochte keinen Grießbrei, er machte sich Schinkenbrote, während Nela genüsslich den Topf auskratzte. Aimée aß langsam und ließ ungefähr die Hälfte ihrer Portion übrig, aber mit all dem Zucker und der Milch hatte sie an diesem Tag sicher genügend Kalorien aufgenommen. Nela ist eine sehr gute Köchin, sagte Josch zu Aimée, du wirst sehen, bald bist du wieder bei Kräften. Du kannst ja mal ein paar Gerichte aufschreiben, die du magst. Aimée nickte abwesend. Nach dem Abendessen verschwanden die beiden im Gästezimmer, Nela spülte und räumte die Küche 99
auf. Danach setzte sie sich an den Tisch und blätterte durch die Wochenendausgabe der Zeitung. Endlich kam Josch, sie lächelte ihn an. Schläft sie? Nein, sie hört noch Musik. Aber sie ist im Bett. Armes Ding, sagte Nela mitfühlend. Das war knapp, sagte er. Diese verrückten Alten hätten eher zugesehen, wie sie sich zu Tode hungert, als sie freiwillig herzugeben. Sie sind verzweifelt, sagte Nela. Und glauben, es sei Liebe. Josch schüttelte den Kopf, dann sah er Nela an. Danke, dass du mitgezogen hast. Ist doch klar, sagte Nela, es war ein Notfall. Jetzt päppeln wir sie erst mal auf, sagte Josch, und dann sehen wir weiter.
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Am
nächsten Morgen hatte Josch einen frühen Termin bei Gericht. Nela erklärte sich bereit, zu Hause zu bleiben. Sie sagte Tamara in der Firma Bescheid, setzte sich in die Küche, trank Kaffee und wartete, ohne zu wissen worauf. Die Anwesenheit des Mädchens in der Wohnung schien sie regelrecht zu lähmen. Um elf kam Aimée aus dem Gästezimmer, ging ohne ein Nicken an der geöffneten Küchentür vorbei ins Bad und schloss sich ein. Nela sah auf die Uhr. Zehn Minuten. Zwanzig Minuten. Was machte sie nur so lange im Bad? Plötzlich wurde sie panisch. Nagelscheren, Rasierklingen, Scherben vom Zahnputzglas, dass sie daran nicht gedacht hatte! Sie rannte in den Flur und klopfte heftig an die Badezimmertür. Geht’s dir gut, Aimée, ist alles in Ordnung? Keine Antwort. Ach, scheiße, das Kind sprach ja nicht! Wie sollte Nela herausfinden, ob es einfach trödelte oder schon in seinem Blut lag? Mach auf, rief sie und trommelte gegen die Tür, bitte mach auf! Eine Ewigkeit schien zu vergehen, bis der Schlüssel sich im Schloss drehte und die Tür einen
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Spalt geöffnet wurde. Aimée stand im Nachthemd da und sah sie erstaunt an. Entschuldige, sagte Nela und spürte, wie ihr vor Verlegenheit die Röte ins Gesicht stieg. Ich habe mir nur plötzlich … Sorgen gemacht. Möchtest du vielleicht was frühstücken? Aimée zuckte die Achseln. Müsli?, fragte Nela. (Kopfschütteln.) Marmeladenbrot? (Kopfschütteln.) Cornflakes? (Kopfschütteln.) Joghurt mit Honig? (Kopfschütteln.) Ei im Glas? Aimée rang mit sich, schließlich nickte sie zögernd. Nela stürmte in die Küche, um ein Ei zu kochen, genau viereinhalb Minuten, nicht glibberig, nicht fest; sie wusste aus ihrer Kinderzeit, wie wichtig die richtige Konsistenz ist, weil sich sonst nicht dieses angenehm wachsige Gefühl einstellt, wenn man das Eigelb aus dem Glas kratzt. Bis Aimée endlich kam, war das Ei nachgegart und hart geworden. Sie sah Nela an, als wollte sie sagen: Warum versprichst du mir was, wenn du’s doch nicht halten kannst? Tut mir leid, sagte Nela schuldbewusst, du hast einfach zu lange gebraucht. Das Mädchen aß ein paar Krümel Ei und eine halbe Scheibe Toast, Nela zählte jeden Bissen. Hör zu, sagte sie und sah auf die Uhr, ich muss schnell zum Einkaufen, kommst du mit? Aimée schüttelte den Kopf, stand auf und ging in ihr Zimmer. 102
Nela würde trotzdem gehen. Schließlich gäbe es Tausende von Gelegenheiten, sich etwas anzutun, sie würde es nicht verhindern können, selbst wenn sie im Nebenzimmer säße. Im Supermarkt warf sie eilig ein paar Lebensmittel in ihren Einkaufskorb und war nach zwanzig Minuten wieder zu Hause. Aimée saß mit geschlossenen Augen, die Kopfhörer auf den Ohren, in ihrem Zimmer auf dem Bett. Erleichtert atmete Nela auf. Sie ging in ihr Arbeitszimmer, telefonierte und beantwortete E-Mails, versuchte, sich zu konzentrieren. Es gab Probleme mit der Drehgenehmigung in England. Das Tropeninstitut riet von Afrikareisen ab, weil eine Denguefieberepidemie ausgebrochen war. Eine Kamera war beim letzten Dreh geklaut worden, und die Ersatzkamera ließ auf sich warten. Eigentlich klappte nichts, und Nela fragte sich, wie sie es schaffen sollte, in knapp drei Wochen drehfertig zu sein. Zeit fürs Mittagessen. Nela kochte Risotto mit Bärlauchpesto, machte grünen Salat an. Als sie fertig war, klopfte sie an Aimées Zimmertür. Ich hab was gekocht, rief sie, kommst du? Nichts rührte sich. Nela begann zu essen. Langsam, falls Aimée es sich doch noch überlegen sollte. Schließlich füllte sie Risotto in einen Teller, dekorierte ihn mit einigen Blättchen Petersilie und ging ins Gästezimmer.
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Schade, sagte Nela, ich hätte gern mit dir zusammen gegessen. Sie stellte den Teller ab und ging. Ärgerlich dachte sie: Soll sie doch machen, was sie will. Wenig später stand der unberührte Teller vor der Tür. Auch an den folgenden Tagen war Nela vorwiegend mit Nahrungszubereitung beschäftigt. Josch wollte, dass Aimée alles bekäme, was sie sich wünschte, und so kochte Nela Kartoffelbrei, Vanillepudding, Nudeln und immer wieder Grießbrei. Da sie selbst eine gewisse Schwäche für diese Art Kinderessen hatte, störte sie die Monotonie des Speiseplans nicht. Sie ärgerte sich nur, dass Aimée bereitwillig aß, wenn Josch mit am Tisch saß, die Nahrungsaufnahme aber weitgehend verweigerte, sobald sie alleine waren. Dazu kam, dass die Kocherei eine Menge Zeit kostete. Zeit, die sie eigentlich für ihren Film brauchte. In der Firma stapelte sich die Arbeit, und obwohl sie einiges von zu Hause aus erledigen konnte, wurde sie allmählich nervös. Josch hetzte weiter zwischen Kanzlei und Wohnung hin und her, um möglichst oft bei Aimée zu sein. Abends war er so erschöpft, dass er bei den Nachrichten einschlief. Nela fühlte mit ihm und gab sich Mühe, ihn zu schonen, aber irgendwann hielt sie es nicht mehr aus. Wir müssen reden, sagte sie nach dem Abendessen, schaffst du es, so lange wach zu bleiben? 104
Kein Problem, sagte er. Ich habe Aimée versprochen, ein paar Poster für sie aufzuhängen. Danach habe ich Zeit. Nela schrieb schnell einen Brief fertig, dann ging sie zu Josch in die Küche, der am Tisch saß und Stücke eines zerbrochenen Korkens aus einer Weinflasche pulte. Sie setzte sich zu ihm. So kann es nicht weitergehen, sagte sie. Er sah auf Wieso? Nela runzelte die Stirn. Du hast gesagt, wir päppeln sie auf und dann sehen wir weiter. Aber genau das tun wir doch, sagte Josch. Wir? Nela lachte spöttisch. Hast du mal für sie gekocht? Ich kann nicht kochen. Dafür mache ich andere Sachen. Klar, sagte Nela, du richtest ihr Zimmer ein und hängst Poster auf. Wie lange soll dieser Besuch eigentlich dauern? Statt einer Antwort fragte er: Wo soll sie denn deiner Meinung nach hin? Was weiß ich, sagte Nela, es gibt gute Internate, außerdem hat sie Onkel und Tanten und sogar einen Vater. Josch legte den Korkenzieher weg und sah Nela an, als hätte sie vorgeschlagen, Aimée auf die Straße zu jagen. Verdammt, Josch, in ein paar Wochen drehe ich meinen Film, bis dahin ersticke ich in Arbeit, wer soll sich um sie kümmern? Du vielleicht, neben deinem Zwölfstundentag? Du gehst doch jetzt schon auf dem Zahnfleisch! 105
Joschs Hand schoss nach oben und wühlte in seinem Haar, verharrte auf der Höhe seines Ohres, verkrallte sich dort. Na ja, ich dachte … vielleicht könntest du den Film verschieben? Wie bitte? Du könntest doch später drehen, in zwei, drei Monaten oder so. Ich kann den Film nicht später drehen, sagte Nela. Die Gelder verfallen, die Sender haben uns Fristen gesetzt. Wenn ich den Film nicht jetzt drehe, wird er gar nicht gedreht. Josch schwieg einen Moment, dann sagte er zögernd: Und … wenn es so wäre? Ich meine, dann gäbe es einen Film weniger, wäre das so schlimm? Nela stand auf, ging zur Spüle, ließ Wasser in ein Glas laufen. Mit dem Rücken zu Josch blieb sie stehen und trank in kleinen Schlucken, bis sie sich etwas beruhigt hatte, dann drehte sie sich um. Ich wusste nicht, wie wenig du von mir verstanden hast, sagte sie. Im Ernst, Nela, sagte Josch, stand ebenfalls auf und ging zwei Schritte auf sie zu, es geht hier um einen Menschen! Was ist dagegen ein Film? Dann gib doch du deine Kanzlei auf, sagte sie eisig. In meiner Kanzlei geht es auch um Menschen, sagte Josch. Ich kann sie nicht einfach im Stich lassen. Ah, ich verstehe, sagte Nela, bei mir geht’s ja nur um ein paar blöde Schimpansen!
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Sie knallte das Glas in die Spüle und verließ die Küche. Im Flur griff sie nach ihrer Handtasche und dem Autoschlüssel und verließ die Wohnung. Eine Weile fuhr sie ziellos in der Gegend herum, dann nahm sie ihr Handy aus der Tasche und wählte eine Nummer. Notfall, sagte sie, kann ich kommen? Was ist los?, hörte sie Toms Stimme. Affenhirn auf dem Speiseplan? So ähnlich, sagte sie. Bin gleich da. Vor zwei Jahren waren sie zusammen in China gewesen und hatten einen Film über die Sitte des Füße-Einbindens gedreht. Sie zeigten, wie die Füße von Mädchen und Frauen so fest bandagiert werden, dass Teile abfaulen und wegsterben, bis ein winziger, verkrüppelter Fuß übrig bleibt, der als ungeheuer erotisch gilt. Offiziell ist der Brauch verboten, aber in einigen Gegenden wird er immer noch heimlich praktiziert. Auf dieser Reise war Nela mehr oder weniger durchgehend übel gewesen, entsprechend begeistert war sie, als ihnen eines Abends im Haus eines reichen Chinesen die größte Spezialität der Region gereicht wurde: Affenhirn, direkt aus dem Schädel gelöffelt. Nela hatte gehofft, sie würde in eine gnädige Ohnmacht fallen, aber leider verfügte sie über einen äußerst stabilen Kreislauf. Fieberhaft überlegte sie, wie sie das Angebot ablehnen könnte, ohne unhöflich zu wirken. Der Gastgeber reichte ihr schon auffordernd einen Porzellanlöffel, und sie war kurz davor, sich quer über den Tisch zu erbrechen, 107
als sie sah, wie Tom sich zu der Übersetzerin beugte und ihr etwas ins Ohr flüsterte. Die Frau strahlte auf, gab Laute des Entzückens von sich und erklärte ihrem Gastgeber etwas auf Chinesisch. Der rief einen Bediensteten, der Tisch mit dem toten Affen wurde rausgeschoben. Staunend sah Nela zu Tom, der ihr verschwörerisch zugrinste. Später erfuhr sie, dass er behauptet hatte, sie sei schwanger, und in ihrem Land bringe es Unglück für das ungeborene Kind, wenn eine schwangere Frau und ihr Mann das Innere von Tieren verzehren. Tom wohnte in der Nähe der Firma im Dachgeschoss eines Hinterhauses, in dem ein unglaubliches Chaos herrschte. Nela war es rätselhaft, wie er sich zwischen all den Kabeltrommeln, Lichtkoffern, Kamerastativen und anderen Geräten zurechtfand, aber er hatte ein geheimnisvolles System, das ihn befähigte, innerhalb kürzester Zeit jedes Teil zu finden, das er suchte. Er öffnete und sah aus wie geradewegs aus den Siebzigern in die Gegenwart gebeamt: Nickelbrille, Lederjeans, knöchelhohe Turnschuhe. Um den Hals ein Peace-Anhänger, das Hemd psychedelisch gemustert, mit langen, spitzen Kragenecken. Du siehst mal wieder unmöglich aus, sagte Nela. Tom lachte ein strahlendes, jungenhaftes Lachen und zeigte dabei zwei Reihen makelloser Zähne. Komm rein, sagte er und küsste sie auf beide Wangen. Was trinken? 108
Magenbitter, sagte sie und verzog das Gesicht. Wieso musstest du das Affenhirn erwähnen? Tom warf drei Eiswürfel in ein Glas und kippte Fernet drüber, er selbst griff nach einer Flasche Bier, die auf dem Tisch stand. Im Fernsehen lief ein Actionfilm, der Ton war leise gestellt, sodass er nur eine Art Geräuschteppich im Hintergrund bildete. Komisch, dachte Nela, als ich alleine gewohnt habe, hatte ich auch immer die Glotze laufen. Tom hatte etwas Kindliches, er konnte sich stundenlang mit dem Bau eines Mobiles aus Kronkorken beschäftigen, löste mit Leidenschaft komplizierte Kreuzworträtsel und spielte per Internet Fernschach mit einem indischen Literaturprofessor. Bei der Arbeit wirkte er dagegen sehr erwachsen; Nela mochte die fast zärtliche Art, wie er die Kamera hielt, den ernsten Gesichtsausdruck, mit dem er durch den Sucher sah. Noch nie hatte sie erlebt, dass der Akku mitten in einer wichtigen Szene leer gelaufen war; Tom hatte ein untrügliches Gespür dafür, wann es spannend werden könnte. Wenn sie zusammen drehten, verständigten sie sich ohne Worte, nur über Blicke und kleine Zeichen. Außer Josch gab es keinen anderen Mann, dem Nela so vertraute. Sie kontrollierte den Stand der Schachpartie, die auf einem kleinen Tischchen aufgebaut war. Soweit sie es einschätzen konnte, war Tom nicht mehr weit von einem Sieg entfernt. Wie lange spielt ihr schon?, fragte sie. 109
Sechs Monate, sagte er, jede Woche ein Zug. Wie langweilig! Nela setzte sich rittlings auf einen Stuhl und nahm einen tiefen Schluck. Die bittere Flüssigkeit tat ihr gut. Tom wühlte in einem schiefen Metallschrank nach Knabberzeug, mehr als eine angebrochene Tüte mit weichen Kartoffelchips konnte er aber nicht finden. Also, was ist los?, fragte er und fuhr fort, das Innere einer aufgeklappten Kamera mit einem Wattestäbchen zu reinigen. Nela nahm einen weiteren Schluck, die Eiswürfel klirrten leise. Was ist das Wichtigste in deinem Leben?, fragte sie. Tom sah auf. Wie kommst du denn darauf? Los, sagte sie, denk nach. Na ja, meine Familie, meine Eltern und Geschwister. Und dann? Meine Arriflex von 1965. Und was noch? Er deutete mit dem Wattestäbchen auf ein Regal hinter sich, darin stand eine kleine, in Bronze gegossene Filmkamera, eine Auszeichnung, die er im vorigen Jahr erhalten hatte. Was würdest du tun, fragte Nela, wenn deine Frau von dir verlangen würde, du sollst ihr zuliebe deinen Beruf aufgeben? Ich würde sie verlassen, sagte Tom seelenruhig.
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Was würdest du tun, wenn sie dir sagte, sie bekäme ein Kind und wolle keinen Mann, der immer unterwegs ist? Tom ließ Kamera und Wattestäbchen sinken. Entgeistert sah er sie an. Du kriegst ein Kind? Nein, sagte sie. Er klappte die Kamera zu und fragte: Was ist das hier, ein Quiz? Nela holte tief Luft und erzählte. Tom unterbrach sie nicht, und als sie fertig war, sagte er nur: Oh Mann. Und nach einer Pause: Magst du sie? Nela zuckte die Schultern. Ich kenne sie fast nicht. Und Josch? Fühlt er sich als ihr Vater? Josch!, schnaubte Nela. Der ist total vernarrt in sie! Wahrscheinlich liebt er sie mehr, als er ihre Mutter je geliebt hat. Hör mal, sagte Tom, das mit dem Dreh lässt sich doch organisieren, schließlich gibt es Millionen Paare, die Kinder haben und trotzdem arbeiten. Nein, sagte sie und schüttelte heftig den Kopf. Wieso, nein? Ich schaff das nicht. Stell dich nicht so an, sagte er, du hast schon ganz andere Sachen geschafft. Ich will aber nicht, sagte sie, den Tränen nahe. Ich will Filme machen, das Leben mit meinem Mann genießen, reisen, unabhängig sein. Noch nie wollte ich ein Kind, und schon gar kein fremdes.
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Eigentlich kannst du gar nicht anders, sagte Tom nachdenklich. Sonst zwingst du Josch, sich zwischen dir und dem Kind zu entscheiden. Genau, sagte sie. Und wenn er sich für das Kind entscheidet? Entsetzt sah Nela ihn an. Als sie gegen zwei Uhr nachts nach Hause kam, nahm sie leise ihr Bettzeug und legte sich auf die Klappcouch im Arbeitszimmer. Sie schlief schlecht und erwachte mit heftigen Kopfschmerzen. In der Küche fand sie eine Nachricht von Josch: Liebe Aimée, ich habe heute Morgen zwei Gerichtstermine, danach komme ich gleich heim. Mach’s gut und vergiss nicht, etwas zu essen! In Liebe, Josch. Sie suchte, ob er auch eine Nachricht für sie hinterlassen hatte, fand aber nichts. Offenbar war sie entbehrlich. Sie schluckte zwei Aspirin und duschte, danach trank sie einen starken Kaffee und schloss sich im Arbeitszimmer ein. Sie hörte Aimée in der Wohnung rumoren, ließ sich aber nicht blicken. Sie kochte auch kein Mittagessen, sondern machte sich, als sie Hunger bekam, ein Butterbrot. Josch kehrte am frühen Nachmittag zurück. Er kam nicht mal ins Arbeitszimmer, um nachzusehen, ob sie da war. Scheißkerl, zischte sie und hackte wütend auf die Computertastatur ein.
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Aus der Küche hörte sie leises Gemurmel. Von plötzlicher Neugier getrieben, stand sie auf und schlich auf den Flur. Sie sah Aimée mit dem Rücken zur Tür am Klapptisch sitzen und in die Richtung blicken, aus der Joschs Stimme kam. Mach dir keine Sorgen, hörte sie ihn sagen, es wird alles gut. Ich war heute auf dem Vormundschaftsgericht und beim Jugendamt. Irgendwann wirst du mit ein paar Leuten reden müssen und ihnen sagen, dass du hier bleiben willst. Niemand kann dich zwingen, zu deinen Großeltern zurückzukehren, okay? Aimée hörte ihm aufmerksam zu und nickte. Hinter der halb geöffneten Tür tauchte Joschs Hand auf und strich über ihre Locken. Sie neigte graziös den Kopf und schmiegte ihr Gesicht in seine Handfläche. In diesem Moment glaubte Nela, Aimées Blick aufzufangen, aber ganz sicher war sie nicht. Gleich darauf wurde die Tür von innen geschlossen. Einen Moment blieb sie fassungslos stehen, dann ging sie zurück ins Arbeitszimmer und ließ sich auf die Couch fallen. Nela zog aus Protest endgültig ins Arbeitszimmer. Eine Woche lang wartete sie darauf, dass Josch mit ihr redete, aber er dachte gar nicht daran. Das gespannte Schweigen zwischen ihnen schien ihn nicht zu stören, offenbar zog er es einer weiteren Auseinandersetzung vor. Ohne dass sie es abgesprochen hätten, behielten sie die Arbeitsteilung des ersten Tages bei: Nela 113
dachte sich wechselnde Ausreden für Lydia aus und blieb vormittags zu Hause. Sie blickte in Aimées finsteres, undurchdringliches Gesicht und fragte sich, warum sie sich das alles bieten ließ. Sobald Josch zurück war, raste sie in die Firma und arbeitete bis spätabends. So war Aimée rund um die Uhr betreut, während Nela und Josch sich kaum noch sahen. Irgendwann begann Nela, Aimée aus einem anderen Blickwinkel wahrzunehmen, sie war nicht länger das bedauernswerte Waisenkind, dem man helfen musste, sondern ein lästiger Eindringling, der ihr Leben durcheinander brachte und ihr die Liebe und Aufmerksamkeit ihres Mannes streitig machte. Ihr anfängliches Mitgefühl wandelte sich in Ablehnung; unwillig registrierte sie, wie Aimée sich Stück für Stück in ihrer Wohnung ausbreitete. Aus dem Gästezimmer war ein Mädchenzimmer geworden, mit Postern an der Wand und Krimskrams im Regal. Josch hatte Aimée einen Korbstuhl geschenkt und ihr erlaubt, eine Wand orangefarben zu tünchen. Auch im Rest der Wohnung war Aimées Anwesenheit nicht mehr zu übersehen; unermüdlich klaubte Nela lange, dunkle Haare aus dem Waschbecken, entfernte Kleider aus dem Bad, sammelte ein, was herumlag, und versuchte, Spuren zu tilgen, als könnte sie dadurch das Mädchen selbst zum Verschwinden bringen. Aber es war wie der Kampf gegen eine Hydra, irgendwo tauchte immer wieder ein Stück von ihr auf.
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Eines Tages verlor Nela die Geduld und beschwerte sich bei Josch. Kann sie ihren verdammten Kram nicht selbst wegräumen?, sagte sie und hob anklagend ein herumliegendes Sweatshirt hoch. Josch zuckte die Schultern. Sie ist eben mit anderen Dingen beschäftigt. Zum Beispiel damit, den Tod ihrer Mutter zu verkraften. Ja, ich weiß, sagte Nela genervt, sie ist eine arme, bedauernswerte Waise und hat unseren Trost und unsere Nachsicht verdient, aber das gibt ihr, verdammt noch mal, nicht das Recht, unsere Wohnung zu verwüsten! Sie schleuderte das Sweatshirt in eine Ecke. Sag es ihr selbst, empfahl Josch. Toller Vorschlag, fauchte sie, da kann ich doch genauso gegen eine Wand reden! Aimée lag die meiste Zeit auf dem Bett, dösend, vor sich hin starrend, Musik hörend. Manchmal hätte Nela sie schütteln und anschreien mögen, um sie aus ihrer aufreizenden Lethargie zu holen. Sie empfand das Schweigen des Mädchens zunehmend als Provokation, und diese ständige, demonstrative Zurückweisung zermürbte sie. Am meisten aber litt sie darunter, dass Josch nicht das geringste Verständnis für ihre Nöte zeigte. Dass es nur noch Aimée für ihn gab. Manchmal war sie so verzweifelt, dass sie am liebsten aus der Wohnung gelaufen und nicht mehr zurückgekommen wäre. Doch wahrscheinlich wollte Aimée genau das erreichen. Also harrte sie trotzig aus. 115
Beim Abstauben im Wohnzimmer entdeckte Nela ein gerahmtes Foto, das Josch, Rosanna und Aimée in dicken Skianzügen und mit lachenden Gesichtern vor einem Schneemann zeigte. Wütend wollte sie es in Aimées Zimmer zurückbringen, aber dann blieb sie stehen und betrachtete es genauer. Aimée musste auf dem Bild ungefähr fünf sein, ihre Wangen glühten rot, die dunklen Locken quollen unter der Strickmütze hervor. Joschs Haare waren länger als heute, sein Gesicht war braun gebrannt, und er hatte die Sonnenbrille in die Stirn geschoben. Rosanna steckte gerade dem Schneemann eine Karottennase ins Gesicht, dabei lachte sie ihr mitreißendes Lachen. Seufzend staubte Nela das Bild ab, stellte es zurück ins Regal und nahm sich zum tausendsten Mal vor, geduldiger zu sein.
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Als Nela ein paar Tage später in die Firma kam, winkte Tamara mit einem Fax. Jane kommt heute nach Berlin, rief sie, du sollst sie dort treffen! Sie hat kurzfristig die Einladung zu einer Umwelttagung angenommen und hält einen Vortrag im Congress Center. Anschließend will sie mit dir zu Abend essen. Ich habe schon einen Flug gebucht. Nela nahm das Fax und las, während Tamara weiterredete. Du kannst bei einer Freundin von Lydia wohnen, dann sparen wir das Hotel. Du musst allerdings gleich los, kauf dir am Flughafen ‘ne Zahnbürste! Okay, sagte Nela nur, danke. Sie raste in ihr Büro und suchte in Windeseile zusammen, was sie brauchte. Bestimmt würde Jane alles über den Stand der Vorbereitungen wissen wollen, und Nela wollte ihr beweisen, dass es gut lief Sie tippte eine SMS an Josch: Muss nach Berlin, treffe dort Jane, bin morgen Mittag zurück, N. Taxi ist da, schrie Tamara. Komme schon, schrie sie zurück und verließ im Laufschritt die Firma.
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Nach dem Einchecken hatte sie noch Zeit, um sich Waschzeug und etwas zum Lesen zu kaufen. Als sie sich gerade hingesetzt hatte, um einen Kaffee zu trinken, klingelte ihr Handy. Wo bist du?, fragte Josch. Am Flughafen, meine Maschine geht gleich. Ich habe ein Problem, sagte er. Da haben wir was gemeinsam, gab Nela bissig zurück. Hör zu, sagte Josch, ein Mandant von mir hat bei der polizeilichen Vernehmung einen Fluchtversuch unternommen und ist aus dem Fenster gesprungen. Dabei hat er sich verletzt, und jetzt ist hier ist der Teufel los, Notarzt, Presse, das ganze Programm. Ich habe keine Ahnung, wie lange es dauern wird. Was hat das mit mir zu tun? Wenn du heute Abend nicht da bist und ich womöglich erst in der Nacht nach Hause komme, ist Aimée zu lange allein. O Mann, sagte Nela ungehalten, sie war schon oft alleine, warum soll das gerade heute ein Problem sein? Sie war noch nie nachts allein. Dann lernt sie es eben. Nela, ich bitte dich! Kein Termin kann so wichtig sein, dass man ihn nicht absagen oder verschieben kann! Mein Gott, rief Nela, du weißt doch, wie viel mir dieses Projekt bedeutet, warum musst du das von mir verlangen?
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Aimée hat Angst in der Nacht, sie kann nicht alleine bleiben, wiederholte Josch. Verdammte Scheiße, zischte Nela ins Telefon, merkst du nicht, wie sie dich in der Hand hat? Alles dreht sich nur noch um sie, du bist überhaupt nicht mehr du selbst. Aber ich lasse mich nicht erpressen! Bitte, Nela, du kannst mich jetzt nicht hängen lassen. Seine Stimme klang so flehend, dass sie fast schwach geworden wäre, aber im nächsten Moment schossen ihr Tränen der Wut in die Augen. Und was machst du?, sagte sie. Du lässt mich doch schon die ganze Zeit hängen! Der Berlin-Flug wurde aufgerufen. Ich muss jetzt los, sagte Nela entschlossen, schaltete ihr Handy aus und lief los. Während sie auf dem Rollband zum Gate glitt, war es schon vorbei mit ihrem Elan. Was würde Josch jetzt tun? Vielleicht gab es Gründe für seine besondere Besorgnis, die sie nicht kannte? Was, wenn Aimée tatsächlich Dummheiten machte? Sie stellte sich in die Warteschlange zum Einsteigen und versuchte, nicht mehr daran zu denken, aber es gelang ihr einfach nicht. Sie sah eine brennende Wohnung, leere Tablettenschachteln, Blut in der Badewanne, einen zerschmetterten Körper auf dem Straßenpflaster. Und sie sah Joschs Blick, der ihr die Schuld gab. Als der letzte Fluggast vor ihr durch die Ticketkontrolle gegangen war, drehte Nela sich 119
abrupt um und zerknüllte mit der linken Hand ihre Bordkarte. Aimée saß zu Hause vor dem Computer. Das Mädchen spielte eines von Joschs Geschicklichkeitsspielen und wirkte alles andere als selbstmordgefährdet. Das Radio lief, neben dem Computer stand eine Flasche Limonade, alles sah nach einem gemütlichen Nachmittag aus. In Nela kochte erneut die Wut hoch. Ich bin da, sagte sie knapp. Aimée drehte sich kurz um und verzog genervt das Gesicht, dann stand sie auf und wollte in ihr Zimmer. Nela versperrte ihr den Weg. Langsam reicht es mir, weißt du das?, sagte sie heftig. Ich musste eben eine Reise absagen, und wahrscheinlich platzt am Ende noch mein Film. Und alles, weil du nicht allein bleiben darfst! Aimée hatte sich gegen die Wand gelehnt und abwehrend die Arme vor der Brust verschränkt. Demonstrativ blickte sie an Nela vorbei, die immer wütender wurde. Wahrscheinlich freust du dich darüber auch noch, was? Aimée wich ihrem Blick weiter aus. Los, sag endlich was!, forderte Nela sie auf. Mit Josch redest du doch sicher schon längst wieder! Aimée wollte sich an ihr vorbeidrängen, Nela hielt sie am Arm fest. Hier geblieben, sagte sie und sah das Mädchen aus zusammengekniffenen Augen an. Eines sage 120
ich dir: Du vertreibst mich nicht! Du wirst mich nicht zwingen, mit dir zusammenzuleben, und wenn du dich weiter so aufführst, landest du im Heim, dafür werde ich sorgen! Aimée riss sich los, lief in ihr Zimmer und knallte die Tür zu. Nela war selbst erschrocken über ihren Ausbruch, aber sie fühlte sich auch befreit. Telefon. Lydia. Bist du wahnsinnig geworden? Willst du uns ruinieren? Es war ein Notfall, sagte Nela. Das ist mir egal!, rief Lydia. Und wenn du mit dem Kopf unterm Arm angekommen wärst, du hättest fliegen müssen! Ich erkläre es dir morgen, sagte Nela hastig und legte auf. Sie erwachte davon, dass jemand ihr Gesicht streichelte. Mühsam öffnete sie die Augen und erkannte Josch. Es war fast dunkel im Zimmer, nur vom Flur fiel Licht herein. Sie sah auf die Uhr, es war nach elf. Wie geht’s ihm?, fragte sie schlaftrunken. Wem? Na, dem Mann, der aus dem Fenster gesprungen ist. Er hat sich beide Beine und einen Arm gebrochen, sagte Josch, er hatte ein Riesenglück. Er beugte sich näher zu Nela. Danke, sagte er, ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen kann. Nela antwortete nicht. 121
Ihr Handy vibrierte, sie nahm es hoch und las: So sorry for you, hope to see you soon, best regards, Jane. Von Jane, sagte sie und sah Josch spöttisch an, ich habe ihr geschrieben, dass mein Mann einen Herzinfarkt hatte. Sie rückte zur Seite, und er legte sich neben sie auf die schmale Liegefläche der Couch. Steif und verlegen wie zwei Teenies bei der ersten Verabredung lagen sie da und wagten nicht, sich zu berühren. Es tut mir leid, sagte er, ich bin ein Idiot. Da kann ich nicht widersprechen, gab Nela zurück. Bist du sehr sauer auf mich? Na ja. Er legte sich auf die Seite und sah sie an. Was hätte ich tun sollen? Du meinst, heute? Nein, ich meine überhaupt. Was hätte ich tun sollen, als klar war, dass Aimée nicht bei ihren Großeltern bleiben kann? Dass sie bei mir leben will? Ich weiß es nicht, sagte Nela und starrte weiter in die Luft. Ich verstehe, dass du sie nicht wegschicken kannst, aber so ist einfach nicht das Leben, das ich führen möchte. Natürlich hältst du mich deshalb für eine schreckliche Egoistin, und vielleicht bin ich das auch. Aber ich habe nur dieses eine Leben! Es kann doch immer was passieren, sagte Josch, jemand wird krank, hat einen Unfall, stirbt. So was 122
kommt vor, auch wenn es nicht in deine Pläne passt. Ich will kein Kind, sagte Nela mit fester Stimme, ich wollte noch nie eines. Ich habe mich mein Leben lang für meine kranke Mutter verantwortlich gefühlt, ich will für niemanden mehr verantwortlich sein. Und was machst du, wenn du schwanger wirst? Ich werde schon nicht schwanger. Und wenn doch? Nela zuckte die Schultern. Abtreiben, wahrscheinlich. Ich kann Aimée nicht abtreiben, sagte er. Nela schwieg. So kann es trotzdem nicht weitergehen, sagte sie schließlich. Meine Arbeit leidet, unsere Beziehung leidet … Die Einzige, die leidet, ist Aimée, unterbrach Josch. Hast du eigentlich kein Mitleid? Du bist gemein, sagte Nela verletzt. Ich habe Mitleid mit jeder leidenden Kreatur, egal, ob Mensch oder Tier. Aber deshalb kann ich doch nicht alle bei mir aufnehmen! Das hat auch keiner verlangt, sagte Josch, es würde genügen, wenn du dich auf Aimée einlassen würdest. Was habe ich denn gemacht, seit sie da ist? Du hast sie geduldet. Wie einen lästigen Störenfried, von dem du hoffst, dass er bald wieder verschwindet. Und das merkt sie. Ich habe die ganze Zeit für sie gekocht, ich habe meine Berlin-Reise abgesagt – was soll ich denn noch tun? 123
Wenn ich dir das erklären muss, hat es sowieso keinen Sinn, sagte Josch. Du setzt mich so unter Druck, sagte Nela verzweifelt. Schau, sagte Josch beruhigend, wir stellen gerade einen dritten Mann ein in der Kanzlei, ich kann jetzt mehr von zu Hause aus machen. Bald geht Aimée wieder zur Schule, dann wird es noch mal leichter. Und in vier, fünf Jahren ist sie erwachsen und geht ihrer Wege. Gequält lachte Nela auf. Ach, so bald schon! Du ahnst nicht, wie schnell das vorbeigeht, sagte Josch. Bis dahin bin ich fast vierzig, sagte sie. Uralt. Sechsunddreißig, verbesserte er. Es ist doch nicht nur eine Frage der Organisation, sagte Nela, ich bin keine Psychologin, ich weiß nicht, wie man einem jungen Menschen hilft, der sich allem verweigert. Mit Liebe, sagte Josch. Aber ich liebe sie nicht, sagte Nela, und sie hasst mich. Das stimmt nicht, sagte Josch. Im Moment ist sie auf mich fixiert, aber du könntest eine Beziehung zu ihr aufbauen. Das würde Zeit kosten und Kraft, aber ich bin sicher, es würde dir gelingen. Und es würde sich lohnen. Für euch beide. Nela antwortete nicht. Eine Weile lagen sie stumm nebeneinander. Ohne dich geht es nicht, sagte Josch. Wir haben nächste Woche einen Termin beim Familiengericht, dort wird entschieden, ob mir die Vormundschaft 124
für Aimée erteilt wird. Wenn du nicht mitziehst, entscheidet das Jugendamt, was mit ihr passiert. Nela richtete sich auf. Soviel ich weiß, muss der leibliche Vater dazu befragt werden. Das kann nicht dein Ernst sein, sagte Josch und setzte sich ebenfalls auf. Aimées Vater hat sich nie für sie interessiert, er hat nie Kontakt zu ihr aufgenommen, er ist ein Fremder für sie! Aber er ist ihr Vater, beharrte Nela. Müsste man nicht wenigstens versuchen, ihn zu finden? Er ist verschwunden, sagte Josch ungeduldig, vielleicht lebt er gar nicht mehr. Also was ist, kann ich auf dich zählen oder nicht? Nela verbarg ihr Gesicht in den Händen und murmelte: Lass mich allein, bitte! Josch zögerte, als wollte er noch etwas sagen, blieb aber stumm. Seine Lippen streiften kurz ihren Nacken, dann stand er auf und ging ins Schlafzimmer. In dieser Nacht konnte Nela nicht mehr schlafen. Müde und zerschlagen kam sie am nächsten Morgen in die Küche, wo Josch und Aimée beim Frühstück saßen. Hallo, murmelte sie und griff nach der Zeitung. Guten Morgen, sagte Josch freundlich, und als sie sich setzte, fing sie ein schüchternes, fast unmerkliches Lächeln von Aimée auf Sie fiel auf einen Stuhl. Aimée lächelte sie an! Nach allem, was sie ihr gestern an den Kopf geknallt hatte! Sofort bekam sie ein schlechtes Gewissen und versteckte sich hinter der Zeitung. 125
Dann kam ihr der Verdacht, dass Josch dem Kind wahrscheinlich nahe gelegt hatte, im eigenen Interesse lieber ein bisschen netter zu ihr zu sein. Kaffee?, fragte Josch, und sie machte: Mmh. Er schenkte eine Tasse ein, Nela streckte die Hand nach der Milch aus, die außerhalb ihrer Reichweite stand. Aimée schob ihr die Flasche zu. Wenn du willst, kannst du gleich los, sagte Josch, ich arbeite heute hier. Okay, sagte Nela, trank ihre Tasse leer und stand auf. Josch sah sie erwartungsvoll an. Nela schwieg. Er würde früh genug erfahren, wie sie sich entschieden hatte. Gesellschafterversammlung, sagte Tamara, als Nela in der Firma ankam, und deutete in die Richtung von Lydias Büro. Etwas beklommen öffnete sie die Tür. Lydia und Karin sprachen leise miteinander, ihre Mienen waren besorgt. Als sie Nela bemerkten, verstummten sie. Guten Morgen, sagte Nela betont munter, ich nehme an, ihr wartet auf mich. Allerdings, sagte Lydia, und ich hoffe, du hast eine verdammt gute Erklärung für gestern. Macht euch keine Sorgen, sagte Nela, Jane hat sich schon bei mir gemeldet, es ist alles in Ordnung! Den Eindruck haben wir nicht, sagte Lydia, heute Morgen rief Hunter von Channel 4 an und
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wollte sich bestätigen lassen, dass der Film geplatzt wäre. Offenbar hat er sich gestern in Berlin an Jane rangewanzt und so lange auf sie eingeredet, bis sie selbst nicht mehr wusste, wer nun eigentlich den Film über sie macht. Du weißt, dass Channel 4 das Ding liebend gern selbst produzieren würde. Und, was hast du ihm gesagt?, fragte Nela erschrocken. Dass ich ihm persönlich die Eier abschneide, wenn er noch mal versucht, sich in unsere Geschäfte einzumischen, sagte Lydia grimmig. Jedenfalls musst du dich sofort dahinter klemmen, damit Jane nicht abspringt, verstanden? Mach ich, versprach Nela. Lydia beugte sich näher zu ihr. So, Nelly, und jetzt erklär uns, was gestern los war. Nela holte tief Luft. Josch hat eine Pflegetochter, die seit einer Weile bei uns wohnt, erklärte sie, gestern gab es einen Notfall, und ich konnte nicht weg. Na, super, sagte Karin, seit wann wirst du fürs Babysitten bezahlt? Nela ignorierte sie. Ach, jetzt kapier ich, sagte Lydia, ich hab mich schon gewundert, warum du neuerdings immer so spät kommst. Dafür gehe ich auch spät, verteidigte sich Nela. Lydia machte eine wegwerfende Handbewegung. Mir egal, wann du deine Arbeit machst, Hauptsache, du machst sie. Aber du weißt, dass die Existenz der Firma von diesem Film abhängt. Und 127
der Film hängt von dir ab. Jane hat zugesagt, weil sie dich klasse findet, nicht, weil sie unbedingt mit einer popeligen, kleinen, deutschen Filmproduktion zusammenarbeiten will. Ich hoffe, dir ist klar, welche Verantwortung du trägst. Ist mir klar, sagte Nela. Ich muss los, sagte Karin und stand auf. Erzähl mir mehr über das Mädchen, forderte Lydia sie auf, als sie allein waren. Da gibt’s nicht viel zu erzählen, sagte Nela. Ihre Mutter ist tot, der Vater verschwunden, zu den Großeltern will sie nicht, also ist sie jetzt bei uns. Lydia blickte ungläubig. Du meinst, Josch hat sie dir einfach aufs Auge gedrückt? Kann man so sagen, bestätigte Nela, er hat nie richtig mit mir darüber gesprochen. Das ist wieder typisch Mann, regte Lydia sich auf, je mehr es zu besprechen gäbe, desto schweigsamer werden die meisten! Na, das ist ja eine schöne Bescherung. Wenn du das Mädel nicht behalten willst, hält alle Welt dich für selbstsüchtig, und wenn es bei euch bleibt, ist es vorbei mit der schönen Freiheit. Nela nickte. Genauso ist es. Wie alt ist sie überhaupt? Vierzehn. So alt schon? Dann musst du auch noch aufpassen, dass sie deinen Mann nicht verführt! Nun übertreib mal nicht, sagte Nela. Man hat schon Pferde kotzen sehen, sagte Lydia ungerührt. Aber was hast du jetzt vor?
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Nela sah sie forschend an. Was würdest du an meiner Stelle denn tun? Lydia überlegte nicht mal den Bruchteil einer Sekunde. Ab ins Internat!, trompetete sie. Das würdest du fertig bringen? Warum denn nicht? Würdest du dir nicht … wie das letzte Schwein vorkommen? Ach, Nelly-Schätzchen, in unserer Branche kommt man sich ständig vor wie das letzte Schwein, daran bin ich gewöhnt. Nela schüttelte den Kopf. Ich nicht. Und ich möchte mich auch nicht daran gewöhnen. Das ehrt dich, sagte Lydia trocken, aber Filme drehst du mit dieser Einstellung nicht. Scheiß drauf, gab Nela zurück. Was soll das heißen?, fragte Lydia erschrocken. Willst du den Film nicht mehr machen? Doch, sagte Nela. Aber nicht jetzt. Ich werde versuchen, ihn zu verschieben. Bist du wahnsinnig? Lydia sprang wie von der Tarantel gestochen von ihrem Stuhl auf. Weißt du, was das bedeutet? Ja. Dass der Film scheitern kann. Und das willst du riskieren? Ich will nicht, ich muss, sagte Nela. Weil sonst mehr scheitert als der Film. Als sie abends nach Hause kam, saßen Josch und Aimée vor dem Fernseher, Aimée hatte ihren Kopf an seine Schulter gelehnt; sie starrte gebannt auf
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den Bildschirm und drehte mit dem Finger eine ihrer Locken. Nela betrachtete die beiden nachdenklich, dann klopfte sie an die geöffnete Tür. Hallo, ich bin da. Kann ich mit dir sprechen? Josch nickte ihr zu. Komme gleich. Sie ging in ihr Arbeitszimmer, legte sich auf die Couch und schloss die Augen. Sie fühlte sich merkwürdig leicht. Josch kam rein und setzte sich auf ihren Schreibtischstuhl, sie richtete sich auf. Ich muss dir was sagen, begann sie. Ich muss dir auch was sagen, sagte er. Sie lächelte ihn an. Du zuerst! Er räusperte sich. Du hattest Recht, ich hab dich zu sehr unter Druck gesetzt. Dich verbindet nichts mit Aimée, und ich kann nicht verlangen, dass du dich ebenso für sie einsetzt wie ich. Nein, nein, widersprach Nela, das ist schon okay! Ich habe mir überlegt, fuhr Josch fort, vielleicht sollten wir das Ganze irgendwie … entzerren. Entzerren? Na ja, im Moment sieht es so aus, als müsstest du wählen zwischen dem Leben mit Aimée und mir und deiner persönlichen Freiheit. Aber der Unterschied zwischen uns ist: Ich muss mich um Aimée kümmern. Du musst es nicht. Nela lachte auf. Komisch, dass du das ausgerechnet jetzt sagst! Wieso? Weil ich dir gerade anbieten wollte, den Film zu verschieben. 130
Er musterte sie überrascht. Ist das wahr? Nela nickte. Das würde ich nie von dir verlangen. Aber du hast es verlangt! Ich weiß, sagte er. Das war ein Fehler. Also, fragte sie argwöhnisch, was meinst du mit … entzerren? Du machst in Ruhe deinen Film, sagte Josch, und danach … Vielleicht willst du dir eine kleine Wohnung nehmen? Nela starrte ihn ungläubig an. Du schickst mich weg? Aber nein, ich schicke dich doch nicht weg, beteuerte er, ich will nur, dass du dich frei fühlst. Wir haben beide Träume. Mein Traum ist es, Aimée ein Zuhause zu geben, dein Traum ist es, für niemanden verantwortlich zu sein. Wenn wir beides wollen, müssen wir eben auch beide auf was verzichten. Aber ich bin bereit, auf meinen Film zu verzichten!, rief Nela. Ich habe begriffen, dass Aimée jetzt wichtiger ist und dass du meine Hilfe brauchst, warum willst du sie nicht annehmen? Weil du’s mir zuliebe tun würdest und nicht für Aimée. Na und? Macht das einen Unterschied? Nela fühlte sich betrogen. Während sie ihre edelmütigen Pläne schmiedete, hatte Josch wieder eine seiner einsamen Entscheidungen getroffen und zeigte ihr nun, dass er auf sie nicht angewiesen war. Er lächelte und stand auf. Ja, es macht einen Unterschied, aber das ist jetzt egal. Es gibt 131
übrigens Neuigkeiten, sagte er und zog einen bunten Prospekt aus der Sakkotasche. Luisen-Gymnasium, las Nela, neusprachliches Gymnasium mit Nachmittagsbetreuung Anspruchsvoll, leistungsorientiert, modernste Pädagogik. Die richtige Schule für Ihr Kind. Aimée fängt zum neuen Schuljahr an, sagte Josch. Sie geben ihr drei Monate Zeit zum Eingewöhnen. Nela hob langsam den Kopf. Herzlichen Glückwunsch, sagte sie, dann brauchst du mich ja wirklich nicht mehr. Am Morgen der Verhandlung war Josch nervös. Er wusste nur zu gut, dass Gerichtsurteile nicht vorauszusehen waren, selbst nicht für einen Anwalt. Zu viele Faktoren konnten die Entscheidung des Richters beeinflussen. Außerdem war er nicht sicher, ob er sich wirklich auf Nela verlassen konnte. Ohne ihre Unterstützung aber kämpfte er auf verlorenem Posten. Als Erstes sollte Aimée befragt werden. Der Richter bat Josch und Nela, so lange draußen zu warten. Einem Impuls folgend wollte er widersprechen, hielt sich aber im letzten Moment zurück. Er wies nur darauf hin, dass Aimée infolge des Unfallschocks nicht sprechen, sondern ihre Antworten aufschreiben würde. Dann nickte er ihr aufmunternd zu und verließ mit Nela den Raum. Fünfzehn Minuten später wurden sie wieder hereingerufen, Josch versuchte, an Aimées 132
Gesichtsausdruck zu erkennen, wie es gelaufen war. Sie wirkte angespannt. Der Richter fasste das Ergebnis der Befragung zusammen. Aimée habe eindeutig geäußert, dass sie nicht bei ihren Großeltern leben wolle, sondern bei Josch. Sie habe die Beziehung zu ihm als sehr innig geschildert und deutlich gemacht, dass sie ihn als ihren Vater betrachte. Dann sah er in die Runde und sagte: Ich habe zwei Bedenken. Erstens: Das Mädchen will zu Ihnen, Herr Gercken, nicht zu Ihrer Frau. Zweitens: Ich bin der Meinung, dass wegen der Sprachverweigerung eine Therapie angezeigt ist. Ehrlich gesagt, ich frage mich, warum sie nicht längst eine macht. Josch meldete sich energisch zu Wort, und der Richter forderte ihn auf zu sprechen. Zu eins, sagte Josch. Aimée wohnt erst seit wenigen Wochen bei uns, sie und meine Frau kennen sich also noch nicht gut. Und natürlich ist die Situation nicht einfach: Meine Frau hatte nicht vor, eine traumatisierte Jugendliche aufzunehmen, und Aimée ist natürlich noch sehr auf mich fixiert. Trotzdem glaube ich, dass die beiden zueinander finden werden. Der Sachverständige wiegte den Kopf und blickte zweifelnd. Zu zwei, fuhr Josch fort. Ich …, ich meine, wir wollten vermeiden, ihr das Gefühl zu geben, sie wäre krank. Wir dachten, je weniger Aufhebens wir von ihrer Sprachlosigkeit machen, desto schneller würde sie aufhören.
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Glauben Sie das immer noch?, unterbrach der Sachverständige. Ja, sagte Josch mit fester Stimme. Ich denke, wir sollten eine Therapie zur Auflage machen, schaltete sich die Frau vom Jugendamt ein. Ich möchte noch Frau Franke hören, entschied der Richter und wandte sich Nela zu. Das Mädchen aufzunehmen war kein leichter Schritt für Sie, sagte er, warum haben Sie sich dazu entschlossen? Aimée zuliebe? Ihrem Mann zuliebe? Mir selbst zuliebe, sagte Nela ruhig. Ich glaube, dass man im Leben Aufgaben bekommt, vor denen man nicht weglaufen sollte. Aber natürlich tue ich es auch meinem Mann zuliebe. In guten wie in schlechten Tagen, Sie kennen die Formel. Ich habe ihn ja nicht geheiratet, um ihn in der ersten schwierigen Situation im Stich zu lassen. Sie fing einen überraschten Blick von Josch auf. Auch dem Richter schien die Antwort zu gefallen. Es könnten noch eine Menge Probleme auf Sie zukommen, sagte der Richter, das ist Ihnen klar? Zusammen werden wir es schon schaffen, sagte sie und lächelte zu Josch hinüber. Der Richter blickte prüfend über den Rand seiner Brille. Ziehen sie in Erwägung, demnächst eigene Kinder zu bekommen? Nein, sagte Nela überrascht, eigentlich nicht. Obwohl der Richter alle Angaben über Josch und seinen Antrag schriftlich vor sich liegen hatte, 134
befragte er ihn ein weiteres Mal. Er erkundigte sich nach der Zeit mit Rosanna, nach Aimées Kindheit, nach ihrer Entwicklung, nach der Art seiner Beziehung zu ihr. Josch begriff, dass der Richter sorgfältig vorgehen musste, um völlig auszuschließen, dass Joschs Interesse an Aimée zweifelhafter Natur sein könnte. Es war ziemlich ungewöhnlich für einen Mann, die Vormundschaft für ein Kind zu beantragen, mit dem er nicht verwandt war. Dann kündigte der Richter eine Unterbrechung an. Nach fünfundzwanzig Minuten ging es weiter. Der Richter räusperte sich und verkündete den Beschluss: Herr Josef Gercken erhält die Vormundschaft für die Minderjährige Aimée Cardello mit der Auflage, ihr eine sofortige Therapie in einer geeigneten Einrichtung zukommen zu lassen. Herr Mitterhuber, das ist unser Sachverständiger hier, wird Ihnen entsprechende Vorschläge machen. Sollte sich allerdings der Vater des Kindes melden und Antrag stellen, muss die Sache neu aufgerollt werden. Nach Paragraph 1680 des Bürgerlichen Gesetzbuches liegt das Recht, die elterliche Sorge auszuüben, bei den leiblichen Eltern. Das strenge Richtergesicht verzog sich zu einem Lächeln. Und nun wünsche ich Ihnen viel Glück zusammen! Gleich darauf standen sie vor dem Gerichtsgebäude. 135
Stürmisch umarmte Josch Nela, dann packte er Aimée und hob sie ein Stück in die Luft. Freust du dich?, fragte er, aber Aimée nickte nur. Sie wirkte benommen, so als hätte sie noch nicht ganz verstanden, was der Richter gesagt hatte. Josch stellte sie wieder auf die Füße. Da trat Nela einen Schritt näher und zog das überraschte Mädchen an sich. Willkommen in unserer Familie, sagte sie. Spät in der Nacht, auf dem Rückweg vom Bad, blieb Nela vor dem Gästezimmer stehen, das nun endgültig kein Gästezimmer mehr war, sondern Aimées Zimmer. Die Tür stand offen, damit das Licht vom Flur hineinleuchten konnte. Was für bekloppte Einfälle das Schicksal hat, dachte sie. Nun war ausgerechnet sie, die lieber Australien zu Fuß durchquert als eine Familie gegründet hätte, Stiefmutter geworden. Wie das schon klang! Vorsichtig machte sie einen Schritt ins Zimmer. Aimée schlief auf dem Rücken und atmete mit offenem Mund. Nela sah, dass sie ein bedrucktes TShirt von Josch trug, das sie ihm von ihrer letzten New-York-Reise mitgebracht hatte. Neben einem Marihuanastrauch grinste dümmlich das Gesicht von George Bush, darunter stand Good bush, bad bush. Die dünne Bettdecke lag zerwühlt neben Aimée, ein Bein hing über der Bettkante, einen Arm hatte sie hinter dem Kopf. Trotz ihrer Körpergröße wirkte sie sehr zart und zerbrechlich. 136
Das Zimmer war aufgeräumt, ein paar neue Poster von Sängerinnen hingen an der Wand; Shakira, entzifferte Nela, Avril Lavigne, Pink. Drei getrocknete Rosen standen in einer Vase ohne Wasser, daran lehnte ein Foto von Rosanna. Der Discman lag auf dem Korbstuhl, den Josch ihr geschenkt hatte, ihre CDs standen in Reih und Glied auf dem Boden an der Wand. Sie braucht ein CD-Regal, dachte Nela. Ihr Blick fiel auf den Schreibtisch, dort lag ein neuer Schulrucksack mit dem Label, das ihn doppelt so teuer machte wie einen, der ebenso aussah, aber das Label nicht hatte. Ein aufgeschlagenes Heft lag daneben, Nela griff danach, wollte es in den geöffneten Rucksack schieben. Die Seiten waren voll geschrieben, im schwachen Lichtschein verschwamm die Schrift, aber einige Worte waren so groß, dass sie ihr unwillkürlich ins Auge sprangen. ICH HASSE NELA. WARUM DARF SIE LEBEN UND MAMA NICHT?
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Als
der Tag ihrer Abreise gekommen war, fühlte Nela sich insgeheim erleichtert. Morgen begannen die Dreharbeiten, nun gab es kein Zurück mehr. Sie warteten an der Sicherheitsschleuse, niemand sprach. Josch sah zu, wie Tom eilfertig Nelas Tasche aufs Band hob. Ein netter Kerl, fand Josch, vielleicht ein bisschen zu nett. Immer, wenn Nela wochenlang mit ihm unterwegs war, fragte er sich, ob Tom sie diesmal rumkriegen würde. Aimée hatte darauf bestanden, mit zum Flughafen zu fahren. Schon als kleines Kind war sie fasziniert gewesen von Flugzeugen. Nun stand sie da und beobachtete die Abschiedsszene mit undurchdringlichem Gesicht. Nela umarmte Josch und winkte Aimée zu. Tom verabschiedete sich mit Handschlag und breitem Lächeln. Es piepte, als er durchs Tor ging, er musste zurück und seinen Schlüssel und ein paar Münzen in einen Korb legen. Nela wartete ungeduldig auf der anderen Seite. Als er seinen Rucksack vom Band gehoben und die Metallgegenstände verstaut hatte, hakte sie sich bei ihm ein und zog ihn weg, ohne sich noch einmal umzusehen. 138
Als die beiden verschwunden waren, deutete Aimée Richtung Aussichtsterrasse. Sie liebte es, Flugzeuge starten und landen zu sehen. Josch rechnete nach: Mit fünf war sie das erste Mal geflogen. Es war sein erster gemeinsamer Urlaub mit Rosanna gewesen, am Ende seiner Referendarzeit, in einer Ferienanlage auf Fuerteventura. Rosanna verachtete Pauschalreisen, sie wäre viel lieber mit dem Auto losgefahren, ohne am Morgen zu wissen, wo sie am Abend landen würden. Josch aber hatte keine Lust auf diese Art von Abenteuer, er war erschöpft und fand es erholsamer, sich um nichts kümmern zu müssen außer darum, rechtzeitig die Sonnenliegen zu besetzen. Oft lag Josch neben Rosanna und beobachtete aus den Augenwinkeln, wie sie in einer Zeitschrift blätterte, die Sonnenbrille auf der Nasenspitze, das üppige Haar mit bunten Klammern hochgesteckt. Schon nach wenigen Tagen war sie dunkelbraun, während er ständig mit Sonnenbrand zu kämpfen hatte. Das Besondere an Rosannas Schönheit war, dass sie sich ihrer nicht bewusst zu sein schien. Ihre Bewegungen waren wie die eines Kindes, das ins Spiel versunken ist. Nichts an ihr schien auf Wirkung abzuzielen. Umso größer war die Wirkung, die sie auf andere Menschen hatte. Sie hatten sich bei einer Party kennen gelernt. Rosanna kam mit ein paar Leuten von der Kunstakademie, Josch saß am Juristentisch. 139
Rosanna betrat den Raum, als er zufällig in ihre Richtung blickte. Sie trug Jeans und eine rote Bluse, ihr Haar war mit einem roten Tuch zurückgebunden. Einer ihrer Freunde flüsterte ihr etwas zu, und sie brach in übermütiges Gelächter aus. Josch starrte sie an wie eine Erscheinung. Als die Band spielte, nahm er all seinen Mut zusammen und forderte sie auf. Sie musterte ihn mit leichtem Spott, solche Förmlichkeiten waren in ihren Kreisen nicht üblich. Trotzdem folgte sie ihm bereitwillig auf die Tanzfläche. Zu seinem Entzücken kam ein langsamer Song, und er zog sie an sich. Ein wenig überrascht ließ sie es geschehen. Josch wusste nicht mehr, was er ihr während des Tanzens erzählt hatte, jedenfalls war es ihm gelungen, sie zum Lachen zu bringen. Später tranken sie Wein und unterhielten sich, an die Bar gelehnt. Josch redete um sein Leben, versuchte, so geistreich und witzig zu sein, wie er nur konnte. Beim Abschied steckte Rosanna ihm einen Flyer zu, auf dem eine Ausstellung in der Kunstakademie angekündigt wurde. Komm doch auch, sagte sie. Aimée hatte die Arme auf der Brüstung verschränkt und sah aufs Rollfeld. Ein heißer Wind fegte über die Terrasse und wirbelte ein paar Plastikbecher umher. Sie ist weg, dachte Aimée, sie ist tatsächlich weg.
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Für einen Moment schloss sie die Augen und genoss den Wind in ihrem Gesicht. Nun hatte sie Josch endlich für sich allein. Im Grunde hasste sie Nela gar nicht, sie wünschte sich einfach nur, dass es sie nicht gäbe. Dass an ihrer Stelle Rosanna wäre, dass alles wieder wäre wie früher, als sie eine Familie gewesen waren, Mama, Josch und sie. Nela konnte nichts dafür, dass es nicht mehr so war. Trotzdem hatte Aimée keinen Tag aufgehört zu wünschen, dass sie weg wäre. Jetzt, nachdem sie abgereist war, kam es ihr vor, als sei es die Kraft ihres Wunsches gewesen, die Nela hatte verschwinden lassen. Vielleicht passierte ja etwas. Flugzeuge konnten abstürzen, und in Afrika war es gefährlich. Josch könnte erkennen, dass er sie mehr liebte als Nela und lieber mit ihr alleine wäre. Es könnte viel geschehen, dachte Aimée und atmete so tief ein, dass es wie ein Seufzen klang. Plötzlich überfiel sie wieder das Gefühl, vor dem sie sich fürchtete. Sie verschränkte die Arme und presste sie gegen ihren Brustkorb, um den Schmerz darin zu ersticken. Sie biss die Zähne zusammen und stellte sich vor, dass ihr Körper immer größer würde und der Schmerz immer kleiner. Irgendwann würde sie erwachsen sein und der Schmerz verschwunden. Es war eine Frage der Zeit. Sie musste nur durchhalten. Deshalb konnte sie auch nicht sprechen. Sie brauchte ihre ganze Kraft zum Durchhalten. Was hätte sie auch sagen sollen. Der Schmerz kannte ja 141
nur dieses eine Wort, dieses Babywort. Wenn sie ihm nachgäbe, würde sie den ganzen Tag nur das Babywort vor sich hinbrabbeln. Aua, Mama. Aua, aua, aua. Ginge ja nicht. Wäre ja peinlich. Josch trat hinter Aimée und legte ihr den Arm um die Schulter. Mit der Hand wühlte er in ihrem Haar. Wenn er die Augen schloss, konnte er sich vorstellen, es wäre Rosannas Haar. Es waren ihre drahtigen, widerspenstigen Locken, die morgens in alle Richtungen abstanden und die sie fluchend mit der Bürste zu bändigen versuchte. Schneid sie doch ab, hatte er ein paar Mal lächelnd gesagt und einen wütenden Blick von ihr aufgefangen. Ohne Haare bin ich tot, hatte sie gesagt, dann bin ich nicht mehr Rosanna. Aua, sagte Aimée und zog ihren Kopf weg. Was?, fragte Josch entgeistert. Er packte sie an den Schultern und schüttelte sie. Du hast gerade gesprochen, Aimée!, rief er. Du hast Aua gesagt! Ja, sagte sie, du hast mich an den Haaren gezogen. Sie schien verwirrt, als verstünde sie selbst nicht, was mit ihr geschehen war. Josch drückte sie an sich. Ihr Kopf lag an seinem Hals, ihre Schultern zuckten. Josch …, stammelte sie immer wieder, Josch. Er wiegte sie, wie früher, wenn sie sich wehgetan hatte und zu ihm gelaufen kam, um sich trösten zu lassen. In seinen Armen wurde sie das Kind von damals. 142
Ruhig, sagte er, alles ist gut. Nach einer Weile hob sie den Kopf und wandte ihm ihr tränenfeuchtes Gesicht zu. Du weinst ja, sagte sie. Überrascht fuhr er sich mit der Hand über die Augen. Stimmt gar nicht, sagte er. Wieder hielten sie sich umarmt, beide schwiegen. Muss ich jetzt noch in Therapie?, fragte Aimée schließlich. Nein, sagte Josch, wofür auch? Als sie sein Lächeln erwiderte, packte ihn ein unbändiges Glücksgefühl, er warf den Kopf zurück und lachte laut. Zu Hause ließ sich Aimée aufs Sofa fallen. Komm, sagte sie, wir machen es uns gemütlich! Josch fühlte einen Stich. Diesen Satz hatte Rosanna oft gesagt, wenn sie nach Hause gekommen war, erschöpft und durchgefroren vom langen Stehen auf den Jahrmärkten und Dulten, wo sie ihre Hinterglasbilder anbot. Komm, wir machen es uns gemütlich! Sie hatte die Kerzen angezündet, die im ganzen Haus herumstanden, weil Kerzenlicht, wie sie sagte, für wenig Geld viel Atmosphäre schaffte. Sie hatte Musik aufgelegt, italienische Opern oder Siebziger-Jahre-Rock. Und sie hatte gekocht. Selbst gemachte Ravioli mit einer köstlichen Füllung aus Pilzen und Nüssen, Strozzapreti mit Lammragout, Osso buco, überbackene Cannelloni. Das Kochen war, neben der Malerei, ihre größte Leidenschaft 143
gewesen. Manchmal vermisste Josch den Geschmack ihrer Gerichte fast ebenso wie sie selbst. Weißt du, was, sagte Aimée, heute koche ich für dich! Ich bin ja jetzt die Frau im Haus. Sie sprang auf und lief mit hüpfenden Schritten in die Küche. Beklommen sah er ihr nach. Sie war wie verwandelt; als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Jooohosch!, rief sie aus der Küche. Haben wir noch Zwiebeln? Ihre Stimme klang so fröhlich, dass er zusammenzuckte. Nach seiner ersten Begegnung mit Rosanna hatte Josch tagelang überlegt, ob er ihrer Einladung zu der Ausstellung folgen sollte. Er fürchtete, die leichte Vertrautheit, die sie beim Wein empfunden hatten, durch offensichtliche Ahnungslosigkeit in Sachen Kunst zunichte zu machen. Schließlich entschloss er sich hinzugehen. Die Ausstellung war im Foyer der Kunstakademie. Langsam wanderte er von Bild zu Bild und versuchte, für jedes eine Deutung zu finden. Soweit er verstanden hatte, kam es bei abstrakter Malerei nicht darauf an, was auf dem Bild zu sehen war, sondern wie man das Dargestellte interpretierte. Er musterte die anderen Besucher, kam sich in seinem grauen Sakko deplatziert vor und drehte sich unauffällig zur Wand, um wenigstens die Krawatte abzunehmen. 144
Da stand Rosanna neben ihm. Lass sie doch an, damit stichst du alle anderen aus! Josch lachte verlegen auf. Eigentlich mag ich keine Krawatten. Sie musterte ihn. Soll ich dir meine Bilder zeigen? Durch die Menge der Ausstellungsbesucher zog sie ihn zu einer Wand, an der drei ähnliche Bilder nebeneinander hingen. Kräftige, horizontal verlaufende Farbstreifen, die sich zum Teil überlagerten oder kleine Erhebungen und Wellen bildeten. Josch sah sich jedes Bild lange an, Rosanna beobachtete ihn. Und?, fragte sie schließlich. Bruchstücke von Gesichtern?, sagte er zögernd. Manche sehen aber auch aus … wie Landschaften. Mir gefallen die Farben. Und dass man nicht weiß, wo die Linien enden. Gesichter! Landschaften! Er kam sich vor wie ein Idiot. Rosanna musterte ihn nachdenklich. Lass uns von hier abhauen, sagte sie, ich kann diese ganzen Wichtigtuer nicht ertragen. Draußen war es kalt. Es dämmerte bereits. Schweigend gingen sie nebeneinander her. Rosanna hatte die Hände in den Taschen ihrer Jacke vergraben und die Schultern hochgezogen. Plötzlich blieb sie stehen und sah ihn an. Du bist der erste Mensch, der was Vernünftiges zu meinen Bildern gesagt hat, weißt du das? Freut mich, murmelte er verlegen.
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Die meisten Leute benutzen die Gelegenheit und lassen raushängen, was sie alles über Kunst wissen, fuhr sie fort. Sie nennen mindestens fünf andere Maler, an die meine Bilder sie erinnern, sie labern stundenlang irgendwas gelehrt Klingendes daher, aber keiner sieht richtig hin. Du hast hingesehen. Ich verstehe absolut nichts von Kunst, sagte Josch. Macht nichts, erwiderte Rosanna, vielleicht verstehst du was von mir. Mistwetter, sagte sie fröstelnd, lass uns was Warmes trinken gehen. Sie nahm ihn bei der Hand und lief, bis sie ein Café erreichten. Ihre Augen blitzten, ihre Wangen waren gerötet, sie lachte Josch an und warf ihm die Arme um den Hals. Er spürte ihre Wange an seiner Haut, erkannte ihren Duft und konnte nicht glauben, dass diese schöne Frau ihn zu mögen schien. Als sie Kaffee und Kuchen bestellt hatten, sah Rosanna ihn mit einem merkwürdigen Ausdruck an, dann schlug sie die Augen nieder. Ich muss dir übrigens was sagen. Ich bin nicht allein, es gibt jemanden, der zu mir gehört. Er war nicht überrascht. Warum sollte ausgerechnet eine Frau wie Rosanna alleine leben? Sicher war sie umringt von Männern, und er wäre nur einer mehr, der sich lächerlich machte bei dem Versuch, sie zu erobern. Warum erzählst du mir das?, fragte er mit einem Anflug von Trotz. Du weißt doch gar nicht, ob ich 146
überhaupt was von dir will. Vielleicht bin ich schwul? Verblüfft sah sie ihn an, dann brach sie in Gelächter aus. Und, bist du schwul? Josch rührte verlegen in seinem Kaffee. Nein. Sie nestelte in ihrer Tasche und schob etwas über den Tisch. Es war das Foto eines hübschen, kleinen Mädchens mit dunklen Augen und Locken, die wild von ihrem Kopf abstanden. Überrascht sah er hoch. Stört es dich? Ihr Blick verriet Unsicherheit. Josch zuckte die Schultern. Ich habe keine Erfahrung mit Kindern, sagte er, aber wahrscheinlich ist es wie bei Erwachsenen, manche mag man und andere nicht. Wäre schön, wenn du sie mögen würdest, sagte Rosanna und steckte das Bild wieder ein. Und wenn sie mich nicht mag? Rosanna beugte sich über den Tisch und berührte seinen Arm. Sie wird dich mögen, sagte sie, ich bin ganz sicher. Das Telefon riss Josch aus seinen Erinnerungen. Es war Sergio, der ihm mitteilte, der Grabstein sei fertig. Bei Rosannas Beerdigung hatte nur ein schlichtes Holzkreuz mit ihrem Namen das Grab geziert. Sergio und Clara hatten dann einen bombastischen Grabstein aus Marmor in Auftrag gegeben.
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Wollt ihr dabei sein, wenn er aufgestellt wird?, fragte er, und Josch sagte: Ja, natürlich. Also, dann am Freitag, sagte Sergio, und seine Stimme zitterte leicht. Wie geht’s meiner bambina? Es geht ihr gut, antwortete Josch, stell dir vor, sie spricht wieder! Am anderen Ende hörte er Gemurmel, dann Claras Stimme, von Schluchzen unterbrochen. Sie spricht also wieder, ja? Dann waren wir es, die alles falsch gemacht haben, vero? Aber nein, Clara, das stimmt nicht, sie hat auch hier ganz lange nicht gesprochen! Und seit wann spricht sie wieder? Seit heute, sagte Josch. Seit heute?, fragte Clara überrascht. Warum ausgerechnet seit heute? Ich weiß es nicht. Kannst du sie ans Telefon holen? Einen Moment, sagte er, stand auf und ging mit dem Apparat in die Küche. Aimée hatte sich Nelas Schürze umgebunden und rührte etwas in einer Schüssel. Ihre Wangen waren gerötet, ihre Augen hatten einen ungewohnten Glanz. Er reichte ihr das Telefon. Nonna ist dran! Sie schüttelte erschrocken den Kopf Er hielt die Hörmuschel zu und flüsterte: Sprich mit ihr, bitte! Tu mir den Gefallen. Zögernd nahm Aimée den Hörer und sagte leise: Nonna? Sie lauschte, dann sagte sie: Gut, ich koche gerade Pasta. Sie lauschte wieder, gab ein paar 148
einsilbige Antworten und reichte Josch schließlich den Hörer. Er drückte ihn wieder ans Ohr. Ich bin so froh, sagte Clara zwischen Weinen und Lachen, ti abbraccio, Josch, ci vediamo. Er beendete das Gespräch, sah Aimée an. Alle Trauer war aus ihrem Gesicht verschwunden; sie lächelte ihn an mit dem strahlenden Lächeln ihrer Mutter. Da beschloss er, ihr noch nicht von der Grabsteinlegung zu erzählen. Aimée war stolz, als Josch sie für das Essen lobte. Das schmeckt toll, sagte er, woher kannst du das? Von Mama, natürlich. In letzter Zeit habe meistens ich gekocht. Ach, ja? Warum denn? Es macht mir eben Spaß, sagte sie. Nein, sie würde ihm nicht erzählen, dass Mama sich kaum noch um sie gekümmert hatte, dass sie ständig unterwegs gewesen war, bei Constantin, ihrem neuen Freund, in Galerien, auf Festen. Rosanna war spät nachts heimgekommen und hatte noch geschlafen, wenn sie aufgestanden war, um in die Schule zu gehen. So hatten sie sich oft tagelang nicht gesehen. Manchmal war es Aimée so vorgekommen, als hätte ihre Mutter sie vergessen. Aber so hatte sie ihre Ruhe gehabt, hatte gelernt, ferngesehen oder war zu Maria gegangen. Sobald Rosanna auftauchte, war es laut und anstrengend geworden.
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Warum war Constantin eigentlich nicht bei der Beerdigung?, fragte Josch, und sie sah überrascht von ihrem Teller auf. Er hat Mama schon vor drei Monaten verlassen, wegen irgend so ‘ner Studentin. Josch sah sie an, als hätte sie etwas Unanständiges gesagt. Hat Rosanna … eigentlich manchmal über mich gesprochen, fragte er und nahm sich zum zweiten Mal von der Nudelsoße. Aimée nickte. Manchmal. Und was hat sie dann gesagt? Warum willst du das wissen? Nur so. Aimée wollte ihn nicht kränken, ihn aber auch nicht belügen, und so sagte sie zögernd: Dass du ein Kontrollfreak bist. Dass du sie eingeengt hast und sie in deiner Anwesenheit nicht mehr atmen konnte. Josch ließ eine Gabel voller Nudeln auf den Teller zurücksinken und starrte sie an. Ist das wahr? Du wolltest es wissen, sagte sie trotzig. Er sollte froh sein, dass sie ihm den Rest ersparte. Langsam aß er weiter, dann fragte er: War das alles, oder hat sie auch nette Sachen über mich gesagt? Aimée wand sich verlegen. Ich glaube … die netten Sachen hat sie sich mehr so gedacht. Und wieso glaubst du das? O Mann, sagte sie unwillig, das weißt du doch alles! Dass sie nichts ohne dich entscheiden 150
konnte, dass sie nicht mal ein Autoradio ohne dich kaufen konnte. Aber weil sie es gehasst hat, so abhängig zu sein, wollte sie dich los haben. Und dann hat sie so was über dich gesagt und gehofft, dass sie irgendwann selbst dran glaubt. Josch schob den halbvollen Teller von sich. Verdammt, dachte Aimée, warum habe ich nicht einfach die Klappe gehalten? Willst du einen Espresso? Sie sprang auf und deckte das Geschirr ab. Danke, murmelte er, ich nehme lieber einen Grappa. Sie flitzte los und holte die Flasche. Darf ich mal probieren?, bettelte sie und schob sich auf seinen Schoß. Bist du dafür nicht schon zu groß?, fragte er. Für Grappa?, fragte sie unschuldig. Nein, um auf meinem Schoß zu sitzen. Sie antwortete nicht. Also, darf ich? Nein, sagte Josch entschieden, dafür bist du noch zu klein! Zu groß, zu klein, sagte sie spöttisch, du spinnst doch! Sie sprang auf und lief aus der Küche. Geräuschvoll ließ sie die Tür ihres Zimmers zufallen und öffnete sie gleich darauf leise wieder. Geschlossene Türen konnte sie nicht ertragen. Nach einer Weile hörte sie, dass Josch im Wohnzimmer war. Sie ging zu ihm und kuschelte sich aufs Sofa, bettete ihren Kopf auf seinen Schoß, nahm seine Hand und legte sie an ihr Gesicht. 151
Josch streichelte zart ihre Stirn und ihre Wangen. Sie biss ihn spielerisch in die Finger. Er zog die Hand weg. Au, sagte er, aber sie wusste, dass es nicht wehgetan hatte. Wenig später streichelte er sie bereits wieder. Sie begann, eine ihrer Locken zu drehen, lauschte auf die Stimmen aus dem Fernseher, wurde schläfrig. Josch ließ die schlafende Aimée auf dem Sofa liegen; sie war zu schwer, er konnte sie nicht mehr wie früher ins Bett tragen. Seine Gedanken kreisten unablässig um Rosanna. Er spürte ihre Abwesenheit wie einen körperlichen Schmerz. An sie zu denken war wie immer von neuem gegen eine Wand zu rennen. Seine Gedanken endeten jedes Mal bei den Worten: nie mehr. Nie mehr sie etwas fragen können. Nie mehr ihre Stimme hören, ihr Lachen aus einem Meer anderer Geräusche herausfiltern, nie mehr ihren Duft atmen, nie mehr ihre Gedanken erfahren, sie nie mehr sehen. Nie mehr. Nie mehr. Nie mehr. Was hätte er Rosanna gefragt, wenn er eine Chance dazu gehabt hätte? Wie hätte ihr letzter gemeinsamer Tag ausgesehen, wenn sie einen gehabt hätten? Was hätte sie ihm zum Abschied gesagt, wenn sie gewusst hätte, dass es ein Abschied wäre? Was hätte er ihr gesagt? Vielleicht hätte er ihr gesagt, wie dankbar er ihr war, dass sie ihn aus einem Leben befreit hatte, das 152
nur aus Enge und Pflichterfüllung bestanden hatte. Dass die Jahre mit ihr wie die farbig gemalten Bilder eines Künstlers waren, der sonst nur schwarz-weiß malt. Dass sie ein Leben führte, für das er nicht gemacht war, das er aber wollüstig gelebt und genossen hatte. Immer hatte er gewusst, dass sie die falsche Frau für ihn war; gerade deshalb hatte er so um ihre Liebe gekämpft. Als sie ihn wegschickte, war er entschlossen, sie erst zu hassen und dann zu vergessen. Beides war ihm nicht gelungen. Josch war endlich eingenickt, als Aimée zu ihm ins Schlafzimmer kam. Immer noch in Kleidern, ihren abgeschabten Stoffhasen im Arm. Darf ich bei dir schlafen?, murmelte sie und blinzelte ihn mit kleinen Augen an. Bei mir? Bitte! Sie lief schon ums Bett herum und wollte sich auf Nelas Seite fallen lassen. Aber doch nicht mit Kleidern!, protestierte er. Sie zog die Bluse aus und ließ sie fallen, mit einer schnellen Bewegung stieg sie aus ihren Jeans, die als Häufchen am Boden landeten. Ihr Slip war mit Snoopys bedruckt, ihr Busen war zu sehen. Josch blickte zur Seite. Hast du kein Nachthemd?, fragte er, unangenehm berührt. Ich nehme eines von deinen T-Shirts. Aimée öffnete den Schrank und wühlte in seinen Sachen.
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Mmh, die riechen gut, sagte sie und presste einige Kleidungsstücke ans Gesicht. Sie zog sein Che-Guevara-T-Shirt an und schlüpfte unter die Decke, stopfte sich den Stoffhasen unter den Kopf und lächelte ihn an. Weißt du, dass ich mir früher oft gewünscht habe, Mama wäre weg? Er schluckte nervös. Und warum? Weil ich neben dir schlafen wollte. Nicht neben Rosanna? Die konnte es nicht leiden, wenn ich mit ihr in einem Bett geschlafen habe. Ich rotiere wie ein Propeller, hat sie immer gesagt. Aber du hast nichts dagegen gehabt. Nein, erinnerte sich Josch, er hatte es sogar genossen, ihren zappeligen Kinderkörper an sich zu ziehen und zu spüren, wie er langsam ruhiger wurde. Irgendwann nachts hatte er sie dann behutsam auf ihre Bettseite geschoben und sich weggedreht. Manchmal hatte er einen Fuß gespürt oder einen Ellbogen, was ihn mehr gerührt als gestört hatte. Er entdeckte den Plüschhasen und griff danach. Dass du den immer noch hast! Harvey, sagte Aimée, du hast ihn mir zum sechsten Geburtstag geschenkt. Weißt du noch, wie sehr ich mir ein echtes Kaninchen gewünscht habe? Warum hat Mama es bloß nicht erlaubt? Bei der Erinnerung an den unerfüllten Herzenswunsch füllten sich ihre Augen mit Tränen. Sie war allergisch, sagte er. 154
Quatsch, gab Aimée zurück, sie war kein bisschen allergisch. Sie hat immer gesagt, ein Kaninchen ist ein Braten, kein Haustier. Ich glaube, sie wollte nicht noch was Lebendiges im Haus haben. Es hat ihr schon gereicht, dass ich da war. Was redest du denn da?, fragte er erschrocken. Stimmt doch! Wenn es ihr schlecht ging, hätte sie am liebsten auch mich nicht gehabt. Sie schob sich näher zu ihm. So, und jetzt ab in dein Bett, sagte er energisch. Bitte, flehte sie, ich kann heute nicht allein sein, ich habe Angst! Sie warf ihm die Arme um den Hals und hielt sich an ihm fest. Er schloss die Augen und sog den Geruch ihres Haares ein, der genauso war wie der von Rosannas Haar. Also gut, gab er nach. Aber du gehst da rüber, auf die andere Bettseite! Gute Nacht, Josch, sagte sie mit einem Lächeln und küsste ihn auf die Wange. Dann drehte sie sich um und sank mit einem wohligen Seufzer aufs Kissen. Josch blieb mit offenen Augen liegen und lauschte auf ihren Atem. Plötzlich hatte er das Gefühl, nichts mehr richtig machen zu können. Hatten denn seine Berührungen, die bisher ganz ungezwungen gewesen waren, etwas Zweideutiges bekommen, nur weil Aimée nicht mehr zwölf war, sondern vierzehn?
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Als er eine Stunde später noch immer nicht eingeschlafen war, stand er auf und ging an den Computer. E-Mail von Nela. Lieber Josch, wir sind gut in London angekommen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie teuer es hier ist: 50 Pfund für zweimal Bier und Pizza, nicht zu fassen. Zum Glück sind wir gleich weiter aufs Land gefahren, in den Ort, wo Jane aufgewachsen ist. Dort habe ich Jubilee kennen gelernt. Ach, du weißt ja nicht, wer das ist: der Stoffschimpanse, den Jane als Einjährige von ihrem Vater geschenkt bekommen hat. Er (der Schimpanse, nicht der Vater) sitzt seit 68 Jahren auf ihrem Bett, das noch immer an der gleichen Stelle steht wie damals. Ich bin sehr traurig, wenn ich an unseren Abschied denke. Es kommt mir so vor, als sei Aimée nur so lange nett zu mir gewesen, bis mein Auftritt vor Gericht vorbei war. Und als wärst du im Grunde froh, mich für eine Weile los zu sein. Mir kam sogar der Gedanke, dass es dir vielleicht lieber wäre, ganz alleine mit Aimée zu sein. Und ehrlich gesagt, ich komme mir neben euch beiden auch ziemlich überflüssig vor. Natürlich weiß ich, dass Aimée mich nicht hasst, aber es tut trotzdem weh, so etwas über sich zu lesen. Außerdem geht sie mir manchmal einfach schrecklich auf die Nerven, und ich sehne mich danach, wieder mit dir allein zu sein. Wären wir doch Schimpansen! Wenn zwei von ihnen sich streiten, kommt ein dritter und beginnt 156
mit dem ›Groomen‹, der Fellpflege. Erst beim einen, dann beim anderen, allmählich rücken alle näher zusammen, irgendwann taucht der Schlichter unauffällig ab, die beiden Streithähne groomen sich gegenseitig weiter, und schon ist alles wieder gut. Ich wünschte, bei uns Menschen wäre es ebenso einfach. Liebe Grüße, Nela Josch überlegte eine Weile, dann schrieb er: Liebe Nela, danke für deine Nachricht, ich bin froh, dass du gut angekommen bist! Heute ist etwas Seltsames passiert, und ich habe mich gefragt, ob ich es dir überhaupt erzählen soll, weil ich fürchte, du könntest es falsch deuten, aber ich finde, du sollst es wissen: Aimée spricht wieder. Von einem Moment zum nächsten hat sie damit angefangen, ungefähr zehn Minuten, nachdem ihr euch verabschiedet hattet. Natürlich wirst du jetzt denken, sie hat die ganze Zeit simuliert und nur darauf gewartet, dass du weg bist. Wir werden nicht rausfinden, wie es wirklich war. Tatsache ist, dass sie wieder spricht und dass offenbar ein großer Druck von ihr genommen ist. Bitte versuch, es nicht auf dich zu beziehen. Ebenso wenig wie das, was Aimée in ihr Tagebuch geschrieben hat. Sie hasst natürlich nicht dich, sie hasst die Tatsache, dass meine Frau lebt und ihre
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Mutter sterben musste. Irgendwie verständlich, oder? Vielleicht ist es wirklich leichter, wenn wir jetzt für eine Weile zu zweit sind, Aimée und ich. Aber das heißt nicht, dass du mir nicht fehlen würdest! Und dass ich mir nicht wünschen würde, du kämst bald wieder nach Hause, um mich zu groomen! Ich setze mich jetzt aufs Bett und hoffe, dass es nicht 68 Jahre dauert, bis du zurück bist. Es umarmt dich dein Josch
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Aus
einem monströsen Marmorblock wuchsen zwei lockige Engelsköpfe, die von einer geflochtenen Girlande umrankt wurden. Ein Gabelstapler fuhr den tonnenschweren Stein langsam an die Grabstelle heran, und die beiden Friedhofsangestellten ließen ihn vorsichtig auf seinen Platz gleiten. Zuvor hatten sie das provisorische Holzkreuz entfernt. Clara hielt es im Arm und presste es an sich, ohne darauf zu achten, dass die feuchte Erde ihren Rock beschmutzte. In goldfarbenen, verschnörkelten Buchstaben stand auf dem Grabstein: Rosanna Cardello, geb. 28. April 1968, gest. 21. Juni 2003. Non ti dimenticherémo mai. Rosanna würde sich im Grab umdrehen, wenn sie das sehen könnte, dachte Josch. Er spürte Aimées Hand, die sich in seine schob. Schön, nicht?, sagte er und drückte sie aufmunternd. Spinnst du, flüsterte Aimée, Mama hätte ihn scheußlich gefunden! Er drückte noch mal, zum Zeichen, dass er ihrer Meinung war. Clara, die das Holzkreuz inzwischen Sergio in den Arm gedrückt hatte, stand leise weinend vor dem Stein und bekreuzigte sich. Sie murmelte 159
italienische Worte vor sich hin, vielleicht betete sie, vielleicht sprach sie mit Rosanna, vielleicht haderte sie mit dem ungerechten Gott, der ihr die Tochter genommen hatte. Sie und Sergio tauschten die Plätze, nun stand er vor dem Grab seiner Tochter, machte das Kreuzzeichen und sprach ein Gebet. Wie auf Kommando liefen ihm Tränen übers Gesicht, aber Josch wusste, dass er bereits im nächsten Moment eine Unterhaltung über die laufende Formel-ISaison oder die gestiegenen Gemüsepreise würde führen können. Der alte Mann konnte mit seiner Trauer nicht umgehen, meist schob er sie weg wie einen störenden Vorhang. Für ihn war durch Rosannas Tod die Ordnung der Dinge durcheinander geraten. Kinder hatten nicht vor ihren Eltern zu sterben. Aimée zog Josch mit sich, gemeinsam traten sie vor das Monument und lösten die Hände voneinander, um sich bekreuzigen zu können. Mama, flüsterte Aimée. Josch legte den Arm um ihre Schulter und zog sie an sich. Schweigend standen sie da und betrachteten den Grabstein. Wenn bloß die schrecklichen Engel nicht wären, dachte er. Ob Clara Recht gehabt hatte? Ob es nicht passiert wäre, wenn Rosanna und er zusammen geblieben wären? Wie kann sie so etwas sagen, hatte Nela sich empört. Als hättest du Schuld an dem Unfall! Es wäre für alle eine Erleichterung gewesen, einen Schuldigen zu finden. Das hätte dem Ganzen 160
einen Sinn gegeben. So blieb es ein dummer Zufall, ein Unfall, an dem niemand Schuld hatte und den niemand hätte verhindern können. Andiamo, sagte Sergio und trat ungeduldig von einem Bein aufs andere. Sie verließen den Friedhof und gingen zum Parkplatz. In Carlitos Restaurant wartete die Familie Cardello; sie wurden von mindestens fünfundzwanzig Tanten und Onkels, Cousins und Cousinen, Omas und Opas umarmt. Dieser Familienzusammenhalt rührte Josch, aber seiner Erfahrung nach waren Familien auch wie Kraken, mit vielen, gierigen Armen, die einen festhalten wollten. Man tat gut daran, sich ihrer Umklammerung rechtzeitig zu entwinden. Si mangia, si mangia!, rief Carlito und klatschte in die Hände, wie um eine Horde unartiger Kinder zur Ruhe zu bringen. Folgsam verteilten sich die Gäste an die Tische, es wurde gesprochen und gelacht, ganz anders als am Tag der Beerdigung. Selbst Clara, deren Augen immer wieder feucht wurden, ließ sich für Momente vom lebhaften Geplauder ihrer Verwandten ablenken und zu einem Lächeln bewegen. Und Sergio war der Mittelpunkt einer Männerrunde, in der gestenreich debattiert wurde, vermutlich über Fußball oder Politik. Aimée saß neben Josch und sah wortlos hin und her. Dann spießte sie einen Pilz auf ihre Gabel.
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Sie haben Mama schon vergessen, sagte sie mit gerunzelter Stirn. Das stimmt nicht, widersprach er, du hast sie auch nicht vergessen. Man kann nur nicht ununterbrochen, in jeder Sekunde, trauern. Das weißt du doch gar nicht, sagte Aimée und senkte den Blick auf ihren Teller. Josch sah, dass sie mit den Tränen kämpfte, und schob ihr eine Papierserviette zu. Sie rieb sich die Augen, zog die Nase hoch. Einige der Anwesenden wurden aufmerksam; eine magere, kleine Frau mit spitzer Nase in einem eleganten Kostüm kam vom Nebentisch herüber, setzte sich neben Aimée und legte ihr den Arm über die Schulter. Josch erkannte Francesca, eine Schwester von Clara. Sie sprach leise auf Italienisch zu Aimée, die immer heftiger weinte. Zwei andere Frauen kamen an den Tisch, sie wurde gestreichelt und umarmt, Josch sah, dass sie es kaum ertragen konnte, aber immer mehr wohlmeinende Menschen umringten und erdrückten sie fast. Plötzlich stieß sie einen Schrei aus und sprang auf, drängte sich an den Leuten vorbei und lief aus dem Lokal. Josch rannte hinterher, blickte suchend die Straße entlang, sah sie um eine Ecke biegen und folgte ihr. Fast wäre er an ihr vorbeigelaufen, erst im letzten Moment entdeckte er sie, in einer Hofeinfahrt am Boden kauernd, das Gesicht in den Händen vergraben. Sie weinte so verzweifelt, wie er sie noch nie hatte weinen sehen. 162
Zu Hause angekommen, vergrub Aimée sich in ihrem Zimmer, und Josch hielt es für das Beste, sie in Ruhe zu lassen. Er lehnte ihre Tür an und ging ins Wohnzimmer, das viel unaufgeräumter war als sonst. Nelas Abwesenheit machte sich bereits bemerkbar. Ganz gegen seine Gewohnheit schenkte er sich einen Brandy ein und trank ihn in einem Zug aus. Er fühlte sich einsam. Er sehnte sich nach Nela oder nach dem Gefühl, sie zumindest in seiner Nähe zu wissen. Unter seinen E-Mails fand er auch Post von ihr. Lieber Josch, ich gebe zu, es fällt mir schwer, zu glauben, dass Aimées angebliche Sprachlosigkeit echt war, aber wie du geschrieben hast: Wir werden nie herausfinden, wie es wirklich war. Natürlich kränkt es mich, dass sie in dem Moment zu sprechen anfing, als ich abgefahren war, aber das ist ja nur eine von vielen Kränkungen, ich gewöhne mich allmählich daran. Ach, Mist, das klingt so bitter, und ich versuche, nicht bitter oder vorwurfsvoll zu sein. Hoffentlich verstummt sie nicht wieder, wenn ich zurückkomme. W e n n ich zurückkomme. Manchmal glaube ich, es hat alles keinen Sinn. Und dann bin ich wieder zuversichtlich und denke, wir werden es schaffen. Je größer die Entfernung zwischen uns wird, desto kleiner erscheinen mir unsere Probleme, aber aus
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Erfahrung weiß ich, dass das eine optische Täuschung ist. Wenn ich wenigstens glauben könnte, dass es ohne mich nicht ginge, wie du mal gesagt hast. Aber die Wahrheit ist ja wohl, dass es ohne mich sogar besser geht. Du brauchst mich gar nicht. Du brauchst niemanden. Komisch, das hat Rosanna mal zu mir gesagt: Josch braucht eigentlich niemanden. Damals habe ich sie nicht so recht verstanden, heute weiß ich, was sie gemeint hat. Es wäre schön, zu wissen, dass es für dich von Bedeutung ist, ob ich da bin oder nicht. Aber vielleicht besteht eine unserer Aufgaben ja darin, das herauszufinden. Ich meine, ob ich überhaupt die Richtige für dich bin. Und du der Richtige für mich. Jane hat mir neulich erzählt, dass sie, die idealistische Tierschützerin, sich als junges Mädchen ausgerechnet in einen Großwildjäger verliebt hat, der genau die Tiere jagte, derentwegen sie nach Afrika gekommen war. Sie sagte, in ihrer jugendlichen Naivität habe sie geglaubt, sie könne ihn ändern, aber natürlich sei ihr das nicht gelungen. Trotzdem hat sie ihn sehr geliebt und eine leidenschaftliche und aufregende Zeit mit ihm erlebt. Wenigstens bist du kein Großwildjäger. Morgen verlassen wir England und fliegen endlich nach Afrika. Mach dir keine Sorgen, wenn du ein paar Tage nichts von mir hörst, es kann etwas dauern, bis ich wieder einen Internetzugang finde. Es groomt dich deine Nela 164
Ungefähr sechs Wochen nach seinem ersten Besuch bei Rosanna war etwas geschehen, was Joschs Leben völlig veränderte. Er hatte Rosanna zwei Tage telefonisch nicht erreichen können, und da sie nicht erwähnt hatte, dass sie verreisen würde, begann er, sich Sorgen zu machen. Kurzerhand schwänzte er die Uni und fuhr zu ihr. Auf sein Klopfen öffnete niemand. Er drückte die Klinke, das Haus war offen. Rosanna, bist du da? Niemand antwortete. Er ging in die Küche, wo Chaos herrschte. Ungewaschenes Geschirr stand herum, dazwischen Lebensmittel, alles war voller Fliegen. Beunruhigt ging er nach oben; Aimées Zimmer war leer, die Tür zu Rosannas Schlafzimmer geschlossen. Vorsichtig drückte er sie auf. Es war dunkel, durch die geschlossenen Läden drang nur ein schmaler Lichtstreif. Das Bett war zerwühlt, unter einem Berg Decken zeichnete sich ein Körper ab. Rosanna, rief Josch, was ist los? Er nahm eine leichte Bewegung wahr. Eine Stimme, die er kaum als ihre erkannte, murmelte dumpf: Bitte geh, lass mich in Ruhe. Er ging zum Bett und versuchte, ihr Gesicht zu sehen, aber sie hatte sich unter der Decke verkrochen. Was ist mit dir?, fragte er beunruhigt. Mama ist krank, hörte er ein leises Stimmchen und fuhr herum. In der hintersten Ecke des 165
Zimmers hockte Aimée auf dem Boden, ein Kissen an sich gedrückt, und sah ihn verstört an. Komm her, sagte Josch, wir zwei kochen jetzt einen Tee für Mama, und dann geht es ihr bald besser! Zögernd stand die Kleine auf und kam zu ihm, er nahm sie auf den Arm und trug sie in die Küche. Dort räumte er auf, warf die verdorbenen Sachen in den Müll, weichte das Geschirr ein und kochte eine Kanne Kräutertee. Er fand eine Tüte Zwieback und bot Aimée welchen an, sie nahm ein Stück und kaute langsam darauf herum. Was fehlt denn deiner Mama?, erkundigte sich Josch. Weiß nicht, sagte sie. Wo tut es ihr denn weh? Aimée legte die Hand auf ihre Brust. Das Herz tut ihr weh? Sie nickte. Das Puzzle fügte sich zu einem Bild. Die Medikamente im Badezimmer. Der Abbruch ihres Studiums. Ihre Weigerung, Pläne zu machen, die weiter als zwei Wochen in die Zukunft reichten. Jetzt bringe ich der Mama ihren Tee, sagte Josch munter, und dann machen wir einen Spaziergang. Zeigst du mir, wo Maria wohnt? Ja, sagte Aimée. Josch trug eine Tasse Tee nach oben und stellte sie neben Rosannas Bett. Vorsichtig berührte er sie an der Schulter, ein klagender Laut ertönte.
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Mach dir keine Sorgen, sagte er, ich kümmere mich um Aimée. Kann ich sonst etwas für dich tun? Du sollst mich nicht so sehen, flüsterte sie kaum vernehmlich. Er strich zart über ihren Rücken, dann ließ er sie allein. Eifrig sprang Aimée auf, zog ihre Jacke an. Sie schob ihre Hand in seine, und sie gingen den Feldweg entlang zum Nachbarhaus, das ungefähr einen Kilometer entfernt lag. Das sorgenvolle Schweigen des kleinen Mädchens berührte ihn sehr. Was siehst du?, fragte er und wies auf den Horizont, wo die Berge sich dunstig abzeichneten. Zipfelmützen, sagte sie leise. Da wohnen die Zwerge. Hinter den sieben Bergen, bei den sieben Zwergen, sagte Josch. Vor ein paar Tagen hatte er ihr das Märchen von Schneewittchen vorgelesen. Sie erreichten einen großen Hof mit einem Kuhstall, frei herumlaufenden Hühnern und einem schwarz-gelb gefleckten Hund, der sie anbellte. Aimée ging ohne Angst auf ihn zu und streichelte ihn. Als die Bäuerin aus dem Stall kam, stutzte sie. Was machst du denn hier, Mausi? Ist die Mama nicht da? Rosanna ist krank, sagte Josch und stellte sich vor. Maria musterte ihn forschend. Kommen Sie doch rein. Aimée, machst du einen Spaziergang mit dem Flecki? 167
Aimée lief los, der Hund sprang übermütig bellend neben ihr her. Josch folgte der Frau ins Innere des Bauernhauses. Ich hätte einen Holundersaft, mögen Sie?, bot sie an. Bitte keine Umstände, sagte Josch, aber sie war schon aus der Tür. Der schwarzrote Saft schmeckte herb und färbte die Zähne. Josch achtete darauf, dass sein Glas keinen Ring auf dem Tischtuch hinterließ. Also, sagte Maria, die Rosanna hat solche Phasen. Eine Weile ist sie ganz lustig, manchmal fast zu lustig, und dann fällt sie in eine Traurigkeit, wo sie sich nicht mehr rühren kann. Aber sie will die Medikamente gegen die Traurigkeit nicht nehmen, weil sie sagt, dass sie dann auch nicht mehr lustig sein kann. Meistens nehm ich die Kleine, so lange die Rosanna sie nicht versorgen kann. Aber das kann Wochen dauern. Und wer kümmert sich dann um Rosanna?, fragte Josch. Niemand. Sie will nicht, dass man ins Haus kommt. Irgendwie versorgt sie sich selbst, aber wenn es ihr besser geht, ist sie jedes Mal ganz abgemagert. Maria überlegte. Man nennt es … … manisch-depressiv?, sagte Josch. Genau, bestätigte sie. Das hat der Arzt gesagt. Josch schloss einen Moment die Augen, dann drückte er der Frau die Hand.
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Danke, sagte er und stand auf, dabei stieß er sein Saftglas um. Ein dunkelroter Fleck breitete sich auf dem Tischtuch aus. Erschrocken stellte er das Glas wieder auf. Oh, bitte, verzeihen Sie! Kein Problem, sagte sie und lächelte, das kann man doch waschen! Josch fuhr in die Stadt, um die Sachen aus seiner Studentenbude zu holen. An diesem Abend zog er bei Rosanna ein.
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Aimée
saß schweigend neben Josch und trank Milchkaffee aus einer großen Tasse, die sie mit beiden Händen umklammert hielt. Heute sollte sie zum ersten Mal in ihr neues Gymnasium gehen. Sie war aufgeregt und hatte Angst. Früher, in ihrem alten Leben, hatte sie alle Menschen in ihrer Umgebung gekannt, und es waren selten neue dazugekommen. Seit es Rosanna nicht mehr gab, war auch das anders. Was ist, wenn sie mich nicht mögen?, fragte sie und stellte die Tasse ab. Ihr Marmeladenbrot lag unberührt auf dem Teller. Iss ein bisschen, mahnte Josch. Warum sollten sie dich nicht mögen? Sie zuckte die Schultern. Weil ich ein Landei bin. Sicher sind alle viel cooler als ich. Coolness hängt nicht davon ab, wo man wohnt, erklärte Josch. Außerdem sind Jungen in der Klasse, fuhr sie fort. Na und? Ich war bisher auf einer Mädchenschule, erinnerte sie ihn, ich weiß gar nicht, wie man mit denen umgeht. Ach was, sagte er, die werden sich sowieso alle in dich verlieben. 170
Aimée sah ihn entgeistert an. In mich? Wieso? Na ja, sagte er grinsend, immerhin hast du keinen Buckel, und meistens bist du ja auch ganz nett! Aimée legte den Kopf schief. Heißt das, du hättest dich früher in mich verliebt? Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Kann schon sein. Aimée betrachtete ihn aufmerksam. Das Thema schien ihm unangenehm zu sein. Ich glaube nicht, dass ich mich jemals verlieben werde!, fuhr sie fort. Josch lachte. Na, warten wir’s ab! Und weißt du auch, warum? Weil keiner so ist wie du. Nur du bist wie du. Aber ich bin dummerweise dein Vater, sagte Josch schnell. Bist du ja gar nicht, gab sie zurück. Er antwortete nicht und stand auf. Los jetzt, es ist Zeit! Das Luisen-Gymnasium war ein großer, gelber Gründerjahrebau. Im Schulhof, der von einer hohen Steinmauer umschlossen war, standen Kastanien. Alles wirkte dadurch wie aus einer vergangenen Zeit; Gedanken an bewaffnete Schüler, Drogen oder sexuelle Übergriffe schienen angesichts dieser Idylle abwegig. Aber der Schein kann trügen, dachte Josch, wie überall. Am Eingangstor blieb Aimée stehen. Du musst nicht mit reinkommen, sagte sie und blickte auf den Boden. 171
Du meinst, ich soll nicht mit reinkommen, sagte Josch lächelnd. Sie umarmte ihn nicht, gab ihm keinen Kuss, sondern drückte ihm nur verstohlen die Hand. Betont lässig schlenderte sie davon. Josch fühlte, dass er auf der Hut sein musste. Etwas in ihrem Blick, in ihren Bewegungen, hatte sich verändert. Sie fing an, ihn herauszufordern. Er beschloss, zu Fuß in die Kanzlei zu gehen. Die Blätter an den Bäumen hatten begonnen, sich zu verfärben, das Licht der spätsommerlichen Sonne ließ die Farben leuchten. Er dachte an Nela. Sie fehlte ihm, und gleichzeitig war er froh, dass sie weg war. Heute Morgen hatte er wieder eine Mail erhalten. Lieber Josch, diese Nachricht bekommst du aus einer Hütte, die mit Palmwedeln gedeckt ist und von einem riesigen Papagei bewacht wird, der jeden wüst beschimpft, der in seine Nähe kommt. Es ist unglaublich, dass selbst von hier aus die Internetverbindung funktioniert, wenn sie auch häufiger zusammenbricht. Der Laptop hängt an einem Handy, weil es natürlich keine ordentlichen Telefonleitungen gibt, und zwischendurch hat man auch mal ein paar Stunden kein Netz, aber wie durch ein Wunder funktioniert es dann wieder. Wir sind jetzt in Gombe/Tansania, in Janes Forschungsstation. Ich bin überwältigt von all den neuen Eindrücken: der Natur, dem Klima, der 172
Landschaft, den Menschen. Von den Hauptpersonen, den Schimpansen, habe ich bisher allerdings nicht viel gesehen; nur zwei, die zurzeit in der Krankenstation sind, und einen ihrer Angehörigen, der ihnen einen Besuch abstatten wollte und einen ziemlichen Aufstand gemacht hat. Aber morgen darf ich mit Jane in den Dschungel und die wild lebenden Tiere beobachten! Mitten in dieser gewaltigen Natur kommen mir unsere menschlichen Probleme ganz schön albern und mickrig vor. Hier geht es um den Erhalt ganzer Arten und Landstriche, da kann man sich nicht mehr vorstellen, dass Leute wegen einer unbezahlten Rechnung oder ein bisschen Lärm vor Gericht gehen. Das, was noch tief im Dschungel zählt, ist die Liebe. Ohne die Liebe von Menschen wie Jane würden viele Tiere nicht mehr leben, und ohne die Liebe der Tiere untereinander könnten sie nicht überleben. Ich weiß, es kommt einem komisch vor, die Beziehung zwischen zwei Tieren als Liebe zu bezeichnen, aber wenn du sehen könntest, wie sie miteinander umgehen! So … menschlich, eben. Das ist das Geheimnis: Wir erkennen uns in ihnen wieder, aber wir wollen nicht, dass sie so sind wie wir, weil wir uns für was Besseres halten. Du fehlst mir. Aber hier, in der Fremde, bin ich mir selbst wieder näher gekommen und habe erkannt, dass ich notfalls auch ohne dich existieren könnte. Das müsste eine große Beruhigung für dich sein, oder? :-) Ich umarme dich, Nela
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Josch betrat sein Büro und blickte durch das Schaufenster auf die Straße, wo eine Gruppe Kinder sich mit Kastanien bewarf. Zwei Jugendliche sausten auf ihren Skateboards herum, eine alte Dame drohte ihnen aus dem Fenster. In der zweiten Reihe parkten mehrere Autos mit eingeschaltetem Warnblinker, zwei Fahrer, die nicht aneinander vorbeikamen, stritten sich, weil keiner nachgeben wollte. Im Eingangsbereich der Kanzlei wurde es laut, Josch hörte erregte Stimmen, dann beruhigende Worte seiner Mitarbeiterin und Pits sonores Organ. Er öffnete die Tür und sah seinen Partner eilig auf sich zukommen. Der kurdische Familienvater, dieser Arslan, ist durchgedreht, sagte er atemlos, er hat auf seine Frau eingeschlagen. Sie ist hier, völlig hysterisch. Sie will ihn anzeigen, sich scheiden lassen, zurück in die Türkei. Josch schüttelte den Kopf. Würdest du nicht durchdrehen, sagte er, mit neun Leuten in einer winzigen Wohnung? Das ist Käfighaltung; wenn es um Hühner ginge, wären längst die Tierschützer auf den Barrikaden, aber es geht ja nur um Menschen, noch dazu um Ausländer. Hör auf, sagte Pit, und kümmere dich um die Frau. Ich rufe im Frauenhaus an, ob die sie kurzfristig nehmen können. Klär du mit der Ausländerbehörde, ob das in Ordnung geht. Josch nickte und winkte der Gruppe, die immer noch erregt diskutierte. Die junge Frau Arslan mit dem Baby im Arm, begleitet von zwei Freundinnen, 174
die jeweils einen ihrer Söhne an der Hand hielten, marschierte entschlossen auf ihn zu. Ihr linkes Auge war zugeschwollen und blau verfärbt. Sie sprach auf kurdisch auf ihn ein, und eine der Frauen fing an zu übersetzen. Josch unterbrach sie mit einer Handbewegung Kommen Sie erst mal in mein Büro, forderte er sie auf und lächelte den zwei kleinen Jungen zu, die verstört wirkten. Er zog die Spielzeugkiste in die Mitte des Zimmers und kippte sie aus. Zögernd näherte sich der größere, während der kleinere sich ans Knie seiner Mutter klammerte. Josch ließ sich alles erzählen und überlegte dabei, mit welcher Strategie der Schaden für die Familie am kleinsten zu halten wäre. Wenn Frau Arslan ihren Mann anzeigte und es zu einem Verfahren käme, könnte er abgeschoben werden, möglicherweise würden die Behörden die Gelegenheit nutzen und sie gleich mit zurückschicken. Falls es ihr dann gelingen sollte, hier zu bleiben, wäre sie auf ihre Verwandtschaft angewiesen, und die Kinder verlören auf unabsehbare Zeit ihren Vater. Sie zu einer Versöhnung zu bewegen, schien das Vernünftigste zu sein, obwohl es ihm widerstrebte. Andererseits hielt er den Mann nicht für einen notorischen Schläger, sondern für jemanden, der unter Druck die Nerven verloren hatte. Nur, was würde beim nächsten Mal passieren? Er hatte bereits gedroht, seine Familie umzubringen. Hören Sie, Frau Arslan, sagte Josch, und die eine Freundin übersetzte wieder, wir versuchen gerade, 175
Ihnen einen Platz im Frauenhaus zu organisieren, dort können Sie vorerst mit Ihren Kindern unterkommen. In ein, zwei Tagen, wenn sich die Beteiligten beruhigt haben, werden wir über alles sprechen. Frauenhaus?, wiederholte die Übersetzerin unsicher, und er erklärte den Begriff, so gut er konnte. Als Frau Arslan verstanden hatte, schüttelte sie heftig mit dem Kopf, sagte etwas und stand auf. Will sie nicht hingehen, erklärte die Freundin. Wohin will sie dann? Kurzer Wortwechsel. Nach Hause, lautete die Übersetzung. Nun gut, ich kann Sie nicht aufhalten, sagte Josch. Sagen Sie Frau Arslan, sie soll sich in Ruhe überlegen, ob sie ihren Mann anzeigt. Das kann unabsehbare Folgen für ihren Asylantrag haben. Die Frau nickte, dann verließ die Gruppe das Büro. Josch fühlte sich mies. Er hasste es, wenn keine der möglichen Lösungen eine gute Lösung war. Eigentlich war es in letzter Zeit immer so gewesen. Aimée war zur ersten Party ihres Lebens eingeladen. Auf dem Land hatte es so etwas nicht gegeben. Ohne Jungs hätte es auch keinen Spaß gemacht, und sie und die Mädchen aus ihrer Klasse kannten kaum welche. So hatten sie nur VideoNights veranstaltet und manchmal bei einer Freundin übernachtet. Sie hatten sich gegenseitig geschminkt, Musik gehört und Poster von ihren 176
Lieblingsstars aufgehängt. Heimlich vertrauten sie ihrer besten Freundin an, welchen davon sie besonders süß fanden. Aimée hatte keine beste Freundin gehabt, und Jungen waren Wesen von einem anderen Planeten gewesen. Redeten nur von Fußball, Handys und Computerspielen, hatten komische Frisuren und Pickel. Erst vor kurzem hatte sie begonnen, sich für diese fremde Art zu interessieren. Die Einladung zur Party kam von Ruben, der seinen sechzehnten Geburtstag feierte. Als sie es Josch erzählte, sah er Aimée merkwürdig lange an, seufzte tief und sagte: Also gut, ich bringe dich dann hin. Hinbringen?, fragte sie entsetzt. Muss das sein? Ja, das muss sein. Du lässt mich aber ein Stück vorher aussteigen, ja?, bat Aimée. Keineswegs, ich bringe dich bis an die Haustür und schaue mir die Eltern des Burschen an. Waaas? Aber … das Fest findet gar nicht bei ihm zu Hause statt! Wo dann? In so ‘ner ehemaligen Kirche. Die kann man mieten. Dann bring ich dich eben dorthin, sagte er. Seine Eltern sind auch gar nicht dabei, sagte Aimée. Dann legte sie ihm beruhigend die Hand auf den Arm. Mach dir keine Sorgen, ich bin doch kein Baby mehr. Ja, leider, gab Josch zurück und seufzte.
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Aimée stand vor dem Spiegel, hob die Haare im Nacken an und ließ sie fallen. Sie beugte sich vor und betrachtete aufmerksam ihr Gesicht. Hoffentlich würden ihre Augenbrauen nicht in der Mitte zusammenwachsen wie bei dieser mexikanischen Malerin, Frida Kahlo. Rosanna hatte ihre Bilder geliebt und immer Postkarten mit ihrem Portrait verschickt. Sie hatte sich eingebildet, seelenverwandt mit ihr zu sein; hatte alles über sie gelesen und einmal sogar ein Selbstportrait im gleichen Stil wie ihr Vorbild gemalt, auf dem ihr Gesicht und das von Frida Kahlo ineinander flossen. Komisch, dachte Aimée, auch Frida Kahlo war lange krank gewesen und früh gestorben, wie Rosanna. Sie betrachtete ihre Augen, die fast schwarz und von dunklen Wimpern umsäumt waren, ärgerte sich über ein winziges Pickelchen auf der Nase und überlegte, ob sie Lippenstift verwenden sollte. Wie machten die Frauen es in den Filmen, dass ihr Lippenstift beim Küssen nicht verschmierte? Bevor sie das nicht rausgefunden hatte, würde sie niemanden küssen. Sie verließ das Bad und probierte in ihrem Zimmer Klamotten an. Nichts schien ihr passend für diese Party. Plötzlich kam ihr ein Gedanke. Leise öffnete sie die Tür zum Flur und lauschte. Aus dem Arbeitszimmer kam das leise Klackern der Computertastatur. Im Schlafzimmer öffnete sie Nelas Schrank. Zaghaft strichen ihre Finger über den Stoff von Hosen, Röcken und Kostümen. Sie kannte Nela fast 178
nur in Jeans und Lederjacke und war überrascht über diese eleganten Sachen. Der Reihe nach zog sie die Schubfächer auf und betrachtete Strümpfe, Halstücher und Schals. In der letzten lag Wäsche; BHs, Slips, Bodys. Aimée zog ein auberginefarbenes Seidenhemdchen mit heller Spitzenborte heraus. Schnell schlüpfte sie aus ihrem T-Shirt und zog es über. Es war nur ein bisschen zu weit; wenn sie ihren BH mit einem Papiertaschentuch ausstopfte, würde es passen. Sie nahm ein Wäschestück nach dem anderen in die Hand. Wie Nela wohl nackt aussah? Was Josch an ihr gefiel? Ob sie oft Sex miteinander hatten? Aimée ließ sich aufs Bett fallen, schloss die Augen und stellte sich vor, wie es wäre, Nela zu sein. O Josch, stöhnte sie kichernd, ja, so ist es gut. Was machst du hier?, erklang Joschs Stimme. Aimée fuhr hoch. Er stand an der Tür und sah sie wütend an. Nichts, ich wollte nur … Du hast hier nichts zu suchen, herrschte er sie an. Zieh das sofort aus! Aimée stand vom Bett auf, zog das Seidenhemd über den Kopf und legte es zurück in die Schublade. In Jeans und BH blieb sie vor ihm stehen. Ich wollte mir nur was ausleihen, sagte sie, reg dich nicht auf! Wenn du unverschämt wirst, kannst du die Party vergessen, klar?, sagte Josch, der so aufgebracht war, wie Aimée ihn lange nicht gesehen hatte. Sie 179
legte den Kopf schief und musterte ihn herausfordernd. Die Seidenwäsche steht mir sowieso viel besser als Nela, sagte sie und spazierte an ihm vorbei in ihr Zimmer. Am liebsten hätte er sie wahrscheinlich in Strampelhosen gesteckt und in einen Laufstall gesperrt, dieser eifersüchtige Blödmann. Er konnte es nicht ertragen, dass sie kein kleines Kind mehr war, sondern auf Partys ging und vielleicht bald einen Freund haben würde. Schon Rosanna hatte er mit seiner Eifersucht fertig gemacht. Ärgerlich durchwühlte sie ihren Kleiderschrank, dann hielt sie inne und zog eine rote Bluse aus dem Klamottenwust. Gleich darauf fand sie ein passendes rotes Tuch, mit dem sie ihr Haar zusammenband. Sie tuschte die Wimpern und schminkte ihre Lippen knallrot. Als sie sich Josch präsentierte, erstarrte er. Woher hast du die Bluse? Von Mama, warum? Passt dir schon wieder was nicht? Er gab keine Antwort und schwieg auch im Auto die meiste Zeit. Nervös kaute Aimée am Nagel des rechten Zeigefingers, den sie sich eingerissen hatte. Abgekaute Nägel sind unsexy, sagte Josch. Weiß ich, sagte sie. Nach einer Weile versuchte er, das Gespräch wieder aufzunehmen. Gefällt er dir? Wer? 180
Na, dieser Ruben. Normal, sagte Aimée. Sie hatte keine Lust, sich ausfragen zu lassen. Aha, sagte Josch, das war ja eine erschöpfende Auskunft. Er raucht, fügte Aimée hinzu. Aber sonst ist er okay. Du rauchst aber nicht heimlich, oder? Josch sah sie forschend an. Aimée verdrehte die Augen. Ich bin doch nicht blöd. Und du tust auch sonst nichts, von dem du weißt, dass es mir nicht gefallen würde? Aimée betrachtete es als unter ihrer Würde, zu antworten. Die Kirche stand mitten in einem Wohngebiet auf einem Platz, rundum dreistöckige Mietshäuser aus den fünfziger Jahren. Hellblaue Neonbuchstaben über dem Eingangsportal bildeten das Wort KIRCHE, Grüppchen von jungen Leuten kamen von allen Seiten. Josch schüttelte den Kopf. Das kostet doch sicher ein Schweinegeld, die zu mieten! Kann sein, sagte Aimée schulterzuckend. Soviel sie wusste, waren Rubens Eltern reich, für die war das sicher ein Klacks. Na, hoffentlich ist Ruben nicht so ein neureicher Schnösel, sagte Josch, auf die Sorte steh ich nicht. Ruben ist okay, erwiderte sie, schließlich kann er nichts für seine Eltern.
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Josch hatte den Wagen geparkt und den Motor abgestellt. Kann ich ihn jetzt kennen lernen? Der ist irgendwo da drin, sagte Aimée genervt, soll ich jetzt vielleicht reingehen und ihn vor die Tür zerren, damit du mir glaubst, dass er kein Drogendealer oder Mädchenhändler ist? Wäre mir eigentlich das Liebste, sagte Josch grinsend. Du spinnst doch! Dann fahr mich wieder heim. Sie verschränkt die Arme und wandte den Blick ab. Also gut, lenkte Josch ein und griff in seine Sakkotasche, nimm wenigstens mein Handy, und wenn irgendwas ist, rufst du an, okay? Okay. Sie griff nach dem Telefon und stieg aus. Krieg ich eigentlich bald mal ein eigenes Handy? Ich bin die Einzige in der Klasse, die keins hat! Gegen den Strom zu schwimmen, stärkt die Muskulatur, sagte Josch. Sehr witzig, gab sie zurück. Danke fürs Herfahren. Sie schlug die Autotür zu. Josch ließ die Scheibe ein Stück runter. Mitternacht, okay? Ich steh wieder hier. So früh? Ja, so früh. Sie merkte, dass er ihr nachblickte, und bemühte sich, cool zu wirken, dabei wurde sie mit jedem Schritt, den sie auf die Kirche zuging, nervöser.
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Es war eine Überraschung gewesen, dass Ruben sie eingeladen hatte, denn eigentlich kannten sie sich kaum. Sein immer leicht abwesend wirkender Blick und das wirre, halblange Haar kamen gut bei den Mädchen an, und anfangs hatte Aimée ihn für ziemlich arrogant gehalten. Sie hatte nicht den Eindruck gehabt, dass er überhaupt Notiz von ihr nahm, aber eines Tages war er an ihr vorbeigeschlendert und hatte Hi gesagt. Sie hatte auch Hi gesagt und weggeschaut. Er war zum Kiosk gegangen und mit zwei Cola zurückgekommen. Schweigend hatten sie an ihren Trinkhalmen gesaugt und sich gemustert. Von da an war er fast täglich in der Pause bei ihr aufgetaucht, hatte ein paar Sätze mit ihr gewechselt und war wieder verschwunden. Vor ein paar Tagen hatte er ihr die Einladung gegeben. Ist nichts Besonderes, aber wäre cool, wenn du kommen würdest, hatte er gesagt und sich lässig die Haare aus der Stirn gestrichen. Mal sehen, hatte Aimée gesagt und die Einladung eingesteckt, ohne sie zu lesen. Sie hatte den Eingang erreicht. An einem Biertisch saßen zwei Typen und kontrollierten die Einladungen, rechts war eine Garderobe, links ein abgeteilter Bereich mit einer Bar. Das ganze restliche Kirchenschiff war Tanzfläche, nur an den Rändern standen ein paar Sessel und Tischchen. Aimée fühlte, wie ihre Hände vor Aufregung feucht wurden. Sie hoffte, bald jemanden zu treffen, den sie kannte. Am liebsten Lisa, mit der sie sich gleich 183
zu Beginn angefreundet hatte. Jennifer und Sandy waren auch in Ordnung. Suchend sah sie sich um. Es lief laute House-Musik, aber niemand tanzte. Wer sich unterhalten wollte, musste dem anderen ins Ohr brüllen, deshalb standen die meisten nur herum, hielten Gläser in der Hand und zogen an ihren Zigaretten. Aimée bemerkte, dass manche der Zigaretten die Form einer kleinen Tüte hatten. Zu ihrer Erleichterung entdeckte sie Lisa, die mit ein paar Leuten zusammenstand. Sie küssten sich zur Begrüßung auf die Wangen, Lisa legte einen Arm um Aimée, mit dem anderen fuchtelte sie in der Luft herum, während sie gegen die Musik anbrüllte. … und dann haben die drei sich in der Wohnung verbunkert und total komische Spiele gemacht, zu dritt in der Badewanne und so. Und der Bruder hat diesen amerikanischen Jungen gezwungen, mit seiner Schwester zu schlafen, vor ihm, auf dem Boden. Voll krass, warf einer der Jungen ein, von wem ist denn der Film? Von so ‘nem uralten Typen, sagte Lisa, Bertolucci heißt er, glaube ich. Meine Mam kannte ihn, deshalb hat sie mir erlaubt, reinzugehen. Hat gedacht, wenn der Film von dem ist, muss es Kunst sein. Die Kunst zu vögeln, grölte ein anderer Junge. Achtelgehirn, sagte Lisa verächtlich und zog Aimée weg. Der Film ist echt gut, sagte sie, solltest du dir ansehen. 184
Wie heißt er denn?, fragte Aimée. Die Träumer. Komm, wir holen uns was zu trinken. Arm in Arm schlenderten die Mädchen Richtung Bar. Wo ist Ruben überhaupt?, fragte Aimée, ich hab ihn noch gar nicht gesehen. Keine Ahnung, sagte Lisa, der wird in irgendeiner Ecke hängen und sich die Birne voll kiffen. Sie kicherte. Aimée schwieg überrascht. Sie hatte nicht gewusst, dass auch Ruben zur Tütchen-Fraktion gehört. Als sie nebeneinander an der Bar standen, spürte sie plötzlich einen Hauch in ihrem Nacken und drehte sich um. Ruben stand hinter ihr. The princess has arrived, sagte er. Hi, erwiderte Aimée und lächelte, alles Gute zum Geburtstag! Danke. Eigentlich kein Grund zum Feiern, dass man auf dieser Welt gelandet ist, was? Wieso machst du dann ‘ne Party?, fragte Lisa. Wieso nicht?, sagte Ruben. Irgendwie muss man die Zeit doch rumkriegen. Zu Hause legte Josch sich aufs Sofa und schloss die Augen. Kein Fernseher, keine Musik, nur Stille. Er fiel in einen leichten Dämmerschlaf, sah Aimée in den Armen eines Jungen, sah unbeholfene Hände auf ihrem Körper, Lippen auf ihrer Haut, verworrenes Blondhaar über ihrem Gesicht. Die Bilder verschwammen, Rosanna drehte sich wie im 185
Tanz, flog von einer Umarmung in die nächste, fremde Männer, gierige Münder, grinsende Gesichter. Ein heißer Schmerz flammte in ihm auf, lang vergessene Erinnerungen. Die Nächte, in denen Rosanna nicht nach Hause gekommen war. Oft war sie weg, wenn er morgens aufwachte, nie sagte sie ihm, wohin sie gehen und wann sie zurückkommen wollte. Wenn er fragte, wich sie aus. Wenn du mir nicht vertraust, sagte sie, haben wir keine Chance. Aber wie hätte er einem kranken Menschen vertrauen können, der in seinen manischen Phasen alles unternahm, um sich zu zerstören? Immer wieder musste er sie aus teuren Hotels auslösen oder ruinöse Kaufverträge rückgängig machen. Wenn sie sich im Atelier eingeschlossen hatte und tagelang ohne Pause malte, musste er sie zum Essen zwingen und dazu, ihrem Körper ein bisschen Ruhe zu gönnen. Statt es ihm zu danken, beschimpfte sie ihn lautstark. Und eines Tages setzte sie ihn ohne Vorwarnung vor die Tür. Josch wusste bis heute nicht, was der Auslöser gewesen war. Rosanna hatte ihn im Streit angeschrien und ein Buch nach ihm geworfen, plötzlich hatte sie innegehalten und ihn mit einem Blick fixiert, der so fremd und kalt war, dass ihn schauderte. Es reicht, hatte sie ganz ruhig gesagt. Ich will, dass du gehst. Sofort. Josch war nach oben gegangen und hatte seine Sachen gepackt. Auf der Fahrt in die Stadt hatte er 186
das erste Mal geweint, seit sein Vater damals sein heimlich zusammengespartes Radio zertrümmert hatte. Er setzte sich auf, schüttelte die quälenden Erinnerungen ab. Ihm war flau im Magen, er hatte seit dem Mittag nichts gegessen. Widerwillig erhob er sich vom Sofa und ging in die Küche. Mit einem Butterbrot, einem Paar kalter Wiener und einem Bier kehrte er zurück. Er schaltete den Fernseher an und zappte durch die Programme, konnte sich auf nichts konzentrieren und machte den Apparat wieder aus. Dann legte er eine CD mit Latin Jazz ein, aber die Gedanken an Rosanna ließen ihn nicht los. So vieles war offen geblieben, so vieles hatte er bis heute nicht verstanden. Warum sie ihn gewollt hatte und warum sie ihn nicht mehr gewollt hatte und ob sie wirklich ihn gewollt hatte oder nur einen Vater für ihre Tochter und einen Verwalter ihrer Lebenskatastrophen. Wie gern hätte er mit jemandem über all das gesprochen, aber er wusste nicht, mit wem. Er setzte sich an den Computer. Liebe Nela, kennst du das Gefühl, das eigene Leben nicht mehr zu überblicken? Fragen, wohin man sieht, obwohl bisher alles so klar zu sein schien? Mir kommt es im Moment vor, als hätte ich so ziemlich alles verbockt, was ich angepackt habe, mit einer Ausnahme: der Entscheidung für das Jura187
Studium. Etwas anderes hätte ein zwanghafter Charakter wie ich gar nicht machen dürfen. Aber wenn ich auf meine zwischenmenschlichen Beziehungen blicke, bietet sich mir ein Trümmerfeld. Die Sache mit meinen Eltern ist schief gelaufen; du weißt ja, dass ich keinen Kontakt mehr zu ihnen habe, seit ich vor achtzehn Jahren von zu Hause ausgezogen bin. Klar, meine Eltern sind schreckliche Spießer, mein Alter hat mich verdroschen, und ich habe nicht allzu viel Grund, ihnen dankbar zu sein. Aber sie sind meine Eltern, und vielleicht wäre es besser, sich zu versöhnen, bevor sie sterben. Die Zeit mit Rosanna war ein einziger Kampf um ihre Liebe, gegen ihre Krankheit, gegen meine zwanghafte Eifersucht, gegen meinen Wunsch, sie zu dominieren und zu kontrollieren. Ich habe den Kampf verloren, und ich kann nicht einmal wütend auf Rosanna sein, weil sie tot ist. Was Aimée angeht, so liegen die größten Herausforderungen vermutlich noch vor mir. Heute Nachmittag hat sich auf jeden Fall eine sehr merkwürdige Szene abgespielt. Ich erzähl dir davon, wenn du zurück bist. Tatsache ist, dass ich die Entscheidung, sie aufzunehmen, rücksichtslos gegen dich durchgedrückt habe, sogar auf die Gefahr hin, dass du mich verlässt. Wie konnte ich so etwas tun? Heute verstehe ich es nicht mehr. Aber vielleicht ist das Schlimmste, dass ich niemanden habe, mit dem ich sprechen könnte. Niemanden, dem ich erzählen könnte, dass du und
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ich Probleme haben – außer dir. Ist das nicht lächerlich? Es stimmt absolut nicht, dass ich dich nicht brauche. Du bist das Gegenüber, das mich ergänzt. Wie sagst du immer? Kopf und Bauch. Gemeinsam sind wir eins. Zusammen umarmen wir die Welt. Wie läuft dein Dreh? Was machen die Schimpansen? Ich liebe dich, du kopfloses Wesen. Komm bald wieder. Bitte. Dein Josch Es war erst kurz nach elf, als er den Wagen in der Nähe der Kirche abstellte, er beschloss, noch ein Bier zu trinken. Suchend spazierte er die Gegend ab. Endlich entdeckte er eine der trostlosen Abfüllstationen, die ›Bierschwemme‹ oder ›Bei Manni‹ heißen oder, wie dieser Laden, ›Zum Hasenwirt‹. Josch ging zum Tresen und bestellte ein Pils. Im rötlichen Licht waberten Rauchschwaden, ein aufdringlich laut abgespielter deutscher Schlager sollte Stimmung vortäuschen. Außer ihm hatten sich nur noch ein alter Mann mit einer stinkenden Zigarre und eine dicke Frau mit strähnigem Haar hierher verirrt. Nachdem der Wirt ihm sein Glas hingestellt hatte, fuhr er fort, ein Kreuzworträtsel zu lösen, das er unter die einzige hellere Lampe geschoben hatte. Wie genügsam Menschen sein können, dachte Josch. Der Wirt schien sich wohl zu fühlen; vielleicht war ihm seine Frau gerade abgehauen, 189
weil sie keine Lust mehr auf einsame Abende vor dem Fernseher hatte, und nun war er froh, nicht alleine zu sein, sondern in Gesellschaft von ein paar Fremden, die seine Einsamkeit teilten. Der alte Mann paffte genüsslich vor sich hin, vielleicht war die Zigarre der Höhepunkt seiner Woche, den er hier genoss, wo niemand ihn ermahnte, die Asche nicht auf den Teppich fallen zu lassen. Die dicke Frau hatte den Kopf vertrauensvoll an die Wand gelehnt und summte mit geschlossenen Augen mit. Er trank in kleinen Schlucken sein Bier und versuchte, an nichts zu denken. Aimée folgte Ruben auf die Rückseite der Kirche. Hier wummerte die Musik gedämpft durch die Wände, und eine Straßenlaterne sorgte für schwaches Licht. Also, wie fühlt es sich an?, fragte sie neugierig. Du wirst leicht, sagte Ruben, irgendwie … schwebst du. Dein Gesicht fühlt sich komisch an, die Augen kommen so raus. Und das ist angenehm?, fragte Aimée. Alles wird scheißegal, das ist angenehm. Probier einfach mal, sagte er und hielt ihr eine selbst gedrehte Tüten-Zigarette an den Mund. Sie spitzte die Lippen und zog vorsichtig. Der Rauch schmeckte beißend, als er in der Lunge ankam, hustete sie. Ruben nahm noch zwei tiefe Züge, dann warf er die Kippe weg. 190
Komm her, sagte er. Aimée näherte sich ihm, als sein Gesicht so nahe war, dass es verschwamm, schloss sie die Augen. Sie spürte seine Hände auf ihren Schultern, er drehte sie um und zog sie an sich. Seine Stimme war ganz nah an ihrem Ohr. Atme tief ein, flüsterte er, ganz tief. Sie holte tief Luft, atmete wieder aus, fünfmal, zehnmal, bis ihr schwindelig wurde. Als sie gerade eingeatmet hatte, presste er plötzlich ruckartig ihren Brustkorb zusammen, sie hörte sich selbst ein Geräusch ausstoßen, dann wurde ihr schwarz vor Augen. Viertel vor zwölf. Josch legte zwei Euro auf den Tresen, nickte dem Wirt zu und verließ das Lokal. Zielstrebig ging er Richtung Kirche. Schon hier war das Dröhnen der Bässe zu hören; ein Wunder, dachte er, dass die Anwohner sich nicht beschweren. Zwei Gestalten tauchten aus dem Dunkel auf, blieben im Eingang der Kirche stehen und steckten die Köpfe zusammen. Aimées rote Bluse wirkte lila im blauen Licht der Neonbuchstaben, das blonde Haar des Jungen hatte einen surrealen Blaustich. Einen kurzen Moment sah Josch in sein Gesicht, als er aufblickte. Der Junge kam ihm bekannt vor, an wen erinnerte er ihn bloß? Aimée entdeckte Josch, ließ den Jungen stehen und kam auf ihn zu. Du bist viel zu früh, sagte sie finster. 191
Nein, widersprach er, genau rechtzeitig. Mach bloß kein Theater, sagte sie, es war überhaupt nichts! Hab ich irgendwas gesagt? Sie gingen zum Wagen. Aimée warf einen letzten Blick Richtung Kirche, stieg ein und verfiel in tiefes Schweigen. Aimée dachte an den Schock, als Rubens Arme wie ein Schraubstock ihren Brustkorb zusammengepresst hatten, das Gefühl, zu ersticken, den Sturz in ein schwarzes Loch. Als sie aus der kurzen Bewusstlosigkeit erwacht war, hatte er sie im Arm gehalten und gefragt: Und wie war’s? Wahnsinn, hatte sie gestammelt, ich war … völlig weg, wie tot. Cool, oder? Was hast du mit mir gemacht? Das Ohnmachtsspiel. Nie gehört? Stumm hatte sie den Kopf geschüttelt. Ist fast so gut wie Drogen, hatte Ruben zufrieden festgestellt, und sogar noch gefährlicher, man kann nämlich ‘ne Gehirnblutung kriegen und sterben! Aimée starrte ihn fasziniert an. Was war das nur für ein Typ, dem das Leben so wenig bedeutete und der dabei so voller Leben war? Joschs Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Und war’s schön?, fragte er und lächelte sie freundlich an. Okay. War das eben Ruben? Ja. 192
Sieht nett aus. Mmh. Sie wollte Josch nicht von Ruben erzählen, weil das nicht gegangen wäre, ohne ihn anzulügen. Also schwieg sie. Josch warf ihr noch einen Blick zu, fragte aber nicht weiter. Er spürte ihre Unruhe und Verwirrung, aber er kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie sich verschließen würde wie eine Auster, wenn er weiter bohrte. Er grübelte darüber nach, wem der Jungen ähnlich sah. Kannte er überhaupt jemanden in diesem Alter? Einer seiner jugendlichen Mandanten vielleicht? Der Sohn von Bekannten? Als er vor der Haustür eingeparkt und den Zündschlüssel abgezogen hatte, wusste er es plötzlich. Der Junge sah aus wie er selbst. Wie er selbst mit sechzehn. Lieber Josch, dein Brief hat mich berührt. Kann es sein, dass du darin das erste Mal, seit wir uns kennen, über deine Gefühle gesprochen hast? Du bist also gar nicht dieser coole Typ, der seinen Weg geht wie Django, ohne nach rechts oder links zu schauen? Du weißt also gar nicht immer, was richtig ist? Du zweifelst und haderst und merkst, wenn du einen anderen verletzt hast? Willkommen im Reich der menschlichen Wesen! Nein, ernsthaft: Ich bin wirklich froh, dass du nicht der bist, als der du dich in den letzten 193
Wochen präsentiert hast. Das war nicht mehr der Mann, in den ich mich verliebt habe. Das war jemand, der unter furchtbarem Druck steht, der alles richtig machen will und dabei eine Menge falsch macht. Aber das alles habe ich verstanden, und es ist nicht das eigentliche Problem. Das besteht vielmehr darin, dass ich bis heute nicht weiß, warum du mich eigentlich liebst. Oder, anders ausgedrückt, ob du nicht in Wahrheit immer noch Rosanna liebst. Aimées Anwesenheit erinnert mich jeden Tag daran, dass es in deinem Leben eine Liebe gegeben hat, die heftiger und leidenschaftlicher war als deine Liebe zu mir. Die Radikalität, mit der du mir Aimée aufgezwungen hast, ist der Beweis dafür. Du kannst Aimée nicht wegschicken, weil du dadurch ein weiteres Mal Rosanna verlieren würdest. Ich weiß, dass ich dagegen nichts tun kann, aber es ist schwer auszuhalten. Ob ich es schaffen werde, weiß ich, ehrlich gesagt, nicht. Bis bald. Umarmung, deine Nela
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Wenn sie auf Reisen war, fühlte Nela sich wie ein anderer Mensch. Plötzlich war sie nicht mehr ungeduldig, ängstlich und misstrauisch, sondern großzügig, offen und lebendig. Sie ging auf Menschen zu und machte Dinge, die sie zu Hause niemals gewagt hätte. Wobei es zu Hause auch nicht allzu viele Gelegenheiten gab, von Klippen zu springen, Raubkatzen zu beobachten oder zwischen Kakerlaken zu nächtigen. Schwierig war nur das Zurückkommen. Jedes Mal hoffte sie, sie könnte dieser andere Mensch bleiben, in neuer Gestalt in ihr altes Leben zurückkehren. Aber dann saugte das Leben sie wieder in sich auf, formte und knetete sie, und im Handumdrehen war sie wieder die alte Nela. An all das dachte sie, als sie spät in der Nacht, erschöpft nach einer zwanzigstündigen Reise, aus dem Flughafen trat. Es nieselte leicht, sie schloss die Augen und hielt ihr Gesicht in den Regen. Sie fühlte Toms Arm auf ihrer Schulter und verlagerte ihr Gewicht gegen seinen Oberkörper. Ob Lucy überlebt?, fragte sie mehr sich selbst als ihn. Toms Gesicht wirkte fahl im kalten Licht einer illuminierten Werbetafel. Darauf eine protzige Uhr,
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darüber der Spruch Fast so kompliziert wie eine Frau. Aber pünktlich. Lucy war die Schimpansendame, die zwei Tage zuvor auf der Krankenstation eingeliefert worden war. Sie hatte ihr Junges gegen den Angriff eines Geparden verteidigt und war dabei schwer verletzt worden. Jane war optimistisch, sagte Tom vage. Jane ist immer optimistisch, gab Nela zurück, sonst wäre sie nicht mehr in Gombe. Sie stand noch unter dem Eindruck dieser Frau, die mit sanfter Härte ihr Lebensprojekt durchkämpfte und sich dabei von nichts entmutigen ließ. Nela wäre gern so gewesen. Nur, sie wusste nicht, was ihr Lebensprojekt war. Also, was mache ich jetzt?, fragte sie ratlos. Wie hatte sie es nur geschafft, während der Rückreise nicht an die Ankunft zu denken? Sie hatte Gin Tonic und Tomatensaft getrunken, Notting Hill im Bordkino angesehen, geschlafen, in Zeitschriften geblättert und so getan, als wäre es ein ganz normaler Flug und nicht eine Reise ins Ungewisse. Willst du nicht nach Hause?, fragte Tom. Doch. Ich glaube, ich muss. Tom hob die Schultern, ließ sie fallen. Okay, sagte er und winkte dem ersten Taxi, das in der Schlange stand. Der Wagen ließ kurz die Scheinwerfer aufblinken, fuhr an und hielt gleich darauf neben ihnen. Der Fahrer stieg aus und lud Toms Tasche, den
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Rucksack und den Kamerakoffer ein. Tom öffnete die hintere Tür. Willst du ein Stück mitfahren? Lass nur, sagte sie, es ist ein Umweg. Er stieg ein, hob kurz die Hand und zog die Tür zu. Nela winkte dem nächsten Wagen und nannte die Adresse ihrer Wohnung. Die Autobahn war leer, schnell waren sie im Zentrum. Die nächtliche Stadt glitt draußen vorbei, der Regen verwischte die Lichter, alles wirkte fremd. Sie konnte sich vorstellen, irgendwo auf der Welt zu sein, in Lima, Sydney oder Mombasa. Als sie bezahlt hatte und auf der Straße stand, war sie eindeutig wieder in München: Der Fahrer hob ihr Gepäck aus dem Auto und ließ es einfach auf dem Gehweg stehen. Arschloch, murmelte sie kraftlos und wuchtete den Koffer durch die Haustür, die Treppe hoch. Sie blieb stehen, horchte. Kein Geräusch, kein Lichtschein unter der Tür. Sie schloss auf. Der vertraute Geruch. Jacken und Mäntel an der Garderobe, davor Schuhe. Joschs Aktentasche auf dem Stuhl. Aimées Schulrucksack am Boden. Nelas Magen verkrampfte sich, sie atmete tief durch. Stellte ihre Sachen ab, machte Licht, ging in die Küche. Öffnete den Kühlschrank. Immer wenn sie von einer Reise nach Hause kam, musste sie den Inhalt des Kühlschranks inspizieren. Viel war nicht drin. Zwei Sorten Joghurt, eine angebrochene Fünfminutenterrine, in der noch der Löffel steckte, eine Plastiktüte, vermutlich mit 197
Aufschnitt, eine mit Alufolie abgedeckte Schüssel mit Essensresten. Sie hatte keinen Hunger und machte den Kühlschrank wieder zu, trank nur einen Schluck Wasser aus der Leitung. Das Wohnzimmer wirkte im dämmrigen Licht der Straßenbeleuchtung ganz fremd, sie ging an Aimées Zimmertür vorbei ins Schlafzimmer. Eine Decke wurde zur Seite geschlagen, Josch richtete sich auf. Wer … was, stammelte er und blinzelt ins Licht. Ich bin’s, wollte Nela sagen. Da bewegte sich die Decke auf ihrer Bettseite. Ein dunkler Lockenkopf tauchte auf. Rosanna, durchfuhr es sie. Nein, dachte sie dann, natürlich nicht. Entschuldigung, sagte Nela und schloss die Tür, als hätte sie sich im Zimmer geirrt. Sie ging zurück in die Küche und setzte sich an den Klapptisch. Josch war aufgestanden und ihr gefolgt, von hinten umarmte er sie, Nela spürte seine schlafwarme Haut und seinen Atem. Nela, murmelte er an ihrem Ohr, bist du’s wirklich? Nein, ich bin dein Albtraum, sagte sie. Immer zur falschen Zeit am falschen Ort. Er richtete sich auf, nahm ein Glas aus dem Schrank und füllte es mit Wasser. Mit schnellen Schlucken leerte er es. Es sieht komisch aus, nicht?, sagte er mit verlegenem Lachen. Du kommst heim, und ich bin nicht allein im Bett. Sehr komisch, ja. 198
Sie hat schlecht geträumt, erklärte Josch. Sie hat oft schlechte Träume. Wie oft? Fast jede Nacht. Tut mir leid, sagte Nela. Gut siehst du aus, sagte er nach einer Pause, die zu lange zu werden drohte. Das muss die Sonnenbräune sein, dachte Nela. Ein bisschen Bräune im Gesicht, schon glaubt jeder, man wäre erholt. Ich bin sehr müde, sagte sie, wo kann ich schlafen? In deinem Bett natürlich. Aimée geht zurück in ihr Zimmer. Während Nela ihren Waschbeutel aus dem Koffer kramte, hörte sie aus dem Schlafzimmer die gedämpften Stimmen von Josch und Aimée. Sie verstand nicht, was gesprochen wurde, aber am Tonfall erkannte sie, dass Josch all seine Überredungskunst aufbieten musste, um Aimée aus dem Bett zu vertreiben. Einmal hörte Nela sie kurz aufschluchzen, dann einen zornigen Schrei, schließlich hinter sich das Tappen nackter Füße. Sie drehte sich nicht um. Mit ihrem Waschbeutel unter dem Arm ging sie ins Bad; als sie ins Schlafzimmer kam, schüttelte Josch gerade ihr Bettzeug auf. Alles frisch bezogen, sagte er. Willkommen daheim. Danke, sagte Nela und schlüpfte an ihm vorbei ins Bett. Sie merkte nicht mal mehr, wie Josch das Licht ausmachte, so schnell war sie eingeschlafen. 199
Es war fast zwölf, als sie am nächsten Tag aufwachte. Mit geschlossen Augen versuchte sie, ihren Traum zu einem guten Ende zu bringen, aber es gelang ihr nicht. Sie hatte von Lucy geträumt, die blutüberströmt auf dem Waldboden lag, ihr totes Baby im Arm. Jane und Nela waren auf einer der täglichen Patrouillen an der Lichtung vorbeigekommen, wo sich der Kampf zwischen Lucy und dem Geparden abgespielt haben musste. Jane erkannte den Angreifer an der Art der Verletzungen; die Raubkatze musste den Jeep gehört und das Weite gesucht haben. Die Trauer in Lucys Augen war nicht anders als menschlich zu nennen. Apathisch ließ sie sich von Janes eilends herbeigerufenen Mitarbeitern untersuchen, erst als man ihr das Junge aus den Armen nehmen wollte, stieß sie einen klagenden Laut aus. Verzweifelt klammerte sie sich an ihm fest und ließ es nicht los, bis sie in der Station waren. Ihre Verletzungen waren schwer, aber nicht so schwer, dass sie daran sterben müsste. Wenn sie stirbt, hatte Jane gesagt, dann aus Kummer. Nela setzte sich im Bett auf. Noch hatte sie die Möglichkeit zu gehen. Einen Brief an Josch zu schreiben, in dem sie ihm erklärte, dass sie sich geirrt habe. Dass dieses Bett nicht mehr ihr gehöre, diese Wohnung nicht mehr ihr Zuhause sei. Dass sie ihn liebe und trotzdem ohne ihn von vorn beginnen wolle. 200
Es war seltsam: Nela wusste, dass sie Josch liebte, aber sie fühlte es nicht mehr. Sie spürte nur die Sehnsucht danach, es wieder fühlen zu können. Dieser Vormittag in der leeren Wohnung, die Stunden, bevor Josch und Aimée zurückkämen, waren wie ein Aufschub, eine letzte Chance für eine Entscheidung. Nela ging in die Küche, wo ein Guten-MorgenGruß von Josch auf sie wartete. Ihr fiel ein Paar ein, mit dem sie mal befreundet gewesen war. Die beiden hatten sich in den drei Jahren ihrer Ehe jeden Morgen kleine Liebesbriefchen geschrieben, über tausend Stück. Trotzdem hatte die Frau den Mann betrogen und eines Tages verlassen. Sie hatte ihm einen Brief hinterlassen, wie jeden Morgen. Und war abends nicht zurückgekommen. Nela machte sich heiße Milch mit Espresso und dachte an die frischen Croissants, die es in Gombe jeden Morgen gegeben hatte. Wahrscheinlich würde sie den Rest ihres Lebens beim Verzehren eines Croissants an Gombe denken. Bei welchen Gelegenheiten würde sie an Josch denken, wenn sie jetzt ginge? Bei jedem blonden Männerhaarschopf, bei jeder grauen Flanellhose, jedem Mini, bei Tomaten und Mozzarella, beim Erklingen seiner Handymelodie, bei der Erwähnung von Che Guevara (das T-Shirt trug er nur noch nachts), beim Ins-Bett-Gehen, beim Aufstehen, bei jedem Atemzug, in jedem verdammten Moment. Selbst wenn sie mal nicht an ihn dächte, würde ihr das sicher bald auffallen, und damit würde sie bereits wieder an ihn denken. 201
Wenn sie ihn also jetzt verließe, würde er ebenso viel Platz in ihrem Leben einnehmen wie bisher. Oder sogar mehr. Nela hatte sich immer gefragt, was Paare zusammenhielt. Was ihren strahlenden, erfolgreichen Vater bei ihrer heruntergekommenen, alkoholkranken Mutter gehalten hatte, obwohl er sah, dass es auch für seine Tochter die Hölle war. Immer wieder hatte Nela ihn angefleht: Komm, Papa, wir lassen uns scheiden! Aber erst jahrelange Anstrengungen seiner Geliebten hatten zum Erfolg geführt. Und noch immer lebte ihr Vater mit ihrer Mutter unter einem Dach. Was ihr Vater sich bei all dem dachte, war ihr schleierhaft. Die Ehe ist der Sieg der Hoffnung über die Vernunft, pflegte er zu sagen. Warum heiraten die Leute dann überhaupt, hatte sie ihn mal gefragt. Als Antwort hatte er aus der Bibel zitiert: Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei. Dass der Mensch dazu geschaffen ist, sein Leben mit anderen zu teilen, damit war Nela ja durchaus einverstanden. Aber sollte man sich nicht wenigstens aussuchen dürfen, mit wem? Sie trank ihren Kaffee aus und suchte nach Cornflakes. Es gab nur Schoko-Crossies, HonigPops und Zauberfleks, lauter Kinder-Junk, den Aimée ins Haus geschleppt hatte. Angewidert schob Nela die Packungen beiseite. Sie ging durch die Wohnung und forschte nach weiteren Spuren von Aimées Anwesenheit, als
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müsste sie vor Gericht beweisen, wie weit die feindliche Übernahme bereits fortgeschritten war. Selbst gemalte Bilder im Flur. Im Badezimmer Kleidung und Kosmetika; billiges Zeug, wie es den Girlie-Zeitschriften beigelegt wurde, die Aimée sich offensichtlich kaufte. Ein Stoffhase auf dem Sofa im Wohnzimmer. Haargummis, wohin man sah. Ein aufgeschlagenes Buch auf dem Couchtisch, The virgin suicides – Die Selbstmordschwestern. Ob das die richtige Lektüre für einen orientierungslosen Teenager war? Das Telefon klingelte. Hier ist Constantin Jahn, kann ich bitte Herrn Gercken sprechen? Herr Gercken ist nicht da, sagte Nela, kann er zurückrufen? Der Anrufer diktierte ihr eine Nummer und verabschiedete sich. Noch während sie die Zahlen notierte, klingelte etwas in ihrem Hinterkopf. Constantin. War das nicht Rosannas letzter Freund gewesen? Als sie mit einem Korb Wäsche in den Keller gehen wollte, stand in der geöffneten Wohnungstür plötzlich Josch vor ihr. Jetzt schon?, fragte sie überrascht. Ich habe blau gemacht, sagte er und lächelte strahlend, ich musste unbedingt zu dir. Er nahm ihr den Korb aus der Hand, stellte ihn ab und zog sie in seine Arme.
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Am liebsten hätte Nela einfach losgeheult, so gut fühlte es sich an. Augen schließen, sich fallen lassen, alles vergessen. Er zog sie zurück in die Wohnung, lehnte sie gegen die Tür und küsste ihr Gesicht und ihren Hals. Die ganze, lang verdrängte Sehnsucht stieg in Nela hoch, sie hielt sich an ihm fest, wollte sich mit ihm verflechten, verknoten, eins mit ihm werden. Sie nahmen sich bei den Händen und wankten wie zwei Betrunkene ins Schlafzimmer, fielen aufs Bett, zogen sich mit fliegenden Händen gegenseitig aus, gönnten dem anderen keinen Blick, kein Wort, wollten die Fremdheit erhalten, um die Nähe umso intensiver genießen zu können. Plötzlich drehte Josch sich weg. Geht nicht, sagte er dumpf. Nela streichelte seine Schultern. Was ist los? Ich bin … irgendwie nicht dabei. Woran liegt es? Er überlegte. Daran … dass ich nicht weiß, wo du bist. Sie schlang ihre Arme um ihn und presste ihren Oberkörper an seinen Rücken. Ich bin doch da, sagte sie. Er drehte sich zu ihr und zog sie an sich. Still blieben sie liegen, Körper an Körper. Josch hatte noch nie versagt. Es kam Nela vor, als wäre er weit weg. Sein stürmisches Vorpreschen wirkte wie der gewaltsame Versuch, die Entfernung zu überwinden. Die Wohnungstür ging.
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Mist, sagte Josch und zog schnell die Decke über Nela und sich, ist es schon so spät? Sie sah auf die Uhr. Viertel nach vier. Josch stand auf und drehte den Schlüssel im Schloss der Zimmertür. Dann zog er sich an. Nela blieb liegen und sah ihm zu, ein mieses Gefühl im Bauch. Stehst du nicht auf? Ich komme gleich. Josch schloss wieder auf und ging hinaus. Nela hörte, wie er Aimée begrüßte, wie sie gemeinsam in die Küche gingen, wo ihre Stimmen zu unverständlichem Gemurmel verschwammen. Sie zog sich an und ging ins Bad, tuschte sich die Wimpern und legte Lippenstift auf. Sie schminkte sich selten, aber jetzt fühlte sie sich, als brauchte sie Schutz. Nach einem tiefen Atemzug betrat sie die Küche. Hallo, Aimée, sagte sie und sah ihr in die Augen, entschlossen, sich nicht aus der Reserve locken zu lassen. Hallo, Nela, sagte Aimée lächelnd, wie war deine Reise? Nela war so verblüfft, dass sie zunächst verstummte. Mit allem hatte sie gerechnet, aber nicht mit einer freundlichen Begrüßung. Josch überspielte den verlegenen Moment, indem er Tee einschenkte. Nela bedankte sich, dann hatte sie sich wieder gefangen. Gut, erwiderte sie und lächelte ebenfalls. Afrika ist unglaublich schön, wir haben phantastische
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Bilder gedreht. Und Jane ist eine faszinierende Frau. Klingt geil, sagte Aimée und nahm einen Schluck Tee. Und wie geht’s dir?, fragte Nela. Wie ist die neue Schule? Cool, sagte Aimée. Nela kam sich vor wie in einer Vorabendserie, so merkwürdig künstlich war die Unterhaltung. Aber offenbar hatte Aimée sich vorgenommen, nett zu ihr zu sein, und darüber war sie mehr als erleichtert. Sicher würde, wenn die erste Anspannung sich gelegt hätte, der Ton zwischen ihnen natürlicher werden. Ich hab dir was mitgebracht, sagte sie und stellte die Tasse ab. Echt? Aimée sah sie überrascht an. Aus ihrem Koffer, der immer noch auf dem Flur stand, holte Nela ein in grünes Seidenpapier gehülltes Päckchen. Aimée nahm es entgegen und sah Josch an, der ihr aufmunternd zunickte. Pack’s aus, sagte er, und Aimée wickelte drei kleine Stoffpüppchen aus dem Papier. Das sind Glückspuppen, erklärte Nela. Du kannst ihnen deine Wünsche anvertrauen und sie unters Kopfkissen legen, dann gehen die Wünsche in Erfüllung. Vielen Dank, sagte Aimée, das ist wirklich sehr nett von dir. Was ist, fragte Josch gut gelaunt, wollen wir heute Abend zusammen Pizza essen gehen?
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Würde ich gern, sagte Aimée und sah auf die Uhr, aber ich bin um sechs mit Lisa verabredet. Okay, sagte er, aber um zehn bist du zurück. Aimée nickte. Ist doch klar. Als sie aus der Küche war, fragte Nela verblüfft: Sag mal, was hast du denn mit der gemacht? Gehirnwäsche? Aimée sah Ruben schon von weitem vor dem Kino stehen und beschleunigte ihren Schritt. Josch sollte ruhig glauben, sie wäre mit Lisa zusammen, dann würde er keine lästigen Fragen stellen. Überhaupt hatte sie herausgefunden, dass es weniger stressig war, wenn er den Eindruck hatte, seine Erziehung würde was bewirken. Gegrüßet seist du, Prinzessin, grinste Ruben ihr entgegen. Nela ist zurück, war die düstere Antwort. Da kannst du nichts machen, sagte Ruben schulterzuckend. Ich habe auch lange gehofft, dass Karina wieder abhaut. Sie ist immer noch da. Aber deine Mutter lebt wenigstens noch! Meine Mutter ist total durchgeknallt, sagte er, das ist auch nicht besser. Vergiss die Alten, gegen die hast du keine Chance. Das wollen wir mal sehen, sagte Aimée. Sie ging ins Damenklo und schminkte sich, damit sie älter aussah. Die Kartenverkäuferin musterte sie misstrauisch; Aimée richtete sich zu ihrer vollen Größe auf. Das Manöver wirkte. Sie bekamen die Karten, ohne dass die Frau nach ihrem Ausweis gefragt hätte. 207
Und von was handelt der Film?, fragte Ruben. Von dieser Revolution damals, 1968, sagte Aimée, als die Studenten auf die Straße gegangen sind. Bloß davon? Ich glaube nicht, sagte sie unsicher, jedenfalls nicht nur. Sie wünschte, Lisa hätte ihr mehr über den Film erzählt. Das Kino war nur halb voll, offenbar hatte sich herumgesprochen, dass es sich um Kunst handelte. Gebannt folgten sie der Geschichte eines französischen Geschwisterpaares, das sich im Frühjahr 1968 in eine latent gewalttätige Dreiecksbeziehung mit einem jungen Amerikaner verstrickt. Draußen auf der Straße tobt die Studentenrevolte, drinnen, in der riesigen Altbauwohnung, probieren die drei Jugendlichen Spielarten von Liebe, Unterdrückung und Befreiung. Am Ende arrangiert das Mädchen den dramatischen Höhepunkt, indem sie die Fenster verschließt und den Gashahn öffnet. Ein verirrter Pflasterstein, der die Scheibe durchschlägt, rettet ihnen das Leben. Schweigend verließen Aimée und Ruben das Kino. Wie fandest du’s?, fragte Aimée nach einer Weile. Krass, sagte Ruben. Was hat dir am besten gefallen? Wie sie durch den Louvre gerannt sind, sagte er, das war echt krass. Stell dir vor, sie wären erwischt worden! Und dir? 208
Das Ende, sagte Aimée. Wie sie zusammen daliegen und schlafen, und man denkt, jetzt sterben sie. Und dann sterben sie doch nicht, sondern gehen auf die Straße und kämpfen. Unglaublich, wie langweilig unser Leben ist, sagte Ruben seufzend und steckte sich eine Zigarette an. Keine Revolution weit und breit, und unsere Eltern sind einfach nur lasch. Gegen was sollen wir denn kämpfen? Aimée nahm ihm die Zigarette aus der Hand und zog daran. Du weißt ja, dass ich ein paar Wochen lang nicht sprechen konnte, nach … dem Unfall. Ich war wohl irgendwie unter Schock oder so. Wenn du nicht sprichst, vergessen die Leute nach einer Weile, dass du da bist, und zeigen ihr wahres Gesicht. Und, wie sind sie so in Wirklichkeit?, fragte Ruben mäßig interessiert. Verlogen, sagte Aimée, die meisten jedenfalls. Mein Pflegevater zum Beispiel. Der hat Nela geheiratet, da war er eigentlich noch in meine Mutter verliebt. Wahrscheinlich ist er es jetzt noch, bloß dass meine Mutter tot ist. So was kenne ich, sagte Ruben. Meine Eltern haben mir auch ewig erzählt, sie würden sich nicht trennen, in Wirklichkeit war die Scheidung schon eingereicht. Oder mein Großvater, sagte Aimée. Hat rumgeheult, weil seine Tochter tot ist. Und dann hat er hintenrum erzählt, was für beschissene Bilder sie gemalt hat.
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Ob die merken, was für’n Dreck sie erzählen?, überlegte Ruben. Keine Ahnung, sagte Aimée, ist mir auch egal. Was ich sagen will, ist: Es lohnt sich nicht, gegen solche Leute zu kämpfen. Besser, man macht sein eigenes Ding. Sie blieben vor einem Schaufenster stehen und betrachteten die Auslage: bunte Taschen, Hüte und Jacken, die aus recycelten, in Plastik eingeschweißten Getränketüten hergestellt waren. Schau dir den Schrott an, sagte Ruben, erst produzieren sie ‘ne Menge Müll, und dann drehen sie uns den als Mode an. Jeder, der so was kauft, gibt ihnen die Rechtfertigung dafür, noch mehr Müll zu produzieren. Sie spiegelten sich in der Scheibe, Ruben zog Grimassen und alberte herum. Aimée beugte sich vor und küsste ihr Spiegelbild, Ruben lächelte und folgte ihrem Beispiel, danach küsste er die Stelle, wo Aimées Lippenstift einen Abdruck auf dem Glas hinterlassen hatte, und anschließend küsste er sie auf den Mund. Sie stand ganz ruhig, mit geschlossenen Augen, als lauschte sie auf ein Geräusch. Als nichts weiter passierte, öffnete sie die Augen. Ist er verschmiert? Was? Na, der Lippenstift? Total, sagte Ruben grinsend, du siehst aus wie ein Clown.
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Eigentlich habe ich überhaupt keine Lust, erwachsen zu werden, sagte Aimée und lehnte ihren Kopf an Rubens Schulter. Nela und Josch verbrachten den Abend mit einer Flasche Wein auf dem Sofa. Sie hat sich wirklich total verändert, sagte Nela. Es geht ihr gut, sagte Josch. Sie fühlt sich wohl in der Schule, und sie hat eine Freundin gefunden, diese Lisa. Und was ist mit dem Jungen von der Party? Ruben, sagte Josch. Sie spricht nicht mehr von ihm, ich glaube, die Sache ist vorbei. Umso besser, ich glaube, dass er einen schlechten Einfluss auf sie hatte. Nela nickte und trank einen Schluck Wein. Sie wird Rosanna immer ähnlicher, oder? Mmh, machte er. Ist es dir nicht aufgefallen? Doch. Irritiert es dich? Sie ließ ihn nicht aus den Augen. Es ist mir einfach nur aufgefallen, sagte er, mehr nicht. Nela machte einen tiefen Atemzug. Ich sehe Rosanna in ihr und denke, dir müsste es ebenso gehen. Der Unterschied ist nur, mir macht es nichts aus, sagte Josch. Glaube ich dir nicht, sagte Nela und lächelte wehmütig. Willst du immer noch, dass ich mir eine Wohnung suche? 211
Das habe ich so nicht gemeint, sagte Josch, du solltest nur wissen, dass es diese Möglichkeit für dich gibt. Ist gut, sagte Nela, ich weiß es. Josch sah sie fragend an. Heißt das … du hast dich entschieden? Ja, sagte Nela. Ich will es noch mal versuchen. Außer du hast vor, als Nächstes eine Python in unserer Badewanne einzuquartieren. Keine Sorge, sagte Josch. Aimée kam Punkt zehn nach Hause, sagte höflich gute Nacht und ging in ihr Zimmer. Erfreut stellte Nela fest, dass sie die Tür hinter sich schloss, offenbar hatte sie auch ihre Klaustrophobie überwunden. Als sie ins Bett gingen, kehrte die Befangenheit des Nachmittags zurück. Nela schnappte sich sofort ein Buch und tat, als läse sie. Josch kramte ewig im Badezimmer herum, bevor er sich neben sie legte und demonstrativ gähnte. Lass uns schlafen, sagte Nela und knipste die Nachttischlampe aus. Schweigend lagen sie im Dunkeln. Nela spürte eine Bewegung und gleich darauf seine Hand, die vorsichtig ihre Hüfte streichelte. Sie stellte sich schlafend, aber er gab nicht auf. Also gut, flüsterte sie, drehte sich um und ließ sich in seine geöffneten Arme gleiten. Ihre Erregung kehrte schnell zurück, und zu ihrer Erleichterung spürte sie, dass auch mit Josch alles in Ordnung war. 212
Als sie auf den Höhepunkt zusteuerten, flog plötzlich die Tür auf, und Aimée kam mit einem schrillen Schrei ins Zimmer gestürzt. Reflexartig ließ Nela sich zur Seite fallen und zerrte die Decke hoch. Aimée warf sich zwischen sie, drängte sich an Josch und weinte laut. Sie zitterte am ganzen Körper und schien völlig außer sich. Nela erschrak und machte schnell Platz. Plötzlich sah sie im schwachen Lichtschein Aimées Augen, offene, kühle, neugierige Augen. Als Aimée ihren Blick bemerkte, versteckte sie ihr Gesicht an Joschs Brust. Er hielt sie umarmt und wiegte sie wie ein Baby. Nela stand auf, griff nach ihrem Morgenmantel und ging ins Bad, wo sie um Fassung rang. Dieses Miststück! Fast wäre sie auf ihre sanfte Tour reingefallen. Sie beschloss, im Wohnzimmer auf das Ende des Spektakels zu warten, und zappte wütend zwischen den Kanälen herum, ohne richtig hinzusehen. Nach einer halben Stunde kam Josch. Sie schläft, flüsterte er. Und wo? In unserem Bett. Na, dann hat sie ja erreicht, was sie wollte. Was meinst du? Hast du nicht gemerkt, dass sie eine Riesenshow abgezogen hat? Du spinnst doch!, sagte er empört. Hast du ihr Gesicht nicht gesehen? Sie hat uns was vorgespielt! 213
Quatsch, sagte Josch. Sie hatte einen Albtraum und ist fast durchgedreht vor Angst! Hattest du nie Albträume als Kind? Hast du nie was Schlimmes erlebt, das dich nachts verfolgt hat? Josch, rief Nela aus, du kapierst einfach nicht, was hier abgeht! Es ist ein Machtspiel, sie will mich vertreiben. Und mit deiner Hilfe hat sie es bald geschafft. Ich fasse es nicht, sagte Josch. Ich auch nicht, rief Nela. Dieses Mädchen hat dich völlig in der Hand, es kann alles mit dir tun. Komm endlich zu dir! Du bist ein Monster, sagte Josch, ein kaltes, egozentrisches, mitleidloses Monster. Tom öffnete verschlafen die Tür seines Lofts. Davor stand Nela mit geröteten Augen. Entschuldige, dass ich so spät störe, sagte sie und strich sich mit einer fahrigen Bewegung die Haare aus dem Gesicht, kann ich bei dir schlafen? Klar, komm rein. Ist was passiert? Nela trat in den großen Raum, blieb einen Moment stehen und sah sich abwesend um, als müsste sie sich orientieren. Dann sah sie Tom an, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Findest du, dass ich ein kaltes, egozentrisches, mitleidloses Monster bin? Wer hat das gesagt? Josch. Tom nahm ihr Gesicht in beide Hände. Wenn du mich fragst, der Mann hat dich nicht verdient.
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Nela schloss ihre Augen, die Tränen lösten sich und liefen über ihre Wangen, Tom beugte sich vor und küsste sie vorsichtig weg. Als Nela nicht protestierte, küsste er ihre Stirn, ihre Lider und schließlich ihren Mund. Zögernd öffnete sie ihre Lippen.
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Nela
stand um sieben, nach drei Stunden Schlaf, schon wieder auf. Sie bewegte sich leise, um Tom nicht zu wecken, warf ihm einen langen Abschiedsblick zu und machte sich zu Fuß auf den Weg in die Firma. Unterwegs kaufte sie eine Flasche Mineralwasser, ein Schinkenbrötchen und einen Schokoriegel, dann klaute sie eine Zeitung. Die Luft war herbstlich kalt, die parkenden Autos mit Raureif bedeckt. Menschen hasteten zur Arbeit, Kinder warteten auf den Schulbus, Mütter zerrten ihre verschlafenen Kleinen Richtung Kindergarten. In der Firma angekommen, kochte sie Kaffee und überflog die Wohnungsanzeigen. Unter fünf-, sechshundert Euro war im Zentrum nichts zu bekommen. Sie hatte keine Ahnung, woher sie das Geld nehmen sollte. Gedankenverloren blätterte sie weiter durch die Zeitung. Als sie den Kulturteil aufschlug, fiel ihr Blick auf eine Überschrift. Viel zu früh gegangen: Die Ausnahmekünstlerin Rosanna Cardello. Darunter prangte ein riesiges Foto von Rosanna, auf dem sie mit dem Pinsel in der Hand vor einer Leinwand stand. Das Foto hatte Josch gemacht, Nela kannte es. 216
Sie überflog den Artikel, in dem Rosannas künstlerische Leistung ebenso überschwänglich gelobt wie ihr früher Tod bedauert wurde. Ein junger Galerist, Constantin Jahn, hätte sich dankenswerterweise des künstlerischen Nachlasses angenommen, demnächst sei eine große Ausstellung geplant. Der Preis für ein Cardello-Bild hätte sich seit ihrem Tod bereits verzehnfacht, mit zunehmender Nachfrage würde gerechnet. Sie schlug die Zeitung zu. Das hieß, Aimée würde Geld erben. Umso besser, dann könnten sie ein gutes Internat davon bezahlen und wären sie endlich los. Wenn nur Josch nicht mit dieser Affenliebe an dem Kind hängen würde! Im Schneideraum versuchte Nela, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren, aber der Gedanke an Tom und die letzte Nacht ließ sie nicht los. Sie hatten schon viele Male in einem Zimmer geschlafen, oft sogar in einem Bett, und nie war etwas passiert. Es war fast beleidigend gewesen, wie stur Tom die Tatsache ignoriert hatte, dass sie eine Frau war. Wenn sie ihn darauf angesprochen hatte, war er nur verlegen geworden und hatte das Thema gewechselt. So hatte Nela sich damit abgefunden, dass sie Freunde waren und nicht mehr. Seit sie mit Josch zusammen war, hatte sie gar nicht mehr darüber nachgedacht. Verdammt. Es war schön gewesen. So schön, dass es wehtat, daran zu denken.
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Nela rieb sich das Gesicht und die müden Augen. Sie konzentrierte sich auf die Bilder im Monitor. Das Telefon klingelte. Ich bin’s, sagte Tom. Wie fühlst du dich? Ihr Magen begann zu flattern. Weiß nicht, sagte sie. Supermüde. Das kommt vom frühen Aufstehen, sagte er mit leisem Spott, du wärst besser da geblieben, hättest ausgeschlafen und gemütlich mit mir gefrühstückt. Nela lachte. Klar, und der Film schneidet sich von alleine. Der Film ist mir egal, sagte Tom, ich will dich sehen. Unbedingt. Am liebsten jetzt sofort. Jetzt?, sagte Nela verwirrt. Wie spät ist es denn überhaupt? Kurz vor zwölf, sagte Tom, Zeit für ‘ne Mittagspause. Okay, sagte Nela. Holst du mich ab? Mach ich. Wann? Jetzt. Die Tür des Schneideraums ging auf, und Tom, das Handy noch in der Hand, kam rein und grinste sein unwiderstehliches Grinsen. Nela errötete vor Überraschung und sprang von ihrem Drehstuhl auf Tut mir leid, sagte er verlegen, ich hab’s einfach nicht mehr ausgehalten! Er nahm sie in den Arm. Du siehst ja echt fertig aus, stellte er fest. Wollen wir einen Kaffee trinken?
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Nela nickte und folgte ihm. Niemand aus der Frauen-Film-Firma würde etwas daran finden, sie zusammen weggehen zu sehen. Sie saßen in einem Starbucks-Coffee-Shop und fühlten die merkwürdige Verlegenheit, die sich oft einstellt, nachdem man zum ersten Mal miteinander geschlafen hat. Sie waren einander nah und fremd zugleich, die alte Unbefangenheit war weg. Sag schon, wie geht’s dir?, fragte Tom. Nela hob die Schultern und ließ sie fallen. Nicht so gut. Eigentlich sogar ziemlich mies. Ich habe das Gefühl, ich hätte dich … benutzt. Oh, sagte Tom grinsend, wenn das so ist wie heute Nacht, lasse ich mich gern von dir benutzen! Nela seufzte. Im Ernst, Tom. Du hast was Besseres verdient als eine Frau, die sich vor ihren Problemen in deine Arme flüchtet. Er rührte in seinem Kaffebecher. Dann sagte er: Solange du diese Frau bist, will ich nichts anderes. Nela beugte sich vor. Tom, versteh doch! Es war wunderschön, aber es kann nicht weitergehen! Er schüttelte den Kopf. Warum denn nicht? Weil … weil es einfach nicht geht. Verstehe ich nicht, sagte er. Was heute Nacht passiert ist, ist mir …, er schluckte, … also, das ist mir in meinem ganzen Leben noch nicht passiert. Es kann doch nicht sein, dass du es völlig anders empfunden hast? Ich habe es genauso empfunden, sagte sie leise.
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Das heißt doch, dass etwas zwischen uns ist, etwas ganz Starkes, sagte Tom und drückte versehentlich seinen Pappbecher so fest zusammen, dass der Kaffe herausschwappte. Ich bin verheiratet, sagte Nela. Ja, genau, sagte Tom, mit einem Mann, der dich als Monster beschimpft. Wir hatten Streit, sagte Nela. So was kommt vor. Liebst du ihn überhaupt noch, fragte Tom herausfordernd, oder bleibst du nur bei ihm, weil du seiner Tochter nicht das Feld überlassen willst? Nela sah ihn nachdenklich an. Genau das versuche ich herauszufinden. Ich kann jetzt nicht weglaufen, bitte versteh das! Sie sah ihm an, wie verletzt er war, und wusste, dass sie es nicht ändern konnte. Okay, sagte er und stand auf. Mach’s gut, Nela. Warte, sagte sie flehend und griff nach seiner Hand. Glaubst du … wir können Freunde bleiben? Weiß nicht, sagte Tom, vielleicht. Und weg war er. Nela starrte niedergeschlagen auf den Tisch. Der Kaffee, den Tom verschüttet hatte, bildete eine kleine Pfütze. Gedankenverloren tauchte sie den Finger hinein und malte ein Herz. Der Anruf kam in der Nacht. Hallo, Nela, ich bin’s, Vater. Bitte erschrick nicht! Deine Mutter ist im Krankenhaus. Ach, ist es mal wieder so weit, sagte Nela unbeeindruckt. Na, hoffentlich nehmen sie ihr jetzt endlich den Führerschein weg! 220
Es war kein Unfall, erwiderte ihr Vater mit einer Stimme, die sie aufhorchen ließ. Kein Unfall? Wann immer ihre Mutter in den letzten Jahren ins Krankenhaus eingeliefert worden war, hatte sie im Suff ein Schaufenster demoliert oder eine Laterne umgefahren. Was ist es dann?, fragte sie. Man weiß es nicht genau, sagte er ausweichend. Was Ernstes? Nein. Ja. Also was jetzt? Nela wurde allmählich unruhig. Sie hatte einen Zusammenbruch und ist ohne Bewusstsein, in einer Art … Koma, sagte er. Koma. Das Wort hallte in Nelas Kopf wider. Was, zum Teufel, war das überhaupt? Waren Komapatienten nicht diese zombiehaften Wesen, tot und lebendig zugleich, die Monate oder Jahre im Bett lagen, ohne dass man wusste, ob sie jemals wieder zu sich kommen würden? Die man umdrehen musste, damit sie sich nicht wund liegen, mit denen man sprechen musste, weil sie einen vielleicht doch hören können, die da waren und doch nicht da waren? Sie lachte hysterisch auf. Das ist ein Witz, oder? Kein Witz, Nela. Sie schluckte mehrmals, ohne dass der Kloß in ihrem Hals kleiner wurde. Was ist denn überhaupt passiert?, fragte sie mit gepresster Stimme. Erkläre ich dir. Kannst du gleich herkommen? Okay, sagte sie, ließ sich die Adresse geben und hinterließ Josch eine kurze Nachricht. 221
Sie hatte sich oft gefragt, wann ihre Liebe zu ihrer Mutter gestorben war. In welchem Jahr, an welchem Tag, in welcher Situation. Ob es diesen einen, ganz bestimmten Augenblick gegeben hatte, in dem ihre Liebe ganz plötzlich tot gewesen war, oder ob es sich um einen schleichenden Prozess gehandelt hatte. War es an ihrem neunten Geburtstag gewesen, als sie Nela überredet hatte, einige Mitschülerinnen einzuladen und ein Gartenfest zu feiern, das damit endete, dass sie sich lallend und singend im Gras rollte? War es an dem Morgen gewesen, als Nela sie nicht in ihrem Bett gefunden und gedacht hatte, sie wäre gestorben oder für immer weggegangen? Oder war es doch erst bei ihrer Hochzeit gewesen? Nela wusste es nicht. Sie wusste nur, dass sie für ihre Mutter nichts mehr empfand. Deshalb begriff sie auch nicht, warum sie jetzt im Taxi saß und heulte. Sie war überhaupt nicht traurig. Ihr liefen nur die Tränen aus den Augen, und sie konnte nichts dagegen tun. Ihr Vater wartete an der Pforte und zog sie kurz an sich. Dann dirigierte er sie zu einer Reihe von Besucherstühlen. Also was ist?, fragte sie ungeduldig. Das Übliche, sagte er, sie hat getrunken. Aber diesmal hat sie einfach nicht mehr aufgehört. Sie hat getrunken, bis sie buchstäblich umgefallen ist. Fast vier Promille. Das haut einen Elefanten um. 222
Sie wollte sich tottrinken, stellte Nela fest. Es erschien ihr absolut logisch und nicht mal besonders schockierend. Es war, als hätte sie schon lange damit gerechnet. Sieht so aus, sagte ihr Vater und schüttelte den Kopf, als wollte er den Gedanken abschütteln. Wie hast du’s gemerkt? Die CD war hängen geblieben. Zum Glück war das Fenster offen. Elinor hat’s gemerkt, ich selbst höre ja nicht mehr so gut. The first cut is the deepest. Ich hatte keine Ahnung, dass sie solche Musik hört. Wo ist Elinor?, fragte Nela. Zu Hause. Der Notarzt hat ihr ein Beruhigungsmittel gegeben. Sie hatte einen Nervenzusammenbruch. Elinor? Wieso das denn? Weil sie glaubt, sie wäre schuld. Deine Mutter hat, wie du weißt, die ausgeprägte Fähigkeit, den Menschen in ihrer Umgebung Schuldgefühle zu machen. Elinor ist ihr bevorzugtes Opfer. Was … was passiert jetzt mit Mutter? Der Arzt sagte, es kann alles passieren. Sie kann wieder aufwachen und gesund sein, sie kann aufwachen und Schäden zurückbehalten, oder … Er brach ab. Oder? Sie kann sterben. Wann wissen wir es? Morgen. Oder in ein paar Tagen. Ich weiß es nicht. Sie hoffen, dass sie die Nacht überlebt.
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Nela rutschte auf ihrem Stuhl hin und her; der Stoff ihrer Hose klebte am Plastiksitz. Alle Gegenstände in ihrer Umgebung bohrten sich mit unnatürlicher Schärfe in ihr Bewusstsein; die schwingende Glastür, durch die sie vor wenigen Augenblicken hereingekommen war, die Infotafel, ein paar künstlich aussehende Pflanzen in einem grauen Kübel, die grellen Neonröhren, die Lüftungsschlitze in der Decke, der braun-grüne, genoppte Kunststoffboden. Sie schloss gequält die Augen. In ihren Schläfen pochte es. Können wir zu ihr?, fragte Nela und sah ihren Vater an. Sein Gesicht war fahl, die Tränensäcke tiefer, als Nela sie in Erinnerung hatte. Zum ersten Mal nahm sie wahr, dass er ein alter Mann war. Ein alter Mann, der in wenigen Monaten Vater werden würde und in ein paar Stunden vielleicht Witwer. Noch nicht, sagte er. Der Arzt gibt uns Bescheid. Eine Weile schwiegen sie, als wäre alles gesagt. Dabei hatte er ihr noch nicht einmal von Elinors Schwangerschaft erzählt, von der bevorstehenden Scheidung und seinen Heiratsplänen. Sie hatten seit Monaten nicht miteinander gesprochen. Nela vermutete, dass er es bewusst vermied. Seid ihr eigentlich schon geschieden?, fragte sie so beiläufig wie möglich. Überrascht sah er auf. Du weißt also schon …? Ja. Hugo hat es mir erzählt. Er rieb sich mit beiden Händen das Gesicht.
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Nächste Woche ist der Termin, sagte er leise. Ich wollte dich ewig schon anrufen, mal mit dir essen gehen, in Ruhe reden. Ich bin einfach nicht dazu gekommen. Schon okay, sagte Nela scheinbar ungerührt, ist doch dein Leben. Soll ich dir was zu trinken holen?, fragte er. Da drüben ist ein Automat. Ich geh schon, sagte sie und stand auf, erleichtert, für einen Moment zu entkommen. Die Situation erschien ihr unwirklich, wie eine Szene aus einer dieser Krankenhaussoaps. Gleich würde ein gut aussehender junger Arzt mit wehendem, weißem Kittel auf sie zukommen, ein zuversichtliches Lächeln im gebräunten Gesicht, und ihnen mitteilen, dass es der Patientin gut gehe, dass sie aufgewacht sei und nach ihrem Mann und ihrer Tochter gefragt habe. Nela zog eine Cola und ein Wasser aus dem Automaten und ging zurück zu ihrem Vater. Aus der Ferne sah er aus wie ein Fremder; hätte sie ihn zufällig irgendwo sitzen sehen, hätte sie ihn nicht erkannt. Erst als sie näher kam, wurden ihr seine Züge vertraut. Sie reichte ihm das Wasser und hielt, in Gedanken versunken, ihre Cola fest, ohne daraus zu trinken. Ob sie es deshalb getan hat?, fragte sie. Was sagst du? Na, wegen des Scheidungstermins. Vielleicht macht es ihr doch mehr aus, als sie zugibt.
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Soll ich jetzt auch noch daran schuld sein?, brauste ihr Vater auf. Nein, natürlich nicht, sagte Nela besänftigend. Du hast getan, was du konntest. Das will ich meinen, sagte er und starrte düster auf die Flasche in seinen Händen. Ihre Mutter starb nicht. Nicht in dieser Nacht und auch nicht in der nächsten. Nela saß an ihrem Bett, hielt ihre Hand und verhandelte mit Gott. Sie erklärte ihm, dass er die Bewusstlose nur wieder aufwachen lassen solle, wenn er ihr auch die Stärke geben würde, sich von der Sucht zu befreien. Dass nun die Gelegenheit sei, einen überzeugenden Beweis seines Könnens abzuliefern. Ihre Mutter sah Mitleid erregend aus, aber auf seltsame Weise auch schön. Sie hatte die Augen geschlossen und lag auf dem Rücken. Nur manchmal stöhnte sie, oder ihr Atem wurde lauter. Sie bewegte sich nicht, aber hie und da zuckte ein Muskel, dann schaukelten die Schläuche, an denen sie hing, sanft hin und her. Alles Maskenhafte war aus ihren Zügen verschwunden, ihr Gesicht wirkte so offen und weich, wie Nela es nie gesehen hatte. Es war angenehm, bei ihr zu sein. Kein Streit, keine Sticheleien, keine Vorwürfe. Mutter und Tochter hatten seit Nelas früher Kindheit keine so friedlichen Stunden mehr miteinander verbracht. Die wenigen verschwommenen Bilder aus dieser Zeit hütete Nela wie einen Schatz. Wann hatte das Unglück begonnen, wann war aus dem geselligen Trinken die zerstörerische Sucht 226
geworden? Warum hatte ihr Vater so lange nichts bemerkt, warum hatten alle zugesehen, wie ihre Mutter sich zugrunde richtete? Mit einem Mal kochte die Wut auf ihren Vater hoch, der zwar dageblieben war, aber nichts unternommen hatte. Er hatte geglaubt, es wäre genug, auszuharren und das Elend zu erdulden. Das Unglück seiner Frau war die Folge seines Versagens, aber auch die Strafe dafür. Ein Teufelskreis gegenseitiger Abhängigkeit, aus dem keiner von ihnen hatte entfliehen können. Aimée hockte mit ihren Schulfreundinnen auf einer Bank im Pausenhof. Aufgeregt steckten die Mädchen die Köpfe zusammen. In der Stunde zuvor hatte es Streit mit ihrer Klassenlehrerin, Frau Rothemund, gegeben, und Jennifer hatte einen Verweis erhalten. Die blöde Tussi, schimpfte sie, nur weil ich ihr gesagt habe, dass sie sich verrechnet hat. Das gibt wieder ein Theater mit meinem Alten, der macht mich noch fertig mit seinem Ehrgeiz! Weil er selber so ‘n Überflieger ist, denkt er, ich müsste genau so sein. Und wie bestraft er dich?, fragte Aimée, Taschengeldentzug, Hausarrest? Liebesentzug, sagte Jennifer. Er spricht nicht mehr mit mir und schaut mich immer so geschmerzt an. Das ist schlimmer als Hausarrest. Da kann ich ja von Glück sagen, dass ich meinen Alten nicht kenne, sagte Sandy grinsend, und
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meine Mutter interessiert sich nicht für meine Noten. Aimée beobachtete aus den Augenwinkeln Ruben, der mit ein paar Jungen am Klettergerüst lehnte. Gedankenverloren drehte sie eine ihrer Locken. Da ist sie!, flüsterte Sandy und setzte sich aufrecht hin. Die anderen Mädchen folgten ihrem Blick. Die junge Sportlehrerin, die Pausenaufsicht hatte, schlenderte vorbei. Sie trug Jeans und ein Kapuzenshirt, hatte dunkles, streichholzkurzes Haar und ein auffallend hübsches Gesicht. Laetitia, seufzte Sandy und sah ihr sehnsüchtig nach. Allein der Name! Wie kann man sich nur in eine Lehrerin verlieben, sagte Lisa abfällig. Wieso nicht?, fragte Sandy herausfordernd. Was stört dich daran? Lisa hob beschwichtigend die Hände. Nichts, gar nichts. Jeder hat das Recht auf sein eigenes Unglück. Halt bloß die Klappe, murmelte Sandy und sah der Lehrerin nach, bis sie hinter einem Pulk Jugendlicher verschwunden war. Weiß sie, dass du in sie verknallt bist?, fragte Jennifer. O Gott, nein! Sandy war entsetzt. Ich würde sterben! Ruben hatte sich aus seiner Gruppe gelöst und kam auf sie zu. Aimée tat so, als würde sie ihn nicht bemerken. Er legte von hinten einen Arm um
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sie und pustete in ihren Nacken, wie er es manchmal tat. Wie sieht’s mit ‘nem kleinen Ausflug aus?, flüsterte er gerade so laut, dass die Mädchen ihn verstehen konnten. Wann?, flüsterte Lisa. Gleich nach dem Mittagessen. Wir treffen uns dort. Die Mädchen nickten, Ruben schlenderte weiter. Sie trafen sich in einem Bauwagen auf einer stillgelegten Baustelle. Das Innere des Wagens war mit Möbeln vom Sperrmüll eingerichtet, das einzige Fenster mit einer Gardine verhängt, sodass auch tagsüber kaum Licht hineinfiel. An den Wänden hatten sie Poster angebracht; Pink, Eminem und Judith Holofernes hingen neben einem Konterfei des Nirwana-Sängers Kurt Cobain, das Ruben aufgehängt hatte. Der hat die geilste Musik gemacht, die es je gab, hatte er voller Bewunderung gesagt, und dann hat er sich in den Kopf geschossen. Bevor er alt wurde, bevor er korrupt wurde, bevor die ganze beschissene Welt ihn fertig machen konnte. Also, wenn er sich umgebracht hat, war er doch wohl schon ziemlich fertig, hatte Lisa spitz bemerkt. Das verstehst du nicht, hatte Ruben verächtlich zurückgegeben. Ich schon, hatte Aimée geflüstert und ihren Kopf an seine Schulter gelehnt.
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Kerzen brannten, aus einem CD-Player tönte ein Nirwana-Song, und Ruben, der die Haare genauso trug wie sein Idol, trat in die Mitte des Wagens und sang mit. Eine Dose Wodka-Lemon diente ihm als Mikrofonersatz. Sandy griff nach der Dose und nahm einen Schluck. Ihhh, sagte Ruben, werde ich jetzt lesbisch? Sie versetzte ihm einen Schlag gegen den Arm, theatralisch brach er zusammen und wälzte sich am Boden. Sehr witzig, sagte Jennifer. Kommt Till heute nicht? Ruben stand auf und zuckte die Schultern. Hab ihm Bescheid gesagt, aber er hat Stress zu Hause. Vielleicht will er lieber nichts riskieren. Sie setzten sich auf das kleine Sofa und die zusammengewürfelten Stühle, öffneten weitere Getränkedosen, die Ruben mitgebracht hatte, lauschten der Musik und rauchten. Irgendwann sagte Aimée: Mir ist das zu langweilig, ich glaube, ich hau ab. Was ist los? Ruben starrte sie überrascht an. Wieso langweilig?, sagte Lisa. Wärst du lieber bei den anderen im Töpferkurs? Nein, sagte Aimée, am liebsten wäre ich woanders. Lisa verzog das Gesicht. Woanders? Wo denn? Immer woanders als da, wo ich bin. Also nirgendwo, sagte Ruben. Genau, sagte Aimée.
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Ich komme mit, sagte Sandy. Der Liebeskummer bringt mich sowieso um. Gibt’s da ‘ne Schule?, fragte Jennifer. Nein, erwiderte Ruben, da gibt’s nichts außer Ruhe und guter Musik. Dann bin ich dabei, sagte Jennifer grinsend. Ich glaube, freiwillig zu sterben ist noch viel geiler als Sex, sagte Aimée mit abwesendem Gesichtsausdruck. Garantiert, sagte Ruben. Ihr habt doch ‘ne Meise, sagte Lisa kopfschüttelnd. Aimée zog ein Buch aus ihrem Rucksack und reichte es Lisa. Hier, das ist endgeil. The virgin suicides, las Lisa, dann hob sie den Kopf. Ist das die Geschichte von den fünf Schwestern, die sich umbringen? Aimée nickte. Draußen ertönte ein leiser Pfiff. Till, sagte Jennifer und errötete leicht. Die Tür des Bauwagens wurde geöffnet, ein großer, schwarz gekleideter Junge mit dunkel umrahmten Augen trat ein. Durch den Luftzug bewegte sich die Gardine, streifte eine der Kerzen und fing Feuer. In Sekundenschnelle fraßen die Flammen sich in den Stoff. Scheiße, schrie Lisa, sprang auf und griff nach einer Getränkedose. Aimée hielt ihre Hand fest. Lass doch, sagte sie mit blitzenden Augen. Spinnst du? Lisa schlug ihre Hand weg und schüttete den Inhalt der Dose in die Flammen, was 231
so gut wie keine Wirkung hatte. Till, der noch immer an der Tür stand, riss die Gardinenstange ab und warf sie aus dem Wagen. Er sprang hinterher und trampelte auf den Flammen herum. Als das Feuer gelöscht war, hob er die Stange auf und hängte den halb verbrannten Vorhang wieder auf. Also, wenn ich schon sterbe, dann will ich danach noch gut aussehen, erklärte Lisa energisch, nicht wie ein verkokeltes Würstchen! Dann musst du Tabletten nehmen, sagte Till. Ich kann dir was besorgen. Merkt dein Vater nichts, wenn du Sachen aus der Apotheke klaust?, fragte Aimée interessiert. Er hat drei Apotheken, da fällt es nicht so auf, sagte Till. Aber zurzeit bewacht er mich wie einen Schwerverbrecher. Wieso das denn? Weil er mich beim Kiffen erwischt hat. Mann, hat der sich aufgeführt! Wer von euch hat Mut?, fragte Aimée unvermittelt in die Runde. Alle verstummten. Was sie jetzt wohl wieder für eine Idee hatte? Bei ihrem letzten Nachmittag im Bauwagen hatte Aimée die anderen dazu gebracht, eine Art Voodoo-Ritual zu vollziehen, bei dem sie drei kleine Stoffpüppchen mit Stecknadeln gemartert und schließlich zerschnitten hatten. Eines sollte ihre Stiefmutter darstellen, eines ihren Stiefvater und eines ihren leiblichen Vater. Sie hatte von allen verlangt, zu schwören, dass sie sich
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niemals von den Erwachsenen unterdrücken lassen würden. Lieber sterben wir!, hatte sie feierlich verkündet, und alle hatten zugestimmt. Lisa fühlte sich unbehaglich, wenn sie daran dachte. Sie verstand immer noch nicht, wie Aimée es mit diesem kindischen Spiel geschafft hatte, sie alle in ihren Bann zu ziehen. Also los, wiederholte Aimée, wer von euch hat Mut? Der Reihe nach meldeten sich alle, wenn auch zögernd. Was willst du, fragte Sandy, sollen wir wieder Puppen umbringen? Aimée schüttelte den Kopf. Nein, sagte sie. Ich möchte, dass wir alle ein Opfer bringen. Dass jeder von uns etwas tut, das ihn total viel Überwindung kostet. Wofür soll das gut sein?, fragte Jennifer. Probier’s aus, dann weißt du’s. Alle überlegten. Nach einer Weile forderte Aimée sie auf, zu sagen, für welche Mutprobe sie sich entschieden hatten. Lisa? Ich sag der Rothemund morgen meine Meinung. Jennifer? Ich sage meinem Vater, dass ich kein Abi machen will, weil ich Schauspielerin werde. Ruben? Ruben stand auf, ging zum CD-Player, nahm die Nirwana-CD raus und zerbrach sie. Aimée zuckte zusammen. 233
Till? Ich sag meinem Alten, dass ich Pillen geklaut habe. Bist du verrückt?, rief Ruben. Bloß nicht! Seid ruhig, befahl Aimée. Sandy? Mir fällt nichts ein. Aimée sah sie kühl an. Du sagst Laetitia, dass du in sie verliebt bist! Nein!, rief Sandy aus. Das kann ich nicht! Klar kannst du, sagte Aimée. Und du?, fragte Sandy aufgebracht. Was machst du? Schweigend nahm Aimée ihren Rucksack, öffnete ihn und griff hinein. Sie wartete einen Moment, dann zog sie ein Rasiermesser heraus.
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Am Mittag des zweiten Tages überließ Nela ihre Mutter der Obhut der Ärzte und fuhr nach Hause. Sie hatte dreißig Stunden an ihrem Bett gesessen, kaum geschlafen, so gut wie nichts gegessen und sich nicht gewaschen. Sie fühlte sich, als wäre sie auf einer Pilgerreise gewesen. Halb ohnmächtig vor Erschöpfung fiel sie ins Bett und schlief sofort ein. Als sie aufwachte, war die Wohnung still. Sie ging in die Küche, holte ein Fünfhundert-Gramm-Glas Aprikosenjoghurt aus dem Kühlschrank und löffelte es leer. Danach kochte sie sich Kaffee. Josch, Aimée, Tom – alles, was sie vorher beschäftigt hatte, war unendlich weit weg. Sie hatte seit ihrem Streit nicht mehr mit Josch gesprochen, ihn nur kurz aus der Klinik angerufen. Nun fiel ihr alles wieder ein. Ein kaltes, egozentrisches, mitleidloses Monster. Sie fühlte nichts. Keinen Ärger, keine Trauer. Nicht mal ein schlechtes Gewissen wegen der Nacht mit Tom. Die Wohnungstür wurde aufgeschlossen, am Schritt erkannte sie Josch. Sie wollte ihn nicht sehen, nicht mit ihm sprechen. Als sie die Spülung der Gästetoilette hörte, flüchtete sie sich ins Arbeitszimmer und schloss von innen ab. Gleich darauf klopfte es. 235
Nela, bitte mach auf! Lass uns reden. Sie antwortete nicht. Wie geht’s deiner Mutter? Sie lebt, murmelte Nela. Was?, rief Josch. Ich kann dich nicht verstehen! Sie lebt!, rief sie zurück. Gott sei Dank, hörte sie Josch sagen. Er musste mit dem Gesicht ganz nahe an der Tür sein. Sie näherte sich von innen, legte ihr Gesicht gegen das Holz und versuchte, seinen Atem zu hören. Wieder klopfte es. Was ich gesagt habe, war dumm und gemein, rief Josch, es tut mir leid! Du hast gesagt, ich bin ein Monster, sagt sie. Es tut mir leid, wiederholte er. Das hat alles keinen Sinn, sagte Nela. Was hat keinen Sinn? Alles. Du. Ich. Aimée. Das ist nicht wahr, so was darfst du nicht sagen! In einer plötzlichen Gefühlsaufwallung drehte Nela den Schlüssel um und öffnete die Tür. Fast wäre Josch ins Zimmer gefallen. Er landete in ihren Armen, und sie hielten sich aneinander fest, als würden sie sonst in einen Abgrund stürzen. Pünktlich um viertel nach vier ging die Wohnungstür, und auf der Schwelle stand ein fremdes Wesen. Der rasierte Schädel glänzte und erinnerte an einen Außerirdischen. Die Kopfhaut wirkte unnatürlich hell und seltsam durchsichtig. Sie starrten Aimée an. Josch zog scharf die Luft ein. 236
Was ist?, fragte das Mädchen provozierend und warf seinen Rucksack auf den Boden. Wie in Zeitlupe drehte sich Josch zu Nela. Das ist nicht wahr, sagte er fassungslos. Dann stürmte er auf Aimée zu, baute sich vor ihr auf und brüllte: Was soll das? Warum hast du das getan? Was geht dich das an, sagte Aimée, es sind meine Haare. Warum machst du dich mit Absicht hässlich?, die Stimme von Josch überschlug sich fast. Es ist nicht hässlich, sagte Aimée ruhig, es ist cool. Und es ist mir scheißegal, wie du es findest. Scheißegal?, schrie er mit verzerrtem Gesicht. Nela zuckte zusammen. Was war bloß in ihn gefahren? Jetzt hatte sogar sie das Gefühl, sie müsste das Kind verteidigen. Ich finde auch, dass es ihre Sache ist, sagte sie, warum regst du dich so auf? Sie hat schließlich nicht die Schule angezündet, sie hat sich nur die Haare abrasiert. Aimée, die bei Joschs Ausbruch blass geworden war, blickte sie finster und mit zusammengekniffenen Augen an. Halt dich bloß raus, zischte sie, du bist sowieso an allem schuld! Uns ging’s so gut, als du weg warst! Sie ging in ihr Zimmer und knallte die Tür zu. Außer sich vor Zorn hieb Josch mit der Faust dagegen. Verdammte Scheiße!, brüllte er, stürmte in die Küche und knallte ebenfalls die Tür zu.
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Nela war einen Moment unschlüssig, dann ging sie ruhig in ihr Arbeitszimmer. Günstige Wohnmöglichkeit ab sofort gesucht. Meldet euch bei Nela. Sie hängte die Notiz ans schwarze Brett der Frauen-Film-Firma und ging in ihr Büro. Geistesabwesend versuchte sie, Ordnung zu schaffen, räumte Papierstapel von einer Seite zur anderen, schrieb Notizzettel für wichtige Erledigungen, legte Briefe ab und kramte sie wieder hervor, kurz: Sie schuf noch mehr Durcheinander. Noch immer konnte sie die Gefühlsausbrüche vom Vortag nicht einordnen. Sie fragte sich, warum Josch so völlig die Fassung verloren hatte. Haare wachsen schließlich nach. Sie sah Aimée vor sich, den kahlen Kopf, das merkwürdig schmal wirkende Gesicht, die fast schwarzen Augen, und plötzlich begriff sie: Ohne ihre Locken sah Aimée nicht mehr aus wie ihre Mutter. Für Josch war Rosanna in diesem Moment ein zweites Mal gestorben. Es klopfte, Lydia kam ins Zimmer, in der Hand schwenkte sie den Zettel vom schwarzen Brett. Was soll das denn heißen? Nela sah von ihrem Chaos auf. Kannst du nicht lesen? Du willst wirklich ausziehen? Wenigstens für eine Weile, sagte Nela. Ich halte es nicht mehr aus.
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Lydia sah sie spöttisch an. Ich hab dir gesagt, schick sie ins Internat, aber du wolltest ja unbedingt Mutter Teresa spielen! Danke, du bist mir wirklich eine Hilfe, erwiderte Nela. Wenn du willst, kannst du eine Weile bei mir wohnen, bot Lydia an, da kommst du allerdings vom Regen in die Traufe, du weißt ja, was ich für ein Drachen bin. Trotzdem, lieb von dir, danke! Nela versuchte zu lächeln. Also dann, überleg’s dir. Lydia nickte ihr aufmunternd zu, bevor sie ging. Nela beendete die sinnlose Aufräumaktion. Sie wechselte in den Schneideraum und schaltete den Schnittcomputer ein. Auf dem Monitor erschien Jane, ein Schimpansenkind im Arm. Sie sprach über die Familienstrukturen der Schimpansen, darüber, wie eng die Beziehungen der Tiere untereinander seien und wie fürsorglich Familienmitglieder miteinander umgingen. Dann erzählte sie die Geschichte des Schimpansenkindes Mel, das von Spindle, einem jugendlichen Schimpansen aus seiner Sippe, adoptiert worden war, nachdem es beide Eltern verloren hatte. Spindle hatte sich wie ein Bruder um den Kleinen gekümmert, ließ ihn huckepack reiten und erlaubte ihm, wenn er Angst hatte oder es regnete, sich an seinem Bauch festzuklammern. Diese Fürsorge rettete Mel das Leben. Während Jane erzählte, zupfte das Schimpansenbaby an ihrem Haar und versuchte, 239
an einer Strähne zu kauen. Autsch!, rief Jane und lachte, damit endete die Szene. Nela stoppte den Film und dachte daran, dass Schimpansen nicht schwimmen können, aber im Notfall trotzdem ins Wasser springen und versuchen, ihre Artgenossen zu retten. Erstaunlicherweise setzen sie ihr Leben nicht nur für Mitglieder ihrer eigenen Familie aufs Spiel, sondern auch für fremde Schimpansen. Dieses Verhalten sei rätselhaft, hatte Jane ihr erklärt, weil es aus evolutionsbiologischer Sicht keinen Sinn mache. Schließlich gehe es darum, die eigenen Gene zu erhalten und weiterzugeben. Unter Einsatz des eigenen Lebens ein fremdes Leben zu retten, widerspreche demnach dem biologischen Programm. Schimpansen sind also die besseren Menschen, hatte Nela gescherzt. Jane hatte sie angesehen mit ihrem feinen, leicht spöttischen Lächeln in den Mundwinkeln. Sie sind eben keine Menschen, hatte sie erklärt, das macht ihre Gesellschaft so angenehm. Besonders wenn man gerade als Nichtschwimmer in einen See gefallen ist! Gegen vier klopfte es zaghaft. Nela drehte sich auf ihrem Sitz. Herein? Die Tür öffnete sich, vor ihr stand Aimée. Was suchst du denn hier, fragte Nela entgeistert, bist du nicht in der Schule? Das Mädchen schloss die Tür und kam näher, blieb aber in sicherer Entfernung von ihr stehen.
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Wir haben heute früher aus. Ich muss mit dir reden. Ich … will mich entschuldigen. Ach ja, sagte Nela spöttisch, wofür denn? Für gestern? Für die Nachtaktion von neulich? Für meine geplatzte Berlin-Reise? Für die vielen Male, bei denen du gewünscht hast, ich wäre tot? Für alles, unterbrach Aimée. Nela wiegte den Kopf. Tut mir leid, sagte sie, das ist ein bisschen viel verlangt. Na gut, dann für gestern. Und für neulich nachts. Sieh mal an, sagte Nela und zog eine Augenbraue hoch, du gibst also zu, dass du nur eine Show abgezogen hast? Aimée schüttelte heftig den Kopf. Es war keine Show, ich hatte wirklich einen Albtraum. Trotzdem tut es mir leid, dass ich euch gestört habe und … dass ihr wegen mir gestritten habt. Nela musterte sie misstrauisch. Ich glaub dir kein Wort, du hast doch genau gewusst, was du tust. Das stimmt nicht, sagte Aimée, warum sollte ich so was machen? Weil du mich gern loshättest, sagte Nela und sah ihr direkt in die Augen. Und übrigens verstehe ich dich sogar. Aimée senkte den Blick. Weißt du, eigentlich hab ich gar nichts gegen dich. Kann sein, sagte Nela, nahm einen Bleistift vom Tisch und fing an, damit zu spielen. Vielleicht hast du nichts gegen mich persönlich. Aber du hast was
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dagegen, dass in Joschs Leben ein anderer Mensch als du eine Rolle spielt. Aimée sah auf, in ihren Augen standen Tränen. Ich hab doch sonst niemanden, sagte sie leise. Plötzlich sah sie sehr verzweifelt aus. Nela stand auf, ging um ihren Schreibtisch herum und nahm das Mädchen in den Arm. Behutsam strich sie mit der Hand über die zarte Kopfhaut. Doch, du hast noch jemanden, sagte sie. Du hast mich. In ihren Mittagspausen fuhr Nela ins Krankenhaus und setzte sich eine Stunde zu ihrer Mutter ans Bett. Sie war noch immer nicht aufgewacht, trotzdem sprach Nela mit ihr, als könnte sie alles verstehen. Die Ärzte waren ratlos. Mariannes körperliche Funktionen waren einwandfrei, ihre Hirnströme in Ordnung. Es schien, als weigerte sie sich, ins Leben zurückzukehren. Kein Wunder, dachte Nela, was hat sie schon für Perspektiven? Ihr Mann lebt mit einer anderen und wartet nur darauf, sich von ihr scheiden zu lassen. Die Tochter ist in ihren Augen eine Versagerin und hat einen Versager geheiratet. Wie es aussieht, wird sie keine Enkel bekommen, was unter diesen Umständen vielleicht sogar als glückliche Fügung zu betrachten ist. Sie wird ihr Haus verlassen und in eine Wohnung ziehen müssen. Und sie ist eine kranke Frau. Trotzdem hoffte Nela auf ein Wunder.
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Ihr Vater war nach der ersten Nacht nur noch einmal gekommen, seither schickte er alle zwei Tage Blumen, die Nela den Schwestern schenkte. Sie rief ihn regelmäßig an und berichtete, dass es nichts Neues gebe. Jedes Mal lud er sie zu sich und Elinor ein, jedes Mal sagte sie zu, jedes Mal ging sie nicht hin. Es war ein komisches Gefühl, dass sie demnächst eine Halbschwester haben würde. Ihr Vater hatte ihr bereits anvertraut, dass auch sein zweites Kind eine Tochter sein würde. Nela hatte sich immer sehnlichst eine Schwester gewünscht, eine Verbündete im Kampf gegen die Einsamkeit und gegen ihre Mutter. Nun, wo sie längst erwachsen war, würde sie eine bekommen. Wo bist du, Mama?, flüsterte sie ihrer Mutter ins Ohr. Geh nicht weg, komm zurück! Ich gebe zu, im Moment sieht es ziemlich beschissen für dich aus. Aber du wirst sehen, es ist noch nicht vorbei. Du kannst noch mal neu anfangen. Es gibt so viel, was du tun könntest! Reisen, zum Beispiel. Sprachen lernen, studieren. Du könntest etwas für andere tun, etwas Nützliches. Besonders viel Nützliches hast du in deinem Leben nicht getan, sei ehrlich! Oder du erfüllst dir irgendeinen alten Traum. Du musst doch mal Träume gehabt haben. Manchmal erzählte sie ihr von früher. Weißt du noch, wie ich auf den zugefrorenen See hinauslief? Ich muss ungefähr drei gewesen sein. Ich wollte spielen, lief vor dir weg, aber das Eis war dünn, du konntest mir nicht folgen. Du hast dich auf den Bauch gelegt und dich Stück für Stück 243
vorgeschoben. Dabei hast du mich mit deinen Worten eingefangen. Ich weiß nicht mehr, was du gesagt hast, aber deine Worte hatten eine solche Kraft, dass ich zurückgekommen bin. Ein paar Meter vor dir bin ich eingebrochen und ins Wasser gefallen. Zum Glück war es dort nicht mehr tief, und so konntest du mich rausziehen. Das Gesicht ihrer Mutter zeigte keinerlei Regung. Frühmorgens riss Nela das Klingeln des Telefons aus dem Schlaf. Bis sie schlaftrunken auf den Flur getorkelt war, hatte Josch bereits abgehoben und presste den Hörer ans Ohr. Ist gut, sagte er, ich richte es aus. Er legte auf. Das Krankenhaus. Du sollst sofort kommen. Okay, sagte Nela mechanisch und lief ins Bad, um sich anzuziehen. Josch folgte ihr. Ich fahr dich hin. Danke, das ist lieb von dir, sagte sie, aber es ist erst halb sechs. Ich kann ein Taxi nehmen. Sicher?, fragte Josch zweifelnd. Sicher, sagte Nela. In Windeseile zog sie sich an. Unfrisiert, ohne Jacke und Schlüssel lief sie aus der Wohnung, nur den Geldbeutel steckte sie ein. Der Taxistand war leer, sie schlug die Richtung zum Krankenhaus ein, dabei hielt sie Ausschau nach einem Taxi. Endlich entdeckte sie eines und winkte, zuerst schien es nicht halten zu wollen, dann bremste der Fahrer doch. Ein junger Typ, der mit seinen Bartstoppeln
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und den roten Augen aussah, als hätte er drei Nächte nicht geschlafen. Wollte gerade Schluss machen, brummte er. Bitte, ich muss ins Krankenhaus der Barmherzigen Schwestern, flehte Nela, meine Mutter liegt im Sterben. Steig ein, sagte er. Dankbar ließ sie sich auf den Rücksitz fallen. Sie schloss die Augen und versuchte zu beten. Komm schon, sagte sie zu Gott, das ist nicht fair! Du hast sie bis jetzt überleben lassen, nun wirst du sie doch nicht aufgeben! Ich kann doch auch nicht mittendrin alles hinschmeißen. Jeder Film muss das Ende haben, das zu ihm passt, und meine Mutter wollte gar nicht sterben. Sie wusste nur nicht, wie sie leben sollte. Lass nur, sagte der Fahrer, als Nela ihm einen Zehn-Euro-Schein geben wollte, meine Mutter ist vor vier Wochen gestorben. Danke, sagte sie, alles Gute. Dir auch, gab er zurück. Sie rannte zum Eingang, drückte die Glastür auf und fuhr in den dritten Stock. Auf dem Flur war es ruhig, keine umherrennenden Schwestern, keine Ärzte im Notfalleinsatz. Abrupt blieb Nela stehen und starrte die geschlossene Zimmertür an, hinter der ihre Mutter lag. Das konnte nur eines bedeuten: Sie war zu spät gekommen. Langsam legte sie ihre zitternde Hand auf die Klinke, öffnete die Tür, hielt den Atem an. Ihr Vater saß mit dem Rücken zu ihr am Bett. Als sie eintrat, drehte er sich um und lächelte. 245
Sie ist aufgewacht, sagte er. Und weißt du, was sie als Erstes gesagt hat? Nela schüttelte stumm den Kopf. Ihre Mutter war höher gebettet als sonst, sie hatte die Augen geöffnet und sah in ihre Richtung. Sie versuchte zu sprechen, ihre Lippen formten Nelas Namen. Nela schloss für einen Moment die Augen, ihr war schwindelig. Gute Arbeit, sagte sie zu Gott, das muss ich dir lassen. Die Spannung noch mal so richtig hochziehen und dann ein Happyend, echt Oscarreif! Wie viele Kerzen kostet das? Fünfzig? Hundert? Hallo, Mama, sagte sie mit zittriger Stimme. Nicht weinen, sagte ihr Vater, stand auf und zog sie an sich. Ich weine nicht, sagte Nela. Ich weine nur im Kino. Am liebsten hätte sie kehrtgemacht und wäre aus dem Zimmer gerannt, so heftig trafen sie ihre Empfindungen. Grenzenlose Dankbarkeit mischte sich mit plötzlicher Angst. Solange ihre Mutter bewusstlos dagelegen hatte, war es leicht gewesen, sich ihr nahe zu fühlen. Würde sich nun, wo sie aufgewacht war, die alte Feindseligkeit zwischen ihnen wieder einstellen? Marianne streckte die Hand nach ihr aus und räusperte sich. Komm her, sagte sie mit heiserer Stimme, als sei sie erkältet. Zögernd näherte sich Nela dem Bett. Nach einer Weile, in der sie intensiv das Gesicht ihrer Mutter
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studiert hatte, fragte sie unsicher: Bist du wirklich wieder völlig okay, Mama? Sie ist fast wieder die alte, sagte ihr Vater lächelnd, und Nela überlegte kurz, ob das eine gute Nachricht wäre. Irgendwie hatte sie gehofft, ihre Mutter würde aufwachen und endlich wieder die Person sein, die sie ganz früher gewesen war, vor ihrer Sucht. Die Mutter ihrer Kindertage. Ich bin müde, flüsterte Marianne, furchtbar müde. Klar, sagte Nela mit schiefem Lächeln, du hast ja auch nur zwei Wochen geschlafen! Stell dir vor, sagte ihr Vater, die Ärzte meinen, diese Zeit war wie eine Entziehungskur. Die Patientin ist trocken. Was? Ungläubig sah Nela zwischen ihrem Vater und ihrer Mutter hin und her. Du meinst … die Sucht ist vorbei? Die körperliche Sucht, ja. Und die psychische? Das wird sich zeigen. Nela blickte zweifelnd. Also dann, bis zum nächsten Mal, sagte sie. Es wird kein nächstes Mal geben, sagte Marianne. Schön wär’s, sagte Nela. Aber das hast du schon oft gesagt, warum soll es diesmal stimmen? Lass sie, schaltete sich ihr Vater ein, das ist jetzt nicht der Augenblick. Doch, widersprach Marianne, es ist genau der Augenblick.
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So, wie es war, wird es nicht mehr werden, das verspreche ich euch. Du musst uns nichts versprechen, sagte Nelas Vater. Marianne drehte ihm den Kopf zu. Dir vielleicht nicht. Aber ihr. Sie griff nach Nelas Hand und presste sie an ihr Gesicht. Eine Krankenschwester kam ins Zimmer, um aufzuräumen und das Bett aufzuschütteln. Schon Fieber gemessen?, fragte sie. Ja, ja, alles in Ordnung, sagte Marianne. Die Schwester nickte zufrieden und ging. Nela staunte. Offenbar wachten auf dieser Station stündlich Patienten aus wochenlanger Bewusstlosigkeit auf Wie lange musst du noch bleiben?, fragte sie. Ein paar Tage. Danach ziehe ich in die neue Wohnung. Plötzlich hielt Nela es nicht mehr aus. Sie musste raus hier, das alles erst einmal verarbeiten. Ruf mich an, dann helfe ich dir beim Umzug, sagte sie und stand auf. Ich … muss jetzt los, okay? Sie wollte sich mit einem Kuss auf die Wange verabschieden, aber ihre Mutter hielt ihren Kopf mit beiden Händen fest und sah ihr in die Augen. Du hast mich zurückgeholt, sagte sie. Quatsch, sagte Nela, die Ärzte haben dich zurückgeholt. Du warst es, beharrte ihre Mutter, ich weiß es. Du hast mir das Leben gerettet.
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Nein, Mama, sagte Nela, auch wenn du es nicht gern hörst, dein Leben verdankst du Elinor. Mein Überleben verdanke ich Elinor. Mein Leben dir. Erinnerst du dich, wie du damals im See eingebrochen bist? Natürlich erinnere ich mich, sagte Nela überrascht. Nun, diesmal hast du mich rausgezogen. Erstaunt fragte sich Nela, ob doch etwas von all dem, was sie ihrer Mutter erzählt hatte, in ihr Bewusstsein gedrungen war. Na, dann sind wir ja quitt, sagte sie betont locker, aber ihre Stimme zitterte. Ich war nie so stark wie damals, sagte Marianne. So stark will ich wieder werden. Das hängt ganz von dir ab, Mama, sagte Nela leise und kämpfte nun, trotz aller guten Vorsätze, mit den Tränen. Als sie ins Taxi stieg, richtete sich der Fahrer, der ein Nickerchen gemacht hatte, auf und sah Nela im Rückspiegel an. Und?, fragte er. Seine Augen waren immer noch rot. Ich dachte, Sie wollten Feierabend machen, sagte Nela. Ich wollte lieber auf dich warten. Vielleicht willst du mit jemandem reden. Nela zog den Zehn-Euro-Schein aus der Hosentasche und reichte ihn vor. Meine Mutter ist nicht gestorben, sagte sie.
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Schön, sagte er und ignorierte den Schein. Wo soll ich dich hinfahren? Fahr mich … nach Hause, bitte. Okay, sagte er und startete den Motor. Nein, halt!, rief Nela, fahr mich zur nächsten Kirche. Katholisch oder evangelisch? Katholisch. Alles klar, sagte Nela zu Gott. Kerzen für zehn Euro.
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In der Galerie Jahn standen die Leute in der typischen Pose von Ausstellungsbesuchern bis auf die Straße: Weinglas in der Hand, unruhiger Blick, halb aufmerksam einem Gespräch folgend. Durch die hohen Scheiben konnte Nela sehen, wie sich in den hell erleuchteten Räumen die Menschen vor den Bildern drängten. Sie war spät dran und hielt Ausschau nach Josch. Schließlich entdeckte sie ihn; er stand mit einer Gruppe von Leuten zusammen, neben sich Aimée, die ein Glas Orangensaft in der Hand hielt und abwesend vor sich hinstarrte. Josch hatte den Arm um ihre Schulter gelegt. Aus der Entfernung sahen sie aus wie ein Liebespaar. Nela beobachtete die beiden durchs Fenster. Das altbekannte Gefühl, ausgeschlossen zu sein, befiel sie sofort, doch dann erinnerte sie sich an das Gespräch mit Aimée, an den Moment, in dem das Mädchen sich aufschluchzend an sie gepresst und immer wieder gestammelt hatte, es tut mir leid, es tut mir so leid! Nelas ganze Wut war schlagartig verraucht, sie hatte Aimée festgehalten und gestreichelt, und es war ihr vorgekommen, als hielte sie das traurige und einsame Mädchen im Arm, das sie selbst einmal gewesen war. Am Abend dieses Tages hatte sie einen Stoffschimpansen auf ihrem Kopfkissen gefunden, 251
der haargenau so aussah, wie Jeetah ausgesehen hatte. Daneben lag ein Zettel. Es stimmt nicht, dass wir ohne dich glücklicher waren. Ich liebe dich, J. Josch drehte jetzt den Kopf in ihre Richtung, als er sie entdeckte, hellte sich sein Gesicht auf. Er entschuldigte sich und kam nach draußen. Da bist du ja, sagte er und griff nach ihrer Hand. Schön, dass du gekommen bist! Nela folgte ihm durch die Menschenmenge. Aimée stand neben ihren Großeltern und unterhielt sich mit einem dunkelhaarigen Mann in einem Nadelstreifenanzug. Nela nickte ihr lächelnd zu und begrüßte Clara und Sergio, die offensichtlich froh waren, ein bekanntes Gesicht zu entdecken. Buona sera, Nela, wie geht es Ihnen?, sagte Sergio und küsste ihr die Hand. Wie geht es Ihnen, fragte Nela zurück, ist sicher ganz schön aufregend für Sie, dieser Abend? Es ist seltsam, sagte Clara. Sind diese Menschen alle wirklich gekommen, um Rosannas Bilder zu sehen? Ja, natürlich, sagte Nela. Sie können stolz sein auf ihre Tochter. Wissen Sie, Nela, wir verstehen nichts von Kunst, sagte Sergio, wir verstehen nur etwas von gutem Wein und gutem Käse. Clara berührte seinen Arm. Ist doch auch egal. Hauptsache, die Menschen erinnern sich an Rosanna. Ihr Mann nickte zustimmend. Du hast ja Recht, carissima. 252
Josch kam mit Getränken und drückte jedem ein Glas in die Hand. Willst du noch einen Saft?, fragte er Aimée. Nein, danke, sagte sie wohlerzogen. Das ist übrigens Niklas, ein Freund von Mama. Gercken, sagte Josch und streckte die Hand aus. Ich bin Aimées Pflegevater. Das ist meine Frau Nela. Baumann, sagte der andere und drückte erst Nela, dann Josch die Hand. Niklas ist extra wegen der Ausstellung gekommen, erklärte Aimée nicht ohne Stolz, er lebt in der Schweiz. Sind Sie im Kunsthandel tätig?, fragte Josch. Niklas verneinte. Hotellerie, sagte er. Aber gute Kunst hat mich schon immer interessiert. Josch kramte in seinem Gedächtnis, aber den Namen Niklas Baumann hatte er noch nie gehört. Verzeihen Sie meine Neugier, sagte er, aber darf ich fragen, woher sie Rosanna kannten? Wir haben uns bei einer Ausstellung getroffen. Leider hatten wir nicht mehr viel Zeit, uns kennen zu lernen. Ich bedaure das sehr, denn sie war ein ganz besonderer Mensch. Das war sie, sagte Josch, dann schwieg er. Auch die anderen wussten nicht, was sie darauf sagen sollten. Betretenes Schweigen breitete sich aus. Ich sehe mir die Bilder an, sagte Nela. Sie scherte aus der Gruppe aus und ging ans andere Ende des Raumes. Der Schriftzug ›Viel zu früh gegangen –
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Rosanna Cardello‹ prangte, sich mehrfach wiederholend, als Lichtprojektion an der Wand. Neben einem Foto von Rosanna und ihrem Lebenslauf hing eine Preisliste. Neugierig studierte Nela die Summen. Sie hielt den Atem an. 3000 Euro für ein kleines Format, zwischen 6000 und 8000 für ein großes. Die Titel waren einzeln aufgeführt, ungefähr neben der Hälfte klebten bereits rote Punkte, die anzeigten, dass die Bilder verkauft waren. Sie überschlug die Beträge, der Wert der Ausstellung lag bei rund hundertfünfzigtausend Euro. Zweifellos war es in der Kunstbranche von Vorteil, jung zu sterben. Sie wanderte an der Wand entlang, einige der Bilder kannte sie, andere hatte sie noch nie gesehen. Durch ihre Bilder wurde Rosanna so lebendig, dass Nela sie fast körperlich zu spüren glaubte. Josch trat neben sie. Schweigend betrachteten sie eine Arbeit mit dem Titel Selbstportrait, das in feurigen Rottönen gemalt war und regelrecht zu lodern schien. Sie wird immer da sein, sagte Nela. Ihre Abwesenheit hat die gleiche Wucht wie ihre Anwesenheit. Wir können ihr nicht entkommen. Warum versuchst du es dann?, fragte Josch. Was würdest du an meiner Stelle tun?, fragte sie zurück. Ich weiß nicht, sagte er. Sie lehnte sich an ihn und spürte das übermächtige Bedürfnis, mit ihm alleine zu sein. Er
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legte den Arm um sie und deutete auf Clara und Sergio. Die beiden sind so stolz, sagte er lächelnd. Sie spüren, dass Rosannas Bilder wichtig sind, obwohl sie nie begreifen werden, warum ein Parmaschinken 50 Euro kostet und manche der Bilder 5000. Nela lächelte und folgte seinem Blick. Die Großeltern und Aimée lauschten gerade aufmerksam einer Erzählung von Niklas. Als er fertig war, fingen sie gleichzeitig an zu lachen. Niklas strich sich über den Schnurrbart. Ich mag den Kerl nicht, knurrte Josch. Was hast du gegen ihn?, fragte Nela. Irgendwas stimmt nicht mit dem. Warum unterhält er sich stundenlang mit Aimée? Du bist ja eifersüchtig! Josch blickte sie verlegen an. Vielleicht, ja. Manchmal würde ich sie am liebsten einsperren. Aimée kam zu ihnen. Josch, sagte sie, darf ich heute bei Nonno und Nonna schlafen? Morgen ist Samstag, ich hab keine Schule. Klar, darfst du, sagte Josch. Sie hatten so viel Kummer, sagte sie nachdenklich. Ich glaube, ich sollte ihnen die Freude machen. Josch strich mit der Hand über ihren Kopf, der inzwischen von millimeterkurzen, dunklen Stoppeln bedeckt war. Das ist sehr lieb von dir.
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Als Aimée mit ihren Großeltern gegangen war, standen Josch und Nela unschlüssig herum. Die Galerie war nur noch halb voll. Was fangen wir jetzt an mit der ungewohnten Freiheit?, fragte Josch. Eigentlich sollten wir losziehen und einen draufmachen, oder? Nela lächelte verlegen. Ich wäre lieber mit dir allein. Kein Problem, sagte Josch, dann lass uns nach Hause fahren. Ich hab da eine andere Idee, sagte Nela lächelnd. Das Hotel Miramar mit den besonders geschmackvollen Zimmern im mediterranen Stil lag zwei Straßen weiter und beherbergte üblicherweise Geschäftsleute, die nach ihren Geschäftsessen angetrunken, aber meist alleine zurückkehrten. Hie und da drückte der Portier ein Auge zu und ließ eine professionelle Dame passieren. An diesem Abend händigte er einem Paar ohne Gepäck einen Schlüssel aus. Die beiden verschwanden händchenhaltend in Zimmer 16 und kamen nach zwei Stunden und zwölf Minuten wieder heraus. Versonnen sah er den beiden nach, wie sie auf die Straße traten. Dann steckte er 60 Euro, die der Mann bar bezahlt hatte, in die Jackentasche. Eng umschlungen gingen Nela und Josch durch das belebte Viertel. Liebe im Hotel, sagte Nela, das gefällt mir! Als wären wir auf einer Reise.
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Du würdest am liebsten ganz ins Hotel ziehen, was?, fragte Josch lachend. Hätte nichts dagegen, sagte Nela, ich stehe einfach drauf, meine Schuhe vor die Tür zu stellen und sie geputzt zurückzukriegen. Und auf das Gefühl, jederzeit abreisen zu können. Schweigend gingen sie weiter. Plötzlich holte sie tief Luft. Ich muss dir was sagen. Josch musterte sie stumm von der Seite. Neulich nachts, ich meine … nach unserem Streit, da war ich bei Tom. Habe ich schon vermutet, sagte er. War ja auch nicht das erste Mal. Nein, sagte sie, aber diesmal … diesmal war es anders. Josch sagte nichts. Nela blieb stehen. Sie schlang die Arme um ihn und presste ihr Gesicht an seine Wange. Es tut mir leid, sagte sie. Ich war so … verletzt. Ich brauchte jemanden, der mich tröstet. Und dann … … ist es einfach passiert, vollendet Josch ihren Satz. Genau, sagte Nela zerknirscht. Josch blieb stumm. Steif, mit den Händen in den Manteltaschen stand er da und sah an ihr vorbei. Sag doch was, bat sie. Was soll ich sagen? Er hob hilflos die Schultern und ließ sie fallen. Ich weiß nicht, sagte Nela, du könntest wütend werden, mich beschimpfen oder mich wegschicken. 257
Warum sollte ich das tun?, fragte er. Du bist ein freier Mensch. Und ich hoffe, dass du aus freien Stücken zu mir zurückgekommen bist. Nela verlor die Fassung. Warum bist du nur immer so verdammt anständig?, schluchzte sie. Jetzt fühle ich mich noch schlechter als vorher! Sie wollte ihn umarmen, aber er ließ die Hände in den Taschen, sodass es mehr eine Art Umklammerung war. Nach einer Weile fragte er leise an ihrem Ohr: Muss ich damit rechnen, dass es sich wiederholt? Nein!, sagte Nela. Natürlich nicht. Ich meine … ich habe mit Tom gesprochen und ihm erklärt, dass es vorbei ist. Dann ist ja alles gut, sagte Josch sarkastisch. Er setzte sich in Bewegung, Nela konnte kaum mit seinem Tempo Schritt halten. Nach ein paar hundert Metern, die er schweigend zurückgelegt hatte, blieb er in einer kleinen Gasse plötzlich stehen und lehnte sich gegen eine Hauswand. Sein Körper krümmte sich, als habe er Schmerzen. Warum hast du mir das angetan?, fragte er und starrte Nela mit glühenden Augen an, dann brüllte er: Warum? Ruhe!, schrie eine Männerstimme aus einem Fenster. Halt’s Maul, brüllte Josch zurück. Aimée ging zwischen ihren Großeltern, die sie abwechselnd an sich drückten.
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Warum hast du bloß die schönen Haare abgeschnitten?, fragte Clara und fuhr ihr ein ums andere Mal mit der Hand über den Kopf. Aimée antwortete nicht. Ihr habt ein neues Auto, stellte sie fest, als sie den Parkplatz erreicht hatten. Hab ich günstig bekommen, sagte Sergio, Marco hat sein Geschäft aufgegeben und ist zurück nach Cremona. Warum fährst du immer Mercedes?, fragte Aimée. Es gibt doch viel schönere Autos. Ist was Solides, sagte Sergio und strich bewundernd mit der Hand über den silbermetallicfarbenen Lack der Kühlerhaube. Mama hat früher immer die Sterne abgeknickt, sagte Aimée, wir hatten eine ganze Schublade voll zu Hause. Sergio überging ihre Bemerkung, ließ die beiden einsteigen und fuhr, ohne ein weiteres Wort zu sprechen, los. Zu Hause angekommen, eilte Clara in die Küche und band sich eine Schürze um. Ich habe noch Pasta, sagte sie zu Aimée, von den Häppchen in der Galerie kannst du unmöglich satt geworden sein. Lass nur, Nonna, wehrte Aimée ab, ich hab wirklich keinen Hunger. Ich bin so furchtbar müde, ich möchte nur noch schlafen. Dein Bett ist bezogen, sagte ihre Großmutter und hob den Kopf. Wir haben die ganze Zeit gehofft, dass du wiederkommst.
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Aimée küsste sie wortlos auf die Wange, dann wünschte sie Sergio, der im Wohnzimmer vor dem Fernseher saß, eine gute Nacht und ging nach oben. In ihrem Zimmer legte sie sich angezogen aufs Bett und wartete, bis die Geräusche im Haus verklungen waren. Dann schlich sie auf den Flur und holte das Telefon. Es klingelte lange, bevor abgehoben wurde. Schläfst du schon?, flüsterte Aimée in den Hörer. Fast, hörte sie Rubens müde Stimme. Wie spät ist es? Aimée sah auf die Uhr. Gleich halb zwölf. Was ist los? Nichts. Ich bin bei meinen Großeltern und kann nicht schlafen. Was machst du? Auch nichts. Ich liege auf dem Bett und höre Musik. Meine Eltern sind bei irgendeiner Hochzeit und kommen erst morgen wieder. Aimée horchte auf. Du bist allein? Absolut allein. Soll ich … kommen? Na klar!, sagte Ruben, und seine Stimme klang plötzlich hellwach. Wie komme ich zu dir? Mit der U2, dann die S8 – ach scheiße, nimm einfach ein Taxi. So viel Geld habe ich nicht, sagte Aimée. Egal, sagte Ruben, ich warte vor dem Haus. Das Taxi hielt vor einer beeindruckenden, weißen Altbauvilla. Ruben bezahlte den Fahrer und gab drei Euro Trinkgeld, was Aimée ein bisschen 260
angeberisch, aber auch sehr cool fand. Er nahm ihre Hand und führte sie nach innen. Der Eingangsbereich war groß wie eine Halle, die Decken waren ungefähr doppelt so hoch wie in normalen Häusern und mit Stuck verziert. An den Wänden hingen alte Ölschinken neben modernen Gemälden, überall standen schwere Möbel und riesige Vasen herum, die ihr das Gefühl gaben, winzig zu sein. Aimée betrachtete die Bilder. Deine Eltern verstehen was von Kunst?, fragte sie. Mein Vater, sagte Ruben ohne Begeisterung. Der haut ein Vermögen raus für den Krempel. Vielleicht würden ihm Rosannas Bilder gefallen, sagte Aimée, schick ihn doch mal in die Galerie Jahn. Ist gut, sagte Ruben, willst du was trinken? Aimée nickte. Komm mit, forderte Ruben sie auf, und sie folgte ihm in eine riesige Küche, die so aufgeräumt und neu aussah, als würde sie nie benutzt. Unter einer grauen Granitplatte glänzten schwarz gelackte Türen und Schubladen mit silbernen Griffen. Ruben öffnete einen ungefähr zwei Meter breiten Kühlschrank aus schimmerndem Edelstahl, der höchstens zur Hälfte gefüllt war. Den meisten Raum nahmen die Getränke ein, Aimée sah Weinund Champagnerflaschen, außerdem jede Menge Säfte, Limonaden und Cola. Also, was möchtest du? Hilflos hob Aimée die Arme. Keine Ahnung. 261
Soll ich dir was mixen? O ja!, sagte sie begeistert und sah zu, wie Ruben zwei Gläser mit Eiswürfeln füllte, die auf Knopfdruck direkt aus einer Öffnung am Eisschrank fielen. Aus fünf verschiedenen Flaschen schüttete er Flüssigkeiten auf die Eiswürfel, rührte einmal um und drückte ihr ein Glas in die Hand. Vorsichtig nippte sie. Es schmeckte nach Früchten und nach Alkohol. Schmeckt geil, stellte sie fest. The last sundown, sagte Ruben, das Rezept ist aus Bangkok, aus dem Hotel, wo wir in den Osterferien waren. Aimée nahm noch einen Schluck. Ist es schön, wenn man reich ist?, fragte sie und sah ihn an. Keine Ahnung, sagte Ruben, ich kenne es nicht anders. Aber wenn Geld glücklich machen würde, dann wüsste ich es. Aimée sah sich in der Küche um. Die hätte meiner Mutter gefallen! Sie hat sich immer eine schöne Küche gewünscht. Wer kocht bei euch? Niemand. Mein Vater ist nie da, und Karina kann nicht kochen. Wenn sie Gäste haben, kommt eine Köchin. Aimée sah ihn entgeistert an. So ‘ne tolle Küche, und keiner benutzt sie? Ruben zuckte die Schultern. Ich benutze sie. Morgens mache ich mir Cornflakes und abends Tiefkühlpizza. Komm, ich zeig dir mein Zimmer. Aimée folgte ihm durch den langen Flur. Sie fühlte sich nicht besonders wohl. Diese Welt war
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ihr fremd, sie war von einer Kälte, die sie einschüchterte. Wie hielt Ruben das nur aus? Sein Zimmer war ungefähr dreimal so groß wie ihres und voll gestellt mit Unterhaltungselektronik. Neben einem Fernseher mit großem Flachbildschirm türmten sich Lautsprecherboxen, auf dem Boden standen ein Videorekorder, ein DVD-Player und eine Musikanlage, auf dem Schreibtisch ein Computer und ein weiterer Monitor. Im Regal reihten sich hunderte von CDs und DVDs aneinander, daneben verloren sich ein paar Bücher. Ein Kurt-Cobain-Poster hing über dem Bett, sonst waren die Wände kahl. Das Bett war mit dunkelroter Bettwäsche überzogen und ungemacht. Auf dem Boden lagen Kleidungsstücke und Schuhe. Und?, fragte Ruben und sah sie erwartungsvoll an. Schön, sagte Aimée unsicher und blieb an der Tür stehen. Ruben umfasste sie von hinten und blies in ihren Nacken. Komm, Prinzessin, sagte er und zog sie ins Zimmer. Er nahm ihr das Glas ab und stellte es ins Regal, dann legte er eine CD ein. Eine ruhige, sphärische Musik erklang, der wehmütige Klang eines Saxophons. Ruben legte die Arme um Aimée und bewegte sich sachte mit ihr hin und her. Plötzlich bekam sie Angst. Sie wusste, irgendwann würde es passieren müssen. Aber musste es heute sein? Bist du schon mal geflogen?, flüsterte er an ihrem Ohr. 263
Du meinst mit dem Flugzeug? Nein, ich meine, so. Im Traum, murmelte Aimée. Im Traum kann ich fliegen. Wie? Ich muss mit den Armen schlagen. Ich muss Schwimmbewegungen machen, sagte Ruben, ist tierisch anstrengend! Sie schwiegen und tanzten weiter, Aimée schloss die Augen. Sie fühlte sich ihm so nah. Seelenverwandt. Irgendwann steckte Ruben die Hand in die Hosentasche und zog etwas hervor. Damit geht es auch, sagte er. Auf seiner offenen Handfläche lagen zwei kleine, rosafarbene Pillen. Schau sie dir mal genau an, sagte er, sie haben Gesichter! Aimée beugte sich vor. Auf die Pillen waren lachende Smileys geprägt. Was ist das?, wollte sie wissen. Kleine Fröhlichmacher. Von Till. Von Till? Die macht er selber. Sind absolut sauber. Ja, aber … Ruben verschloss ihren Mund mit seinen Lippen. Sie spürte, wie er eine der Pillen mit der Zunge in ihren Mund schob. Er griff nach ihrem Glas und hielt es ihr hin. Sie schluckte die Pille und sah zu, wie er die andere nahm. Eine ganze Weile passierte gar nichts. Sie lagen auf Rubens Bett, hörten der Musik zu, küssten und 264
streichelten sich. Irgendwann bemerkte Aimée, dass ihre Arme und Beine seltsam leicht wurden, dass es im Zimmer heller und wärmer wurde. Ein seltsames Wohlgefühl ergriff sie, füllte ihren Kopf aus wie mit Licht, wanderte weiter in ihren Körper und schien ihn sachte anzuheben. Sie ließ es geschehen, dass Ruben zuerst sie auszog und dann sich. Dass er sich neben sie legte, sie streichelte und an Stellen küsste, von denen sie geglaubt hatte, dass es ihr peinlich sein müsste, dort geküsst zu werden, aber es war überhaupt nicht peinlich, sondern fühlte sich wunderbar an. Ihre Wahrnehmung verschwamm, sie konnte nicht mehr unterscheiden, was Wunsch war und was Wirklichkeit, und es war ihr auch egal. Aimée wachte auf und war sofort völlig klar im Kopf. Sie sah auf die Uhr, es war kurz nach acht. Sie fuhr im Bett hoch, stellte fest, dass sie nackt war, bemerkte den schlafenden Ruben neben sich, sprang auf und suchte ihre Kleider zusammen. Sie musste auf jeden Fall unbemerkt ins Haus ihrer Großeltern zurückkehren, bevor die ihre Abwesenheit bemerkten. Acht Uhr war spät, bis sie dort wäre, würde eine weitere dreiviertel Stunde vergehen. Es half nichts, sie musste wieder ein Taxi nehmen, dann dauerte es nur zehn Minuten. Sie angelte nach Rubens Hose und zog den Geldbeutel raus. Ein Packen Geldscheine beulte das Leder aus. Sie zog einen Zwanzig-Euro-Schein heraus und steckte ihn ein.
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Schnell schlich sie aus dem Haus, Tageslicht noch einschüchternder wirkte.
das
bei
Die letzten hundert Meter ging sie zu Fuß. Die Hintertür, die sie in der Nacht zuvor angelehnt hatte, ließ sich leicht aufdrücken. Atemlos lauschte sie ins Haus hinein, aus der Küche kamen Stimmen. Sie schlich die Treppe hoch. Als sie oben war, ging unten eine Tür. Aimée? Bist du’s? Sergio hielt einen Moment inne, dann ging er zurück zu seiner Frau. Sie schläft noch, sagte er, ich muss mich getäuscht haben. Zehn Minuten später lief Aimée in Claras Bademantel die Treppe hinunter und begrüßte gähnend ihre Großeltern. Gut geschlafen, carissima?, fragte Sergio, und Clara sprang auf, um Frühstück für sie zu machen. Nur einen Milchkaffee!, bat Aimée. Ungeachtet dieser Bitte stellte Clara ein großes Glas Latte macchiato und zwei Hörnchen mit Butter und Marmelade vor ihr auf den Tisch. Aimée tunkte ein Hörnchen in den Kaffee und seufzte genussvoll, sodass Clara zufrieden war. Während sie aß, fiel ihr Blick auf die Kommode. Dort war eine Art Altar aufgebaut. In der Mitte stand ein Foto von Rosanna, daneben zwei Kerzen, davor eine Vase mit Blumen. Darum gruppierten sich Erinnerungsstücke: ein Pinsel, mit dem Rosanna gemalt hatte, eine rote Samtkappe, ein
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goldenes Kettchen mit ihrem Taufkreuz, ein bunter Serviettenring, den sie als Kind benutzt hatte. Aimées Blick wanderte weiter. Was ist das für ein Buch?, fragte sie. Das ist kein Buch, sondern ein Ordner, sagte Sergio, da ist alles drin, was über Rosanna in der Zeitung stand. Darf ich mal sehen? Sergio brachte Aimée den Ordner. Sie schlug ihn auf und überflog die säuberlich ausgeschnittenen und in Plastikhüllen abgehefteten Vorberichte über die Ausstellung in der Galerie Jahn. Weiter hinten stieß sie auf einige Nachrufe und die Todesanzeigen. Der Dekan der Kunstakademie hatte eine Anzeige aufgegeben, in der er den Tod der früheren Studentin Rosanna Cardello bedauert, ebenso die Volkshochschule, in der sie unterrichtet hatte. Aimée blätterte weiter und erstarrte. Das Foto zeigte Rosannas Auto nach dem Unfall, zerstört am Baum. Darunter stand: Die Fahrerin hatte keine Chance, ihre Tochter überlebte, und unter der Überschrift Schwerer Unfall auf der B 17 hieß es: Unfallursache noch ungeklärt. Aimée sah auf. Was schreiben die denn, fragte sie, ich dachte, es lag am Sturm? Das haben sie da eben noch nicht gewusst, erwiderte Sergio und wollte ihr den Ordner wieder wegnehmen. Nein, lass, ich will das noch lesen. Aimée beugte sich erneut über den Zeitungsbericht, in dem es hieß, der Wind sei auf 267
diesem Straßenabschnitt nicht sehr stark gewesen, da auf beiden Seiten der Baumbewuchs sehr eng sei. Auch der Regen sei durch das dichte Blätterdach abgeschwächt gewesen, Hagel sei nicht gefallen. Man müsse sich daher fragen, welche Faktoren zum Unfall geführt hätten: Ob ein weiterer Wagen beteiligt gewesen sei, was von Augenzeugen verneint worden sei, oder ob eine plötzliche Fehlreaktion der Fahrerin für den Aufprall verantwortlich gewesen sein könne. Aimée hob langsam den Blick. Sie klappte den Ordner zu und schob ihn weg. So ein Schwachsinn, sagte sie. Es war total windig und außerdem nass auf der Straße, Rosanna ist ins Rutschen gekommen und fertig! Sie stand auf und knallte den Ordner zurück auf die Kommode. Wie lang soll das ganze Zeug denn hier noch liegen, sagte sie, das staubt doch bloß ein! Sie fegte mit der Hand über die Kommode, die Vase fiel um, das Wasser ergoss sich auf den Boden. Clara brach in Tränen aus. Sergio sprang auf und stürzte sich wütend auf Aimée. Du herzloses Ding! Sieh dir an, was du gemacht hat! Aimée presste die Lippen zusammen und kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen. Tut mir leid, sagte sie und versuchte, das Wasser mit den Händen aufzuhalten.
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Clara kam mit einem Lappen. Geh weg, sagte sie, ich mach das schon. Aimée setzte sich an den Tisch und vergrub das Gesicht in den Händen. Ich versteh dich nicht, hörte sie ihren Großvater sagen, man hat das Gefühl, du trauerst überhaupt nicht richtig.
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Als
sie von ihren Großeltern zurückkehrte, ging Aimée in ihr Zimmer und blieb dort. Sie reagierte nicht auf Joschs Klopfen; als er trotzdem die Tür öffnete und fragte, was mit ihr los sei, gab sie keine Antwort. Willst du nicht reden oder kannst du nicht? Seine Stimme klang besorgt. Ich will nicht, murmelte Aimée. Okay, sagte er und ließ sie allein. Erst abends ging sie in die Küche, setzte sich an den Tisch und löffelte schweigend einen Suppenteller voller Schoko Crunchies mit Milch leer. Josch nahm sich den Stuhl gegenüber und blätterte in der Zeitung. Unvermittelt sagte Aimée: Nonno meint, ich würde nicht richtig trauern. Josch ließ die Zeitung sinken. Es gibt keine richtige oder falsche Trauer, erwiderte er, jeder trauert auf seine eigene Weise. Sie legen allen möglichen Kram von Mama auf eine Kommode, stellen ‘ne Kerze hin, und das soll dann die richtige Trauer sein! Dabei wollten sie noch nie wissen, wie ihre Tochter wirklich war! Wie war sie denn wirklich?, fragte Josch und schob die Zeitung endgültig zur Seite. 270
Nicht so, wie sie glauben, sagte Aimée. Mama wollte was anderes vom Leben, nicht dieses komische Spießerdasein mit Feinkostladen und Mercedes. Das haben sie nie kapiert. Du musst deine Großeltern verstehen, sagte Josch, sie sind als arme Bauern nach Deutschland gekommen und haben sich hier was aufgebaut. Darauf sind sie stolz. Rosanna hat davon profitiert; sie konnte studieren und Malerin werden, statt auf dem Feld zu arbeiten oder im Laden zu stehen. Ich finde, sie hat das nicht genügend geschätzt. Immer geht’s nur ums Geld, sagte Aimée verächtlich. Und wenn die Leute dann so viel haben, dass sie nicht mehr wissen, wohin damit, sind sie trotzdem unglücklich. Wen meinst du denn damit? Ich meine … nur so allgemein, sagte Aimée ausweichend. Nach einer Pause fragte sie: Sag mal, wann krieg ich denn nun endlich ein Handy? Auch Handys kosten Geld, bemerkte Josch. Ich meine ja nur, weil du das Geld so verachtest. Ich würde es mir auch selbst verdienen, sagte Aimée, aber ich darf ja nicht jobben. Konzentrier dich lieber auf die Schule, sagte Josch. Wie war überhaupt die Mathearbeit? Sauschwer. Also, wieder ‘ne Vier. Oder ‘ne Fünf. Schade, sagte er. Und sonst, was macht das Leben und die Liebe?
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Aimée wurde rot und sprang auf. Das geht dich überhaupt nichts an, sagte sie und rannte aus der Küche. Sie nahm das Telefon und schloss sich in ihrem Zimmer ein. Dann starrte sie auf den Apparat, als wollte sie ihn hypnotisieren. Sollte sie? Oder lieber doch nicht? Zögernd wählte sie schließlich Rubens Handynummer, bereit, sofort aufzulegen, wenn er sich meldete. Die Mailbox schaltete sich ein. Musik von Nirvana, dann Rubens Stimme: Wenn ihr mir was zu sagen habt, dann tut es doch einfach. Ich bin’s, Aimée, sagte sie mit gepresster Stimme. Fliegst du noch oder bist du schon gelandet? Sie legte auf und ließ sich rückwärts aufs Bett fallen. In ihrem Kopf drehte sich alles. Die letzte Nacht erschien ihr wie ein wunderbarer Traum, aber Träume waren nicht die Wirklichkeit, sie waren nichts. Was war los mit ihren Gefühlen? Was war echt, und was hatte nur mit den Pillen zu tun? Ein grinsendes Smiley-Gesicht tauchte vor ihr auf und wurde immer größer, wie ein riesiger Mond, der über ihr hing und sie auszulachen schien. Wieder einmal war Nela auf dem Weg zu ihrem Elternhaus – diesmal, um ihrer Mutter beim Packen zu helfen. Marianne war voller Tatendrang ins Leben zurückgekehrt, hatte Möbel für die neue Wohnung gekauft und Pläne geschmiedet. Sie ging regelmäßig zu einer Therapeutin, die ihr dabei helfen sollte, auch in schwierigen Phasen trocken zu bleiben. Sie 272
sprach zum ersten Mal in ihrem Leben offen über ihre Sucht und empfand es als Befreiung. Nela, die ihre Mutter oft besucht und fast täglich mit ihr telefoniert hatte, konnte das alles kaum glauben. Sie parkte den Wagen direkt vor dem Eingang und hupte kurz, Marianne erschien in der offenen Tür und winkte. Komm rein, ich hab schon angefangen! Nela stieg aus, küsste ihre Mutter zur Begrüßung und folgte ihr in die Wohnhalle, wo sich halb gefüllte, bereits verschlossene und noch zusammengefaltete Umzugskartons über den Boden verteilten. O mein Gott, sagte Nela erschrocken, das ist ja uferlos! Ist gar nicht so schlimm, sagte Marianne, das meiste schmeiße ich einfach weg. Aber nicht die hier! Nela griff nach einer kostbaren chinesischen Vase, die neben einem Haufen mit ausgemisteten Sachen stand. Die hat Vater dir geschenkt. Marianne warf ihr einen Blick zu. Ehrlich gesagt, ich fand sie immer scheußlich. Aber sie war sauteuer! Die kannst du doch nicht wegwerfen! Nein? Marianne griff nach der Vase und ließ sie fallen. Sie zersprang in mehrere Teile. So was Dummes aber auch! Sie lächelte mit blitzenden Augen. Nela schüttelte den Kopf. Du bist wirklich unmöglich, sagte sie. Die hätte ich bei eBay 273
versteigern können, vom Erlös hätten wir zwei Monate gelebt! Insgeheim war sie stolz auf ihre Mutter. Die mistete wirklich aus in ihrem Leben! Sogar die Mitgliedschaft im Golfclub hatte sie gekündigt. Du könntest das Besteck einpacken, sagte Marianne und deutete auf eine herausgezogene Schublade. Nela rollte die silbernen Gabeln, Messer und Löffel einzeln in Seidenpapier und legte sie in einen Karton. Danach packte sie Teller und Gläser ein und sah erstaunt zu, wie sich ihre Mutter von allem trennte, was keinen praktischen Wert hatte. All die kleinen persönlichen Dinge, die Andenken an vergangene Zeiten, flogen auf den Müll. Sie entsorgte den Ballast von vielen Jahren und mit ihm die Erinnerungen an die kranke, unglückliche Frau, die sie gewesen war. Warum hast du das bloß nicht früher geschafft?, fragte Nela mehr sich selbst als ihre Mutter. Marianne hielt inne und ließ das Staubtuch sinken, mit dem sie gerade einen antiken Sekretär bearbeitete. Du ahnst nicht, wie oft ich mich das gefragt habe. War dir eigentlich klar, dass du krank bist, fragte Nela, oder warst du wirklich so ignorant, wie du immer getan hast? Marianne überlegte. Irgendwie wusste ich es, aber ich wollte es nicht wahrhaben. Niemand sollte darüber sprechen, denn das hätte bedeutet, dass
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ich mich mit meiner Sucht hätte auseinander setzen müssen. Dazu hatte ich nicht die Kraft. Aber die Kraft, dich selbst zu zerstören, die hattest du? Ja, komisch, nicht? Marianne lachte kurz auf. Vielleicht war es Rache, sagte sie nachdenklich, Rache ist ein starkes Gefühl, voller zerstörerischer Energie. Rache?, fragte Nela. Wofür? Marianne seufzte tief. Für Vaters Unerreichbarkeit. Aber er hat sich doch immer um dich gekümmert!, rief Nela spontan. Ja, er hat sich gekümmert, sagte Marianne, aber er war dabei völlig unbeteiligt. In Wahrheit hat er sein Ding gemacht, und nichts hat ihn wirklich berührt. Ich hatte immer das Gefühl, ich könnte ihn jederzeit verlieren. Nela spürte einen Stich. Genau das war es, was sie bei Josch empfand. Hast du denn überhaupt versucht, ihm nahe zu kommen?, fragte sie. Ich glaube schon, sagte ihre Mutter, aber offenbar habe ich den falschen Weg gewählt. Erst, als ich krank wurde, war ich mir sicher, dass er mich nicht verlassen würde. Die Krankheit hat ihn an mich gefesselt. Du hast getrunken, um ihn nicht zu verlieren?, fragte Nela entgeistert. Aber gerade dadurch hast du ihn doch verloren! Ja, ich weiß, sagte Marianne mit traurigem Lächeln. Heute weiß ich es. 275
Nela starrte schweigend auf den Boden. Wie viel verschwendete Lebenszeit, wie viele verlorene Jahre. Nur, weil zwei Menschen nicht zusammengepasst und es nicht geschafft haben, ehrlich zueinander zu sein. Ich glaube, du machst es besser, sagte Marianne. Nela hob den Kopf. Was meinst du? Ich meine Josch, sagte sie. Als du ihn mir damals vorgestellt hast, bekam ich einen Schreck. Es hat mich gar nicht gestört, dass er sich für Asylsuchende einsetzt und kaum was verdient. Aber ich habe ihn gesehen und gewusst: Der ist wie dein Vater. Und ich hatte Angst, du rennst in das gleiche Unglück wie ich. Nela war erstaunt. Immer hatte sie das Gefühl gehabt, ihre Mutter würde nur um sich selbst kreisen und ihre Umgebung nicht einmal richtig wahrnehmen. Nun zeigte sich, dass Marianne weit mehr mitbekommen hatte. Zögernd fragte sie: Und warum glaubst du, ich mache es besser? Weil du ihn zwingst, dir zuzuhören. Weil du stärker bist als ich, vielleicht auch eigensinniger. Er wird dich nicht unterbuttern. Na, wollen wir’s hoffen, sagte Nela grinsend, the fight will go on! Wie läuft es mit deinem Pflegekind?, fragte Marianne. Das Kind ist längst ein unerträgliches, pubertierendes Gör, das mit allen Wassern gewaschen ist, sagte Nela. Aber komischerweise habe ich sie ins Herz geschlossen. Und … wie sieht’s mit eigenen Kindern aus? 276
Nela hob abwehrend die Hände. Gott bewahre! Marianne lächelte wehmütig. Na, hoffentlich überlegst du dir’s noch, ich wäre so gern Großmutter. Du kannst ja Patentante bei Vater und Elinor werden, sagte Nela grinsend. Sag mal, hast du Cola im Haus? Mir ist irgendwie flau im Magen. Auf dem Lehrplan stand ›Sexualaufklärung‹. Das Thema wurde ernst genommen im LuisenGymnasium, denn der Anteil ungewollt schwangerer Schülerinnen sollte möglichst klein bleiben. Solche Fälle brachten schlechte Presse, und die konnte ein Privatgymnasium nicht gebrauchen. Aimée und ihre Freundinnen fanden es lächerlich, Achtklässler aufklären zu wollen. Kichernd betraten sie die Aula, wo der MädchenWorkshop stattfand. Die Jungen wurden getrennt aufgeklärt. Drei Viertel von uns haben schließlich schon gepoppt, und der Rest kennt zumindest die Theorie!, verkündete Sandy großspurig. Und zu welchen gehörst du?, fragte Jennifer unschuldig, worauf Sandy sich auf die Lippen biss und schwieg. Sie hatte nach der von Aimée eingeforderte Mutprobe einen Brief an ihre Lehrerin geschrieben. Laetitia hatte sehr liebevoll reagiert, ihr aber erklärt, dass – selbst wenn sie Sandys gleichgeschlechtliche Neigungen teilen würde, was sie nicht tue – Verhältnisse zwischen Lehrern und 277
Schülern strafbar wären. Sandy hatte sich alles mit gesenktem Kopf angehört und am Schluss nur gefragt: Aber was kann ich denn dafür, dass ich Sie liebe? Seither unternahmen ihre Freundinnen alles mögliche, um Sandys Interesse für Jungen zu wecken. Bis jetzt ohne Erfolg. Die Leiterin des Workshops, eine junge Frauenärztin, sprach ein paar einführende Worte und forderte zu Fragen auf. Lange meldete sich niemand, schließlich traute sich eine Sechstklässlerin und wollte wissen, ob man von Petting schwanger werden könnte. Wie süß, flüsterte Lisa, wahrscheinlich hat sie gerade zum ersten Mal geknutscht! Ein anderes Mädchen wollte wissen, wann der richtige Zeitpunkt fürs erste Mal sei, und die Ärztin sagte, das müsse man selbst spüren, auf keinen Fall solle man sich drängen lassen. Ich wünschte, mich würde mal jemand drängen, sagte Lisa feixend, und ihre Freundinnen prusteten los. Es folgten Fragen über die Berechnung des Zyklus, die fruchtbaren und unfruchtbaren Tage und die besten Verhütungsmethoden. Aimée atmete unhörbar auf, als die Ärztin bestätigte, unmittelbar nach der Periode sei es so gut wie ausgeschlossen, schwanger zu werden. Komisch, dachte sie, wie hier geredet wird. Wie in Mathe oder Physik. Als sei Sex etwas, das man messen und regeln könnte und das nichts mit
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Gefühlen zu tun hätte. Ich habe was völlig anderes erlebt mit Ruben. Nicht nur Sex. Liebe. Es war seltsam gewesen, als sie sich zum ersten Mal danach wiedergesehen hatten. Hi, hatte Ruben gegrüßt und sich zu ihr gesetzt. Ihr Herz hatte für einen Moment ausgesetzt, ihr Gesicht war heiß geworden. Hi, hatte sie betont lässig zurück gegrüßt und gewartet, ob er noch etwas sagen würde, aber er sagte nichts. Hast du meine Nachricht gekriegt?, fragte sie schließlich. O ja, klar, danke. Was ist los, fragte sie ängstlich. Tut es dir leid … oder so? Endlich sah er sie an und legte den Arm um sie. Blödsinn, wie kannst du das glauben? Ich hatte bloß Stress mit meinem Alten, deshalb konnte ich mich nicht melden. Stress, wieso? Er hat meine Smileys gefunden und wollte absolut nicht glauben, dass es Pfefferminzdragees sind. Oh, scheiße, sagte Aimée erschrocken. Und jetzt? Er hat gesagt, er denkt über Konsequenzen nach, sagte Ruben. Aimée lehnte ihren Kopf an seine Schulter und versuchte, sich keine Sorgen zu machen. Wenn Eltern von Konsequenzen sprachen, passierte meistens nicht viel. Als der Workshop zu Ende war, drängten die Mädchen aus der Aula. 279
Und, habt ihr was gelernt?, fragte Jennifer. Allerdings, sagte Sandy, die ihre Fassung wiedergefunden hatte. Nämlich, dass wir Lesben es viel besser haben, weil wir uns um den Verhütungsscheiß nicht kümmern müssen. Na, dann hat’s ja doch was Gutes, sagte Lisa gönnerhaft. Willst du wirklich nie mit einem Mann schlafen?, fragte Aimée. Angewidert sah Sandy sie an. Aber echt nicht, gab sie zurück, lieber sterbe ich. Apropos sterben, was wird jetzt eigentlich aus unserem Projekt? Welches Projekt?, fragte Lisa verständnislos. Na, dieses Virgin-Suicide-Ding, was Aimée sich ausgedacht hat. O nein, sagte Lisa genervt, nicht schon wieder dieser gruftige Mist. Zwei von uns sind doch jungfrauenmäßig eh’ schon aus dem Spiel, oder irre ich mich? Zwei?, fragte Sandy interessiert, und Aimée tat so, als hätte sie nicht zugehört. Ich muss los, sagte sie und entfernte sich eilig. Gedankenverloren ging sie den Weg nach Hause. Eine der fünf Schwestern war keine Jungfrau mehr gewesen, als sie sich umgebracht hatte. Das Telefon klingelte, Josch hörte aus der Küche, wie Aimée das Gespräch entgegennahm, und vertiefte sich wieder in seine Zeitung. Nach einiger Zeit brachte sie ihm den Hörer. Niklas ist dran. 280
Niklas? Aimée hielt die Muschel zu. Na, du weißt doch, Mamas Freund. Er war bei der Ausstellung. Josch fragte sich irritiert, was der Kerl wollte und was er so lange mit Aimée zu bequatschen hatte. Er drückte das Telefon ans Ohr. Gercken. Niklas begrüßte ihn wie einen alten Freund und schlug ein Treffen vor, er sei gerade in der Stadt. Josch reagierte reserviert, aber sein Gesprächspartner ließ sich nicht beirren. Ich kenne sonst niemanden in München, sagte er, und da ich geschäftlich öfter hier zu tun habe, wollte ich mich einfach mal melden. Also gut, sagte Josch widerwillig, wie wär’s mit morgen Abend? Gern, sagte Niklas erfreut. Sie kommen zu uns, bestimmte Josch. Nela kocht sehr gut. Dann sollten wir vorher was trinken, schlug Niklas vor. Um sieben im Schumann’s? In Ordnung, knurrte Josch. Obwohl er schon einige Minuten vor sieben in der Bar war, wurde Josch bereits erwartet. Niklas, der einen Whiskey vor sich stehen hatte, erhob sich von seinem Ecktisch. Ein kräftiger Händedruck, ein freundliches Lächeln. Guten Abend, ich freue mich! Die beiden Damen lassen sich entschuldigen, sagte Josch, sie bereiten das Essen vor.
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Was nehmen Sie?, fragte Niklas und winkte dem Kellner, der sich Zeit ließ. Von aufgeregten Touristen ließ man sich hier nicht herumscheuchen. Gemessenen Schrittes kam er an den Tisch. Bitte schön? Ein Pils, bitte, bestellte Josch und widerstand der Versuchung, den Kellner bei seinem Vornamen Stephan zu nennen, der ihm auf die Hemdtasche gestickt war. Das durften nur Stammkunden. Danke für die Einladung zum Essen, sagte Niklas. Es ist schön, wenn man den Abend in einer fremden Stadt nicht allein verbringen muss. Josch musterte ihn. Was führt Sie eigentlich so häufig nach München? Ich verhandle über den Kauf eines Hotels, sagte Niklas, aber es zieht sich hin. Der Verkäufer hat Preisvorstellungen! Völlig verrückt! Ja, hier ist alles teuer, bestätigte Josch. Mieten, Lebensmittel … … Hotels, ergänzte Niklas lächelnd. Na ja, wir werden sehen, wer den längeren Atem hat. Ist es ein schönes Hotel? Das Erbprinz, direkt am Englischen Garten. Josch zog die Brauen hoch. Ein renommiertes Haus, sagte er anerkennend, sicher lohnt es sich, darum zu kämpfen. Es lohnt sich immer, zu kämpfen, sagte Niklas. Josch nahm einen kräftigen Schluck von seinem Bier. Ihm kam ein Gedanke. Sie sind gar kein Schweizer, stellte er fest.
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Ich stamme aus München, bestätigte der andere, aber ich lebe schon lange in Zürich. Wie lange genau?, fragte Josch, aber bevor sein Gegenüber antworten konnte, sagte er: Halt, lassen Sie mich raten! Er rechnete kurz nach. Vierzehn Jahre? Stimmt, sagte Niklas überrascht. Woher wissen Sie das? Josch nahm einen weiteren Schluck Bier und stellte das Glas wieder ab. Er fixierte ihn. Wenn ich mich nicht irre, weiß ich sogar noch mehr. Zum Beispiel, dass Sie gar nicht Niklas heißen. Sondern? David. David Beckmann. Kompliment, erwiderte Niklas-David. Ich war nicht darauf gefasst, dass Sie es so schnell rauskriegen. Josch brauchte einen Moment, um diese Wendung zu verdauen. Dann fragte er: Warum spielen Sie uns diese Komödie vor? David lehnte sich zurück und holte tief Luft, als müsste er Anlauf nehmen. Um Aimée zu schonen, erklärte er schließlich. Als Rosanna und ich uns … wieder trafen, war sie sehr misstrauisch; sie hatte Angst, ich könnte zum zweiten Mal verschwinden. Sie wollte Aimée die Enttäuschung ersparen. Er lachte bitter auf. Und dann bin nicht ich verschwunden, sondern sie!
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Josch beugte sich nach vorn und fixierte sein Gegenüber. Soll das heißen … Sie waren wieder mit Rosanna zusammen? David nickte. Gewissermaßen, ja. Josch lehnte sich zurück und verstummte für eine Weile. Er konnte nicht fassen, dass Rosanna sich ein zweites Mal mit dem Mann eingelassen hatte, der sie angeblich so gequält hatte. Je länger sie tot war, desto mysteriöser wurde sie für ihn. Bald würde er das Gefühl haben, eine Frau geliebt zu haben, die er gar nicht gekannt hatte. Schließlich fragte er: Und warum waren Sie nicht bei der Beerdigung? David beugte sich zu ihm und sah ihn bittend an. Können wir nicht du machen? Meinetwegen, sagte Josch. Also, warum warst du nicht bei der Beerdigung? Ich habe mich nicht getraut, sagte David. Alle hätten sich gefragt, wer ich bin, es hätte womöglich eine Riesenaufregung gegeben. Das wollte ich Aimée und ihrer Familie ersparen. Wie überaus rücksichtsvoll, sagte Josch. David zuckte die Schultern. Du kannst darüber denken, wie du willst. Warum hast du dich überhaupt wieder bei Rosanna gemeldet? Joschs Frage klang ziemlich aggressiv. Ich hatte ihr schon ein paar Mal geschrieben in den letzten Jahren, aber sie hat nie geantwortet. Da habe ich sie einfach besucht. Aber warum?, insistierte Josch.
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Warum?, wiederholte David. Mein Gott, weil ich ein Kind mit ihr habe. Weil ich mich mies benommen hatte. Weil ich etwas gutmachen wollte. Ich war zu jung damals, völlig überfordert. Aber ich habe Rosanna in all den Jahren nicht vergessen. Er stockte, dann fuhr er fort. Und … ich habe immer davon geträumt, meine Tochter kennen zu lernen. Josch schwieg wie betäubt. Er hatte sich Aimées Vater ganz anders vorgestellt. Im Geist hatte er ihn zu einem monströsen Popanz aufgeblasen, einem charakterlosen, schlechten Menschen, vor dem er Rosanna und Aimée hatte schützen müssen. Und nun saß er einem harmlosen, netten Kerl gegenüber, der sein Verhalten von damals bedauerte und nichts wollte außer Kontakt zu seiner Tochter. Josch biss sich auf die Unterlippe. Und was machen wir jetzt?, fragte er. Eigentlich müssen wir es ihr sagen, oder? Eigentlich schon, sagte David. Aber? Ich habe Angst, dass sie mich dann nicht mehr sehen will. Wenn sie mich erst mal besser kennt, fällt es ihr vielleicht leichter, mir zu verzeihen. Vielleicht, sagte Josch und sah auf die Uhr. Wir müssen los. Okay, sagte David und winkte dem Kellner, der nach einer angemessenen Frist an den Tisch kam, um zu kassieren.
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Aimée hatte sich umgezogen. Sie trug eine enge Schlaghose und ein bauchfreies T-Shirt. In ihrem Bauchnabel glitzerte ein Strassstein. Du hast dich ja richtig schick gemacht, sagte Josch. Hab ich gar nicht, gab sie patzig zurück. David begrüßte Nela, die gleich darauf zurück in die Küche stürmte, dann streckte er Aimée die Hand hin. Sie ignorierte seine Rechte und küsste ihn mit einer graziösen Bewegung ihres Kopfes auf beide Wangen, wie Rosanna es bei ihren Freunden immer gemacht hatte. Josch beobachtete sie mit gemischten Gefühlen. In diesem Moment war sie kein Kind mehr, sondern eine junge Frau, die einem Mann gefallen wollte. Zu dumm, dass dieser Mann ihr Vater war. Aber ehe er weiter darüber nachdenken konnte, rief Nela: Essen ist fertig, und sie nahmen am selten benutzten Esstisch im Wohnzimmer Platz, der mit Kerzen, Kastanien und Flusskieseln geschmückt war. Hat alles Aimée gemacht, sagte Nela beim Reinkommen und deutete auf die Dekoration. Schön, sagte David. Wir haben bei uns im Restaurant eigens jemanden, der sich um die Tischdekoration kümmert. Jede Woche machen wir etwas Neues, die Gäste erwarten das. Tafelspitz mit Salzkartoffeln, Meerrettichsoße und Wildpreiselbeeren, verkündete Nela das Menü. Klingt köstlich, sagte ihr Gast. Ich hab keinen Hunger, erklärte Aimée.
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Wieso hast du keinen Hunger?, fragte Nela, vorhin hast du die ganze Zeit gefragt, wann es endlich Essen gibt. Ich bin zu dick, sagte Aimée mit gerunzelter Stirn und kniff in ihren Bauch. Nela servierte den Männern, dann nahm sie sich selbst. David lobte Nelas Kochkünste, Aimée schaute auf ihren leeren Teller. Schließlich nahm sie eine Kartoffel und etwas Soße. Gibt’s Nachtisch? Nur für die, die vorher vernünftig gegessen haben. Aimée verzog das Gesicht. Was soll daran logisch sein? Wenn ich vorher gegessen habe, bin ich satt. Also muss ich wenig essen, um noch den Nachtisch zu schaffen. Ja, ja, seufzte Nela in gespielter Resignation, da schickt man die Kinder auf gute Schulen, und was lernen sie da – wie sie ihre Eltern in Grund und Boden diskutieren! Ihr seid nicht meine Eltern, sagte Aimée. Verlegene Stille senkte sich über den Tisch. Was ist denn mit deinem Vater?, erkundigte sich David. Aimée zuckte die Schultern. Der will nichts von mir wissen. Das weißt du doch gar nicht, sagte Nela, vielleicht hat er dich nur noch nicht gefunden. Was weißt du denn über ihn?, fragte David weiter. Aimée blickte auf. Nichts. Mama hat mir nicht mal seinen Namen gesagt. Nur dass er sich seit 287
meiner Geburt nie mehr gemeldet hat. Aber dass ich trotzdem ein Kind der Liebe bin. Ein Kind der Liebe, wiederholte David sinnend. Wenn er Mama wirklich geliebt hätte, wäre er doch nicht abgehauen, stellte Aimée fest. Josch holte tief Luft. Das ist manchmal etwas komplizierter, weißt du. Wenn du erwachsen bist, wirst du das verstehen. Na toll. Aimée begann, auf ihrem Daumennagel zu kauen. Würdest du ihn denn gern kennen lernen?, fragte David. Ach, ich weiß nicht, sagte sie zögernd. Ich habe ja Josch. Der ist für mich wie mein Vater. Wahrscheinlich ist er besser als der echte. Eine Gesprächspause entstand. Nela erhob sich. So, dann hole ich jetzt mal den Nachtisch. Warte, ich helfe dir. Josch sprang auf und stellte die Teller zusammen, dann folgte er ihr in die Küche. Und, wie findest du ihn?, fragte sie und nahm die Schüssel mit der Zitronenquarkmousse aus dem Kühlschrank. Ganz okay, sagte Josch, leider. Wenn er wenigstens ein Arschloch wäre! Nela sah ihn verständnislos an. Was wäre besser, wenn er ein Arschloch wäre? Ist dir wirklich noch kein Licht aufgegangen? Nela schüttelte den Kopf und dekorierte die Mousse mit frischen Himbeeren. Ich weiß nicht, was du meinst.
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Warum, glaubst du, hat er sich uns so aufgedrängt?, fragte Josch. Und warum hat er Aimée so eingehend nach ihrem Vater befragt? Keine Ahnung, sagte Nela und zuckte die Schultern. Dann hielt sie ruckartig inne. Du meinst doch nicht … er ist doch nicht etwa …? Doch, sagte Josch. David Beckmann, vor vierzehn Jahren aus München verschwunden und jetzt als Niklas Baumann wieder aufgetaucht, damit ihn nicht gleich alle erkennen. Vor allem Aimée nicht. Er ist … ihr Vater?, fragte Nela entgeistert. Sie ließ die letzten Himbeeren achtlos in die Schüssel fallen. Das gibt’s doch nicht, wieso taucht der ausgerechnet jetzt auf? Hab ich ihn auch gefragt, sagte Josch. Und, was hat er gesagt? Ich habe immer davon geträumt, meine Tochter kennen zu lernen, zitierte Josch. Nela hob die Schultern. Dagegen ist eigentlich nichts einzuwenden, oder? Stimmt, sagte er. Außer wenn er ein Arschloch wäre. Dann könnte ich ihn nämlich einfach rauswerfen. Ah, verstehe! Nela lachte und drückte ihm vier Glasschälchen in die Hand. Dann fragte sie: Warum soll es Aimée eigentlich nicht erfahren? Weil er ein Feigling ist, sagte Josch verächtlich, er hat Angst, dass sie ihn abblitzen lässt. Und wie lange will er diese Show durchhalten? Josch seufzte. Keine Ahnung. 289
Sie kehrten an den Esstisch zurück. Nela musterte David neugierig. Sie suchte nach einer Ähnlichkeit mit Aimée, nach etwas Verwandtem in ihren Gesichtern, ihren Bewegungen, aber Aimées Ähnlichkeit mit Rosanna war übermächtig. Selbst mit dem geschorenen Kopf erinnerte sie so stark an ihre Mutter, dass es schien, als hätte männliches Erbgut bei ihrer Entstehung keinen Anteil gehabt. Aimée spielte David gerade eine Szene aus der Schule vor, David sah ihr fasziniert zu. Josch beobachtete die beiden aus dem Augenwinkel. Das fehlt noch, dachte er, dass Aimée sich in den eigenen Vater verknallt! Nach dem Dessert gehst du aber ins Bett, befahl er streng. Spaßbremse, moserte Aimée, ich bin doch kein Baby mehr! Ich muss auch bald los, kam David ihm zu Hilfe, ich habe morgen einen frühen Termin. Kaufst du das Hotel?, fragte Aimée und strahlte ihn an. Morgen noch nicht, sagte er, aber hoffentlich bald. Du bist echt nett, Niklas, sagte Aimée und küsste ihn zum Abschied wieder auf die Wangen. Du hättest gut zu Rosanna gepasst. Besser als der blöde Constantin. Danke, sagte David. Darf ich dich demnächst mal einladen, ins Konzert oder ins Kino? Klar, sagte Aimée. Mal sehen, sagte Josch gleichzeitig.
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Aimée lag im Bett und betrachtete Fotos, als Josch ins Zimmer kam um ihr eine gute Nacht zu wünschen. Er setzte sich auf den Bettrand. Was sind das für Bilder? Von Niklas. Sie zog die Nachttischschublade auf und wollte die Fotos hineinfallen lassen. Josch nahm sie ihr aus der Hand. Lass doch mal sehen! Es waren Aufnahmen eines Hotels, im Hintergrund Berge, aus einer anderen Perspektive war ein See zu sehen. Auf einigen Fotos war Niklas mit – meist weiblichen – Gästen. Das ist sein Hotel, erklärte Aimée. Eines der Bilder zeigte ein weiteres Gebäude, das nicht zum Hotel zu gehören schien. Für ein Wohnhaus war es zu groß, es wirkte eher wie ein Krankenhaus oder eine Schule. Was ist das?, fragte Josch. Weiß ich nicht, sagte Aimée, irgendein Haus. Niklas ist cool, findest du nicht? Sie wartete seine Antwort nicht ab. Ich könnte mit ihm ins PinkKonzert gehen, wenn er mich einlädt. Die Karten kosten nämlich 50 Euro. Josch holte Luft. Sag mal, findest du es nicht ein bisschen merkwürdig, mit einem fast vierzigjährigen Mann auszugehen? Wieso? Mit dir gehe ich doch auch aus! Ich bin … so was wie dein Vater, das ist was anderes. Du bist ja bloß eifersüchtig, sagte sie.
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Blödsinn, gab er zurück. Du kennst den Mann doch gar nicht. Wer weiß, was er von dir will. Er ist ein Freund von Mama, sagte Aimée und zog eine Grimasse, glaubst du wirklich, der zerrt mich hinter die Büsche? Natürlich nicht. Aber es macht mir Angst, dass du offenbar mit jedem ausgehen würdest, der nett zu dir ist. Ach, lass mich doch in Ruhe, sagte Aimée genervt und drehte sich von ihm weg. Josch stand auf. An der Tür drehte er sich noch mal um. Du solltest dir nicht so viel erwarten, sagte er warnend, es könnte sein, dass er nicht der ist, für den du ihn hältst. Wer ist das schon, sagte Aimée wegwerfend.
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Der
Rohschnitt von Nelas Film war fertig. Nachdem Lydia und Karin ihn gesehen hatten, sprang Lydia auf, umarmte Nela stürmisch und sagte: Du bist ein Genie, Nelly! Der Film ist phantastisch! Jetzt übertreib mal nicht, sagte Nela verlegen. Wir müssen irgendwas damit machen, sagte Lydia und ging auf und ab, während sie überlegte. Eine Presse-Voraufführung, schlug Karin vor. Aber der Film ist doch noch gar nicht ganz fertig, wandte Nela ein. Na, dann machst du ihn eben bald fertig, sagte Lydia. Eine gute Vor-PR ist die halbe Quote! Wenn schon vor der Ausstrahlung alle davon reden, wie toll der Film ist, kann nichts mehr schief gehen. Vielleicht schaffen wir sogar eine Kinoauswertung! Nelas Widerstand schwand. Dass ein Dokumentarfilm ins Kino kam, war so selten, dass viele Filmemacher ein Leben lang vergeblich davon träumten. Wenn es also eine winzige Chance dafür gäbe, dann sollte eben in Gottes Namen eine Voraufführung stattfinden. Also gut, sagte sie, überredet. Dann muss ich sofort Termine machen für die Lichtbestimmung und die Mischung.
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Drei Wochen später saß Nela in einem sich füllenden Kino und sah sich ungläubig um. So viele Leute! Mindestens zweihundert Presseleute, Vertreter von Natur- und Tierschutzorganisationen, Fernsehredakteure und Verleiher waren der Einladung gefolgt. Einige Zuschauer hockten sich, nachdem sie vergeblich einen freien Platz gesucht hatten, auf die Treppenstufen. Es wurde dunkel, ein Spot erhellte die Bühne. Lydia, in einem engen, schwarzen Hosenanzug mit weit ausgeschnittenem Jackett, ein Strasskreuz um den Hals, betrat die Bühne und wurde von freundlichem Beifall begrüßt. Guten Tag, meine Damen und Herren, ich begrüße sie im Namen der Frauen-Film-Firma sehr herzlich zur ersten Vorführung des Films Affenliebe – ein Leben für die Schimpansen. Ich freue mich gemeinsam mit meinen Mitarbeiterinnen über ihr großes Interesse. Dieser Film ist im Wesentlichen zwei Frauen zu verdanken. Die eine ist Cornelia Franke, die darum gekämpft hat, dass er entstehen konnte, die Regie geführt und geschnitten hat. Die andere ist die Frau, von der dieser Film handelt. Sie ist die bekannteste Schimpansenforscherin der Welt, sie kämpft für einen ethischen Umgang der Menschen mit ihren Mitgeschöpfen, für den Schutz der bedrohten Natur, für Werte wie Respekt, Mitgefühl und Liebe. Viele Menschen auf der Welt bewundern Jane Goodall für ihre Lebensleistung, und es war höchste Zeit, dieses Leben zu dokumentieren. Es ist mir nun eine besondere Freude, Ihnen einen Überraschungsgast 294
präsentieren zu können. Liebe Zuschauer, liebe Nelly – sie sah zu Nela hinüber –, sie ist zufällig gerade in Deutschland und heute hier: Herzlich willkommen, Jane Goodall! Applaus brandete auf, aus dem Hintergrund der Bühne kam Jane, bescheiden lächelnd. Sie begrüßte Lydia, nickte ins Publikum, entdeckte Nela und winkte ihr zu. Nelas Herz schlug heftig. Keine Sekunde hatte sie damit gerechnet, dass Jane hier sein könnte. Thank you so much, sagte Jane, I’m very happy to be here today, and I’m really looking forward to seeing the movie. I have no idea how it has turned out, although I had a little part in it. Die Leute lachten, Jane bedankte sich und ging mit Lydia von der Bühne ab. Nela stand auf, Jane umarmte sie. So good to see you, sagte sie herzlich und setzte sich auf den Platz neben ihr. Was für eine tolle Überraschung, sagte Nela. Gut, dass ich es nicht wusste, sonst hätte ich die ganze Nacht nicht geschlafen! I didn’t sleep, sagte Jane. Vor Aufregung?, fragte Nela erschrocken. No, because the hotel was noisy, sagte Jane lächelnd. Wie geht es in Gombe, wollte Nela wissen, wie geht es Lucy? In Gombe, everything’s fine. Lucy is still depressed, but she’s alive.
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Nela dachte an die Affenmutter, die ihr totes Kind an sich presste, an die unendliche Trauer in ihren Augen. Ich hoffe, du magst den Film, sagte sie und lehnte sich schicksalsergeben zurück. Ich hab mein Bestes gegeben. I’m sure, sagte Jane und tätschelte ihr beruhigend die Hand. Die Vorführung rauschte an Nela vorbei. Als der Abspann einsetzte, begannen die Leute begeistert zu klatschen. Jane sah Nela mit Tränen in den Augen an. Thank you so much, Nela. This film is a wonderful gift! Sie umarmte Nela und zog sie von ihrem Sessel hoch, um sich gemeinsam mit ihr zu verbeugen. Als der Beifall verebbt war, kamen Journalisten, stellten Fragen, vereinbarten Termine für Interviews, sagten Liebenswürdiges. Nela schwirrte der Kopf. Nach den Wochen der Einsamkeit im Schneideraum war dieser Trubel fast zu viel für sie. Ihr wurde ein bisschen schwindelig, sie musste sich setzen. Plötzlich entdeckte sie Tom. Er bahnte sich einen Weg durch die Menge und kam direkt auf sie zu. Unsicher lächelte sie ihm entgegen. Glückwunsch, sagte er und setzte sich neben sie. Das hast du wirklich toll gemacht! Mensch, sagte Nela und schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn, du hättest ja wirklich auch auf die Bühne gehört! Wie blöd, dass ich nicht daran gedacht habe! 296
Lass stecken, sagte er grinsend, du weißt ja, ich bin nicht gerade wild auf öffentliche Auftritte. Ich weiß, sagte Nela, aber ohne dich wäre der Film nie so geworden, wie er ist. Sie schwiegen und musterten sich verlegen. Und wie geht’s dir so?, fragte Nela. Ganz gut, und dir? Auch gut, erwiderte sie. Was machst du als Nächstes? Pause, sagte Tom. Es wird kaum gedreht, keiner hat Geld. Ich werde meine Fernschachbeziehung ausbauen und ein bisschen Spanisch lernen. Spanisch? Tom schwieg und grinste viel sagend. Ach, so, sagte Nela, ich verstehe. Na, dann, viel Glück! Danke, sagte Tom. Wie … heißt sie denn? Anya. Nela nickte. Ich bin froh, dass es dir gut geht, ehrlich! Sie griff nach ihrer Handtasche. Ich muss los, sagte sie und stand auf. Wieder fühlte sie ein leichtes Schwindelgefühl. Mach’s gut, Nela, sagte Tom und folgte ihr mit den Blicken, bis sie den Kinosaal verlassen hatte. Schon im Hausflur hörte Nela, dass mal wieder dicke Luft war. In letzter Zeit krachte es häufig zwischen Josch und Aimée.
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Kurz überlegte sie, wieder zu gehen und später zurückzukommen, aber dann drehte sie entschlossen den Schlüssel in der Wohnungstür. So geht das nicht!, hörte sie Joschs Stimme aus Aimées Zimmer. Er muss mich fragen, wenn er mit dir ausgehen will! Du spinnst doch, schrie Aimée, du tickst ja schon aus, wenn sich mir ein männliches Wesen nur nähert! Kannst mich ja fesseln und in der Wohnung einsperren! Gute Idee, gab Josch zurück. Dann kannst du wenigstens nicht mit jedem dahergelaufenen Kerl herumziehen! Er kam auf den Flur gestürmt und rannte in die Küche, ohne Nela zu bemerken. Aimées Zimmertür flog zu, innen wütete sie weiter; man hörte Schranktüren und Schubfächer aufund zuknallen, dazu lief ohrenbetäubend laut Pinks Family Portrait, ein Song, in dem ein Mädchen ihr zerrüttetes Zuhause besingt. Nela folgte Josch in die Küche. Er saß am Tisch und blickte finster. Sie legte ihm die Hände auf die Schultern und massierte seine verspannten Muskeln. Hör mal, sagte sie schließlich, David ist nicht irgendein dahergelaufener Kerl, er ist ihr Vater. Aber sie weiß es nicht, konterte Josch prompt. Für sie ist er ein Freund ihrer Mutter, ein alter Sack, der aus unerfindlichen Gründen Interesse an ihr hat, und aus ebenso unerfindlichen Gründen gefällt ihr das.
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Du benimmst dich wie ein eifersüchtiger Liebhaber, sagte Nela, findest du das nicht selbst ein bisschen albern? Er fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar und seufzte. Du hast ja Recht. Ich habe einfach Angst, sie zu verlieren. Dann sag ihr, wer er ist! Das kann ich nicht, sagte Josch. Das muss er machen. Die Tür flog auf, Aimée stand mit einer Reistasche da. Ich gehe, verkündete sie. Und wohin?, fragte Josch. Zu Nonno und Nonna. Ausgerechnet, höhnte er, da bist du doch in spätestens zwei Tagen wieder zurück! Das wirst du dann schon sehen, sagte Aimée mit blitzenden Augen. Außerdem geht es nicht, sagte Josch, der Richter hat entschieden, dass du bei uns lebst. Ich will aber nicht, rief Aimée. Nicht mit einem Psychopathen wir dir! So, jetzt reicht’s. Josch sprang auf und entriss Aimée die Tasche. Du verschwindest in dein Zimmer und kommst erst wieder raus, wenn du vernünftig geworden bist, verstanden?, brüllte er. So vernünftig wie du, ja?, höhnte sie. Außerdem kannst du mir gar nichts befehlen, du bist nicht mein Vater! Es klingelte, Nela und Josch tauschten einen schnellen Blick. Aimée nutzte die Chance, 299
schnappte sich ihre Tasche und rannte Richtung Wohnungstür. Du bleibst hier!, brüllte Josch und rannte ihr nach. An der Tür stießen sie zusammen und fielen zu Boden, Aimée schrie auf, Josch wollte ihr aufhelfen und packte sie am Handgelenk. Lass mich los!, brüllte sie aus Leibeskräften. Du tust mir weh! Erschrocken ließ er los. Aber ich hab doch gar nichts gemacht! Hilfe!, schrie Aimée weiter. Jetzt hör schon auf mit dem Theater, rief Nela. Es klingelte Sturm, sie lief zum Fenster. Unten wartete ein Taxi, der Fahrer stand an der Tür und hielt die Klingel gedrückt. Sie rief: Wir brauchen kein Taxi, hat sich erledigt! Der Mann ballte die Faust und zog fluchend ab. Es klingelte wieder. Endlich hörte Aimée auf zu schreien, Josch öffnete die Tür. Die Nachbarin, eine verhärmte, ältere Dame, steckte ängstlich den Kopf hinein. Was ist denn hier los? Brauchen Sie Hilfe? Nein, vielen Dank, alles in Ordnung, sagte Josch lächelnd, schob sie sanft hinaus und schloss die Tür. Aimée sah ihn hasserfüllt an. Du bist so ein Arschloch! Josch erhob die Hand und gab ihr eine schallende Ohrfeige.
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Fassungslos starrte sie ihn an, brach in Tränen aus und warf sich schluchzend auf den Fußboden. Nela sah, wie Joschs Gesichtszüge entgleisten. Schnell packte sie ihn am Arm und zog ihn ins Schlafzimmer. Wie in Trance setzte er sich aufs Bett und vergrub das Gesicht in den Händen. O nein, murmelte er dumpf, warum habe ich das getan? Sie wird es überleben, sagte Nela. Sie wollte den Eklat, nun hat sie ihn. Das verzeihe ich mir nie, sagte Josch und krümmte sich auf dem Bett zusammen. Zum Abendessen kam Aimée in die Küche und tat, als wäre nichts gewesen. Kriege ich nichts? Klar, sagte Nela. Ich habe aber kein Gedeck. Na, dann hol dir eines. Aimée nahm sich Teller und Gabel und lud sich Spaghetti auf, die sie wortlos in sich hineinstopfte. Nela und Josch tauschten Blicke. Josch unterbrach das Schweigen. Er legte die Gabel hin und sagte: Übrigens, es tut mir leid. Aimée sah auf. Was denn?, fragte sie mit vollem Mund. Du weißt schon. Die Ohrfeige. Sie winkte ab. Ist schon okay. Nein, ist nicht okay, sagte Josch. Ich habe mir vorgenommen, dich niemals zu schlagen. Es ist schlimm für mich, dass ich es nicht geschafft habe. Dein Pech, sagte Aimée ungerührt. 301
Sieht so aus, bestätigte Josch. Sie aß weiter. Als sie fertig war, stellte sie ihren Teller in die Spülmaschine und drehte sich zu Nela. Danke, hat gut geschmeckt!, sagte sie und ging aus der Küche. Sieh mal an, sagte Nela verblüfft. Josch verzog das Gesicht. Jetzt hat sie sich also auf mich eingeschossen. Nela grinste. Na, dann viel Spaß! Weißt du, im Grunde ist es doch ein gutes Zeichen. Wenn sie sich traut, so unverschämt zu sein, fühlt sie sich deiner Liebe sehr sicher. Josch sah sie zweifelnd an. Am nächsten Tag kam Aimée nicht von der Schule nach Hause. Nela ging in die Küche und suchte am Zettelbrett, ob es irgendeine Mitteilung der Schule gäbe, dass der Unterricht an diesem Tag länger dauerte, dass eine außerplanmäßige Chorprobe stattfände oder ein Ausflug, aber sie fand nichts. Sie rief Josch in der Kanzlei an. Weißt du, wo Aimée steckt? Bei Lisa, nehme ich an. Und wieso nimmst du das an? Weil sie es mir heute Morgen gesagt hat. Na, dann wird es ja stimmen, sagte sie. Ist irgendwas nicht in Ordnung? Josch klang beunruhigt. Nein, alles bestens. Sie legte auf. Bei Lisa. Immer bei Lisa. Wer sagte eigentlich, dass das stimmte? Kurz spielte sie mit 302
dem Gedanken, bei Lisa anzurufen, aber dann ließ sie es doch. Aimée hinterherzuspionieren war ebenso riskant, wie ihr Tagebuch zu lesen. Sie könnte dabei etwas erfahren, was sie lieber nicht wissen wollte. Kurz vor acht kam Aimée nach Hause. Wo warst du denn so lange?, fragte Nela. Unschuldsblick. Bei Lisa, habe ich Josch doch gesagt. Josch schon, sagte Nela, aber mir nicht. Außerdem glaube ich dir nicht. Du warst mit Da… mit Niklas zusammen, stimmt’s? Wenn du meinst, sagte Aimée mit viel sagendem Lächeln und entschwand in ihr Zimmer. Nach seiner Rückkehr wollte Josch Aimée ins Gebet nehmen, aber Nela hielt ihn zurück. Das ist genau das, was sie will, sagte sie, tu ihr doch den Gefallen nicht! Dann rufe ich eben David an, sagte er und griff nach dem Telefon. Natürlich war ich mit Aimée zusammen, sagte David, hat sie euch das nicht gesagt? Nein, sagte Josch, sie hat behauptet, sie wäre bei einer Freundin. Komisch, warum macht sie so ein Geheimnis daraus? Ich habe jedenfalls nichts zu verbergen. Wieder hatte Josch das Gefühl, der Wind wäre ihm aus den Segeln genommen. Er konnte diesem Kerl einfach keinen Fehler nachweisen, so sehr er es sich wünschte. Er hasste das Gefühl, in all den Jahren gegen einen Schatten geboxt zu haben. 303
Hatte nicht er Rosanna durch seine Liebe gerettet? Hatte nicht er Davids Tochter aufgezogen? Und dann kam dieser Kerl, nahm sich zuerst Rosanna wieder und wollte nun auch noch Aimée. Du musst ihr endlich die Wahrheit sagen, forderte er David auf, und dann musst du mit den Konsequenzen leben, egal, wie sie aussehen. Am anderen Ende der Leitung blieb es still. Hast du gehört? Ja, sagte David, du hast Recht. Aber du musst mir dabei helfen. Warum muss ich dir helfen, dachte Josch wütend. Laut sagte er: Okay, lass uns am Sonntag gemeinsam aufs Land fahren, da wird sich schon eine Gelegenheit bieten. Und du hilfst mir?, vergewisserte sich David. Natürlich, sagte Josch. David lachte verlegen auf. Danke, Josch, sagte er. Danke für alles.
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Aimée war nicht begeistert, als sie von der geplanten Landpartie erfuhr. Mit genervtem Gesichtsausdruck teilte sie Josch mit, sie hätte für den Sonntag andere Pläne. Erst als Josch erwähnte, dass Niklas mitkommen würde, hellte sich ihre Miene auf Gleich darauf sagte sie: Ach so, jetzt kapier ich! Ich soll Niklas nur noch unter Aufsicht treffen, mit dir als Anstandswauwau. Nee, dazu habe ich keinen Bock. Josch musste sich schwer beherrschen. Dann bleibst du eben zu Hause, knirschte er, und zwar mit Hausarrest. Keine Besuche, kein Ausgang. Zzz, zzz, was ist nur mit dir los?, fragte Aimée herablassend, so kenne ich dich gar nicht. Du wirst mich noch kennen lernen, murmelte er und ging aus dem Zimmer. Als Nela, David und Josch gerade aufbrechen wollten, kam Aimée fertig angezogen aus ihrem Zimmer geschlendert. Hallo, Niklas, grüßte sie fröhlich und küsste ihn. Josch spürte Davids Befangenheit und konnte eine gewisse Schadenfreude nicht unterdrücken.
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Geiler Schlitten, sagte Aimée bewundernd, als sie in Davids geliehenes BMW-Cabrio einstieg. So einen hätte ich später auch gern. Deine Abneigung gegen Geld steht in merkwürdigem Widerspruch zu deinen Wünschen, stellte Josch spöttisch fest. Vielleicht kann man ja reich und glücklich werden, sagte Aimée unbekümmert. Wo soll’s hingehen?, fragte David und startete den Motor. Zum Kochelsee, rief Aimée, ich will Minigolf spielen! Nach einer knappen Stunde parkte David den Wagen neben einer Minigolf-Anlage, die aussah wie aus einem Fünfziger-Jahre-Heimatfilm. In einem putzigen, blumenbewachsenen Holzhäuschen kassierte eine alte Dame den Eintritt, während ihr Mann sorgfältig einen Schläger nach dem anderen aus einer Truhe holte und den Spielern aushändigte. Dazu erhielten sie zwei Bälle und einen kleinen Block zum Notieren der Ergebnisse. Ich will mit dir spielen, Niklas!, rief Aimée. Ich würde auch gern mit Niklas spielen, sagte Nela, spiel du doch mit Josch. Die Teams gingen an den Start, mit zwei Schlägen hatte Josch seinen ersten Ball im Loch. Anfängerglück, neckte ihn David. Selber Anfänger, gab Josch zurück. Nela schoss den Ball aus der Bahn; danach brauchte sie sechs Schläge zum Einlochen. Du zeigst einen bedenklichen Mangel an Ehrgeiz, stellte Josch grinsend fest. 306
Ich setze nur Prioritäten, gab Nela zurück. Ein Sieg beim Minigolf verändert nicht mein Leben. Falsch, mischte sich David ein. Man muss immer alles geben, egal ob beim Minigolf, in der Liebe oder im Krieg. Redet nicht so viel, befahl Aimée, spielt lieber weiter. Drei, sagte David zu Aimée, die den Punktestand notierte. Stimmt nicht, widersprach Josch, du hast vier Schläge gebraucht. David beharrte darauf, dass es drei gewesen seien. Die beiden Männer standen einander gegenüber, und plötzlich war Joschs Feindseligkeit fast mit Händen zu greifen. Beim Bescheißen bist du kein Anfänger, was?, fragte er. Das war kein Beschiss, sagte David. Nenn es, wie du willst, ich hab keine Lust mehr, sagte Josch und drehte sich weg. Ihr seid blöd!, rief Aimée und schleuderte ihren Schläger auf den Rasen. Aimée hat Recht, schaltete Nela sich ein, ihr benehmt euch wie die kleinen Kinder. Josch blieb einen Moment mit dem Rücken zu ihnen stehen und ballte die Fäuste. Dann siegte seine Selbstbeherrschung; er drehte sich um und sagte: Also, schön, vielleicht habe ich mich auch verzählt. Lasst uns weiterspielen. In einem Restaurant direkt am See aßen sie zu Mittag, danach schlug Josch einen Spaziergang am 307
Ufer vor. Er warf David einen auffordernden Blick zu, der verstand die Botschaft und ging mit Aimée ein Stück voraus. Nach einer Weile steuerte Nela eine Bank an. Mir ist nicht gut, können wir uns kurz hinsetzen? Was ist mit dir?, fragte Josch besorgt. Wahrscheinlich zu viel gegessen, sagte sie und legte eine Hand auf ihren Bauch. Sie beobachteten David und Aimée, die in einiger Entfernung gingen und angeregt miteinander sprachen. Was glaubst du, wie sie’s aufnehmen wird?, fragte Nela. Er schüttelte den Kopf. Keine Ahnung. Sie nahm seine Hand und drückte sie. Schon komisch, sagte sie nachdenklich, sogar ich empfinde David als Eindringling, der uns was wegnehmen will. Irgendwie habe ich Aimée innerlich adoptiert, obwohl ich sie immer noch jeden Tag zum Teufel wünsche. Aimée und David waren stehen geblieben. Aimée hörte zu, plötzlich schüttelte sie heftig den Kopf und rannte los, weg vom See. David machte eine hilflose Bewegung, rief ihren Namen, lief ihr ein paar Schritte nach und blieb dann stehen. Du Versager!, knurrte Josch, sprang von der Bank auf und folgte Aimée, so schnell er konnte. Bei einem Schuppen holte er sie ein und hielt sie an der Jacke fest. Warte, bleib stehen!
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Hau ab!, schrie sie und versuchte, sich loszureißen. Als es ihr nicht gelang, schlüpfte sie aus der Jacke und entkam. Ihr habt mich alle verarscht, schrie sie über die Schulter, das verzeih ich dir nie! Josch, die Jacke in der Hand, nahm die Verfolgung wieder auf. Endlich, in der Nähe eines Bauernhofs, konnte er sie stoppen. Sie sank auf einen Baumstamm und rang nach Luft. Nach einer Weile legt er eine Hand auf ihre Schulter. Komm, lass uns in Ruhe reden. Ich kann verstehen, dass du sauer bist, aber keiner von uns wollte dich verarschen. David hatte Angst, er wollte dir die Chance geben, ihn besser kennen zu lernen. Und wir fanden, es ist seine Sache, es dir zu sagen. Aimée antwortete nicht. Josch erläuterte ihr Davids Beweggründe, verteidigte sein eigenes und Nelas Verhalten, warb mit jedem Satz um ihr Verständnis – und war doch insgeheim auf ihrer Seite. Es machte ihn wütend, für David sprechen zu müssen, wünschte er doch nichts mehr, als dass dieser unselige Störenfried wieder aus ihrem Leben verschwände. Aimée saß stumm und verstockt da und gab ihm das Gefühl, gegen eine Wand zu reden. Komm, sagte er, gehen wir zurück. Du kannst ja nicht ewig hier sitzen bleiben. Sie schüttelte den Kopf. Na, dann mach, was du willst Er entfernte sich, Aimée blieb sitzen. Auf halber Strecke kehrte er um und ging zurück. Also was ist, willst du nach Hause laufen? Als sie ihn weiter ignorierte, packte ihn der Zorn. 309
Weißt du, was, sagte er, mir reicht’s. Ich hab dir nichts getan, und wenn du sauer auf David bist, dann klär das mit ihm. Ich fahre mit dem Zug zurück. Soll doch dein Vater sich mit dir rumschlagen! Aimée blickte überrascht auf. Er setzte sich in Bewegung, widerwillig erhob sie sich und trottete hinter ihm her. David hatte sich neben Nela auf die Bank gesetzt. Ich hab’s verpatzt, sagte er niedergeschlagen. So was braucht Zeit, sagte Nela. Aimée hat ihr Leben lang gedacht, ihr Vater will nichts von ihr wissen. Und jetzt tauchst du auf und sagst: Hallo, hier bin ich. Mal ehrlich, wie würdest du reagieren? David ließ einen Kiesel von einer Hand in die andere wandern und schwieg. Nela musterte ihn spöttisch. Weißt du, ich glaube, du stellst dir das alles ein bisschen zu einfach vor. Das Leben mit einem vierzehnjährigen Mädchen ist ganz schön anstrengend. Ich mache diesen Stiefmutterjob ja noch nicht lange, aber eines habe ich schon begriffen: Es geht nie um dich, es geht immer nur um das Kind. Da kommen sie, sagte er und deutete auf Josch und Aimée, die sich im Abstand von einigen Metern näherten. Okay, sagte Josch munter, als er sie erreicht hatte. Wir haben über alles gesprochen. Aimée braucht ein bisschen Zeit. Und im Moment hat sie keine Lust, mit irgendeinem von uns zu reden.
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Schweigend gingen sie zum Auto; David warf seiner Tochter fragende Blicke zu, die sie ignorierte. Als sie zu Hause angekommen waren, stieg sie wortlos aus. Aimée!, rief er ihr nach, aber sie ging, ohne sich umzusehen, hinein. Mission erfüllt, sagte Josch, der Rest ist deine Sache. Danke, sagte David niedergeschlagen. Wenig später verließ Aimée unbemerkt wieder das Haus. Sie hatte einen Rucksack geschultert und ging zügig die Straße entlang, bestieg eine U-Bahn und fuhr fünf Stationen. Dann lief sie zu Fuß weiter, bis sie den Friedhof erreicht hatte. Langsam wanderte sie die Gräberreihen entlang und las im Vorbeigehen die Namen und Jahreszahlen. Wie unter Zwang errechnete sie bei jedem Namen, wie alt der Verstorbene geworden war. Die meisten Leute auf diesem Friedhof waren alt geworden. Rosanna nicht. Wenn ich jetzt sterben würde, dachte Aimée, wäre ich nicht mal halb so alt. Gibt es ein gutes Alter zum Sterben? Die meisten Menschen wollen so spät wie möglich sterben, aber vielleicht ist es nicht schlecht, mitten aus dem Leben gerissen zu werden, wenn man ans Sterben noch gar nicht denkt. Schlimm ist es doch sowieso nur für die, die zurückbleiben. Sie hatte Rosannas Grab erreicht. Im Schneidersitz ließ sie sich davor nieder. Sie betrachtete die Dahlien und Astern, die Clara 311
gepflanzt hatte und die mehr und mehr vom Efeu überrankt wurden. Eines Tages, wenn Nonno und Nonna auch tot wären, würde der Efeu alles zuwuchern, sich am Grabstein hochranken und die blöden, kitschigen Engel erwürgen, bis nichts mehr zu sehen wäre, was an Rosanna Cardello erinnerte. Vielleicht können die Toten sowieso erst endgültig zur Ruhe kommen, wenn keiner mehr an sie denkt. Wenn Aimée versuchte, sich an das Gesicht ihrer Mutter zu erinnern, fiel es ihr jetzt schon manchmal schwer, das Bild festzuhalten. Für einen Moment sah sie es ganz klar vor sich, dann zerfiel es und war schließlich weg. Aber sie konnte, wenn sie sich konzentrierte, noch immer ihren Duft riechen, ihre Bewegungen sehen, ihre Stimme hören. Sie hatte ihre ganz bestimmte Art im Ohr, sich zu räuspern, und den matten Blick ihrer Augen, wenn es ihr schlecht ging. Manchmal glaubte sie, die Hand ihrer Mutter an ihrer Wange zu spüren oder ihren Kuss auf der Stirn. Aber sie fühlte, dass der Schmerz kleiner wurde. Fast unmerklich, aber doch unaufhaltsam. Aimée seufzte. Wenn sie sich ihrer Mutter nahe fühlte, hielt sie die Trauer fast nicht aus. Wenn aber der Schmerz nachließ, entfernte sie sich immer mehr von ihr. Wie konnte sie es bloß schaffen, mit Rosannas Tod fertig zu werden, ohne sie endgültig zu verlieren? Sie schämte sich, dass es schon halbe Tage gab, an denen sie nicht an ihre Mutter dachte. Dass sie schon wieder lachen und Blödsinn machen konnte.
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Dass sie sich verliebt hatte, sich eine Zukunft vorstellen konnte. Eine Zukunft ohne Rosanna. Warum war David gerade jetzt aufgetaucht? Ob sie ihn geschickt hatte? Jetzt ist er mal dran, hörte sie ihre Mutter sagen und musste lächeln. Ja, genauso hätte sie es gesagt. Warum hast du mir nie von ihm erzählt, Mama? Wenigstens seinen Namen hättest du mir sagen können und irgendwas Nettes über ihn, an dem ich mich hätte festhalten können. Ich habe ihn mir total anders vorgestellt, und sicher werde ich mich nie daran gewöhnen, dass er nicht so ist wie in meiner Vorstellung. Aber liebt man seinen Vater nicht automatisch? Hätte ich ihn nicht gleich erkennen müssen, hätte merken müssen, wer er ist! Auf dem einen Foto, das David mir gezeigt hat, als er noch Niklas hieß, war eine Schule. Er hat gesagt: Wenn ich Kinder hätte, würden sie dort hingehen. Aber er hat ja ein Kind. Mich. Ob er will, dass ich zu ihm komme und bei ihm lebe? Wahrscheinlich sollte ich mich freuen, seit heute habe ich immerhin zwei Väter. Aber ich freue mich nicht. David ist David, und Josch ist Josch, und keiner von ihnen ist ein richtiger Vater. Ein richtiger Vater ist von Anfang an da und geht nicht weg oder taucht erst auf, wenn das Kind drei Jahre alt ist oder vierzehn. Und eine richtige Mutter stirbt nicht einfach und lässt ihr Kind allein zurück. Aimée konnte nichts tun gegen den Zorn, den sie mit einem Mal empfand. 313
Schließlich war Rosanna an allem schuld, sie hatte dieses ganze Chaos angerichtet. Und dann war sie einfach gestorben, genau so, wie sie gelebt hatte: ohne Rücksicht auf andere. Aimée merkte, dass ihr Tränen übers Gesicht liefen, sie wischte sich mit einer Hand über die Augen. Dann holte sie ihren Stoffhasen aus dem Rucksack und presste ihn an sich. Schau, Mama, sagte sie, den hab ich dir mitgebracht. Ich brauch ihn nicht mehr, ich bin jetzt zu groß für ein Kuscheltier. Sie kniete sich auf das Grab und schaufelte mit den Händen ein Loch, tief genug, um den Hasen einzugraben. Dann stand sie auf und wischte sich die Hände an der Hose ab. Jetzt bist du nicht mehr allein, sagte sie.
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Als
Josch eines Abends nach Hause kam, fand er Aimée weinend in ihrem Zimmer. Was ist mit dir?, fragte er erschrocken. Sie reichte ihm einen Brief. David schrieb, wie leid ihm alles tue, wie sehr er seit ihrem Gespräch am See gehofft habe, Aimée würde sich melden, und wie dringend er sich ein Wiedersehen mit ihr wünsche. Sie habe doch bald Herbstferien, ob er sie für ein paar Tage nach Zürich einladen dürfe? Josch sah auf. Das ist doch unheimlich nett von ihm, sagte er, was gibt’s da zu heulen? Aimée weinte noch heftiger. Hör mal, wenn du nicht fahren willst, dann fährst du eben nicht! Dann ist David traurig, schluchzte sie. Na, dann fahr doch für ein paar Tage hin! Dann bist du sauer! Josch holte tief Luft und legte ihr eine Hand auf den Kopf. Bin ich nicht, sagte er sanft. Schließlich … ist er dein Vater. Aimée wandte ihm ihr verheultes Gesicht zu. Er war auch schon mein Vater, als du ihn einen dahergelaufenen Kerl genannt hast, erinnerte sie ihn. 315
Josch senkte den Kopf. Stimmt, das war blöd von mir. Du kannst natürlich jederzeit zu ihm fahren. Ich finde sogar, du solltest seine Einladung unbedingt annehmen, ihr müsst euch doch endlich mal richtig kennen lernen. Du willst mich ja nur loshaben!, kreischte Aimée auf. Josch lachte und zog sie in seine Arme. Genau! Deshalb habe ich auch den ganzen Aufwand vor Gericht betrieben und sogar meine Ehe mit Nela aufs Spiel gesetzt. In Wirklichkeit wollt ihr mich doch gar nicht, sagte Aimée schniefend. Du hast nicht gewusst, wohin mit mir, und Nela hat nur dir zuliebe nachgegeben. Josch stand abrupt auf. Du bist ganz schön unfair, sagte er und verließ das Zimmer. Als Aimée aus dem Zug stieg, wartete David mit einer Rose in der Hand und trat nervös von einem Fuß auf den anderen. Er trug einen Anzug und einen Mantel, die sehr teuer aussahen, sein Haar lag akkurat, der Schnurrbart war frisch gestutzt. Er wirkt wie jemand, der auf eine Frau wartet, schoss es Aimée durch den Kopf. Zögernd ging sie auf ihn zu und küsste ihn rechts und links auf die Wangen. David umarmte sie stürmisch und hielt sie so fest an sich gepresst, dass sie einen Moment keine Luft bekam. Dann ließ er sie los und reichte ihr die Rose. Willkommen in Zürich, willkommen bei deinem Vater!, sagte er, ein wenig atemlos vor Aufregung. 316
Sie nahm die Blume und sah verlegen zur Seite. Was sollte sie bloß sagen? Vielleicht sollte sie sich für ihr Verhalten am See entschuldigen. Aber das schaffte sie nicht, und so lächelte sie nur schüchtern. Sie verließen die Bahnhofshalle und stiegen in sein Auto, ein rotes Alfa-Cabriolet, dessen Dach wegen der herbstlichen Witterung geschlossen war. Gefällt dir der Wagen?, wollte David wissen. Ja, toll, sagte Aimée. Was ist dein Lieblingsauto? BMW? Ähm … also, ich mag alle Cabrios, aber am schönsten finde ich den Jaguar. Da musst du aber mal einen reichen Mann heiraten!, sagte er und lachte. Aimée sah ihn von der Seite an. Was hatte der denn für komische Vorstellungen. So ein Auto kauf ich mir dann schon selbst, sagte sie. Davids Wohnung hatte vier sehr große und ein kleineres Zimmer und einen Blick über den Zürichsee. Die Einrichtung erinnerte Aimée an amerikanische Serien, alles war weiß und golden, und die Möbel waren komisch verschnörkelt. Es gab eine Küchenbar mit einer Marmorplatte, an den Wänden hingen weiß-golden gerahmte Bilder von Früchten und Blumen. Der Teppich im Wohnzimmer war ganz dick und flauschig, der gläserne Couchtisch hatte goldene Füße und einen goldenen Rand.
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Wahnsinn, sagte Aimée beeindruckt, aber ist die Wohnung nicht viel zu groß für dich? Ja, ein bisschen groß ist sie schon, gab er zu. Und aufgeräumt und sauber ist es hier, staunte sie, putzt du das alles selber? Er lachte. Ich habe eine Putzfrau, die einmal in der Woche kommt. Eine Person macht ja nicht so viel Dreck. Sieh dich ruhig um, forderte er sie auf, dein Zimmer ist da hinten, am Ende des Flurs. Aimée wanderte durch die Wohnung und sah sich alles an. Davids Schlafzimmer war riesig, sein Bett – weiß und golden lackiert – hatte mindestens vier Quadratmeter. Über dem Bett hing ein Landschaftsbild von der Art, die Rosanna verächtlich Kaufhauskunst genannt hatte. Zwei der Wände waren komplett mit Schrankwänden zugebaut, als Aimée eine der Schiebetüren aufzog, blickte sie auf eine Reihe ordentlich aufgehängter Anzüge und Hemden. Der andere Schrank war bis auf ein paar Schuhschachteln und eine Reisetasche leer. Auch im Bad gab es eine Menge Gold: Wasserhähne, Duscharmaturen, Spiegel, sogar der Spülknopf vom Klo. Die Fliesen waren weiß und schimmerten wie Perlmutt. Alles war unglaublich gepflegt, Aimée stellte sich vor, dass es in teuren Hotels so aussehen musste, wo ständig ein Zimmermädchen herumwischte. Sie zog ein paar Schubladen auf, in einer waren ein Fläschchen Nagellack, eine Dose Gesichtscreme und ein muschelförmiges Schmuckdöschen.
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Als sie ihren Rundgang beendet hatte und in die Küche zurückgekehrt war, reichte David ihr ein Glas mit einem Strohhalm. Karibik Feeling, sagte er, das Rezept ist von unserem Barmann im Hotel. Aimée kostete; der Cocktail schmeckte so ähnlich wie der von Ruben, war aber ohne Alkohol. Hast du eigentlich eine Frau?, fragte Aimée. David schluckte. Wieso fragst du? Die Wohnung sieht so aus, als würde eine Frau drin wohnen. Hier hat eine Frau gewohnt, sagte David. Meine Frau. Sie ist vor einem Jahr ausgezogen. Aimée nickte. Nach einer Weile fragte sie: Bist du noch traurig? Ich bin nicht gern allein, sagte er. Die Wohnung ist ja wirklich für einen viel zu groß. Sie dachte nach. Hast du dich deshalb bei Rosanna gemeldet? Weil du gedacht hast, sie könnte wieder deine Frau werden? David lachte verlegen auf. Na ja, ganz so war es nicht. Aimée sah sich noch mal um. Sie versuchte, sich ihre Mutter in dieser Umgebung vorzustellen. Unmöglich. Rosanna hätte diese Wohnung ungefähr so geschmackvoll gefunden wie ihren Grabstein mit den Engelsköpfen. Aber vielleicht war es ja nicht Davids Geschmack, sondern der seiner Frau. Wie sie wohl war? Ob sie Ähnlichkeit mit Rosanna hatte? Lisa hatte neulich gesagt: Manche Männer haben ihr Leben lang Frauen, die total 319
gleich aussehen. Dieser Beckenbauer zum Beispiel, der aus der O₂-Werbung, bei dem sieht jede Frau aus, als wäre sie die jüngere Schwester der vorigen. Was Josch anging, traf das nicht zu, es gab wohl kaum zwei unterschiedlichere Frauentypen als Rosanna und Nela. Wie sieht deine Frau aus?, fragte Aimée. David machte eine abwehrende Handbewegung. Ich will nicht über sie sprechen, sagte er. Tut mir leid, erwiderte Aimée achselzuckend, ich wollte nur wissen, ob sie so ähnlich wie Rosanna ist. Deine Mutter war viel schöner, sagte David, aber mit ihr zu leben war unmöglich. Ich war damals in der Ausbildung, ich musste jeden Tag zwölf Stunden arbeiten, und Rosanna hat bis spät in die Nacht gefeiert. Wenn ich gegangen bin, weil ich müde war, wurde sie wütend und hat mich als Langweiler beschimpft. Bist du deshalb abgehauen?, wollte Aimée wissen. Ich bin nicht abgehauen, sagte David. Sie hat mich rausgeschmissen und überall herumerzählt, ich hätte sie schlecht behandelt. Als du … auf die Welt gekommen bist, bin ich ins Krankenhaus gegangen, um dich zu sehen. Sie hat so gezetert, dass die Schwestern dachten, ich wollte dir was antun. Ich habe ihr jahrelang Briefe geschrieben, sie hat keinen beantwortet. Irgendwann habe ich es aufgegeben.
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Aimée war fassunsglos. Sie dachte lange nach, schließlich sagte sie fast flehend: Aber sie kann doch nicht nur gelogen haben? Sie hat nicht gelogen, sagte David, ich glaube, sie hat es wirklich so empfunden. Deine Mutter war wunderbar und faszinierend, sagte er, aber sie war auch eine kranke Frau. Aimée wandte ruckartig den Kopf ab. Ich will auch nicht über sie sprechen. Ist gut, sagte David, ich habe nur deine Fragen beantwortet. Aimée griff nach der Fernbedienung. Kann ich?, fragte sie, und er nickte. Sie suchte eine Weile herum, dann blieb sie bei Verliebt in Berlin hängen. Was möchtest du essen?, fragte David, als die Sendung vorbei war. Am liebsten chinesisch!, sagte Aimée mit leuchtenden Augen. David sah enttäuscht aus. Chinesisch? Ich wollte dich in die Kronenhalle ausführen, das ist das beste Restaurant in Zürich. Du bist lieb, sagte Aimée, dann gehen wir eben dahin. Aufmerksam studierte Aimée die Speisekarte, ihre Augen weiteten sich. Vierzig Franken für ein Hauptgericht, sagte sie entsetzt, davon könnten wir fünfmal chinesisch essen! Ja, es ist teuer, sagte David, aber hier kommen alle wichtigen Leute her, Filmschauspieler, Politiker, Showstars. Da drüben hat mal Boris 321
Becker gesessen, mit seiner persischen Freundin, wie hieß sie noch? Aimée zuckte die Achseln. Neugierig sah sie sich um, konnte aber niemanden entdecken, den sie kannte. Dafür bemerkte sie zahlreiche Bilder in allen Größen, die über- und untereinander an den Wänden hingen. David folgte ihrem Blick. Das sind Bilder von bedeutenden Künstlern, erklärte er, damit haben sie früher ihr Essen bezahlt. Aber ein Bild kostet doch viel mehr als ein Essen, wandte Aimée ein, da hat der Wirt die Maler ganz schön betrogen! Die waren damals noch unbekannt, und ihre Bilder kaum was wert. Der Wirt hat die richtige Nase bewiesen, die meisten der Künstler sind später berühmt geworden. Aimée klappte die Karte zu, David bestellte. Er sah seine Tochter liebevoll an und sagte: Ich freue mich so, dass du gekommen bist! Aimée fand das Kalbsgeschnetzelte mit Rösti gut, aber der Preis erschien ihr immer noch reichlich übertrieben. Nie würde Josch so viel Geld für ein Abendessen ausgeben, nur weil am Nebentisch mal Boris Becker gesessen hatte. Nela starrte auf den Kunststoffstab in ihrer Hand, auf dem innerhalb weniger Sekunden ein zarter, blauer Strich erschien, der immer dunkler wurde. Sie kniff die Augen zusammen und machte sie wieder auf, sie drehte den Stab hin und wieder zurück – der Strich blieb.
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Sie warf das Testset in den Abfalleimer und sagte laut und deutlich: Scheiße. Dann sank sie auf den Badewannenrand und versuchte, die Fassung wiederzugewinnen. Sie sah auf die Uhr. In einer Stunde hatte sie einen Termin bei einer großen Verleihfirma, die sich um die Kinoauswertung von Affenliebe bemühte. Sie musste sich zusammennehmen. Heulen konnte sie später. Eine leichte Übelkeit stieg in ihr hoch, sie zog eine Schublade mit Medikamenten auf und kramte nach einem Mittel gegen Reisekrankheit. Eine Tablette schluckte sie, die restliche Packung steckte sie ein. In der U-Bahn kämpfte sie abwechselnd gegen die Übelkeit und die Tränen, am liebsten hätte sie sich auf der Sitzbank zusammengerollt und wäre bis zur Endstation weitergefahren. Aber dann stieg sie aus, betrat das Gebäude der Verleihfirma, begrüßte Lydia, Karin und die Herren vom Verleih, stand die Besprechung durch, ohne sich auf den Konferenztisch zu übergeben, und schaffte einen unauffälligen Abgang. Der Verleih hatte den Film tatsächlich gekauft. Affenliebe würde vor der TV-Ausstrahlung in sechs Ländern ins Kino kommen. In jedem Land würde es eine festliche Premiere geben, zu der sie und Jane eingeflogen würden. Überall waren mehrtätige Pressereisen geplant. Und der Film war für das Festival in Cannes angemeldet.
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Keine dieser sensationellen Neuigkeiten war richtig in Nelas Bewusstsein gedrungen. Sie fühlte sich wie unter Wasser. In Gedanken versunken ging sie den breiten Gehweg der teuren Einkaufsstraße entlang, vorbei an Geschäftsleuten auf dem Weg zur Mittagspause, bummelnden Paaren, Gruppen von Rucksacktouristen, alten Damen mit gepflegten Frisuren und großen Einkaufstüten. Nichts davon drang in ihr Bewusstsein, so sehr war sie mit dem Chaos in ihrem Inneren beschäftigt. Wie war das passiert? Sie hatte doch einen regelmäßigen Zyklus und wusste, wann es gefährlich war. Dann nahm Josch Kondome, und bisher war es immer gut gegangen. Warum diesmal nicht? Vielleicht hatte sie sich verrechnet. Oder ihr Zyklus war nach der Reise durcheinander geraten. Oder …? Tom!, dachte sie entsetzt. Auch das noch. Sie würde nicht einmal wissen, von wem das Kind war, das sie nicht kriegen wollte. Nela nahm ihr Handy aus der Tasche und wählte eine Nummer. Könnte ich bitte gleich kommen?, fragte sie. Es ist ein Notfall. Wenig später betrat sie die Praxis ihrer Frauenärztin. Allmählich fand Aimée Gefallen an ihrem Prinzessinnendasein. Wenn sie morgens aufstand, hatte David schon Frühstück gemacht und eine frische Blume neben 324
ihren Teller gestellt, er erlaubte ihr nicht, das Geschirr abzuräumen oder sich in irgendeiner Weise nützlich zu machen. Er umsorgte und verwöhnte sie ununterbrochen und versuchte, ihr jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Am zweiten Tag hatten sie einen Einkaufsbummel gemacht, und Aimée war mit zwei Jeans, drei T-Shirts und neuen Turnschuhen nach Hause gekommen. Nur mit Mühe hatte sie David davon abhalten können, ihr einen achthundert Franken teuren Ledermantel zu kaufen. Bist du eigentlich reich?, fragte sie, als sie im Wohnzimmer ihre Einkäufe ausbreitete. Ich habe einige Jahre sehr gut verdient, sagte er, aber meine Frau hat auch sehr viel ausgegeben. Und jetzt, wo sie weg ist, hast du was übrig, folgerte Aimée. Nicht allzu viel, sagte er, ich muss eine Menge Unterhalt für sie zahlen. Unterhalt?, wunderte sich Aimée, kann sie denn nicht arbeiten? Sie könnte schon, sagte David knapp, aber sie hat keine Lust. Aimée kam der Gedanke, dass man als Frau vielleicht die Lust am Arbeiten verlieren könnte, wenn man von einem Mann ständig so verwöhnt würde. Für sie käme das nicht infrage, sie würde mal ihr eigenes Geld verdienen. Kuck mal weg, sagte sie und David drehte sich um. Sie zog eines der neuen T-Shirts an und versuchte, sich im Fenster zu spiegeln.
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Ich fände es schrecklich, von jemandem abhängig zu sein, sagte sie und begann, die Turnschuhe anzuziehen. David lachte und hockte sich zu ihr auf den Boden. Er strich ihr über die immer noch sehr kurzen Haare, die inzwischen in Stacheln von ihrem Kopf abstanden. Könntest du dir vorstellen … Ich meine, gefällt es dir hier gut genug, dass du vielleicht eine Weile bleiben möchtest? Aimée hielt beim Schuhebinden inne und erstarrte. Das war die Frage, vor der sie sich gefürchtet hatte. Immer wieder hatte er solche Andeutungen gemacht, hatte wissen wollen, wie ihr dies oder das gefiel, und wie es im Gegensatz dazu bei ihr zu Hause war. Er hatte sich erkundigt, was Josch mit ihr unternahm, ob er mehr wie ein Freund für sie war oder mehr wie ein Vater. Aimée waren diese Fragen unangenehm, und obwohl sie ihn selbst oft mit Josch verglich, fand sie, er dürfe das nicht. Ich weiß nicht stammelte sie, vielleicht könnte ich’s mir vorstellen. Aber noch nicht so bald. Warum nicht?, fragte er. Du bist echt nett, sagte Aimée, und gibst dir total viel Mühe. Es ist schön hier, und ich bin gern bei dir. Aber das hier ist einfach nicht … mein Zuhause. David nickte. Verstehe. Aber glaubst du nicht, dass es auch für Josch und Nela eine Erleichterung wäre, wenn ich mehr Verantwortung für dich übernehmen könnte? 326
Eine Erleichterung?, wiederholte Aimée mit großen Augen. Du meinst also, sie wären froh, wenn sie mich loshätten? Sie saß am Boden, sah ihn an und wirkte plötzlich so verloren, als hätte man sie in der Wüste ausgesetzt. David spürte, dass er ihren wunden Punkt getroffen hatte. Und er spürte, dass hier seine Chance lag. Er reichte ihr die Hand und zog sie mit Schwung vom Boden hoch. Wollen wir Pizza backen?, schlug er vor, und Aimée rief begeistert: Oh ja, du machst den Teig, und ich belege ihn, ja? Ich brauche Tomaten, Käse, Peperoni, Zwiebeln, Pilze, Salami … Geduldig schaffte David alles heran, was seine Vorratskammer und der Kühlschrank hergaben. Seit Aimée bei ihm war, war die Wohnung auf wunderbare Weise belebt. Er dachte nur noch nachts, wenn er aufwachte und nicht wieder einschlafen konnte, an seine Frau. An den Moment, als sie ihm beiläufig mitgeteilt hatte, sie würde demnächst ausziehen, weil sie einen anderen Mann kennen gelernt habe, der zwar nicht so wohlhabend sei wie er, aber dafür aufregend und unberechenbar. Sie wolle noch einmal ganz neu anfangen, denn wenn sie schon keine Kinder haben könne, wolle sie nun wenigstens das Leben genießen. Er hatte das Gefühl gehabt, sein Herz bliebe stehen, hörte einfach auf zu schlagen. Er hatte doch alles für seine Frau getan, hatte ihr jeden
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Wunsch erfüllt. Nur den Wunsch nach einem Kind hatte er ihr nicht erfüllen können. Aimée belegte den ausgerollten Pizzaboden mit einem bunten Mischmasch aus allen Zutaten. Das passt aber nicht zusammen, wandte David ein und begann, den Belag umzuordnen. Enttäuscht ließ Aimée die Hände fallen. So macht’s keinen Spaß, sagte sie. Immer muss alles so ordentlich sein bei dir. Erschrocken sah er auf Das hatte er auch von seiner Frau immer gehört. Du mit deinem ordentlichen Leben, hatte sie gesagt, und er hatte nicht verstanden, was schlecht sein soll an einem ordentlichen Leben. Als sie gerade mit dem Essen fertig waren, klingelte das Telefon. David hob ab und wurde blass. Diana, sagte er, du bist’s. Er ging mit dem Telefon auf den Flur, während Aimée überlegte, wer Diana sein könnte. Nach ein paar Minuten kam er zurück. Das war meine Frau, sagte er. Hab ich mir schon gedacht, erwiderte Aimée. Sie will mich treffen, sagte er kopfschüttelnd. Nach mehr als einem Jahr ruft sie plötzlich an und will mich treffen. Das soll ein Mensch verstehen. Er fing an, nervös an seiner Kleidung herumzunesteln. Ich muss mich umziehen, sagte er, ist es okay für dich, eine Weile allein zu bleiben?
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Kein Problem, sagte Aimée, dein Fernseher hat schließlich zweihundert Programme. Als David gegangen war, telefonierte Aimée eine Stunde lang mit Ruben und eine weitere Stunde mit Lisa, dann baute sie Colaflaschen, Chipstüten und Süßigkeiten um sich herum auf, legte sich auf die weiße Couch und sah fern, bis sie einschlief. Am nächsten Morgen war David noch nicht zurück. Gegen zehn rief er an und sagte, er komme gegen Mittag. Mittags rief er an und kündigte seine Rückkehr für den Nachmittag an. Als er bis drei nicht da war, schrieb Aimée ihm einen Brief, blätterte durchs Zürcher Telefonbuch, bis sie den Taxiruf gefunden hatte, und ließ sich zum Bahnhof bringen. Um kurz vor vier saß sie im Zug nach München. Kaum war Aimée zu Hause angekommen, klingelte das Telefon. Nach einem Blick aufs Display nahm Josch ab. Sag mal, was hast du dir bloß dabei gedacht, Aimée so lange allein zu lassen?, fragte er scharf. Aimée konnte nicht hören, was David sagte. Josch fertigte ihn ziemlich kurz ab, dann hielt er ihr den Hörer hin. Sie schüttelte den Kopf. Sie will nicht mit dir sprechen, sagte er. Aimée hörte Davids Stimme zornig aus dem Hörer quäken. Hör zu, erwiderte Josch kühl, vielleicht sollten wir weiter reden, wenn sich alle etwas beruhigt haben. Sie meldet sich, okay? Ohne eine Antwort abzuwarten, legte er auf. 329
Aimée ging bedrückt in ihr Zimmer, Josch folgte ihr. Mach dir keine Sorgen, es kommt alles wieder in Ordnung, versuchte er, sie zu trösten. Du weißt doch überhaupt nicht, was los ist. Na, dann sag’s mir! Aimée schwieg. War’s nicht schön bei David?, fragte Josch. Doch. Sehr schön. Wärst du lieber bei ihm geblieben? Nein. Wollte er, dass du bleibst? Ja. Nein. Ich meine … ich weiß es nicht. Josch nahm ihre Hände in seine und sah sie liebevoll an. Also, sagte er, was ist dein Problem? Sie sah ihn an. Dass ich überhaupt nicht mehr weiß, zu wem ich gehöre.
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Nela
ging durch den Garten ihres Elternhauses. Es dämmerte bereits, niemand war zu sehen. Die Tür des Gartenhauses ließ sich mühelos öffnen, innen war es sauber und aufgeräumt. Die Geräte hingen in Reih und Glied an der Wand, in einer Ecke stand der Rasenmäher, daneben zusammengerollte Schläuche, große Gießkannen. Auf der anderen Seite war ein gemauerter Vorsprung, das Fundament für einen nie fertig gebauten Abstellschrank, das ihre Hündin Assja früher mit Beschlag belegt hatte. Aus einem unerfindlichen Grund hatte das Tier am liebsten dort geschlafen, vielleicht war deshalb der Schrank ein Rudiment geblieben. Nela zog die Schuppentür zu und stellte ihre Tasche ab. Sie entnahm ihr einen zusammengerollte Schlafsack und eine Decke, damit baute sie sich auf dem Vorsprung ein Lager. Sie holte eine Taschenlampe, zwei Flaschen Mineralwasser, eine Tupperware-Dose mit Lebensmitteln und zwei Tafeln Nougatschokolade. Dann legte sie sich hin, verschränkte die Arme unter dem Kopf und schloss die Augen. Wie oft hatte sie sich hierher geflüchtet, wenn die böse Hexe im Haus tobte, wenn sie mit dem König
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stritt, wenn die Einsamkeit nur mit Assja auf der Hundedecke auszuhalten war. Sie hielt die Augen weiter geschlossen, streckte die linke Hand aus und fuhr damit die Wand entlang. Da, die lange, schmale Rinne, hier eine Beule, dahinter das Tal, dann ein Loch, in das früher ihr Zeigefinger gepasst hatte. Jetzt passte nur noch der kleine Finger hinein. Sie hatte sich immer vorgestellt, dass eine winzige Miniaturausgabe von ihr die Rinne entlangwanderte, den Berg bestieg, ins Tal hinabkletterte und schließlich in der Höhle verschwand, wo niemand sie finden konnte. Oft war sie darüber eingeschlafen, den Zeigefinger noch im Mauerloch. Sie krümmte sich seitlich zusammen und zog die Knie an die Brust. Irgendwo in ihrem Inneren hatte die Vorstellung gelebt, dass sie nicht schwanger werden würde, weil sie es nicht wollte. Wie naiv sie gewesen war. Sie setzte sich auf und trank einen Schluck Wasser. Durchs Fenster sah sie die Lichter im Haus. Dort saßen ihr Vater und Elinor beim Abendessen. Sie hielt ihren Vater für verrückt. Das Kind war der Preis, den er für seine Freiheit bezahlte. Oder für das, was er dafür hielt. Die Scheidung war durch, die Hochzeit mit Elinor würde im Sommer stattfinden. Nela sah in den Raum, in dem die Gegenstände im diffuser werdenden Licht langsam verschwammen. Sie erinnerte sich an die Spiele, die 332
sie als Kind hier gespielt hatte. Meist hatte sie Phantasie-Theaterstücke aufgeführt oder sich in die Ferne geträumt. Eine Zeit lang hatte sie den Raum angefüllt mit Fundstücken aller Art, aus denen sie naturalistische Szenen im Kleinformat gebaut hatte; Straßenzüge, Häuser, Landschaften. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals mit Puppen gespielt zu haben. Als sie sich zurücklegte auf ihr Lager, glaubte sie einen Moment, den Geruch von Hundefell wahrzunehmen, und schloss wieder die Augen. Keiner wusste, wo sie war. In diesem Augenblick existierte sie nicht, für niemanden. Nur für das winzige, gefräßige Lebewesen in ihrem Bauch, dessen Zellen sich unaufhörlich teilten, das sich von einem kaulquappenähnlichen Etwas in ein menschliches Leben verwandeln würde, mit Augen, Händen, einem Geschlecht und einer Seele. Sie öffnete die Tupperware-Dose und aß ein Stück Brot mit Käse. Auch früher hatte sie immer Proviant mit hierher genommen, und nirgendwo hatte ihr das Essen so gut geschmeckt wie in der Abgeschiedenheit ihres Unterschlupfes. Sie aß noch einen Apfel und eine halbe Tafel Schokolade. Satt und müde legte sie sich wieder hin, inzwischen war es völlig dunkel geworden. Im Halbschlaf stellte sie sich vor, wie sie die Zeit anhielt. Eine kleine, schwache Person, die mit aller Kraft einen gewaltigen Zeiger daran hindert, weiterzuwandern. Eine ganze Weile gelang es ihr, dem Druck des Zeigers standzuhalten, dann wurde sie weggeschleudert in die Dunkelheit. 333
Nela war im Dschungel und hatte sich verirrt. Von allen Seiten hörte sie das Keckern, Fauchen und Schreien von Tieren, jeden Moment erwartete sie, dass eines von ihnen sie anspringen und töten würde. Sie fühlte sich beobachtet, zwischen den Pflanzen erschienen Augenpaare, die sie anstarrten und wieder verschwanden. Plötzlich sah sie Lucy, die Schimpansin, die ihr Baby an sich drückte. Das Baby lebte und sah Nela mit großen, neugierigen Augen an. Dann stand sie vor einem dunklen See und wusste, dass sie hineinspringen und hindurchschwimmen musste, weil am anderen Ufer etwas Wichtiges auf sie wartete. Aber das Wasser war schwarz und unheimlich, Nela war sicher, dass Ungeheuer in ihm lebten, und zitterte vor Angst. Mit einem Mal spürte sie einen Stoß im Rücken, sie stürzte in die Tiefe, ohne im Wasser anzukommen. Gegen Morgen war es so kalt geworden, dass Nela aufwachte. Mit klammen Fingern packte sie ihre Vorräte, die Decke und den Schlafsack wieder ein. Sie sah sich um, ob alle Spuren ihrer Anwesenheit getilgt waren, und verließ das Gartenhaus. Das Gras war kalt und nass, herbstlicher Nebel lag in der Luft. Es war kurz vor fünf. Sie warf einen Abschiedsblick auf ihre Elternhaus und ging los. Als sie gegen sieben die Wohnung betrat, durchgefroren und mit eiskalten Füßen und Fingern, saß Josch in der Küche und trank Kaffee. Müde sah er auf 334
Wo warst du?, fragte er besorgt. Ist alles in Ordnung? Sie umschlang ihn von hinten mit den Armen und legte ihr kaltes Gesicht an seinen schlafwarmen Hals. Tut mir leid. Ich hoffe, du hast dir keine Sorgen gemacht. Warst du bei Tom? Nein. Ich war … Ich musste einfach allein sein. Was ist los?, fragte Josch. Sie setzte sich ihm gegenüber, schenkte sich Kaffee ein und wärmte ihre Hände an der Tasse. Dann holte sie tief Luft und sagte: Ich bin schwanger. Und damit es gleich klar ist, ich werde das Kind nicht kriegen. Josch schwieg. Seine rechte Hand umklammerte die Kaffeetasse, die linke zeichnete Muster auf die Tischplatte. Er schluckte und sah Nela an. Schwanger, wiederholte er und machte eine Pause. Das ist … … eine Riesenscheiße und hätte nie passieren dürfen, vollendet Nela seinen Satz. Nein, das wollte ich nicht sagen. Ich wollte sagen, das ist … sehr schön. Du weißt, ich mag Kinder, ich wünsche mir Kinder. Aber ich nicht, sagte Nela schroff Und in diesem Fall … Es wäre absurd, findest du nicht? Was wäre absurd? Nela beugte sich vor. Ich will dir nicht wehtun, sagte sie, aber ich muss dich daran erinnern, dass ich eine Nacht mit Tom verbracht habe.
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Joschs Gesicht blieb unbewegt. Macht das einen Unterschied, wenn du sowieso abtreiben willst? Nela sah ihn eindringlich an. Würde es denn für dich keinen Unterschied machen? Josch stützte den Kopf auf die Hände. Was soll ich dir sagen, Nela? Mach einen Test, und wenn das Kind von Tom ist, dann verlange ich die Abtreibung, und wenn es von mir ist, dann nicht? Das wäre wirklich absurd. So wie Aimée mein Kind geworden ist, würde auch dieses Kind mein Kind werden, egal, wer der biologische Vater ist. Nela stand auf und ging angespannt auf und ab. Das heißt umgekehrt, folgerte sie, wenn ich das Kind nicht bekäme, würdest du immer mit der Möglichkeit leben müssen, dass es dein Kind war, das ich abgetrieben habe. Glaubst du, das könntest du mir jemals verzeihen? Ganz ehrlich, sagte Josch und sah ihr in die Augen, das weiß ich nicht. Er hatte noch nie so traurig ausgesehen. Aimée war die Erste im Bauwagen. Mittlerweile schwänzte sie fast jeden Nachmittag. Sie legte sich auf das abgeschabte Sofa und trank aus ihrer Coladose. Wie viel besser die Welt ohne Erwachsene wäre, dachte sie. Es gäbe keine Kriege, keine verstopften Straßen, keine Schulen. Und die vielen Fragen, die einem keiner beantwortete, gäbe es auch nicht. Warum Militärmanöver im Meer durchgeführt werden, obwohl die Wale davon verrückt werden. Warum es immer mehr Arbeitslose gibt, die Leute 336
aber immer länger arbeiten sollen. Warum der Regenwald abgeholzt wird, obwohl die Tiere darin sterben. Vorbild sollten die Erwachsenen sein, dabei richteten sie nur Chaos an. Wie Frau Rothemund, ihre Lehrerin, die sich in einen Kollegen verliebt und Mann und Tochter verlassen hatte. Rubens Eltern. David. Nicht mal Nela und Josch kriegten es geregelt. Ganz zu schweigen von Rosanna, der Oberchaotin, die alles verbockt hatte. Es wurde so viel gelogen, und es war so schwer, rauszukriegen, was Lüge war und was Wahrheit. Irgendwie funktionierte die Welt der Erwachsenen nach Regeln, die ihr nicht gefielen. Aber wahrscheinlich musste man so werden, wie alle waren, um zu überleben. Sie tippte eine SMS an Ruben. Er hatte ihr ein Handy geschenkt, blau, mit silbernen Tasten und Farbdisplay, das sie immer bei sich trug. Natürlich mit ausgeschaltetem Klingelton, denn Josch durfte nichts davon wissen. Bin gleich da, schrieb Ruben zurück, und ein paar Minuten später hörte sie seine Schritte auf der Treppe. Erwartungsvoll richtete sie sich auf und sah ihm entgegen. Seine Augen glänzten komisch, und er sah aus, als wäre er gar nicht richtig bei sich. Aimée umarmte ihn und drückte ihre Wange an seinen Hals, wo sie das Blut pochen spürte. Wie war dein Wochenende?, fragte sie. Geht so. Meine Mutter ist ziemlich anstrengend. Was ist eigentlich genau mit ihr?, fragte Aimée.
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Die ist halt verrückt, murmelte Ruben und machte sich von ihr los. Wie verrückt? Na, sie hört Stimmen. Und bildet sich ein, dass alle möglichen Leute sie verfolgen. Echt? Ist sie gefährlich? Ruben überlegte. Ich glaube nicht. Sonst wäre sie bestimmt in ‘ner Anstalt. Bist du denn … trotzdem gern bei ihr? Er zuckte die Schultern. Sie tut mir leid, das ist alles. Aimée überlegte, wie es wäre, eine verrückte Mutter zu haben. Rosanna war zwar seelisch krank gewesen, aber im Kopf klar. Das war zwar traurig gewesen, aber nicht unheimlich. Es ist übrigens passiert, sagte Ruben ruhig. Was ist passiert? Aimée sah ihn mit großen Augen an. Ich bin rausgeflogen. Waaas? Du hast richtig gehört, sie haben mich von der Schule geworfen. Es sind Smileys aufgetaucht, und irgendwer hat behauptet, ich hätte sie verteilt. Aimée schüttelte fassungslos den Kopf. Ja, und, hast du? Ruben verzog das Gesicht. Ich bin doch nicht bescheuert. Aber beweis denen mal das Gegenteil. Natürlich haben sie gleich meinen Vater alarmiert, und der hatte nichts Besseres zu tun, als ihnen zu erzählen, dass er schon mal welche bei mir gefunden hat. Na ja, und damit war der Fall klar.
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Dein eigener Vater hat dich in die Pfanne gehauen?, fragte Aimée entgeistert. Er nickte. Wollte unbedingt den Saubermann spielen, das Arschloch. Und jetzt?, fragte sie zaghaft. Nichts. Keine Schule mehr. Er zündete sich eine Zigarette an und inhalierte. Aimée nahm sie ihm aus der Hand, um daran zu ziehen. Sie fröstelte plötzlich und zog die Knie ganz eng an den Körper. Weißt du, sagte Ruben nach einer Weile, eigentlich wär’s ja nicht so tragisch, wer steht schon auf Schule? Ich fürchte nur, mein Alter nutzt die Chance und schiebt mich ins Internat ab. Angedroht hat er’s mir schon oft, aber jetzt hat er endlich einen Grund. Erschrocken setzte Aimée sich auf. Ins Internat? Wohin denn? Keine Ahnung, sagte Ruben und zuckte die Schultern, England vielleicht. Dort sind die Schulen exzellent, sagte er im nasalem Tonfall seines Vater. England, wiederholte Aimée. Dann sagte sie: Und wenn du deinem Vater versprichst, dass du mit den Pillen aufhörst? Dass du ab sofort vernünftig bist? Vielleicht nimmt er dir zur Strafe dann nur den Computer oder den Fernseher weg oder so was. Ruben lachte bitter auf. Der nimmt mir nichts weg, sonst müsste er sich ja mal mit mir beschäftigen! Ich verstehe nicht, wieso die Leute Kinder kriegen und sich dann nicht um sie kümmern, sagte Aimée. 339
Dein Vater kümmert sich doch jetzt um dich, sagte Ruben. Klar, bis seine komische Ex-Frau wieder anruft, sagte Aimée. Ich glaube, dem ist völlig egal, wer bei ihm ist. Hauptsache, er sitzt nicht allein in seiner tollen Wohnung rum. Weißt du, dass er mir fast jeden Tag schreibt oder anruft? Langsam wird’s mir echt zu viel. Ruben öffnete eine Getränkedose und schnippte den Aluverschluss weg. Vielleicht hau ich einfach ab, sagte er. Aimée klammerte sich an seinen Arm. Geh nicht ohne mich, bat sie, versprich mir das! Josch wurde zur Sprechstunde in die Schule bestellt. Frau Rothemund, die Klassenlehrerin, erklärte ihm, dass Aimées Leistungen seit längerem zu wünschen übrig ließen, dass das Mädchen häufig über Kopfschmerzen geklagt und frühzeitig den Unterricht verlassen sowie ungezählte Nachmittagskurse geschwänzt habe. Außerdem sei sie mit einem Jungen namens Ruben aus der Neunten zusammen, der gerade wegen Drogenmissbrauchs der Schule verwiesen worden sei. Josch war wie vor den Kopf geschlagen. Zu Hause hatte Aimée nicht ein einziges Mal von Kopfschmerzen gesprochen und war auch nie vor dem Ende der Unterrichtszeit nach Hause gekommen. Diesen Ruben hatte sie schon seit
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Wochen nicht mehr erwähnt, stattdessen hatte sie ständig von ihren Freundinnen gesprochen. Hilflos fragte er die Lehrerin, ob sie sicher sei, dass es sich bei dem Mädchen um Aimée handele. Selbstverständlich bin ich sicher, sagte Frau Rothemund gekränkt. Ich verstehe das nicht, sagte Josch, meine Frau und ich haben von all dem nichts mitbekommen. Ich nehme an, erwiderte die Lehrerin, Sie sind beide beruflich sehr eingespannt, dann kommt es schon vor, dass die Kommunikation zwischen Eltern und Kindern leidet. Hören Sie, erwidert Josch, ich lasse mir nicht unterstellen, ich hätte Aimée vernachlässigt. Ich glaube nicht, dass es viele Kinder gibt, die so viel Zuwendung und Aufmerksamkeit bekommen! Die Lehrerin lächelte. Das glauben alle Eltern, und die meisten bemühen sich ja auch sehr. Aber dieses Alter ist nun mal besonders kompliziert, das kann einen schon überfordern. Bis jetzt habe ich mich nicht überfordert gefühlt, sagte Josch. Was soll ich also Ihrer Meinung nach tun? Sprechen Sie mit ihr. Machen Sie ihr klar, dass sie das Vertrauen zwischen Ihnen untergräbt. Aimée ist ein kluges Mädchen, sie wird es verstehen. Auch kluge Mädchen machen Dummheiten, sagte Josch. Wie Recht Sie haben, sagte Frau Rothemund und lächelte, aber im Gegensatz zu den anderen wissen sie es! 341
Blass und schweigsam kam Aimée nach Hause. Sie warf ihren Rucksack auf den Boden und ging grußlos an Josch vorbei in ihr Zimmer. Er hielt die Tür fest, bevor Aimée sie zuknallen konnte. Sag mal, was ist denn mit dir los?, fragte er. Lass mich in Ruhe. Kann es sein, dass dein Zustand mit gewissen Vorgängen an deiner Schule zusammenhängt? Aimée sah erschrocken auf. Was weißt denn du darüber? Nur, was mir Frau Rothemund heute erzählt hat. Du warst bei der Rothemund? Wieso hast du mir nichts davon gesagt? Ich wollte erst hören, was sie mir zu sagen hat. Jetzt kannst du mir deine Version erzählen. Was hat sie dir denn erzählt? Josch wiederholte, was er von der Lehrerin erfahren hatte. Die blöde Kuh, schimpfte Aimée. Selber lässt sie ihren Mann sitzen und bumst mit einem aus dem Kollegium. Und dann maßt sie sich an, über andere Leute zu urteilen! Moment mal, sagte Josch streng, die anderen Leute, von denen du sprichst, sind ihre Schüler. Für die hat sie Verantwortung. Und jetzt will ich wissen, was davon stimmt und was nicht. Vor allem die Geschichte mit Ruben. Ach, was, sagte Aimée wegwerfend, das mit Ruben ist doch schon lange vorbei! Josch musterte sie prüfend. Hast du irgendwas mit dieser Drogengeschichte zu tun? 342
Ich? Aimée riss die Augen auf. Du weißt, dass ich Drogen und Medikamente hasse, nicht umsonst hatte ich ‘ne Mutter, die sich ständig mit Pillen voll gestopft hat. Und das Schwänzen? Na ja, räumte sie ein, ein paar Mal sind wir nachmittags abgehauen, das stimmt. Wer ist wir?, fragte Josch streng. Lisa, Sandy, Jennifer und ich. Und was habt ihr dann gemacht? Nichts Besonderes, sagte Aimée achselzuckend. Rumgebummelt, ein Eis gegessen. Dann wurde sie lebhaft. So ‘ne Ganztagesschule ist echt Stress! Da muss man sich mal ausklinken, verstehst du? Josch sah sie ernst an. Ich möchte dir so gern glauben. Ich wünsche mir nichts mehr, als dir vertrauen zu können. Kann ich dir vertrauen? Sie sah ihn an, mit diesen großen, unschuldigen Augen, in denen er noch immer das kleine Mädchen sehen konnte, das sie mal gewesen war. Klar kannst du mir vertrauen, sagte sie, das weißt du doch. Nela hatte einen Termin zur Pflichtberatung bei Pro Familia. In einer Ecke des geräumigen Flurs wartete sie darauf, ins Beratungszimmer gerufen zu werden. Sie stellte sich vor, wie die Beraterin sie gleich unter Druck setzen, wie sie ihr Bilder abgetriebener Föten zeigen, sie mit religiösem Eifer zum Austragen des Kindes überreden würde. Nicht mit mir, beschloss sie und nahm sich vor, der
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Dame sofort zu erklären, dass sie sich die Mühe sparen könne. Die Tür ging auf, und eine sympathische Frau in ihrem Alter winkte ihr lächelnd zu. Sie hatte strubbelige, hellblonde Haare und trug eine Brille mit blauem Metallgestell. Wie eine religiöse Eiferin sah sie nicht aus. Frau Franke? Nela nickte und stand auf. An den Wänden des Beratungsraumes hingen bunte Plakate, die Aktionstage, Benefizkonzerte und anderen Veranstaltungen ankündigten. Ein paar Kinderzeichnungen und bunte Dekodrucke schufen eine halbwegs freundliche Atmosphäre. Die Frau stellte sich als Christine Maibaum vor. Was kann ich für Sie tun?, fragte sie freundlich. Ich bin schwanger und soll mich von Ihnen beraten lassen, erklärte Nela. Und was möchten Sie wissen? Na ja, eigentlich habe ich mich schon entschieden. Eigentlich, wiederholte Frau Maibaum. Ja, sagte Nela. Wie ist Ihre Lebenssituation, wollen Sie mir darüber was erzählen? Ich bin verheiratet, mein Mann wünscht sich das Kind, aber es ist nicht sicher, ob er der Vater ist. Weiß er das? Ja. Es stört ihn nicht. Frau Maibaum zog eine Augenbraue hoch. Oh, von der Sorte könnten wir mehr gebrauchen! Sie lächelte. Was spricht gegen das Kind? 344
Ganz einfach, sagte Nela, dass ich es nicht will. Gibt es dafür Gründe? Sicher, eine Menge. Aber die sind genauso subjektiv wie die Gründe einer Frau, die sich ein Kind wünscht. Frau Maibaum rückte ihre Brille gerade. Gibt es denn auch etwas, das für das Kind spräche? Nela überlegte. Für das Kind, ich weiß nicht. Gegen die Abtreibung, vielleicht. Nein, stellte die Beraterin klar, ich meine wirklich: für das Kind. Darüber habe ich … ehrlich gesagt, noch nicht nachgedacht. Tun Sie’s jetzt, forderte Frau Maibaum sie auf, das ist die Gelegenheit dazu. Nelas Gehirn produzierte sofort Bilder von angespannter Haut über dicken Bäuchen, bläulichen Krampfadern, rot verfärbten, schreienden Säuglingen, kotverschmierten Windeln. Die Bilder von glücklichen Müttern, gerührten Vätern und wohlgenährten, lachenden Babys wollten sich einfach nicht einstellen. Tut mir leid, sagte sie, ich kann es nicht. Das ganze Theater ums Kinderkriegen hat mich immer schon genervt. Mag sein, dass es Mütter aus Berufung gibt. Ich gehöre nicht dazu. Frau Maibaum ließ nicht locker. Nicht ein einziger Grund fürs Kind?, hakte sie nach. Irgendwoher kam plötzlich ein Gedanke, der schwer in Worte zu fassen war. Doch … vielleicht, sagte sie zögernd. Ja? 345
In meinem Leben ist einiges durcheinander geraten, sagte Nela zögernd. Ein Kind zu kriegen würde … gewissermaßen die natürliche Ordnung wiederherstellen. Die Beraterin sah irritiert aus. Ich verstehe nicht ganz. Macht nichts, sagte Nela und stand auf. Sie haben mir sehr geholfen. Ich werde noch mal darüber nachdenken. Frau Maibaum zuckte die Schultern, stand ebenfalls auf und reichte Nela lächelnd die Hand. Schön, sagte sie, das ist schon mehr, als wir bei vielen Beratungen erreichen! Nachdenklich ging Nela zu Fuß den Weg in die Kanzlei, wo sie mit Josch verabredet war. Das Gespräch hatte eine Art Zuversicht in ihr ausgelöst. Jede Entscheidung könnte die richtige sein, ganz gleich, wie sie ausfiele. Und, wie lief’s?, erkundigte sich Josch, als sie sein Büro betrat. Sie hatte ihm versprechen müssen, nichts zu überstürzen. Ein paar Tage verstreichen zu lassen, die Beratung zu machen und mit ihm zu reden, wann immer sie das Bedürfnis hätte. Ganz okay, sagte sie. Die Beraterin war nett, sie hat mich nicht gedrängt. Das haben sie offenbar kapiert, dass man keine Frau zum Kinderkriegen zwingen kann. Sie verließen die Kanzlei und gingen schweigend nebeneinander.
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Mein Gott, sagte Josch in einer plötzlichen Gefühlsaufwallung, so viele Frauen wünschen sich ein Kind und können keines kriegen. Und du … Nela blieb stehen. Warum sagst du das? Willst du mir noch mehr Schuldgefühle machen? Tut mir leid. Josch vergrub die Hände in den Taschen seines Mantels und sah an ihr vorbei auf die Straße. Dann sagte er: Du könntest es kriegen und zur Adoption freigeben. Spinnst du? Nela sah ihn empört an. So was würde ich nie tun, mein eigenes Kind wildfremden Leuten geben! Josch packte sie an den Schultern. Ist dir klar, was du da sagst? Dein Kind weggeben würdest du nicht, aber es umbringen, das würdest du! Hör auf!, schrie Nela und entwand sich seinem Griff. Josch zog sie in seine Arme, hielt sie fest, streichelte ihren Rücken. Verzeih mir, bat er, das war gemein von mir. Ich will nach Hause, schluchzte sie. Ich dachte, wir wollten essen gehen begann er, aber sie unterbrach ihn. Ich will nach Hause, verstehst du nicht? Sie schrie so laut, dass sich einige Passanten erstaunt nach ihnen umdrehten. In der Wohnung warf Nela sich aufs Sofa und hörte nicht mehr auf zu weinen. Josch rief in der Kanzlei an und erklärte, dass er an diesem Nachmittag nicht kommen würde. Er blieb bei ihr und streichelte sie, kochte ihr Tee, wärmte ihre Hände 347
und las ihr aus einem Band mit Robert-GernhardtGedichten vor, bis sie unter Tränen lächelte. Wovor hast du solche Angst?, fragte er flüsternd, als sie sich ein wenig beruhigt hatte. Ich weiß nicht, sagte sie. Davor, zu versagen wie meine Mutter. Vor der Verantwortung. Hast du denn keine Angst? Nein, sagte er, wovor sollte ich Angst haben? Dass das Kind dir fremd sein könnte, dass du es nicht magst, dass es ganz anders wird, als du es dir erträumt hast. Josch schüttelte den Kopf. An so was denke ich gar nicht. Ich schon, sagte sie, die ganze Zeit. Es ist schon komisch. Ausgerechnet mir, die ich überhaupt keine Kinder wollte, fliegen ständig welche zu. Erst Aimée, jetzt dieses hier … Josch nahm sie erneut in die Arme, und nun weinten beide. Sie hatten nicht bemerkt, dass Aimée nach Hause gekommen war und seit geraumer Zeit an der Tür stand und lauschte.
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Zwei Tage später war Aimée verschwunden. Als Josch sie morgens wecken wollte, war ihr Bett leer. Auf dem Kopfkissen lag ein Brief. Lieber Josch, ich glaube, es ist besser, wenn ich nicht bei euch bleibe. Ich habe ja jetzt einen richtigen Vater. Und ihr kriegt ein Baby, da braucht ihr mich sowieso nicht mehr. Mach dir keine Sorgen um mich, ich bin bei jemandem, der mich wirklich liebt. Aimée Josch fühlte, wie ihm bis ins Innerste eiskalt wurde. Er ging zurück ins Schlafzimmer und weckte Nela, die erschrocken hochfuhr. Was ist los? Wortlos reichte er ihr den Brief. Sie schaltete die Nachttischlampe ein, rieb sich die Augen und las. Oh nein, sagte sie. Woher weiß sie von dem Kind?, fragte Josch überrascht. Hast du’s ihr erzählt? Nein, sagte Nela, natürlich nicht. Sie sprang aus dem Bett und zog eine lange Strickjacke über ihren Pyjama. Bestimmt ist sie zu David gefahren. Ruf du ihn an, bat Josch, ich könnte ausfallend werden.
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Beim Rausgehen drehte Nela sich um und fragte: Woher hat sie überhaupt das Geld? Der Zug nach Zürich ist teuer. David muss ihr welches geschenkt haben, vermutete er. Sie hat sich ständig Sachen gekauft in letzter Zeit. Nela wählte Davids Nummer in der Schweiz, niemand meldete sich. Geh ran, du Penner, murmelte sie. Nichts. Kein Band. Sie legte auf. Dann wählte sie erneut, wieder nahm niemand ab. Hatte sie nicht irgendwo auch die Handynummer aufgeschrieben? Suchend glitt ihr Zeigefinger die Nummern im Telefonverzeichnis entlang. Warum rufen wir nicht einfach auf Aimées Handy an?, schlug sie vor. Sie hat ein Handy? Josch sah sie groß an. Klar, sagte Nela, wusstest du das nicht? Nein, knurrte er. Ich nehme an, David hat es ihr geschenkt, sagte Nela. Sie hat es versteckt, aber einmal hat sie es in einer Jeans vergessen, die sie mir zum Waschen gegeben hat. Blöderweise hab ich die Nummer nicht, aber die lässt sich ja wohl rauskriegen. Lisa, sagte Josch. Er suchte nach der Adressenliste der achten Klasse, die den Eltern zu Beginn des Schuljahres ausgehändigt worden war. Es dauerte eine Weile, bis er sie gefunden hatte, daran merkte er, dass er keinerlei Kontakt zu anderen Eltern hatte. Selbst bei den Elternabenden, die er regelmäßig besuchte, hatte er 350
nie mehr als ein paar Worte mit anderen Müttern und Vätern gewechselt. Er wählte die Nummer der Familie Vahlberg, ein Junge meldete sich, und Josch verlangte nach Lisa. Die ist schon in die Schule gegangen, erklärte der Junge. Josch bedankte sich und legte auf. Als Nächstes rief er in der Schule an. Das Sekretariat war noch nicht besetzt, der Anrufbeantworter schaltete sich ein. Ungeduldig legte er wieder auf. Ich fahre hin, sagte er. Nela kochte Kaffee und versuchte nachzudenken. Als sie Aimées Brief noch einmal genau las, war ihr klar, dass das Mädchen nicht bei David sein konnte. Zuerst war die Rede von ihr und Josch, dann von David und dann von jemandem, der mich wirklich liebt. Trotzdem versuchte Nela ein weiteres Mal, David zu erreichen. Diesmal meldete er sich, seine Stimme klang verschlafen. Nela hier, tut mir leid, wenn ich dich geweckt habe. Aimée ist seit heute Nacht weg. Hast du eine Ahnung, wo sie sein könnte? Hier ist sie nicht, sagte David. Vielleicht ist sie ja noch auf dem Weg, sagte Nela. Das können wir nur hoffen, andernfalls … … andernfalls, was? Könnte das sehr unangenehme Folgen für euch haben. Was willst du denn damit sagen?, fragte Nela empört.
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Immerhin seid ihr für sie verantwortlich. Ich melde mich, falls ich etwas von ihr höre, sagte er und legte auf, bevor Nela ihn nach Aimées Handynummer fragen konnte. Nela schüttelte den Kopf. Der hat sie wohl nicht alle! Sie beschloss, eine weitere Möglichkeit auszuschließen und unter einem Vorwand bei den Cardellos anzurufen. Hallo, Sergio, Nela hier, meldete sie sich munter, ich wollte nur mal hören, ob Aimée euch schon von ihrer Reise erzählt hat? Sie hoffte, dass Sergio sagen würde: Aimée ist doch hier und erzählt uns gerade alles, aber er sagte nur: Von ihrer Fahrt nach Zürich? Nein, sie hat sich noch gar nicht bei uns gemeldet. Entmutigt kehrte Josch von der Schule zurück. Das Einzige, was er von Lisa erfahren hatte, war Aimées Handynummer, aber er erreichte nur die Mailbox. Dort hinterließ er eine lange Nachricht, in der er Aimée bat, sich zu melden. Sie könnten doch über alles sprechen. Ob er sie jemals im Stich gelassen hätte? Außer mit Lisa hatte er mit zwei weiteren Mädchen aus Aimées Clique gesprochen, Sandy und Jennifer. Die Mädchen waren sehr ablehnend ihm gegenüber gewesen. Weiß der Himmel, sagte er zu Nela, was Aimée ihnen erzählt hat. In diesem Alter erzählen Jugendliche selten etwas Nettes über ihre Eltern, und Aimée ist offenbar gut darin, den armen, 352
unverstandenen Teenager zu geben. Sogar ihre Lehrerin ist darauf reingefallen. Und was war mit den Jungen?, fragte Nela, Ruben und dieser andere, wie hieß er noch, Till? Till war nicht da, wegen Grippe, sagte Josch. Und Ruben ist nicht mehr auf der Schule. Aimée hat mir geschworen, dass es schon seit längerem vorbei ist zwischen ihnen. Wissen wir es wirklich?, sagte Nela und drückte damit aus, dass sie alles in Zweifel zog, was sie über Aimée wussten. Auch Josch hatte sich schon bei dem Gedanken ertappt, Frau Rothemund hätte vielleicht Recht gehabt. Was wusste er schon über Aimée? In all den Monaten hatte er außer Lisa keine ihrer Freundinnen kennen gelernt. Er hatte nie nachgeforscht, ob sie wirklich dort war, wo sie zu sein behauptete. Vorgeblich, weil er ihr vertraute, aber war es nicht auch Bequemlichkeit gewesen? Hatte er sich einlullen lassen und nicht gespürt, dass sie in Wahrheit keinen Halt mehr fand? War das Abrasieren der Haare eine normaler Akt pubertärer Auflehnung gewesen oder ein Hilfeschrei, den er nicht begriffen hatte? Die Ohrfeige ist schuld, sagte er verzweifelt, seit diesem Tag hat sie sich zurückgezogen. Hör auf, dich zu quälen, sagte Nela. Wir alle machen Fehler. Josch fuhr sich mit den Händen durch seine Haare, dass sie in alle Richtungen abstanden. Verzweifelt sah er sie an.
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Ich hatte mir geschworen, bei ihr alles richtig zu machen. Nela nahm seine Hand. Sollten wir sie nicht als vermisst melden? Ich glaube nicht, dass das was bringt, sagte Josch kopfschüttelnd. Sie ist ja nicht spurlos verschwunden. Sie hat deutliche Hinweise hinterlassen, die wir nur richtig lesen müssen. Ich glaube nicht, dass die Polizei uns dabei helfen kann. Der Tag verging ohne Nachricht von Aimée. Nela versuchte weiter, sie auf dem Handy zu erreichen – ohne Erfolg. Josch durchwühlte ihr Zimmer auf der Suche nach Hinweisen, aber bis auf ein paar durchlöcherte, schwarze Kleidungsstücke, einen merkwürdig geformten Stein und ein Rasiermesser, das unter einer losen Diele des Fußbodens klemmte, fand er nichts Ungewöhnliches. In einer Schublade lagen Erinnerungsstücke, deren Anblick ihn seltsam berührte. Rosannas Bürste, in der noch einige ihrer Haare hingen, ein Paar offensichtlich getragene Strümpfe, ein Fläschchen Parfüm, eine Halskette aus türkisfarbenen Steinen. Alles Dinge, die mit Rosannas Körper in Berührung gewesen waren. Aimée musste sie an dem Tag mitgenommen haben, als sie gemeinsam im Haus waren. Wieder fragte sich Josch, ob er etwas versäumt hätte. Ob er doch einen Therapeuten hätte konsultieren sollen, weil Aimée ihre Trauer 354
vielleicht nur gut versteckt hatte, statt sie zu verarbeiten. Als sie wieder angefangen hatte zu sprechen, war er sicher gewesen, das Schlimmste wäre vorbei. Sah aus, als hätte er sich gründlich geirrt. Er schloss die Schublade mit den RosannaDevotionalien und ging auf den Flur, wo er unruhig hin- und herwanderte. Ob er noch einmal versuchen sollte, mit ihren Freundinnen zu sprechen? Bestimmt verschwiegen sie ihm etwas. Er sah auf die Uhr, es war nach zehn. Zu spät, um bei fremden Leuten anzurufen. Morgen war Samstag, also keine Schule. Er würde die Mädchen zu Hause antreffen, mit den Eltern sprechen können. Vielleicht würde er dann etwas herausfinden. Er zwang sich zur Ruhe, obwohl die Angst in ihm hochkroch wie ein ekliges Reptil. Er wusste, wenn er ihr nachgäbe, würde er keinen klaren Gedanken mehr fassen können. Am nächsten Morgen klingelte um halb neun das Telefon. Josch und Nela saßen im Schlafanzug in der Küche, beide hatten schlecht geschlafen und waren früh aufgewacht. Josch griff nach dem Apparat. Hier ist Lisa, sagte eine Mädchenstimme. Ich wollte fragen …, ob ich vorbeikommen kann. Natürlich, sagte er aufgeregt, wann kommst du? Jetzt gleich, sagte sie und legte auf. Zehn Minuten später klingelte es an der Tür.
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Komm rein, sagte Josch, ich bin froh, dass du da bist. Er führte sie in die Küche und bot ihr Kaffee an. Lisa lehnte ab. Aufrecht setzte sie sich auf einen Stuhl und zippelte an einer ihrer Haarsträhnen herum. Es ist wegen Aimée, sagte sie, ich mach mir Sorgen. Sie wollte sich gestern melden und hat’s nicht getan. Josch versuchte, sich seine Unruhe nicht anmerken zu lassen, und beugte sich ein Stück vor. Du weißt also, wo sie ist? Lisa zögerte. Nein, nicht genau. Weißt du, mit wem sie zusammen ist? Mmh. Ja. Kannst du es mir sagen? Ich habe versprochen, es niemandem zu sagen. Wie sollen wir dann rausfinden, ob es ihr gut geht? Das ist genau das Problem, sagte Lisa. Weißt du, erklärte er, manchmal leistet man einen größeren Freundschaftsdienst, wenn man sich nicht an ein Versprechen hält. Das Mädchen sah ihn nachdenklich an. Kann sein. Aber ich weiß nicht, ob es jetzt so ist. Sie verfiel in Schweigen. Josch brannte vor Ungeduld, wollte sie aber nicht drängen. Ist Ihre Frau eigentlich auch da?, fragte Lisa. Ja, warum? Aimée hat Angst vor ihr. Sie hat gesagt, Nela sei wie die Stiefmutter aus dem Märchen, sie würde Aimée hassen und am liebsten vergiften. 356
So ein Quatsch, sagte Josch heftig. Ich hab das Gefühl, Aimée hat euch ziemlich viel Mist erzählt. Oder Ihnen, sagte Lisa kühl. Es versetzte ihm einen Stich. Ja, sagte er, das kann natürlich auch sein. Sie musterte ihn mit einem prüfenden Blick, als wollte sie rausfinden, ob er ihres Vertrauens würdig wäre, dann fasste sie offenbar einen Entschluss. Aimée ist in Schwierigkeiten, sagte sie. Welche Art Schwierigkeiten? Ruben. Ruben?, fragte Josch. Ich dachte, der ist gar nicht mehr auf der Schule? Das ist es ja. Seit sie ihn rausgeworfen haben, hat Aimée totale Panik, ihn zu verlieren. Was heißt das, was macht sie? Na ja, sie würde alles für ihn tun, damit er bei ihr bleibt. Und damit meine ich wirklich alles. Obwohl Ruben sich sowieso für nichts anderes interessiert als für seine Pillen. Ich hab Angst …, dass irgendwas passiert ist, sagte sie leise. Josch fühlte sich, als hätte ihm jemand eine Faust in den Magen gebohrt. Es dauerte einen Moment, bis er sich gefasst hatte. Er sprang auf und lief in der engen Küche hin und her, dann ging er vor Lisa in die Hocke, sodass ihre Augen auf gleicher Höhe waren. Und du hast wirklich keine Ahnung, wo sie sein könnten?, fragte er eindringlich. Lisa schüttelte den Kopf. Aimée hat nur gesagt, dass sie wegfahren wollen und Ruben ihr dann sagen würde, wohin. 357
Die Villa verschlug Josch den Atem. Er stand in der riesigen Diele und sah sich staunend um. Über ihm hing ein Kristalllüster, an den Wänden ein paar alte Meister, daneben Impressionisten und mehrere moderne Gemälde. Halbmeterhohe Silberleuchter säumten den Eingang. Ein Hausmädchen hatte ihm geöffnet und war in einem der Zimmer verschwunden, um ihn anzumelden. Eine sehr hübsche Frau mit langem, dunklem Haar kam auf ihn zu. Sogar Josch erkannte, dass ihre Kleidung teuerste Haute Couture war. Lächelnd streckte sie ihm die Hand entgegen. Karina Thewes, sagte sie, guten Tag, Herr Gercken. Mein Mann lässt sich entschuldigen, heute ist Club-Turnier, und seine Mannschaft kann nicht auf ihn verzichten. Danke, dass Sie Zeit für mich haben, sagte Josch höflich. Frau Thewes machte eine Handbewegung, und er folgte ihr in einen Raum, der wohl als Empfangssalon bezeichnen wurde. Auch hier teuerstes Mobiliar, diesmal modern und durchaus geschmackvoll. Josch fragte sich, mit welchem Beruf Herr Thewes so viel Geld verdiente. Seine Frau bat ihn, Platz zu nehmen, das Mädchen servierte Tee aus einer silbernen Kanne und hauchdünnen Tässchen. Worum geht es?, fragte Frau Thewes. Ich bin Aimées Stiefvater. Aimée und Ruben gehen in eine Schule … 358
… gingen in eine Schule, unterbrach sie. Ruben hatte … einige Probleme, und man hat uns gebeten, nach einer anderen Schule für ihn zu suchen. Nach den Weihnachtsferien wird er ein Internat in England besuchen. Sie schicken ihn weg?, fragte Josch. Nun ja, wir denken, es ist das Beste für ihn. Die englischen Internate sind ganz exzellent. Ah, ja, sagte Josch. Wissen Sie, wo Ruben im Moment ist? Er verbringt das Wochenende bei seiner Mutter. Ruben stammt aus der ersten Ehe meines Mannes. Warum lebt er nicht bei seiner Mutter? Sie ist etwas … sagen wir, labil. Ehrlich gesagt glauben wir nicht, dass sie der richtige Umgang für ihn ist. Aber sie ist nun mal seine Mutter. Würden Sie dort anrufen und sich Ruben geben lassen? Wie bitte? Frau Thewes sah ihn verblüfft an. Ich bin ziemlich sicher, dass er dort nicht ist, sagte Josch. Sie stand auf und holte ein Telefon. Aus dem kurzen Gespräch entnahm Josch, dass er richtig lag. Ruben war nie dort eingetroffen, die Mutter war davon ausgegangen, dass sie sich im Wochenende geirrt hätte. Was soll das bedeuten?, fragte Frau Thewes, die jetzt leicht besorgt wirkte. Es sieht so aus, als wären Ruben und Aimée zusammen abgehauen. Ich hatte gehofft, Sie hätten eine Idee, wo die beiden sein könnten.
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Ich? Frau Thewes sah aus, als fände sie diesen Gedanken völlig abwegig. Ich weiß wenig von ihm, sagte sie, er ist sechzehn, er macht, was er will, und erzählt eigentlich nie was. Ich bin sehr eingespannt, wissen Sie. Wir haben zahlreiche gesellschaftliche Verpflichtungen, ich begleite meinen Mann auf Reisen und bin sehr aktiv im Charity-Bereich. Was sollen wir denn jetzt machen? Soll ich meinen Mann anrufen? Nein, warten Sie, sagte Josch. Lassen Sie uns überlegen. Gibt es Orte, an denen Ruben sich gern aufhält, wo er sich vielleicht schon mal versteckt hat? Sie zuckte die Schultern. Nicht, dass ich wüsste. Die Familie besitzt ein Haus auf Sylt, dort hat er in der Kindheit immer die Ferien verbracht. Aber es wohnt ein Verwalter dort, Ruben könnte sich nicht unbemerkt im Haus aufhalten. Überlegen Sie weiter, forderte Josch sie auf. Mir fällt nichts mehr ein. Haben Sie schon seine Freunde gefragt? Ich kenne seine Freunde nicht, sagte Josch. Nur von einem Till habe ich mal gehört. Till, sagte sie nachdenklich, ist das nicht der Apothekerssohn? Die beiden waren ganz eng miteinander, aber seit Ruben von der Schule geflogen ist, habe ich ihn nicht mehr gesehen. Können Sie mir seine Nummer geben? Natürlich, sagte sie und sprang auf. Josch notierte sich die Nummer, dann begleitete sie ihn zur Tür. 360
Bitte, rufen Sie mich an, sobald Sie etwas wissen!, bat sie. Ich weiß gar nicht, wie ich es meinem Mann beibringen soll. Sie sah ihn aus großen, dunklen Rehaugen flehend an und wirkte plötzlich nicht mehr wie eine kalte Society-Zicke, sondern wie eine ziemlich verzweifelte junge Frau. Wieso sollte ich mit Ihnen reden?, sagte eine raue Jungestimme am Telefon. Es geht immerhin um deine Freunde, erwiderte Josch. Ich habe Ruben schon ‘ne Weile nicht gesehen. Und Aimée? Er antwortete nicht. Woher haben Sie überhaupt meine Nummer? Von Frau Thewes. Seit wann interessiert die sich dafür, wie es Ruben geht? Wie geht’s ihm denn? Woher soll ich das wissen, sagte Till. Also, tschüss dann. Warte, sagte Josch. Ich mache das ungern, aber ich bin Rechtsanwalt, und wenn du nicht redest, werde ich meinen Kollegen in der Staatsanwaltschaft einen Tipp geben müssen. Es war nur ein Versuchsballon, aber an Tills Reaktion merkte Josch, dass er einen Treffer gelandet hatte. Ich hab keine Ahnung, wovon Sie reden, sagte der Junge mit verräterisch zitternder Stimme.
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Du weißt sehr gut, wovon ich rede. Ich verlange, dass du mir sagst, was du über Ruben und Aimée weißt. Wenn du irgendwelche Informationen zurückhältst und ihnen passiert was, dann schwöre ich dir, wird es dir leid tun! Eine unbändige Wut hatte Josch gepackt, auf Till, auf Lisa und all die verkorksten Jugendlichen, die sich in irgendeine absurde Vorstellung von Coolness und Freundschaft flüchteten, die mit dem Leben so viel zu tun hatte wie eine Ecstasy-Pille. Ist ja gut, lenkte Till ein. Können Sie in ‘ner halben Stunde im Loomers sein? Das ist der Laden gegenüber der Schule. Na also, knurrte Josch, geht doch. Till war ein schlaksiger Typ, der aussah wie achtzehn. Er hatte die Augen dunkel umrahmt und trug schwarze, löchrige Klamotten, die so ähnlich aussahen wie die Sachen, die Josch in Aimées Schrank gefunden hatte. Er bestellte einen Kamillentee. Hab’s am Magen, erklärte er, zu viel Stress. Du kannst einigen Stress abbauen, wenn du jetzt den Mund aufmachst, sagte Josch grimmig. Ich will ‘nen Deal, sagte der Junge. Soll heißen? Ich sag Ihnen, was ich weiß, und Sie versprechen, dass mir nichts passiert. Josch holte Luft und verschränkte die Arme vor der Brust. Wenn du weiter dealst, fliegst du sowieso irgendwann auf. Das könnte selbst ich nicht verhindern. 362
Ich will ja nicht weiter machen, sagte Till, mir ist das längst zu heiß geworden, aber was ist, wenn die mich verpfeifen? Das allerdings kann ich verhindern, sagte Josch, wenn du mir sagst, wo sie sind. Also gut, sagte Till und beugte sich zu ihm.
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Aimée wusste nicht, seit wie vielen Stunden sie am Boden des Bauwagens hockte und Rubens Gesicht betrachtete, das auf ihrem Schoß lag. Es war so schön, mit ihm zusammen zu sein. Ruben schlief schon seit einer ganzen Weile; sein Atem ging langsam, aber regelmäßig. Sie machte sich keine Sorgen um ihn. Sie machte sich überhaupt keine Sorgen mehr. Als sie gestern ankamen, war er gereizt und nervös gewesen. Sie hatten sich aufs Sofa gelegt und was getrunken, danach war er ruhiger geworden, und sie hatten sich stundenlang gestreichelt. Aimée hatte sich gewundert, dass er nicht mit ihr schlafen wollte. Er hatte schon länger nicht mir ihr schlafen wollen. Es war, als hätte er nur noch Sehnsucht nach den Pillen. Wenn er was genommen hatte, wurde er wieder so, wie er war, als sie sich in ihn verliebt hatte. Immer wieder hatte er sie überreden wollen, auch solche Smileys zu nehmen, aber sie hatte sich geweigert. Eine düstere Ahnung hatte ihr gesagt, dass sie standhaft bleiben müsste. Wenigstens sie. Flieg mit mir weg, hatte Ruben sie angefleht, du hast es versprochen! Ja, ich hab’s versprochen, hatte Aimée gesagt, ich wollte weit weg mit dir, dorthin, wo uns nichts 364
mehr passieren kann. Aber warum sind wir jetzt hier? Diese Reise wird uns weiter wegführen, als du dir je hast träumen lassen, hatte er gesagt, danach kann uns nichts mehr passieren. Sie hatte zu weinen begonnen. Aber … ich will gar nicht sterben, hatte sie ausgerufen, das war doch alles nicht ernst gemeint! Ruben hatte sie in die Arme genommen. Wer spricht denn vom Sterben, hatte er in ihr Ohr geflüstert. Sterben ist langweilig. Was wir auf dieser Reise erleben werden, hat vor uns noch keiner erlebt! Zitternd hatte sie sich an ihn gepresst und gewünscht, sie wäre ebenso mutig wie er. Oder ebenso verrückt. Wer hat dich bloß verraten?, hatte sie geflüstert. Jennifer. Jennifer? Aimée sah auf. Aber warum? Ruben hatte gelangweilt die Schultern gezuckt. Dann hatte er sie von hinten umfasst und sanft gewiegt. Flieg mit mir, hatte er leise in ihr Ohr gesungen, weit weg von hier. Als Ruben schon schlief, war ihr übel geworden. Alles um sie herum hatte sich gedreht, feurige Räder waren auf sie zu- und wieder weggerast. Mit letzter Kraft war sie aus dem Bauwagen geklettert und hatte sich erbrochen. Danach war sie ins Gras gefallen und erst einige Zeit später, zitternd vor Kälte, aufgewacht. Sie war die Stufen wieder hoch und zu Ruben gekrochen.
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Nur zehn Minuten zu Fuß vom Loomers entfernt lag ein riesiges, aufgelassenes Baugelände. Zwei Jahre zuvor hatte sich herausgestellt, dass dort jahrelang Giftmüll gelagert worden war. Der Boden war bis zum Grundwasser verseucht. Der Bau einer großen Altenwohnanlage war eingestellt worden. Seither befassten sich die Gerichte mit dem Fall. Das ist auch so ‘ne Geschichte, wo man den puren Hass kriegt, sagte Till und zog wütend an seiner Zigarette, während er neben Josch über das Gelände stapfte. Auf so ‘ne Welt haben wir einfach keinen Bock. Und als Antwort dröhnt ihr euch voll und wollt euch umbringen, sagte Josch, echt cool. Schweigend gingen sie weiter. In Josch wurde die Unruhe mit jeder Sekunde größer, seine Kiefer mahlten, die Augen waren zu schmalen Schlitzen verengt. Da drüben ist es, sagte Till und blieb stehen. Ich hau dann mal ab. Warte, sagte Josch und hielt ihn am Ärmel fest, wo? Da drüben, wiederholte Till und zeigte mit der Hand in eine Richtung. Jetzt erkannte Josch hinter hochgewachsenen Büschen einen Bauwagen aus blau gestrichenem Holz. Da drin?, vergewisserte er sich. Till nickte und war im nächsten Moment hinter einer Betonmauer verschwunden. Josch war mit wenigen Schritten am Wagen. Er erklomm die drei Stufen, die zur Eingangstür 366
führten, und drückte auf die Klinke. Die Tür schien zu klemmen, er stieß heftig dagegen, und sie sprang auf Seine Augen mussten sich erst an die Dunkelheit gewöhnen, dann sah er ein Sofa und zwei Stühle, davor einen Tisch, auf dem Flaschen standen. Unter einem der Fenster war ein Bord angebracht, darauf befanden sich zwei Herdplatten und ein Wasserkocher. Aufgerissene Pizzakartons und ein angebissenes Sandwich lagen daneben. An der Wand lehnten eine Reisetasche und ein Rucksack. Josch hörte ein Geräusch und drehte sich um. In der hintersten Ecke am Boden sah er Aimée sitzen, neben ihr lag Ruben, den Kopf auf ihrem Schoß. Aimée sah ihn aus müden Augen an. Hau ab, sagte sie. Josch ging vor ihr in die Knie und musterte sie prüfend. Ist alles in Ordnung mit dir?, fragte er. Glaub schon, murmelte sie. Und mit ihm? Besorgt richtete er den Blick auf Ruben. Weiß nicht genau, sagte sie, er schläft schon so lange. Josch sah sich nach einer Lichtquelle um, entdeckte eine Stehlampe und schaltete sie ein. Als das Licht anging, stöhnte Ruben auf. Sein Gesicht war unnatürlich blass, die Stirn schweißbedeckt. Josch nahm sein Handy und wählte die Notrufnummer. Nachdem er erklärt hatte, wohin der Krankenwagen kommen sollte, machte er das Licht 367
wieder aus und setzte sich auf den Boden. Besorgt horchte er auf den unregelmäßigen Atem des Jungen. Aimées Hand strich unaufhörlich über Rubens Stirn, in die immer wieder die blonden, glatten Haare zurückfielen. Nach wenigen Minuten ertönte in der Ferne ein Martinshorn. Josch ging zur Tür und winkte mit beiden Armen, der Wagen kam mit rotierendem Blaulicht angerast. Zwei Sanitäter kamen mit einem Notfallkoffer die Treppe hochgelaufen, Josch erklärte in kurzen Worten die Situation. Der eine hob Rubens Augenlider und leuchtete mit einer Taschenlampe hinein, dann fühlte er seinen Puls. Er gab dem anderen ein Zeichen. Sieht nicht gut aus, sagte er, wir nehmen ihn mit. Aimée, die aufgestanden war und alles genau verfolgt hatte, schluchzte auf und presste die Fäuste vor den Mund. Was ist mit dir?, fragte der Sanitäter, bist du okay? Sie nickte. Hast du was genommen? Sie schüttelte den Kopf. Er wandte sich an Josch. Zu wem gehören Sie? Ich bin ihr Vater, erklärte Josch, und zeigte auf Aimée. Der Junge ist ein Schulfreund. Ich kann die Eltern verständigen, wenn Sie wollen. Ja, bitte, sagte er, wir bringen ihn in die Städtischen Kliniken, Notaufnahme.
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Während Josch mit Frau Thewes telefonierte, legten die Sanitäter Ruben auf eine Trage und schoben ihn in den Krankenwagen. Ich will mit, rief Aimée und lief zum Wagen. Bleib du mal besser hier bei deinem Vater, sagte der Fahrer und stieg ein. Der zweite Sanitäter schwang sich auf den Beifahrersitz, und in hoher Geschwindigkeit verließ der Wagen das Gelände. Der Klang des Martinshorns war noch eine Weile zu hören, dann war es still. Bei meinem Vater, wiederholte Aimée. Sie ließ sich auf die Stufen fallen, verbarg ihren Kopf in den Armen und weinte lautlos. Josch lehnte erschöpft am Wagen. Komm, sagte er schließlich, wir fahren ins Krankenhaus. Den ganzen Nachmittag war Nela unruhig in der Wohnung auf und ab gegangen. Sie hatte eine leichte Übelkeit verspürt, die sie auf ihre Aufregung geschoben und nicht weiter beachtet hatte. Als endlich Joschs Anruf kam, war sie vor Erleichterung in Tränen ausgebrochen. Im gleichen Moment krampfte sich ihr Bauch zusammen, und sie musste sich aufs Sofa legen. Wann kommt ihr?, fragte sie ins Telefon. Bald, versprach Josch, wir müssen nur noch was erledigen. Danke, flüsterte Nela, nachdem er aufgelegt hatte. Das sind noch mal zehn Kerzen, mindestens.
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Josch und Aimée trafen gleichzeitig mit Herrn und Frau Thewes im Krankenhaus ein. Rubens Zustand war ernst, aber nicht lebensgefährlich. Man hatte ihm den Magen ausgepumpt und ihn an kreislaufstabilisierende Infusionen angeschlossen. Rubens Vater bedankte sich bei Josch; während sie leise miteinander sprachen, drehte Aimée sich weg und starrte gegen eine Wand. Herr Thewes legte ihr eine Hand auf die Schulter. Du bist also Aimée, sagte er, und sie nickte, ohne ihn anzusehen. Ich glaube, Ruben hat dich sehr gern, fuhr er fort. Klar, sagte Aimée und blickte auf, sonst hat er ja niemanden! Rubens Vater musterte sie befremdet. Wissen Sie überhaupt, warum er das getan hat?, fragte Aimée heftig. Warum er wegfliegen wollte, weit weg von hier? Dummejungenstreiche, murmelte der Vater. Sie haben keine Ahnung, sagte Aimée voller Verachtung. Nun reicht’s aber, hörst du! Wollen Sie ihn immer noch wegschicken, ins Internat für ungeratene Kinder?, rief Aimée so laut, dass man es über den ganzen Krankenhausflur hören konnte. Das lass mal unsere Sorge sein, sagte Herr Thewes, nahm seine Frau am Arm und ging mit ihr weg.
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Josch, der die Szene verfolgt hatte, legte den Arm um Aimée, die vor Wut und Aufregung zitterte. Tut mir leid, sagte sie und hielt mühsam die Tränen zurück. Das muss dir nicht leid tun, sagte Josch, du hast ja völlig Recht. Zaghaft schmiegte sie sich an ihn, und er hielt sie fest. Auf dem Heimweg sprachen sie wenig. Aimée schloss die Augen und legte die Stirn an die kühle Scheibe des Autos. Zu Hause ließ sie sich von Nela umarmen, aß einen Teller Grießbrei und ging zu Bett. Innerhalb von Minuten war sie eingeschlafen. Josch blieb neben ihr sitzen. Aufmerksam betrachtete er ihre Gesichtszüge, studierte die Form ihrer Nase, die aufgeworfenen, im Schlaf leicht geöffneten Lippen, die kleine Falte zwischen den Brauen, die dunklen Wimpern, die zart und zittrig auf dem Jochbein auflagen wie die Flügel eines Falters. An ihrem linken Ohr entdeckte er einen Ohrring. Er konnte sich nicht erinnern, ihn schon gesehen zu haben. Er beugte sich vor, um ihn genauer betrachten zu können. An einer silbernen Kreole hing ein kleines R. Er wünschte sich, in das Innere ihres Kopfes, in die Windungen ihres Gehirns eindringen zu können, um zu begreifen, was dort vor sich ginge und was sie so weit von ihm entfernt hätte.
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Er wusste, dass er sie jeden Tag weniger würde beschützen können, dass sie ihm wehtun und ihn verletzen müsste, um zu sich selbst zu finden. Mit dem Handrücken strich er sanft über ihre Wange, dann verließ er das Zimmer. Am nächsten Tag, einem Sonntag, stand plötzlich David vor der Tür. Er wolle sehen, ob mit Aimée alles in Ordnung sei, sagte er und lächelte entschuldigend. Bist du extra aus Zürich gekommen?, fragte Josch ungläubig, und David nickte. Wie lieb von dir, sagte Nela. Ich fahre schnell und hole uns Kuchen, okay? Sie nahm den Autoschlüssel und lief die Treppe hinunter. Josch bat David ins Wohnzimmer und klopfte an Aimées Zimmertür. Als keine Antwort kam, trat er ein und machte ihr ein Zeichen, die Kopfhörer abzunehmen. Rate mal, wer da ist, sagte er. Wer denn? Dein Vater. Echt? Aimée sprang auf und lief zu ihm. Einen Moment war sie unsicher, dann ließ sie sich von David umarmen. Er reichte ihr ein kleines Päckchen. Für dich, sagte er lächelnd, und zu Josch: Ich hoffe, du hast nichts dagegen. Aimée riss das Geschenkpapier auf, eine Digitalkamera kam zum Vorschein.
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Danke, sagte sie begeistert, das ist super nett von dir! Sie setzten sich, verlegene Stille entstand. Also, sagte David und räusperte sich, ich wollte wissen, ob es Aimée wirklich gut geht. Josch machte eine ungeduldige Bewegung. Ich hab doch gestern angerufen und dir gesagt, dass alles okay ist. Ist denn alles okay?, fragte David und griff nach Aimées Hand. Natürlich, sagte Aimée. Warum bist du dann weggelaufen? Ich bin nicht weggelaufen, erklärte sie, ich war mit meinem Freund zusammen, er hatte Probleme. Und du, hast du auch Probleme? Nein, sagte Aimée. Als du bei mir in Zürich warst, hast du was anderes gesagt, stellte David fest. Aimée sah ihn überrascht an. Was hab ich da gesagt? Du hast gesagt, du könntest dir vorstellen, bei mir zu leben. So gut kann’s dir also hier nicht gehen. Aimée schüttelte den Kopf. So war es gar nicht, sagte sie, du hast mich gefragt, ob ich es mir vorstellen könnte, und weil ich dir nicht wehtun wollte, habe ich gesagt, ja, vielleicht irgendwann mal. David verschränkte die Hände auf der Tischplatte und sagte: Manchmal weiß man als junger Mensch nicht, was gut für einen ist.
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Unsicher sah Aimée von ihm zu Josch, der dem Gespräch stumm gefolgt war. Das musst du uns genauer erklären, sagte er. David wandte sich wieder seiner Tochter zu. Aimée, bitte wiederhol doch mal, was du mir über die Beziehung zwischen dir und Josch erzählt hast! Sie sah ihn ratlos an. Ich weiß nicht, was du meinst. Denk nach, forderte er sie auf Aimée überlegte. Ich habe gesagt, dass Josch … mehr als ein Vater für mich ist, nämlich … ein Freund. Na bitte, sagte David triumphierend, und das war noch nicht alles. Natürlich war das alles, sagte Aimée Du lügst. Ich lüge nicht, sagte sie empört. Du hast gefragt, ob Josch mich liebt, und ich habe gesagt, ja. Dann hast du gefragt, wie ein Vater? Und ich habe gesagt, er ist sogar mehr für mich als ein Vater. Was soll daran schlimm sein? Das verstehst du vielleicht noch nicht, sagte David und lehnte sich zurück, aber ein Familienrichter würde es verstehen. Aimées Augen weiteten sich. Jetzt kapier ich, sagte sie und schüttelte den Kopf, als könnte sie nicht glauben, was sie gehört hatte. Sie betrachtete ihren Vater, als sähe sie ihn zum ersten Mal. Ich habe gedacht, wir könnten wenigstens Freunde werden, sagte sie leise, aber ich habe mich getäuscht. Und jetzt gehst du wohl besser!
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Sie stand auf und warf sich neben Josch aufs Sofa, der schützend einen Arm um sie legte. David erhob sich. Er war blass und presste die Lippen zusammen. Ohne ein Wort verließ er den Raum, gleich darauf hörte man die Wohnungstür zufallen. Josch und Aimée blieben, eng aneinander geschmiegt, sitzen. Aimées Hand suchte nach einer Haarlocke, fand keine und sank wieder herab. Hoffentlich schlage ich nicht nach ihm, sagte sie, er hat einen miesen Charakter. Sie wischte mit dem Handrücken über ihre Augenlider, die Wimperntusche verschmierte. Josch griff nach der gerahmte Fotografie im Regal, die ihn, Rosanna und Aimée im Schnee zeigte. Er hielt sie ihr vors Gesicht. Was siehst du? Sie zog die Nase hoch. Mama, dich und mich. Und den Schneemann. Sieh genau hin, forderte Josch sie auf. Aimée bewegte die Fotografie suchend hin und her, sie entdeckte ihr Spiegelbild mit den dunkel umflorten Augen. Einen traurigen Clown, sagte sie und lächelte. Nein, sagte Josch, du siehst ein kleines Mädchen, das groß geworden ist. Und was siehst du?, fragte sie. Josch überlegte. Einen Mann, der anfängt, die Wirklichkeit zu sehen und nicht nur ein Bild von ihr.
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Langsam
kehrte Nelas Bewusstsein wieder. Das Erste, was sie wahrnahm, war eine Neonröhre an der Decke und ein Fernseher, der ziemlich weit oben an der Wand angebracht war. Das zweite war Joschs Gesicht, das sich über sie beugte. Was ist passiert?, fragte sie, obwohl sie es bereits ahnte. In der Nacht hatte sie Bauchkrämpfe bekommen. Sie hatte sich nach einer Wärmflasche gesehnt, es aber nicht geschafft, aufzustehen. Plötzlich hatte sie etwas Warmes an ihren Beinen gespürt, die Nachttischlampe eingeschaltet und die Decke zurückgeschlagen. Ein riesiger Blutfleck hatte sich auf dem Laken ausgebreitet. Jemand hat dir die Entscheidung abgenommen, sagte Josch und streichelte sanft ihr Gesicht Sie nahm seine Hand und hielt sie fest. Wie geht’s dir?, fragte sie. Ich weiß nicht, sagte er, es ging alles so schnell. Sie hatte einen Schrei ausgestoßen, Josch war hochgeschreckt und hatte die Situation mit einem Blick erfasst. Vorsichtig hatte er sie in eine Decke gewickelt und zum Auto getragen. Zehn Minuten später waren sie im Krankenhaus angekommen. Sturzblutung, hatte sie den Arzt sagen hören. Lebensgefahr. Vollnarkose. Ausschabung. 376
Bist du traurig?, fragte Nela. Josch nickte. Ja. Sehr traurig. Wieder schwiegen beide. Vielleicht ist es besser so, sagte Nela und wunderte sich, dass sie nicht fühlte, was sie sagte. Es war einfach nur einer dieser Sätze, die man in einem solchen Moment sagt. Wer weiß, wofür es gut ist. Das Leben geht weiter. Alles hat seinen Sinn. Josch nickte. Ich war wohl noch nicht so weit, sagte Nela. Ja, sagte er. Das Letzte, was sie gespürt hatte, war die Kanüle, die in ihre Armvene geschoben wurde. Verzeih mir, hatte sie gedacht. Verzeih mir, dass ich dich nicht so gewollt habe, wie du es verdient hast. Dann war es dunkel geworden. Es klopfte, Aimée steckte den Kopf durch die Tür. Darf ich? Komm ruhig rein, sagte Nela lächelnd. Zaghaft kam Aimée näher und setzte sich auf die Bettkante. Wie geht’s dir?, fragte sie schüchtern. Nela und Josch wechselten einen Blick. Na ja, sagte Nela, das Baby hat’s sich anders überlegt. Aimées Augen weiteten sich. Aber … doch nicht wegen mir? Nein, sagte Josch, es hat nichts mit dir zu tun. So was passiert einfach. Aimée saß da wie erstarrt. Dann stürzten ihr die Tränen aus den Augen. 377
Und ich hatte mich schon so gefreut, schluchzte sie, ich wollte Babysitter machen, sodass ihr auch mal ins Kino könnt und Nela weiter arbeiten kann und keinen Babyblues kriegt … Nela und Josch streichelten gleichzeitig Aimées Rücken, dabei berührten sich ihre Hände, und ihre Finger verschränkten sich ineinander. In all der Verwirrung und Traurigkeit fühlte Nela plötzlich ein vages Glücksgefühl. Vielleicht hatte tatsächlich alles seinen Sinn. Drei Tage später, auf dem Rückweg vom Krankenhaus, zog sich der Himmel zu, und in der Ferne grollte es leise. Der Wind frischte auf und wirbelte Papierfetzen und Plastiktüten durch die Luft. Wintergewitter, sagte Josch, was ganz Seltenes. Aimée summte die Musik aus dem Autoradio mit. Schon wieder Pink, stellte Nela fest und verdrehte die Augen. Family portrait, sagte Aimée, mein Lieblingslied. Bin ja echt froh, dass es bei mir zu Hause nicht so zugeht. Ein Parkplatz vor dem Haus, sagte Josch, das hatten wir lange nicht mehr. Er rangierte ein, und sie blieben sitzen, bis das Lied vorbei war. Geht ihr mit mir ins Pink-Konzert?, fragte Aimée. Wäre doch ein cooles Geburtstagsgeschenk. Du genierst dich sicher mit uns alten Säcken, sagte Josch und zwinkerte ihr im Rückspiegel zu. Wenn ihr die Tickets zahlt, könnte ich darüber großzügig hinwegsehen, sagte Aimée grinsend. 378
Beim Aussteigen wurde Nela von einem Windstoß erfasst, lachend ließ sie sich ein Stück den Gehweg entlangschieben. Der Wind verfing sich in den Bäumen, die letzten Blätter, die an den winterkahlen Gerippen hängen geblieben waren, kreiselten zu Boden. Schnell rein, bevor es anfängt zu schütten, sagte Josch, der schon einen Tropfen gespürt hatte. Kaum waren sie im Haus, blitzte es, und ein eisiger Regen rauschte herab. Nela dachte an andere Gewitter. Bei ihrer Hochzeit. In der Nacht von Rosannas Unfall. Die Wohnung empfing sie warm und freundlich. Das Licht des Anrufbeantworters blinkte, im Vorbeigehen drückte Nela auf den Knopf, die Stimme ihres Vaters erklang. Hallo, Nela, du hast heute eine Schwester bekommen! Sie ist … einfach überwältigend. Du musst unbedingt kommen und sie dir ansehen! Weißt du, wie wir sie nennen wollen? Du hast den Namen neulich erwähnt, und seither ist Elinor nicht mehr davon abzubringen: Rosanna! Hieß nicht die Ex-Freundin deines Mannes so? Ich hoffe, es ist in Ordnung für euch! Umarmung, mein Liebes, und bis bald. Rosanna, sagte Aimée direkt hinter ihr, und Nela fuhr erschrocken herum. Wenn es dir nicht recht ist, dann sage ich es ihnen, bot sie eilig an. Nein, sagte Aimée, ich finde es schön. Nach einer Pause fragte sie, was bin ich denn dann?
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Warte, sagte Nela, ich muss nachdenken. Also, wenn das meine Schwester ist und du bist gewissermaßen meine Tochter, dann bist du ihre Nichte, und das Baby ist deine Tante. Aimée stutzte, dann brach sie in fröhliches Gelächter aus. Meine Tante! Ein Baby! Sie lief in ihr Zimmer und holte ihre neue Digitalkamera. Ich möchte ein Foto von uns machen, sagte sie, ein Familienportrait für Tante Rosanna. Damit sie später weiß, wie wir am Tag ihrer Geburt ausgesehen haben. Sie postierte Nela und Josch vor eine Wand, an der eines von Rosannas Bildern hing. Dann legte sie so viele Bücher als Stapel auf den Tisch, bis exakt die richtige Höhe für die Kamera erreicht war. Sie schaltete die Selbstauslöserfunktion ein und stellte sich zu Nela und Josch. Kinderkacke!, rief sie. Kinderkacke!, riefen Nela und Josch. Auf dem Foto sah man vier fröhliche Gesichter. Auch das Gesicht auf dem Bild lächelte.
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