Band 214
Sklaven
von HANS WARREN
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Band 214
Sklaven
von HANS WARREN
Neues Verlagshaus für Volksliteratur GmbH. Bad Pyrmont, Humboldtstraße 2 (Mitglied des Remagener Kreises e.V.)
Nachdruck verboten Alle Rechte, auch das der Übersetzung. Dramatisierung und Verfilmung, von der Verlagsbuchhandlung vorbehalten Copyright 1930, 1958 by Neues Verlagshaus für Volksliteratur G. m. b. H. Bad Pyrmont
Printed in Germany 1958
Druck: Erich Pabel, Druck- und Verlagshaus, Rastatt (Baden) Die Auslieferung erfolgt nur durch Erich Pabel, Verlagsauslieferungen, Rastatt (Baden), Pabel-Haus Verlagsauslieferung in Österreich: Buch- und Zeitschriftenvertrieb Wilhelm Swoboda, Wien XIV, Linzer Straße 22 Verlagsauslieferung im Saarland: Zeitschriften-Großvertrieb J. Klein, Saarbrücken, St.-Johanner Straße 66
„Rolf Torrings Abenteuer“ dürfen nicht in Leihbüchereien geführt und nicht zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden
1. Kapitel „Es ist doch eine verdammt merkwürdige Sache mit diesen Gerüchten in den Tropen“, sagte ich und ließ zwischen den einzelnen Worten das schwere Buschmesser in meiner Rechten pfeifend auf Lianen und Buschwerk niedersausen, die uns den Weg durch den Urwald versperrten. „Und warum?“ wollte Rolf wissen, der hinter mir ging. Ich hatte ihn vor ein paar Minuten in der schweren Arbeit des Wegschlagens abgelöst, die einen Weißen in der feuchten Hitze des tropischen Inselurwaldes bis zur Erschöpfung auspumpen kann. „Man weiß nie, was eigentlich daran ist“, erklärte ich, hob wieder das schwere Buschmesser und machte zwei Schritte vorwärts in die Gasse hinein, die die sausende Klinge des Messers eben geschlagen hatte. Mit Nachdruck wollte ich das Haumesser in ein wahres Gewirr saftstrotzender Lianen schlagen, die in Brusthöhe den Weg versperrten, als ich mich plötzlich an der Schulter gepackt und herumgerissen fühlte. Das Haumesser entglitt meiner Hand. „Was zum Teufel …“ brüllte ich Rolf an, dessen Hand mich noch weiter zurückriß. Weiter kam ich nicht … Dort, wo ich eben noch gestanden hatte, plumpste im gleichen Moment etwas dumpf zu Boden. Etwas wie ein grünlichweißer Schemen, aber ein Schemen, das sehr lebendig geworden war. Es gab wilde, ringelnde Bewegungen. Das Schemen schnellte in schmetternden Bögen über den feuchten Urwaldboden, dann pfeilte es empor und dicht vor mir zuckte der breite, eckige Kopf einer Schlange empor, öffneten sich zischend die Kiefer und legten nadelspitze fingerlange Zähne frei. Eine Baumschlange! 5
Das Haumesser, dachte ich flüchtig, wenn ich in dieser Sekunde überhaupt etwas dachte. Ich weiß es nicht genau. Der Schlangenkopf zuckte vor, und ich begriff, daß ich kein Haumesser mehr hatte. Es war mir aus der Hand geglitten, lag dort, wo sich die angreifende Schlange ringelte! Wo sie ihren muskulösen Leib jetzt um meine splitternden Knochen pressen würde, wenn mich Rolf nicht im letzten Augenblick zurückgerissen hätte. Diesmal brauchte er es nicht, diesmal wich ich allein zurück, als die Schlange vorschnellte. Aus den Augenwinkeln sah ich eine schemenhafte Bewegung Pongos, der sich an Rolf vorbeigeschoben hatte, und im nächsten Moment wirbelte blitzend sein breites Haumesser haarscharf an unseren Köpfen vorbei, zur Schlange hin. Es traf sie genau unterhalb des Kopfes und durchtrennte ihren Rumpf mit einem dumpfen „plop“. Der Schlangenkopf mit dem aufgerissenen Rachen wirbelte beiseite, der Rumpf zuckte in wilden Windungen über den Pfad, peitschte den Busch. Es dauerte nur Sekunden, dann wurden die Bewegungen schlaff und kraftlos, erstarben ganz. „Das war ziemlich dicht“, sagte ich heiser und richtete mich langsam auf. „Das kommt davon, wenn man im Urwald Märchen erzählt, statt sich um die Umgebung zu kümmern.“ Die Knie waren mir ein bißchen weich, und ich fand es noch heißer als vorhin. Mit einer fahrigen Bewegung wischte ich mir den Schweiß von der Stirn und schob den Hut in den Nacken. Ich wußte genau, daß es jetzt nicht heißer war als vorhin. Es war nur der Rumpf der Baumschlange, der nun bewegungslos zwei Meter vor mir lag, der mir diese Empfindung eingab. Dies hier war nicht meine erste Begegnung mit Baumschlangen, und vielleicht war es gerade darum. Viele Leute haben schon viel über Schlangen erzählt. Man6
ches stimmt und manches stimmt nicht. Die meisten fürchten Giftschlangen mehr als alles andere, dabei haben wir immer gefunden, daß Giftschlangen im allgemeinen friedliche Geschöpfe sind, wenn man sie nicht reizt oder zufällig auf sie tritt. Die Riesenschlangen sind da schon gefährlicher für einen Mann im dichten Urwald. Vielleicht halten die einen Menschen eher für eine Beute nach ihrer Kragenweite als die durchweg kleineren Giftschlangen, für die der Mensch niemals Beute, nur eine riesengroße Gefahr ist. Und gegen Riesenschlangen hilft kein Serum. Sie sind nicht giftig, aber sie sind so stark, daß sie einem Gegner, den sie erst einmal umschlungen haben, alle Knochen brechen und ihn in Sekundenschnelle erdrosseln. Aber auch die meisten Riesenschlangen lassen einen Menschen in Ruhe, wenn er sie in Ruhe läßt. Die meisten, aber nicht alle. Mit der südamerikanischen Anakonda kann man in dieser Hinsicht schlechte Erfahrungen machen. Man kann. Aber mit der Baumschlange macht man sie in jedem Fall. Weiß der Teufel, warum diese grünweißen Biester immer so bösartig sind – ob sie chronisch schlechte Laune haben, Leberleiden oder – wie die Malayen der Waldstämme behaupten – die Wächter des Waldes sind? Auf jeden Fall ist mir noch nie eine Baumschlange von über drei Metern Länge begegnet, die nicht ohne weitere Umstände einen Menschen angegriffen hätte. Und weil sie das, ihrem Namen gemäß, aus den Bäumen herab tut, auf denen sie sonst herumkriecht, ist ihr Angriff so besonders heimtückisch und gefährlich. Sie läßt sich herabfallen, und ehe man ausweichen kann, umspannt sie ihr Opfer schon mit den tödlichen, würgenden Ringen ihres Leibes. Dabei sind diese Baumschlangen selbst für die unwahr7
scheinlichen Kräfte dieser Riesenschlangen noch ausgesprochen stark. Eine Baumschlange von drei Metern Länge tötet einen ungeübten Mann. Der Rumpf da vor uns auf dem Pfad aber hatte fast fünf Meter Länge und war so dick, daß Pongo beide Hände brauchte, um ihn zu umspannen. Und unser Pongo hat nicht gerade Hände, die man für die eines jungen Mädchens halten könnte! Ich zündete mir eine Zigarette an und meinte, sie ziemlich nötig zu haben. Wahrscheinlich war es auch so. Rolf stieß mich unsanft in die Rippen. „Wie war das nun mit den Gerüchten in den Tropen?“ fragte er grinsend. „Mit was für Gerüchten, beim Teufel?“ wollte ich wissen. „Mit denen, über die du gerade sprechen wolltest, ehe dieser Regenwurm da dich unterbrach.“ Ich hätte ihn dafür und für sein Grinsen ermorden können, aber das hätte auch nichts genützt. Außerdem hatte er recht. Diese Gerüchte waren an allem schuld, wenn man es richtig besah. Einmal daran, daß wir überhaupt auf fast zugewachsenen, alten Wildpfaden durch den Urwald von Nord-Pageh, einer Insel westlich Sumatra, krochen, und zum anderen, daß ich so unachtsam gewesen war wie ein Anfänger, wie ein Mann, der zum erstenmal durch den Urwald stolpert und keine Ahnung von seinen Gefahren hat. Gerüchte, die wir schon an der Küste Sumatras gehört hatten, wo auch immer wir mit Weißen oder Malayen der gehobeneren Stände zusammenkamen. „Es ist doch eine verdammt merkwürdige Sache mit diesen Gerüchten in den Tropen“, sagte ich darum und sah sinnend dem Rauch meiner Zigarette zu, der langsam und träge zwischen dem Blättergewirr des Inselurwaldes dahinzog und sich ein paar Meter weiter mit dem von Rolfs Zigarette zu einem 8
dünnen, grauen Schleier mischte. So dünn, wie die Tatsachen, die hinter solchen Tropengerüchten stehen. Oder vielleicht sind die Tatsachen noch dünner als dieser Rauch. Rolf sprach es aus. „Was erwartest du sonst?“ fragte er langsam. „Viel Abwechslung gibt es ja kaum hier. Die Menschen können nicht abends mal schnell ins Kino gehen wie in Europa. Sie können nicht einmal jeden Tag in ihren Klub fahren. Und wenn sie dann schon einmal in der Woche oder einmal im Monat mit alten Bekannten und Menschen von den anderen Farmen, Gruben oder was weiß ich, zusammenkommen, dann gibt es natürlich eine Menge Fragen und eine Menge zu erzählen. Das ist doch ganz verständlich. Und weil jeder etwas dazu sagen will, wird aus der Mücke der berühmte Elefant. Von jedem Treffen zum nächsten haben die Dinge an Größe und Gewicht zugenommen. Hier sollte es eigentlich ebenso sein. Irgendein Mädchen brennt mit ihrem Freund durch, die Leute erzählen es vielleicht zuerst ganz richtig. Und die anderen, die es bei dieser Gelegenheit gehört haben, erzählen es beim nächstenmal noch fast richtig, nur schon ein bißchen spannender. Und auf diese Weise ist nach ein paar Wochen die tollste Entführungsgeschichte fertig, die in der Küste herumgeistert und die immer mehr ausgeschmückt wird, weil sie so angenehm gruselig ist und so schön von dem ewigen Einerlei der Farmarbeit ablenkt.“ „Um das zu beweisen“, sagte ich, „ist die Art, wie mir es machen, etwas umständlich, könnte man meinen. Wenn es nur ein Gerücht ist, warum kriechen wir dann durch den Urwald und lassen uns von wildgewordenen Baumschlangen halb umbringen?“ „Du hast mit den Gerüchten angefangen, nicht ich“, grinste Rolf. „Ich habe auch gar nicht behauptet, daß es so ist, wie ich 9
eben dargelegt habe. Ich denke nur, das wäre eine der Möglichkeiten, und wir sollten nicht vergessen, daß es vielleicht sogar die wahrscheinlichste ist.“ „Und die anderen Möglichkeiten?“ fragte ich aggressiv. Meine Nerven spielten nach der Geschichte mit der Schlange noch nicht wieder ganz mit, das machte mich böse. Rolf zuckte die Schultern. „Rechne dir zusammen, was wir wissen und was wir gehört haben, dann müßtest du es ziemlich bald zusammenhaben.“ „Na schön“, gab ich nach. „Also zunächst die Gerüchte. Also wenn man ihnen glauben will, dann verschwinden entlang der Küste seit Monaten, vielleicht seit Jahren, junge Malayenmädchen am laufenden Band. Keiner kann einen Namen nennen oder einen bestimmten Fall, aber die Erzählungen klingen sehr überzeugt.“ „Tun solche Erzählungen immer“, brummte Rolf. „Weiter. Dann ist da die Geschichte mit der kleinen Holländerin, dieser Ada van Geltrop. Niemand weiß, was wirklich daran ist, aber immerhin steht fest, daß wenigstens dieses Mädchen wirklich verschwunden ist. Eine Reihe der Leute, mit denen wir gesprochen haben, kannte sie persönlich und wußte ebenso genau, daß sie wirklich unauffindbar ist. Schließlich liegt auch die Vermißtenmeldung bei der Polizei vor.“ „Von ihrem Verlobten“, ergänzte Rolf. „Und genau damit geht das Kombinieren wieder an, Rolf. Du hast wie ich gehört, daß einige Leute von einem Trick reden. Einem Trick, den sich der Verlobte ausgedacht hat, um hinterher selbst verschwinden und sich mit Ada van Geltrop ungestört irgendwo treffen zu können.“ „Dann wäre es nur eine harmlose Entführung zwischen Verliebten. Nicht sonderlich ernst zu nehmen, was?“ „Kaum“, nickte ich. „Nach meinem Geschmack ist diese 10
Auslegung viel zu romantisch. Warum steigen sie nicht einfach zusammen in ein starkes Motorboot und fahren zum nächsten großen Hafen mit Überseeverkehr. Dann hätte ihre romantische Flucht weit weniger Komplikationen.“ „Nimm an, Ada wäre noch nicht volljährig“, erklärte Rolf. „Man sagt, ihre Eltern wären dagegen, daß sie diesen deutschen Ingenieur Barnow, ihren Verlobten, heiratet. Und die beiden inszenieren die Flucht.“ „Entschuldige“, sagte ich und warf den Rest der Zigarette fort. „Aber dann müßte dieser Ingenieur reichlich dämlich sein. Er gibt selbst die Vermißtenanzeige auf, damit die Polizei und die Regierungsstellen überall in Insulinde auch bestimmt auf dieses Mädchen und ihn achten. Außerdem würde Djakarta mit seiner jungen und empfindlichen Regierung, sofern es Europäer betrifft, ziemlich sauer reagieren, wenn am Ende so eine Geschichte dabei herauskäme. Du kannst mit den Leuten zwar reden, aber an der Nase lassen sie sich nicht gern herumführen. Das tut niemand, erst recht keine Behörde.“ „Nun soll dieser Heinz Barnow gar nicht so dämlich sein, Hans“, sagte Rolf langsam. „Wir haben ihn zwar nie kennengelernt, aber man hat es uns erzählt, und meistens erzählt man über andere eher etwas Schlechtes als etwas Gutes.“ „Bliebe also, daß diese Anzeige echter Sorge entsprach und dann wäre das Gerücht um die verschwundenen Mädchen wenigstens in diesem Punkt kein Gerücht mehr, sondern Tatsache.“ „Genau“, nickte Rolf. „Und unsere Herumkriecherei durch den Urwald wäre nicht eine verrückte Art, zu beweisen, daß es ein Gerücht ist, sondern eine ernsthafte Suche, um zumindest einem jungen Mädchen zu helfen, das Hilfe ziemlich nötig brauchen wird.“ „Dann wäre da noch diese Geschichte mit den beiden Matro11
sen“, überlegte Rolf weiter. „Sie wollen vor einer Woche von ihrem Handelskutter aus genau vor jener Bucht, in der jetzt unsere Jacht liegt, eine indische Frau gesehen haben, ein kleines Küstenboot mit ein paar Eingeborenen und einem weißen Mädchen, die eine Gefangene war.“ „Die Polizei legte auf diese Aussage kein Gewicht“, warf ich ein. „Besonders deshalb nicht, weil diese beiden Matrosen zugeben mußten, daß sie zu dem Zeitpunkt, als sie die indische Frau und das Mädchen sichteten, alles andere als nüchtern waren.“ „Wir sind nicht die Polizei, Hans!“ „Wir sind ja auch hier“, sagte ich und erhob mich. „Im Gegensatz zur Polizei. Wir sind hier, um uns von Baumschlangen und anderem Viehzeug umbringen zu lassen und hinterher noch ausgelacht zu werden, weil wir um ein Gerücht und eine kleine Romanze solches Aufheben gemacht haben.“ „Oder um jemandem zu helfen, der sonst einem ziemlich undurchsichtigen Schicksal hilflos ausgeliefert wäre. Außerdem können wir uns nicht einmal blamieren, denn außer Kapitän Hoffmann und der Besatzung weiß niemand, daß wir hier sind und vor allem nicht, warum. Und nun höre auf mit der Meckerei. Wir müssen weiter. Schließlich hat diese Insel rund hundert Quadratkilometer und wir kennen erst ein Dutzend.“ „Was mir durchaus reicht“, sagte ich lachend. „Ich habe aber gar nichts dagegen, die anderen achtundachtzig auch noch zu durchsuchen. Ich wollte mir bloß noch einmal vor Augen führen, warum wir es tun. Schuld daran ist wahrscheinlich die Baumschlange.“ Diesmal übernahm Pongo wieder die Spitze, und ich kann nicht sagen, daß mir das unangenehm war. Ich selbst war sozusagen die Nachhut unserer kleinen Gruppe, und das ist im Urwald immer der beste Platz, wenn man nicht gerade auf der 12
Fährte eines angeschossenen Büffels pirscht, der einen großen Bogen schlägt und dann von hinten auf seiner eigenen Fährte herangestampft kommt, ehe man sich’s versieht. Vielleicht wäre es besser gewesen, nicht an Büffel zu denken. Aus der Rückschau sieht es fast so aus, obwohl ich nicht gerade abergläubisch bin. Das kann niemand behaupten, aber komisch bleibt die Geschichte deshalb doch, wenngleich uns alles andere als komisch zumute war, als sie passierte. Wir mochten etwa eine halbe Stunde seit dem Aufbruch vorangekommen sein. Langsam und mühsam. Rolf hatte Pongo mit dem Haumesser schon abgelöst und in paar Minuten würde ich wieder an der Reihe sein. Der Wildpfad mußte einmal von irgendeinem schweren, mächtigen Wild gebrochen worden sein, wahrscheinlich von einer Gruppe Büffel, aber sie hatten dann ihren Wechsel verlegt und andere Pfade durch das Dickicht gebrochen, denen sie nun folgten. Es ist schwer zu sagen, wann das geschehen war. Der Pfad war so zugewachsen, daß er kaum noch als Wildwechsel zu erkennen war; aber dazu genügen in den Tropen oft ein paar Wochen. Und wahrscheinlich hatten die Büffel, die Bantengs, die ihn benutzten, sich in einen anderen Teil der Insel verzogen. Wenn es so war, bliebe die Frage nach dem Warum, denn diese wehrhaften Büffel lassen sich nicht so leicht verdrängen. Nicht einmal ein Tiger könnte sie veranlassen, kampflos das Feld zu räumen. Und der gestreifte Buschräuber überlegt es sich zweimal, ehe er an die spitzhornigen Büffel herangeht. Ein harmloses, junges Kalb gern, aber ausgewachsene Kühe oder gar Bullen, die das dreifache Gewicht des Tigers aufbringen und vor Kampflust und Wildheit zu bersten scheinen? Nein, nur Menschen könnten eigentlich der Grund sein, warum die Büffel ihren Wechsel verlassen hatten. Menschen hier im Urwald? Die Erzählung der beiden Seeleute fiel mir ein, de13
nen die Polizei nicht glauben wollte. Dieser verlassene Büffelwechsel war wirklich ein Beweis für die Glaubhaftigkeit angetrunkener Südsee-Matrosen, aber immerhin … Fast wäre ich gegen Rolf gelaufen, der plötzlich stehengeblieben war. „Was ist?“ fragte ich überrascht. Auch Pongo hob wachsam den Kopf. Rolf winkte ab. Sie lauschten beide, und diesmal hörte ich auch etwas, nun, wo ich darauf achtete. Im Urwald gibt es auch tagsüber eine solche Vielzahl von winzigen Geräuschen, daß es nie ruhig ist. Aber wenn man erst ein paar Stunden seinen Pfad gebrochen hat und obendrein an solche Urwaldmärsche gewöhnt ist, dann hört man diese Geräusche bald nicht mehr. Dann ist es, als ob sie zu einem großen Schweigen zusammenflössen. Ein Schweigen, das urplötzlich durch die Stimme eines der Mächtigen dieses Waldes unterbrochen wird. Und einer dieser Mächtigen meldete sich jetzt. Ich hörte ihn diesmal deutlich und unverkennbar. Es war das röchelnde Schnauben eines gereizten Bullen, eines Banteng, der in wilder Wut seinen keuchenden Kampfruf hinausstößt. Es ist kein lauter Ruf, aber er dringt durch das Gewirr der Urwaldgeräusche wie ein Messer durch zu warme Butter. Man sieht bei diesem Zornschnauben den rotbraunen Büffel mit den gesenkten, nadelspitz auslaufenden Hörnern und den stampfenden Hufen vor sich. Ein Augenblick, der zu den wildesten gehört, die unsere alte Erde zu bieten hat. Zu den wildesten und gefährlichsten. Merkwürdig, gegen das zornige Schnauben des Banteng stand ein kurzes, eifriges Hecheln. Unwillkürlich mußte ich an Wölfe denken, aber Wölfe auf den Sunda-Inseln? Der Gedanke war absurd, und trotzdem war dieses Hecheln nicht wegzuleugnen, wenn ich es auch nicht wieder hörte. Nur das zornige 14
Schnauben des wütenden Bullen tönte noch einmal kurz herüber. Es schien mir näher zu sein als beim letztenmal. „Hoffentlich läßt er sich nicht einfallen, den alten Wechsel zu benutzen“, flüsterte ich Rolf zu. Der zuckte die Schultern. „Sieht fast so aus“, flüsterte er zurück. „Wissen möchte ich nur, was den Burschen so ärgerlich gemacht hat?“ „Ein Tiger?“ „Wäre schon möglich. Manchmal findet man sie auch auf kleinen Inseln, wenn auch selten. Aber ich habe noch nie gehört, daß ein Tiger hechelt wie eine ganze Wolfsmeute.“ Also hat Rolf diesen seltsamen Laut, auf den der Büffel so zornig antwortete, auch gehört und sich darüber seine Gedanken gemacht wie ich. Wieder schnaubte es zornig im Dickicht, diesmal aber schon viel näher! Gleichzeitig gab es ein dumpfes Brechen, als ob ein schwerer Körper sich rücksichtslos durch das dichte Unterholz Bahn bräche. Rolf nahm mit einer gleitenden Bewegung das Gewehr vom Rücken, und auch ich zog die gute alte Mauser von der Schulter und lud durch. Die Waffe hatte mich schon durch viele Abenteuer begleitet, und so manches Mal hatte nur ihr sicherer Schuß mich vor einem bösen Ende bewahrt. Aber wenn ich an einen zornig anstürmenden Banteng dachte, dann war mir der Gedanke gar nicht angenehm. Ihr Kaliber von 9,3 Millimeter reicht zwar nahezu für jedes Wild aus, es tötet auch einen Büffel, sicher. Aber auf so kurze Entfernung, wie sie der kaum zu durchdringende Urwald nur zuläßt, braucht man für einen angreifenden Büffel schon ein besseres Geschoß, das ihn einfach umwirft, wenn es ihn trifft, und das tut eins vom Kaliber 9,3 Millimeter nicht unbedingt. Rolf schob sich nach links vom Pfad hinunter, ich selbst 15
drückte mich rechts in den Busch. Wenn der Banteng wirklich diesen alten Wechsel benutzte, um seinen unbekannten Feinden auszuweichen, konnten wir so beide zum Schuß kommen, und das vergrößerte unsere Chancen gegen einen wütenden Büffel ganz beträchtlich. Pongo sah Rolf fragend an, und als mein Freund nickte, glitt er lautlos auf dem Wechsel ein paar Schritte voran. Die scharfen Sinne unseres schwarzen Begleiters würden unsere beste Sicherheit sein. Er würde den Büffel bemerken, längst ehe wir es konnten. Und er bemerkte ihn zuerst! Plötzlich spannten sich Pongos Muskeln. Er wog sein schweres Haumesser in der Hand, als wolle er dessen Wucht ausprobieren. Fast im gleichen Moment brachen unmittelbar vor uns die Büsche! Der Banteng war heran. „Zurück, Pongo!“ zischte Rolf. „Gib das Schußfeld frei! Nun mach schon!“ Aber Pongo wich nicht von dem Pfad, und im nächsten Moment sah ich auch, warum nicht. Er konnte nicht mehr zurückweichen, denn unmittelbar vor ihm tauchte schnaubend der mächtige Schädel des Bullen aus dem Dickicht. Den Bruchteil einer Sekunde hatte ich Schußfeld, aber auch nur den Bruchteil einer Sekunde. Ehe ich die Waffe herum hatte, verdeckte Pongo das Ziel! Ich mußte ohnmächtig zusehen und konnte nicht schießen, und Rolf ging es ebenso. Pongo schien genau zu wissen, daß er von uns keine Hilfe zu erwarten hatte, daß wir ihm einfach nicht helfen konnten, ohne Gefahr zu laufen, ihn zu treffen statt den Büffel. Der Bursche schien wirklich aufs äußerste gereizt zu sein. Als er seinen Weg versperrt sah, stutzte er einen winzigen Augenblick und ließ wieder sein gereiztes Schnauben hören. Ich 16
hörte das trommelnde Podien seiner Hufe und sah die Fetzen feuchten Urwaldbodens, die die scharfen Hufkanten losrissen und über seinen Rücken hoch emporschleuderten. Vielleicht hätte Pongo zentimeterweise zurückweichen können, und vielleicht hätte der gereizte Bulle solange mit seinem Angriff gewartet, bis Rolf und ich oder wenigstens einer von uns freies Schußfeld hatte. Sicher aber hätte er bei Pongos erster Bewegung angegriffen, oder aber erst dann, wenn der riesige Schwarze zwei oder drei Schritte zurückgewichen war, dann durch das Rückwärtsgehen ganz hilflos war und wir immer noch kein Schußfeld hatten. Es gab viele Vielleichts in den Gedanken, die mir in Sekundenbruchteilen durch den Kopf schossen, während meine Augen über das Visier der Mauser nach vorn starrten und doch kein Ziel finden konnten. Pongo überlegte keine Vielleichts. Er hat es nie getan, solange wir uns kannten. Er tat es auch diesmal nicht. Er wußte, daß wir im Augenblick keine Chance hatten, oder er ahnte es und handelte danach. Er wich um keinen Millimeter zurück. Er grunzte nur böse wie ein Gorilla. Es klang nicht viel weniger wütend als das heisere Schnauben des Banteng! Das Ganze dauerte wirklich nur ein paar Augenblicke lang, geschah viel schneller, als man es erzählen kann. Plötzlich ahnte ich mehr, als ich sah, wie der riesige Wildstier den Kopf senkte und vorwärtsstürmte. Er brauchte nur drei Schritte zu machen, dann hatte er Pongo erreicht. Wenn der Schwarze sich beiseitegeworfen hätte, wäre er vielleicht heil davongekommen, aber er dachte gar nicht daran. Ich sah seinen Arm mit dem Haumesser emporzucken und niedersausen. Ich hörte das entsetzliche Schnauben des Bullen, als die Klinge ihn traf. 17
Der Schlag des schweren Messers in Pongos Hand mußte eine unheimliche Wucht haben, eine tödliche Wucht, aber nicht für einen angreifenden Banteng. Den warf es nicht einmal aus der Bahn. Im nächsten Moment hatte er Pongo vor den Hörnern und holte aus zum tödlichen Stoß, der einen Menschen durchbohrt, als wäre er aus Moos. Pongo ließ das Messer fahren, warf sich nach vorn, auf den Bullen zu und packte dessen weitausladende Hörner mit den Fäusten. Seine Linke glitt ab, ich sah die Hornspitze des Banteng sich rot färben, aber Pongos Rechte faßte fest genug zu. Als der Bulle den Kopf zum tödlichen Stoß aufwarf, schleuderte er unseren schwarzen Gefährten mit seinen mehr als zwei Zentnern Gewicht in die Luft wie einen leeren Sack! Pongo schrie etwas, das ich nicht verstand, im nächsten Moment mußte er loslassen und wurde beiseitegewirbelt. Krachend flog er ins Dickicht und taumelte sofort wieder hoch. Sein blitzschnelles Zupacken hatte ihm das Leben gerettet, denn die messerscharfen Hörner des Bullen hatten ihn zwar beiseitegeschleudert, aber nicht seinen Leib aufgerissen, wie es sonst mit Sicherheit geschehen wäre. Pongo schien mir verletzt, aber nicht sonderlich schwer. Und er hatte mit dem Zupacken unser Leben ebenso gerettet. In jenem Moment, als der aufs äußerste gereizte Bulle ihn hochschleuderte, war er sechs oder sieben Meter entfernt. Wäre der Banteng weiter auf uns gestürmt, hätten unsere Kugeln mit dem zu leichten Kaliber ihn vielleicht getötet, aber nicht rechtzeitig genug. Jetzt stürmte der Banteng nicht auf uns los, sondern drehte uns schnaubend die Seite zu. Er suchte sein Opfer, das er eben aufgespießt zu haben glaubte, um es mit den Hufen zu zerstampfen. Alle Büffel kämpfen so. 18
Und das gab uns eine ehrliche Chance. Pongos Tollkühnheit gab sie uns, nichts sonst. Der Lauf meiner Waffe glitt von allein herum, das Ohr des Banteng erschien über dem silbernen Perlkorn und mein Finger zog ganz mechanisch durch. Der Schuß peitschte, und wie sein Echo Rolfs Schuß. Eine riesige Faust schien den Banteng zu treffen. Dröhnend brach er in die Knie, war im nächsten Moment schon wieder hoch und warf sich herum, den massigen Schädel dem neuen Feind entgegenzustemmen. Seine kleinen, blutunterlaufenen Augen blinzelten tückisch und dann hatte er uns erspäht, setzte sich wie eine Rakete in Bewegung. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, in der meine Rechte den Kammergriff zurückriß, um die Waffe wieder durchzuladen. In Wirklichkeit machte der rasende Stier nicht einmal zwei ganze Schritte, dann lag die Waffe wieder an meiner Wange, dann krümmte sich der Zeigefinger um den Abzug, peitschte der Schuß wieder fast gleichzeitig mit Rolfs Waffe links von mir. Der Büffel schien gegen eine unsichtbare Wand zu laufen, als ihn die beiden Kugeln unterhalb der schützenden Hornwulst trafen. Er stoppte mitten aus dem vollen Anstürmen heraus, seine Hufe gruben sich in den Boden, die Hinterhand knickte ein. Er warf den riesigen Schädel auf, als wolle er uns aufspießen, dann brach er dröhnend zusammen, daß ich das Gefühl hatte, der Urwaldboden bebte. Die scharfen Hufe donnerten noch zwei- oder dreimal auf den Boden, dann lag das riesige Tier regungslos. Nicht einmal drei Meter vor uns. Sekunden hatten entschieden, zwei Sätze weiter, und nicht wir wären die Sieger gewesen. In der nächsten Minute hätte uns 19
der alte Einzelgänger in den Boden gestampft und mit seinen Hornstößen in Fetzen zerrissen. Der Urwald hatte uns sein ewiges Gesetz „Töten oder getötet werden!“ wieder einmal vor Augen geführt. Mit jener rücksichtslosen Härte, die manche Leute für Romantik halten. Ich habe den Anblick eines anstürmenden Büffels noch nie für romantisch gehalten. Ich hatte nie Zeit dazu. Langsam schob ich mich aus den Lianen und Luftwurzeln hinaus, in die ich mich gedrängt hatte, um nicht mitten auf dem Wechsel zu stehen. Rolf tat es drüben genauso. Wie ich, schien er noch etwas betäubt von dem wilden Angriff, den wir eben um Haaresbreite hinter uns gebracht hatten. Und dann fiel uns plötzlich gleichzeitig Pongo ein. Ohne uns noch um den Büffel zu kümmern, stolperten wir vorwärts in die Büsche, wohin Pongo seinen unfreiwilligen Flug angetreten hatte. Pongo war ja schon gleich nach der unsanften Landung taumelnd auf die Beine gekommen. Als ich ihn erreichte, stand er mit dem Rücken gegen einen Baumstamm gelehnt und fletschte die weißen Zähne, was wohl ein Lächeln sein sollte, das etwas verkrampft war. Verkrampft, weil er sich die blutende, linke Hand halten mußte, die das Büffelhorn erwischt hatte. Sein linker Oberschenkel zeigte einen klaffenden Riß, aus dem ebenfalls Blut sickerte. „Pongo, was ist?“ fragte ich aufgeregt. Er stützte sich schwer auf mich und Rolf, als wir ihn zum Pfad zurückführten. „Nicht schlimm mit Pongo“, schnaufte er. „Massers ruhig glauben, gar nicht schlimm. Nur Kratzer von verrücktem Banteng. Pongo warten paar Minuten, dann wieder laufen. Ganz sicher.“ Rolf untersuchte kurz, aber eingehend Pongos Verletzungen. „Hol das Verbandszeug“, sagte er kurz zu mir. In unserem 20
Gepäck, so leicht wir es aus Erfahrung auch für solche Urwaldunternehmungen halten, befindet sich immer Verbandszeug, ebenso wie etwas Schlangenserum und etwas Notverpflegung. Wer auf die Art lebt, wie wir es vorzogen zu tun, wird sehr bald herausfinden, wie wertvoll solche Kleinigkeiten sein können. Ich suchte den Verbandsstoff, Mull und Jod heraus und gab es Rolf hinüber. Als der die Beinwunde säuberte, kniff Pongo die Augen zu, Schweißtropfen erschienen auf seiner Stirn, aber er sagte keinen Mucks. Rolf verband das verletzte Bein und dann die aufgeschlitzte Hand. Hinterher war Pongo beinahe wieder der alte. „Ich jetzt weitergehen kann“, erklärte er. „Pongo haben ja rechte Hand in. Ordnung, war Büffel fein genug, machen nur kaputt linke Hand, lassen rechte gut.“ Rolf schüttelte den Kopf. „Nichts da, Pongo. Du weißt selbst am besten, wie schnell Verletzungen sich in diesem Höllenklima verschlechtern können, wenn man Pech hat.“ „Pongo kennen Menge Kräuter gut für Wunden“, erklärte unser schwarzer Begleiter unsicher, aber Rolf blieb hart. „Du machst dich auf den Rückweg, Pongo. An sich sollten wir dich begleiten, aber da ist noch etwas.“ Er schwieg und blickte wie suchend in das grüne Gewirr des Urwaldes. „Also, Pongo, mach dich auf den Weg. Der Pfad ist freigeschlagen, in ein paar Stunden kannst du auf der Jacht sein und da hast du die beste Pflege, die man sich in dieser Gegend denken kann. Wahrscheinlich kommen wir schon in ein paar Stunden nach, vielleicht aber auch erst morgen oder übermorgen. Wenn wir von einer anderen Stelle her noch einmal in den Inselurwald eindringen müssen, bist du wahrscheinlich schon wieder soweit beisammen, daß du uns begleiten kannst. Und nun mach 21
schnell, Pongo. Wir müssen uns hier noch ein wenig umsehen, ob der alte Bulle da auch wirklich allein war.“ „War allein“, nickte Pongo. „War altes, böses Einzelgänger, Herde nichts mehr von ihm wissen, darum er so böse, Massers. Also Pongo gehen. Aber nicht gern, nur weil Masser Torring so befehlen.“ Er machte sich auf den Weg und hinkte doch stärker, als er es selbst wahrhaben wollte. Nach ein paar Schritten schon war er hinter einer Biegung des Wildpfades, den er selbst noch saubergeschlagen hatte, verschwunden. „Darum war der Banteng so böse“, sagte Rolf und lächelte seltsam. „Darum, weil er ausgestoßen war. Aber ich fresse mein Gewehr sogar ohne Salz, wenn das auch der Grund für sein Tempo war.“ „Aber was denkst du?“ fragte ich, als ich meine Sachen wieder zusammenpackte. Ich machte es ziemlich hastig, denn ich hatte auch meine Gedanken über das plötzliche Auftauchen des alten Bullen und vor allem über das, was wir vorher gehört hatten. Keine sehr angenehmen Gedanken, um die Wahrheit zu sagen. Rolf zuckte die Schultern. „Ich weiß nicht recht, Hans. Wenn das stimmt, was ich glaube gehört zu haben, ist das wildeste Gerücht des gelangweiltesten Tropenklubs nicht mehr als ein Kindermärchen.“ „Wölfe, was?“ fragte ich grinsend und warf das Gepäck über den Rücken, um die Hände für das Gewehr frei zu haben. Ich hatte so eine Ahnung, als sollte ich es noch brauchen. Darum lud ich auch die verschossenen Patronen nach. Rolf sah überrascht auf. „Du hast es also auch gehört, Hans?“ Ich nickte. „Ein Hecheln, wie es nur eine jagende Wolfsmeute hören läßt. Aber es gibt auf Insulinde keine Wolfsrudel.“ 22
„Wölfe“, sagte Rolf langsam und sah sich wieder suchend um. „Überlege einmal, was Wölfe tun, wenn ihre Beute flieht.“ „Sie hetzen sie“, sagte ich sofort. Wir hatten es auf unseren Jagdzügen oft genug erlebt, wie Wolfsrudel oder Gruppen wilder Hunde ihre Beute fast zu Tode jagen, ehe sie wirklich angreifen. „Aber …“ ich stockte. Seit dem Moment, wo wir den angreifenden Banteng abgeschossen hatten, waren mindestens zehn Minuten vergangen! Und keine Wolfspfoten klopften über den Waldboden, kein gieriges Hecheln übertönte die ewigen Geräusche des Waldes! Außerdem mußte die Blutwitterung in der Luft stehen. Ich zog die Augenbrauen hoch und sah Rolf fragend an, aber er schien auch keine Antwort zu wissen oder sie wenigstens für sich behalten zu wollen. „Wölfe müßten längst hier sein“, sagte er nur und sah sich wieder um. Diesmal wußte ich, was er suchte. „Wir hätten besser Pongo begleiten sollen, einerlei, ob nun Wölfe den alten Banteng hochgescheucht haben oder …“ ich stockte. „Oder was, Hans?“ „Hunde“, sagte ich zögernd. Rolf nickte langsam. „Das ist auch mein Verdacht. Wenn er stimmt, können wir Pongo hier hinten auf seiner Fährte besser schützen, als wenn wir ihn begleiten. Wir müssen Zeit für ihn gewinnen und die Biester von ihm ablenken, wer sie auch sein mögen. Ich habe da übrigens einen Verdacht, der vielleicht absurd ist.“ Rolf begann kreuz und quer über den freigeschlagenen Wildpfad zu trampeln, lief zwanzig Meter zurück, trampelte da herum und kam zurück. Ich wußte, was er damit bezwecken wollte. Er wollte Pongos Fährte dadurch auslöschen, daß er seine eigene in verwirrender Dichte darüberlegte. Kein Wolf oder Hund hätte unter dieser Vielzahl von Spuren Pongos ältere 23
Fährte aufgenommen, und darauf kam es Rolf wohl am meisten an. „Was für ein Verdacht?“ fragte ich, als er zu mir zurückkam. „Wenn es Hunde gewesen wären“, sagte Rolf langsam und betrachtete dabei die Bäume, „wären sie dem alten Bullen ebenso gefolgt wie Wölfe. Schließlich sind sie Söhne und Enkel von Wölfen und hetzen genauso wie ihre Vorfahren. Ich kenne nur eine Art Tiere, die einerseits hecheln wie Wölfe und auf der anderen Seite nicht blindlings hinter einem Wild herstürmen, mit dem sie sich angelegt haben und das vor ihnen flieht: Abgerichtete Hunde! Eine Meute dressierter Hunde.“ „Und zwar Hunde“, sagte ich langsam, „die nicht auf Wild dressiert sind.“ Ich hatte plötzlich begriffen, was Rolf annahm. „Genau“, nickte Rolf und zeigte auf den dicken Stamm eines Yerbabaumes wenige Meter neben dem Pfad. Von da mußte man gutes Schußfeld in Richtung des erlegten Büffels haben. „Der wird richtig sein. Machen wir, daß wir hinaufkommen. Wenn es abgerichtete Hunde sind, werden sie auch wissen, was ein Schuß bedeutet. Also hoch.“ Wir erkletterten den Stamm, was sich als schwieriger erwies, als es zunächst ausgesehen hatte. Er war ziemlich glatt und feucht. Aber als wir die ersten Meter überwunden hatten und uns an den untersten Ästen festhalten konnten, ging es besser. In etwa vier Meter Höhe gab uns sogar einiges Laubwerk schon etwas Deckung und außerdem waren wir in der Höhe sicher vor jedem tierischen Angreifer mit Ausnahme eines gereizten Tigers oder eines Elefanten. Und mit beiden hatten wir nicht zu rechnen, wie die Dinge lagen. Die Sekunden tropften wie Ewigkeiten in die feuchte Hitze des Urwaldes und ich begann mich zu fragen, ob wir sehr klug gehandelt hatten, als wir auf ein Gerücht von geraubten Mädchen und die Erzählung zweier betrunkener Matrosen hin auf24
gebrochen waren und uns in einen Verdruß gebracht hatten, der selbst für ein paar so hartgesottene Abenteurer, wie wir zwei es waren, ein wenig viel wurde. Es sollte aber noch eine Menge mehr werden. Wenn ich es hätte voraussagen können, wahrscheinlich wäre ich vom Baum herabgeklettert und schleunigst hinter Pongo hergelaufen, der nun schon eine Meile oder mehr der Küste näher sein mußte als vorhin. Und damit eine Meile der Sicherheit näher, was der Urwald und diese verflixte Insel auch noch für Überraschungen für uns bereithalten mochten. Eine ganze Menge, wie sich bald herausstellte.
2. Kapitel Ich weiß nicht, wieviel Zeit vergangen war, als ich plötzlich im Unterholz jenseits des alten Wildwechsels eine Bewegung zu bemerken glaubte. Vielleicht waren es ein paar Minuten seit dem Moment, wo wir auf den Baum geklettert waren, vielleicht auch nur ein paar Sekunden. Unwillkürlich hob ich das Gewehr und schob den Lauf in die Richtung, aber Rolf winkte ab. Dann war ich ganz sicher, daß sich Zweige und Äste der Büsche dort drüben bewegten. Irgend etwas schob sich dicht am Boden durch sie hindurch. Und dann war es plötzlich nicht nur eine Stelle, an der die Zweige über einem lebenden Körper zitterten, dann waren es drei, sieben oder noch mehr! Für einen Augenblick tauchte ein Kopf zwischen dem Blattgewirr auf, war sofort wieder verschwunden. Ein schmaler, dunkelbrauner Hundekopf, kein Wolfsschädel. In meinem Kopf fuhren die Gedanken Karussell. Wildhunde? überlegte ich. Hier kann es nur Adjaks geben, kleine, feige Burschen, mehr Schakale als Hunde, die sich selbst im großen 25
Rudel nicht an wehrhaftes Wild herantrauen und schon gar nicht in die Nähe von Menschen. Die Hunde da unten mußten aber unsere Witterung längst haben! Der Kopf hatte auch nicht ausgesehen wie ein Adjak. Eher wie einer dieser zottigen, blitzschnellen und bärenstarken Colsuns aus Nepal. Große, indische Hetzhunde mit einem Gebiß stark wie Dolche und scharf wie Rasierklingen. Colsuns nehmen im Rudel jeden Gegner an, selbst den Tiger; und der Gestreifte hat mit einer starken Colsunmeute unter einem entschlossenen Leithund seine liebe Mühe und Not, wenn er sein heiles Fell behalten will. Ungezaust und ohne blutende Schrammen entkommt er einer solchen Begegnung jedenfalls nicht. Aber wie sollten Colsuns, und noch dazu eine offenbar abgerichtete Meute nach Nord-Pageh kommen? Aber für solche Fragen war jetzt nicht viel Zeit, besser gesagt, es war gar keine dafür. Wieder raschelten die Büsche, diesmal zeigte sich nicht nur ein Hundekopf, diesmal schob sich der ganze Hund aus dem Dickicht. Offenbar war es der Leithund, ein großes, braunschwarzes Tier mit mächtigen Fangzähnen und einer Vorsicht in der Bewegung, die auf erstklassige, indische Dressurarbeit oder große Erfahrung hindeutete. Hinter ihm schoben sich andere Hunde aus der Deckung. Sie hechelten und drängten vorwärts, ein junger Hund schob sich neben das Leittier, aber ein einziges Knurren des starken Rüden genügte, um den jungen Hund wieder begreifen zu lassen, wer der Anführer war und daß sein Wille in der Meute Gesetz ist, wenn man nicht blitzschnelle, schmerzhafte Bisse riskieren will. Auf jeden Fall waren die Hunde da unten – es waren inzwischen insgesamt neun Tiere geworden – reinrassige Colsuns, soviel ich von Hunden verstehe, und das reicht immerhin aus, um eine Rasse von der anderen zu unterscheiden. Was auch immer der Grund ihrer Anwesenheit auf dieser 26
Sumatra vorgelagerten Inseln sein mochte, es waren echte Inder aus Nepal, und sie waren sehr gut gearbeitet worden, so gut, wie nur irgendeine Meute an einem indischen Fürstenhof irgendwo in den Bergen des Festlandes. Jetzt schien sich der Leithund klar darüber geworden zu sein, was hier zu tun war. Er trottete auf den Wildpfad hinaus, beroch kurz den toten Büffel, nahm aber keine weitere Notiz von ihm. Ich war ziemlich erstaunt darüber, denn normale Hetzhunde wären über den erlegten Feind hergefallen und hätten sich in ihm festgebissen. Rolf schien sich wenig über dieses seltsame Verhalten der Hunde zu wundern, die die Spuren auf dem Pfad weit interessanter fanden als ein blutfrisches Stück Wild. Sein Gesicht verriet, daß er fast so etwas erwartet hatte. Der Leithund hechelte auf dem Pfad herum, versuchte wohl eine klare Fährte aufzunehmen. Er schien seltsam erregt zu sein über die Witterung, die er vorfand, aber mit dem Spurengewirr, das Rolf angelegt hatte, wurde er auch nicht fertig. Bei seinem Herumsuchen blieben die anderen Hunde in respektvoller Entfernung, kein anderes Tier in der Meute schien seine Autorität anzuzweifeln. Ein paarmal näherte er sich jener Stelle, wo Rolf mit dem Umherlaufen innegehalten hatte, und Pongos frische Fährte die Aufmerksamkeit erwecken mußte. Jedesmal hob ich dann die Büchse. Wenn der Leithund Hetzlaut geben und Pongos Fährte aufnehmen würde, wollte ich sofort schießen, denn diese Meute mußte unseren verletzten Gefährten in ein paar Minuten einholen und das mußte unter allen Umständen verhindert werden. Aber ich brauchte nicht zu schießen. Jetzt schien der Hund unsere Spuren aus dem Gewirr aufgenommen zu haben. Er blieb abrupt stehen, hob sichernd den schmalen Kopf und knurrte. Die anderen Tiere warfen sofort auf. Unwillkürlich versuchte ich, mehr Deckung hinter den Blät27
tern zu finden, aber das war natürlich Unsinn. Gegen die Nasen dieser Hunde gab es keine Deckung. Der Leithund bellte kurz auf, und wie Schatten verschwanden die Hunde vom Wildpfad im Unterholz. Leises Rascheln verriet, daß sie den Baum, den wir erklettert hatten, regelrecht einkreisten. Dabei hielten sie sich so geschickt in Deckung des Buschwerkes, daß sich kaum eine Chance für einen gezielten Schuß geboten hätte. Ein paarmal hörten wir leises Knurren, aber keiner der Hunde bellte oder gab Standlaut, um seinen Herrn von der gestellten Beute zu benachrichtigen. Es waren seltsame Hunde, und mir war nicht behaglich bei dem Gedanken, von ihnen eingekreist und belauert zu sein. „Wir hätten sie abschießen sollen“, knurrte ich zu Rolf hinüber, aber der schüttelte den Kopf. „Das hätte wenig Sinn gehabt“, raunte er zurück. „Wir hätten vielleicht drei oder vier erwischt, die anderen wären auf jeden Fall entkommen. Und einmal widerstrebte es mir, diese prächtigen Tiere einfach zu erschießen, nur weil sie auf unsere Fährte gestoßen sind, zum anderen glaube ich, daß wir mit ihrer Entdeckung ein tüchtiges Stück vorangekommen sind in unserer Suche nach den Ursachen des Gerüchtes um die verschwundenen Mädchen.“ „Wie das?“ fragte ich. „Fällt dir nichts an den Hunden auf?“ „Eine Menge, aber nichts, worin ich einen Zusammenhang mit dem Gerücht oder dem Verschwinden der Holländerin sehe“, antwortete ich langsam. „Denk mal über diese Hunde nach“, grinste Rolf. „Und darüber, wozu Hunde in der Geschichte ihrer Arbeit für die Menschen überall benutzt worden sind oder noch werden. Und vergleiche das, worauf du kommst, mit dem Verhalten der Colsuns da unten.“ 28
Und da wußte ich es plötzlich auch. Die Hunde waren nicht nur so ungefähr abgerichtet, sie waren auf ein ganz bestimmtes Wild dressiert und offenbar nur auf dieses. Sie hatten sich nicht um den toten Büffel gekümmert, aber heftig um unsere Fußspuren! Das Wild, das die Beute dieser Hunde ausmachte, waren Menschen! Lebende Menschen. Die Erkenntnis traf mich so plötzlich, daß ich fast von meinem luftigen Sitz heruntergefallen wäre … Diese Colsuns waren Menschenjäger. Abgerichtet, Menschen zu stellen und festzuhalten, wie einmal die Bluthunde auf den Sklavenfarmen in den amerikanischen Südstaaten vor dem Bürgerkrieg. Auch diese Hunde jagten Menschen. Aber die zerrissen ihre unglücklichen Opfer, sowie sie sie gestellt hatten. Die Colsuns hier dachten nicht daran. Sie hatten nicht den geringsten Versuch gemacht, uns anzugreifen! Mit anderen Worten, der Mann, der sie abgerichtet hatte, legte zwar größten Wert darauf, daß seine Hunde fliehende Menschen einfingen, er legte aber ebenso großen Wert darauf, daß sie sie lebend und unbeschädigt einfingen. Das warf auf die Gerüchte der Küste und auf die Dinge um die verschwundene Holländerin ein seltsames Licht. Ich weigerte mich fast, diesen Gedanken zu Ende zu denken, denn er hatte nur eine logische Folgerung: Wenn der Mann im Dunkel des Urwaldes unverletzte Gefangene wollte, dann kaum aus Gründen der Menschlichkeit, sondern weil verletzte Menschen für ihn keinen Wert mehr hatten. Sie bringen schlechte Preise als Sklaven. Als Sklaven! Ich starrte Rolf an, und er nickte ernst. „Sklaverei“, sagte ich heiser. „Sklaverei vor der Nase der Behörden und unter den Augen der modernen Bewohner Insulindes.“ 29
„Sieht genauso aus, Hans“, stimmte Rolf leise zu. „Ich bin gespannt, was wir entdecken werden, wenn uns irgend jemand aus dieser Belagerung befreit, in der uns die Hunde halten.“ „Wir könnten trotz der Vorsicht der Tiere mit der Belagerung schnell aufräumen, Rolf“, schlug ich vor. „Einer von uns klettert mit der Pistole in der Faust hinunter und stellt sich den Hunden, der andere deckt ihn von oben.“ „Das wäre ein Weg“, sagte Rolf. „Aber einer, der uns von dem eigentlichen Ziel unserer Unternehmung meilenweit abbringen würde. Außerdem solltest du daran denken, daß es um das Leben einiger junger Mädchen geht, nicht um unseres. Vorläufig wenigstens nicht. Ich bin fast gespannt, was dieser geheimnisvolle Mann im Hintergrund aller Gerüchte mit uns anfangen wird. Wie ich die Dinge sehe, ist er auf weibliche Gefangene spezialisiert.“ „Ziemlich heikel, will mir scheinen“, war mein Kommentar zu Rolfs Ansichten. „Wie, wenn er uns einfach verschwinden läßt und für ihn die Sache damit erledigt ist?“ „Möglich“, sagte mein Freund seelenruhig, „aber kaum anzunehmen. Er muß damit rechnen, daß das plötzliche Verschwinden zweier Europäer im Gefolge der Vermißtenmeldung einer jungen Europäerin selbst bei einer Verwaltung, die von ihren Problemen noch so sehr in Anspruch genommen ist, energische Nachforschungen auslösen wird.“ Er lächelte spöttisch, als er meinen zweifelnden Blick bemerkte. „In unserem Fall sogar besonders energische Nachforschungen, Hans. Vergiß nicht Pongo und Kapitän Hoffmann. Wenn wir in ein paar Tagen nicht zurück sind, läßt Hoffmann die halbe Besatzung bis an die Zähne bewaffnet landen und die Insel durchkämmen. Sie würden uns auf jeden Fall finden.“ „Sicher“, grinste ich und hob unbehaglich die Schultern. 30
„Und sie könnten wenigstens für ein anständiges Begräbnis unserer sterblichen Hülle sorgen, wenn sie zu spät kämen.“ Rolf nickte mir zu. „Schon besser, Hans. Am besten warten wir ab, wie sich die Dinge entwickeln. Ich wundere mich eigentlich, daß die Hunde uns nicht verbellen. Wahrscheinlich denkt der Kerl, dem sie gehören, an alles. Auch daran, daß das Bellen einer Meute auf einer Insel, auf der es normalerweise keine Meute geben kann, vielleicht auffallen und ihn verraten könnte. Ihn und seine dreckigen Geschäfte!“ Wir brauchten wenigstens auf die Beantwortung dieser Frage nicht mehr lange zu warten. Es gab wieder Bewegung im Unterholz. Wir hörten das eifrige Hecheln eines Hundes und das gelegentliche Aufklatschen eines Haumessers, das auf Lianen traf. Ein tiefes, warnendes Knurren der Meute antwortete diesen Geräuschen, die wie abgeschnitten erstarben. Gleich darauf raschelten Büsche, ein weiterer Hund tauchte jenseits des Pfades auf, sicherte zu uns herüber. Er trug ein Brustgeschirr und einen schmalen Lederriemen, der straff gespannt nach hinten lief. Am Ende dieses Lederriemens tauchte ein Mann auf, wie ich ihn hier am allerwenigsten zu sehen erwartet hatte. Er trug einen locker geschlungenen Turban, einen flatternden Haik, grobe Lederstiefel und einen Karabiner, ehemals deutsche Herkunft. Ein altes 98er Modell aus dem ersten Weltkrieg mit verkürztem Lauf. Das Auffallendste aber war die tiefbraune Haut seines Gesichtes und der wilde, schwarze Schnurrbart, der ihm einen mongolischen Ausdruck verlieh. Ich hatte solche Männer schon gesehen, das war vor Jahren bei den nordwestlichen indischen Bergstämmen gewesen. Dort oben am Khaiber-Paß, wo die damalige britische Verwaltung aus Revolten und Kriegen mit den Afridi und anderen wilden Bergstämmen nie herauskam! 31
Was zum Teufel machte ein Mann dieser Bergstämme hier auf Nord-Pageh? Vermutlich würden wir das ebenso schnell erfahren wie einige andere Dinge. Der Inder folgte der Blickrichtung des angeschirrten Hundes, und als er uns entdeckte, sprang er mit einem gemurmelten Fluch zurück in die Deckung des Unterholzes, die ihm allerdings wenig Schutz vor einem Gewehrschuß geboten hätte, ebenso wenig wie unser luftiger Sitz das Richtige für ein Feuergefecht war. Die Hunde, die uns bisher schweigend und lautlos belagert hatten, begannen unruhig zu werden. Ihr Hecheln und Jaulen war deutlich zu hören. Offenbar warteten sie auf den Befehl zum Angriff. Rolf schien es sich auch anders überlegt zu haben. „Werfen Sie Ihr Gewehr weg und rufen Sie die Hunde zurück“, verlangte er laut auf Englisch. Keine Antwort, nur das Jappen der Hunde um uns wurde aufgeregter, als sie Rolfs harte Stimme hörten. „Ich spreche zu Ihnen über das Visier meines Gewehres“, sagte Rolf ruhig, und auch ich richtete meine Waffe auf die Stelle des Buschwerks, wo der Afridi lag. Diese Burschen sind die gerissensten Gegner im Felsengewirr ihrer Heimat, aber im dichten Urwald taugen sie nicht viel. Der Inder dort unten verriet seinen Standpunkt ziemlich deutlich. Als noch immer keine Antwort kam, hob Rolf sein Gewehr ein wenig und schoß. Die Kugel peitschte dicht neben dem Inder zwischen das Blattwerk, und die Hunde überschlugen sich plötzlich vor Aufregung. Sie schossen aus ihren Deckungen hervor und der Leithund sprang zähnefletschend an unserem Baumstamm empor. Wenn er auch nicht zu uns heraufreichte, es war trotzdem kein schöner Anblick, in die gefletschten Fangzähne der Hunde zu sehen. 32
„Wird’s bald?“ brüllte Rolf durch das Gekläff. „Die nächste Kugel setze ich nicht daneben, Freund.“ Ein leiser Pfiff ertönte, der die Hunde augenblicklich verstummen und wieder verschwinden ließ. „Kommen Sie herunter und werfen Sie die Waffen weg“, verlangte nun seinerseits der Afridi heiser. Rolfs Kugel mußte ihm imponiert haben, sie konnte ihn nicht weit gefehlt haben. „Sie haben keine Chance, selbst wenn Sie mich erschießen. Ihre Schüsse sind längst gehört worden, und die Hunde werden Sie nie vom Baum herablassen, wenn sie nicht zurückgepfiffen werden. Sie können da oben verhungern.“ „Wir haben Zeit, Freund“, rief Rolf und setzte das Gewehr nicht um einen Millimeter ab. „Die Hunde haben mehr davon“, war die fast spöttische Antwort. „Auf jeden Fall werden Sie es nicht mehr erleben“, höhnte Rolf. Ich sah immer noch nicht klar, was er eigentlich erreichen wollte. „Mein nächster Schuß ist Ihr Ende.“ „Wie bedauerlich“, antwortete der Afridi ruhig. „Dann kann ich nicht mehr erleben, wie Shir Khan Sie in Fetzen reißen läßt.“ „Nette Aussichten“, zischte ich Rolf zu, so leise, daß es der Mann unten unmöglich hören konnte. Im übrigen zielte mein Gewehr ebenso auf ihn wie Rolfs Waffe. Vermutlich war seine Lage da unten um keinen Deut angenehmer als unsere hier oben. Nur hatte er sie nicht selbst herausgefordert wie wir, oder besser gesagt, mein Freund Rolf. „Wie wäre es mit einem anderen Vorschlag?“ fragte Rolf und hob die Gewehrmündung ein wenig. Gerade soviel, daß der Mann unten erkennen konnte, daß sie nicht mehr auf ihn zielte, 33
aber in Sekundenbruchteilen wieder auf ihn zeigen könnte. Da ich von Haus aus ein vorsichtiger Mensch bin, folgte ich Rolfs Beispiel nicht, sondern ließ mein Visier genau da, wo der Kopf des Afridi sein mußte. Eine Weile blieb es unten bis auf das Knurren und Jaulen der Hunde still. „Was für ein Vorschlag?“ fragte der Afridi. Er sprach das Englisch rauh und gurgelnd wie alle Angehörigen der Bergstämme, aber er sprach es ausgezeichnet. „Warum sollen wir uns gegenseitig umbringen?“ fragte Rolf. „Wir sind hier um zu jagen. Die Hunde haben uns auf den Baum getrieben, Sie könnten uns wieder herunterlassen, das ist eigentlich alles.“ „Um zu jagen“, sagte der Afridi gedehnt. „Da gibt es aber bessere Jagdgebiete.“ „Was halten Sie von dem Banteng da unten?“ fragte ich ärgerlich dazwischen. Mir gefiel dieses Spiel nicht. „Er dürfte nur ein paar Zentimeter unter dem Rekord bleiben.“ Der Afridi schwieg wieder eine Weile, und ich war ein paarmal versucht, ihn durch einen Schuß von der Art, wie Rolf ihn vorhin abgefeuert hatte, aufzumuntern. Dann kam seine rauhe Stimme wieder: „Das ist Shir Khans Insel und da jagt niemand ohne seine Erlaubnis.“ „Sieh an“, knurrte Rolf. „Und wer ist dieser Shir Khan?“ „Der Herr dieser Insel“, kam sofort die Antwort. „Und ich habe immer gedacht, sie gehört zur Republik Indonesien“, sagte ich ärgerlich. Rolf schüttelte unmerklich den Kopf. Anscheinend nahm die Sache genau den Verlauf, den er hatte haben wollen. Ich kann nicht unbedingt behaupten, daß es mir ebenso ging. Ich wäre lieber auf dem Schiff gewesen und ziemlich weit weg von diesen jachternden Hunden. Dann fiel 34
mir das Verschwinden der Holländerin ein und ich wußte plötzlich wieder, daß Rolfs Weg wahrscheinlich genau der richtige war, herauszufinden, was es herauszufinden gab. „Shir Khan ist der Herr“, sagte der Eingeborene unten. „Er wird entscheiden, was mit euch geschieht. Kommt herunter, ich werde die Hunde zurückpfeifen und nicht schießen.“ „Sehr freundlich“, grinste Rolf und raunte mir leise zu. „Bleib so lange oben, bis ich unten wieder aufpassen kann. Und laß diesen Burschen da nicht allzuweit aus dem Visier.“ Ich nickte, und Rolf machte sich an den Abstieg. Ich kann mich irren, aber es kam mir so vor, als ob er sich dabei ein wenig mehr Zeit ließe, als unbedingt nötig gewesen wäre. Nichts geschah, bis wir beide unten waren; dann erhob sich der Afridi aus seiner mangelhaften Deckung und pfiff den Hunden. „Geben Sie mir Ihre Waffen“, verlangte er. Rolf schüttelte den Kopf. „Nichts zu machen, Freund“, sagte er ruhig. „Es sind unsere Waffen und das bleiben sie auch, solange wir es für richtig halten.“ Der Inder knurrte etwas Unverständliches, aber er ließ es dabei bewenden. Allerdings trug er auf dem Weg durch den Urwald seinen alten Karabiner so, daß wenigstens einer von uns immer vor der Mündung der Waffe war. Das machte aber keinen großen Unterschied, denn ich hatte während des ganzen Weges die rechte Hand auf dem Revolverkolben. Die Hunde waren um uns herum, aber keiner kam uns zu nahe. Es waren wirklich ganz prächtige Colsuns, mehr schöne Tiere dieser Rasse, als ich jemals zusammen gesehen hatte. Das machte aber das Gefühl, sie als unbestechliche Wächter um uns zu haben, auch nicht angenehmer. Übrigens stießen wir bald nach einem kurzen Stück Urwaldes auf einen sauber ausgeschlagenen Pfad, der südöstlich in 35
den Mittelpunkt der Insel hineinlief und dabei ständig anstieg. Also war auch der Teil der Insel nicht unbewohnt, wie es zuerst den Anschein gehabt hatte. Ein sauberer Pfad bei dieser Tropenvegetation, das bedeutete, daß er ständig benutzt und saubergehalten wurde. Wahrscheinlich machte dieser rauhbeinige Afridi mit seinen Hunden hier täglich seine Runde. Wenn es zuerst nur ein vager Verdacht gewesen war, so zweifelte ich bei diesem Gedanken nicht mehr daran, daß wir hier auf der Insel auf etwas gestoßen waren, was zumindest das Tageslicht und fremde Augen sehr heftig zu scheuen hatte. Falls man Sklavenjagd noch so bezeichnen kann. Ich meine eigentlich, man kann es nicht … Nach ein paar Minuten Weges auf dem sauberen Pfad blieb der Afridi plötzlich stehen und führte uns dann vorsichtig seitlich, haarscharf am Rande eines Busches weiter, ehe er nach ein paar Metern in die Mitte des Pfades zurückging. Ich erhaschte Rolfs Blick und sah seine hochgezogenen Augenbrauen. Wir wußten beide genau, was dieses seitliche Ausbiegen für einen Sinn hatte, auch ohne darüber zu sprechen. Der Pfad war hier durch irgendeine Teufelei, durch eine Fallgrube oder Selbstschüsse gesichert. Rolf sah sich sehr genau um, als wolle er sich die Stelle genau einprägen, und der Gedanke erschien gar nicht schlecht. Falls wir aus irgendeinem Grunde sehr eilig von hier verschwinden mußten, war es wahrscheinlich lebenswichtig für uns, diese Fallgruben zu kennen. Noch dreimal mußten wir solchen Hindernissen ausweichen und in keinem der drei Fälle konnten wir im Vorbeigehen erkennen, welcher Art die Fallen waren. Wer sie angelegt hatte, verstand sein Handwerk! „Ihr Shir Khan scheint sehr um seine Sicherheit besorgt zu sein“, sagte Rolf spöttisch zu unserem schweigsamen Begleiter. Der Afridi starrte meinen Freund böse an und seine Finger 36
spielten am Gewehr. Ich ließ meine Hand hörbar auf den Revolverkolben fallen, um allen Eventualitäten vorzubeugen. „Nicht um seine Sicherheit“, knurrte der Inder böse. „Wir fürchten keine Feinde.“ „Nein“, bestätigte Rolf. „Die Fallen auf dem Wege sind nur angelegt, damit Shir Khans Leute auch immer wissen, ob sie auf dem richtigen Weg sind.“ Die Augen des Afridi flammten zornig auf. Ich kenne diese Bergstämme und ich kenne auch ihren unbändigen Stolz. „Wir sind hierher geflohen“, sagte der Inder heiser. „Nicht vor ein paar Feinden, sondern vor einer Übermacht, die stärker war als unsere Krieger. Wir sind geflohen, nachdem wir jahrelang gekämpft haben. Jetzt warten wir auf den Moment, in die Heimat zurückzukehren. Als Sieger! Dafür brauchen wir hier Sicherheit und können keine Fremden dulden. Alle Fremden sind Spione.“ „Spione“, nickte Rolf, und seine Stimme verriet noch immer deutlichen Spott. „Ein Beruf, der sehr gut bezahlt wird, wenn ich mich richtig erinnere. Vielleicht können Sie mir sagen, wo ich das Geld abholen kann, das ich als Spion verdient habe. Damit, daß wir einen wildgewordenen Banteng erlegt haben.“ Der Afridi schwieg, aber es war ein drohendes, böses Schweigen. Nach einer Weile mußten wir eine Wache passieren. Der Mann stand seitlich des Weges, vorzüglich gedeckt, und vielleicht hätten wir ihn übersehen, wenn unser Begleiter ihn nicht angerufen hätte. Er trug einen Karabiner gleicher Art wie unser Begleiter, und mit einem schnellen Blick stellte ich fest, daß die Waffe nicht gesichert war! Shir Khan hatte wirklich ungewöhnliche Sicherungsmaßnahmen ergriffen, um seine Ruhe gesichert zu wissen. Er schien überhaupt ein seltsamer Mensch zu sein. Schon 37
möglich, daß er ein indischer Stammesführer war, der das Land verlassen mußte, als die Behörden gegen seine ständigen Revolten und Räubereien Ernst machten. Trotzdem schienen die Männer seines Stammes sehr fest zu ihm zu stehen. Vermutlich hätte er sonst auch kaum eine solche Position erlangen können, daß er praktisch die gesamte Insel zu beherrschen und als sein Eigentum zu betrachten schien. Ich muß zugeben, ich war ziemlich gespannt auf diesen Shir Khan. Allerdings würde ich meine Neugier kaum sehr lange bezähmen müssen, wie die Dinge lagen. Wir passierten noch einen weiteren Posten, und langsam kam mir diese Wachsamkeit auf einer unbewohnten Insel doch etwas lächerlich vor. Dieser Shir Khan schien sich weit wichtiger zu nehmen, als er in Wirklichkeit war. Kurz hinter dem zweiten Posten endete der Wald plötzlich, wir traten auf eine weite Lichtung hinaus, die deutlich verriet, daß sie nicht natürlich war, sondern von Menschenhand angelegt. In mühsamer Arbeit mußte hier der Urwald gerodet sein, und es waren Felder angelegt worden. Ich sah gutbewässerte Reisfelder und dunkelgrünen Maniok. Shir Khan mochte ein überspannter Krieger sein, auf jeden Fall hatte er daran gedacht, daß er für Nahrungsmittel sorgen mußte, wenn er mit seinen Gefolgsleuten diese Insel wirklich beherrschen wollte. Er konnte sich bei seinen Absichten kaum darauf verlassen, Vorräte auf normalem Weg einzukaufen und sie per Schiff an die Küste seiner Insel zu bringen. Und nun wurde mir auch klar, warum wir den Wildpfad an der Nordseite der Insel verlassen gefunden hatten. Zuerst hatte ich angenommen, die streifenden Hunde hätten das gewaltige Wild vergrämt, aber viel wahrscheinlicher erschien es mir jetzt, daß Shir Khans Männer ständig auf Jagd gingen und die reichen Wildbestände der Insel schon ziemlich reduziert haben mußten. Ich konnte nirgends Rinder entdecken; also war 38
die Fleischversorgung der Afridis wirklich nur ihre Jagdbeute. Shir Khan würde nicht mehr allzu lange seine Herrschaft auf der Insel aufrechterhalten können, es sei denn, er hatte vor, Vegetarier zu werden. Für einen Afridi ein absurder Gedanke. Die Hunde waren immer noch um uns, als wir die wogenden Felder passierten. Soviel sie auch herumschnüffelten, stets blieben wir Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit. Sie bewachten uns unauffällig, aber konsequent. Es war eine seltsame Situation, völlig bewaffnet und doch nicht mehr als ein hilfloser Gefangener zu sein. Einer, der ein Gewehr in den Händen und seinen 38er Colt an der Hüfte trug und beides nicht benutzen konnte, ohne Selbstmord zu begehen. Als wir durch die Felder hindurch waren, ragte vor uns eine aus Weidegestrüpp geflochtete, mit Lehm gedichtete Barriere auf, die das ganze Anwesen inmitten der Felder umgab. Ich hatte diese Barrieren oft gesehen, als wir durch Indiens Berge streiften. Nur waren sie da aus Steinen und ein wirksamer Schutz selbst gegen Angreifer mit modernen Waffen. Eine Handvoll Afridi-Krieger hinter diesen Felswällen hatten britische Regimenter tage- und wochenlang festgenagelt, ehe sie vor Maschinengewehren und Feldgeschützen weichen mußten. Shir Khan schien sehr viel von dieser Tradition zu halten, wenngleich sein Lehmwall mit Weidengeflecht kaum dazu taugte, ein ernsthafter Schutz zu sein. Aber er rechnete wohl kaum damit, sich gegen einen Gegner von Regimentsstärke verteidigen zu müssen. Das Ganze kam mir mehr wie eine Spielerei vor oder wie ein Trainingscamp für seine Männer, falls er wirklich ernsthaft den Gedanken haben sollte, mit seinen Gefolgsleuten eines Tages wieder aufs Festland überzusetzen und eine Revolution anzufangen. Wir wurden vom Lehmwall aus angerufen, unser Wächter antwortete kurz im Afridi-Dialekt, einer nördlichen Abart des 39
üblichen Hindostani, die wir zwar nicht sprachen, aber doch ziemlich gut verstanden. Rolf sah sich aufmerksam um, ich hatte wieder den Eindruck, er präge sich jede Einzelheit seiner Umgebung ein, um sich später daran erinnern zu können. Und vielleicht würden wir das sehr bald nötig haben, denn ich hatte alles andere als ein gutes Gefühl, als wir den Lehmwall passierten und nun endgültig im Inneren der primitiven Festung eines Mannes waren, von dem wir kaum sehr viel Gutes zu erwarten hatten, wenn es der Mann war, für den ich ihn hielt. Im Inneren des Walles gab es mehrere Gebäude. Fast genau in der Mitte des runden Innenhofes stand ein großes Blockhaus mit reichen Schnitzereien an der Vorderfront und einem überdachten Portal. Das dürfte Shir Khans Herrschersitz, seine Residenz sein. Dicht am Wall standen zwei einfache, glatte Holzhäuser, vermutlich die Mannschaftshäuser für seine Krieger, und dicht neben seinem Palast war ein eingeschossiges Holzhaus mit Fenstern, die mit dicken Bambusstangen vergittert waren. Zwei Afridi bewachten dieses Haus, in dessen unmittelbarer Nachbarschaft auch ein Hundezwinger mit Bambusgittern untergebracht war, in dem es noch mehr Hunde jener Art gab, wie sie noch immer um uns herumschwärmten. Alles zusammen erschien es mir ein bißchen viel Aufwand für einen dreckigen, gemeinen Sklavenjäger. Aber ich behielt meine Meinung vorsichtshalber für mich und sah mich nur um, jetzt ganz bewußt aus dem gleichen Grund wie mein Freund Rolf. Unser Wächter brachte uns vor das zentrale Holzhaus mit den Schnitzereien. „Warten Sie hier!“ herrschte er uns an. „Traditionelle indische Gastfreundschaft“, sagte Rolf spöttisch zu mir. Ich nickte, aber sagte nichts. Und meine Zweifel wurden größer, ob wir klug gewesen waren, uns in diese Situation zu bringen. Wahrscheinlich nicht. 40
Immerhin brauchten wir nicht lange zu warten. Zwei riesige Afridi stießen den Vorhang unter dem geschnitzten Dach beiseite und bauten sich neben den Säulen auf. Es waren Kerle, wie man sie nur in den indischen Bergen findet. Riesengroß, breitschultrig mit schmalen Hüften. Dunkelgebrannte Gesichter mit funkelnden, blitzenden Augen und schwarzen Schnurrbärten, die an die Vorstellung erinnern, die ein Normaleuropäer von Dschingis Khan und seinen Horden hat, mit denen die Afridis bestimmt um einige Ecken verwandt sind. Sie trugen die gleichen groben Lederstiefel wie unser Wächter, locker fallende Hosen, lange, gestreifte Jacken, die von roten Schärpen zusammengehalten wurden, und große, weiße Turbane. Aus der Schärpe des einen ragte der Griff einer Parabellum, aus der des anderen ein Messergriff. Shir Khans Krieger mochten vielleicht nicht nach den modernsten militärischen Erkenntnissen ausgerüstet sein, aber für den Berg- und Buschkrieg dürfte ihre Bewaffnung ausreichen und sie zu gefährlichen Gegnern machen. Die beiden finsteren Afridi musterten uns mit ihren funkelnden Augen, aber sie verzogen keine Miene dabei. Afridi sind stolz, kühn, grausam und meinetwegen als Gegner auch hinterlistig und brutal, wie ihnen viele nachsagen, die mit ihnen zu tun hatten. Aber sie sind im Grunde prächtige Burschen, die für ihre Unabhängigkeit und Freiheit seit Jahrhunderten gekämpft haben unter welch schweren Umständen auch immer. Der Vorhang wurde wieder beiseite gestoßen, und der illegale Herrscher von Nord-Pageh erschien: Shir Khan! Äußerlich unterschied er sich wenig von seinen beiden Leibwächtern und man konnte ihn sich ganz gut als säbelschwingenden Anführer einer wilden Reiterschar aus den Bergen vorstellen, die wie ein vernichtendes Unwetter über die schutzlose Ebene hereinbrach. Seine Augen waren zu Schlitzen 41
zusammengezogen, sein Bart stark ergraut und das Gesicht wirkte härter als das seiner Männer. Ihm fehlte der kühne Zug der Leibwächter, an seine Stelle trat Rücksichtslosigkeit und eine starke Brutalität. Unser Wächter trat zu ihm und berichtete mit leiser Stimme. Dabei zeigte er mehrmals auf uns, sprach aber so leise, daß wir kein Wort verstehen konnten. Vermutlich war das auch genau die Absicht des Sprechers. Shir Khan musterte uns mit kalten Blicken, und ich hätte den Kerl dafür niederschlagen können, wenn ich nur gewußt hätte wie. Aber seine Wächter ließen uns nicht aus den Augen und die Hunde schwärmten noch immer um uns herum. Eigenartigerweise beachteten sie keinen der Afridi, nur uns. Eine seltsame Sache, die mit Dressur und Gewohnheit nicht zu erklären war. Mir fiel ein, daß sie auch unterwegs von den Posten keinerlei Notiz genommen hatten. Es mag kluge Hunde geben, sogar sehr kluge, und der Leithund des Rudels war es bestimmt. Aber es gibt keinen einzigen Hund auf der Welt, der auf Anhieb Freund und Feind unterscheiden kann! „Was wollen Sie auf meiner Insel?“ herrschte uns Shir Khan an. Seine Stimme unterstrich noch den Eindruck seines Gesichtes: kalt, rücksichtslos, brutal. Er sprach das harte Englisch der Bergstämme wie auch unser Wächter. „Ihre Insel?“ fragte Rolf ruhig. „Wenn Sie sie nicht innerhalb der letzten zwei Tage gekauft haben, dann ist es immer noch eine Insel der Republik Indonesien und untersteht der Regierung in Djakarta.“ In den Augen Shir Khans glommen Funken auf und harte Linien entstanden um seinen schmallippigen Mund. „Sie kennen mich nicht“, sagte er rauh. „Das will ich Ihnen zugute halten, aber ich warne Sie. Ich bin Shir Khan, und mein Wort ist hier Gesetz, Fremder. Dies ist meine Insel und wenn 42
sie zehnmal der Regierung in Djakarta gehört, die ich nicht kenne. Mag doch die Regierung herkommen und sich die Insel nehmen. Meine Männer lieben den Kampf!“ Die beiden Leibwächter nickten zustimmend. „Sie werden ihn sicher bekommen, Shir Khan“, sagte Rolf ruhig. „Ganz sicher sogar. Aber Sie werden ihn nicht überleben. Wenn man in Djakarta von Ihrem Zauber hier erfährt, dann schicken sie bestimmt ein paar Truppen her und jagen euch zum Teufel. Ob ihr nun den Kampf liebt oder nicht.“ Shir Khan schien diese Sprache absolut nicht zu behagen, aber er schien ein wenig unsicher, was er mit uns anfangen sollte. Rolfs kühnes Auftreten verwirrte ihn sichtlich. Vielleicht hatte er erwartet, uns vorsichtig und ängstlich zu finden. Wenn es das war, mußte er sich andere suchen. „Ben Shur hat mir gesagt, Sie wären verwegene Männer und sehr kühn“, knurrte Shir Khan heiser. „Wir Afridi sind gewöhnt, Kühnheit eines anderen anzuerkennen. Aber ich warne Sie. Hier bin ich der Herr, und wenn Sie es herausfordern, kann ich Sie das sehr deutlich spüren lassen. Was also wollen Sie auf meiner Insel?“ „Auf Ihrer Insel wollen wir überhaupt nichts“, sagte Rolf böse. „Sollten Sie aber die indonesische Insel Nord-Pageh meinen, dann kann ich Ihnen nur sagen, daß in unseren Pässen ein Visum der Regierung ist, das uns erlaubt, hier zu sein, sehr im Gegensatz zu Ihnen, Shir Khan. Im übrigen habe ich Ihre Fragerei satt. Sagen Sie, was Sie wollen, und lassen Sie uns in Ruhe, das ist alles, was ich mit Ihnen zu besprechen habe. Meinetwegen können Sie Ihren Mummenschanz mit Wachtposten, Hundemeuten und Menschenfallen treiben, solange einer Ihrer Männer kindliches Vergnügen daran findet. Aber lassen Sie andere damit in Frieden!“ Shir Khan hatte offensichtlich zuviel versprochen, als er be43
hauptete, die Kühnheit anderer imponierte ihm. Sie tat es keinesfalls, sie regte ihn furchtbar auf. Vermutlich hatte er auch Kühnheit mit Wahrheit verwechselt, aber das soll vorkommen. Er knirschte nach Rolfs Worten mit den Zähnen und schrie einen heiseren Befehl, von dem ich kein Wort verstand. Auf jeden Fall bedeutete es keine Einladung für uns. Ich ließ die Hand auf den Revolverkolben fallen und riß die Waffe heraus. Aber ich kam nicht mehr dazu, sie gegen diesen größenwahnsinnigen Bergfürsten zu gebrauchen. Irgend etwas prallte gegen mich und riß mich mit einer geradezu unheimlichen Gewalt um. Ich prallte schwer auf den Boden. Gewohnheitsmäßig wollte ich mich sofort herumwerfen, aber ich konnte nicht. Es schienen Messer zu sein, die sich um meine Arme schlossen, und in meinem Genick spürte ich den heißen Atem eines Tieres. Die Hunde! schoß es mir durch den Kopf. Dieser Halunke hat seine Hunde auf uns gehetzt! Ich versuchte, mich wieder herumzuwerfen, aber die Messer an meinen Armen schnitten nur tiefer ein und ließen nicht los. Zugleich ertönte ein drohendes Knurren über mir. Wieder gab es einen hastigen Befehl, den ich nicht verstand, der Griff der Zähne an meinem Arm war plötzlich verschwunden, dafür packten mich harte Fäuste und rissen mich hoch. Die Arme wurden mir auf den Rücken gedreht, andere Hände zerrten meine Waffen heraus. Es ging alles blitzschnell, und schon ein paar Sekunden später standen wir gefesselt wieder vor Shir Khan, mit fest auf dem Rücken verschnürten Händen, und er hatte sich nicht einmal von den Stufen herabbewegt! „Sie haben mich gefragt, mit welchem Recht ich diese Insel als mein Gebiet bezeichne“, sagte er ganz ruhig. „Jetzt haben Sie die Antwort erfahren: Mit dem Recht des Stärkeren, mit dem Recht des wahren Herrschers. Vielleicht bin ich nur ein 44
Flüchtling, aber einer, der genug Macht mitgebracht hat, um der Herr seiner Welt zu bleiben.“ „Herr seiner Welt“, schnaubte Rolf verächtlich. Blut tropfte von seinen Handgelenken und über das Gesicht zog sich eine breite Schramme. Er mußte sich energischer zur Wehr gesetzt haben als ich – oder zumindest es versucht haben. Eine Chance hatte er ebensowenig gehabt wie ich. Nur die Hunde hatten ihre Chance gehabt. Sie liefen hechelnd um uns herum, und es kam mir vor, als würden sie es bedauern, daß man sie so schnell zurückgerufen hatte. „Herr seiner Welt“, wiederholte Rolf. „Ihr Name ist Shir Khan, wenn ich mich nicht irre. Das bedeutet in Hindostani ‚Tiger’. Sie tragen den Namen zu Unrecht, Mann. Sie sollten Hyäne heißen oder Schakal!“ Das war mehr, als Shir Khan hinnehmen konnte. Mit einem Wutschrei stürzte er sich auf Rolf und schlug ihn schmetternd ins Gesicht. Einmal, zweimal, dreimal. Aber Rolf sah ihn nur höhnisch an und zuckte nicht einmal mit den Wimpern, als ihn die Schläge trafen. Einer der Leibwächter murrte, und Shir Khan ließ von meinem Freund ab. „Ich wüßte noch einen anderen Namen, Rolf“, sagte ich. „Einen anderen Namen für den wildgewordenen Bergscheich da. Wie wäre es mit Sklavenhändler?“ Shir Khan wurde blaß bei dieser erneuten Beleidigung, obwohl sie nach meiner Meinung nichts weiter war, als ihn bei seinem richtigen Namen zu nennen! Mochte er sich aufspielen wie er wollte, er war doch nichts weiter als ein Verbrecher, der das schmutzigste Geschäft betrieb, das ich nur kenne. Am Leben anderer, unglücklicher Menschen verdienen, deren Leben verschachern, wie andere Leute mit Tieren handeln oder meinetwegen mit Kohlköpfen. Ich erwartete, daß Shir Khan sich zur Abwechslung auf mich 45
stürzen würde, aber er ließ es bleiben. Wahrscheinlich hatte ihn das unwillige Knurren eines seiner Leibwächter gewarnt. Es ist nicht Afridi-Art, einen wehrlosen Mann zu schlagen. Sie sind zu stolz dazu, viel zu stolz. „Dachte ich es mir doch“, sagte Shir Khan statt dessen. „Dachte ich mir’s doch gleich, daß ihr nichts weiter seid, als elende Spitzel der Engländer, die uns auch noch um unsere Freiheit bringen wollen, nachdem sie uns schon um unser Land gebracht haben.“ „So kann man es auch nennen“, meinte Rolf neben mir. „Nur mit der Wahrheit hat es nicht viel zu tun. Wenn Sie die wissen wollen, großer Herrscher mit dem kleinen Verstand: Jawohl, wir waren hinter den gefangenen Mädchen her, wollten den Verbrecher stellen, der um nichts besser ist als ein heimtückischer Mörder. Wir haben ihn gefunden.“ Er wandte sich zu mir. „Weißt du, wie er sich nennt? Shir Khan, der Tiger.“ Rolf lachte belustigt auf, so schwer ihm das mit den von den Schlägen des Inders aufgeplatzten Lippen auch fallen mochte. „Er kommt mir vor wie ein Kind, das sich im Dunkeln fürchtet und laut pfeift. Er ist eine Ratte und nennt sich Tiger, aber er wird deshalb noch lange keiner.“ Shir Khan war blaß geworden wie die Hauswand hinter ihm. Wir hatten ihn mehr und tiefer beleidigt, als es sich ein Afridi jemals gefallen lassen konnte, und ich fragte mich etwas beklommen, was Rolf eigentlich vorhatte. Mein Freund ist zu besonnen und überlegt, um sich von momentanem. Ärger so hinreißen zu lassen, wie er es offensichtlich tat. Er mußte damit einen Zweck verfolgen, und ich hätte eine Menge dafür gegeben, diesen Zweck zu kennen. Wahrscheinlich würde ich ihn erfahren, aber hoffentlich war es dann nicht zu spät. 46
„Sklaven“, höhnte Shir Khan. „Du hast es gesagt, Spitzel der Engländer. Ich habe Sklaven gefangen. Acht braune Mädchen dieses Landes sind schon den Weg gegangen, von dem es keine Umkehr gibt. Es waren gute Mädchen und sie haben mir viel Geld eingebracht. Vier der braunen Blumen habe ich noch und als Krone eine Weiße. Sie wird noch viel mehr einbringen.“ „Wenn Sie einen Strick um den Hals als mehr bezeichnen, kann das stimmen“, höhnte Rolf. „Und wißt ihr, wofür ich das Geld brauche?“ Shir Khan ließ sich nicht unterbrechen, seine Augen flackerten und waren dunkel geworden wie Bergseen, wenn die Sonne sinkt. Unwillkürlich war er in die bilderreiche, farbige Ausdrucksweise seiner Heimat verfallen, wenn er auch weiterhin Englisch sprach. „Ich brauche es, damit die Engländer, eure Auftraggeber, zittern, wenn sie den Namen Shir Khan hören. Zittern vor ihrem Bezwinger, Waffen kaufe ich für das Geld, das mir diese nichtsnutzigen Mädchen einbringen, wenn ich sie an die Fürsten der Bergstämme verkaufe, an die Herren der Wüstenstämme jenseits des Meeres. Waffen und noch einmal Waffen. Ich brauche Gewehre, Tausende von Gewehren, Maschinengewehren und Handgranaten. Ich brauche sie für die Männer Indiens, die sich wie ein Mann erheben werden, wenn ich mit meinen Getreuen zurückkomme, um Indien zu befreien.“ „Erheben werden sie sich allerdings wie ein Mann“, sagte Rolf laut in das beifällige Murmeln der Wachen hinein. „Aber um Sie aus dem Land zu jagen und ins Gefängnis, wo Ihr Platz ist.“ „Aus dem Land jagen werde ich die Engländer, ins Meer. Tod allen Weißen, Tod den Tyrannen Indiens.“ „Wen belügen Sie eigentlich, Shir Khan?“ fragte ich ruhig. Das Murmeln der Afridis erstarb plötzlich, und Shir Khan starr47
te mich fassungslos an. „Wen belügen Sie? Sich selbst oder nur Ihre Leute, um sie nicht zu verlieren? Indien wollen Sie von den Engländern befreien? Ausgerechnet Sie, ein Verbrecher? Indien pfeift auf solche Männer, Shir Khan. Indien hat sich längst selbst befreit. Ohne Waffen, die mit dem Leben unschuldiger Mädchen bezahlt sind. Indien ist längst ein freier Staat und hat keinen Platz für Männer wie Sie. Keinen Platz für Narren, die es nur ins Unglück stürzen, und keinen für Verbrecher.“ Ein paar Sekunden herrschte tödliches Schweigen um uns, selbst die Hunde schienen den Atem anzuhalten. Dann hob Shir Khan langsam den Arm. „Ich wollte euch töten lassen, Spione“, sagte er ruhig. „Ich wollte euch erschießen lassen, weil ihr eine Gefahr seid für meine Männer und meine Pläne. Ich wollte euch schnell töten lassen, weil ihr mutig und kühn wart. Jetzt habe ich anders entschieden. Ihr werdet sterben, aber ihr werdet so langsam sterben und unter so grauenvollen Schmerzen, daß ihr jeden Tag verfluchen werdet, den ihr auf dieser Erde gelebt habt, und jedes Wort, das ihr zu mir sagtet und mit dem ihr mich beleidigtet. Ihr sollt tausendmal sterben. Bringt sie weg, sie sollen gefesselt bleiben.“ Die beiden Leibwächter stießen uns vorwärts, ich sah gerade noch, wie andere Männer dieses Shir Khans unsere Waffen aufhoben und sorgfältig betrachteten. Für Waffen schienen sie immer Verwendung zu haben, und wenn sie das glaubten, was ihnen dieser grauhaarige Narr mit dem gewaltigen Namen vorerzählte, konnte ich mir auch leicht ausrechnen warum. Dann stieß man uns in eine Art Wirtschaftsgebäude, einen besseren überirdischen Kartoffelkeller, und schmetternd schloß sich die schwere Bohlentür hinter uns.
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3. Kapitel Im Inneren der Hütte war es dunkel, sie hatte nur ein winziges, mit Bambus vergittertes Fenster in der Bohlentür, gerade groß genug, um einen Mann hindurchsehen zu lassen, wenn er sich viel Mühe gab. Ansonsten war nichts in dieser Hütte, aber auch gar nichts. Nicht einmal ein Holzklotz, auf den man sich hätte setzen können. „Wetten“, sagte ich heiser, „daß seine verdammten Hunde entschieden besser untergebracht sind als wir?“ „Gewonnen“, sagte Rolf aus dem Halbdunkel heraus. „Die Hunde braucht er auch, um seine Sklavinnen ganz sicher auf der Insel zu halten und niemand in sein Nest hier eindringen zu lassen. Uns nur, um uns stückweise zu braten oder was er sonst mit uns vorhat.“ „Kein sonderlich schöner Gedanke“, sagte ich gar nicht so sehr fröhlich. Ich fand unsere Situation keineswegs beneidenswert. Vermutlich hätte niemand sie so gefunden. „Sicher nicht“, gab Rolf zu. Er schien die ganze Sache wesentlich weniger störend zu empfinden als ich, obwohl er weit mehr abbekommen hatte. „Was zum Teufel wolltest du eigentlich erreichen, daß du diesen alten Bergfritzen bis zur Weißglut gereizt hast?“ wollte ich wissen. „Wo sind wir jetzt?“ fragte Rolf, und ich hörte seiner Stimme an, wie er grinste, obwohl ich es nicht sehen konnte. „In einer Hundehütte mitten in der Festung eines närrischen Inderfürsten“, sagte ich unlustig. „Und was hat unser neuester Freund für eine Nebenbeschäftigung?“ „Sklavenjäger, Sklavenhändler, wie du willst. Aber ich sehe nicht ein …“ 49
„Langsam“, unterbrach mich Rolf. „Als wir vor ein paar Ewigkeiten auf dieser Insel landeten – oder war es heute morgen? – da hatten wir keine Ahnung, ob es mehr wäre als nur ein Gerücht, hinter dem wir her waren. Jetzt wissen wir Tatsachen und haben sogar ein Geständnis des Mannes, der dafür verantwortlich ist. Jedes Gericht würde es anerkennen, denn ich hätte dich sogar als Zeugen.“ „Prima“, stimmte ich im Brustton der Überzeugung bei. „Bleibt nur noch die Frage, woher wir in der Eile ein Gericht nehmen. Das einzige, das ich in erreichbarer Nähe sehe, ist das Strafgericht, das dieser alte Halunke mit uns anstellen wird.“ Rolf ließ sich von meiner Unkerei nicht beeindrucken. „Vom Sklavenhandel zu wissen, ist eine Sache“, fuhr er ruhig fort. „Ihn zu beweisen und in die Höhle des Löwen zu kommen, die zweite.“ „Ich höre immer Höhle“, sagte ich ärgerlich. „Ich habe das verdammte Gefühl, wir sitzen im Rachen des Löwen. Mitten drin sogar.“ „Vielleicht nicht ganz unwahr“, gab Rolf ein wenig nach. „Aber überlege einmal ein bißchen weiter. Hätten wir eine Chance gehabt, in diese Dschungelfestung allein einzudringen? Bei den Sicherungsmaßnahmen, die Shir Khan hat.“ „Nein“, gab ich zögernd zu. „Wir sind aber drin“, lachte Rolf. Dagegen gab es nichts zu sagen, man könnte sich höchstens fragen, ob es nicht weit besser für uns gewesen wäre, draußen geblieben zu sein. „Weiter“, erklärte Rolf. „Was hatte Shir Khan nach seinen eigenen Worten mit uns vor, ehe ich ihn zur Weißglut brachte, wie du es nanntest?“ „Uns kurz und schmerzlos über die Klinge springen zu lassen.“ 50
„Eben“, nickte Rolf. „Und dann wären wir zwei wunderschöne Leichen gewesen. Wir leben aber noch.“ „Vorläufig wenigstens“, gab ich zu und mußte nun auch lachen, so unpassend das in unserer Situation auch sein mochte. „Fragt sich nur, wie lange.“ „Also haben wir es erreicht, in der Festung dieses seltsamen Inders zu sein“, zählte Rolf ungerührt auf, „sein Geständnis zu haben und noch zu leben. Das erscheint mir schon eine ganze Menge.“ „Bliebe nur noch“, zählte ich dagegen, „wieder herauszukommen, und das möglichst heil, was ich bezweifle, und möglichst die gefangenen Mädchen zu befreien, wozu ich überhaupt keine Chance sehe.“ „Warten wir es ab“, meinte Rolf. „Wir haben auch einige Eisen im Feuer, von denen Shir Khan keine Ahnung hat. Keine schlechten Eisen, würde ich sagen. Zunächst einmal wird Pongo unruhig werden, wenn wir nicht spätestens übermorgen wieder bei der Jacht sind. Wie ich unseren Pongo kenne, wird er dann auf die Suche gehen und sehr schnell herausgefunden haben, was hier gespielt wird und wo wir stecken. Der Rest wäre eigentlich für Kapitän Hoffmann und die Besatzung ein Kinderspiel. Was meinst du, wird aus diesen Afridi, wenn sie gegen Hoffmanns Leute kämpfen müssen?“ „Hoffmanns Maschinengewehr wird sie zur Hölle schicken mitsamt ihrem Lehmwall“, sagte ich düster. „Aber dummerweise sind es bis dahin noch mindestens zwei Tage, und ich habe die dumpfe Ahnung, daß Shir Khan nicht solange mit uns warten wird.“ „Also müssen wir vorher hier verschwunden sein“, beschloß Rolf unsere seltsame Unterhaltung. „Und damit könnten wir eigentlich gleich anfangen. Sieh dir mal meine Fesseln an, Hans.“ 51
Nun, von Ansehen konnte eigentlich bei dem schlechten Licht in der Hütte kaum die Rede sein. Blieb nur das Anfühlen übrig, und damit hatte es auch einige Schwierigkeiten, denn meine Hände waren ja ebenso auf den Rücken gebunden wie die Rolfs. Es dauerte darum auch bestimmt fast eine Stunde, ehe ich mit den wenigstens einigermaßen beweglichen Fingerspitzen den ersten Knoten an Rolfs Fesseln soweit gelockert hatte, daß ich richtig an die Arbeit gehen konnte. Gott sei Dank, mochten die Afridi, die uns gebunden hatten, vielleicht gute Leibwächter sein, aber Männer, die mit ein paar Knoten Fesseln anlegen können, an denen man sich die Fingernägel blutig arbeitet, ohne etwas zu erreichen, waren sie nicht. Trotzdem blieb es eine üble Schinderei, bis ich es endlich geschafft hatte. Aus den letzten Schlingen schüttelte Rolf die Hände einfach hinaus, und er brauchte dann knapp zehn Minuten, um auch mich zu befreien. „Das wäre das“, sagte Rolf. „Als nächstes müßten wir uns in unserem Gefängnis ein wenig umsehen. Vielleicht wäre es ganz gut, wir könnten von hier verschwinden, ehe Shir Khan sich die richtige Strafe für uns ausgedacht hat.“ Aber das war entschieden leichter gesagt als getan. Die Seitenwände bestanden aus massiven Balken. Da hätte man schon ein Biber sein müssen, um etwas auszurichten. Blieb die Tür. Zwar bestand sie auch aus in der Mitte aufgespaltenen jungen Bäumen. Aber ich habe noch keine Tür erlebt, die nicht so etwas wie Angeln hat. Diese hier hatte auch welche, es waren sogar nur einfache und primitive Lederriemen, aber sie waren auf der Außenseite! Wir konnten sie ebensowenig erreichen wie den Riegel! „Ziemlich schlechte Aussichten“, brummte ich. Rolf sagte gar nichts, vielleicht fiel ihm nichts ein. Wir suchten noch eine Weile erfolglos herum, aber das 52
brachte uns keinen Deut weiter. Draußen wurde es laut, ich hörte die Hunde jaulen und bellen, laute Männerstimmen riefen rauhe Befehle. „Noch mehr Gefangene?“ fragte ich. Rolf trat an das kleine Fenster mit dem Bambusgitter, der einzigen Stelle, die vielleicht noch eine Aussicht auf Entkommen bot, wenn wir uns nachts intensiver mit den Bambusstäben befassen konnten. „Fütterung der Raubtiere“, antwortete Rolf, ohne den Kopf zu wenden. „Die Hunde bekommen ihr Fressen.“ Plötzlich drehte er sich herum. „Schnell, wir müssen die Fesseln wieder anlegen. Wahrscheinlich kommen sie bald, um uns auch etwas zu essen zu bringen. Wäre peinlich, wenn wir da mit ungefesselten Händen herumliefen.“ Als Rolf von Essen sagte, spürte ich plötzlich meinen Hunger. Seit wir noch vor der Morgendämmerung vom Schiff aufgebrochen waren, hatten wir keinen Bissen mehr zu uns genommen. Mein Magen meldete sich und schien mir oben gegen die Kehle zu stoßen. Aber ich hatte jetzt keine Zeit für ihn. Mit hastigen Fingern legte ich Rolf die Fesseln wieder an und zog die Knoten so fest, daß er sie ohne Hilfe lösen konnte, daß man es aber zumindest nicht auf den ersten Blick bemerken konnte. Hinterher fummelte Rolf die Stricke um meine Gelenke. „Halt deine Hände ein bißchen außer Sicht“, versuchte er zu scherzen. „Sehr überzeugend sieht deine Fesselung nicht aus, mein Lieber. Hoffentlich kommt niemand nachsehen, das könnte peinlich werden.“ Wir kauerten uns an den rauhen Hüttenwänden nieder und warteten. Es dauerte mehrere besonders lange Ewigkeiten, dann kamen plötzlich Schritte auf unsere Hütte zu. Der Riegel glitt zurück und die Tür schwang knarrend auf. Einer der Leibwächter Shir Khans war es, er trug zwei zer53
beulte Blechnäpfe und stellte sie mitten in den Raum. Der andere Wächter blieb in der Tür stehen, er trug seinen Karabiner in den Fäusten, und ich hatte das unangenehme Gefühl, dessen Mündung zeigte die ganze Zeit auf meinen ohnehin leeren Magen. Vielleicht war das aber auch nur Einbildung. „Ihr essen“, sagte der Afridi in schlechtem Englisch. „Dies Futter, das Hunde übriglassen. Shir Khan befohlen, euch nur das geben, was Hunde nicht nehmen. Shir Khan nicht will, daß ihr verhungern, ihr bei Kräften sein, wenn sterben, darum ihr essen, wir aufpassen.“ Nette Sitten hier, dachte ich flüchtig. Aber wir hatten es ja herausgefordert. „Du da“, sagte der Wächter plötzlich und zeigte auf mich. „Du vorhin gesagt, Indien frei. Warum?“ Ich zuckte die Schultern. „Warum sollte ich es nicht sagen? Es ist so. Indien steht schon seit Jahren nicht mehr unter britischer Oberhoheit. Es ist selbständig, ein Staat mit eigener Regierung, eigener Armee und was alles dazugehört. Es ist sogar ein sehr wichtiger Staat.“ „Du lügen“, sagte der Wächter heiser. „Wir Afridi immer kämpfen gegen England, damit Indien frei. Wir von hier zurückgehen und wieder kämpfen gegen England, wenn genug Waffen. Du lügen, wenn sagen, daß Indien frei und nicht mehr England die Macht!“ „Wenn du das glaubst“, sagte ich ruhig, „dann brauchst du mich ja nicht zu fragen. Wenn ihr wirklich jemals nach Indien zurückkehren wollt, dann wird man euch da als Rebellen und Reaktionäre empfangen und euch bekämpfen. Aber das werden nicht britische Truppen sein, sondern indische Regimenter.“ „Briten haben auch indische Regimenter“, sagte der Afridi, aber es klang nicht mehr so nachdrücklich. Und als ich zu dem zweiten Wächter an der Tür hinübersah, hatte der den Karabiner 54
inzwischen gehoben, die Mündung zeigte in den Himmel, nicht mehr auf unseren Bauch, wie vorhin. „Diese Regimenter haben indische Offiziere“, stieß ich nach. „Und sie gehorchen den Befehlen einer indischen Regierung, in der kein Weißer ist. Die Regierung aber gehorcht einem indischen Parlament, in dem nur Inder sitzen. Die Inder sind längst ihre eigenen Herren. Sie sind Freunde der Weißen, nicht mehr ihre Sklaven.“ „Afridi auch?“ fragte der Wächter heiser. „Afridi sind im Parlament und nicht mehr kämpfen gegen Engländer?“ „Die Afridi sind im Parlament vertreten, die Hindu, die Sikhs, die Gurkha, die Nepalesen, alle. Indien hat zwei Parlamente, Freund. Eins regiert über Hindostani, das andere über Pakistan. Afridi gehören zu Pakistan und sind ihre eigenen Herren, die ihre eigene Regierung wählen.“ „Und du nicht lügen?“ fragte er unsicher. „Mein Freund lügt nicht“, schaltete sich Rolf ein. „Wir lieben die Lüge ebensowenig wie die Afridikrieger sie lieben.“ Der Afridi sah uns abwechselnd an, und sein dunkles Gesicht verriet nur zu deutlich seine Unsicherheit. Schließlich schien er einen Entschluß gefaßt zu haben. „Ihr tapfere Männer“, sagte er nachdenklich. „Ihr bewiesen. Ihr fast so tapfer wie Afridi in den Bergen. Ich heiße Than Shan, ich Sohn von Krieger, der auch Sohn von Krieger. Ich halten Wort, wenn versprechen, Ihr auch?“ Wir nickten beide, und der Afridi schien befriedigt. „Gut“, entschied er. „Ihr sagen, unsere Heimat frei. Wir können so nicht glauben. Ihr hingehen und uns Beweise bringen. Ihr versprechen wiederkommen.“ „Was nennst du Beweise?“ fragte Rolf. „Eine Zeitung, die darüber schreibt, einen Inder von drüben?“ Der Afridi schüttelte den Kopf. 55
„Ich bessere Idee. Ich mitkommen, selbst sehen. Hier mein Freund Armul wissen, sonst keiner. Wenn Shir Khan erfährt, er sagen, ich euch verfolgen. Wenn wiederkommen, ich weiß, ob ihr Wahrheit sagt und Indien frei oder ob ihr gelogen.“ „Und was ist dann?“ fragte Rolf. „Wir Shir Khan geschworen, bei ihm bleiben und für ihn kämpfen, bis Heimat frei. Wenn Heimat frei und er uns nicht gesagt, er uns viele Jahre betrogen. Dann er wird zahlen!“ Die Augen des Afridi leuchteten unheimlich bei diesen Worten, und so übel unsere Lage auch sein mochte, ich hätte um nichts in der Welt mit Shir Khan tauschen mögen, wenn diese Afridi herausfanden, daß er sie seit Jahren an der Nase herumgeführt hatte und ihren Haß gegen ihre ehemaligen Unterdrücker benutzt hatte, sie in seinem Dienst Verbrechen begehen zu lassen. Auch Armul in der Tür klopfte unheildrohend gegen den Schaft seines Karabiners. „Wir jetzt gehen“, sagte er heiser. „Ihr essen, wir in soviel Minuten“ – er streckte die Finger seiner rechten Hand aus – „zurück kommen.“ „Wollt ihr nicht sehen, wie wir wie die Hunde fressen müssen?“ fragte Rolf spöttisch. Armul zog die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. „Wir kennen auch, Feind demütigen“, sagte er. „Aber nur wenn Feind feige oder falsch. Wir achten Kühnheit und Stolz. Ihr kühn gewesen, allein herkommen, gegen viele kämpfen. Wir nicht wollen euch demütigen.“ Ein wenig dämmerte mir bei diesen Worten, warum es die Engländer in Jahrhunderten nicht geschafft hatten, mit diesen Bergstämmen fertigzuwerden und sie wirklich zu unterwerfen. Than hatte noch eine Frage. Er stellte sie, als er schon fast zur Tür gegangen war. 56
„Ihr sagen, Indien frei. Wir nicht dabeigewesen. Wird Indien nicht sagen, wir Verräter, weil weggegangen?“ Rolf schüttelte den Kopf. „Es ist viel zu tun in einem jungen Land. Sie brauchen da jede Hand, die am Aufbau helfen kann. Ihr habt gesunde und starke Hände. Man wird euch willkommen heißen und ihr werdet euer Teil für euer Land tun.“ „Gut“, nickte Than. „Heute nacht noch werden wir gehen.“ Die beiden verließen uns, und wir streiften unsere Fesseln ab, nahmen die Hundenäpfe und schütteten ihren Inhalt in die dunkelste Ecke der Hütte. Dann stellten wir die Blechnäpfe zurück und hockten uns wieder an die Wände. Die beiden Leibwächter würden kaum nachsehen, ob wir gefesselt waren, wie sich die Dinge entwickelten. „Es sieht so aus, als ob wir Shir Khan ziemlich schnell wieder entwischen sollten“, sagte ich leise zu Rolf. Der nickte. „Es bleibt nur eine Frage dabei“, antwortete er nachdenklich. „Was wird aus den Mädchen?“ Das war wirklich eine Frage, an die ich in der ersten Freude, so ungeschoren zu entwischen, gar nicht gedacht hatte. Aber schließlich waren wir der Mädchen wegen überhaupt in diese ganze Geschichte hineingekommen, also konnten wir jetzt nicht die erste Gelegenheit benutzen, wieder zu entkommen, ohne uns überhaupt um sie gekümmert zu haben. „Wir müssen abwarten“, sagte ich schließlich. Rolf nickte wieder. Than kam zurück; als er die leeren Näpfe sah, schien er bestürzt zu sein. „Ihr gegessen Reste von Hundefutter?“ fragte er unwillig. Rolf zeigte mit dem Kopf in die Ecke, wo wir die Näpfe geleert hatten. „Die Ratten werden es heute nacht fressen“, sagte er. 57
Der Afridi nickte, und seine Augen leuchteten auf. „Ihr kühn wie Afridi. Ich heute nacht mitbringen Fleisch für euch. Langer Weg zur Küste, schwerer Weg. Kein Weg für leeren Magen.“ Er nahm die Näpfe und verschwand, ließ uns mit unseren Gedanken allein. Gedanken, die um vieles kreisten. Um unsere Lage, um die Menschen auf dieser Insel. Die Wächter hier und die Bewachten. Um Shir Khan, seine Helfer und seine Opfer. Viele Menschen, viele Gedanken, die um nichts weiterhalfen. Schön, unsere Situation hatte in der letzten halben Stunde eine grundsätzliche Wandlung erfahren. Wir waren jetzt keine hilflosen Gefangenen eines größenwahnsinnigen Exfürsten mehr, wenn der Afridi die Wahrheit sagte, und ich sah keinen Grund, daran zu zweifeln. Aber da waren andere, völlig hilflose Gefangene dieses Teufels Shir Khan. Sklavinnen, die er rücksichtslos geraubt hatte, Mädchen, die ein grauenhaftes Schicksal in den verschwiegenen Hinterhöfen und Palästen irgendwelcher orientalischer Prachthäuser erwartete. Ein Schicksal, das jede Minute beginnen konnte. Und selbst wenn wir entkamen, waren diese armen Mädchen um nichts besser dran als vorher. Wir konnten Regierungstruppen alarmieren, die Shir Khans Dschungelfestung zusammenschossen. Aber was wurde dann aus den Gefangenen? Dieser ehemalige Bergfürst würde auch nicht eine Sekunde zögern, die Mädchen als Geiseln zu benutzen und sie von seinen Hunden zerreißen lassen, wenn es ihm an den Kragen ging. So irrsinnig es war, aber diese Mädchen waren seine Opfer und sein bester Schutz zugleich. Sie mußten auf jeden Fall aus seinen Klauen befreit sein, ehe wir etwas gegen Shir Khan unternahmen, wenn nicht sie es sein sollten, die mit ihrem unglücklichen Leben alles bezahlen sollten. Irgendwie muß ich bei diesem Karussell, das meine Gedan58
ken spielten, trotz der unbequemen Lage an der rauhen Hüttenwand eingeschlafen sein, denn als mich Rolf anstieß, schreckte ich hoch und starrte um mich, ohne gleich zu begreifen, wo ich mich befand. „Es ist dunkel draußen. Unser Freund Than kann jeden Moment kommen“, flüsterte Rolf. „Besser, wir bereiten uns darauf vor und überlegen noch einmal, was wir tun können.“ „Wenig“, sagte ich müde. „Dieser Afridi mag ernsthafte Zweifel an der Aufrichtigkeit Shir Khans haben, aber er wird auch uns als Fremden nicht rückhaltlos trauen. Schön, er verläßt sich auf unser Wort und riskiert wahrscheinlich seinen Kopf dabei, aber vermutlich sieht er in seiner Handlungsweise noch keine regelrechte Meuterei, die es sein würde, wenn er uns aktiv gegen Shir Khan helfen würde.“ „So ähnlich wird es sein“, gab Rolf zu. „Aber ich denke, wir können nicht von hier verschwinden, ohne wenigstens vorher zu versuchen, etwas für die Mädchen zu tun. Wer weiß, ob wir beim nächstenmal nicht zu spät kommen.“ „Wenn es überhaupt ein nächstes Mal gibt“, sagte ich leise. „Der Rückweg wird uns schon einiges zu schaffen machen. Die Fallen, die Wachen, die Hunde.“ „Than muß auch daran gedacht haben, Hans. Er kennt diese Gefahren besser als wir und glaubt trotzdem, mit uns zur Küste entwischen zu können.“ „Es gefällt mir nicht, daß wir so vollkommen auf ihn angewiesen sind. Möglich, daß er es genauso meint, wie er es sagt. Aber was, wenn er aus irgendeinem Grund, den wir noch gar nicht erkannt haben, uns an der Nase herumführt?“ „Unser Risiko“, meinte Rolf, und damit hatte er allerdings recht. Es war ganz allein unser Risiko. Ich hätte nur zu gern gewußt, wie Than die Hunde ablenken wollte, denn als ich aus dem vergitterten Fenster nach draußen starrte, sah ich ihre hu59
schenden Schatten immer wieder zwischen den Gebäuden auftauchen. Anscheinend ließ Shir Khan sie bei Anbruch der Nacht frei herumlaufen, und eine bessere Bewachung seiner Gefangenen konnte es wohl kaum geben. Außerdem sah ich aber auch Schatten, die größer waren als die des größten Hundes. Wachen! Warum, fragte ich mich, warum, zum Teufel, nehmen die Hunde von diesen Wachen überhaupt keine Notiz, selbst wenn sie bei ihrem Herumstreifen völlig überraschend auf sie stoßen. Das ist keine Dressur, und das ist auch nicht natürlich. Da muß es irgendeinen Trick geben, einen Trick, den wir unbedingt wissen müssen, wenn wir uns hier innerhalb der primitiven Dschungelfestung frei bewegen wollen.
4. Kapitel Than kam tatsächlich. Es mochte gegen 22 Uhr sein, Rolf und ich hatten uns wieder gegen die Außenwände der Hütte gehockt und warteten still, als leise Schritte heranstapften und der Riegel an der Außenseite der Tür sich schurrend bewegte. Der Afridi schob sich blitzschnell in unser Gefängnis hinein und zog die Tür hinter sich zu. „Wir schnell machen“, flüsterte er. „Ihr eure Fesseln herzeigen, ich sie durchschneiden.“ „Nicht nötig“, gab Rolf zurück. „Wir haben sie schon heute mittag nicht mehr umgehabt. Was machen wir mit den Hunden?“ Der Afridi lachte leise. „Ihr gemerkt, daß Hunde sich nicht um Shir Khans Männer kümmern. Hier.“ Er hielt uns etwas hin. Es fühlte sich an wie Blätter, saftig und weich. 60
„Hanfblätter“, stellte Rolf im Dunkeln leise fest. „Du mußt sie mit den Fingern zerreiben, Hans.“ „Und dann Kleidung damit einreiben“, flüsterte der Afridi. „Hunde kennen diesen Geruch. Kümmern sich nicht um Menschen, die ihn haben. Diese Menschen Shir Khans Freunde.“ Es war mir, als klängen die letzten Worte bitter, aber ich konnte mich auch täuschen. „Nimm so wenig wie möglich von den Hanfblättern“, flüsterte Rolf auf deutsch neben mir, das der Afridi bestimmt nicht verstand. „Wir werden sie noch brauchen.“ „Was hast du vor?“ Aber Rolf gab keine Antwort mehr. „Ihr fertig?“ fragte der Afridi. „Dann schnell machen. Außer Armul keiner weiß, daß wir fliehen. Gleich Wachen wechseln, dann wir Gelegenheit benutzen.“ Ich zerrieb inzwischen ein einziges von den Hanfblättern und der beißende Geruch drang mir in die Nase. So gut es ging, verteilte ich den Saft der Pflanze über Hände, Gesicht und Kleidung. Die beiden restlichen Blätter schob ich unter das Hemd, denn ich ahnte, wozu Rolf sie noch brauchte. Rolf trat dicht neben den Afridi und ich schob mich auch heran. „Höre“, sagte mein Freund leise. „Wir haben dir versprochen, dir zu helfen, die Wahrheit über das neue Indien zu erfahren und fliehen deshalb mit dir. Aber wir sind hergekommen, um die Mädchen zu befreien. Du weißt, die blonde Holländerin und die vier Malayenmädchen. Wir können nicht ohne sie gehen, verstehst du? Wir müssen sie mitnehmen, sonst können wir eure Festung auch nicht verlassen!“ „Das wäre Verrat, wenn ich euch dabei helfen würde. Verrat an einem Fürsten, dem ich geschworen habe, alles zu tun, um unser Land von den Engländern zu befreien.“ 61
„Ich dachte immer, Afridi wären Krieger“, sagte Rolf heiser. „Ich habe nie gewußt, daß sie auch Verbrecher sind.“ „Hüte deine Zunge!“ knirschte der Afridi. Ich sah schattenhaft die Bewegung seines Armes, als er zur Pistole griff. Instinktiv warf ich mich nach vorn, aber Rolf war schneller. Er stürzte sich auf den Inder und riß ihn mit sich zu Boden. „Du Narr“, keuchte er, während er Than eisern umklammert hielt. „Was meinst du, würde dein Shir Khan mit dir machen, wenn er dich hier bei seinen Gefangenen findet, für die er sich die viehischste Todesart ausdenkt, die er nur finden kann, und du bist dabei, sie zu befreien?“ Than versuchte, sich zu befreien, aber Rolf hielt eisern fest. „Nimm seine Pistole“, zischte er mir zu, und ich kauerte mich neben Than nieder und zog seine Pistole aus dem Gürtel. Es war eine alte 08, und wir hatten selbst lange genug diese Waffen als Pistolen geführt, so daß sie mir fast wie eine alte Bekannte vorkam. Ich lud sie durch und richtete die Mündung auf den Schatten, der Than war. Rolf lockerte langsam seinen Griff. „Vergiß die Pistole nicht“, sagte er mahnend, als er den Inder losließ. „Sie wird dich treffen, wenn du den geringsten Versuch machst, etwas gegen uns zu unternehmen, Than.“ Er erhob sich langsam, der Inder blieb in seiner kauernden Stellung. „Und nun“, sagte Rolf schweratmend, „wiederhole ich noch einmal: Ich habe nie gewußt, daß Afridi Verbrecher sind und einem Verbrecher dienen. Solche Männer kann man allerdings im neuen Indien noch weniger brauchen als im alten unter der britischen Herrschaft.“ „Wir sind keine Verbrecher“, sagte Than heiser. „Wir haben unserem Fürsten Gehorsam gelobt und nichts weiter tun wir. Wir haben es bisher getan, weil wir unsere Heimat befreien wollen. Es hat uns nie gefallen, Mädchen zu fangen und Skla62
vinnen aus ihnen zu machen. Aber es mußte sein, glaubten wir. Shir Khan brauchte das Geld für die Waffen.“ „Wenn es die Waffen sind, die wir bei euch gesehen haben, dann hat er sie für ein paar Dollar gekauft“, sagte Rolf ernst. „Und das andere Geld, was er für die unglücklichen Mädchen bekommen hat, steckt er selber ein. Bestimmt nicht, um euren vermeintlichen Freiheitskampf damit zu bezahlen, sondern für den Tag, wo ihr genug für ihn getan habt und er euch verlassen hätte, um irgendwo als reicher indischer Fürst wieder aufzutauchen. Oder erkläre du mir, warum er keine modernen Waffen gekauft hat, sondern nur veraltete Karabiner.“ Than schwieg lange, dann nickte er. „Es ist so. Vielleicht hast du recht, wir werden sehen. Ich euch helfen, Mädchen mitnehmen. Ich glaube dir, Fremder.“ Ich atmete hörbar auf. Schließlich hatte dieser Afridi sich uns gegenüber sehr anständig benommen und ich wäre mir für den Rest meines Lebens wie ein Mörder vorgekommen, wenn ich hätte schießen müssen. „Mädchen im Haus mit den Bambusgittern und Wache davor“, erklärte der Afridi ruhig. „Wache wird uns nicht einlassen. Nur Shir Khan selbst darf das Haus betreten.“ „Kannst du mit der Wache sprechen?“ fragte Rolf. Than nickte. „Gut, dann werden wir den Posten überrumpeln und die Mädchen befreien. Dann fliehen wir zusammen.“ „Jetzt kommen“, knurrte Than. „Keine Zeit.“ Wir gingen nach draußen, ich behielt vorsichtshalber die entsicherte Pistole in der Hand. Einmal war ich mir noch immer nicht sicher, ob wir dem Afridi, der immerhin Leibwächter Shir Khans war, soweit trauen konnten, und zum anderen gab mir der Gedanke an die frei streifenden Hunde auch nicht gerade ein Gefühl von Sicherheit. 63
Than sah sich kurz um, die Nacht war dunkel, bis zum Mondaufgang waren es noch zwei oder drei Stunden. Dann ging er voraus, ruhig und aufrecht, so, wie ein Mann gehen würde, der hier zu Hause war. Wir huschten wie zwei Schatten hinter dem Inder her. Dem flüchtigen Blick eines Wächters mochten wir wie die Hunde erscheinen. Mit denen gab es schon nach wenigen Schritten die erste Berührung. Einer von ihnen tauchte plötzlich vor mir auf. Ich hob unwillkürlich die schwere Pistole, aber der Hund nahm überhaupt keine Notiz von mir. Er schnüffelte ein wenig herum, dann lief er weiter und verschwand im Dunkel der Nacht. Ich starrte ihm nach, die erhobene Pistole noch in der Hand, und es dauerte ein paar Sekunden, ehe ich begriff, was ich da eben erlebt hatte. Die Hunde reagierten tatsächlich auf den Pflanzengeruch! Das würde unsere Flucht wesentlich erleichtern. „Aufpassen“, zischte Than, als wir uns dem Haus neben Shir Khans Palast näherten. „Posten hier.“ Aus der Dunkelheit wuchs eine Gestalt empor, ich glaubte Turban, Umhang und Schärpe zu erkennen. Der Afridi vor uns rief dem Posten etwas zu, was ich nicht verstand. Immerhin hatte es den Erfolg, daß der Posten sich Than zuwandte. Mit einem einzigen, lautlosen Satz war Rolf hinter dem Mann. Ich ahnte mehr, als ich es sah, wie sein Arm emporzuckte. Es gab ein dumpfes Geräusch, und der Posten stolperte vorwärts, auf mich zu. Ich fing ihn auf, preßte meinen Arm um sein Genick und die Hand auf seinen Mund, aber die Vorsicht erwies sich als überflüssig. Rolfs Schlag hatte den Mann betäubt. Ich zerrte ihm die Schärpe ab und band damit seine Hände auf den Rücken. So fest, daß er keine Möglichkeit hatte, sich selbst zu befreien. Der Turban gab einen guten Knebel ab, und dieser Fall war für uns erledigt. Rolf bückte sich und hob das Gewehr des überwältigten Po64
stens auf, gerade als auch Than nach der Waffe greifen wollte. Die beiden standen einen Moment voreinander, und Rolf zögerte kaum merklich, dann hob er den Arm und hielt Than den Karabiner hin. „Da“, sagte er leise. „Nimm ihn und bewache unseren Rückzug.“ Ich kann mich irren, schließlich war es sehr dunkel auf dem Hof, aber ich hatte das Gefühl, als ob der Afridi sich verneigte, als er den Karabiner nahm! Die Tür zu dem Haus mit dem vergitterten Fenster war nicht nur einfach verriegelt wie die unseres Gefängnisses, sie war obendrein verschlossen, und es war nicht schwer zu erraten, wer den Schlüssel dazu besaß. Auf jeden Fall war er unerreichbar für uns. Rolf fummelte eine Weile am Schloß herum, aber die Tür rührte sich nicht. Wenn man mit einem Schloß nicht fertig wird und eine Pistole hat, gibt es einen sehr einfachen Weg, sich Einlaß zu erzwingen. Man braucht nur ein paar Schüsse in die Halterungen des Schlosses zu jagen und die Tür fliegt auf. Genausogut aber hätten wir die Hände als Trichter um den Mund legen und nach Shir Khan rufen können! Der Erfolg wäre in beiden Fällen der gleiche gewesen. „Es hilft nichts“, flüsterte Rolf in meine Überlegungen hinein. „Wir müssen sie aufbrechen oder umkehren.“ Ich schob mich neben meinen Freund, und auf sein Zeichen warfen wir uns beide mit den Schultern gegen die Tür. Der Stoß war hart und mir schien es, als dröhne das ganze Haus. Das mußte jeder in der Dschungelfestung hören, jeder einzelne. Aber nichts rührte sich! „Weiter“, befahl Rolf. Wieder warfen wir uns gegen die Tür, wieder und wieder. Nach dem dritten Stoß schmerzte meine Schulter, als schlüge jemand mit einem glühenden Hammer 65
darauf, nach dem vierten glaubte ich es keinmal mehr aushalten zu können. Aber nach dem sechsten oder siebenten Stoß begann die Tür nachzugeben, und einen Augenblick später flog sie ächzend auf! Wir hatten es geschafft. Keuchend blieben wir stehen und versuchten in die Nacht zu horchen, ob nicht einer der Posten die ganze Niederlassung alarmierte, aber mein Atem ging so laut, daß er schon eine Trompete hätte benutzen müssen, ehe ich ihn gehört hätte, und Rolf dürfte es nicht viel anders gegangen sein. Than war verschwunden, wahrscheinlich kauerte er irgendwo im tiefen Schatten des Hauses, das Gewehr über den Knien, und bewachte unseren Fluchtweg. Merkwürdigerweise hatte ich nicht mehr den geringsten Zweifel an seiner Ehrlichkeit uns gegenüber. Wenn er nicht aufrichtig gewesen wäre, hätte er uns abschießen können wie auf einem Scheibenstand, als wir die Tür aufbrachen und ihn völlig aus den Augen ließen! „Los, rein“, kommandierte Rolf, und wir hasteten los. Hinter der Tür gab es einen langen, völlig dunklen Gang, von dem rechts und links Türen abzweigten, deren kleine, ebenfalls vergitterte Fenster ein dunkelgrauer Schimmer im Schwarz des Ganges waren. Shir Khan schien sich von seiner verbrecherischen Sklavenjagd viel versprochen zu haben, denn ich zählte im flüchtigen Hinblicken mindestens zwölf dieser Türen! Wir blieben gleich an der ersten und riegelten die Tür auf. Ein halberstickter Angstschrei wehte uns entgegen. „Ada van Geltrop?“ fragte ich leise. Keine Antwort. Wir ließen die Tür offen und hasteten weiter, rissen die nächste auf. Wieder nichts. Hinter der dritten Tür antwortete auf meine Frage ein gellender Angstschrei einer Frau. „Ruhig, um Gottes willen“, brüllte Rolf. Die schreiende 66
Stimme verstummte abrupt. „Halten Sie den Mund“, zischte Rolf. „Wir sind Freunde, wir wollen Sie befreien? Verstehen Sie, Ada? Freunde, die gekommen sind, Sie hier ’rauszuholen! Ob Sie verstanden haben?“ Das Schweigen schien ewig zu währen. Dann endlich kam eine zaghafte Antwort. „Ja.“ Rolf schien sie zu genügen. „Machen Sie schnell“, kommandierte er. „Nichts mitnehmen. Holen Sie die Malayinnen aus den anderen Zellen. Aber so schnell es geht. Wir müssen uns beeilen, Ihr Schrei wird Shir Khan alarmieren. Da haben wir es schon!“ Draußen wurden Stimmen laut, irgendwo peitschte ein Schuß, ein zweiter antwortete, und die Hunde begannen zu bellen. „Sieht so aus, als ob wir eine Menge Schwierigkeiten bekommen würden“, rief Rolf mir zu. Wir brauchten jetzt nicht mehr zu flüstern, es hatte keinen Zweck mehr. Ich zerrte die Hanfblätter aus meinem Hemd und hielt sie dem Mädchen hin, das schemenhaft aus der Dunkelheit auftauchte. „Reiben Sie sich den Saft auf Hände und Kleidung“, befahl ich. „Aber seien Sie sparsam damit, es muß auch für die anderen Mädchen noch reichen, oder die Hunde werden uns zerreißen. Nun machen Sie schon.“ Ada van Geltrop schien plötzlich Angst und ihre Lähmung zu vergessen. Ich fühlte, wie sie Zugriff, und die Hand, die mir die Hanfblätter aus den Fingern nahm, zitterte nicht einmal! Das Mädchen würde uns weit weniger zur Last fallen, wenn sie erst einmal den Schreck überwunden hatte, als wir fürchteten. Die Frage war nur, ob uns das jetzt noch etwas nützen würde. Wahrscheinlich nicht. Wieder peitschte ein Schuß, diesmal unmittelbar vor der Ge67
fängnistür. Shir Khans heisere Stimme brüllte Befehle, Schüsse waren die Antwort. Es war ein heilloses Durcheinander. Wahrscheinlich wußte keiner, was nun eigentlich los war, aber sie würden sehr schnell begreifen, daß im Frauengefängnis etwas nicht stimmte. Hoffentlich nicht zu schnell. Irgendwie stolperten wir durch den Gang, eine dunkle Gestalt rannte mich fast um, eine der Malayinnen, deren Gefängnistüren wir schon geöffnet hatten, ehe wir Ada van Geltrop gefunden hatten. Vor der Tür lag Than und feuerte gerade wieder zum Haupthaus hinüber. Von drüben kam sofort die Antwort; zweimal zuckte Mündungsfeuer auf und die Kugeln klatschten dicht neben uns ins Holz der Hauswand. Unwillkürlich ließ ich mich fallen und suchte am Boden Deckung. Sie war spärlich genug und taugte überhaupt nur solange etwas, wie uns die Dunkelheit schützte. „Shir Khan hat uns entdeckt“, zischte Than neben mir und lud Keinen Karabiner durch. „Er weißt nur noch nicht, wer hier auf ihn schießen.“ „Die Mädchen kommen gleich, wie können wir von hier weg?“ fragte ich hastig. „Überhaupt nicht“, antwortete Than ruhig, und schoß wieder. „Die Posten auf dem Wall würden uns keine zehn Schritt weit kommen lassen.“ „Es sind doch deine Gefährten“, versuchte es Rolf. „Sie sind keine Verräter, sie folgen Shir Khan, dem sie Treue geschworen haben, nicht mir, den sie für einen Verräter halten müssen.“ „Und Armul?“ „Sie würden ihn zerreißen, wenn er versuchte, ihnen zu erklären, daß ihr nicht lügen. Er für sie auch Verräter.“ 68
„Schöner Mist“, flüsterte Rolf. „Eine Stellung, die nicht zehn Minuten zu halten ist, wenn sie erst mal Fackeln anzünden, keine Waffen und keine Chance zu entwischen. Wir müssen weg hier.“ Hinter uns gab es eine leise Bewegung, es waren die Madchen. „Wir sind fertig“, flüsterte eine vor Erregung zitternde Stimme. Wir auch, hätte ich fast geantwortet, ich konnte es gerade noch herunterschlucken. „Wir müssen ins Haupthaus“, keuchte Rolf. „Da haben wir bessere Deckung. Und wenn wir den alten Gangster erwischen, auch eine Chance.“ „Bleibt hier und wartet auf uns“, rief ich den Mädchen zu. Dann sprang ich hoch, feuerte schnell zweimal aus der Pistole zum Haupthaus hinüber und rannte los. Nach einem halben Dutzend Schritten ließ ich mich fallen und rutschte über den hartgestampften Boden des Hauses. Keinen Moment zu früh. Wieder blitzte es auf der Veranda drüben auf und die Kugel pfiff um Millimeter über meinen Kopf hinweg. Sofort blitzte Thans Gewehr hinter mir; ein Fluch vom Haus her war die Antwort. Der Afridi, der uns zuerst befreit hatte, schien seinen Frontwechsel mit absoluter Konsequenz zu vollziehen. Er schoß mit der gleichen Selbstverständlichkeit auf seinen Herrn von gestern, wie er uns verteidigte! Diese Afridis sind die zuverlässigsten Krieger, die man sich denken kann, aber wehe, man versucht, sie zu betrügen. Shir Khan würde das erfahren, zumindest mit einem seiner Leute. Rolf schnellte sich hoch und hastete an mir vorbei, dann sprang ich wieder und als dritter hetzte Than an uns vorbei und erreichte zuerst die Veranda. Er schwang sich hoch, aber Shir Khan schien es vorgezogen zu haben, sich ins Haus zu flüchten. Von zwei Seiten bekamen 69
wir Feuer vom Wall her, aber die Dunkelheit war zu dicht, die Kugeln gingen weit vorbei. Ich schwang mich über die Verandabrüstung, gerade in dem Moment, als Than die Tür mit dem Gewehrkolben einschlug. Rolf tauchte auf, folgte uns ins Haus. Irgendwie erinnerte ich mich, daß mein Freund überhaupt keine Waffe hatte und den Kugeln der Posten wehrlos gegenüberstand. Aber ich vergaß es wieder, als wir durch das Haus stürmten, auf der Suche nach Shir Khan. Than fand ihn zuerst. Shir Khan hockte in einem der Zimmer, gedeckt von einem riesigen massiven Holztisch, und hatte eine Pistole in der Faust. „Da bist du!“ schrie Than ihn in seinem Heimatdialekt an. „Komm her und stelle dich, der du Fürst sein willst und doch nur ein Lügner bist.“ Die schwache Glut eines offenen Kohlenbeckens erleuchtete schwach den Raum, gab den Figuren Shir Khans und Thans einen geisterhaften Ausdruck. „Than“, stieß Shir Khan zwischen den Zähnen hervor. „Ja, Than“, antwortete unser Afridi. „Dein Leibwächter, der sich für dich hätte töten lassen, wie er es versprochen hat. Bis heute, bis diese beiden Fremden uns verrieten, daß wir gar nicht mehr für die Freiheit der Heimat kämpfen können, weil sie längst frei ist. Du hast es gewußt, Shir Khan, und Krieger zu Sklavenfängern gemacht mit deiner Lüge. Jetzt wirst du mit uns kommen und wir werden beide sehen, wie die Wahrheit aussieht. Und wenn du dann zugeben mußt, daß du uns belogen hast, dann werde ich dich töten. Ich, Than, den Verräter Shir Khan, den Lügner und Sklavenjäger. Wirf deine Pistole weg, Shir Khan, und komm mit!“ „Verräter“, kreischte Shir Khan. „Niemand wird mit dir gehen. Da, nimm das, du Hund!“ 70
Er schoß, und Than schien eine unsichtbare Faust zu treffen. Er reckte sich auf, als wolle er wachsen, dann schien ihm die unsichtbare Faust alle Kraft zu nehmen. Haltlos sackte er in sich zusammen und schlug schwer auf den Boden. „Schwein“, keuchte Rolf und stürzte sich auf Shir Khan. Der Inder riß die Pistole hoch, drückte ab, aber kein Schuß fiel. Er hatte sein Magazin leergeschossen, als er Than ermordete! Im nächsten Moment war Rolf bei ihm, riß ihn hoch und schlug ihm die Faust ins Gesicht. Shir Khan schrie auf und versuchte, Rolf die nutzlos gewordene Pistole über den Kopf zu schlagen, aber Rolf war stärker und schneller. Er schlug noch mal zu und noch mal, und die Waffe entfiel haltlos den Händen des Inders. Stöhnend brach er in die Knie, halb betäubt von den Schlägen. Er würde sich nicht schnell genug erholen, um noch eine ernsthafte Gefahr für uns zu sein. „Hast du noch Munition?“ fragte Rolf. „Noch drei oder vier Schuß“, antwortete ich unsicher. „Kaum genug, um diesen Krieg damit zu gewinnen oder den Ausbruch über den Wall zu erzwingen.“ „Brauchst du auch nicht“, sagte Rolf kurz. „Der da“ – er zeigte mit dem Daumen auf den zusammengekauerten Shir Khan – „wird uns den Rückzug sichern.“ Schnell untersuchten wir Than, aber dem konnte niemand mehr helfen. Die Kugel Shir Khans hatte ihn zwischen die Augen getroffen und er hatte nicht einmal Zeit genug gehabt zu merken, was ihm geschah. Rolf wand ihm den Karabiner aus den kraftlos gewordenen Händen. Die Waffe war auch fast leergeschossen, aber wenn Rolfs Plan gelang, brauchten wir nicht mehr als eine einzige Patrone. Eine Patrone, von der Shir Khan wissen sollte, daß sie ihn jede Sekunde treffen konnte, wenn er sich widersetzte. Und 71
beim Teufel, fast hätte ich gewünscht, er würde es versuchen, als ich Than da so bewegungslos liegen sah. „Nimm du ihn“, befahl Rolf, und ich riß den Inder hoch. „Hör zu!“ brüllte ich ihn an. „Du wirst uns jetzt hier ’raus und zur Küste bringen, hast du verstanden? Uns – und die Mädchen, die du gefangen hast. Und merke dir, Freundchen: Ein einziger Versuch, uns hereinzulegen, und ich werde jede Kugel dieser Pistole in dich hineinjagen. Hast du das verstanden?“ Shir Khan antwortete nicht, aber seine Augen glühten mich an, als wollten sie mich verbrennen! Von mir aus konnte er mich ansehen, wie er wollte, Hauptsache, er brachte uns aus diesem Schlamassel heraus, und etwas anderes blieb ihm gar nicht übrig, es sei denn, er zog einen schnellen, aber unfreiwilligen Tod vor, und den Anschein hatte es ganz und gar nicht. Ich drehte ihn herum und setzte ihm sehr unsanft den Pistolenlauf in den Rücken. „Du gehst vor“, herrschte ich ihn an. „Und vergiß nicht, deinen Leuten zu sagen, daß du es bist, den sie zuerst treffen.“ Als ich mich noch einmal umdrehte, sah ich aus den Augenwinkeln, wie Rolf die Kohlenschale mit dem Fuß umstieß, daß die glühenden. Kohlen über den wertvollen Teppich kollerten. „Wir können nichts mehr für Than tun“, sagte er dabei ernst. „Aber wir können ihm den größten Scheiterhaufen anzünden, den jemals ein Afridi gehabt hat.“ Der sengende Geruch des verglimmenden Teppichs begann bereits den Raum zu erfüllen. Shir Khan quittierte es mit knirschenden Zähnen und ich stieß hart mit dem Revolverlauf zu, damit er mir nicht auf dumme Gedanken kam. Der Rest erschien uns denkbar einfach. Als wir die Veranda erreichten, feuerte Rolf die beiden restlichen Schüsse aus dem Karabiner ungezielt in die Luft. „Rede jetzt“, sagte ich zu Shir Khan. „Und sieh zu, daß es 72
die richtigen Worte sind, die du gebrauchst. Das erste falsche Wort überlebst du nicht.“ Vielleicht hätte Shir Khan es jetzt versucht, aber als ich den Revolverlauf stärker in seinen Rücken preßte, gab er auf. „Hier ist Shir Khan, euer Herr“, schrie er mit seltsam dünner Stimme. „Hört ihr mich? Ich befehle euch, mich und die Fremden gehen zu lassen. Ich bin in ihrer Gewalt, wenn ihr schießt, töten sie mich.“ „Du hast etwas vergessen“, sagte Rolf eiskalt. „Du hast vergessen, ihnen zu befehlen, daß sie diese Festung nicht verlassen dürfen, bis du ihnen durch einen Boten einen anderen Befehl schickst.“ „Aus dem Gefängnis“, setzte ich so leise hinzu, daß es nur Rolf und der Inder verstehen konnten. Shir Khan schien wirklich aufgegeben zu haben. Vielleicht begriff er jetzt, daß wir härter und entschlossener waren, als er es für möglich gehalten hatte. Jedenfalls gab er auch Rolfs Befehl weiter. Ein paar seiner Afridi schrien aufgeregt durcheinander, aber als wir hinüber zu den Mädchen gingen, fiel kein Schuß und auch nicht, als wir das Tor im Wall passierten. Ich sah die Schatten zweier Wachen und sah ihre Gewehre, die auf uns gerichtet waren. Doch nichts geschah. Es war eine seltsame Karawane, die durch den nächtlichen Urwald zog. An der Spitze Shir Khan, mit dem Revolverlauf im Rücken, der ihn zu jeder Sekunde daran erinnerte, in welcher Lage er war. Dann folgte ich, der für dieses Erinnern zu sorgen hatte. Hinter mir kamen die fünf Mädchen, um die eigentlich alles ging und mit denen wir noch keine drei Worte gewechselt hatten. Aber dazu war morgen Zeit, wenn wir den Urwald hinter uns hatten und damit die letzte Gefahr, die von Shir Khans aufgebrachten Männern drohte. 73
Aber es war noch nicht alles vorüber. Gegen Morgen hatten wir jene Stelle passiert, an der wir den angreifenden Banteng erlegt hatten. Es schien mir, als sei dies viele Jahre her, und doch waren erst ein paar Stunden vergangen. Ich mußte mich zwingen, nicht einfach die Pistole sinken und Shir Khan tun zu lassen, was er wollte, so erschöpft war ich, und Rolf, der die Nachhut bildete, ging es genauso. Er hielt sich mehr an seinem nutzlosen Karabiner fest, als er ihn trug. Ein Wunder, daß die Mädchen noch durchhielten, aber die wußten wohl zu genau, um was es ging, als daß sie geklagt hätten. Keine von ihnen sagte etwas, sie stolperten nur verbissen vorwärts, stumm, gehetzt, torkelnd. Lange würden wir dieses Tempo nicht mehr durchhalten, und ich rechnete jeden Moment damit, daß die Verfolger hinter uns auftauchen würden. Ich malte mir diesen Moment aus und fragte mich, ob ich dann noch die Kraft hätte, um den Abzug der Pistole durchzuziehen und Shir Khan dahin zu schicken, wohin er gehört – in die Hölle. Plötzlich tauchten Männer auf, zwei, drei. Ich sah Turbane, Schärpen, flatternde Umhänge. Abrupt blieb Shir Khan vor mir stehen und ich stolperte gegen ihn. Mit einer blitzschnellen Bewegung stieß er mir den Ellenbogen in den Leib, daß ich entsetzt aufstöhnte und in die Knie sackte. Er sprang beiseite und stieß die Pistole, die ich fallengelassen hatte, mit dem Fuß weg. „Tötet sie!“ kreischte er. „Schießt sie in Stücke!“ Hilflos und zu erschöpft, mich auch nur in die Knie zu erheben, starrte ich die Afridi vor uns auf dem Pfad an. Es waren wirklich drei Männer, in dem vordersten erkannte ich Armul, Shir Khans zweiten Leibwächter und Thans Gefährten und Mitwisser. Einen Augenblick lang erschien es mir, als habe das etwas für uns zu bedeuten, aber mein Kopf war zu leer, um einen klaren Gedanken zu fassen. 74
„Worauf wartet ihr noch?“ brüllte Shir Khan. „Tötet sie. Ich befehle es!“ „Du befiehlst es?“ fragte Armul mit tiefer Stimme und hob langsam sein Gewehr. „Du, Shir Khan, dem wir Gehorsam versprachen und der uns Treue gelobte? Mit welchem Recht, frage ich und fragen die Krieger unseres Stammes. Du hast uns belogen und betrogen. Du hast Than ermordet, der für uns alle die Wahrheit erfahren wollte.“ „Das ist nicht wahr“, brüllte Shir Khan und machte ein paar hastige Schritte auf seine Leute zu. „Die hier haben euch Lügen erzählt und sie haben auch Than getötet. Erschießt sie endlich!“ „Than ist für keine Lüge gestorben, Shir Khan“, antwortete Armul ruhig. „Das Feuer seines Scheiterhaufens, der einmal dein Haus war, brannte ruhig und ungestört. Than ist im Kampf gestorben, im Kampf für die Freiheit der Afridi, um die du uns betrogen hast. Von dir wird das niemand sagen, Shir Khan, von dir nicht!“ Vielleicht wollte Shir Khan noch etwas sagen, vielleicht wollte er sie beschwören, aber sie hatten wohl ganz einfach genug von ihm, nachdem sie von Armul die Wahrheit erfahren hatten. Plötzlich hatten sie alle die Gewehre erhoben und aus deren Mündungen wuchsen kleine, orangefarbene Flämmchen. Das Bellen der Schüsse übertönte Shir Khans Aufschrei, aber es übertönte nicht das dumpfe Geräusch, mit dem sein Körper auf den Urwaldboden aufschlug. – Ende – Titel des nächsten Bandes (225): Der lockende Ruf
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