Hartmut Esser
Soziologie Spezielle Grundlagen
Band 1: Situationslogik und Handeln
Campus Verlag Frankfurt/New York
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Hartmut Esser
Soziologie Spezielle Grundlagen
Band 1: Situationslogik und Handeln
Campus Verlag Frankfurt/New York
Soziologie Spezielle Grundlagen Band 1: Situationslogik und Handeln Band 2: Die Konstruktion der Gesellschaft Band 3: Soziales Handeln Band 4: Opportunitäten und Restriktionen Band 5: Institutionen Band 6: Sinn und Kultur
Hartmut Esser ist Professor für Soziologie und Wissenschaftslehre an der Universität Mannheim. Er ist Autor und Herausgeber zahlreicher Veröffentlichungen. Zuletzt erschien von ihm als Buch die „Soziologie. Allgemeine Gundlagen“(3. Aufl. 1999)
Inhalt
Vorwort
IX
Einleitung: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit und das Modell der soziologischen Erklärung 1. 2.
Situation und Situationsanalyse Das Thomas-Theorem
1 29 59
Der Reiter und der Bodensee
71
3.
75
Die Objektivität der Situation 3.1 3.2 3.3 3.4
Soziale Rollen und die Identifikation mit der Situation Handeln und Nutzenproduktion Soziale Produktionsfunktionen Kulturelle Ziele und institutionalisierte Mittel
77 84 91 110
Exkurs über die Ehre
115
4.
Interesse und Kontrolle
125
4.1 Interesse 4.2 Kontrolle 4.3 Kooperation und Konflikt
126 140 145
Die „Definition“ der Situation
161
5.
Exkurs über die sechs Lesarten des Thomas-Theorems
170
6.
177
Handeln
VI
Inhalt
6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6 6.7 6.8 6.9
Verhalten und Handeln Handeln und „Handlung“ Subjektiver Sinn Die Logik des Handelns Doppelte Hermeneutik Objektive Rationalität? Typen des Handelns Optimierung und Orientierung Die „Logik der Selektion“
177 190 194 201 211 215 224 230 241
Exkurs über die unbegründete Furcht vor Vernunft und Eigennutz
244
7.
Die Wert-Erwartungstheorie
247
7.1 Das Grundmodell der WE-Theorie 7.2 Drei Beispiele 7.3 Spezielle Situationen
251 259 275
Die Logik der subjektiven Vernunft
295
8.1 8.2 8.3 8.4
296 301 313 340
8.
9.
Rationales Handeln Anomalien und Paradoxien Homo oeconomicus? Homo oeconomicus! Subjektive Vernunft und begrenzte Rationalität
Lernen
359
9.1 9.2 9.3 9.4
359 362 370 376
Grundkonzepte der Lerntheorie Zwei Mechanismen Einzelheiten und Regelmäßigkeiten Lernen und Handeln
10. Die „Logik“ der Situation 10.1 Das Konzept der Situationslogik 10.2 Was ist „logisch“ an einer Situation? 10.3 Soziologische Gesetze und die „Wirkung“ von Variablen Exkurs über das Verhältnis von Brückenhypothesen und Handlungs-
387 387 391 399 403
Inhalt
VII
theorien 10.4 Die – oft verzwickte – Logik der unintendierten Folgen 11. Der Kontext des Handelns 11.1 11.2 11.3 11.4 11.5 11.6
Bringing Society Back In! Kontextanalyse Mehrebenenanalyse Merkmale sozialer Umgebungen Die Erklärung der Kontexteffekte Die Bedeutung der Nahumwelt
12. Soziale Klassen 12.1 Klasse und Klassenlage Exkurs über Typenbildung 12.2 Klassenbewußtsein und Klassenhandeln 12.3 Klassenkonflikt, Klassenkampf und die Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse Literatur Register
405 415 415 426 435 442 446 457 463 465 475 483 490 495 507
Vorwort
Die hiermit vorgelegten insgesamt sechs Bände der „Soziologie. Spezielle Grundlagen“ sind die Fortsetzung der im Jahre 1993 erschienenen und seitdem mehrmals neu aufgelegten „Soziologie. Allgemeine Grundlagen“. Dort wurden die allgemeine methodologische Vorgehensweise der Soziologie, die anthropologischen Voraussetzungen gesellschaftlicher Prozesse, einige demographische Einzelheiten, wie die Gesetze des Bevölkerungswachstums, sowie die wichtigsten theoretischen Konzeptionen des zentralen Gegenstandes der Soziologie, der Gesellschaft, behandelt. Nicht ausdrücklich und meist nur eher am Rande und, vor allem, nicht systematisch genug, kamen dabei die vielen Einzelheiten, Begriffe, Konzepte, Modelle und Erklärungen zur Sprache, die für die soziologische Erklärung der grundlegenden sozialen Prozesse erforderlich sind, auf denen jede Vergesellschaftung beruht: soziale Ordnung, soziale Differenzierung, soziale Ungleichheit und sozialer Wandel. Mit den Einzelheiten zur soziologischen Erklärung aller dieser Vorgänge befassen sich nun die sechs Bände der „Speziellen Grundlagen“ in über 50 einzelnen Kapiteln, sowie einigen Exkursen. Ausgangspunkt und Grundlage des inhaltlichen Aufbaus der „Speziellen Grundlagen“ ist wieder das Modell der soziologischen Erklärung mit den drei charakteristischen „Logiken“: Die Logik der Situation, die Logik der Selektion und die Logik der Aggregation. Dieses Modell wird in der Einleitung zu den „Speziellen Grundlagen“ noch einmal kurz erläutert. Dabei wird es auch mit einigen allgemeineren theoretischen Diskussionen und Entwicklungen verbunden. Das Modell wird ferner nun auch explizit in die methodologische Perspektive des sog. Strukturtheoretischen Individualismus eingeordnet und dabei deutlich von jedem „reduktionistischen“ Psychologismus abgegrenzt, mit dem das Modell der soziologischen Erklärung, unverständlicherweise, auch heute oft noch verwechselt wird. Insgesamt zielt das Konzept auf die Möglichkeiten und Bedingungen von sinnverstehenden Erklärungen gesellschaftlicher Prozesse. Diese Perspektive ist bereits von Max Weber systematisch und nachhaltig für die Soziologie propagiert und in seinen Gesellschaftsanalysen praktiziert worden lange vor den jetzt möglichen Präzisierungen und nun verfügbaren theoretischen Instrumente der Modellierung sozialer Prozesse. Sie knüpft ferner an die von Karl R. Popper systemati-
X
Vorwort
sierte Methode der Situationslogik an, so wie sie lange vorher schon, etwa, von Alexis de Tocqueville, von Karl Marx oder von Emile Durkheim, von William I. Thomas oder danach besonders prägnant von Robert K. Merton, in einer speziellen Weise ohne Zweifel auch von George C. Homans und, mit einer besonderen Blickrichtung, von Peter L. Berger und Thomas Luckmann, sicher auch von Norbert Elias, Erving Goffman oder selbst von Harold Garfinkel benutzt wurde. In neuerer Zeit sind hier vor allem die weiter präzisierenden Vorschläge von Raymond Boudon, Siegwart Lindenberg und Reinhard Wippler zu nennen, sicher auch der von James S. Coleman, obwohl hier die „Soziologie“ doch etwas gegenüber einer allgemeinen „Sozialtheorie“ in den Hintergrund getreten ist. Die Methode der Situationsanalyse ist eigentlich immer schon die grundlegende soziologische Methode gewesen, auch wenn das, wie etwa bei Georg Simmel, nur implizit der Fall war, oder, wie bei der Tabulierkunst von Talcott Parsons und seinen Vierfeldertafeln und bei der Fabulierkunst von Niklas Luhmann und seinen semantischen Vexierrätseln, kaum noch erkennbar gewesen ist. In Band 1 über „Situationslogik und Handeln“ geht es um die speziellen Einzelheiten für die ersten beiden „Logiken“ des Modells der soziologischen Erklärung in ihrer elementaren Form: die Logik bzw. die Definition der Situation und die Selektion des Handelns. Zunächst wird im Anschluß an das sog. Thomas-Theorem die objektive Grundlage jeder Situationsdefinition erläutert: die Kontrolle von mehr oder weniger interessanten Ressourcen durch die Akteure gemäß der gesellschaftlichen Definition der kulturellen Ziele und der institutionalisierten Mittel des Handelns. Hier wird das für die weitere Argumentation zentrale Konzept der sozialen Produktionsfunktionen ausführlich erläutert. Die drei grundlegenden Bestandteile jeder Situation sind vor diesem Hintergrund die jeweils gegebenen materiellen Opportunitäten, die geltenden institutionellen Regeln und die symbolisch angezeigten, sozial geteilten kulturellen Bezugsrahmen, unter denen die Situation von den Akteuren gesehen und mit einem spezifischen Sinn belegt werden. Daran anschließend werden die wichtigsten Einzelheiten zur Selektion des Handelns besprochen. Es geht um die allgemeine Erklärung des Handelns der Menschen und damit letztlich um den für die soziologische Erklärung nötigen universalen nomologischen Kern. Ausgehend von einer ausführlichen Erläuterung des „Begriffs“ des Handelns werden als übergreifend nutzbare Theorie des Handelns die Einzelheiten der sog. Wert-Erwartungstheorie dargestellt, an einigen Beispielen erläutert und bei den dann folgenden Überlegungen immer wieder konkret angewandt. Auch wird behandelt, nach welchen Gesetzen Menschen aus Erfahrungen lernen und ihre Erwartungen und Bewertungen ändern. Dieses Lernen wird selbst als eine Art von mehr oder weniger: intelligentem Handeln
Vorwort
XI
verstanden. Dieser Teil geht ausführlich auch auf die verschiedenen Einwände und Anomalien der Wert-Erwartungstheorie ein, aber auch auf Möglichkeiten, die stets nur „begrenzte“ Rationalität der Menschen mit dem Modell der WertErwartungstheorie selbst wieder zu erfassen und ihre Folgen zu erklären. In den anschließenden Kapiteln wird schließlich gezeigt, wie sich aus dem situationsorientierten Handeln der Menschen eigenständige Abläufe und Folgen ergeben und welche Bedeutung dabei die Einbettung der Akteure in soziale Umgebungen hat. In diesem Zusammenhang werden die Poppersche Methode der Situationslogik und deren Beziehung zum Modell der soziologischen Erklärung, die Techniken der Kontext- und Mehrebenenanalyse und, den Band 1 abschließend, das Konzept der sozialen Klasse und die Methode der „Klassenanalyse“ besprochen, die als eine spezielle Form der Situationslogik zu verstehen ist und in der Art des Vorgehens nach wie vor weite Bereiche der soziologischen Arbeit bestimmt. In Band 2 geht es unter dem Titel „Die Konstruktion der Gesellschaft“ um die Erklärung der Entstehung, der Reproduktion und des Wandels kompletter sozialer Gebilde, insbesondere ganzer Gesellschaften. Dabei muß der dritte Schritt des Modells der soziologischen Erklärung systematisch einbezogen werden die Erklärung kollektiver Effekte aus der auch schon komplexeren Aggregation des Handelns der Akteure in typischen Situationen. Dazu werden zunächst die Probleme der Emergenz von „Ganzheiten“ und der Transformation individueller Effekte in kollektive Sachverhalte und Zusammenhänge aufgegriffen und deren prinzipielle Lösung im Rahmen des Modells der soziologischen Erklärung gezeigt. Daran anschließend werden verschiedene Konstellationen des Verhältnisses von Akteuren und sozialen Systemen dargestellt, wobei insbesondere auch unterschiedliche Typen sozialer Gebilde und der Beziehungen zwischen Akteuren und sozialen Systemen systematisiert werden. Daran anschließend werden die beiden wohl wichtigsten Aspekte gesellschaftlicher Strukturen ausführlich behandelt: die soziale Differenzierung und die soziale Ungleichheit. Hierbei werden auch die wichtigsten soziologischen Konzepte und Erklärungen der Entstehung und der Reproduktion von sozialer Differenzierung und sozialer Ungleichheit vorgestellt. Danach werden die wechselseitigen Beziehungen zwischen der sozialen Differenzierung und der sozialen Ungleichheit unter dem Titel „Inklusion und Exklusion“ beschrieben, auch vor dem Hintergrund der Entstehung neuer Formen der sozialen Ungleichheit in Folge der zunehmenden funktionalen Ausdifferenzierung der modernen Gesellschaften. Ein Kapitel über die Prozesse und Bedingungen der Integration von Gesellschaften und Akteuren in Gesellschaften und soziale Systeme systematisiert dann die verschiedenen Aspekte, Vorgänge und Bedingungen des Zusammenhalts und der sozialen Ordnung sozialer Systeme
XII
Vorwort
allgemein. Es folgt ein Kapitel über die mit dem Modell der soziologischen Erklärung rekonstruierbare „Logik“ des sozialen Wandels und ihrer verschiedenen Formen, wobei das gleichgewichtige Funktionieren sozialer Systeme als eine spezielle Form dieses „Wandels“ aufgefaßt wird als Prozeß der Reproduktion von gesellschaftlichen Strukturen nämlich. Der Band 2 schließt mit einer systematisierenden Übersicht über die grundlegenden gesellschaftlichen Strukturen und Prozesse, einer kurzen Skizze über die historische Entwicklung der menschlichen Gesellschaft und einigen Anmerkungen zum Verhältnis von „Gemeinschaft und Gesellschaft“, zur Frage also der Beziehungen zwischen den alltäglichen personalen Beziehungen der Menschen und den anonymen „Systemen“ der modernen Gesellschaft. In den Bänden 1 und 2 wird die „klassische“ soziologische Methode der Situationsanalyse ausgiebig benutzt: für die Erklärung der Entstehung kollektiver Prozesse und Strukturen über die Rekonstruktion der „objektiven“ gesellschaftlichen Lage von Akteuren, dem aufgrund dieser „Lage“ zu erwartenden Handeln und den dadurch erzeugten kollektiven Folgen. Dabei muß häufig nicht weiter beachtet werden, daß sich die Akteure auch in sog. sozialen Situationen befinden können, in denen das Ergebnis ihres Tuns auch davon abhängt, was die jeweils anderen Akteure tun, in denen also die sog. doppelte Kontingenz herrscht. Mit den besonderen Prozessen und Modellen des Handelns unter der Bedingung der doppelten Kontingenz befaßt sich der Band 3 der „Speziellen Grundlagen“ unter dem Titel „Soziales Handeln“. Ausgehend von einer allgemeinen Charakterisierung der verschiedenen Formen des „sozialen“ Handelns werden die wohl deutlichste Form des sozialen Handelns unter doppelter Kontingenz, das „strategische“ Handeln, und damit zusammenhängend dann die wichtigsten Einzelheiten der sog. Spieltheorie und drei grundlegende Typen strategischer Situationen behandelt: Koordination, DilemmaSituationen und Konflikte. Daran anschließend werden verschiedene theoretische Modelle zur Erklärung der Ordnungsbildung in sozialen Situationen besprochen, sowie solche der Organisation der gesellschaftlichen Produktion von Gütern und des sog. kollektiven Handelns, etwa bei der Mobilisierung sozialer Bewegungen. In einem ausführlichen Kapitel wird auf verschiedene Formen der Interaktion eingegangen: die wechselseitige gedankliche Einfühlung als Koorientierung, die symbolische Interaktion und verschiedene Formen der Kommunikation über unterschiedliche Arten von Medien, wie die mündliche Sprache, die Schrift oder die sog. symbolisch generalisierten Medien. Den Abschluß dieses Bandes bildet ein kurzes Kapitel über soziale Beziehungen als institutionalisierte Muster sozialer Situationen, sowie eine ausführliche Behandlung der wohl wichtigsten Form des sozialen Handelns, der
Vorwort
XIII
Transaktion des Tausches, einschließlich der damit einhergehenden Macht, die die Akteure aufeinander ausüben. Die Bände 4, 5 und 6 gehen daran anschließend detailliert auf die drei zentralen äußeren Bestandteile der Logik der Situation ein: materielle Opportunitäten, institutionelle Regeln und die kulturellen Bezugsrahmen. Dabei werden jeweils auch Erklärungen der Genese, der inneren Dynamik, der Stabilisierung, der Reproduktion und des Wandels dieser gesellschaftlichen Strukturen und Situationsbestandteile behandelt. Band 4 befaßt sich, der geschilderten Logik folgend, mit den „Opportunitäten und Restriktionen“, nach denen sich gewisse gesellschaftliche Strukturen und Prozesse alleine schon aus dem Angebot und der Nachfrage nach interessanten Ressourcen (aller Art) ergeben. Hierbei werden die wichtigsten Einzelheiten der (mikro-)ökonomischen Betrachtung sozialer Phänomene erklärt und insbesondere die spezielle Struktur und Dynamik von Märkten, als einem Spezialfall des Modells der soziologischen Erklärung, besprochen. Dieser Band dient auch dazu, Studierende und Lehrende der Soziologie mit den grundlegenden Elementen des Erklärungsmusters der Ökonomie bekanntzumachen, über die in den üblichen Lehrbüchern oder Einführungen zur Soziologie so gut wie nichts zu finden ist, mit denen aber auch typisch „soziologische“ Phänomene schon auf eine relativ einfache Weise verständlich werden, wie etwa der Rückgang der Geburtenraten, die Zurückhaltung der Unterschichten bei Bildungsentscheidungen oder die Wirkung von Studiengebühren auf den Eifer der Studenten und Professoren. In diesem Zusammenhang wird auch auf die Möglichkeiten der Modellierung von Verhandlungen und anderer Formen der „interaktiven“ Entstehung von Tauschgleichgewichten eingegangen. Ein eigenes Kapitel ist den als Opportunitäten und Restriktionen des Handelns äußerst wichtigen Strukturen von Beziehungssystemen, den sog. sozialen Netzwerken gewidmet. Im Anschluß daran werden dann die verschiedenen Formen des „Kapitals“ behandelt, über das Akteure verfügen und in das sie investieren können, insbesondere auch nicht-ökonomische Arten des Kapitals, wie das kulturelle, das institutionelle, das politische und insbesondere das soziale Kapital. Der Band wird beschlossen mit einem Kapitel über „Die stumme Macht der Möglichkeiten“: die Darstellung einiger wichtiger Grundmodelle der Erklärung der Eigendynamik sozialer Prozesse, die alleine schon dadurch ablaufen, daß sich die Akteure in den Möglichkeiten des Handelns wechselseitig beeinflussen, darunter die Entstehung interethnischer Beziehungen, die Herausbildung räumlicher Segregationen, die Verbreitung von Neuerungen oder das Gelingen oder Mißlingen von Bürgerinitiativen und anderen sozialen Bewegungen. In Band 5 werden unter dem Titel „Institutionen“ die wichtigsten Einzelheiten und Vorgänge bei der Entstehung, bei der Stabilisierung und beim
XIV
Vorwort
Wandel institutioneller Regeln vorgestellt. Ausgangspunkt ist eine Diskussion des „Begriffs“ der Institution, einschließlich der vermuteten Funktionen von Institutionen. Breiten Raum nimmt die Darstellung einiger nach wie vor zentraler Konzepte der Soziologie ein, wie das der sozialen Norm oder das der sozialen Rolle, jeweils auch in ihren Varianten in den verschiedenen soziologischen Schulen. Als eine Ergänzung zum Anschluß an gewisse Entwicklungen in der kognitiven (Sozial-)Psychologie, aber auch als Verbindung zum Komplex der kulturellen Bezugsrahmen des Handelns dient ein eigenes Kapitel über die sog. sozialen Drehbücher. Hierbei werden auch Verbindungen der soziologischen Beiträge von Erving Goffman und Harold Garfinkel zum Modell der soziologischen Erklärung verdeutlicht. Abgeschlossen wird dieser Band mit einer ausführlichen Darstellung von Erklärungsansätzen der Entstehung, der Etablierung und des Wandels von Institutionen, wobei insbesondere dem Vorgang der Legitimation und der De-Legitimation von Institutionen und der Evolution und der Revolution als den beiden grundlegenden Formen des institutionellen Wandels die Aufmerksamkeit gilt. Der die „Speziellen Grundlagen“ abschließende Band 6 hat den Titel „Sinn und Kultur“ und beinhaltet die Konzepte und Vorgänge der Herausbildung, Etablierung und Änderung von symbolisch vermittelten gedanklichen Modellen der Orientierung und des Handelns, den sog. kulturellen Bezugsrahmen. Die Grundhypothese dabei ist, daß sich kulturelle Bezugsrahmen in enger Beziehung zu den materiellen Opportunitäten und den institutionellen Regeln herausbilden, dann aber auch eine gewisse Eigenständigkeit erlangen: als mehr oder weniger fraglos geltende „Werte“ etwa, oder als in Lebenswelten eingespielte Routinen die Codes und Programme, die Frames der Orientierung und die Skripte des Handelns, wie sie in den verschiedenen gesellschaftlichen Sphären etabliert sind und den „sozialen“ Sinn und die „Rationalität“ des Tuns darin jeweils festlegen. Der Band 6 besteht aus zwei Teilen. Der Teil A mit dem Titel „Orientierung und Interpretation“ stellt, nach einem eher illustrierenden Kapitel über die Vielfalt und Reichweite der „Grenzen“ des Sinns und über den „Sinn“ von Grenzen, die die Geltung kultureller Bezugsrahmen festlegen, zunächst vier soziologische Schulen vor, die in jeweils sehr unterschiedlicher Weise das Problem der Geltung und Wirkung kultureller Bezugsrahmen thematisiert haben: das normative Paradigma um Talcott Parsons, das interpretative Paradigma um George H. Mead und Herbert Blumer (u.a.), die sog. phänomenologische Soziologie nach Alfred Schütz und die sog. Ethnomethodologie nach Harold Garfinkel. Es zeigt sich, daß alle diese Schulen jeweils einen wichtigen, wenngleich z.T dann auch einseitigen Beitrag zur vollständigen Erfassung des Problembereichs geliefert haben. In Teil B über die „Konstitution des Sinns“ geht es dann um die Verknüpfung der
Vorwort
XV
teilweise divergierenden, teilweise einander ergänzenden Einzelheiten dieser Ansätze zu einem integrierenden Erklärungsmodell der „Rahmung“ von Situationen und der sozialen Konstitution solcher Rahmungen: die kulturelle Rahmung sozialer Situationen, die Entstehung der Identität des Menschen, auch über den Prozeß der Sozialisation, die „interaktive“ Bildung von Gruppen und Lebenswelten sowie schließlich der Vorgang der sozialen Konstitution kultureller Bezugsrahmen über symbolische Interaktionen. Den Abschluß der ganzen Arbeit bildet ein kurzer Epilog über die Bedeutung der soziologischen Selbstbeschreibungen der Gesellschaft für die Beschreibungen und Erklärungen der Soziologie, auch im Zusammenhang des Konzepts der soziologischen Erklärung. Die beiden Arbeiten zu den „Allgemeinen“ und den „Speziellen Grundlagen“ der Soziologie bieten keine empirische oder theoretische „Gesellschaftsanalyse“, und auch keinen Vergleich, sagen wir, der Nationalstaaten Europas in ihrer historischen Entwicklung. Sozialphilosophie, „Wirklichkeitswissenschaft“ und „Sozialstrukturanalyse“ sind nicht die Aufgabe von Einführungen in die theoretischen Instrumente eines Fachs, so wie eine Einführung in die theoretische Volkswirtschaftslehre ja auch etwas anderes ist als, etwa, ein Buch über die Geschichte der wirtschaftlichen Entwicklung bestimmter Länder und Regionen. Gleichwohl sind die „Grundlagen“ gerade für die Analyse realer Gesellschaften und für die Erklärung unterschiedlicher Sozialstrukturen von hoher Bedeutung: Wer verstehen will, warum es, etwa, in den Vereinigten Staaten keinen Sozialismus gab oder gibt, warum die Bildungsungleichheit in Schweden geringer ist als in Großbritannien oder warum es in Jugoslawien erst wieder nach Tito und nach der osteuropäischen Transformation zu massiven ethnischen Konflikten gekommen ist, kommt um ein Verständnis, beispielsweise, der Probleme des kollektiven Handelns, des Konzeptes der Erwartungen bei riskanten Entscheidungen oder dem des kulturellen Kapitals bzw. des Positionsgutes nicht herum. Kurz: Eine Soziologie der historischen „Wirklichkeit“ und des beschreibenden Vergleichs von konkreten Gesellschaften bieten die „Grundlagen“ nicht, wohl aber die methodologischen und theoretischen Instrumente für eine (sinn-)verstehende Erklärung der beobachteten Prozesse und Zusammenhänge. Alle Konzepte und Vorgänge, die in den „Speziellen Grundlagen“ zur Sprache kommen, werden, mehr oder weniger explizit, über das Modell der soziologischen Erklärung rekonstruiert. Dabei wurde großer Wert auf die, manchmal auch sehr ins Detail gehende, Darstellung einzelner Mechanismen und Theoreme gelegt, die in den üblichen Lehrbüchern oft nur als Begriff angesprochen, aber nur selten explizit dargelegt werden. Als Beispiele seien das Thomas-Theorem, die sog. MehrebenenAnalyse, der Vorgang der Evolution der Kooperation unter „rationalen Egois-
XVI
Vorwort
ten“, das Problem des kollektiven Handelns, der Vorgang der Koorientierung und die Prozesse der Kommunikation, das Prinzip der Reziprozität und der Kula-Ring, die Wirkung und die Entstehung von Normen, die unterschiedlichen Formen der institutionellen Legitimation, die Erklärung von Revolutionen, das utilitarian dilemma, das Konzept der Indexikalität, das der sozialen, personalen und persönlichen Identität, das der relativen Deprivation oder das der Entstehung eines solidarischen Wir-Gefühls mit einer Gruppe genannt. Selbstverständlich wurden die wichtigsten Grundkonzepte der Soziologie, wie etwa Arbeitsteilung, Interaktion, Gruppe, Norm, Rolle, Sozialisation, Tausch, Macht, Herrschaft, Legitimität und Legitimation, Anomie, Klasse, Stand, soziale Schichtung oder Konflikte und Kultur, aber auch einige weniger etablierte Begriffe und Theoreme, wie etwa das Coase-Theorem, die Edgeworthbox, das Konzept des Schleiers des Nichtwissens von John H. Rawls oder das Minimal Group Design von Henri Tajfel, in ihren Einzelheiten dargestellt und in die Grundlogik des Modells der soziologischen Erklärung eingebaut. Dabei wurden die Konzepte und die manchmal sehr divergent scheinenden Beiträge der verschiedenen Schulen der Soziologie und ihrer Nachbarwissenschaften als das genommen, was sie wohl sind: Erinnerungen an zentrale, nicht einfach zu ignorierende, aber alleine für sich auch unvollständige und unzureichende Elemente einer angemessenen Erklärung von Prozessen der Vergesellschaftung der Menschen und der von ihnen betriebenen „Konstitution“ und „Konstruktion“ der Gesellschaft. Die etablierten Grenzziehungen der verschiedenen soziologischen Schulen wurden dabei weniger beachtet. Das ging auch gar nicht anders: Wenn, wie etwa beim Beispiel der Bedeutung der kulturellen oder normativen Rahmung von Situationen, die eine Schule, wie etwa der einfache „neoklassische“ Rational-Choice-Ansatz, hier einen blinden Fleck hat, dann war das kein Anlaß, diese Einäugigkeit mitzumachen, ebensowenig natürlich wie bei den zahllosen anderen Einseitigkeiten und Unvollständigkeiten der meisten „Paradigmen“ der Soziologie, die sich wohl nur deshalb gegenseitig und zu den anderen Gesellschaftswissenschaften für selbstgenügsam halten können, weil sie von ihren Umwelten nicht viel wissen oder auch nicht wissen wollen: das normative Paradigma, das strukturtheoretische Paradigma, das interpretative Paradigma und das Paradigma des Rational-Choice-Ansatzes, um die „Four Sociological Traditions“ zu bemühen, von denen Randall Collins etwa spricht. Insofern ist die Darstellung auch keinem dieser einzelnen Paradigmen verpflichtet, auch nicht dem (einfachen, „neoklassischen“) RationalChoice-Ansatz, wie oberflächliche und voreilige Etikettierungen der „Grundlagen“ von „Esser“ wohl wieder einmal lauten dürften. Die Darstellung ist vielmehr ein Versuch, dem Programm der Einheit der Soziologie und der Einheit der Gesellschaftswissenschaften dadurch etwas näherzukommen, daß die
Vorwort
XVII
beachtenswerten Einzelheiten der diversen Paradigmen der Soziologie und einiger Einzelheiten der Ökonomie und der (Sozial-)Psychologie in ihn integriert werden, und zwar, wie man hoffentlich erkennen kann: mühelos. Jedenfalls wäre der Autor sehr gespannt auf originelle Hinweise, woran ein solches Programm nun noch scheitern müßte. Die sechs Bände der „Speziellen Grundlagen“ haben sich, wie die „Soziologie. Allgemeine Grundlagen“ nicht von alleine geschrieben, und es war auch nicht gleichgültig, wie die Bände und Kapitel aufeinander aufbauen. Es war ein langer, am Anfang so nicht geplanter, gelegentlich auch mühevoller, meist jedoch sehr lehrreicher und spannender, insgesamt über mehr als zehn Jahre andauernder Weg von der ersten Idee, ein kurzes „Skript“ zu einer Vorlesung „Grundzüge der Soziologie“ zu schreiben, bis zum jetzt vorliegenden Ergebnis, ein Weg, der sicher nicht ohne gewisse Richtungsgaben beschritten wurde, dessen Gestalt sich jedoch erst nach und nach abzuzeichnen begann. Viele, teilweise auch trivial oder überholt scheinende Einzelheiten und Versatzstücke etwa die üblichen „Grundbegriffe“ der Soziologie mußten oft erst wieder aus dem Original heraus und im Detail aufgearbeitet werden, bevor sie ihren Platz in dem Konzept finden konnten. Und manchmal erschienen sie dann in einem neuen und akzeptablen, ja außerordentlich frischen Licht, wie das etwa bei der Rekonstruktion der soziologischen Rollentheorie in Band 5 der Fall war. Auch das war ein Grund für die, der Verfasser weiß das durchaus, unübliche Länge der Arbeit. Der Hauptgrund aber war das Bemühen, die manchmal doch recht komplizierten Einzelheiten möglichst transparent und verständlich darzustellen und, möglichst, ohne den Geheimcode manchen Soziologenjargons auszukommen oder ihn wenigstens so umzuformulieren, daß er Sinn macht, wie etwa die Luhmannsche Systemtheorie, der die Arbeit trotz aller methodologischer Ferne viel zu verdanken hat. Die „Soziologie“ wendet sich in ihren insgesamt dann sieben Bänden, wie es in einer Besprechung zu den „Allgemeinen Grundlagen“ ganz treffend hieß, an „Erst- wie Letztsemester“. Allein deshalb war eine gewisse Redundanz in der Darstellung, in der Erläuterung auch komplizierterer Zusammenhänge, vor allem aber in der Herstellung von Querverbindungen unumgänglich. Es ist zu hoffen, daß der so mögliche Gewinn an Verständnis und soziologischer Aufklärung durch eine angemessene soziologische Erklärung die Mühen der Durcharbeitung eines Textes aufwiegen, der ganz bewußt nicht im Focus-Format geschrieben wurde und auch nicht als Instant-Produkt für den schnellen Aufguß und den hastigen Verzehr gedacht ist. Viele haben den Weg der Fertigstellung der beiden Arbeiten, den der „Allgemeinen Grundlagen“ zuerst und dann den der „Speziellen Grundlagen“, begleitet und unterstützt, wenngleich manche natürlich nicht über die ganze
XVIII
Vorwort
Strecke. Unterstützt haben den Fortgang der Arbeiten ohne Zweifel meine, teilweise inzwischen: ehemaligen, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, einige Wegbegleiter in den verschiedenen funktionalen Sphären auch außerhalb von Lehre und Forschung und die zahlreichen Studierenden der Veranstaltung „Grundzüge der Soziologie“ in Mannheim und anderswo, an denen die einzelnen neuen Stücke immer wieder ausprobiert wurden. Ausdrücklich nennen möchte ich hier Claudia Diehl, Stefan Ganter, Sonja Haug, Karl Gabriel, Frank Kalter, Johannes Kopp, Cornelia Kristen, Carol W. Hazelrigg, Hartmut Lang, Andreas Möller, Rainer Schnell und Volker Stocké, die manchmal auch dann geduldig die neuesten Überlegungen und Wendungen anzuhören bereit waren, wenn sie es eigentlich schon nicht mehr hören konnten. Bei der technischen Fertigstellung haben insbesondere Michael Blohm und Thorsten Kneip geholfen. Cornelia Schneider hat u.a. den ganzen Text Korrektur gelesen, die Zitate überprüft, das Literaturverzeichnis und das Register erstellt. Eine Heidenarbeit. Ihrer Umsicht, Sorgfalt und Nachhaltigkeit war es insbesondere zu verdanken, daß die Arbeit bei allem ihrem Umfang bewältigt werden konnte. Und meine Sekretärin, Erika Eck, hat im Hintergrund auf ihre Weise dafür gesorgt, daß alles stets weitgehend reibungslos weitergehen konnte. Kurt Hammerich hat, wie schon bei den „Allgemeinen Grundlagen“, den gesamten Text einmal durchgelesen und kommentiert. Johannes Berger, Alfred Bohnen, Paul B. Hill, Ronald Hitzler, Frank Kalter, Johannes Kopp, Siegwart Lindenberg, Fritz Scharpf, Uwe Schimank, Jan W. van Deth und Johannes Weyer haben sich auf meine Bitte hin eines oder mehrere der Kapitel angesehen. Allen sei für ihre Hinweise sehr gedankt. Erwähnen möchte ich schließlich auch die sachkundige Mithilfe bei der Erstellung des endgültigen Konzeptes durch Henning Mestwerdt, und vor allem die Geduld und die Bereitschaft von Adalbert Hepp vom Campus-Verlag, der mit der Weiterführung des Projektes einen langen Atem und sicher auch einen gewissen, wenngleich nach dem Erfolg der „Allgemeinen Grundlagen“ durchaus kalkulierbaren, Wagemut bewiesen hat. Ausdrücklich sei auch wieder Hans Albert und Alphons Silbermann für ihren Rat gedankt, denen ich in regelmäßigen Abständen über die Fortschritte der Arbeiten berichten mußte. Nicht immer war zu erkennen, was sie davon gehalten haben, insbesondere als das Werk in seinem Umfang wuchs und kaum ein Ende nehmen wollte. Ich hoffe, daß sie die beiden, mit ihnen auch als Person repräsentierten Grundlagen immer noch erkennen können, die die Konzeption der Arbeit stets geleitet haben: die Orientierung an den Vorgaben des Kritischen Rationalismus und der Analytischen Wissenschaftstheorie einerseits und an den Besonderheiten der „alten“ Kölner Schule der Soziologie andererseits, die ja in aller ihrer strikten methodologischen und empirischen
Vorwort
XIX
Ausrichtung nie eine einseitige, langweilige, bloß formale oder auf ein „Paradigma“ festgelegte Angelegenheit gewesen ist und die die Sache der wertneutralen und methodisch angemessenen soziologischen Erklärung stets auch mit viel Leidenschaft vertreten hat. Ganz besonders aber möchte ich an dieser Stelle Iris Brands für ihren ganz eigenen Beitrag dabei danken, daß viele Dinge, nicht nur das Buch, einen guten Schluß gefunden haben und nun neue interessante Projekte begonnen werden können. Hartmut Esser
Mannheim, im August 1999
Einleitung Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit und das Modell der soziologischen Erklärung
Die Soziologie ist gewiß eine ganz besondere Wissenschaft, und wohl auch deshalb sind Soziologen meist keine gewöhnlichen Menschen. Das liegt – woran auch sonst? – an der Eigenart ihres Gegenstandes: der menschlichen Gesellschaft. Kaum irgendwo ist die verwickelte Dialektik des Verhältnisses von Mensch und Gesellschaft treffender zusammengefaßt worden als von Peter L. Berger und Thomas Luckmann in ihrem großartigen Buch über die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Sie schreiben: „Gesellschaft ist ein menschliches Produkt. Gesellschaft ist eine objektive Wirklichkeit. Der Mensch ist ein gesellschaftliches Produkt.“1
Die Soziologie hat es danach mit drei, eng aufeinander bezogenen und sich wechselseitig bedingenden Sachverhalten zu tun: die Produktion der Gesellschaft durch das Handeln der Menschen; die Objektivierung der Gesellschaft als eine dem Handeln der Menschen unverrückbar und objektiv gegenüberstehende Wirklichkeit; und die Konstitution der Menschen als psycho-soziale Wesen durch die von ihnen selbst konstruierte gesellschaftliche Wirklichkeit. Keines der drei Elemente darf bei soziologischen Analysen ausgelassen oder ausschließlich beachtet werden. Peter L. Berger und Thomas Luckmann haben ihrem Satz daher sofort hinzugefügt, daß „ ... eine Analyse der gesellschaftlichen Welt, welche irgendeines dieser drei Elemente außer acht ließe, verzerrt wäre ... .“ (Ebd.; Hervorhebungen nicht im Original) Das sind deutliche Feststellungen zu einem schwierigen Problem: Wie entsteht die Gesellschaft als objektive Wirklichkeit, obwohl alle sozialen Prozesse nichts sind als – meist unbeabsichtigte – Folgen des stets nur subjektiv motivierten Handelns von Menschen? Und wie hat man sich vorzustellen, daß sich die Menschen nur über die gesellschaftlichen Folgen ihres Handelns als
1
Peter L. Berger und Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, 5. Aufl., Frankfurt/M. 1977 (zuerst: 1966), S. 65; Hervorhebungen so nicht im Original.
2
Einleitung
psycho-soziale Wesen konstituieren, gleichzeitig aber selbst die gesellschaftlichen Strukturen und Prozesse erzeugen, von denen ihre eigene Konstitution ausgeht? Der Gedanke der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit ist so alt wie die Soziologie selbst. Adam Smith und Karl Marx gründeten beispielsweise ihre Gesellschaftstheorien darauf. Max Weber hat ihn zur Grundlage seiner verstehend-erklärenden Soziologie gemacht. Alle neueren Theorieentwicklungen in der Soziologie drehen sich um ihn. Robert K. Merton hat ihn mit einer hübschen Geschichte erläutert. Es geht um den unerwarteten Niedergang einer Bank irgendwo in den Vereinigten Staaten zu Beginn der 30er Jahre dieses Jahrhunderts.2 Dem damit umschriebenen Problem hat Merton eine berühmt gewordene Bezeichnung gegeben: Self-fulfilling Prophecy. Die Self-fulfilling Prophecy Die Geschichte beginnt mit einer zunächst noch ganz entspannten und erfreulichen Situation: „It is the year 1932. The Last National Bank is a flourishing institution. A large part of its resources is liquid without being watered. Cartwright Millingville has ample reason to be proud of the banking institution over which he presides.“ (Ebd., S. 422)
Wie an fast jedem Werktag betritt Präsident Cartwright Millingville morgens ganz frohgemut seine Bank. Es ist der Black Wednesday, wovon Cartwright Millingville aber noch nichts weiß: „As he enters his bank, he notices that business is unusually brisk. A little odd, that, since the men at the A.M.O.K. steel plant and the K.O.M.A. mattress factory are not usually paid until Saturday. Yet here are two dozen men, obviously from the factories, queued up in front of the tellers’ cages. As he turns into his private office, the president muses rather compassionately: ‚Hope they haven’t been laid off in midweek. They should be in the shop at this hour‘.“ (Ebd.)
Ohne größere Beunruhigung wendet sich Präsident Millingville wie gewöhnlich seinen Akten zu. Aber nicht lange: „His precise signature is affixed to fewer than a score of papers when he is disturbed by the absence of something familiar and the intrusion of something alien. The low discreet hum of bank business has given way to a strange and annoying stridency of many voices.“ (Ebd.)
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Robert K. Merton, The Self-Fulfilling Prophecy, in: Robert K. Merton, Social Theory and Social Structure, 11. Aufl., New York und London 1967a, S. 421-436.
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Das unübliche Stimmengewirr hat einen ganz handfesten Grund: Ein Gerücht, die Bank sei insolvent, hat dazu geführt, daß eine Vielzahl von unruhig gewordenen Gläubigern ihre Einlagen zurückfordert. Es ist „ ... the beginning of what ends as Black Wednesday – the last Wednesday, it might be noted, of the Last National Bank.“ (Ebd.)
Und am Abend dieses denkwürdigen Tages gab es die Last National Bank nicht mehr. Die „Definition“ der Situation Warum konnte diese Katastrophe eintreten, obwohl Cartwright Millingville in der Tat ganz objektiv keinen Grund zur Beunruhigung haben mußte, als er am Morgen des Schwarzen Mittwoch seine Bank betrat? Die Antwort ist leicht gegeben: Keine Bank der Welt kann die Einlagen aller ihrer Gläubiger unmittelbar zurückzahlen – ganz einfach, weil alle Banken ihre Einlagen weiterverleihen und weil sie daher immer nur einen geringen Prozentsatz davon als „Mindestreserven“ für Abhebungen vorrätig halten. Das ist auch gar nicht anders denkbar, weil Banken ja keine Duckschen Geldspeicher sind, sondern Umschlagsplätze für Kreditvergabe und Kreditnahme – und daraus auch ihre wirtschaftliche und gesellschaftliche Funktion beziehen. Die Stabilität der finanziellen Situation einer Bank beruht auf einem ganzen Satz von Fiktionen und Annahmen der Akteure über die Situation. Dazu gehören insbesondere das Vertrauen in die Funktionsfähigkeit des ökonomischen Systems insgesamt und der Glaube in die Solvenz der einzelnen Bank speziell.
Tritt nun aber das Gerücht der drohenden Insolvenz einer bestimmten Bank auf, und glauben die Sparer tatsächlich das Gerücht, dann wird die Bank wirklich insolvent, weil die Gläubiger auf einen Schlag ihre Ersparnisse zurückhaben wollen, und weil die Mindestreserven nicht ausreichen, um alle Wünsche nach Rückforderung der Einlagen sofort zu erfüllen. Dies geschieht auch dann, wenn an dem Gerücht selbst nichts Wahres daran ist. Wichtig ist nur, daß das zunächst durchaus falsche Gerücht wirklich von den Menschen für wahr gehalten wird, und sie sich in ihrem Handeln daran orientieren. Das zunächst falsche Gerücht schafft sich so seine eigene, gesellschaftlich erzeugte Wirklichkeit: „A situation has been defined as real.“ (Ebd.; Hervorhebung nicht im Original) Und diese Definition der Situation setzt eine eigene „Logik“ in Gang, die dann niemand mehr aufhalten kann. Die spezielle, durch eine bestimmte Definition der Situation in Gang gesetzte, dann aber unerbittliche Logik der Verwirklichung einer zunächst bloß
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„definierten“ Situation ist es, was Robert K. Merton als Self-fulfilling Prophecy bezeichnen möchte: „The self-fulfilling prophecy is, in the beginning, a false definition of the situation evoking a new behavior which makes the originally false conception come true.“ (Ebd. S. 423; Hervorhebungen im Original)
Merton nennt das Beispiel des Schicksals der Last National Bank eine in vielerlei Hinsicht zu beherzigende „soziologische Parabel“: „The parable tells us that public definitions of a situation (prophecies or predictions) become an integral part of the situation and thus affect subsequent developments. This is peculiar to human affairs. It is not found in the world of nature, untouched by human hands. Predictions of the return of Halley’s comet do not influence its orbit. But the rumored insolvency of Millingville’s bank did affect the actual outcome. The prophecy of collapse led to its own fulfillment.“ (Ebd.; Hervorhebungen nicht im Original)
In der Tat liegt darin die wohl wichtigste Besonderheit der gesellschaftlichen Prozesse gegenüber allen Vorgängen, mit denen es die Naturwissenschaften zu tun haben: Was die Menschen über sich und über die Gesellschaft denken und allein wie sie die Situation „definieren“, ist ein integraler Teil der „Logik“ der Situation und bestimmt darüber ihr Handeln und alle weiteren Folgen – auch gegen ihre Absichten und Vorstellungen. Bei Uhren, Molekülen und Cumuluswolken ist das grundsätzlich anders: Die folgen nur blind bestimmten Kausalgesetzen. Zu einer besonderen „Definition“ der Situation sind die Objekte der unbelebten Natur nicht befähigt. Die „Logik“ der Situation Self-fulfilling Prophecies sind nicht die einzigen, aber ohne Zweifel besonders beeindruckende Fälle der „definierenden“ Konstruktion einer objektiven gesellschaftlichen Wirklichkeit. Es gibt beispielsweise auch sich selbst zerstörende Vorhersagen – wie häufig bei Warnungen der Polizei vor Verkehrsstaus bei Ferienbeginn, die dazu führen, daß für die Zeit der vorhergesagten Staus die Autobahnen leer sind und sich dafür einen Tag später die Blechlawine ansammelt. Merton nennt sie auch „suicidal prophecies.“ (Merton 1967a, S. 423, Fußnote 1) Es gibt ein – nicht ausnahmslos – „Ehernes Gesetz“ der Entstehung von Oligarchien in Parteien und Verbänden. Es gibt festgefügte rituelle oder sonstwie geregelte Abläufe, vor denen es kaum ein Entrinnen gibt: Das kaum vorauszusehende Theater eines Abendessens mit entfernten Verwandten, den nicht zu bezwingenden Terror des Karnevals wie den des Konsumrausches zu Weihnachten, Hinrichtungen und Fakultätssitzungen, den Verlauf von Liebesbeziehungen und Ehen wie die Unentrinnbarkeit des Zahlungsverkehrs zwischen Banken, Schuldnern und Gläubigern. Es gibt eine unvermeidlich scheinende Logik etwa auch des Prozesses, über den der Vertraute eines Patienten, der in eine Heilanstalt eingewiesen werden soll, unver-
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sehens zum Verbündeten der Anstalt wird, ebenso wie eine feste Logik des Verlaufs von Kontakten zwischen einander fremden Gruppen, bei denen es nach anfänglich wohlwollender Freundlichkeit unweigerlich zum Konflikt und zur Abgrenzung der Gruppen kommt – wie beim Verhältnis fremdethnischer Einwanderer zu den Einheimischen, oder wie bei den Beziehungen zwischen Ost- und Westdeutschen nach der Einigung. Und es gibt die Naturgewalten der Diffusion einer Zeitgeistströmung oder kultureller Moden – wie rollbrettfahrende Betriebswirte mit nach hinten gedrehten bunten Kappen auf dem Mensa-Gelände zum Beispiel –, die alle über die arglosen Menschen wie ein Gewitter hereinbrechen und denen sich auch diejenigen nicht entziehen können, die sich mit aller Macht dagegen stemmen.
Solche augenscheinlich festen Determinationen von sozialen Situationen durch soziale Situationen, ausgelöst und getragen stets nur durch die subjektiven Vorstellungen und Ziele und das Handeln der Akteure, in den Folgen dann aber von den Absichten und „psychischen“ Dispositionen der individuellen Menschen unabhängig, haben die Soziologen immer ganz besonders fasziniert. Ihre Eigenständigkeit hat die Soziologie bis heute mit dem Verweis auf diese Dialektik von objektiver Unerbittlichkeit und subjektiver Konstruktion zu begründen versucht. Der Streit um die soziologische Methode Wie mit diesen Fragen und Problemen genau und methodisch korrekt und vollständig verfahren werden soll, das sagen Peter L. Berger und Thomas Luckmann und Robert K. Merton – wie die Soziologie insgesamt weitgehend – leider nicht so deutlich. Immer hat es in der Soziologie gerade in dieser Frage viel Streit um die richtige Vorgehensweise gegeben. Und so ganz unverständlich ist das vor dem Hintergrund der Besonderheiten ihres Gegenstandes ja auch nicht. Der Ausgangspunkt der Fragen nach der richtigen soziologischen Methode läßt sich in aller Kürze so zusammenfassen: Weder die klassische Makro- noch die klassische Mikrosoziologie haben es geschafft, der Soziologie eine theoretische Grundlage zu geben, die den beschriebenen Besonderheiten ihres Gegenstandes Rechnung trägt und zu geeigneten Erklärungen bei ihren Fragen führt: Die klassische Makrosoziologie hat – bis heute – weder die nötigen allgemeinen Gesetze für ihre Erklärungen gefunden, noch hat sie verständlich machen können wie die Gesellschaft als „Produkt“ des sinnhaften Handelns der Menschen entsteht. Und die klassische Mikrosoziologie hat die Objektivierung der Gesellschaft weitgehend ausblenden müssen – und neigte deshalb mehr oder weniger fahrlässig dazu, sich in der Psychologie der menschlichen Motive oder in der Beschreibung der kleinen Lebenswelten des Alltags zu verlieren.
Kurz: Es muß für die Lösung der Aufgaben der Soziologie – die Erklärung sozialer Zusammenhänge und Prozesse – eine Verbindung zwischen den Strukturen der Gesellschaft und dem Handeln der Menschen geben. Diese Verbin-
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dung haben die klassischen Ansätze der Soziologie nicht herzustellen vermocht. In dieser Kritik an der Makro- und Mikrosoziologie sind sich eigentlich alle nur etwas neueren theoretischen Ansätze in der Soziologie einig: Norbert Elias mit dem Konzept der Prozeß- und Figurationssoziologie; Anthony Giddens mit der Theorie der Strukturierung; Pierre Bourdieu mit dem Begriff des Habitus als von Akteuren strukturierter und gleichzeitig ihr Handeln strukturierender Praxis; Randall Collins mit der Forderung nach einer Mikrofundierung der Makrosoziologie; Jürgen Habermas mit der Unterscheidung von System und Lebenswelt; und Niklas Luhmann mit seiner These von der wechselseitigen Konstitution der psychischen und der sozialen Systeme.3
Der amerikanische Neo-Funktionalist Jeffrey C. Alexander hat seine eigene ferne Ahnung, daß jetzt die Zeit gekommen ist, so zusammengefaßt: „Neither micro nor macro theory is satisfactory. Action and structure must now be intertwined.“4
Das ist schon richtig, und kaum jemand würde wohl widersprechen. Die Frage ist nur: Wie soll es denn geschehen? Und darin sind sich die – auch die oben genannten – Soziologen dann schon wieder sehr viel weniger einig. Es gibt immer noch viel zu tun – vor allem an Aufräumarbeiten mit alten Mißverständnissen und eingefahrenen Denkgewohnheiten. Und dazu zählen einige liebgewonnene Unterscheidungen, wie die von Gesellschaft und Individuum, von System und Lebenswelt, von System- und Handlungstheorien, psychischen und sozialen Systemen und von Makro- und Mikrosoziologie, die – irgendwie – miteinander verbunden werden müßten, so als ob sie nicht, wie das bei Berger und Luckmann schon gesagt wurde, eine unauflösliche Einheit bilden würden. Makrosoziologie Die klassische Soziologie, beginnend mit Emile Durkheim und fortgesetzt über Talcott Parsons, war erklärtermaßen eine strikt makrosoziologische An3
Norbert Elias, Was ist Soziologie? München 1970; Anthony Giddens, Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung, Frankfurt/M. und New York 1992; Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt/M. 1982; Randall Collins, On the Microfoundations of Macrosociology, in: American Journal of Sociology, 86, 1981, S. 984-1014; Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bände, Frankfurt/M. 1981a,b; Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/M. 1984.
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Jeffrey C. Alexander, The New Theoretical Movement, in: Neil J. Smelser (Hrsg.), Handbook of Sociology, Newbury Park u.a. 1988, S. 77; Hervorhebung nicht im Original.
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gelegenheit. Das Ziel war das Auffinden von genuin „soziologischen“ Gesetzen für das „Verhalten“ von Kollektiven. Die Hoffnung war es, Gesetze „sui generis“ zu finden, die jenseits aller Einzelmotive und Ideosynkrasien der individuellen Akteure gelten würden. Es sollte Soziales nur durch Soziales erklärt werden und nur eine Soziologie geben, die nichts als Soziologie ist. Diese Richtung ist insbesondere unter der Bezeichnung Funktionalismus bzw. als Struktur-Funktionalismus bekannt geworden. Heute lebt sie – in stark abgemilderter Form – als strukturelle bzw. als institutionell-vergleichende Soziologie weiter – etwa in den Ansätzen von Peter M. Blau, Stein Rokkan oder M. Rainer Lepsius. Es hat eine ganze Reihe von Vorschlägen für solche soziologischen Gesetze sui generis gegeben. Beispielsweise: das Eherne Gesetz der Oligarchie von Robert Michels, wonach Parteien und andere Organisationen nach kurzer Zeit unabhängig von ihrer eigenen Ideologie eine Führungsschicht ausbilden; die These eines Zusammenhangs von Kernfamilie und Industriegesellschaft nach Emile Durkheim, wonach mit der Industrialisierung die Familie auf die Eingenerationenfamilie und somit auf ihren „Kern“ von Vater, Mutter und (zwei) Kindern schrumpfe; die Vorstellung von Karl Marx – die in ähnlicher Weise auch von Max Weber und von Talcott Parsons geteilt wurde –, daß die moderne kapitalistische Gesellschaft die ständischen, ethnischen und nationalen Gemeinschaften unweigerlich zum Verschwinden bringen würde; der sog. race-relation-cycle von Robert S. Park, daß sich die Kontakte von einander fremden Gruppen nach einem festen Zyklus – freundlicher Kontakt, Konflikt, Akkomodation und schließliche Assimilation der Gruppen – entwickeln würden; die Hypothese über die Entwicklung von Städten in Formen bestimmter Zonen, wie dies etwa Ernest W. Burgess angenommen hat; Annahmen über den Prozeß der Modernisierung von Gesellschaften, der sich sukzessiv über die Stadien der Urbanisierung, der Entwicklung des Bildungssystems, der demokratischen Partizipation und der Entstehung von Massenmedien vollziehe, wie Daniel Lerner sich dies vorgestellt hat; oder die Behauptung über einen inneren Zusammenhang von protestantischer Ethik und kapitalistisch-berechnender Lebensführung, wie ihn Max Weber zu belegen versucht hat – und viele andere ähnliche Entwürfe mehr.5
Aber weder das Eherne Gesetz der Oligarchie, noch das vom Schrumpfen der Familie in der Industriegesellschaft, noch das Verschwinden der ethnischen Gemeinschaften in der Moderne, noch die These vom race-relation-cycle, 5
Robert Michels, Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie, 4. Aufl., Stuttgart 1970 (zuerst: 1911); Emile Durkheim, Einführung in die Soziologie der Familie, in: Emile Durkheim, Frühe Schriften zur Begründung der Sozialwissenschaft, Darmstadt und Neuwied 1981 (zuerst: 1888); Karl Marx und Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, in: Marx-Engels-Werke, Band 4, Berlin 1964, S. 459-493; Robert E. Park, The Nature of Race Relations, in: Robert E. Park, Race and Culture, Glencoe, Ill., 1950, S. 81-116; Ernest W. Burgess, The Growth of the City: An Introduction to a Research Project, in: Robert E. Park, Ernest W. Burgess und Roderick D. McKenzie (Hrsg.), The City, Chicago und London 1925, S. 47-62; Daniel Lerner, The Passing of Traditional Society, New York 1964; Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Band 1, 7. Aufl., Tübingen 1978 (zuerst: 1920), S. 17-206.
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noch die Zonenmodelle der Stadt, noch die Abfolge bestimmter Stadien und Stufen der Modernisierung, noch der Zusammenhang von protestantischer Ethik und dem Geist des Kapitalismus sind als bedingungslos geltende oder historisch-reale Zusammenhänge belegt. Immer handelt es sich – allenfalls – um idealtypische, das heißt: überzeichnende, Beschreibungen von sog. historischen Individuen, die es so in „allgemeiner“ Form wenigstens nicht gegeben hat und für die es jeweils zahllose Ausnahmen gibt. Unvollständigkeit und Sinnlosigkeit Die Suche nach solchen soziologischen Gesetzen ist also – trotz einer recht langen Zeit von etwa 100 Jahren der Bemühung darum – bemerkenswert erfolglos geblieben. Nicht nur das: Bis heute ist kein einziges derartiges soziologisches Gesetz gefunden worden. Dieses empirische Versagen der Makrosoziologie wird als das Problem der Unvollständigkeit der soziologischen Gesetze bezeichnet. Es hat zur Folge gehabt, daß die Makrosoziologie zwar viele interessante Explananda beschreiben konnte, aber – leider – kein zufriedenstellendes Explanans für ihre Probleme gefunden hat. Außerdem wurde – vom Problem der Unvollständigkeit ganz unabhängig – mit der Annahme soziologischer Gesetze jede Subjektivität und jeder „Sinn“ des Handelns systematisch ausgeblendet. Die Gesetze der Soziologie konnten nur solche der objektiven Logik – sei es der sozialen Zusammenhänge, sei es der sozialen Prozesse – sein, die ganz unabhängig von den Bedürfnissen und Vorstellungen der menschlichen Akteure entstehen. Die Gesellschaft wurde so nur als objektive Wirklichkeit vorstellbar, nicht aber als Produkt des menschlichen Handelns „verständlich“. Man könnte diese systematische Ausblendung der Subjektivität des menschlichen Handelns als das Problem der „Sinn“losigkeit der Makrosoziologie ansehen. Das Problem der Sinnlosigkeit wäre zwar, wenn es die soziologischen Gesetze denn wirklich gäbe, aus theoretisch-erklärender Sicht kein sehr gravierendes, weil ja nur gut erklärt werden soll – egal mit welchen Gesetzen. Es kommt im Zusammenhang des Problems der Unvollständigkeit aber insofern erschwerend hinzu, als der Einbezug des konstruktiven, sinnhaften und kreativen Beitrages der Akteure schon manche Ausnahme bei den „objektiven“ soziologischen Gesetzen aufzulösen imstande war – auch bei den wenigen Beispielen soziologischer Gesetze, die oben genannt wurden.
Die Lösung beider Probleme läge in einer sog. Tiefenerklärung der soziologischen Gesetze: dem Aufzeigen eines allgemeineren, generierenden Mechanismus, aus dem auch die Ausnahmen von der Regel des Gesetzes ableitbar sind. Dies liefe bei einer soziologischen Erklärung notwendigerweise auf eine
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nähere Analyse der Situation und auf eine Erklärung des daran orientierten Handelns von Akteuren – und dessen Folgen – hinaus. Diesen Weg in die Tiefe einer genaueren Analyse der Situation hat sich die Makrosoziologie aber bereits durch die Vorgaben ihres Programms verbaut: Wer die Menschen von der Art der Theoriekonstruktion her ignoriert und so auch ihre – oft verzweifelten und deshalb kreativen, aber auch nicht immer erfolgreichen – Versuche der Problemlösung als eigenständigen Beitrag der Vergesellschaftung nicht ernst nimmt, kann nicht dann plötzlich mit ihnen kommen, wenn die soziologischen Gesetze versagen. Mikrosoziologie Die Makrosoziologie hatte ihre Blütezeit in den 50er und 60er Jahren vor allem in Gestalt der struktur-funktionalen Theorie nach Talcott Parsons. Die Gegenreaktion auf ihre Schwächen waren zwei dezidiert mikrosoziologische Richtungen. Beide betonten die Bedeutung des Handelns der menschlichen Akteure für ein angemessenes Verständnis und für eine korrekte Erklärung der sozialen Prozesse. Es waren das interpretative Paradigma einerseits und die verhaltenstheoretische Soziologie andererseits. Das interpretative Paradigma verwies insbesondere auf die Subjektivität eines jeden Handelns. Es geht u.a. auf Überlegungen von William I. Thomas und George Herbert Mead zurück. Danach wählen die Akteure ihr Handeln nach einer vorher stattfindenden Definition der Situation, wobei sie die Merkmale einer Situation als „bedeutungsvolle“ Symbole interpretieren und sich eine spezielle subjektive Sichtweise der Situation zurechtlegen, die dann das Handeln leitet. Der Ansatz lebt heute unter verschiedenen Bezeichnungen und mit unterschiedlichen Forschungsprogrammen fort: als Symbolischer Interaktionismus und als Ethnomethodologie – unter anderem. Die andere Variante der Mikrosoziologie ist mit dem Namen George C. Homans verbunden. Homans betonte auch, daß es ohne die Einbeziehung der Akteure und ohne die Erklärung ihres Verhaltens eine angemessene soziologische Erklärung grundsätzlich nicht geben könne, weil nur auf der Ebene des Verhaltens von Menschen die erforderliche kausale Verbindung zwischen Situation und Handeln und kollektiven Folgen denkbar wäre. Er bestand aber gleichzeitig – in Abgrenzung zu allen „verstehenden“ und „interpretativen“ Ansätzen – auch darauf, daß diese Erklärung über das deutende Verstehen irgendeines „Sinns“ des Handelns nicht möglich wäre. Das Handeln der Menschen müsse im Prinzip als eine kausale „Reaktion“ auf gewisse objektiv gegebene und wirksame „Reize“ in der Situation erklärt werden: als „Verhalten“. Daraus erklärt sich die Bezeichnung des Ansatzes als verhaltenstheoretische Soziologie.
Beide Ansätze der Mikrosoziologie sehen die Gesellschaft somit zwar – ganz anders als die Makrosoziologie – als Produkt des Handelns der menschlichen Akteure. Aber sie können beide nicht recht deutlich machen, wie dadurch die Gesellschaft als objektive, den Menschen oft fremd gegenüberstehende Wirklichkeit entsteht. Die beiden Mikrosoziologien wußten – kurz gesagt – nicht,
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wie sie von der Detailbeschreibung der Lernbiographien, der Reize und der Reaktionen, der Interpretation der Symbole und des Sinns des Handelns, sowie der kleinen Lebenswelten zu den überdauernden Strukturen der Gesellschaft vorstoßen könnten, um die es in der Soziologie ja zu allererst geht. Insofern sind sie beide vor dem Hintergrund des Epigramms von Peter L. Berger und Thomas Luckmann ebenfalls unvollständig geblieben. Anders gesagt: Es ist viel zu wenig an Soziologie sowohl in der interpretativen wie in der verhaltenstheoretischen Soziologie gewesen. Gesellschaftliche Differenzierung und die Regeln der soziologischen Methode Emile Durkheim hatte der Soziologie ein Manifest mit auf den Weg gegeben, an dem sie sich lange orientiert hat: „Die Regeln der soziologischen Methode“.6 Dort fordert er bekanntlich, die „sozialen Erscheinungen“ wie „Dinge“ zu behandeln. Sie müßten „losgelöst von den bewußten Subjekten, die sie sich vorstellen“ (Durkheim 1976: 125), betrachtet werden. Durkheims „Regeln“ erschienen zuerst im Jahr 1895. Sie waren das Programm der klassischen Makrosoziologie. Im Jahre 1976 brachte der oben bereits erwähnte Anthony Giddens die „New Rules of Sociological Method“ heraus.7 Von diesen „Neuen Regeln“ lautet die Regel A ONE: „Sociology is not concerned with a ‚pre-given’ universe of objects, but with one which is constituted or produced by the active doings of subjects.“ Und weiter die Regel A TWO: „The production and reproduction of society thus has to be treated as a skilled performance on the part of its members ... .“ (Ebd., S. 160)
Gewiß gelte auch, daß die Subjekte historisch lokalisiert seien und die Bedingungen ihres Handelns frei wählen könnten. Strukturen dürften aber (so Regel B TWO) „ ... not be conceptualized as simply placing constraints upon human agency, but as enabling.“ (Ebd., S. 161) Die Folge für die soziologische Methode ist für Giddens danach: eine deutliche Hinwendung zur Beachtung der subjektiven Befindlichkeit der Akteure, ihrer Fähigkeiten, Wissensstrukturen und Symbolwelten zur Analyse des Prozesses, über den die Akteure in ihrem Handeln – meist unintendiert – die sie umgebenden Strukturen fortwährend aktiv reproduzieren und neu schaffen.
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Emile Durkheim, Die Regeln der soziologischen Methode. Herausgegeben und eingeleitet von René König, 5. Aufl., Darmstadt und Neuwied 1976 (zuerst: 1895).
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Anthony Giddens, New Rules of Sociological Method. A Positive Critique of Interpretative Sociologies, London u.a. 1976.
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Die New Rules sind – wie das Aufkommen der Mikrosoziologien insgesamt – eine Reaktion auf das oben beschriebene Problem der Unvollständigkeit und – insbesondere – das der Sinnlosigkeit. Sie haben nicht nur eine methodologische, sondern auch eine – bei Giddens eher implizit bleibende – inhaltliche Begründung: Es haben sich die gesellschaftlichen Grundlagen geändert, vor denen die alten „Regeln“ der Makrosoziologie ihre Plausibilität durchaus hatten – die Existenz relativ einfach geschnittener und stabiler Strukturen der Gesellschaft. Diese besonderen Strukturen der Gesellschaft beruhten auf zwei Gegebenheiten: auf deutlichen Interessen-Differenzierungen, die sich in eindeutigen Kategorisierungen, wie z.B. sozialen Klassen, bezeichnen ließen, und auf ebenso deutlichen Milieu-Differenzierungen, die man z.B. in der Kategorie des Standes begrifflich zusammenfassen konnte. Der historische, aber bis dahin als solcher unbemerkte „Glücksfall“ für die soziologische Methode Durkheims war nun aber, daß diese Interessen- und Milieudifferenzierungen von Klasse und Stand deutlich miteinander kovariierten. Aus dieser Kristallisation von Struktur und Kultur der Gesellschaft ergaben sich dann eine Reihe weiterer Korrelate, die es gestatteten, die Soziologie als eine Art von Kategorienlehre typischer gesellschaftlicher Gruppen mit typischen Interessen und typischen Institutionen aufzubauen. Empirisch wird dann eine Soziologie der „Standarddemographie“ möglich, plausibel – und erklärungskräftig. Ein Beispiel dafür war/ist die Wahlsoziologie: Typische gesellschaftliche cleavages erzeugen typische Interessenlagen und politische Organisationen – die Parteien. Wegen der Einlagerung der betreffenden Gruppen in stabile Milieus und auch kulturell typischer Lebenswelten ist das Wahlverhalten tatsächlich stabil an Interessenlagen und (standard-)demographischen Variablen – sogar mit einer deutlichen, nicht unmittelbar interessenbezogenen Identifikation – gebunden. So wurde eine implizit erklärende Theorie möglich, die unbemerkt theoretisch viel weiter reichte als es diese Kategorien erlaubt hätten: Klassenverhältnisse kennzeichneten z.B. eindeutige und exklusive Motivationen und – verstärkt durch entsprechende organisatorische und institutionelle Zuspitzungen – auch bestimmte Typen von Kognitionen, Alltagstheorien und Weltinterpretationen. Die Milieudifferenzierungen sorgten dafür, daß die Motivations- und Kognitionsdifferenzierungen, die sich aus der Interessenlage ergaben, im Alltag auch fortwährend bestärkt wurden und damit eine durchgängige, nachhaltige und stabile Handlungsrelevanz erhielten. Und beide zusammen bildeten dann jene unwiderstehlichen „Gußformen“ des Handelns und Fühlens, die Emile Durkheim als die Basis der Soziologie als wissenschaftlicher Disziplin aufgefaßt hatte. Auf diese Weise konnte sich auch für die Analyse von Industriegesellschaften eine soziologische Methode – und ein Gesellschaftsbild! – etablieren, die einmal für die Analyse von einfachen Stammesgesellschaften entstanden war: Stand und Klasse erzeugen deutlich unterscheidbare Segmente einer stratifikatorischen Differenzierung mit einer hohen Prägekraft für das Handeln der Akteure als Mitgliedern dieser Segmente. Und dann muß man „nur“ noch die Strukturen dieser Segmente kennen, um zu wissen, was geschieht.
Einer der Grundzüge der makrostrukturellen Entwicklungen in den westlichen Industriegesellschaften nach dem 2. Weltkrieg (und bereits weit davor) war aber die Auflösung dieser einfachen Segmentation im Zuge einer fortschreitenden funktionalen Differenzierung. Es gibt eine – wenigstens in der Tendenz empirisch auch nachweisbare – Zunahme der „Kreuzung der socialen Kreise“. Die Folge davon ist: die De-Kristallisation von Interessen und Milieus bzw. von Klasse und Stand und die Zunahme komplexer Interdependenzen über ei-
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ne funktionale, arbeitsteilige Verflechtung – gleichzeitig. Diese Entwicklungen werden – mitunter in etwas übertrieben-dramatisierender Weise – zusammenfassend als Individualisierung etikettiert.8 Der Verfall der soziologischen Methode Die methodologischen Konsequenzen dieses gesellschaftlichen Prozesses der funktionalen Differenzierung sind ebenso naheliegend wie unausweichlich: der Verfall der soziologischen Methode. Das zeigt sich an einem oft behaupteten, aber nur selten auch empirisch systematisch geprüften Sachverhalt: Die aus den herkömmlichen Kategorisierungen abgeleiteten Prognosen für das Handeln von Akteuren und für darauf aufruhende kollektive Prozesse können immer weniger auf eine empirische Einlösung hoffen.9 Und was zunächst – unbemerkt – wie ein Glücksfall für das umstandslose Funktionieren von Strukturerklärungen ausgesehen hat, erweist sich nun als ein tiefgreifendes Defizit: Weil es unter den Bedingungen von Stand und Klasse keinen Anlaß für eine mikrotheoretisch fundierte soziologische Tiefenerklärung gab, traf der Fortfall der impliziten gesellschaftlichen Geltungsbedingungen der soziologischen Methode die nur strukturtheoretisch orientierte Kategorien-Soziologie nahezu unvorbereitet. Die von Emile Durkheim etablierte Forderung nach einer genuin soziologischen Methode ist inzwischen – ohne größere Geräuschentwicklung – tatsächlich in sich verfallen. Was aber nun? Naheliegend wäre die folgende Suggestion: Eine individualistische Gesellschaft verlangt dann also offenbar eine individualistische Methode – und das Ende der Soziologie. Das wäre ein sehr voreiliger und falscher Schluß. Denn: Die mikrosoziologische Wende hin zur verhaltenstheoretischen oder zur interpretativen Soziologie war – wie wir gesehen haben – ja mitnichten ein Ausweg. Diese Ansätze nahmen zwar die Akteure und ihr Handeln ernst. Sie hatten aber die größte Mühe, den für die Soziologie nach wie vor zentralen Strukturaspekt systematisch einzubeziehen. Eine bloß „individualistische“, eine rein „subjektivistische“, eine nur „psychologistische“ Theorie ist nicht die geeignete Antwort auf die methodologischen Folgen der gesellschaftlichen Differenzierung und Individualisierung. Anders gesagt: Soziologische Tiefenerklärungen verlangen zwar den Einbezug der Akteure und des Handelns. Sie gehen darüber aber auch wieder hinaus.
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Vgl. dazu den programmatischen Beitrag von Ulrich Beck, Jenseits von Stand und Klasse? Soziale Ungleichheiten, gesellschaftliche Individualisierungsprozesse und die Entstehung neuer sozialer Formationen und Identitäten, in: Reinhard Kreckel (Hrsg.), Soziale Ungleichheiten, Sonderband 2 der Sozialen Welt, Göttingen 1983, S. 35-74.
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Vgl. dazu Rainer Schnell und Ulrich Kohler, Empirische Untersuchung einer Individualisierungshypothese am Beispiel der Parteipräferenz 1953-1992, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 47, 1995, S. 634-657.
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Wie aber soll das – eine mikrotheoretisch fundierte Makrosoziologie – funktionieren? Ist das nicht ein ganz und gar widersprüchliches und allein deshalb aussichtsloses Unterfangen? Nicht ganz zufällig ist die Soziologie schon seit einiger Zeit etwas verzweifelt und recht ratlos auf der Suche nach Konzepten, mit den methodologischen Konsequenzen der gesellschaftlichen Differenzierung und dem Verfall der soziologischen Methode zurechtzukommen. Licht am Ende des Tunnels? In der Diagnose des Problems ist inzwischen immerhin eine gewisse Einmütigkeit zu verzeichnen: Neither micro, nor macro! Klaro! Den Streit um das richtige Vorgehen gibt es in der Soziologie jedoch immer noch. Es würde den Soziologen zu ihrem Glück wohl etwas fehlen, wenn es anders wäre. Zum Glück für die Soziologie sieht es aber inzwischen so aus, als ließe sich wenigstens über einige der Punkte ein Einvernehmen erzielen, die bisher den Anlaß für manche Einseitigkeit, für manches Mißverständnis und für manche – mehr oder weniger verständliche – Hitzigkeit der Auseinandersetzung abgaben. Der Arbeit an der Sache würde dies gewiß nicht schaden. Dabei war der Streit eigentlich schon mit der berühmten Definition von Max Weber gleich zu Anfang von „Wirtschaft und Gesellschaft“ unnötig geworden. Danach soll Soziologie ja jene Wissenschaft heißen, „ ... welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will.“10
Das ist ersichtlich nichts anderes als die Aufforderung zu einem verstehenden Erklären der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit durch handelnde Subjekte: Analyse der strukturellen Bedingungen in der Situation, Erklärung des Handelns und Ableitung der aggregierten – meist: unintendierten – strukturellen Folgen daraus. Allzu lange hat es gebraucht, bis sich die Soziologie nach vielen Irrwegen wieder an die einfache Regel der Weberschen Definition erinnert hat. Inzwischen sieht es aber so aus, als würde man sich wenigstens in der Hinsicht einig werden können, daß es eine systematische Verbindung von Makro- und Mikrosoziologie geben muß. Die oben erwähnten theoretischen Entwürfe und Orientierungshypothesen von Norbert Elias, Anthony Giddens, Pierre Bourdieu, Jeffrey C. Alexander, Randall Collins, Jürgen Habermas und Niklas Luhmann versuchen eben dies: die Auflösung des alten Gegensatzes zwischen Mensch und Gesellschaft, ein Gegensatz, der die Soziologie eine sehr lange Zeit beherrscht – und in die Irre geführt hat.
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Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5. Aufl., Tübingen 1972 (zuerst: 1922), S. 1.
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Gestritten wird dabei vor allem darüber: Wie soll diese Verbindung zwischen Struktur und Handeln genau hergestellt werden? Und welche Theorien des sozialen Handelns eignen sich als nomologischer Kern für die Erklärung sozialer Prozesse? Das Modell der soziologischen Erklärung Glücklicherweise zeichnet sich eine Lösung des Problems ab. Es gibt inzwischen eine schon gut ausgebaute, sich rasch weiterentwickelnde, zu anderen Gesellschaftswissenschaften – Ökonomie, Geschichte, Psychologie und Sozialpsychologie, empirische Rechtswissenschaft u.a. – sehr anschlußfähige und bereits in vielen Forschungsfeldern bewährte Methodologie der soziologischen Analyse, die den geschilderten Gesichtspunkten gerecht werden kann: das Modell der soziologischen Erklärung. Diese Methodologie ist das Ergebnis von einigen langjährigen Diskussionen und Vorarbeiten, die u.a. Raymond Boudon, James S. Coleman oder Siegwart Lindenberg und Reinhard Wippler geführt und geleistet haben.11 Ihr Kern ist das Modell der soziologischen Erklärung. Den Ausgangspunkt bilden zwei Grundannahmen: der analytische und der theoretische Primat der Soziologie. Der analytische und der theoretische Primat der Soziologie Die erste Annahme bezieht sich auf das Erklärungsinteresse. Es liegt in der Soziologie ausschließlich auf der kollektiven Ebene. Mit einem Begriff, den Reinhard Wippler und Siegwart Lindenberg eingeführt haben, kann man sagen, daß der analytische Primat der Soziologie auf der kollektiven Ebene liege (Wippler und Lindenberg 1987, S. 137ff.). Die Soziologie ist eben keine Psychologie oder Psychoanalyse. Und sie ist auch keine bloß Geschichten über große Taten erzählende Geschichte. Dazu gibt es eigentlich nicht viel mehr zu sagen. 11
Raymond Boudon, Die Logik des gesellschaftlichen Handelns. Eine Einführung in die soziologische Denk- und Arbeitsweise, Neuwied und Darmstadt 1980; James S. Coleman, Foundations of Social Theory, Cambridge, Mass., und London 1990; Siegwart Lindenberg und Reinhard Wippler, Theorienvergleich. Elemente der Rekonstruktion, in: Karl Otto Hondrich und Joachim Matthes (Hrsg.), Theorienvergleich in den Sozialwissenschaften, Darmstadt und Neuwied 1978, S. 219-231; Reinhard Wippler und Siegwart Lindenberg, Collective Phenomena and Rational Choice, in: Jeffrey C. Alexander, Bernhard Giesen, Richard Münch und Neil J. Smelser (Hrsg.), The Micro-Macro Link, Berkeley, Los Angeles und London 1987, S. 135-152.
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Will man sich nicht die Probleme der Unvollständigkeit und der Sinnlosigkeit einhandeln, muß bei der Erklärung von der kollektiven Ebene auf eine darunter liegende Mikroebene hinabgestiegen werden. Denn welche Alternative gäbe es, wenn es keine brauchbaren Gesetze auf der kollektiven Ebene gibt? Weil aber bei jeder „tieferen“ kollektiven Ebene erneut das Problem der Unvollständigkeit und das der Sinnlosigkeit droht, muß die Vertiefung letztlich bis auf die Ebene der Akteure gehen. Dazu gibt es noch einen weiteren, den eigentlich entscheidenden Grund: Erst auf dieser Ebene finden sich – wenn überhaupt – „allgemeine“ und „kausale“ Gesetze, die ja für eine korrekte Erklärung unerläßlich sind: die Gesetze der Selektion des Handelns. Sie gelten – so wird angenommen – für alle Exemplare des homo sapiens. Deswegen liegt – erneut dem Diktum von Wippler und Lindenberg folgend – der theoretische Primat einer soziologischen Erklärung auf der individuellen Ebene. Auf diese Weise – und nur so! – kommen die Akteure und das soziale Handeln ins Spiel. Die Forderung nach einer Tiefenerklärung der sozialen Prozesse ist der Hintergrund dafür; nicht aber die Vorstellung, daß die individuellen Menschen das einzige Reale und das Wichtigste in der Welt seien, für das sich die Soziologie zu interessieren hätte. Das Grundmodell Das Problem besteht also in der Auflösung einer Art von Scheinbeziehung: Der zu erklärende kollektive Zusammenhang wird nicht über ein kollektives, kausal wirkendes, allgemeines Gesetz, sondern indirekt über drei direkt miteinander verknüpfte Schritte erklärt, die die methodisch erforderliche Vertiefung leisten, und wobei an einer Stelle dieser drei Schritte ein allgemeiner nomologischer Kern enthalten ist, der sich nicht auf die historisch variablen gesellschaftlichen Strukturen, sondern auf die weitgehend konstante biopsychische Natur des homo sapiens bezieht. Die drei Schritte sind in ihrer elementarsten Form: die Rekonstruktion der sozialen Situation, in der die Akteure sich befinden; die Anwendung einer Theorie des Handelns, um das Handeln der individuellen Akteure in dieser Situation zu erklären; und die Transformation der Folgen des individuellen Handelns zu dem zu erklärenden kollektiven Resultat. Diese drei Schritte werden auch als das Problem der Logik der Situation, der Logik der Selektion und der Logik der Aggregation bezeichnet. Der erste Schritt ist die Bestimmung der Logik der Situation. Damit ist die typisierende Beschreibung der Situation gemeint, in der sich die Akteure befinden. Diese Beschreibung erfolgt in Form der sog. Brückenhypothesen. Die Brückenhypothesen stellen die Verbindung
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zwischen der objektiven Situation und den subjektiven Motiven und dem subjektiven Wissen der Akteure her. Sie sind notwendigerweise historisch spezifisch, insofern dies die betreffenden Situationen, Motive und Wissenselemente ja auch immer sind. Die Brückenhypothesen übersetzen die situationalen Bedingungen in die Variablen der Logik der Selektion des Handelns, also in eine Handlungstheorie als die allgemeine und nomologische Regel über die Art der Selektion des Handelns. Dies ist der zweite Schritt. Eine solche Handlungstheorie wird benötigt, da ansonsten der kausale Mechanismus zwischen der Logik der Situation und dem Handeln der Akteure fehlen würde und weil es dann eine Erklärungslücke zwischen der Situation und dem soziologischen Explanandum gäbe. Anders als die Brückenhypothesen ist die Handlungstheorie ein kausales Gesetz mit allgemeiner Geltung. Auf diese Weise kann situational-spezifisches Handeln allgemein und kausal erklärt werden: Gegeben die historisch-spezifische Logik der Situation und eine allgemeine Logik der Selektion läßt sich das spezifische Handeln der Akteure erklären bzw. vorhersagen. Das mit Hilfe der Logik der Situation bzw. der Brückenhypothesen und der angewandten Handlungstheorie erklärte Ergebnis des Handelns der Akteure wird auch als individueller Effekt bezeichnet. Ein individueller Effekt stellt – meist – noch nicht das interessierende zu erklärende kollektive Ereignis dar. Dazu wird ein dritter Schritt erforderlich: die Ableitung der neu konstituierten kollektiven Situation als Folge der zuvor erklärten individuellen Effekte und weiterer Randbedingungen im jeweils speziellen Fall. Dieser dritte Schritt ist die Logik der Aggregation. Hierfür werden besondere Transformationsregeln benötigt, die angeben, unter welchen Bedingungen bestimmte individuelle Effekte bestimmte kollektive Sachverhalte erzeugen. Zu diesen Bedingungen gehören u.a. die partielle Definition des kollektiven Explanandums, bestimmte institutionelle Regeln oder kollektive Verteilungen und – mehr oder weniger – idealisierte Prozeßabläufe, formulierbar in formalen Modellen. Diese Bedingungen sind ein notwendiger Bestandteil der aggregierenden Transformation der individuellen Effekte in die zu erklärende – neue – soziale Situation. Sie müssen dem Argument immer in einer eigenen – gültigen – Beschreibung hinzugefügt werden. Sie folgen aus den individuellen Effekten selbst nicht. Da Aggregationen gerade deshalb oft sehr vom Einzelfall abhängen und immer in einem historisch spezifischen institutionellen Rahmen stattfinden, beruhen die Transformationsregeln bei der Logik der Aggregation zwingend – wie die Brückenhypothesen – auf Beschreibungen über die speziellen institutionellen und historischen Bedingungen des jeweiligen Falles. Gerade deshalb werden allgemeine soziologische Gesetze und Zusammenhänge „sui generis“ nur schwer vorstellbar. Wohl aber gibt es idealisierte Konstellationen aggregierter Folgen – wie in den Modellen der sog. Spieltheorie, in den Gleichgewichtsmodellen der Ökonomie oder in typisierten Abläufen und Sequenzen, etwa der Diffusion und der Ansteckung. Sie können – unter Umständen – als komplette Module bestimmter Aggregationen verwandt werden – wenn die Anwendungsbedingungen dafür empirisch erfüllt sind.
In seiner Grundstruktur läßt sich das Modell der soziologischen Erklärung damit wie in Abbildung 0.1 zusammenfassen. Das Explanandum ist ein kollektives Ereignis oder ein kollektiver Zusammenhang (Beziehung 4 im Diagramm). Die Analyse beginnt mit der sozialen Situation 1 und endet über die drei beschriebenen Schritte (Beziehungen 1 bis 3 im Diagramm) mit der sozialen Situation 2. Die Entstehung der Situation 1 kann natürlich selbst wieder zum Gegenstand einer soziologischen Erklärung gemacht werden, und auch die Folgen der Situation 2 könnten ihrerseits erklärt werden – wenn man das will. Die Methode des Vorgehens bleibt dabei die gleiche. Auf diese Weise lassen sich auch soziale Prozesse erklären und soziale Gebilde und komplexe
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Der weiteste denkbare Makrokontext des Verhaltens der individuellen Akteure und der sozialen Gebilde bzw. Interaktionssysteme ist die Gesellschaft. Die ist ihrerseits eventuell in weitere, etwa supranationale Zusammenhänge anderer Gesellschaften eingebettet. Lediglich die Weltgesellschaft – als Zusammenfassung aller sozialen Systeme dieser Erde – hätte keine weitere soziale Umgebung mehr, in die sie selbst eingebettet wäre. Die Weltgesellschaft stellt so die oberste denkbare Grenze der Makroebene des sozialen bzw. historischen Geschehens dar. Die Interaktionssysteme bzw. sozialen Gebilde, in denen die Akteure in ihrem Alltag handeln – Familie, Verwandtschaft, Arbeitsgruppe, Freizeitgemeinschaft – , sind die für die Akteure jeweils unmittelbar bedeutsamen sozialen Umgebungen. Die Aufgabe der Soziologie Die schwierigste, die wichtigste und die „eigentliche“ Aufgabe der Soziologen steckt bei allen Varianten einer soziologischen Erklärung in der Modellierung der Schritte 1 und 3: Die Beschreibung der Logik der Situation und die Ableitung der kollektiven Folgen. Hier müssen explizite Regeln und präzise Hypothesen angegeben werden. Dazu muß es aber auch bestimmte Variablen und eine präzise Regel für den Schritt 2 geben. Anders gesagt: Für die Formulierung der Brückenhypothesen und für die Benennung der Transformationsregeln muß eine bestimmte Theorie des Handelns benannt werden. Denn wie sollten sonst die Situation mit den Akteuren, die Akteure mit dem Handeln und das Handeln mit den kollektiven Folgen „logisch“ verbunden werden können? Es reicht – bei weitem! – nicht aus, zu sagen daß hier beispielsweise Normen oder Anreize oder Symbole „irgendwie“ bedeutsam wären. Man muß immer auch sagen können wie diese Größen zusammenwirken und wie sie nach welcher allgemeinen Regel in unterschiedlichen Gewichtungen zu einem bestimmten Handeln führen. Und dazu muß eine Selektionsregel genannt werden, die präzise angibt, unter welchen Bedingungen der unabhängigen Variablen einer bestimmten Handlungstheorie welches Handeln auftreten wird.
Insofern ist es keineswegs gleichgültig, ob und welche Theorie des Handelns für die Logik der Selektion gewählt wird: Von ihr hängt ab, wie und wie gut – und sogar: ob überhaupt – die Schritte 1 bis 3 getan werden können. Und allein deshalb sind nicht alle Handlungstheorien für soziologische Erklärungen geeignet. Aus Gründen, die im Verlaufe dieses Bandes noch nachhaltig deutlich werden, halten wir die Theorie des rationalen Handelns – mit gewissen Modifikationen gegenüber allzu einfachen Versionen dieser Theorie – für die einzige, für soziologische Erklärungen taugende Handlungstheorie. Das macht sie auch dann zur Handlungstheorie der Wahl, wenn es mit ihr einige Schwierigkeiten geben sollte. Den Grund nennt diese Theorie selbst: Wenn es keine bessere
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Alternative gibt, wäre es sehr unvernünftig, eine noch schlechtere Wahl zu treffen. Die Theorie des rationalen Handelns ist – wenigstens! – das geringere Übel gegenüber den sonst noch angebotenen Alternativen oder – gar – gegenüber der Perspektive, daß gar keine erklärende Handlungstheorie verwandt wird.
Ansonsten hat die Soziologie zur Logik der Selektion des Handelns nicht viel zu sagen: Soziologie ist keine Psychologie. Freilich sollte sie sich schon darüber belehren lassen, wie die Selektion des Handelns empirisch verläuft und welche nomologischen Regeln es dabei gibt. Aber das zu untersuchen ist eigentlich nicht ihre Aufgabe. Und solange sich die Psychologen untereinander und mit den Ökonomen nicht haben einigen können, welche Theorie des Handelns die bessere ist, kann sich die Soziologie getrost diejenige aussuchen, die sie für ihre Zwecke für die geeignetste ansieht. Abnehmende Abstraktion Jede soziologische Erklärung ist ein theoretisches Modell und daher kein unmittelbares Abbild der sog. Wirklichkeit. Deshalb handelt es sich immer um eine Vereinfachung. Es geht gar nicht anders. Diese Vereinfachung bezieht sich auf alle drei Schritte und auf alle Ebenen der Erklärung. Für eine erklärende Modellierung empfiehlt es sich daher sehr, die Logik der Situation zunächst möglichst typisiert und aus einer „objektiven“ Sicht heraus zu beschreiben. In der Logik der Selektion sollte immer erst die denkbar einfachste Handlungstheorie ausprobiert werden – etwa die, daß Menschen zwar alle möglichen Motive haben, aber letztlich nur das tun, was möglich und situationsgerecht ist. Und auch bei der Logik der Aggregation sollten zunächst nur ganz einfache Annahmen gemacht werden – einfache mathematische oder statistische Transformationen oder stilisierte Modelle sozialer Prozesse beispielsweise.
Die Kunst besteht eben nicht in der Beschreibung der bunten Vielfalt der realen Welt, sondern in dem abstrahierenden Sehen einfacher und typischer Strukturen in dieser realen Welt. Die Soziologie ist zwar eine „Wirklichkeitswissenschaft“, aber nicht in dem Sinne, daß sie die „wirkliche“ Wirklichkeit zu erfassen hätte. Einfache Annahmen und Modelle sind aber notwendigerweise immer unrealistische und abstrakte Angelegenheiten. Wenn mit ihnen die Erklärung gelingt, dann ist das Ziel erreicht – auch wenn man weiß, daß die Modellierung in Teilen falsch, weil gewollt „abstrakt“ ist. Manchmal will jedoch eine Erklärung mit den abstrakten Annahmen nicht gelingen. Und dann kann sich herausstellen, daß die Vereinfachungen zu heroisch waren, und daß – deshalb! – die Erklärung nicht gelungen ist. Groß ist in solchen Fällen die Versuchung, die Annahmen einfach der Realität „anzupassen“, so daß nun die Erklärung gelingt: Statt der objektiven Situation sollen nun die subjektiven
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Einschätzungen erhoben werden; statt einer einfachen Theorie des situationsgerechten, rationalen Handelns werden jetzt verschiedene andere „Typen“ des Handelns – etwa das wertrationale, das affektuelle und das traditionale Handeln – angenommen und einer davon ausgesucht; statt einer analytisch-mathematischen Aggregation muß es jetzt eine Computer-Simulation zur Ableitung der „chaotischen“ aggregierten Folgen sein – und so weiter.
Das alles ist nicht verboten, wenn es denn der Wahrheitsfindung dient, wenn die neuen Annahmen wirklich zutreffender sind und wenn jetzt die Erklärung gelingt. Aber diese Annäherung an die „Realität“ hat einen hohen Preis: Man erkauft sich den stärkeren Realitätsgehalt des Modells mit einer meist rasch anwachsenden Unübersichtlichkeit der Erklärung. Gute Erklärungen sind aber immer auch einfache Erklärungen. Kurz: Es gibt einen payoff zwischen Einfachheit und Realitätsnähe des Modells.12 Und das heißt: Der Forscher muß immer selbst eine neue Entscheidung darüber treffen, wie tief in die Tiefe der subjektiven Mikrosituation seine Tiefenerklärung gehen soll. Die Strukturierung der Strukturen So schwierig ist das Problem der vereinfachenden Modellierung bei den meisten soziologischen Erklärungen – Gott sei Dank! – dann aber auch wieder nicht. Das Handeln der Menschen und dessen strukturelle Konsequenzen folgen ja nicht irgendwelchen ideosynkratischen und schwankenden Motiven, sondern den objektiven Strukturen der sozialen Situation. Und die festzustellen, ist nicht gar so schwierig wie das aussichtslose Unterfangen, in die innere Unendlichkeit der ca. sechs Milliarden Seelen lebendiger, wirklicher Menschen zu sehen. Oder, um es mit einem berühmten Satz von Karl Marx zu sagen: „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.“13
Kurz: Es kommt in der soziologischen Erklärung vor allem auf die Analyse der sozialen Strukturen an, denen sich die Akteure in der Situation gegenübersehen. Inhaltlich am präzisesten hat den Gedanken der Makro-Mikro-MakroSituationslogik als Analyse der Strukturierung von Situationen, Handlungen
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Vgl. insbesondere Siegwart Lindenberg, Die Methode der abnehmenden Abstraktion: Theoriegesteuerte Analyse und empirischer Gehalt, in: Hartmut Esser und Klaus G. Troitzsch (Hrsg.), Modellierung sozialer Prozesse, Bonn 1991a, S. 29-78.
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Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: Marx-Engels-Werke, Band 8, Berlin 1960, S. 115.
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und Handlungsfolgen wohl der uns bereits wohlbekannte Robert K. Merton formuliert. Er hat das zu einer Zeit getan, in der sich die makro- und mikrosoziologischen Ansätze noch ganz unverbunden gegenüberstanden. Sein Werk kann als eine frühe Überwindung dieses unfruchtbaren Gegensatzes und als eine Wiederanknüpfung an jene zeitweise vergessene Theoriekonzeption angesehen werden, die diesen Gegensatz noch nicht kannte.14 In seinem Kern besteht das Grundkonzept der strukturtheoretischen Erklärung sozialer Prozesse bei Merton – wen wird es wundern? – ebenfalls aus drei Schritten. Dies ist erstens die Analyse der sozialen Strukturierung der verfügbaren Alternativen, der Motive und des Wissens der Akteure aufgrund der institutionellen Definition der Situation. Auf diese Weise wird zweitens das Handeln der Akteure festgelegt. Es ist keine gänzlich freie Wahl, sondern eine strukturierte Selektion aus dem Satz der bereits strukturell vorsortierten Optionen. Und drittens sind dadurch die – oft verdeckten – Effekte des Handelns ebenfalls strukturiert: die – meist unintendierten, latenten – strukturierten Folgen der manifest oft ganz anderen Absichten der Menschen.
Der für unsere Zwecke wichtigste Hinweis aus den Überlegungen von Merton ist, daß es der Soziologie in ihren Erklärungen eben nicht auf alle Ideosynkrasien einzelner Akteure ankommen kann, sondern vor allem auf die strukturierte „Definition“ der Situation und auf die strukturierte Logik aller weiteren Abläufe – just so, wie er das für den zwangsläufigen Zusammenbruch der Last National Bank vorexerziert hat, bei dem es ja auch nicht auf die Charaktere der Einzelakteure ankam. Von diesen Strukturen – und eben nicht von den vieltausendfachen psychischen Dispositionen der mittlerweile an die sechs Milliarden Menschen dieser Erde – geht die Erklärung der sozialen Prozesse im Modell der soziologischen Erklärung aus. Die Einzelmenschen, ihre psychischen Dispositionen und ihre Schicksale interessieren die Soziologie – zumeist jedenfalls – also nicht. Einzelpersonen werden erst dann wichtig, wenn sie aufgrund spezieller Umstände Situationen nachhaltig und folgenträchtig strukturieren können. Das gibt es ohne Zweifel auch. Hitler oder Gandhi, wohl auch Gorbatschow, wären Beispiele dafür. Der soziologische Normalfall ist es nicht. Aber selbst dann ist die soziologische Analyse gefragt: Was war an den Situationen derart strukturiert, daß diesmal die psychischen Ideosynkrasien von Einzelmenschen so folgenreich werden konnten? Und zwar: strukturell folgenreich! 14
Vgl. insbesondere: Robert K. Merton, Social Theory and Social Structure, 11. Aufl., New York und London 1967; Vgl. auch die Zusammenfassung der theoretischen Überlegungen Mertons bei Arthur L. Stinchcombe, Merton‘s Theory of Social Structure, in: Lewis A. Coser (Hrsg.), The Idea of Social Structure. Papers in Honor of Robert K. Merton, New York u.a. 1975, S. 11-33.
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Das Konzept der Situationslogik Die Vorstellung einer unverrückbaren Eigengesetzlichkeit des Verhaltens sozialer Systeme, entstanden aus einer inneren „Logik“ der Situation, der die Akteure auch mit ganz unterschiedlichen psychischen Motiven folgen, wird auch als das Konzept der Situationslogik bezeichnet. Der Ausdruck stammt von Karl R. Popper.15 Er hat damit versucht, der Soziologie eine ihm sehr wichtig erscheinende eigene Aufgabe zuzuteilen. Insbesondere wollte Popper die Soziologen davor warnen, sich auf die schwankenden Motive der Menschen bei ihren Erklärungen zu stützen: Die Soziologen müßten sich davor hüten, die sozialen Prozesse und Institutionen ausschließlich aus psychischen Antrieben, personenbezogenen Beweggründen, bestimmten inneren Bedürfnissen oder dem bloßen Handeln der Menschen zu erklären zu suchen. Der Rückgang auf die psychischen Motive der menschlichen Akteure sei überflüssig und sogar irreführend. Eine selbstbewußte, autonome Soziologie müsse stattdessen die „Logik der sozialen Situation“ untersuchen. Popper beruft sich dabei auf einen der seiner Meinung nach ersten wirklichen Soziologen, der die Strukturen der Gesellschaft ernst nahm – und eben nicht glaubte, daß das gesellschaftliche Geschehen eine unmittelbare Folge der Triebe oder der Motive oder des „Geistes“ der Menschen wäre: Karl Marx. Marx hatte den interessanten Gedanken geäußert, wonach das gesellschaftliche Sein – die „Struktur“ der Gesellschaft also – das individuelle Bewußtsein bestimme – und eben nicht umgekehrt. Popper wendet sich unter ausdrücklicher Berufung auf dieses Epigramm von Marx gegen den von ihm so genannten Psychologismus, wonach die Gesellschaft ein Produkt der bewußten Planung der Menschen sei und wonach die gesellschaftlichen Institutionen das unmittelbare Ergebnis von „ ... Beweggründen sein müssen, die dem Bewußtsein individueller Menschen entspringen.“ (Ebd., S. 114) Die Gegenposition zum Psychologismus ist für Popper das Konzept der institutionellen Analyse einer von der Psychologie autonomen Soziologie. Sie wird so begründet: „Gegen diese These des Psychologismus können die Verteidiger einer autonomen Soziologie institutionalistische Ansichten vorbringen. Sie können zuallererst darauf verweisen, daß sich keine Handlung je durch Beweggründe allein erklären läßt; wenn Beweggründe (oder andere psychologische oder behavioristische Begriffe) in einer Erklärung Verwendung finden sollen, dann müssen sie durch eine Bezugnahme auf die allgemeine Situation, und insbesondere auf die Umgebung, ergänzt werden. Im Falle menschlicher Handlungen ist diese Umgebung hauptsächlich eine soziale; somit lassen sich unsere Handlungen nicht ohne Berücksichtigung unserer sozialen Umgebung, sozialer Institutionen und ihrer Funktionsweise erklären.“ (Ebd.; Hervorhebung im Original) 15
Karl R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Band 2: Falsche Propheten. Hegel, Marx und die Folgen, 5. Aufl., München 1977 (zuerst: 1945), S. 114.
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Zur Erklärung der unentrinnbaren Eigendynamik sozialer Prozesse nimmt Popper an, daß sich drei Elemente zu einer übergreifenden sozialen Logik zusammenschließen ließen: die institutionelle Logik der Situation, die Logik des, wie Popper sagt, situationsgerechten Handelns unter diesen Bedingungen und die unentrinnbare Logik der unintendierten Folgen. Die institutionelle Definition der Situation strukturiert und steuert die Alternativen, die Interessen und die Erwartungen der Akteure. Die Selektionsregel des situationsgerechten „rationalen“ Handelns überträgt diese institutionelle Logik der Situation unmittelbar auf die Selektion des Handelns. Und die unintendierten Effekte des Handelns sorgen für die verläßliche Umsetzung der Handlungen in gut vorhersagbare kollektive Folgen – gerade so wie das Robert K. Merton in seiner Analyse des Zusammenbruchs der Last National Bank gezeigt hat. Und die Einheit der drei Elemente macht für Popper das Konzept der Situationslogik aus. Die Idee der Situationslogik befreit nach Popper die Analysen der Soziologie vom immer schwankenden Grund der menschlichen Psychen. Das menschliche Bewußtsein und die Bedürfnisse der Menschen seien eine viel zu unsichere Grundlage der Analyse der sozialen Prozesse: „Anstatt soziologische Überlegungen auf die scheinbar feste Grundlage der Psychologie der menschlichen Natur zurückzuführen, könnten wir sagen, daß der menschliche Faktor das letztlich ungewisse und unberechenbare Element im gesellschaftlichen Leben und in allen sozialen Institutionen ist. In ihm haben wir wirklich das Element vor uns, das letztlich von den Institutionen nicht vollkommen beherrscht werden kann.“16
Die Situationslogik ist demgegenüber ein objektiver Hintergrund der Dialektik von Mensch und Gesellschaft. Damit hat sich die Soziologie zu befassen, nicht mit den psychischen Ideosynkrasien einzelner lebendiger Menschen. Die Psychologen und die Psychoanalytiker müssen ja schließlich auch noch etwas zu tun haben. Die Autonomie der Soziologie Die objektiv-verstehende Rekonstruktion der Logik der Situation, die Rekonstruktion der „objektiven Hermeneutik“ des Handelns der Menschen also, ist damit das Grundinstrument der soziologischen Analyse. Daraus ergibt sich die Möglichkeit, sogar die Notwendigkeit einer eigenständigen, einer autonomen Soziologie, die eben nicht versucht, die sozialen Prozesse auf eine „ ... psy16
Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, 4. Aufl., Tübingen 1974a (zuerst: 1960), S. 124; Hervorhebungen im Original.
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chologische oder behavioristische Analyse unserer Handlungen zu reduzieren.“ (Popper 1977, S. 114) Im Gegenteil: Das individuelle Bewußtsein ist die Folge des institutionell geprägten und von der Eigenlogik der Situation erzeugten gesellschaftlichen Seins. Daher „ ... setzt jede solche (psychologische; HE) Analyse die Soziologie voraus, und diese kann daher von der psychologischen Analyse nicht völlig abhängen. Die Soziologie, oder zumindest ein sehr wichtiger Teil der Soziologie, muß autonom sein.“ (Ebd.; Hervorhebungen nicht im Original)
Es ist nicht schwer, zu sehen, daß das Konzept der Situationslogik der Grundidee und den drei Schritten des Modells der soziologischen Erklärung weitgehend entspricht. Es ist das Vorgehen, das die Soziologie immer schon gekennzeichnet hat: die Analyse der besonderen „Logik“ der Situation. Weder Kollektivismus noch Psychologismus Das Konzept der Situationslogik wie das Modell der soziologischen Erklärung befassen sich mit dem Prozessieren von sozialen Systemen und Gebilden ganz allgemein: Gesellschaften wie alle anderen darin einbeschlossenen Kollektive und Vorgänge. Die sozialen Systeme und Gebilde entstehen, bestehen und wandeln sich nach diesen Konzepten nur als externer Effekt der – oft sehr kurzsichtigen – Versuche der Menschen, ihre alltäglichen Probleme zu lösen. Gelegentlich kann es aber empirisch so scheinen, als hätten die sozialen Systeme, Gebilde und Prozesse ein Eigenleben jenseits des Handelns der Menschen – und als gäbe es irgendwelche „Gesetze“ der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung „oberhalb“ des Agierens menschlicher Akteure. Diese Auffassung wird auch als Kollektivismus bezeichnet. Über das Modell der soziologischen Erklärung wird klar, warum der Kollektivismus ein Fehlschluß ist: Nicht die sozialen Gebilde „sui generis“ treiben den Prozeß voran und geben ihm seine Dynamik, sondern die Akteure, deren Probleme und Situationssichten, das daraus folgende Handeln und die daraus entstehenden Folgen. Das gilt jenseits der oben bereits genannten Probleme der Unvollständigkeit und der Sinnlosigkeit aller derartiger strikt makrosoziologischer Konzepte. Neben dem Kollektivismus gibt es die – gewissermaßen spiegelbildliche – Annahme, wonach die – von den sozialen Situationen unabhängig gedachten – psychischen Dispositionen der menschlichen Akteure es letztlich sind, die die Menschen zu ihrem Handeln bringen und so die sozialen Prozesse vorantreiben. Diese Auffassung ist der eben dargestellte Psychologismus, gegen den sich Karl R. Popper verständlicherweise so vehement wandte. Mit dem Modell der soziologischen Erklärung wird unmittelbar klar, warum auch der Psy-
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chologismus ein Fehlschluß wäre: Nicht die psychischen Dispositionen der Akteure und das Handeln alleine – der Schritt 2 also im Modell der soziologischen Erklärung – bewirken und erklären die kollektiven Folgen, sondern erst die Situationslogik der objektiven Bedingungen, des situationsgerechten Handelns und der unintendierten Folgen – die Schritte 1, 2 und 3 eben als Einheit eines Erklärungsargumentes. Kurz: Der Kollektivismus ist ungeeignet, weil es keine Gesetze auf der kollektiven Ebene gibt, und der Psychologismus taugt nicht, weil er die Situationsgebundenheit der psychischen Dispositionen und das Aggregationsproblem ignoriert. Strukturtheoretischer Individualismus Trotz der Ablehnung des Psychologismus bleiben die Idee der Situationslogik und das Modell der soziologischen Erklärung theoretisch auf das Handeln von Individuen bezogene Konzepte. Das klingt widersprüchlich, ist aber leicht zu verstehen: Die Modellierung der Strukturen der Situation und die Erklärung des Handelns geschehen – wegen der Forderung nach einer Tiefenerklärung – zwingend in der Sprache einer Theorie des Handelns von individuellen Akteuren. Ausgangspunkt und Ziel sind aber stets die Strukturen. Aber die Ableitung der kollektiven Effekte schließt notwendigerweise die individuellen Effekte des Handelns mit ein, wenngleich sie darüber auch stets hinausgeht. Dieses Konzept der Erklärung kollektiver Sachverhalte unter Rückgriff auf das durch Situationen strukturierte Handeln von individuellen Akteuren wird auch als Methodologischer Individualismus bezeichnet. Der Ausdruck Methodologischer Individualismus stammt – wie der der Situationslogik und der des Psychologismus – von Karl R. Popper. Damit meinte er – wenn nicht im Anschluß, so doch in Übereinstimmung mit Max Weber – jene Auffassung, „ ... daß wir nie mit einer Erklärung auf Grund sogenannter ‚Kollektive’ (Staaten, Nationen, Rassen usf.) zufrieden sein dürfen.“ (Ebd., S. 124) Popper hat insbesondere auf den wichtigen Unterschied zwischen Methodologischem Individualismus und dem Psychologismus hingewiesen: Der Psychologismus beachte nur die „privaten“ Motive und Kenntnisse der Menschen, während der Methodologische Individualismus die soziale Prägung dieser Motive und Kenntnisse in den Mittelpunkt stelle, gleichwohl aber stets davon ausgehe, daß die Dynamik des sozialen Geschehens letztlich in den Entscheidungen individueller menschlicher Akteure verankert sei. Popper ist – wenn man so sagen will – ein situationslogischer, ein strukturtheoretischer,
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ein soziologischer, aber eben kein psychologistischer Individualist. Letzteres würde er sich sehr verbeten haben. Die Grundlagen der Soziologie Der Methodologische Individualismus ist – in der Konkretisierung des Modells der soziologischen Erklärung – das Konzept, das die Vorstellung von der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit als Theorieprogramm systematisieren kann. Das Konzept beruht auf einer alten Idee, die Adam Smith und Max Weber, sowie – wie wir gesehen haben: in Teilen wenigstens – auch Karl Marx schon hatten. Es widerspricht nachhaltig den einseitigen Doktrinen des Kollektivismus wie denen des Psychologismus. Der Methodologische Individualismus überwindet sie beide. Er geht von den Strukturen aus, denen das Handeln der Akteure in strukturierter Weise folgt, und kehrt dorthin wieder zurück. Deshalb wird der Ansatz manchmal auch Strukturtheoretischer Individualismus genannt. Wer das Konzept verstanden hat, wird die Bezeichnung nicht als irritierend oder gar als widersprüchlich empfinden. Es ist das Programm einer autonomen, aber gleichwohl zu anderen Disziplinen der Gesellschaftswissenschaften offenen und anschlußfähigen, einer erklärenden und gleichzeitig verstehenden Soziologie, einer, die das Tun der Akteure und die Wirksamkeit der Strukturen gleichermaßen ernst nimmt. Das Konzept ist die Grundlage der erklärenden Soziologie.
Kapitel 1
Situation und Situationsanalyse
Die 60er Jahre waren weltweit die Zeit der Studentenbewegung gegen das Establishment und den Muff der 1000 Jahre auch der Professoren. Dabei trat an den amerikanischen Universitäten ein zunächst seltsam anmutendes Phänomen auf: Die Studentenproteste fanden nicht – wie wohl eigentlich zu erwarten gewesen wäre – an den schlechteren und wirklich muffigen Universitäten statt, sondern gerade an denen mit dem besten Ruf. Die Frage lautet sofort: Wie ließe sich diese – wenigstens auf den ersten Blick – erstaunliche Korrelation zwischen der Reputation der Universität und dem Ausmaß des studentischen Protestes erklären? Also: Warum gab es die Revolte beispielsweise in Berkeley und nicht – sagen wir einmal – in Tallahassee? Ad-hoc-Erklärungen für den Zusammenhang sind wohlfeil. Eine auch aus den Selbstbekundungen der Studenten damals ableitbare, am „Bewußtsein“ der Studenten anknüpfende Erklärung könnte etwa so lauten: Die Studenten an den besseren Universitäten waren auch die moralisch besseren Studenten, nämlich: ausgestattet mit einem höheren Maß an kritischem Bewußtsein, das es dann vor allem war, was die Studentenproteste an den Elitehochschulen beflügelte. Einer der Ausgangspunkte des soziologischen Denkens ist aber die Skepsis über moralische Motive – wenigstens für das Handeln der Alltagsmenschen und dann, wenn es sich um soziale Prozesse handelt, von denen auch weitere Teile einer Bevölkerung erfaßt werden, bei denen die Heiligen und die Verrückten noch etwas seltener werden, als sie es ohnehin schon sind.
Die entsprechende skeptische Frage wäre dann: Warum wenden sich gerade die Studenten aus den besseren Kreisen gegen eine der wichtigsten Institutionen, der sie selbst – kurzfristig wie langfristig – die Sicherung ihrer privilegierten Stellung verdanken? Ist der moralische Altruismus des kritischen Bewußtseins für die Massivität der Proteste nicht eine etwas schwache und – gerade mit Karl Marx, auf den sich damals viele der Studenten auch berufen haben, gedacht – nicht auch eine etwas sehr idealistische Erklärung, der eigentlich jede reale „Basis“ fehlt? Wie kommt es, daß die Bewegung auch Teile der Studenten erfaßt hat, die ohne Zweifel weniger reflektiert und kritisch gesonnen waren als die Wortführer?
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Situationslogik und Handeln
Mit dem Hinweis auf die überlegene Moral der Elitestudenten kommt man also nicht recht weiter. Soziologen sollten aber auch nicht nur einfach die Frage stellen, die sich jeder Kriminalkommissar angesichts eines rätselhaften Falles zuerst vorlegt: cui bono? Soziologen fragen anders. Nämlich: Über welchen Prozeß der Verkettung von Handlungsabläufen und externen Effekten wird das zu erklärende Problem verständlich? Die Frage nach der Erklärung des Zusammenhangs zwischen der Reputation der Universität und dem Ausmaß des Studentenprotestes ähnelt zunächst der, wie sie sich oft bei der kausalen Interpretation statistischer Korrelationen zwischen einer unabhängigen und einer abhängigen Variablen durch die Annahme von intervenierenden Variablen stellt: Welche intervenierenden kausalen Schritte stellen die Verbindung zwischen der Reputation der Universitäten und dem Protestverhalten der Studenten her? In einer vereinfachenden Rekonstruktion ließe sich etwa der folgende Wirkungszusammenhang annehmen:1 Die Universitäten mit der höheren Reputation (R) haben, gerade weil sie bereits einen guten Ruf besitzen, Professoren mit einem besonderen Ansehen rekrutieren können (A). Professoren mit höherer Reputation tendieren aber noch mehr als ihre weniger bekannten Kollegen dazu, ihre Zeit in die Forschung zu investieren als in die Lehre. Ihr überlokaler Ruf beruht ja darauf, daß sie exzellente Forscher sind (F). Die Konzentration auf die Forschung erzeugt bei diesen Professoren eine eher überlokale, eine kosmopolitische Orientierung und eine Vernachlässigung der lokalen Aktivitäten (C). Durch die damit verbundene Vernachlässigung der lokalen, inneruniversitären Angelegenheiten und insbesondere der Lehre im Grundstudium kam es an den besseren Universitäten zu einer massiven Unterbetreuung und Vernachlässigung der Belange der Studenten (V). Diese Vernachlässigung erzeugte bei den Studenten eine nachhaltige Unzufriedenheit (U), die gerade deshalb um so stärker war, als die Erstsemester-Studenten aus den besseren Kreisen wegen der Vernachlässigung um ihre Wettbewerbschancen und um die Sicherung ihrer privilegierten Position fürchten mußten. Und auf der Grundlage dieses Frustrationspotentials – und einiger spezieller Bedingungen der damaligen Zeit, sicher dann auch teilweise aufgrund eines besonderen kritischen Bewußtseins und moralischer Empörung über andere, weiterreichende Ungerechtigkeiten der bürgerlichen Universitäten – kam es schließlich zu den Protesten an den besonders angesehenen Universitäten (P).
In einem vereinfachenden Diagramm läßt sich dieser Zusammenhang wie in Abbildung 1.1 zusammenfassen.
1
Das Beispiel folgt der Analyse der institutionellen Situation der amerikanischen Universitäten durch Raymond Boudon im Anschluß an einige Ideen von Peter M. Blau. Raymond Boudon, Die Logik des gesellschaftlichen Handelns. Eine Einführung in die soziologische Denk- und Arbeitsweise, Neuwied und Darmstadt 1980, S. 61f.; Peter M. Blau, Structural Constraints and Status Complements, in: Lewis A. Coser (Hrsg.), The Idea of Social Structure. Papers in Honor of Robert K. Merton, New York u.a. 1975, S. 123ff.
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Situationslogik und Handeln
fendes und kausales „Gesetz“ erscheinen kann? Es ist die Frage nach der „Definition“ einer bestimmten „Logik“ der Situation. Die Situationsmethode Die Analyse der strukturellen Logik einer Situation ist die Grundlage jeder soziologischen Erklärung. Sie wird auch als Situationsanalyse (oder Situationsmethode) bezeichnet. Sie ist der Kern des soziologischen Denkens immer gewesen – beispielsweise bei Adam Smith, bei Karl Marx, bei Emile Durkheim und bei Max Weber: Nicht biologische Triebe, nicht das Klima, nicht die Jahreszeiten oder der Vollmond, nicht die guten oder bösen Absichten, nicht das Bewußtsein, nicht die psychischen Dispositionen, nicht die Regungen des Unterbewußten, kein „objektiver“ Geist und auch keine übermenschlichen Kräfte oder finstere Verschwörer bringen die sozialen Phänomene hervor, sondern das an Situationen orientierte und – meist unbeabsichtigt – Situationen neu schaffende und dadurch wieder strukturierte Handeln der Menschen. Der amerikanische Soziologe William I. Thomas (1863-1947) hat die Bedeutung der Situationsmethode ganz besonders betont. Er kann als ihr Erfinder angesehen werden, obwohl sie – wie erwähnt – der Kern des soziologischen Denkens immer schon gewesen ist. Die Situationsanalyse zielt auf die Untersuchung der typischen Anpassungen der Akteure an die aktuell gegebene äußere Situation angesichts eines jeweils vorliegenden Repertoires an inneren Tendenzen und Zielen des Handelns, die der Akteur vorher kulturell erworben oder biologisch geerbt hat. Im Prinzip ist – so William I. Thomas – das Vorgehen bei einer Situationsanalyse nicht viel anders als das der experimentell arbeitenden Naturwissenschaften, die ja auch die Änderung des „Verhaltens“ ihrer mit gewissen inneren Dispositionen versehenen Objekte in Abhängigkeit experimentell variierter Bedingungen untersuchen: „Eine Untersuchung der konkreten Situationen, in welche der einzelne gerät, in die er hineingezwungen wird oder die er selbst schafft, zeigt sein Anpassungsstreben und die Vorgänge der Anpassung. Die Situationsstudie, das Verhalten in der Situation, die Veränderungen der Situation und die darauf beruhenden Veränderungen des Verhaltens stellen die größte Annäherung an das Experiment dar, die der Sozialwissenschaftler erreichen kann.“2
2
William I. Thomas, Das Verhältnis der Forschung zur sozialen Wirklichkeit, in: Edmund H. Volkart (Hrsg.), William I. Thomas. Person und Sozialverhalten, Neuwied und Berlin 1965a (zuerst: 1951), S.123; Hervorhebungen nicht im Original.
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In seiner presidential address vor der American Sociological Society von 1927 faßt Thomas einige der damals wohl aufsehenerregenden Ergebnisse der Situationsanalyse des sozialen Handelns zusammen.3 Vielleicht klingen diese Ergebnisse heute etwas angestaubt und fast schon trivial. Sie beleuchten aber die Logik der Situationsanalyse sehr deutlich, eine Methode, die für das soziologische Denken so selbstverständlich geworden ist, daß man kaum noch besonders darüber spricht. Thomas berichtet u.a. von Untersuchungen mit Kindern, die schon in frühestem Alter in ihren Reaktionen sehr deutlich von der Situation geprägt waren, in der sie sich jeweils befanden. Er erwähnt u.a. Untersuchungen zu den sozialen Bedingungen der Entwicklung der Intelligenz: „Wenn zwei miteinander nicht verwandte Kinder in derselben Familie aufgezogen werden, vermindern sich die Intelligenzunterschiede, wenn aber Geschwister in verschiedenen Familien untergebracht sind, so vergrößert sich der Intelligenzunterschied.“ (Ebd., S. 93)
Hysterien und andere Psychopathologien scheinen – so Thomas – oft nichts anderes zu sein als eine familieninterne Mode, die in der Situation der Familie massiv auftritt, außerhalb dieser Situation aber sofort verschwindet: Hypochondrische Kinder etwa, die in eine andere Umgebung kamen, verloren ihre Neurose und bekamen sie in dem Moment wieder, in dem sie zu ihrer Familie zurückkehrten (ebd., S. 93f.). Thomas berichtet auch von einer gewissen Miss Caldwell, die „ ... hauptsächlich italienische Kinder beobachtet und die erstaunliche Feststellung gemacht (hat), daß ein Kind daheim trotzig, zerstörungswütig und negativistisch sein kann, während es sich im Kindergarten verhältnismäßig ordentlich benimmt.“ (Ebd., S. 92)
Den Gedanken der Situationsanalyse hat Thomas insbesondere für die Erklärung von Kriminalität und von abweichendem Verhalten allgemein angewandt. Er zitiert seine Kollegen Ernest W. Burgess und Clifford Shaw, die festgestellt hatten, daß die Verbrechenshäufigkeit in verschiedenen Stadtvierteln von Chicago deutlich variierte. Beispielsweise fanden sie, daß in den sog. Zwischenraum-Zonen – entlang der Eisenbahnlinien und zwischen den besseren Stadtvierteln – die männlichen Jugendlichen fast zu hundert Prozent kriminell waren, während in anderen Stadtvierteln fast überhaupt keine Kriminalität auftrat (ebd., S. 95f.). Thomas erklärt diese Unterschiede aus den über die Stadtteile und räumlichen Zonen unterschiedlich verteilten situationellen Möglichkeiten, ein rechtschaffenes Leben zu führen oder andere Mittel suchen zu müssen, über die dann erst die wichtigen Ziele des Lebens erreicht werden 3
William I. Thomas, Präsidentschaftsansprache vor der Amerikanischen Soziologischen Gesellschaft, in: Edmund H. Volkart, William I. Thomas. Person und Sozialverhalten, Neuwied und Berlin 1965b (zuerst: 1951), S. 88-99.
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können. In ähnlicher, auf die Situation bezogener Weise, erklärt er auch die extrem hohen Rückfallraten bei einmal straffällig gewordenen Jugendlichen: Wenn sich die grundlegende Situation, die zur Straffälligkeit geführt hat, nicht ändert, dann sorgt die Verurteilung eher noch zu einer Verschärfung des Ausschlusses von den legitimen Möglichkeiten des Handelns und führt so erst zu jener offenbar unerbittlichen „Logik“ einer lebenslangen kriminellen Karriere, die Hans Fallada den Stoff zu seinem Roman „Wer einmal aus dem Blechnapf fraß“ gegeben hat: „So kann man das erste Auftreten vor Gericht nicht als den Beginn einer Besserung ansehen, sondern es scheint für viele jugendliche Angeklagte eine Art Konfirmation oder Diplomverleihung für den Beginn eines kriminellen Lebensweges zu sein.“ (Ebd., S. 97)
Auch die Formen der Anpassung, der Assimilation und der Akkulturation von Einwanderern in die Großstädte der Vereinigten Staaten versuchte Thomas so zu erklären: Eben nicht als unverständliche und irrationale Pathologie, sondern als innerhalb der verbliebenen Möglichkeiten sinnhafte, intelligente und nach neuen Wegen suchende, aber auch dauerhaft anwendbare Lösung von Problemen der Gestaltung des Alltags. William I. Thomas war einer der Mitbegründer der sog. Chicago-Schule der Soziologie. Die Chicago-Schule war aus der Beschäftigung mit den Problemen der Einwanderer-Gemeinden in den Großstädten der Vereinigten Staaten in den 20er Jahren entstanden. Das monumentale Hauptwerk von Thomas – „The Polish Peasant in Europe and America“, das er gemeinsam mit seinem polnischen Kollegen Florian Znaniecki (1882-1958) verfaßt hat4 – handelt insbesondere davon. Die Hauptvertreter der Chicago-Schule waren Robert E. Park (1864-1944) und Ernest W. Burgess (1886-1966). Eine der Leitideen dieser Richtung der Soziologie war das Konzept der Sozialökologie. Damit ist die Analyse von Prozessen der gegenseitigen Anpassung von menschlichen Gemeinschaften an ihre physisch-räumliche Umwelt gemeint. Im Konkreten wurden dabei Prozesse der Entstehung von Siedlungssystemen und der internen Differenzierung von Städten, insbesondere aber die räumliche Verteilung gewisser „pathologischer“ Erscheinungen, wie Kriminalität, Prostitution und Geisteskrankheiten, sowie typische Formen der Alltagsorganisation in – zum Beispiel nach ethnischen Gruppen – segregierten Wohngebieten untersucht. Die Chicago-Schule hat einen nachhaltigen Einfluß auf die Entwicklung einer Reihe von Teilbereichen der Soziologie, insbesondere auf die Stadtsoziologie, auf die Migrationssoziologie und die Soziologie der ethnischen Minderheiten, sowie auf die Soziologie des abweichenden Verhaltens gehabt. Das Konzept der Situationsanalyse war eine ihrer theoretischen Grundlagen.
Die Logik der Situationsanalyse kann als eine für die erklärende Soziologie besonders typische Orientierung angesehen werden: Das Handeln der Menschen ist nicht durch genetische Programme, nicht durch innere Triebe, nicht durch invariable Bedürfnisse und auch nicht über eine feste „Persönlichkeit” 4
William I. Thomas und Florian Znaniecki, The Polish Peasant in Europe and America, 2 Bände, 2. Aufl., New York 1927.
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fixiert, sondern das Ergebnis einer im Prinzip immer auswählenden, intelligenten, aktiven und kreativen Anpassung der Akteure an die vorgefundenen Gegebenheiten. Genau darauf wollte Thomas vor allem hinweisen: Auch das eigenartigste Handeln findet seine Erklärung in den situationalen Umständen. Und eine Änderung des Handelns oder der gesellschaftlichen Institutionen setzt nicht so sehr eine Änderung der „Natur“ der Menschen und ihrer grundlegenden Bedürfnisse, sondern eine Änderung der Situation voraus. William I. Thomas und Florian Znaniecki schreiben beispielsweise in den methodologischen Vorbemerkungen zu „The Polish Peasant in Europe and America“: „Whatever may be the aim of social practice – modification of individual attitudes or of social institutions – in trying to attain this aim we never find the elements which we want to use or to modify isolated and passively waiting for our activity, but always embodied in active practical situations, which have been formed independently of us and with which our activity has to comply.“5
Kurz: Die „Situation“ gibt es immer schon vor den jeweils handelnden Akteuren. An ihr orientieren sich die Akteure. Und jeder Versuch, das Handeln der Akteure zu ändern, sollte diese Vorgaben tunlichst beachten. Die „Definition“ der Situation Was aber „ist“ eine Situation? Wie so viele Begriffe in der Soziologie ist auch der Begriff der Situation nicht sehr deutlich definiert.6 Von William I. Thomas wird die Situation beispielsweise als „die Gesamtheit der die Verhaltensreaktion bedingenden Faktoren“ (Thomas 1965a, S. 123) bezeichnet. Aha! In den methodologischen Vorbemerkungen zum „Polish Peasant“ findet sich die folgende, schon etwas genauere Passage: „The situation is the set of values and attitudes with which the individual or the group has to deal in a process of activity and with regard to which this activity is planned and its results appreciated.“ (Thomas und Znaniecki 1927, S. 68; Hervorhebungen nicht im Original)
Die Situation besteht danach also aus gesellschaftlich verbreiteten Werten und subjektiven Einstellungen, die die Akteure bei ihrem Tun in Rechnung stellen 5
William I. Thomas und Florian Znaniecki, Methodological Note, in: William I. Thomas und Florian Znaniecki, The Polish Peasant in Europe and America, Band 1, 2. Aufl., New York 1927a, S. 67f.; Hervorhebung im Original.
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Vgl. zu verschiedenen Definitionen des Begriffs der Situation und des Begriffs der Definition der Situation: Jürgen Markowitz, Die soziale Situation. Entwurf eines Modells zur Analyse des Verhältnisses zwischen personalen Systemen und ihrer Umwelt, Frankfurt/M. 1979, S. 21-58 insbesondere.
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Situationslogik und Handeln
müssen. Ihrer immer noch recht allgemeinen Definition des Begriffes der Situation haben Thomas und Znaniecki einen bemerkenswerten Satz hinzugefügt: „Every concrete activity is the solution of a situation.“ (Ebd.; Hervorhebung nicht im Original)
Das Handeln der Menschen ist somit der Versuch, drängende Probleme zu lösen, und zwar in Orientierung an den Vorgaben der Situation – etwa: values and attitudes. Woraus bestehen aber diese Vorgaben genau? Letztlich unterscheidet William I. Thomas in seinen zahlreichen Umschreibungen des Begriffes der Situation immer wieder zwei grundlegende Komponenten: Dem Akteur jeweils vorgegebene äußere Bedingungen und die inneren Einstellungen, die der Akteur in die Situation jeweils mitbringt. Beispielsweise zählt Thomas in einer seiner Definitionen der Situation einerseits die jeweils aktuell gegebenen sozialen Beziehungen dazu, etwa die „Institutionen und Sitten – Familie, Bande, Kirche, Schule, die Presse, den Film“, sowie die „Haltungen und Werte anderer Personen, mit denen der einzelne in Konflikt oder Zusammenarbeit steht“ (Thomas 1965a, S. 123). Aber andererseits auch das oben bereits erwähnte „ ... Repertoire von Einstellungen (Tendenzen zum Handeln) und Werten (Ziele, auf welche sich die Handlung richtet), das in jedem Fall auf den biologischen Gegebenheiten einerseits und der sozialen Formung andererseits beruht.“ (Ebd.; Hervorhebungen nicht im Original)
In den methodologischen Vorbemerkungen zum Polish Peasant hatten Thomas und Znaniecki diese Definition der Situation als Kombination von äußeren Bedingungen und inneren Einstellungen bereits sehr viel deutlicher vorgeschlagen. Danach beinhaltet eine Situation: „(1) The objective conditions under which the individual or society has to act, that is, the totality of values – economic, social, religious, intellectual, etc. – which at the given moment affect directly or indirectly the conscious status of the individual or the group. (2) The pre-existing attitudes of the individual or the group which at the given moment have an actual influence upon his behavior.“ (Thomas und Znaniecki 1927, S.68; Hervorhebungen nicht im Original)
Thomas und Znaniecki fügen diesen beiden Komponenten ein drittes Element hinzu – die „Definition der Situation“. Zur Situation gehöre als drittes „Datum“: (3) The definition of the situation, that is, the more or less clear conception of the conditions and consciousness of the attitudes.“ (Ebd.; Hervorhebungen nicht im Original)
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Damit wird ein Vorgang angesprochen, auf den praktisch sämtliche soziologische Erklärungen des sozialen Handelns immer wieder mit besonderem Nachdruck hingewiesen haben: Daß sich aus den objektiven Bedingungen der Situation und aus den erworbenen und mitgebrachten inneren Einstellungen und Zielen der Akteure das Handeln nicht unmittelbar, sondern erst über einen besonderen Zwischenschritt erklären läßt: Den Schritt einer eigenen – und zwar: subjektiven – Definition der Situation durch den Akteur. Die Situation besteht in dieser Fassung also aus den objektiv vorgegebenen Bedingungen und den subjektiven Einstellungen, die die Akteure gleichermaßen bei ihrem Tun in Rechnung stellen müssen. Die können – folgt man der Definition – „definiert“ werden. Das hört sich sehr beliebig und idealistisch an! Was ist denn mit den materiellen Bedingungen und mit den unverrückbaren Knappheiten, etwa daß gerade das Geld ausgegangen ist oder die Umwelt zugrunde zu gehen droht? Versuchen Sie einmal einer Verkäuferin die Idee von der „Definition“ der Situation beizubringen, wenn sie nicht bezahlen können. Kurz: Was ist mit den Restriktionen des Handelns?
Thomas und Znaniecki haben in der Tat die Situation etwas einseitig aus der gesellschaftlich-konstruierten und bloß subjektiven Sicht der Akteure gesehen. Und genau dieses Problem wird zu klären sein: Wie verhalten sich die materiell-objektiven und die kulturell-subjektiven Elemente der Situation zueinander? Wir gehen schrittweise vor. Das elementare System der Situation Jedes Handeln ist – letztlich – der Versuch einer Problemlösung. Das heißt aber nichts anderes, als daß Akteure immer danach streben, bestimmte Ressourcen unter Kontrolle zu bekommen, an denen sie interessiert sind: Ein Steak gegen den Hunger und zwei Bier gegen den Durst; ein geregeltes Einkommen für den Lebensunterhalt; ein Verdienstorden oder die dankbaren Augen glücklicher Kinder als Balsam für die schwarze Seele – beispielsweise. Im einfachsten Fall besteht das System einer elementaren Situation daher aus einem Akteur, aus einer Ressource und aus den beiden damit gegebenen Relationen des Interesses und der Kontrolle zwischen Akteur und Ressource (vgl. Abbildung 1.2).7
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Wir folgen in der Charakterisierung des elementaren Systems einer Situation dem Vorschlag von James S. Coleman, Foundations of Social Theory, Cambridge, Mass., und London 1990, S. 28ff.
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Der Akteur steht zu den beiden Zielen in jeweils einer Relation des Interesses: i1 und i2. Da beide von ihm kontrollierten Mittel im Prinzip geeignet sein können, jedes der beiden Ziele zu erzeugen, gibt es jetzt bereits vier Relationen der Effizienz zwischen den beiden Mitteln und den beiden Zielen: Von Mittel 1 auf die Ziele 1 und 2 die Relationen e11 und e12; und von Mittel 2 auf die Ziele 1 und 2 die Relationen e21 und e22. Leicht läßt sich ausmalen wie die Situation aussieht, wenn es m Mittel und n Ziele gibt, und wenn m und n etwas größere Zahlen sind: Es wird sehr unübersichtlich. Wahrscheinlichkeiten Oben hatten wir festgehalten, daß nicht alle Mittel gleichermaßen geeignet sind, ein bestimmtes interessantes Ziel zu erreichen: Das Mittel muß vom Akteur kontrolliert werden; und es muß für die Produktion des Zieles effizient sein. Kontrolle und Effizienz bilden als Produkt c∙e die für die Eignung des Mittels entscheidende Beziehungskette. Die darüber insgesamt vom Akteur eingeschätzte Eignung eines Mittels i zur Erreichung eines Zieles j sei als die Wahrscheinlichkeit pij bezeichnet, daß mit Hilfe des Mittels i das Ziel j erreicht werde. Der Grad der Kontrolle des Akteurs über die Mittel-Ressource i sei allgemein mit ci, die Effizienz der Mittel-Ressource i zur Produktion der Ziel-Ressource j mit eij bezeichnet. Diese Koeffizienten können Werte zwischen 0 und 1 annehmen. Die Wahrscheinlichkeit pij ist dann das Produkt aus der Kontrolle der Ressource i und der Effizienz der Ressource i zur Erzeugung der Ressource j. Es gilt also pij = ci∙eij. Ist die Kontrolle sicher und die Effizienz perfekt, dann hat pij einen Wert von 1. Wird ein Mittel nicht kontrolliert oder ist es nicht effizient, dann gilt pij = 0. Entsprechend variiert die Wahrscheinlichkeit, daß das Mittel i zum Ziele j führt, pij zwischen 0 und 1 für alle denkbaren Zwischenstufen der Kontrolle und des Risikos. Es gilt also: 0 pij 1 (vgl. dazu auch noch Kapitel 7 ausführlich).
Es kommt für die Wahrscheinlichkeiten also auf beides an: Der Akteur muß die Mittel unter Kontrolle haben. Und die gesellschaftlichen bzw. die technischen Bedingungen müssen so gestaltet sein, daß die Mittel für die Zielerreichung produktiv und effizient sind. Über diese Bedingungen wie über den Grad der Kontrolle sollte der Akteur schon Bescheid wissen, wenn er etwas erreichen will oder böse Überraschungen vermeiden möchte – wie beispielsweise beim Reiter über den Bodensee, von dem noch im Anschluß an Kapitel 2 zu berichten sein wird.
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Präferenzen Ziele strebt ein Akteur – letztlich – nur deshalb an, weil er sich davon einen Beitrag zur Reproduktion seines Organismus, zur Befriedigung seiner Bedürfnisse, allgemein also: zur Nutzenerzeugung, verspricht. Was sollte ihn eigentlich sonst bewegen? Ein Ziel ist deshalb einem Akteur um so wichtiger und um so wertvoller, je größer dessen Beitrag zur Nutzenstiftung ist. Der mögliche Beitrag eines Zieles j zur Nutzenstiftung soll als die Präferenz des Akteurs für dieses Ziel – gegenüber anderen Zielen – bezeichnet werden. Es ist der Nutzen Uj, den eine Ressource j bei einem Akteur erzeugt, wenn er sie unter Kontrolle hat. Präferenzen haben ohne Zweifel eine biologische Grundlage. Sie sind aber insbesondere auch die Folge sozialer Festlegungen dessen, was in einer Gesellschaft oder Gruppe etwas wert ist und was nicht (vgl. dazu noch Kapitel 3 und 4 ausführlich). Kapital, Alternativen und Opportunitäten Die Menge aller Ressourcen, die ein Akteur aktuell unter Kontrolle hat und die er somit als Mittel einsetzen könnte, sind das Kapital des Akteurs. Alle zum Kapital gehörenden Ressourcen haben demnach einen Kontrollkoeffizienten c von 1, alle nicht dazu gehörigen einen solchen von 0. Mit dem Kapital ist der Satz der möglichen Alternativen des Handelns beschrieben. Nur aus diesem sog. feasible set von Opportunitäten können die Akteure Entscheidungen über ihr Tun treffen (vgl. dazu noch Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Die Opportunitäten bilden den weitesten Rahmen dessen, was überhaupt machbar ist. Es sind die „letzten“ äußeren Bedingungen des Handelns in einer Situation. Wissen und Werte Die Wahrscheinlichkeiten und die Präferenzen sind zunächst „objektive“ Angelegenheiten. Subjektiv sind die Wahrscheinlichkeiten bei den Akteuren als Erwartungen verankert, die Präferenzen als Bewertungen. Im einfachsten Fall entsprechen sich die objektiven Wahrscheinlichkeiten und Präferenzen mit den subjektiven Erwartungen und Bewertungen (vgl. dazu aber noch Kapitel 8 ausführlich). Die Gesamtheit der Erwartungen bilden dann das Wissen, die Gesamtheit der Bewertungen die Werte der Akteure. Das Wissen und die Wer-
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te wiederum bilden zusammen die inneren Bedingungen des Handelns in einer Situation. Die Matrix des Wissens und der Vektor der Werte In der zuletzt beschriebenen Situation von zwei Mitteln und zwei Zielen besteht das Wissen aus den vier möglichen Erwartungen über die Geeignetheit der beiden Mittel X zur Erreichung der beiden Ziele Z: p11, p12, p21, p22. Die Werte ergeben sich aus dem jeweils eingeschätzten Nutzen U, den die beiden Ziele bei Verwirklichung dem Akteur produzieren würden: U1 und U2. Die entsprechenden Erwartungen und Bewertungen lassen sich dann als ein Vektor U der Bewertungen Uj der Ziele und als Matrix P der Erwartungen pij über die Wirksamkeit der Mittel zur Zielerreichung zusammenfassen. Das System einer Situation kann so für unser Beispiel mit zwei Mitteln und zwei Zielen von der etwas umständlichen graphischen Darstellung in die kompaktere Form der Matrizenschreibweise überführt werden (vgl. Abbildung 1.7).
Wissen
P
=
Werte
U
=
p11
p12
p21
p22 U1 U2
Abb. 1.7: Die Matrix des Wissens und der Vektor der Werte
Das Wissen über die Situation und die Werte, die mit bestimmten Folgen des Handelns verbunden sind, die Matrix P und der Vektor U also, bilden zusammen die elementare „Logik der Situation“ für die Akteure. Das Handeln besteht dann aus der „Wahl“ eines der als Alternativen verfügbaren Mittel vor diesem Hintergrund. Was fehlt zur Erklärung des Handelns jetzt aber noch? Genau: Eine allgemeine Regel darüber, wie diese Entscheidung getroffen
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wird. In Kapitel 7 und 8 werden wir darauf noch ausführlich zu sprechen kommen. Orientierung und Rahmung: Die Definition der Situation Im elementaren System der Situation sind die äußeren und inneren Bedingungen auf zwei sehr spezielle Aspekte beschränkt: Das Wissen über die Kontrolle und die Effizienz der Mittel und die Werte, die mit den Präferenzen für die Ziele verbunden werden. Das ist ohne Zweifel nicht alles, was William I. Thomas für sein Verständnis des Begriffes der Situation und mit der Idee von der „Definition“ der Situation im Sinn hatte. Die soziologische Handlungstheorie sieht das – in allen ihren Varianten (vgl. dazu noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“) – genauso. Für sie ist die Selektion des Handelns zuallererst die Folge einer besonderen Definition der Situation: Eine vor das „eigentliche“ Handeln geschaltete Selektion einer Orientierung. Diese Orientierung gibt der Situation einen Rahmen und stellt sie unter einen Leitgesichtspunkt. Erst daraus ergeben sich die Ziele und die Mittel, die Kontrolle, die Effizienz und das Interesse, die Wahrscheinlichkeiten und die Präferenzen, die Erwartungen und die Bewertungen, das Wissen und die Werte (vgl. dazu noch ausführlich das folgende Kapitel 2). Kurz: Was im elementaren System der Situation vorausgesetzt wird – die Fixierung bestimmter Relationen zwischen Akteuren und Ressourcen – ist eine variable und überaus erklärungsbedürftige Angelegenheit. Sie ist mit bloß den materiellen Bedingungen nicht erfaßbar, sondern eine Frage zuvorderst der institutionellen und kulturellen Besonderheiten der jeweiligen Gesellschaft oder Zeit. Für die Deutung des Begriffes der Situation und für die Erklärung des Prozesses der Definition der Situation lassen sich – etwas vereinfachend gesehen – in der Soziologie zwei unterschiedliche Sichtweisen unterscheiden. Die eine Sichtweise faßt die Definition der Situation als einen an die jeweilige, aktuell ablaufende Interaktion gebundenen und im Prinzip immer wieder neu und grundsätzlich interaktiv vollzogenen Vorgang der Interpretation von Zeichen und den sog. signifikanten Symbolen auf. Das ist die Position des Symbolischen Interaktionismus, dessen Grundideen auf George H. Mead zurückgehen, der sich seinerseits sehr an William I. Thomas orientiert hat. Die andere Sichtweise erklärt die Definition der Situation als Orientierung an den gegebenen, aktuell unverrückbaren, selbst nicht beeinflußbaren institutionellen Bedingungen des Handelns und an den vom Akteur über die Sozialisation verinnerlichten Vorgaben der institutionellen Normen und der kulturellen Werte. Das ist der Ansatz des Struktur-Funktionalismus, insbesondere in der Fassung von Talcott Parsons.
Wir wollen beide Sichtweisen zusammenfassen und dann – zusammen mit den Überlegungen von William I. Thomas – in ein Modell der Grundkomponenten der Situation integrieren.
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George H. Mead: Signifikante Symbole, generalisierte Andere und das Me Auf George H. Mead (1863-1931) geht die Konzeption zurück, daß das Handeln der Menschen zwar immer eine Reaktion auf eine bestimmte Situation ist, daß diese Reaktion aber kein unmittelbarer Reflex auf die Bedingungen und objektiven „Reize“ in der Umgebung ist: Menschen sind – wie in abgeschwächter Form andere intelligente Organismen auch – zur auswählenden Impulshemmung in der Lage. Und „was“ ein Reiz jeweils für den Akteur „bedeutet“, ist eben keine fixierte Assoziation zwischen Reiz und innerer Vorstellung, sondern eine Angelegenheit einer – mehr oder weniger – intelligenten und reflektierten, die Situationsdaten interpretierenden, Selektion.8 An die Stelle der objektiven und mit bestimmten Reaktionen fest verkoppelten Reize tritt bei Mead also das Konzept des interpretierten und mit Bedeutung versehenen Zeichens. Dafür führt Mead den Begriff des signifikanten Symbols ein. Signifikante Symbole sind Zeichen, die für den Akteur das Vorliegen spezifischer Einstellungen der jeweils anderen Akteure anzeigen. Durch die Orientierung an signifikanten Symbolen wird es dem Akteur möglich, sich in die subjektive Welt der anderen Akteure gedanklich hineinzuversetzen, deren Reaktionen auf ein eventuelles Handeln innerlich vorwegzunehmen und mit der so vorgenommenen Interpretation und Definition der Situation das eigene Handeln geschickt und sinnhaft auszuwählen. Als signifikante Symbole können alle möglichen Gesten fungieren – wie etwa eine geballte Faust oder ein freundliches Gesicht, die mehr oder weniger willkürliche Körpersprache, kulturell konstruierte Zeichen wie Kleidung, Haartracht oder Aussehen, ebenso wie entstellende und brandmarkende sichtbare, erworbene wie angeborene Eigenschaften und körperliche Gebrechen, die sog. Stigmata. Insbesondere zählen dazu aber die symbolischen und flexibel einsetzbaren Zeichen der Sprache. Auch die jeweiligen sichtbaren externen Effekte von Handlungen haben – über ihren bloßen „materiellen“ Wirkungseffekt hinaus – meist einen sehr wirksamen Zeichenaspekt: Handeln ist nicht nur ein monadisches Tun mit materiellen kollektiven Folgen, sondern gleichzeitig immer auch ein Anzeichen für einen inneren Zustand des Akteurs – seine Motive und sein Wissen zum Beispiel – und somit Teil der Bedingungen zur Definition der Situation für die Mitakteure, wie auch für den Handelnden selbst.
Signifikante Symbole können an sehr ideosynkratische Bedeutungen gebunden sein, wie oft bei den privaten Sprachen im Familienbereich, deren Bedeu8
Vgl. zur Handlungs- und Situationstheorie von George H. Mead insbesondere: George H. Mead, Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus, Frankfurt/M. 1973 (zuerst: 1934); Johannes Siegrist, Das Consensus-Modell. Studien zur Interaktionstheorie und zur kognitiven Sozialisation, Stuttgart 1970, Kapitel 1.2; Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Band 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Frankfurt/M. 1981b, S. 11-68.
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tung sonst ja wirklich keiner versteht. Soziales Handeln im weiteren Kontext setzt aber voraus, daß solche Ideosynkrasien nicht allzu speziell sind und daß die signifikanten Symbole eine Bedeutung auslösen, die über den jeweiligen Einzelfall hinausweisen. Diese Verallgemeinerung des Vorgangs der Definition der Situation hat Mead mit dem Konzept des generalisierten Anderen vorgenommen: Die Akteure lernen im Laufe der Sozialisation, daß es zu jedem signifikanten Symbol – insbesondere denjenigen der jeweiligen Sprachgemeinschaft – eine Reihe von Einstellungen gibt, die einerseits je nach Kontext in typischer Weise variieren, daß die verschiedenen Kontexte und die dazu gehörigen Situationsdefinitionen aber jeweils auch ein durchorganisiertes System von Einstellungen bilden, auf dessen Wirksamkeit sich der Akteur normalerweise fraglos verlassen kann. Der Akteur besitzt dabei einen Satz an Wissen und Erfahrungen über ganze Systeme von Situationsdeutungen. Diesen Erfahrungssatz bezeichnet Mead als Mind – als Bewußtsein also. Es ist ein Bewußtsein von – mehr oder weniger vereinfachenden und generalisierenden – „Ideen“ über die soziale Umwelt. Es besteht aus einer Art gedanklicher Landkarte über die soziale Umwelt in der Form von Vor-„Einstellungen“, in denen typische Situationen als Ideen organisiert und mit gut identifizierbaren Zeichen, den signifikanten Symbolen nämlich, versehen sind. Dabei sind vor allem die sprachlichen Symbole eng mit den entsprechenden Ideen und Einstellungen verbunden (Mead 1973, S. 100ff.; Siegrist 1970, S. 30f.). Die Gesamtheit der derart organisierten Haltungen der Akteure zu sozialen Situationen – als verinnerlichte, symbolisch und insbesondere sprachlich organisierte Erfahrungen – bezeichnet Mead als „generalized other“, als generalisierten Anderen. Die verschiedenen Sektoren der so „im“ Akteur repräsentierten und mit sprachlichen – und anderen – Symbolen verbundenen Antezipationen der Reaktionen der sozialen Umwelt sind dabei Teile des Selbst der Akteure. Diese auf die Antezipationen der sozialen Umwelt bezogenen Teile des Selbst nennt Mead zusammenfassend auch Me (vgl. Mead 1973, S. 216ff.; 253ff.; Siegrist 1970, S. 34f.). Mes – und vorgestellte generalisierte Andere – gibt es daher so viele, wie es Sektoren der auf generalisierte Andere bezogenen, sprachlich organisierten Einstellungen gibt.
Das komplette Repertoire der Mes macht das Bewußtsein des Akteurs, den Mind also, aus. Es ist ein Teil der Identität, des Selbst des Akteurs. Dieser Teil wird erworben, genauer gesagt: über soziale Erfahrungen gelernt. Das Bewußtsein entsteht und besteht als Wissen aus den Reaktionen der sozialen Umgebung auf die eigenen Handlungsversuche während des – lebenslangen – Prozesses der Sozialisation. Eine gewisse Vielfalt und die Systematik solcher Erfahrungen in aller Vielfalt sind die wichtigsten Bedingungen für den Erwerb eines reichhaltigen und gleichzeitig konsistenten Repertoires für eine „richtige“ Definition von Situationen – für ein differenziertes und gleichzeitig konsistentes Bewußtsein des Selbst des Akteurs. Jeweils für ein bestimmtes Handeln bedeutsam ist dabei immer nur ein Ausschnitt aus dem Repertoire der Mes. Und diesen einen, für das aktuelle Handeln immer nur relevanten Ausschnitt des Selbst, bezeichnet Mead dann
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auch – nicht immer ganz deutlich – als Situation (Mead 1973, S. 274; Markowitz 1979, S. 27). Talcott Parsons: Normative Orientierung Der von Talcott Parsons (1902-1979) entwickelten soziologischen Handlungstheorie zufolge findet ein Handeln immer nur als Einheit eines ganzen Handlungssystems statt. Die kleinste denkbare Einheit eines solchen Handlungssystems nennt Parsons unit act. In diesem Sinne besteht ein unit act zunächst aus zwei Elementen: Ein Handelnder (actor) und ein Ziel (end), auf das hin das Handeln ausgerichtet ist. Das Handeln findet dann ferner grundsätzlich in einer „Situation“ statt. Handeln „ ... must be initiated in a ‚situation‘of which the trends of development differ in one or more important respects from the state of affairs to which the action is oriented, the end.“9
Die Situation ist nach Parsons als die Differenz zwischen dem noch nicht verwirklichten Ziel und dem aktuellen Zustand definiert, von dem das Handeln seinen Ausgang nimmt. Sie ist nach zwei Bestandteilen hin zu untersuchen: Solche, die der Akteur unter Kontrolle hat, und solche, die er nicht kontrolliert. Also: „This situation is in turn analyzable into two elements: those over which the actor has no control, that is which he cannot alter, or prevent from being altered, in conformity with his end, and those over which he has such control. The former may be termed the ‚conditions‘ of action, the latter the ‚means‘.“ (Ebd.; Hervorhebungen nicht im Original)
Die nicht kontrollierbaren Elemente der Situation sind die zu berücksichtigenden, aber – einstweilen – nicht zu ändernden Bedingungen, die kontrollierbaren Elemente dagegen die einsetzbaren Mittel des Handelns. Die Unterscheidung von Bedingungen und Mitteln ist im konkreten Fall nicht immer eindeutig möglich, weil die meisten Objekte von Alltagssituationen beeinflußbare und nicht beeinflußbare Teile enthalten. Parsons fügt in einer Fußnote die folgende Erläuterung hinzu: „The situation constitutes conditions of action as opposed to means in so far as it is not subject to the control of the actor. Practically all concrete things in the situation are part conditions, part means. Thus in common-sense terms an automobile is a means of transportation from one place to another. But the ordinary person cannot make an automobile. Having, however,
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Talcott Parsons, The Structure of Social Action. A Study in Social Theory with Special Reference to a Group of Recent European Writers, Band 1: Marshall, Pareto, Durkheim, New York und London 1937, S. 44.
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the degree and kind of control over it which its mechanical features and our property system lend, he can use it to transport himself from Cambridge to New York. Having the automobile and assuming the existence of roads, the availability of gasoline supply, etc., he has a degree of control of where and when the automobile shall go and, hence, of his own movements. It is in this sense that an automobile constitutes a means for the analytical purposes of the theory of action.“ (Ebd., Fußnote 2; Hervorhebung im Original)
Die Bedingungen als Teile der Situation setzen den weitesten Rahmen, aus dem ein Handeln überhaupt selegiert werden kann. Es ist die unüberschreitbare Grenze des Raumes von Möglichkeiten, aus dem heraus die schließliche Handlungswahl erfolgen muß und der die überhaupt nur denkbaren Alternativen des Handelns, die wählbaren Mittel also, festlegt. So weit stimmt das Konzept von Parsons mit dem des elementaren Systems der Situation überein. Mit der Benennung des Bedingungsrahmens, der Ziele und der Mittel ist nach Parsons eine Erklärung der Selektion eines bestimmten Handelns aber noch nicht möglich. Es tritt als viertes Element der Handlungseinheit die „‚normative orientation‘ of action“ (ebd.; Hervorhebung nicht im Original) notwendigerweise hinzu. Darunter versteht Parsons „a certain mode of relationship between these elements“. Erst über die normative Orientierung wird eine subjektiv und sozial sinnhafte Selektion des Handelns denkbar. Der normative Rahmen, der – wie Parsons dies auch ausgedrückt hat – „frame of reference“ des Handelns, definiert die Situation nach einem leitenden Gesichtspunkt, nach einem typischen „pattern“ bestimmter „variables“ der Situation, ordnet so sowohl die Ziele wie die als angemessen erscheinenden Mittel für den Akteur und ermöglicht auf diese Weise ein beim Akteur konsistentes und sozial abgestimmtes, entlastetes und effizientes Handeln. Talcott Parsons geht noch weiter: Ohne einen solchen normativen frame of reference sei soziales Handeln grundsätzlich nicht möglich. Menschen seien aufgrund ihrer Weltoffenheit prinzipiell nicht in der Lage, souverän und als monadisch gedachte Individuen ihre Ziele zu ordnen und die auch sozial angemessenen Mittel auszuwählen. Ohne den normativen frame of reference, der die Definition der Situation letztlich bestimmt, brächen Orientierungslosigkeit, Anomie, Chaos aus. Insofern wäre die normative Definition der Situation nicht nur eine grundlegende Bedingung für das Handeln des Akteurs, sondern für die Entstehung von sozialer Ordnung ganz allgemein. Das Grundmodell der Situation Die „Definition“ des Begriffs der Situation bei William I. Thomas, das Konzept des elementaren Systems einer Situation und die Erweiterungen bei George H. Mead und Talcott Parsons gewichten die Bestandteile der Situation
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unterschiedlich und betonen in unterschiedlicher Weise den Vorgang der Definition der Situation. Auf den ersten Blick scheinen sie nicht viel gemeinsam zu haben. Gänzlich verschieden sind sie aber auch nicht. Alle betonen erstens die Bedeutung von äußeren Bedingungen: die „Institutionen und Sitten“ sowie die „Haltungen und Werte anderer Personen“ bei Thomas, die Mittel und die Ziele im elementaren System der Situation, die signifikanten Symbole des Bezugsrahmens bei Mead und die Vorgaben der normativen Orientierung bei Parsons. In allen Konzepten werden zweitens stets auch innere Bedingungen genannt: Die „Einstellungen und Werte“ bei Thomas, das Wissen und die Werte im elementaren System der Situation, das innere Repertoire der Mes bei Mead und die verinnerlichten normativen Orientierungen der Akteure bei Parsons. Mit der Zusammenführung der Ansätze läßt sich somit ein allgemeines und vergleichsweise einfaches Modell der Bestandteile der Situation aufstellen. Es besteht aus den beiden Grundelementen der Definition des Begriffs der Situation schon bei William I. Thomas: Die äußeren und die inneren Bedingungen der Situation. Keiner der Aspekte dürfte ausgelassen werden, der in den verschiedenen Konzeptionen betont wurde: Situationen des Handelns sind immer Kombinationen von materiellen, institutionellen und kulturellen Bedingungen, als äußere Umstände in der Umgebung und als innere Dispositionen bei den Akteuren. Die äußeren Bedingungen: Opportunitäten, institutionelle Regeln und signifikante Symbole Die äußeren Bedingungen einer Situation bilden den „objektiven“ Rahmen des Handelns. Sie können ihrerseits – in Zusammenfassung der besprochenen Konzepte – in drei Unterelemente aufgeteilt werden: materielle Opportunitäten, institutionelle Regeln, kulturelle Bezugsrahmen und signifikante Symbole. Die drei Unterelemente der äußeren Bedingungen werden vor allem in theoretischer Hinsicht unterschieden. Empirisch können sie in vielerlei Kombinationen auftreten: institutionelle Regelungen – die Regeln des Straßenverkehrs oder eine Währungsordnung etwa – können deutliche Restriktionen bzw. wichtige Opportunitäten für das Handeln bilden. Sie sind sehr oft mit prägnanten und gut verstehbaren signifikanten Symbolen – Ampeln, Zebrastreifen, Geldscheine oder in der Zeitung ausgedruckte Dollarkurse – versehen, über die die Situation auf der Straße oder in der Geldtasche sehr nachhaltig „definiert“ wird.
Die drei Unterkomponenten sind in einer bestimmten theoretischen Hinsicht geordnet, wobei die Opportunitäten und die signifikanten Symbole die beiden
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Extrempunkte bilden: Opportunitäten beschreiben den letzten materiell möglichen Rahmen des Handelns, der sich aus objektiven Knappheitsverhältnissen ergibt, signifikante Symbole sind dagegen praktisch ausschließlich Angelegenheiten der kulturellen Festlegung von Werten, Gefühlen und Gewohnheiten. Die institutionellen Regeln nehmen zwischen diesen beiden Polen eine Art von Zwischenstellung ein. Auch hier kann es Mischungen und Undeutlichkeiten geben. Etwa: Geld gehört sicher zu den sozialen Konstruktionen, die die Menschen erfunden haben, es definiert mit seiner Geltung dann aber sehr objektive und nachhaltig spürbare materielle Knappheiten. Es ist selbst außerdem als symbolisch generalisiertes Medium der Kommunikation ein signifikantes kulturelles Symbol und im Rahmen der gesamten wirtschaftlichen und politischen Ordnung immer auch ein integraler Teil der institutionellen Regeln einer Gesellschaft.
Doch nun zu den drei Komponenten der äußeren Bedingungen im Einzelnen. Opportunitäten Die Opportunitäten umschließen die Bestandteile einer Situation, die der Akteur als Mittel unter Kontrolle hat, und die ihm als Alternativen für sein Handeln überhaupt nur möglich sind. Die Gesamtheit der Opportunitäten werden auch als der Möglichkeitsraum oder als der feasable set der überhaupt wählbaren Alternativen des Akteurs bezeichnet. Es ist der weiteste denkbare Rahmen des Handelns in einer Situation. Dieser Rahmen wird insbesondere von den verschiedenen Arten von – beileibe nicht nur ökonomischem – Einkommen und finanziellem Kapital bestimmt, über das der Akteur verfügt. Dazu gehören ein monetäres Gehalt, ein Sparguthaben, aber auch Humankapital in Form von Bildung und Talent sowie die vielen Arten des sozialen Kapitals von „Beziehungen“ und des kulturellen Kapitals diverser geachteter Virtuositäten, aus dem ein Akteur schöpfen und problematische Situationen meistern kann. Viele soziale Prozesse lassen sich alleine schon mit der Untersuchung der Opportunitätsstrukturen erklären: Als Ergebnis der Erweiterung oder Einengung der schieren Möglichkeiten des Tuns (vgl. dazu Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ausführlich). Institutionelle Regeln Zu den äußeren Bedingungen der Situation zählen zweitens die institutionellen Regeln, die in der Situation „gelten“ und denen der Akteur in seinem Handeln
Situation und Situationsanalyse
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Rechnung tragen muß, wenn er „verstanden“ werden und mit seinem Handeln erfolgreich sein will. Institutionelle Regeln umfassen alle denkbaren Normen – einfache Gewohnheiten, Bräuche, Sitten, informelle Usancen, Konventionen, mehr oder weniger festgelegte Drehbücher über bestimmte Sequenzen des Handelns, soziale Rollen, das geschriebene und das ungeschriebene Recht, komplette Verfassungen und den gesamten Bereich der Regeln einer sozialen Ordnung u.a. (vgl. dazu Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Institutionen legen die erwünschten und unerwünschten, die angemessenen und die weniger zu empfehlenden Arten, die sinnvollen und die sinnlosen Ziele, die erlaubten und die illegitimen Mittel und Linien des Handelns fest. Es geht dabei um die – formellen wie die informellen – Spielregeln, deren Beachtung in der einen Situation geradezu unumgänglich wird, deren Befolgung aber in einer anderen Situation als ganz und gar ungewöhnlich erscheinen müßte. Institutionelle Regeln definieren den sozialen Sinn einer Situation. Sie zu verletzen, bedeutet daher nicht nur, daß es bestimmte Sanktionen gibt und daß der Akteur Nutzeneinbußen erleiden würde, sondern – fast mehr noch – daß ein Akteur sich außerhalb einer „Sinn“-Gemeinschaft aufhält. Dies hat – wenn es gut geht wie bei Loriot – Heiterkeit und Gelächter, wenn es weniger gut geht dagegen Spott, Verachtung und psychische Ausgrenzung zur Folge. Menschen, die mit dem Aufspüren des jeweils „richtigen“ sozialen Sinns in Situationen ihre Probleme haben, fühlen sich rasch sehr nachhaltig „verlassen“. Und sie stehen immer auch schon mit mindestens einem Bein in der sozialen Entmündigung, oft genug auch in den für solche Fälle vorgesehenen Anstalten der auch physischen Ausgrenzung aus der Gesellschaft. Allein das macht verständlich, daß Menschen soziale Regeln nicht nur wegen der materiellen Vorteile und kühl-kalkulierend, sondern mit hohem emotionalen Engagement zu beachten suchen. Spielverderber haben es nicht leicht. Signifikante Symbole und Bezugsrahmen Die signifikanten Symbole bilden den dritten Bestandteil der äußeren Bedingungen von Situationen. Signifikante Symbole sind die jeweils in der Situation vorhandenen oder von anderen Akteuren „angezeigten“, kulturell definierten und von den Akteuren mit Sinn belegten und als sinnhaft identifizierbaren Zeichen für die Geltung eines bestimmten Bezugsrahmens, unter den die Situation gestellt und durch den sie definiert ist.
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Situationslogik und Handeln
Aus den signifikanten Symbolen ziehen die Akteure Schlüsse über weitere, nicht unmittelbar feststellbare Eigenschaften der Situation. Sie helfen den Akteuren zu erkennen, welche Opportunitäten bzw. Restriktionen vorliegen, welche Alternativen möglich bzw. welche institutionellen Regeln vorgegeben sind. Sie stellen vor allem aber – mehr oder weniger leicht identifizierbare – Verbindungen zu typischen Mustern der Orientierung, der Ordnung und der Rahmung der Situation her (vgl. dazu Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Über signifikante Symbole können sich die Akteure relativ unaufwendig über die Situation informieren: Die Ziffern auf dem Bankauszug, Anwesende in schwarzem Anzug, Zylinder und mit betretenen Gesichtern oder eine Fünf in der Klausur zeigen an, womit in der gegebenen Situation zu rechnen ist, welches Handeln möglich oder angemessen wäre. Das richtige Lesen und Deuten signifikanter Symbole und die dadurch erfolgende Identifikation des korrekten Bezugsrahmens ist der Kern der korrekten und sinnhaften Befolgung institutioneller Regeln und auch der emotionalen Integration in eine Gemeinschaft oder ein Milieu. Der gesamte Bereich der Kunst, der Kultur und der Lebensstile kann als gigantisches, nach typischen Mustern durchorganisiertes und teilweise auch mit bestimmten institutionellen Sphären verbundenes System signifikanter Symbole mit einer großen Macht zur Definition der jeweiligen Situation angesehen werden: Die Art der Musik, erkennbare Stile der Malerei und der Literatur, die in Aussehen und Kleidung gezeigten Zeichen der Mode und viele andere Symbolisierungen legen fest, von welcher Situation die Akteure jetzt gerade auszugehen haben. Es macht für die Definition der Situation schon einen gewissen Unterschied, ob ein Akteur gerade Heino oder Stockhausen hört, einen Norwegerpullover oder einen kahlgeschorenen Kopf trägt, einen Geldschein oder einen Liebesschwur bei einem Treffen anbietet.
Die menschliche Sprache ist das flexibelste, das effizienteste und das im Alltag gebräuchlichste System signifikanter Symbole. Sie ist das mit Abstand wirksamste Mittel zur Definition der Situation. Die inneren Bedingungen: Identität Neben den äußeren Bedingungen bilden die inneren Bedingungen den zweiten Hauptkomplex einer Situation. Es sind das Wissen und die Werte über die Wahrscheinlichkeiten und die Präferenzen sowie der Satz an inneren Einstellungen, die ein Akteur für bestimmte Situationen gespeichert hat und an die er sich in der Situation halten kann oder sogar „muß“. Einstellungen können dabei als Spezialfälle von Wissen und Werten aufgefaßt werden: Es ist ein Wissen darüber, daß ein bestimmter Typ der Situation „gilt“, wenn es ein bestimmtes signifikantes Symbol gibt; und es sind die Werte, die ein Akteur mit der Geltung dieser Situation und dem darin erforderlichen Handeln verbindet.
Situation und Situationsanalyse
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Das Wissen und die Werte sowie der Satz der inneren Einstellungen des Akteurs seien insgesamt als die Identität des Akteurs bezeichnet. Von besonderer Bedeutung für das Handeln, vor allem in sozialen Situationen, ist die soziale Identität des Akteurs. Das ist das gesamte organisierte Repertoire an Wissen und an Bewertungen für sozial typisierte und in systematischer Weise mit signifikanten Symbolen ausstaffierten Situationen, über das dort angemessene Handeln und, insbesondere, über die Art der Beziehung des Akteurs zu seiner Umgebung – aus der vom Akteur vermuteten Sicht der Umgebung. Die soziale Identität ist dabei kein bloßes Konglomerat der gesamten Erfahrungen und Bewertungen, die er im Laufe seiner Existenz gelernt hat. Vielmehr ist sie das Ergebnis einer – letztlich vom Akteur selbst vorgenommenen – vereinfachenden Zuschreibung von Eigenschaften zu sich selbst, insbesondere seiner Beziehungen zur sozialen Umgebung. Die soziale Identität bildet ein System eines Registers typischer Situationen und Modelle, auf das der Akteur – meist automatisch, manchmal reflektierend – zugreift. In der Regel spiegeln sich in ihnen die institutionalisierten, objektiv geltenden Regeln des „richtigen“ Handelns in den verschiedenen Sphären seines Alltags – die Sphären der Familie, des Betriebs, des Ortsvereins oder des Kölner Milieus von Karneval und Kirche zum Beispiel. So erklärt sich, daß die Akteure in spezifischen Situationen jeweils unterschiedlich sind – und sich oft sehr wundern, wie verschieden sie doch im Laufe eines einzigen Tages gewesen sind. Leicht tritt beim Wechsel zwischen den verschiedenen Sinnwelten der Me-Bereiche bzw. der Sektoren der sozialen Identität die folgende Frage auf: Wer oder was bin ich denn eigentlich „wirklich“, wenn die Welt und ich selbst mich einmal so und ein anderes Mal so sehen und ich mich selbst schließlich als einen rast- und gesichtslosen Wanderer zwischen äußerst mannigfaltigen unterschiedlichen Wirklichkeiten wahrnehmen muß? Als wen oder was wird mich wohl meine Umwelt sehen, wenn nicht auszuschließen ist, daß sie Einblick in die verschiedenen Sphären meines Selbst nehmen kann? Es ist der Versuch, nicht bloß passiv den Vorgaben der äußeren Bedingungen und den dafür vorgesehenen sozialen Typisierungen zu folgen, sondern eine eigene und dabei konsistente Linie zu finden, eine „Verfassung“ für sein Selbst und sein Handeln also. Eine derartige, durch eine Verfassung des Selbst integrierte soziale Identität wird auch als Ich-Identität bezeichnet und eine besondere Form einer derartigen SelbstVerfassung als moralisches Bewußtsein. Damit ist eine Verfassung des Selbst gemeint, die es dem Akteur erlaubt, zwar flexibel und unterschiedlich, aber nach ihm einsichtigen und für verallgemeinerbar gehaltenen Prinzipien zu handeln: Er könnte jederzeit mit verallgemeinerbaren Argumenten begründen, daß sein Handeln mit verallgemeinerbaren Interessen vereinbar ist. Nicht zu vergessen ist noch ein weiteres Element: Akteure haben immer auch Bedürfnisse und Interessen ganz jenseits ihrer sozialen Identität bzw. der Ich-Identität. Dieser Teil des Selbst wird auch als Ich bezeichnet. Der Alltag ist voll von Kämpfen, um für das Ich möglichst günstige Zuschreibungen sozialer Identitäten zu ergattern.
Bei der Definition einer Situation spielen alle Elemente der Identität eine Rolle: das Wissen und die Werte, die Einstellungen, die verschiedenen Sektoren der sozialen Identität und – gegebenenfalls – die übergreifende Verfassung der
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Situationslogik und Handeln
Ich-Identität ebenso, wie das Ich mit seinen ganz eigenen Zielen und Interessen. Für die Soziologie sind insbesondere die Strukturen des Wissens und der Werte sowie der sozialen Identität von Bedeutung. Eine Zusammenfassung Die grundlegenden Komponenten einer Situation bestehen damit – so sei zusammengefaßt – aus den äußeren und den inneren Bedingungen. Die äußeren Bedingungen lassen sich in drei Unterelemente gliedern: Opportunitäten, institutionelle Regeln und signifikante Symbole bzw. Bezugsrahmen. Die inneren Bedingungen bestehen aus der Gesamtheit des Wissens und der Werte sowie der Einstellungen des Akteurs, organisiert zu einem strukturierten System einer sozialen Identität. Damit ist das Modell der grundlegenden Bestandteile von Situationen beschrieben, von dem wir ausgehen wollen (vgl. Abbildung 1.8):
externe Bedingungen * Opportunitäten/Restriktionen * institutionelle Regeln * signifikante Symbole/Bezugsrahmen interne Bedingungen innere Einstellungen/ Identität
Abb. 1.8: Die grundlegenden Bestandteile der Situation
Die äußeren und die inneren Bedingungen sind nur die Variablen, aus denen Situationen „bestehen“ und aus denen sich die Logik der Situation ableitet. Was daran dann „logisch“ ist, welche Art der Definition der Situation sich anschließt, wie das geht und warum die Menschen in einer Situation in strukturiert-bestimmter Weise handeln, ist eine noch ganz andere Frage. So haben wir im Beispiel des Studentenprotestes an den amerikanischen Universitäten zu Beginn dieses Kapitels zwar bestimmte äußere und innere Bedingungen bei den Professoren und
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den Studenten benannt – etwa daß die Professoren an den besseren Universitäten mehr forschten und sich eher an überlokalen Aktivitäten orientierten, daß dort die Lehre sehr viel schlechter und die Studenten deutlich mehr frustriert waren als an den weniger angesehenen Hochschulen. Aber warum die forschenden Professoren immer unterwegs, und warum die Studenten, deren Vorlesungen immer ausfielen, unzufrieden waren und schließlich protestierten, das ist mit dem bloßen Hinweis auf die „Situation“, auf äußere und innere Bedingungen, natürlich nicht geklärt.
Wir wissen jetzt aber schon etwas genauer, worauf wohl zu achten sein wird.
Kapitel 2
Das Thomas-Theorem
Der amerikanische Sozialpsychologe Richard T. LaPiere bereiste Anfang der 30er Jahre mit einem jungen chinesischen Ehepaar die Vereinigten Staaten und besuchte dabei mit ihnen 67 Hotels, Autocamps und Tourist Homes, sowie 184 Restaurants und Cafés. Dabei wurden sie in nur einem Autocamp zurückgewiesen, während in 72 der Hotels und Restaurants eine durchaus ungewöhnlich zuvorkommende Aufnahme und Bedienung registriert wurde.1 Sechs Monate später verschickte LaPiere an die besuchten Hotels, Autocamps und Restaurants eine Anfrage, ob sie Mitglieder der chinesischen Rasse aufnehmen würden. Von den Angeschriebenen antworteten 51%. Und von denjenigen, die antworteten, lehnten 91% das Ansinnen ab, obwohl es vorher beim tatsächlichen Besuch fast ausnahmslos keine Zurückweisung gab. Das Experiment von LaPiere war der Ausgangspunkt für eine jahrzehntelange Serie von Untersuchungen zum Verhältnis der inneren Einstellungen und dem tatsächlichen Verhalten der Akteure in alltäglichen Situationen. Das dabei gewonnene Ergebnis ist allgemein das gewesen, daß es eine unmittelbare Beziehung zwischen einer privaten, in einer Umfrage geäußerten Einstellung und dem wirklichen Verhalten nicht gebe. Die weitgehend fehlende Korrelation zwischen Einstellungen und Verhalten hat viele Sozialforscher sehr überrascht – und beunruhigt.2 Sie sind – teilweise bis heute – davon ausgegangen, daß es ausschließlich die verinnerlichten kulturellen Werte und sozialen Normen, allgemein: die als Einstellungen (oder Attitüden) verankerten Verhaltensdispositionen sind, die die Menschen zu einem bestimmten Handeln bringen. Man brauche dann lediglich diese inneren Einstellungen – etwa in Umfragen – valide und reliabel zu messen und könne damit abschätzen, was die Menschen mit bestimmten Attitüden dann 1
Richard T. LaPiere, Attitudes vs. Actions, in: Social Forces, 13, 1934, S. 230-237.
2
Vgl. dazu die Übersicht bei Allan W. Wicker, Attitudes versus Actions: The Relationship of Verbal and Overt Behavioral Responses to Attitude Objects, in: Journal of Social Issues, 25, 1969, S. 41-78.
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Situationslogik und Handeln
überwiegend tun: Fragebogen-Rassisten – wie unsere Hotelbesitzer – verhalten sich dann eben auch im Alltag rassistisch, Fragebogen-Liberale auch gegen den politischen Gegner liberal usw. – egal was sonst in einer Situation an Opportunitäten, institutionellen Regeln und signifikanten Symbolen vorliegen mag. Leider – oder: zum Glück? – ist diese einfache Theorie des sozialen Handelns empirisch nicht zutreffend. Es stellt sich dann aber sofort die Frage, woran es lag, daß es zwischen den inneren Einstellungen und dem tatsächlichen Verhalten im Fall des chinesischen Ehepaares praktisch keinen Zusammenhang gab? Mit dem Grundmodell der Situation aus Kapitel 1 fällt die Antwort nicht schwer: Es kommen zu den Einstellungen als den inneren Bedingungen immer noch die äußeren Bedingungen der Situation hinzu, die der Akteur wahrnimmt und die er vor dem Hintergrund seiner inneren Einstellungen interpretiert, bewertet und in Rechnung stellt. Die Erklärung der Diskrepanzen zwischen Einstellungen und Verhalten wird daher auch meist mit dem Verweis auf die Unterschiede zwischen generellen Einstellungen und den Einstellungen zur spezifischen Situation gegeben, in der sich die Akteure jeweils befunden haben. Es macht ja wohl – auch für einen „an sich“ rassistisch gesonnenen – Restaurantbesitzer etwas aus, ob er privat für sich ein Kreuzchen in einen anonymen Fragebogen macht, wobei er sich ziemlich sicher sein kann, daß nichts weiter folgt, oder ob er ein offenkundig zahlungskräftiges, interessant und sympathisch aussehendes junges Paar in Begleitung eines weißen Amerikaners vor sich hat, wobei er mit der Befolgung seiner privaten rassistischen Antipathien einen fühlbaren finanziellen Verlust erleiden und wohl auch vor dem tolerant aussehenden weißen Begleiter schlecht dastehen würde.
Die Diskrepanz zwischen Einstellung und Verhalten entsteht aber beileibe nicht nur wegen solcher Vorteilserwägungen für eine spezifische Situation. Es ist nämlich keineswegs die „Berechnung“ der bloßen Vorteile oder Nachteile aus dem einen oder dem anderen Verhalten in der spezifischen Situation eines Kontaktes zwischen Manager und Kunden gewesen, die die Reaktion gegenüber dem chinesischen Ehepaar bestimmten. Der Bericht von Richard T. LaPiere vermittelt einen ganz anderen Eindruck. Nämlich den, daß in der aktuellen Situation des persönlichen Kontaktes die Besitzer und Manager anscheinend wirklich freundlich waren und sich keineswegs nur des Vorteils wegen verstellten oder still kalkulierten, was jetzt zu tun wäre. Dabei spielte offenbar die Situations-Symbolik, besonders das Aussehen, die Gestik und vor allem das akzentfreie Englisch des chinesischen Ehepaares eine große Rolle. „Indeed, it appeared that a genial smile was the most effective password to acceptance. My Chinese friends were skillful smilers, which may account, in part for the fact that we received but one rebuff in all our experience. Finally, I was impressed with the fact that even where some tension developed due to the strangeness of the Chinese it would evaporate immediately when they spoke in unaccented English.“ (Ebd., S. 232)
Das Thomas-Theorem
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Aufschlußreich waren in diesem Zusammenhang auch die Umstände in dem einen Fall der Zurückweisung des Paares. Es handelte sich um ein etwas heruntergekommenes Autocamp, das bereits stark belegt war. Der Besitzer wußte daher nicht gleich, ob noch Plätze frei wären. Außerdem war es bereits etwas dämmerig, und er hatte offenbar Schwierigkeiten, zu erkennen, wen er da vor sich hatte. Richard T. LaPiere berichtet: „He hesitated, wavered, said he was not sure that he had two cabins, meanwhile edging towards our car. The realization that the two occupants were Orientals turned the balance or, more likely, gave him the excuse he was looking for. ‚No’, he said, ‚I don’t take Japs!’.“ (Ebd., S. 233)
Die generelle innere Einstellung war in diesem Fall also nur der letzte kleine Anhaltspunkt für eine ansonsten eher indifferente Situation. Sie diente mehr der Rationalisierung für eine schon objektiv kaum mehr anders mögliche Zurückweisung als die bruchlose Befolgung eines fremdenfeindlichen Vorurteils. Die Rahmung der Situation Die Besitzer und Manager waren in den jeweiligen Situationen also tatsächlich „anders“ und befanden sich jeweils subjektiv in ganz unterschiedlichen subjektiven „Wirklichkeiten“. Und deshalb zeigten sie jeweils auch ein anderes Verhalten, und nicht weil sie irgendwie abgewogen hätten, was sie ihr Rassismus jetzt kosten würde. Von genau dieser Hypothese ging William I. Thomas in seinem Konzept der Situationsanalyse und mit seiner Idee von der „Definition der Situation“ aus: Ein Handeln findet erst statt, wenn der Akteur aufgrund der gegebenen äußeren wie der innneren Bedingungen der Situation zu einer eigenen, selektiven und systematisierenden, dann subjektiv das Geschehen vollkommen beherrschenden Definition der Situation kommt. Gibt es eine solche subjektive Definition der Situation einmal, dann ist der Akteur einstweilen ganz von ihr gefangen. Sie gibt seinem Handeln bis auf weiteres eine Linie, an die er sich selbst halten wird und an der sich seine Mitakteure einigermaßen verläßlich orientieren können. In den methodologischen Vorbemerkungen zum „Polish Peasant“ schreiben William I. Thomas und Florian Znaniecki dazu: „And the definition of the situation is a necessary preliminary to any act of the will, for in given conditions and with a given set of attitudes an indefinite plurality of actions is possible, and one definite action can appear only if these conditions are selected, interpreted, and com-
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bined in a determined way and if a certain systematization of these attitudes is reached, so that one of them becomes predominant and subordinates the others.“3
Die subjektive Definition der Situation bedeutet demnach eine Art von auferlegter und die gesamte Orientierung beherrschender Rahmung der Situation unter einem leitenden Gesichtspunkt, unter einem Imperativ, unter einem als dominant vorgestellten Modell des weiteren Ablaufs. Erst von dem so aktualisierten und alles andere dominierenden Rahmen her erfolgt dann die Selektion des eigentlichen Handelns. Das Handeln ist dann nur noch die – mehr oder weniger – unreflektierte und unverzügliche Anwendung habitualisierter Muster des unter dem betreffenden Rahmen üblichen und gewohnten Tuns: „It happens, indeed, that a certain value imposes itself immediately and unreflectively and leads at once to action, or that an attitude as soon as it appears excludes the others and expresses itself unhesitatingly in an active process.“ (Ebd.; Hervorhebungen nicht im Original)
Die Rahmung durch die subjektive Definition der Situation bringt den Akteur in eine deutliche psychologische Bindung. Er befindet sich jetzt in einem – wie dies Alfred Schütz einmal ausgedrückt hat – „geschlossenen Sinnbereich“. Der jeweils aktualisierte Ausschnitt, das „Sub-Universum“ aus dem Horizont der sonst noch latent vorhandenen gedanklichen „mannigfaltigen Wirklichkeiten“, wie Schütz weiter sagt, grenzt die Situation deutlich von anderen Bereichen ab und gibt ihr so eine ganz besondere prägende Kraft: Die fraglose Selbstverständlichkeit und das scheinbare Fehlen jeder denkbaren Alternative. Alfred Schütz hat diesen Vorgang der psychischen Bindung an eine einmal vorliegende subjektive Definition der Situation auch so beschrieben: „ ... diese Wirklichkeit erscheint uns als natürlich, und wir sind nicht bereit, diese Einstellung aufzugeben, ohne einen spezifischen Schock erlebt zu haben, der uns zwingt, die Grenzen dieses ‚geschlossenen’ Sinnbereichs zu durchbrechen und den Wirklichkeitsakzent auf einen anderen zu verlegen.“4
Die Rahmung durch die subjektive Definition der Situation hat aber nicht nur eine bindende, sondern insbesondere auch eine entlastende Funktion: Sie vereinfacht die „indefinite plurality“ der vielen verschiedenen Aspekte der Situation aus der Sichtweise des Akteurs ganz drastisch und erlaubt ihm so, sich im Chaos der Eindrücke und Risiken wie ganz selbstverständlich und fast schwe3
William I. Thomas und Florian Znaniecki, Methodological Note, in: William I. Thomas und Florian Znaniecki, The Polish Peasant in Europe and America, Band 1, New York 1927a, S. 68; Hervorhebungen nicht im Original.
4
Alfred Schütz, Über die mannigfaltigen Wirklichkeiten, in: Alfred Schütz, Gesammelte Aufsätze, Band 1: Das Problem der sozialen Wirklichkeit, Den Haag 1971a, S. 265; Hervorhebungen so nicht im Original.
Das Thomas-Theorem
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relos zurechtzufinden. Nicht zuletzt auf diesen Vereinfachungsfiktionen der Rahmung sozialer Situationen beruht die relative Reibungslosigkeit der zahllosen Koordinationen des Alltagshandelns: Die Akteure „überlegen“ sich eben nicht sonderlich, was sie jetzt tun sollen, und ob der andere jeweils etwas anderes machen könnte. Man kann sich – in recht weiten Grenzen der Versuchungen und Risiken – einfach aufeinander verlassen. „If men define situations as real ... .“ Die Idee eines besonderen innerlichen Aktes der subjektiven Definition der Situation, von dem her erst die Sicht der Situation und alle weiteren und dann auch realen Konsequenzen des Handelns ausgehen, ist am eingängigsten im sog. Thomas-Theorem formuliert worden. Es findet sich ursprünglich in einem von William I. Thomas zusammen mit seiner Frau Dorothy S. Thomas verfaßten Buch und lautet im Original: „If men define situations as real, they are real in their consequences.“5
Das Thomas-Theorem bezieht sich eigentlich nicht auf den eben beschriebenen Vorgang der Rahmung bzw. der subjektiven Definition der Situation, sondern auf die Folgen für das „reale“ Handeln im Anschluß an eine solche subjektive Definition der Situation. Es geht William I. und Dorothy S. Thomas in erster Linie um die wichtige und richtige Festellung, daß im Moment des Handelns nur die subjektiven, jeweils real vorliegenden, wenngleich oft ganz und gar falschen, Vorstellungen der Akteure bedeutsam sind – und daß dieses Handeln dann auch reale Folgen hat. Es sind also nicht die objektiven, zweckrational angemessenen oder die normativ geforderten Bedingungen, nach denen sich die Akteure in der Selektion ihres Handelns richten, sondern ihre subjektiven Ansichten und Vermutungen. Und egal, ob diese subjektiven Ansichten und Vermutungen objektiv richtig sind oder nicht: Sie haben auf jeden Fall objektive, reale Konsequenzen – ganz so wie dies Robert K. Merton für die unglückselige Last National Bank am Black Wednesday geschildert hat.6 5
William I. Thomas und Dorothy S. Thomas, The Child in America. Behavior Problems and Programs, New York 1928, S. 572. Eine deutsche Übersetzung der betreffenden Stelle findet sich bei William I. Thomas, Das Kind in Amerika, in: Edmund H. Volkart (Hrsg.), William I. Thomas. Person und Sozialverhalten, Neuwied und Berlin 1965c (zuerst: 1951), S. 114.
6
Vgl. dazu auch die Einleitung und die Bemerkungen zu den sechs Lesarten des ThomasTheorem im Anschluß an Kapitel 5.
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Das Thomas-Theorem soll verstehen helfen, warum die Subjektivität der Menschen für die Erklärung der objektiven sozialen Prozesse so wichtig ist. Es wird in einem zunächst ganz anderen Zusammenhang eingeführt: Bei der Besprechung der Brauchbarkeit der sog. introspektiven Methode und der wissenschaftlichen Nützlichkeit auch sehr subjektiver Berichte von Akteuren über ihr Denken und Handeln. Wir wollen die gesamte Passage dieser mittlerweile klassisch gewordenen Stelle zitieren, weil sie auch einige methodisch wichtige Ausführungen zu den technischen Möglichkeiten der Situationsanalyse enthält:7 „Das Verhaltensdokument (die Einzelfallstudie, der Lebensbericht, die psychoanalytische Beichte) stellt eine zusammenhängende Erfahrung in verschiedenen Lebenssituationen dar. In einem guten Bericht dieser Art können wir die Verhaltensreaktionen in den verschiedenen Situationen, die Herausbildung von Persönlichkeitszügen, die Bestimmung konkreter Handlungen und das Entstehen von Leitbildern in ihrem Werden verfolgen. Die größte Bedeutung des Verhaltensdokuments liegt vielleicht in der Möglichkeit, die Einstellungen anderer Personen in ihrer Funktion als verhaltensformende Einflüsse zu beobachten; denn die wichtigsten Situationen in der Persönlichkeitsentwicklung stellen die Einstellungen und Werte anderer Personen dar. Insbesondere die Vertreter des „Behaviorismus“ haben den Einwand erhoben, daß diese introspektive Methode nicht objektiv sei. Sie meinen damit, daß diese Berichte nicht die Mechanismen des Verhaltens und den Vorgang des Bewußtwerdens aufzeigen, daß sie uns nicht lehren, was in uns vorgeht, wenn wir denken und handeln. Dem kann durchaus zugestimmt werden. Der einzigartige und wohl auch unbestrittene Wert des Verhaltensdokuments liegt jedoch darin, daß es Situationen beleuchtet, die das Verhalten bedingt haben. Hinsichtlich der Objektivität und Richtigkeit des Berichts mögen Zweifel gerechtfertigt sein, aber sogar der in hohem Grade subjektive Bericht ist für die Verhaltensstudie wertvoll. Ein Dokument, das von jemandem stammt, der einen Minderwertigkeitskomplex besitzt oder an einem Verfolgungswahn leidet, ist denkbar weit von der objektiven Wirklichkeit entfernt, aber das Bild, das sich der Betreffende von der Situation macht, ist zweifellos ein sehr wichtiger Faktor für die Interpretation. Denn sein unmittelbares Verhalten hängt eng mit seiner Situationsdefinition zusammen, die entweder der objektiven Wirklichkeit oder seiner subjektiven Vorstellung entsprechen kann.“ (Ebd., S. 113f.; Hervorhebung nicht im Original)
Also: Die subjektiven Vorstellungen, die das Handeln bestimmen, sind alles andere als unwichtige oder zu vernachlässigende Faktoren zur Erklärung des Handelns – auch unabhängig davon, ob diese subjektiven Vorstellungen objektiv richtig sind oder nicht. Genau dies erzeugt aber das Problem: Die gleiche objektive Situation kann von verschiedenen Akteuren – und nicht zuletzt: von einem externen Beobachter wie dem Sozialwissenschaftler – ganz anders gesehen und „definiert“ werden. Aber es ist immer nur die jeweilige aktuelle und tatsächlich vorliegende Definition der Situation für die Selektion des
7
Wir übernehmen für die folgenden Zitate die deutsche Übersetzung der entsprechenden Passagen aus „The Child in America“; vgl. Thomas 1965c, S. 113f.
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Handelns ausschlaggebend. Wenn dies nicht beachtet wird, kann es zu groben Fehldeutungen kommen, wie beispielsweise dieser: „So weigerte sich z.B. ein Gefängnisaufseher, die Anordnung eines Gerichts zu befolgen, nach welcher ein Gefängnisinsasse zu einem bestimmten Zweck nach außerhalb der Gefängnismauern zu schicken war. Er entschuldigte sich damit, daß der Mann zu gefährlich sei. Er hatte mehrere Menschen getötet, welche die unglückliche Angewohnheit hatten, auf der Straße mit sich selbst zu reden. Aus ihrer Lippenbewegung schloß der Mörder, daß sie ihn beschimpften und er benahm sich so, als ob dies wahr wäre.“ (Ebd., S. 114)
Und dann folgt der oben zitierte, berühmt gewordene und als Leitmotiv für die sog. interpretative Soziologie immer wieder betonte Satz, der dann später als das Thomas-Theorem bezeichnet worden ist. Subjektiver Sinn Das Thomas-Theorem stellt einen der wichtigsten Eckpunkte des soziologischen Denkens seit Max Weber dar. Max Weber hatte gleich im Anschluß an seine bekannte Definition der Soziologie zu Beginn von „Wirtschaft und Gesellschaft“ festgehalten: Handeln ist ein „Verhalten“, mit dem der oder die Handelnden einen „subjektiven Sinn“ verbinden.8 Der Begriff „Sinn“ meint dabei, daß die Akteure zielgerichtet und in – aus ihrer Sicht – verständlicher Weise an den Vorgaben der Situation orientiert handeln. Etwas deutlicher ausgedrückt: Menschen, die absonderliche Dinge tun, sind für Max Weber zunächst einmal keine Deppen und auch keine Marionetten, die sich von den äußeren Umständen bedingungslos mitreißen oder kausal antreiben lassen, sondern zur Reflektion ihres Handelns fähige Subjekte, die im Prinzip schon einigermaßen wissen, worum es jeweils geht. Was die Akteure in einer konkreten Situation tun, das ist für Max Weber – wie für das Ehepaar William I. und Dorothy S. Thomas – allein vom subjektiven Sinn bestimmt. Max Weber betont daher, für die Erklärung des Handelns sei nicht „etwa irgendein objektiv ‚richtiger’ oder ein metaphysisch ergründeter ‚wahrer’ Sinn“ maßgeblich, sondern immer nur der „subjektiv gemeinte Sinn.“ (Ebd., S. 1; Hervorhebung im Original). Darin liege „ ... der Unterschied der empirischen Wissenschaften vom Handeln: der Soziologie und der Geschichte, gegenüber allen dogmatischen: Jurisprudenz, Logik, Ethik, Aesthetik, welche an ihren Objekten den ‚richtigen’, ‚gültigen’ Sinn erforschen wollen.“ (Ebd., S. 1f.; Hervorhebungen nicht im Original)
8
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5. Aufl., Tübingen 1972 (zuerst: 1922), S. 1.
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Es sind also die empirisch realen, die subjektiven, jeweils aktuell gegebenen Sichtweisen und Interpretationen in einer Situation, die einen Akteur zu einem bestimmten Handeln bringen – und eben nicht: die objektiv gegebene oder ethisch oder normativ geforderte Situation, um die sich die lebendigen Menschen meist sowieso nicht besonders scheren. Menschen handeln nicht objektiv, sondern immer nur subjektiv vernünftig, wobei das manchmal auch zusammenfallen mag (vgl. dazu noch Kapitel 6 und 8 ausführlich). Das Konzept des subjektiven Sinns von Weber und das Thomas-Theorem meinen offenkundig das Gleiche. Die „Definition“ der Situation Die subjektive Definition der Situation bildet der Akteur vor dem Hintergrund der äußeren und der inneren Bedingungen der Situation über einen komplexen Prozeß verschiedener Selektionen, bei denen Kognitionen und Emotionen, Wahrnehmungen und Gefühle, Reflexe und Reflektionen, Spontanität und Berechnung beteiligt sind. Es ist der Vorgang, über den der Akteur aus den äußeren Bedingungen und seinen inneren Einstellungen ein spezifisches Modell der Situation auswählt, auf dessen Grundlage er alle weiteren Selektionen vornimmt – und dann auch handelt (vgl. dazu noch Kapitel 5). Wir müssen uns der Erklärung der subjektiven Definition der Situation vor dem Hintergrund der objektiven Bedingungen in mehreren Schritten nähern. Es ist eines der schwierigsten Themen der Soziologie überhaupt. Manche halten es für das wichtigste, andere für das am ehesten entbehrliche Problem bei soziologischen Erklärungen. Die Hauptschwierigkeit in der Darstellung und eine Unzahl von Diskussionen und Mißverständnissen ergeben sich daraus, daß ganz verschiedene Dinge gemeint sind. Dabei ist die Sache recht einfach: Es geht bei der subjektiven Definition der Situation um ein inneres Tun eines einzelnen Akteurs im Moment einer gegebenen Situation, der auf der Grundlage der objektiven äußeren und inneren Bedingungen eine Selektion über eine bestimmte subjektive Sicht der Situation vornimmt. Für die Darstellung hier ergibt dies eine gewisse Komplikation, weil für die Erklärung dieses inneren Tuns erst die Gesetze der Logik der Selektion des Handelns allgemein bekannt sein müßten. Aber darauf kommen wir ja erst noch in den Kapiteln 7 und 8. Andererseits können wir die Logik der Selektion hier noch nicht behandeln, weil diese ja wiederum auf den Randbedingungen der subjektiven Definition der Situation beruht. Außerdem ist empirisch so gut wie jede subjektive Definition der Situation ein Element eines komplexen kollektiven und interaktiven Prozesses: die „Konstitution“ einer kollektiven Definition der Situation. Das ist nichts anderes als die wechselseitige Bestärkung mehrerer Akteure in der „Richtigkeit“ ihrer jeweiligen subjektiven Definition der Situation. Diese kollektive Konstitution vollzieht sich in Gruppenprozessen und Interaktionen (vgl. dazu auch noch Kapitel 5). Also müßten eigentlich auch diese Vorgänge erst besprochen sein. Das geht aber erst, wenn wir wissen, wie das Handeln einzelner Akteure zustandekommt. Denn Interaktionen in Gruppen sind ja nur „Inter“Aktionen zwischen einzelnen Akteuren und beruhen wieder auf den Selektionen der einzelnen Akteure. Darüber wird aber erst noch später, vor allem in Band 2, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“, gesprochen werden können. Kurz: Man weiß nie, wo man anfangen
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soll. Wir gehen deshalb zwar schrittweise, manchmal aber auch vorgreifend und wiederholend vor. Das Thema durchzieht im Grunde alle fünf Bände der „Speziellen Grundlagen“.
Wie hat man sich nun aber die subjektive Definition der Situation vorzustellen? William I. Thomas und Florian Znaniecki haben freundlicherweise selbst ein anschauliches Beispiel dafür gebracht. Es stammt aus dem fünften Band des „Polish Peasant“ und wird in der „Methodological Note“ zur Ausgabe des ersten Bandes von 1927 berichtet. Dabei geht es um den Fall eines Ehemanns, der gerade von der Untreue seiner Frau erfahren hat, und nun überlegt, ob er sie verlassen soll. Thomas und Znaniecki unterscheiden zunächst die beiden grundlegenden Elemente der Situation, auf die wir in Kapitel 1 hingewiesen hatten: die äußeren Bedingungen und die inneren Einstellungen. Zuerst die äußeren Bedingungen der Situation des gehörnten Ehemanns: „The objective conditions were: (1) the social institution of marriage with all the rules involved; (2) the wife, the other man, the children, the neighbors, and in general all the individuals constituting the habitual environment of the husband and, in a sense, given to him as values; (3) certain economic conditions; (4) the fact of the wife’s infidelity.“ (Thomas und Znaniecki 1927, S. 69)
Dann seine inneren Einstellungen: „Toward all these values the husband had certain attitudes, some of them traditional, others recently developed.“ (Ebd.)
Das ist in der Vielfalt der Aspekte alles sehr unübersichtlich, erst recht für den wohl etwas entnervten Ehemann. Bei dieser Komplexität bleibt es aber nicht lange: „Now, perhaps under the influence of the discovery of his wife’s infidelity, perhaps after having developed some new attitude toward the sexual or economic side of marriage, perhaps simply influenced by the advice of a friend in the form of a rudimentary scheme of the situation helping him to ‚see the point’, he defines the situation for himself.“ (Ebd.; Hervorhebungen nicht im Original)
Es werden zunächst also – in einer raschen Abfolge von kurzen Denk- und Bewertungsprozessen – alle möglichen Aspekte erwogen: die emotionale Verletzung aus der Untreue seiner Frau, die wirtschaftliche Bürde des Familienlebens, vielleicht die Verlockungen einer bis jetzt verheimlichten Geliebten, das ironische Grinsen der Nachbarn über sein Ungemach, und so weiter. Schließlich aber fällt eine Entscheidung über die „Definition“ der Situation: „And in this definition some one attitude – sexual jealousy, or desire for economic freedom, or love for the other woman, or offended desire for recognition – or a complex of these attitudes, or a new attitude (hate, disgust) subordinates to itself the others and manifests itself chiefly in the subsequent action, which is evidently a solution of the situation, and fully determined both
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Situationslogik und Handeln
in its social and in its individual components by the whole set of values, attitudes, and reflective schemes which the situation included.“ (Ebd., S. 69f.; Hervorhebungen nicht im Original)
Das Ergebnis ist eine einfache und eindeutige, von der ursprünglichen Vieldimensionalität und Komplexität ganz bereinigte Sicht der Situation. Sie – und nur sie – leitet das darauf folgende Handeln. Leider präzisieren Thomas und Znaniecki nicht weiter, nach welchen Regeln eine solche bestimmte Definition der Situation eigentlich selegiert wird. Sie fügen der eben zitierten Stelle über die Definition der Situation durch den gehörnten Ehemann aber noch einen interessanten – und für das gesamte Verständnis der auch sozialen Prozesse hin zur „Definition“ einer bestimmten Situation auch sehr wichtigen – Satz an: „When a situation is solved, the result of the activity becomes an element of a new situation, and this is most clearly evidenced in cases where the activity brings a change of a social institution whose unsatisfactory functioning was the chief element of the first situation.“ (Ebd.; S. 70; Hervorhebungen nicht im Original).
Die alles andere einrahmende Definition der Situation ist also die Lösung einer zunächst als überkomplex und als problematisch empfundenen Situation. Und das daran anschließende, mehr oder weniger unreflektiert ablaufende Handeln schafft externe Effekte und neue äußere wie innere Bedingungen, die für jede nachfolgende Definition der Situation und für das nachfolgende Handeln wieder bedeutsam werden. Selektion, Vereinfachung und Zuspitzung Die subjektive „Definition“ der Situation ist die vom Akteur selbst abgegebene einfache Antwort auf unendlich viele komplizierte Fragen. Jede subjektive Definition der Situation ist eine Selektion aus möglichen Alternativen anderer Festlegungen. Ihr voraus geht die Wahrnehmung und Interpretation der vielen einzelnen „objektiven“ Objekte in der Situation. Die Selektion geschieht über einen Vergleich der im Gedächtnis gespeicherten Modelle typischer Situationen, etwa die aus dem Repertoire der Me-Sektoren der sozialen Identität des Akteurs, mit den erkennbaren Umständen, insbesondere mit der Wahrscheinlichkeit für die „Passung“ des Modells und mit der Präferenz für oder gegen dieses Modell. Es ist, wie man sieht, ein inneres Tun, das den gleichen Bedingungen unterliegt und auch den gleichen Regeln folgt wie das Handeln ganz allgemein. Beispielweise: Gilt für den betrogenen Ehemann bei Thomas und Znaniecki das etwas unangenehme, aber recht naheliegende Modell „gehörnter Ehemann“ oder das etwas weniger ver-
Das Thomas-Theorem
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letzende, aber nicht so wahrscheinliche Modell „treuloses Flittchen“ für den Vorgang? Stimmen die erkennbaren Hinweise komplett mit der jeweils erwogenen Bedeutung überein, oder sind gewisse Störungen vorhanden? Was spräche eigentlich dagegen, sich ein klein wenig über die vorliegenden Tatsachen selbst zu betrügen, wenn das dadurch mögliche Modell etwas weniger desavouierend wäre? Wie weit kann man diesen Selbstbetrug angesichts der erkennbaren Fakten treiben? Gibt es Hinweise auf eine ganz andere Bedeutung und auf ein ganz anderes Modell der Situation, das einem ganz aus der Patsche hilft – wie etwa der Wechsel zur heimlichen Geliebten und der Umdeutung der Situation als ein längst beschlossener eigener Plan? Und so weiter.
Die Definition der Situation ist immer eine vereinfachende Selektion. Es ist eine Form der Reduktion der übergroßen Komplexität, die jeder Situation ansonsten anhaftet. Die Definition der Situation ist somit immer auch eine Zuspitzung der Sichtweise auf jeweils einen maßgeblichen Gesichtspunkt, auf ein Oberziel, auf ein Leitmotiv, auf einen Code, wie man sagen könnte. Gerade durch diese vereinfachende Zuspitzung gewinnt sie ihre rahmende und orientierende und handlungsleitende Kraft. Die subjektive Definition der Situation ist eine „Entscheidung“, aber eben keine willkürliche Vereinfachung, die der Akteur auch lassen könnte. Sie ist meist eine schiere Notwendigkeit. Die alles andere ausblendende Rahmung der Situation ist nämlich schon wegen der grundsätzlich begrenzten Fähigkeiten des Menschen, mit komplexen Verhältnissen umzugehen, eine unumgängliche Grundlage für die Selektion des Handelns. Die vereinfachende und zuspitzende subjektive Definition der Situation ist ein Teil des klugen Umgangs der Menschen mit seiner begrenzten Rationalität und mit der Überfülle und Komplexität an Informationen, die jede Situation mit sich bringt, und ohne deren drastische Verminderung ein subjektiv sinnhaftes und sozial koordiniertes Handeln überhaupt nicht denkbar wäre (vgl. dazu u.a. noch Kapitel 8). Garfinkel, Loriot und Hildegard Ist ein solches vereinfachendes und zuspitzendes und deshalb orientierendes, Sicherheit und Zuversicht verleihendes Modell der Situation einmal aktiviert, dann bekommt es – bei all seiner Subjektivität – eine außerordentlich stark bindende, „selbst-verständliche“ und sogar objektive Kraft. Der Alltag ist – gottlob – von einem ganzen Kranz solcher Selbstverständlichkeiten umgeben. Diese Entlastung ist es dann aber gerade auch, die die starke emotionale, manchmal sogar auch moralische Bindung an eine einmal vollzogene Definition der Situation erklärt: Jedes Denken an etwas anderes, erfüllt den Akteur mit einem gewissen Horror – und er läßt es deshalb. Aus guten Gründen. Die Fraglosigkeit der subjektiven Sicht gibt ihm ja erst die notwendige Sicherheit
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Situationslogik und Handeln
für das Handeln in einer stets überkomplexen Welt. Stabile subjektive Welten sind eine hart erarbeitete Errungenschaft. Oft wird einfach vergessen, wie fragil die Welt der Selbstverständlichkeiten eigentlich ist. Und deshalb irritiert die Menschen kaum etwas mehr als der – gottlob seltene – Fall, daß gewisse Selbstverständlichkeiten plötzlich und unerwartet nicht mehr gelten. Der amerikanische Soziologe Harold Garfinkel, der Begründer der sog. Ethnomethodologie, hat diese von ihm so genannten „Routine Grounds of Everyday Activities“ in einer ganzen Reihe von sog. Krisenexperimenten offengelegt.9 Der dabei angewandte Trick war immer der gleiche: Es wurde systematisch und bewußt eine an sich ganz fraglos zu erwartende, aber wegen der Fraglosigkeit auch nicht beachtete, Winzigkeit in einer Situation geändert. Beispielsweise, indem jemand die freundliche Routinefrage „Wie geht es?“ mit der bohrenden Nachfrage beantwortet: „Was meinst Du eigentlich damit: ‚Wie geht es?’?“. Und sofort bricht jedesmal der ganze Schein der Sicherheit und die bis dahin ganz unangezweifelte subjektive Definition der Situation als harmloser Morgengruß zusammen. Ärger und Entsetzen, manchmal auch Gelächter, in schweren Fällen der Ruf nach Polizei und Nervenarzt, sind die üblichen Reaktionen darauf. Und nicht immer treten dann ein Kurt Felix oder ein Fritz Egner hervor, die das Ganze freundlich lächelnd aufklären. Kurz: Die subjektive Definition der Situation erzeugt zwar eine starke Sicherheit des jeweils geltenden Sinns. Aber es darf nichts geschehen, was mit Sicherheit nicht zum definierten Modell der Situation dazugehört. Und das können belanglos erscheinende Kleinigkeiten sein, von denen man normalerweise keine Notiz nimmt – wie etwa die Nudel an der Nase von Loriot beim Rendezvous mit Hildegard, die dann ja auch ganz sprachlos ist. Der Wechsel des Sinns Der Vorgang der Rahmung einer Situation durch ihre subjektive Definition hilft auch zu erklären, warum Menschen je nach Situation ganz andere Interessen und Erwartungen entwickeln und sogar ganz unvermittelt ihre „Natur“ von einer Situation zur anderen auszutauschen scheinen, wenn sich die „Situation“ ändert und wenn dadurch eine andere subjektive Definition der Situation nahegelegt wird – etwa so wie dies bei den Hotelbesitzern im Beispiel von Richard T. LaPiere geschah, die ja jeweils ganz andere Menschen zu sein schie-
9
Vgl. Harold Garfinkel, Studies of the Routine Grounds of Everyday Activities, in: Harold Garfinkel, Studies in Ethnomethodology, Englewood Cliffs, N.J., 1967, S. 42ff.; 58ff.; 72ff.
Das Thomas-Theorem
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nen, bei den italienischen Kindern der Miss Caldwell und bei den Hypochondern, von denen William I. Thomas berichtete, oder auch etwa bei den Wendehälsen nach dem Zweiten Weltkrieg und nach dem Zusammenbruch der DDR. Immer waren es plötzlich ganz andere Menschen – obwohl ihre generellen Einstellungen bzw. ihre Identität dabei ganz stabil geblieben sein mögen. Die Menschen werden mit dem Wechsel des Rahmens des jeweils „definierten“ Sinnbereichs also offenbar tatsächlich anders. Sie verstellen sich nicht. Das wäre auch auf die Dauer viel zu anstrengend. Sie folgen vielmehr dem Sinn aus dem jeweils aktualisierten Modell der Situation. Die Situation sehen sie dann nur noch im Rahmen des neuen Sinns für das neue Modell – und handeln entsprechend, wieder wie selbstverständlich, innerhalb der dafür vorgesehen Regeln und Routinen. Es gibt nur wenige Menschen – wie die von Robert K. Merton so genannten all-weather-liberals oder all-weather-illiberals10 –, deren innere Einstellungen von einem einzigen Prinzip ihrer unverrückbaren und alles andere dominierenden Identität ganz durchzogen wäre. Gott sei Dank! Nur für solche „wert“-geleiteten Menschen stellt sich das Problem einer stets neu zu erbringenden und spezifischen subjektiven Definition der Situation nicht. Sie sehen die Welt immer nur durch die eine Brille ihrer allgemeinen Werte und generellen Einstellungen. Und sie muten damit ihrer Umgebung oft viel zu. Sie müssen aber auch oft selbst einen hohen Preis für ihre Unbeugsamkeit und Eigensinnigkeit bezahlen. Der Normalfall ist – gottlob – ein anderer: die im Prinzip auch an den spezifischen Bedingungen orientierte subjektive Definition der Situation und die kluge Orientierung an naheliegenden und zuträglichen Modellen der Situation.
Der Reiter und der Bodensee Zum Thomas-Theorem und zur oft unerkannten Lebensgefährlichkeit des fraglosen Alltags mit seinen zahllosen Gelegenheiten, mächtig einzubrechen, gibt es ein etwas altertümlich-dramatisches Gedicht. Es stammt von dem Volksdichter Gustav Schwab.11 Und das geht so:
10
Robert K. Merton, Discrimination and the American Creed, in: Peter I. Rose (Hrsg.), The Study of Society. An Integrated Anthology, 2. Aufl., New York 1970, S. 452, 455.
11
Gustav Schwab, Der Reiter und der Bodensee, in: Ludwig Reiners (Hrsg.), Der ewige Brunnen. Ein Hausbuch deutscher Dichtung, 2. Aufl., München 1959, S. 327-329.
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Situationslogik und Handeln Der Reiter reitet durchs helle Tal, auf Schneefeld schimmert der Sonne Strahl. Er trabet im Schweiß durch den kalten Schnee, er will noch heut an den Bodensee; noch heut mit dem Pferd in den sichern Kahn, will drüben landen vor Nacht noch an. Auf schlimmem Weg, über Dorn und Stein, er braust auf rüstigem Roß feldein. Aus den Bergen heraus, ins ebene Land, da sieht er den Schnee sich dehnen wie Sand. Weit hinter ihm schwinden Dorf und Stadt, der Weg wird eben, die Bahn wird glatt. In weiter Fläche kein Bühl, kein Haus, die Bäume gingen, die Felsen aus; so flieget er hin eine Meil’ und zwei, er hört in den Lüften der Schneegans Schrei; es flattert das Wasserhuhn empor, nicht anderen Laut vernimmt sein Ohr; keinen Wandersmann sein Auge schaut, der ihm den rechten Pfad vertraut. Fort geht’s, wie auf Samt, auf dem weichen Schnee, wann rauscht das Wasser, wann glänzt der See? Da bricht der Abend, der frühe, herein: von Lichtern blinket ein ferner Schein. Es hebt aus dem Nebel sich Baum an Baum, und Hügel schließen den weiten Raum. Er spürt auf dem Boden Stein und Dorn, dem Rosse gibt es den scharfen Sporn. Und Hunde bellen empor am Pferd, und es winkt im Dorf ihm der warme Herd. ‚Willkommen am Fenster, Mägdelein, an den See, an den See, wie weit mag’s sein?‘ Die Maid, sie staunet den Reiter an: ‚Der See liegt hinter dir und der Kahn. Und deckt’ ihn die Rinde von Eis nicht zu, ich spräch’, aus dem Nachen stiegest du.‘ Der Fremde schaudert, er atmet schwer: ‚Dort hinten die Ebne, die ritt ich her!‘ Da recket die Magd die Arm in die Höh: ‚Herr Gott! so rittest du über den See! An den Schlund, an die Tiefe bodenlos, hat gepocht des rasenden Hufes Stoß! Und unter dir zürnten die Wasser nicht? Nicht krachte hinunter die Rinde dicht? Und du wardst nicht die Speise der stummen Brut? Der hungrigen Hecht’ in der kalten Flut?‘ Sie rufet das Dorf herbei zu der Mär, es stellen die Knaben sich um ihn her; die Mütter, die Greise, sie sammeln sich: ‚Glückseliger Mann, ja, segne du dich! Herein zum Ofen, zum dampfenden Tisch,
Das Thomas-Theorem
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brich mit uns das Brot und iß vom Fisch!‘ Der Reiter erstarret auf seinem Pferd, er hat nur das erste Wort gehört. Es stocket sein Herz, es sträubt sich sein Haar, dicht hinter ihm grinst noch die grause Gefahr. Es siehet sein Blick nur den gräßlichen Schlund, sein Geist versinkt in den schwarzen Grund. Im Ohr ihm donnert’s, wie krachend Eis, wie die Well’ umrieselt ihn kalter Schweiß. Da seufzt er, da sinkt er vom Roß herab, da ward ihm am Ufer ein trocken Grab.
Es ist nicht überliefert, wo der Reiter bei seinem Weg über den Bodensee angekommen ist und wo ihn der Schlag getroffen hat. In Konstanz vielleicht?
Kapitel 3
Die Objektivität der Situation
Das Thomas-Theorem wie das Konzept des subjektiven Sinns von Max Weber betonen gleichermaßen, daß erst die subjektive Definition der Situation die „reale“ und für die Selektion des Handelns immer nur maßgebliche Logik der Situation bestimme. Daran gibt es wohl auch keinen vernünftigen Zweifel. Die Frage stellt sich dann aber gerade für eine soziologische Erklärung, die ja eben nicht an den individuellen Ideosynkrasien der Einzelpersonen, sondern an den objektiven sozialen Strukturen und Prozessen interessiert ist, sofort: Wie eng sind eigentlich die Beziehungen zwischen den objektiven Merkmalen einer Situation und den subjektiven Interpretationen dieser objektiven Vorgaben durch die Akteure? Sind es also nicht lediglich einige wenige Verrückte oder Unerfahrene, die nicht erkennen, welche Opportunitäten, welche institutionellen Regeln und welcher Bezugsrahmen tatsächlich gelten bzw. welche „objektive“ Bedeutung sie haben? Ist es angesichts dessen überhaupt nötig, auf die subjektiven Interpretationen der Menschen zurückzugehen? Reicht es nicht aus, lediglich die – wie dies Max Weber ausgedrückt hat – objektiv gegebenen „Chancen“ für bestimmte subjektive Deutungen zu erfassen und alle individuellen Ideosynkrasien zu übergehen? Ist der Hinweis auf die subjektive Definition der Situation nicht viel eher eine recht bequeme Ausrede, die von der eigentlichen soziologischen Arbeit – der typisierenden Modellierung der objektiven Situation für typische Gruppen von Akteuren – nur ablenkt?
Genau diese Gefahr sehen viele Soziologen angesichts der Leichtigkeit, mit der sich die Formel des Thomas-Theorems aufsagen läßt. Arthur L. Stinchcombe beispielsweise lobt Robert K. Merton deshalb besonders, weil der die an sich ja richtige und wichtige Idee des Thomas-Theorems mit einer konsequent strukturellen Perspektive verbunden und es nicht bei der bloßen Auskunft belassen habe, daß alles Handeln eben eine Frage der subjektiven Definition der Situation sei: „The core process of choice between socially structured alternatives (der Ansatz von Merton; HE) owes a great deal (explicitly acknowledged) to the W. I. Thomas-G. H. Mead analysis of definitions of situations and self-conceptions. Where it differs from much contemporary work
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Situationslogik und Handeln
derived from that tradition is in not adding to it the hopeless proposition, ‚God only knows what definitions people will give to situations’.“1
Bei Niklas Luhmann ist der aus dieser kritischen Sicht einsichtige, wenngleich aus seiner Feder auch nicht sehr überraschende, Satz zu finden: „Zumeist dominiert – und dies gerade nach dem Selbstverständnis des psychischen Systems! – die Situation die Handlungsauswahl. Beobachter können das Handeln sehr oft besser auf Grund von Situationskenntnis als auf Grund von Personkenntnis voraussehen, ... .“2
Und sogar der amerikanische Soziologe Erving Goffman (1911-1982), der sich besonders intensiv gerade mit den Vorgängen der subjektiven Definition von Situationen beschäftigt hat und als einer der Hauptvertreter der ThomasMead-Tradition gelten kann, wandte sich – wohl nicht ohne Grund – in einer seiner letzten Arbeiten deutlich gegen eine allzu subjektivistische Interpretation des Thomas-Theorems: „Diese Behauptung (des Thomas-Theorems; HE) ist ihrem Wortlaut nach richtig, wird aber falsch aufgefaßt. Wenn eine Situation als wirklich definiert wird, so hat das gewiß Auswirkungen, doch diese beeinflussen die Vorgänge vielleicht nur sehr am Rande; manchmal fällt nur der Schatten einer Störung einen Augenblick lang auf die Szene, wenn man nachsichtig an diejenigen denkt, die die Situation falsch definieren wollten. Die Welt ist nicht einfach eine große Bühne ... .“3
Die Frage nach dem Verhältnis zwischen der objektiven Logik der Situation und den subjektiven Definitionen derselben entspricht einem zentralen Problem der modellierenden soziologischen Erklärung: Wie weit kann man sich darauf verlassen, daß die objektiven Verhältnisse auch den subjektiven Sichtweisen der Akteure entsprechen? Bezogen auf die Brückenhypothesen zur Beschreibung der Logik der Situation stellt sich das Problem so: Wie genau muß eigentlich die „Personkenntnis“ zur Beschreibung der Logik der Situation bei einer soziologischen Erklärung sein? Welche typischen Aspekte der Situation sind es, die es erlauben, auch unabhängig von Informationen über die einzelnen, konkreten Individuen etwas über die „Logik“ der Situation zu wissen, denen sie sich ausgesetzt sehen? Und vor allem: Kann man die Brückenhypothesen zur Beschreibung der Situation auch unabhängig von den immer etwas subjektivierenden und rationalisierenden Äußerungen der Akteure selbst, also: bereits aus der Perspektive eines externen Beobachters, formulieren – und dennoch die subjektiven Deutungen der Akteure korrekt erfassen? Wir werden auf dieses Problem 1
Arthur L. Stinchcombe, Merton‘s Theory of Social Structure, in: Lewis A. Coser (Hrsg.), The Idea of Social Structure. Papers in Honor of Robert K. Merton, New York u.a. 1975, S. 14; Hervorhebung im Original.
2
Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/M. 1984, S. 229.
3
Erving Goffman, Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen, Frankfurt/M. 1980 (zuerst: 1974), S. 9; Hervorhebung nicht im Original.
Die Objektivität der Situation
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immer wieder einmal zurückkommen, insbesondere in Kapitel 10 über die „Logik“ der Situation.
Um diese Probleme des Verhältnisses von objektiver Situation und subjektiver Definition der Situation geht es in diesem Kapitel. Wir wollen die Frage zunächst im Zusammenhang des Konzeptes der sozialen Rolle und am Beispiel des Studentenprotestes an den amerikanischen Universitäten aus Kapitel 1 besprechen. Speziell soll es dabei um die Frage gehen, warum bereits aus objektiven, relativ leicht auch von einem externen Beobachter feststellbaren Gründen davon ausgegangen werden kann, daß – normalerweise – Hochschullehrer mit einer guten Reputation sich viel weniger um die Lehre kümmern als ihre weniger angesehenen Kollegen, und warum die angesehenen und forschenden Professoren sehr viel weniger vor Ort zu finden sind als die weniger angesehenen und eher lehrenden Hochschullehrer. Die hier vorgenommene Vertiefung der Frage nach der Art der Logik der Situation bezieht sich also auf die Teilbeziehung A F C des Sequenzmodells in Abbildung 1.1 aus Kapitel 1. Ein Vorschlag zur erklärenden Verbindung zwischen objektiver Situation und subjektiver Definition wird in Abschnitt 3.2 und 3.3 dargestellt: das Konzept der sozialen Produktionsfunktionen. In Abschnitt 3.4 werden die Grundaussagen dieses Konzeptes dann mit einer Unterscheidung verbunden, mit der Robert K. Merton die grundlegenden Strukturen von Gesellschaften beschreiben wollte: Kulturelle Ziele und institutionalisierte Mittel.
Im Kern der Überlegungen – auch für die weiteren Ausführungen in anderen Kapiteln – steht das Konzept der sozialen Produktionsfunktion. Das Wort klingt sehr nach Ökonomie. Und das ist auch kein Zufall, weil der Begriff der Produktionsfunktion in der Tat aus den Wirtschaftswissenschaften stammt. Wir werden aber gleich sehen, daß die Soziologie mit einem ihrer grundlegenden eigenen Konzepte eine ganz ähnliche, wenngleich sehr viel ungenauere, Vorstellung entwickelt hat – mit dem Konzept der sozialen Rolle.
3.1
Soziale Rollen und die Identifikation mit der Situation
Der Alltag des Menschen ist normalerweise tatsächlich wesentlich weniger subjektiv, als es das Thomas-Theorem nahelegt: Die Menschen folgen den objektiven Vorgaben der Situation und sie sehen die Welt auch – wenigstens in groben Zügen – entsprechend. Warum sich menschliche Akteure meist in ganz erstaunlicher Weise in ihrem Denken, Fühlen und Handeln an objektive situationale Vorgaben halten, wird in der Soziologie mit dem Konzept der sozialen Rolle zu erklären versucht. Soziale Rollen sind der mit bestimmten Positionen verbundene Satz an Verhaltenserwartungen. Die Position des Oppositionsführers verlangt beispielsweise, daß der jeweilige Inhaber der Stelle der Regierung Dampf macht. Dieser Vorgabe muß er genügen. Tut er es nicht, wird er bald abgewählt. Soziale Rollen sind Spezialfälle institutioneller Regeln (vgl. dazu noch Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Rollen bestehen meist aus verschie-
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Situationslogik und Handeln
denen Teilrollen bzw. Rollensegmenten, zwischen denen in der Regel ein gewisser Freiheitsgrad der Gewichtung besteht. Die Teilrollen beschreiben innerhalb des Rahmens einer bestimmten Rolle typische Alternativen des Handelns, zwischen denen ein Akteur wählen kann. Gäbe es nur eine Rolle und gäbe es nur ein Rollensegment, dann wäre die Frage nach der Logik der Situation recht einfach: Akteure folgen den Vorgaben der Rollenerwartungen – wenn sie es können und wenn es keine attraktiven Versuchungen zur Abweichung von der objektiven Definition der Situation durch die Rollenerwartungen gibt.
Nicht jedes Handeln ist zwar rollenorientiertes Handeln. Für Professoren gibt es aber ohne Zweifel eine – zum Teil in den rechtlichen Regelungen seines Beamtenstatus fest vorgeschriebene – soziale Rolle: die des Hochschullehrers. Hier gibt es auch eine Wahlmöglichkeit, besser: einen Wahlzwang, zwischen bestimmten Teilrollen: Der Professor kann bzw. muß sich – in gewissen Grenzen – entscheiden, ob er lieber mehr der Teilrolle des Forschers oder der des Lehrers folgen möchte. Und genau hier ist der Punkt, an dem die subjektive Definition der Situation wichtig wird: Welche subjektive Gewichtung der beiden – erlaubten – Teilrollen soll vorgenommen werden? Wie soll die jeweilige Teilrolle, von der ja gerade bei Professoren nicht alles in den Rollen„Vorschriften“ festgelegt werden soll, mit konkretem Handeln ausgefüllt werden? Und wie frei sind die Professoren dann in der Ausfüllung der jeweiligen Teilrolle, wenn sie sich auf eine davon eingelassen haben? Locals and Cosmopolitans Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist die ganz zu Beginn des Kapitels 1 beschriebene Beobachtung, daß die Professoren an den amerikanischen Universitäten – und übrigens nicht nur dort – ihre Teilrollen in jeweils ganz typischer Weise und ohne viel subjektive Varianz in ihren Interpretationen ausüben: Die Professoren, die sich der Lehre verschrieben haben, verfolgen typischerweise eher lokale Aktivitäten. Und die Professoren mit hoher Reputation konzentrieren sich auf die Teilrolle der Forschung und glänzen als Kosmopoliten regelmäßig durch Abwesenheit – getreu dem bekannten Spruch, wonach die Harvard University und die Lufthansa eines gemeinsam haben: ein Drittel des Personals ist immer in der Luft. Wir wollen die beiden Typen von Hochschullehrern der Einfachheit halber als Locals und als Cosmopolitans bezeichnen. Die Unterscheidung von Locals und Cosmopolitans geht auf eine Differenzierung zurück, die Robert K. Merton bei kommunalen Eliten in der amerikanischen Gemeinde Rovere festgestellt hatte: „The chief criterion for distinguishing the two (types of influentials; HE) is found in their orientation toward Rovere. The localite largely confines his interests to this community. Rovere is essentially his world. Devoting little thought or energy to the Great Society, he is
Die Objektivität der Situation
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preoccupied with local problems, to the virtual exclusion of the national and international scene. He is, strictly speaking, parochial. Contrariwise with the cosmopolitan type. He has some interest in Rovere and must of course maintain a minimum of relations within the community since he, too, exerts influence there. But he is also oriented significantly to the world outside Rovere, and regards himself as an integral part of that world. He resides in Rovere but lives in the Great Society. If the local type is parochial, the cosmopolitan is ecumenical.“4
Die Frage ist dann: Warum existiert bei den Professoren eine derart feste und offensichtlich nicht ganz frei zu wählende Beziehung zwischen Lehre und lokaler Orientierung und zwischen Forschung und kosmopolitischer Orientierung? Welche strukturellen Merkmale der Situation also bringen die Lehrer dazu, ihr Trachten und Handeln auf den Campus, und die Forscher dieses auf die weite Welt zu konzentrieren? Die folgende Darstellung des Prinzips der objektiven Definition der Situation vereinfacht – aus Gründen der Übersichtlichkeit der Darstellung – die „wirklichen“ Verhältnisse bei den Hochschullehrern etwas. Dies bezieht sich insbesondere darauf, daß eine gute Forschung meist auch der Lehre zustatten kommt und daß schlechte Lehrer auch meist keine besondere Lust für die Forschung haben. Daneben gilt – hierzulande wenigstens – die beamtenrechtliche Vorgabe, daß Hochschullehrer Forschung und Lehre – und nicht zuletzt auch die Selbstverwaltung! – miteinander zu verbinden haben.
Die Lösung des Rätsels beginnt mit der Frage, woher eine überlokale Bekanntheit im Wissenschaftsbereich überhaupt stammt. Die Antwort ist nicht schwer zu finden: Die überlokale Bekanntheit der Professoren stammt – in aller Regel – von ihren Publikationen. Publikationen erreichen schon von den technischen Gegebenheiten her eine größere Öffentlichkeit als mündliche Vorträge. Publikationen sind ferner eine Angelegenheit der Qualität der Forschungsarbeiten der Hochschullehrer: Die Herausgeber von Fachzeitschriften und Fachbüchern achten sehr auf den guten Ruf ihrer Zeitschrift bzw. ihrer Buchreihe. Und sie trachten daher danach, nur wirklich gute und innovative Artikel und Manuskripte zu publizieren. Das sind in aller Regel solche, die aus aktuellen und aufwendigen Forschungsarbeiten stammen. Und wer viel forscht, hat bereits aus Gründen der Zeitrestriktion weniger Gelegenheit, sich auf die Besonderheiten einer mitreißenden Lehre einzustellen. Dies ist die eine Seite. Die andere hat mit den technischen, vor allem aber mit einigen sozialen Besonderheiten der Lehre zu tun. Daß die Studenten, die einer großen Vorlesung folgen, den Ruhm der rhetorischen und der sonstigen Gaben des Herrn Professors in die Eifel oder in die Pfalz weitertragen, ist erstens unwahrscheinlich und zweitens für sein Ansehen draußen im Lande ver4
Robert K. Merton, Patterns of Influence: Local and Cosmopolitan Influentials, in: Robert K. Merton, Social Theory and Social Structure, 11. Aufl., New York und London 1967b, S. 393; Hervorhebung im Original.
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hältnismäßig unwirksam. Die Eltern und die Tanten der Studenten haben meist weit Besseres zu tun, als sich von der Exzellenz der Veranstaltungen in Köln oder Mannheim zu überzeugen. Und ihr Urteil ist für das wissenschaftliche Ansehen des Professors in der Regel nicht sehr wichtig. Dazu kommt: Die Vorbereitung einer guten Vorlesung ist zwar einer guten Forschung nicht gerade hinderlich. Sie ist aber sehr zeitaufwendig. Und diese Zeit fehlt dann, um ganz vorne an der Forschungsfront stehen zu können. Und die Folge: Es wird vergleichsweise wenig und nicht so herausragend publiziert. Und damit kann auch der Bekanntheitsgrad normalerweise nicht der gleiche sein wie bei den forschenden Kollegen. Aus alledem ergibt sich: Über die soziale Organisation der wissenschaftlichen Publikationen und über einige bereits technisch bedingte Restriktionen haben gute Forscher eine strukturell bedeutend höhere Chance, bekannt zu werden, als gute Lehrer – ganz unabhängig von den individuellen Talenten und unabhängig von der subjektiven Definition der Situation durch die einzelnen Akteure. Diese Feststellungen haben also zunächst nichts mit irgendwelchen Annahmen darüber zu tun, ob die Lehre oder die Forschung schwieriger sind, ob man für das eine oder das andere grundsätzlich mehr Talent und Fleiß braucht oder wie hoch das Ausmaß sozialer Anerkennung und Wertschätzung für die eine oder für die andere Aktivität ist. Ganz unabhängig davon ist die Lehre eine schon strukturell lokal stark begrenzte Angelegenheit: „Der ‚gute’ Lehrer wird von seinen Studenten geschätzt. Er ist bei der Verwaltung der Einrichtung, der er angehört, gern gesehen. Aber es gehört zur Ausnahme, daß der Bekanntheitsgrad eines Lehrers über die Mauern dieser Einrichtung hinausreicht.“5
Demgegenüber ist der gute Forscher typischerweise – als Ursache wie als Folge seiner so vorzüglichen Forschungen – in überlokale Beziehungen eingebettet: „A superior academic reputation means, by definition, that a person is widely acknowledged to be capable of making significant contributions and that his or her participation in scholarly and scientific endeavors is consequently in wide demand. Owing to the greater demand for academics with research reputations, they are frequently drawn into scientific meetings and scholarly conferences and sometimes consulted by government and industry, which is rarely
5
Raymond Boudon, Die Logik des gesellschaftlichen Handelns. Eine Einführung in die soziologische Denk- und Arbeitsweise, Neuwied und Darmstadt 1980, S. 62; Hervorhebungen so nicht im Original.
Die Objektivität der Situation
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the case for teachers, whose lower visibility restricts the recognition they receive even if they have great talents.“6
Und daraus folgt ganz objektiv und als strukturelles Merkmal der Logik der Situation eines forschenden Hochschullehrers: „Das System der Belohnungen für den Forscher ist ... seinem Wesen nach kosmopolitisch.“ (Boudon 1980, S. 62f.; Hervorhebung im Original)
Die Art der überlokalen Organisation der Forschung und schon die technischen Bedingungen einer guten Lehre sorgen also dafür, daß Professoren, die sich auf die eine oder die andere Teilrolle spezialisiert haben, nun eigentlich keine besondere Wahl mehr haben: Die einen müssen sich in überlokalen Aktivitäten engagieren, wenn sie weiter anerkannt bleiben wollen. Und die anderen müssen sich auf die lokale Szene einstellen, wenn sie ihren Einfluß am Ort behalten wollen. Sicherlich konnten sich die Hochschullehrer in ihrem Leben auch einmal „individuell“ entscheiden, was sie lieber machen wollten: mehr Forschung oder mehr Lehre. Bei der Entscheidung für die eine oder die andere Aktivität spielten zu Beginn der Karriere der Hochschullehrer wohl auch die verschiedenen Talente, lokalen Ressourcen und Möglichkeiten, sowie auch Zufall und ein wenig Glück oder Pech eine Rolle. Ist die Entscheidung aber einmal gefallen – der Aufsehen erregende Artikel wurde tatsächlich und früh genug publiziert oder es blieb nur bei den Pflichtexemplaren einer mittelmäßigen Dissertation –, dann ist die Entscheidung über die weitere Definition der Situation als Local oder als Cosmopolitan keine Frage der bloßen Subjektivität mehr: Die Definition der subjektiven Wirklichkeit geschieht nicht bloß zufällig, sondern folgt dann auch von den Interessen des jeweiligen Akteurs selbst her klugerweise den institutionell objektivierten Bedingungen der Produktion von Belohnungen durch die eine oder durch die andere Aktivität. Hinzu kommen häufig Selbstverstärkungsprozesse, die die anfangs nur schwachen Unterschiede in den vielleicht sogar tatsächlich sehr subjektiven Definitionen der Situation zu einer starken objektivierten Angelegenheit machen: Forscher, die viel forschen, werden immer besser und immer bekannter, taugen aber vielleicht für die Lehre immer weniger und blamieren sich daher häufiger vor den Studenten. Vor allem aber haben sie nicht viel Rückhalt in den lokalen Gremien und müssen von daher stets dafür sorgen, ihre Verankerung in der überlokalen Gemeinschaft der Wissenschaftler zu stärken – was dann um so mehr zur Abwesenheit vor Ort führt. Lehrer, die viel lehren, sind möglicherweise auch bei den Studenten immer beliebter; gewiß ist das jedoch nicht. Sie verfügen vor allem aber über immer mehr soziales Kapital aus ihren lokalen Bindungen an der Hochschule, wodurch sie durch lokale Aktivitäten auch immer mehr erreichen können. Und nicht zuletzt: Sie haben mit der Zeit praktisch keinerlei Chance mehr, durch ihre Forschungsarbeiten einen Fuß in die kosmopolitische Große Welt ihrer Wissenschaft zu setzen, weil sie nur noch etwas tun, was ein Nobelpreiskomitee weder kennt noch sonderlich beeindrucken würde. Und die Folge: Die objektiven Bedingungen für eine lokale oder für eine kosmopolitische Orientierung verschärfen sich für eine bestimmte Kohorte von Hochschullehrern im Laufe ihrer Karriere immer
6
Peter M. Blau, Structural Constraints and Status Complements, in: Lewis A. Coser (Hrsg.), The Idea of Social Structure. Papers in Honor of Robert K. Merton, New York u.a. 1975, S. 124; Hervorhebungen nicht im Original.
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Situationslogik und Handeln
mehr – und das führt dazu, daß sie schließlich nur noch eines können bzw. sich zutrauen: forschen oder lehren (vgl. dazu noch das Modell der entsprechenden „Logik der Situation“ in Kapitel 10). Und die Rekrutierungspraxis der Universitäten hat dann die Folge, daß an den guten Hochschulen exzellent geforscht, aber miserabel gelehrt wird, und daß an den weniger guten Hochschulen ein kommodes Studierklima herrscht, niemand aber an der vorderen Forschungsfront aktiv ist, und von den vielen Talenten außerhalb des Provinz-Campus keiner etwas weiß.
Die Akteure folgen – wenn sie auch nur einigermaßen die Organisation ihres Handlungsfeldes durchschauen und ihren „objektiven“ Interessen folgen – schon bald auch in ihren subjektiven Definitionen den objektiven Vorgaben der Situation. Und wenn sie es nicht tun und sich davon deutlich abweichende subjektive Definitionen der Situation leisten, dann werden sie rasch durch die objektiv ablaufenden Vorgänge dahin gebracht: Sie fügen sich den strukturellen Vorgaben – oder scheiden aus dem ganzen System schließlich aus. Die Übereinstimmung von objektiven Bedingungen und subjektiven Deutungen kann also durch die subjektiven Anpassungsleistungen der Akteure an die objektiven Vorgaben der Situation – oder aber durch eine Art von evolutionärer Selektion bzw. differentieller Reproduktion erklärt werden: Die Akteure, die sich dauerhaft eine gegen die objektive Definition der Situation gerichtete subjektive Welt leisten, überleben in der betreffenden Umwelt nicht dauerhaft. Forscher, die nicht zu Kongressen fahren, werden auf die Dauer keine gute Forschung mehr treiben können – und dann auch nicht mehr zu den Kongressen eingeladen. Lehrer, die nie da sind oder ständig ihre Vorlesungen ausfallen lassen, wissen nach einiger Zeit nicht mehr, was in der Fakultät los ist und werden von ihren Kollegen und den Studenten – in jeder Hinsicht – nicht mehr verstanden.
Und die Folge: Im Durchschnitt und mittelfristig stimmen die Akteure – mehr oder weniger – in ihrer subjektiven Definition der Situation mit den objektiven Vorgaben überein. Identifikation und Spontanität Die Akteure halten sich also schon aus ihrem eigenen Interesse und aus vielen guten Gründen der Vernunft an die objektiven Vorgaben einer strukturell definierten Situation. Deshalb folgen die Menschen bestimmten Rollenvorgaben auch meist ohne besonderen Zwang und oft genug sogar mit deutlichen Zeichen der Identifikation und des Enthusiasmus. Besonders Neulinge in sozialen Positionen gebärden sich oft ganz und gar dienstbeflissen, ohne daß ein unmittelbarer Grund dafür zu sehen wäre. Neue Besen kehren nicht nur gut, sondern oft genug auch ausgesprochen leidenschaftlich. In der bekanntesten deutschsprachigen Fassung der Rollentheorie, dem „Homo Sociologicus“ von Ralf Dahrendorf, findet man hingegen eine ganz andere Sichtweise des rollenkonformen Handelns:
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„Wer seine Rolle nicht spielt, wird bestraft; wer sie spielt, wird belohnt, zumindest aber nicht bestraft.“7
Das ist wohl nicht falsch und wird auch sicher oft genug vorkommen: die Befolgung der Rollenerwartungen aus Furcht vor Sanktionen. Die Sichtweise von Dahrendorf erklärt aber den eigenartigen Enthusiasmus nicht, den die Menschen im Alltag meist mit ihren Rollen verbinden: Gute Forscher sind mit Überzeugung Cosmopolitans und verachten die lokalen Intriganten insgeheim nicht wenig. Und die local heroes entwickeln eine starke Identifikation mit ihrer Tätigkeit, oft in affektiver Abgrenzung von den immer abwesenden Stars der Fakultät, für die sie ja die Drecksarbeit vor Ort miterledigen müssen. Und genau dieses Phänomen hatten wir ja auch schon am Beispiel des chinesischen Ehepaars von Richard T. LaPiere in Kapitel 2 gesehen: Die Hotelbesitzer waren in den Situationen wirklich nicht-rassistisch und sie verstellten sich nicht bloß irgendwelcher Vorteile wegen. Nicht zu Unrecht empört sich daher Friedrich H. Tenbruck in seiner fulminanten Kritik an Ralf Dahrendorfs „deutscher Rezeption der Rollentheorie“: „Wenn Sanktionen das Rollenhandeln zuletzt erklären, so setzt das voraus, daß die Rolle dem Träger in Konkurrenz mit anderen potentiellen Verhaltensweisen und Handlungszielen gegeben ist. Der Rollenträger erscheint als ein zwischen Alternativen Wählender. Die Rolle ist für ihn in diesem Sinn disponibel, obschon er sich in Berücksichtigung der Folgen für die zugemutete Rolle entscheiden wird. Diese Entscheidung ist sein Verzicht auf ein anderes Verhalten.“
Donnernd fährt Tenbruck fort: „Mit dieser indirekten Festlegung des menschlichen Handelns auf eine bestimmte psychologische Ebene ist nun eine anthropologische Verengung ungeheueren Ausmaßes in den soziologischen Ansatz eingeführt worden. Von den reichen Möglichkeiten menschlichen Handelns, wie sie uns naiv aus der eigenen Erfahrung und doch geradezu erdrückend auch aus der Kulturanthropologie und Soziologie bekannt sind, bleibt hier einzig ein rationales Wahlhandeln übrig, das allenfalls unterschiedliche Grade der Bewußtheit annehmen kann. Die Gesellschaft wird zu einer Zwangsanstalt, in der Menschen disponible Rollen auf Grund von mehr oder weniger expliziten Überlegungen und Wahlvorgängen übernehmen, weil die Weigerung mit verschiedenen Formen von Sanktionen bedroht wird.“8
Wichtig ist für Tenbruck insbesondere der Verweis auf die meist überaus große Identifikation und das oft erstaunliche Engagement, mit dem Menschen in der Regel ihre Rollen übernehmen. Dies ergebe sich gerade daraus, daß das 7
Ralf Dahrendorf, Homo Sociologicus. Ein Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der Kategorie der sozialen Rolle, 14. Aufl., Opladen 1974 (zuerst: 1958), S. 36.
8
Friedrich A. Tenbruck, Zur deutschen Rezeption der Rollentheorie, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 13, 1961, S. 13. Die Beispiele und die Ausdrücke in Anführungszeichen in den nächsten fünf Absätzen entstammen Zitaten bei Tenbruck.
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Situationslogik und Handeln
Handeln und die Wahl der Teilrollen eben nicht disponibel seien. Überdies gebe es immer beträchtliche Spielräume in den Erwartungen, die gar nicht ausgedrückt oder kommuniziert werden könnten – wie zum Beispiel an die Rolle des jugendlichen Liebhabers. Eine Rolle sei außerdem immer in eine übergreifende und den Akteuren auch so bekannte „Sinnstruktur des Handelns“ eingebettet, die nach einer interessiert-enthusiastischen und eigenaktiven Gestaltung der Rolle – schon aus dem Interesse des Akteurs heraus – geradezu verlangt. Und daher: „Hier kommt es nur darauf an, daß in der sozialen Rolle notwendig ein Element der Spontaneität steckt; daß die Rolle deshalb dem Träger keineswegs nur oder wesentlich als fremde Zumutung entgegentritt; daß Sanktionen deshalb nicht generell zum Motor des sozialen Handelns erklärt werden dürfen.“ (Ebd., S. 14; Hervorhebung nicht im Original)
Die objektive Eingrenzung der Wahlmöglichkeit führt also – scheinbar paradoxerweise – gleichzeitig zu einem starken Engagement und zu einer hohen Spontaneität bei der Ausfüllung der innerhalb der Teilrollen verbleibenden Freiräume. Viel nachgedacht und reflektiert wird über die Situation dabei aber – so Tenbruck – nicht. Die Akteure können nämlich wechselseitig davon ausgehen „ ... daß mit einem gewissen Verhalten als selbstverständlich gerechnet wird. Erst die Störung dieser normalen Situation führt dazu, daß die Erwartungen reflektiert ins Bewußtsein gehoben und als Zumutungen an den anderen gerichtet werden.“ (Ebd., S. 15)
Überlegung, Reflektion, Rationalität und – so könnte man hinzufügen – besondere Variationen in der subjektiven Definition der Situation treten also erst dann auf, wenn es Störungen der Normalsituation gibt – wie bei, um wieder Tenbruck zu zitieren, „unscharfer“, „überhaupt fraglicher“ oder „wenig bestimmter“ Festlegung der Erwartungen. Die Frage ist dann nur: Wie kommt es zu dieser, im Alltag ganz und gar üblichen, aber doch auch eigenartigunwahrscheinlichen Kombination von subjektiver Definition der Situation, emotionaler Identifikation, frei-spontaner Nutzung der gegebenen Möglichkeiten, selbstverständlicher Fraglosigkeit und starker, fast schon moralisch zu nennender, Bindung an die objektiv vorgegebenen Erwartungen ohne größere Variationen zwischen den Akteuren, die die gleiche soziale Position innehaben?
3.2
Handeln und Nutzenproduktion
Hinter den Belehrungen, die Friedrich H. Tenbruck dem schon damals immer etwas vorlauten, aber ja auch noch recht jungen, Ralf Dahrendorf nicht ohne
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Grund erteilte, verbergen sich eine Reihe von weiteren soziologisch besonders interessanten und wichtigen Fragen. Etwa: Wie kommt es eigentlich, daß sich die Menschen je nach ihrer gesellschaftlichen Position und unter unterschiedlichen sozialen, kulturellen und historischen Bedingungen für ganz andere Dinge interessieren und sogar begeistern? Wie kommt es, daß sie ihr Interesse und ihren Enthusiasmus oft schlagartig verlieren, auf andere, manchmal sogar ganz entgegengesetzte Objekte richten und das, was sie vorher so schätzten, nun scheuen wie der Leibhaftige das Weihwasser und hinterher gar nicht glauben wollen, was mit ihnen einmal war. Wie kommt es, daß den Enthusiasmus – oder ggf.: den Haß, den Neid, die Abscheu – meist ganze Gruppen und Kollektive erfaßt, auch ohne daß die Akteure sich besonders abstimmen oder in ihrer Hysterie gegenseitig anstecken müßten? Wie kommt es, daß es dabei kaum Varianzen in der subjektiven Definition der Situation gibt, und daß auch die Änderungen im Interesse und im Enthusiasmus wieder für ganze Gruppen in oft beeindruckender Gleichförmigkeit zu beobachten sind? Kurz: Wie kommt es, daß die Menschen ihre subjektiven Vorlieben derart rasch und kollektiv gleichförmig ändern und dabei in keiner Weise lange sozialisiert werden oder erst mühselig internalisieren müssen, was sie so brennend interessiert, von ganzem Herzen begeistert oder dann auch wieder kaltläßt oder gar abstößt?
Die soziologische Rollentheorie hat diese Fragen nie so recht klären können – im übrigen auch Friedrich H. Tenbruck mit seinem Lamento über Ralf Dahrendorf nicht – und die ökonomische Theorie des rationalen Handelns schon gar nicht. Das lag vor allem daran, daß die Rollentheorie zwar einen wichtigen Sachverhalt treffend beschreibt, aber den Mechanismus und die Gesetzmäßigkeiten nicht angibt, über die es zu den subjektiven Festlegungen der Akteure auf die objektiven Vorgaben kommt. Hier hilft die ökonomische Theorie des rationalen Handelns auch nicht weiter, wie Tenbruck richtig feststellt: Sie kennt keine Festlegungen, keine Gefühle, keine Identifikation und keine Moral. Eine einfache Lösung des Problems bietet jedoch das Konzept der sozialen Produktionsfunktion.9 Es ist der Schlüssel für das Verständnis der eigenarti-
9
Die folgende Ausarbeitung orientiert sich an der Entwicklung des Konzepts der sozialen Produktionsfunktion, die Siegwart Lindenberg in einer Reihe von Arbeiten vorgelegt und verfeinert hat. Vgl. u.a. Siegwart Lindenberg, Normen und die Allokation sozialer Wertschätzung, in: Horst Todt (Hrsg.), Normengeleitetes Verhalten in den Sozialwissenschaften, Berlin 1984, S. 169-191; Siegwart Lindenberg, Social Production Functions, Deficits, and Social Revolutions. Prerevolutionary France and Russia, in: Rationality and Society, 1, 1989, S. 51-77; Siegwart Lindenberg, Rationalität und Kultur. Die verhaltenstheoretische Basis des Einflusses von Kultur auf Transaktionen, in: Hans Haferkamp (Hrsg.), Sozialstruktur und Kultur, Frankfurt/M. 1990, S. 249-287; Siegwart Lindenberg, Social Approval, Fertility and Female Labour Market, in: Jacques J. Siegers, Jenny de Jong-Gierveld und Evert van Imhoff (Hrsg.), Female Labour Market Behaviour and Fertility. A RationalChoice Approach, Berlin u.a. 1991b, S. 32-58; Siegwart Lindenberg, Cohorts, Social Production Functions and the Problem of Self Command, in: Henk A. Becker (Hrsg.), Dynamics of Cohort and Generations Research, Amsterdam 1992, S. 283-308; Siegwart Lin-
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Situationslogik und Handeln
gen Objektivität sozialer Situationen auch angesichts der Gültigkeit des Thomas-Theorems und der Vorstellung vom subjektiven Sinn allen Handelns. Und es macht auch verständlich, warum die Menschen Rollen nicht nur distanziert oder durch Sanktionen gezwungen „spielen“ und den Situationen meist eben nicht kühl-kalkulierend gegenüberstehen, sondern sich für ihre Aufgaben meist sehr interessieren und sich oft mit großem Engagement dafür einsetzen – und dabei in keiner Weise bloß blind den normativen Vorgaben der Situation oder allein einer verinnerlichten Moral folgen. Die Grundidee: Handeln als Nutzenproduktion Die Grundidee für das Konzept der sozialen Produktionsfunktion ist bestechend einfach: Das Handeln der Menschen besteht letztendlich in nichts anderem als in dem Versuch der Sicherung der Ressourcen, Güter, Ereignisse und Leistungen, die für die Gestaltung des Alltags erforderlich sind. Handeln ist also kein bloßer „Konsum“, sondern eine besondere Form der Produktion eines besonderen Gutes: die – mehr oder weniger gelingende – Reproduktion des Organismus, die der Organismus in verschiedenen Graden der Zuträglichkeit erlebt. Diese Variable – die erlebte Zuträglichkeit der Reproduktion des Organismus – soll ganz allgemein als Nutzen bezeichnet werden. Handeln ist demnach im Prinzip zunächst nichts weiter als die Produktion von Nutzen.10 Wie bei jeder Produktion sind auch bei der Produktion des Nutzens bestimmte objektive Bedingungen zu beachten, die nicht einfach durch Beschluß oder durch eine beliebige subjektive Definition der Produktionsbedingungen außer Kraft gesetzt werden können. Im Gegenteil: Je wichtiger ihre Befolgung für die tatsächliche Nutzenproduktion ist, um so bedeutsamer wird es für den Akteur, daß er ihnen auch in seinen subjektiven Sichtweisen folgt.
denberg und Bruno S. Frey, Alternatives, Frames, and Relative Prices: A Broader View of Rational Choice Theory, in: Acta Sociologica, 36, 1993, S. 195ff. 10
Diese Sichtweise wird – wie so manch anderer gute, aber lange verschüttete, jetzt wieder auftauchende Gedanke – Adam Smith zugeschrieben. In neuerer Zeit haben insbesondere der Konsumtheoretiker Kelvin J. Lancaster und der Nobelpreisträger für Ökonomie des Jahres 1992 Gary S. Becker diesen Ansatz vertreten und weiterentwickelt; Kelvin J. Lancaster, A New Approach to Consumer Theory, in: The Journal of Political Economy, 74, 1966, S. 132-157; Gary S. Becker, A Theory of the Allocation of Time, in: The Economic Journal, 75, 1965, S. 493-517.
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Produktionsfunktionen Die technischen und vor allem die gesellschaftlichen Bedingungen der Nutzenproduktion können als Funktion beschrieben werden: in den sog. sozialen Produktionsfunktionen. Die Grundlage dafür ist das Konzept der Produktionsfunktion allgemein. Es stammt aus der ökonomischen Produktionstheorie, mit der das Verhalten von Unternehmern bei der Produktion von Gütern und Dienstleistungen erklärt wird, die sie verkaufen möchten, um sich mit dem Entgelt auch ihre privaten Wünsche erfüllen zu können.11 In der Produktionstheorie geht es um die Frage, wie ein Unternehmer es am besten anstellt, ein bestimmtes Produkt, etwa Automobile, mit gegebenen Mitteln, wie Arbeitskraft, Maschinen, Energie, Organisation des Betriebs, möglichst kostengünstig und ertragreich herzustellen. Produziert wird der Ertrag Y. Er wird auch output genannt. Die Mittel zur Herstellung des Produktes werden als Produktionsfaktoren X bezeichnet. Die jeweils eingesetzte Menge an Produktionsfaktoren ist der sog. input. Die Beziehung zwischen der Menge an eingesetztem input und der Menge des damit erzeugten output wird allgemein über eine Produktionsfunktion Y = f(X) beschrieben: Eine bestimmte Menge x an input des Produktionsfaktors X erzeugt nach Maßgabe der Produktionsfunktion Y = f(X) eine bestimmte Menge y des outputs des Gutes Y. Produktionsfunktionen können in ihren Eigenschaften sehr unterschiedlich sein. Drei Eigenschaften sind empirisch besonders häufig zu beobachten. Die Beziehung zwischen dem input an Produktionsfaktoren und dem Ertrag ist – erstens – oft monoton steigend: Je mehr an input eingesetzt wird, um so höher ist der Ertrag. Meist gilt dabei – zweitens – das sog. Gesetz vom abnehmenden Grenzertrag: Je mehr an Produktionsfaktoren eingesetzt wird, um so geringer ist der Zuwachs an Ertrag pro eingesetzter Einheit des jeweiligen Produktionsfaktors. Dies führt zu einer stetig abnehmenden Steigung der Produktionsfunktion. Eine dritte Eigenschaft ist besonders wichtig: die in der Produktionsfunktion beschriebene Produktivität bzw. Effizienz des Produktionsfaktors. Damit ist das Verhältnis zwischen dem eingesetzten input und dem produzierten output gemeint: Je mehr an output sich mit der gleichen Menge an input erzeugen läßt, desto höher sind die Produktivität bzw. die Effizienz des Faktors. Die Effizienz eines Produktionsfaktors zur Erzeugung eines Ertrages entspricht der Effizienz, von der in Kapitel 1 als Beziehung zwischen Mittel und Zielen die Rede war: Die eingesetzten Produktionsfaktoren sind das Mittel, der Ertrag das Ziel der Produktion. Und je nach Effizienz sind manche Mittel wirksamer als andere, um das Ziel der Erzeugung eines bestimmten Ertrages zu erreichen.
11
Für eine Darstellung der Einzelheiten der ökonomischen Produktionstheorie vgl. etwa Edwin v. Böventer, Einführung in die Mikroökonomie, 4. Aufl., München und Wien 1986, Kapitel 2 und 3; oder Kelvin Lancaster, Moderne Mikroökonomie, 3. Aufl., Frankfurt/M. und New York 1987, Kapitel 7.
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Budget und Preise Wie hoch bei einer gegebenen Produktionsfunktion der erzeugte Ertrag an Y tatsächlich ist, hängt davon ab, wieviel von dem Produktionsfaktor X eingesetzt wird. Die maximale Menge dieses Einsatzes und die maximal mögliche Menge an output hängen jeweils wiederum von zwei Faktoren ab: erstens vom Budget, das der Produzent für die Gewinnung von X einsetzen kann und zweitens vom Preis, den er für eine Einheit von X bezahlen muß. Das Budget ist das Einkommen bzw. das vorhandene Kapital des Unternehmers, das er für den Erwerb des Faktors X einsetzen kann. Der Preis ist die Menge des Budgets, das der Unternehmer für jede Einheit dieses Faktors hergeben muß: Lohn für den Faktor Arbeit, Kreditzinsen für den Faktor Maschinen, Pacht für den Faktor Ackerland – beispielsweise. Für den Erwerb der Produktionsfaktoren gibt es Märkte, die sog. Faktormärkte, auf denen sich Preise für die Produktionsfaktoren herausbilden und ggf. ändern: Arbeitsmärkte, Märkte für Investitionsgüter, Bodenmärkte etwa (vgl. dazu noch Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
Das Budget ist der Teil der Produktionsbedingungen, die der Produzent unter Kontrolle hat und über dessen Verwendung der Produzent verfügen kann. Alle Kapitalien außerhalb des Budgets gehören, wie auch die Preise für die Produktionsfaktoren, dagegen zu den äußeren Bedingungen in der Situation, die er nicht unter Kontrolle hat und an denen er sich orientieren muß, wenn er ein bestimmtes Produkt herstellen will und dafür Produktionsfaktoren einsetzen möchte. Die Kontrolle über ein bestimmtes Budget hat der Produzent – wenn er kein glücklicher Erbe ist – durch gewisse Leistungen vorher erwerben müssen. Insofern unterliegt schon der Erwerb von Einkommen bzw. die Ansammlung von Kapital ebenfalls objektiven äußeren Bedingungen. Die äußeren Bedingungen zur Gewinnung eines Budgets und die aktuellen Preise auf den Märkten der Produktionsfaktoren bilden damit den objektiven, nicht überschreitbaren Rahmen der Möglichkeiten für die produktive Tätigkeit eines Unternehmers. Die maximal mögliche Menge des Einsatzes eines Produktionsfaktors steigt – bei gegebenen Preisen – mit dem Ausmaß an Kontrolle über ein bestimmtes Budget. Im einfachsten Fall – ein zu produzierendes Gut Y, ein Produktionsfaktor X – würde ein vernünftiger Produzent sein gesamtes verfügbares Budget zum Einsatz des Faktors X und darüber zur Produktion von Y einsetzen – sofern er damit nichts Besseres vorhat. Die maximal mögliche Menge an input von X ist in Abbildung 3.1 mit xmax bezeichnet. Die Produktionsfunktionen g und f beschreiben, wieviel Ertrag damit maximal zu erreichen ist: ymax bzw. y’max.
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Situationslogik und Handeln
Die Erweiterung der Produktion Will ein Produzent mehr produzieren, dann hat er – wieder bei gegebenen Preisen – im Prinzip zwei Möglichkeiten. Er kann erstens versuchen, sein Budget auszuweiten und so die Menge von xmax zu erhöhen. Er könnte aber auch zweitens daran gehen, eine bessere Technologie zu finden und so die Effizienz der Produktionsfaktoren zu erhöhen, die er bereits kontrolliert. Bei einer so veränderten Produktionsfunktion läßt sich die Produktion ausweiten, ohne daß sich an seinem Budget etwas ändern müßte – so wie das an dem Unterschied zwischen den beiden Produktionsfunktionen f und g und den jeweils maximalen output-Mengen ymax und y’max bei gleichem xmax in Abbildung 3.1 zu sehen ist. Technischer Fortschritt und Innovation Eine Erhöhung der Produktion ist also durch eine Erweiterung der Kontrolle über bestimmte Ressourcen bei gegebener Technologie möglich – oder aber durch die Verbesserung der Effizienz bei gegebener Kontrolle. Effizienzverbesserungen für die Produktion von physischen Gütern werden als technischer Fortschritt bezeichnet. Innovationen können ganz allgemein so verstanden werden: als Verbesserungen der Effizienz für die Erzeugung von Ressourcen, Gütern, Ereignissen und Leistungen aller Art. Solche Innovationen können sich natürlich auch auf soziale Produktionsfunktionen und auf soziale und institutionelle Erfindungen richten (siehe dazu gleich unten Abschnitt 3.3.) – wie etwa die Erfindung der Verkehrsampel zur effizienteren Abstimmung von Verkehrsflüssen, oder die Einrichtung der Demokratie als geeigneterer politischer Entscheidungsmechanismus in arbeitsteilig verflochtenen Gesellschaften, als das etwa die absolute Monarchie dafür ist.
Meist ist es erheblich leichter, die Kontrolle über die Produktionsfaktoren auszuweiten, als die Effizienz der Produktionsfunktion insgesamt zu verbessern. Die Effizienz von Produktionsfunktionen bzw. der technische Fortschritt müssen – wie im übrigen auch die Preise – meist als unverrückbares Datum hingenommen werden. Wenn sich aber die Chance bietet, eine effizientere Produktionsfunktion zu finden, dann wäre der Wechsel auf die bessere Technologie allemal ratsamer als das immer etwas mühselige und kleckerweise Erweitern des Budgets: Dann verbessert sich – bei gleichem Einsatz – die Produktion ja schlagartig, während bei konstanter Technologie nicht zuletzt das Gesetz des abnehmenden Grenzertrages den Mehreinsatz an Faktoren zunehmend uninteressanter macht.
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Wohl genau deshalb sind alle Verbesserungen der Effizienz von Produktionsfunktionen letztlich so unwiderstehlich: Das, was die Menschen interessiert, können sie dann ohne Mehraufwand leichter bekommen, ohne daß im Vergleich zu vorher jemand etwas abgeben müßte. Die Evolution des Lebens ist nicht zuletzt über diesen Mechanismus der Verbesserung der Effizienz der Reproduktion des Lebens abgelaufen. Es ist eine Art der Emanzipation von den Knappheiten der Natur und von der steten Gefährdung der Reproduktion gewesen. Aus dem gleichen Grund sträuben sich die Menschen – wie alle lebenden Organismen – gegen eine Verschlechterung der einmal erreichten Produktionsbedingungen deutlich stärker, leidenschaftlicher und mit allen Fasern ihres Herzens als gegen eine bloße Verminderung ihres Budgets: Wenn es um den Verlust der in den Produktionsfunktionen beschriebenen einmal gewonnenen Lebensgrundlage geht, dann droht ja wiederum schlagartig eine Verschlechterung der (Nutzen-)Produktion. Wenn es um mehr oder weniger Lohn oder Subvention geht, ist das eine vergleichsweise erträglichere Sache, als wenn es um den Bergbau oder die Landwirtschaft insgesamt geht. Dann stehen eben nicht mehr bloß etwas mehr oder etwas weniger an output durch die Tätigkeit als Bergmann oder Landwirt auf dem Spiel, sondern die Effizienz des ganzen und des einzigen Kapitals, das ein Bergmann oder Landwirt hat und zum Erwerb seines Lebensunterhaltes einsetzen kann. Mord und Krieg, Haß und Begeisterung, Panik und Revolten gibt es vor allem dann, wenn es um die Effizienz und um die (sozialen) Produktionsfunktionen insgesamt geht – und nicht so sehr beim Kampf um die Menge der Produktionsfaktoren. Die Leidenschaften, die die Menschen – wie alle Lebewesen wiederum – dabei entwickeln, haben also durchaus einen guten und verständlichen Grund.
3.3
Soziale Produktionsfunktionen
Der letzte Bezugspunkt aller Aktivitäten lebender Organismen ist ihre beständige Reproduktion. Auch das Handeln der Menschen ist letztlich durch nichts anderes motiviert. Von den allgemeinen internen Funktionsbedingungen des Organismus bis hin zum sinnhaften Handeln in gesellschaftlich spezifisch definierten Situationen ist es aber ein verschlungener Weg. Schon im einfachsten Fall ist es eine Kette von drei verschiedenen Arten der Produktion und von drei unterschiedlichen Produktionsfunktionen. Wir gehen sie, wie üblich, schrittweise durch.
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Situationslogik und Handeln
3.3.1 Die erste Produktionsfunktion: Die innere Produktion des Nutzens Das erste Glied in der Kette der Nutzenproduktion bezieht sich auf einen Vorgang im Innern des Organismus: die Erzeugung jenes Erlebnisses eines Gefühls der Zuträglichkeit, um dessen Maximierung, so sei angenommen, es im Grundsatz allen Menschen, wie allen lebenden Organismen, geht. Nutzen Das Erlebnis des zuträglichen inneren Funktionierens des Organismus durch den Organismus selbst sei als Nutzen bezeichnet. Der Nutzen ist das oberste Gut, um das es den Menschen letztlich und ganz allgemein geht. Etwas anderes ist gar nicht denkbar: „Leben“ besteht aus dem Funktionieren der Organismen – egal freilich zunächst, worauf speziell dieses Funktionieren beruht. Bedürfnisse Die Herstellung des Erlebnisses der Nutzenerzeugung ist von der Erfüllung der Funktionserfordernisse des Organismus abhängig – und daher allein durch Beschluß kaum und nur begrenzt durch Phantasien herstellbar. Diese Funktionserfordernisse der Nutzenproduktion sollen als Bedürfnisse bezeichnet werden. Die Bedienung der Bedürfnisse ist dann das Mittel, das zur Erzeugung des Nutzens führt. Wenn man das so ausdrücken will: Der Grad der Befriedigung der Bedürfnisse ist der input mit der Erzeugung des Nutzens als output. Zwei allgemeine Bedürfnisse: Soziale Wertschätzung und physisches Wohlbefinden Bedürfnisse und der Drang nach ihrer Erfüllung sind ebenfalls allgemeine Merkmale aller lebenden Organismen. Für menschliche Organismen lassen sich – ganz allgemein – im Prinzip zwei grundlegende allgemeine Bedürfnisse benennen, von deren Bedienung die Nutzenproduktion abhängig ist: die Gewinnung von sozialer Wertschätzung und die Sicherung des physischen Wohlbefindens. Sie sind die allgemeinen Bedingungen für die Reproduktion menschlicher Organismen. Von ihrem „Einsatz“ hängt es ab, ob und in welchem Maße das Gefühl der Zuträglichkeit entsteht.
Die Objektivität der Situation
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Es ist immer ein etwas waghalsiges Unterfangen, solche Listen von Bedürfnissen anzugeben. Lang ist die Reihe der Vorschläge, das eine und letzte Grundmotiv des menschlichen Daseins zu benennen: Machttrieb, Geltungsstreben, das Geld und die Liebe, die Sexualität und deren Verdrängung, die Furcht vor oder die Sehnsucht nach dem Tode zum Beispiel. Leicht gerät man auch an sehr lange Aufzählungen mit allen möglichen und den absonderlichsten Vorlieben für die verschiedensten Situationen. Aussichtslos wäre das Unterfangen, die Debatten um diese Listen mit einem neuen Postulat beenden zu wollen. Hier ist nur eine Frage wichtig: Von welchen inneren Bedingungen hängt die Produktion des Nutzens ab? Zwei Kriterien müssen erfüllt sein: Es muß sich um allgemeine Bedingungen des Funktionierens menschlicher Organismen handeln. Und sie müssen für das Funktionieren des menschlichen Organismus notwendig, in der Aufzählung dann aber auch hinreichend sein. Kurz: Die Liste muß vollständig, soll aber auch möglichst kurz sein.
Vor dem Kriterium der Allgemeinheit scheiden schon einmal die allermeisten der zahllosen empirisch vorfindbaren Vorlieben und Präferenzen der Menschen aus: Selbstverwirklichung ist – nach allem was man weiß – beispielsweise den Mitgliedern einfacher Stammesgesellschaften als Bedürfnis unbekannt. Das Streben nach Macht und Geld ist von sehr speziellen gesellschaftlichen Bedingungen abhängig und alles andere als ein „allgemeines“ Bedürfnis. Und eine Vorliebe für Schalke 04 oder für einen Nordseeurlaub haben bekanntlich auch keineswegs alle Menschen; es sind – mehr oder weniger – soziologisch belanglose individuelle Ideosynkrasien oder Besonderheiten, die in speziellen gesellschaftlichen Milieus gepflegt werden. Der Beweis kann auch hier nicht erbracht werden, aber die Hypothese sei erlaubt: Die Inspektion der vielen Motiv- und Bedürfnislisten ergibt immer wieder, daß es außer den beiden Bedürfnissen nach sozialer Wertschätzung und nach physischem Wohlbefinden kein weiteres wirklich „allgemeines“ Bedürfnis der menschlichen Organismen gibt. Sind die beiden Bedürfnisse aber auch hinreichend und notwendig? Auch das kann angenommen werden. Sie ergeben sich nämlich unmittelbar aus der conditio humana und aus den biologischen und psycho-sozialen Bedingungen der Reproduktion des menschlichen Organismus. Das Bedürfnis nach physischem Wohlbefinden leitet sich aus den Bedingungen zur Sicherung der biologischen Reproduktion des menschlichen Organismus ab. Dieses Bedürfnis teilt der Mensch mit allen anderen Lebewesen. Dazu muß der Akteur, wie alle anderen Lebenwesen, etwas tun: Er muß sich beispielsweise um seine Gesundheit und um seinen Körper kümmern. Adam Smith (1723-1790) hat die Erhaltung und die Pflege des Körpers als „objects“ bezeichnet, um die sich die Menschen von „Natur“ aus zu allererst zu sorgen hätten:
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Situationslogik und Handeln
„The preservation and healthful state of the body seem to be the objects which Nature first recommends to the care of every individual.“12
Die Reaktionen seines Körpers auf eine gute oder unzureichende Versorgung empfindet der Mensch als Vergnügen oder als Pein, je nachdem: „The appetites of hunger and thirst, the agreeable or disagreeable sensations of pleasure and pain, of heat and cold, etc. may be considered as lessons delivered by the voice of Nature herself, directing him what he ought to chuse, and what he ought to avoid, for this purpose.“ (Ebd.; Hervorhebung nicht im Original)
Pleasure und die Vermeidung von pain sind nur andere Ausdrücke für das Gefühl der Zuträglichkeit, das wir oben als das oberste Gut des Nutzens bezeichnet haben. Die damit verbundenen sensations – wie Hunger und Durst – dienen dem Organismus als von der Natur geschenkte Anhaltspunkte dafür, daß jetzt etwas geschehen muß. Kurz: Das physische Wohlbefinden ist ein „natürliches“ Bedürfnis. Und der Mensch muß für die objects sorgen, daß es je nach den sensations, die er verspürt, alsbald erfüllt wird. Darüber ist wohl nicht viel weiter zu sagen: Ohne eine funktionierende physische Reproduktion gibt es das Gefühl der Zuträglichkeit nicht. Das gilt für alle lebenden Organismen, und deshalb „natürlich“ auch für den Menschen. Und von den Spezialproblemen, etwa der Drogensucht, wollen wir in diesem allgemeinen Zusammenhang bewußt nicht weiter sprechen. Auch das Bedürfnis nach sozialer Wertschätzung ist ein allgemeines: Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. In seiner Schärfe gerade für den homo sapiens entsteht es aus einer speziellen anthropologischen Besonderheit: Aus der Weltoffenheit des Menschen. Alle Menschen bedürfen dringend und ununterbrochen der Gewinnung von sozial vermittelter Handlungssicherheit, weil es eine genetische Steuerung seines Handelns und seiner Orientierungen in ausreichendem Maße nicht gibt.13 Eigentlich ist es aber noch ein anderes Bedürfnis, das hinter dem Streben nach sozialer Wertschätzung steht: das Bedürfnis zum Erhalt eines positiven Selbstbildes. Die Soziologie ist – sofern sie sich auf menschliche Akteure explizit bezieht – voll von Hinweisen darauf. Und auch in den älteren wie den neueren Lehrbüchern der Sozialpsychologie wird immer wieder versichert, daß es den Menschen, sobald sie nur das nackte Existenzminimum gesichert haben, 12
Adam Smith, The Theory of Moral Sentiments, Oxford 1976 (zuerst: 1759), S. 212; Hervorhebungen nicht im Original.
13
Immer noch ist zum Beleg für diese Gegebenheit ein Blick in die soziologische Anthropologie von großem Nutzen. Vgl. dazu insbesondere die Arbeiten von Arnold Gehlen und – daran anschließend – von Dieter Claessens. Arnold Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, 5. Aufl., Bonn 1955 (zuerst: 1940); Dieter Claessens, Das Konkrete und das Abstrakte. Soziologische Skizzen zur Anthropologie, Frankfurt/M. 1980.
Die Objektivität der Situation
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um ihren Selbstwert, um ihr Prestige, um ihr Ansehen in den Augen der anderen geht (vgl. dazu noch Abschnitt 4.1 im folgenden Kapitel 4). Die soziale Wertschätzung ist das effektivste Mittel zur Gewinnung und Sicherung eines positiven Selbstbildes. Nur in sehr engen Grenzen kann das Bedürfnis nach einem positiven Selbstbild nämlich in Eigenleistung erfüllt werden, etwa durch Omnipotenzphantasien. Surrogate wie Orden oder Titel oder über die Orientierung an eine verehrte Macht sind nur Behelfe. Nichts kann die persönliche Verehrung und die persönliche Umsorgung ersetzen (vgl. dazu auch noch den Exkurs über die Ehre im Anschluß an dieses Kapitel). Und deshalb läßt sich das Bedürfnis nach einem positiven Selbstbild und das nach unmittelbar dargebrachter sozialer Wertschätzung in unserem ohnehin sehr vereinfachenden Modell gleichsetzen.
Adam Smith war es ebenfalls, der auf die Bedeutung der sozialen Wertschätzung als allgemeine Antriebskraft für das Handeln der Menschen hingewiesen hat. Das Bedürfnis nach sozialer Anerkennung ist für ihn der Motor für die Entstehung der moralischen Gefühle, ohne die – wie man heute weiß – eine soziale Ordnung unter den Menschen nur schwer vorstellbar ist. Adam Smith nahm an, daß der Mensch auch dieses Bedürfnis von „Natur“ aus hat, es nicht erst mühsam erlernen muß und auf soziale Anerkennung auch ganz unabhängig von irgendwelchen äußeren Folgen aus ist: „Nature, when she formed man for society, endowed him with an original desire to please, and an original aversion to offend his brethren. She taught him to feel pleasure in their favourable, and pain in their unfavourable regard. She rendered their approbation most flattering and most agreeable to him for its own sake; and their disapprobation most mortifying and most offensive.“ (Smith 1976, S. 116; Hervorhebungen nicht im Original)
Zusammengefaßt: Soziale Wertschätzung und physisches Wohlbefinden bezeichnen zwei allgemeine Funktionsbedingungen des menschlichen Organismus als psycho-biologisches System. Beide Bedürfnisse müssen ununterbrochen und fortwährend erfüllt werden. Daher treten sie als zu lösendes Problem immer wieder neu auf: Das sinngebende und orientierende Gefühl der Handlungssicherheit verfällt rasch, wenn die soziale Wertschätzung ausbleibt – auch dann, wenn es sie zuvor im Übermaß gegeben hat. Und die biologischen Mechanismen der Reproduktion des Organismus sorgen zuverlässig dafür, daß für die physiologische Seite des Nutzens immer wieder neu gesorgt werden muß. Der Verlauf der Funktion Im Innern des Organismus wird Nutzen durch die Bedienung der Bedürfnisse nach physischem Wohlbefinden und sozialer Wertschätzung erzeugt. Die Produktionsfunktion für den Nutzen ist deshalb eine Nutzenfunktion. Sie ist in ihrem Verlauf – so lautet die oben begründete Annahme – im Prinzip für alle
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Situationslogik und Handeln
Menschen gleich. Wie sie genau aussieht, weiß niemand. Aber es ist wohl plausibel, für alle menschlichen Organismen die gleiche Effizienz und damit eine einheitliche Produktionsfunktion anzunehmen. Eventuelle individuelle Abweichungen wären nur zufällige Variationen um diesen allgemeinen Verlauf – und daher soziologisch verhältnismäßig bedeutungslos. Plausibel und vielfach empirisch bestätigt ist weiterhin, einen abnehmenden Grenzertrag anzunehmen. Es ist das sog. Gesetz der Sättigung: Je mehr ein Bedürfnis schon erfüllt ist, um so weniger an Nutzen erzeugt jede weitere Einheit der Bedürfnisbefriedigung. Drittens müßte auch ein negativer Bereich der Bedürfnisbefriedigung und der Nutzenproduktion vorgesehen werden: Es gibt auch Entbehrungen bei den beiden Bedürfnissen nach sozialer Wertschätzung und physischem Wohlbefinden: soziale Mißachtung und physisches Mißbehagen. Und das erzeugt entsprechend einen „negativen“ Nutzen – disutility oder Schaden. Es geht eben um pleasure and pain. Für den negativen Bereich der Nutzenproduktion sollen entsprechend die gleichen Annahmen gelten: eine Produktionsfunktion für alle Exemplare des homo sapiens und ein abnehmender Grenzschaden. Keine weiteren Annahmen wollen wir über das Zusammenspiel der beiden Grundbedürfnisse bei der Nutzenproduktion machen. Darüber ist – bisher – nicht genügend bekannt; es ist aber für die Idee der sozialen Produktionsfunktionen auch nicht sonderlich wichtig. Es gibt zwar einige Hinweise darauf, daß die Erfüllung beider Bedürfnisse möglichst simultan erfolgen müsse: Gesundheit ist gewiß nicht alles, aber alles ist nichts ohne Gesundheit. Und ein Mangel an sozialer Wertschätzung und ein negatives Selbstbild sind – wie man mittlerweile auch in Medizinerkreisen weiß – dem physischen Wohlbefinden sehr abträglich. Die These, daß die Bedürfnisse, die gerade nicht befriedigt sind, sich in den aktuellen Wünschen der Menschen nach vorne drängen und alle anderen Wünsche solange dominieren, bis dieser Mangel beseitigt ist, wurde u.a von Abraham H. Maslow in einer sehr einflußreich gewordenen Theorie über die menschlichen Bedürfnisse formuliert.14 Hinreichend geklärt sind diese Dinge bisher leider nicht.
Mit diesen Annahmen kann die erste Produktionsfunktion – als Nutzenproduktionsfunktion sozusagen – präzisiert werden. Es geht um die Erzeugung von möglichst viel des obersten Gutes: Nutzen. Dazu dient die Befriedigung der beiden grundlegenden und allgemeinen Bedürfnisse des menschlichen Organismus: denen nach sozialer Wertschätzung und nach physischem Wohlbefinden. Der Nutzen sei mit U, der Grad der Versorgung mit sozialer Wertschätzung mit SW und der mit physischem Wohlbefinden mit PW bezeichnet. Alle diese Variablen haben einen Neutralpunkt und einen positiven wie einen negativen Bereich. Dann lautet die erste Funktion zur Beschreibung der objek-
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Abraham H. Maslow, Motivation and Personality, New York, Evanston und London 1954, S. 83ff.; vgl. dazu auch noch Abschnitt 4.1.
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bekommen, weil das die vielen guten Menschen unter uns nicht wahrhaben wollten. Aber das ändert nichts daran: Wertschätzung und Wohlbefinden erhält man nur für Leistungen und Eigenschaften, die andere für interessant und anerkennenswert halten und die dem eigenen Körper gut tun. Und alle diese Eigenschaften, Ressourcen, Objekte, Güter oder Leistungen müssen – meist – immer erst noch selbst produziert werden. Soziale Wertschätzung gibt es etwa für körperliche Schönheit, für einen seltenen und ehrenvollen Orden, für einen Beruf mit hohem Prestige oder für 41 Bundesligatore in einer Saison, manchmal – scheinbar – unmotiviert und kostenfrei wie beim Zaubergeschenk der hingebungsvollen Liebe. Meist steckt aber viel Mühe dahinter. Selbst – oder: gerade! – die Liebe gibt es nicht bedingungsfrei. Sie richtet sich ja nicht auf jeden, sondern ist durchaus auch an Eigenschaften geknüpft, die für den/die Liebende(n) wohl doch etwas mit seinen Bedürfnissen zu tun hat. Daß es soziale Wertschätzung nicht bedingungslos gibt, gilt sogar für Babies, die ja – in aller Regel jedenfalls – wie Babies aussehen müssen – und nicht wie Monster –, wenn sie geliebt werden sollen. Und das physische Wohlbefinden ist bekanntlich auch nur begrenzt über Luft und Liebe allein herzustellen: Gegen den Hunger und den Durst müssen Speisen und Getränke besorgt, und für das Unterkommen eine Wohnung vorhanden sein, von den vielen anderen – oftmals teuren – Voraussetzungen eines tierisch guten physischen Wohlbefindens einmal ganz zu schweigen.
Kurz: Für die Erlangung von sozialer Wertschätzung und für das physische Wohlbefinden ihres Organismus müssen die Menschen meist etwas tun. Was sie dafür tun müssen, liegt nicht für alle gleich fest, sondern ist stets speziell begrenzt und geregelt. Und zwar insbesondere in der gesellschaftlichen „Definition“ von Eigenschaften, Ressourcen, Objekten, Gütern, Ereignissen und Leistungen, die zu sozialer Wertschätzung und physischem Wohlbefinden führen. Hier ist die Grenze des Organismus erreicht, an der er sich im Interesse der Nutzenproduktion an seiner natürlichen und sozialen Umwelt orientieren muß. Und hier setzen das zweite Element in der Produktionskette und der gesellschaftlich konstruierte Schritt hin zu den sozialen Produktionsfunktionen ein. Primäre Zwischengüter Die dem Organismus externen Produktionsfaktoren, die jeweils geeignet sind, für physisches Wohlbefinden und für soziale Wertschätzung zu sorgen, seien allgemein als Zwischengüter bezeichnet. „Zwischen“-Güter heißen sie, weil sie zwischen den Bedingungen der Situation und dem obersten Gut, um das es letztlich geht, dem Nutzen, vermitteln. Diejenigen Ressourcen, Objekte, Ereignisse und Leistungen, die unmittelbar und ohne jeden weiteren Umweg für die Produktion von sozialer Wertschätzung und physischem Wohlbefinden
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geeignet sind, wollen wir dann als primäre Zwischengüter bezeichnen. Sie werden mit der Abkürzung Z versehen. Am Beispiel der Hochschullehrer sind diese intuitiven Ideen leicht nachzuvollziehen: Auf soziale Wertschätzung wird ein Professor, der gar nichts tut, kaum hoffen können. Das physische Wohlbefinden der Professoren wollen wir der Einfachheit halber erst einmal außer Acht lassen, weil dafür ja die Verbeamtung (hierzulande) oder die tenure (in den USA) in gewisser Weise sorgen. Ob es physisches Wohlbefinden ganz ohne soziale Wertschätzung geben kann, darf wohl bezweifelt werden. Aber das holt sich unser fauler Professor wahrscheinlich bei seiner Geliebten in der Toscana beim gemeinsamen Töpferkurs. Soziale Wertschätzung in seinen Fachkreisen kann er jedoch sicher nur erlangen, wenn gewisse Leistungen erbracht werden. Dies sind keine beliebigen Leistungen, sondern genau die, die innerhalb des institutionellen Rahmens des Wissenschaftssystems hoch bewertet werden. Eine gute Lehre und eine exzellente Forschung sind die dort über die Rolle des Hochschullehrers institutionell definierten „primären“ Zwischengüter, die unbedingt benötigt werden, um im Rahmen des Wissenschaftssystems zu Wertschätzung zu kommen: Von einem Professor wird an erster Stelle erwartet, daß er engagiert lehrt und vorzüglich forscht – und sehr viel weniger, daß er etwa eine diamantenbehangene Gattin sein eigen nennt. Verfügt ein Hochschullehrer über die entsprechenden primären Zwischengüter – gute Forschungsarbeiten oder die Gabe einer mitreißenden Vorlesung –, dann kann er ohne besonderes eigenes Dazutun das erlangen, was ihn „eigentlich“ nur interessiert: soziale Wertschätzung. Verfügt er über die primären Zwischengüter nicht, dann fehlt ihm etwas, was er dringend für sein soziales und physisches Leben braucht. Und er kann tun, was er will: Er erhält die soziale Wertschätzung gerade dann nicht, wenn er noch so sehr darauf aus ist, aber sich um die Produktion des jeweils wichtigen primären Zwischengutes nicht kümmert. Demnach wird ein Hochschullehrer ein institutionell definiertes und damit sehr spezielles, aber auch nachhaltiges und ganz und gar „objektives“ Interesse an guter Forschung oder an guter Lehre entwickeln. Und daher strebt er auch in aller Regel danach – und eben nicht etwa nach einem Rekord im Hochsprung.
Nun ist die Bedienung der Bedürfnisse das Produkt, und die primären Zwischengüter sind die Produktionsfaktoren dafür. Für die Produktion von sozialer Wertschätzung SW und physischem Wohlbefinden PW über die primären Zwischengüter Z gibt es demnach auch eine Produktionsfunktion. Sie lautet für die beiden Bedürfnisse in Abhängigkeit von Z: SW=g1(Z) und PW=g2(Z). Diese Produktionsfunktion ist das zweite der drei Glieder in der Kette zwischen dem Nutzen des Organismus und dem Handeln in einer objektiv „definierten“ Situation. Die „Definition“ der Effizienz Die wohl wichtigste Besonderheit bei den primären Zwischengütern ist die, daß sie sich je nach Situation in ihrer Effizienz deutlich unterscheiden. Das hat damit zu tun, daß nun die Grenze von den allgemeinen Funktionserfordernissen des Organismus zu den immer speziellen Bedingungen der Umwelt des Organismus überschritten wird. Die Produktion der Bedürfnisbefriedigung ist
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gut. Der erste Fall beträfe etwa den Versuch eines Hochschullehrers, soziale Wertschätzung in der weiteren scientific community durch die Konzentration auf die Lehre (b) zu erlangen. Das ist zwar auch möglich, aber sehr viel schwerer als durch die kosmopolitische Konzentration auf die Forschung (a). Den zweiten Fall kennt jeder Hochschullehrer, egal ob Local oder Cosmopolitan, ganz genau: Was in der Universität goutiert und verlangt oder auf einem Kongreß gar gefeiert wird (a), stößt zu Hause oder im Urlaub auf nur wenig Gegenliebe (b) – das Reden in Fachchinesisch oder die vergeistigte Abwesenheit zum Beispiel.
Das Problem ist stets das gleiche: „Paßt“ die Situation mit dem jeweiligen primären Zwischengut zusammen oder nicht? Und je nach Passung wird mehr oder weniger an Bedürfnisbefriedigung erzeugt – und darüber dann ein unterschiedliches Ausmaß an Nutzen. Der Herr Professor aber, der auch zu Hause zu dozieren beginnt oder im Urlaub seine Fachliteratur zu lesen versucht, stößt meist nicht nur auf wenig Verständnis, sondern muß mit etwas ganz anderem rechnen: Mißbilligung und Ärger. Das zeigt, daß immer auch der negative Bereich der Nutzenproduktion beachtet werden muß, und daß „falsche“ primäre Zwischengüter durchaus stark negativ bewertete Folgen erzeugen können: Soziale Mißachtung und/oder physisches Mißbehagen – mit der Folge der Erzeugung eines negativen Nutzens. Das ist mit der Produktionsfunktion c angezeigt: Bestimmte primäre Zwischengüter sind in einer bestimmten Situation nicht nur weniger effizient als andere, sondern – wiederum: mehr oder weniger – verpönt. Und die Akteure werden, wenn sie nicht gänzlich abgetreten sind, es bald zu vermeiden wissen, immer wieder in das gleiche Fettnäpfchen zu treten. Soziale Regeln, sozialer Sinn und die „richtige“ subjektive Definition der Situation Das gleiche primäre Zwischengut erzeugt also unter Umständen entweder Anerkennung und Behagen oder aber Verachtung, Erstaunen und Ärger – je nachdem welches primäre Zwischengut, welches Oberziel, welches Leitmotiv gerade „angesagt“ ist: Bei Begräbnissen muß wirklich getrauert werden, und es darf am offenen Grab nicht gelacht werden – wohl jedoch beim Leichenkaffee wieder. Und in der Lachenden Sporthalle muß jeder fröhlich sein und den Narren spielen, und wer es nicht tut, bekommt bald zu spüren, eine wie ernste Angelegenheit der Kölner Karneval ist. Alles kommt also darauf an, das Richtige zum richtigen Zeitpunkt zu tun. Was wann „richtig“ ist, bestimmen die sozialen Regeln, die in der jeweiligen Gesellschaft oder Gruppe jeweils gelten. Sie steuern die situationsspezifische Effizienz der sozialen Produktionsfunktionen. Ein Akteur sollte sie gut kennen, vor allem wenn er soziale Wertschätzung und die Mittel für das physische Wohlbefinden erlangen will.
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Die peinliche Beachtung der sozialen Regeln wird somit eine Angelegenheit, die in seinem eigenen Interesse liegt. Die sozial korrekte Deutung einer Situation – etwa: gilt nun a oder b oder gar c? – und die darauf erfolgende Befolgung sozialer Regeln werden damit zu dem zentralen Element des sinnhaften und erfolgreichen sozialen Handelns. Es ist das Problem des Findens des jeweils „richtigen“ sozialen Sinns in einer Situation: die korrekte Anwendung der sozial konstruierten und von den Akteuren für bestimmte Situationen als „geltend“ angenommenen sozialen Regeln. Genau das ist das Problem der subjektiven Definition der Situation: Es gibt eine „objektive“, sozial „gültige“ Definition der Situation über die jeweils „richtigen“ primären Zwischengüter. Aber manchmal greifen die Menschen einfach daneben – aus Unwissen, Zerstreutheit oder auch dem Wunsch, daß die Welt anders sein möge. Meist ist es freilich für den Akteur nicht übermäßig schwer, der sozialen Regel zu folgen und den richtigen sozialen Sinn zu treffen; das heißt: herauszufinden, in welcher Art von Situation er sich gerade befindet und wie die Situation jetzt von ihm subjektiv definiert werden müßte. Für die korrekte Identifikation des gerade „relevanten“ sozialen Sinns, für die richtige subjektive Definition der Situation, sorgen nämlich die signifikanten Symbole in den äußeren Bedingungen der Situation, die meist ganz verläßlich anzeigen, ob man sich etwa auf einer Beerdigung oder in einer Karnevalssitzung befindet. Und je nachdem sind andere primäre Zwischengüter relevant und jeweils andere Handlungen und Bekundungen angemessen: Tränen der Trauer und ein schwarzer Zylinder hier, eine Pappnase und betrunkenes Schunkeln dort. Manchmal sind aber die Situationen nicht so deutlich markiert. Gelingt es dem Akteur dann nicht, sich „richtig“ zu orientieren, dann handelt er in ganz objektiver Weise „sinnlos“, unverständlich und – nicht zuletzt – sehr ineffizient oder gar gegen seine eigenen Interessen. Neuankömmlingen und Fremden geht dies meist so. Sie wissen einfach nicht welche Dinge gerade wirklich „relevant“ und „primär“ sind. Sie kennen, wie Alfred Schütz gesagt hat, die Relevanzstruktur ihrer neuen sozialen Umgebung noch nicht. Genau deshalb fühlen sie sich oft so verloren. Und allein wegen der drohenden Ineffizienz oder gar Schädlichkeit ihres Tuns unter Unsicherheit haben Akteure meist ein ganz massives, eigenständiges Interesse daran, sich die „richtige“ Relevanzstruktur alsbald anzueignen.
Der gesamte Alltag besteht im Grunde aus einer ständig mitlaufenden Vergewisserung, daß alles in diesem Sinne seine Ordnung und seinen Sinn hat. Die sprachliche Konversation ist das wichtigste, wenngleich unmerkliche, Mittel der Sinnvergewisserung – gerade bei in ihrem sozialen Sinn undeutlich definierten Situationen. Mentale Modelle und kollektive Repräsentationen Mit der Definition der primären Zwischengüter ist mehr festgelegt als nur eine materielle Ressource oder Leistung, um die sich jetzt alles dreht. Es geht vielmehr um die Festlegung und Abgrenzung typischer Modelle der Situation, in denen die primären Zwischengüter den Kern bilden. Solche Modelle sind
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gedankliche „Prototypen“, die die Akteure miteinander teilen und individuell in ihrem Gedächtnis, in ihren Einstellungen, in ihrer Identität gespeichert haben. Diese mentalen Modelle werden, wenn die Situation „da“ ist, über gewisse „signifikante“ Symbole spontan abgerufen oder – mehr oder weniger mühsam – (re-)identifiziert. Es gibt sie für alle wichtigen Sphären und Bereiche des Lebens: für den beruflichen und den privaten Alltag, für Begräbnisse und Trauerfeiern oder für den Karneval zum Beispiel. In der Soziologie werden solche mentalen Modelle für typische Situationen, wenn sie sozial verbreitet und institutionalisiert, also: verbindlich geworden sind, auch als kollektive Repräsentationen bezeichnet. Ihre Gesamtheit macht, so kann man ohne Übertreibung sagen, die Kultur einer Gesellschaft aus. Code und Programm Die für die soziale Definition der Situation wirksamen mentalen Modelle der kollektiven Repräsentationen enthalten zwei grundlegende Elemente: den Code für die Rahmung des „primären“ Sinns der Situation und das Programm für das darin „primär“ als angemessen oder gar als notwendig angesehene Handeln. Der Code ist durch die jeweiligen Oberziele der primären Zwischengüter bestimmt, das Programm durch das daran gedanklich, emotional und institutionell gebundene Handeln, meist in Form ganzer Komplexe von an dem Oberziel orientierten Handlungssequenzen und sog. sozialer Drehbücher. Soziale Rollen, etwa, sind Spezialfälle für derartige mentale Modelle der Situation bzw. kollektive Repräsentationen für die soziale Definition einer Situation über einen Code des Sinns und ein Programm des Handelns darin. Aber sie sind beileibe nicht die einzigen Formen der objektiven sozialen Definition der Situation (vgl. dazu noch die Bände 5, „Institutionen“, und 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“). „Verfassung“ und „Tiefenstruktur“ Die Grundlage für die Geltung und die Effizienz ganz bestimmter primärer Zwischengüter und kollektiver Repräsentationen bzw. mentaler Modelle der Situation sind – ganz allgemein gesehen – die Institutionen der Gesellschaft und der damit jeweils verbundene kulturelle Bezugsrahmen des Handelns. Ob Forschung und ein Artikel im American Journal of Sociology soziale Wertschätzung erzeugt oder nicht, hängt von der Einrichtung eines eigenen Bereiches der Wissenschaft – und hier speziell der Soziologie – ab. Andere für an-
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dere institutionelle und kulturelle Bereiche bedeutsame primäre Zwischengüter wären: Wählerstimmen in der Politik, Geldgewinne in der Wirtschaft, Beifall und gute Kritiken im Theater, Zitationen in der Wissenschaft, Tore in der Bundesliga, Einschaltquoten im Fernsehen, Mutproben in Jugendgruppen. Innerhalb des jeweiligen Bereiches geht es nur um sie, außerhalb wäre das Bemühen darum fehl am Platze, ineffizient, unnütz oder – meist sogar – schädlich. Es gibt so viele und so unterschiedliche primäre Zwischengüter, wie es Möglichkeiten der Institutionalisierung gesellschaftlicher Bereiche gibt. Im Prinzip also unendlich viele. Die wichtigsten sind um die soziale Differenzierung der Gesellschaft herum organisiert (vgl. dazu noch Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ausführlich). Kurz: Die gesellschaftliche Definition der primären Zwischengüter und der mentalen Modelle bzw. der kollektiven Repräsenationen folgt der institutionellen Struktur einer Gesellschaft. Zwei Formen der sozialen Definition der Produktionsfunktion bestimmter primärer Zwischengüter sind besonders wichtig: Recht und Prestige (vgl. dazu auch noch Abschnitt 3.4). Über das Recht wird formell festgelegt, welche Zwischengüter relevant und welche verpönt bzw. verboten sind. Das Prestige bestimmt informell – über die Verteilung von „Ehre“ und damit nicht weniger objektiv als das Recht! –, für welche Leistungen und Objekte es soziale Wertschätzung und physisches Wohlbefinden geben kann. Recht und Prestige strukturieren die grundlegende – formelle wie informelle – „Verfassung“ einer Gesellschaft, indem sie festlegen, worum es dort – allgemein und in den verschiedenen Unterbereichen – letztlich geht, und welche primären Zwischengüter Wertschätzung, Wohlbefinden und Nutzen erzeugen – und welche eben nicht. Mit den Strukturen des Rechts und denen des Prestiges ist die institutionelle und kulturelle Tiefenstruktur einer Gesellschaft – oder eines seiner Untergebilde – festgelegt. Das Handeln der Menschen muß unverständlich bleiben, wenn man diese Tiefenstruktur, ihre Codes und Programme, die spezifischen primären Zwischengüter also, nicht kennt: Man würde übersehen, was den Menschen in einer bestimmten Gesellschaft, in einem bestimmten Teilbereich oder Milieu oder allgemein in einer bestimmten Situation eigentlich wichtig ist und wonach sie jeweils ihr Streben richten. Man würde buchstäblich nicht verstehen, was vor sich geht. Die Analyse der institutionellen und kulturellen Tiefenstrukturen und relevanten Codes und Programme, die Identifizierung der primären Zwischengüter also, ist daher stets der erste – und wohl auch der wichtigste – Schritt in der Analyse der Logik der Situation bei einer jeden soziologischen Erklärung.
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3.3.3 Die dritte Produktionsfunktion: Die Produktion der primären Zwischengüter Die Kette zwischen der objektiven Situation und der Produktion des Nutzens ist mit der Verbindung der Bedürfnisse zu den primären Zwischengütern noch nicht geschlossen. Bis auf einige wenige Ausnahmen glücklicher Umstände, wie die Himmelsgeschenke körperlicher Attraktivität, einer Erbschaft oder eines Adelstitels, stehen den Akteuren nämlich die für die Produktion des Nutzens so enorm wichtigen primären Zwischengüter noch nicht unmittelbar zur Verfügung. Sie müssen meist erst noch produziert werden. Gute Vorlesungen – als primäre Zwischengüter der Erzeugung sozialer Wertschätzung für einen Hochschullehrer zum Beispiel – müssen bekanntlich mit viel Zeitaufwand vorbereitet werden. Spitzenforschung setzt in ähnlicher Weise langjährige mühsame Investitionen in ein zunächst immer ungewisses Projekt voraus. Und die so überaus begehrten, weil besonders effizienten Insignien und Symbole sozialer Wertschätzung und das kulturelle Kapital der Ehrenhaftigkeit bekommt man auch nicht ohne weiteres geschenkt. Dies führt zu einer dritten Produktionsfunktion: Die primären Zwischengüter müssen unter Einsatz von Talent, Zeit und einer Reihe vieler anderer nicht-primärer Zwischengüter, die teilweise erst noch auf verschiedenen Märkten erworben werden müssen, produziert werden. Indirekte Zwischengüter Wir wollen die Mittel zur Erzeugung der primären Zwischengüter als indirekte Zwischengüter bezeichnen. Es sind die Produktionsfaktoren für die Herstellung der primären Zwischengüter. Sie seien mit X bezeichnet. „Indirekt“ (und nicht: „sekundär“) sollen diese Zwischengüter heißen, weil in ihnen ganze Ketten von weiteren Schritten der „Vorproduktion“ enthalten sein können. Alle möglichen Ressourcen, Objekte, Ereignisse und Leistungen können zu indirekten Zwischengütern werden. Ein besonderes und grundsätzlich knappes Gut gehört stets dazu: die Zeit t, die notwendigerweise erforderlich ist, um irgendein primäres Zwischengut zu erzeugen. Die dritte Produktionsfunktion für die objektive soziale Definition der Situation lautet dann allgemein Z= h(X,t). Für sie können die gleichen Annahmen gemacht werden wie für die zweite: monoton steigend oder fallend, abnehmender Grenzertrag, Unterschiede in der Effizienz und auch negative Erträge.
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Knappheiten und relative Preise Auch diese Beziehung ist eine soziale Produktionsfunktion: Was für die Herstellung eines primären Zwischengutes geeignet oder erlaubt ist, liegt nicht im Belieben des einzelnen Akteurs. Wer etwa einen wissenschaftlichen Artikel publiziert, muß vorher viel tun und eine Unzahl von Regeln beachten. Viele Dinge werden gebraucht, die teuer sind und erst besorgt werden müssen: das Geld für die Forschung und den eigenen Lebensunterhalt beispielsweise. Und dann die Zeit! Immer wieder die Zeit! Spätestens hier wird deutlich, daß die Erzeugung von sozialer Wertschätzung und von physischem Wohlbefinden nicht nur etwas mit sozialen bzw. mit institutionellen Festlegungen oder kulturellen Konventionen, mit kostenfreien mentalen Modellen und kollektiven Repräsentationen, sondern darüber hinaus auch etwas mit objektiven Knappheiten zu tun hat, die über Vereinbarungen und „Definitionen“ alleine nicht einfach auszuräumen oder zu ändern sind. Bei der dritten Produktionsfunktion kommt ins Spiel, was die „Objektivität“ jeder sozialen Situation gegenüber den subjektiven Definitionen letztlich ausmacht und wo die für alle Subjektivitäten unverrückbaren Grenzen liegen: Die Produktionsfunktionen sind nicht zuletzt aus technischen Gründen deutlich unterschiedlich in der Effizienz der eingesetzten indirekten Zwischengüter. Und die indirekten Zwischengüter, die „Mittel“ für die primären Zwischengüter als „Ziele“, sind grundsätzlich knapp – auch wenn die damit produzierten primären Zwischengüter auf konventionellen oder kulturellen und damit in gewisser Weise kostenlosen Konstruktionen und Definitionen beruhen. Über diese relativen Knappheiten der erforderlichen indirekten Zwischengüter steuert sich dann – teils unmittelbar, teils über Umwege – auch das Handeln der Menschen, das diese knappen Mittel ja so einsetzt bzw. einsetzen muß, daß die Nutzenproduktion und die Reproduktion des Organismus gelingt. Zur Struktur einer Gesellschaft oder eines sozialen Gebildes und zur Erklärung des Handelns der Menschen gehört damit nicht nur die institutionelle Struktur – so wichtig sie auch immer ist –, sondern auch die materielle InfraStruktur und darüber die auch technisch bedingten relativen Preise für die Mittel, die benötigt werden, um die primären Zwischengüter zu erzeugen. Freilich sind auch die relativen Preise der indirekten Zwischengüter zu einem großen Teil institutionell festgelegt – etwa dadurch, daß einige als erlaubt, andere als illegitim gelten (vgl. dazu noch Abschnitt 3.4). Aber im Hintergrund stehen immer auch technische Machbarkeiten und unverrückbare Knappheiten an Ressourcen, die bestimmte institutionelle Strukturen erst möglich machen:
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Die Handmühle ergibt eine Gesellschaft mit Feudalherren, die Dampfmühle eine Gesellschaft mit industriellen Kapitalisten. Eine von den gesellschaftlichen Einrichtungen unabhängige und ganz und gar unverrückbare Knappheit ist die grundsätzlich begrenzte – reale – Zeit, die die Menschen haben, um sich die Mittel für die Produktion ihres Nutzens zu beschaffen. Aus deren Knappheit führen erst recht keine gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit und keine als unendlich definierte, zirkuläre „soziale Zeit“ heraus. Eine solche zirkuläre Zeit gibt es, etwa als kulturelle Vorstellung der Menschen, nur dort, wo noch so viel an Zeit nicht viel nützt, und die Zeit eben kein Geld ist.
Das alles hat eine wichtige objektive Folge: Mit der Änderung der technischen bzw. der materiellen Produktionsbedingungen, mit der Änderung der Art und der damit verbundenen Kosten für die indirekten Zwischengüter ändern sich auch die Bestrebungen der Menschen: Sie interessieren sich jetzt für andere indirekte Zwischengüter als vorher, auch wenn die Wünsche nach bestimmten primären Zwischengütern und – natürlich – die Bedürfnisse der Menschen ganz und gar gleich bleiben. Und wenn mit den Knappheiten auch die Produktion bestimmter primärer Zwischengüter – relativ – immer kostspieliger wird, ändern die Menschen auch ihr Interesse an diesen. Kurz: Mit Knappheiten und mit den relativen Preisen der indirekten und der primären Zwischengüter ändern sich die Interessen und die Präferenzen der Menschen. Die Präferenzen, Interessen und Bestrebungen müssen sich damit sogar ändern, weil aufgrund der objektiven Knappheiten nun manche primären Zwischengüter nicht mehr zu erzeugen sind. Und ehe ein Organismus auf seine Reproduktion ganz verzichtet, greift er – wenn es gar nicht anders geht – auf andere, vielleicht nicht so attraktive, aber wenigstens herstellbare, primäre Zwischengüter oder auf indirekte Zwischengüter zurück, die jetzt relativ billiger geworden sind. Daraus kann man einen ganz radikalen, für viele Soziologen unerhört klingenden, Schluß ziehen: „...that all changes in behavior are explained by changes in prices and incomes.“15 Anders gesagt: Es sind – mindestens auch! – die objektiven, die nichtkonventionellen und nicht-konstruierten, die technischen wie die natürlichen Bedingungen, die Knappheiten aller Art und die relativen Preise, die die Logik der Situation bestimmen und dem Handeln der Menschen eine unhintergehbare Vorgabe auferlegen. Die Präferenzen für die primären und die indirekten Zwischengüter folgen letztlich den technischen Bedingungen ihrer Produktion und den materiellen Knappheiten – den Opportunitäten also. Das Sein bestimmt das Bewußtsein und das Handeln der Menschen. 15
George J. Stigler und Gary S. Becker, De Gustibus Non Est Disputandum, in: The American Economic Review, 67, 1977, S. 89; Hervorhebungen so nicht im Original.
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Die Interpenetration von Mensch und Gesellschaft Die beiden rechts angeordneten Variablen SW, PW und U und die Produktionsfunktion U = f(SW, PW) beschreiben die inneren Funktionsbedingungen des menschlichen Organismus über eine „Nutzen“-Produktionsfunktion. Sie sind eine allgemeine, das heißt: für alle Exemplare des homo sapiens, wo immer sie uns zuschauen, geltende Vorgabe der Nutzenproduktion und des Handelns. Sie spiegelt die grundlegenden biologisch-psychischen Bedingungen der Reproduktion des menschlichen Organismus wider. Die beiden links angeordneten Variablen X und Z und die Produktionsfunktion Z = h(X,t) beziehen sich auf die materiellen, die technischen, die organisatorischen, die institutionellen und die kulturellen Bedingungen der Nutzenproduktion über die Erzeugung der primären Zwischengüter. Die dafür wichtigen Produktionsfaktoren wie die Produktionsfunktionen sind grundsätzlich – historisch, sozial, kulturell – spezifischer Art. Sie sind materiell, technisch, institutionell und kulturell „definiert“ – durchaus im wörtlichen Sinne dieses Ausdrucks – als Festlegung. Die indirekten Zwischengüter X umfassen insbesondere die materiellen und die technischen Aspekte der objektiven Knappheiten der Nutzenproduktion, die primären Zwischengüter Z vor allem die institutionelle und die kulturelle Definition der gesellschaftlichen Umstände der Nutzenproduktion. An den objektiven materiellen und technischen Begrenzungen und an den ebenso objektiven institutionellen und kulturellen Definitionen der Situation hätte sich ein Handeln gleichermaßen zu orientieren, das situationsgerecht, also effizient und sinnhaft, sein soll. In der Produktionsfunktion SW=g1(Z) bzw. PW=g2(Z) wird die „Grenze“ zwischen dem menschlichen Organismus als biologisch-psychischem System und den Opportunitäten, den institutionellen Regeln und den Symbolen bzw. den Bezugsrahmen der jeweiligen sozialen Umgebung überbrückt. An dieser Grenze findet der unmittelbare „Austausch“ der menschlichen Organismen mit der Natur und mit der sozialen Umgebung statt, ohne den ihre Reproduktion nicht möglich ist. Es ist – in einem Ausdruck von Talcott Parsons – die Zone der Interpenetration von Mensch und Gesellschaft, von personalen und sozialen Systemen. Die Produktion der primären Zwischengüter Z ist wegen dieser unmittelbaren Überschneidung für die Akteure immer ganz besonders „interessant“, lebenswichtig, aufregend und von allerlei Emotionen begleitet. Wegen dieser Nähe zu den vitalen inneren Funktionsbedingungen wird es immer besonders nachhaltige Bestrebungen geben, die primären Zwischengüter zu sichern und zu mehren – egal wie diese Zwischengüter inhaltlich aussehen. Von dieser Schnittstelle zwischen Organismus und Umwelt gehen die emotional-somatischen Phänomene der Begeisterung, des Protestes,
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der Trauer und des leidenschaftlichen Kampfes um die wichtigen Dinge des Lebens aus. Anders wäre die Evolution des Lebens in einer meist ganz und gar unfreundlichen Umwelt wohl nicht möglich gewesen. Und von hierher wird verständlich, wie zentral wichtig die „Lebenswelten“ und die „Liebhaberstücke“ für die Menschen und für ihr Wohlbefinden immer sind – und warum sie alles tun, um sie zu bekommen und um sie zu behalten, wenn man sie ihnen nehmen will.
Von rechts nach links kann in Abbildung 3.4 die Kette der Produktionsfunktionen als Strom eines inputs an Energie gelesen werden, der hinter dem problemlösenden Streben nach den primären Zwischengütern Z und hinter dem Einsatz der indirekten Zwischengüter X steht: Es geht letztlich immer um die Bedienung der Bedürfnisse bzw. um die Erzeugung des Nutzens. Und von links nach rechts läßt sich die Kette als input einer Steuerung dieses Energieund Motivationsstromes sehen: Wie die Bedürfnisse bedient und wie der Nutzen produziert wird, das ist eine Frage der materiellen, technischen und organisatorischen Möglichkeiten der Produktion von Z durch X und der institutionellen und kulturellen Definition der primären Zwischengüter Z zur Produktion von SW und PW. Nicht nur entfernt kann man sich an die kybernetische Kontrollhierarchie der allgemeinen Handlungstheorie von Talcott Parsons erinnert fühlen. Mit dem Konzept der sozialen Produktionsfunktion wird leicht erklärbar, warum sich die Akteure ohne größere Abweichungen an den objektiven Eigenschaften der Situation orientieren und warum sie diesen Vorgaben – meist, wenngleich nicht immer – mit einem gewissen Enthusiasmus und mit eigenem Dazutun folgen: Sie wissen in aller Regel ganz genau, worum es in einer Gesellschaft, in einer Gruppe oder einer Situation „primär“ geht. Und sie wissen meist ebenso gut, welche Mittel, Alternativen, Möglichkeiten sie haben, um diese Dinge zu erzeugen. Und sie definieren daher auch subjektiv ihre Situation so, wie es die objektiven Vorgaben verlangen – wenn sie diese objektiven Vorgaben erkennen können und wenn eine „falsche“ Definition der Situation fatale Folgen hätte.
3.4
Kulturelle Ziele und institutionalisierte Mittel
Die Idee der objektiven gesellschaftlichen Definition der Situation über die Festlegung bestimmter Ressourcen, Objekte, Ereignisse und Leistungen als „primär“ interessante Sachverhalte, um die sich alle Interessen, Präferenzen und Bestrebungen drehen, ist keineswegs neu in der Soziologie. Ihr entspricht eine Unterscheidung, die Robert K. Merton vorgeschlagen und zur Grundlage seiner Erklärung der objektiven gesellschaftlichen Strukturierung von Situationen und Handlungsbereitschaften gemacht hat: die Unterscheidung der in ei-
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ner Gesellschaft geltenden kulturellen Ziele und der für die Erreichung dieser Ziele institutionalisierten Mittel. Kulturelle Ziele Kulturelle Ziele sind für Merton solche Objekte, Zustände und Ressourcen, die für alle Mitglieder einer Gesellschaft von primärem Interesse sind. Die kulturellen Ziele nennt Merton auch Werte. Sie beinhalten, wonach es sich in dieser Gesellschaft überhaupt zu streben lohnt. Kulturelle Ziele definieren „ ... a frame of aspirational reference. They are the things ‚worth striving for’. They are a basic, though not the exclusive, component of what Linton has called ‚designs for group living’. And though some, not all, of these cultural goals are directly related to biological drives of man, they are not determined by them.“16
Die kulturellen Ziele bilden also den primären Rahmen, um den sich alle spezifischen Interessen der Menschen in einer bestimmten Gesellschaft drehen. Sie erzeugen ein systematisches Streben nach gewissen, in einer Gesellschaft allgemein geschätzten Ressourcen, Eigenschaften und Leistungen. Und weil sie so geschätzt werden, entsteht um diese Leistungen, Eigenschaften und Ressourcen ein Bewertungssystem, das in der Gesellschaft von allen geteilt wird – auch von denjenigen, die diese Ressourcen und Leistungen nicht oder nur erschwert besitzen oder erbringen können. Die kulturellen Ziele sind der Kern der Bewertungs-Struktur der Gesellschaft und des Prestiges der Akteure, die diese Ressourcen kontrollieren. In den kulturellen Zielen ist – in der Sprache des Konzeptes der sozialen Produktionsfunktionen – der allgemein akzeptierte und somit sozial verbindliche Satz der als „relevant“ angesehenen primären Zwischengüter niedergelegt. Aus dem letzten Teil des Zitates von Merton wird auch die Verbindung der kulturellen Ziele zu den biologischen und den anthropologischen Existenzbedingungen des Menschen, zu seinen individuellen organismischen Bedürfnissen also, deutlich. Merton betont, daß die kulturellen Ziele sozial definierte, also in ihrer Effizienz gesellschaftlich festgelegte – und damit im Prinzip spezifische und änderbare – Werte sind. Er nimmt dabei auch an, daß die kulturellen Ziele in einer bestimmten Gesellschaft von allen Mitgliedern dieser Gesellschaft geteilt werden. Insofern bilden die Mitglieder einer Gesellschaft für Merton eine Gemeinschaft mit einem bestimmten Interesse, eine Interessengemeinschaft also: 16
Robert K. Merton, Social Structure and Anomie, in: Robert K. Merton, Social Theory and Social Structure, 11. Aufl., New York und London 1967c, S. 132f.; Hervorhebungen nicht im Original.
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Sie eint das Streben nach den kulturellen Zielen. Für den Fall der amerikanischen Gesellschaft war das für Merton der American Dream: das Streben nach materiellem Wohlstand als alle Akteure übergreifender und einender kultureller Wert. Institutionalisierte Mittel Merton nennt aber auch gleich das trennende Element. Die kulturellen Ziele sind nur zu erreichen, wenn dazu bestimmte Mittel eingesetzt werden. Um die primären Zwischengüter der kulturellen Ziele zu erzeugen, müssen also, in der Sprache des Konzeptes der sozialen Produktionsfunktionen, indirekte Zwischengüter als Mittel eingesetzt werden. Nicht alle Mittel sind aber für die Akteure bei der Produktion der primären Zwischengüter brauchbar. Einige sind schon technisch und organisatorisch ineffizient: Als Feuerschlucker kommt man nur selten zu Wohlstand und Ansehen, und verbrennt sich wohl auch gelegentlich den Mund. Noch wichtiger als die technische Leistungsfähigkeit ist für Merton die institutionelle Definition der Effizienz der Mittel: Nicht alle Mittel sind erlaubt. Die Mittel werden – so Merton – institutionell in legitime und in nicht-legitime Mittel getrennt. Die zur Verwirklichung der kulturellen Ziele institutionell erlaubten Mittel nennt Merton institutionalisierte Mittel. Die Einteilung in legitime und nicht-legitime Mittel „ ... defines, regulates and controls the acceptable modes of reaching out for these goals.“ (Ebd., S. 133; Hervorhebungen nicht im Original) Von den technisch und organisatorisch effizienten Mitteln sind damit einige als nicht-legitim institutionalisiert – und scheiden daher zunächst für die Erlangung der kulturellen Ziele aus: Steuerhinterziehung ist zwar effizient für die Erzeugung von Wohlstand, aber verboten und riskant. Die legitimen Mittel sind daher oft keineswegs die technisch oder organisatorisch effizientesten – wie das mühselige Erwerben eines Diploms in Soziologie oder in theoretischer Physik. Allein dies schafft institutionell eingeführte Versuchungen zur Umgehung der Legitimitätsvorgaben für die Mittel. Und wenn es keine andere effiziente Möglichkeit gibt, um an die kulturellen Ziele heranzukommen, dann wird ein Akteur auch nicht immer der Versuchung standhalten, ein effizientes, aber leider nicht-legitimes Mittel anzuwenden. Das ist der Kern der Überlegungen Mertons zur strukturellen Erklärung bestimmter Formen der „Anpassung“ an gesellschaftlich fest definierte Situationen: Wenn eine Gruppe zwar – wie alle anderen Gruppen in einer Gesellschaft – das kulturelle Ziel des Wohlstandes hat, aber von den als legitim definierten institutionalisierten Mitteln ausgeschlossen ist, dann muß sie nach neuen Wegen suchen, um dennoch das primäre Zwischengut des kulturellen Zieles zu erlangen. Zwei Varianten sind jetzt denkbar: neue Wege, die zwar bisher noch nicht bekannt, aber
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auch nicht verboten waren und neue Wege, die aber als nicht-legitim gelten. Beides sind Formen der „Abweichung“ von den institutionalisierten Mitteln und insofern eine Art von „Innovation“. Eine davon ist erlaubt, die andere nicht. Besonders für Unterschichten, und hier vor allem für gerade angekommene Einwanderergruppen, nahm Merton diese Konstellation an: Sie teilen mit allen Bürgern des Einwanderungslandes das kulturelle Ziel des Wohlstandes, aber kontrollieren nicht im gleichen Maße die dafür erlaubten institutionalisierten Mittel. Merton wollte damit die besondere Neigung dieser Gruppen zu kriminellen Innovationen einerseits und zu legitimem Erfindungsreichtum andererseits erklären. Kurz: Al Capone und Thomas A. Edison entstammen dem gleichen strukturellen Hintergrund. Ihre Reaktionen waren beides Versuche der innovativen „Anpassung“ an das Mißverhältnis einer Orientierung an kulturellen Zielen und der Kontrolle über institutionalisierte Mittel. Und jeder tat das auf die Weise, die ihm nach Talent, Tradition und sozialer Umgebung am ehesten möglich war – der eine mit legitimen, der andere mit nicht-legitimen innovativen Mitteln.
Die institutionelle Regelung der Legitimität der Mittel erfolgt unmittelbar und formell sanktioniert über die Erteilung von Rechten bzw. bestimmter Privilegien. Das System des Rechts einer Gesellschaft ist die Grundlage für das Ausmaß der Kontrolle bestimmter Gruppen von Personen über die indirekten Zwischengüter, die benötigt werden, um an die primären Zwischengüter der kulturellen Ziele heranzukommen. Strukturelle Spannungen Die Kontrolle über als legitim definierte Mittel ist die Basis der strukturellen Verteilung der sozialen Chancen der Akteure in bestimmten Kollektiven oder Gruppen der betreffenden Gesellschaft. Von solchen Unterschieden in der Kontrolle der legitimen Mittel geht eine nie ganz stillzustellende Tendenz zu einer Umdefinition der rechtlichen Grundlagen aus, aus der sich ja erst der Mangel an Kontrolle bei einer bestimmten Gruppe ergibt. Das ist der Grund dafür, warum Gesellschaften mit sehr unterschiedlichen Rechten und Chancen bei typischen Teilgruppen der Bevölkerung immer nur durch viel staatliche Gewalt – wie in Südafrika zu den Zeiten der Apartheid – oder durch besonders geschickte ideologische Täuschungen – wie bei den Kasten in Indien – bestehen können. In manchen – wie z.B. in den feudalen – Gesellschaften unterscheiden sich die Gruppen auch in den formellen Rechten. Diese Unterschiede sind dort aber durch ein von allen wieder geteiltes Wertesystem, meist mit starken religiösen Elementen der legitimierenden Sinnstiftung, abgesichert. Allein daraus ergeben sich institutionell erzeugte Unterschiede in den legitimen Mitteln zur Erreichung bestimmter kultureller Ziele, die aber nicht zu besonderen strukturellen Spannungen führen – solange die Legitimität der Ungleichheit funktioniert und plausibel bleibt. In modernen Gesellschaften teilen aber alle Bürger gewisse „Bürger“-Rechte. Dies
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macht einen wichtigen Teil der modernen Gesellschaft gerade aus.17 Aus dieser Gleichheit vor dem Recht folgt eine starke Entlastung der Gesellschaft von solchen latenten strukturellen Spannungen. Ohne diese Entlastung von einer formell definierten Ungleichheit sind komplexe, arbeitsteilig organisierte Gesellschaften kaum denkbar, weil zu ihren Grundlagen gehört, daß Ungleichheiten nur über „Leistung“, nicht aber über ungleich verteilte Rechte entstehen dürfen. Die Gleichheit der Rechte garantiert aber auch in modernen Gesellschaften in keiner Weise die faktische Gleichheit in der Kontrolle der institutionalisierten Mittel: Das Recht auf Bildung ist hierzulande beispielsweise für Akademikerkinder – immer noch – viel effizienter in der Produktion von Wohlstand als für Kinder türkischer Einwanderer. Dies hat viele Gründe, die hier nicht weiter zu besprechen sind. Aber es hat eine wichtige Folge: Eine weiterhin höchst ungleiche empirische Verteilung in den sozialen Chancen zur Nutzung der institutionellen Mittel, um an die interessanten kulturellen Ziele heranzukommen (vgl. dazu auch noch Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ausführlich).
Damit ist das strukturelle Problem skizziert, auf das Robert K. Merton hinaus will. Das Streben der Menschen ist in einer Gesellschaft über deren – formelle wie informelle – Verfassung und die geltende institutionelle und kulturelle Tiefenstruktur festgelegt: über das Prestige in Bezug auf die kulturellen Ziele; und über die formellen Rechte bzw. die empirisch gegebenen sozialen Chancen in Bezug auf die institutionalisierten Mittel. Das übergreifende System des gesellschaftlichen Prestiges eint die Menschen in den Zielen ihres Strebens, gleiche Rechte einen sie auch in den Möglichkeiten, diese Ziele zu erreichen. Subkulturell unterschiedliche Werte, ungleiche Rechte und die – auch: dadurch – unterschiedlich verteilten sozialen Chancen trennen sie jedoch darin – und zwar gleichzeitig. Das alles erzeugt deutliche Spannungen und Konfliktlinien zwischen den Gruppen, die zwar unter Umständen das gleiche Interesse an den kulturellen Zielen, aber eine sehr unterschiedliche Kontrolle über die legitimen Mittel haben. Die auf diese Weise strukturell erzeugten Spannungen schaffen für typische Gruppen von Akteuren objektive Anreize für ein typisches Anpassungsverhalten zur Schließung der Diskrepanz zwischen dem Interesse an den kulturellen Zielen und der Kontrolle über die institutionalisierten Mittel, die es erlauben, diese Ziele zu verfolgen. Gleichermaßen angestrebte kulturelle Ziele und verschiedene Grade der Kontrolle über legitime Mittel erzeugen nicht nur ein typisches Anpassungsverhalten, sondern auch typische Linien unterschiedlicher Interessen und Möglichkeiten und damit: typische Linien von latenten Konflikten zwischen den verschiedenen Gruppen einer Gesellschaft (vgl. zum Konzept des Konfliktes noch Abschnitt 4.3). Solche strukturell erzeugten Konfliktlinien werden
17
Vgl. Thomas H. Marshall, Staatsbürgerrechte und soziale Klassen, in: Thomas H. Marshall, Bürgerrechte und soziale Klassen. Zur Soziologie des Wohlfahrtsstaates, Frankfurt/M. und New York 1992, S. 53ff.
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auch als cleavages bezeichnet. Die Grundlage dieser strukturellen Spaltungen ist die gesellschaftliche Definition der sozialen Produktionsfunktionen, insbesondere über das Recht, über das Prestige und über die lange Geschichte der Reproduktion sozialer Ungleichheit zwischen den Gruppen einer Gesellschaft. Die cleavages sind die wichtigste Quelle für die grundlegenden Spannungen, die politische Organisation und – allgemein – für den sozialen Wandel in einer Gesellschaft. Cleavages sind zunächst nur Linien latenter Konflikte. Anders als in Feudalgesellschaften gibt es in modernen Gesellschaften mit solchen cleavages kein legitimierendes Wertsystem und keine formelle Ungleichheit. Das Fehlen formeller Benachteiligungen entschärft den latenten Konflikt zwar, die Delegitimation der Ungleichheit heizt ihn aber gleichzeitig erst an. So wird verständlich, daß in modernen Gesellschaften mit einer weiterhin stabilen Ungleichverteilung sozialer Chancen auch bei relativ geringen Graden der Ungleichheit und mit blasser werdenden cleavages, gleichwohl die Auseinandersetzung zwischen den Gruppen zunehmen. Revolutionen werden aber kaum ausbrechen, weil die Menschen noch eine weitere Erfindung gemacht haben: Konflikte werden über ein weit verzweigtes System intermediärer Instanzen, etwa über die Parteien, über Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände oder über den ADAC und den Bund der Steuerzahler, ausgetragen. Fast mehr noch als die Bürgerrechte ist eine solche vielfach gekreuzte korporative Struktur eines der Grundmerkmale moderner Gesellschaften. Es hilft, die strukturellen Spannungen zu neutralisieren und anders als durch offene Konflikte auszutragen: durch formelle Verfahren der Konfliktregelung (vgl. dazu auch noch Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
Wegen des nicht auszuräumenden Mißverhältnisses zwischen gemeinsam angestrebten Zielen und den Knappheiten in der Verteilung der Mittel für die Erreichung dieser Ziele sind strukturelle Spannungen grundsätzlich unvermeidlich. Sie sind durch Legitimationen, durch „Verständigung“, durch Bürgerrechte, durch die korporative Struktur von Interessenvertretungen und durch formelle Verfahren der Konfliktregelung vielleicht abzumildern, aber letztlich nie zu beseitigen. Eine Änderung der gesellschaftlichen Definition der Situation würde nur eine Änderung in der Art der strukturellen Spannungen bedeuten. Aus der Welt zu schaffen sind sie solange nicht, wie die Mittel knapp und wichtige Ziele der Menschen die gleichen sind. Also eigentlich: niemals.
Exkurs über die Ehre Ehre ist der Grad von gesicherter Wertschätzung, den eine Person oder eine Gruppe öffentlich genießt. Sie ist eine Gegenleistung für hochgeschätzte Dienste. Ehre bedeutet für den Geehrten ein hochwirksames Kapital, mit dem ganz besondere Gegenleistungen erwirkt werden können: Wer einen guten Ruf hat, dem wird Vertrauen entgegengebracht. Dies macht ihm Dinge möglich, die anderen ganz verschlossen sind. Wer hingegen seinen Ruf verspielt hat,
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lebt vielleicht ganz ungeniert, kann aber auch ansonsten machen, was er will. Deshalb ist der Erwerb eines guten Rufes auch für solche Leute interessant, denen die Meinung anderer eigentlich egal ist. Wohl nur der als hinreichend sonderbar bekannte Marquis de Sade konnte daher wohl meinen: „Der Ruf ist ein wertloses Gut, – er entschädigt uns niemals für die Opfer, die wir ihm bringen!“ Adam Smith hat den Drang nach sozialer Wertschätzung gerade auf den Fall der Sicherung und Kapitalisierung der Wertschätzung gemünzt – und sogar zu einer „natürlichen“ Neigung erhoben: Mehr noch als nur geliebt und bewundert zu werden, wünschen sich die Menschen, als liebenswert und als bewundernswert zu gelten. Und mehr noch als gehaßt und verachtet zu werden, möchten sie um keinen Preis als hassenswert und als verachtenswert erscheinen: „Man naturally desires, not only to be loved, but to be lovely; or to be that thing which is the natural and proper object of love. He naturally dreads, not only to be hated, but to be hateful; or to be that thing which is the natural and proper object of hatred.“ (Smith 1976, S. 113f.; Hervorhebung nicht im Original)
Ehre und Reputation sind Hinweise für andere Akteure, daß der Betreffende vertrauenswürdige Eigenschaften hat, mit denen auch in Zukunft mit hoher Sicherheit gerechnet werden kann. Auf diese Weise lassen sie sich mit ihm auf Aktionen ein, die sie mit anderen unterlassen hätten. Beispielsweise eine riskante gemeinsame Investition, deren Gelingen davon abhängig ist, daß alle mitmachen, bei der sich die Akteure gegenseitig Unterstützung versprechen und das auch wechselseitig glauben müssen. Auf diese Weise können alle zusammen Dinge erreichen, die ansonsten gänzlich unmöglich wären. Ehre und Reputation ermöglichen so die Durchführung von an sich ganz unwahrscheinlichen kollektiven Unternehmungen. Sie gehören zu den wichtigsten Mechanismen für die spontane Entstehung von Kooperation und sozialer Ordnung (vgl. dazu noch Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Weil das Gelingen der eigentlich riskanten Kooperationen wiederum allen nützt, und weil alle das auch wissen, verdient sich derjenige, der dieses Risiko in selbstloser Pflichterfüllung zuerst und in voller Ungewißheit des Ergebnisses auf sich genommen hat, zu Recht das Lob der Allgemeinheit. Und die lobt gerne, weil – und solange! – das Lob nicht viel kostet, aber der kollektive, jetzt jedermann zugängliche Nutzen, beträchtlich ist. Dieses Lob ermutigt dann vielleicht neue Wohltäter – bis sich alle in den Versuchen überbieten, der mutigste Held oder der hingebungsvollste Altruist zu sein, und zum Schluß oft gar nicht mehr wissen, wofür eigentlich.
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Statussymbole Zeichen, die in einer sozialen Gruppe fest mit bestimmten Vorstellungen, Haltungen, Gefühlen oder Handlungsbereitschaften assoziiert sind, werden allgemein als Symbole bezeichnet. Wenn Symbole einen besonderen Status seines Trägers anzeigen, für den es eine fest definierte soziale Wertschätzung oder Ehre oder Reputation gibt, haben wir es mit Statussymbolen zu tun. Ein Symbol, das seinen Träger dagegen diskreditiert, ist ein Stigma. Es ist ein negatives Statussymbol. Statussymbole sind immer gesellschaftliche Konstruktionen. Einige sind ausdrücklich als Zeichen der Ehre definiert, Orden und Ehrenmedaillen etwa. Es können aber auch bestimmte Leistungen und Eigenschaften, die eigentlich nur eine „instrumentelle“ Bedeutung haben, unbeabsichtigt selbst zu Symbolen der Wertschätzung – oder der Diskreditierung – mutieren: ein Doktor med. oder ein Doktor päd., ein Mercedes oder ein Lada, die Adresse Am Ruhrstein in Essen-Bredeney oder Am Grauen Stein in Köln-Poll – zum Beispiel. So werden zuvor eher neutrale Dinge zu einer eigenen Sorte von primären Zwischengütern, deren schierer Besitz für die Erzeugung von Wertschätzung oder Diskreditierung effizient ist, und nach denen die Menschen nicht mehr nur aus instrumentellen Gründen begierig streben oder sie zu verbergen versuchen – je nachdem. Soziale Wertschätzung und wissenschaftliche Reputation und Ehre beispielsweise sind über exzellente Forschung in der stillen Kammer unmittelbar kaum zu erlangen – außer im engen Fachkollegenkreis vor Ort vielleicht. Für eine effizientere Produktion von Wertschätzung bedarf es fast immer eines eigenen Symbols der Exzellenz der Arbeiten, von dem jeder sicher weiß, daß es nur erworben werden kann, wenn das „eigentliche“ primäre Zwischengut produziert worden ist. Etwa: ein Artikel im American Journal of Sociology oder eine gute Besprechung von einem anerkannten Kollegen, die beide sehr zuverlässig für eine gute Reputation sorgen. Dies sind dann sehr wirksame Symbole für den Status, das Prestige, den Ruf, die Reputation des Akteurs: daß er Ressourcen kontrolliert und Eigenschaften hat, die Anerkennung verdienen und Vertrauen rechtfertigen. Für ein Stigma gilt das Umgekehrte. Wer es trägt – etwa die „falsche“ Hautfarbe oder das „falsche“ Geschlecht, eine körperliche Behinderung, ein schlechtes Zeugnis oder eine Vorstrafe –, der kann machen was er will: Soziale Wertschätzung und Vertrauen ist nun nur unter sehr erschwerten Bedingungen zu erlangen.
Der Drang nach Symbolen der Wertschätzung ist vor diesem Hintergrund leicht zu verstehen: Sie können das Bedürfnis nach sozialer Wertschätzung unmittelbar befriedigen. Sie sind darin äußerst wirksam, weil sie öffentlich sichtbar und anerkannt sind. Und sie erzeugen die Wertschätzung auf eine besonders zuverlässige Weise – gerade auch dann, wenn wirklich nicht viel dahinter steht. Wer das Symbol der Wertschätzung hat, kann sich beruhigt zurücklehnen. Er hat geschafft, was sonst fast unmöglich ist: die unwiderrufliche
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Sicherung eines positiven Selbstbildes – auch ohne weitere Anstrengung und ohne Sorge um seinen Zerfall. Außerdem scheißt, wie man so sagt, derTeufel besonders bei der Ehre immer auf den dicksten Haufen. Es ist ein Fall des sog. Matthäus-Effektes: wer da hat, dem wird auch noch gegeben. Deshalb sind die Oscars, die Nobelpreise, die Leibnizpreise und die Ehrendoktortitel so begehrt – und nicht wegen der Statue oder der paar Mark, die es dafür gibt. Und deshalb ist die Empörung zu Recht auch groß, wenn den Preis oder den Titel jemand bekommt, von dem alle wissen, daß er oder sie es nicht verdient haben. Innere Prämien Ehre muß verdient werden. Wer sichtbar nach ihr aus ist, hat sie schon verloren. Ein nicht verdientes Lob nützt dem so Gepriesenen nichts. Das wissen die Menschen – wie wohl nicht nur Adam Smith meint – ganz genau: „If we are conscious that we do not deserve to be so favourably thought of, and that if the truth were known, we should be regarded with very different sentiments, our satisfaction is far from being complete.“ (Smith 1976, S. 114f.)
Um verdiente Anerkennung zu erreichen, müssen sich die Menschen also wirklich füreinander verdient machen und tatsächlich umeinander kümmern und etwas tun, was die Anerkennung der anderen verdient. Oder sie müssen wenigstens so gut „als ob“ handeln, daß niemand, auch sie selbst nicht, für ihr eigenes Tun das „als ob“ bemerkt. Das ist in der Technik der sozialen Produktionsfunktion für die Produktion von Ehre so angelegt. Erst wenn jemand wirklich uneigennützig handelt – oder perfekt so tut –, kann er überhaupt erreichen, was ihm am nützlichsten ist: ein positives Bild von sich selbst in den Augen der anderen. Gute Taten reichen für die Ehre aber keineswegs immer aus. Was ist, wenn ich ehrenwert gehandelt habe, aber niemand hat davon erfahren? Oder niemand findet sich zur Ehrerbietung bereit? Der wirkliche Ehrenmann hat sich von derlei Äußerlichkeiten ganz frei gemacht. Gut fühlen kann sich – so Adam Smith weiter – vor allem derjenige, der sich nicht am äußeren Erfolg orientiert: „We are pleased, not only with praise, but with having done what is praise-worthy. ... The man who is conscious to himself that he has exactly observed those measures of conduct which experience informs him are generally agreeable, reflects with satisfaction on the propriety of his own behaviour.“ (Ebd., S. 115f.)
Ehre gibt es, wenn überhaupt, nur für die ganz selbstlose – oder wenigstens: glaubhaft so erscheinende – Erfüllung von wichtigen Aufgaben, die der Gemeinschaft nutzen. Wenn es aber die Gemeinschaft nicht tut, weil sie die gute
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Tat nicht mitbekommen oder dem wahren Urheber nicht zugeschrieben hat, dann ehrt sich der Akteur eben innerlich selbst. Diese innere Prämie ist vielen der Ehre schon genug, um ganz still und unverdrossen und ohne viel Aufhebens ihre Pflicht zu tun. Es ist der innere Wert, den die Sache für den Akteur hat, ein Wert, der, wie der Freiherr von Knigge geschrieben hat, „wie ein Schatz unter der Erde immer, auch verborgen, Gold bleibt“. Auch die Tugend bedarf der Belohnung. Und deshalb tut ein jeder, der unverzagt tugendhaft sein will, gut daran, sich auch dann über seine guten Taten zu freuen, wenn die äußeren Ehrungen ausbleiben. Dazu hat er vielleicht sogar bald einen äußeren Grund: Die innerlich belohnte Pflichterfüllung kann andere dazu bringen, etwas auf die Beine zu stellen, was ohne die Opferbereitschaft des Einen nicht denkbar gewesen wäre. Und unser unsichtbarer Held wird jetzt nicht nur im Stillen und nicht nur innerlich belohnt. Er kann sich über wirkliche Früchte seiner Tugend freuen, weil es durch seinen selbstlosen Beginn nunmehr bereitwillige und jedermann zuträgliche Kooperation gibt, wo vorher nur mißtrauischer Egoismus zum Schaden aller herrschte. Ehre, Recht und Sittlichkeit Georg Simmel (1858-1918) hat in seinem Beitrag über „Die Selbsterhaltung der sozialen Gruppe“ die Ehre als eine von drei grundlegenden Arten der Normierung sozialer Beziehungen dargestellt: Die Sittlichkeit dient der inneren Selbsterhaltung des Individuums und regelt das individuelle Handeln durch die Anwendung der inneren Kontrollen aus dem – wie wir auch sagen können – moralischen Bewußtsein des Akteurs. Das Recht beruht auf der Anwendung äußerer Kontrollen durch externe Sanktionsmittel. Die Sittlichkeit bezieht sich also auf das Individuum, das Recht auf den weiteren gesellschaftlichen Kontext. Die Ehre ist nach Georg Simmel nun jene Normierungsart, bei der die innere Kontrolle des Akteurs und die äußere Kontrolle der sozialen Umgebung miteinander verbunden sind: „Bringt man diese Normierungsarten auf ihren ganz spezifischen Ausdruck, ... so erwirkt das Recht äußere Zwecke durch äußere Mittel, die Sittlichkeit innere Zwecke durch innere Mittel, die Ehre äußere Zwecke durch innere Mittel.“18
Das entspricht genau der Funktion der Reputation bei der Entstehung von Kooperation: Die Reputation verweist auf verläßliche innere Eigenschaften des 18
Georg Simmel, Die Selbsterhaltung der sozialen Gruppe, in: Georg Simmel, Soziologie, Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, 5. Aufl., Berlin 1968a (zuerst: 1908), S. 403.
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Akteurs, die erst den äußeren Zweck der Kooperation ermöglichen. Die Sittlichkeit bleibt eine bloß innerlich bleibende Angelegenheit. Das Recht erzwingt etwas allein durch äußerliche Maßnahmen. Mit der Ehre erst durchdringen sich die inneren Motive der Akteure und die äußeren Folgen eines Handelns. Ehre macht durch diese Verschränkung von inneren Motiven und äußerem Handeln Kooperation gerade da möglich, wo sie besonders schwierig zu bewerkstelligen wäre. Und zwar über das Vertrauen, das die Ehrenleute genießen und über die inneren Prämien, die sie mit ihren Taten ganz unabhängig von der äußeren Ehrerbietung einheimsen. Ehre und Gesellschaft Max Weber hat die Ehre zu dem entscheidenden Merkmal der Kategorie des Standes gezählt. Im Unterschied zur rein formal und ökonomisch definierten „Klassenlage“ ist die „ständische Lage“ „ ... jede typische Komponente des Lebensschicksals von Menschen, welche durch eine spezifische, positive oder negative, soziale Einschätzung der ‚Ehre’ bedingt ist, die sich an irgendeine gemeinsame Eigenschaft vieler knüpft.“19
Die Ehre ist auch die Grundlage der Vergesellschaftung in der sog. ständischen Gesellschaft: Das ist – nach Georg Simmel – jene spezielle Form einer Gesellschaft, die durch relativ schwache Grade der formal-rechtlichen Regulierung, durch deutliche Gruppenunterschiede und durch einen relativ hohen Interaktionsgrad innerhalb der Gruppen gekennzeichnet sind. Die Symbole der Ehre – die Statussymbole – sind hier von ganz besonderer Bedeutung: Sie definieren nicht nur den „Stand“ der Akteure, sondern „definitiv“ auch die ganze Situation des Handelns, wenn sich die Mitglieder der verschiedenen Stände begegnen (vgl. auch Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Zu den Stand und Situation definierenden Symbolen zählen dort natürlich spezielle Insignien etwa der Macht oder des Berufes. Bundesadler und weiße Kittel zeugen von ständischen Verhältnissen noch in unserer Zeit. Dazu gehören aber vor allem besondere Arten der „‚Stilisierung’ des Lebens“ (Weber 1972, S. 537), etwa in der Bekleidung, auch das Wissen etwa um die „richtige“ Plazierung des Verhaltens, das souveräne Beherrschen von allen möglichen, nur scheinbar unbedeutenden kleinen Tricks, etwa solche der Rhetorik,
19
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5. Aufl., Tübingen 1972 (zuerst: 1922), S. 534; Hervorhebung im Original.
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oder bestimmter Regeln und Rituale, etwa die gewisser Tischsitten oder Festansprachen. Alles das fungiert als ein für die Akteure enorm produktives Kapital, dessen Erwerb in solchen Gesellschaften oft interessanter und wichtiger ist als der der „eigentlichen“ Zwischengüter. Moderne, nicht-feudale Gesellschaften werden nicht mehr derart durch die Ehre und deren Symbole zusammengehalten. Sie beziehen ihre Integration aus anderen Vorkehrungen. Die wichtigsten davon sind die vielen indirekten Interdependenzen der Akteure in einem unübersehbaren Geflecht arbeitsteiliger Abhängigkeiten. Daß diese Interdependenzen bestehen und auch wirklich funktionieren, erfahren die Menschen zwar auch durch bestimmte Symbole. Aber das sind keine Statussymbole, sondern sog. symbolisch generalisierte Medien, die den Akteuren sicher anzeigen, was gerade wichtig ist und worauf sie sich verlassen können – ganz unabhängig von den Eigenschaften der Personen und ihrer Ehre. Das Geld gehört zu solchen symbolisch generalisierten Medien. Es signalisiert den Menschen in der entsprechenden Situation, etwa im Supermarkt, daß sie selbst keine besondere Reputation brauchen, um einen anderen zur verläßlichen Kooperation zu bewegen. Sondern nur eines: einen nicht gefälschten Geldschein oder einen noch nicht ausgeschöpften Kreditrahmen. Andere derartige Medien sind die Macht für den Bereich der Politik oder die Wahrheit für die Wissenschaft. Es sind die Bezugsrahmen, die Codes und Programme, nach denen sich die Akteure jeweils richten müssen, wenn sie in der jeweiligen Sphäre verstanden werden und etwas bewirken wollen.
In den kleinen Lebenswelten auch der modernsten Gesellschaften geht es aber gleichwohl – und eher: vor allem – weiterhin um Ehre und Reputation. Das wird sich nie ändern, weil die soziale Wertschätzung eines der beiden allgemeinen Bedürfnisse der Menschen ist, das nie zu stillen sein wird. Im Gegenteil: Gerade wenn die Ehre als gesellschaftliches Gut immer unwichtiger wird und auf der Ebene der formalen Beziehungen und indirekten Interdependenzen kaum mehr hergestellt werden kann, werden die kleinen Lebenswelten der persönlichen Vermittlung von Ehre für die Erzeugung sozialer Wertschätzung um so bedeutsamer. Und wenn sie nicht mehr produziert wird, dann schaffen sich die Menschen – in oft verzweifelten Anstrengungen – die Orte dafür, wo und wie immer das geht. Jugendsekten, Töpfergruppen, linksradikale Szenen und rechtsradikale Bündnisse sind solche Orte der gegenseitigen Erzeugung von Wertschätzung.
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Die Feinen Leute und die Feinen Unterschiede Ehre muß – so haben wir oben schon gesehen – „verdient“ sein. Das ist ein schwieriges und riskantes Unternehmen: Tue Gutes, sorge aber auch dafür, daß darüber geredet wird. Ehrenvolle Taten, von denen niemand etwas weiß, nutzen dem Akteur nichts. Leider darf niemand merken, daß der Held eventuell es selbst war, der geredet hat. Nichts ist empfindlicher als die Erzeugung der Ehre durch offensichtlich gewollte Anstrengung. Ehre ist typischerweise ein Nebenprodukt, das absichtsvoll fast nicht erworben werden kann. Sie verfällt außerdem rasch mit dem Alltag und mit der intimen Kenntnis der Umstände der Ehrenverdienste. Der Alltag ist der Tod nicht nur der Glut der Liebe, sondern auch der Ehrfurcht und der Verehrung und des Charisma. Allein deshalb gilt der Prophet im eigenen Lande nicht viel. Um so wichtiger wird dann der Erwerb jener Zeichen, die den anderen auch verläßlich und verfallsgeschützt anzeigen, daß der ersehnte Ruf tatsächlich verdient ist, obwohl das vielleicht gerade die Frage ist. Thorstein Veblen (1857-1929) hat auf dieser Grundlage seine „Theorie der feinen Leute“ und Pierre Bourdieu seine Ideen über die „feinen Unterschiede“ entwickelt.20 Der Kern der Überlegungen von Thorstein Veblen war, daß das, was man Geschmack oder Stil bzw. demonstrativen Konsum nennt, keineswegs eine irrationale Verschwendung, sondern ein besonders geschickter und effizienter Versuch der Statussicherung durch die Demonstration von „Verdienst“ ist. Veblen spricht vom „spezialisierten Güterkonsum als Zeugnis finanzieller Macht“ (Veblen 1987, S. 79; Hervorhebung nicht im Original), ein Zeugnis das für den Erhalt der sozialen Wertschätzung – und langfristig für alles andere auch – dann besonders wichtig wird, wenn die finanzielle Macht – das „eigentlich“ interessierende primäre Zwischengut – schon gebrochen ist. Wichtig werden Symbole der Wertschätzung in der Tat besonders dann, wenn die Menschen Probleme haben, die „eigentlichen“ Zwischengüter unter Kontrolle zu bringen oder zu halten. Jeder, der einen Kredit braucht, weiß, daß er im feinen Zwirn und mit dem Mercedes zur Bank fahren muß – und eben nicht: in Jeans und mit dem Fahrrad. Die Statussymbole funktionieren ja wenigstens eine zeitlang auch dann, wenn eigentlich nichts dahinter steckt. Das ist einer der Gründe für die Sucht nach Titeln und Ehrenmitgliedschaften wie auch für den demonstrativen Konsum, der ja zu nichts anderem dient als der Umwelt anzuzeigen, daß man doch über Dinge verfügt, die für alle von Interesse sind
20
Thorstein Veblen, Theorie der feinen Leute. Eine ökonomische Untersuchung der Institutionen, Frankfurt/M. 1986 (zuerst: 1899); Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt/M. 1982.
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und daher zu sozialer Wertschätzung veranlassen und einen besonderen Vertrauensvorschuß rechtfertigen. Die Akteure wissen nämlich ganz genau: Mit dem Verlust der Symbole gehen die Wertschätzung und die Vertrauenswürdigkeit auch dann verloren, wenn die Kontrolle über die „eigentlichen“ Zwischengüter durchaus noch besteht. Und interessanterweise ist es oft sogar sehr schwer, bei einem Verlust des Symbols oder seines Wertes, auch die Kontrolle über die „eigentlichen“ Zwischengüter zu behalten. Auch dieser Sachverhalt erklärt leicht die unglaublichen Aufgeregtheiten der Menschen, wenn es um ihre Ehre geht: Es steht immer sehr viel mehr auf dem Spiel als bloß der Ruf. Pierre Bourdieu hat einen ähnlichen Gedanken entwickelt. Titel, Ehrenzeichen oder bestimmte, von Parvenüs nicht mehr erwerbbare Besonderheiten des Habitus, sind keine leeren Hülsen des Gebarens, sondern eine enorm bedeutsame Art von Kapital, das von anderen Akteuren nicht erworben werden kann. Pierre Bourdieu nennt es das kulturelle Kapital. Es dient weniger als unmittelbar nutzbare Ressource, sondern ist ein Mittel im Statuskampf der Gruppen. Pierre Bourdieu sieht in der über die demonstrative Nutzung von kulturellem Kapital symbolisch vollzogenen Abgrenzung der Gruppen voneinander – in der Distinktion – eine wirksame Strategie zur Statussicherung – vor allem natürlich der oberen Schichten gegen die lästigen Eindringlinge von unten: „Die im objektiven wie im subjektiven Sinn ästhetischen Positionen, die ebenso in Kosmetik, Kleidung oder Wohnungsausstattung zum Ausdruck kommen, beweisen und bekräftigen den eigenen Rang und die Distanz zu anderen im sozialen Raum.“ (Bourdieu 1982, S. 107; Hervorhebungen nicht im Original)
Die feinen Unterschiede und der gute Geschmack sind ganz offenkundig alles andere als zwar teure, aber ansonsten unschuldige Marotten der Feinen Leute. Der Kampf um die Ehre Die Grundlage der Ehre in einem Kollektiv ist das jeweils geltende Wertsystem der Einschätzung der entsprechenden Symbole. Dieses Wertsystem ist das, was oben als Prestige bezeichnet wurde. Mit dem Wertsystem des Prestiges ist in einem Kollektiv festgelegt, woran sich höchste soziale Wertschätzung oder tiefste Verachtung – manchmal in einer Form des „Alles oder Nichts“ – knüpfen: Die Virginität unverheirateter Mädchen und die Virilität der jungen Männer in Süditalien beispielsweise. Zeichen dafür – wie die Zurückhaltung der Mädchen bei Werbungsversuchen oder die mannhafte Vergeltung von Beleidigungen bei den jungen Männern – sind ein Ehrensymbol, wenn die Regeln jeweils genau eingehalten wurden. Oder ein tief diskreditierendes Stigma, wenn das nicht geschieht. Das Vorzeigen des Bettlakens am Morgen nach der Hochzeitsnacht vor aller Öffentlichkeit ist der Test für die Einhaltung der Regeln – bei beiden.
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Weil von diesen Tests der Ehrenhaftigkeit manchmal buchstäblich das Leben abhängt, etwa weil es keinen leichten Ausweg zu anderen Orten der Nutzenproduktion gibt, wird um sie mit allen Fasern der Leidenschaft gefochten. Von außen oder aus der Warte der eigenen Kultur kann man sich nur wundern, warum die Menschen derartigen Verrücktheiten nachhängen. Aber mit dem Wissen um die Definition der sozialen Produktionsfunktionen in der betreffenden Gemeinschaft und darum, daß das unstillbare Bedürfnis nach einem positiven Selbstbild von der sozialen Anerkennung durch unersetzbare, spezifische, höchst „signifikante“ Andere abhängt, ist nichts Verrücktes mehr daran.
Ändert sich das Wertsystem des Prestiges, dann werden die gleichen Symbole und Eigenschaften ganz anders „produktiv“. Besonders folgenreich sind deshalb Umdefinitionen der Prestigeordnung für diejenigen, die über bestimmte, bisher sehr verläßliche Symbole der Ehre verfügen, das nicht ändern können und/oder viel darin investiert haben, sie zu erlangen. Bestimmte Titel, eine bestimmte Hautfarbe oder ein bestimmtes Geschlecht sind – unter Umständen – plötzlich nichts mehr wert – oder gelten jetzt gar als ehrabschneidendes Stigma. Es dreht sich bei der Definition des Prestiges meist um alles. Und deshalb geht es bei solchen „Wert“-Konflikten oft noch leidenschaftlicher zu als beim alltäglichen Wettlauf um die Ehre im Rahmen einer bestehenden Wertordnung (vgl. dazu auch noch Abschnitt 4.3). Symbole der Ehre sind – wie jetzt vor dem Hintergrund der sozialen Produktionsfunktionen leicht einsehbar wird – also viel mehr als materiell eigentlich belanglose Zeichen. Sie verweisen auf den Kern der objektiven Definition von Situationen. Und das heißt: Ihr Wert ist von der gesellschaftlichen Festlegung der sozialen Produktionsfunktion abhängig, bei der das Symbol der input und die Wertschätzung der output sind. Im Hintergrund steht ein bestimmtes objektiv gültiges, durch subjektive Interpretationen nicht einfach veränderbares, System der Verteilung von Rechten und von Prestige – und darüber des Wertes, den ein bestimmtes kulturelles Kapital, das ein Akteur oder eine Gruppe kontrolliert, jeweils hat. Weil dieses Kapital aber oft das einzige Pfand der Akteure zur Produktion der Mittel ist, die für die Bedienung ihrer Bedürfnisse nach sozialer Wertschätzung und nach physischem Wohlbefinden notwendig sind, ist der Kampf um die Symbole und um deren Bewertung eine oft lebenswichtige Investition in diese Produktion. Es ist nichts Unverständliches daran, wenn der Kampf um die Ehre und um die Symbole dafür besonders leidenschaftlich und blutig und oft genug bis auf Leben oder Tod geführt wird.
Kapitel 4
Interesse und Kontrolle
Zwei grundlegende Bedürfnisse haben die Menschen: soziale Wertschätzung und physisches Wohlbefinden. Darin sind sie sich alle gleich. Sie unterscheiden sich aber sehr in ihren Präferenzen und Bestrebungen nach den Dingen der Welt. Die einen wollen mehr Lohn, die anderen höhere Gewinne, 42 Tore in der Bundesliga diese und die blaue Mauritius jene. Ein in der Kabinettsrunde ungeschmälertes Budget seines Ressorts ist der Stolz jedes Ministers, und der Beifall ist das Brot des Künstlers. Eine Politesse freut sich über zahlreiche Anzeigen, ein Anwalt über einen gewonnenen Prozeß und ein Richter über die Korrektheit des Verfahrens. Schriftsteller sind beglückt nach hohen Auflagen und lobenden Besprechungen und deprimiert nach einem Flop im Verkauf und einem Verriß im Literarischen Quartett. Wissenschaftler suchen nach der Wahrheit und sehnen sich nach dem Nobelpreis; und sie neiden ihn dem stets weniger bedeutenden Kollegen, der ihn denn bekommt. Der Rektor einer Universität wünscht sich nichts mehr als die Einrichtung eines Sonderforschungsbereiches – egal, was dort geforscht wird. Eine Stasi-Medaille vor der Wende ehrt selbst einen Gottesmann, danach weit weniger – und so weiter.
Man kann nicht gut sagen, daß es „allgemeine“ Bedürfnisse nach Bundesligatoren, nach der blauen Mauritius oder nach einem Sonderforschungsbereich gibt. Aber daß es – unter Umständen – deutliche Präferenzen dafür gibt, daran kann auch kein Zweifel sein. Die Antwort auf dieses Rätsel gibt das Konzept der sozialen Produktionsfunktionen, das wir im letzten Kapitel kennengelernt haben: Durch die „Verfassung“ der sozialen Produktionsfunktionen werden an sich ganz neutrale Dinge zu primären und zu indirekten Zwischengütern, zu kulturellen Zielen und institutionalisierten Mitteln, zum Code des Sinns und zum Programm des Handelns in einer Situation. Die Menschen bleiben zwar, was ihre Bedürfnisse angeht, im Prinzip stets die Gleichen. Aber je nach der gesellschaftlichen Definition der Situation streben sie nach etwas anderem und tun – oft genug mit entschiedener Leidenschaft – Dinge, die sie unter anderen Bedingungen gelassen oder sogar mit aller Bestimmtheit vermieden und abgewehrt hätten.
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Situationslogik und Handeln
Die Definition der primären und der indirekten Zwischengüter begründet das Interesse der Menschen an bestimmten Ressourcen, Objekten, Ereignissen und Leistungen. Um eine Ressource zur Nutzenproduktion einsetzen zu können, muß der Akteur auf sie einen verläßlichen Zugriff haben. Ohne diesen Zugriff hätte er von der interessantesten Ressource nichts. Dies begründet die zweite grundlegende Beziehung des Akteurs zu den Ressourcen in seiner Umgebung: den Grad der Kontrolle, den er über die Ressource ausübt. Interesse und Kontrolle beschreiben, wie wir in Kapitel 1 schon gelernt haben, die beiden grundlegenden Relationen zwischen Akteuren und Ressourcen. Situationen sind nichts weiter als Kombinationen dieser beiden grundlegenden Relationen. Mit ihrer systematischen Verteilung ist strukturell bestimmt, wie die Menschen zueinander stehen. Unter anderem: Ob sie sich in einem Konflikt gegeneinander befinden oder Interesse an einer Kooperation miteinander haben.
4.1
Interesse
Das Interesse eines Akteurs an einer Ressource ergibt sich aus der Effizienz der Ressource für die Bedienung der beiden allgemeinen Bedürfnisse: Je mehr Nutzen sie durch die Erzeugung von sozialer Wertschätzung und physischem Wohlbefinden produzieren kann, um so höher ist das Interesse des Akteurs an ihr. Bedürfnisse und Interessen Die Interessen der Menschen sind damit zwar nicht mit den Bedürfnissen nach sozialer Wertschätzung und physischem Wohlbefinden identisch, hängen aber mit ihnen – mehr oder weniger eng – zusammen. Sie beziehen sich auf die sehr variablen Verhältnisse in der äußeren Umgebung des Akteurs, die Bedürfnisse demgegenüber auf die relativ stabilen inneren Funktionsbedingungen seines Organismus. Daraus folgt eine wichtige Feststellung: Interessen können – ganz anders als die beiden allgemeinen Bedürfnisse – nicht allgemein sein, sondern sind immer nur gesellschaftlich und historisch spezifisch. Mit der Änderung der „Verfassung“ und der Tiefenstruktur einer Gesellschaft, mit der Änderung der Definition der sozialen Produktionsfunktionen und mit der Änderung der materiellen und institutionell definierten Restriktionen müssen sich somit auch die Interessen der Menschen an bestimmten Ressourcen,
Interesse und Kontrolle
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ihre Präferenzen, unmittelbar ändern – auch wenn die Bedürfnisse und das Streben nach Nutzenmaximierung gleich bleiben. Die Interessen der Menschen sind daher kulturell wie historisch nicht nur unterschiedlich, sondern ändern sich, da sich die „Verfassungen“ der Gesellschaften und die sozialen Produktionsfunktionen wandeln, auch fortwährend und entstehen immer wieder neu. Nach außen sieht es dann oft so aus, als würden Menschen neue „Bedürfnisse“ entwickeln und sich mit dem Wandel der Gesellschaft in ihrer „Natur“ ändern. Das ist aber nicht der Fall: Die grundlegenden Bedürfnisse bleiben immer gleich. Was sich ändert und zu einer Änderung in den „Motiven“ und inneren Bestrebungen der Menschen führt, sind nur die äußeren Bedingungen, unter denen die Bedürfnisse gesellschaftlich erfüllt werden können. Die Intensität der Interessen Das Interesse an bestimmten Ressourcen kann unterschiedlich intensiv sein. An den indirekten Zwischengütern, an den institutionalisierten Mitteln, sind die Menschen beispielsweise nur indirekt und nur insoweit interessiert, wie sie helfen, ihre „eigentlichen“ Ziele zu erreichen: die primären Zwischengüter, die Erfüllung der Bedürfnisse und – letztlich – die Erzeugung des Nutzens. Aber wenn die Mittel der indirekten Zwischengüter sehr wichtig und effizient sind, dann können sie auch ein sehr starkes Interesse erzeugen – insbesondere dann, wenn es sich um Symbole handelt, die ganz unmittelbar zu sozialer Wertschätzung und physischem Wohlbefinden führen – obwohl man die Symbole weder essen noch von ihnen geliebt werden kann. Über das Konzept der sozialen Produktionsfunktionen wird leicht erklärbar, warum sich die Menschen für so unterschiedliche Dinge und in so unterschiedlich intensivem Maße interessieren, engagieren und emotionalisieren. Geliebte Lebenspartner und Haustiere, alle möglichen Lebensgewohnheiten, die vertraute Umgebung, der Beruf oder eine religiöse oder politische Überzeugung u.a. werden im Laufe des Lebens oft zu unersetzlichen primären Zwischengütern mit sehr direktem Zugang zur Erzeugung von Wertschätzung und Wohlbefinden. Revolutionen, Mord, Trauer und Verzweiflung brechen vorzugsweise dann aus, wenn es an solche unersetzlichen primären Zwischengüter und an die Effizienz der entsprechenden sozialen Produktionsfunktion geht. Und das tiefste Glück überkommt die Menschen dann, wenn ihnen unerwarteterweise ein höchst effizientes primäres Zwischengut geschenkt wird, mit dem sie nicht mehr gerechnet hatten. Glück und Trauer, Mord und Totschlag gibt es wegen der indirekten Zwischengüter weit weniger. Sie sind, weil es immer nur „Mittel“ sind, weitaus
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Situationslogik und Handeln
eher substituierbar. Aber auch darüber kann es zu Streit, Neid und gnadenloser Konkurrenz kommen. Und zwar vor allem wegen jener indirekten Zwischengüter, mit denen man sich in fast beliebiger Weise mit primären Zwischengütern versorgen kann. Ein solches, höchst effizientes Mittel zur Produktion sehr vieler – wenngleich nicht: aller – primären Zwischengüter ist das Geld. Wohl nicht aus purem Zufall drehen sich Krieg und Revolution, Mord und Selbstmord, Intrige und Streit meist um die beiden effizientesten Zwischengüter für die Produktion des Lebens ganz allgemein: um die Liebe und um das Geld. Die Hierarchie der Bedürfnisse Von Abraham H. Maslow stammt eine einflußreich gewordene Vorstellung über die Struktur der menschlichen Bedürfnisse. Danach gibt es eine Hierarchie von Bedürfnissen derart, daß zuerst bestimmte Basic Needs erfüllt sein müßten, bevor an andere, an „höhere“ Bedürfnisse überhaupt zu denken sei.1 An erster Stelle sei den Menschen die Erfüllung der sog. Physiological Needs wichtig. Maslow begründet deren Vordringlichkeit mit den biologischen Funktionsbedingungen des menschlichen Organismus. Daran ist sicher auch etwas sehr Wahres. Für den Zahnschmerz hat Wilhelm Busch am Beispiel des verhinderten Dichters Balduin Bählamm die Vordringlichkeit der Physiologie vor allem anderen so beschrieben: „Kaum wird der erste Stich verspürt, Kaum fühlt man das bekannte Bohren, Das Rucken, Zucken und Rumoren – Und aus ist’s mit der Weltgeschichte, Vergessen sind die Kursberichte, Die Steuern und das Einmaleins. Kurz, jede Form gewohnten Seins, Die sonst real erscheint und wichtig, Wird plötzlich wesenlos und nichtig. Ja, selbst die alte Liebe rostet – Man weiß nicht, was die Butter kostet – Denn einzig in der engen Höhle Des Backenzahnes weilt die Seele, ... .“2
1
Abraham H. Maslow, Motivation and Personality, New York, Evanston und London 1954, S. 83ff.
2
Wilhelm Busch, Balduin Bählamm, der verhinderte Dichter, in: Wilhelm Busch, Humoristischer Hausschatz, München 1973, S. 254.
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Bei Maslow ist dieser resignativ-spöttische Tonfall über die physiologischen Grenzen erhabener Gedanken und eitler Wünsche ebenfalls deutlich zu spüren: „The urge to write poetry, the desire to acquire an automobile, the interest in American history, the desire for a new pair of shoes are, in the extreme case, forgotten or become of secondary importance.“ (Maslow 1954, S. 82)
Bei starken physischen Entbehrungen wie Hunger oder Durst lebt der Mensch also tatsächlich nur vom Brot – bzw. von acht Glas Veltins – allein. Erst wenn dieses Problem gelöst ist, kann an andere und an „höhere“ Bedürfnisse gedacht werden. In der Reihenfolge der Bedürfnishierarchie von Maslow sind das: Safety Needs, Belongingness and Love Needs, Esteem Needs und – schließlich – The Need for Self-Actualization (ebd., S. 84-92). Maslow unterscheidet in seiner Hierarchie zwei grundlegende Pole: Am einen Ende die physiologischen Bedürfnisse, am anderen das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung. Dazwischen sind die anderen Bedürfnisse in der beschriebenen Reihenfolge angeordnet. Die Pole der Hierarchie lassen sich – leicht erkennbar – auf das physische Wohlbefinden einerseits und auf die soziale Wertschätzung bzw. das positive Selbstbild andererseits beziehen. Das war jedenfalls das Ergebnis einer Reihe von Untersuchungen von Ronald Inglehart zur Verteilung der Werte des sog. Materialismus und des sog. Postmaterialismus in verschiedenen Ländern und im Wandel der Zeit. Der Wert des Materialismus bezeichnet dabei eine primäre Orientierung an den Bedürfnissen in der Dimension des physischen Wohlbefindens, der Wert des Postmaterialismus in der Dimension der sozialen Wertschätzung, insbesondere aber den Grad der Selbstverwirklichung.3
Bis auf den Extremfall der kompletten Unterbedienung der physiologischen Bedürfnisse geht Maslow dann aber nicht mehr von der Annahme einer Hierarchie der Bedürfnisse aus, sondern von der bereits in Kapitel 3 angenommenen Simultan-Bedingung: Es ist immer das Bedürfnis besonders drängend, das gerade relativ am wenigsten erfüllt ist. Die Ökonomen nennen dies das Gesetz vom Ausgleich der Grenzproduktivitäten. Anders gesagt: Es gibt zwar eine Hierarchie der Bedürfnisse derart, daß zuerst die physiologischen Funktionsbedingungen erfüllt werden müssen. Wenn die physische Versorgung und Absicherung aber nur einigermaßen gesichert ist, dann müssen die Bedürfnisse möglichst simultan bedient werden. Inglehart weicht in seiner Begründung für den Wertewandel vom Materialismus zum Postmaterialismus mit zunehmendem Wohlstand deshalb auch von Maslow insofern ab, als er be-
3
Ronald Inglehart, The Silent Revolution. Changing Values and Political Styles Among Western Publics, Princeton, N.J., 1977, S. 41ff.
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Situationslogik und Handeln
hauptet, daß immer, wenn die physischen Bedürfnisse zuverlässig erfüllt sind, sich die sozialen Bedürfnisse vordringlich bemerkbar machen (Inglehart 1977, S. 22f.). Daraus erklärt Inglehart, daß sich mit steigendem Wohlstand die Werte der Selbstverwirklichung nach vorne gedrängt hätten, und daß die physiologischen Bedürfnisse wegen ihrer weitgehenden Absättigung in den Wohlstandsgesellschaften für die Ausbildung übergreifender Wertorientierungen nur noch eine untergeordnete Rolle spielen würden. Maslow sagt – übrigens im Einklang mit allem, was man bislang über das innere Funktionieren menschlicher Organismen weiß – etwas anderes: Es kommt, wenn nur die schlimmsten Gefährdungen der physischen Existenz gebannt sind, auf die relative Unterversorgung an, welches Bedürfnis sich vordrängt. Und das kann – wenn es etwa die Selbstverwirklichung in hohem Maße schon gibt – dann durchaus auch wieder das physische Wohlbefinden sein. Warum joggen denn alle die selbstverwirklichten Postmaterialisten eigentlich so viel?
Deutlich ist bei derartigen Überlegungen über die Anordnung und die Intensität von Bedürfnissen zu unterscheiden, was an den postulierten „Bedürfnissen“ allgemeine Eigenschaft der menschlichen Natur, und was das Ergebnis spezifischer gesellschaftlicher Konstruktionen von Interessen ist. Das Streben nach einem positiven Selbstbild über die Erlangung sozialer Wertschätzung ist ein allgemeines Bedürfnis. Es muß aber keineswegs mit Selbstverwirklichung verbunden sein. Diese scheint vielmehr ein ganz besonders spezifisches Interesse zu sein, das eng mit einem bestimmten Typus von Gesellschaften verbunden ist. Es ist ein Interesse aus dem Geiste des Individualismus, der Moderne und der protestantischen Ethik. In immer noch den meisten Teilen der Welt ist es jedenfalls unbekannt. Das Konzept der Bedürfnishierarchie von Maslow ist ein weiterer Beleg für die Annahme, daß es nur zwei allgemeine Bedürfnisse gibt. Eine „Hierarchie“ wird daraus erst durch spezifische Interessen, die nur in ganz bestimmten Gesellschaften als plausibel und vordringlich gelten. Die Idee des Interesses Die Idee des Interesses ist selbst ein Produkt der modernen Gesellschaft. Sie hat eine lange philosophische Geschichte. Als Ausdruck geht das Wort auf einen Euphemismus des Mittelalters zurück. Damals galt das Zinsverbot, und man begann die für geliehenes Geld erhobenen, ökonomisch mehr und mehr unvermeidlich werdenden Zinsen etwas beschönigend als „Interesse“ zu bezeichnen.4 Später – im Westeuropa des ausgehenden 16. Jahrhunderts – erhielt der Begriff die Bedeutung von „Anteilnahme, Streben, Vorteil“ (ebd.), jedoch in einem noch sehr weiten Sinn, nicht eingeschränkt auf die heute eher geläu4
Albert O. Hirschman, Leidenschaften und Interessen. Politische Begründungen des Kapitalismus vor seinem Sieg, Frankfurt/M. 1987, S. 41.
Interesse und Kontrolle
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fige Bedeutung ausschließlich ökonomischer Vorteile. Der Begriff „ ... umfaßte vielmehr die Gesamtheit menschlichen Strebens“ und enthielt auch „ ... ein Element der Reflexion und Kalkulation hinsichtlich der Art, wie diesem Streben nachzukommen war.“ (Ebd.) Dabei wurde das Konzept des Interesses bewußt den dunklen und nur schwer bezähmbar scheinenden „Leidenschaften“ der Menschen gegenübergestellt. Das Interesse ist in dieser Sicht ein Mittel zur Kontrolle der Leidenschaften, letztlich aber wieder selbst im „Interesse“ der Bedienung der verborgenen Leidenschaften, der Bedürfnisse der Menschen also. In den früheren Bedeutungen des Begriffs des Interesses war auch die Doppelfunktion der – primären wie der indirekten – Zwischengüter enthalten: Die Produktion nicht nur von Gütern, die dem physischen Wohlbefinden dienen sollen, sondern auch der Sicherung und Mehrung der sozialen Wertschätzung. Albert O. Hirschman zitiert den Schriftsteller François La Rochefoucauld (1613-1680), der in seinem „Rat an den Leser“ in der zweiten Auflage seiner „Betrachtungen oder Moral, Sentenzen und Maximen“ von 1665 schreibt: „Unter dem Wort Interesse verstehe ich nicht ausschließlich das Interesse an Gütern (un intérêt de bien), sondern oft eines, das der Ehre oder dem Ruhm gilt.“5
In diesen frühen Fassungen des Begriffs des Interesses schwingt durchaus schon die Idee der sozialen Produktionsfunktionen mit – die Vorstellung von der sozial sinnhaften, an den geltenden institutionellen Regeln orientierten Produktion der Mittel für die Bedienung der individuellen Leidenschaften. Gerade diese institutionell begründete Systematisierung der Neigungen erzeugt – gegenüber den vielen schwankenden Leidenschaften der Menschen – eine ganz eigene Verläßlichkeit: „Interest Will Not Lie“. Es ist eine in England im 17. Jahrhundert sehr verbreitete Maxime. Sie war die „ ... Aufforderung, allen eigenen Neigungen auf geordnete und vernünftige Art und Weise nachzugehen; ... .“ (Hirschman 1987, S. 49; Hervorhebungen so nicht im Original) Damit aber „ ... wurde die Einführung eines Elements kalkulierender Effizienz wie auch kluger Vorsicht in das menschliche Verhalten empfohlen, gleichgültig von welchen Leidenschaften dieses ursprünglich motiviert sein mochte.“ (Ebd.)
Also: Was auch immer die Menschen in ihren privaten Leidenschaften umtreiben mag – es wäre für sie von Vorteil, sich an den tatsächlichen Umständen zu orientieren, gerade um diese Leidenschaften zu ihrem Recht kommen
5
François La Rochefoucauld, Oeuvres, Band 1, Paris 1923, S. 30; zitiert nach der Übersetzung bei Hirschman 1977, S. 47; Hervorhebungen nicht im Original.
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Situationslogik und Handeln
zu lassen. Das Interesse ist also eine abgeleitete Leidenschaft, die die „eigentlichen“ Leidenschaften kontrollieren und dem Handeln der Menschen eine gewisse Berechenbarkeit verleihen kann. Wir werden gleich sehen, daß es durchaus auch Interessen geben kann, die den Menschen unmittelbar zur Leidenschaft werden. Internalisierung Die Leidenschaften und Bedürfnisse können die Menschen mit ihrem Handeln nicht unmittelbar befriedigen. Stets müssen sie dazu erst „Zwischen“-Güter herstellen oder beschaffen, die sie eigentlich gar nicht interessieren. Oft lassen sich die Menschen bei ihrem Handeln auch von Normen und Werten leiten, deren Befolgung aufwendig ist und den Verzicht auf Reizvolles nach sich zieht. Die Beachtung von Normen und Werten zählt zunächst also auch nur zum indirekten input bei der Produktion von Wohlbefinden, Wertschätzung und Nutzen allgemein. Und es fällt sicher auch schwer, bestimmte Normen und Werte als anthropologisch verallgemeinerbare Bedürfnisse der Menschen zu interpretieren. Gleichwohl werden gelegentlich bestimmte Handlungen, Normen und Werte von den Menschen zu Teilen ihrer inneren Identität gezählt, an denen sie oft genug sogar mit all seiner Leidenschaft festhalten. Was zuvor bloß ein „Zwischen“-Gut war, hat nun – wie es scheint – die Eigenschaft eines veritablen und eigenständigen Bedürfnisses angenommen: Die Zumutung des Sollens der Norm ist zum innersten und leidenschaftlichen Wollen geworden. Die Norm ist in das System der inneren Bedürfnisse übernommen, sie ist internalisiert worden. Im Modell der drei sozialen Produktionsfunktionen kann die Internalisierung von Normen leicht als Spezialfall des Übergangs zwischen Organismus und Gesellschaft bzw. sozialer Umgebung dargestellt werden (vgl. Abbildung 4.1).
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Situationslogik und Handeln
so weit gehen, daß massive Entbehrungen aus dem betreffenden Handeln gerne getragen, und daß auch auf die nur von außen erlebte soziale Wertschätzung verzichtet werden kann, weil das Selbstbild mit der Internalisierung ja eine ganz andere, eine lustvoll-moralische, Grundlage hat. Der gesellschaftliche Effekt der Internalisierung wird leicht einsehbar: Die sozial definierten und deshalb stets speziellen und zunächst indirekten Interessen und die allgemeinen und für den Organismus unmittelbar wichtigen Bedürfnisse werden deckungsgleich: Das äußere gesellschaftlich bestimmte Interesse wird mit der Internalisierung zu einem inneren Bedürfnis des individuellen Akteurs. Die Internalisierung ist die Folge von Lernprozessen, insbesondere in der frühkindlichen Sozialisation (vgl. dazu noch das Kapitel 9). Der Mechanismus der Internalisierung funktioniert auch bei vielen nicht-menschlichen Organismen: Wenn ein an sich ganz neutrales Objekt immer mit einem Erlebnis der Bedürfnisbefriedigung zusammen auftritt, dann übernimmt nach einiger Zeit dieses Objekt die Eigenschaft des Bedürfnisses selbst. So werden die Entstehung und die Änderung aller möglichen kulturellen Vorlieben und Abneigungen, die Entstehung und Änderungen von Präferenzen also, erklärbar: nach Tee und nach Nieselregen in England, nach Kaffee und nach l’amour toujours in Frankreich zum Beispiel. Das Prinzip wird das der sekundären Verstärkung genannt. Menschen kommen über dieses Prinzip auf die gleiche Weise dazu, einer gewissen Moral fraglos um ihrer selbst willen zu folgen, wie der Speichelfluß den Pawlowschen Hund ganz unwiderstehlich anfällt, wenn er das Glöcklein wieder hört, das früher einmal immer ertönte, wenn es ein Kotelett gab, das von Natur aus seinen Bedürfnissen sehr nahe steht.
Der Effekt der Konditionierung ist bei Hunden und Menschen der gleiche: Das Handeln und das Streben nach Zwischengütern ist in diesem Fall unabhängig vom Erfolg. Der Weg ist dann schon das Ziel. Die Nutzenproduktion erfolgt im Handeln unmittelbar. Abraham H. Maslow hat diesen Gedanken in seiner Theorie der Verbindung von Motivation und Handeln so ausgedrückt: „An act is psychologically important if it contributes directly to satisfaction of basic needs. The less directly it so contributes, or the weaker this contribution is, the less important this act must be conceived to be ... .“ (Maslow 1954, S. 93; Hervorhebung nicht im Original)
Wie weit allerdings diese Folgen der Internalisierung gegenüber den aktuellen Versuchungen und Kosten der jeweiligen Moral wirklich tragen, ist eine offene Frage. Es gibt immer eine Grenze des moralischen Handelns. Keine Norm und kein Wert gilt bedingungslos. Die Grenzen der Moral liegen im Aufwand für den Akteur einerseits und in der Produktivität der stets lockenden nichtmoralischen Alternativen andererseits. Eine brauchbare Theorie des Handelns muß angeben können, wann dieser Schwellenwert zwischen moralischem und unmoralischem Handeln überschritten ist und wann nicht. Wir ahnen es jetzt vielleicht schon, was diesen Schwellenwert ausmacht: Alles ist nur eine Frage des Preises und der Höhe der Versuchung.
Interesse und Kontrolle
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Werte Die Interessen sind es, die die Leidenschaften der Menschen in strukturierte Bahnen lenken. Und die Moral ist es, die die unter Umständen sehr zahlreichen und widersprüchlichen Interessen der Menschen bändigt und in eine überschaubare Ordnung bringt. Sie gibt dem Fühlen und Handeln gegenüber den vielen Versuchungen und widerstreitenden Interessen jene Stabilität und Widerständigkeit, aus der erst eine einigermaßen funktionierende Orientierung und ein verläßliches soziales Handeln möglich werden. Die Moral ist eine Art der Antwort auf die wohl grundlegendste Frage der Soziologie: Wie ist eine Integration der verschiedenen Interessen zu einem stabilen System der individuellen Orientierung und der sozialen Ordnung möglich? Das gedankliche und emotionale System der moralischen Ordnung und Organisation der Interessen und des daran gebundenen Handelns wird auch als Wertsystem bezeichnet. Ein Wert ist ein „allgemeiner Standard“ des Wünschenswerten. Er wird – von den Akteuren im Akt der Orientierung in einer Situation – „über“ die Ebene der speziellen Interessen als Bewertungsmaßstab gelegt und macht es so möglich, die verschiedenen Interessen nach ihrer „Relevanz“ zu ordnen. Werte sind somit besondere Formen eines gesellschaftlich verbreiteten mentalen Modells, der kollektiven Repräsentation und damit: der gemeinsamen „Einstellung“ der Menschen auf eine Situation. Sie sind ein Teil seiner sozialen Identität. Sie sind – relativ – konstant in der Zeit und – relativ – unempfindlich gegen Änderungen in ihrer Umgebung. In einer berühmt gewordenen Passage haben der Anthropologe Clyde Kluckhohn „and others“ den Begriff des Wertes so definiert: „A value is a conception, explicit or implicit, distinctive of an individual or characteristic of a group, of the desirable which influences the selection from available modes, means, and ends of action.“6
Der Unterschied zwischen Werten und Interessen wird in einer auf den amerikanischen Philosophen John Dewey (1859-1951) zurückgehenden Wendung gut umschrieben: Interessen definieren „the desired“, Werte dagegen „the desirable“. Es ist der gleiche Unterschied, den Adam Smith wohl vor Augen hat-
6
Clyde Kluckhohn u.a., Values and Value-Orientations in the Theory of Action. An Exploration in Definition and Classification, in: Talcott Parsons und Edward H. Shils (Hrsg.), Toward a General Theory of Action, Cambridge, Mass., 1954, S. 395; Hervorhebung so nicht im Original. Zum Konzept des Wertes insgesamt vgl. die Übersicht bei: Jan W. van Deth, Introduction: The Impact of Values, in: Jan W. van Deth und Elinor Scarbrough (Hrsg.), The Impact of Values, Oxford u.a. 1995, S. 1-18.
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te, als er davon sprach, daß die Menschen nicht nur aktuell geliebt werden, sondern vielmehr als liebenswert gelten wollen. Die Grenze zwischen den Werten und den Bedürfnissen ist auch leicht zu ziehen: Werte beruhen – wie die Interessen – auf gesellschaftlichen Definitionen und sind deshalb nicht allgemein, sondern immer auch nur spezifischer Art. Sie können aber – wie manches Interesse ja auch – zu einer Art von „Bedürfnis“ werden: Wenn die Menschen individuell internalisiert haben, was als gesellschaftlich wünschenswert gilt (vgl. dazu die Bemerkungen zur Internalisierung oben). Die Werte übergreifen also die spezifischen Interessen der Akteure und Gruppen, damit auch die kulturellen Ziele und die institutionalisierten Mittel. Sie bringen sie in eine orientierende, hierarchische Ordnung der Wünschbarkeit nach einem moralischen Prinzip. Diese Eindimensionalität macht die orientierende Kraft der Werte aus. Man kann nur einem Werte jeweils dienen. Manchmal wird ein Interesse bzw. ein kulturelles Ziel zu dem alleine geltenden Wert in einer Gesellschaft – wie laut Robert K. Merton der American Dream für die amerikanische Gesellschaft. Die Organisation der Interessen Gesellschaften bestehen aus zahllosen arbeitsteilig ausdifferenzierten funktionalen Sphären und kulturell verschiedenen Milieus gewisser Lebensstile und darüber aus einer Vielzahl von ganz unterschiedlichen Gruppen der Bevölkerung. Alle diese Bereiche und Gruppen haben jeweils ihre eigenen „Werte“ – unterhalb der übergreifenden Ebene der Werte der Gesellschaft. Es sind die das Handeln dort jeweils organisierenden Oberziele und Codes mit den dazu gehörenden Programmen. Es sind die kulturellen Ziele der Untergruppen, die funktionalen Imperative in den funktionalen Sphären und die speziellen kulturellen Fokalobjekte der Milieus und Lebensstile (vgl. dazu noch ausführlich Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Die kulturellen Ziele, die funktionalen Imperative und die Fokalobjekte der Milieus definieren die spezifischen Interessen der Menschen in den jeweiligen Unterbereichen. Innerhalb der Unterbereiche wirken diese Interessen aber wiederum „wie“ Werte: Sie „rahmen“ dort den Sinn des Handelns in jeweils besonderer, aber für den Bereich dann auch maßgeblicher Weise nach dem, was dort jeweils als wünschenswert, ja als moralisch gefordert, gilt. Das können entsprechend ganz unterschiedliche Orientierungen sein – vorzugsweise die an den primären Zwischengütern, um die es dort jeweils speziell geht: Den Schweinezüchter hat der Schweinespeck, den Ausländerbeauftrag-
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ten die Nöte der Asylbewerber und den Innenminister die Schlagkräftigkeit des Bundesgrenzschutzes zu interessieren. Und alles andere nur an nachrangiger Stelle. Jedes der verschiedenen Interessen erzeugt also nach seinem Code und Programm innerhalb „seines“ Bereiches eine ganz eigene und zwingende Situationslogik, der sich die Akteure in diesem Bereich nicht entziehen können, wenn sie Wertschätzung erlangen und sich physisch wohl fühlen wollen: Schweinezüchter, die etwa für die Verteuerung der Schweinezucht eintreten, fremdenfeindliche Ausländerbeauftragte oder multikulturelle Innenminister bekommen bald zu spüren, was mit den Begriffen des Codes und des Programms und der „Logik der Situation“ gemeint ist. Gleichwohl kann es bei der bloßen Situationslogik der Unterbereiche einer Gesellschaft ja nicht bleiben. Sie „müssen“ zu einer abgestimmten Ordnung, zu einer Integration finden, die die zentrifugalen Kräfte der situationsspezifischen Eigenlogik der Interessen begrenzt. Eine der Antworten der Soziologie auf das Problem der Integration war die Annahme, daß diese Abstimmung über moralische Werte ermöglicht wird, die über alle Teilbereiche hinweg gelten und das Handeln der Akteure in ihrer speziellen Situationslogik eingrenzen und auf das „Ganze“ hin ausrichten. Integriert werden die verschiedenen Unterbereiche und Subsphären mit ihren ganz unterschiedlichen inneren Wertrahmen gemäß dieser Konzeption dann also wieder durch gesellschaftlich übergreifende Werte. Das ist für kleine und übersichtliche Gesellschaften auch gut vorstellbar. Evident ist aber auch, daß in sehr komplexen und daher zwingend innerlich widersprüchlichen Gesellschaften dieser übergreifende Wertrahmen nur noch recht abstrakt sein kann (vgl. dazu auch noch Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Letztlich kann er dort nur noch bestimmte allgemeine Prinzipien des richtigen Handelns – wie etwa den kategorischen Imperativ – enthalten, nicht aber mehr konkrete Anweisungen. Aber damit ist den Menschen bei ihrem Tun nicht viel geholfen. Die Folge ist nicht schwer abzusehen: Wertediffusion, ja Werteverfall und die Integration der Gesellschaften über ganz andere Mechanismen als durch übergreifende Werte und Moral. Die „Verfassung“ des Selbst Clyde Kluckhohn bezog die Werte in seiner Definition ausdrücklich auf Gruppen und auf Individuen. Die Funktion der Werte für ein Individuum kann ganz analog zu der für Gruppen oder ganze Gesellschaften angesehen werden: Mit der Anzahl und mit der Vielfalt der Bereiche, in denen sich ein Akteur
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Situationslogik und Handeln
aufhält, wird er mit den Widersprüchlichkeiten seiner eigenen Interessen konfrontiert. Das war das Problem, das in Kapitel 1 im Zusammenhang mit der Identität der Akteure bei sehr vielen und widersprüchlichen Me-Bereichen erwähnt wurde. Die Lösung wurde dort ebenfalls bereits angedeutet: Die Akteure geben sich – im Interesse ihrer Handlungsfähigkeit – eine besondere „Verfassung“: Die Ich-Identität, beispielsweise in der Form eines besonderen Prinzips oder Oberziels, dem der Akteur jetzt folgen und sein Leben weihen will. Diese „Verfassung“ des Selbst ist aber nichts anderes als ebenfalls ein Wertsystem. Es ist auch ein Standard des Wünschenswerten. Er fungiert als der Rahmen, der die Interessen des Akteurs zu einer handlungsfähigen Einheit – zu einer „Person“ – integriert (vgl. dazu auch noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Werte sind besondere Formen der „Einstellung“ der Akteure auf die Situation. Sie finden ihren „Sitz“ daher immer nur bei den individuellen Akteuren. Wo sonst? Zu „gesellschaftlichen“ Werten werden sie erst durch ihre Verbreitung in einem Kollektiv individueller Akteure. Ob es zu einer solchen Verbreitung und „Überlappung“ von „Individuum und Gesellschaft“ wirklich kommt, ist stets eine offene Frage: Die individuellen (Ich)-Identitäten der Akteure als „Personen“ und die geteilten gesellschaftlichen Werte „müssen“ sich in keiner Weise entsprechen. Manchmal tun sie es, manchmal nicht. Für einfach strukturierte Gesellschaften mit einer hohen Ähnlichkeit der Akteure und einer starken Sichtbarkeit ihres Tuns kann davon ausgegangen werden, für moderne, komplexe, innerlich widersprüchliche Gesellschaften sehr viel weniger – wenn überhaupt. Wertewandel und Werteverfall Die Werte, Interessen und Bedürfnisse bilden gelegentlich eine gleichgewichtige, sich reproduzierende Einheit. Manchmal gerät diese Einheit aus dem Gleichgewicht. Das sind die Zeiten des Wandels der Tiefenstrukturen einer Gesellschaft und der Änderung der sozialen Produktionsfunktionen. Erst ein neues Gleichgewicht der Einheit von Bedürfnissen, Interessen und Werten – auf der Grundlage einer neuen Definition der sozialen Produktionsfunktionen – beendet diesen Prozeß, der stets von starken Spannungen zwischen gesellschaftlichen und individuellen Werten begleitet ist. Das Bild von der stabilen Einheit der Werte, Interessen und Bedürfnisse ist eher auf recht einfach gebaute Gesellschaften zugeschnitten. Für moderne, also komplexe und von ihrem Aufbau her widersprüchliche Gesellschaften ist
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die Einheit der Bedürfnisse, der Interessen und der Werte und deren Gleichgewicht entschieden zuviel verlangt. Warum das so ist, hat einen einfachen Grund: Letztlich sind die Werte ja auch nur Vorkehrungen und Mechanismen der Reproduktion der Menschen. Sie bilden keineswegs eine unhinterfragbare und eigenstabile „letzte Realität“, sondern sind von den Umständen abhängig, unter denen die Menschen die Mittel erzeugen, mit denen sie ihre Bedürfnisse befriedigen. Wenn die Werte mit den sie begründenden Interessen und mit der Nutzenproduktion in Widersprüche geraten – etwa weil sich die gesellschaftliche Definition der sozialen Produktionsfunktionen geändert hat –, dann werden sie den Menschen unplausibel und sogar lästig – und schließlich, sei es durch ein mehr oder weniger bewußt-strategisches inneres Tun, sei es als Ergebnis der Schließung von Kompromissen oder einfach evolutionär durch das Aussterben der Anhänger der nicht mehr „passenden“ Werte, geändert.7 Genau das war der Kern der Idee vom Wertewandel bei Ronald Inglehart: Wenn das Interesse etwa an materiellem Wohlstand gesättigt ist, dann verfällt auch der Wert des Materialismus, der diesem – in Nachkriegszeiten besonders vordringlichen – Interesse seine übergreifende Plausibilität verlieh. Und nun gibt es Platz für einen Wert, der die neu entstandenen bzw. jetzt erst denkbaren Interessen legitimiert: Der Wert des Postmaterialismus ist die plausibel erscheinende Legitimation für das Interesse an Selbstverwirklichung, das ja keineswegs bloß ein lange verschüttetes Bedürfnis ist, das jetzt endlich nach vorne drängen kann, sondern eine allzu oft sogar als bedrückend empfundene Anforderung an viele Menschen in bestimmten Sphären der modernen Gesellschaft. Besonders in den modernen Gesellschaften ändern sich die sozialen Produktionsfunktionen fortwährend, differenzieren sich in unzählige Unterbereiche, die alle miteinander lose gekoppelt sind, und lassen sich eigentlich durch keinen übergreifenden Standard des Wünschbaren mehr ordnen. Wenn die Werte aber zu abstrakt sind oder mit allen Interessen schon strukturell ständig in Widerspruch stehen oder dauerhaft für die Integration der Gruppen und der Akteure nicht benötigt werden, dann verfallen sie bald ganz, und zwar durchaus auch ersatzlos. In den modernen Gesellschaften geschieht die Integration der Interessen daher auch ganz anders als über die steuernde Kraft eines einzigen Standards des Wünschbaren: über die anonyme Macht des Geldes, über die indirekten Verflechtungen der Arbeitsteiligkeit, über Märkte und – nicht zuletzt – über die Neutralisierung der Interessen gerade dadurch, daß sie so 7
Vgl. zu dieser Sicht etwa: Ann Swidler, Culture in Action: Symbols and Strategies, in: American Sociological Review, 51, 1986, S. 275ff.; Andreas Wimmer, Kultur. Zur Reformulierung eines sozialanthropologischen Grundbegriffs, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 48, 1996, S. 407ff.
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Situationslogik und Handeln
widersprüchlich und unübersichtlich sind. Die Komplexität, nicht die Vereinheitlichung der Interessen über gemeinsame Werte ist die Grundlage der Integration moderner Gesellschaften. Das Geld, die Märkte und die Kreuzung der Interessen haben die Werte als Mechanismus der Integration in den modernen Gesellschaften nahezu überflüssig gemacht (vgl. dazu auch noch Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Der Verfall der Moral ist vielleicht beklagenswert, aber nur eine direkte Folge der besonderen Konstruktion der modernen Gesellschaft zur Bedienung der Bedürfnisse der Menschen. Gerade in der „unmoralisch“ besorgten Sicherung der physischen Existenz und in der Mehrung der Chancen auf Selbstentfaltung ist sie ja unerreicht erfolgreich gewesen. Auch das ist ein Grund, warum die Menschen so an ihr hängen, ohne sie über geteilte Werte emphatisch und leidenschaftlich zu unterstützen. Es reicht den meisten Menschen für die Unterstützung der Gesellschaft, in der sie leben, vollkommen, daß ihre speziellen Interessen nicht systematisch verletzt und ihre allgemeinen Bedürfnisse einigermaßen bedient werden.
4.2
Kontrolle
Die Kontrolle über eine Ressource ist der Grad der Verfügbarkeit darüber im Moment des Handelns. Die unter Kontrolle stehenden Ressourcen sind das Budget, das Einkommen bzw. das Kapital des Akteurs, das er für die Nutzenproduktion (vgl. dazu bereits Kapitel 1) einsetzen kann. Die Kontrolle über eine Ressource ist zunächst eine Angelegenheit des Akteurs, eine Frage seiner Möglichkeiten, seiner physischen Kräfte, seiner psycho-sozialen Künste und aller seiner Mittel, die ihm zur Verstärkung der körperlichen und psycho-sozialen Möglichkeiten zur Verfügung stehen, eine schlagkräftige Faust oder Fachwissen zum Beispiel. Es ist aber auch eine Angelegenheit, bei der die Umgebung mitspielen muß: Ob jemand zum Beispiel ein Stück Land als Ressource unter Kontrolle bekommen und dann nutzen kann, hängt von der Einrichtung von sog. Eigentumsrechten ab. Und das ist eine Frage, die in der Verfassung der jeweiligen Gesellschaft geregelt ist. Erworbene und askriptive Eigenschaften Zu den Ressourcen eines Akteurs gehören auch seine Eigenschaften, Talente und Fähigkeiten. Die können erworben („achieved“) oder zugeschrieben („ascribed“) sein. Man spricht auch von erworbenen und von askriptiven Ei-
Interesse und Kontrolle
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genschaften. „Erwerb“ meint, daß erst gewisse Leistungen zur Kontrolle über die Eigenschaft führen: Wissen wird – beispielsweise – durch die Leistung des Lernens erworben. Der Akteur kann dabei also selbst etwas für die Kontrolle der Eigenschaft tun. „Zuschreibung“ heißt: Der Akteur hat es nicht selbst in der Hand, ob er die Kontrolle übernimmt oder nicht, ob er sie abgeben kann oder nicht. Bei geschätzten Eigenschaften, wie bei körperlicher Schönheit oder einem geerbten Adelstitel, ist das nicht weiter tragisch. Das ist anders bei unerwünschten oder diskreditierenden Eigenschaften – wie bei einer Nasenwarze oder einem Großvater, der in der Waffen-SS war. Manchmal werden erworbene Eigenschaften zu askriptiven Merkmalen: Eine Stasi-Medaille ist ohne Zweifel durch gewisse Leistungen verdient worden; wenn sie einmal verliehen ist, dann läßt sich diese Ehrung aber nicht mehr ungeschehen machen. Einige zugeschriebene Merkmale können, wenngleich meist nur unter großen Anstrengungen, geändert werden, wie etwa die Hautfarbe oder sogar das Geschlecht. Andere lassen sich nur verbergen, wie eine zweifelhafte Herkunft, Schwerhörigkeit oder ein nach der Wende unangenehm gewordener Orden. Technik, Wissenschaft und Institutionen Nichts hat die Menschen erfinderischer gemacht als die Suche nach Mitteln zur Vermehrung und zur Manipulation der Kontrolle von Ressourcen. Technische und wissenschaftliche Erfindungen und Entdeckungen sind die eine Seite der Erfindungen zur besseren Kontrolle von Ressourcen gewesen: Faustkeile, Pfeil und Bogen, Gartenbau und Landwirtschaft, die Domestizierung von Tieren, die Erfindung des Rades und der Dampfmaschine, die Soziologie und die Gentechnologie zum Beispiel. Soziale Erfindungen waren die andere Seite: Es ist eine Frage der institutionellen Regelungen, die festlegen, wer wann unter welchen Umständen welche Ressourcen zur Verfügung hat. Die beiden wichtigsten sozialen Erfindungen zur Verbesserung der Kontrollausübung sind die Organisation der Kontrollausübung als Herrschaft und – damit meist verbunden – die Verteilung von Rechten. Herrschaft und Rechte sind vor allem in solchen Fällen wichtig, in denen die Kontrolle über eine Ressource nicht vom isolierten Handeln eines Akteurs allein, sondern von den kollektiven Handlungen einer Mehrzahl von Akteuren abhängig ist.
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Situationslogik und Handeln
Macht und Herrschaft Die sozial bestimmte Kontrolle von Ressourcen hängt ganz allgemein davon ab, inwieweit ein Akteur Macht über andere Akteure ausüben kann, die ihm diese Kontrolle bestreiten. Dabei ist es zunächst ganz gleichgültig, welche Grundlage die Macht jeweils hat. Und wieder stammt die einschlägige Stelle dazu von Max Weber: „Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.“8
Eine besonders verläßliche Form der Sicherung von Kontrolle durch die Ausübung von Macht über andere Akteure ist die Organisation der Kontrollausübung als Herrschaft. Herrschaft ist – vereinfacht gesagt – die Ausübung von institutionalisierter Macht (vgl. dazu noch Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Sie zeigt sich darin, daß andere Akteure die Weisungen des Herrschers ohne große Widerrede befolgen: „Herrschaft soll heißen die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden.“ (Weber 1972, S. 28; Hervorhebungen so nicht im Original)
Herrschaft ist also, anders als die Macht, eine spezifische Beziehung zwischen Akteuren: Für bestimmte Zwecke tun angebbare Personen etwas. Damit sie das auch verläßlich tun, muß die Herrschaft durch Zwangsmittel im Hintergrund unterstützt sein. Die Einrichtung und die effiziente Ausübung von Herrschaft besteht daher insbesondere in der Schaffung und Unterhaltung eines – wie Max Weber es nennt – Erzwingungsstabes zur Durchsetzung von Kontrollansprüchen, wenn es doch Schwierigkeiten mit dem Gehorsam gibt: einen Gerichtsvollzieher, eine dahinter stehende Verwaltung, die Polizei und – letztlich – eine schlagkräftige Armee, kurz: einen Staat. Die Einrichtung eines Staates ist eine sehr voraussetzungsreiche Angelegenheit. Sie macht es notwendig, daß die gesellschaftliche Produktion bereits einen gewissen Surplus erbringt. Mächtigere herrschaftliche Organisationen zur Kontrollausübung – unterstützt durch eine eigentlich ja ganz unproduktive Armee – gibt es daher in kleinen, segmentär differenzierten Stammesgesellschaften nicht. Die stratifikatorisch differenzierten Staatsgesellschaften des Feudalismus waren die ersten Formen einer größer angelegten Organisation der Kontrolle von Ressourcen. Moderne Gesellschaften verlassen sich auf die – mehr oder weniger – rationale Bürokratie und Verwaltung (vgl. dazu auch noch Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
8
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5. Aufl., Tübingen 1972 (zuerst: 1922), S. 28; Hervorhebungen so nicht im Original.
Interesse und Kontrolle
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Zwang und Angst vor dem langen Arm des Herrschers reichen für eine hinreichend verläßliche Ausübung von Herrschaft nicht aus. Die Herrschaft muß bei den betroffenen Personen auch als legitim gelten. Die Legitimität der Herrschaft kann auf unterschiedlichen Grundlagen beruhen – sei es etwa, daß der Herrscher eine außergewöhnlich überzeugende, eine charismatische Figur ist, sei es, daß aus Gewohnheit und Tradition gehorcht wird, oder sei es, daß die Befolgung der Anweisungen zu den formal geregelten Dienstpflichten – eines Beamten etwa – gehört. Max Weber unterscheidet entsprechend die charismatische, die traditionale und die rationale Herrschaft. Die „Dialektik“ der Herrschaft Jede Herrschaft legt mit ihrer übergreifenden und oft staatlich abgesicherten Kraft mehr oder weniger unverrückbar fest, welche Eigenschaften und Ressourcen etwas wert sind, welche weniger oder gar nichts, und wer darüber rechtmäßige Kontrolle beanspruchen kann, und wer nicht. Sie ist die Grundlage der Geltung einer bestimmten Verfassung und definiert und sichert so das jeweilige System der sozialen Produktionsfunktionen. Die Herrschaft ist daher die mit Abstand interessanteste Ressource, weil sie die gesellschaftliche Definition der sozialen Produktionsfunktionen erlaubt, und weil sie es damit möglich macht, daß jeweils das eigene Kapital der herrschenden Gruppe besonders effizient in der Nutzenstiftung wird. Das erzeugt zwingend systematische Unterschiede zwischen den Gruppen in einer Gesellschaft, insbesondere zwischen denen, die dem Zentrum der Herrschaft nahestehen, und denen, die das nicht tun. Die Einrichtung einer jeden bestimmten Herrschaft erzeugt somit notwendigerweise einen Konflikt. Es ist der Konflikt darüber, welche primären Zwischengüter überhaupt etwas wert und welche indirekten Zwischengüter legitim sind. Es ist ein Konflikt über die Vorrangigkeit der Interessen bestimmter Gruppen in einer Gesellschaft und der Nachrangigkeit der Interessen der anderen Gruppen. Es ist ein Interessenkonflikt (vgl. dazu noch Abschnitt 4.3). Der Interessenkonflikt über die Herrschaft muß nicht unbedingt zum offenen Kampf und zum Untergang der jeweils herrschenden Verhältnisse führen, wie das noch Karl Marx gemeint hatte. Er zieht aber, weil er sich aus der „Verfassung“ ableitet, die grundlegenden strukturellen Grenzen in einer Gesellschaft.
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Situationslogik und Handeln
Rechte Bei der Einrichtung einer Herrschaft geht es insbesondere um die Zuteilung von Rechten. Rechte sind – allgemein – von anderen Akteuren zugestandene oder formal institutionalisierte Ansprüche auf die Kontrolle bestimmter Ressourcen. Zu solchen Rechten gehören beispielsweise die oben bereits genannten Eigentumsrechte, das gegen Lohnzahlung überlassene Recht auf eine zeitweise Überlassung der Verfügung über Arbeitskraft und Zeit, das gegen Liebesdienste überlassene Recht auf einen eigenen Willen oder die sog. Grundoder Menschenrechte, die qua Verfassung jedermann – bis auf wenige Ausnahmen – zustehen und die insoweit auch „unveräußerlich“ sind. Ein Recht besteht dann, wenn ein Akteur die Kontrolle über eine Ressource ausübt, ohne daß jemand anderes legitimerweise diese Kontrolle bestreitet.9 Rechte sind meist auf bestimmte Handlungen, Orte und Zeitpunkte begrenzt: Ein Chef kann von einer Sekretärin eben nicht alles verlangen – aber alles, was vereinbart wurde, wenn die entsprechenden Bedingungen erfüllt sind. Es gibt erworbene und zugeschriebene, übertragbare und unveräußerliche Rechte. Rechte gibt es für ganz unterschiedliche Arten der Kontrolle: Für den Besitz und Verbrauch einer Ressource, für deren Nutzung oder für ihre Weitergabe. Es gibt auch Rechte an Rechten: Jemand kann etwa ein Patent, das ja nichts anderes als ein Recht ist, an einen Konzern zur eigenen Nutzung verkaufen und ihm so das Recht an dem Recht des Patentes übertragen. Und es gibt – nicht zuletzt – Rechte über das Handeln anderer Personen. Rechte, welcher Art auch immer, können verändert, zugeteilt, entzogen und aberkannt und getauscht werden. Und alles das freiwillig oder auch unfreiwillig.
Rechte haben zwei verschiedene Grundlagen: erstens einen Konsens der jeweiligen Akteure, daß das Recht „zu Recht“ besteht. An dem Zustandekommen des Konsenses ist der Akteur dann selbst beteiligt – wie bei der Wahl eines Tagungsleiters für eine Konferenz. Und zweitens eine Verfassung, die formell bestimmt, wer wann welches Recht gegen wen hat. Diese Verfassung existiert meist schon, ohne daß der betreffende Akteur an ihrer Konstitution beteiligt gewesen wäre – wie beim Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland für alle, die erst danach wahlberechtigt waren. Rechte, die über Konsens bestehen, heißen auch zugestandene Rechte, Rechte, die in einer Verfassung verankert sind, institutionalisierte Rechte. Zugestandene Rechte sind also alleine davon abhängig, ob die anderen Akteure mit der Kontrolle der Ressource durch den Akteur einverstanden sind. Sie setzen demnach einen lückenlosen Konsens voraus. In gewissem Sinn ist das Wertesystem, aus dem sich das Prestige bestimmter Akteure oder Gruppen und die damit zugestandenen Privilegien ableiten, nichts an9
Vgl. dazu James S. Coleman, Foundations of Social Theory, Cambridge, Mass., und London 1990, S. 67ff.
Interesse und Kontrolle
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deres als ein solcher übergreifender Konsens über das Zugestehen von Rechten. Institutionalisierte Rechte sind dagegen Rechte, die über Herrschaft bzw. über ein Dekret eingeführt oder – wenn einmal über Konsens oder Evolution entstanden – durch Herrschaft abgesichert sind.
Über Herrschaft abgesicherte Rechte sind von dem Konsens der Akteure unabhängiger als solche, die das nicht sind und „nur“ auf Konsens beruhen. Solange die Institutionalisierung gilt, können sie also auch gegen die Zustimmung der Akteure in Anspruch genommen werden. Dabei ist aber ein – wenngleich nicht vollständiger – Konsens auf einer anderen Ebene erforderlich: der Konsens über die Legitimität der betreffenden Herrschaft, von der oben schon die Rede war. Mit dem Schwund des Konsenses über die Legitimität würde das Funktionieren der bürokratischen und der militärischen Absicherungen der rechtlichen Kontrolle von Ressourcen immer wichtiger – eventuell bis zu dem Punkt, an dem die unzufriedenen Akteure sich auch dieser „letzten“ Kontrollmittel bemächtigen wollen, um das als unerträglich angesehene gesellschaftliche System der Verteilung der Kontrolle von Ressourcen zu beseitigen und gegen ein neues zu ersetzen.
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Viele interessante Ressourcen sind unteilbar und nicht beliebig vermehrbar, wie ein ungestörter Urlaub auf einer bis dahin einsamen Insel, die jetzt von anderen Touristen überschwemmt wird. Aber ganz alleine macht es auch keinen Spaß. Viele ebenso interessante Ressourcen lassen sich nur in gemeinsamer Anstrengung erzeugen. Aber dieser Anstrengung möchte man möglichst aus dem Wege gehen. Und wenn es die Ressourcen gibt, dann möchte jeder möglichst viel davon abbekommen, auch wenn man sie den anderen dafür entwinden muß. Diese „Dialektik“ durchzieht alle Situationen des Handelns.
Interdependenzen und antagonistische Kooperation Die angesprochene Dialektik hat ihre Grundlage in den wechselseitigen Abhängigkeiten in denen sich die Akteure befinden. Solche „Interdependenzen“ ergeben sich aus typischen Verteilungen von Kontrolle und Interesse. Interdependenzen entstehen daraus, daß die Akteure nicht vollständig alle die Ressourcen kontrollieren, für die sie sich interessieren. Das ist eigentlich der überwiegende Normalfall und der Motor für das gesamte „interaktive“ Geschehen in einer Gesellschaft. Zum Beispiel: Der Bäcker möchte auch gerne einmal ein Steak essen und der Metzger ein frisches Brot. Und schon sind sie
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Situationslogik und Handeln
gegenseitig voneinander abhängig – „interdependent“. Denn der Bäcker ist mit seinem Interesse an den Steaks, die der Metzger kontrolliert, von dem Metzger abhängig. Und der Metzger ist mit seinem Interesse an dem Brot, das der Bäcker kontrolliert, vom Bäcker wiederum abhängig. Abhängigkeit ist die logische „andere“ Seite der Macht: Der Bäcker hat Macht über den Metzger, weil er mit dem Brot eine Ressource kontrolliert, die den Metzger interessiert, und der Metzger hat Macht über den Bäcker, weil er mit den Steaks eine Ressource kontrolliert, die den Bäcker interessiert. Aus der Art der gegenseitigen Abhängigkeiten entstehen dann typische Arten von sozialen Interessen, etwa, Brot gegen Steaks zu tauschen, und darüber dann auch wiederum typische Arten von sozialen Konflikten, etwa das antagonistische Interesse, daß der Bäcker nicht selbst Steaks herstelle und der Metzger keine Brötchen backe.
Aus der Art der Interdependenzen ergeben sich also typische Arten der strukturellen Verbundenheit zwischen den Akteuren und damit zusammenhängenden sozialen Situationen. Sie haben zwei Pole: Konflikt auf der einen, Kooperation auf der anderen Seite. Konflikte entstehen, wenn die Akteure um Ressourcen konkurrieren, die sie alle interessieren, die aber nur einer von ihnen kontrollieren kann. Konflikte erzeugen auf diese Weise Spaltungen zwischen typischen Gruppen von Akteuren. Sie sind am stärksten, wenn die Ressourcen, die die Akteure interessieren, nur soweit kontrolliert werden können, wie andere die Kontrolle darüber aufgeben. Ressourcen mit dieser speziellen Art der Kontrolle über sie werden auch als Positionsgüter, die entsprechenden Konflikte als Konstantsummenkonflikte bezeichnet, weil das, was der eine gewinnen kann, immer nur auf Kosten des anderen geht und die „Summe“ dessen, was verteilt werden kann, stets gleich bleibt. Die Herrschaft in einem Land ist ein solches Positionsgut. Und der Konflikt um die Herrschaft ist daher – tendenziell wenigstens – ein solcher Konstantsummenkonflikt, oft sogar ein sog. Nullsummenkonflikt insofern, als die Summe in der Aufteilung nur null ergibt. Die Grundlage der Kooperation ist demgegenüber, daß die Akteure an einer Ressource interessiert sind, die sie nur durch eine gemeinsame Anstrengung erzeugen können. Dieses Interesse führt, wenn es keine sonstigen Hindernisse und Risiken gibt, die Akteure auch ohne weitere Verständigung und Regelung zusammen. Die Gemeinsamkeit des Interesses bewirkt nicht nur, daß die Akteure ihre Ressourcen für ein gemeinsames Projekt bündeln, sondern erzeugt auch eine Integration ihrer Orientierungen, ihres Handelns und schließlich des gesamten sozialen Systems, in das sie eingebettet sind. Die daraus entstehende soziale Situation könnte man die Konvergenz der Interessen nennen: Alle wollen nur das Eine – und zwar gemeinsam. Konflikt und Kooperation, Spaltung und Integration kommen nur selten in ihrer reinen Form vor. Meist sind die Beziehungen der Menschen durch eine Mixtur der beiden Komponenten gekennzeichnet: Spaltungen werden häufig von Bestrebungen zur Integration überlagert. Und an sich übergreifend integrierte Gemeinschaften zerfallen gelegentlich in sich befehdende Gruppen. Es ist das
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Problem der antagonistischen Kooperation, das ganz offensichtlich in der Natur des Menschen angelegt und ein Grundzug jeder Art von Vergesellschaftung ist. In welcher Weise es sich zeigt, hat nichts mit dem „Charakter“ der Menschen zu tun: Es ist nur die Art der angestrebten Ressourcen und Güter, die Verfassung der Gesellschaft und die Verteilung des Interesses und der Kontrolle, die bestimmen, ob die Beziehung mehr antagonistisch oder mehr kooperativ ist. Die einzelnen Menschen selbst können nicht viel dafür. Sie folgen stets nur der Logik der Situation, in der sie sich befinden.
Kontrollinteresse und konstitutionelles Interesse Das zunächst eher „private“ Interesse der Akteure an der Kontrolle von Ressourcen, die für ihre Nutzenproduktion wichtig sind, erzeugen zwei Arten von sozialen Interessen: Das Kontrollinteresse und das konstitutionelle Interesse. Das Kontrollinteresse ist das Interesse am Erhalt der bisher kontrollierten interessanten Ressourcen, an der Abgabe der uninteressanten oder gar abwertenden Ressourcen und an der Kontrolle von anderen, bisher nicht kontrollierten interessanten Ressourcen. Es ist das Interesse der Arbeitnehmer etwa an einem Inflationsausgleich beim Einkommen oder das der ehemaligen Stasi-Mitarbeiter an einer Auflösung der Gauck-Behörde. Zwei, für das soziale Geschehen äußerst wichtige, Spezialfälle des Kontrollinteresses können unterschieden werden: das Kooperationsinteresse und das Transaktionsinteresse. Das Kooperationsinteresse ist das Interesse daran, mit anderen Akteuren gemeinsame gewinnbringende Projekte durchzuführen, wozu insbesondere die gemeinsame Produktion von Gütern gehört. Und das Transaktionsinteresse ist das Interesse an einer möglichst günstigen Verteilung der vorhandenen Güter, speziell dann an einem gewinnbringenden Tausch von bereits produzierten oder kontrollierten Gütern.
Das Kontrollinteresse bleibt im Rahmen der jeweils gegebenen institutionellen Ordnung einer Gesellschaft oder Gruppe. Das konstitutionelle Interesse ist demgegenüber das Interesse an der Geltung oder Durchsetzung einer bestimmten Verfassung der Gesellschaft bzw. bestimmter sozialer Produktionsfunktionen. Es ist das Interesse am Erhalt oder an einem Ausbau einer möglichst hohen Bewertung der bisher kontrollierten Ressourcen, an einer Umwertung der bisher kontrollierten, aber eher uninteressanten oder gar schadenden Ressourcen, sowie auch das Interesse daran, daß die Verfassung sich ändere, damit die jeweils kontrollierten Ressourcen eine bessere Bewertung erfahren. Es ist das Interesse etwa an der Höherbewertung der „Rolle der Frau“, das an der Beendigung einer rassischen, ethnischen oder religiösen Diskriminierung oder das an der Erhöhung der Bedeutung der Einwerbung von Drittmitteln für Ansehen
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Situationslogik und Handeln
und Auskommen der Hochschullehrer. Daraus ergibt sich eine wichtige Folge: Wenn es im Zuge der politischen Transformation ganzer Gesellschaften – wie nach dem Zweiten Weltkrieg, bei der Entkolonialisierung der Dritten Welt in den 60er Jahren oder beim Zerfall des Sozialismus Anfang der 90er Jahre – um den Aufbau der Institutionalisierung einer gänzlich neuen Ordnung geht, die den neuen, militärisch und bürokratisch abgesicherten Rahmen für bestimmte Rechte bilden soll, dann ist das konstitutionelle Interesse besonders ausgeprägt. Zur Durchsetzung dieses Interesses werden – insbesondere in den Zeiten des gesellschaftlichen Wandels, in denen die Karten für die nächsten 1000 Jahre neu gemischt werden – dann letztlich alle Mittel mobilisiert, weil ja der gesamte Wert des Kapitals, das die Akteure gerade unter Kontrolle haben, davon abhängt, wie die konstitutionelle Definition der gesellschaftlichen Situation schließlich ausgeht. Konflikte über die Festlegung des institutionellen Rahmens, der über die Verteilung von Rechten bestimmt, Konflikte also über jene Mittel, die diese Festlegung möglich machen, sind deshalb meist ganz besonders gnadenlos. Technische, wissenschaftliche und soziale Erfindungen zur Verbesserung der Kontrolle von Ressourcen erfolgten wohl nicht aus Zufall meist im Zusammenhang von Beutezügen, Eroberungen, Revolutionen und anderen „konstitutionellen“ Versuchen der Herrschaftssicherung. Der Krieg ist zwar sicher nicht der Vater aller Dinge, wohl aber der der Technik, der Wissenschaft und des Staates gewesen. Und seine Mutter ist der Wunsch nach der Kontrolle der Ressourcen, die es erlauben, den Wert von Ressourcen im eigenen Interesse zu definieren und die Kontrolle darüber institutionell zu sichern. Zwei Arten von Konflikten Bei den Konflikten können zwei Arten unterschieden werden: Interessen- und Kontrollkonflikte. Sie unterscheiden sich in ihrer Heftigkeit und in der Wahrscheinlichkeit einer gütlichen Einigung. Beide beruhen auf der Struktur der sozialen Produktionsfunktionen. Interessenkonflikte Bei den Interessenkonflikten geht es um die kulturellen Ziele in einer Gesellschaft: Welche primären Zwischengüter taugen für die Nutzenproduktion und welche nicht? Interessenkonflikte entstehen, wenn über die „Verfassung“ ei-
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ner Gesellschaft entschieden wird, bestimmte Personen oder Gruppen aber Ressourcen kontrollieren, die nur unter einer bestimmten Verfassung Wert haben. Es ist wieder die Frage der „richtigen“ Passung, diesmal der von einer Person oder Gruppe schon kontrollierten Ressourcen mit der Definition ihrer Effizienz (vgl. Abschnitt 3.3.2): Was sollte – beispielsweise – Giovane Elber wohl mit seinem Talent am Ball in einem soziologischen Institut in Bielefeld anfangen? Und was würde aus Niklas Luhmann im Fritz-Walter-Stadion geworden sein, wenn er etwa von Andy Möller nicht mit einem systemtheoretischen Filigranargument, sondern lediglich mit einem tödlichen Paß in den freien Raum bedient worden wäre? Jeweils in ihrer „richtigen“ Umgebung wären beide vom Beifall umrauscht, so aber: Unverständnis und Gelächter. Interessenkonflikte sind also Auseinandersetzungen über die Geltung bestimmter Verfassungen, die den Wert bereits kontrollierter Ressourcen bestimmen. Es geht dabei nicht um etwas mehr oder etwas weniger an Kontrolle, sondern um die Effizienz der Ressource insgesamt. Besonders verschärft sind Interessenkonflikte dann, wenn es bei der gesellschaftlichen Definition dieses Wertes um den Wechsel von einer positiven in eine negative Bewertung geht (und vice versa). In Abbildung 4.2 sind die sozialen Produktionsfunktionen für zwei verschiedene Gesellschaften skizziert: Rechts für die Gesellschaft 1, in der aktuell die Verfassung 1 gilt, links für die Gesellschaft 2 mit der aktuellen Verfassung 2. Jeweils sind es unterschiedliche primäre Zwischengüter, die Wertschätzung und Wohlbefinden und darüber den Nutzen U erzeugen: das primäre Zwischengut Z1 in der Gesellschaft 1, das primäre Zwischengut Z2 in der Gesellschaft 2. Der Einfachheit halber sehen wir gleich auf die Produktion des Nutzens damit. Der obere Bereich des Diagramms beschreibt über die Funktionen u = f(z1)1 bzw. u = f(z2)2 die Umstände der Nutzenproduktion unter den „geltenden“ und darauf „passenden“ gesellschaftlichen Verhältnissen. Wer mehr von dem betreffenden primären Zwischengut kontrolliert, dem geht es in dieser Gesellschaft besser: Für den Einsatz der Menge z1 des primären Zwischengutes Z1 bekommt ein Akteur in der Gesellschaft 1 einen Nutzen in Höhe von u11, und entsprechend den Nutzenertrag von u22 mit dem Einsatz der Menge z2 von Z2 in der Gesellschaft 2. Alles hängt aber davon ab, daß nicht die jeweils andere Verfassung zur Geltung kommt. Das ist mit dem unteren Bereich des Diagramms und über die Funktionen u = f(z1)2 bzw. u = f(z2)1 skizziert: Das gleiche primäre Zwischengut, das bisher Wertschätzung, Wohlbefinden und Nutzen erzeugte, führt dann zu Diskreditierung, Mißbehagen und disutility: Die Menge z1 des primären Zwischengutes Z1 erzeugt unter den Bedingungen der Verfassung 2 eine disu-
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Ähnliches gilt für die Mitglieder der Gesellschaft 2, wenn der „Anschluß“ an die Verfassung 1 vor der Tür steht. Hier geht es um den Verlust -(u22+u21). Leicht läßt sich ausmalen, was mit den Interessen der Akteure in den beiden Gesellschaften ist: Die Mitglieder der Gesellschaft 1 sind dringend am Erhalt der Geltung der Verfassung 1 interessiert, und die Mitglieder der Gesellschaft 2 an der der Verfassung 2. Sie tun, wenn sie können, jeweils alles, um die Revolution der Gesellschaft zu verhindern. Die Höhe der drohenden Verluste bestimmt also das Ausmaß des konstitutionellen Interesses an der jeweils geltenden Verfassung und die Intensität des Konfliktes zwischen den Akteuren der beiden Gesellschaften, sofern sie sich das Recht auf die Kontrolle der Verfassung streitig machen. Das Beispiel ist so gewählt, daß die Interessen an der Durchsetzung einer bestimmten Verfassung nicht gleich sind: Für den Akteur der Gesellschaft 1 steht mit seinem „Einsatz“ von z1 mehr auf dem Spiel als für den aus der Gesellschaft 2 mit seinem Einsatz in Höhe von z2. Beispielsweise: Der eine ist General des Staatssicherheitsdienstes der Gesellschaft 1 und Träger des Großen Vaterländischen Verdienstordens, der andere nur ein informeller Mitarbeiter in seinem Geheimdienst mit einer mickrigen Verdienstmedaille aus Blech. Leicht ist auch hier vorherzusagen, wer sich wohl heftiger für den Erhalt „seiner“ Verfassung einsetzen wird. Spezifisches und generalisiertes Kapital Es geht bei dem konstitutionellen Interesse um die „Passung“ von Verfassungen zu den von einer Gruppe bereits kontrollierten Ressourcen. Wegen der Höhe der mit einem Mismatch drohenden Verluste sind das immer besonders gnadenlose Auseinandersetzungen. Ein Ausweg aus der Unerbittlichkeit des Alles oder Nichts der Interessenkonflikte liegt in der Kontrolle von Ressourcen, die ihren Wert unabhängig von den Verfassungen behalten. Das hätte zur Folge, daß für die Akteure der drohende Verlust bei Änderung der Verfassung verringert wird. Im Diagramm ist es über die Funktion u = g(zg) und die Variable Zg eingetragen. Die Besonderheit des generalisierten Kapitals wird daraus deutlich: Wer es kontrolliert, erzeugt einen gewissen Nutzen – unter allen Bedingungen. Diese allgemeinen und sozusagen „verfassungsfrei“ wirksamen Ressourcen wollen wir als generalisiertes Kapital bezeichnen – im Unterschied zu dem spezifischen Kapital an solchen Ressourcen, deren Wert, wie im Beispiel, ausschließlich von der Geltung einer ganz bestimmten Verfassung abhängt, wie die Merkmale und Ressourcen, die wir bisher mit Z1 und Z2 betrachtet haben.
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Zum generalisierten Kapital gehören also alle Eigenschaften und Ressourcen, die für viele verschiedene Zwecke nützlich und anwendbar sind und auf das Interesse anderer Akteure stoßen, wo immer man sie findet: Intelligenz, Organisationstalent, allgemeine Bildung und Lernfähigkeit, auch: eine gewisse Fügsamkeit unter beliebige Regimes beispielsweise. Vor allem aber das Geld, insbesondere in einer allseits begehrten Währung. Schließlich gehören zum generalisierten Kapital auch bestimmte Rechte, die jemand eben nicht verliert, wenn sich die Verfassung ändert: „unveräußerliche“ Grundrechte beispielsweise, oder auch Pensionsansprüche, die dem ehemaligen Stasi-Mitarbeiter oder BND-Agenten auch dann zustünden, wenn die Geschichte leider die für sie jeweils falsche „Wende“ genommen hat.
Allgemein kann daher angenommen werden, daß mit dem Anteil des spezifischen Kapitals am gesamten Kapital der Akteure in einer bestimmten Gesellschaft – alles andere gleichbleibend – die Interessenkonflikte und das damit verbundene konstitutionelle Interesse am Erhalt der bestehenden Verhältnisse zunehmen: Wer sonst nichts hat als das verfassungsabhängige spezifische Kapital, etwa einer Hautfarbe, eines Geschlechts oder einer Karriere im jeweiligen Regime, der tut alles dafür, daß sich die Verhältnisse nicht ändern. Wer dagegen weiß, daß er unter allen Umständen gebraucht wird, sieht der Sache sehr viel gelassener zu. Das alleine erklärt, warum die ethnischen und die religiösen Konflikte, und auch die um die Paradigmen in der Soziologie, stets besonders heftig und unter Mobilisierung aller Emotionen geführt werden: Es geht dabei um den Wert eines bis dahin sehr ertragreichen, mit dem Wechsel der dominierenden Verfassung aber nutzlosen oder gar schädlichen, spezifischen Kapitals; und es ist, weil man außer der ethnischen Identität, der religiösen Überzeugung und dem einmal gelernten Paradigma nichts hat und nichts kann, wenig an generalisiertem Kapital da, das den Interessenkonflikt zwischen den Gruppen und Paradigmen und das konstitutionelle Interesse am Erhalt der jeweiligen Verfassung entschärfen würde. Kontrollkonflikte Kontrollkonflikte sind demgegenüber Auseinandersetzungen um die Kontrolle der Mittel zur Erreichung der unumstritten als wertvoll festliegenden Ressourcen. Nun geht es nicht mehr um eine Abwertung, sondern „nur“ noch um „mehr oder weniger“ an Nutzenproduktion. Der schlimmste Fall ist der Verlust der Kontrolle; in den „negativen“ Bereich kann die Nutzenproduktion nicht geraten. Deshalb sind die Kontrollkonflikte schon strukturell nicht so heftig und erzeugen grundsätzlich nicht so tiefe Spaltungen wie die Interessenkonflikte. Die Struktur der Kontrollkonflikte läßt sich ebenfalls an einem einfachen Schema verdeutlichen (Abbildung 4.3).
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Situationslogik und Handeln
beiden Akteure kontrollieren, jeweils gleich. Es ist ein Konstantsummenspiel. Nur die Lage auf der waagerechten Achse verschiebt sich. Für die Situation 2 sind wir davon ausgegangen, daß jeder der beiden Akteure gleich viel vom Budget der Ressource X kontrolliert: x2A ist gleich x2B. Natürlich würde der Akteur A nicht so ohne weiteres die Kontrolle über X an B abgeben wollen. Das liegt nicht daran, daß er an X unmittelbar interessiert wäre, sondern nur an der damit möglichen Bedürfnisbefriedigung und Nutzenproduktion durch die Erzeugung des primären Zwischengutes Z. Aus diesem Potential an möglichen Gewinnen und Verlusten für die Nutzenproduktion ergibt sich die Intensität des Kontrollkonfliktes: Bei der Ausgangsverteilung konnte A die Menge z1A erzeugen, während B nichts davon erhielt. Nach der Umverteilung kann A nur noch die Menge z2A produzieren, während B jetzt die Menge z2B erzeugt. Beide erhalten nun, weil die Produktionsfunktionen für beide ja gleich sind, den gleichen Ertrag an Z: z2A=z2B. Aber es gibt doch einen Unterschied: Der Verlust von A für die Produktion von Z – und darüber für seine Nutzenproduktion – entspricht der Differenz z1A-z2A. Dieser Verlust ist für ihn kleiner als der Gewinn von B in Höhe von z2B-z1B=z2B – obwohl nun beide zu gleichen Teilen das Zwischengut X kontrollieren. Der Grund ist leicht zu sehen: Es ist eine Folge des abnehmenden Grenzertrages der sozialen Produktionsfunktion. Das aber heißt: Derjenige, der von einer produktiven Ressource wenig kontrolliert, hat – bei dem beschriebenen Verlauf der sozialen Produktionsfunktion – ein höheres Interesse an der Umverteilung der Kontrolle als derjenige, der bereits viel davon kontrolliert an einer Beibehaltung des Status Quo der Kontrolle hat. Bei einem anderen Kurvenverlauf würden die Akteure die Folgen einer Umverteilung der Kontrolle natürlich anders empfinden. Die Heftigkeit der Kontrollkonflikte Kontrollkonflikte können, gerade wenn die Ausgangsverteilung sehr ungleich ist, durchaus auch sehr heftig sein, einfach deshalb, weil es sich bei der Kontrolle von nicht vermehrbaren Gütern auch um ein Konstantsummen- bzw. ein Nullsummenproblem handelt: Was der eine an Kontrolle gewinnt, muß der andere abgeben. Aber der Konflikt um die Kontrolle ist dennoch meist viel milder als bei den Interessenkonflikten. Der wichtigste Grund wurde oben schon genannt: Die Produktion des Nutzens bleibt immer im positiven Bereich. Es wird auch mit einem kompletten Kontrollverlust – anders als bei der Umwertung der Verfassung – keine Schande erzeugt. Schon geringere Umverteilungen der Kontrolle lassen auch den jeweils Anderen leben. Und – last but
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not least – zeigt sich hier eine segensreiche Folge des ansonsten ja eher unangenehmen Gesetzes vom abnehmenden Grenzertrag: Wer nicht viel hat, gewinnt schon durch kleinere Umverteilungen relativ viel, und wer schon viel besitzt, verliert relativ wenig an Nutzenerzeugung. So läßt es sich leicht großzügig sein: Noblesse oblige – wenn man es denn in genügendem Maße hat, das Kapital. Der Konflikt um die Kontrolle der Definitionsmacht Die in Abschnitt 3.3 des vorigen Kapitels angesprochenen cleavages einer Gesellschaft, die sich über die kulturellen Ziele einig ist und in der sich die Gruppen nur nach der Kontrolle der institutionalisierten Mittel unterscheiden, beruhen auf einem solchen recht milden Kontrollkonflikt: Wenn eine Gruppe die institutionalisierten Mittel für die Erreichung bestimmter kultureller Ziele nicht kontrolliert, die Ziele aber selbst unterstützt, dann versucht sie sich „anzupassen“, etwa durch die Erfindung ganz neuer Mittel, möglicherweise auch solcher, die unter der gegebenen Definition der sozialen Produktionsfunktionen nicht legitim sind. Sie versucht aber eben nicht, die Verfassung der Gesellschaft, die Definition der primären Zwischengüter, die kulturellen Ziele also, zu ändern: Es gibt dort zwar einen Kontroll-, aber keinen Interessenkonflikt. Leicht schlagen Kontrollkonflikte jedoch in Interessenkonflikte um – und darüber dann in tiefste Spaltungen. Das ist der Fall, wenn es um die Kontrolle jener Mittel geht, die es gestatten, die Grundlagen der Gesellschaft zu ändern und die sozialen Produktionsfunktionen zu definieren. Denn immer gibt es Gruppen, die von einer bestehenden Verfassung mehr haben als andere. Das ist das oben beschriebene konstitutionelle Interesse und der Konflikt um die Kontrolle der Definitionsmacht für die Verfassung einer Gesellschaft, der Kampf um die Herrschaft in einer Gesellschaft also. Nun geht es nicht mehr einfach nur um Konkurrenz oder um „Anpassung“, sondern um etwas anderes: Sollte man nicht, statt einem mühseligen Verteilungskampf um die Kontrolle der Ressourcen nachzugehen, lieber versuchen, die gesamte Gesellschaft umzuwälzen und durch eine revolutionäre Umdefinition der primären Zwischengüter sowie der Legitimität der Mittel eine wesentlich effizientere Art der Produktion für sich selbst einzurichten und dadurch den Kampf um die Verteilung der Ressourcen überflüssig machen? Aber was sagen die anderen Gruppen dazu, die mit der Regelung der kulturellen Ziele und der institutionalisierten Mittel, mit ihren Rechten und sozialen Chancen, mit dem geltenden System des Prestiges ganz zufrieden sind und an einer Än-
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derung der gesellschaftlichen Verhältnisse überhaupt kein Interesse haben? Wahrscheinlich haben sie ein ganz anderes Interesse, das sie zur Not auch mit aller Macht verteidigen werden: das am Erhalt „ihrer“ sozialen Produktionsfunktion, von der der Wert ihrer gesamten Lebensgrundlage abhängt. Wieder kommt es auf die objektiven, weil strukturell untermauerten, Perspektiven der Gruppen an: Wenn alle nur spezifisches Kapital kontrollieren, steigt die Wahrscheinlichkeit für solche Konflikte um die Kontrolle der Definitionsmacht. Und das ist ein ganz besonderer Konflikt. Es ist der Konflikt um die Mittel, die, wenigstens kurzfristig, über alle Konventionen siegen können: der Kampf um die Panzer, um die Fernsehsender und um die Lehrer, die – alle auf ihre Weise – für die Durchsetzung einer bestimmten Verfassung sorgen können. Integration Wenn es um die Grundlagen der Nutzenproduktion geht, verstehen die Menschen keinen Spaß. Und daran tun sie auch gut: Wer sich in einer letztlich doch unfreundlichen Umgebung nicht gegen die Verschlechterung der Reproduktionsbedingungen wehrte, blieb bei der Evolution des Lebens immer schon auf der Strecke. Wenn hingegen nichts weiter vorliegt, dann befinden sich die Menschen eher in einer milden kooperativen Grundstimmung. Es ist nicht gegen ihre Natur, wenn die Menschen freundlich zueinander sind. Die Kooperation muß aber eine stärkere Grundlage haben als die bloße Sympathie füreinander, gerade dann, wenn es latente Konflikte gibt. Wieder hängt es von den objektiven Grundlagen der Ressourcenproduktion ab, ob eine Kooperation denkbar oder geradezu unausweichlich ist. Dazu gehört beispielsweise die gemeinsame Abwehr eines Feindes, der die Lebensgrundlage der Gruppen bedroht, oder die gemeinsame Inangriffnahme einer Investition, die die Kapitalgrundlage für die Produktion der Zwischengüter langfristig sichert oder gar erweitert. In beiden Fällen kann das Gut nur produziert werden, wenn die Akteure zusammenarbeiten. In beiden Fällen vergrößert sich die Kapitalgrundlage der Akteure. Dieser Zuwachs könnte dann wiederum beiden zugute kommen. Diese Aussicht – und das Wissen um die objektiven Erträge aus der Kooperation – motiviert die Akteure zur Zusammenarbeit. Die Auswirkung der Kooperation kann man sich ebenfalls an Hand der Abbildung 4.3 verdeutlichen. Ohne die Kooperation hätten beide Akteure keine Kontrolle über das betreffende Gut X. Ihre Position wäre dann – für beide – der Nullpunkt auf der X-Achse. Die Nutzenproduktion läge bei null. Nun werde das Gut X in Kooperation erzeugt. Natürlich kostet die gemeinsame Produktion etwas. Aber es bleibe immer ein Kooperationsgewinn. Dieser Kooperationsgewinn werde – so wollen wir annehmen – auf beide Akteure gleichmäßig aufgeteilt (vgl.
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die Mengen x2A und x2B). Das erlaubt beiden Akteuren die Produktion von Nutzen über ein primäres Zwischengut Z – je nach jetzt einsetzbarer Menge von X und je nach dem Verlauf der sozialen Produktionsfunktion (im Diagramm: z2A und z2B). Jetzt wird auch der Kern des gemeinsamen Interesses erkennbar: Je mehr sie gemeinsam von X erzeugen, desto mehr Nutzen haben sie – potentiell! – auch individuell davon.
Gleich wird aber auch wieder ein heimlicher Konflikt sichtbar. Nein, genauer: Es sind zwei latente Konflikte. Schon bei der Zusammenarbeit können sich – erstens – die Akteure voreinander drücken – wie beim Tauziehen, beim Rudern im Achter oder beim gemeinsamen Tragen schwerer Lasten. Und wenn es das Gut gibt und wenn es ans Verteilen der Früchte der Zusammenarbeit geht, dann möchte – zweitens – jeder natürlich den größten Brocken abbekommen. Das muß zwar alles nicht so sein. Es gibt genügend Beispiele für aufopfernde und selbstlose Zusammenarbeit und für Fairneß und Vertrauen im Teilen der Früchte gemeinsamer Anstrengung. Aber mindestens könnte immer einer dabei sein, der falsch spielt. Und wenn sich dieses Mißtrauen einmal eingeschlichen hat, dann ist es rasch vorbei mit der Kooperation – auch wenn alle im Grunde immer noch ein hohes Interesse daran haben. Kurz: Die Kooperation zwischen den Menschen durchzieht oft ein schwer auflösbares soziales Dilemma: Alle sind an der Kooperation und an dem Gut interessiert, aber niemand möchte sich bei der Herstellung und bei der Verteilung übers Ohr hauen lassen. Und deshalb unterbleiben viele Kooperationen, an denen die Menschen eigentlich das größte Interesse haben (vgl. dazu noch Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Manchmal aber kann das Interesse an einem Gut der Kooperation so extrem stark sein, daß auch heftigere latente Konflikte und ein an sich bestehendes Mißtrauen zwischen Gruppen für eine Zeit lang gänzlich zurückgestellt und überbrückt werden. Konflikte und Mißtrauen brechen dann aber prompt wieder auf, wenn das gemeinsame Ziel erreicht ist. Die Kooperation und die anschließende Spaltung in einen kalten Krieg zwischen den – durch viele Gräben getrennten – Alliierten des Zweiten Weltkrieges, die gemeinsam der sie in ihrem Lebensnerv bedrohenden Naziherrschaft ein Ende machten, dann aber sich bald in einem fast tödlichen Konflikt wiederfanden, sind ein Beispiel dafür.
Die Kooperation der Menschen und die Integration der Gesellschaft hat – wie man sieht – mit den subjektiven Motiven und „Werten“ des Altruismus, der Solidarität oder der kommunikativen Verständigung wenig zu tun: Es liegt letztlich doch immer am individuellen Interesse der Akteure an den jeweiligen Ressourcen und an den technischen Bedingungen sowie den sozialen Umständen ihrer Herstellung und Verteilung, ob sich die Menschen verbunden oder getrennt fühlen, ob sie eine Gemeinschaft bilden oder in cleavages zerfallen. Es ist genau das, was die soziologische Kritik am Psychologismus immer sagen wollte: Die Art ihres Umgangs miteinander und die Gefühle zueinander sind die Folge, nicht die Ursache der gesellschaftlichen Strukturen.
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Situationslogik und Handeln
Noch einmal: Die Professoren Am Beispiel der Professoren und der beiden Teilgruppen der Locals und der Cosmopolitans läßt sich das Verhältnis von Konflikt und Kooperation, von Spaltung und Integration gut zeigen. Professoren bilden zuerst einmal ohne Zweifel eine Interessen-Gemeinschaft. Insoweit nämlich, als erstens die allgemeine Bewertung von Forschung und Lehre, die Effizienz der für sie bedeutsamen primären Zwischengüter also, davon abhängt, ob das System der akademischen Bildung und der Universitäten weiterhin Forschung und Lehre institutionell als „relevant“ definiert und inwieweit die Wissenschaft Ansehen in der Öffentlichkeit besitzt. Mit den jeweils anderen Gruppen, die die Effizienz der typisch „akademischen“ primären Zwischengüter mindern möchten – wie etwa die Fachhochschullehrer oder die grünen, roten und schwarzen Studienabbrecher in den Parlamenten, Feuilletons und Fernsehredaktionen –, stehen die (Universitäts-)Professoren als Gesamtheit daher in einem Interessen-Konflikt, der eine deutliche Linie zwischen ihnen und diesen anderen Gruppen zieht. Und genau dieser Konflikt nach außen bindet sie auch nach innen zusammen. Eine Gemeinschaft bilden die Professoren zweitens insoweit, als sie allesamt die Kontrolle der Mittel behalten oder erweitern möchten, die sie brauchen, um Lehre und Forschung betreiben zu können. Im Wesentlichen handelt es sich hierbei um die finanziellen Zuweisungen der jeweiligen Ministerien. In der Konkurrenz um diese Mittel stehen die Professoren also mit externen anderen Gruppen in einem Kontrollkonflikt. Auch dies schweißt nach innen zusammen. Und dann hackt die eine Krähe der anderen in der Tat kein Auge aus. In dem gemeinsamen Interesse an der Erhaltung der Effizienz des Wissenschaftssystems und der Kontrolle über die Mittel für dieses Wissenschaftssystem bilden die Professoren somit ein Aggregat von Akteuren mit „objektiv“ begründeten gemeinsamen Interessen, die sie dann auch bei Bedrohung ihrer gemeinsamen Teile der sozialen Produktionsfunktionen vehement verteidigen – notfalls mit Hilfe von eigens dazu gegründeten Verbänden und Interessenvertretungen. Aber es gibt nicht nur Eintracht zwischen Krähen und – man höre! – auch nicht immer zwischen Professoren. Im Gegenteil: Insoweit die Professoren in Teilgruppen mit jeweils typisch unterschiedlichen Elementen der sozialen Produktionsfunktionen zerfallen – wie bei den Forschern und bei den Lehrern – durchschneidet diese Gemeinsamkeit in den Interessen nach außen ein durchaus ähnlich heftiger Konflikt nach innen. Nun hacken sie sich gegenseitig oft nicht nur ein Auge, sondern alle beide aus. Es gibt wohl kaum ein mißgünstigeres Milieu als jenen – hoffentlich: nur kleinen – Teil des akademi-
Interesse und Kontrolle
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schen Lebens, der sein eigentliches Ziel, die Suche nach Wahrheit, lange schon aufgegeben hat und nur noch ritualistisch daran denkt, die innere Position im Statuskampf zu festigen. Wieder geht es dabei erstens um die Effizienz der jeweiligen speziellen Produktionsfunktionen und zweitens um die Kontrolle der Mittel. Die Forscher streiten in einem Interessenkonflikt mit den Lehrern darüber, welche Aufgabe die wichtigere sei – und sie stehen daher externen Umwertungen der Gewichte von Forschung und Lehre, etwa durch die Ministerien, mit unterschiedlicher Sympathie gegenüber. Und sie stehen in einem Kontrollkonflikt über den ihnen insgesamt zugewiesenen Kuchen an Mitteln darüber, wie diese Mittel verwendet werden sollen. Es gehört nicht viel Phantasie dazu, vorherzusagen, welche von den beiden Gruppen dabei die Einführung von Lehrevaluationen oder die Belohnung von Drittmitteleinwerbungen, die Zuweisung von mehr Reisemitteln oder eine von mehr Tutorenstellen favorisieren würde. Auf eine ganz ähnliche Weise lassen sich die tiefen Gräben zwischen den verschiedenen Schulen der Soziologie und die Hartnäckigkeit und Leidenschaft erklären, mit denen die Anhänger dieser Schulen daran festhalten und regelmäßig aufheulen, wenn jemand in ihr Revier eindringt, auf die Einseitigkeiten des Ansatzes verweist und an die Perspektive eines einheitlichen Verständnisses für die Gesellschaftswissenschaften erinnert. Auch dabei geht es um einen Interessenkonflikt, einen sehr heftigen sogar: Was soll ein bestimmtes, sehr spezifisches Kapital an Wissen und Erfahrung überhaupt noch wert sein? Zum Beispiel: Die Kenntnis der Schriften von Norbert Elias oder Alfred Schütz? Das virtuose Beherrschen der logistischen Regression oder des narrativen Interviews? Auch: Die Eigenschaft, eine Frau oder sonstwie „betroffen“ zu sein? Jeweils: Und sonst nichts! Die Schärfe des Konfliktes und die Tiefe der Gräben kommen auch daher, daß diese Revier-Soziologen keine gemeinsamen objektiven Interessen haben, die sie zu einer einheitlicheren Perspektive motivieren würde: Was sie tun, ist für sie nicht weiter folgenreich; denn die Pensionen sind ja sicher. Daher kommt es auch, daß die Angehörigen der verschiedenen Richtungen von den jeweils anderen Paradigmen nicht viel wissen: Es ist für sie nicht weiter wichtig, ob sie beachten, was außerhalb geschieht. Zu Recht müssen die Anhänger der einzelnen Schulen aber befürchten, daß beim Obsiegen der jeweils anderen Richtung oder einer integrierenden Theorie der Gesellschaftswissenschaften ihr gesamtes, sehr spezifisches Kapital an einsetzbaren Ressourcen komplett entwertet würde. Und über generalisiertes Kapital, das den Blick über die Gartenzäune ihres kleinen Schrebergartens erlauben würde, verfügen sie ja nicht. Und alles das wissen sie letztlich sehr genau. Die in diesen Revierkämpfen hervortretenden Verrücktheiten, Emotionen und Persönlichkeitsstrukturen sind also nicht die Ursache, sondern die Folge eines strukturell angelegten Konfliktes und von strukturell erzeugten Spaltungen. Und auch der Austragungsstil des Konfliktes ist keine Frage der guten Kinderstube, des moralischen Bewußtseins, der wissenschaftlichen Sozialisation, der Belesenheit, der Intelligenz oder des Charakters der beteiligten Akteure oder einer freischwebenden Fachkultur, sondern eine solche der objektiven Strukturierung der Situation durch die sozialen Produktionsfunktionen in dem betreffenden akademischen Fach und der Verteilung der spezifischen und generalisierten Kapitalien.
Karl Marx hat gesellschaftliche Gruppen mit einer typischen „Dieselbigkeit der Revenuen und der Revenuequellen“ als soziale Klassen bezeichnet (vgl. dazu noch Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen
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Situationslogik und Handeln
Grundlagen“). So gesehen sind die Professoren und ihre verschiedenen Untergruppierungen durchaus soziale Klassen. Ihr Bewußtsein, Denken, Fühlen und Handeln folgt der Logik dieser Dieselbigkeit. Die sozialen Strukturen erschaffen sich – über die Verteilung von Interesse und Kontrolle – schließlich sogar ihre Persönlichkeiten und Charaktermasken – den weltmännischen Kosmopoliten und den lokalen Intriganten, ebenso wie den paranoiden Verteidiger eines vom Versinken bedrohten Paradigmas und den unerschrockenen Kämpfer für die Einheit der Gesellschaftswissenschaften.
Kapitel 5
Die „Definition“ der Situation
Die Verfassung der Gesellschaft und die sozialen Produktionsfunktionen definieren die Situation in objektiver Weise. Immer sind es aber nur die subjektiven Erwartungen und Bewertungen, die das Handeln der Menschen in einer Situation bestimmen. Das Thomas-Theorem, und mit ihm die soziologische Handlungstheorie, macht hier eine weitergehende Annahme: Die subjektiven Erwartungen und Bewertungen sind die Folge einer besonderen subjektiven „Definition“ der Situation. Dabei handelt es sich um eine zuspitzende Rahmung, die der Akteur der Situation gibt und von der her er dann alle Aspekte sieht. Die subjektive Definition der Situation ist eine eigene selektive Leistung des Akteurs zur Reduktion der ansonsten übergroßen Komplexität einer jeden Situation. William I. Thomas und Florian Znaniecki hatten im „Polish Peasant“ deutlich darauf hingewiesen: Aus den vielen denkbaren Möglichkeiten wird schließlich ein Aspekt, ein Gesichtspunkt, ein Oberziel, ein Rahmen, ein mentales Modell mit einem Code und einem Programm ausgewählt, das alles weitere Geschehen bestimmt. Drei Selektionen Die objektiven Bestandteile der Situation sind – so haben wir das Kapitel 1 zusammengefaßt – die äußeren und die inneren Bedingungen einer Situation. Bei den äußeren Bedingungen wurden Opportunitäten, institutionelle Regeln und der mit signifikanten Symbolen verbundene Bezugsrahmen unterschieden. Die inneren Bedingungen waren das Wissen und die Werte der Akteure, ihre inneren Einstellungen und ihre Identität. Aus der „Interaktion“ dieser Bestandteile ergibt sich die „Definition“ der Situation. Bei genauerem Hinsehen führen drei verschiedene Prozesse dahin: Erstens die Vorgeschichte der äußeren und der inneren Bedingungen. Zweitens die Beeinflussung der Erwartungen und der Werte durch das Aufeinandertreffen der äußeren auf die inneren Bedingungen über den Vorgang der Kognition.
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Situationslogik und Handeln
Und drittens die eigentliche subjektive „Definition“ der Situation durch den Akteur als die Selektion einer Orientierung – eben des mentalen Modells der Situation, des Codes und des Programms, von dem das Handeln und weitere Geschehen ihren Ausgang nehmen. Wir wollen die drei Schritte zunächst gesondert betrachten und schließlich zu einem allgemeinen Schema des Prozesses der subjektiven „Definition“ der Situation zusammenfassen. Dieses dient als Ausgangspunkt für die Skizze eines darüber hinausgehenden Vorgangs, der gelegentlich als „soziale Konstitution“ bezeichnet wird: die von mehreren Akteuren in Interaktion erzeugte kollektive Definition der Situation. Die erste Selektion: Die Vorgeschichte der Situation Die Vorgeschichte der Situation ist die Geschichte der Genese der äußeren Bedingungen, der Opportunitäten, der institutionellen Regeln und des Bezugsrahmens bzw. der signifikanten Symbole und zum anderen die Geschichte des Erwerbs des Wissens und der Werte, der inneren Einstellungen bzw. der Identität des Akteurs. Die Genese der sozialen Strukturen Die Vorgeschichte der äußeren Bedingungen bezieht sich auf alle Prozesse der evolutionären Genese der sozialen Strukturen, in die das aktuelle Geschehen eingebettet ist, und an deren Konstitution der Akteur zuvor eventuell selbst beteiligt war. Sie wird über die Sequenzen des Handelns und der Handlungsfolgen nach Maßgabe des Prozeßmodells der soziologischen Erklärung erklärbar (vgl. dazu die Einleitung). Die aktuell gegebene Situation ist die historisch für den Akteur bis dahin letzte, also eine für ihn neue Situation in der Folge der vorausgegangenen Situationen. Das in der aktuellen Situation erfolgende Handeln ist Teil der Vorgeschichte der nun folgenden neuen Situationen – ohne eigentlichen Anfang und, meist, ohne definierbares Ende. Die Genese der Identität Die Vorgeschichte der inneren Bedingungen der Situation bezieht sich auf die Genese des Wissens und der Werte, der Einstellungen, der Identität insgesamt. Es ist Frage nach der Lerngeschichte, nach der Biographie des Akteurs. Sie
Die „Definition“ der Situation
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besteht aus der Geschichte der Speicherung von Wissen aus den Erfahrungen in vergangenen Situationen. Und es ist die Geschichte der Internalisierung von erworbenen Vorlieben aus den positiven und den negativen Verstärkungen, die der Akteur als Reaktion auf sein Handeln in den Situationen seiner Biographie erlebt hat (vgl. dazu insbesondere das Kapitel 9). Die Faktizität der Vorgeschichte Die Vorgeschichte der äußeren und der inneren Bedingungen ist für den betrachteten Akteur der passivste Teil des aktuellen Geschehens. Was passiert ist, ist passiert. Mit den Ergebnissen der Vorgeschichte ist der Akteur mehr oder weniger als „Tatsache“ konfrontiert. Sie dringt als objektive Faktizität in sein Leben ein – auch wenn er vorher selbst daran massiv und aktiv beteiligt war. Die Menschen definieren ihre Situation zwar ohne Zweifel selbst, aber sie tun das, um das Diktum von Karl Marx wieder aufzugreifen, nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen. Die beiden Vorgeschichten sind aber mindestens partiell miteinander verbunden. Natürlich ist die Biographie der Akteure über die Genese der sozialen Strukturen beeinflußt: Die Menschen finden bei ihrer Geburt die sozialen Strukturen vor. Die Identitäten sind daher durch die Genese der äußeren Bedingungen maßgeblich konstituiert. Aber es gilt auch umgekehrt: Die Identitäten wirken bei der Genese der sozialen Strukturen mit. Den meisten Teil der Vorgeschichte eines bestimmten einzelnen Akteurs haben aber andere Akteure zu verantworten. Es gibt so etwas wie die Gnade – oder den Fluch, je nachdem – der späten Geburt. Die zweite Selektion: Kognition Die Ergebnisse der Vorgeschichte sind in der aktuellen Situation die unverrückbaren „Daten“, in deren Grenzen alles folgende Geschehen stattfindet. Die Daten der äußeren Bedingungen wirken daher in durchaus objektiver Weise auf den Akteur. Wir wollen die objektive Aufdringlichkeit dieser Wirkung als das Erleben der situationellen Umstände bezeichnen. Es geschieht physisch und psychisch über die Einwirkungen sinnlicher Eindrücke und über die dadurch den Organismus beeinflussenden und anregenden Reizungen. Das Erleben geschieht über alle möglichen Reizungen des Organismus: Sehen, Hören, Fühlen, Riechen, Schmecken. Das ist zunächst ein sehr passiver Vorgang: Die Reize drängen sich auf und können nur unter größter Mühe – etwa der
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Situationslogik und Handeln
Askese oder der Verdrängung – in ihrer Aufdringlichkeit eingedämmt werden. Aber selbst ein solches, eher passiv „erlebtes“ Erleben geschieht grundsätzlich selektiv. Es ist immer auch schon von den Vorerfahrungen und Einstellungen gefiltert, die der Akteur bereits erworben hat. Das Erleben ist als Kontakt des Organismus zur Umgebung noch sehr unmittelbar und nachdrücklich. Ein indirekterer, aber auch flexiblerer Mechanismus der Einwirkung der äußeren Bedingungen auf den Akteur ist die Wahrnehmung der mit der Situation gegebenen Daten. Wahrnehmungen enthalten zwar immer auch passive Elemente: Sie beruhen auf dem Erleben eingehender Sinnesreizungen. Sie beinhalten aber auch stark aktive und selektive Vorgänge der inneren Verarbeitung von Informationen durch den Organismus, vor allem durch das Gehirn. Wahrnehmungen sind immer von Prozessen des gedanklichen Schließens von den erlebten gegebenen Daten auf nicht unmittelbar vorhandene Eigenschaften und Zusammenhänge in der Situation begleitet. Das erlaubt die gedankliche Vorwegnahme weiterer Abläufe und macht – auf der Grundlage von Erfahrungen – eigene Tests der weiteren Folgen überflüssig: Wer nicht unmittelbar erleben und fühlen will, kann hören und sehen, wahrnehmen, seine Schlüsse ziehen und gedanklich vorwegnehmen, was jetzt geschehen könnte. Es ist ein Prozeß der inneren Konstruktion der situationalen Wirklichkeit – durch das Gehirn der individuellen Akteure. Über das Erleben, die selektive Wahrnehmung und die schließende Konstruktion der subjektiven Wirklichkeit treten die Akteure mit ihrer sozialen wie nicht-sozialen Umgebung in Kontakt. Es ist ein – kompliziertes und auch im wörtlichen Sinne „konstruktives“ – Zusammenspiel von Außenwelt, Sinnesorganen, Nervensystem, Gehirn und Gedächtnis. Den gesamten Vorgang wollen wir zusammenfassend als Kognition bezeichnen. Die dritte Selektion: Orientierung Die Kognition der Situation läßt offen, welches „Modell“ der Situation gelten soll: Der gehörnte Ehemann in dem Beispiel bei Thomas und Znaniecki hatte aufgrund seiner Wahrnehmungen sehr unterschiedliche Möglichkeiten für die Rahmung der Situation. Diese Rahmung der Situation ist der dritte selektive Schritt: die Orientierung. Die Orientierung ist die vereinfachende und strukturierende Selektion eines mentalen Modells über die Situation aus alternativ möglichen mentalen Modellen. Es ist eine gedankliche und emotionale Aktivität, ein, wie Max Weber sagt, „inneres Tun“, ein covertes Handeln in der Sprache von Alfred Schütz. Sie vollzieht sich als eine, nicht bewußte oder irgendwie „abwägende“, innere
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„Entscheidung“, bei der wiederum Erwartungen und Bewertungen eine Rolle spielen. Als Folge werden bestimmte situationsspezifische Einstellungen beim Akteur aktualisiert: der Code für den Typ, das Oberziel und den Sinn der Situation; und das Programm für das Handeln nach diesem Code. Bei der Orientierung spielt insbesondere die Entzifferung und Interpretation von – mehr oder weniger signifikanten – Symbolen eine entscheidende Rolle. Symbole zeigen die Wahrscheinlichkeit für die „Geltung“ einer Situation und für die „Relevanz“ eines bestimmten mentalen Modells an. Es ist die Aktualisierung des speziellen Bezugsrahmens, unter dem die Situation nun nur noch gesehen wird. Der Vorgang der Orientierung und die Selektion einer bestimmten subjektiven Definition der Situation wird auch als Framing bezeichnet (vgl. dazu noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Das Gesamtmodell Im Modell der soziologischen Erklärung besteht die „Logik der Situation“ aus einer einfachen Beziehung zwischen Situation und Akteur. Der Vorgang der subjektiven Definition der Situation läßt sich dann in einer dreifachen Differenzierung dieses einfachen Schrittes zusammenfassen (vgl. Abbildung 5.1). Die Vorgeschichte ist durch die Pfeile 1a (Genese der äußeren Bedingungen als Entstehungsgeschichte der sozialen Strukturen) und 1b (Genese der inneren Bedingungen als Ergebnis der Biographie des Akteurs) gekennzeichnet, der Vorgang der Kognition durch den Pfeil 2 und der Prozeß der Orientierung hin zur subjektiven Definition der Situation durch den Pfeil 3. Der Akteur ist als ein von den äußeren Bedingungen abgegrenztes „personales System“ mit einer in die Situation mitgebrachten und gegenüber den aktuellen äußeren Bedingungen auch eigenständigen Identität gekennzeichnet. Die Erklärung des sichtbaren, des overten Handelns als „Entscheidung“ des Akteurs bezieht sich damit auf einen – mindestens – zweistufigen Prozeß der Selektion: Erst erfolgt die coverte Selektion der Definition der Situation als „innerliches Tun“ der Orientierung (Schritt 3 im Diagramm). Hier werden der Rahmen, das mentale Modell, der Code der Situation und das Programm des darin vorgesehenen Handelns gewählt. Und dann erst geschieht die Selektion des eigentlichen overten Handelns und die Ausführung der dazu nötigen technischen Maßnahmen, gewisse Muskelbewegungen oder das Anspannen der Stimmbänder beispielsweise (Schritt 4 im Diagramm). Und das erst hat „reale“ Folgen und zieht darüber die externen Effekte nach sich, aus der eine neue „objektive“ Situation entsteht.
Die „Definition“ der Situation
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Psychologie und die Soziologie. Sie durchzieht – wie Sie noch sehen werden – auch dieses Buch und alle seine fünf Einzelbände. Warten Sie ab, wie die Geschichte ausgeht!
An dieser Stelle müssen wir es mit der Feststellung gut sein lassen, daß es tatsächlich so etwas gibt wie eine – selektive – subjektive Definition der Situation vor dem Hintergrund der äußeren und der inneren Bedingungen. Die kollektive Definition der Situation Das Modell der Definition der Situation in Abbildung 5.1 bezieht sich auf einen, letztlich nur theoretisch denkbaren, Sonderfall: Es wird ein isolierter Akteur betrachtet, der sich alleine sein ganz eigenes Bild einer bestimmten Situation macht. Niemand gibt ihm eine Rückmeldung darüber, ob seine Sicht der Situation geteilt wird. Wenn es aber eine Grundüberzeugung in der Soziologie gibt, die von allen Soziologen geteilt wird, dann ist es die: Die Definition der Situation ist stets und notwendigerweise ein sozialer Prozeß, bei dem sich die Psychen der Menschen ineinander verschränken und dialogisch und interaktiv zu einer gemeinsamen Sicht der Dinge kommen – eventuell auch darüber, daß es keine gemeinsame Sicht gibt. Erst über bestimmte Formen der KoOrientierung, der symbolischen Interaktion oder der Kommunikation könnten Akteure überhaupt zu einem stabilen Bild ihrer sozialen Umgebung – und ihres Selbst – kommen. Kurz: Die Definition der Situation sei stets eine Angelegenheit der interaktiven Konstitution und einer gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit. Der Reiter über den Bodensee nahm eine solche einsame, wie manche Soziologen sagen: egologische oder monadische, subjektive Definition der Situation vor. Diese lautete wohl etwa so: „Die weite weiße Fläche vor mir ist der See noch lange nicht, und ich reite ganz ohne zu Zögern auf das Licht in der Nacht zu.“ Allein auf dem Pferd war etwas anderes ja auch kaum möglich. Am anderen Ufer angekommen wird er jedoch unvermittelt in einen Prozeß der interaktiv erweiterten, kollektiven Definition der Situation einbezogen: Die rasch versammelten Anwohner weisen ihn in einer turbulent ablaufenden Sequenz von kommunikativen Akten auf eine drastisch andere Definition der Situation hin, der er sich angesichts der überwältigenden Evidenz sprachlicher wie anderer signifikanter Symbole schließlich beugen muß: das mentale Modell eines tollkühnen Rittes über dünnes Eis. Die sozial vermittelte und eben dadurch nachhaltig auferlegte Erkenntnis des mentalen Modells der – wenngleich überstandenen – Gefahr hat für ihn sogar schlimme physiologische Folgen: Er fällt vor Schreck über seinen Irrtum in der egologischen subjektiven Definition der Situation tot vom Pferd.
Interaktionen sind aneinander anschließende Prozesse sozialer Handlungen. Sie lassen sich als Sequenzen über das Modell der soziologischen Prozeßerklärung rekonstruieren, das ja, wie es in der Einleitung skizziert worden ist, nur eine Erweiterung des Modells der soziologischen Erklärung ist. Das Kon-
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Situationslogik und Handeln
zept der interaktiv erzeugten kollektiven Definition der Situation ist somit nur eine einfache Erweiterung des Modells der individuellen Orientierung aus Abbildung 5.1. Dazu müssen lediglich zwei weitere Annahmen gemacht werden. Ausgangspunkt ist der einfache Vorgang der egologischen subjektiven Definition der Situation und ein daran anschließendes Handeln. Die erste Annahme besagt, daß dieses Handeln immer externe Effekte auch symbolischer Art hat: Es ist – unter anderem und unvermeidlich – ein Anzeichen für einen anderen Akteur in der Situation, der daraufhin seinerseits eine subjektive Definition der Situation vornimmt. Dessen Tun dient dann dem ersten Akteur wiederum als Anzeichen, sei es als eine Bestätigung oder als eine Widerlegung seiner ursprünglichen Definition der Situation. Daran orientiert, handelt der erste Akteur wieder. Damit erhält – zweitens – der Vorgang der Definition der Situation eine reflexive Rückkopplung von individueller Situationsdefinition, dadurch ausgelöstem Handeln und erneuter Situationsdefinition. Es ist kein monologischer, sondern ein dialogischer Vorgang.
In Abbildung 5.2 ist die kollektive Definition der Situation als ein derartig dialogischer Prozeß aneinander gekoppelter und reflexiv aufeinander bezogener Orientierungen skizziert. Aus Gründen der Übersichtlichkeit wird dabei der komplizierte Vorgang der individuellen Orientierung aus Abbildung 5.1 wieder vereinfacht als ein Schritt dargestellt. Der Prozeß beginne in einer Situation 1, für die der Akteur A eine subjektive Definition der Situation vornimmt. Sein Handeln ist – auch unbeabsichtigt – ein symbolisches Zeichen in der Situation 2, auf die der Akteur B reagiert. Der selektiert nun seinerseits eine subjektive Definition der Situation – unter „Interpretation“ der ihm erkennbaren Hinweise auf die inneren Vorgänge bei A und mit Vermutungen darüber, was das jetzt wohl für eine Art von Situation sei, und welches mentale Modell gelte. Das Handeln von B verändert die Situation erneut. Es ist jetzt für A ein Anzeichen für die Deutung der Situation durch B ... und so weiter, und so weiter. Im Diagramm haben wir angenommen, daß sich die Akteure schon bald auf ein mentales Modell einigen (Modell 2). Im Prinzip kann die Sequenz aber unendlich lange ohne eine solche Einigung und mit immer neuen Definitionen weiterlaufen. Das kommt auch oft genug vor – bei Leuten etwa, die sich nicht kennen oder nicht genau genug darauf achten, was der jeweils andere jetzt denkt. Kommt es aber, wie im Beispiel, über die fortlaufende Sequenz einer solchen „symbolischen Interaktion“ zu einem Gleichgewicht der wechselseitigen Bestätigung der jeweiligen Orientierungen durch das sichtbare Handeln, dann liegt schließlich eine stabile kollektive Definition der Situation vor. Hier ist es der Rahmen des Modells 2, des Codes für den Sinn und des Programms für das darin vorgesehene Handeln.
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Situationslogik und Handeln
Exkurs über die sechs Lesarten des Thomas-Theorems Robert K. Merton berief sich auf das Thomas-Theorem, als er von der Selffulfilling Prophecy sprach und damit den sozialen Prozeß meinte, über den eine zunächst objektiv falsche, subjektiv aber als richtig definierte Ansicht sich schließlich als „real“ bewahrheitet. In der ursprünglichen Fassung von William I. Thomas und Dorothy S. Thomas in „The Child in America“ bezog sich der Satz unmittelbar auf das Handeln eines Akteurs in einer Situation: Für das „reale“ Handeln seien letztlich nur die momentan gegebenen subjektiven Ansichten und nicht die objektiv vorliegenden situationalen Verhältnisse maßgeblich. Bereits daraus wird erkennbar, daß das Wort von der „Definition der Situation“ und den „realen Konsequenzen“ im soziologischen Sprachgebrauch nicht immer das Gleiche bedeutet. Mindestens sechs verschiedene Lesarten des Begriffs der „Definition der Situation“ lassen sich unterscheiden. Wie üblich ergeben sich leicht vermeidbare Verwirrungen, wenn man diese Unterschiede nicht kennt oder nicht beachtet. Wir wollen daher in den mitunter sehr unterschiedlichen Sprachgebrauch im Zusammenhang der Metapher von der „Definition der Situation“ eine gewisse Ordnung bringen, die auch für das Verständnis der weiteren Ausführungen in diesem Buch nützlich sein kann. Die erste Lesart: Die Realität der subjektiven Wirklichkeit Die erste Lesart ist die, die vom Ehepaar Thomas im Thomas-Theorem niedergelegt worden ist: Für das Handeln der Menschen kausal relevant ist im Moment des Handelns nur die jeweils aktuelle Definition einer subjektiven Vorstellung über die situationale Wirklichkeit. In dieser Lesart geht es also um die Realität der jeweils aktuell vorgestellten subjektiven Wirklichkeit der individuellen Akteure, die dann deren reales Handeln leitet. Die aufgeregten Kunden der Last National Bank handelten vor dem Hintergrund dieses Typs einer subjektiven – und objektiv (zunächst wenigstens) falschen – Definition der Situation, ebenso wie der Reiter über den Bodensee oder der Gefangene, der da meinte, daß die mit sich selbst redenden Passanten ihn verhexen würden.
Die „Definition“ der Situation
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Die zweite Lesart: Der Inhalt der Bedingungen in der Situation Die zweite Lesart des Begriffs der Definition der Situation bezieht sich auf den Inhalt der Bedingungen der Situationen, von denen die Selektion der subjektiven Wirklichkeit ihren Ausgang nimmt: die inhaltlichen Eigenschaften der äußeren Bedingungen wie die der Identität der Akteure. Es geht dabei etwa um die Art der Restriktionen, um die Inhalte der institutionellen Regeln und um die Inhalte der Codes und Programme der Bezugsrahmen, unter die das soziale Handeln in einer Situation objektiv gestellt ist und aus denen sich sein sozialer Sinn ergibt. Für Schachspieler beispielsweise ist die Situation durch die Regeln des Schachspiels in bestimmter Weise inhaltlich definiert. Und Fußballer wissen inhaltlich, was Abseits ist und was es bedeutet, daß ein rundes, mit Luft aufgeblasenes Stück Leder durch drei weiße Pfosten in ein grünes Netz fliegt. Sinnhaft gehandelt wird entsprechend dieser Regeln und der in ihnen möglichen Spielräume. Und welche Situation gerade gegeben ist, signalisieren die signifikanten Symbole, deren „Bedeutung“ die Akteure im Repertoire ihrer Identität gespeichert haben. Institutionen können als verbindlich geltende inhaltliche Definitionen sozialer Regeln aufgefaßt werden. Sie sind – neben den Restriktionen – der wichtigste Hintergrund der objektiven sozialen Definition von Situationen und damit für die Selektion der subjektiven Wirklichkeiten der Akteure und für ihr reales Handeln. Die dritte Lesart: Die Bestimmtheit der individuellen Orientierung Die dritte Lesart der Redeweise von der Definition der Situation orientiert sich an der Bedeutung des Wortes „Definition“ im Sinne einer bestimmenden Festlegung. Diese bezieht sich auf das Ergebnis der durch eine bestimmte „Definition“ der Situation vollzogenen Orientierung eines individuellen Akteurs in der Situation, so wie dies in Kapitel 1 als Selektion eines mentalen Modells der Situation beschrieben und in Abbildung 5.1 zusammengefaßt wurde. Mit der Selektion eines „bestimmten“ mentalen Modells wird die Situation für den Akteur nämlich geklärt, geordnet, „bestimmt“, strukturiert und festgelegt. Der Hintergrund ist die „Auferlegtheit“ der erkennbaren Objekte der Situation: die Deutlichkeit der signifikanten Symbole, die Stärke der damit assoziierten Einstellungen und auch die erwartete Zuträglichkeit der Orientierung für die Nutzenproduktion. Der Akteur gewinnt dadurch eine – meist ganz fraglose – Si-
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Situationslogik und Handeln
cherheit, daß jetzt ein bestimmtes Handeln angemessen ist – und jedes andere eben „bestimmt“ nicht. Der Gegenbegriff zur „Definition“ der Situation im Sinne der Bestimmtheit einer individuellen Orientierung wäre der der Orientierungslosigkeit. Dieser Zustand der individuellen Unbestimmtheit und Desorientierung wird in der Soziologie auch Anomia (durchaus richtig gelesen: Anomi-a) genannt. Er tritt insbesondere dann auf, wenn die wahrgenommenen Möglichkeiten schrankenlos geworden, wenn die Spielregeln plötzlich und unerwartet anders, wenn die signifikanten Symbole als uneindeutig oder gestört oder mit einem Male mit einer anderen Bedeutung belegt erscheinen – oder auch, wenn die fraglose Befolgung des bestimmenden mentalen Models als riskant und möglicherweise teuer angesehen wird. Ein wichtiger Hintergrund der individuellen Bestimmtheit der Orientierung ist die Stabilität der Identität des Akteurs. Für komplexe und sich rasch wandelnde äußere Bedingungen ist diese Stabilität nur über die eigenartige Strukturflexibilität einer an Prinzipien orientierten „Sittlichkeit“, eines moralischen Bewußtseins, einer besonderen Ich-Identität also, zu gewinnen. Treten aber irritierende und unerwartete äußere Bedingungen öfters und ohne weitere Regelmäßigkeit auf, dann hat dies auch Folgen für jenen, auch bei Irritationen kurzfristig immer noch stabilen Teil des Akteurs. Auch die schönste IchIdentität ist letztlich daran gebunden, daß die äußeren Bedingungen der Situation ein Mindestmaß an Berechenbarkeit enthalten und mit den sehr begrenzten Möglichkeiten der Informationsverarbeitung menschlicher Akteure zu bewältigen sind. Die vierte Lesart: Die Bestimmtheit der äußeren Bedingungen Damit kommen wir zur vierten Lesart: die Bestimmtheit der äußeren Bedingungen der Situation. Daß eine Situation „definiert“ ist, kann sich auch auf die äußeren Bedingungen beziehen, auf die Festlegung einer Situation. Nun gibt es Restriktionen, nun gelten die Spielregeln, nun sind die signifikanten Symbole für den Bezugsrahmen eindeutig. Der Gegenbegriff zu einer so verstandenen sozialen „Definition“ der Situation ist der Zustand der Anomie (nun wie gewohnt gelesen: Anomie). Darunter wird der soziale Zustand der Normlosigkeit, der Auflösung moralischer Bindungen und des Verfalls jedweder sozialer Begrenzungen der Ansprüche verstanden. Die gesellschaftliche Anomie ist der wichtigste strukturelle Hintergrund für das Entstehen der individuellen Anomia. Die „Definition“ der Situa-
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tion wäre in dieser Bedeutung dann nichts anderes als der Prozeß der (Wieder)Herstellung sozialer Ordnung – und damit die wichtigste Bedingung für die Beseitigung von Anomia und für eine wieder erleichterte und wieder eindeutigere individuelle Definition der Situation. Die fünfte Lesart: Die Selektion der subjektiven Wirklichkeit Mit der fünften Lesart der Bedeutung des Wortes von der „Definition der Situation“ ist der Prozeß der individuellen Orientierung, der Vorgang der Auswahl eines mentalen Modells der Situation auf der Grundlage wahrgenommener und interpretierter signifikanter Symbole durch den Akteur gemeint. Es ist der mehrstufige individuelle Selektionsprozeß, der in Kapitel 5 als „‚Definition’ der Situation“ beschrieben wurde. Das Ergebnis dieser so gemeinten „Definition“ der Situation ist die Erzeugung sowohl einer subjektiven Wirklichkeit wie die einer deutlichen Bestimmtheit dieser subjektiven Wirklichkeit, von denen in der ersten und in der dritten Lesart die Rede war. Diese „Definition“ der Situation geht von den inhaltlichen Bestimmungen der äußeren und der inneren Bedingungen, den Restriktionen, den institutionellen Regeln und den signifikanten Symbolen wie der Identität des Akteurs aus. Das Ergebnis ist die Selektion des jeweiligen Sinnbereichs bzw. des Rahmens, von denen her dann das reale Handeln seinen Ausgang nimmt. Dieser Vorgang wird auch als Framing bezeichnet. Die sechste Lesart: Die soziale Konstitution der Situation Als „Definition“ der Situation können schließlich sechstens die Vorgeschichte und die Folgen der individuell vorgenommenen Orientierungen und des daran auschließenden Handelns verstanden werden. Es ist der Prozeß der kollektiven Definition der Situation, der Vorgang ihrer sozialen Konstitution – so wie das auch schon in Kapitel 1 beschrieben und in Abbildung 5.2 zusammengefaßt schematisiert wurde. In diese Bedeutung ist der Fall eingeschlossen, den Robert K. Merton gemeint hat: die nachhaltige soziale Objektivierung von zunächst falschen Definitionen der subjektiven Wirklichkeit. Die Akteure stießen mit ihren subjektiven Ansichten über die Liquidität der Last National Bank die Genese der Bedingungen an, über die sich die zunächst falschen subjektiven Ansichten schließlich objektiv als richtig erwiesen. Die Self-fulfilling Prophecy des Zerfalls der Last National Bank beschreibt die strukturelle Ge-
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Situationslogik und Handeln
nese der äußeren Bedingungen, unter denen die ursprünglich falschen subjektiven Überzeugungen der Kunden schließlich wirklich wahr geworden sind. Eine Systematisierung Die sechs Lesarten ergeben sich aus der Kreuzung von zwei Dimensionen, von denen eine noch einmal differenziert wird: Den Bezug der Definition der Situation: individuell oder sozial; und die Bedeutung des Wortes „Definition“ entweder als Zustand oder als Prozeß. Für die Dimension „Zustand“ ist dann noch zu unterscheiden, ob mit der „Definition“ eine inhaltliche oder eine formale Festlegung gemeint ist. Daraus ergibt sich das folgende Schema der sechs Lesarten der Metapher von der Definition der Situation.
individueller Bezug
sozialer Bezug
Zustand
Prozeß
inhaltlich
subjektiver Sinn
(1)
sozialer Sinn
(2)
formal
keine Anomia
(3)
keine Anomie
(4)
Framing
(5)
Konstitution
(6)
Das Thomas-Theorem ist ohne Zweifel eine wichtige soziologische Orientierungshypothese. Es führt aber durch die geschilderten Mehrdeutigkeiten leicht zu Verwirrungen in der Aufgliederung der Einzelschritte bei der Erklärung sozialer Prozesse. Obwohl die Unterscheidung der sechs Lesarten nicht schwierig zu verstehen ist, werden die verschiedenen Aspekte und Vorgänge häufig vermengt. Wichtig ist insbesondere die Unterscheidung der individuellen subjektiven Definition der Situation zum Zeitpunkt des Handelns einerseits und der kollektiven Prozesse, die zu diesem individuellen Zustand bei den individuellen Akteuren zuvor geführt haben. Die individuelle Definition der Situation ist immer die Folge vorangegangener Prozesse der sozialen Definition der Situation. Von den so, über eine Vorgeschichte entstandenen, äußeren wie inneren Bedingungen erfolgt dann über Wahrnehmungen und Orientierungen die subjektive Definition der Situation, von der das Handeln und die gesamte Nachgeschichte ausgeht, die wieder die Vorgeschichte für ... und so weiter ... darstellt.
Die „Definition“ der Situation
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Die Komplikationen in den Lesarten des Thomas-Theorems entstehen nur dann, wenn die verschiedenen Vorgänge der Genese der Situation, der Orientierung in der Situation, der Selektion eines Handelns und deren externer Effekte, die wieder eine neue Situation generieren und so „definieren“, nicht genügend auseinandergehalten werden. Es ist selbstverständlich etwas anderes, die Geschichte der kollektiven Genese eines sozialen Sinns oder die individuelle Selektion einer Orientierung durch einen Akteur in einer aktuellen Situation zu erklären. Für das erstere braucht man eine komplette soziologische (Prozeß-)Erklärung, für das zweite eine Theorie der Selektion von Orientierungen. Mit dem Modell der soziologischen Erklärung und mit der Übersicht über die verschiedenen Lesarten der Metapher von der Definition der Situation werden diese Unterscheidungen leicht möglich. Hoffentlich.
Kapitel 6
Handeln
Für die Erklärung sozialer Prozesse reicht es nicht aus, die Situation der Akteure nur zu beschreiben. Die Umstände, in denen sich die Akteure befinden, tun ja selbst nichts. Die Dynamik der sozialen Prozesse ergibt sich erst aus dem Handeln der Menschen in Situationen und aus den dadurch bewirkten Folgen. Deshalb muß jede soziologische Erklärung auf eine Theorie des Handelns als „Logik der Selektion“ zurückgreifen. In Kapitel 7 werden wir dafür einen Vorschlag machen und ihn an vielen Stellen dieses Buches benutzen und diskutieren: Die Wert-Erwartungstheorie. Hier geht es zunächst um den „Begriff“ des Handelns. Das ist ein weites Feld und berührt zahllose alte und neue Kontroversen in den Gesellschaftswissenschaften, wie etwa die zwischen Verstehen und Erklären, Sinn und Kausalität, Subjektivität und Objektivität. Die hier eingenommene Position in dieser Auseinandersetzung sei nicht verschwiegen: Obwohl die Kategorie des Sinns und des Handelns in den Naturwissenschaften ohne Zweifel kein Äquivalent hat, gibt es keinen Grund, daraus eine besondere Methode für die Gesellschaftswissenschaften abzuleiten. Auch ein mit Sinn belegtes Handeln kann kausal erklärt werden. Wenn man einen Akteur oder einen sozialen Prozeß „verstehen“ will, bleibt einem sogar nichts anderes übrig. Das nun folgende Kapitel soll diese Position verständlich machen. Wir beginnen mit einer vergleichsweise einfachen Frage: Worin unterscheidet sich das Handeln der Menschen vom sog. Verhalten?
6.1
Verhalten und Handeln
Max Weber definiert das Handeln – gleich im Anschluß an seine berühmte Definition der Soziologie als der Wissenschaft vom sozialen Handeln und seinen Folgen – so:
178
Situationslogik und Handeln
„‚Handeln’ soll dabei ein menschliches Verhalten (einerlei ob äußeres oder innerliches Tun, Unterlassen oder Dulden) heißen, wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden.“1
Handeln ist danach ein Spezialfall des „Verhaltens“ von menschlichen Akteuren. Die Besonderheit besteht in zweierlei Hinsicht: Handeln ist ein Verhalten, das von den Akteuren mit Sinn verbunden wird. Und dieser Sinn ist ein subjektiver Sinn. Zwei wichtige Hinweise auf eine Erweiterung des Begriffs des Handelns gegenüber dem üblichen Sprachgebrauch gibt Max Weber in dem Zitat: Verhalten bzw. Handeln kann erstens aus einer aktiven Einflußnahme, aber auch aus einer passiven Duldung, sogar aus einem Unterlassen bestehen. Und das Verhalten bzw. Handeln kann zweitens ein äußeres oder ein innerliches Tun sein. Alfred Schütz sprach vom overten und vom coverten Handeln. Das äußere Tun ist sichtbar und wirkt auf die äußere Umgebung ein, das innerliche Tun ist dagegen verdeckt und findet in der Binnenwelt des Organismus statt. Beispiele für ein innerliches Tun wären das Phantasieren von Möglichkeiten, die innere Reflexion von Folgen eines bestimmten Tuns, das Entwerfen und Abwägen von Plänen, die subjektive Definition der Situation oder ein innerer Entschluß: „Ich mach’ das jetzt“ – etwa mit der Lebensversicherung, dem Heiratsantrag oder dem Selbstmord. Verhalten Unter Verhalten werden – ganz allgemein – alle Positionseinnahmen eines lebenden Organismus zu seiner Umgebung verstanden:2 Verhalten ist jede motorische, verbale, kognitive oder emotionale Aktivität eines Organismus, die einen Einfluß auf die Beziehung zwischen dem Organismus und der Umwelt hat. Zum Verhalten gehören damit insbesondere auch die „automatischen“ und unreflektierten Reaktionen in Situationen, wie etwa das Befolgen von Gewohnheiten oder emotionale Reaktionen. Dazu zählen auch die inneren Vorgänge des Denkens und des Entscheidens, seien sie kontrolliert oder nicht. Ebenso kann man bestimmte Grade und Richtungen der Aufmerksamkeit, Wahrnehmungen und Verdrängungen, die Übernahme von Überzeugungen, die Orientierung an bestimmten Zielen oder an übergreifenden Werten, die Bildung, Beibehaltung oder Änderung von Alltagstheorien, von Vorurteilen und – allgemein – von Wissen oder Werten
1
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5. Aufl., Tübingen 1972 (zuerst: 1922), S. 1; Hervorhebungen so nicht im Original.
2
Vgl. zur Definition des Begriffs des Verhaltens etwa: Werner Langenheder, Theorie menschlicher Entscheidungshandlungen, Stuttgart 1975, S. 35.
Handeln
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dazu rechnen. Auch das Lernen ist ein Verhalten. Selbstverständlich gibt es auch kommunikatives Verhalten: das – beabsichtigte oder unbeabsichtigte, reflektierte oder reflexartige – Aussenden von Signalen, auch das Befehlen, Drohen, Ankündigen oder Argumentieren mit Hilfe von Sprechakten. Und sogar die selektive Aktivität der Aufnahme von Signalen, deren interne Verarbeitung, ihr Verstehen, ihre innere Wirkung in der Form der Änderung von Wissen und Werten und schließlich eine evtl. Reaktion in einer Form des overten Verhaltens darauf können in diesem Sinne als Verhalten verstanden werden.
Alle diese Aktivitäten bedeuten eine Stellungnahme des Organismus zu seiner Umwelt. Auch die Inaktivität ist eine derartige Stellungnahme: Das Nichtstun wird – aus welchen Gründen auch immer – einem aktiven Verhalten vorgezogen. Strenggenommen ist es also nicht möglich, daß lebende Organismen sich nicht-verhalten: Das „Verhalten“ hört letztlich erst mit dem Tod des Organismus auf. Verhalten als Selektion Verhalten ist immer eine Eigenleistung bzw. eine Eigenbewegung des Organismus. Es hat – zumeist – eine bestimmte Funktion oder einen Zweck für den Organismus. Es ist der wichtigste Mechanismus zur Lösung von Problemen, wie sie bei der Sicherung der Homöostase des Organismus in seiner jeweiligen Umwelt durch den Einsatz von Energie unter den Bedingungen der Knappheit ständig auftreten und fortwährend bewältigt werden „müssen“. Die Evolution des Lebens ganz allgemein beruht darauf. Die beiden zentralen Funktionen des Verhaltens sind dabei – mehr oder weniger geplant – die Sicherung der individuellen Existenz und – so gut wie immer ungeplant – die Reproduktion der Art insgesamt. Genetische Programme Da das Verhalten – auch als Passivität, als „Unterlassen oder Dulden“ – immer eine Stellungnahme des Organismus zu seiner Umgebung ist, muß es auch noch in seinen fixiertesten Formen, wie bei Instinkten, als eine besondere Leistung des Organismus verstanden werden: Die Leistung einer Selektion. Denn: Immer wären auch andere Möglichkeiten denkbar. Immer wird aus dem unendlich großen Horizont der Möglichkeiten eine bestimmte ausgewählt. Und immer bleiben – im Prinzip – die gerade nicht gewählten Möglichkeiten latent vorhanden, könnten aber später an Stelle der gerade gewählten Aktivität selektiert werden.
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Situationslogik und Handeln
Für die Art der Selektion des Verhaltens läßt sich im Verlaufe der Evolution des Lebens von der Amöbe bis zu Einstein eine charakteristische Entwicklung beobachten: Die Selektion wird von den Einflüssen der jeweiligen Umgebung immer unabhängiger, und der Grad der Aktivitätsniveaus und der Variabilität des möglichen Verhaltens nehmen immer mehr zu. Genetische Programme, Lernen und antezipatives, intelligent-auswählendes, intentionales Handeln können als drei charakteristische Stufen dieser Steigerung von Unabhängigkeit, Aktivitätsniveau und Variabilität der Problemlösung bei lebenden Organismen verstanden werden. Die Selektion des Verhaltens erfolgt bei einfachen Organismen über biologisch fixierte und vererbte genetische Programme. Änderungen in den Selektionen sind dort nur über Mutation und über die langwierige biogenetische Selektion neuer Verhaltens-Programme möglich. Aufgrund der biogenetischen Art der Auslese stellen die Verhaltens-Selektionen dabei eine relativ sichere und – für stabil bleibende Verhältnisse – auch optimale Anpassung der Homöostase an die jeweilige Umgebung dar. Änderungen in der Umgebung sind dann aber für die Träger dieses genetischen Programms auch häufig unmittelbar letal. In stabilen Umwelten ist das Überleben dafür aber um so sicherer. Lernen Ein wichtiger Schritt bei der Flexibilisierung und Verbesserung der Selektionsfähigkeiten für instabilere Umgebungen ist die Entwicklung des Lernens – als evolutionäre Errungenschaft – gewesen. Lernen bedeutet die Auslese von Selektions-Programmen durch Erfahrung oder durch Beobachtung und Nachahmung – also ohne Änderung der biogenetischen Struktur. Dadurch wird eine Anpassung des gleichen Organismus auch an rascher wechselnde Umgebungen möglich: Seemöwen lernen zum Beispiel, daß nicht nur Fischerboote als Nahrungsquellen nutzbar sind, sondern auch Imbißstuben, Müllkippen und tierliebe Touristen. Einmal gelernte Verhaltens-Programme passen zwar – ganz ähnlich wie die biogenetisch fixierten Programme – zunächst auch immer nur zu bestimmten Umgebungen. Die Selektionen können aber im Prinzip der Änderung der Umgebung flexibel folgen. Allerdings: Eventuell vorhandene aktuelle Möglichkeiten einer aktiven oder absichtsvollen Umgestaltung der Umgebung selbst – als offensiveres Mittel zur Verbesserung der Anpassung – werden beim Verhalten als Folge des Lernens nicht in Betracht gezogen. Wenn die Umgebung gleich bleibt, bleibt es das gelernte Verhalten auch. Und jede Änderung des Verhaltens-Programms setzt einen neuen, oft genug mühsamen und langwieri-
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gen Lernprozeß voraus. Den können aber – anders als bei der Änderung der genetischen Programme – schon die individuellen Organismen durchlaufen, ohne ihre biogenetische Struktur ändern zu müssen. In sich sehr rasch ändernden Umgebungen ist das aber vielleicht auch eine noch zu langsame und zu inflexible Lösung. Intentionen Ein deutlicher Sprung im Grad der Flexibilisierung und in der Effizienz der Anpassungsleistungen eines Organismus an seine Umgebung kann dann darin gesehen werden, daß die Organismen die Anpassungen nicht nur passiv und reaktiv vornehmen, sondern Änderungen der Umgebung rasch wahrnehmen und bewerten sowie Erfolge oder Fehlschläge bestimmter Selektionen antezipieren und danach – je nach Ausgang des entsprechenden Gedankenexperimentes – ihr Verhalten auch schon im voraus selektieren: Einstein unterscheidet sich von der Amöbe (fast nur) dadurch, daß Einstein den Fehlschlag der Selektionen selbst gedanklich vorwegnehmen und sein Verhalten daran orientieren kann. Die Selektion des Verhaltens erfolgt in diesem Fall also nach Maßgabe einer Beurteilung der Umgebung und nach einem, um einen Ausdruck von Alfred Schütz zu verwenden, „vorimaginierten Entwurf“ über das Herbeiführen gewünschter Zielzustände: als intentionales Handeln. Der Selektion geht ein – mehr oder weniger sorgfältiges – Abwägen des Für und Wider, des Nutzens und der Kosten, der (Un-)Möglichkeiten und (Un-)Wahrscheinlichkeiten voraus. Intentionen und gedankliche Reflexionen möglicher Folgen erlauben wirksame systematische Änderungen des Verhaltens auch in äußerlich gleichen Umgebungen – allein durch die Antizipation von denkbaren Konsequenzen alternativer Reaktionen und über die Planung von Änderungen für die Zukunft. Handeln Ein derartiges, auf Reflexion und Antizipation zukünftiger Situationen beruhendes und mit Intentionen oder Plänen versehenes Verhalten wollen wir allgemein als „Handeln“ bezeichnen. Die Intentionen, Pläne, Reflexionen und Antizipationen machen dabei den subjektiven Sinn aus, von dem Max Weber sprach. Amöben handeln nicht, sie verhalten sich nur. Bei Einstein ist das, manchmal und im Prinzip wenigstens, anders.
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Situationslogik und Handeln
Behaviorismus und Mentalismus Der Unterschied zwischen Verhalten und Handeln, zwischen biogenetisch programmierter, reaktiv gelernter und intentional-reflektierter Stellungnahme zur Umgebung ist – trotz der beschriebenen qualitativen Sprünge – theoretisch gesehen nur gradueller Art. Das intentionale Handeln folgt letztlich der gleichen Regel wie das Verhalten: der Maxime der Maximierung der erwarteten Erträge für das Wohlbefinden des Organismus. Diese engen Verbindungen zwischen Verhalten und Handeln sind nicht immer so gesehen worden – etwa in der Auseinandersetzung zwischen dem Behaviorismus und dem Mentalismus in der älteren Psychologie. Unter Behaviorismus wird eine theoretische Orientierung verstanden, die nur die beobachtbare, unmittelbare Reaktion eines Organismus – den Response – über ein unmittelbar beobachtbares Situationsmerkmal bzw. Reiz – den Stimulus – erklären will. Man spricht daher auch von der behavioristischen S-R-Theorie. Beispielsweise: Einem Hund läuft der Speichel, wenn er einen Glockenton hört, nachdem er zuvor einige Dutzend Mal mit dem Glockenton ein Stück Fleisch bekommen hatte. Ein Kind scheut das Klavierspiel, weil es immer wieder üben mußte, auch wenn draußen die Sonne schien. Die Großmutter geht jeden Sonntag zur Kirche, weil sie in einem lebenslangen Prozeß der Verstärkung internalisierte, was sie als Kind vielleicht gar nicht sehr gemocht hat. Alles dies – die Reize und die Reaktionen – waren und sind gut zu beobachten und leicht zu beschreiben. Was im Innern des Organismus des Hundes, des Kindes, der Großmutter vorgeht, ist für die Erklärung ihrer Reaktionen dann ganz und gar uninteressant. Wichtig sind für den Behavioristen nur das sichtbare Protokoll der jeweiligen Lernbiographie und die empirisch festgestellte Kovariation der S-R-Beziehung.
Interne psychische Zustände – wie Musikgeschmack oder die innere Zufriedenheit über die Erfüllung einer Norm – sind für den Behavioristen demnach nichts als aus dem sichtbaren Verhalten erschlossene und über eine Lerngeschichte von Verstärkungen erklärbare Größen. Der Hauptvertreter des Behaviorismus war James B. Watson (1878-1958). Er wandte sich vor allem gegen eine Richtung in der Psychologie, die auch als Common Sense-Auffassung oder Mentalismus bezeichnet wird: die Vorstellung, daß die Organismen reflektierende Subjekte sind, die in sich hineinschauen und sich ausschließlich nach den über eine solche Introspektion erschauten „inneren Geschehnissen“ richten. Das war gewissermaßen eine O-RTheorie: Der reflektierende Geist des inneren Organismus bestimmt alleine das Verhalten. Warum sich James B. Watson und andere so vehement gegen den Mentalismus wandten, ist leicht nachzuvollziehen: Der Verweis auf innere Erlebnisse oder auf nicht weiter empirisch zu prüfende Vorgänge des „Geistes“ oder
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des „Unbewußten“ entziehen sich leicht jeder wissenschaftlichen Kontrolle. Und gegen diese Spekulationen hatte der Behaviorismus – nicht zu Unrecht – etwas und wollte radikal Schluß damit machen. Dabei wurde aber das mentalistische Kind mit dem behavioristischen Bade ganz ausgeschüttet: Menschen haben einen reflektierenden Verstand, auch wenn sie ihn manchmal nicht benutzen. Und sie versuchen oft genug, ihren O-Kopf gegen alle S-Widerstände in ihrem R-Verhalten durchzusetzen. Die Verhaltens- und Handlungstheorien der neueren Sozialpsychologie sind daher auch durchweg Kombinationen von behavioristischen und mentalistischen Elementen. Die Menschen schauen danach durchaus in sich hinein, wenn sie ihre Entscheidungen treffen. Aber sie orientieren ihr Handeln auch sehr an den Bedingungen der – erlebten, wahrgenommenen, erschlossenen und antezipierten – äußeren Umgebung. Diese Ansätze, die mentalistische und behavioristische Elemente gewissermaßen kombinieren, werden auch unter der Bezeichnung des NeoBehaviorismus zusammengefaßt. Sie unterscheiden sich zwar je nach dem Grad, in dem interne Reflexionen für die Erklärung des Handelns berücksichtigt werden.3 Alle weisen aber jene typische Kombination mentalistischer und behavioristischer Elemente auf. Dies hat ihnen den kennzeichnenden Namen der S-O-R-Theorie eingetragen: Nicht der situationale Stimulus S alleine bestimmt die Selektion, sondern daran ist auch noch der reflektierende Geist, der Organismus O beteiligt. Es ist die Interaktion zwischen Organismus und Umgebung, aus der sich die Selektion der Reaktion erklärt. George C. Homans Die erkennbaren Verbindungen zwischen reaktivem Verhalten und intentionalem Handeln sind also keineswegs erstaunlich: Es handelt sich ja in beiden Fällen um Selektionen, bei denen die Umgebung und der Organismus gleichermaßen beteiligt sind. Wie groß die Übereinstimmungen zwischen verstärktem Verhalten und planvoll-absichtsvollem Handeln sind, wird besonders deutlich an dem wohl prominentesten Versuch, den Behaviorismus und die sog. Lerntheorie als Grundlage der Erklärung sozialer Prozesse vorzuschlagen (vgl. dazu noch Kapitel 9 ausführlich): Die fünf Haupthypothesen der „grundlegenden sozialen Prozesse“ von George C. Homans.4 George C. Homans
3
Vgl. John W. Atkinson, Einführung in die Motivationsforschung, Stuttgart 1975, S. 186ff, 222ff.
4
George C. Homans, Grundlegende soziale Prozesse, in: George C. Homans, Grundfragen soziologischer Theorie, Opladen 1972a, S. 61ff.
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stützt sich auf die Grundgedanken der Lernpsychologie, insbesondere auf die Experimente mit Ratten und Tauben von Burrhus F. Skinner.5 In seinem Beispiel geht Homans von einem Angler aus, der einen Angelhaken mit einem Köder versieht und die Angel in einen Teich auswirft. Und die Frage lautet: Warum tut der Angler das? Die Erfolgshypothese Die erste – naheliegende – Antwort: Weil er sich davon einen Erfolg erwartet. Und, so Homans weiter: Er tut es um so häufiger und intensiver, je erfolgreicher er damit vorher gewesen ist. Die erste Hypothese faßt diese Beziehung zwischen der Häufigkeit eines Erfolgs in der Vergangenheit und der Wahrscheinlichkeit für das aktuelle Auftreten eines bestimmten Verhaltens zusammen. Es ist die sog. Erfolgshypothese. Sie lautet: Hypothese 1:
Je häufiger die Aktivität einer Person belohnt wird, mit um so größerer Wahrscheinlichkeit wird diese Person die Aktivität ausführen.
George C. Homans fügt hinzu, daß diese Hypothese nicht absolut, sondern nur im Vergleich zu anderen Aktivitäten und deren Erfolg gelte: Auch beim Verhalten werden immer Alternativen verglichen und nach ihrem relativen Erfolg mit größerer oder kleinerer Wahrscheinlichkeit gewählt. Aber: Der Erfolg muß auf irgendeine Weise zuvor erfahren – eben gelernt– worden sein. Die Reizhypothese Der Angler bemerke nun nach einigen mehr oder weniger zufälligen Versuchen, daß die Fische an schattigen Stellen des Teiches deutlich besser beißen als an den sonnigen Abschnitten. Diese Merkmale der Situation – Sonne versus Schatten – kann man Reize nennen. Sie können einfach oder komplex, zahlreich oder selten, sowie mehr oder weniger differenziert oder auch auf ähnliche Situationen generalisiert sein. Ein bestimmtes Verhalten tritt nun um so eher auf, je ähnlicher die aktuellen Reize denjenigen sind, bei denen in der Vergangenheit ein Erfolg erlebt wurde. Dies ist die Reizhypothese. Hypothese 2:
5
Wenn in der Vergangenheit ein bestimmter Reiz oder eine Menge von Reizen eine Aktivität begleitet hat, die belohnt worden ist, dann wird eine
Burrhus F. Skinner, The Behavior of Organisms. An experimental analysis, New York 1938; Burrhus F. Skinner, Science and Human Behavior, New York 1953.
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Person um so eher diese oder eine ähnliche Aktivität ausführen, je ähnlicher die gegenwärtigen Reize den vergangenen sind.
Beide Hypothesen – Erfolgs- und Reizhypothese – zusammen besagen, daß Menschen aus ihren Erfahrungen lernen und daß sie dann das tun, was ihnen aufgrund dieser Erfahrungen am angemessensten erscheint. Das heißt: Sie orientieren sich an den Merkmalen einer Situation, die mit erfolgreich erlebten Situationen am ähnlichsten sind. Menschen – und nicht nur sie – sind dabei zu erstaunlichen Differenzierungen in der Lage: Sie können ähnliche Klassen von Situationselementen generalisierend zusammenfassen. Und sie können feine – und feinste – Differenzen wahrnehmen, bei denen sich ein ganz unterschiedlicher Erfolg in Abhängigkeit bestimmter, manchmal ganz abgefeimter und nicht von jedermann erkennbarer, „Distinktionen“ erwarten läßt. Wichtig ist bei alledem – auch bei der Generalisierung und der Differenzierung der Erfolgserwartungen – nur: Um das Verhalten vorhersagen bzw. erklären zu können, muß man die Lerngeschichte des Akteurs – mehr oder weniger: vollständig – kennen. Die Werthypothese Die Häufigkeit der Belohnung alleine bestimmt das Verhalten aber noch nicht. Es kommt auch auf die Höhe der Belohnung an. Dies ist die Werthypothese. Hypothese 3:
Je wertvoller die Belohnung einer Aktivität für eine Person ist, desto eher wird sie die Aktivität ausführen.
George C. Homans betont, daß die Erfolgs- und die Werthypothese gemeinsam betrachtet werden müssen: Auch hohe Belohnungen sind für die Wahrscheinlichkeit, daß ein Verhalten auftritt, bedeutungslos. Dann nämlich, wenn es keine Erfolgserwartung für eine noch so hohe Belohnung gibt. Und auch sichere Erwartungen über Erfolge sind unwirksam, wenn der Wert der zu erwartenden Belohnung nur gering ist. Die Wahrscheinlichkeit für ein Verhalten ist demnach also um so stärker, je wertvoller und je sicherer eine Belohnung ist, die mit dem Verhalten verbunden erscheint. Nur wenn die Belohnung mit Sicherheit erwartet wird, bestimmen die Präferenzen alleine das Verhalten. Und nur wenn ausschließlich hohe Belohnungen winken, reicht das Wissen alleine aus, um das Verhalten zu bestimmen. Diese Regel entspricht – interessanterweise – genau der Regel, die wir im nächsten Kapitel 7 als die Grundregel für die Selektion des Handelns allgemein kennenlernen werden: Die multiplikative Verknüpfung von Bewertungen und Erwartungen in der Wert-Erwartungstheorie. Das ist kein Zufall, sondern
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das Ergebnis der Evolution des Lebens, die schon bei den Amöben daran hing, daß diese winzigen Tierchen weder etwas taten, was ihrem Organismus schadete, noch etwas, was die Umgebung nicht zuließ. Und für Einstein gilt dieses Gesetz der Lösung von Problemen, denen er sich gegenübersieht, immer noch. Kosten und Konflikte Der Wert der Folgen eines Verhaltens kann natürlich auch negativ sein. Man spricht dann von Bestrafung oder von den Kosten des Verhaltens. Ein bestimmtes Verhalten kann sowohl Belohnungen wie Bestrafungen gleichzeitig nach sich ziehen. Das wäre zum Beispiel der Fall, wenn der Angler, um an eine schattige Stelle zu gelangen, sich durch ein Brombeergebüsch kämpfen müßte. Bei solchen gemischten Folgen unterliegt das Verhalten also gewissen inneren Konflikten. Es wird dann das Verhalten am wahrscheinlichsten sein, bei dem die Differenz zwischen Belohnung und Bestrafung – die Netto-Belohnung oder der Netto-Nutzen, die Differenz zwischen Nutzen und Kosten also – am höchsten ist. Im Prinzip bringt jedwedes Verhalten solche inneren Konflikte mit sich: Auch das Verhalten mit dem höchsten Netto-Nutzen kostet immer etwas. Die Unvermeidlichkeit von Kosten und inneren Konflikten hat einen einfachen Grund: Ausgeschlagene Alternativen des Verhaltens sind entgangene Belohnungen und zählen so zu den inhärenten Kosten jeder Handlung. In der ökonomischen Theorie bezeichnet man die mit einer gewählten Aktivität entgangenen Belohnungen anderer Alternativen als die Opportunitätskosten einer Entscheidung. Das ist schon etwas traurig: Man kann nicht alles gleichzeitig haben – den Nutzen der gewählten Aktivität und den der ausgeschlagenen Alternativen. Und Homans nennt es daher zu Recht „ ... die größte menschliche Tragödie, daß man nicht zwei Dinge zugleich tun kann.“ (Homans 1972a, S. 65)
Daneben bestehen die Kosten einer Handlung aus dem gesamten Aufwand an Ressourcen – in Zeit, Geld, Nerven –, der für das Verhalten aufzubringen ist. Und jedes, auch das angenehmste, Verhalten erfordert immer die Verausgabung solcher Ressourcen, mit denen man auch etwas anderes hätte anfangen können.
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Der sanfte Zwang der Praxis Ein Verhalten, das einmal begonnen hat, zeigt eine wichtige Eigenschaft: Die Kosten für die Fortführung sinken deutlich ab. Und die Kosten für die Wahl eines anderen Verhaltens steigen – gerade mit dieser Wahl – ebenso deutlich an. Anders gesagt: mit dem Anlaufen eines Verhaltens betritt man einen Korridor, der so leicht nicht mehr zu verlassen ist. Einmal begonnenes Verhalten erzeugt auf diese Weise einen eigenen Rahmen für die Fortführung dieser Linie, eine besondere Bindung und Stabilisierung des gesamten Ablaufs einer Verhaltenssequenz, eine sog. Pfadabhängigkeit des Tuns. Diese Bindung an eine einmal gewählte Verhaltens-Alternative stabilisiert das Verhalten bereits beträchtlich – auch ohne daß es Normen, soziale Regeln oder soziale Kontrolle geben müßte. Das hat einfach damit zu tun, daß mit dem Anlaufen eines Tuns die ausgeschlagenen Alternativen immer teurer, die gewählte Alternative dagegen relativ günstiger wird. Deshalb alleine ist es oft besser, irgendetwas zu tun, als immer nur abzuwarten. Das Tun allein schafft sich manchmal die Vorteile, die es gegenüber Alternativen attraktiver machen. Die Entbehrungs-Sättigungs-Hypothese George C. Homans fügt zwei weitere Hypothesen an, die für das Verständnis der Logik der Selektion des Verhaltens eigentlich nicht so wichtig sind – wohl aber für bestimmte Phänomene wie die, daß Menschen an einem Gut, das sie kontrollieren, das Interesse zu verlieren beginnen; oder daß sich die Menschen sehr ärgern, wenn etwas Unerwartetes geschieht. Die eine Hypothese beschreibt die Annahme, daß der Wert einer zusätzlichen Belohnungseinheit sinkt, wenn der Akteur diese Belohnung bereits mehrfach erhalten hat. Dies ist die Entbehrungs-Sättigungs-Hypothese. Hypothese 4:
Je öfter eine Person in der Vergangenheit eine bestimmte Belohnung erhalten hat, desto weniger wertvoll wird für sie jede zusätzliche Belohnungseinheit.
Es ist das uns bereits aus der Diskussion der sozialen Produktionsfunktionen wohlbekannte Gesetz vom abnehmenden Grenzertrag, hier bezogen auf den Ertrag eines Handelns in Form einer bestimmten Belohnung oder Nutzens. Man spricht deshalb auch vom Gesetz des abnehmenden Grenznutzens. Der Hintergrund des Gesetzes vom abnehmenden Grenzertrages bzw. Grenznutzens sind wieder die Bedingungen der Evolution des Lebens: Das Leben ist keine eindimensionale Sache. Es muß immer auf mehreren Dimensionen gleichzeitig optimiert werden. Deshalb müssen die Organismen darauf achten,
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Situationslogik und Handeln
daß sie möglichst allen Belangen ihrer Reproduktion in möglichst gleicher Weise und möglichst gleichzeitig Rechnung tragen. Und dafür sorgt der Mechanismus des abnehmenden Grenzertrages der Belohnungen – schon durch die biologische hardware, die aus biochemischen Gründen der Reproduktion des Organismus das achtzehnte Brötchen zum Frühstück nicht gleich dem ersten bewertet. Die Frustrations-Aggressions-Hypothese Mit seiner fünften Hypothese bringt Homans die Emotionen, die Leidenschaften und die Moral ins Spiel: Unsicherheiten erzeugen Angst. Und die Enttäuschung von sicheren Erwartungen und festen Plänen zieht Frustration, Wut, Ärger sowie eine Neigung zu aggressivem Verhalten nach sich. Dies ist die Frustrations-Aggressions-Hypothese. Hypothese 5:
Wenn die Aktivität einer Person nicht wie erwartet belohnt oder unerwartet bestraft wird, wird die Person ärgerlich, und im Ärger sind die Ergebnisse aggressiven Verhaltens belohnend.
Richtig ist in der Tat, daß Menschen – wie alle Lebewesen – sehr emotional reagieren, wenn ihre Erwartungen enttäuscht werden: Freude bei unerwartetem Erfolg, Ärger,Wut und Niedergeschlagenheit bei unerwartetem Mißerfolg. Und es ist nicht zu bestreiten, daß die Enttäuschung von Erwartungen die Menschen sehr irritiert und ihre Energien und Leidenschaften nachhaltig mobilisiert. Das alles ist aber auch leicht zu verstehen: Die Verläßlichkeit von Erwartungen über die Bedingungen des Erfolgs und der Vermeidung von Mißerfolg sind ja die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Reproduktion immer gewesen. Organismen, die nicht alles mobilisiert haben, um den Fehlschlag ihrer Bemühungen und die Enttäuschung ihrer Überzeugungen zu erklären, zu korrigieren und zu kompensieren, hatten in der Evolution des Lebens und der Kooperation miteinander nur schlechte Karten. Das Ergebnis dieses evolutionären Weges ist auch beim homo sapiens gut zu besichtigen: Auch er beginnt, Risiken auf sich zu nehmen und Dinge zu tun, an die er vorher nicht einmal dachte, wenn es um den Ausgleich eines erlebten Verlustes geht. Bei drohenden Verlusten einer sicher unter Kontrolle geglaubten interessanten Ressource werden die Menschen sehr böse und tun alles – auch „rational“ sehr sinnlose Dinge –, um diesen Verlust zu vermeiden, rückgängig zu machen oder in ohnmächtiger Wut und in scheinbar ganz unverständlichen emotionalen Ausbrüchen doch noch etwas zu kompensieren (vgl. dazu u.a. noch Kapitel 8).
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Ob der zweite Teil der Hypothese – die offene Aggression als allgemeine Reaktion auf eine Frustration – so stimmt, kann allerdings bezweifelt werden: Aggression ist nicht die einzige Form der Abarbeitung von Enttäuschungen. Und aggressives Verhalten gibt es darüber hinaus durchaus auch dann, wenn keinerlei Frustration vorliegt. Manchmal ist die Aggression, jeweils dann noch in besonderer kultureller Stilisierung, sogar das, was von Personen gesellschaftlich erwartet wird, wenn sie an Belohnungen herankommen wollen – wie wohl in der Lebenswelt einer rechtsradikalen Skinhead-Gruppe oder bei gewissen, sich bewußt als gewissenlos und aggressiv gebenden Bankern in „Mainhattan“. Die Reaktion auf Frustration muß daher keineswegs die Aggression sein. Der von seiner Freundin menschlich tief enttäuschte Martin geht eher sanft und betroffen zu seiner Männergruppe, wogegen Manni sich in den tiefergelegten Manta setzt und nächtens die Anwohner der A 40 nachhaltig aufschreckt, wenn ihn seine blonde Friseuse aus Bottrop hat fallen lassen. Verhaltenstheoretische Soziologie? George C. Homans geht von einem Modell des reaktiven Verhaltens auch zur Erklärung des menschlichen Handelns aus. Das ist nicht unverständlich: Die Variablen zur Erklärung des Verhaltens und die Regeln darüber, wann ein bestimmtes Verhalten reaktiv selektiert wird, sind ja auch nicht prinzipiell verschieden von den Erklärungen des intentionalen Handelns. Aber es gibt gleichwohl einen Unterschied: Die Verhaltenstheorie erklärt den Erwerb von Erwartungen und Bewertungen und die Ausführung gewisser Reaktionen auf deren Grundlage gleichzeitig: Die Verhaltenstheorie ist immer auch eine Lerntheorie (vgl. dazu noch Kapitel 9). Die sog. Handlungstheorien, wie wir sie in Kapitel 7 kennenlernen werden, erklären dagegen nur die Selektion von Handlungen in einer gegebenen Situation, nicht dagegen den Erwerb der Erwartungen und Bewertungen über eine Lerngeschichte vorher. Dazu müßte man die Lerntheorie noch gesondert heranziehen. Es ist nun ohne Zweifel eine Stärke für eine Theorie, wenn sie verschiedene Dinge gleichzeitig erklärt. Wäre damit für soziologische Erklärungen eher eine verhaltenstheoretische oder eine handlungstheoretische Grundlage ratsamer? Diese Frage soll hier eindeutig zugunsten der handlungstheoretischen Lösung entschieden werden. Der theoretische Vorteil der Verhaltenstheorie, daß sie zwei Phänomene gleichzeitig erklärt, ist nämlich zugleich ihr Nachteil für die Modellierung von Situationseinflüssen: Situationen sind im Rahmen der Verhaltenstheorie nur als – mehr oder weniger komplizierte – Lernbiographien modellierbar, nicht aber als Wahrnehmung von aktuellen Chancen. Und die
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Folge: In der Berücksichtigung der aktuellen Situation ist die Verhaltenstheorie sehr inflexibel. Dies betont George C. Homans selbst: „Die Tatsache, daß eine lange und komplexe Geschichte das gegenwärtige Verhalten jedes Einzelnen bestimmt, schafft für alle Sozialwissenschaften große Schwierigkeiten. Selbst wenn wir die allgemeinen Lernprinzipien kennen, wissen wir in der Regel doch nichts über die Einzelheiten der Erfahrungen eines bestimmten Menschen. Wir können folglich zur Erklärung oder Prognose seines Verhaltens in den gegenwärtigen Umständen die allgemeinen Prinzipien nicht anwenden, es sei denn mit einer großen Fehlerspanne.“ (Ebd., S. 63f.; Hervorhebungen nicht im Original)
Das ist bei den erklärenden Handlungstheorien – wie bei der WertErwartungstheorie, die wir in Kapitel 7 kennenlernen werden – ganz anders: Das für die Entscheidung zwischen verschiedenen, alternativ möglichen Handlungen bedeutsame Wissen und die dafür wichtigen Bewertungen können sowohl über eigene Erfahrungen und über das Lernen, aber auch aus anderen Quellen bezogen werden: Dr. Oetkers Kochbuch oder die Ratschläge von Erika Berger zum Beispiel helfen – unter Umständen – dabei, Mißerfolge zu vermeiden und das Richtige zu tun, um belohnt zu werden. Sie helfen auch, bestimmte Dinge, die einem zuvor gleichgültig waren, nun mit Bewertungen zu belegen. Und dies alles, ohne selbst langwierige eigene Erfahrungen machen zu müssen. Oder anders gesagt: Wer nicht fühlen will, kann hören oder lesen oder einfach nur erfolgreiche Modelle des Verhaltens anderer nachahmen. Kurz: Die Kognition und die subjektive Definition der Situation über den Prozeß der Orientierung bilden die „Brücke“ zwischen Situation und Handeln. Die Lerngeschichte gehört zur „Vorgeschichte“ der Situation (vgl. dazu die Zusammenfassung der Elemente einer Situation in Kapitel 5). Sie muß man nicht unbedingt kennen, um die Situation von Akteuren beschreiben und ihr Handeln erklären zu wollen. Es reicht die korrekte Beschreibung der aktuellen Opportunitäten, institutionellen Regeln und Bezugsrahmen, sowie die der Identität der Akteure, die sie vorher durch Lernen erworben haben.
6.2
Handeln und „Handlung“
Das Handeln findet, wie das Verhalten lebender Organismen allgemein, fortwährend und ohne Unterbrechungen und als ein mehr oder weniger träger Handlungsstrom statt. Ohne weitere Kennzeichnungen oder Grenzziehungen ließe sich nicht einfach sagen, was geschieht. Das ist aber im Alltag für die zahllosen kleineren und größeren Koordinationen des Handelns sehr nötig.
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Der Satz: „Ich gehe jetzt einkaufen. Könntest Du inzwischen das Katzenklo säubern?“ – etwa – macht deutlich, was jetzt wohl passiert und wie der Tag weitergehen könnte. Er zerlegt einen zunächst ungegliederten Handlungsstrom in deutlich erkennbare Abschnitte mit typischen Aktivitäten und versieht sie mit verständlichen sprachlichen Etikettierungen. Mit jedem der Abschnitte verbinden die Akteure typische Vorstellungen und Erwartungen, zu denen sie – wenn nötig – Stellung nehmen und an denen sie sich in ihren Planungen wieder orientieren können. Es sind Teile von sinnhaften und geregelten Zusammenhängen typisierter sozialer Abläufe: soziale Drehbücher und Modelle bestimmter Sequenzen des Handelns, die leicht kommuniziert und bestimmten Akteuren als Auftrag oder Verantwortlichkeit zugeschrieben werden können – und die damit selbst wiederum etwas aus ihrer Sicht Sinnvolles anfangen können. Zum Beispiel die Antwort: „Ist gut.“.
Im Alltag dienen solche Abgrenzungen und über sprachliche Ausdrücke vorgenommene Markierungen des Handelns – unter anderem – der Definition der Situation, der Strukturierung der Orientierungen der Akteure und der Koordination ihres Tuns. Derartige, als abgeschlossen definierte, normativ geregelte, einem Akteur als Aktivität zuschreibbare, mit einer Markierung versehene und im Ablauf typisierte Einheiten, Sequenzen oder „Projekte“ eines Handelns sollen als „Handlung“ – mit Anführungszeichen! – bezeichnet werden. Beispielsweise wären in diesem Sinne jeweils eine „Handlung“: „Eine Abseitsfalle aufbauen“; „eine Ampel bei rot überfahren“; „einen ‚Befehl’ erteilen“; „Luhmann nicht zitieren“, „Einkaufen“ oder „das Katzenklo säubern“ – jeweils für ganz verschiedene Situationen, Sphären und Codierungen des Tuns: Fußball, Straßenverkehr, Kasernenhof, Soziologie, Samstag, zu Hause. Soziale Rollen mit ihren typischen Positionsbezeichnungen – wie Familienvater, Student oder Professorengattin – gehören zu den deutlichsten Formen solcher typisierten und markierten Strukturierungen des Handlungsstromes, an denen sich die Akteure wechselseitig in ihren Erwartungen und Wahrnehmungen orientieren.
Wir werden den Terminus „Handlung“ – mit Anführungszeichen – immer dann gebrauchen, wenn die Unterscheidung zwischen dem Handeln als fortwährender Selektion und der Selektion eines vorgestellten Modells des Handelns wichtig ist. Meist ist das aber nicht nötig, weil es andere Begriffe für den gemeinten Sachverhalt gibt, beispielsweise allgemein den der Norm oder des Programms, oder spezieller, den der sozialen Rolle oder des sozialen Drehbuchs (vgl. dazu noch Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Weil die ausdrückliche Unterscheidung zwischen Handeln und Handlung oft ohnehin nicht sonderlich wichtig ist, werden die Begriffe Handeln und Handlung – ohne Anführungszeichen! – meist auch synonym gebraucht. Schütz-Parsons-Luhmann In der Soziologie ist die Vorstellung einer „Handlung“ als abgegrenzte und markierte Einheit des Handelns gut eingeführt. Drei verschiedene Versionen
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des Begriffs kursieren. Sie sind mit den Namen von Alfred Schütz, Talcott Parsons und Niklas Luhmann verbunden.6 Man sollte sie auseinanderhalten, um nicht unnötig in Verwirrung zu fallen. Eine ausdrückliche begriffliche Unterscheidung zwischen „Handeln“ und „Handlung“ hat Alfred Schütz eingeführt. Eine „Handlung“ ist nach Alfred Schütz eine „abgeschlossene Einheit“, ein „fertig konstituiertes Erzeugnis“, ein „vorimaginierter Entwurf“ eines „Projektes“, das verwirklicht werden soll. Es ist das vorgestellte Ergebnis einer gedachten Kette des Tuns. Das Handeln sind nach Schütz dann alle motorischen und sonstigen Aktivitäten auf dem Weg dorthin. Es wird, kurz gesagt, gehandelt, um eine „Handlung“ zu verwirklichen. Als Idee, wenngleich nicht als eigener sprachlicher Begriff, geht das Konzept einer „Handlung“ als wohlabgegrenzte und sinnhafte Einheit, an der sich die Akteure bei ihrem „Handeln“ orientieren, auf die „Voluntaristic Theory of Action“ nach Talcott Parsons zurück, wie wir sie in Kapitel 1 schon kurz beschrieben haben: Die kleinste Einheit des sozial sinnvollen Handelns ist der unit act. Danach ist jedes Handeln ein „System“, das neben Zielen und Mitteln immer auch eine normative Orientierung enthält (vgl. dazu bereits Kapitel 1). Diese Orientierung ist nichts anderes als das, was hier als „Handlung“ bezeichnet wird: ein, oft mit markanten Zeichen, besonders sprachlicher Art, versehenes Modell eines typischen Tuns, unter dem alle anderen Aspekte, die Situation, die Ziele und die Mittel, gesehen werden. Niklas Luhmann versteht, deutlich erkennbar im Anschluß an diesen soziologischen Handlungsbegriff nach Talcott Parsons, eine „Handlung“ als markierbaren und markierten „Abstützpunkt“ kommunikativer Prozesse – so wie das oben am Beispiel der Verabredung mit dem Einkaufen und dem Katzenklo gezeigt wurde. Derartige „Handlungen“ werden – so Luhmann – durch Zuschreibungen erzeugt. Das sind innere Aktivitäten der subjektiven Vereinfachung von Situationen, wieder also: der subjektiven Definition der Situation. Über eine „Handlung“ definieren sich die Akteure auch in dieser Fassung des Begriffs also wechselseitig die Situation, indem sie ein ihnen bekanntes und verständliches mentales „Modell“ der Situation selektieren und sich daran orientieren. Dazu kann dann auch gehören, daß ein Geschehen der Situation oder der Person zugeschrieben wird. Luhmann bezeichnet ein mentales Modell der Situation, das die Zuschreibung auf die Situation bezieht, als „Erleben“. Und ein mentales Modell, das die Zuschreibung auf die Person bezieht, nennt er „Handeln“. 6
Vgl. Alfred Schütz, Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie, Frankfurt/M. 1974, S. 50f., 74ff.; Talcott Parsons, The Structure of Social Action. A Study in Social Theory with Special Reference to a Group of Recent European Writers, Band 1: Marshall, Pareto, Durkheim, New York und London 1937, S. 44f.; Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/M. 1984, 277ff.
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Die Selektion von „Handlungen“ verläuft laut Luhmann stets über drastische Vereinfachungen in Form von sog. binären Codierungen: external/internal, konstant/variabel, Handeln/Erleben, ego/alter u.a. Er unterscheidet drei sog. Sinndimensionen dieser Vereinfachungen: zeitliche, sachliche oder soziale Codierungen. Darüber kann – und muß – alles Handeln als „Handlung“ markiert und vereinfacht werden, damit es zu sinnhafter Kommunikation, zu einem sozial geregelten Ablauf, zu einem sozialen System überhaupt kommen kann.
In der Tat können durch die Selektion solcher mentaler Modelle und durch die beschriebenen Zuschreibungen als „Erleben“ oder als „Handeln“ soziale Abstimmungen erleichtert und die Kommunikation der Akteure untereinander deutlich reibungsärmer werden: Die Akteure wissen mit den „Handlungen“ jeweils genau, woran sie sind, was jetzt zu erwarten und was zu tun ist – etwa, ob sie selbst für das, was geschieht, die Verantwortung tragen und „handeln“, oder ob sie nur passiv etwas „erleben“, für was sie nichts weiter können. „Handlung“ als „Programm“ des Handelns Die Unterscheidung zwischen Handeln und „Handlung“ als Konzept ist ohne Zweifel eine sinnvolle Angelegenheit. Sie verweist darauf, daß das Handeln, wie wir das in Teil A ausführlich besprochen haben, stets das Ergebnis einer eigenen subjektiven Definition der Situation und der Orientierung an einem sozial geteilten mentalen Modell ist: „Handlungen“ sind die, mitunter normativ verankerten Vorstellungen der Akteure über das Programm ihres Handelns. Sie enthalten Anweisungen über typische Abläufe, typische Projekte und typische Zuschreibungen für den jeweils typischen „Rahmen“, den der Code der betreffenden Situationsdefinition vorgibt. Soziale Rollen und soziale Drehbücher sind nichts anderes als derartige „Handlungen“ und Programme des Handelns für typischerweise definierte Situationen. An ihnen orientieren sich die Akteure im Alltag meist ohne langes Nachdenken – sofern es keine besonderen erkennbaren Abweichungen vom „Programm“ gibt. Die Kultur einer Gesellschaft besteht u.a. aus dem Repertoire solcher „Handlungen“ und Programme des Handelns (vgl. dazu noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“). „Handlung“, Handeln und Interaktion Eine „Handlung“ ist also eine Vorstellung und damit ebenfalls, wie die subjektive Definition der Situation, ein mentales Modell. Sie ist daher auch nicht das sichtbare Handeln selbst. Diese Unterscheidung ist insbesondere wichtig für die Erklärung der oftmals erstaunlich leichten Koordination des gemein-
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Situationslogik und Handeln
samen Tuns von Akteuren bei den sog. Interaktionen (vgl. dazu noch Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“): Nur über sichtbare Hinweise auf solche „Handlungen“ können die Akteure gegenseitig erschließen, woran sie jeweils sind, was der andere jeweils plant und was jetzt sinnvollerweise zu tun ist. Die „Abstützung“ des sozialen Geschehens einer Interaktion geschieht, wenn nicht explizite eigene Hinweise etwa sprachlicher Art vorhanden sind, insbesondere dadurch, daß das sichtbare Handeln von den Akteuren als Anzeichen für bestimmte, immer ja nur innerlich vorgestellte, „Handlungen“ und damit verbundene Situationsdefinitionen gewertet wird: Indem sich die Akteure bei ihrem Tun gegenseitig beobachten, vergewissern sie sich fortwährend, ob ihre Orientierung an einem bestimmten Code der Situation und die Ausführung eines bestimmten Programms des Handelns auch „richtig“ sind. Interaktionen aller Art, sei es als Koorientierung, als symbolische Interaktion oder als Kommunikation, sind nur möglich unter gegenseitiger Beobachtung und so gestützter wechselseitiger Orientierung an den durch das Handeln erkennbaren Spuren der „Handlungen“, die die Akteure jeweils annehmen. Das führt, sofern die wechselseitigen Vermutungen über die „Handlungen“ durch das sichtbare Handeln bestätigt werden, gleichzeitig wieder zur Verfestigung der Vorstellungen, der „Handlungen“ also. Das bei Interaktionen wechselseitig an „Handlungen“ orientierte und gegenseitig beobachtete Handeln konstituiert, wie man sagen könnte, genau die „Handlungen“ immer wieder, auf denen es selbst beruht und an denen es sich selbst wieder abstützt (vgl. dazu noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
6.3
Subjektiver Sinn
Vom Verhalten unterscheidet sich das Handeln vor allem durch den subjektiven Sinn: die Intentionalität des Tuns und die Reflexion gewisser Folgen. „Sinn“ ist ein in der Soziologie häufig gebrauchter Begriff und hat eine ganze Reihe weiterer Bedeutungen. So ist zum Beispiel der semantische Sinn die inhaltliche Bedeutung eines Wortes oder – allgemeiner – eines Zeichens. Der soziale Sinn eines Handelns bezieht sich auf die richtige Beachtung sozialer Regeln. Die subjektiv sinnhafte Ordnung der Welt, insbesondere durch bestimmte Legitimationen, wird als nomischer Sinn verstanden; um ihn geht es bei den Fragen nach dem Sinn des Lebens und dessen eventuellen Verlust. Dann gibt es noch den funktionalen Sinn. Das ist die Funktion, die ein Element in einem Gesamtzusammenhang ausübt, etwa die Unruhe in einer Uhr. Unter objektivem Sinn kann man schließlich die inzwischen, gottlob, fast ganz entschwundene Vorstellung verstehen, daß die Vorgänge der Welt einem irgendwie „objektiven“ Ziel zustrebten und insoweit von einem „objektiven Geist“, einer Vorsehung oder einer geschichtlichen Bestimmung unterlägen, auf die die Menschen keinen weiteren Einfluß hätten. Niklas Luhmann hat dem Begriff des Sinns noch eine ganz ande-
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re Bedeutung gegeben. Danach ist Sinn die Einheit der Differenz von Selektion, Verweisung und Anschluß – wovon auch immer. Sinn kommt – so Luhmann – in diesem Sinne in zwei Formen vor: Als Bewußtsein der psychischen und als Kommunikation der sozialen Systeme. Ihren jeweiligen Sinn produzieren die psychischen und sozialen Systeme in – wie es in der sog. Systemtheorie heißt – wechselseitiger Konstitution und Autopoiese. Wir wollen diese Variante des Begriffs daher als autopoietischen Sinn bezeichnen. Alle diese Varianten sind nicht ohne Sinn. Man sollte nur darauf achten, daß der Begriff des Sinns jeweils einen ganz anderen (semantischen) Sinn haben kann.
Eine der bis heute umstrittensten Fragen ist, ob sich mit Sinn verbundene Vorgänge überhaupt mit Hilfe allgemeiner Kausalgesetze erfassen lassen. Die für die Logik der Selektion nötige Theorie des Handelns müßte ja auch ein kausales Gesetz enthalten. Der subjektive Sinn eines Handelns könne, so heißt es, letztlich nur „verstanden“, nicht aber „erklärt“ werden. Und deshalb sei eine kausale Theorie des Handelns unmöglich. Wäre damit eine erklärende Handlungstheorie hinfällig? Max Weber schon hat die Lösung des Problems geliefert. Er formuliert zwar keine „Theorie“ des Handelns in dem Sinne, daß er ein spezielles Gesetz angibt, dem das Handeln folgt. Gleichwohl hat er die Skizze einer nomologischen Erklärung des mit subjektivem Sinn versehenen Handelns vorgelegt. Im Kern besteht sie aus einer etwas widersprüchlich klingenden Kombination: Die Erklärung eines Handelns ist das Verstehen des kausalen Zusammenhangs zwischen dem subjektiven Sinn und dem betreffenden Handeln. Was aber heißt hier „Verstehen“? Worin besteht der, wie Max Weber sagt, „Sinnzusammenhang“ zwischen dem subjektiven Sinn und dem Handeln? Und was ist eigentlich genau mit dem Begriff des „subjektiven Sinns“ gemeint? Verstehen und Sinnzusammenhang Max Weber hat den Begriff des subjektiven Sinns nirgendwo unmittelbar definiert. Im Anschluß an die Definition des Handelns finden wir auf Seite 1 von „Wirtschaft und Gesellschaft“ nur, daß es um den „subjektiv gemeinten Sinn“ gehe. Gleich darauf verbindet Max Weber das Konzept des subjektiven Sinns aber deutlich mit dem des „Verstehens“: Subjektiven Sinn habe ein Verhalten bzw. dessen Folgen dann, wenn es bzw. die Folgen „verständlich“ sind. Beispielsweise: „Jedes Artefakt, z.B. eine ‚Maschine’, ist lediglich aus dem Sinn deutbar und verständlich, den menschliches Handeln (von möglicherweise sehr verschiedener Zielrichtung) der Herstellung und Verwendung dieses Artefakts verlieh (oder verleihen wollte); ohne Zurückgreifen auf ihn bleibt sie gänzlich unverständlich.“ (Weber 1972, S. 3; Hervorhebung nicht im Original)
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Was aber ist an einem Handeln oder an dessen Folgen, wie an den erwähnten Artefakten, so „verständlich“? Max Weber stellt einen deutlichen Zusammenhang her: „Das Verständliche daran ist ... die Bezogenheit menschlichen Handelns darauf, entweder als „Mittel“ oder als „Zweck“, der dem oder den Handelnden vorschwebte, und woran ihr Handeln orientiert wurde. Nur in diesen Kategorien findet ein Verstehen solcher Objekte statt.“ (Ebd.; Hervorhebungen so nicht im Original)
An einer anderen Stelle sagt er sogar: „Jede denkende Besinnung auf die letzten Elemente sinnvollen Handelns ist zunächst gebunden an die Kategorien ‚Zweck’ und ‚Mittel’.“7
Und schließlich: „Sinnfremd bleiben dagegen alle – belebten, unbelebten, außermenschlichen, menschlichen – Vorgänge oder Zuständlichkeiten ohne gemeinten Sinngehalt, soweit sie nicht in die Beziehung vom „Mittel“ und „Zweck“ zum Handeln treten ... .“ (Weber 1972, S. 3; Hervorhebungen so nicht im Original)
Subjektiven Sinn gewinnt ein Verhalten also dann, wenn es von Erwägungen über Mittel und Zwecke bzw. Ziele geleitet ist, die dem Akteur vorschwebten. Erst dann kann man den Akteur, sein Handeln und die Folgen seines Tuns „verstehen“. Max Weber unterscheidet dabei ein „aktuelles“ vom „motivationsmäßigen“ Verstehen. „Aktuell“ wird ein Handeln schon aufgrund seiner äußerlichen Zusammenhänge verstanden – wie ein „Zornesausbruch, der sich in Gesichtsausdruck, Interjektionen, irrationalen Bewegungen manifestiert“ und damit selbst-„verständlich“ ist. Letztlich geht es aber um das Verstehen der Motive der Akteure: „Wir verstehen (zum Beispiel; HE) das Holzhacken oder Gewehranlegen nicht nur aktuell, sondern auch motivationsmäßig, wenn wir wissen, daß der Holzhacker entweder gegen Lohn oder aber für seinen Eigenbedarf oder zu seiner Erholung (rational), oder etwa, ‚weil er sich eine Erregung abreagierte’ (irrational), oder wenn der Schießende auf Befehl zum Zweck der Hinrichtung oder der Bekämpfung von Feinden (rational) oder aus Rache (affektuell, also in diesem Sinn: irrational) diese Handlung vollzieht.“ (Ebd., S. 4)
Erst dieser Zusammenhang zwischen Motiven, Gründen und dem äußerlich erkennbaren Handeln gibt dem Handeln den verstehbaren subjektiven Sinn, den „Sinnzusammenhang“. Es ist der Schlüssel zur Erklärung des Handlungsgeschehens: 7
Max Weber, Die ‚Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 5. Aufl., hrsg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 1982a (zuerst: 1904), S. 149; Hervorhebungen nicht im Original.
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„All dies sind verständliche Sinnzusammenhänge, deren Verstehen wir als ein Erklären des tatsächlichen Ablaufs des Handelns ansehen. ‚Erklären’ bedeutet also für eine mit dem Sinn des Handelns befaßte Wissenschaft soviel wie: Erfassung des Sinnzusammenhangs, in den, seinem subjektiv gemeinten Sinn nach, ein aktuell verständliches Handeln hineingehört.“ (Ebd.; Hervorhebungen im Original)
Beim Verstehen und der dadurch möglichen Erklärung des Handelns kommt es also auf eine besondere Art der Verbindung zwischen den Elementen Mittel, Zweck bzw. Ziel und der jeweiligen Handlung an. Und nicht jede beliebige Selektion des Verhaltens ist vor dem Hintergrund gegebener Motive und Überzeugungen mit Sinn verbunden: Zum Lohnerwerb wäre beispielsweise das wildwütige Zerhacken von Bäumen in Nachbars Garten aus Rache ebensowenig geeignet und daher sinnvoll, wie das Gewehranlegen anläßlich einer Hinrichtung zur Freizeitbeschäftigung und Erholung des Schützen. Die Evidenz der Zweckrationalität Das motivationale Verstehen des subjektiven Sinns eines Handelns kann also unterschiedliche Grade an Sinn, an Nachvollziehbarkeit, an Evidenz haben: „Menschliches (‚äußeres’ oder ‚inneres’) Verhalten zeigt sowohl Zusammenhänge wie Regelmäßigkeiten des Verlaufs wie alles Geschehen. Was aber, wenigstens im vollen Sinne, nur menschlichem Verhalten eignet, sind Zusammenhänge und Regelmäßigkeiten, deren Ablauf verständlich deutbar ist. Ein durch Deutung gewonnenes ‚Verständnis’ menschlichen Verhaltens enthält zunächst eine spezifische, sehr verschieden große, qualitative ‚Evidenz’.“8
Die für einen deutenden Beobachter gegebene Evidenz eines Verstehens freilich „beweist an sich noch nichts für ihre empirische Gültigkeit.“ (Ebd., S. 428). Ein äußerlich gleiches Sichverhalten kann ja auf ganz unterschiedlichen Motiven und Konstellationen beruhen, deren „verständlich-evidenteste nicht immer auch die wirklich im Spiel gewesene ist.“ (Ebd.) Jedoch: „Das Höchstmaß an ‚Evidenz’ besitzt nun die zweckrationale Deutung.“ (Ebd.; Hervorhebungen nicht im Original).
Was aber wäre eine solche „zweckrationale“ Handlung? Webers Definition: „Zweckrationales Sichverhalten soll ein solches heißen, welches ausschließlich orientiert ist an (subjektiv) als adäquat vorgestellten Mitteln für (subjektiv) eindeutig erfaßte Zwecke.“ (Ebd.; Hervorhebung im Original)
8
Max Weber, Ueber einige Kategorien der verstehenden Soziologie, in: Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 5. Aufl., hrsg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 1982b (zuerst: 1904), S. 427f.; Hervorhebungen so nicht im Original.
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Aus den beiden Eigenschaften der Adäquatheit der Mittel und der Eindeutigkeit der Zwecke (bzw. der Ziele) und aus der Regel, die für die jeweiligen Zwecke jeweils angemessensten Mittel einzusetzen, ergibt sich somit die besondere „Evidenz“ des zweckrationalen Handelns: Gegeben eine eindeutige Rangordnung der Zwecke nach ihrer Wichtigkeit für den Akteur und gegeben eine eindeutige Rangordnung der Mittel nach ihrer angenommenen Adäquanz zur Erfüllung der Zwecke, folgt das Handeln logisch und gegen andere Motive und Gesichtspunkte ganz und gar unwiderstehlich. Die verstehende Erklärung des Handelns Nun kann gut rekonstruiert werden, welche Art von Erklärung und welches Gesetz des Handelns Max Weber im Sinn hatte.9 Der Sinn des Handelns ist zunächst immer ein „subjektiv gemeinter“ Sinn und nicht irgendein „objektiv ‚richtiger’“ oder „metaphysisch ergründeter ‚wahrer’ Sinn“ (vgl. dazu schon Kapitel 2). Bedeutsam sind nur die subjektiven Zielsetzungen und Präferenzen, sowie die subjektiven Überzeugungen und Erwartungen der Akteure, wie diese Ziele und Zwecke mit welchen Mitteln am ehesten zu realisieren wären. Die Orientierung des Handelns an Mitteln und Zwecken in einem Sinnzusammenhang bezieht sich also nicht unbedingt auf objektiv richtige Zusammenhänge – wie eine objektiv richtige Kausaltheorie darüber, wie am effizientesten Holz gehackt oder eine Hinrichtung durch Erschießen vollzogen werde. Kurz: Die Randbedingungen der gesuchten Erklärung beziehen sich auf subjektive Vorstellungen über Mittel und Ziele (vgl. auch noch Abschnitt 6.4). Was aber ist das allgemeine Gesetz, das die subjektiven Vorstellungen der Akteure mit ihrem Handeln in einen „sinnhaften“ Zusammenhang, in einen Sinnzusammenhang also, bringt? Diesem Gesetz kommt man näher, wenn man an ein Kriterium für bessere oder schlechtere, für mehr oder weniger sinnvolle Selektionen denkt – auch wenn die Ziele und die Vorstellungen über geeignete Mittel zur Erreichung dieser Ziele nur subjektiver Art sind. Denn: Sehr sinnvoll wäre es ja nicht gewesen, wenn der Reiter über den Bodensee, so wie er die Situation sah, in weitem Bogen zu dem Gasthaus in der Ferne geritten wäre. Der gerade Weg zum Licht ist allemal der richtige – wenn nichts dagegen spricht. Welches Kriterium also? Max Weber macht auch hier, wenngleich nicht explizit, einen deutlichen Vorschlag: Das Gesetz des Handelns ist die Regel der Orientierung an der „Evidenz“ der „Verständlichkeit“ 9
Vgl. zum Schema einer deduktiv-nomologischen Erklärung und zu den Voraussetzungen einer adäquaten Erklärung: Hartmut Esser, Soziologie. Allgemeine Grundlagen, 3. Aufl., Frankfurt/M. und New York, 1999, Kapitel 4.
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des Handelns. Sie ergibt sich, wenn es ein „rational orientiertes Zweckhandeln“ (Weber 1972, S. 2.; Hervorhebung nicht im Original) ist. Die Selektion eines solchen zweckrationalen Handelns ist dabei bestimmt „ ... durch Erwartungen des Verhaltens von Gegenständen der Außenwelt und von anderen Menschen und unter Benutzung dieser Erwartungen als ‚Bedingungen’ oder als ‚Mittel’ für rational, als Erfolg, erstrebte und abgewogene eigne Zwecke, ...“ (Ebd., S. 12; Hervorhebungen so nicht im Original)
Und sie geschieht in der Weise, daß der Akteur „ ... sein Handeln nach Zweck, Mitteln und Nebenfolgen orientiert und dabei sowohl die Mittel gegen die Zwecke, wie die Zwecke gegen die Nebenfolgen, wie endlich auch die verschiedenen möglichen Zwecke gegeneinander rational abwägt.“ (Ebd., S. 13; Hervorhebung im Original)
Subjektiven Sinn gewinnt ein Tun also durch eine optimierende Auswahl zwischen verschiedenen Alternativen zur Verwirklichung hoch bewerteter Ziele bzw. Zwecke nach Maßgabe von Erwartungen über die Tauglichkeit bestimmter Mittel und über die Konsequenzen der verschiedenen denkbaren Alternativen. Das Prinzip der Handlungswahl nach den Regeln der Zweckrationalität ist das allgemeine Gesetz, das, zusammen mit den subjektiven Erwartungen und Bewertungen über Ziele und Mittel, das Handeln erklärt – und es dadurch gleichzeitig mit einer hohen „Evidenz“ verständlich macht. Die zweckrationale „Logik“ der Situation Der zwanglose Zwang dieser Logik des zweckrationalen Handelns macht das Handeln gerade dann besonders folgerichtig, wenn die Verbindungen zwischen den Zwecken und den dafür geeigneten Mitteln in der Situation transparent, deutlich und somit „evident“ gegeben sind. So hätte ein forschender Hochschullehrer kaum eine Wahl, sich sonderlich um die lokalen Angelegenheiten seiner Hochschule zu kümmern. Und ein bisher nur in den Gremien intrigierender Professor wäre sehr schlecht beraten, es mit einem Male mit dem Schreiben von Aufsätzen und Büchern und mit dem Besuch von Konferenzen zu versuchen. Es wäre die blanke Unvernunft. Und niemand, der sich in einer entsprechenden Situation befindet, könnte sich freiwillig dieser zwingenden Logik der Vernunft entziehen – wenn er alle Tassen im Schrank hat (vgl. dazu noch Kapitel 10 über die „Logik“ der Situation).
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Die Zweckrationalität als Basishypothese Max Weber ist weit davon entfernt, andere als zweckrational bedingte Umstände und etwa „religiöse und karitative Virtuosenleistungen“, „extrem rationalistische Fanatismen“ oder „aktuelle Affekte (Angst, Zorn, Ehrgeiz, Neid, Eifersucht, Liebe, Begeisterung, Stolz, Rachedurst, Pietät, Hingabe, Begierden aller Art)“ zu ignorieren (vgl. dazu noch Abschnitt 6.7). Sollen die Erklärungen der Soziologie aber „das Höchstmaß an Evidenz“ aufweisen, dann müssen sie nach Max Weber zunächst unter der Hypothese des „rational orientierten Zweckhandelns“ aufgebaut werden. Das Konstrukt der Zweckrationalität führt Weber also nicht in erster Linie als empirische Hypothese für eine allgemeine Logik der Selektion des Handelns ein, sondern in mehr methodischer Absicht: Das zweckrationale Handeln dient ihm als eine Art von Null-Hypothese, als Baseline-Modell für eine ganz bestimmte typisierende Modellierung sozialer Prozesse: „Für die typenbildende wissenschaftliche Betrachtung werden nun alle irrationalen, affektuell bedingten, Sinnzusammenhänge des Sichverhaltens, die das Handeln beeinflussen, am übersehbarsten als ‚Ablenkungen’ von einem konstruierten rein zweckrationalen Verlauf desselben erforscht und dargestellt. Z. B. wird bei einer Erklärung einer ‚Börsenpanik’ zweckmäßigerweise zunächst festgestellt: wie ohne Beeinflussung durch irrationale Affekte das Handeln abgelaufen wäre, und dann werden jene irrationalen Komponenten als ‚Störungen’ eingetragen.“ (Weber 1972, S. 2; Hervorhebungen im Original)
Max Weber läßt damit offen, ob das Handeln empirisch tatsächlich zweckrational verläuft oder nicht. Es geht ihm zunächst nur um eine erste Modellierung sozialer Prozesse. Genau dies ist auch das Vorgehen bei einer soziologischen Erklärung nach dem Prinzip der abnehmenden Abstraktion: Gelingt die Erklärung schon auf dieser ersten Stufe der einfachen zweckrationalen Verständlichkeit, dann ist das Ziel schon erreicht. Eine solche erste Erklärung über die Basishypothese der Zweckrationalität hätte eine Reihe von Vorzügen: Die Akteure und ihr Handeln können mit einem Höchstmaß an Evidenz verstanden werden. Und mit der Anwendung der Selektionsregel der Zweckrationalität ist das in seinem subjektiven Sinn verstandene Handeln gleichzeitig „ursächlich“ erklärt. Was will man mehr? Probleme gibt es erst, wenn ein solches zweckrationales erklärendes Verstehen nicht gelingt. Aber auch dann sollte man nicht allzu vorschnell annehmen, daß die Menschen halt eben verrückt geworden seien.
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Die Logik des Handelns
Wie sieht nun aber die Logik der verstehend-nomologischen Erklärung eines mit subjektivem Sinn versehenen zweckrationalen Handelns genau aus? Und wie kann man diese Erklärung mit dem Hempel-Oppenheim-Schema in Verbindung bringen? Dazu ein Beispiel, von dem man wenigstens auf den ersten Blick nicht sagen möchte, daß es für den Zweck der Demonstration der Handlungserklärung über das Konzept der Zweckrationalität besonders geeignet wäre. Hitler und sein Krieg gegen die USA Im Kriegstagebuch des Wehrmachtführungsstabes für den 6. Dezember 1941 ist die folgende Passage zu lesen: „Als die Katastrophe des Winters 1941/42 hereinbrach, wurde dem Führer ... klar, daß von diesem Kulminationspunkt ... an kein Sieg mehr errungen werden konnte.“
Am 11. Dezember – also fünf Tage nach dieser Eintragung – erklärt Hitler den USA den Krieg. War Hitler verrückt? Wir folgen mit dieser Frage und mit dem Versuch einer Antwort darauf der Analyse von Sebastian Haffner.10 Haffner prüft zunächst verschiedene Alternativen. War die Kriegserklärung an die USA ein Akt der Nibelungentreue zu Japan, das ja gerade erst den Angriff auf Pearl Harbor unternommen hatte, und mit dem das Deutsche Reich zusammen mit Italien im sog. Dreierpakt verbunden war? Dagegen spricht, daß der Dreierpakt ein reines Defensivbündnis war, daß Japan dem deutschen Überfall auf Rußland nur kaltlächelnd und abwartend zugesehen hatte, und daß Hitler – aus nur allzu bekannten anderen Gründen – Japan gegenüber sicher keine sentimentalen Gefühle von besonderer ethnischer Anhänglichkeit entgegenbrachte. War es ein „verkleideter Hilferuf“ (150) an die Westmächte angesichts der Einsicht Hitlers, daß nach der Niederlage vor Moskau „kein Sieg mehr errungen werden konnte“? Dagegen spricht das spätere Verhalten Hitlers als es darum geht, von welcher Seite er den „Todesstreich“ erhalten wollte: „lieber im Westen oder im Osten“ (150). Er startet die Ardennenoffensive noch im Winter 1944/45 – und lädt gerade dadurch die Rote Armee zur großen Endoffensive im Januar 1945 ein. Auch gegen die Hypothese, durch die Einbeziehung der USA in den bereits verlorenen Krieg den damals durchaus schon erkennbaren Ost-West-Gegensatz zu verschärfen und für seine Zwecke auszunutzen, spricht alles: Hitler hat die – latent immer vorhandenen – Gegensätze zwischen den Alliierten nie selbst verstärkt, etwa durch Versuche eines Sonderfriedens mit Rußland, der 1942, ja selbst 1943 immer noch möglich gewesen wäre.
10
Sebastian Haffner, Anmerkungen zu Hitler, München 1978, S. 147ff. Das obige Zitat aus dem Kriegstagebuch ist dem Buch von Sebastian Haffner entnommen. Die folgenden Seitenangaben in Klammern beziehen sich auf das Buch von Haffner.
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Situationslogik und Handeln
Man ist mit Sebastian Haffner bei der Suche nach den Motiven für diesen „unerklärteste der (militärisch-strategischen; HE) Fehler“ (147), für diesen „Wahnsinnsakt“ (148) also auf Vermutungen angewiesen. Hitler selbst hat sich zu seinen Gründen für die Kriegserklärung an die USA nicht geäußert: Es war, wie Sebastian Haffner schreibt, nicht nur der seltsamste, sondern „ ... auch der einsamste seiner einsamen Entschlüsse“ (152). Was also war der Grund? Sebastian Haffner entwickelt die folgende Hypothese: Hitlers Lebensziel war es, als der Größte in die Geschichte einzugehen. Entweder als „größter Eroberer und Triumphator“ oder, wenn dies sich als unmöglich erweisen sollte, „wenigstens als der Architekt der größten Katastrophe“ (153). Der größte Triumphator kann er, das sieht er selbst ein, nach der Niederlage vor Moskau nicht mehr werden, wohl aber immer noch der größte Destruktor. Und dann war die Kriegserklärung an die USA nur folgerichtig – aus der Sicht Hitlers, wie Sebastian Haffner sie annimmt. Das Vorgehen Wie ist Sebastian Haffner vorgegangen? Er versucht ganz offenkundig ein deutendes Verstehen der subjektiven Ziele und der wahrgenommenen Möglichkeiten des interessierenden Akteurs, um damit den Ablauf – und letztlich auch die schrecklichen Wirkungen – von dessen zunächst ganz und gar unverständlich erscheinendem Handeln ursächlich zu erklären. Dabei werden zunächst verschiedene, auch schon plausibel scheinende Hypothesen geprüft. Erstens werden mögliche Ziele erwogen. Sebastian Haffner macht es sich hier zwar vielleicht etwas einfach, weil Hitler sicher auch andere – unmenschliche und verbrecherische – Lebensziele hatte. Aber für den Entschluß zur Kriegserklärung an die USA waren diese anderen Beweggründe – seine Rassenvorstellungen insbesondere – wohl tatsächlich nicht besonders relevant. Zweitens werden Überlegungen über möglich erscheinende Mittel angestellt: Was ist das beste erreichbare Zwischenziel, das es erlaubt, dem eigentlich interessierenden grundlegenden Ziel – der Größte aller Zeiten zu werden – am nächsten zu kommen? Zwei solche Zwischenziele erscheinen möglich: totaler Sieg oder totale Niederlage. Alles andere ist mit dem Ziel, der Größte der Geschichte zu werden, aufgrund der subjektiven Überzeugungen Hitlers nicht vereinbar. Schließlich wendet Haffner, allerdings sehr implizit, auch eine Art von Deduktionsregel an, eine allgemeine Logik für die Erklärung von Hitlers speziellem Handeln: Was wird ein beliebiger Akteur tun, wenn – das Ziel gegeben – beide Zwischenziele gleichermaßen erreichbar scheinen – wie nach dem Sieg
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im Frankreichfeldzug und in den ersten Monaten des Überfalls auf Rußland? Die Antwort: Er wählt die aus seiner Sicht attraktivere Alternative. Und das ist ohne Zweifel der totale Sieg. Was wird ein beliebiger Akteur aber tun, wenn er erkennen muß, daß die attraktivere Lösung unmöglich geworden ist? Genau. Er wird nicht die – nun unerreichbare – beste, sondern die nächste erreichbare, die second best Lösung gegenüber jeder noch schlechteren Alternative wählen. Kurz: Gegeben die subjektiven Ziele und gegeben die Umstände und das subjektive Wissen des Akteurs, so folgt das Handeln auch bei ganz verrückten Zielen und auch bei falschem Wissen „logisch“ aus der allgemeinen Regel der zweckrationalen Optimierung der Mittel zur Erreichung der Ziele. Rationale Erklärung Aus den subjektiven Zielen, aus den vom Akteur eingeschätzten Mitteln und aus der Deduktionsregel ergibt sich also die Erklärung der „Wahnsinnstat“ der Kriegserklärung an die USA. Hitler hat – so muß man es schon sehen – auf eine zunächst unbegreifliche, jetzt aber nachvollziehbare und dann sogar auch evident „verständliche“ und folgerichtige Weise – „rational“ gehandelt, als er den USA den Krieg erklärte – obwohl dies nach außen ganz anders aussieht. Das Vorgehen ist eine spezielle Art der „objektiven“ Hermeneutik: Der Soziologe oder der Historiker versucht, die objektiv vorliegenden subjektiven Ziele und Mittel des Akteurs objektiv richtig zu rekonstruieren und daraus dann das Handeln nach einer bestimmten logischen Regel, die der Akteur anwendet, deduktiv abzuleiten. Das Verfahren beruht – wenn man so sagen will – auf der Beachtung der „Hermeneutik der natürlichen Lebenswelt“, in der sich die Akteure befinden, und ihrer persönlichen Biographie und Identität – und der Anwendung eines Gesetzes, was sie auf dieser Grundlage „logischerweise“ tun werden. Und dies ist nichts anderes als das Verstehen der Akteure durch die Erklärung ihres Handelns (vgl. dazu auch noch den folgenden Abschnitt 6.5 über die sog. doppelte Hermeneutik). Logo.
Dabei ist es vollkommen gleichgültig, wie die Bedingungen des Handelns, wie die Inhalte der jeweiligen „Hermeneutik der natürlichen Lebenswelt“ aussehen. Das richtige Verstehen und die korrekte Erklärung auch einer zunächst unbegreiflichen Handlung bemißt sich also nicht an dem Inhalt der Ziele, auch nicht an der Objektivität des Wissens. Sondern einzig daran, ob der Akteur bei gegebenen Zielen und bei gegebenem Wissen seine Entscheidung nach einer bestimmten Logik fällt. Maßgebend für den Sinn und für die Rationalität des Handelns ist also allein die Art der Regeln, die Logik, der die Selektion des Handelns folgt. Wenn von subjektiver Rationalität, von der subjektiven Vernunft, vom subjektiven Sinn des Handelns die Rede ist, wird also nur behauptet: Gegeben be-
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Situationslogik und Handeln
stimmte subjektive Zielsetzungen und gegeben bestimmte subjektive „Theorien“ über die Verbindung der Handlungen zu gegebenen Zielen, folgt die Auswahl der Handlung immer den objektiven Regeln der Rationalität. Es kann daher ohne weiteres ein „rationales“ Handeln bezogen auf die Logik der Selektion geben – bei vollkommen irrationalen oder a-rationalen Vorstellungen, Weltbildern und Alltagstheorien der Akteure bezogen auf den Inhalt dieser Bedingungen (vgl. dazu noch Abschnitt 6.6, sowie Kapitel 8 über die Logik der subjektiven Vernunft, insbesondere Abschnitt 8.4 ausführlich). Wolfgang Stegmüller drückt diese, manchmal etwa verwirrende, aber leicht auflösbare Paradoxie der sog. rationalen Erklärungen so aus: „Die Überzeugungen eines Handelnden können uns als gänzlich unsinnig erscheinen, ebenso seine Zielsetzung; trotzdem kann seine Tätigkeit vernünftig sein, wenn wir diese beiden motivierenden Faktoren als gegebene Daten betrachten. Eine Erklärung, in welcher der Nachweis erbracht wird, daß die Tätigkeit eines Menschen eine in diesem Sinn vernünftige Handlung darstellte, bildet eine rationale Erklärung.“11
Genau. So ist es. Selbst bei Hitler. Das Grundmodell der Handlungslogik Wir wollen das Vorgehen und die Bestandteile einer rationalen Erklärung des Handelns von Menschen nun etwas stärker systematisieren und in der Sprache des Hempel-Oppenheim-Schemas der nomologischen Erklärung rekonstruieren. Erklärt werden soll das Auftreten einer bestimmten Handlung bei einem Akteur i. Die Handlung von i sei mit Hi gekennzeichnet. Hi ist also das Explanandum der gesuchten Erklärung. Zunächst benötigt die Erklärung eine singuläre Aussage über die Ziele des Akteurs i. In den Zielen sind die Bewertungen von Situationen, die Präferenzen, die Motive des Akteurs also, zusammengefaßt. Formal: Zi. Dann wird angenommen, daß der Akteur eine Art von „Theorie“ darüber besitzt, auf welche Weise er das Ziel erreichen kann. Etwa: „Für das Ziel Z ist eine Handlung H erforderlich“. Diese „Theorie“ des Akteurs ist sein subjektiver Glaube über die Verhältnisse in der Welt. Sie repräsentiert die Erwartungen des Akteurs i und besteht aus lauter subjektiven Kausalhypothesen des Akteurs i über die vermutete Wirksamkeit seines Tuns. Formal: (Z H)i. 11
Wolfgang Stegmüller, Rationale Erklärung, in: Wolfgang Stegmüller, Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie, Band 1: Wissenschaftliche Erklärung und Begründung, Berlin, Heidelberg und New York 1969, S. 379; Hervorhebungen so nicht im Original.
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Aus den Zielen und deren Bewertungen und aus den Erwartungen über ein geeignetes Handeln allein läßt sich aber das Handeln noch nicht ableiten. Es muß auch eine Verbindung – welcher Art auch immer – zwischen den Zielen und dem Handeln aufgrund der Bewertungen und der Erwartungen geben. Diese Verbindung ist der Kern jedes Gesetzes und damit jeder Erklärung. Solche Verbindungen gehen immer über die bloße Beschreibung der Bedingungen und der Situation hinaus. Erst wenn – an irgendeiner Stelle – eine solche funktionale oder kausale Verbindung genannt wird, ist es erlaubt, von einer Theorie zu sprechen. Jede Handlungs-Theorie muß daher sagen, wie sie diese Verbindung herstellen möchte. Mit Andeutungen ist es dabei ebensowenig getan wie mit phänomenologischen Beschreibungen oder der alleinigen Benennung der Bedingungen, des Typus oder der Dimensionen des Handelns. Die von einem Akteur subjektiv geglaubte Verbindung zwischen den Zielen und den dazu nötigen Handlungen als Mittel kann man als ein allgemeines Gesetz über die psychische Verursachung des Handelns formulieren. Etwa: Für alle Exemplare des homo sapiens gilt: Immer wenn eine (beliebige) Person glaubt, daß zur Erreichung eines Zieles Z die Handlung H notwendig ist, und wenn diese Person das Ziel Z hat, dann handelt die Person gemäß H. Dies klingt alles komplizierter als es ist. Formal lautet das Gesetz in der Sprache der Logik12 dann so: (Z ^ (Z H)) H. Nach den Regeln des Hempel-Oppenheim-Schemas der Erklärung ist ein Explanandum dann erklärt, wenn es logisch aus den Randbedingungen und einem Gesetz ableitbar ist. Für die Erklärung des Handelns hieße dies: Hi müßte sich aus den Zielen Zi und der „Alltagstheorie“ (Z H)i als den Randbedingungen sowie aus dem Gesetz (Z ^ (Z H)) H ableiten lassen. Und so ist es tatsächlich auch – wie sich der Leser gerne selbst mit Hilfe seiner ohne Zweifel vorhandenen Kenntnisse der Aussagenlogik überzeugen möchte (vgl. Abbildung 6.1):
12
Das Zeichen ^ heißt in der Notation der sog. Aussagenlogik „und“ und das Zeichen heißt „wenn ... , dann ...“.
206
Situationslogik und Handeln
Gesetz:
(Z ^ (Z H)) H
Randbedingungen: Ziele von i Alltagstheorien von i
Zi (Z H)i
Explanandum: Abb. 6.1:
Hi
Das Grundschema der Handlungslogik
Das Handeln erklärt sich mit dieser Logik formal also ganz genau so, wie auch die Fallgeschwindigkeit eines Steines erklärt würde. Als Erklärung enthält das Schema alle wichtigen Bestandteile: Ein Explanandum, Randbedingungen und ein Gesetz. Die Erklärung erscheint nur etwas komplizierter, weil als Teil des objektiven Gesetzes des Handelns eine subjektive Komponente vorkommt. Bei Steinen gibt es diese Komplikation nicht. Steine folgen, so weit wir das wissen, nur der äußeren Kausalität des Fallgesetzes, Menschen dagegen der Logik ihrer subjektiven Ziele und inneren Überzeugungen – unter anderem. Und genau darin besteht der subjektive Sinn, der ihr Verhalten zu einem Handeln macht. Interpretation und Erklärung Insoweit entspricht die Erklärung des Handelns formal vollkommen der gleichen Grundlogik, wie sie auch für die Erklärungen in den Naturwissenschaften gilt. Es gibt aber gleichwohl einen folgenreichen Unterschied zu den naturwissenschaftlichen Erklärungen: Das Handeln bedeutet den Akteuren etwas – sie führen es aus, „um“ bestimmte Ziele „zu“ erreichen. Die Grundlage des Tuns sind subjektive Vorstellungen und Gründe ihres Tuns. Steine und Moleküle bewegen sich – vermutlich – ohne dies. Und deshalb muß der Naturwissenschafter sich nicht darum kümmern, wie Steine oder Moleküle die Welt oder den Wissenschaftler sehen, der Theorien über sie anfertigt, der Sozialwissenschaftler dagegen sehr wohl. Dies ist die bereits mehrfach betonte Besonderheit der Sozialwissenschaften gegenüber allen „Natur“-Wissenschaften: ihre interpretative Dimension.
Handeln
207
Max Weber hatte von der Verständlichkeit als der Besonderheit menschlicher Artefakte deswegen gesprochen, weil sie die Folge des sinnhaften Handelns der Menschen seien. Einen ganz ähnlichen Gedanken drückt Alfred Schütz so aus: „Die in der Weise des Naturwissenschaftlers erforschte Welt der Natur ‚bedeutet’ den Molekülen, Atomen und Elektronen gar nichts. Das Beobachtungsfeld des Sozialwissenschaftlers, also die soziale Wirklichkeit, hat dagegen eine besondere Bedeutung und Relevanzstruktur für die in ihr lebenden, handelnden und denkenden menschlichen Wesen. Sie haben diese Welt, in der sie die Wirklichkeit ihres täglichen Lebens erfahren, in einer Folge von Konstruktionen des Alltagsverstands bereits vorher ausgesucht und interpretiert. Diese ihre eigenen gedanklichen Gegenstände bestimmen ihr Verhalten, indem sie es motivieren.“13
Obwohl eine Erklärung des Handelns also ohne Zweifel subjektive Elemente – Ziele und Wissen in den Randbedingungen – enthalten muß, handelt es sich aber gleichwohl um eine objektive und kausale Erklärung. Um sich von dieser sog. „Dialektik“ der Objektivität und Subjektivität des Handelns nicht verwirren zu lassen, muß man gut verstanden haben, daß in der Erklärung ein „Gesetz“ an zwei verschiedenen Stellen und mit einer gänzlich unterschiedlichen Bedeutung vorkommt. Nämlich: Einmal gibt es die Alltagstheorien und die „Gesetze“, die die Akteure selbst subjektiv für wahr halten. Im Beispiel war das: Z H. Dieses Gesetz muß keinesfalls tatsächlich objektiv richtig sein. Menschen handeln auch mit falschem Wissen folgerichtig und subjektiv rational. Und es gibt das Gesetz, das die ausgeführte Handlung objektiv erklärt: (Z ^ (Z H)) H. Dieses Gesetz enthält das vom Akteur subjektiv für wahr gehaltene Gesetz. Es muß selbst aber objektiv wahr sein und empirisch zutreffen. Dieses Gesetz wendet nur der Sozialwissenschaftler an. Den Akteuren kann es vollkommen unbekannt oder gleichgültig sein. Oder kannten Sie dieses Gesetz etwa bisher schon, von dem auch Ihr Handeln objektiv und kausal bestimmt ist?
Rationale Erklärungen beruhen daher zwingend auf dem Wissen, den Motiven und den Interpretationen der Akteure – und nicht auf den Annahmen der Wissenschaftler darüber, was „objektiv“ richtig gewesen wäre. Andererseits muß aber die angewandte Handlungstheorie, nach der sich die Akteure gemäß ihren subjektiven Vorstellungen rational verhalten, objektiv richtig sein. Und das müssen die Wissenschaftler herausfinden. Anders gesagt: Dem Akteur wird die Rationalität bei der Prozedur und den Regeln seiner Entscheidung, nicht aber die Rationalität in der Substanz und Form seiner Motive und seines Wissens unterstellt.
13
Alfred Schütz, Begriffs- und Theoriebildung in den Sozialwissenschaften, in: Alfred Schütz, Gesammelte Aufsätze, Band 1: Das Problem der sozialen Wirklichkeit, Den Haag 1971b, S. 68; Hervorhebungen so nicht im Original.
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Situationslogik und Handeln
Selbstverständlich kann man sich fragen, ob das oben vorgeschlagene Gesetz der Selektion des Handelns korrekt ist. Das ist hier aber auch nicht das Problem. Leicht könnte man weitere Einzelheiten einfügen, die vermutlich für das Handeln der Menschen bedeutsam sind: die Berücksichtigung der Kosten des Handelns, des „Korridors“ der Alternativen und Möglichkeiten, mehrere Ziele und eine eventuelle Rangordnung, die Existenz von Konflikten zwischen verschiedenen, ähnlich attraktiv oder aversiv empfundenen Varianten, Unsicherheiten und Risiken in den Erwartungen, sowie daß das Gesetz des rationalen Handelns vielleicht nur probabilistisch gilt und die Menschen manchmal nicht genau dem folgen, was logisch eigentlich geboten wäre. Auch wird nichts darüber gesagt, daß das Handeln tatsächlich die Folgen hat, die die Akteure erwarten.
Immer wird aber der gleiche Grundsatz angenommen: daß – von solchen zufälligen Fehlern einmal abgesehen – die Menschen in dem geschilderten Sinne subjektiv rational handelnde Akteure sind. Und dies trifft auch zu, wenn sich herausstellt, daß sie sich in ihren Überlegungen gründlich geirrt haben und vielleicht schon die eigentlichen Pläne gar nicht umsetzen konnten. Historische Erklärungen Die verstehende Erklärung des Handelns über die Unterstellung der subjektiven Rationalität der Akteure ist für die Historiker eine selbstverständliche Technik. Sie wird von ihnen manchmal sogar hypothesentestend und „konfirmatorisch“ angewandt. Wenn sich etwa ein Potentat etwas eigenartig verhalten hat, dann kann man auf der Grundlage der Logik der subjektiven Vernunft Hypothesen über Situationsbedingungen gezielt entwickeln, die dieses zunächst unverständliche Handeln verständlich zu machen vermögen. Erklärt zum Beispiel nur die Existenz einer bisher verborgen gebliebenen Mätresse, warum König Y den Krieg K nicht begonnen hat, obwohl er es nach Lage der Dinge hätte tun müssen, dann kann ein Historiker gezielt auf Quellensuche gehen und nach der – sozusagen – theoretisch implizierten Mätresse fahnden. Findet er sie, dann ist das großer Triumph seiner Hypothesen und der Theorie des subjektiv rationalen Handelns. Findet er sie nicht, muß weiter gesucht werden. Findet er sie immer noch nicht, wird wohl zuerst die Hypothese von der Mätresse fallen gelassen werden und eine Änderung in den angenommenen Randbedingungen vorgenommen. Vielleicht hat ihm seine Mutter den Krieg ausgeredet. Aber lassen sich dafür Quellen finden? Wenn ja: Wieder Triumph. Wenn nein: Wieder Probleme und neue Hypothesen und neue Suche nach Quellen. Und so weiter. Erst zu allerletzt allerdings würde der Historiker das Gesetz des subjektiv rationalen Handelns für König Y anzweifeln.
Ganz ähnlich würde im übrigen auch ein Naturwissenschaftler vorgehen, der mit Hilfe von gravitationstheoretischen Überlegungen nach einem verborgenen Planeten sucht und ihn wieder und wieder nicht findet. Auch er würde die Gravitationstheorie nicht bereits deshalb aufgeben, weil die vermutete kosmische Staubwolke, die die Anomalie der Bewegungen seines Planeten erklären würde, nicht sofort verifiziert werden kann.
Handeln
209
Gründe und Ursachen Einen Teil der Verwirrungen über die Möglichkeiten einer verstehenden Erklärung des Handelns haben die Soziologen von einem Streit unter Philosophen übernommen. Es hat in der Philosophie einen langen Disput darüber gegeben, ob es sich bei der Logik der subjektiven Vernunft um ein empirisches, kausales Gesetz handele oder nicht.14 Zwei Argumente wurden vorgebracht. Das erste meinte, daß es sich deshalb nicht um eine kausale Erklärung handeln könne, weil das Handeln und die intentionalen „Um-zu-Motive“ ja auf die Zukunft gerichtet seien, und daß ja – bekanntlich – Kausalgesetze nur „von hinten“ wirken könnten. Dies war die These von der materialen Teleologie des Handelns. Danach könne es keine kausale Erklärung des intentionalen, zielgerichteten Handelns geben. Der Denkfehler ist leicht zu sehen. Er wurde bereits von C. J. Ducasse im Jahre 1925 aufgedeckt: Das „Handeln“ selbst strebt ja nicht auf ein Ziel in der Zukunft und es wird auch durch das Ziel nicht kausal bewegt. Es wird vielmehr durch Gründe des Akteurs motiviert, die jetzt vorliegen und somit durchaus und ohne jede metaphysische Verrenkung eine Ursache für das Handeln in Bezug auf ein zukünftig eventuell verwirklichtes Ziel sein können. Im Schema der Handlungserklärung wird dies sehr deutlich: Die Motive und die Alltagstheorien der Akteure liegen zeitlich stets vor der Handlungsentscheidung und – erst recht – vor der Ausführung des Handelns und der Zielverwirklichung. Sie wirken daher leicht einsehbar nach allen Regeln der Kunst kausal. Das zweite Argument stammt von dem Historiker William Dray.15 Zunächst kann man Dray leicht folgen: Wir verstehen ein Handeln dann, wenn wir die subjektiven Gründe des Akteurs kennen und die rationale Logik der Handlungsentscheidung unterstellen. Aber diese Gründe – so Dray – sind eigentlich keine Ursachen, sondern praktische Gründe. Das heißt, es sind Gründe, die ein Akteur auf Nachfragen rechtfertigen könnte. Genauer: Es sind „gute“ Gründe, in denen normativ ausgesprochen ist, was „zu tun war“, wenn der Akteur die Möglichkeiten gehabt hätte, um alle bedeutsamen Umstände zu bedenken. Eine „rationale Erklärung“ – so Dray weiter – liefert damit Hinweise auf die objektive Begründbarkeit und auf die normative Rechtfertigung von Handlungen. Und die Ergebnisse einer solchen „rationalen Erklärung“ könne man nutzen, um eventuelle Abweichungen der „empirischen“ von den „guten“
14
Vgl. dazu die zusammenfassende Darstellung bei Stegmüller 1969, Kapitel VI und Kapitel VIII, Abschnitt 3; vgl. insbesondere die Diskussion des sog. praktischen Syllogismus bei Georg Henrik von Wright, Erklären und Verstehen, Frankfurt/M. 1974, S. 89ff.
15
William H. Dray, Laws and Explanation in History, London 1957, S. 122ff.
210
Situationslogik und Handeln
Gründen, des tatsächlichen von dem „richtigen“ Handeln festzustellen – und seinerseits zu erklären zu versuchen. Auch hier ist der Irrtum leicht zu sehen: Die Logik der subjektiven Vernunft ist keine normative, sondern eine empirische Gesetzmäßigkeit, die auch falsch sein könnte. Dray verwechselt offenbar die Konstruktion eines normativ gedachten Baseline-Modells der subjektiven Zweckrationalität mit der empirischen Erklärung des Handelns über die subjektiven Gründe. Nichts ist selbstverständlich gegen die Konstruktion von zweckrationalen Vergleichsmodellen zu sagen. Daß deren Vorhersagen sich vom tatsächlichen Handeln sehr unterscheiden können und daß gleichwohl die Logik der subjektiven Vernunft als empirisches Kausalgesetz angenommen werden kann, haben wir oben aber bereits gesehen. Außerdem: Eine normative Rechtfertigung ist durch keine Anwendung eines empirischen Gesetzes und durch keinen Verweis darauf möglich, daß „eigentlich“ der Akteur die Situation anders sehen müßte. Diese – leicht vermeidbare – Verwechslung einer normativen mit der empirischen Interpretation der rationalen Erklärung ist keineswegs ausgestorben. Das prominenteste neuere Beispiel in der Soziologie findet sich bei Jürgen Habermas, der sich in der „Theorie des kommunikativen Handelns“ – und in seinem philosophischen Leben davor und danach – gerade damit abmüht, zu zeigen, daß bestimmte Arten von Handlungen – das „kommunikative Handeln“ beispielsweise – von der Rechtfertigung der Gründe für das Handeln abhängen und – darüber hinaus – daß eine solche Rechtfertigung auch in sogar universaler Weise möglich ist: über den herrschaftsfreien Diskurs (vgl. dazu auch noch Abschnitt 6.8).
Wir müssen diesen Streitigkeiten nicht weiter nachgehen. Teils beruhen sie ja auf einfachen Denkfehlern, teils werden sozialphilosophische, normative Rechtfertigungen gesucht, wo nur empirische Feststellungen und nomologische Erklärungen möglich und nötig sind. Die erklärende Soziologie macht keine Denkfehler und ist an Sozialphilosophie nicht weiter interessiert. Daher werden wir diese Versuche und Streitigkeiten über eine objektivierbare Moral auf sich beruhen lassen. Sie sind für die Ziele und Möglichkeiten der soziologischen Erklärungen ohnehin bedeutungslos.
6.5
Doppelte Hermeneutik
Das sinnhafte Handeln der Menschen ist ein Verhalten, das den subjektiven Bewertungen und Erwartungen der Akteure nach der Logik der rationalen Erklärung folgt. Das Gesetz des Handelns enthält dabei zwei verschiedene Arten von „Theorien“: die subjektiven Theorien der Akteure, die als das Wissen der Alltagsmenschen in die Randbedingungen der rationalen Erklärung eingehen. Und die – ihrem Anspruch nach jedenfalls – objektive Theorie des rationalen
Handeln
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Handelns, die der Sozialwissenschaftler auf das zu erklärende Handeln unter Benutzung der subjektiven Theorien des Alltagsmenschen anwendet. Den Gedanken, daß soziologische Analysen immer auf diesen beiden Konstruktionen beruhen, hat Alfred Schütz mit einer wichtigen Unterscheidung betont: die Differenz zwischen den – wie er sie nennt – Konstruktionen erster Ordnung und den Konstruktionen zweiter Ordnung.16 Die Konstruktionen erster Ordnung sind die subjektiven Vorstellungen, die Motive, die „Sinn- und Relevanzstrukturen“, so wie sie den Akteuren in ihrer alltäglichen Lebenswelt gegeben und selbstverständlich sind. Danach richten sie ihr Handeln aus. Und zwar nach den Regeln der Vernunft – eine Vernunft freilich relativ zu dem Wissen, den Zielen und den angenommenen Möglichkeiten des Alltagshandelns. Das von Sebastian Haffner geschilderte Beispiel betraf die Konstruktionen erster Ordnung von Hitler bei seinen Entscheidungen. Davon streng zu unterscheiden sind die Konstruktionen zweiter Ordnung: Modelle des Handelns, die sich ein Wissenschaftler, meist in Kontakt und Interaktion mit anderen Wissenschaftlern, toten und lebendigen, macht, um damit bestimmte idealisierte Erklärungen zu versuchen. Ein solches Modell wäre etwa das des perfekt informierten homo oeconomicus der Ökonomen, auch das hier vorgeschlagene Modell des subjektiv rationalen Handelns nach Max Weber, oder das des ausschließlich an Normen orientierten homo sociologicus der meisten Soziologen.
Alfred Schütz hat vor allem darauf bestanden, daß die Konstruktionen zweiter Ordnung der Sozialwissenschaften über den systematischen Einbezug der Konstruktionen erster Ordnung, der Modelle und Theorien der Alltagsmenschen also, erfolgen müßten. Dabei können durchaus auch Vereinfachungen und Typisierungen vorgenommen werden. Schütz spricht sogar von Puppen, die sich der Sozialwissenschaftler für seine Analysen herstellen müßte: „Es ist eine der hervorragenden Leistungen der modernen Sozialwissenschaften, die Mittel beschrieben zu haben, mit denen die Sozialwissenschaftler ihre Begriffs-Schemen aufbauen, und es ist das große Verdienst von Durkheim, Pareto, Marshall, Veblen und vor allem Max Weber, diese Technik in ihrer Fülle und Klarheit entwickelt zu haben. Diese Technik besteht darin, daß man die Menschenwesen, welche der Sozialwissenschaftler als Handelnde auf der sozialen Bühne beobachtet, durch Puppen, die er selbst schuf, ersetzt, mit anderen Worten, daß er Idealtypen der Handelnden konstruiert.“17
Wichtig ist aber, daß auch diese groben Typisierungen die Verhältnisse in der Lebenswelt zwar vereinfachen, aber in ihren Grundstrukturen korrekt wiedergeben müssen. Wichtig ist auch, daß die angenommene Logik der Selektion des Handelns zwar die realen Abläufe vereinfacht, aber in den Grundregeln dem entspricht, wonach sich die Akteure – wenigstens in groben Zügen – 16
Vgl. Alfred Schütz, Wissenschaftliche Interpretation und Alltagsverständnis menschlichen Handelns, in: Alfred Schütz, Gesammelte Aufsätze, Band 1: Das Problem der sozialen Wirklichkeit, Den Haag 1971c, S. 7; vgl. auch Schütz 1971b, S. 68.
17
Alfred Schütz, Die soziale Welt und die Theorie der sozialen Handlung, in: Alfred Schütz, Gesammelte Aufsätze, Band 2: Studien zur soziologischen Theorie, Den Haag 1972, S. 19.
212
Situationslogik und Handeln
wirklich verhalten. Wissenschaft und Modellbildung bedeutet zwar immer Vereinfachung und Reduktion von Komplexität. Aber nicht alle Arten von Vereinfachungen sind dabei zulässig. Vor allem sind solche Vereinfachungen unzulässig, die den Bedingungen in der Lebenswelt auch im stark vergröberten Durchschnitt widersprechen – wie das Modell des perfekt informierten homo oeconomicus oder das des homo sociologicus, der nur blind und ohne Nachdenken den Werten und Normen der Gesellschaft gehorcht. Eine wichtige Folge für jede verstehende Erklärung sozialer Prozesse ist dann aber: In den Modellen müssen die wirklichen, nicht bloß a priori angenommenen kognitiven und motivationalen Strukturen der Lebenswelt der Menschen systematisch Eingang finden. Der Sozialwissenschaftler muß erst die Konstruktionen erster Ordnung, die Gründe der Menschen verstanden haben, ehe er an die Konstruktion seiner Konstruktionen zweiter Ordnung, an seine Theorien und an soziologische Erklärungen gehen kann. Im Prinzip müßten die Alltagsmenschen daher auch selbst die Konstruktionen erster Ordnung darin verstehen und bestätigen können, nicht jedoch die Konstruktionen zweiter Ordnung, die der Sozialwissenschaftler damit anfertigt. Weil es der Sozialwissenschaftler daher unvermeidlicherweise mit zwei Arten von Konstruktionen – denen erster und denen zweiter Ordnung – zu tun hat, und weil er damit immer zwei verschiedene Probleme des Verstehens zu lösen hat, spricht Anthony Giddens – zu Recht – auch von der doppelten Hermeneutik der Sozialwissenschaften: Ich muß mich als Sozialwissenschaftler nicht nur mit den Fachkollegen über Modelle, Theorien und Konstruktionen zweiter Ordnung der sozialwissenschaftlichen Theorie – wie die Konstrukte Position oder Rolle – verständigen können, sondern – geradezu als Voraussetzung dafür – zuvor die „Hermeneutik der natürlichen Lebenswelt“ der Akteure, deren Handeln ich erklären will, entschlüsseln, interpretieren und aus deren Sicht heraus verstehen.18 Unter Hermeneutik versteht man – unter Anspielung auf Hermes, der der Sage nach den Griechen die Botschaften der Götter überbrachte – die Lehre von der richtigen Auslegung und Interpretation des semantischen Sinns von Texten. Die Konstruktionen erster Ordnung – das Wissen und die Motive der Alltagsmenschen – können von einem Sozialwissenschaftler durchaus als eine Art von, zunächst unverständlichem, „Text“ angesehen und auf seinen semantischen Sinn hin untersucht werden, den die Menschen mit ihm verbinden. Hieran wird deutlich, daß solche hermeneutischen Auslegungen und Interpretationen des Handelns von Menschen nichts anderes als rationale Rekonstruktionen von subjektiven Gründen und Motiven, von den Sinnzusammenhängen des Handelns also, sind. 18
Anthony Giddens, New Rules of Sociological Method. A Positive Critique of Interpretative Sociologies, London u.a. 1976, S. 162; Anthony Giddens, Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung, Frankfurt/M. und New York 1992, S. 338f.
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Für Wissenschaftler ganz allgemein sind dann ihre Modelle, die Konstruktionen zweiter Ordnung also, die „Texte“, nach denen sie sich in ihrem Handeln – unter anderem – richten. Um das Tun der Wissenschaftler wiederum zu verstehen, muß man also deren Modelle und Alltagstheorien ihrer wissenschaftlichen Lebenswelt auch erst einmal kennen. Naturwissenschaftler benötigen für ihre Verständigung nur diese Modelle der Konstruktionen zweiter Ordnung, weil die Natur-Gegenstände selbst ja keine zu verstehenden Konstruktionen erster Ordnung haben und daher auch nicht sinnhaft handeln können. Die Naturwissenschaftler benötigen für ihre Verständigung daher entsprechend auch nur eine einfache Hermeneutik: die Kenntnis der objektiven Modelle ihrer Wissenschaft, deren Verstehen sie bei den Kollegen voraussetzen können. Selbstverständlich könnte man auch das Handeln der (Natur-) Wissenschaftler und die Konstruktion ihrer Modelle und Theorien zum Gegenstand einer soziologischen Erklärung machen. Beispielsweise: Die interaktiv erzeugte Fabrikation von physikalischen Modellen durch Kern-Physiker in der Lebenswelt ihres Labors. Ein Wissenschaftssoziologe könnte ohne Weiteres versuchen, diese Konstruktionen zu rekonstruieren und zu verstehen, um damit ein wissenschaftssoziologisches Modell der gesellschaftlichen Konstruktion der physikalischen Wirklichkeit im Labor aufzustellen. Das erklärende Modell des Wissenschaftssoziologen über die Konstruktion der Modelle der Naturwissenschaftler wäre damit eine wissenschaftssoziologische Konstruktion zweiter Ordnung, die die Konstruktionen zweiter Ordnung der Naturwissenschaftler über deren Gegenstände als Konstruktionen erster Ordnung für ihr Handeln im Labor enthält.
Alles klar? Die Objektivität der subjektiven Konstruktionen Die Konstruktionen erster Ordnung sind der Hintergrund für die Besonderheit der doppelten Hermeneutik der Sozialwissenschaften – im Unterschied zu allen Naturwissenschaften. Dieser Unterschied kann nicht bestritten werden. Und alle Versuche, ohne die subjektiven Alltagstheorien der Akteure soziale Prozesse zu erklären – wie bei Verwendung des Modells des perfekt informierten und objektiv rationalen homo oeconomicus – können in der Tat nur ausnahmsweise und nur in Spezialbereichen – wie beim wirtschaftlichen Handeln – erfolgreich sein. Die These von der doppelten Hermeneutik gibt darüber hinaus gelegentlich Anlaß zu der Vermutung, es ließe sich eine nach den Regeln der objektiven methodischen Kunst aufgebaute erklärende Soziologie überhaupt nicht vorstellen. Nicht zuletzt über die Hinweise bei Alfred Schütz, der nur das betont, was die Logik der rationalen Erklärung auch besagt, kann man es besser wissen: Selbstverständlich lassen sich die subjektiven Konstruktionen erster Ordnung objektiv erfassen – mit den Methoden der empirischen
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Situationslogik und Handeln
Sozialforschung zum Beispiel. Und ebenso selbstverständlich kann man unter Benutzung dieser Konstruktionen erster Ordnung objektiv beurteilbare Modelle und Theorien formulieren, die genau den gleichen Kriterien entsprechen, wie sie in allen anderen Wissenschaften üblich sind: logischer Gehalt, empirische Interpretation und Bewährung nach empirischer Prüfung. Darin unterscheiden sich – so stellt auch Alfred Schütz unzweideutig heraus – die Sozial- und die Naturwissenschaften jedenfalls nicht. Zwar haben, wie Raymond Boudon gesagt hat, einige Soziologen gemeint, sie könnten die interpretative Dimension aus der Soziologie ausklammern – was ohne Zweifel ein sehr schwerwiegender Fehler wäre. Aber andererseits kann das Vorliegen des Problems der doppelten Hermeneutik in den Sozialwissenschaften auch nicht bedeuten, daß unter dem Deckmantel einer sinnverstehenden Soziologie „und im Namen einer hochmütigen Absage an den ‚Positivismus’“ es einige Soziologen „ ... nicht nötig zu haben (scheinen), ihre Informationen zu überprüfen, ihre Interpretationen zu testen und sich grundsätzlich an die allgemein gültigen Richtlinien der wissenschaftlichen Methode zu halten.“19
Anders gesagt: Die ohne Zweifel nicht hintergehbare interpretative Dimension jeder „sinn“-vollen soziologischen Erklärung und die unvermeidliche doppelte Hermeneutik der Konstruktionen erster und zweiter Ordnung in den Sozialwissenschaften schließen in keiner Weise aus, die Regeln der objektiven kausalen Erklärungen auch dann anzuwenden, wenn in den Randbedingungen magische Weltbilder und subjektive – und zuweilen objektiv ganz falsche – Alltagstheorien vorkommen. Die (rationale) Erklärung eines Handelns ist immer auch das Verstehen des subjektiven Sinns, den die Akteure mit ihrem Tun verbinden.
6.6
Objektive Rationalität?
Der Reiter über den Bodensee und der Paranoiker des Thomas-Theorems handelten aus ihrer Sicht höchst vernünftig und folgerichtig, wenngleich objektiv haarsträubend falsch und „irrational“. Es ist eben nicht die Objektivität der Logik der Situation, die die Zweckrationalität des Handelns ausmacht, sondern der subjektive Sinnzusammenhang zwischen Zielen, Mitteln und dem Handeln. 19
Raymond Boudon, Die Logik des gesellschaftlichen Handelns. Eine Einführung in die soziologische Denk- und Arbeitsweise, Neuwied und Darmstadt 1980, S. 209.
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Richtigkeit und Rationalität Max Weber nennt das an objektiv zutreffenden Vorstellungen orientierte zweckrationale Handeln auch „richtigkeitsrationales“ Handeln, und das davon abweichende, an subjektiven Vorstellungen orientierte zweckrationale Handeln bezeichnet er als „subjektiv zweckrational rationales“ Handeln (Weber 1982b, S.433). Und er hält fest: „Subjektiv zweckrational orientiertes und am objektiv Gültigen ‚richtig’ orientiertes (‚richtigkeitsrationales’) Handeln sind an sich gänzlich zweierlei. Dem Forscher kann ein von ihm zu erklärendes Handeln im höchsten Grad zweckrational, dabei aber an für ihn ganz ungültigen Annahmen des Handelnden orientiert erscheinen.“ (Ebd.)
Entsprechend kann es auch an objektiv zutreffenden wie an subjektiven und falschen Situationsdeutungen orientiertes „zweckirrationales“ Handeln geben: Es ist ein solches Handeln, das – egal ob objektiv oder subjektiv, richtig oder falsch orientiert – den Regeln der Effizienz des Mitteleinsatzes bei der Selektion des Handelns nicht folgt. Als Beispiel für diese grundlegende Unabhängigkeit von Richtigkeit und Rationalität des Handelns nennt Weber das an „magischen Vorstellungen“ orientierte, oft außerordentlich zweckrational gestaltete religiöse Handeln in den einfachen, von Zauberglauben stark durchdrungenen Gesellschaften, bei dem die magischen Vorstellungen als „richtige“ Vorgaben des Handelns ganz „rational“ angewandt werden – ganz im Unterschied zur Religiösität in den „entzauberten“ Gesellschaften, die sich dort typischerweise stärker auf zweckirrationale Praktiken der Gesinnungsethik und der Mystik verlagert. Es ist also deutlich zu unterscheiden, worauf sich die These von der objektiven bzw. der rationalen Logik der Selektion bezieht. Sie kann sich auf die Richtigkeit und die Objektivität der Wahrnehmung der Situation durch den Akteur, also: auf die Randbedingungen seiner Handlungswahl, beziehen, und sie kann sich – ganz unabhängig von der Richtigkeit der Wahrnehmungen und Deutungen der Situation – auf die Art der nomologischen Regel der Selektion des Handelns beziehen. Wir wollen hier eine deutliche Festlegung vornehmen: Von einer rationalen Logik der Selektion sei immer dann die Rede, wenn der Akteur bei seinen Selektionen für die Gewichtung der möglichen Alternativen nach seinen Zielen und Erwartungen eine bestimmte Regel anwendet: die Maximierung der Nutzenerwartung. Dabei ist es egal, ob die Einschätzung des Nutzens eines Zieles und die Erwartungen über die Effizienz eines Tuns objektiv richtig oder subjektiv und/oder falsch sind (siehe dazu noch Kapitel 7 und 8). Und das heißt dann aber auch: „Rational“ kann ein Handeln auch dann sein, wenn die Ziele und die Erwartungen der Akteure vollkommen subjektiv sind und objek-
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Situationslogik und Handeln
tiv keinerlei Grundlage haben. Das Etikett der Rationalität eines Handelns bezieht sich – kurz gesagt – auf die Regel und eben nicht auf die Randbedingungen seiner Selektion. Die Macht der Objektivität Am Problem der Abgrenzung des rationalen von einem nicht-rationalen Handeln ist auch erkennbar geworden, wie flüssig die Übergänge zwischen der Logik der Situation und der Logik der Selektion sein können, wenn man nicht genau aufpaßt. In Teil A hatten wir schon gesehen, daß die Definition der Situation selbst als eine Aktivität des Akteurs aufgefaßt werden kann: Er selektiert ein Modell der Situation nach Maßgabe der äußeren Bedingungen und seiner inneren Einstellungen. Und sofort stellt sich die Frage wieder: Wie weit werden die subjektiven Definitionen der Situation – als Ergebnis eines inneren Tuns – von den objektiven Bedingungen der Situation abweichen? Das subjektiv orientierte Handeln steht nämlich – wie Max Weber betont – immer der „objektiv-gegenständlichen Welt“ gegenüber und wird letztlich nur durch ihre Vorgaben geprägt. Die objektiven Restriktionen der materiellen, institutionellen und kulturellen Welt sind durch subjektive Definitionen nur begrenzt außer Kraft zu setzen. Und das hat zur Folge, daß die Menschen durchweg über die sie umgebende Welt zwar nicht perfekt, aber in den für sie relevanten Ausschnitten erstaunlich gut und objektiv richtig informiert sind. Der Herausgeber von „Wirtschaft und Gesellschaft“, Johannes Winckelmann, hat die Auffassung von Max Weber zu diesem Problem in seinem Vorwort zur fünften Auflage so zusammengefaßt: „Überall, hebt Max Weber eindeutig hervor, knüpft das soziale Handeln an den die konkrete Ausgangslage ‚bedingenden objektiven Sachverhalt’ an, d h. an die objektiv gegebene Bedingungskonstellation, und vollzieht sich auf deren Grundlage. Handeln und Situation stehen dabei einander in keiner Weise unvermittelt gegenüber, sondern sind in actu stets vermittelt: durch die (subjektive) Orientierung des Handelnden an der Ausgangssituation, durch die von ihm gehegten realen Erwartungen, durch die Zweck-Mittel-Kausalität, durch die subjektivvorherige (wie die objektiv-nachträgliche) Chance, durch die statistische Wahrscheinlichkeit des intendierten Erfolgs. Durch diese Vermittlungsfaktoren hindurch begünstigt die objektive Situation – bei zweckrationaler Betrachtung – eine bestimmte Wahlentscheidung (oder eine Mehrzahl ihrer).“20
Und er fügt hinzu:
20
Johannes Winckelmann, Vorwort zur fünften Auflage, in: Weber 1972, S. XXIII; Hervorhebungen so nicht im Original.
Handeln
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„Diese generell oder konkret begünstigenden Umstände sind es, auf die sich das spezielle Interesse der Erfahrungswissenschaften richtet und die die Grundlage für die Erkenntnis der empirischen Regelmäßigkeiten und Wahrscheinlichkeiten abgeben.“ (Ebd.)
Diese Annahme verweist wieder auf die Idee der letztlich an den objektiven materiellen, institutionellen und kulturellen Vorgaben orientierten Logik der Situation und auf die Wichtigkeit der Idee der sozialen Produktionsfunktionen: Es sind schließlich dann doch die objektiven, gesellschaftlich strukturierten Umstände, die sich auch in der subjektiven Logik des Handelns durchsetzen – und sei es auch nur deshalb, weil hierfür die Chancen eines Handlungserfolges größer sind und weil die Akteure, die dies nicht sofort bemerken, aufgrund erlebter Mißerfolge sich dann schließlich doch den objektiven Vorgaben der für sie geltenden Logik der Situation beugen müssen. Mit dem Konzept der sozialen Produktionsfunktionen war außerdem deutlich geworden, warum es meist sogar im Interesse der Menschen selbst liegt, sich in der subjektiven Beurteilung der Situation nicht allzu weit von den geltenden institutionellen und kulturellen Vorgaben und materiellen Restriktionen zu entfernen: Sie schaden sich spürbar selbst, wenn sie die objektiven Bedingungen mißachten. Prälogisches Denken? Mit der Unterscheidung der unter Umständen ganz falschen und „irrationalen“ subjektiven Konstruktionen erster Ordnung der Akteure, die Teil und Gegenstand der Theorien der Sozialwissenschaftler sind, und den objektiven Konstruktionen zweiter Ordnung der Modelle der Sozialwissenschaftler über die Konstruktionen erster Ordnung der Akteure ist ein weiterer alter Streit in den Sozialwissenschaften berührt. Nämlich dem, ob Menschen mit mythischen oder magischen Weltvorstellungen im gleichen Sinne logisch oder rational handeln wie solche mit modernen Weltbildern mit ihren – im groben Durchschnitt: etwas stärker wenigstens – wissenschaftlich abgesicherten Theorien über die Zusammenhänge der Welt. Bei dem Sozialphilosophen Jürgen Habermas findet man beispielsweise die – zu Mißverständnissen geradezu herausfordernde – Behauptung: „Mythische Weltbilder sind weit davon entfernt, in unserem Sinne rationale Handlungsorientierungen zu ermöglichen. Sie bilden, was die Bedingungen der im angegebenen Sinne rationalen Lebensführung angeht, einen Gegensatz zum modernen Weltverständnis.“21
21
Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Band 1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, Frankfurt/M. 1981a, S. 73; Hervorhebung nicht im Original.
218
Situationslogik und Handeln
Das ist eine, wenn man sie isoliert liest, eigentlich ebenso arrogante wie beleidigende These. Sie war in der frühen Kulturanthropologie und Soziologie des 19. Jahrhunderts eine geläufige Auffassung: Die magischen Praktiken und mythischen Vorstellungen über die Zusammenhänge in der Natur, durch und durch verwoben mit religiösen Ideen und sakralen Ritualen, bei den sog. primitiven Gesellschaften wurden – etwa von dem britischen Soziologen Herbert Spencer (1820-1903) oder dem britischen Kulturanthropologen Edward B. Tylor (1832-1917) – als eine Art von irrationalem Ersatz, als unvollständiges Wissen, als evolutionäre Vorstufe zu den vorgeblich höher entwickelten Kulturen des Westens angesehen. Das Denken der Naturvölker richte sich überwiegend nach affektiven Impulsen und Gefühlen und gleiche eher den spontanen und emotionalisierten Denkmustern von Kindern als dem von vernünftig handelnden Erwachsenen. Es befinde sich in „mystischer Partizipation“ mit der Kollektivität eines Gruppengeistes, und jede Individualität sei ihm fremd. Diese These von der prälogischen Struktur des Denkens der Naturvölker wird insbesondere dem französischen Völkerkundler, Philosophen und Psychologen Lucien Lévy-Bruhl (1857-1939) zugeschrieben. In der Einleitung zu seinem Buch über „Die geistige Welt der Primitiven“ zitiert Lévy-Bruhl den Bericht eines Missionars, der seine Erfahrungen mit den afrikanischen Ureinwohnern so zusammenfaßt:22 „‚Der Afrikaner, Neger oder Bantu denkt nicht, überlegt nicht, folgert nicht, wenn er es irgend vermeiden kann. Er hat ein wunderbares Gedächtnis, großes Talent zur Beobachtung und Nachahmung, einen leichten Redefluß und überhaupt gute Eigenschaften. Er kann sehr wohlwollend, großmütig, liebevoll, selbstlos, ergeben, treu, tapfer, geduldig und beharrlich sein. Aber die Fähigkeiten zur vernunftgemäßen Überlegung und Erfindung schlummern noch in ihm. Er begreift die tatsächlich gegenwärtigen Umstände sehr leicht, paßt sich ihnen an und schafft Rat für sie; aber einen Plan ernsthaft ausarbeiten, mit Intelligenz eine Induktion ausführen – das geht über seine Kräfte.‘“
Aber schon Lévy-Bruhl hält das Fehlen „logischer“ Denkoperationen nicht für eine Art von Defekt in der hardware der Naturvölker oder Primitiven. Es ist für ihn eine Folge ihrer Lebensumstände einerseits und der – eng damit verwobenen – objektiv vorhandenen und sozial stark verankerten subjektiven Vorstellungen über die bewegenden Kräfte in ihrer Welt, insbesondere die zahllosen und mit dem Gruppenleben stark verbundenen Mythen über Geister und okkulte Mächte. Die übliche „Dumpfheit, Starrheit und unüberwindliche Schläfrigkeit“ wird zum Beispiel sofort aufgegeben, wenn es sich „lohnt“: „Denn dieselben Naturmenschen, denen die geringste Abstraktion als unerträgliche Anstrengung erscheint, und denen am Nachdenken nichts liegt, erweisen sich im Gegenteil als scharf-
22
Lucien Lévy-Bruhl, Die geistige Welt der Primitiven, München 1927 (zuerst: 1922), S. 11.
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sinnig, urteilsfähig, geschickt, gewandt, ja spitzfindig, wenn ein Gegenstand sie fesselt und zumal, wenn sie ein sehnlichst erwünschtes Ziel erreichen wollen.“ (Ebd., S. 13)
Auch der Missionar schrieb ja nicht, daß der Afrikaner nicht logisch denken könnte, sondern nur, daß er es vermeide, solange es geht, und daß die Fähigkeiten zur Überlegung noch in ihm „schlummern“. Was schlummert, kann aber jederzeit geweckt werden. Die subjektive Welt der Mentalität der Primitiven macht außerdem Kausaloperationen der üblichen naturwissenschaftlichen Art überflüssig: Es sind ja stets Geister, die alles bewirken und tun, was ihnen beliebt: „Ein Mann erliegt einem organischen Leiden, einem Schlangenbiß, er wird von einem fallenden Baum erschlagen, von einem Tiger oder Krokodil zerrissen: für die primitive Mentalität hat ihn nicht die Krankheit, oder die Schlange, oder der Baum, oder der Tiger, oder das Krokodil getötet. Wenn er umgekommen ist, so hat ihn zweifellos ein Zauberer ´verurteilt´ (doomed) und ´ausgeliefert´. Der Baum oder die wilden Tiere sind nur Werkzeuge gewesen. Mangels des einen würde das andere denselben Dienst versehen haben. Sie waren, wie man sagt, auswechselbar – nach dem Belieben der unsichtbaren Macht, die sie gebrauchte.“ (Ebd., S. 344)
Also: Wenn jemand an derartige Dinge glaubt und es geschieht ein Unglück, dann ist es nur folgerichtig, das Unglück dem Walten der Geister und eben nicht einer – den Lebensumständen sehr fremden und vor allem in diesem Rahmen: ganz und gar unverständlichen – „wissenschaftlich“ korrekten Kausalerklärung zuzuschreiben. Damit aber löst sich auch das Rätsel von der angeblich prälogischen Denkstruktur der Wilden auf: Nur ausnahmsweise „lohnt“ es sich für sie, angesichts der begrenzten Reichweite ihres Lebens und angesichts der repetitiven Wiederkehr aller Abläufe, von dem angenehmmoderaten Fluß der automatisch kommenden und gehenden Gedanken auf den stets auch anstrengenden Modus des Nachdenkens, Schließens und Planens umzuschalten und in einer Welt an wissenschaftliche Theorien über Naturgesetze zu glauben, in der fortwährend etwas geschieht, wovon man die „wahren“ Hintergründe nicht kennt, und in der man auch keine Chance sieht, ihnen näher zu kommen, wäre ebenfalls nicht sehr vernünftig (siehe dazu noch gleich unten zum Hexenglauben bei den Zande, sowie folgenden Abschnitt 6.7 über die „Typen“ des Handelns). Kurz: Es ist nicht die Logik des Denkens der Naturvölker verschieden von der der „zivilisierten“ Völker, sondern es sind die Umstände der alltäglichen und eingelebten Situation, die sie dazu bringen, in der Regel wenigstens, der Sache nicht auf den Grund zu gehen oder aber objektiv wohl falsche Kausaltheorien für die eintretenden Ereignisse anzunehmen. Das drohende Mißverständnis und der Streit um die Universalität einer rationalen Logik der Selektion des Handelns ist mit der oben vorgenommenen Differenzierung also leicht aufzulö-
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Situationslogik und Handeln
sen: Sicher kann man die Weltbilder bzw. die Konstruktionen erster Ordnung der Menschen verschiedener Kulturen danach unterscheiden, ob in ihnen Götter die Gestirne bewegen oder die Gesetze der Gravitation. Und sicher unterscheidet sich danach auch das äußerliche Handeln der Menschen. Und ebenso sicher läßt sich damit auch auf eine unterschiedliche Weise die Rationalisierung und die Beherrschung der Welt bewerkstelligen. Aber davon gänzlich unberührt bleibt die Frage: Sind die Selektion dieser Weltbilder und die Selektion der Handlungen danach auch irrationale Vorgänge, die mit den Mitteln des rationalen Verstehens nicht zu erklären sind?
Das Modell der subjektiven Rationalität nimmt für alle Exemplare des homo sapiens an, egal in welcher Kultur und Gesellschaft sie leben, daß sie der Logik der rationalen Wahl folgen: Der Inhalt der Weltbilder ist für die Rationalität der Logik des Handelns nicht maßgeblich. Und auch ein Verzicht auf Kalkulationen, die sich nicht lohnen, ist eine vernünftige Entscheidung. Die Rationalität des mythischen Wissens Man kann bei der Beurteilung der Rationalität der subjektiven Logik von Alltagstheorien und Weltbildern noch weiter gehen: Auch die Übernahme von Überzeugungen, die Ausbildung von Weltbildern und die Akzeptanz von „Theorien“ ist jeweils ein Handeln, das – als innerliches Tun – der gleichen Logik der Selektion folgt wie jedes andere Handeln auch. Die vorfindbaren subjektiven Ansichten stellen in dieser Sichtweise vor dem Hintegrund der jeweils gegebenen Umwelten ausgesprochen vernünftige Selektionen dar. Sie sind das Ergebnis einer evolutionär-rationalen Anpassung an die natürlichen und vorgegebenen sozialen Verhältnisse. Und sie werden, wenn es sie einmal gibt, beibehalten, weil – und solange – sie für die Lösung bestimmter Probleme aktuell erlebbar nützliche Dienste leisten. Ihre objektive Richtigkeit und wissenschaftliche Begründbarkeit ist bei diesen Leistungen zwar nicht unwichtig, aber keineswegs der einzige Maßstab für ihre aktuell erlebte Nützlichkeit im Rahmen der gegebenen sozialen Ordnung. Der Anthropologe Edward E. Evans-Pritchard (1902-1973) berichtet beispielsweise über den Hexenglauben im Stamm der Zande im Sudan Folgendes: „Im Zandeland stürzt manchmal ein alter Getreidespeicher ein. Daran ist nichts Bemerkenswertes. Jeder Zande weiß, daß Termiten die Stützbalken im Laufe der Zeit zernagen und daß auch das härteste Holz nach Jahren der Beanspruchung verrottet. Nun ist aber ein Speicher immer zugleich das Sommerhaus eines Zande-Gehöfts und die Leute sitzen während der Mittagshitze darunter, plaudern oder spielen das afrikanische Lochspiel oder sind mit irgendeiner handwerklichen Tätigkeit beschäftigt. Infolgedessen kann es passieren, daß gerade dann, wenn er einstürzt, Leute daruntersitzen und verletzt werden, denn es ist ein massiver Bau aus Balken und Lehm und kann außerdem noch mit Eleusine gefüllt sein. Warum mußten gerade im Moment des Einsturzes ausgerechnet diese Leute unter dem betreffenden Speicher sitzen? Daß er einstürzen mußte, ist leicht verständlich. Aber warum mußte er gerade in dem Moment, als
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ausgerechnet diese Leute daruntersaßen, einstürzen? Er hätte schon seit Jahren einstürzen können, warum also tat er es gerade dann, als bestimmte Leute seinen behaglichen Schutz suchten? Wir sagen, daß der Speicher einstürzte, weil seine Stützen von Termiten weggefressen wurden: das ist die Ursache, die den Einsturz des Speichers erklärt. Wir sagen auch, daß Leute gerade daruntersaßen, weil es die heißeste Zeit des Tages war und sie dachten, daß es ein bequemer Ort zum Reden und Arbeiten sein würde: das ist die Ursache dafür, daß zum Zeitpunkt seines Einsturzes Leute unter dem Speicher waren. Für uns besteht der einzige Zusammenhang zwischen diesen beiden unabhängig voneinander verursachten Sachverhalten in der Koinzidenz von Zeit und Ort. Wir haben keine Erklärung dafür, warum die beiden Kausalketten sich zu einem bestimmten Zeitpunkt und an einem bestimmten Ort überschnitten, da es keine Interdependenz zwischen ihnen gibt. Die Philosophie der Zande kann dazu das fehlende Glied liefern. Ein Zande weiß, daß die Stützen von Termiten unterhöhlt waren und daß Leute unter dem Speicher saßen, um der Hitze und dem gleißenden Sonnenlicht zu entgehen. Aber er weiß außerdem, warum diese beiden Ereignisse zur genau gleichen Zeit am gleichen Ort eintraten. Es war eine Folge der Wirkung von Hexerei. Hätte es keine Hexerei gegeben, hätten die Leute unter dem Speicher gesessen, ohne daß er auf sie gefallen wäre; oder er wäre eingestürzt, ohne daß sich jemand zu diesem Zeitpunkt darunter befunden hätte. Hexerei erklärt die Koinzidenz dieser beiden Ereignisse.“23
Die Hypothese von der Hexerei ist eine besonders interessante Konstruktion erster Ordnung. Sie füllt für die Zande ohne Zweifel eine Erklärungslücke für das – unwahrscheinliche und wegen seiner gravierenden Folgen auch höchst beunruhigende – Zusammentreffen zweier, ansonsten unverbundener und damit sinnloser, Ereignisse. Das Konzept der Hexerei als Erklärungsskizze kann dabei ersichtlich als eine ausgesprochen vernünftige Wahl einer bestimmten Alltags-„Theorie“ im Vergleich zu anderen Hypothesen angesehen werden. Die magische Erklärung ist – auch vor dem Hintergrund anderer Gesichtspunkte des Lebens und der sonstigen Welt-Deutungen der Zande im Zusammenhang ihrer gesamten sozialen, kulturellen und kognitiven Ordnung – jedenfalls weitaus vernünftiger als die Selektion der wissenschaftlich und objektiv wohl „richtigen“ Hypothese, daß es der Zufall war, der den Speicher zusammenstürzen ließ – ausgerechnet als Leute darin saßen. Denn: Wäre es nicht sehr unklug, eine Erklärung für ein sehr beunruhigendes Ereignis und für ein wichtiges Problem zu wählen, die nicht mehr leistet, als zu behaupten, daß man nicht erklären könne, wie die Koinzidenz zustande kam? Und das in einer Welt, die von Bedrohungen nur so wimmelt und keinerlei „wissenschaftliche“ Möglichkeiten hat, damit umzugehen? Dann also besser: Hexerei.
Ein Sozialwissenschaftler müßte die Hypothese von der Hexerei als Konstruktion erster Ordnung in sein Erklärungs-Modell, in seine Konstruktion zweiter Ordnung also, einbauen – will er nicht den Sinn des Handelns der Zande und der damit verbundenen sozialen Prozesse vollständig verfehlen. Dazu müßte er freilich sicherstellen, daß diese subjektive Hypothese auch objektiv tatsächlich bei den Zande zutrifft, und klären, ob er nicht einem Scherz seiner Informanten oder einer Fehl-Interpretation bei seinen hermeneutischen Bemühun23
Edward E. Evans-Pritchard, Hexerei, Orakel und Magie bei den Zande, Frankfurt/M. 1978, S. 65f.; Hervorhebung nicht im Original.
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gen zur Erfassung der Weltbilder der Zande zum Opfer gefallen ist. Mit den Mitteln der anthropologischen Sozialforschung wäre das aber auch möglich. Und was für die Weltbilder und subjektiven Theorien der Zande zutrifft, gilt selbstverständlich für die Erklärung des subjektiven Sinns und des darauf aufbauenden Handelns aller Menschen zu allen Zeiten. Die empirische Sozialforschung, qualitativ wie quantitativ, ist auch zu diesem Zweck erfunden worden: die Erhebung der aus ihrer Sicht höchst vernünftigen Einstellungen der Menschen als Teil der Hermeneutik ihrer jeweiligen Lebenswelten. Die Universalität der rationalen Logik Der französische Anthropologe Claude Lévi-Strauss kommt – aufgrund eigener, sehr umfangreicher Studien über „Das wilde Denken“ der Menschen in einfachen Gesellschaften – dann auch zu dem Schluß: „Anstatt also Magie und Wissenschaft als Gegensätze zu behandeln, wäre es besser, sie parallel zu setzen, als zwei Arten der Erkenntnis, die zwar hinsichtlich ihrer theoretischen und praktischen Ergebnisse ungleich sind ..., nicht aber bezüglich der Art der geistigen Prozesse, die die Voraussetzung beider sind und sich weniger der Natur nach unterscheiden als aufgrund der Erscheinungstypen, auf die sie sich beziehen.“24
Gewissermaßen aus Übungsgründen haben wir oben den Erfinder des emanzipatorischen Erkenntnisinteresses und Autor der „Theorie des kommunikativen Handelns“ Jürgen Habermas mit seinem Zitat in einen mißverständlichen Zusammenhang gestellt. Sicher ist er weit davon entfernt, fremde und nichtmoderne Völker und Kulturen gegenüber der entzauberten Moderne abwerten zu wollen. Aber es geht auch ihm eben nicht um die Art der Logik der Selektion, sondern um eine Bewertung der Umstände der Selektion, also um die Art der Logik der Situation. Auch Habermas bezieht sich bei seiner Beurteilung nicht auf die Struktur des Denkens selbst, sondern auf die inhaltliche Struktur der Weltbilder. Wir finden bei ihm dann schließlich auch noch den Satz, der alle Mißdeutungen vermeiden hilft: „ ... daß die Unterschiede zwischen mythischem und modernem Denken nicht auf der Ebene logischer Operationen liegen.“
Sondern:
24
Claude Lévi-Strauss, Das wilde Denken, Frankfurt/M. 1968, S. 25; Hervorhebungen nicht im Original.
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223
„ ... daß erwachsene Mitglieder primitiver Stammesgesellschaften grundsätzlich dieselben formalen Operationen erwerben können wie Angehörige moderner Gesellschaften ... .“ (Habermas 1981a, S. 74; Hervorhebungen nicht im Original)
Genau dies ist auch mit der oben bereits formulierten These von der Universalität einer rationalen Logik der Selektion des Handelns gemeint. Die Erkenntnisse zur biogenetischen Evolution des Menschen unterstützen alle diese Vermutungen – von Evans-Pritchard, von Lévi-Strauss, auch von Lévy-Bruhl, wenn man ihn genauer liest, und natürlich von Habermas – nachdrücklich: Die mentalen Grundstrukturen für die zum Handeln nötigen Selektionsleistungen, wenn man so will die Hardware des Menschen, sind eine universale Eigenschaft des homo sapiens. Sie erlauben die gleiche Grund-Logik der Selektion des Handelns bei allen Exemplaren des homo sapiens – in welchen Kulturen und zu welchen Zeiten auch immer. Was zwischen den Menschen und ihren Kulturen freilich ganz beträchtlich variiert, ist die kulturelle Software: die belief systems, die mentalen Modelle mit ihren Codes und Programmen, die „Handlungen“, die Konstruktionen erster Ordnung, die den nach außen oft irrational scheinenden subjektiven Sinn ihres stets rational gewählten Handelns bestimmen. Diese Software ist das – unintendierte – Ergebnis eines im Prinzip klugen Umgangs mit den Problemen des Alltags in der jeweils gegebenen Umwelt und dessen Folgen.
6.7
Typen des Handelns
Menschen handeln, so haben wir soeben festgehalten, wenngleich oft auf der Grundlage von objekiv falschen Vorstellungen, so doch in der „Logik“ der Selektion des Handelns stets rational. Wirklich? Gibt es nicht auch Werte, denen die Menschen ganz unbedingt – koste es, was es wolle – nachhängen? Setzen nicht oft genug Gefühle wie Eifersucht, Neid, Stolz oder – natürlich – die Liebe den Verstand völlig außer Kraft? Sind nicht die allermeisten Tätigkeiten des Alltags nichts anderes als die Ausübung von Routinen, bei denen über Zwecke und Mittel kaum nachgedacht wird? Ist die kalkulierende und abwägende Zweckrationalität außerdem nicht in vielen Situationen ganz und gar verpönt und fehl am Platze: in der Familie, bei einer Geburtstagsfeier oder auf der Bettkante beispielsweise? Und bleibt nicht oft genug einfach keine Zeit und keine Gelegenheit zur – stets anstrengenden – rationalen Überlegung?
In allen diesen Fällen „muß“ anders selektiert werden als nach den aufwendigen Regeln der subjektiven Rationalität: Nicht nur die Inhalte der Bewertungen und Erwartungen, sondern auch die Art und sogar die Regeln der Selektion des Handelns können sich – so scheint es – von Situation zu Situation verändern und von gewissen Bedingungen und Definitionen der Situation abhän-
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Situationslogik und Handeln
gig sein. Typisch unterschiedliche Arten der Selektion des sozialen Handelns sollen – erneut im Anschluß an Max Weber – dann als „Typen“ des Handelns bezeichnet werden. Die vier Typen des Handelns von Max Weber Von Max Weber stammt die wohl bekannteste Typologie unterschiedlicher Formen des Handelns. Er unterscheidet vier Typen des Handelns: das zweckrationale, das wertrationale, das affektuelle und das traditionale Handeln. Ein Handeln ist nach Max Weber, so sei auch noch aus Abschnitt 6.3 erinnert, „ ... zweckrational: durch Erwartungen des Verhaltens von Gegenständen der Außenwelt und von anderen Menschen und unter Benutzung dieser Erwartungen als ‚Bedingungen’ oder als ‚Mittel’ für rational, als Erfolg, erstrebte und abgewogene eigne Zwecke.“ (Weber, 1972, S. 12; Hervorhebungen im Original)
Und dann an anderer Stelle weiter: „ ... Zweckrational handelt, wer sein Handeln nach Zweck, Mitteln und Nebenfolgen orientiert und dabei sowohl die Mittel gegen die Zwecke, wie die Zwecke gegen die Nebenfolgen, wie endlich auch die verschiedenen möglichen Zwecke gegeneinander rational abwägt: also jedenfalls weder affektuell (und insbesondere nicht emotional), noch traditional handelt.“ (Ebd.; S. 13; Hervorhebungen im Original)
Dagegen ist ein Handeln „ ... wertrational: durch bewußten Glauben an den – ethischen, ästhetischen, religiösen oder wie immer sonst zu deutenden – unbedingten Eigenwert eines bestimmten Sichverhaltens rein als solchen und unabhängig vom Erfolg, – affektuell, insbesondere emotional: durch aktuelle Affekte und Gefühlslagen, – traditional: durch eingelebte Gewohnheit.“ (Weber 1972, S. 12; Hervorhebungen so nicht im Original)
Dem ist als Beschreibung kaum etwas hinzuzufügen. Wer wollte bestreiten, daß es kühles Berechnen von Mitteln und Zielen, nicht unmittelbar erfolgsorientiertes Handeln nach Werten oder Normen, Affekte und Emotionen, Traditionen und Habitualisierungen allesamt gibt? Aber sofort stellt sich eine andere Frage: Wie kann erklärt werden, wann wer welchen Typ des Handelns warum bevorzugt und unter welchen Bedingungen von einem zum anderen Typ gewechselt wird?
225
Handeln
Eine Systematik Ein erster Schritt hin zu einer solchen Erklärung ist die Systematisierung der angetroffenen Vielfalt auf wenige Dimensionen. Hier hat Wolfgang Schluchter ein instruktives Schema vorgeschlagen (vgl. Abbildung 6.2).25 Handlungstypus
Mittel
Zwecke
Werte
Folgen
zweckrational
+
+
+
+
wertrational
+
+
+
-
affektuell
+
+
-
-
traditional
+
-
-
-
Abb. 6.2: Die Ordnung der Handlungstypen von Max Weber (nach Schluchter 1979, S. 192)
In der Typologie werden vier Elemente angesprochen, an denen sich die Selektion des Handelns orientieren kann: Mittel, Zwecke, Werte und Konsequenzen. Die Mittel sind die jeweiligen Handlungen, die eingesetzt werden, um bestimmte Zwecke zu verwirklichen. Es gibt sie also bei jedem Typ. Die Zwecke sind die unmittelbaren Veränderungen einer Situation, die mit der Handlung erreicht werden sollen und die für den Akteur die Erreichung eines bestimmten vorgestellten Zielzustandes bedeuten. Zwecke kann man sich auch als Zwischenziele oder Zwischenprodukte vorstellen, die als Mittel zur Erreichung der eigentlich angestrebten „letzten“ Ziele dienen. Unter Werten sind die übergreifenden Orientierungen und die alles andere dominierenden Zielsetzungen allgemeiner Art zu verstehen, unter denen ein Akteur zum Beispiel sein Leben organisiert wissen möchte, oder die in den Maximen bzw. in der sozialen Codierung von Gesellschaften, Gruppen oder Situationen als primärer Rahmen festgelegt sind, wie das Streben nach Wahrheit in der Wissenschaft, die Verwirklichung der Prinzipien des Islam oder die der CSU, oder auch das Abnehmen bei einer Hungerkur. Beim wertrationalen Handeln gibt es eine weitreichende Besonderheit: Es trägt seinen Nutzen als unbedingten Eigenwert der Handlung selbst immer schon in sich und ist, sofern nur der Wert bedient wird, von eventuellen Kosten oder anderen Konsequenzen weitgehend unabhängig. Unter den Folgen werden schließlich alle mit dem Handeln subjektiv verbundenen und dem Handeln zugeschriebenen Konsequenzen des Tuns gefaßt, auch die, die vor dem Hintergrund der eigentlichen Zwecke und Werte unerwünscht und von indirekter Art sind.
25
Wolfgang Schluchter, Die Entwicklung des okzidentalen Rationalismus, Tübingen 1979, S. 191f.
226
Situationslogik und Handeln
Je nach Vollständigkeit in der Beachtung dieser vier Elemente bei der Selektion der Handlung ergibt sich ein anderer Typus des Handelns. Beim zweckrationalen Handeln werden alle vier Elemente – Mittel, Zwecke, Werte und Folgen – vom Akteur systematisch beachtet und in Beziehung gebracht. Dann verengt sich die Orientierung auf diese vier Elemente schrittweise und weicht so in typischer Weise vom Idealtypus der Zweckrationalität ab. Beim wertrationalen Handeln werden die Folgen nicht mehr weiter betrachtet. Die Selektion der Zwecke und der Mittel erfolgt nur unter dem Gesichtspunkt des „unbedingten Eigenwertes“ der Handlung. Sie ist insofern in der Tat nicht erfolgsorientiert. Beim affektuellen Handeln spielen zusätzlich auch die Werte keine Rolle mehr: Haß, Neid, Stolz oder Liebe bedenken die Folgen gerade nicht und sind für alle Werte blind. Es konzentriert sich nur auf die jeweiligen emotionalen Zwecke und – oftmals sehr genau – auf die Wahl der dafür besonders geeignet erscheinenden Mittel. Beim eingelebten traditionalen Handeln schließlich werden auch die Zwecke nicht mehr bedacht. Das Handeln wird jetzt nur noch ritualisiert, dumpf und unbewußt als Habitualisierung der Mittelwahl abgerufen, wenn die Situation „da“ ist. Es ist jetzt eigentlich nur noch ein reaktives „Verhalten“.
Die Typologie von Max Weber und die Systematik von Wolfgang Schluchter sind eine zusammenfassende Beschreibung von Arten, wie in bestimmten Situationen gehandelt wird, wovon sich die Akteure bei der Selektion ihres Tuns leiten lassen und wie genau sie die verschiedenen Aspekte bedenken, prüfen und bei ihrer Entscheidung systematisch berücksichtigen. Erklären kann man damit, wie mit jeder begrifflichen Systematisierung, noch nichts. Die Typen des Handelns als Heuristiken der Entscheidungsfindung In der Systematisierung von Wolfgang Schluchter werden die „Rationalität“ des Handelns und die „Evidenz“ an subjektiver Sinnhaftigkeit mit der Entfernung von der Zweckrationalität immer geringer. Bei der Wertrationalität wird schon nicht mehr an die Folgen gedacht. Bei Gefühlsausbrüchen sind einem die heiligsten Überzeugungen egal. Und beim gedankenlosen traditionalen Betreten des Fahrstuhls jeden Morgen auf dem Weg zum Büro weiß manch einer oft schon lange nicht mehr, wozu das eigentlich gut sein soll. Zweckrationales, wertrationales, affektuelles und traditionales Handeln sind in dieser Sicht bestimmte Arten der Informationsverarbeitung: aufwendiges „Kalkulieren“ von Mitteln, Nebenfolgen und der Reihenfolge gewisser Zwecke etwa bei der Zweckrationalität. Das können sich viele Menschen aber nicht leisten. Meist fehlen ihnen schon die Zeit, oft die Nerven, manchmal auch der Verstand dazu. Und oft genug lohnt sich die zweckrationale Durchdringung einer Situation nicht einmal: Um ein Stück Seife zu kaufen, macht sich eine aufwendige Marktanalyse meist nicht bezahlt. Das wertrationale, das affektuelle und das traditionale Handeln werden im Grad der Informationsverarbeitung und der innerlichen Kalkulation demge-
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genüber immer unaufwendiger und durchführbarer – aber auch immer weniger „rational“ und den wirklichen Verhältnissen angemessen.
Die (Sozial-)Psychologie nennt die Art und die Strategie der Informationsverarbeitung in einer Situation auch Heuristik. Die vier Typen des Handelns bilden so unterschiedliche Heuristiken der Entscheidungsfindung – geordnet von oben nach unten nach dem Grad der „rationalen“ Durchdringung der Situation. Die Typen des Handelns als Codes der Situation Die vier Typen des Handelns sind aber nicht nur in Hinsicht auf den Grad der Informationsverarbeitung verschieden voneinander. Die Zweckrationalität, beispielsweise, kann auch eine normativ geforderte Orientierung sein, ein Code der Rahmung der Situation also, mit dem ein Akteur eine Situation betrachten „muß“, und unter der er sie klugerweise subjektiv definiert. Das gilt beispielsweise für geschäftliche Beziehungen und wenn mit Geld bezahlt wird: Dann gilt der Code der zweckrationalen Berechnung und des wirtschaftlichen Handelns. Für Werte, Affekte und Gewohnheiten gilt das Gleiche: Ein Wert dominiert als normativ gefordertes oberstes Ziel alles andere, wie beispielsweise die deutsche Einigung, die ja bekanntlich wirklich durch einen „bewußten Glauben“ an den „unbedingten Eigenwert“ der deutschen Einheit und ohne Zweifel „unabhängig vom Erfolg“ und vollkommen ohne Rücksicht auf die Folgen betrieben wurde. Ähnliches gilt für gewisse Emotionen, die, etwa in der Liebe oder am offenen Grab, in genau bestimmter Weise erwartet werden: Wehe dem Liebhaber, der bei der passenden Gelegenheit nicht im Code der Liebe leidenschaftlich genug seufzt! Oder wehe der Witwe, die nicht im Rahmen der Emotion der Trauer hinreichend herzzerreißend aufschluchzt, wenn der Sarg des Gatten hinabsinkt! Und kaum etwas unterliegt mehr den diversen Codes der Konventionen als die Befolgung von Traditionen – seien das die ergriffene Feierlichkeit zu Heiligabend, die schauerliche Maschinerie einer Hinrichtung oder die leer gewordene Erinnerung an das alte Gaudeamus Igitur bei der Absolventenfeier mit den frisch diplomierten Techno Kids in der Aula.
Die Typen des Handelns lassen sich dann als typisch unterschiedliche Codes für typische Situationen oder Sphären der Gesellschaft verstehen. Sie sind ein Teil der Definition der Situation. Modus und Modell Die Heuristik, mit der die Akteure an eine Situation herangehen, wollen wir als den Modus der Selektion des Handelns bezeichnen. Der Modus ist also die Art der Informationsverarbeitung, die ein Akteur in einer Situation angesichts der vorliegenden Daten und der bestehenden Begrenzungen und Opportunitä-
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Situationslogik und Handeln
ten der Informationsverarbeitung vornehmen kann – oder „sollte“, wenn er klug ist. Der Code der Situationsdefinition bei der Selektion des Handelns sei als das Modell der Selektion des Handelns bezeichnet. Die Modelle der Selektion des Handelns als zweckrational, wertrational, affektuell und traditional sind somit auch kulturell verbreitete und normativ institutionalisierte Vorgaben, wie in einer Situation gehandelt werden soll. Es sind Teile der institutionellen Regeln und des Bezugsrahmens des Handelns. Und sie folgen daher – wie üblich – den objektiven Vorgaben der sozialen Produktionsfunktionen. In der Systematik von Wolfgang Schluchter lassen sich die vier Handlungstypen von Max Weber leicht auf den beiden Achsen des Modells und des Modus der Selektion des Handelns verorten. Die senkrechte Achse beschreibt vier typische Modelle der Selektion des Handelns, wie sie in typischen Situationen und typischen Sphären der Gesellschaft verlangt werden: Zweckrationalität etwa im Bereich der Wirtschaft, Wertrationalität im Bereich der Politik, affektuelles Handeln in Familie und Verwandtschaft, traditionales Handeln überall da, wo es auf die Einhaltung von Regeln als Oberziel ankommt: vor Gericht und bei der peinlichen Beachtung der Regeln des Zitierens in einem wissenschaftlichen Buch zum Beispiel. Die waagerechte Achse ordnet die vier Typen, wie oben schon gesagt, nach dem Modus: Je mehr Aspekte der Zweckrationalität bei der Selektion des Handelns übergangen werden können – Zwecke, Werte, Folgen – um so unaufwendiger – und ineffizienter! – ist die Heuristik und um so weniger reflektiert und „automatischer“ ist der Modus der Selektion.
Jeder der vier Typen kann also beides sein: Ein spezielles Modell der Situationsdefinition und/oder ein besonderer Modus der Informationsverarbeitung. Das gilt gerade auch für die Zweckrationalität: Manchmal ist sie sozial vorgeschrieben, wie bei der feindlichen Übernahme von Thyssen durch Krupp oder beim abendlichen Warten auf den DAX. Manchmal ist sie dagegen verpönt, wie unter dem Weihnachtsbaum oder wenn es darum geht, ob sich ein weiteres Kind noch lohnen würde. Aber auch wenn die Zweckrationalität erlaubt oder vorgeschrieben ist, kann sie nicht immer zum Zuge kommen. Meist sind die nötigen „objektiven“ Informationen nicht zur Hand. Und oft genug lohnt es sich nicht, den nötigen Aufwand zu betreiben. Dann ist es klüger, mit dem zufrieden zu sein, was bisher immer funktioniert hatte, was einem das Gefühl oder eine mythische Vorstellung sagt, oder was ein Wert an „unbedingter“ Direktive vorgibt.
Wir gehen davon aus, daß jede Situationsdefinition auch den „Typ“ des Handelns bestimmt – das Modell der Selektion des Handelns und den Modus der Informationsverarbeitung dabei. ... und noch eine Frage Es kann gar keinen Zweifel geben, daß es verschiedene „Typen“ des Handelns bzw. Modelle und Modi der Selektion empirisch gibt. Schon die Berichte über das „Wilde Denken“ haben das gezeigt (vgl. Abschnitt 6.6). Aber ist diese
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Feststellung wirklich alles, was man wissen möchte, nein: wissen müßte? Wäre es, nach der Systematisierung der Typen des Handelns, nicht eigentlich viel wichtiger, auch erklären zu können, warum – manchmal die gleiche Person – einmal affektuell, ein anderes Mal traditional, dann aber wieder sehr kontrolliert und zweckrational handelt? Und wäre es nicht auch außerordentlich wichtig, zu wissen, welche Umstände in der Situation die Selektion eines bestimmten Modells bzw. Modus der Selektion des Handelns bewirken – und nach welchen Regeln das nun wiederum geschieht? Dahinter steht natürlich eine allgemeine Frage: Gibt es nur eine und allgemeine Logik der Selektion oder deren mehrere verschiedene? Beschreiben die Typen, Modelle und Modi des Handelns nicht eigentlich bloß verschiedene situationelle Bedingungen – etwa des Bezugsrahmens oder der schieren Opportunitäten für die „Wahl“ eines bestimmten Typs des Handelns? Oder gibt es mit jedem Typus auch jeweils eine andere Logik der Selektion des Handelns? Und wenn ja: Wie kommen die Akteure dazu, immer die jeweils „richtige“ dieser Logiken zu treffen? Vielleicht dann sogar doch wieder über eine Art von optimierender Selektion, nämlich einer solchen, die auch den Modus des Handelns als Situationsbedingung in Rechnung stellt?
Der nun folgende Abschnitt macht einen Vorschlag zur Lösung des Problems. Zum Schluß der „Speziellen Grundlagen“, in Band 6 über „Sinn und Kultur, werden Sie die komplette Erklärung finden. Es ist die Erklärung des Vorgangs der subjektiven Definition der Situation, für den wir bisher, etwa in Kapitel 5, ja nur recht abstrakt angeben konnten, welche Faktoren und Prozesse dabei eine Rolle spielen.
6.8
Optimierung und Orientierung
Nach wie vor geht die Ökonomie wie selbstverständlich davon aus, daß die Rationalität die allgemeine Grundregel des menschlichen Handelns sei. Ganz anders die Soziologie. Sie geht ebenso selbstverständlich davon aus, daß die Rationalität kein allgemeiner Grundzug des Handelns sei. Die Soziologie ist ja geradezu als Kritik an der Auffassung entstanden, daß die Rationalität die Welt regiere und die allgemeine Regel der Logik der Selektion des Handelns wäre. Die Rationalität gelte allenfalls in bestimmten Unterbereichen der Gesellschaft und insbesondere unter den Bedingungen der entfesselten Ellbogengesellschaft einer kapitalistischen Verkehrswirtschaft. Folglich sind viele Soziologen auch nur schwer von Vorschlägen zu überzeugen, das rationale Handeln als die universale empirische Regel für die Logik der Selektion aufzufassen. Aber auch manche Ökonomen sehen inzwischen die eine oder andere
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Situationslogik und Handeln
Grenze ihres Modells des homo oeconomicus – und wissen nicht recht, wie sie damit umgehen sollen. Die Grenzen der Rationalität: Drei Argumente Es sind im wesentlichen drei Argumente, die gegen die Annahme der Rationalität als allgemeine Logik der Selektion des sozialen Handelns vorgebracht werden. Das erste Argument stammt aus der klassischen Soziologie Emile Durkheims und der Kritik an der, etwa auf Adam Smith zurückgehenden, Auffassung, daß sich soziale Ordnung als Folge eines zweckrationalen utilitaristischen Handelns denken lasse. Es lautet: Jeder Vertrag, den Akteure aus zweckrationalen Gründen schließen wollen, setze zwingend einen nicht-kontraktuellen Teil, einen moralischen, nicht-egoistischen Rahmen, eine aus der arbeitsteiligen Verbindung mögliche, dafür aber auch erforderliche, „organische Solidarität“ selbst dann voraus, wenn die vertragliche Beziehung vollauf im Interesse beider Partner sei. Dieser Gedanke ist von Talcott Parsons zu der – bis heute weithin in der Soziologie verbreiteten – Doktrin ausgebaut worden, daß jedes soziale Handeln einen bewertenden Rahmen von Standards voraussetze (siehe dazu noch gleich unten zum soziologischen Handlungsbegriff).
Diese Kritik am Konzept der Rationalität ist die unmittelbare Folge der These vom sog. utilitarian dilemma (vgl. dazu noch Band 3, „Soziales Handeln“ und Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Und weil es dennoch empirisch ohne Zweifel soziale Ordnung gebe, könne die Rationalität die Grundlage des sozialen Handelns nicht sein. Das zweite Argument gegen die Rationalität als einzigem oder grundlegendem Typus des Handelns hat mit der Existenz der sozialen Differenzierung auch der einfachsten Gesellschaften und sozialen Gebilde und deren Unterteilung in unterschiedliche funktionale Sphären zu tun. Zu den sozialen Regeln in den verschiedenen Sinnwelten der funktionalen Sphären gehören nämlich auch formale Eigenschaften des Handelns selbst und nicht nur die inhaltlichen Sinnzusammenhänge. Dazu gehören der Grad der Beachtung des Verhältnisses von Aufwand zu Ertrag und des Ausgleichs von Nutzen und Kosten, die Stärke der Orientierung an den obersten Maximen, also die Gesinnungsethik des Handelns, auch der Grad, in dem man den Emotionen freien Lauf läßt oder in dem gerade die sozialen Regeln verlangen, daß und in welcher Weise das Handeln von Affekten durchzogen sein soll, und schließlich der Grad, in dem das Handeln lediglich aus dem Vollzug von (halbbewußten) Routinen und Traditionen des Tuns besteht.
Die verschiedenen Bereiche der Gesellschaft unterscheiden sich also nicht nur nach ihren inhaltlichen Maximen und sozialen Regeln, sondern auch danach, wie ausgeprägt der Grad der Kalkulation von Zielen und Mitteln, von Nutzen
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und Kosten ist, der für das jeweilige Handeln erwartet wird. Es unterscheidet sich demnach nicht nur der Inhalt des in einem Sub-System erwarteten Handelns, sondern auch schon die Art, wie man dort jeweils handelt und sogar handeln muß: auf Effizienz bedacht oder an einer Gesinnung orientiert; kontrolliert-berechnend oder emotionalisiert und jedem Affekt folgend; dumpf gewohnheitsmäßig oder aufmerksam, hellwach und findig. Diese Form des Handelns bestimmt zusammen mit dem jeweils dominanten funktionalen Imperativ als Ober-Ziel den Code des Sub-Systems: kalkulierende Rationalität im Sub-System der Wirtschaft etwa gegenüber dem Altruismus der Brüderlichkeitsethik im integrativen Sub-System oder gegenüber der leidenschaftslosen, aber ebenfalls rationalen Suche nach Wahrheit im Teilbereich der Wissenschaft einer Gesellschaft (vgl. dazu noch Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Unterschiedliche Grade der Abweichung vom Idealtyp der Rationalität sind für das Handeln der Menschen aber nicht nur aus Gründen der Definition des Typs des Handelns in bestimmten Sinnzusammenhängen zu erwarten. Die Rationalität erfordert ein sehr hohes Ausmaß an Informationsverarbeitung und Durchdringung eines Entscheidungsproblems, sowie viel Zeit und Aufwand für die Entscheidungsfindung selbst. Zeit und intellektueller Aufwand gehören aber zu den chronisch knappen Ressourcen der Menschen. Die sog. bounded rationality des Menschen macht deutliche Einschränkungen des Aufwandes bei der Entscheidungsfindung erforderlich. Die Frage ist nur: Bei welchen Handlungen zuerst? Von dieser Überlegung her leitet sich das dritte Argument gegen die Rationalität als universale und als alleinige Logik der Selektion des Handelns ab. Es lautet sehr einfach: Menschen können bereits aufgrund ihrer beschränkten Fähigkeiten zur Informationsverarbeitung gar nicht immer zweckrational in dem Sinne handeln, daß sie alle Mittel in Bezug auf alle Zwecke maximieren. Sie müssen sich im Grunde schon deshalb so gut wie immer mit bescheideneren Lösungen zufriedengeben, weil die Suche nach den besten Möglichkeiten viel zu aufwendig würde. Herbert Simon hat dies mit satisficing bezeichnet – im Unterschied zum maximizing als dem unerfüllbaren Prinzip des zweckrationalökonomischen Handelns. Und Alfred Schütz hat in seinem Konzept der Lebenswelt betont, daß die Befolgung nur grober Daumennregeln für das Alltagshandeln meist auch vollkommen ausreiche – solange die Routine in zufriedenstellender Weise weiterhilft (vgl. dazu insgesamt noch Kapitel 8, insbesondere Abschnitt 8.4).
Kurz: Die bounded rationality des Menschen erzwinge die Abkehr vom Idealtypus der (Zweck-)Rationalität und die Selektion einer weniger anspruchsvollen Heuristik in den allermeisten Situationen.
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Der soziologische Handlungsbegriff Immer hat insbesondere die Soziologie darauf bestanden, daß die schiere Zweckrationalität, daß individuelle Motive und individuelle Einschätzungen, Intentionen und Antizipationen, Ziele und Mittel und der subjektive Sinn alleine für einen angemessenen Begriff des Handelns nicht genug seien. In Kapitel 1 haben wir diese Auffassung mit dem Konzept des unit act von Talcott Parsons schon kennengelernt: Zu den Zielen und den Mitteln und den Bedingungen der Situation müsse noch eine normative Orientierung hinzukommen, die dem Handeln erst seinen sozialen Sinn in Gestalt eines Bezugsrahmens gebe, der über die individuellen Motive hinausweise. In einem programmatischen Artikel zur soziologischen Theorie des Handelns haben Talcott Parsons und Edward A. Shils diese Auffassung einmal so zusammengefaßt: „The theory of action is a conceptual scheme for the analysis of the behavior of living organisms. It conceives of this behavior as oriented to the attainment of ends in situations, by means of the normatively regulated expenditure of energy.“26
Die „General Theory of Action“, die dann für die soziologische Handlungstheorie bis heute maßgeblich wurde, faßt das Handeln damit als ein Verhalten auf, das vier Elemente umfaßt: Es wird in einer Situation versucht, Ziele mit Mitteln zu erreichen, die Energie kosten und normativ geregelt sind: „There are four points to be noted in this conceptualization of behavior: (1) Behavior is oriented to the attainment of ends or goals or other anticipated states of affairs. (2) It takes place in situations. (3) It is normatively regulated. (4) It involves expenditure of energy or effort or ‚motivation’ ... .“ (Ebd.; Hervorhebung nicht im Original)
Erst wenn ein „Verhalten“ den Rahmen des Schemas dieser vier Eigenschaften ausfüllt, soll es nach Parsons und Shils „Handeln“ genannt werden: „When behavior can be and is so analyzed, it is called ‚action’. This means that any behavior of a living organism might be called action; but to be so called, it must be analyzed in terms of the anticipated states of affairs toward which it is directed, the situation in which it occurs, the normative regulation ... of the behavior, and the expenditure of energy or ‚motivation’ involved. Behavior which is reducible to these terms, then, is action.“ (Ebd.; Hervorhebungen nicht im Original)
Ein Beispiel nennen die beiden Autoren gleich auch: „Thus, for example, a man driving his automobile to a lake to go fishing might be the behavior to be analyzed. In this case, (1) to be fishing is the ‚end’ toward which our man’s behavior is 26
Talcott Parsons und Edward A. Shils (mit Unterstützung durch James Olds), Values, Motives, and Systems of Action, in: Talcott Parsons und Edward A. Shils, Toward a General Theory of Action, Cambridge, Mass., 1954, S. 53; Hervorhebung nicht im Original.
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oriented; (2) his situation is the road and the car and the place where he is; (3) his energy expenditures are normatively regulated – for example, this driving behavior is an intelligent means of getting to the lake; (4) but he does spend energy to get there; he holds the wheel, presses the accelerator, pays attention, and adapts his action to changing road and traffic conditions.“ (Ebd.)
In dem Beispiel irritiert den unbefangenen Leser wohl etwas, daß offenkundig schon ein „intelligenter“ Mitteleinsatz „normativ“ geregelt sein soll: Eigentlich ist ein „intelligenter“ Mitteleinsatz zum Zwecke der Zielerreichung ein „bloß“ intentionales, subjektiv sinnhaftes, ja geradezu zweckrationales Handeln – noch ganz ohne jede normative Regulierung. In einer Fußnote wird diese Irritation gleich so ausgeräumt: „Norms of intelligence are one set among several possible sets of norms that function in the regulation of energy expenditure.“ (Ebd., Fußnote 2; Hervorhebung nicht im Original)
Aha! Der intelligente Mitteleinsatz ist also bereits eine normativ geregelte Angelegenheit. Es ginge, so deuten Parsons und Shils an, auch anders, aber nur mit anderen Normen. Wie etwa bei einem Formel-1-Rennen, bei dem ja in der Tat eine andere Norm und ein anderes Oberziel das Geschehen bestimmt: Wer kommt als erster über die Ziellinie, an die Magnum-Flasche und an das Pisten-Girlie, selbst wenn die Reifen platzen und eine Menge an Sprit schon beim Aufwärmen draufgeht, die für 1000 Eingeborenenherde in der Dritten Welt für ein Jahr reichen würde. Auch der rein an Zwecken und Mitteln orientierte „intelligente“ oder „zweckrationale“ Einsatz von Energie ist danach also nichts als ein spezieller normativer Bezugsrahmen, unter dem das Handeln steht: die „Norm“ der Intelligenz oder die zur Zweckrationalität, so wie wir dies in Abschnitt 6.7 im Zusammenhang der Typen des Handelns mit der Zweckrationalität als normative Erwartung, als spezielles Modell der Selektion des Handelns zusammengefaßt haben. Das macht gerade die Radikalität des soziologischen Handlungsbegriffs aus: Es gibt grundsätzlich nur normativ geregeltes Handeln. Fehlt die normative Orientierung, ist es eben kein Handeln. So ist es für die Soziologie definiert. Normen und Knappheiten Der soziologische Handlungsbegriff nach Talcott Parsons und Edward A. Shils betont die normative Regulierung eines jeden Handelns. Er nennt aber auch jenen anderen Aspekt, der, anders noch als in der Fassung des unit act von Talcott Parsons, neben der normativen Orientierung vorkommt und der
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von der ökonomischen Handlungstheorie als alleine maßgeblich betrachtet wird: Die „expenditure of energy“, die Knappheiten und die Kosten einer jeden Handlung. Damit aber ist das grundlegende Problem jeder Handlungstheorie skizziert, die die normative Regelung des Handelns einbezieht: Wann kosten die normativen Orientierungen soviel an „Energie“, daß ihnen – vernünftigerweise – nicht mehr gefolgt werden sollte oder gar kann? Es ist die Frage, die uns schon in Teil A beschäftigte und die uns immer wieder begegnen wird: Wo liegen die Grenzen der Normen und der Moral, und wann und warum wird die normative Orientierung gewechselt, die einem Handeln zugrundeliegt? Optimierung oder Orientierung? Die Gesellschaftswissenschaften haben eine lange und bewegte Tradition in der Auseinandersetzung gerade in dieser Frage. Wenn man die vielen philosophischen Untiefen, die wir oben gelegentlich gestreift haben, nicht weiter beachtet, dann lassen sich im Grunde zwei Pole bzw. Maximen der Erklärung des Handelns der Menschen unterscheiden. Der erste Pol hat mit der Maxime zu tun, daß jedes menschliche Handeln im Grunde eine Frage der rationalen Optimierung vor dem Hintergrund insbesondere von Opportunitäten und Knappheiten sei. Dies ist die Perspektive, die – nach wie vor – in der Ökonomie dominiert und im Konzept des homo oeconomicus und in der Nutzentheorie ihren Niederschlag gefunden hat. Nichts regt Soziologen nach wie vor mehr auf, als die Vorstellung, daß die rationale Optimierung das allgemeine und einzige Gesetz des Handelns sein könnte. Der andere Pol ist die besondere Sichtweise der Soziologie. Sie beruht auf der Maxime, daß das mit Sinn versehene menschliche Handeln auf institutionellen Regeln und kulturellen Bezugsrahmen und daran anschließenden Orientierungen beruhe. Der homo sociologicus und die normative Theorie des Handelns, etwa die Voluntaristic Theory of Action nach Talcott Parsons oder auch die sog. normative Rollentheorie, folgen dieser Vorstellung. In dieser Perspektive ist die Maxime der Optimierung auch nur eine Art der Orientierung: Die Zweckrationalität ist lediglich einer von verschiedenen „Typen“ des Handelns. Und welcher Typus gerade „gilt“ – das sei eine Frage der kulturellen und normativen Orientierung. Die Ökonomen, die das überhaupt einmal mitbekommen haben, haben laut aufgeschrien – vor Spott und vor Entsetzen.
Was tun? Der norwegische Ökonom, Soziologe und Philosoph Jon Elster schlägt einfacherweise vor, zwei verschiedene Arten der Logik der Selektion für typisch unterschiedliche Situationen anzunehmen: die Selektion nach den Kriterien einer „rationalen“ Wahl einerseits und eine Selektion in Orientierung an „sozialen Normen“ andererseits. Den Unterschied zwischen diesen beiden Gesetzen des Handelns beschreibt Jon Elster so:
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„Rational action – be it economically or politically motivated – is concerned with outcomes. Rationality says ‚If you want to achiveve Y, do X’. Action guided by social norms is not outcome-oriented. The simplest social norms are of the type ‚Do X’ or ‚Don’t do X’.“27
Also: Die rationale Wahl des Handelns schiele nach dem Erfolg, das normorientierte Handeln dagegen nicht. Letzteres finde um seiner selbst willen statt. Es fällt nicht schwer in der Unterscheidung zwei typische Dimensionen wiederzuerkennen, die auch Webers Typologie unterliegen: die Ziel- und Mittel-optimierende Selektion einerseits und die Orientierung an nicht-rationalen Elementen, Werte, Affekte, Gewohnheiten zum Beispiel, andererseits. Ganz ohne Zweifel dürfen in der Tat beide Sichtweisen – Optimierung unter Beachtung von Knappheiten und Zuträglichkeiten und Orientierung an sozialen Regeln – jede für sich gute Argumente für eine Theorie der Selektion des Handelns beanspruchen. Die effiziente Bewältigung des Knappheitsproblems ist ebenso eine Grundbedingung der conditio humana wie das der institutionell und kulturell abgesicherten Reduktion der Weltoffenheit des Menschen. Die unhintergehbare antagonistische Kooperation als Grundbedingung jeder Vergesellschaftung beruht ja auch auf dieser Dualität: Der egoistische Opportunismus ist ebenso ein Grundzug des Menschen wie das auch emotional fundierte Interesse an einer funktionierenden sozialen Ordnung, scheinbar gegen alle egoistische Vernunft. Das Problem Für den Anspruch eines wirklich allgemeinen nomologischen Kerns bei einer soziologischen Erklärung wäre mit der Unterscheidung verschiedener Typen und Logiken des Handelns aber nicht sehr viel gewonnen. Etwa: Indem man das rationale Handeln einerseits und das normative Handeln andererseits unterschiede und sagt, daß es eben von der „Situation“ abhänge, wann welcher Typ, welches Modell des Handelns also, Geltung habe und welcher Modus der Informationsverarbeitung angeraten wäre. Es wäre aber nicht sehr zufriedenstellend, wenn nun auch, neben den Randbedingungen, das Gesetz des Handelns der Menschen mit den Gesellschaften, den Institutionen und Kulturen und, allgemein, mit den Situationen variiert. Und offen bliebe obendrein, wohl noch unangenehmer, nach welcher Regel sich die Akteure denn nun entscheiden sollen, wenn etwa nicht klar ist, welcher „Typ“ des Handelns wohl gerade gilt? 27
Jon Elster, Nuts and Bolts for the Social Sciences, Cambridge u.a. 1989a, S. 113; Hervorhebungen nicht im Original.
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Solche nicht-definierten Situationen gibt es ja häufig genug: Ist der Freund noch ein Freund, wenn er mich ständig ausnutzt? Gilt dem Partner die Ehe und der Altruismus der Liebe noch als Modell seines Handelns – oder ist er bereits längst zum zweckrationalen Egoismus der Berechnung von Versorgungsansprüchen übergegangen? Und wird es nicht allmählich Zeit für eine Umorientierung, um hinterher nicht ganz dumm dazustehen?
Spätestens bei solchen Situationen, bei denen nicht klar ist, welche übergreifende Definition der Situation gerade „gilt“, wird deutlich, daß die Akteure schon auf einer der eigentlichen Wahl des Handelns vorgängigen Ebene selektieren müssen. Es bedarf nämlich einer Selektion der Orientierung in der jeweiligen Situation. Aber wieder bleibt die Frage: Nach welcher Regel denn? Kreatives Handeln? Von Hans Joas stammt ein Vorschlag, der das gleiche Problem aufgreift: Es gibt verschiedene Typen des Handelns, sie erfassen auch jeweils für sich einen wichtigen Aspekt, sind aber alleine unvollständig und bedürfen einer theoretischen Integration, die über die bloße Addition der beiden Modelle hinausweist. Joas kritisiert die Unvollständigkeit der beiden, wie er sagt „vorherrschenden Handlungsmodelle“ des normativen und des rationalen Handelns.28 Beide Modelle vernachlässigten seiner Meinung nach jeweils für sich wichtige Aspekte des sozialen Geschehens: Die normative Theorie des Handelns überstrapaziere die Bedeutung und die Wirksamkeit normativer Übereinstimmungen und sei gegenüber den Bedürfnissen der Menschen nach Selbstausdruck und der Sicherung eines positiven Selbstbildes blind; die Theorie des rationalen Handelns sei in ihren Abstraktionen entschieden zu rigide, die „phänomenale Vielfalt“ des Handelns komme nur unter dem Gesichtspunkt „mangelnder Rationalität“ in den Blick, und sie unterstelle zu Unrecht, daß der Akteur seinen Körper unter Kontrolle habe und gegenüber seinen Mitmenschen und seiner Umwelt autonom sei (Ebd., S. 42ff., 214ff., 286ff.).
Und erneut stellt sich die Frage: Was tun? Hans Joas schlägt zur Überwindung des Schismas zwischen rationaler und normativer Theorie des Handelns (s)eine Theorie des kreativen Handelns vor. Mit Kreativität ist dabei u.a. „ ... der intentionale Charakter menschlichen Handelns, die spezifische Körperlichkeit und die ursprüngliche Sozialität der menschlichen Handlungsfähigkeit“ (ebd., S. 217) gemeint. Die Theorie vom kreativen Handeln will sich dabei nicht bloß als Ergänzung der beiden anderen Modelle verstanden wissen und lediglich ein wenig Kreativität zum rationalen und zum normativen Handeln hinzufügen. Nein. Sie stellt vielmehr den Anspruch, „ ... einen die beiden
28
Hans Joas, Die Kreativität des Handelns, Frankfurt/M. 1992, S. 15.
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anderen überwölbenden Charakter zu reklamieren.“ (Ebd., S. 15; Hervorhebung nicht im Original) Die Kreativität, die Rationalität und die Normativität bilden dabei eine organische Einheit. Mehr sogar noch: „Sie (die Theorie des kreativen Handelns; HE) produziert nicht etwa eine Residualkategorie des nicht-kreativen Handelns, sondern kann die Randbedingungen für die sinnvolle Anwendung der anderen Handlungsmodelle spezifizieren, da sie die in diesen stillschweigend enthaltenen Annahmen deutlich macht.“ (Ebd., S. 15f.; Hervorhebung nicht im Original)
Den anderen Handlungsmodellen könnte dadurch ihr „logischer Ort“ zugewiesen werden, und es ließen sich somit „ ... die Fülle von Begriffen, die mit dem Handlungsbegriff verbunden sind – wie die Begriffe Intention, Norm, Identität, Rolle, Situationsdefinition, Institution, Routine und andere –, konsistent und sachadäquat bestimmen.“ (Ebd., S. 16)
Das ist keine schlechte Idee. Es ist die Vorstellung, eine integrierte Theorie des Handelns zu entwickeln, die angeben kann, wann welcher „Typ“ des Handelns – rational oder normativ oder was auch immer – jeweils „gilt“ und wie sich die vielen Begrifflichkeiten der Theorie des Handelns darin einordnen lassen. Es ist nichts weniger als der Versuch einer reduzierenden Tiefenerklärung und der Beantwortung der Frage: Wann gilt welche „Theorie des Handelns“? Die Theorie des kreativen Handelns beansprucht, diese „überwölbende“ Ober-Theorie des Handelns zu sein. Leider vergißt Hans Joas, daß es dazu einer richtigen „Theorie“ bedarf, die alle für eine Erklärung nötigen Eigenschaften enthält, unter anderem ein allgemeines Gesetz der Selektion. Seine „Theorie des kreativen Handelns“ gibt eine Fülle von Einzelheiten der somatischen, emotionalen und psycho-sozialen Einbettung menschlicher Akteure an, die ohne Zweifel Beachtung verdienen. Eine erklärende Theorie ist die bloße Aufzählung von „Randbedingungen“ aber – wie wir wissen – leider noch nicht. Und selbst die Kreativität ist ja nicht bedingungsfrei, wie wir aus der Besprechung der Typen des Handelns und den Konzepten von Modell und Modus des Handelns wissen: Ob jemand eng an den Regeln der Zweckrationalität oder den Vorgaben dumpfer Gewohnheiten hängt, oder davon „kreativ“ abweicht, ist eine Frage der Umstände und einer Regel darüber, wann menschliche Akteure die Fesseln einer gegebenen Situationslogik verlassen und selbst innovativ und findig nach neuen Wegen zu suchen beginnen.
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Die Lösung des Problems: Die rationale Selektion des Typs des Handelns Wenn ein Typ des Handelns – rational, normativ, kreativ, whatever – als Modell und Modus der Selektion verstanden wird, dann liegt ein einfacher Gedanke nahe: Ein Akteur „wählt“ jenes Modell und jenen Modus, der für eine bestimmte Situation am wahrscheinlichsten und in seinen Konsequenzen im Vergleich zu anderen Modellen und Modi des Handelns am günstigsten erscheint. Also: Affektuell oder kreativ etwa dann, wenn es jeweils „angesagt“, möglich und möglichst günstig ist und zweckrational eben auch nur dann, wenn das angesagt und auch möglich und vergleichsweise günstig ist. Kurz: Modell und Modus der Selektion des Handelns werden – als innerliches Tun – ihrerseits nach den Regeln der subjektiven Vernunft selektiert. Das kommunikative Handeln und die Universalität der menschlichen Vernunft Ist also die (Zweck-)Rationalität letztlich dann doch das Prinzip, das alle Selektionen der menschlichen Akteure steuert, einschließlich der Selektion, ob die Regel der Selektion des Handelns der Zweckrationalität folgt oder nicht? Nicht viele Soziologen würden dieser einfachen Idee zustimmen können. Zu tief haben sie verinnerlicht, daß das eine zu einseitige und vor allem in sich widersprüchliche Sicht sei. Hilfreich ist da – gewissermaßen als emotionale Brücke für ein bloß rational offenbar nur schwer zu vermittelndes Argument – ein Soziologe, der nun wirklich nicht im Verdacht steht, das Geschäft der Ideologen der Ellbogengesellschaft zu betreiben: Jürgen Habermas und „seine“ Typologie des Handelns. Jürgen Habermas unterscheidet vier „Grundbegriffe“ des Handelns (Habermas 1981a, S. 126ff., S. 384ff.): Das teleologische, das normenregulierte, das dramaturgische und das kommunikative Handeln. Das teleologische Handeln entspricht dem Typus der Zweckrationalität: Ein „einsamer“ Akteur wägt Mittel, Nebenfolgen und Zwecke sorgfältig zu seinem Vorteil ab (vgl. dazu noch ausführlich Kapitel 7 und 8). Sind mehr als ein Akteur beteiligt, spricht Habermas auch vom strategischen Handeln, bei dem die Akteure jeweils auch nur einsam und zweckrational handeln, aber dabei die Kalküle der anderen Akteure in ihr eigenes einbeziehen. Es ist ein Spezialfall des teleologischen Handelns (vgl. dazu ausführlich noch Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). In ihrem Handeln beziehen sich die Akteure dann aber nur auf eine Welt: auf die „Richtigkeit“ ihrer Vorstellungen über die Wahrheit und Wirksamkeit ihrer Erwartungen in der Welt, in der sie sich befinden. Auch beim normenregulierten Handeln bleibt der Akteur „prinzipiell einsam“. Er bezieht sich jedoch auf gemeinsam geteilte Werte. Der Unterschied zum teleologischen bzw. zum strategischen Handeln liegt darin, daß die Ansprüche aus den Werten und Normen als im Prinzip „berechtigt“ anerkannt werden. Nun beziehen sich die Akteure auf zwei Welten: Die „objektive“ Welt der Wahrheit und der Wirksamkeit wie beim teleologischen Handeln, und die soziale Welt der Geltung von Normen. Beim dramaturgischen Handeln bringt der Akteur in derartige, im Prinzip auch nor-
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mativ geregelte Situationen seine eigenen Interessen ein, insbesondere das an einem positiven Selbstbild und dem Erhalt einer günstigen Identität. Die anderen Akteure sind dabei nicht bloßer Hintergrund fremder Kalküle oder normativer Erwartungen, sondern ein Publikum, das sich durch Darstellungen und Stilisierungen beeindrucken läßt (vgl. dazu auch noch Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Auch hier bezieht sich der Akteur auf zwei Welten: Die subjektive Binnenwelt seiner Identitäts- und Selbstdarstellungsbedürfnisse und die soziale Außenwelt der Öffentlichkeit. Das kommunikative Handeln schließlich bezieht sich auf die Beziehung zwischen „ ... mindestens zwei sprach- und handlungsfähigen Subjekten“ (Habermas 1981a, S. 128). Hier geht es um das „Aushandeln konsensfähiger Situationsdefinitionen“ (ebd.), um die Koordination des Handelns durch Verständigung, nicht zuletzt über die Gemeinsamkeit gewisser Interessen. Nun findet die Verschmelzung aller drei Welten statt, in denen der Akteur sich bewegt: die objektive Welt der „Richtigkeit“ seiner Erwartungen, die soziale Welt der Normen und der Öffentlichkeit und die subjektive Welt seiner Identität und inneren Bedürfnisse. Was das kommunikative vom teleologischen, vom normenorientierten und vom dramaturgischen Handeln unterscheidet, macht Jürgen Habermas am jeweils unterschiedlichen Gebrauch der Sprache deutlich (ebd., S. 141ff.): Für das teleologische bzw. das strategische Handeln ist die Sprache bloß ein instrumentelles Mittel der Zielerreichung, für das normenorientierte Handeln nur eine – eher: technische – Voraussetzung, an die man sich füglicherweise hält und für das dramaturgische Handeln ein bloßes Medium der Selbstinszenierung. Beim kommunikativen Handeln hat die Sprache dagegen eine weitergehende, alle anderen Funktionen übergreifende Bedeutung: Sie umfaßt dann „alle Sprachfunktionen gleichermaßen“ (ebd., S. 143).
Das kommunikative Handeln ist also die anspruchsvollste und weitreichendste Form des Handelns: Es wird vorausgesetzt, daß der Andere eine Äußerung des Akteurs bestreiten kann, und daß der Akteur dann dazu mit guten Gründen Stellung nehmen müßte. Beiderseitig anerkannte Geltungsansprüche von Äußerungen können dann als intersubjektiv verbindlich angesehen werden. Der Hintergrund ist ein gemeinsames Motiv: Das vorbehaltlose und aufrichtige Ziel der Verständigung, das weder durch strategische Interessen, noch durch normative Vorgaben, noch durch Selbstdarstellungen dominiert wird, sondern alle drei Gesichtspunkte im Interesse an der Verständigung integriert. Das aber setzt wiederum voraus, daß sich die Akteure als im Prinzip zu Vernunft fähige Wesen ansehen und anerkennen, wenn sie in den Prozeß der kommunikativen Verständigung eintreten: „Mit diesem Handlungsmodell wird unterstellt, daß die Interaktionsteilnehmer das Rationalitätspotential, das nach unserer bisherigen Analyse in den drei Weltbezügen des Aktors steckt, ausdrücklich für das kooperativ verfolgte Ziel der Verständigung mobilisieren.“ (Ebd., S. 149; Hervorhebung nicht im Original)
Alle anderen Handlungstypen vermögen nur, jeweils einen der Weltbezüge zu thematisieren. Gleichwohl liegt allen Handlungstypen letztlich doch die teleologische Struktur zugrunde: „In allen Fällen wird die teleologische Handlungsstruktur insofern vorausgesetzt, als den Aktoren die Fähigkeit zu Zwecksetzung und zielgerichtetem Handeln, auch das Interesse an der
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Ausführung ihrer Handlungspläne zugeschrieben wird.“ (Ebd., S. 151; Hervorhebungen nicht im Original)
Sicher dominiert das teleologische, das „rationale“ Handeln nicht alle Typen des Handelns. Aber es liegt ihnen, so Habermas, stets zugrunde. Das hatte Jürgen Habermas auch schon gemeint, als er davon sprach, daß die prälogischen mythischen Weltbilder weit davon entfernt seien, „rationale Handlungsorientierungen zu ermöglichen“ (vgl. Abschnitt 6.6). Erst im kommunikativen Handeln könne sich, so müssen wir Habermas verstehen, die im homo sapiens angelegte Rationalität voll entfalten. An der Vernunft der Menschen, so wollen wir den Gedanken zuammenfassen, führt letztlich also nichts vorbei: Weder Werte, noch Affekte oder Traditionen, auch nicht die Disposition zur Kreativität oder das Bedürfnis nach Selbstdarstellung, und schon gar nicht: das Motiv zur Verständigung, können die Fähigkeit des Menschen zu Vernunft und zu eigeninteressiertem Handeln ausschalten. Konsensus, Verständigung und kommunikatives Handeln liegen manchmal, leider nicht immer, im ureigenen Interesse der Menschen. Und sie wären schlecht beraten, dann bloß strategisch oder bloß normenorientiert oder bloß dramaturgisch zu handeln. Die Optimierung der Orientierung Alles spricht also in der Tat dafür, daß es verschiedene Typen des Handelns gibt, und daß die Orientierung der Vorgang ist, der die Selektion dieser Typen, der Modelle und der Modi der Selektion also, steuert. Die Frage bleibt nur: Nach welcher Selektionsregel geschieht diese Orientierung als innerliches Tun? Nach allem, was sich abzeichnet, ist es diese: die Regel der Optimierung von Modell und Modus des Handelns, die Optimierung der Orientierung also. Damit wäre die Optimierung schließlich doch das allgemeinste Gesetz des Handelns. Sie ist, gerade auch in ihrer Anwendung auf die Selektionen, die die subjektive Definition der Situation steuern, ein Teil der Stellungnahme der menschlichen Organismen zu ihrer Umwelt und als solche ein zentrales und unaufgebbares Ergebnis der Evolution des homo sapiens und der menschlichen Gesellschaft allgemein. Eine andere Regel wäre kaum vorstellbar.
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Die „Logik der Selektion“
Wir können nun das Kapitel über den „Begriff“ des Handelns abschließen. Es fehlt nur noch die Klärung einer Frage, bevor wir zur Auswahl geeigneter Theorien des Handelns kommen können: Was wird von einer Handlungstheo-
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rie als der Logik der Selektion im Zusammenhang des Modells der soziologischen Erklärung verlangt? Es ist schon einiges. Aber es ist auch nichts, was unmöglich wäre. Wir wollen die verschiedenen inhaltlichen, methodischen und formalen Anforderungen an eine für die Zwecke der soziologischen Erklärung brauchbare Theorie des Handelns in sechs Punkten zusammenfassen: Präzision, Kausalität, Allgemeinheit, Einfachheit, Modellierbarkeit und Bewährung. 1. Präzision Jede, für die Zwecke einer soziologischen Erklärung überhaupt nur brauchbare Handlungstheorie muß eine präzise funktionale Verbindung zwischen bestimmten Antezedensvariablen, in denen Merkmale der Situation beschrieben werden können, und der Folgevariablen eines bestimmten Handelns angeben. Es reicht nicht aus, nur bestimmte Merkmale und Besonderheiten oder Umstände des Handelns – etwa: Normen, Symbole, das Unbewußte, das Motiv zur Verständigung oder die Kreativität – zu benennen und zu sagen, daß sie irgendeinen „Einfluß“ hätten. Man muß auch genau sagen, wie sich dieser Einfluß auswirkt und unter welchen Bedingungen eine Alternative gewählt würde – und wann nicht. Kurz: Über das Handeln kann man nicht nur als „Begriff“ und in vagen Abhängigkeiten sprechen, sondern man muß es in Lehrsätze der funktionalen und präzise angebbaren Beziehung zwischen Variablen fassen. 2. Kausalität Es muß sich bei der verwendeten funktionalen Beziehung außerdem um eine Variante eines Kausalgesetzes handeln. Nur Kausalgesetze kommen ja als Gesetze bei Erklärungen in Frage. Damit wird verlangt, daß die Randbedingungen des Gesetzes – etwa die Opportunitäten, die institutionellen Regeln, der Bezugsrahmen und die „Definition der Situation“ – der Folge, dem sichtbaren Handeln also, zeitlich vorangehen, daß die Folge von den Randbedingungen abhängig ist, und daß es für diese Abhängigkeit keine weitere, unbeobachtete Ursache gibt. Wir haben oben in Abschnitt 6.4 gesehen, daß die Kausalität auch für den Fall des intentionalen und mit Sinn belegten Handelns zutrifft: Jetzt vorliegende Intentionen zur Erreichung eines Zielzustandes können die Ursache für ein darauf folgendes Handeln sein – ganz unabhängig davon, ob dann das Handeln den gewünschten Erfolg hat oder nicht. Die Kategorie des
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Situationslogik und Handeln
„teleologischen“ Sinns, die für das menschliche Handeln so wichtig ist, steht mit der Möglichkeit einer kausalen Theorie des Handelns in keinerlei Widerspruch. 3. Allgemeinheit Diese Bedingung hat mit dem methodischen Ziel zu tun, der angewandten Handlungstheorie einen möglichst hohen Anwendungsgrad und Informationsgehalt zu verleihen. Sie soll – im Prinzip – für alle Exemplare des homo sapiens, für alle historischen Epochen der Menschheitsgeschichte und für alle Varianten von Situationen zutreffen. Das muß in keiner Weise bedeuten, daß sich die Menschen alle gleich verhalten oder handeln müßten. Aber es wird angenommen, daß alle Variationen des Verhaltens oder Handelns auf Änderungen in den Randbedingungen der Handlungstheorie und eben nicht auf Unterschiede in der Logik der Selektion des Handelns zurückgehen. Damit werden die verschiedenen Typen bzw. Modelle und Modi des Handelns nicht als eigene und stets neue „Gesetze“ des Handelns, sondern nur als Varianten des allgemeinen Grundmusters angesehen, wobei die Selektion dieser Typen, Modelle und Modi des Handelns selbst eine Art von innerlichem Tun nach diesem Muster ist. 4. Einfachheit Die Handlungstheorie ist im Kontext des Modells der soziologischen Erklärung eigentlich nur ein vergleichsweise unwesentliches – wenngleich unentbehrliches – Bindeglied. Sie hat eher nur eine instrumentelle Funktion: die logische und kausale Verbindung der Situation mit dem Handeln der Menschen und der erst dann möglichen Ableitung der aggregierten Effekte. Deshalb reicht es aus, wenn sie nur die typischen Aspekte einer Situation beschreiben und das Handeln der Menschen zuverlässig erklären und vorsagen hilft. Über die „wahren“ Prozesse dabei – etwa im Unbewußten oder im neuronalen System oder bei den Emotionen – müssen die Soziologen nicht viel wissen. Es reicht aus, wenn die Handlungstheorie gut funktioniert. Deshalb werden auch keine besonders „realistischen“ Handlungstheorien benötigt, sondern nur solche, die ihre Aufgabe gut erfüllen – und dabei möglichst einfach sind. Dies ist nichts weiter als die Anwendung des Prinzips der abnehmenden Abstraktion. Soziologen sind Soziologen – und keine Psychoanalytiker, Neuronenspezialisten oder Emotionspsychologen. Erst wenn die ganz einfachen Theorien ihren
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Dienst versagen, muß man sich nach realistischeren, dann aber meist auch sehr viel komplizierteren Varianten umsehen. Wir kommen ohne diese aus. 5. Modellierbarkeit Damit in engem Zusammenhang steht eine weitere Anforderung: Die verwendete Handlungstheorie muß es erlauben, die unterschiedlichsten und komplexesten Situationen mit möglichst wenigen Grundvariablen zu modellieren. Dies ist bei der in diesem Buche präferierten Theorie des Handelns – bei der Wert-Erwartungstheorie – in besonderem Maße der Fall. Sie enthält nur zwei Arten von Variablen als „Ursachen“: Bewertungen und Erwartungen. Jede alternative Handlungstheorie – etwa die Rollentheorie, die Theorie der symbolischen Interaktion, die ethnomethodologische Theorie, die Theorie des kreativen oder des kommunikativen Handelns – müßte angeben können, welche Grundvariablen sie denn nun genau enthält und auf welche Weise diese mit der „Folge“ – einem bestimmten Handeln – kausal zusammenhängen. Modellierbarkeit und Einfachheit sind – gerade wegen des bloß instrumentellen Charakters der Handlungstheorie bei soziologischen Erklärungen – ganz besonders wichtig. 6. Bewährung Schließlich gibt es noch die – selbstverständliche – Anforderung, daß die verwandte Handlungstheorie empirisch gut bewährt sein soll. Dies kann auf dreierlei Weise belegt werden: Erstens durch spezielle Experimente. Diese sind aber für das menschliche Handeln vor allem in Realsituationen äußerst spärlich. Zweitens durch die Reinterpretation bestimmter beobachteter Abläufe in der Sprache der jeweiligen Handlungstheorie. Und drittens – nicht zuletzt – darüber, mit wieviel oder wiewenig Aufwand zunächst „falsifizierende“ Anomalien im Rahmen des ursprünglichen Modells schließlich doch wieder erklärt werden können, ohne seinen Kern zu ändern (vgl. auch dazu noch Kapitel 8, insbesondere Abschnitt 8.3). Auch dies – so viel sei hier vorweggenommen – ist nicht bei allen Theorien des Handelns gleichermaßen der Fall. *** Welche fabelhafte Theorie des Handelns, die allen diesen Bedingungen wenigstens einigermaßen entspricht, soll es denn dann aber sein? Das ist natür-
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lich eine scheinheilige rhetorische Frage. Die Antwort darauf haben wir schon mehrfach nicht nur angedeutet: die Wert-Erwartungstheorie. Wir kommen sofort im nächsten Kapitel darauf zu sprechen.
Exkurs über die unbegründete Furcht vor Vernunft und Eigennutz Gary S. Becker hat 1992 den Nobelpreis für Ökonomie für seine Versuche erhalten, auch Ehen, Kinderwünsche, Freundschaften, Ehescheidungen, Verbrechen und Diskriminierungen letztlich als Folge des Nutzens und der Kosten des jeweiligen Handelns zu erklären. Die skeptischen Kommentare nicht nur von soziologisch ausgebildeten Autoren in den Tageszeitungen aller Couleurs haben gezeigt, daß die Vorbehalte gegen die (Zweck-)Rationalität als universale Theorie des Handelns weit über die Soziologie hinaus verbreitet sind. Die Skepsis richtete sich zunächst gegen die Verwendbarkeit der Theorie des rationalen Handelns als deskriptive Aussage (vgl. dazu noch das Kapitel 8 ausführlich). Die Auffassung von der universalen Rationalität des Handelns als der einen Logik der Selektion wird in den Gesellschaftswissenschaften gelegentlich aber auch mit einem normativen Unterton abgelehnt: Wenn nur noch die kalkulierende Zweckrationalität die Welt beherrschte, dann ginge es langfristig den Menschen schlecht, und der Gesellschaft bzw. der Gattung drohten Krisen, vielleicht sogar der Untergang. Emile Durkheims Sorge vor der Anomie und – daran anschließend – Talcott Parsons These vom utilitarian dilemma hatten immer auch diese moralisierenden Untertöne. Die sog. Kritische Theorie der Frankfurter Schule um Adorno, Horkheimer und Marcuse haben diese Warnung vor der immer weiteren Entfaltung der entfremdenden Zweckrationalität in der Moderne dann auch mit einem dezidiert normativen Programm verbunden – und dabei sogar Karl Marx recht heftig kritisiert, der noch deutlich auf die volle Entfaltung der Kategorie der Arbeit, der rationalen Wissenschaft und der technischen Produktivkräfte als materielle Voraussetzung für die endgültige Befreiung des Menschen von den selbsterzeugten Zwängen gesetzt hatte. Den Gedanken der Kritischen Theorie auf eine normativ vorgegebene Abkehr von der bloß instrumentellen Rationalität – sogar als Bedingung des Überlebens der Gattung des Menschen – hat vor allem Jürgen Habermas fortgeführt. Von ihm stammt der oben bereits kurz angesprochene Versuch, dem sog. kommunikativen Handeln gegenüber einer bloß instrumentell gedachten Zweckrationalität eine Sonderstellung einzuräumen. Zwar ist Jürgen Habermas weit davon entfernt, die „teleologischen“ Aspekte des menschlichen Handelns zu ignorieren oder gar als „einseitig“ abzuwerten. Im Gegenteil: Die Vernunft der Menschen wird gerade beim kommunikativen
Handeln
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Handeln vorausgesetzt und kommt sogar erst dort zu ihrem vollen Recht. Aber eben nicht nur die Vernunft, sondern insbesondere auch die Moralität der Menschen. Vor den Verderbnissen einer einseitigen instrumentellteleologischen Rationalisierung schütze nur die Orientierung am Typ der kommunikativen Verständigung. Wirklich, Du! Die Kritische Theorie der Frankfurter Schule und die Theorie des kommunikativen Handelns sind inzwischen etwas bleich gewordene Hinterlassenschaften einer anderen Zeit. Wenn man die Texte heute liest, überkommt einen schon manches Gefühl der Rührung – vor so viel Naivität und zerstobener Hoffnung, etwa auf die vertane Studentenbewegung, auf die Schimäre der Basisdemokratie auch bei den Grünen und auf die vom Wohlfahrtsstaat einst so trefflich unterstützte kommunikative Dauerverständigung im verkehrsberuhigten Stadtteil. Aber es gibt sie immer noch – die Verfechter einer sich auch als moralische Instanz verstehenden Soziologie und die vielen anderen guten Menschen, zu Hause nicht nur in den Feuilletons der etabliert-spontanen, gutlinksmitterechtsbildungsbürgerlichen bis stockkonservativen Organe für Prof. Dr. Lieschen Müller-Wohlbestallt aus Berlin, Hamburg oder Frankfurt. Der Nobelpreis an Gary S. Becker hat sie zu teilweise ganz aufgeregten und in der Sache auch grauslich falschen Kommentaren verführt.29 Und angelegentlich wird mit einem von allen Geschäftigkeiten des Kapitalismus freigesetzten Millionenerben zusammen ein larmoyanter Kongreß über die Barbarei der Moderne organisiert – und dabei offenbar vergessen, wie überaus barbarisch es zuvor zugegangen ist und weiter zugeht. Die erklärende Soziologie sieht die Sache ganz anders und, wenn man so will, ohne jede Moral. Sie ist ohne falsche Hoffnung und ohne Illusion über die anthropologisch verankerte Natur des homo sapiens. Sie fürchtet sich nicht vor der Vernunft der Menschen. Sie ignoriert nicht, daß menschliche Akteure keine Engel sind und auf die Werte, die Normen, das Motiv zur Verständigung und ihr schönes moralisches Bewußtsein alsbald pfeifen, wenn es sie zuviel an Zeit, Nerven, und andere Attraktionen kostet. Und sie weiß auch nicht schon vorher, ob mit Rationalität und Eigennutz notwendigerweise nur Ausbeutung, Unordnung, Amoral und Chaos in die Welt kommen müssen. Die kollektiven Folgen sind, gottlob, von den Motiven des Handelns unabhängig. Und kaum etwas hat mehr an Barbarei hervorgebracht als die Orientierung an Gemeinschaft und Moral und die Abwertung der Individualität, der Eigeninteressen und der Rationalität der Menschen.
29
So beispielsweise: Max Miller, Ellbogenmentalität und ihre theoretische Apotheose. Einige kritische Anmerkungen zur Rational Choice Theorie, in: Soziale Welt, 45, 1994, S. 315.
Kapitel 7
Die Wert-Erwartungstheorie
Theorien des Handelns finden sich in den Wissenschaften vom Menschen überreichlich. Und die Wahl fällt, wenn man keine Kriterien hat, nicht leicht. In der Soziologie alleine können mindestens sechs, zum Teil sehr unterschiedliche Varianten an Handlungstheorien unterschieden werden. Zum Beispiel: die normative Handlungstheorie nach Talcott Parsons, die Theorie der symbolischen Interaktion nach George H. Mead, die Theorie des Alltagshandelns nach Alfred Schütz, die ethnomethodologische Theorie nach Harold Garfinkel, die Theorie des dramaturgischen Handelns nach Erving Goffman und die soziologische Rollentheorie, die ihrerseits wiederum in verschiedenen Spielarten zu haben ist (vgl. dazu auch Band 5, „Institutionen“, und Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Die Ökonomie verläßt sich überwiegend auf eine spezielle Variante der Theorie des (zweck-)ratio-nalen Handelns: die Nutzentheorie in Gestalt der sog. neoklassischen Preistheorie. In der Psychologie finden wir u.a. lern- und verhaltenstheoretische Ansätze, Einstellungstheorien oder kognitive Erklärungen des Handelns (vgl. dazu schon Abschnitt 6.1, sowie Kapitel 9). Welche Handlungstheorien die Historiker verwenden, kann man nur aus ihren Werken erschließen. Oft ist es eine Variante des praktischen Syllogismus bzw. der subjektiv rationalen Erklärung, so wie wir sie in Abschnitt 6.4 am Beispiel der Analyse von Hitlers Kriegserklärung an die USA durch Sebastian Haffner gesehen haben. Auch Politologen, Juristen, Theologen, Kriminologen und sogar Mediziner und Literaturwissenschaftler befassen sich mit der Erklärung des Handelns von Menschen. Aber mit welcher Theorie des Handelns tun sie das? Sie wissen es wohl – wie die Alltagsmenschen – selbst nicht immer so genau. Welche Theorie des Handelns soll es nun aber für die Zwecke der soziologischen Erklärung sein, wenn wir nicht für jedes Problem und für jede Teildisziplin eine eigene Variante bereithalten wollen? Es ist noch einmal die rhetorische Frage vom Schluß des letzten Kapitels. Und jetzt auch noch einmal die Antwort: Die Wert-Erwartungstheorie (auch: WE-Theorie) ist diejenige Erklärung des Handelns, die nach den in Abschnitt 6.9 genannten Kriterien
248
Situationslogik und Handeln
noch am ehesten für die Logik der Selektion in Frage kommt. Das ist kein einfaches Durchschlagen eines gordischen Knotens: Es gibt gute Gründe für die Annahme, daß die WE-Theorie alle oben genannten Handlungstheorien als Spezialfälle enthält und daher tatsächlich the One and the Only ist und eben nicht einseitig immer nur einen Aspekt des Handelns berücksichtigt. Ihre Grundstruktur und einige spezielle Einzelheiten, sowie drei konkrete Beispiele für ihre Anwendung sind der Gegenstand des nun folgenden Kapitels. Das Grundprinzip Die WE-Theorie ist eine im Grunde sehr einfache Sache. Das ist ja gerade einer ihrer Vorteile. Sie ist auch gut zu verstehen, weil sie der Lösung von Alltagsproblemen und dem „Verstehen“ der Menschen sehr nahe ist. Ihre grundlegende Regel lautet: Versuche Dich vorzugsweise an solchen Handlungen, deren Folgen nicht nur wahrscheinlich, sondern Dir gleichzeitig auch etwas wert sind! Und meide ein Handeln, das schädlich bzw. zu aufwendig für Dich ist und/oder für Dein Wohlbefinden keine Wirkung hat! Die Annahmen der WE-Theorie lassen sich in sechs Punkten zusammenfassen. Die WETheorie geht erstens davon aus, daß jedes Handeln eine Selektion, letztlich also: eine Entscheidung und eine Wahl zwischen Alternativen ist. „Wahl“ und „Entscheidung“ meint, anders als im üblichen Sprachgebrauch, dabei keineswegs, daß es sich um ein bewußtes, abwägendes Tun handelt, sondern nur daß aus mehreren möglichen Alternativen eine schließlich zum Zuge kommt – wie und warum auch immer. Zweitens wird angenommen, daß ein jedes derart selektiertes Handeln gewisse Folgen hat. Die Folgen können drittens vom Akteur als unterschiedlich zuträglich empfunden werden – positiv oder negativ in verschiedenen Graden, oder aber auch neutral. Entsprechend sind die Folgen für den Akteur mit unterschiedlichen Bewertungen versehen. Die Folgen treten viertens mit dem Vollzug des Handelns jeweils mit einer unterschiedlichen Wahrscheinlichkeit ein, die der Akteur als Erwartungen gespeichert hat. Die Alternativen werden fünftens einer Evaluation unterzogen: Sie werden nach einer gewissen Regel gewichtet. Diese Gewichte der Alternativen werden als Wert-Erwartungen bezeichnet. Wir nennen sie auch WE-Gewichte oder EV- bzw. EU-Gewichte, von „expected value“ bzw. „expected utility“ als andere Ausdrücke für die Wert-Erwartung (vgl. dazu auch noch Abschnitt 8.4). Von diesen Gewichten hat die WE-Theorie ihren Namen. Schließlich wird sechstens eine Selektion vorgenommen und jene Alternative aus allen betrachteten ausgeführt, deren WEbzw. EU-Gewicht im Vergleich maximal ist.
Die WE-Theorie knüpft mit ihren beiden Grundvariablen – Bewertungen und Erwartungen – erkennbar an das Konzept des subjektiven Sinns an, auf das Max Weber ja so großen Wert legte: Die Menschen handeln vor dem Hintergrund gewisser Absichten und den von ihnen eingeschätzten Bedingungen, wie diese Absichten verwirklicht werden könnten. Die WE-Theorie ist demnach eine Variante der Theorien des „rationalen“ Handelns: Der handelnde Akteur ist – im faktischen Tun, nicht unbedingt auch in einer reflektierten
Die Wert-Erwartungstheorie
249
Überlegung! – an den Folgen seines Handelns vor dem Hintergrund der inneren und äußeren Bedingungen in der Situation orientiert. Wir haben in Kapitel 6 schon gesehen, daß dies sogar die „rationale“ Selektion von nicht-rationalem Handeln einschließen kann. Die WE-Theorie erlaubt ferner eine kausale Erklärung des Handelns. Sie ist ganz ähnlich wie der praktische Syllogismus der Logik des Handelns aus Abschnitt 6.4 aufgebaut: Die Akteure handeln gesetzmäßig nach ihren subjektiven Zielen und subjektiven Kausalhypothesen darüber, wie man diese Ziele erreichen kann. Das jeweilige Handeln ist das Explanandum, und die Bewertungen bzw. die Erwartungen sind die Randbedingungen bei dieser Erklärung. Das Gesetz der WE-Theorie besteht aus einer Regel für die Bildung der EUGewichte und aus einer Regel für die Wahl des Handelns. Gegeben die Bewertungen der Folgen und gegeben die Erwartungen, daß ein bestimmtes Handeln zu gewissen Folgen führe, leitet sich das zu erklärende Handeln über diese beiden Regeln kausal-logisch und deterministisch ab – obwohl der „Ort“ der Selektion des Handelns immer ein menschlicher Akteur ist, der „im Prinzip“ auch anders könnte und „frei“ in seinen Entscheidungen ist. Er tut es nur normalerweise nicht, weil er ansonsten gegen seine bessere Einsicht und gegen seine eigenen Interessen verstoßen würde. Die WE-Theorie ist nur ein „Modell“ des Entscheidungsprozesses, keine empirische Beschreibung oder Erklärung auch der Vorgänge im Gehirn oder in den Muskeln des Akteurs. Das muß sie auch nicht sein – solange sie als Logik der Selektion innerhalb einer soziologischen Erklärung brauchbar arbeitet. Für ihre Anwendbarkeit als Logik der Selektion ist es daher ganz gleichgültig, ob die Menschen jeweils auch „wirklich“ über die Folgen ihres Tuns sinnhaft nachdenken oder nicht. Es genügt, daß sie so handeln, „als ob“ die WETheorie auch „wirklich“ zutreffen würde. Und das ist genug für die Zwecke der Soziologen, die ja keine Hirnphysiologie, keine Emotionsbiologie und keine Tiefenpsychologie betreiben wollen, sollen oder müssen und an den Einzelmenschen ohnehin nicht interessiert sind. Einige theoriegeschichtliche Hintergründe Die WE-Theorie entstammt einer langen interdisziplinären Tradition der Beschäftigung mit dem Handeln der Menschen als „Entscheidung“.1 Erste An1
Vgl. zur WE-Theorie u.a.: Ward Edwards, The Theory of Decision Making, in: Psychological Bulletin, 4, 1954, S. 380-417; Robert P. Abelson und Ariel Levi, Decision Making and Decision Theory, in: Gardner Lindzey und Elliot Aronson (Hrsg.), Handbook of Social Psychology, Band 1: Theory and Method, 3. Aufl., New York 1985, S. 243ff.; Heinz
250
Situationslogik und Handeln
sätze finden sich bei dem englischen Philosophen Jeremy Bentham (17481832), der das Nutzenkonzept in das ökonomische Denken systematisch eingeführt hatte. Ein wichtiger Schritt wurde von dem Statistiker Daniel Bernoulli (1700-1782) getan. Von ihm stammt auch die grundlegende Logik aller Varianten der Entscheidungstheorie: Es wird die Alternative gewählt, deren Erwartungswert am höchsten ist. Das Problem einer „rationalen“ Entscheidung hatten – neben den Geschäftsleuten – nämlich vor allem die Spieler in den Spielsalons der gelangweilten Aristokraten der damaligen Zeit: welches jeu ist das Beste? Nun, offenkundig das, bei dem das Produkt von Wert und Wahrscheinlichkeit des Gewinns im Vergleich am höchsten ist. Lotterien mit hohem, aber fast ausgeschlossenem Gewinn sind ebenso schlecht wie Lotterien mit guten Chancen, aber sehr geringen Auszahlungen. Der erwartete Wert EVi einer Lotterie i ist ja die Summe des Gewinns Vj aus allen n denkbaren Gewinn- und Verlustsituationen, gewichtet mit der Wahrscheinlichkeit pij, daß das jeweils günstige Ereignis eintritt oder nicht: EVi=pij*Vj. Der statistisch geschulte Leser wird bemerkt haben, daß dies nichts anderes als der statistische Mittelwert der zu erwartenden Gewinne der Lotterie ist.
Den eigentlichen Anstoß zur inhaltlichen Interpretation der Theorie der Werterwartung gaben John von Neumann und Oskar Morgenstern in einer inzwischen klassischen Arbeit.2 Eine wichtige Weiterentwicklung hin zur Anwendung auf das tatsächliche Handeln auch in anderen Bereichen, war die Umdeutung der Wahrscheinlichkeiten und der Bewertungen von objektiven Größen auf subjektive: subjektive Wahrscheinlichkeiten und subjektive Bewertungen, die dann als subjektiver Nutzen verstanden werden (vgl. dazu noch Abschnitt 8.4). Das Konzept der „subjektiven“ Nutzenerwartung geht auf einen gewissen Thornton C. Fry zurück, auf den sich Leonard J. Savage berufen hat, der von der „personalen“ (Nutzen)-Erwartung spricht.3 Ein nachhaltiger Beitrag zu ihrer heutigen Form als erklärende Theorie des Handelns wurde ferner von einer interessanten Konvergenz in der Entwicklung der psychologischen Handlungstheorien geliefert. Heckhausen, Motivation und Handeln, 2. Aufl., Berlin u.a. 1989, S. Kapitel 5: Motivation durch Erwartung und Anreiz, S. 133-188; Werner Langenheder, Theorie menschlicher Entscheidungshandlungen, Stuttgart 1975, S. 37f.; Franz Eisenführ und Martin Weber, Rationales Entscheiden, Berlin u.a. 1993, S. 200ff. Kritisch zur WE-Theorie: Shaun Hargreaves Heap, Rationality, in: Shaun Hargreaves Heap, Martin Hollis, Bruce Lyons, Robert Sugden und Albert Weale, The Theory of Choice. A Critical Guide, Oxford und Cambridge, Mass., 1992, S. 4ff.; Paul J. Schoemaker, The Expected Utility Model: Its Variants, Purposes, Evidence and Limitations, in: The Journal of Economic Literature, 20, 1982, S. 529-563. 2
John von Neumann und Oskar Morgenstern, Theory of Games and Economic Behavior, Princeton 1944, S. 15ff.
3
Leonard J. Savage, The Foundations of Statistics, New York 1954, Kapitel 3: Personal Probability, S. 27ff.
Die Wert-Erwartungstheorie
251
Zwei Hauptrichtungen bestimmten die Diskussionen in der Psychologie für eine lange Zeit: die eher behavioristische Trieb-mal-Habit-Theorie von Edward L. Thorndike und Clark L. Hull; und die eher mentalistische Erwartungs-mal-Wert-Theorie bei Kurt Lewin und Edward C. Tolman. Später wurde bemerkt, daß beide Theorien im Grunde das Gleiche sagen: Das Verhalten aller Organismen ist eine Funktion des Produktes aus der Stärke eines Wunsches („Trieb“ einerseits, „Wert“ andererseits) und der Intensität der Erwartungen, daß das Verhalten zur Verwirklichung des Wunsches führe („Habit“ einerseits, „Erwartung“ andererseits). Die WE-Theorie integriert die behavioristisch-erklärenden und die mentalistisch-verstehenden Ansätze. Es ist – in der Sprache des Abschnitts 6.1 aus dem vorigen Kapitel – eine Variante der „neobehavioristischen“ S-O-R-Theorie.
John W. Atkinson und – in Deutschland – Heinz Heckhausen haben viel zur Weiterentwicklung der WE-Theorie und zur Klärung dieser Konvergenzen beigetragen.4 Die Konvergenzen reichen inzwischen bis weit in die ökonomische Theorie und in die Konzepte der philosophischen Handlungslogik hinein.
7.1
Das Grundmodell der WE-Theorie
Nun aber zu den Grundelementen der WE-Theorie. Im Anschluß an die sechs oben genannten Annahmen werden zuerst das Explanandum der WE-Theorie näher beschrieben, dann ihre Randbedingungen und schließlich die Gewichtungs- und die Selektionsregel. 1. Die Alternativen Das Explanandum der WE-Theorie ist eine bestimmte Handlung Ai. Zu erklären ist, warum sie – und keine andere – von einem Akteur selektiert wurde. Zur Erklärung der Selektion von Ai muß zunächst der gesamte Satz an Alternativen bestimmt werden, der dem Akteur verfügbar ist, darunter natürlich auch Ai. Die Alternativen müssen dabei wechselseitig ausschließend sein. Die WE-Theorie setzt also voraus, daß es immer mindestens zwei Alternativen gibt. Und das ist ja auch in der „Wirklichkeit“ stets so: Zu einem bestimmten Handeln gibt es immer die Möglichkeit, etwas anderes zu tun – so undenkbar und schlimm die Folgen davon auch immer sein mögen. Findige Akteure verschaffen sich außerdem zur Not immer noch einen Ausweg. Und selbst der Galeerensklave könnte den Tod dem weiteren Leiden als Alternative vorziehen. Zu den Alternativen gehören – wie Max Weber verdeutlicht hat – selbstverständlich auch das Dulden und das Unterlassen. Und es zählen kognitive Akte, wie das Wahrnehmen, kommunikative Handlungen, wie das Sprechen, inneres und äußeres Tun, die Suche nach Informationen, das Nachahmen anderer Akteure und sogar das Lernen, das Vergessen und das Ver4
Vgl. die Zusammenfassung bei John W. Atkinson, Einführung in die Motivationsforschung, Stuttgart 1975, S. 167ff., 337ff.; sowie Heckhausen 1989, S. 157ff.
252
Situationslogik und Handeln
drängen dazu. Die Alternativen können beliebig fein oder in diskrete, gar „binär codierte“ Einheiten unterteilt sein. Es können sowohl Einzelhandlungen wie ganze Bündel und komplette Sequenzen von Handlungszusammenhängen, „Strategien“, „Projekte“, soziale Drehbücher, Rollen und „Handlungen“, sogar Modelle der Situationsdefinition und des Handelns und Modi der Informationsverarbeitung damit gemeint sein.
Bei den betrachteten Alternativen können im Prinzip alle denkbaren, auch die dem Akteur eigentlich unmöglichen, Alternativen genannt werden. Bei der Benennung des Möglichkeitsraumes der Alternativen sollte aber – wie bei allen Modellierungen – immer möglichst sparsam und vereinfachend vorgegangen werden: möglichst nur wenige und nur möglichst „typische“ Alternativen, die auch für die Erklärung des jeweiligen Problems relevant sind. Nicht jeder Grashalm muß in den Modellen der Handlungserklärung berücksichtigt werden. Und es empfiehlt sich im konkreten Fall auch, diejenigen Alternativen auszulassen, die für alle betrachteten Akteure weit außerhalb ihrer Möglichkeiten liegen: Man würde nur Vektoren, Matrizen und Gleichungen mit lauter Nullen erzeugen. Die verschiedenen Alternativen des Handelns werden am einfachsten über einen Vektor A = (A1, A2, ... , Ai, ... , Am) beschrieben. Der Vektor der Alternativen soll als der Alternativenraum des Akteurs bezeichnet werden. Es ist der Raum der Möglichkeiten für sein Tun (vgl. dazu auch noch Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). 2. Die Folgen Für jede der m Alternativen aus dem Alternativenraum wird nun das EUGewicht gesucht, das die schließliche Wahl bestimmt. Das EU-Gewicht wird, wie gesagt, aus zwei Gruppen von Variablen gebildet: aus den Bewertungen der Folgen des Handelns und den Erwartungen, daß das Handeln die betreffenden Folgen habe. Die Folgen sind teils erwünscht, teils unerwünscht, teils erwartet, teils unerwartet. Für das aktuell zu wählende Handeln zählen stets nur die – irgendwie – vom Akteur, auch unbewußt, erwarteten Folgen. Manche Folgen schließen einander aus. Das ist beispielsweise bei einer Lotterie so: Man kann bei rot nur gewinnen oder verlieren. Tertium non datur. Ein bestimmtes Handeln kann aber selbstverständlich auch mehrere Folgen gleichzeitig haben: Ein Akteur schlägt dann, wie man sagt, mehrere Fliegen mit einer Klappe. Eine interessante Folge ist das Ereignis des Handelns selbst, die unter Umständen von einem Akteur mit einem „unbedingten Eigenwert“ belegt ist und so schon „an sich“ ohne jede weitere Folge als nützlich erlebt und erwartet wird.
Die Wert-Erwartungstheorie
253
Die Folgen des Handelns werden allgemein auch als outcomes bezeichnet. Sie werden über den Vektor O = (O1, O2, ... , Oj, ... , On) dargestellt. Dieser Vektor bildet den Ergebnisraum des Handelns. 3. Die Bewertungen Die Folgen des Handelns werden von den Akteuren in unterschiedlicher Weise bewertet: positiv, negativ oder neutral. Die einfachste Annahme über die Bewertungen der Folgen sind die „objektiven“ Auszahlungen oder Verluste, die mit einem bestimmten Handeln eintreten können: eine Million im Lotto minus den Einsatz, wenn man Lotto gespielt und gewonnen hat; den Verlust des Einsatzes, wenn man gespielt und verloren hat; und gar nichts, wenn man überhaupt nicht mitgespielt hat. Die outcomes O können so mit Werten versehen werden. Ihre Bewertungen lassen sich entsprechend als Vektor V(O) (von „value“) beschreiben, bei dem den outcomes ihr Wert jeweils zugewiesen ist: V(O) = (V(O1), V(O2), ... , V(Oj), ... , V(On)); in der Schreibweise etwas vereinfacht: V = (V1, V2, ... , Vj, ... , Vn). In den Bewertungen V spiegeln sich die objektiven Werte der Auszahlungen, aber noch nicht die subjektiven Präferenzen und die Nutzenschätzungen der Akteure wider. Meist ist diese einfache Annahme empirisch falsch. Darauf ist man in der WE-Theorie schon früh gekommen – wie beispielsweise der bereits erwähnte Statistiker Daniel Bernoulli, der festgestellt hatte, daß Zuwächse zu sehr großen Geldbeträgen als nicht mehr so wertvoll angesehen werden wie die gleichen Zuwächse auf kleinere Geldbeträge (vgl. dazu noch Abschnitt 8.4). Kurz: Es handelt sich bei den Bewertungen der outcomes also oft um subjektive Bewertungen, die von den objektiven Werten abweichen – etwa nach dem Gesetz des abnehmenden Grenzertrages bei der subjektiven Bewertung. Die subjektive Bewertung von positiven Auszahlungen wird auch als deren Nutzen U (von „utility“) bezeichnet, die von negativen Auszahlungen als negativer Nutzen oder als Kosten. Der subjektive Nutzen hängt mit den objektiven Werten der outcomes in einer jeweils typischen Weise zusammen. Dieser Zusammenhang wird in einer eigenen Funktion, der sog. Nutzenfunktion abgebildet. Wir wollen hier einstweilen annehmen, daß objektive Werte und subjektiver Nutzen linear zusammenhängen (vgl. aber auch dazu noch Abschnitt 8.3). Ergänzt sei hier auch noch eine Selbstverständlichkeit: Es ist ganz egal, worin der Nutzen oder die Bewertung allgemein besteht. Auch das Wohlergehen anderer Menschen, das schöne Gefühl der Pflichterfüllung und des Aufgehobenseins in einer Moral und der „unbedingte Eigenwert“ eines Handelns „an sich“ können dazu gehören. Nicht vergessen sollte man auch solche Dinge wie die Schadenfreude, den Neid und die Eifersucht, bei denen sich die Akteure daran delektieren, daß es den anderen schlecht ergeht.
Der Vektor der Bewertungen der Folgen soll mit den Beträgen des subjektiven Nutzens U(O) bezeichnet werden und dann so aussehen: U(O) = (U(O1), U(O2), ... , U(Oj), ... , U(On)); bzw. in der vereinfachenden Schreibweise: U = (U1, U2, ... , Uj, ... , Un). Der Vektor U ist der Bewertungsraum des Akteurs.
254
Situationslogik und Handeln
4. Die Erwartungen Bei perfekter Information wüßte jeder Akteur mit Sicherheit, welches alternative Handeln Ai mit welcher Wahrscheinlichkeit zu welchem outcome Oj und damit zu welchem Wert Vj bzw. Nutzen Uj führt. Ein solches perfektes Wissen über die Situation ist aber nur ein seltener und unrealistischer Grenzfall. Manchmal können „sichere“ Wahrscheinlichkeiten angegeben werden, wie bei Lotterien, oder unsichere, wie beim ungewissen Bemühen, ein Examen durch das Lesen von dicken Büchern zu bestehen. Meist wissen die Menschen nur ungefähr über die Wirksamkeit ihres Handelns Bescheid. Und oft genug können sie beim besten Willen gar nichts darüber sagen, wohin sie ein bestimmtes Handeln bringt. Das Wissen über die Eintrittswahrscheinlichkeit gewisser Ereignisse als Folge eines bestimmten Handelns sind die Erwartungen pij. Sie verbinden eine Alternative Ai mit der bewerteten Folge Uj. Wie alle Wahrscheinlichkeiten haben die Erwartungen pij Werte zwischen 0 und 1: 0 p’ 1. Bei sich wechselseitig ausschließenden und alle möglichen Ereignisse ausschöpfenden Folgen addieren sich die Wahrscheinlichkeiten zu 1: Wenn etwa die Wahrscheinlichkeit, bei einer Lotterie zu gewinnen, pg ist, dann ist die Wahrscheinlichkeit pl, zu verlieren, gleich 1-pg. Und beide Ereignisse zusammen sind ein sicheres Ereignis mit der Wahrscheinlichkeit 1: pg + pl = pg + (1-pg) = 1. Im Rahmen der WE-Theorie sind die Erwartungen zunächst, wie die Werte, objektive Erwartungen – etwa die statistischen Gewinnwahrscheinlichkeiten bei einer Lotterie oder die „objektive“ Chance durch eine Heiratsanzeige einen Ehepartner zu finden. Aber auch dies ist eine empirisch meist unzutreffende Annahme für das „wirkliche“ Handeln. Deshalb werden, ganz ähnlich wie beim Nutzen als subjektiver Bewertung, insbesondere die subjektiven Erwartungen der Akteure zu beachten sein – ihr nicht immer korrektes Alltagswissen, ihre mehr oder weniger zutreffenden Faustregeln über die Wirksamkeit ihres Tuns und die dabei geläufigen Verzerrungen der Realität. Auch darauf werden wir noch zurückkommen – in Kapitel 8.
Bei den Erwartungen lassen sich vier wichtige Fälle unterscheiden: Sicherheit, Risiko, Unsicherheit und Ambiguität (vgl. dazu auch noch die Abschnitte 7.3, 8.2 und 8.3). Bei Sicherheit besteht beim Akteur für das Eintreten des Ereignisses nach einer Handlung keinerlei Zweifel. Zwei Varianten der Sicherheit können dabei unterschieden werden: p=1 und p=0. Wenn pij gleich 1 ist, dann tritt das Ereignis Oj in der Erwartung des Akteurs mit Sicherheit ein, wenn Ai gewählt wird. Wenn pij gleich 0 ist, dann tritt Oj bei Wahl von Ai mit Sicherheit nicht auf. Etwas anderes kommt nicht vor. Deshalb kann in diesen beiden Fällen auch von perfekter Information gesprochen werden. Unter dem Risiko eines Handelns versteht man eine bekannte und präzise festliegende, aber von 0 und 1 verschiedene Wahrscheinlichkeit, daß mit dem Handeln ein bestimmtes Ereignis eintritt. Bei Risiko haben die Erwartungen pij also Beträge zwischen 0 und 1. Risiko ist nicht „Unsicherheit“. Zwar ist beim Risiko nicht sicher, ob Oj auftritt oder nicht, aber man kennt mit „Sicherheit“ die Wahrscheinlichkeit, beispielsweise, daß bei einem fairen Würfel die sechs mit einer statistischen Wahrscheinlichkeit von 1/6 fällt. Ein Spezialfall des Risikos
Die Wert-Erwartungstheorie
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ist die Gleichverteilung der Wahrscheinlichkeiten auf die Alternativen und die Ziele. Dann ist – wie bei einem fairen Würfel – bei m Alternativen die Wahrscheinlichkeit, daß Ai zum Ziel Oj führe, gleich 1/m. Auch riskante Erwartungen werden daher zum „perfekten“ Wissen der Akteure gezählt: Zwar sind die Ausgänge nicht sicher, aber es gibt ein sicheres Wissen über das Risiko – das Wissen über die Wahrscheinlichkeiten des Eintretens der Zielereignisse. Die Sicherheit wäre damit ein Grenzfall des allgemeineren Begriffs des Risikos: Die „Sicherheit“ ist ein „Risiko“ mit den Werten null bzw. eins. Bei Sicherheit und Risiko kennt der Akteur die Werte von pij. Das ist anders im Falle der Unsicherheit. Hier sind ihm keinerlei Werte für die Wahrscheinlichkeiten bekannt, auch keine „riskanten“ Erwartungen zwischen null und eins. Er weiß nur, daß im Prinzip alle Ereignisse mit allen denkbaren Werten von p eintreten könnten – mit Sicherheit oder mit allen möglichen anderen Graden der Wahrscheinlichkeit. Etwa: Ob bei einer Einladung zum Abendessen beim Chef, dessen Gattin mitsamt ihren Empfindlichkeiten eine vollkommen unbekannte Größe ist, es für die Stimmung angebracht wäre, ein Gespräch über die neue tüchtige, aber auch blonde Sekretärin zu beginnen oder nicht. Die typische Reaktion auf Unsicherheit ist uns allen wohl nur zu gut bekannt: eine gewisse Ängstlichkeit und Vorsicht für das, was man sagt und tut, und die angestrengte Suche nach irgendwelchen Anhaltspunkten, was denn nun wahrscheinlich richtig und angesagt wäre. Sicherheit und Risiko bilden damit den einen Pol der Art des Wissens, die Unsicherheit den anderen Pol: perfekte Information hier und komplette Ignoranz dort. Unter Ambiguität kann dann jener, uns allen nur zu vertraute Zustand zwischen perfekter Information und Unsicherheit bzw. Ignoranz verstanden werden. Die Ambiguität ist somit die Streuung der Einschätzungen des Risikos um ein bestimmtes pij als Mittelwert der Erwartungen. Der geschätzte Mittelwert ist eine Art von erstem Anker für die Erwartung pij. Die Streuung um diesen Anker ist bei Ignoranz maximal, bei Sicherheit und Risiko gleich null. Bestimmte Hinweise, Symbole und Gesten etwa, haben vor allem diese Folge: die Benennung eines solchen ersten Ankers, die Eingrenzung der Streuung bei der Schätzung von pij und damit die Verringerung der Ambiguität. Die sog. signifikanten Symbole erlauben dabei sogar relativ genaue Punktschätzungen mit sehr kleiner Streuung. Genau deshalb sind sie so wichtig für die Definition der Situation und für das Handeln der Menschen (vgl. dazu insbesondere noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
Die Erwartungen der Akteure über die Zusammenhänge zwischen Alternativen und Folgen können am einfachsten so ausgedrückt werden, daß der Vektor des Alternativenraumes und der Vektor des Bewertungsraumes gekreuzt werden. Die resultierende Matrix enthält dann die m*n Erwartungen p11, p12, ... , pij, ..., pmn darüber, daß die Handlung Ai mit der Wahrscheinlichkeit pij zum outcome Oj mit der Bewertung O(Uj) und damit zur Realisierung eines Nutzens Uj führe. Wir wollen diese Matrix mit P bezeichnen. Sie sieht – hier der Erläuterung des Prinzips wegen mit den bewerteten Ereignissen Uj über den Spalten und den Alternativen Ai links neben den Reihen – dann so aus:
256
Situationslogik und Handeln
U1
P
=
U2
A1 A2
p11 p12 p21 p22
Ai
pi1
Am
pm1 pm2
. .
. . .
. .
. . .
. .
pi2
. . .
... ... ... . . ... . ... . ...
Uj p1j p2j
. .
pij
. . .
pmj
... ... ... . . ... . ... . ...
Un p1n p2n
. .
pin
. . .
pmn
Die Matrix P beschreibt das kausale Wissen der Akteure über die Kontrolle von Alternativen und über die Wirksamkeit der Möglichkeiten für die Erreichung der verschiedenen Folgen des Ergebnisraumes. Sie bildet den Erwartungsraum des Akteurs für sein Handeln. 5. Die Evaluation der Alternativen Die Randbedingungen der WE-Theorie bestehen also aus dem Vektor U des Bewertungsraumes und aus der Matrix P des Erwartungsraumes. Es geht nun um die kausal-logische Ableitung des Explanandums aus diesen Randbedingungen. Das dazu in der WE-Theorie angenommene allgemeine Gesetz hat zwei Bestandteile: erstens eine Gewichtungsregel für die Evaluation der Alternativen und zweitens eine Regel für die schließliche Selektion einer der so gewichteten Alternativen. Die Evaluation der Alternativen ist der Kern der Logik der Selektion nach der WE-Theorie. Das Ergebnis dieser Evaluation sind die EV-Gewichte für die objektiven Bewertungen. Wir werden, aus Gründen der Üblichkeit, aber auch von Nutzenerwartungen und daher von EU-Gewichten sprechen. An dieser Stelle spätestens läßt sich die Verbindung der Bestandteile der WE-Theorie zum elementaren System der Situation und den Beziehungen von Kontrolle und Interesse aus Kapitel 1 ziehen – falls Ihnen diese Verbindung nicht ohnehin aufgefallen ist. Die Alternativen sind die Mittel, die der Akteur – mehr oder weniger – unter Kontrolle hat. Die erwünschten Folgen sind die Ziele des Akteurs, an denen er im Ausmaß U jeweils ein positives Interesse, und die unerwünschten Folgen sind die (Opportunitäts-)Kosten des Handelns, an denen er ein negatives Interesse hat. Die Erwartungen p bestehen, wie in Kapitel 1 erläutert wurde, aus dem Produkt von Kontrolle und Effizienz eines Mittels zur Verwirklichung eines Zieles. Jeweils also: pij=ci*eij. Der Bewertungsraum ist also der Vektor der Werte, der Erwartungsraum die Matrix des Wissens aus dem elementaren System der Situation nach Kapitel 1. Auf diese Wiese las-
Die Wert-Erwartungstheorie
257
sen sich beliebige Situationen als typische Konstellationen des Interesses und der Kontrolle von Ressourcen durch Akteure in die Variablen der WE-Theorie übersetzen, aus der dann das eigentliche Handeln abgeleitet wird. Und das ist ja eine wichtige Bedingung für ihre Brauchbarkeit als Logik der Selektion: die systematische Verbindung der Logik der Situation mit der Logik der Selektion.
Die Grundgleichung für die Evaluation jeder der betrachteten Alternativen i lautet: EU(Ai)=pij*Uj. Die Bildung der EU-Gewichte nach dieser Formel sieht komplizierter aus, als sie es tatsächlich ist. Es wird nur gesagt, daß für jede der n Alternativen jeweils das Produkt des Wertes der jeweiligen Folge mit der Wahrscheinlichkeit, daß die Alternative i zur Folge j führe, gebildet wird und daß über alle n Folgen die Summe dieser Produkte aus Wert-mal-Erwartung gebildet wird. Sehen wir uns dazu den einfachen Fall von zwei Alternativen und drei Folgen an. Links steht die Matrix des Erwartungsraumes für die beiden Alternativen, rechts der Vektor des Bewertungsraumes für die drei Folgen. U1
p 21 p 22 p 23 p 11 p 12 p 13
*
U2 U3
Die EU-Gewichte für die beiden Alternativen A1 und A2 ergeben sich, wenn man gemäß der Formel EU(Ai)=pij*Uj zeilenweise hintereinander für jeden Wert in der Erwartungsmatrix über alle drei Werte der Bewertungsmatrix das Produkt bildet und die Produkte addiert. Also: EU(A1) = p11U1 + p12U2 + p13U3 EU(A2) = p21U1 + p22U2 + p23U3 EU(A1) und EU(A2) sind die gesuchten WE- bzw. EU-Gewichte für die beiden Alternativen. Konkrete Ziffern können Sie der Übung halber selbst eintragen (vgl. dazu noch Abschnitt 7.2). Die Formel beschreibt die Grundphilosophie der WE-Theorie. Sie ist der Kern dessen, was als „rational“ bezeichnet wird: Strebe nach Dingen, die möglich und zuträglich sind; und meide ein Handeln, das undurchführbar und/oder schädlich ist. Die Evaluation der Alternativen nach der Kalkulationsregel pij*Uj wird als ein „allgemeines“ Gesetz des Handelns betrachtet, das für alle Menschen als gültig angenommen wird. Der Grund für die Vernünftigkeit der EUGewichtungsregel bei der Evaluation der Alternativen ist schon von der Evolutionstheorie her leicht einsehbar: Wenn das Produkt pij*Uj entweder über die geringe Erwartung pij für eine freundliche „Nische“ in der Umwelt und/oder über eine wenig positive Bewertung Uj für das
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Situationslogik und Handeln
interne Wohlergehen des Organismus insgesamt gering ist, dann ist das Überleben des Organismus in dieser Umwelt sehr gefährdet. Übrig geblieben sind daher im Laufe der Evolution des Lebens wohl auch nur Organismen, die dieses Evaluationsprinzip als Grundlage der Selektion von Alternativen auch genetisch verinnerlicht haben. Auch die weitgehend triebungebundenen Menschen tun gut daran, dieses Prinzip zum Kriterium des subjektiven Sinns ihres Handelns zu „wählen“. Und sie tun es wirklich, teils weil sie keine Deppen sind, teils weil die Evolution des Lebens ihre psycho-physische Hardware so selektiert hat, teils weil sie nach, mehr oder weniger bitteren, Erfahrungen schließlich selbst darauf kommen.
Technisch erfolgt die Evaluation der Alternativen nach der Formel EU(Ai)=pij*Uj am einfachsten über die Multiplikation der Matrix P mit dem (Spalten-)Vektor U: P*U. Nach den Regeln der Matrixmultiplikation ergibt sich daraus wieder ein (Spalten-)Vektor: der Vektor EU der WertErwartungen für alle m Alternativen des Alternativenraumes. Ganz allgemein also: EU(A1) EU(A2)
. . .
EU(Ai)
. . .
EU(Am)
..., p1j, ..., p2j, . . . . . . . . . = pi1, pi2, ..., pij, . . . . . . . . . pm1, pm2, ..., pmj, p11, p12, p21, p22,
..., p1n ..., p2n . . . ..., pin . . . ..., pmn
U1 U2
*
. . .
Uj
. . .
Un
Der Vektor EU sei als der Gewichteraum der Alternativen bezeichnet. 6. Die Selektion Der sechste und letzte Schritt bei der Logik der Selektion nach der WETheorie ist die Selektion einer der Alternativen aus dem Alternativenraum. Dabei geben die EU-Gewichte den Ausschlag. Und zwar nach dieser Regel: Wähle in einer Situation gerade die Alternative, bei der das EU-Gewicht im Vergleich der betrachteten Alternativen am höchsten ist! Die Regel der Logik der Selektion des Handelns ist demnach die Maximierung des erwarteten Nutzens. Die Regel der Maximierung des erwarteten Nutzens wird als allgemeine Regel für die Logik der Selektion des Handelns angenommen. Abweichungen davon, wie die Orientierung an einem anderen Typ des Handelns, das satisficing oder das Umschalten auf einen nicht-maximierenden Modus der Informationsverabeitung, von denen in Abschnitt 6.8 die Rede war, sind keine Aus-
Die Wert-Erwartungstheorie
259
nahmen, sondern Spezialfälle dieser Regel. Sonst wäre es ja keine „allgemeine“ Regel. Viel mehr ist an dieser Stelle dazu nicht zu sagen, an anderer Stelle dafür um so mehr.
7.2
Drei Beispiele
Soziologische Erklärungen sind eine Art von Modellbau. Und die WE-Theorie ist ein unverzichtbares Werkzeug dafür. Die wichtigste Arbeit ist die möglichst typisierende und vereinfachende Modellierung von Situationen – in der Sprache der WE-Theorie. Das kann zwar gelernt werden, aber wie gut die Modelle dann werden – das ist durchaus eine Art von Kunst, die nur begrenzt zu erlernen ist. Wie man einfach und praktisch mit der WE-Theorie bei der Entwicklung theoretischer Modelle für eine soziologische Erklärung umgehen kann, sei – bevor wir mit einigen speziellen Situationen und Besonderheiten der WE-Theorie fortfahren – an drei Beispielen gezeigt. Das erste Beispiel: Was tun die Professoren? Es scheint ein empirisch gut gesichertes Ergebnis zu sein, daß Professoren in aller Regel lieber forschen als lehren. Und die Frage ist wieder: Warum ist das so? Sagen Sie jetzt nicht: Weil das EU-Gewicht für die Forschung höher ist als für die Lehre! So einfach ist die Sache nicht. Beginnen müssen wir vielmehr bei der Beschreibung der typischen Situation eines Hochschullehrers. Wir haben deren Vorliebe für die Forschung nämlich erst dann erklärt, wenn sich aus dieser Beschreibung mit Hilfe der Variablen und Regeln der WETheorie ableiten läßt, daß das EU-Gewicht für die Forschung höher ist als für die Lehre. Dazu müssen die typischen Besonderheiten der Situation von Professoren – was ist ihnen wichtig und was ist ihnen möglich? – in die Randbedingungen der WE-Theorie übersetzt werden – in typische Erwartungen und Bewertungen also. Das ist eine ganz eigene Leistung. Es ist die Formulierung der Brückenhypothesen zwischen der Logik der Situation und der Logik der Selektion (siehe auch noch Kapitel 10 und weiter unten dazu). Die typisierende Situationsbeschreibung und die Formulierung der Brückenhypothesen ist sogar die Hauptaufgabe der soziologischen Arbeit – neben, natürlich, der Aggregation der Handlungen zu kollektiven Resultaten. Der Rest ergibt sich dann „logisch“ und deshalb fast von alleine: die Bestimmung der EU-Gewichte und die Vorhersage der Selektion nach der Maximierungsregel.
Also dann. Wir gehen in der Reihenfolge vor, wie die WE-Theorie oben dargestellt wurde. Wir beginnen mit der Beschreibung der Situation und mit der Benennung der Alternativen.
260
Situationslogik und Handeln
Die Beschreibung der Situation Die Alternativen des Hochschullehrers zur Ausfüllung seiner Rolle sind: Forschung und Lehre. Sie seien mit A1 und A2 bezeichnet. Wir wollen annehmen, daß es sich um gegenseitig ausschließende Alternativen handelt. Das ist zwar empirisch nicht ganz zutreffend, in der Tendenz aber schon: Auch Professoren können nicht alles gleichzeitig mit großem Einsatz tun. Und hier geht es nur darum, ob Forschen oder Lehren Priorität hat. Der Alternativenraum heißt also A = (A1, A2). Nun zu den Folgen. Dazu müssen wir etwas weiter ausholen. Zwei zentrale Aspekte habe die Tätigkeit von Professoren: die Erzeugung von Reputation einerseits und die Störung ihres vegetativen Nervensystems andererseits. Alle anderen Folgen sind – so wollen wir der Einfachheit halber annehmen – entweder unwichtig oder eine Folge dieser Folgen – wie zum Beispiel eine wohldotierte Position als Folge einer hohen Reputation. Das wichtigste Mittel zur Erzeugung von Reputation sind, wie wir in der Analyse des Wissenschaftssystems in Kapitel 3 gesehen haben, Publikationen, am besten in der Top-Zeitschrift des Faches. Erneut vereinfachend wollen wir daher die Plazierung eines Artikels in einer solchen Zeitschrift als eine zentrale Absicht der Professoren annehmen: Ein Artikel im American Journal of Sociology ist ein primäres Zwischengut der Soziologieprofessoren mit einer sehr hohen Effizienz bei der Erzeugung von sozialer Wertschätzung – und sicher auch von physischem Wohlbefinden, wenn sich die Brust angesichts des gedruckten Artikels vor Stolz bläht. Zur Plazierung muß natürlich ein Manuskript eingereicht werden. Dann können zwei Dinge geschehen: Annahme des Manuskriptes oder Ablehnung. Und jeder weiß es: Alles das kostet Zeit und Nerven.
Damit haben wir drei Folgen der Tätigkeit der Professoren: die Akzeptanz der Ergebnisse seines Tuns in der scientific community, die Zurückweisung seiner Bemühungen – und die Arbeitsüberlastung bzw. die Störung des vegetativen Nervensystems. Die drei Folgen seien mit O1, O2 und O3 abgekürzt. Natürlich haben wir der Einfachheit halber andere wichtige Folgen ausgelassen – wie etwa den Ärger mit der Familie und die schließliche Scheidung! Aber das soll uns hier einstweilen nicht weiter interessieren, weil es nicht primär zum Funktionieren des Wissenschaftssystems gehört. Nun müssen den drei Folgen Nutzenwerte zugeschrieben werden. Es geht also um die Bewertungen der Folgen. Normalerweise wären spätestens jetzt empirische Daten nötig: die Messung der Interessen, der Präferenzen also. Wir wollen jedoch wieder nur mit Annahmen vorliebnehmen, weil es hier ja nur auf das Prinzip des Vorgehens bei der Modellierung ankommt und weil soziologische Erklärungen durchaus zunächst mit Hilfe plausibler Annahmen begonnen werden können, die dann Schritt für Schritt mit „Daten“ unterfüttert werden können. Die Annahme des Manuskriptes sei mit 200 Nutzeneinheiten bewertet, die Ablehnung mit –10, weil das ja kein neutrales Ereignis ist, sondern schon etwas am Selbstbild nagt. Der Zustand der Arbeitsüberlastung wird
261
Die Wert-Erwartungstheorie
zwar auch als unangenehm empfunden, aber doch nicht so sehr, weil das – gewissermaßen – zum Standardgefühl der Professoren dazugehört. Daher sei für diese Folge ein Wert von –5 angenommen. Es ergibt sich daraus der Bewertungsraum U = (200, –10, –5). Jetzt fehlen noch die Erwartungen. Nun kommen die Alternativen wieder mit ins Spiel: Welche Folgen haben mit welcher Wahrscheinlichkeit das Forschen und das Lehren? Auch hier sind wir auf Annahmen angewiesen, die im Ernstfall durch empirisch zu gewinnende Daten zu ersetzen wären. Beginnen wir mit der Erwartung, daß ein eingereichtes Manuskript angenommen wird. Ohne jede weitere Vorinformation wäre die durchschnittliche Annahmequote der betreffenden Zeitschrift eine naheliegende Schätzung für die Erwartung, daß ein eingereichtes Manuskript auch akzeptiert und publiziert wird. Wir wollen hier eine Ablehnungsquote von 90% annehmen. Sie beschreibt das „objektive“ Risiko des Professors, der ein Manuskript anbietet. Zu Annahme oder Ablehnung kann es aber nur kommen, wenn ein Manuskript wirklich eingereicht wird. Und das geht nur dann, wenn der Forschung die Priorität gilt. Wer vorwiegend lehrt, der reicht kein Manuskript ein, weil er keines schreibt. Für ihn gibt es daher mit Sicherheit nichts: weder Annahme, noch Ablehnung. Nun noch die Verbindung von Forschung und Lehre zur Arbeitsund Nervenbelastung. Wieder sehr vereinfachend wollen wir annehmen, daß der richtige Streß nur den Forscher trifft: Wird der Antrag für das Forschungsprojekt genehmigt? Ziehen die Mitarbeiter mit? Funktioniert die Feldarbeit? Gibt es interessante Ergebnisse und zündende Ideen? Und dann noch: Ist die Bewerbung um die Veröffentlichung erfolgreich? Der Lehrer hat alle diese Sorgen nicht.
Aus alledem läßt sich der folgende Erwartungsraum P für die drei bewerteten Folgen zusammenstellen:
P
=
U1
U2
U3
A1
0.1
0.9
1
A2
0
0
0
Mit dem Alternativenraum, dem Bewertungsraum und mit dem Erwartungsraum haben wir alles beisammen, was benötigt wird. Jetzt müssen nur noch die EU-Gewichte bestimmt werden. Zuvor aber noch eine wichtige Zwischenbemerkung. Brückenhypothesen und soziale Produktionsfunktionen Die Alternativen, die Folgen mit ihren Bewertungen und die Erwartungen beschreiben in typisierter Form die Situation der Professoren. Die Matrix P und
262
Situationslogik und Handeln
der Vektor U enthalten dabei die benötigte Verbindung zwischen den Eigenschaften der Situation und den Variablen der Handlungstheorie. In der Sprache des Modells der soziologischen Erklärung werden sie – wie wir wissen – als Brückenhypothesen bezeichnet. Die Brückenhypothesen sind – wie man jetzt sehr deutlich sieht – alles andere als universale Gesetze. Sie können sich mit den sozialen Produktionsfunktionen von Gruppe zu Gruppe, von Land zu Land und in der Zeit, je nach institutioneller Definition der Situation drastisch ändern. Sie treffen – wie man sich leicht vorstellen kann – auch nicht für jeden einzelnen Professor gleichermaßen zu. Es gibt ja auch individuelle Varianzen. Und es gibt für die Hochschullehrer sicher auch noch andere Dinge im Leben als die Forschung und die Lehre oder die Reputation und den Nervenstreß. Aber alles das spielt hier für die soziologische Analyse der „Logik“ seiner Situation als Hochschullehrer – einstweilen – keine systematische Rolle. Es wird erst wichtig, wenn sich die strukturellen Umstände der Situation ändern – die sozialen Produktionsfunktionen also. Dann ändern sich die Alternativen, die Bewertungen und die Erwartungen und somit auch die Brückenhypothesen für die Beziehung zwischen Situation und Akteur. Und dann ändern sich auch die EU-Gewichte – und darüber dann das typische Handeln der Akteure. Genau das ist gemeint, wenn von der „Logik“ der Situation die Rede ist (vgl. dazu noch die Kapitel 10 und 11 ausführlich). Die Selektion des Handelns Was werden die Professoren vor dem Hintergrund dieser Situation tun? Die Antwort geben die EU-Gewichte für die Alternativen. Sie lassen sich nun leicht nach der Grundformel der WE-Theorie – EU(Ai)=pij*Uj – und über die Matrix-Vektoren-Multiplikation von Erwartungs- und Bewertungsraum berechnen. Für unser Beispiel wäre das:
EU = P*U =
0.1
0.9
1
0
0
0
*
200 -10 -5
Als Produktsumme ausgeschrieben: EU(A1) = (0.1)*200 + (0.9)*-10 + 1*-5 =20 - 9 - 5 = 6 EU(A2) = 0*200 + 0*-10 + 0*-5 = 0
Die Wert-Erwartungstheorie
263
Die Selektion, der letzte Schritt der Erklärung des Handelns eines typischen Professors, ist also eine klare Sache: Bezogen auf ihre relevanten Ziele bewerten die Professoren typischerweise die – zwar anstrengende und in Hinsicht auf den Erfolg riskante, aber auch lohnende – Forschung mit 6 EU-Einheiten höher als die für die Nerven ganz kommode, aber für ihren Ruf auch recht uninteressante Lehre. Und weil die Professoren – wie alle Menschen – ihre Nutzenerwartung maximieren, neigen sie ganz überwiegend mehr zur Forschung als zur Lehre, obwohl ihnen das auch viel Streß bringt und das nicht geringe Risiko, sich eine Abfuhr einzuhandeln. Erklären und Verstehen Und warum tun sie das? Vordergründig: Weil die Forschung das höhere EUGewicht hat. Das ist vor dem Hintergrund der Maximierungsregel reichlich trivial. Die wirklichen Gründe stehen in dem Bewertungsvektor und in der Erwartungsmatrix. Sie geben die durch die Struktur der sozialen Produktionsfunktionen objektiv definierte Situation der Professoren wieder. An dieser Stelle wird eine gewissermaßen pädagogische Anmerkung sehr nötig. Groß ist die Versuchung, bei einem gegebenen Explanandum die Logik der Situation so zu modellieren, nein: hinzufummeln, daß stets genau das herauskommt, was wir als Ergebnis schon wissen. Darum kann es aber bei den Brückenhypothesen bzw. bei der Beschreibung der Logik der Situation eben nicht gehen. Der Soziologe muß auf unabhängige Weise zur Modellierung der Erwartungen und der Bewertungen der Akteure kommen. Beispielsweise: Eine Befragung von Experten über die typische Situation von Akteuren in einem bestimmten Handlungsfeld. Weniger verläßlich, aber auch ein Weg, wäre die Befragung der Akteure selbst. Aber die wissen oft weniger über ihre Situation als ein außenstehender Beobachter. Eines aber ist unter Androhung der geistigen Todesstrafe verboten: die Matrizen und Vektoren ad hoc und ohne eine gesonderte Begründung so zu basteln, daß sich das gesuchte Explanandum von alleine ergibt.
Wenn aber die Situationsanalyse richtig und begründet war und wenn wir die WE-Theorie angewandt haben, dann erklärt sich das Tun der Professoren, weil die WE-Theorie ein kausal-erklärendes Gesetz enthält. Wir verstehen aber gleichzeitig auch, warum die Professoren normalerweise und „situationsgerecht“ die Forschung deutlich lieber machen als die Lehre. „Verstehen“ heißt ja, sich in die Lage des anderen hineinzuversetzen, die Situation aus dessen Sicht zu betrachten und seine guten Gründe für das beobachtete Tun herauszufinden. Und genau das haben wir getan, als wir den Erwartungs- und den Bewertungsraum der Professoren mit konkreten Ziffern gefüllt haben. Dabei mußten wir nur eines unterstellen, was auch ohne besondere Einfühlung anzunehmen ist: Daß die Akteure der Logik der WE-Theorie folgen,
264
Situationslogik und Handeln
selbst wenn sie darüber noch nie etwas gehört haben und bei ihrem Handeln nicht sonderlich überlegen, was sie tun. Das zweite Beispiel: Retten oder nicht sterben lassen? Das zweite Beispiel stammt von den beiden Psychologen Amos Tversky und Daniel Kahneman.5 Einer Reihe von Studenten wurde als Versuchspersonen erzählt, daß eine neue und gefährliche asiatische Grippe ausgebrochen sei. Ohne jede weitere Maßnahme sei mit 600 Toten zu rechnen. Aber die Regierung überlege schon, was jetzt zu tun wäre. Es gebe zwei alternative Programme zur Bekämpfung der Grippe. Und es gelte nun, sich für eines der Programme zu entscheiden. Die Programme unterschieden sich in einer Hinsicht: Ein Programm gab vor, daß die Folgen mit Sicherheit eintreten würden, das andere, daß sie mit einem gewissen Risiko zu erwarten wären. Dann wurden die beiden Programme – in ihrer Unterscheidung von Sicherheit und Risiko – noch einmal in zwei verschiedenen sprachlichen Versionen jeweils unterschiedlichen Gruppen von Studenten vorgelegt. In der ersten Version war immer von „retten“ und damit von einem Gewinn an Menschenleben die Rede, in der zweiten von „sterben“ und damit von drohenden Verlusten. Die vier Vorgaben für die Beurteilung der Programme lauteten in der Originalversion bei Tversky und Kahneman so: Version 1: If Program A is adopted, 200 people will be saved. If Program B is adopted, there is 1/3 probability that 600 people will be saved, and 2/3 probability that no people will be saved. Version 2: If Program C is adopted, 400 people will die. If Program D is adopted, there is 1/3 probability that nobody will die, and 2/3 probability that 600 people will die.
Wie sehen nun die Nutzenerwartungen für die vier Optionen aus? Wir können versuchen, die Nutzenerwartungen unmittelbar aus den Schilderungen als EUGleichung aufzuschreiben. Die Alternativen, für die wir die EU-Gewichte suchen, sind klar: Es sind die vier Optionen A, B, C und D. Als Folgen können die verschiedenen Anzahlen an Überlebenden angenommen werden. Ihre Bewertung folgt einfacherweise der Anzahl der jeweils überlebenden Personen – 600, 400, 200, je nachdem. Es gibt zwei Programme mit siche5
Amos Tversky und Daniel Kahneman, The Framing of Decisions and the Psychology of Choice, in: Science, 211, 1981, S. 453-458.
265
Die Wert-Erwartungstheorie
ren Erwartungen von eins und null (Programm A und C) und zwei mit riskanten Erwartungen von 1/3 bzw. 2/3 (Programm B und D). Wenn wir mit Option A beginnen, sehen wir ein Problem: Die verbale Vorgabe von Tversky und Kahneman ist nicht vollständig. Es wird zwar gesagt, daß 200 Personen gerettet werden. Aber was geschieht mit den anderen 400? Werden sie auch gerettet? Offenbar haben Tversky und Kahneman unterstellt, daß die Versuchspersonen den Rest erschließen, nämlich daß die 400 anderen Personen mit einer Wahrscheinlichkeit von null gerettet werden. Ähnliches gilt, nur umgekehrt, für die Vorgabe C. Dort steht, daß mit Sicherheit 400 Personen sterben, also mit einer Wahrscheinlichkeit von null überleben werden. Und wieder bleibt offen, was mit den anderen 200 geschieht. Offenbar ist auch hier gemeint, daß diese 200 Personen mit einer Wahrscheinlichkeit von eins nicht sterben, also gerettet werden (vgl. zu dieser Unvollständigkeit der Vorgaben noch Abschnitt 8.4 im folgenden Kapitel). Vollständig lautet die Vorgabe für das Programm A also: „If Program A is adopted, 200 people will be saved, and 400 people will not be saved.“ Und die vollständige Vorgabe für das Programm C wäre entsprechend: „If program C is adopted, 200 people will not die, and 400 people will die.“
Dann berechnen sich die Nutzenerwartungen für die vier Programme den vollständigen Versionen entsprechend so: EUA
=
1*200
+
0*400
=
200
EUB
=
(1/3)600
+
(2/3)*0
=
200
EUC
=
1*200
+
0*400
=
200
EUD
=
(1/3)600
+
(2/3)*0
=
200
Und was sehen wir? Die Nutzenerwartungen für die vier Programme, berechnet nach den Regeln der WE-Theorie, sind vollkommen gleich. Um so interessanter ist das empirische Ergebnis, das Tversky und Kahneman gefunden haben. Es weicht deutlich von der eigentlich durch die Regeln der WE-Theorie angesagten Indifferenz zwischen den Alternativen ab. Das Ergebnis wird in Abschnitt 8.2 des folgenden Kapitels verraten. Und in Abschnitt 8.3 können Sie erfahren, warum die WE-Theorie gleichwohl nicht falsch ist. Das dritte Beispiel: Darum fällt der Apfel nicht so weit vom Stamm! Wenn es in der empirischen Soziologie ein stabiles Ergebnis gibt, dann ist es dieses: Trotz aller Reformen des Bildungswesens und trotz aller Versuche zur Aufhebung der Bildungshemmnisse in den westlichen Gesellschaften hat sich kaum irgendwo etwas daran geändert, daß die unteren Schichten der Bevölkerung ihre Kinder weniger auf Einrichtungen der weiterführenden Bildung schicken als die mittleren oder gar die oberen Schichten. Vierzig Jahre Bildungsreform und Ungleichheitsforschung haben im wesentlichen das – nicht
266
Situationslogik und Handeln
unbedingt selbstverständliche und auch nicht überall gleichermaßen zutreffende – Ergebnis gebracht: Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.6 Und wieder stellt sich die Frage: Warum ist das so? Wenn man Diskriminierungen ausschließt und die Bildungsabstinenz nicht irgendwie zur „Natur“ der unteren Schichten zählen will, dann ist die Stabilität der Bildungsungleichheit wohl ein Ergebnis von Entscheidungen in den Familien, die sie angesichts ihrer Sicht der Umstände treffen. Wir wollen diese Entscheidungen mit Hilfe der WE-Theorie als rationale Wahl rekonstruieren.7 Das heißt auch: Wir wollen verstehen lernen, warum die Eltern der Kinder aus unteren Schichten in der Tat gute Gründe haben, den riskanten Weg der Aufwärtsmobilität über die schmale Leiter einer höheren Bildung eben eher nicht zu wagen – auch wenn sich die Möglichkeiten dazu objektiv verbessern. Bevor man Unterschiede im Verhalten zwischen verschiedenen sozialen Gruppierungen erklären kann, muß zuerst ein Grundmodell für die Erklärung des jeweils anstehenden Problems formuliert werden. Darin müssen – in möglichst knapper und stilisierter Weise – die wichtigsten Handlungsmöglichkeiten, Handlungsfolgen und die damit verbundenen Bewertungen und Erwartungen enthalten sein. Dann erst ist der eigentlich erklärende Schritt möglich: die Modellierung der Unterschiede zwischen den Gruppierungen. Sie werden als Brückenhypothesen über typische Unterschiede in den Variablen des Grundmodells formuliert. Wir werden sehen, daß jetzt die Sache nicht mehr ganz so einfach ist. Also: Wappnen Sie sich mit Aufmerksamkeit und Geduld. Es ist schon eine „richtige“ soziologische Analyse eines wichtigen sozialen Problems. Das Grundmodell Zuerst also das Grundmodell der Bildungsentscheidung für alle. Wieder haben wir zwei Alternativen: die Entscheidung, an einer bestimmten Verzweigungsstufe des Bildungssystems die nächste Stufe zu nehmen oder aber nicht. Obwohl sich das Grundmodell für alle Bildungsstufen eignet, wollen wir hier nur die erste Stufe betrachten: der Übergang von der Grundschule entweder in den nächsten weiterführenden Zweig oder das Verbleiben in der Hauptschule. Die Entscheidung zur Weiterführung der Bildung sei mit Ab, die Zurückhaltung mit An bezeichnet. Drei relevante Folgen mit den entsprechenden Bewer-
6
Vgl. dazu verschiedene Beiträge bei Robert Erikson und Jan O. Jonsson (Hrsg.), Can Education be Equalized? The Swedish Case in Comparative Perspective, Boulder, Col., und Oxford 1996.
7
Vgl. dazu etwa auch: Robert Erikson und Jan O. Jonsson, Introduction. Explaining Class Inequality in Education: The Swedish Test Case, in: Erikson und Jonsson 1996a, S. 13ff.
Die Wert-Erwartungstheorie
267
tungen hat diese Entscheidung: Erstens kann mit dem Erfolg der zusätzlichen Bildung eine bestimmte berufliche Position erreicht werden. Der betreffende Wert des Ertrages der Bildung sei mit U bezeichnet. Zweitens fallen mit der zusätzlichen Bildung gewisse Kosten -C an, darunter das entgangene Einkommen, das bezogen worden wäre, wenn man sofort nach der Hauptschule eine bezahlte Arbeit aufgenommen hätte. Drittens ist der Verlust oder die Beibehaltung eines bestimmten Status quo mit allen dazugehörigen Folgen für die soziale Wertschätzung und das Selbstbild eine mögliche Folge der Bildungsentscheidung. Das hat einen einfachen Grund: Wenn die Beibehaltung des von den Eltern errungenen Status nur mit einer höheren Bildung möglich ist, dann wäre der Verzicht auf die weitere Bildung nicht bloß der Verzicht auf einen möglichen Gewinn, sondern die Entscheidung für einen nahezu sicheren Verlust. Der Wert des so drohenden Statusverlustes sei mit -SV gekennzeichnet. Zwei Erwartungen werden als bedeutsam angenommen: Erstens die Erwartung p, mit der Entscheidung für die Weiterführung der Bildungskarriere auch zum Erfolg, zu einem formellen Abschluß also, zu kommen und damit den Ertrag U zu verwirklichen. Und zweitens die Erwartung c, daß es einen Statusverlust in Höhe von -SV gibt, wenn auf die Weiterbildung verzichtet wird.
Mit diesen Annahmen können wir – auch ohne die eigentlich erforderliche, aber etwas umständliche Vektoren- und Matrizenschreibweise – die Grundgleichungen für die EU-Gewichte des allgemeinen Modells der Bildungsbeteiligung aufstellen. Am einfachsten ist die Sache für die bildungsabstinente Alternative An: Bei einem Verzicht auf die weitere Bildung ist – unter Umständen – ein Statusverlust in Höhe von -SV und mit der Wahrscheinlichkeit c zu erwarten – freilich nur, sofern es überhaupt etwas zu verlieren gibt. Hinzu kommt die Komplementärerwartung (1-c), daß trotz Bildungsverzicht der soziale Abstieg nicht eintritt. Weil dann aber -SV trivialerweise gleich null ist, kann dieser Teil des EU-Gewichtes, der Ausdruck (1-c)-SV also – in der Gleichung entfallen. Bei einem Verzicht auf die Weiterbildung fallen natürlich auch keine Bildungskosten an. Kurz: Die Nutzenerwartung für den Verzicht auf die Weiterbildung ist allgemein gleich c(-SV). Bei einer Entscheidung für die weiterführende Alternative Ab kann der Wert der Bildung U mit der Erfolgswahrscheinlichkeit p erwartet werden. Davon abzuziehen sind die sicheren Kosten C. Aber die Sache kann ja auch schiefgehen – mit der Wahrscheinlichkeit (1-p). Gibt es einen Mißerfolg und muß die weiterführende Schule verlassen werden, dann gibt es genau den Statusverlust, der schon beim Verzicht auf die Weiterbildung eintritt, gewichtet mit der Wahrscheinlichkeit c, daß er beim Scheitern der Schulkarriere wirklich eintritt. Daraus ergeben sich für die beiden Alternativen Ab und An die folgenden Gleichungen für die EU-Gewichte im Grundmodell: EU(An) = c(-SV) EU(Ab) = pU + (1-p)c(-SV) - C.
268
Situationslogik und Handeln
Die Bewertungen, die Erwartungen und die beiden Formeln für das allgemeine Modell erklären, wie gesagt, den gesuchten Unterschied im Bildungsverhalten zwischen den sozialen Schichten noch nicht. Wieder müssen erst die entsprechenden Brückenhypothesen aufgestellt – und gesondert begründet – werden, die die typischen Aspekte der Lebenssituation der verschiedenen sozialen Schichten mit den Variablen des allgemeinen Modells der WE-Theorie in Verbindung bringen. Und wieder das Wichtigste: Die Brückenhypothesen Der Einfachheit halber wollen wir nur zwei soziale Schichten betrachten: Die unteren und die mittleren Schichten einer Gesellschaft. Es geht also darum, typische Unterschiede in den Variablen der beiden Gleichungen des Grundmodells mit der typischen Situation bei den unteren und den mittleren Schichten zu verbinden. Auch nun wollen wir – weil es ja der erste grobe Schritt ist – getrost ganz einfache und möglichst wenige Annahmen über solche Unterschiede einführen. Zunächst sei angenommen, daß der Wert der Bildung U und deren Kosten C für beide Klassen gleich sei. Das kann auch anders gesehen werden. Beispielsweise wird oft unterstellt, daß die Bildung für die unteren Schichten einen geringeren Wert habe als für die oberen Schichten und daß auch ihre Leistungsmotivation und ihr Anspruchsniveau geringer seien. Das mag so sein. Wir wissen es aber ohne weitere Untersuchungen nicht. Wir wissen zunächst nur: Ein Abitur ist ein Abitur – für alle zuerst einmal gleichermaßen. Es variiert aber wohl unstrittigerweise die Erfolgserwartung p: Die mittleren Schichten haben sicher mehr Möglichkeiten, bei eventuellen Schwierigkeiten einzugreifen. Die Schule ist als „System“ ihrer Kultur ohne Zweifel näher. Die Eltern wissen, wie man sich dort zurechtfindet und zur Not durchmogeln kann. Sie können auch ganz anders mit den Lehrern reden, wohl auch besser auf sie Einfluß nehmen. Hinzu kommt eine durch die Struktur der sozialen Ungleichheit gewissermaßen logisch erzeugte Verschiedenheit: Der Status quo der Unterschichten läßt sich auch ohne Bildung halten, während für die mittleren Schichten mit einiger Sicherheit das Abrutschen in den sozialen Abstieg droht, wenn es keine Weiterbildung gibt: Die Praxis des Vaters kann nur übernommen werden, wenn es ein Medizinstudium des Sohnes gibt. Und dazu muß der Schritt in die weiterführende Schule gewagt werden, auch wenn das noch lange nicht der „Doktor“ ist. Einen Döner-Laden dagegen kann jeder Türke aufmachen, mit oder ohne mittlere Reife oder gar auch Abitur. Kurz: In den mittleren Schichten ist die Bildung für den Statuserhalt eine notwendige Bedingung, in den unteren Schichten hingegen nicht. Und daher droht, so wollen wir erneut vereinfachend annehmen, nur den Mittelschichten beim Verzicht auf die Bildung oder beim Fehlschlagen der Schulkarriere ein sozialer Abstieg und ein materieller, sozialer wie psychischer Statusverlust in Höhe von –SV; und das mit einer Sicherheit von c gleich eins. Bei den unteren Schichten können dagegen c und –SV mit null angesetzt werden.
In einem Diagramm lassen sich die Brückenhypothesen über die typischen Unterschiede zwischen den unteren und den mittleren Schichten in den Variablen des Entscheidungsmodells dann so systematisieren:
269
Die Wert-Erwartungstheorie
Variable des Grundmodells
Variation nach Gruppenzugehörigkeit untere Schicht
mittlere Schicht
* * 0 0
* + * -SV 1
U p C SV c mit
* +
als gleicher Wert (im Vergleich der Schichten) als geringerer Wert (im Vergleich der Schichten) als höherer Wert (im Vergleich der Schichten)
Damit haben wir alles beisammen, was wir für die Erklärung des Unterschiedes im Bildungsverhalten zwischen den Schichten benötigen: Das allgemeine Grundmodell der Bildungsentscheidung und die spezifischen Brückenhypothesen für die betrachteten gesellschaftlichen Segmente. Vorsichtshalber sei aber noch einmal daran erinnert: In einer „richtigen“ Erklärung müssen die Brückenhypothesen, die wir hier als Annahmen eingeführt haben, gesondert belegt werden. Dafür gibt es aber, gottlob, ja die empirische Sozialforschung und – vor allem – die Koryphäen der Ungleichheitsforschung etwa in Oxford, Stockholm, Mannheim, Bremen oder Berlin. Wenn die, was unwahrscheinlich ist, nicht weiter wissen, muß man sich natürlich selbst an die Arbeit machen, um die Richtigkeit der Brückenhypothesen zu belegen. Bildungsmotivation und Investitionsrisiko Warum also die Zurückhaltung der unteren Schichten bei der Bildung? Es kommt nun natürlich wieder auf die Größenordnungen der Unterschiede – bei p vor allem – an. Aber mit einer einfachen Überlegung läßt sich auch schon ohne genaue Daten und gewissermaßen bereits a priori zeigen, warum die unteren Schichten meist so sehr zögern, den nächsten Schritt auf der Bildungsleiter zu tun. Dazu wollen wir das Problem ein wenig anders formulieren. Die Entscheidung für eine weiterführende Bildung fällt den Regeln der WETheorie gemäß ja dann, wenn EU(Ab) > EU(An) gilt. Dann ergibt sich als Bedingung für die Entscheidung zu einer weiterführenden Bildung: pU + (1-p)c(-SV) - C > c(-SV).
270
Situationslogik und Handeln
Das kann man über einige einfache Umstellungen umformen zu: pU - cSV + pcSV - C > -cSV p(U+cSV) > C U + cSV > C/p. Die Summe U+cSV auf der linken Seite der Ungleichung wollen wir als die Bildungsmotivation bezeichnen. Sie ist um so höher, je höher der Wert der Bildung eingeschätzt wird und je höher und je sicherer der drohende Statusverlust ohne die Bildung ist. Ein niedriger Status quo, der auch ohne weitere Bildung zu halten ist, vermindert also die Bildungsmotivation. Dann besteht die Bildungsmotivation nur aus dem Ertrag der Bildung selbst. Ist ein bestimmter Bildungsgrad jedoch eine notwendige Bedingung zum Statuserhalt, dann verstärkt dies die Bildungsmotivation über den bloßen Wert der Bildung hinaus. Der Quotient von Bildungskosten und Erfolgswahrscheinlichkeit C/p auf der anderen Seite der Gleichung kann als das Investitionsrisiko der Weiterbildung bezeichnet werden. Es ist – bei gleichen Kosten – um so höher, je unsicherer der Erfolg ist. Dann besagt die Ungleichung: Eine Familie wechselt ihre Entscheidung von der Bildungsabstinenz zur Weiterführung erst dann, wenn die Bildungsmotivation größer ist als das Investitionsrisiko. Nun aber wird das Problem der anhaltenden Bildungsungleichheit schon aus der Formel unmittelbar erkennbar: Wenn die Erfolgswahrscheinlichkeit p klein ist, dann muß die Bildungsmotivation schon sehr groß werden, damit die kritische Schwelle C/p des Investitionsrisikos überschritten wird. Denn bei einem Wert von p nahe null, muß der Betrag von U+cSV schon gegen unendlich gehen, damit dennoch das betreffende Risiko eingegangen wird. Die Bildungsabstinenz der unteren Schichten Was aber heißt das für das Bildungsverhalten der beiden Schichten? Zwischen den Schichten ist, so haben wir oben angenommen, p verschieden – und damit das Investitionsrisiko. Aber auch die Bildungsmotivation ist nach diesen Annahmen unterschiedlich – obwohl der Wert der Bildung für beide Schichten gleich sein mag. Denn: Bei den unteren Schichten beträgt die Bildungsmotivation nur U, weil SV dort ja gleich null ist, bei den mittleren dagegen U+SV – der Ertrag der Bildung plus dem Motiv aus der Furcht vor dem sicheren Statusverlust, wenn auf die weitere Bildung verzichtet wird. An einem Diagramm
272
Situationslogik und Handeln
ren Schichten (MC). Für die einen kommt – gemessen an der Entfernung zur Übergangsschwelle – eine weiterführende Bildung fast wie selbstverständlich nicht in Betracht, für die anderen ist sie ebenso ganz fraglos und zwingend. Und vor allem wohl darum fällt schon bei der Bildungsentscheidung der Apfel meist nicht sehr weit vom Stamm – wie auch bei vielen anderen Dingen. Was tun die oberen Schichten? Nun kann auch eine Hypothese über jene sozialen Schichten gewagt werden, denen eine Statussicherung auch unabhängig vom Bildungsgrad möglich ist: die oberen Schichten der Gesellschaft. Weil unter dieser Bedingung der Koeffizient c klein ist, vermag dort auch ein sehr hoher drohender Statusverlust die Bildungsmotivation nicht sonderlich anzuheben. Die oberen Schichten der Gesellschaft, die ihren gehobenen Status nicht nur auf den Verdiensten einer besseren Schulbildung gründen können, müßten demnach eine geringere Bildungsmotivation haben als die mittleren Schichten. Ob sich das sichtbar auf das Bildungsverhalten auswirkt, mag fraglich sein: Hier gibt es eine noch höhere Sicherheit, es gegen alle Widrigkeiten doch noch zu schaffen – und sei es durch Internate, durch teuren Privatunterricht oder, nötigenfalls, durch gute Beziehungen. Die Wirkung der Zeugnisse Es gibt ein zweites bemerkenswertes Ergebnis der empirischen Bildungsforschung, das wir mit dem WE-Modell auch kurz beleuchten wollen: Wenn Kinder aus unteren Schichten, die einen weiterführenden Zweig besuchen, schlechte Zeugnisse heimbringen, werden sie ohne Zögern von der Schule genommen. In den mittleren Schichten ist das ganz anders: Dort wird alles getan, um auch bei schlechten Zeugnissen weiterzumachen.8 Und wieder stellt sich die Frage: Warum ist das so? Vielleicht hat das so typisch unterschiedliche Verhalten, wenn erste Schwierigkeiten auftauchen, auch mit den Kosten, etwa der nun nötigen Nachhilfe, zu tun. Unser Modell legt eine davon ganz unabhängige, andere Erklärung nahe. In Diagramm 7.1b haben wir rechts mit p+ die Situation gekennzeichnet, die in diesem Fall für beide Schichten zutreffen soll: Die jewei8
Vgl. Raymond Boudon, Die Logik des gesellschaftlichen Handelns. Eine Einführung in die soziologische Denk- und Arbeitsweise, Neuwied und Darmstadt 1980, S. 179ff.
Die Wert-Erwartungstheorie
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ligen Kinder sind von ihren Lehrern zum Besuch einer weiterführenden Schule empfohlen worden und haben daher alle relativ gute Erfolgsaussichten p+. Allerdings gibt es weiter die Unterschiede in der Bildungsmotivation. Deshalb unterscheiden sich auch die Positionen MC und UC – und damit die Selbstverständlichkeit, mit der die Weiterbildung betrieben wird. Gleichwohl: Mit den von den Lehrern bezeugten hohen Erfolgssaussichten und dem so abgesenkten Investitionsrisiko entscheiden sich auch Eltern aus den unteren Schichten für eine weiterführende Bildung. Nun gebe es aber plötzlich schlechte Zeugnisse für die zuerst so hoffnungsfrohen Schüler aus beiden sozialen Schichten. Zeugnisse sind Anzeichen für die Leistungsfähigkeit und damit für die Erfolgsaussichten. Wir wollen annehmen, daß die Folgen für die Einschätzung der Erfolgserwartungen jeweils wieder gleich sind: Die Erfolgserwartung geht für beide Schichten um den gleichen Betrag von p+ auf p- zurück. Und sofort wird erkennbar, wie wichtig eine hohe Bildungsmotivation ist, wenn die Erfolgserwartung sinkt: Weil das Investitionsrisiko mit dem Rückgang von p überproportional ansteigt, ist bei einer geringen Bildungsmotivation die kritische Schwelle schon bald unterschritten. Bei einer höheren Bildungsmotivation gibt es dagegen noch einen Spielraum der Toleranz gegen die Leistungsverschlechterung. Die relativ hohe Bildungsmotivation führt so bei den mittleren Schichten dazu, daß die Übergangsschwelle C/p auch bei schlechten Zeugnissen nicht so rasch unterschritten wird, während dies für die unteren Schichten praktisch sofort der Fall ist. Warum die Bildungsungleichheit zwischen den sozialen Schichten mit steigender Bildung immer geringer wird Mit dem Modell kann auch ein weiteres Ergebnis der empirischen Bildungsforschung auf eine einfache Weise erklärt und verständlich gemacht werden: Die Bildungsungleichheit zwischen den Schichten wird mit den höheren Stufen der Bildung immer geringer.9 Der Grund ist mit dem Modell leicht zu identifizieren: Mit dem zunehmenden Erfolg auf der Stufenleiter der Bildungsgrade wächst ja auch in den unteren Schichten die Erfolgserwartung für ihre offenkundig begabten Sprößlinge, die sichtbar gut mithalten können. Die Anzahl der guten Zeugnisse, die für das Anwachsen dieser Überzeugung nötig waren, haben für die unteren Schichten das Investitionsrisiko schließlich so weit abgesenkt, daß sich nun auch eine womöglich immer noch geringere Bil9
Vgl. Walter Müller, Class Inequalities in Educational Outcomes: Sweden in Comparative Perspective, in: Erikson und Jonsson 1996, S. 168ff.; vgl. auch Erikson und Jonsson 1996a, S. 54f.
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dungsmotivation nicht mehr auszuwirken vermag. Wenn der Erfolg sicher wird, dann muß – so die Implikation des Modells – die Motivation für ein bestimmtes Tun so sehr groß nicht mehr sein. Risikoscheu? Der allgemeine Grundzug des Verhaltens der unteren Schichten ist also offenbar eine gewisse, nur schwer zu beseitigende Risikoscheu – sowohl bei der Entscheidung zur Weiterbildung wie auch danach –, insbesondere wenn es gilt, aufkommende Schwierigkeiten zu umschiffen. Sie ergibt sich, wie das Modell zeigt, aber keineswegs aus irgendeiner besonderen Kultur der Passivität und Unterwürfigkeit, einer Mentalität der Zurückhaltung, aus einer verzerrten Weltsicht, aus einem falschen Bewußtsein oder dergleichen. Es ist auch keine irgendwie geartete, besondere Einstellung der Unterschichten, die – etwa als risk aversion – die Logik der Selektion nach der WE-Theorie auf eine geheimnisvolle Weise überlagern würde. Die Entscheidungen der Familien in den verschiedenen Gruppen sind vielmehr allesamt eine direkte Folge der Statusstruktur, in der sie sich befinden. Die Scheu vor dem Risiko einer weiteren Bildung ist eine Haltung, die sich unmittelbar aus der Konstellation der Situation und aus den Regeln der WE-Theorie ergibt: Es wäre für Unterschichtseltern, angesichts ihrer Lebensumstände, ganz und gar unvernünftig, selbst ihre ohne Zweifel begabten Kinder wie selbstverständlich zur höheren Schule zu schicken und bei einmal schlechten Zeugnissen sie einfach weitermachen zu lassen. Und ebenso erscheint es für die Eltern aus den mittleren Schichten, insbesondere angesichts des drohenden Statusverlustes, ausgeschlossen, auch ihre weniger begabten Kinder auf der Hauptschule zu belassen, oder gleich die Flinte ins Korn zu werfen, wenn der erste blaue Brief kommt. Die gesellschaftliche Konstruktion der sozialen Ungleichheit Der beschriebene Mechanismus ist auch ein Beispiel für die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, hier der Wirklichkeit der sozialen Ungleichheit (vgl. dazu noch Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ausführlich). Die Strukturen der sozialen Ungleichheit bringen die Menschen, gewissermaßen: hinter ihrem Rücken, gerade dann, wenn sie rational und situationsgerecht handeln, zu „freiwilligen“ Entscheidungen, die als aggregiertes Ergebnis just diese Strukturen der sozialen Ungleichheit immer wieder neu konstituieren. Die kollektiven Effekte des Bildungsverzich-
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tes der unteren Schichten führen zu einem Strukturgleichgewicht, das von alleine und auch durch politische Maßnahmen kaum zu ändern ist. Dieses Strukturgleichgewicht ist eine unintendierte Folge des subjektiv sinnhaften, und daher: berechenbaren, Handelns der Menschen. Es ist, wenn man das so sagen möchte, die Erzeugung kollektiver Irrationalität über die Logik der subjektiven Vernunft bei den einzelnen Handlungen. *** So weit die Beispiele. Sie sollten zeigen, wie das Instrument der WE-Theorie zur Modellierung von Situationen und zur Erklärung des Handelns in Situationen angewandt werden kann. Wir werden das Instrument noch an vielen Stellen dieses Buches und für ganz unterschiedliche Problemstellungen nutzen. Oft werden Sie überrascht sein, wie einfach plötzlich manche Vorgänge erklärbar werden, mit denen sich die Soziologie lange herumgeplagt hat. Etwa: Warum Revolutionen meist erst dann ausbrechen, wenn es den Menschen etwas besser geht; warum die kommunikative Verständigung keine Lösung von Konflikten zwischen Gruppen sein kann; oder warum und unter welchen Umständen moralische Bindungen auch unter Opportunisten und Egoisten entstehen. Daß das Modell so einfach ist, sollte man ihm nicht anlasten. Im Gegenteil. Auf die Schwächen des Modells werden wir noch ausführlich zu sprechen kommen – gleich anschließend in Kapitel 8 zum Beispiel. Die gibt es nämlich ohne Zweifel auch. Aber jetzt sei schon verraten: Trotz aller – wirklichen und behaupteten – Unzulänglichkeiten gibt es für die Zwecke der soziologischen Erklärung keine ernsthafte Alternative zur WE-Theorie.
7.3
Spezielle Situationen
Die WE-Theorie faßt das Handeln als eine Selektion unter Alternativen, als eine „Wahl“ auf. Etwas anderes ist eigentlich auch kaum denkbar: Jedes Handeln muß ja einer Entscheidung folgen, bei der andere Möglichkeiten als die jeweils gewählte eben nicht selektiert werden. Diese anderen Möglichkeiten gibt es zwar nach dem Handeln weiter, wenngleich vielleicht nicht mehr unverändert, aber die eine Alternative ist auf jeden Fall „gewählt“ worden. Man sollte sich freilich von den Worten „Entscheidung“ und „Wahl“, wie oben bereits angedeutet, nicht in die Irre führen lassen: Im Zusammenhang der WETheorie heißt das keineswegs, daß der Akteur willkürlich und „frei“ machen kann, was er will, daß es keine Zwänge, Konflikte, Fehler, Irrtümer, Unsicherheiten, Beschränkungen oder Festlegungen gäbe. Im folgenden Abschnitt wol-
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len wir auf einige spezielle Situationen eingehen, für die oft angenommen wird, daß die Theorie des rationalen Handelns für sie nicht anwendbar ist: innere Konflikte, Zwänge, Unbedingtheit und Unsicherheit. Wir werden sehen, daß gerade die WE-Theorie helfen kann, deren Grundstrukturen besser zu verstehen. 7.3.1 Innere Konflikte Nicht immer fallen den Akteuren ihre Entscheidungen leicht. Es gibt drei Quellen der Beunruhigung, des Bedauerns und der Unzufriedenheit bei einer einmal getroffenen, ansonsten aber durchaus „rationalen“ Entscheidung. Alle haben sie damit zu tun, daß die Folgen der gewählten Handlung unvermeidliche innere Widersprüche oder innere Konflikte nach sich ziehen. Die inneren Konflikte, die Akteure mit sich selbst bei einer Entscheidung auszutragen haben, sind natürlich von den Konflikten zwischen Akteuren oder Gruppen zu unterscheiden, obwohl die Grundstruktur durchaus ähnlich ist: Sie entstehen allesamt dadurch, daß der Nutzengewinn durch eine Alternative zwingend einen Nutzenverlust mit sich bringt (zu den Konflikten zwischen Akteuren und Gruppen vgl. bereits Abschnitt 4.3, sowie noch Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
Drei Arten solcher inneren Konflikte sind zu unterscheiden: der AppetenzAversions-Konflikt, der Aversions-Aversions-Konflikt und der AppetenzAppentenz-Konflikt. Der Appetenz-Aversions-Konflikt Der erste Fall ist der, daß bei der gewählten Alternative zwar das EU-Gewicht das höchste ist, daß darin aber ein hoher Anteil an negativ bewerteten Folgen, Kosten also, enthalten ist. Beispielsweise sei für die Alternative Ai das EUGewicht gleich 20, es setze sich aber aus einem Nutzen von 100 und aus Kosten von –80 zusammen. Dagegen sei das Gewicht einer Alternative Aj so bestimmt: 20 Nutzeneinheiten und keine Kosten. Das EU-Gewicht – als NettoNutzen – ist jeweils genau das gleiche: 20 Nutzeneinheiten. Der Akteur müßte zwischen beiden Alternativen indifferent sein. Aber wir ahnen es deutlich: Im zweiten Fall fühlt er sich vergleichsweise besser als im ersten. Die „reine“ WE-Theorie beachtet aber nicht, daß sich beide Fälle „psychologisch“ unterscheiden. Für sie zählt nur der Überschußbetrag des Nutzens über die Kosten: der sog. Netto-Nutzen. Alles, was an inneren Kosten noch wirklich hinzukäme, müßte von diesem Nutzen vorher abgezogen werden.
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Die inneren Kosten der Inkonsistenz einer Entscheidung könnten beispielsweise so berücksichtigt werden, daß das Verhältnis von Kosten und Nutzen bei den Alternativen berechnet und mit einem gewissen Gewichtungsfaktor (etwa 0.10) versehen wird und daß das Ergebnis von dem ursprünglichen Netto-Nutzen noch einmal abgezogen wird. Für die Alternative Ai ergäbe sich beispielsweise dann als Wert für den inneren Streß der folgende Betrag: (80/100)*(0.10)=8. Dann wäre der „Netto“-Netto-Nutzen von Ai gleich 100-80-8=12. Und es würde – natürlich: ceteris paribus – die konsistente, streßfreie Alternative Aj gewählt, bei der es von dem einfachen Netto-Nutzen von 20 ja keinen Streßabzug gibt: (0/20)*(0.10)=0.
In der Sprache der Psychologie wird die beschriebene Situation bei der Wahl von Ai als Appetenz-Aversions-Konflikt bezeichnet. Immer wenn es Aufwand, Kosten und entgangene Gelegenheiten für eine Handlung gibt, entsteht ein solcher Konflikt. Er ist unvermeidlich, solange es Knappheiten gibt und solange man immer etwas herausgeben muß, wenn man etwas haben will, solange es, wie die Ökonomen sagen, Opportunitätskosten einer Selektion gibt. Also: Praktisch immer. Über diese Tragik des menschlichen Lebens hatte ja schon George C. Homans Klage geführt (vgl. Abschnitt 6.1). Der Aversions-Aversions-Konflikt Der zweite Fall ist der des Galeerensklaven. Er hat die „freie“ Wahl zwischen verschiedenen, sämtlich deutlich negativ bewerteten Alternativen: Weiterrudern oder Tod durch Kielholen. Für welche Variante auch immer er sich entscheidet: Immer wird der „Nutzen“ negativ sein. Besonders unangenehm ist der Fall, wenn eine Alternative so übel ist wie die andere, wie bei der Wahl zwischen Pest und Cholera, oder zwischen Gaskammer und elektrischem Stuhl. Dieser Fall wird auch als Aversions-Aversions-Konflikt bezeichnet. Alle Alternativen, die diese mißliche Situation beenden könnten, würden sofort ergriffen – auch bei sehr hohem Risiko des Mißlingens. Was steht im Kommunistischen Manifest von Karl Marx und Friedrich Engels? Richtig: Die Proletarier haben nichts zu verlieren als ihre Ketten! Und was sagten sich die Bremer Stadtmusikanten? Genau: Etwas Bess’res als den Tod finden wir überall! Die typische Lösung dieses Konfliktes ist auch tatsächlich die Flucht aus den Verhältnissen, in die ein Akteur sich unauflösbar verstrikt zu haben glaubt, sobald dies – nach den Regeln der WE-Theorie! – möglich und erfolgbringend erscheint. Nicht selten ist es die Flucht in die Resignation.
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Der Appetenz-Appetenz-Konflikt Der dritte Fall ist das „positive“ Spiegelbild dieser Situation. Es ist der Konflikt jenes Esels, der – einer fälschlicherweise dem Philosophen und Physiker Johannes Buridanus (1300-1358) zugeschriebenen Fabel zufolge – zwischen zwei Heuhaufen verhungert. Buridans Esel, wie er auch genannt wird, steht als vollkommen rationales Grautier nämlich zwischen zwei völlig gleichen Heuhaufen, also Heuhaufen mit identischen EU-Gewichten. Er verhungert, weil er sich in dieser Indifferenz „rational“ nicht entscheiden kann. Daß der Esel ein solcher Esel ist und sich nicht entscheiden kann, hat erneut mit einem inneren Konflikt zu tun: Welche Alternative auch immer gewählt würde – das was er gewinnt, würde er im gleichen Zug an entgangenem Nutzen wieder verlieren. Bei Buridans Esel haben wir den Spezialfall, daß der Nutzen der gewählten Alternative exakt gleich dem Nutzen jeder nicht gewählten Alternative ist. Die Ökonomen nennen den bei einer Wahl entgangenen Nutzen der nicht gewählten Alternative auch Opportunitätskosten. Und das heißt hier: Die Opportunitätskosten der Wahl des einen Heuhaufens entsprechen genau dem Nutzen des anderen Heuhaufens. Eine Wahl ist nicht möglich, weil die EU-Gewichte vollkommen gleich sind. Der beschriebene Konflikt wird auch als Appetenz-Appetenz-Konflikt bezeichnet. Solche Konflikte sind relativ leicht zu lösen: Irgendein zufälliger Einfluß von außen oder irgendein eigentlich bedeutungsloser Anhaltspunkt bringt den Akteur einem der „attraktiven“ Ziele näher. Und dann gibt es – bei hinreichender „Appetenz“ auf Heu natürlich – kein Halten mehr. Esel, die vor der morgendlichen Heumahlzeit im Horoskop die Empfehlung „Alles Gute kommt von links“ gelesen hätten, würden nur kurz zögern – und sich dann mit großem Appetit auf den linken Heuhaufen stürzen. Wenn sich die Anziehungskraft von Alternativen nicht sehr unterscheidet, wird die Orientierung an Aberglaube und Äußerlichkeiten – wie Kohls Buddhagestalt, Lafontaines spitze Nase oder die drei Punkte der FDP – also durchaus zu einer „rationalen“ Handlung: Man vermeidet das nervende Schwanken zwischen Möglichkeiten, die sich in nichts voneinander unterscheiden. *** Alle diese Fälle haben etwas mit den inneren Dissonanzen zu tun, die die Wahl einer Alternative bei einem Akteur notwendig auch dadurch erzeugt, daß auf die jeweils andere Alternative verzichtet werden muß. Innere Konflikte lassen sich – wie wir gesehen haben – leicht im Rahmen der WE-Theorie modellieren. Einer der Väter der WE-Theorie, Kurt Lewin, hat auch selbst die
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Grundlagen für die beschriebene Konflikt-Typologie und für die Erklärung typischer Reaktionen darauf geliefert10. Ein wichtiges Problem bleibt aber noch: Es liegt vorab nicht fest, ab wann es den Akteuren um „Gewinn“ oder um „Verlust“, also dann auch: wann es um einen Appetenz-Appetenz- oder um einen Aversions-Aversions-Konflikt, geht. Dies hängt – bis auf die drastischen Extrempunkte des Galeerensklaven im Vergleich zu, sagen wir einmal, Gloria von Thurn und Taxis – wieder von der „Definition“ der Situation ab. Das oben (in Abschnitt 7.2) beschriebene Experiment von Tversky und Kahneman war ein Hinweis auf solche Vorgänge. Wir kommen auf dieses Problem noch häufiger zurück, gleich im nächsten Kapitel 8 und vor allem in Band 6 dieser „Speziellen Grundlagen“ über „Sinn und Kultur“, wenn es um den „Bezugsrahmen“ des Handelns geht. 7.3.2 Zwänge Die „Wahl“ einer Handlung nach der WE-Theorie hat nichts damit zu tun, daß die Akteure frei von Zumutungen wären. Im Gegenteil: Nichts bedrängt und verdrängt den „freien“ Willen mehr als die Einsicht, daß eine bestimmte Alternative ein deutlich höheres EU-Gewicht hat als die andere. Eine „freie“ Wahl hätte nur der Esel von Buridan – oder ein Verrückter. Aber auch die sind ja nicht besonders gut dran. Die Stärke der „Auferlegtheit“ von EU-Gewichten in einer Situation wollen wir allgemein als Zwang bezeichnen. Das muß nicht immer ein Zwang sein, der den Menschen unwillkommen ist: Es gibt auch Zwänge, denen die Akteure ganz zwanglos folgen – weil die sich aufdrängende Alternative ganz und gar ihren Interessen und Zielsetzungen entspricht. Drei Arten von Zwängen wollen wir in diesem Zusammenhang unterscheiden: den repressiven Zwang, den Zwang der guten Gelegenheit und den zwanglosen Zwang der besseren Einsicht. Repressiver Zwang Diese Situation haben wir bereits kennengelernt. Es ist die des Galeerensklaven, der nur die „Wahl“ zwischen zwei deutlich negativ bewerteten Alternativen hat: Weiterrudern oder Tod. Wenn das Weiterrudern mit allen seinen Unannehmlichkeiten mit einem sicher zu erwartenden Wert von -1000 angesetzt 10
Kurt Lewin, The Conceptual Representation and the Measurement of Psychological Forces, Durham, N.C., 1938; Kurt Lewin, Resolving Social Conflicts, New York 1948; John W. Atkinson 1975, S. 158ff.
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wird, der Tod durch Kielholen aber mit einem ebenso sicher zu erwartenden Wert von -2000, dann ist es vernünftig und nutzenmaximierend, weiterzurudern – sofern die Wahrscheinlichkeit für irgendeine bessere Alternative gleich null ist. Es ist das kleinere Übel. Aber schon die kleinste Gelegenheit mit einem neutralen oder gar positiven Nutzen und einer noch so kleinen Erwartung p>0 würde die Situation sofort ändern. Nun gäbe es eine Alternative mit einem EU-Gewicht, das größer ist als die beste der beiden schlechten Gelegenheiten. Die Fortdauer von sehr repressiven Verhältnissen lebt davon, daß es wirklich keine Alternative gibt. Das ist nicht nur auf Galeeren so. Der Zwang der guten Gelegenheit Der Zwang der guten Gelegenheit besteht in der – erfreulichen – Situation, daß es eine Alternative mit einem sehr hohen positiven Wert gibt, und daß die nächstbeste Alternative dazu sehr viel niedriger bewertet wird, am besten sogar: deutlich negativ. Etwa: Die Alternative Ai habe ein EU-Gewicht von 1000, die dazu nächstbeste Alternative Aj eines von -2000. Das wäre etwa der Fall des Spekulanten an der Börse, der von einem lukrativen Insidergeschäft Wind bekommen hat und aus sicherer Quelle auch erfahren hat, daß die andere Firma, auf die er setzen wollte, kurz vor dem Zusammenbruch steht. Nicht nur ist der Ertrag des Handelns dann sehr attraktiv, auch die Differenz in den Bewertungen ist sehr groß, und folglich sind die Opportunitätskosten sowie die inneren Konflikte entsprechend gering. Der Akteur hätte zwar immer noch die „freie“ Wahl, etwas anderes zu tun. Aber er wäre ganz schön dumm, sich diesem Zwang der guten Gelegenheit nicht zu ergeben. Gerade darin, im strikten Befolgen der nützlichen Logik der Situation besteht die „Freiheit“ des Menschen. Max Weber hat diese scheinbare Paradoxie zwischen Willensfreiheit und Situationsdeterminiertheit mit einem gut nachvollziehbaren Beispiel so beschrieben: „Gerade der empirisch ;frei’, d.h. nach Erwägungen Handelnde, ist teleologisch durch die, nach Maßgabe der objektiven Situation, ungleichen und erkennbaren Mittel zur Erreichung seiner Zwecke gebunden. Dem Fabrikanten im Konkurrenzkampf, dem Makler auf der Börse hilft der Glaube an seine ‚Willensfreiheit’ herzlich wenig. Er hat die Wahl zwischen ökonomischer Ausmerzung oder der Befolgung sehr bestimmter Maximen des ökonomischen Gebarens.“11
11
Max Weber, Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie. III. Knies und das Irrationalitätsproblem, in: Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 5. Aufl., hrsg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 1982c (zuerst: 1904), S. 133; Hervorhebung so nicht im Original.
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Erst wenn sich die Akteure erkennbar nicht an die deutlichen Vorgaben eines solchen Zwanges der guten Gelegenheit halten, sind Zweifel an ihrer Rationalität und an ihrer „Willensfreiheit“ angebracht. Und gerade darauf, daß es die freie Entscheidung zur Unterordnung unter den Zwang der guten Gelegenheit wirklich gibt, beruhen die „Gesetze“ von Wirtschaft, Gesellschaft und Geschichte: „Befolgt er (der Fabrikant bzw. der Makler; HE) sie zu seinem offenkundigen Schaden nicht, so werden wir zur Erklärung – neben anderen möglichen Hypothesen – eventuell gerade auch die in Betracht ziehen, daß ihm die ‚Willensfreiheit’ mangelte. Gerade die ‚Gesetze’ der theoretischen Nationalökonomie setzen, ganz ebenso wie natürlich auch jede rein rationale Deutung eines historischen Einzelvorgangs, das Bestehen von ‚Willensfreiheit’ in jedem auf dem Boden des Empirischen überhaupt möglichen Sinn des Wortes notwendig voraus.“ (Ebd.; Hervorhebung im Original)
Den Zwang der guten Gelegenheit gibt es auch unter repressiven Verhältnissen: Wenn das geringere Übel sehr viel weniger übel ist als das größere Übel. Man könnte diesen Fall als den Zwang des kleineren Übels bezeichnen. Und ganz allgemein ist es dann sinnvoll, alle diese Fälle als den Zwang der relativ besten Gelegenheit zu verstehen – egal ob im Gewinn- oder im Verlustbereich. Der zwanglose Zwang des besseren Argumentes Es gibt einen Spezialfall der beschriebenen Situation eines Zwanges der guten Gelegenheit: der eigentümlich zwanglose Zwang, der sich ergibt, wenn Akteure – etwa im Verlaufe von Gesprächen – herausfinden, daß eine bestimmte Einsicht richtig ist und eine andere, die zuvor auch als möglich galt, sich eben als falsch erweist. Das ist oft bei Diskussionen über wissenschaftliche Wahrheiten, ästhetische Urteile oder moralische Wertungen so. Häufig gibt es dabei ein, wenngleich sachfremdes, so doch wirksames, psychologisches Problem: Derjenige, der zunächst die „falsche“ Ansicht vertreten hat, befürchtet negative Folgen, wenn er dem, rein „rational“ gesehen: unabweisbaren, Urteil einfach nur so beitritt: Statusverlust, Beschämung über die eigene Unkenntnis, Schadenfreude der anderen, vielleicht sogar Entlassung wegen erwiesener Inkompetenz. Oft steht eine ganze Biographie auf dem Spiel: Wer – etwa – sein Leben lang nur Radikalen Konstruktivismus getrieben hat, kann nicht ohne weiteres eingestehen, daß er seine ganze Energie für eine unsinnige Hochstapelei verschwendet hat – auch wenn das „rationale“ Urteil des wissenschaftlichen Diskurses unter kompetenten Sprechern das noch so sehr nahelegen mag. Kurz: Es gibt oft hohe Kosten für die Zustimmung zu einem „an sich“ zwin-
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genden, am Code der Wahrheit orientierten und für alle nützlichen rationalen Konsens. Die Situation läßt sich wiederum sehr leicht in die Sprache der WE-Theorie übersetzen. Es sei Az die Alternative der Zustimmung zu einem Urteil, und Aa die der Ablehnung. Zustimmung habe die Erzeugung eines Konsenses zur Folge, der mit dem Wert Uc, aber auch mit den Befürchtungen C belegt sei. Das EU-Gewicht für die Zustimmung ist dann EU(Az)=Uc-C. Bei Ablehnung gebe es nichts weiter. Also: EU(Aa)=0. Alles hängt nun – wie üblich – von den relativen Größen der Variablen ab. Und wenn die Zustimmungskosten höher sind als der Nutzen des Konsenses, wird der Beitritt zum rational richtigen Urteil verhindert. Wenn ein Lebenswerk zu scheitern droht oder der gute Ruf in der scientific community auf dem Spiel steht, dann ist das wohl meist der Fall.
Alles hängt dann davon ab, daß die Zustimmungskosten verringert oder gar auf null gesetzt werden. Wie soll das gehen? Von Karl R. Popper stammt dazu die Idee von der Institutionalisierung von Kritik und von Jürgen Habermas das Konzept des herrschaftsfreien Diskurses und der idealen Sprechsituation. Gemeint ist beide Male das Gleiche: Sind die sachfremden Zwänge ausgeschaltet und geht es in der Produktion von Wertschätzung nur um die Wahrheit und die Richtigkeit des Urteils, dann sind in diesem institutionellen Rahmen die Zustimmungskosten C gleich null. Und dann waltet in der Tat jener eigentümlich zwanglose Zwang, der schon den Fabrikanten und Makler bei Max Weber so wirksam in seinem „freien Willen“ dirigierte, auch bei den Teilnehmern an einer Diskussion, bei der nicht alle Recht behalten können, die zuvor verschiedener Auffassung waren. 7.3.3 Auferlegtheit und Unbedingtheit Auch die Zwänge haben offenbar etwas mit den inneren Konflikten und mit den (Opportunitäts-)Kosten zu tun. Ein Zwang liegt dann vor, wenn die Differenz zwischen der erst- und der zweitbesten Alternative sehr hoch ist. Dann gibt es zwar noch die Frage, ob es ein repressiver Zwang ist, der einer besonders guten Gelegenheit oder einer des besseren Argumentes. Aber in allen diesen Fällen gilt: Viel innerlich abgewogen wird bei der Entscheidung nicht, weil die Logik der Situation so überaus deutlich ist. Dies ist das Problem der „Auferlegtheit“ einer Situation und der „Unbedingtheit“ eines Handelns darin. In Abschnitt 6.8 hatten wir Jon Elster erwähnt, der eine deutliche Unterscheidung zwischen dem rationalen und dem normativen Handeln gemacht hatte. Und nicht erst Jon Elster hat gemeint, daß alle diese Einzelheiten rationaler Erklärungen ja ganz hübsch und für viele Zwecke gut brauchbar sind – aber nur für den Fall des „ökonomischen“ Handelns. Wenn – wie beim sozialen Handeln üblicherweise – Normen und Werte beteiligt seien, dann gelte eine
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ganz andere Logik der Selektion: Die besondere Logik des normativen Handelns (vgl. dazu noch ausführlich Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Hierbei komme es – ganz anders als bei der Logik des rationalen Handelns – eben nicht auf die erwarteten oder gar kalkulierten Folgen an. Vielmehr würde der Akteur von ihnen unwiderstehlich mitgerissen: „Norms have a grip on the mind“, schreibt Jon Elster.12 Mehr noch: „The operation of norms is to a large extent blind, compulsive, mechanical or even unconscious“ (Ebd.). Kurz: Über die Befolgung von Normen (und Werten) wird nicht lange nachgedacht. Sie „erfassen“ den Akteur. Und die Konsequenzen seines Tuns spielen dabei keine Rolle. Wirklich? Was heißt „Unbedingtheit“ Zunächst ist festzuhalten, daß ganz ohne Bezug auf Konsequenzen auch die Normen nicht funktionieren. Wenigstens einen Teil ihrer starken „Geltung“ gewinnen sie durch die sog. Sanktionen. Das sind gewisse, mit der Befolgung oder Mißachtung von Werten und Normen verbundene Folgen, positiver wie negativer, äußerlich oder innerlich erlebter Art. So weit gibt es also offenbar keine Probleme mit den Normen im Rahmen der WE-Theorie. Was aber ist mit dem „grip on the mind“ durch die Normen und die Werte? Was ist mit der „mechanical“ Ausschaltung jeder „rationalen“ Kalkulation? Was ist mit der bedingungslosen Identifikation mit den Rollen, auf die Friedrich A. Tenbruck in seiner Kritik an dem so kühl kalkulierenden homo sociologicus von Ralph Dahrendorf hingewiesen hatte (vgl. Abschnitt 3.1)? Kurz: Was ist mit der „Unbedingtheit“, mit der Normen, Werte und soziale Rollen oftmals den Akteur erfassen und ihn – wie es wenigstens scheint – „blind“ und „compulsive“ zum Handeln treiben? Es gibt sicher viele unterschiedliche Varianten des Verständnisses dieser Unbedingtheit. Eine könnte sein, daß der Akteur sicher glaubt, daß die Norm allgemein „gilt“ und daß es deshalb sehr ratsam ist, sich auch selbst daran zu halten. Eine andere Möglichkeit wäre die Annahme eines sehr großen Wertes der internen Sanktionen, durch den die anderen Bestandteile der EU-Gleichung gewissermaßen komplett in den Hintergrund gedrängt werden. Wenn beides zusammentrifft – hoher und sicherer Wert des normativen Handelns –, dann kommt den Akteuren nichts anderes in den Sinn. Das wäre im übrigen nur eine Variante der oben beschriebenen Situation des Zwanges der guten Gelegenheit: Die normativ gebotene Handlung ist dann die bei weitem „beste“ Alternative. Und deshalb kommt für den Akteur gar nichts anderes in Frage.
12
Jon Elster, The Cement of Society. A Study of Social Order, Cambridge 1989b, S. 100; Hervorhebung so nicht im Original.
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Wir wollen eine weitere, wohl eigentlich immer gemeinte, Interpretation von Unbedingtheit besprechen – jene nämlich, die auch Jon Elster nahelegt: Bei Normen und Werten wird nicht „rational“ nachgedacht, sondern unmittelbar und automatisch reagiert. Es wird also, in der Sprache des Abschnitts 6.8 aus dem letzten Kapitel, der Modus gewechselt, über den das Handeln selektiert wird: nicht mehr die mühselige innere Berechnung von EU-Gewichten, sondern die unmittelbare und unreflektierte Ausführung der Handlung – wenn es die betreffende Situation gibt. Der Wechsel des Modus Wie aber könnte man diesen Wechsel im Modus erklären? Nichts leichter als das: Auch der Modus der Selektion des Handelns ist ein Handeln. Es ist ein innerliches Tun, eine interne Selektion zwischen – wenigstens – zwei Möglichkeiten: automatische Ausführung ohne Bedenken von Konsequenzen versus rationale Reflektion der Folgen. Und zwischen diesen Möglichkeiten des Modus wird auch „entschieden“. Und zwar: nach den Regeln der WE-Theorie. Wir wollen die beiden Alternativen der automatischen Reaktion versus der reflektierten Aktion mit Aap und Arc bezeichnen. Wie sehen die EU-Gewichte für die beiden Modi dann aus? Zunächst das EU-Gewicht für die automatische Reaktion: Mit der automatischen Reaktion tritt – in der unmittelbaren inneren Erwartung des Akteurs – die bisher in ähnlichen Fällen übliche Situation ein. Sie werde einfach mit Uap bewertet. Da es keinen Grund gibt, am Eintreten der Situation zu zweifeln, kann dieser Wert mit einer Erwartung von 1 gewichtet werden, und die Komplementärerwartung, daß Uap nicht realisiert werde, ist daher gleich null. Nun die EUGewichte für die reflektierte Aktion: Das „Ziel“ der Reflektion ist die erfolgreiche Suche nach der „besten“ Alternative – jenseits der standardmäßig üblichen. Nur deshalb werden ja die Folgen intern bewertet und die Alternativen mühsam gewichtet. Der Akteur vollzieht nun innerlich eine grobe Schätzung über einen möglichen Mehrertrag seines Handelns bei Reflektion, auch darüber natürlich, was eine Abweichung von der Norm erbringen könnte. Diesen möglichen höheren Wert wollen wir mit Urc bezeichnen. Der Akteur weiß dabei nur, daß dieser Wert erreichbar ist. Er weiß aber noch nicht, was zu tun ist, und ob er bei der Suche danach auch erfolgreich ist. Er weiß nur, daß er zuvor etwas nachdenken muß – und dann vielleicht die Lösung findet. Die Erwartung, daß er dabei erfolgreich ist, wollen wir mit p kennzeichnen. Damit wird Urc gewichtet. Ist der Akteur bei seiner „rationalen“ Suche nach einer besseren Lösung nicht erfolgreich, dann hat er immer noch Uap zu erwarten – mit der Wahrscheinlichkeit (1-p). Etwas fehlt noch: Jede innere Kalkulation von Folgen erfordert – anders als die automatische Reaktion – einen gewissen Aufwand. Den wollen wir mit C bezeichnen. Er muß von den Anreizen zur rationalen Kalkulation abgezogen werden.
Mit diesen Überlegungen lassen sich die Gleichungen für die EU-Gewichte bei der inneren Entscheidung für den automatischen oder für den reflektierten Modus so schreiben:
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sogar formal und als Variable definieren: Es ist der Abstand, den der Akteur in der Region Aap zur Übergangsschwelle C/p hat. Drei Fälle wollen wir etwas näher betrachten. Der Fall (1) ist jener, an den Jon Elster – und mit ihm fast die komplette Zunft der Soziologen – beim normativen Handeln ganz automatisch denken: Automatisches Reagieren. Der Abstand zur Übergangsschwelle C/p nach Arc ist sehr groß. Das hat zwei Gründe: Erstens steht nicht viel auf dem Spiel, wenn blind der Norm gefolgt wird: Die Differenz Urc-Uap ist fast gleich null. Sie könnte – theoretisch – sogar negativ werden. Dann würde der Abstand sogar noch größer. Und zweitens ist die Erwartung, etwas Besseres zu finden, sehr klein. Beides hat zur Folge, daß es jetzt beträchtliche Spielräume für die Veränderung sowohl der Anreize Urc wie der Erwartungen p gäbe. Auch größere Änderungen belassen den Akteur im ap-Modus, solange die Übergangsschwelle nicht überschritten wird. Aber es gibt dann eine Annäherung an die Übergangsschwelle. Ein solcher Fall ist in Situation (2) beschrieben. Zwar wird auch nun der automatische Modus (noch) beibehalten. Aber es gibt etwas, was Jon Elster gerade ausschließen wollte: Zweifel und Fragen, ob nicht vielleicht doch etwas mehr Nachdenken angebracht wäre. Der Fall (3) beschreibt schließlich jene Situation, die man normalerweise mit „rationaler Wahl“ verbindet: Der Akteur befindet sich ganz fraglos und „automatisch“ im Modus der rationalen Kalkulation der Folgen. Dazu hat er sich aus drei Gründen innerlich entschieden: Erstens lohnt sich das rationale Kalkulieren, weil der Überschuß von Urc über Uap groß genug ist. Zweitens ist die Erfolgserwartung p hoch genug. Und drittens sind auch die Kalkulationskosten C hinreichend niedrig. Aus dem letzten Punkt wird eine interessante Implikation des Modells sichtbar: Die Unbedingtheit der normativen automatischen Reaktion kann auch dadurch entstehen, daß die Akteure wenig Möglichkeiten haben, nach anderen Wegen zu suchen. Und noch ein – paradox klingendes – Detail sollte erwähnt werden: In der Situation (3) folgt der Akteur auch ganz „unbedingt“ den Imperativen der Situation: Er beginnt ganz ohne Zögern und weitere Bedenken mit dem reflektierten Nachdenken über die möglichen Folgen seines Tuns. Daß es auch ohne Reflektion ginge, kommt ihm nicht in den Sinn.
Die Unbedingtheit der Werte und der Normen kann somit als eine Variable verstanden werden, deren Ausprägung – letztlich – wieder auf Bewertungen und Erwartungen, auf die Interessen und auf die Möglichkeiten der Akteure zurückzuführen ist. Die Unbedingtheit verfällt, wenn die Beachtung der Werte und Normen den Interessen der Menschen massiv zuwiderlaufen und/oder wenn sich die Chancen für andere Möglichkeiten verbessern. 7.3.4 Unsicherheit Bisher haben wir stets nur Situationen betrachtet, in denen die Akteure die EU-Gewichte tatsächlich „berechnen“ konnten: Es gab eindeutige Bewertungen und fest umrissene Erwartungen, sei es als sichere oder als riskante Erwartungen. Manchmal wissen die Akteure aber buchstäblich nichts über die Wahrscheinlichkeiten, mit denen ihr Handeln zu bestimmten Ergebnissen führt. Das ist die Situation der Unsicherheit: Die Einträge in der Erwartungsmatrix P sind dann – sozusagen – leer. Es könnten dort alle möglichen Ziffern
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zwischen null und eins stehen. Und sofort stellt sich die Frage: Was ist zu tun? Das Problem sei an einem kleinen Beispiel, erneut aus dem akademischen Leben, illustriert. Noch ein Beispiel Die Professorin Dr. Helma-Beate Wiesbaden-Wohlbestallt möchte um fast alles in der Welt die Leitung eines großen Forschungsinstitutes übernehmen, um der etwas öden Welt des bloßen Universitätsdaseins und vor allem: der langweiligen, durch Zwischenfragen der Studenten oft irritierenden und wenig öffentlichkeitswirksamen Lehre zu entkommen. Direktor(in) dieser Art von Institut kann aber – so sind die Usancen nun einmal – nur werden, wer einen ganz bestimmten Kuratoriumsvorsitz einmal innegehabt hat. Dieser Vorsitz ist – gewissermaßen – Voraussetzung und Zeichen einer möglichen Prädestination für das eigentlich erstrebte Amt, bedeutet aber keinerlei Sicherheit für die wirkliche Erwählung. Die Ernennung selbst ist nämlich von einigen nicht kontrollierbaren Unwägbarkeiten und unerforschlichen Ratschlüssen anderer abhängig: Wer gewinnt die nächste Wahl? Bleibt dann auch der Ministeriale im Amt, mit dem alles bereits so schön vorbereitet worden ist? Richtet der jetzige Direktor das Institut so zugrunde, daß die Geldgeber es inzwischen ganz schließen? Gelingt es, rechtzeitig ein überzeugendes Programm vorzulegen? Kurz: Über die Wahrscheinlichkeit, daß die schließliche Ernennung wirklich gelingt, kann nichts gesagt werden. Nun wird der Vorsitz des Kuratoriums – das Nadelöhr zum Himmelreich – tatsächlich angeboten. Und dann die schwierige Frage: Annahme des Angebotes oder nicht? Die Alternative A1 sei die Annahme, A2 die Ablehnung des Angebotes. Die Bewertungen sind etwa so zu beschreiben: Der Vorsitz des Kuratoriums ist eigentlich schon recht lästig. Er kostet an Mühe -60 Werteinheiten. Normalerweise würde man ihn weit von sich weisen. Wird das Angebot angenommen, dann winkt der Direktorenposten mit einem Wert von 100, und der Kuratoriumsposten kann dann ohne Gesichtsverlust abgegeben werden – falls es der Himmel will und die Ernennung tatsächlich auch erfolgt. Stehen die Sterne nicht günstig, gibt es keine Ernennung. Der an sich äußerst lästige Kuratoriumsposten muß dann auf Dauer behalten werden. Es gibt nun folglich einen Verlust von -60 – und sonst nichts. Bei Ablehnung des Angebotes ist die Chance auf die Direktorenstelle dagegen mit Sicherheit dahin. Es bleibt aber auch das Kuratorium erspart. Und die Universität macht immerhin noch eine mäßige Freude von 10 Werteinheiten. Dies gilt – trivialerweise – für beide möglichen Fälle: günstige oder ungünstige Sterne für den Direktorenposten – was bei Ablehnung des Angebotes aber nicht mehr bedeutsam ist.
Die Struktur der Situation läßt sich dann so zusammenfassen:
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Situationslogik und Handeln
Ernennung
keine Ernennung
Lmax
Gmax
A1
100
-60
-60
100
A2
10
10
10
10
Was soll Frau Professor Dr. Helma-Beate Wiesbaden-Wohlbestallt angesichts dieser Konstellation vernünftigerweise tun, wenn über die Wahrscheinlichkeit der Ernennung wirklich nichts vorab gesagt werden kann? Die Minimierung des maximalen Verlustes In der Theorie des Entscheidungshandelns sind verschiedene Regeln der Entscheidung für solche Fälle der Unsicherheit vorgeschlagen worden. Eine der naheliegendsten ist die folgende: Für jede Zeile der möglichen outcomes einer Handlung wird der geringste Wert bestimmt. Das ergibt den Vektor der maximalen Verluste. Im Beispiel ist dieser Vektor in der Spalte Lmax aufgeführt. Die Entscheidungsregel lautet dann: Minimiere den maximalen Verlust. Dieses Kriterium wird auch die Maximin-Regel genannt. Nach der MaximinRegel würde das Angebot nicht angenommen, eben weil –60 deutlich weniger als 10 Einheiten sind, und weil die Vermeidung des Verlustes noch nicht einmal „kalkuliert“, geschweige denn: kontrolliert werden kann. Pessimismus und Optimismus Die Maximin-Regel ist etwas für Pessimisten. Sie bietet sich für den Fall der kompletten Unsicherheit an, für den wirklich keinerlei Wahrscheinlichkeit angegeben werden kann, und für Fälle, in denen tatsächlich eine, wenngleich noch so unwahrscheinliche, aber nicht auszuschließende, Katastrophe droht. Mit einer ähnlichen Überlegung hatte der französische Philosoph und Mathematiker Blaise Pascal (1623-1662) gezeigt, daß es eigentlich zwingend sei, katholisch zu werden. Das Argument: Wenn es zwar vielleicht sehr unwahrscheinlich, aber gleichwohl nur irgendwie möglich ist, daß der Katholizismus doch wahr wäre, und wenn einen Atheisten oder gar Protestanten in diesem Fall tatsächlich Höllenqualen mit einem Nutzenwert von minus unendlich erwarten, dann ist es gerade für einen rationalen Atheisten bzw. Protestanten zwingend, katholisch zu werden, will er der ewigen Verdammnis mit Sicherheit entgehen. Pascal wurde übrigens in seinem Alter ein gefürchteter katholischer Mystiker.
Die Wert-Erwartungstheorie
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Also: Nur wenn das ungünstige Ereignis wirklich und mit Sicherheit ausgeschlossen ist, kann die Katastrophe vermieden werden. Aber gerade das weiß der Akteur unter Unsicherheit nicht. Er kennt ja noch nicht einmal das Risiko. Und Pessimisten schrecken schon vor wesentlich kleineren Katastrophen als Hölle und Fegefeuer zurück. Ein Optimist würde die Sache anders sehen: Es wird schon alles gut gehen! Er würde für jede Alternative den maximalen Gewinn heraussuchen und dann die Alternative wählen, bei der der jeweils maximale Gewinn maximal ist. Im Beispiel stehen die maximalen Gewinne in der Spalte Gmax. Gewählt würde nach diesem Kriterium die Alternative A1. Das Kriterium wird auch als Maximax-Regel bezeichnet. Optimismus und Pessimismus oder Risikoscheu und Risikofreudigkeit als „Erklärung“ sind gleichwohl keine sehr befriedigenden Auskünfte. Denn: Wann wird man Optimist und risikofreudig? Und wann bleibt man Pessimist und risikoavers? Hat das vielleicht doch etwas mit den Auszahlungen zu tun? Was wäre zum Beispiel, wenn der Direktorenposten nicht mäßige 100, sondern gar 10 000 Werteinheiten brächte? Könnte man sich dann nicht doch auch als Pessimist auf das Risiko einer Entscheidung unter Unsicherheit einlassen? Wir wissen nicht, was Frau Professor Dr. Helma-Beate WiesbadenWohlbestallt getan hat. Wahrscheinlich hat sie es so weit nicht kommen lassen, sondern ihre Ernennungschancen mit anderen Mitteln abgesichert, oder wenigstens: verläßlicher erkundet, wie es um ihre Chancen steht und die unberechenbare Unsicherheit in ein kalkulierbares Risiko abgewandelt. Dann aber hat sie sich – irgendwie – entschieden, nach den Regeln der WE-Theorie. Was heißt „Unsicherheit“? Genau das ist auch wohl die vernünftigste Reaktion auf die Situation der Unsicherheit: Zu versuchen, die Unsicherheit zu vermindern – und dann erst eine Entscheidung zu treffen, wenn man die wichtigen Parameter beisammen hat. Was aber bedeutet „Unsicherheit“ genau? Der Ausgangspunkt der Überlegung ist die Frage, wie sich Akteure Urteile über die Wahrscheinlichkeit des Eintretens bestimmter Ereignisse bilden. Bei Sicherheit wissen sie genau, daß ein Ereignis entweder mit einer Wahrscheinlichkeit von eins oder mit einer Wahrscheinlichkeit von null auftreten wird. Darüber plagt sie kein Zweifel. Ganz ähnlich ist es bei Risiko: Nun schätzen die Akteure eine bestimmte Wahrscheinlichkeit zwischen null und eins ein. Aber über den Wert dieser Schätzung sind sie sich ganz sicher. Es ist – sozusagen – die exakte „Punkt“-
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Situationslogik und Handeln
Schätzung einer bestimmten Wahrscheinlichkeit, für die sie keinen Zweifel haben, daß das Risiko diesen Wert, etwa: genau p=0.60 hat – und keinen anderen! Unsicherheit liegt demgegenüber vor, wenn es für keinen solchen Wert der Wahrscheinlichkeiten eine solche Schätzung gibt: Alle denkbaren Wahrscheinlichkeiten p sind gleichermaßen wahrscheinlich. Second Order Probabilities Die Akteure haben also bestimmte Erwartungen über die Wahrscheinlichkeiten p für die verschiedenen outcomes.13 Diese Erwartungen über die Wahrscheinlichkeiten p werden auch als Meta-Erwartungen, als Erwartungserwartungen oder als second-order-probabilities (SOP) bezeichnet. Wir wollen sie mit p’ kennzeichnen. Für die Werte von p’ einer SOP gibt es über alle denkbaren Werte von p dann eine bestimmte Verteilungsfunktion. In Abbildung 7.3 sind verschiedene solcher Verteilungen dargestellt. Im Fall der kompletten Unsicherheit ist das die Gleichverteilung: Jedem denkbaren Wert von p zwischen 0 und +1 ist die gleiche SOP-Wahrscheinlichkeit p’ zugeordnet. Die waagerechte Linie 1 kennzeichnet diese Gleichverteilung. Es ist der Zustand der maximalen Unsicherheit. Eine maximale Reduktion von Sicherheit – und damit: eine minimale Unsicherheit – liegt dann vor, wenn sich alle SOP-Schätzungen auf einen Wert von p verteilen. Einen solchen Fall haben wir mit der senkrechten Linie 2 über dem Wert p=0.6 gekennzeichnet. Es ist der Fall eines „sicher“ eingeschätzten Risikos von 0.6. Die „Sicherheit“, daß eine Wahrscheinlichkeit von p=0 oder eine von p=1 gelte, wäre folglich eine ähnliche punktuelle Verteilung von p’ auf den Werten p=1 oder p=0. Die entsprechenden senkrechten Linien haben wir aus optischen Gründen nicht in das Diagramm eingetragen. Nun sieht man sehr deutlich, was gemeint ist, wenn sowohl bei Sicherheit wie bei Risiko von „sicheren“ Erwartungen die Rede ist: Die Akteure haben 13
Vgl. dazu: Hillel J.Einhorn und Robin M. Hogarth, Decision Making Under Ambiguity, in: Robin M. Hogarth und Melvin W. Reder (Hrsg.), Rational Choice. The Contrast Between Economics and Psychology, Chicago und London 1986, S. 43ff. Die folgende Darstellung folgt einem Vorschlag von Volker Stocké, Relative Knappheiten und die Definition der Situation. Die Bedeutung von Formulierungsunterschieden, Informationsmenge und Informationszugänglichkeit in Entscheidungssituationen: Ein Test der Framinghypothese der Prospect-Theory am Beispiel des ‚asian disease problem‘. Zwischenbericht des Forschungsvorhabens „Zum Framing von Entscheidungssituationen“ (Universität Mannheim), Mannheim 1996, S. 19ff.; Volker Stocké, Framing oder Informationsknappheit? Zur Erklärung der Formulierungseffekte beim Asian-Disease-Problem, in: Ulrich Druwe und Volker Kunz, Anomalien in der Handlungs- und Entscheidungstheorie, Opladen 1998, S. 197-218.
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Die Wert-Erwartungstheorie
keine Zweifel, daß p diesen – und keinen anderen – Wert hat. Unmittelbar wird aber auch erkennbar, daß es zwischen der „Sicherheit“ von Sicherheit und Risiko und der kompletten Unsicherheit einen weiten Spielraum gibt.
1
2
p’ (3b) (1) (3a) 0
0.4
0.6
1 p
Abb. 7.3: Wahrscheinlichkeitsverteilungen zweiter Ordnung für die Erwartungen des Auftretens bestimmter Ereignisse
Der Einfachheit halber wollen wir für solche Schätzungen von p in p’ die Normalverteilung annehmen. Und der jeweils eingeschätzte Ankerpunkt von p ist dann nichts anderes als der jeweilige Mittelwert dieser Verteilung. In Abbildung 7.3 haben wir für den Ankerpunkt p=0.4 zwei solcher Verteilungen der SOP und den entsprechenden Mittelwert eingezeichnet: Die Linien 3a und 3b. An den beiden Verteilungen wird sichtbar, daß die p’-Werte um den Mittelwert p=0.4 unterschiedlich weit streuen.
Nun kann der Grad der Unsicherheit genauer bestimmt werden: Es ist das Ausmaß der Streuung der normalverteilten SOP von p’ mit dem Mittelwert des als Anker geschätzten Wertes von p. Der Grad der Unsicherheit wird auch als Ambiguität bezeichnet (vgl. dazu bereits Abschnitt 7.1). Die geringste Ambiguität hat entsprechend die Schätzung 2, die höchste die Schätzung 1. Die Schätzungen 3a und 3b liegen entsprechend dazwischen. Die Unsicherheit bildet damit den maximalen, die Sicherheit und das Risiko den minimalen Grad an Ambiguität.
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Situationslogik und Handeln
Die Frage ist dann natürlich: Wie kommen die Akteure zu den Ankerpunkten, zu den Mittelwerten und zu den Schätzungen der Verteilung von p’? Drei vorläufige Antworten wollen wir hier geben: Erstens: Sie „kennen“ die Verteilung bereits – etwa aus eigenen Erfahrungen oder von Hörensagen. Zweitens: Es gibt in der Situation bestimmte Hinweise – „cues“ –, die den Akteuren bestimmte Schätzungen nahelegen. Diese Hinweise müssen – als für gewisse Ereignisse oder Zustände „signifikante“ Symbole – natürlich vorher gelernt worden sein. Auch können die cues mehr oder weniger eindeutig oder gestört sein und so unterschiedliche Grade von Ambiguität nach sich ziehen. Und drittens können die Akteure, wenn sie es genauer wissen wollen, selbst etwas tun, um die Unsicherheit bzw. die Ambiguität zu reduzieren. Sie können – um die Sache einmal so auszudrücken – versuchen, selbst die Situation durch gezielte Suche nach Informationen zu definieren. Lohnt sich die Reduktion von Komplexität? Unsicherheit bedeutet eine extreme Komplexität der Situation: Alles ist möglich. Nicht immer stört das die Menschen. Die allermeisten Situationen sind eigentlich außerordentlich komplex – aber die Menschen lassen es dabei. Manchmal jedoch werden sie unruhig – wie Frau Professor Dr. Helma-Beate Wiesbaden-Wohlbestallt, insbesondere wenn es um eine wichtige, wenngleich im Risiko schlecht abschätzbare Sache geht. Und dann wird nach Hinweisen gesucht, die die Sache kalkulierbarer machen. Kurz: Es wird, um einen inzwischen fast alltagssprachlichen Ausdruck von Niklas Luhmann zu verwenden, versucht, die Komplexität der Situation zu reduzieren, und zwar durch die Beschaffung zusätzlicher Informationen über die Verteilung der Wahrscheinlichkeiten p.Es geht bei den Versuchen zur Reduktion von Komplexität also um eine Meta-Entscheidung: die vor die „eigentliche“ Entscheidung geschaltete Entscheidung, sich die nötigen Informationen zu beschaffen – oder aber es sein zu lassen. Und wieder läßt sich die WE-Theorie auch auf diese Entscheidung anwenden. Es ist, wie sich leicht sehen läßt, ein ähnliches Problem wie das bei der Bildungsentscheidung oder das der Auferlegtheit und Unbedingtheit von Normen und Werten und der Abkehr vom automatischen Modus der Handlungsselektion (in Abschnitt 7.3.3): Lohnt sich die Suche nach weiteren Informationen überhaupt? Ist sie überhaupt erfolgversprechend? Könnte man sich mit dem besten der denkbaren schlechten Ergebnisse zur Not auch zufriedengeben? Sind die nötigen Informationen eigentlich zu vertretbaren Kosten zu erlangen?
Wir wollen diese Entscheidung, für eine Reduktion der Komplexität zu sorgen, folglich ebenfalls in der Sprache der WE-Theorie modellieren.
Die Wert-Erwartungstheorie
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Die Akteure kennen demnach zwar das „richtige“ Risiko nicht, aber sie wissen, daß sie darüber eine minimal sichere Information erhalten könnten – wenn sie sich nur die Mühe der Suche nach Informationen machen würden: Telefonate, Hintergrundgespräche oder Interpretation von Andeutungen zum Beispiel. Die Alternative ist die aktive Suche nach weiteren Informationen (Ai) über das „wirkliche“ Risiko einerseits und der Verzicht darauf (Av) andererseits. Der nach einer erfolgreichen Informationssuche mögliche maximale Gewinn ist der Wert Umax, etwa aus dem Vektor der möglichen Gewinne der oben skizzierten Entscheidungssituation von Frau Prof. Dr. Helma-Beate Wiesbaden-Wohlbestallt; hier also: 100 Werteinheiten. Die subjektive Wahrscheinlichkeit für die Verwirklichung von Umax nach dem Finden des „richtigen“ Risikos sei p. Außerdem gibt es die sicheren Suchkosten C für die nötigen Informationen. Wenn nichts weiter getan wird, gibt es die sichere Auszahlung Umin; im Beispiel ist das der maximale Verlust in Höhe von -60 Werteinheiten. Umax entspricht also der Auszahlung bei der optimistischen Maximax-Regel, Umin derjenigen bei der pessimistischen MaximinRegel.
Das Entscheidungsmodell hat dann die uns inzwischen schon wohlvertraute Struktur: EU(Ai) = pUmax + (1-p)Umin – C EU(Av) = Umin. Sie können sich anhand der Diagramme aus Abbildung 7.1 und 7.2 und unter entsprechender Umformulierung der Variablen selbst ein Bild davon machen, wann die Akteure beginnen, unruhig zu werden und weitere Informationen für die Reduktion der Komplexität bei ihrem Entscheidungsproblem zu suchen beginnen. Aber wohlgemerkt: Es geht hierbei noch nicht um die „eigentliche“ Entscheidung, etwa den Vorsitz des Kuratoriums anzunehmen oder nicht. Es geht vielmehr darum, ob nach weiteren Informationen gesucht werden soll, um nicht eine gute Chance verstreichen zu lassen oder blindlings in eine Katastrophe zu schlittern? Und das sagt das WE-Modell der Informationssuche ganz deutlich: Auf die Suche nach weiteren Hinweisen machen sich die Menschen dann, wenn viel auf dem Spiele steht, wenn es nicht allzu unwahrscheinlich und nicht zu aufwendig ist, auch wirklich an die betreffenden Informationen zu kommen. Lohnt sich die Sache nicht oder sind die Informationen zu unzuverlässig oder zu schwer zu erhalten, dann läßt man die Dinge am besten laufen, wird pessimistisch und minimiert den maximalen Verlust. Und das insbesondere dann, wenn schlimme Dinge drohen – wie die Hölle, die Heirat der falschen Frau oder die Entscheidung für eine Karriere mit einem nicht auszuschließenden toten Ende.
Kapitel 8
Die Logik der subjektiven Vernunft
Die Wert-Erwartungstheorie ist eine Variante der Nutzentheorie. Die Nutzentheorie beruht auf dem sog. Nutzenprinzip, dem „principle of utility“. Es wurde – antiken Vorbildern folgend – unter anderem von dem britischen Philosophen Jeremy Bentham (1748-1832) formuliert: „By the principle of utility is meant that principle which approves or disapproves of every action whatsoever, according to the tendency which it appears to have to augment or diminish the happiness of the party whose interest is in question: or, what is the same thing in other words, to promote or to oppose that happiness.“1
Das Nutzenprinzip besteht aus der Behauptung, daß alle Menschen in all ihrem Tun letztlich nur das eigene Glück im Auge haben, daß es der grundlegende normative wie empirische Bezugsrahmen des menschlichen Handelns sei und sie davon ganz „gefangen“ seien. Niemand könne sich ihm entziehen, nicht zuletzt weil es zur „Natur“ des Menschen gehöre: „Nature has placed mankind under the governance of two sovereign masters, pain and pleasure. It is for them alone to point out what we ought to do, as well as to determine what we shall do. On the one hand the standard of right and wrong, on the other the chain of causes and effects, are fastened to their throne. They govern us in all we do, in all we say, in all we think: every effort we can make to throw off our subjection, will serve but to demonstrate and confirm it. In words a man may pretend to abjure their empire: but in reality he will remain subject to it all the while. The principle of utility recognises this subjection ... .“ (Ebd., S. 11; Hervorhebungen so nicht im Original)
Tiefe philosophische und moralische Fragen lassen sich an diese Thesen knüpfen. Nicht zuletzt die Soziologie stellt diese Fragen besonders gern, eben weil sie u.a. aus der Kritik am sog. Utilitarismus hervorgegangen ist und darin sogar einen Teil ihrer Eigenständigkeit gesucht hat.
1
Jeremy Bentham, An Introduction to the Principles of Morals and Legislation, hrsg. von James H. Burns und Herbert L.A. Hart, London und New York 1982, S. 11f.; Hervorhebung nicht im Original.
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Situationslogik und Handeln
Die moderne Ökonomie macht um solche grundsätzlichen Fragen meist einen weiten Bogen. Sie faßt das Nutzenprinzip viel harmloser auf: als eine ganz nützliche, weil praktisch und prognostisch sehr erfolgreiche Grundannahme zur Erklärung des menschlichen Handelns und vieler Vorgänge in Wirtschaft und Gesellschaft. Die Nutzentheorie auf der Grundlage des Nutzenprinzips ist als theoretisches Instrument unter anderem auch deshalb so brauchbar, weil sie einige Grundannahmen macht, die es erlauben, komplexe Aggregationen – wie das Entstehen von Marktgleichgewichten – auf eine mathematisch relativ einfache Weise vorzunehmen, durch die sog. Marginalanalyse (vgl. dazu auch noch Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Und solange die Erklärungen kollektiver Vorgänge mit Hilfe des Instrumentes der Nutzentheorie gelingen, ist es den Ökonomen ganz gleichgültig, ob das Nutzenprinzip wirklich allgemein ist, und ob die Annahmen der Nutzentheorie als Handlungstheorie auch tatsächlich empirisch zutreffen oder nicht. Jedenfalls: Solange ihnen für ihre Zwecke keine bessere Alternative angeboten wird, werden sie von dem Nutzenprinzip und von der Nutzentheorie nicht abrücken - weil sie auch darin dem Nutzenprinzip folgen.
In diesem Kapitel wollen wir die wichtigsten Annahmen der Nutzentheorie und einige interessante, die Nutzentheorie auch sehr bedrängende, empirische Ergebnisse behandeln. Diese Ergebnisse belegen eine inzwischen kaum mehr bezweifelte Vermutung: Der menschliche Geist ist zwar durchaus zu vernünftigen Überlegungen in der Lage, unterliegt dabei aber einer Reihe von Begrenzungen, die die einfache Nutzentheorie meist übersieht. Diese Begrenzungen sind aber selbst nicht unbegrenzt, so daß auch die Gegenfrage gestellt werden kann: Trifft die Kritik die Nutzentheorie wirklich ins Mark? Und sind die Menschen wirklich unvernünftig, wie sie mit den – ohne Zweifel vorhandenen – Grenzen ihrer Vernunft umgehen?
8.1
Rationales Handeln
Die Nutzentheorie ist die „reinste“ Variante der Theorie des rationalen Handelns. Einer ihrer wichtigsten Vorteile ist, daß sie klare und konsistente Annahmen macht und sie in sog. Axiomen formuliert. Nur so konnte sie für die Ökonomie derart leistungsfähig werden, wie sie es auch derzeit immer noch ist. Welche andere Theorie des Handelns könnte das von sich sagen? Herbert A. Simon – auch einer der ganz Großen der Wirtschaftswissenschaften und natürlich ebenfalls Nobelpreisträger – war und ist einer der heftigsten Kritiker der herkömmlichen Nutzentheorie. Er hat sie aber selbst immer wieder benutzt und wohl auch wegen ihrer Vorzüge und Unentbehrlichkeit die folgenden Worte über sie gefunden: Sie sei „ ... ein großartiges Gebilde, das einen Platz in Platons Himmel der Ideen verdient hat.“2 Dieses Urteil ist ein zwiespältiges Lob. Wir werden gleich sehen, warum. 2
Herbert A. Simon, Homo rationalis. Die Vernunft im menschlichen Leben, Frankfurt/M. und New York 1993, S. 22.
Die Logik der subjektiven Vernuft
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Die grundlegenden Annahmen Die wichtigsten Annahmen der Nutzentheorie haben wir bei der Darstellung des Grundmodells der WE-Theorie bereits angesprochen und benutzt. Sie lassen sich folgendermaßen zusammenfassen:3 Erstens hat jeder Akteur eine klar definierte Menge von Alternativen vor sich, aus denen eine ausgewählt wird. Jeder Akteur verfügt zweitens über eine klar definierte, konsistente und vollständige Präferenzordnung für alle nur denkbaren Situationen, die durch sein Handeln eintreten könnten. Diese Präferenzordnung wird auch als Nutzenfunktion bezeichnet (siehe dazu auch unten). Drittens wird angenommen, daß jeder Akteur allen künftigen Ereignissen eine gemeinsame und konsistente Verteilung von Wahrscheinlichkeiten zuweisen kann. Es wird schließlich die Alternative gewählt, die den aus den Präferenzen und Wahrscheinlichkeiten gebildeten erwarteten Nutzen maximiert. Mit diesen vier grundlegenden Annahmen werden eine Reihe von Fähigkeiten und Eigenschaften menschlicher Akteure und sonstiger Sachverhalte unterstellt, die – wenigstens teilweise – nur schwer mit der wirklichen Welt der Menschen in Einklang zu bringen sind. Als da wären: Die Akteure haben einen umfassenden Überblick über alles, was für die Entscheidung wichtig ist, und zwar nicht nur für die aktuelle Gegenwart, sondern auch für jede sie betreffende Zukunft. Sie sind sich über alle denkbaren Folgen ihres Tuns im klaren, mindestens insoweit als sie allen denkbaren Folgen eine gemeinsame Wahrscheinlichkeitsverteilung zuweisen können. Alle widersprüchlichen Teilwerte von Zuständen sind in Einklang gebracht und zu einer einzigen übergreifenden Präferenzordnung, zu einer Nutzenfunktion für alles also, verschmolzen. 3
Die folgende Zusammenfassung der wichtigsten Annahmen der Nutzentheorie orientiert sich an den Ausführungen bei Simon 1993, S. 21ff. Vgl. zu den Axiomen der Nutzentheorie bzw. der WE-Theorie u.a. R. Duncan Luce und Howard Raiffa, Games and Decisions. Introduction and Critical Survey, New York und London 1957, S. 23ff.; Jack Hirshleifer und Amihai Glazer, Price Theory and Applications, 5. Aufl., Englewood Cliffs, N.J., 1992, Kapitel 3: Utility and Preference, S. 56ff. Vgl. zusammenfassend ferner: Martin Rutsch, Handeln in entscheidungstheoretischer Sicht, in: Hans Lenk (Hrsg.), Handlungstheorien – interdisziplinär, Band 1: Handlungslogik, formale und sprachwissenschaftliche Handlungstheorien, München 1980, S. 223-247; Gebhard Kirchgässner, Homo oeconomicus. Das ökonomische Modell individuellen Verhaltens und seine Anwendung in den Wirtschaftsund Sozialwissenschaften, Tübingen 1991, Kapitel 2: Das ökonomische Verhaltensmodell, S. 12-56; Franz Eisenführ und Martin Weber, Rationales Entscheiden, Berlin u.a. 1993, S. 202ff.; Paul J. Schoemaker, The Expected Utility Model: Its Variants, Purposes, Evidence and Limitations, in: The Journal of Economic Literature, 20, 1982, S. 531f.; Shaun Hargreaves Heap, Rationality, in: Shaun Hargreaves Heap, Martin Hollis, Bruce Lyons, Robert Sugden und Albert Weale, The Theory of Choice. A Critical Guide, Oxford und Cambridge, Mass., 1992, S. 6ff.
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Situationslogik und Handeln
Woher die Präferenzen kommen, steht übrigens nicht in der Nutzentheorie. Sie ist eine Erklärung des Handelns aus gewissen Randbedingungen, nicht aber auch eine Erklärung der Entstehung ihrer Randbedingungen. Die Präferenzen sind für sie „exogen“ vorgegeben und einfach da. Das wird der Nutzentheorie oft vorgehalten, besonders von den soziologischen Handlungstheorien, die alle – irgendwie – versuchen, auch die Entstehung ihrer eigenen Randbedingungen zu erklären. Genaugenommen ist aber der Verzicht auf die Erklärung ihrer eigenen Randbedingungen kein Mangel: Wie Situationen, Erwartungen und Bewertungen entstehen, muß ja ohnehin noch anders erklärt werden als das eigentliche Handeln. Dazu bedarf es einer vollständigen soziologischen Erklärung – einschließlich der Logik der Aggregation. Und die kann man ja unabhängig davon versuchen, ob man die Nutzentheorie verwenden will oder nicht. Insofern sind die Einwände gegenstandslos.
Eine Reihe von weiteren Einzelheiten knüpfen sich an die geschilderten Annahmen. Über jede könnte man ganze Bücher schreiben. Wir wollen nur drei davon aufgreifen: Die Annahme der vollständigen Präferenzordnung, die Annahme der Unabhängigkeit und das sog. Marginalprinzip. Die Ordnung der Präferenzen Unter einer Präferenzordnung wird eine Ordnung von Vorlieben verstanden, die ein Akteur für bestimmte Objekte oder Zustände hat. Sie sind die Grundlage für die Bewertung der Alternativen. Dabei sind zwei formale Eigenschaften für eine solche Präferenzordnung entscheidend: die Vergleichbarkeit und die Transitivität der Präferenzen. Beide Eigenschaften sind in zwei Axiomen formuliert: 1. Das Axiom der Vergleichbarkeit Für jedes Individuum, das zwei Objekte A und B miteinander vergleicht, muß eines der folgenden drei Ergebnisse zutreffen: A wird B vorgezogen; B wird A vorgezogen; das Individuum ist gegenüber A und B indifferent. 2. Das Axiom der Transitivität Für die Wahlen eines jeden Individuums in Bezug auf drei Objekte A, B und C gilt: Wenn A dem Objekt B vorgezogen wird, und wenn B dem Objekt C vorgezogen wird, dann wird auch A dem Objekt C vorgezogen. Diese Regel gelte auch für die Indifferenz.
Die Objekte, die sich nach diesen beiden Axiomen ordnen lassen, bilden eine sog. Präferenzfunktion (oder Nutzenfunktion). Diese Funktion kann positiv oder negativ sein, je nachdem, ob größere Mengen eines Objektes kleineren Mengen vorgezogen werden oder nicht. Objekte, bei denen größere Mengen kleineren Mengen vorgezogen werden, heißen Güter. Dazu zählen auch die Güter des Konsums, jedoch auch alle anderen Dinge, die als problemlösend und deshalb als nützlich angesehen werden. Objekte, von denen geringere
Die Logik der subjektiven Vernuft
299
Mengen größeren Mengen vorgezogen werden, heißen Übel. Und das sind vor allem die Kosten, die für den Erwerb eines Gutes aufzubringen sind. Erst mit einer solchen Präferenzfunktion lassen sich die Alternativen des Handelns gewichten. Alles kommt also darauf an, ob die wirklichen Menschen tatsächlich eine solche eindeutige und widerspruchsfreie Präferenzordnung der Objekte und Zielzustände dieser Welt haben oder nicht. Unabhängigkeit Das Axiom der Unabhängigkeit klingt sehr umständlich. Es lautet: Gibt es eine Präferenzordnung derart, daß A dem Objekt B vorgezogen wird, dann muß für jedes Objekt C und für die Erwartungen p für A bzw. B und (1-p) für C auch gelten, daß p*A+(1-p)C größer ist als p*B+(1-p)C. Das Axiom der Unabhängigkeit besagt, etwas einfacher ausgedrückt, daß sich die Präferenz zwischen zwei Objekten nicht ändern darf, wenn sie beide mit einem dritten in Verbindung gebracht werden. Oder noch allgemeiner gesagt: Die Präferenzordnung und alle anderen entscheidungsrelevanten Variablen dürfen sich nicht ändern, wenn sich der Kontext der Objekte und Alternativen ändert. Und – so sei hinzugefügt – es darf sich insbesondere nichts an den Entscheidungen ändern, wenn nutzentheoretisch ganz und gar irrelevante Dinge sich ändern – wie etwa die sprachliche Präsentation der Entscheidungsaufgabe (wie im Experiment von Tversky und Kahneman aus Abschnitt 7.2; vgl. dazu auch noch die Abschnitte 8.2 und 8.3). Das Marginalprinzip Die Nutzentheorie beruht, wie das Nutzenprinzip besagt, auf dem Grundsatz der Maximierung des Nutzens. Damit ist nicht einfach gemeint: Nimm, was Du kriegen kannst! Die Regel ist raffinierter und klüger – und aufwendiger – als es scheint: Suche bei den Dir möglichen Alternativen genau diejenige aus, bei der der Zuwachs des Ertrages genau dem Zuwachs an Kosten entspricht, die Du für die Durchführung der betreffenden Handlung aufbringen mußt. Das Marginalprinzip kann man sich an einer einfachen Überlegung klar machen. Angenommen, es sei für eine Wanderung ein Rucksack zu packen. Dies hat einen angenehmen und einen weniger erfreulichen Hintergrund. Einerseits werden für die Wanderung einige wichtige und nützliche Dinge benötigt: Proviant, Pullover oder ein Kofferradio zum Beispiel. Andererseits drückt jedes Gepäckstück, auch das nützlichste, mit seinem Gewicht. Es gibt also zwei Faktoren, die das Wohlbefinden des Wanderers beeinflussen: die Teile, die für die Wanderung benötigt werden und bei der Wanderung einen gewissen Nutzen stiften würden einerseits; und
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Situationslogik und Handeln
das Gewicht, das unweigerlich zunimmt, wenn der Rucksack mit auch noch so nützlichen Dingen gepackt wird, andererseits. Und die Frage ist dann: Welches wäre die optimale Kombination von mitgenommenen nützlichen Teilen und dadurch erkauftem Gewicht? Oder, was das Gleiche ist: Wann schlägt die als nützlich erlebte Gewichtsersparnis in einen als unangenehm empfundenem Verzicht auf nützliche Dinge um?
Es geht also um die Optimierung von zwei nutzenstiftenden Faktoren: der Nutzen, den die eingepackten Gepäckstücke erbringen, und der Nutzen, der sich aus der Gewichtsersparnis der nicht mitgenommenen Gepäckteile ergibt. Zuerst werden klugerweise die wichtigsten Teile eingepackt. Bei denen ist der Nutzenzuwachs pro Teil sehr hoch – jedenfalls deutlich höher als die empfundenen Kostenzuwächse pro Teil über das Gewicht. Nun werden immer mehr und unwichtigere Teile zugepackt, wodurch natürlich das Gewicht des Rucksackes weiter ansteigt. Aber: Die Nutzenzuwächse sinken immer mehr, weil es jetzt ja die unwichtigeren Dinge sind, die aber weiterhin Gewicht mit sich bringen. Das Optimum wäre nun offenkundig genau an der Stelle erreicht, an der der Nutzenzuwachs des letzten eingepackten Teils gerade so hoch ist wie der Kostenzuwachs durch das dadurch zugenommene Gewicht. Vor diesem Punkt wäre die Bilanz für ein weiteres Zupacken immer noch positiv: Der Nutzenzuwachs durch das Teil ist höher als der Nutzenverlust durch das zusätzliche Gewicht. Bei Überschreiten des Punktes würde die Bilanz wieder schlechter: Die Nutzeneinbuße durch die zusätzliche Gewichtslast ist dann größer als der Nutzenzuwachs durch das zugepackte Teil.
Genau an diesem Optimalpunkt der Gleichheit von Nutzen- und Kostenzuwachs würde ein vernünftiger, nutzenmaximierender, dem Marginalprinzip folgender Wanderer aufhören, seinen Rucksack weiter vollzustopfen. Er würde nicht mehr – aber auch nicht weniger! – an Gepäck mitnehmen. Die Nutzen- und Kostenzuwächse werden auch als Grenz- oder Marginalnutzen und kosten bezeichnet. Von daher hat das Marginalprinzip seinen Namen. Das Marginalprinzip beschreibt ein Verhalten, das die Grundphilosophie des ökonomischen Denkens wie kaum eine andere Idee wiedergibt: Die Optimierung des Handelns im dem Sinne, daß den Bedürfnissen des Organismus wie den Bedingungen in der Umgebung gleichermaßen Rechnung getragen wird. Mit ihm wird sichergestellt, daß die Organismen zwar danach streben, ihre Reproduktion zu sichern, sich dabei aber nicht über Gebühr verausgaben. Ein „Nutzen“, der mehr kostet als er nutzt, nutzt natürlich nicht mehr, sondern er schadet. Und darum ist es besser, auf ihn zu verzichten. Aber diese Frage stellt sich dann auch sofort: Ist das Finden dieses famosen Optimalpunktes der Gleichheit der Marginalerträge und Marginaleinbußen nicht so aufwendig, daß es vielleicht nützlicher sein könnte, auf seine genaue Bestimmung zu verzichten und mit einer groben Schätzung vorliebzunehmen?
Die Logik der subjektiven Vernuft
8.2
301
Anomalien und Paradoxien
Die Nutzentheorie und die WE-Theorie dienen nicht nur als theoretische Instrumente, sondern oft sogar als normative Richtschnur: So sollte sich jemand verhalten, wenn er an der Maximierung seines Nutzens interessiert ist. Das ist vor allem für Unternehmer wichtig, die genau kalkulieren müssen, um auf einem umkämpften Markte zu bestehen. Wie aber sieht es mit der Nutzentheorie als empirische Theorie des Handelns aus? Zahllose Abweichungen von den Axiomen und Annahmen der Nutzentheorie im wirklichen Verhalten der Menschen wurden inzwischen festgestellt.4 Einige wichtige davon wollen wir im folgenden Abschnitt darstellen. Besitztumseffekte Nach der einfachen WE-Theorie sollte es für den Preis eines Gutes gleichgültig sein, ob man es gegen einen bestimmten Betrag verkauft und aus seinem Besitz abgibt oder aber kauft und in Besitz nimmt. In zahlreichen Experimenten ist aber immer wieder festgestellt worden, daß die Leute für die Abgabe eines Gutes aus ihrem Besitz deutlich mehr verlangen als sie für den Kauf ausgeben würden.5 Eines der typischen Experimente hatte den folgenden Wortlaut dazu (Thaler 1980, S. 43f.): „Two survey questions: (a) Assume you have been exposed to a disease which if contracted leads to a quick and painless death within a week. The probability you have the disease is 0.001. What is the maximum you would be willing to pay for a cure? (b) Suppose volunteers were needed for research on the above disease. All that would be required is that you expose yourself to a 0.001 chance of contracting the disease. What is the minimum payment you would require to volunteer for this program?“
Das übliche Ergebnis: Die weitaus meisten Personen verlangten für die Verschlechterung ihrer Gesundheit deutlich mehr als für eine Verbesserung um 4
Vgl. dazu u.a. Schoemaker 1982, S. 541ff.; Eisenführ und Weber 1993, S. 321ff.; Heap 1992, S. 14ff.; Anton Kühberger, Risiko und Unsicherheit: Zum Nutzen des Subjective Expected Utility-Models, in: Psychologische Rundschau, 45, 1994, S. 3-23; Bruno S. Frey, Economics as a Science of Human Behaviour. Towards a New Social Science Paradigm, Boston, Dordrecht und London 1992, Kapitel 9 und 11; Barry Schwartz und Daniel Reisberg, Learning and Memory, New York und London 1991, Kapitel 14: Memory and Decision-Making in Everyday Life, S. 537-577.
5
Vgl. als Übersichten: Richard Thaler, Toward a Positive Theory of Consumer Choice, in: Journal of Economic Behavior and Organization, 1, 1980, S. 39-60; Daniel Kahneman, Jack L. Knetsch und Richard H. Thaler, Experimental Tests of the Endowment Effect and the Coase Theorem, in: The Journal of Political Economy, 98, 1990, S. 1325-1348.
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den gleichen objektiven Betrag. Typische Preise waren 200$ für die Antwort (a) und 10000$ für die Antwort (b). Derartige Verletzungen des Unabhängigkeitsaxioms werden als Besitztumseffekt bezeichnet. Er ist ein Spezialfall einer offenbar ganz allgemeinen Tendenz im menschlichen Verhalten: Was unmittelbar gegeben ist, zählt mehr als alles das, was ferner ist oder was noch kommt. Das Allais-Paradox Von dem französischen Entscheidungstheoretiker Maurice Allais stammt ein inzwischen berühmt gewordenes Paradox.6 Eine für das Allais-Paradox typische Aufgabe lautet so: Den Entscheidern werden zwei Alternativenpaare (a und b sowie a’ und b’) vorgelegt. Dabei sehen sie sich den folgenden Entscheidungsgrößen gegenüber:
Alternativenpaar 1 EU(a) = 1*3000 = 3000 EU(b) = 0.8*4000 + 0.2*0 = 3200
Alternativenpaar 2 EU(a’) = 0.25*3000 + 0.75*0 = 750 EU(b’) = 0.2*4000 + 0.8*0 = 800
Wie üblich beschreibt die in den Produkten der EU-Gewichte zuerst genannte Ziffer die Wahrscheinlichkeit p und die andere Ziffer den Wert U der Auszahlung (etwa in DM) für den Fall, daß die jeweilige Alternative gewählt würde.
Die meisten Versuchspersonen bevorzugen, vor die erste Wahl zwischen a und b gestellt, die Alternative a vor b. Steht das zweite Alternativenpaar a’ gegen b’ an, präferieren sie dagegen eher b’ vor a’. Das aber ist eine Verletzung der Axiome der WE-Theorie. Denn das EU-Gewicht ist für die Alternativen b und b’ beide Male höher als das für die Alternativen a und a’. Offenbar bevorzugen also die meisten Menschen die sicheren 3000 DM der Alternative a gegenüber dem riskanten Erwartungswert von 3200 DM der Alternative b. Wenn beide Alternativen dagegen riskant sind, dann folgen die Versuchspersonen den Annahmen der WE-Theorie. 6
Maurice Allais, Le comportement de l‘homme rationnel devant le risque: Critique des postulats et axiomes de l‘ecole americaine, in: Econometrica, 21, 1953, S. 503-546; Maurice Allais, The Foundations of a Positive Theory of Choice Involving Risk and a Criticism of the Postulates and Axioms of the American School, in: Maurice Allais und Ole Hagen (Hrsg.), Expected Utility Hypotheses and the Allais Paradox, Dordrecht, Boston und London 1979, S. 27-145.
Die Logik der subjektiven Vernuft
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Diese Präferenzumkehr widerspricht also dem Axiom der Vergleichbarkeit. Das Ergebnis kann aber auch als eine Verletzung des Unabhängigkeitsaxioms gewertet werden. Danach dürfte – siehe oben in Abschnitt 8.1 – eine Verknüpfung der Alternativen a und b mit einer jeweils gleichen Alternative c an der Entscheidung ja nichts ändern. Die Alternativen a’ und b’ gehen aber aus a und b über eine solche Verknüpfung hervor: Die betreffende dritte Alternative c habe den Wert EU(c)=1*0=0. Dann gilt für die Verknüpfung nach der allgemeinen Regel p*A+(1-p)C bzw. p*B+(1-p)C. Angewandt auf den speziellen Fall also: EU(a’)=0.25*EU(a)+0.75*EU(c) und EU(b’)= 0.25EU(b)+0.75*EU(c). Ausgerechnet und in Zahlen ergibt das: EU(a’)=0.25*3000+0.75*0=750; und EU(b’)=0.25*3200+0.75*0=800. Nach dem Unabhängigkeitsaxiom hätten sich die Entscheider beide Male für die zweite Alternative – b bzw. b’ – entscheiden müssen.
Maurice Allais nahm seine Untersuchungen zum Anlaß, die „amerikanische Schule“ der WE-Theorie um von Neumann und Morgenstern und Savage anzugreifen (vgl. dazu bereits Kapitel 7). Der Angriff ist durchaus gelungen. Die WE-Theorie hat aber – bis heute – nicht kapituliert. Sie werden in Abschnitt 8.3 sehen warum. Das Ellsberg-Paradox Die Axiome der Nutzentheorie setzen voraus, daß sich die Menschen ihrer Sache sicher sind: Sie kennen ihre Präferenzen und wissen um die Risiken ihres Tuns. Wenigstens implizit wird dabei auch angenommen, daß sich die Akteure nicht offen vorliegende, aber aus der Situation erschließbare Informationen selbst vergegenwärtigen und nach den Regeln der WE-Theorie ergänzen. Das Ellsberg-Paradox – so benannt nach seinem Erfinder Daniel Ellsberg7 – ist ein Hinweis darauf, daß die Menschen mit dieser Aufgabe des Erschließens fehlender Informationen nur schwer zurechtkommen. Eine der Aufgabenstellungen des Ellsberg-Paradoxon sieht so aus (vgl. Eisenführ und Weber 1990, S. 324f.): In einer Urne befinden sich 30 rote Bälle und zusammen 60 schwarze und gelbe Bälle. Das Zahlenverhältnis zwischen den schwarzen und den gelben Bällen ist unbekannt. Jede Kombination der insgesamt 60 schwarzen und gelben Bälle ist also möglich. Wieder liegen zwei Alternativenpaare a und b sowie a’ und b’ vor. Die Gewinnbeträge sind in allen vier Fällen gleich. Gewonnen wird, wenn jeweils die folgenden Ereignisse eintreten: a: Es wird gewonnen, falls ein roter Ball gezogen wird. b: Es wird gewonnen, falls ein schwarzer Ball gezogen wird.
Und: a’: Es wird gewonnen, falls ein roter oder ein gelber Ball gezogen wird. 7
Daniel Ellsberg, Risk, Ambiguity, and the Savage Axioms, in: The Quarterly Journal of Economics, 75, 1961, S. 653ff.
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Situationslogik und Handeln
b’: Es wird gewonnen, falls ein schwarzer oder ein gelber Ball gezogen wird.
Die meisten Versuchspersonen bevorzugen a gegen b und b’ gegen a’. Nach den Regeln der Logik der WE-Theorie dürften sie aber ihre Präferenzen nicht ändern. Denn: Die zweite Aufgabe unterscheidet sich von der ersten ja nur darin, daß nun ein gelber Ball hinzukommen kann, damit gewonnen wird. Das verbessert die Gewinnwahrscheinlichkeit um den – unbekannten – Betrag der Wahrscheinlichkeit, daß in der Urne gelbe Bälle sind. Aber diese Verbesserung betrifft beide Alternativen a’ und b’ gleichermaßen. Und gemäß dem Unabhängigkeitsaxiom dürfte das auf die Präferenzordnung für die Alternativen keine Auswirkung haben. Eine andere Aufgabe lautet so: In einer Urne 1 befinden sich zusammen 100 rote und schwarze Bälle mit einer unbekannten Verteilung. In der Urne 2 sind dagegen genau 50 rote und 50 schwarze Bälle. Gewonnen werden können 100 DM, wenn man auf rot (oder schwarz) setzt und wirklich rot (oder schwarz) zieht. Und wieder die Frage: Welche Urne wird vorgezogen?
Wenn die erste Urne zur Wahl steht, sind die Versuchspersonen zwischen rot und schwarz indifferent. Für sie ist, mangels jedes Hinweises, die Schätzung der Verteilung eine vollkommen unsichere Angelegenheit: Jeder Wert von p für rot oder schwarz wäre möglich. Bei der zweiten Urne wissen die Versuchspersonen dagegen sicher, wie die Verteilung ist: p(R2)=p(B2)=0.50. Werden die Versuchspersonen gebeten, ihr Los aus der ersten oder aus der zweiten Urne zu ziehen, dann bevorzugen die meisten die zweite Urne. Warum das? Bei dem ersten Experiment mit den roten, schwarzen und gelben Bällen versagen die Menschen wohl vor der größeren Komplexität der Aufgabe in der Variante a’ gegen b’. Der Zusatz mit den gelben Bällen verwirrt sie wohl etwas, sie erkennen die logische Äquivalenz der beiden Aufgaben nicht – und bevorzugen im Zweifel die Lotterie, die ihnen am einfachsten, am transparentesten und deshalb am sichersten vorkommt. Das Unabhängigkeitsaxiom wird dabei wohl nicht wegen des „Kontextes“ an sich verletzt, sondern schlicht, weil die Aufgaben unterschiedlich schwierig zu sein scheinen. Auf das Axiom der Unabhängigkeit kommen die Versuchspersonen wahrscheinlich gar nicht. Die Bevorzugung der zweiten Urne im zweiten Experiment hat ganz offensichtlich seinen Grund in der unterschiedlichen Unsicherheit zwischen beiden Situationen (vgl. dazu Einhorn und Hogarth 1986, S. 43ff.): Die Versuchspersonen müssen sich bei der ersten Urne deutlich unsicherer sein als bei der zweiten, weil dafür die Verteilung ganz unbekannt ist. Sie kennen im einen Fall die Verteilung genau, wenngleich ihre Entscheidung – für oder gegen schwarz – immer noch riskant bleibt. Im anderen Fall tappen sie in ihrer Schätzung des Risikos der Lotterie vollkommen im Dunkeln.
Das Ellsberg-Paradox verweist auf den wichtigen Unterschied zwischen Risiko, Unsicherheit und Ambiguität, den wir in Abschnitt 7.1 im Zusammenhang mit den Erwartungen kennengelernt haben. Die einfache Nutzentheorie kennt nur die Sicherheit, auch die des Risikos: fixe Erwartungen von eins oder null
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oder eines bestimmten Risikos. Unsicherheit kennt sie eigentlich nicht. Und damit auch nicht die im Alltag so verbreitete Situation, daß man zwar seine Vermutungen hat, aber nicht genau weiß, wie sicher die Vermutungen sind. Kurz: Es gibt – sozusagen – unterschiedliche Grade von, wie es heißt, uncertainty about uncertainties. In Abschnitt 7.3 des letzten Kapitels hatten wir dafür schon ein Konzept vorgestellt. Framing In Kapitel 7 hatten wir in Abschnitt 7.2 bei den Beispielen für die Anwendung der WE-Theorie auch von einem Experiment der beiden Psychologen Amos Tversky und Daniel Kahneman berichtet.8 Zur Erinnerung: Es ging um die Entscheidung zwischen vier alternativen Programmen zur Bekämpfung einer Grippeepidemie, wobei die objektiven Auszahlungen der vier Programme nach den Regeln der WE-Theorie vollkommen gleich waren. Aber: Die Präsentation der Programme an die Versuchspersonen unterschied sich deutlich. Nach dem Unabhängigkeitsaxiom dürfte aber auch das keinerlei Rolle spielen. Auch hier zur Erinnerung: Die Programme unterschieden sich auf zwei Dimensionen. Erstens wurden die zu erwartenden Ergebnisse sprachlich unterschiedlich bezeichnet: In der Version 1 (für die Programme A und B) ist immer von „retten“ die Rede, in der Version 2 (für die Programme C und D) dagegen stets von „sterben“, obwohl es sachlich immer um die gleiche zu erwartende Anzahl von Überlebenden geht. Es ist also der sprachliche und symbolische Rahmen, der hier variiert wurde: Einmal wurden Gewinne suggeriert, das andere Mal dagegen Verluste. Innerhalb der Versionen des jeweils gleichen sprachlichen Rahmens unterschieden sich die Programme dann zweitens nach dem Aspekt der Risiken beim Einsatz der Programme: Die Programme A und C geben jeweils sichere Erwartungen (mit eins und null), die Programme B und D (mit 1/3 und 2/3) dagegen riskante Erwartungen an. In Tabelle 8.1 haben wir die Systematik dieser Anordnung zusammengefaßt. Die objektiven Nutzenerwartungen sind auch noch einmal aufgeführt.
8
Amos Tversky und Daniel Kahneman, The Framing of Decisions and the Psychology of Choice, in: Science, 211, 1981, S. 453-458.
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Situationslogik und Handeln
Tabelle 8.1: Anordnung, Nutzenerwartungen und empirische Ergebnisse des Experimentes von Tversky und Kahneman Programm
Rahmen
Risiko
Nutzen – Erwartung
empirische Entscheidung
n
A B
Gewinn Gewinn
sicher riskant
200 200
72% 28%
152
C D
Verlust Verlust
sicher riskant
200 200
22% 78%
155
Nach den Regeln der WE-Theorie und der Indifferenz in den Nutzenerwartungen wäre davon auszugehen gewesen, daß sich jeweils etwa die Hälfte der Studenten innerhalb der beiden Vorgaben zufällig für das eine oder das andere Programm entschiede. Die Ergebnisse der empirischen Untersuchung stehen in der rechten Spalte. Sie unterscheiden sich systematisch und sehr deutlich: In der Gewinn-Variante („retten“) bevorzugten die Studenten mehrheitlich die sichere Option. Und in der Verlust-Variante („sterben“) wurden sie mehrheitlich wagemutig und risikofreudig. Das empirische Ergebnis deutet auf einen massiven symbolischen Effekt bei der Entscheidung zwischen objektiv ganz gleichen Alternativen hin – offenbar alleine ausgelöst durch die sprachliche Art der Präsentation. Die Sprache aktiviert also offenbar einen Rahmen, einen frame, der ein gänzlich unterschiedliches Entscheidungsverhalten nahelegt. Von „rational choice“ also, wie es scheint, keine Spur. Viele Soziologen sind gerade auf diese Ergebnisse hin in großen Jubel ausgebrochen: Das wußten wir doch immer schon – spätestens seit Talcott Parsons und seiner Voluntaristic Theory of Action mit dem Erfordernis einer normativen und symbolischen Orientierung! Es kommt, so heißt es, eben doch auf den kulturellen Bezugsrahmen an, was jeweils „rational“ ist! Kaum ein Resultat hat die Diskussion um die rationale Erklärung des Handelns so beeinflußt wie das Experiment von Tversky und Kahneman. Bevor Sie in den Jubelchor miteinstimmen, sollten Sie die Fortsetzung der Story über das Experiment mit der Grippeepidemie in Abschnitt 8.3 noch abwarten.
Die Logik der subjektiven Vernuft
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Akrasia und Myopia Der Weg zur Hölle ist bekanntlich mit guten Vorsätzen gepflastert: Heute abend rauche ich meine letzte Zigarette, trinke den letzten Whisky und fange morgen früh endlich mit dem Buch an, das ich schon immer schreiben wollte. Der Morgen dämmert, und der Kopf ist schwer. Erst einmal eine Zigarette – zur Entspannung und Konzentration. Und einen Underberg gegen den flauen Magen. Und morgen fangen wir dann richtig an. Wirklich. Wer würde solche Situationen nicht kennen? Menschen haben ihre Ziele und wissen auch oft sehr genau, wie man sie erreichen kann. Auch ist der Geist meist durchaus willig und auch gut informiert, aber das Fleisch oft genug ganz schwach. Dies hat einen einfachen Grund: Naheliegende Zustände haben bei Menschen – wie bei anderen Lebewesen – meist ein höheres Gewicht auf die Bewertungen und Erwartungen als fernere. Und die einzelne Zigarette hat ja auch objektiv nur einen verschwindend geringen Einfluß auf die Gesundheit. Also warum nicht dieses eine Mal noch? Die Welt wird schon nicht untergehen! Aber das schlechte Gewissen nagt doch. Zwei Seelen wohnen offenbar in der Brust des Selbst: Die eine, die darauf achtet, daß die aktuelle Bedürfnisbefriedigung nicht zu kurz kommt. Und die andere, die weiß, daß man manchmal auf kurzfristige Lusterfüllung verzichten muß, um langfristige und insgesamt wesentlich wertvollere Ziele zu erreichen. Die Kurzsichtigkeit – die Myopia – des Menschen bei der Verfolgung von wichtigen langfristigen Zielen ist das eine Problem, das der Vernünftigkeit seines Tuns im Wege steht. Seine Willensschwäche – die Akrasia –, etwas gegen die kurzfristigen und lokalen Versuchungen zugunsten langfristiger und globaler Ziele zu tun, das andere.9 Die beiden Selbste machen schon den individuellen Akteuren sehr zu schaffen. Aber auch mancherlei grundlegende Probleme der sozialen Ordnung haben mit einem ganz ähnlichen Problem zu tun: Warum soll ich meinem Nachbarn helfen, wo ich jetzt überhaupt keine Zeit habe und außerdem nicht weiß, wie lange der Nachbar noch in der Gegend wohnen bleibt, um mir unter Umständen auch einmal beizustehen? Und so, wie eine bindende Verfassung die wichtigste Lösung dieses Problems ist, so kann auch eine verläßliche Bindung des Selbst bei Myopia und Akrasia helfen: Odysseus ließ sich von seinen Gefährten an den Mast seines Schiffes binden und schärfte ihnen ein, ihn nur noch fester zu binden, wenn er verlangte, ihn loszumachen – weil er wußte, daß er den Lockrufen der Sirenen nicht widerstehen könnte, wenn er sie hört. 9
Vgl. dazu insbesondere: Jon Elster, Ulysses and the Sirens. Studies in Rationality and Irrationality, Cambridge u.a. 1979; Jon Elster, Subversion der Rationalität, Frankfurt/M. und New York 1987, Kapitel I und II.
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Situationslogik und Handeln
Aber gerade weil er über sich so genau Bescheid wußte, war er in der Lage, sich eine Technik auszudenken und „rational“ umzusetzen, um sein schwaches Selbst zu einem ihm zuträglichen Handeln zu zwingen. Grenzen des Wollens Myopia und Akrasia sind sehr ernstzunehmende Grenzen des „rationalen“ Willens der Menschen. Aber ein jeder könnte sich – im Prinzip, faktisch leider sehr viel weniger, wie wir alle wissen – gleichwohl immer noch entschließen, einer Versuchung wirklich nicht nachzugeben. Fälle der Willensschwäche, wie die von Odysseus, sind – gottlob – auch wiederum so häufig nicht, wenn wir einmal von sex and drugs and rock’n roll absehen wollen. Das ist anders bei einer Klasse von Zielen, die alle das Problem haben, daß man sie schon nicht wollen kann: In dem Moment, in dem man sich entschließt, sie anzustreben, ist ihre Verwirklichung schon blockiert. Man kann – zum Beispiel – nicht einfach beschließen, jetzt einzuschlafen, bestimmte Dinge zu vergessen oder nicht darüber nachzudenken, naiv, unschuldig, demütig oder tapfer zu sein, zu lieben oder etwas zu glauben. Insbesondere ist es nicht möglich, einfach zu beschließen, bewundert, anerkannt und verehrt zu werden (vgl. dazu bereits den Exkurs über die Ehre im Anschluß an Kapitel 3). Auch Affekte und Gefühle – wie Neid, Haß, Stolz, Sympathie, Trauer – kann man nicht beschließen: Man hat sie oder man hat sie nicht. Man wird von ihnen „überfallen“. „Rational“ anstreben oder auch loswerden kann man sie, wie es aussieht, jedenfalls nicht. Kurz: Es gibt Dinge, die nicht gewollt werden können.10 Aber auch hier gibt es Abhilfen. Sie ähneln alle der Technik des Odysseus, der ja auch wußte, daß er im Moment der Versuchung durch den Gesang der Sirenen nicht mehr wollen konnte, was er wollte. Aber Odysseus wollte das Problem lösen – und er wußte auch, wie das geht. So auch hier. Einschlafen kann man zwar nicht beschließen. Aber wenn zwei Stunden Joggen die nötigen Endorphine wirklich erzeugt, um – nach einem heißen Bad, einer halben Flasche guten italienischen Rotweins und gewissen weiteren Entspannungsübungen – für die nötige Bettschwere zu sorgen, dann kann diese Technik gewollt und „rational“ eingesetzt werden. Denn: Das Joggen kann gewollt werden. Und auch die Flasche Rotwein entschwindet nicht, wenn ich nach ihr greife. Ähnliche Techniken der Umwegsproduktion lassen sich für alle anderen Beispiele der Unmöglichkeit, bestimmte Dinge zu wollen, ausdenken und 10
Vgl. Jon Elster, Zustände, die wesentlich Nebenprodukt sind, in: Elster 1987a, S. 143ff.
Die Logik der subjektiven Vernuft
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vielleicht sogar finden und gesellschaftlich institutionalisieren. Nicht immer freilich gibt es die nötige Technik schon – wie beim Vergessen oder bei der Ausschaltung der Furcht vor dem Tode. Und nicht immer ist sie zuverlässig – wie bei der Erzeugung von Ehre durch gut gemeinte Taten. Aber die Menschen sind erfinderisch. Die Psychoanalyse, die Pfarrer und die Rotaryclubs haben sie schließlich auch erfunden. Es sind alles Versuche, Dinge willentlich und rational zu verwirklichen, die man eigentlich nicht wollen kann, weder rational, noch irrational. Satisficing Das Maximieren des Nutzens nach dem Marginalprinzip ist ohne Zweifel eine für Menschen recht komplizierte und anstrengende Angelegenheit. Herbert A. Simon hat schon vor langer Zeit an dieser Überschätzung der Fähigkeiten der Menschen Anstoß genommen.11 In seinem mittlerweile schon klassischen Aufsatz zur Kritik an der Theorie der rationalen Wahl sagt er dazu: „My first empirical proposition is that there is a complete lack of evidence that, in actual human choice situations of any complexity, these computations can be, or are in fact, performed.“ (Simon 1957, S. 246)
Herbert A. Simon nennt das Konzept der Rationalität, das diese Begrenzungen berücksichtigt, auch bounded rationality (vgl. dazu noch die Abschnitte 8.3 und 8.4). Der wichtigste Unterschied zur Hyperrationalität des ökonomischen Handlungsmodells ist dieser: An die Stelle des maximizing nach dem Marginalprinzip müßte wegen der Beschränkungen in den Fähigkeiten zur „Berechnung“ das der Funktionsweise des Menschen eher entsprechende Selektionsprinzip des satisficing treten. Das heißt: Menschen betrachten nur sehr wenige Alternativen, meist sogar nur zwei. Sofern eine davon als „acceptable“ oder „satisfactory“ angesehen wird, wird sie genommen – egal, ob es objektiv noch bessere Möglichkeiten gibt. Herbert A. Simon nennt als Beispiel einen Hausverkäufer, der einen Preis von (damals) 15.000 $ als akzeptabel ansieht. Er nimmt jedes Angebot an, das diesen Preis überschreitet. Gibt es dieses Angebot, dann wird nicht weiter ausgelotet, welchen maximalen Preis der Markt tatsächlich hergeben würde. Er ist zufrieden, wenn – sagen wir – 15.100 $ erzielt werden, obwohl in „Wirklichkeit“ das Haus 23.000 $ gebracht hätte.
11
Vgl. Herbert A. Simon, A Behavioral Model of Rational Choice, in: Herbert A. Simon, Models of Man, New York und London 1957, S. 241-261; zuerst in: The Quarterly Journal of Economics, 69, 1955, S. 99-118.
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Situationslogik und Handeln
Anders gesagt: Es gibt keinen singulären Maximalpunkt eines Nutzengipfels, der erreicht werden soll, sondern nur eine – mehr oder weniger weit vom Gipfel entfernte – Region eines bestimmten Anspruchsniveaus, das, wenn es erreicht ist, den Akteur zufrieden stellt – auch wenn es darüber hinaus noch weitaus bessere Möglichkeiten geben sollte. Die Anzahl der Alternativen, die akzeptiert werden, ist also plötzlich größer als im Falle der Maximierung, die nur die Eine und Beste kennt. Und das spart natürlich die anstrengende Suche nach dieser Einen und Besten. X-Efficiency Der amerikanische Ökonom Harvey Leibenstein hat einen ähnlichen Gedanken für einen anderen Zusammenhang entwickelt. Sein Ausgangspunkt ist die von ihm so genannte X-Efficiency: Die empirisch überwältigende Evidenz für die Tendenz von Organisationen und Betrieben, deutlich oberhalb des minimalen Kostenniveaus zu produzieren, obwohl dies nach dem Marginalprinzip der ökonomischen Theorie nicht sein dürfte. Das Argument: Jede, für die Kostenminimierung eigentlich erforderliche, „tight calculation“ des Produktionsoptimums ist sehr anstrengend. Daher gehen die Akteure im „degree of calculatedness“ gerade bis zu dem Punkt, bei dem der empfundene „pressure“ aus der Abweichung von der effizientesten Produktion nicht größer ist als die Mühe der „tightness“ jeder weiteren Kalkulation einer effizienteren Lösung. Dadurch entstehen in Organisationen und Betrieben sog. „inert areas“: Bereiche der Trägheit und des habituellen Handelns, von denen nur ausnahmsweise abgewichen wird.
Und die Folge: „Unless the gains are sufficiently large most individuals will not choose to move to new patterns. They choose to stay with an existing pattern and appear insensitive to relatively small variations in opportunities.“12
Satisficing und X-Efficiency erinnern sehr an die oben berichteten Besitztumseffekte und an die Bevorzugung von sicher erscheinenden Alternativen bei Allais und Ellsberg. Sowohl bei Herbert A. Simon wie bei Harvey Leibenstein finden wir aber noch einen anderen Hinweis: Es ist einfach – in Relation zum zu erwartenden Ertrag – zu teuer, etwa eine Marktanalyse für das zu verkaufende Haus anfertigen zu lassen, um dann den besten Preis zu erzielen. Auch die Manager und Meister, die für die soziale Kontrolle im Betrieb und für die Bekämpfung der Laxheit sorgen sollen, 12
Harvey Leibenstein, Beyond Economic Man. A New Foundation for Microeconomics, Cambridge, Mass., und London 1976, S. 89; Hervorhebungen nicht im Original.
Die Logik der subjektiven Vernuft
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müssen bezahlt werden. Und auch das lohnt sich angesichts des Mehrertrages an Effizienz nicht immer. Kurz: Vielleicht sind das Satisficing und die X-Efficiency ja nur besonders raffinierte Arten des maximizing – ebenso wie, möglicherweise, die Vorsicht der Menschen bei Unsicherheit so dumm nicht ist, wie sie den Anhängern wie den Kritikern der einfachen Theorie des rationalen Handelns vorkommen mag (vgl. dazu auch noch Abschnitt 8.3). Eine Zusammenfassung So weit zu den wichtigsten Anomalien und Paradoxien der Theorie des rationalen Handelns. Inzwischen gibt es eine ganze Industrie der Untersuchung dieser Anomalien und Paradoxien. Es gibt sogar eigene wissenschaftliche Disziplinen dafür: die sog. Verhaltensökonomie und die kognitive Psychologie zum Beispiel. Zahllose einzelne Effekte sind bei diesen Bemühungen inzwischen gefunden und mit verschiedenen Namen versehen worden. Einige davon haben wir oben ausführlicher behandelt. Die folgende Zusammenfassung ist sicher nicht vollständig. Es werden u.a. unterschieden (vgl. auch etwa die Aufstellung bei Frey 1992, S. 173f.): Sunk-Cost-Effekte:
Menschen berücksichtigen frühere Investitionen in eine Sache bei ihrem gegenwärtigen Handeln. Nach den Annahmen der Nutzentheorie sollten das aber „versunkene“ Kosten sein, die sie nicht weiter stören. Sie stören aber.
Besitztumseffekte:
Das ist der oben berichtete Effekt, daß Menschen gegen die Aufgabe von dem, was sie schon unter Kontrolle haben, eine starke Abneigung besitzen.
Certainty-Effekte:
Günstige Ereignisse, die mit Sicherheit auftreten, werden riskanten Ereignissen vorgezogen, auch wenn der Erwartungswert der riskanten Ereignisse deutlich höher ist: Der Spatz in der Hand ist besser als die Taube auf dem Dach!
OpportunitätskostenEffekte:
Der durch eine nicht gewählte Alternative entgangene Ertrag zählt weniger als die unmittelbaren Kosten, die die gerade gewählte Alternative nach sich zieht.
Framing-Effekte:
Die sprachliche Formulierung eines Entscheidungsproblems beeinflußt die Entscheidung.
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Situationslogik und Handeln
Referenzpunkt-Effekte:
Die Alternativen werden in Bezug auf einen Referenzpunkt als Gewinn oder Verlust beurteilt. Der Referenzpunkt ist im Zweifel der Status quo. Manchmal wird er durch das sprachliche Framing gesetzt.
Verfügbarkeits-Bias:
Aktuelle, spektakuläre und persönlich betreffende Ereignisse werden bei den Entscheidungen systematisch überbewertet.
Repräsentativitäts-Bias:
Menschen können nur sehr bedingt logische Schlüsse ziehen, verzerren objektive Wahrscheinlichkeiten und können auch keine bedingten Wahrscheinlichkeiten berechnen.
Myopia und Akrasia:
Menschen orientieren sich in ihren Zielen und Aufmerksamkeiten auf naheliegende und sie unmittelbar betreffende Aspekte der Situation und sind nur begrenzt in der Lage, Versuchungen zu widerstehen, auch wenn ihnen dies längerfristige Vorteile bringen würde.
Grenzen des Wollens:
Es gibt Ziele des Handelns, die nicht gewollt werden können, weil sie gerade durch den Akt des Wollens verhindert werden.
Satisficing:
Menschen geben sich mit suboptimalen, ihnen aber ausreichend erscheinenden Lösungen zufrieden und suchen nicht um jeden Preis nach der Alternative mit der maximalen Nutzenerwartung.
Will man die Verletzungen der Axiome und Annahmen der Nutzentheorie soweit zusammenfassen, dann lassen sich die verschiedenen Effekte auf vier Besonderheiten des empirischen Entscheidungshandelns der Menschen zurückführen. Es wird erstens die Sicherheit dem Risiko vorgezogen – sofern es etwas zu gewinnen gibt. Wenn Verluste drohen, werden die Menschen wagemutig. Das Satisficing als Verzicht auf die Suche nach einer maximierenden Lösung nach Maßgabe des Marginalprinzips ist ein Spezialfall davon. Zweitens werden vergangene Investitionen, Entscheidungen und Handlungen nicht einfach vergessen. Der empirische Mensch ist keine tabula rasa, sondern verfolgt einmal aufgebaute Handlungs-„Linien“ auch weiter. Er ist von ihnen auch dann nur schwer abzubringen, wenn sich die „objektiven“ Gründe geändert haben. Drittens spielen unmittelbare Aspekte der Situation – wie der aktuelle Besitz und der Status quo, ebenso wie aktuelle Versuchungen – eine größere Rolle als zukünftige oder nicht unmittelbar verfügbare, wie bei allen Phänomenen der Myopia und Akrasia und der Unsicherheit bzw. des Mangels an Informationen. Und viertens können Menschen offenbar nur sehr begrenzt nicht verfügbare, aber für die Entscheidung wichtige Informationen durch „richtige“ logische Operationen ergänzen. Letzteres wie-
Die Logik der subjektiven Vernuft
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derum macht sie anfällig für die aktuellen und sichtbaren Bedingungen der Situation und läßt sie auf das Maximieren auch dann verzichten, wenn sie es „an sich“ könnten.
Vielleicht ist das alles kein Zufall und auch keine Verletzung einer speziellen Rationalität: Die Sorge um das Gelingen der Reproduktion im Hier und Jetzt, wie es die Sorge der lebenden Organismen im Verlaufe der Evolution immer war. Menschen neigen, wie andere lebende Organismen auch, wohl genau deshalb dazu, lokale und „nur“ zufriedenstellende Optima ihres Nahbereiches gegenüber den globalen und maximierenden Optima einer – zeitlich, sachlich und sozial – ferneren Welt vorzuziehen. In einer Welt der Knappheiten und der mühsamen Behauptung der Reproduktion in einer stets feindlichen Umwelt ist das nicht der geringste evolutionäre Vorteil gewesen: Ohne die heftige Identifikation mit den Nächstliegenden und mit ihren Nächsten und ohne momentane Überanstrengung wären die Menschen als Spezies wohl untergegangen. In the long run we are all dead, soll John Maynard Keynes einmal gesagt haben. Und deshalb müsse jetzt dafür gesorgt werden, daß die Menschen genug Geld in der Tasche haben, um die Wirtschaft zu stützen. Ob diese universale Neigung zur lokalen Optimierung für die Menschen auch weiterhin ein Vorteil sein wird, muß sich freilich erst noch erweisen.
8.3
Homo oeconomicus? Homo oeconomicus!
Die Logik des rationalen Handelns ist in der Tat sehr anspruchsvoll, und es ist kaum zu glauben, daß die Menschen ihr überhaupt folgen können. Die gefundenen Anomalien und Paradoxien sind daher ernst zu nehmende und deutliche Hinweise darauf, daß die wirklichen Menschen diesen Ansprüchen nicht immer auch wirklich genügen. Zweifel an der universellen Richtigkeit des Modells sind daher nur zu verständlich. Es gab sie – auch unter den Verfechtern der Theorie des rationalen Handelns – immer schon, nicht zuletzt bei John Stuart Mill (1806-1873), einem der Begründer des ökonomischen Denkens und des philosophischen Utilitarismus, höchstpersönlich: „It is not true that the actions even of average rulers are wholly, or anything approaching to wholly, determined by their personal interest, or even by their own opinion of their personal interest. I do not speak of the influence of a sense of duty, or feelings of philanthropy, motives never to be exclusively relied on, although (except in countries or during periods of great moral debasement) they influence almost all rulers in some degree, and some rulers in a very great degree. But I insist only upon what is true of all rulers, viz., that the character and course of their actions is largely influenced (independently of personal calculation) by the habitual sentiments and feelings, the general modes of thinking and acting, which prevail throughout the community of which they are members; as well as by the feelings, habits, and modes of thought which characterize the particular class in that community to which they themselves be-
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Situationslogik und Handeln
long. And no one will understand or be able to decipher their system of conduct, who does not take all these things into account. They are also much influenced by the maxims and traditions which have descended to them from other rulers, their predecessors; and which have been known to maintain, during long periods, a successful struggle in a direction contrary to the private interests of the rulers for the time being.“13
Was John Stuart Mill über die Herrscher meinte, läßt sich natürlich erst recht auf die Alltagsmenschen übertragen. Gleichwohl kann man nicht einfach sagen, daß das Modell des rationalen Handelns mit seinen strengen Axiomen und mit der starken Annahme der Maximierung und des Marginalprinzips unbrauchbar wäre. Wenigstens als theoretisches Instrument hat es seine Nützlichkeit gegenüber allen seinen Konkurrenten lange und bis auf den heutigen Tag bewiesen. Und solange es keinen ernsthaften Konkurrenten für eine Theorie gibt, muß man sie – vernünftigerweise – auch dann beibehalten, wenn man weiß, daß sie – wenigstens in Teilen – falsch ist. Bevor wir im letzten Abschnitt 8.4 dieses Kapitels ein Konzept der Rationalität skizzieren, das – den derzeitigen Erkenntnissen zufolge – dem „wirklichen“ Menschen gerechter wird als die einfache Nutzentheorie der Maximierung der Werterwartung und gleichwohl alle Vorzüge einer erklärenden Theorie des Handelns hat, seien auch einige Gegenevidenzen gegen eine allzu voreilige Kritik am Modell des homo oeconomicus berichtet. Denn: Vollkommen ohne empirische Grundlage ist – anders als dies viele Soziologen und Psychologen zu glauben scheinen – die Theorie des rationalen Handelns keineswegs. Und manche Anomalie und mancher „Effekt“ auf der Liste oben entpuppt sich bei näherem Hinsehen sogar als eine glänzende Bestätigung der Grundidee, daß die Menschen keine Deppen sind und in ihrem Tun die Möglichkeiten, die Knappheiten und die Anreize doch recht genau beachten.
Fünf Beispiele wollen wir uns etwas näher ansehen: Das Axiom von der Geordnetheit der Präferenzen, das Marginalprinzip, die „rationale“ Kontrolle von Affekten, die Vernünftigkeit der Ignoranz, das satisficing bei Herbert A. Simon und das framing aus den Experimenten von Tversky und Kahneman.
Das „Erwachsen“ der Präferenzordnung Das erste und wichtigste Axiom der Nutzentheorie ist das der Vergleichbarkeit und der Transitivität der Präferenzen, das von der konsistenten Ordnung der Präferenzen also (vgl. Abschnitt 8.1). Besonders bei komplexen und vielschichtigen Alternativen ist die Annahme einer konsistenten Präferenzordnung 13
John Stuart Mill, A System of Logic. Ratiocinative and Inductive, London 1905, S. 539; Hervorhebung nicht im Original.
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aber durchaus gewagt: Wenn jemand Meg Ryan – warum auch immer – Marilyn Monroe vorzieht und die wiederum Heike Makatsch, dann ist es keineswegs ausgemacht, daß nicht – aus guten Gründen – Heike Makatsch wiederum vor Meg Ryan präferiert wird, wenn man sich zwischen diesen beiden zu entscheiden hätte. Die Mädels – und nicht nur sie – sind nun einmal komplex, vieldimensional und unberechenbar. Und sie lassen sich nicht einfach und eindimensional in eine rationale Ordnung bringen. Das Problem der Intransitivität ist aber bei weitem nicht derart gravierend, wie es manche Kritik an der Theorie des rationalen Handelns gerne hätte. Oft löst sich das Problem der Intransitivität schon dann, wenn die latente Vielschichtigkeit der Alternativen berücksichtigt wird: Haarfarbe, Maße, Talent, Zeitgeistnähe, Verstand oder Charme zum Beispiel. Die Verletzung des Axioms von der Ordnung der Präferenzen ist außerdem empirisch durchaus nicht der Normalfall, besonders dann nicht, wenn die „richtige“ Ordnung für einen Akteur auch wichtig ist. Und manchmal ist es sogar vernünftig und nutzenmaximierend, nicht sonderlich genau auf die inneren Präferenzen zu achten. Von Arnold A. Weinstein stammt ein Experiment, bei dem ganz verschiedene Objekte in zufälliger Anordnung paarweise verglichen werden sollten.14 Der Wert jedes dieser Objekte betrug etwa drei Dollar. Darunter waren Dinge wie der Kunstdruck eines Gemäldes von El Greco, ein Paar weiße leichte Tennistreter, Single-Platten von den Beatles, bunt bedruckte Krawatten, Gutscheine für Vanillemilch, auch drei Dollar in bar. Das Ziel des Experimentes war es, eventuelle Intransitivitäten in den Präferenzen für diese Objekte bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen festzustellen. Die Ergebnisse der Paarvergleiche – der Anteil der nach den Regeln der Transitivität richtig vorgenommenen Paarvergleiche – wurden nach dem Alter der Versuchspersonen geordnet. Und herausgekommen ist das:
Altersgruppe 9 - 12 Jahre 13 - 16 Jahre 17 - 18 Jahre Erwachsene (meist Lehrer)
14
Anteil Transitivität
n
79.2 83.9 88.0 93.5
52 36 46 18
Arnold A. Weinstein, Transitivity of Preference: A Comparison among Age Groups, in: The Journal of Political Economy, 76, 1968, S. 307-311.
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Erstaunlich ist zunächst der hohe Prozentsatz „richtiger“ Präferenzordnungen auch schon bei der jüngsten Gruppe. Ganz besonders bemerkenswert ist die systematische Zunahme der „Rationalität“ mit dem Alter. Schon mit 17-18 Jahren verletzen nur noch etwas mehr als 10% der Versuchspersonen die Regeln der transitiven Präferenzen. Und bei Erwachsenen sind es sogar noch einmal deutlich weniger. Von einer überwiegenden Verletzung des Axioms der Ordnung der Präferenzen kann, selbst bei den geschilderten vieldimensionalen Objekten, also keine Rede sein. Wie ließe sich dieser Zusammenhang zwischen Alter und Rationalität aber erklären? Es könnte daran liegen, daß für die erforderlichen inneren Berechnungen gewisse Fertigkeiten benötigt werden, die Kinder einfach noch nicht beherrschen. Plausibler erscheint eine andere Deutung: Niemand kennt, wenn er auf die Welt kommt, seine Obsessionen und Präferenzen. Das stellt sich erst allmählich im Verlaufe seiner Erfahrungen mit den vielen Dingen dieser Welt heraus. Kinder probieren wahrscheinlich in höherem Maße als ältere einfach aus, was alles so möglich ist, gerade weil sie noch nicht wissen, „wer“ sie sind. Dieses Probieren aber erzeugt zunächst Zufallswahlen. Und die wiederum müssen zu höheren Anteilen von Verletzungen des Axiomes von der Präferenzordnung führen.„Entwicklung“ und Erwachsenwerden bedeuten also unter anderem auch: Die Feststellung der eigenen Präferenzen. Dabei sind die Präferenzen nichts anderes als die personalen Bewertungen für gewisse primäre Zwischengüter in der „privaten“ Produktionsfunktion des Akteurs, die die sozialen Produktionsfunktionen stets – gewissermaßen – überlagert (vgl. dazu bereits Abschnitt 3.3). Zunächst wissen Kinder – einmal von einigen ganz grundlegenden Dingen abgesehen – eben noch nicht, was ihnen persönlich gut tut und was ihnen persönlich gefällt. Das stellen sie erst nach und nach fest. Wenn sie aber – durch Ausprobieren und leibhaftiges Erleben – gelernt haben, welche Zwischengüter es sind, die für ihre eigene Nutzenproduktion taugen und welche nicht, dann müssen sie nicht mehr immer wieder neue Dinge ausprobieren. Dann kennen sie die Techniken, mit denen sie ihre Bedürfnisse befriedigen können, und die Güter, die ihnen Spaß machen (vgl. dazu auch Kapitel 9 über das Lernen). Dann haben sie bald auch eine konsistente Ordnung in ihren Präferenzen. Aber dann macht ihnen – oft – auch das Leben keinen richtigen Spaß mehr. Arnold A. Weinstein hat noch eine andere Erklärung dafür: Manchmal lohnt es sich einfach nicht, die inneren Präferenzen rational zu ordnen: „If there is a cost, in effort, in extending a preference ordering, and if this cost exceeds the expected benefits, it would not be rational for an individual to undertake that extension. In such a case, non-systematic, rather than ‚utility-maximizing,’ behavior is to be expected.“ (Weinstein 1968, S. 307; Hervorhebung nicht im Original)
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Kurz: Wenn der Aufwand für eine „rationale“ Ordnung der Präferenzen den erwarteten Nutzen dieser Ordnung übertrifft, dann ist es rational, es bei der Intransitivität und beim unsystematischen, nicht-rationalen Handeln zu belassen. Birds Do it! (Bumble-)Bees Do it! Vor allem das Maximieren nach dem Marginalprinzip scheint eine besonders anspruchsvolle Voraussetzung zu sein. Gerade wegen der offenkundigen Begrenzungen der menschlichen Fähigkeiten zur Informationsverarbeitung und Berechnung hatte Herbert A. Simon ja an die Stelle des Maximizing nach diesem Prinzip das weniger anstrengende Satisficing setzen wollen. Und es ist ja wohl auch so: Wer könnte schon ganz genau die Alternative finden, an der Grenzertrag und Grenzverlust sich exakt ausgleichen? Erstaunlicherweise aber scheinen die Selektionsregel des Marginalprinzips schon nicht-menschliche Organismen gut zu beherrschen – Kohlmeisen, Bienen und Hummeln zum Beispiel. Die Futtersuche ist für Vögel eine sehr anstrengende Angelegenheit: Durch das Herumfliegen verbrauchen sie viel Energie. Und dann stellt sich natürlich die Frage: Ab wann lohnt sich eine weitere Suche noch, wenn bereits eine gewisse Menge an Futter gefunden wurde? Das Marginalprinzip gibt die Antwort: Es wäre optimal und vernünftig, solange weiterzusuchen, bis die nächste gefundene Futtereinheit gerade noch etwas mehr an Energiegewinn erbringt, als die Suche danach an Energie kostet. Nach einer Studie des Biologen Richard Cowie tun Kohlmeisen genau das:15 Sie suchen exakt jene Menge an Futter, bei der sich der Grenzertrag in Form des Energiegewinns an den Grenzverlust an Energie für eine weitere Futtersuche angleicht. Seine Kollegen Clayton M. Hodges und Larry L. Wolfe untersuchten Bienen und Hummeln, deren Problem bei der Nektarsuche in ähnlicher Weise darin besteht, daß das Aussaugen des Restnektars bei einer Blüte immer schwieriger wird. Als Optimalpunkt, bei dem der physiologische Grenzertrag weiterer Saugbemühungen dem physiologischen Grenzaufwand dafür gleicht, berechneten sie einen theoretischen Wert von 1.0 Mikrolitern an in den Blüten belassenem Restnektar. Die beobachteten Bienen und Hummeln hinterließen im Durchschnitt 1.24 Mikroliter, ein Wert, der innerhalb der Konfidenzintervalle der Beobachtungen blieb.16
Offenkundig ist es für die schwierige Aufgabe der Maximierung nach dem Marginalprinzip also nicht erforderlich, daß sich die Organismen sonderlich darum bemühen: Sie können es und tun es einfach oder verhalten sich mindestens so „als ob“. Warum aber können das Kohlmeisen, Bienen und Hummeln – und praktisch alle anderen Lebewesen auch? Die Antwort liegt sehr nahe: 15
Richard J. Cowie, Optimal Foraging in Great Tits (Parus Major), in: Nature, 268, 1977, S. 137ff.
16
Clayton M. Hodges und Larry L. Wolfe, Optimal Foraging in Bimblebees: Why is Nectar Left Behind in Flowers, in: Behavioral Ecology and Sociobiology, 9, 1981, S. 42ff.
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Das Marginalprinzip ist eine außerordentlich raffinierte Antwort auf das wohl wichtigste Problem aller lebenden Organismen – die Sicherung der eigenen Reproduktion. Wer dem Prinzip folgt, sorgt einerseits für die Beschaffung der – im wörtlichen Sinne – überlebenswichtigen Mittel, strengt sich aber andererseits dabei auch nicht über Gebühr an.17 In einer Welt der übergroßen Knappheiten wäre die Verschleuderung von Energien bald letal. Evolutionär erfolgreicher waren daher wohl die Arten, die – warum zunächst auch immer – dem Marginalprinzip folgten. Die anderen Spezies taten entweder zu wenig für sich, oder verausgabten sich bald. Und beides war evolutionär nicht gut für sie. Es wäre schon sehr verwunderlich, wenn sich ausgerechnet homo sapiens der Vorzüge des Marginalprinzips entledigt hätte. Und wenn ausgerechnet er mit seinem Verstand das nicht (mehr) könnte, was Kohlmeisen, Bienen und Hummeln ganz automatisch und ohne jede „Berechnung“ instinktiv beherrschen. Gleichwohl hat die Kritik von Herbert A. Simon ohne Zweifel etwas für sich: Wenn das „Berechnen“ des Optimalpunktes beim Menschen zu anstrengend ist – eben weil er die genetisch-instinktive Fähigkeit dazu verloren hat –, dann gehört der Aufwand beim Maximieren auch zu den Kosten, die zu berücksichtigen sind. Bei Kohlmeisen, Bienen und Hummeln sind die Optimierungskosten gleich null, weil sie „automatisch“ maximieren. Beim Menschen eben nicht. Und deshalb ist es für ihn wohl in der Tat oft vernünftiger, sich mit weniger als dem Maximum nach dem Marginalprinzip zufrieden zu geben – womöglich nach den Regeln des Marginalprinzips. Die Kontrolle der Affekte Emotionen und Affekte gehören mit zu den sperrigsten Herausforderungen an die Theorie des rationalen Handelns als „allgemeiner“ Logik der Selektion: Sie gehören einfach nicht dazu. Aber wer wollte ernsthaft bezweifeln, daß weiteste Bereiche der Gesellschaft und auch des wirtschaftlichen Handelns davon massiv geprägt sind? Die meisten Morde werden im Affekt begangen. Wichtigste Entscheidungen werden nach dem Gefühl getroffen. Und die blutigsten Kriege sind die, wo es um religiöse oder nationale Emotionen geht. Was wäre dazu aus der Sicht der Theorie des rationalen Handelns zu sagen? Naheliegend wäre wohl dies: Es ist nicht zu bestreiten, daß es Emotionen und Affekte gibt, die alle „rationalen“ Überlegungen der Menschen überlagern oder gar ausschalten können. Aber selbst bei den noch unglaublichsten Exzes17
Vgl. Eric L. Charnov, Optimal Foraging, the Marginal Value Theorem, in: Theoretical Population Biology, 9, 1976, S. 130ff.
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sen der Emotionalität sind die Variablen nicht einfach ausgeschaltet, die nach der Theorie des rationalen Handelns für die Entscheidungen der Menschen maßgeblich sind. Von Norbert Elias (1897-1991) stammt eine derartige Hypothese. Seine, in der Soziologie weithin akzeptierte Idee: Wenn die Konsequenzen des Tuns unübersichtlicher und teurer werden, dann werden die Menschen vorsichtiger und „berechnender“. Gibt es dagegen klare Fronten und ist mit Vorsicht, Nachdenken und „rationaler“ Kalkulation nicht viel zu gewinnen, dann kann man ungestraft seinen Affekten folgen. Mehr noch: Dann wird es oft buchstäblich lebenswichtig, nicht lange zu überlegen, was man tut – wie im wilden Westen, in dem nur der überlebte, der am schnellsten zog. Norbert Elias geht dabei von der These einer Koevolution der gesellschaftlichen Strukturen mit der psychologischen Verfassung von Menschen aus: Mit dem „Prozeß der Zivilisation“18 in der Gesellschaft verändere sich gleichzeitig die Persönlichkeitsstruktur. Und zwar in der folgenden Weise: Wo es zuvor, etwa im Mittelalter, spontane und affektgeleitete Reaktionen gab – man spuckte auf die Straße, schneuzte sich bei Tisch oder schlug als Ritter ganz spontan und ohne längeres Zögern aufeinander ein –, herrschen nun, etwa in den Intrigantennetzen und komplizierten „Spannungsbalancen“ der „Höfischen Gesellschaft“19, „Vorsicht“, „Rationalität“ und „strategische Weitsicht“. Auf den ersten Blick sieht dies wie eine andere Variante der These aus, daß sich die Menschen mit der sozialen und institutionellen Umgebung auch in ihrer „Natur“ änderten und daß der Modus des Handelns – hier: affektuelles versus zweckrationales – keine Frage der „Wahl“, sondern eine unmittelbare Folge der jeweiligen institutionellen Strukturen sei. Genau das will Norbert Elias aber nicht sagen. Er will vielmehr verständlich machen „ ... wie ein viele Menschengenerationen umfassender Prozeß der Zivilisation möglich ist, in dessen Verlauf sich die Persönlichkeitsstruktur des einzelnen Menschen wandelt, ohne daß sich die Natur des Menschen wandelt.“ (Elias 1976a, S. LXV; Hervorhebungen nicht im Original).
Unter „Persönlichkeitsstruktur“ ist offensichtlich so etwas gemeint wie eine generalisierte Neigung für die Wahl eines bestimmten Modus des Handelns – affektuell-spontane Reaktion hier, rational-kalkuliertes Handelns da. Und diese generalisierte Neigung variiere – so Norbert Elias – mit der Struktur der so18
Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, 1. Band: Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes, Frankfurt/M. 1976a, S. VIIIff.
19
Norbert Elias, Die Höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie, Frankfurt/M. 1983, S. 178ff.
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zialen Umgebung: Emotional-spontanes Handeln da, wo die Fronten einfach, die Koalitionen verläßlich und kaum weiterreichende Konsequenzen zu erwarten waren. Berechnend-strategisches und affektkontrolliertes Handeln dort, wo die Fronten und Koalitionen „multipolar“, undurchschaubar und instabil sind, und wo wegen einer deutlichen „Verlängerung der Interdependenzketten“ jedes Handeln gründlich überlegt werden muß, um sich nicht durch leichtfertige Spontaneität schlimme Spätfolgen einzuhandeln. Welchen Typus oder Modus des Handelns – affektuell oder zweckrational – die Menschen jeweils wählen, ist danach also deutlich von der sozialen Situation bestimmt, in der sie stehen. Diese Situationen sind ohne Zweifel sehr verschieden. Aber der Modus wird nach der gleichen Selektionsregel gewählt wie jedes andere Handeln auch: Welcher Modus ist angesichts der Umstände der günstigere und erfolgversprechendere? In der Rittergesellschaft der freien Konkurrenz der Krieger untereinander galt: „Den Impulsen unmittelbarer nachzugeben und nicht erst auf längere Sicht zu berechnen, gehörte ... zu den Verhaltensweisen, die – selbst, wenn sie zum Untergang des Einzelnen führten, – dem Gesellschaftsaufbau als Ganzem adäquat und daher ‚wirklichkeitsgerecht’ waren. Der Kampffuror war hier eine notwendige Voraussetzung des Erfolges und des Prestiges für den Mann des Adels.“20
Und welcher Modus des Handelns ist unter diesen Umständen der „vernünftigste“? Natürlich: das affektuell-irrationale Handeln ohne langes Zögern. Mit der fortschreitenden Monopolbildung und Zentralisierung von politischer Macht und Gewalt im Verlaufe des Prozesses der Zivilisation änderte sich dies allerdings: „Der veränderte Aufbau der Gesellschaft bestraft jetzt Affektentladungen und Aktionen ohne entsprechende Langsicht mit dem sicheren Untergang. Und wer nun mit den bestehenden Verhältnissen, mit der Allmacht des Königs nicht einverstanden ist, muß anders vorgehen.“ (Ebd., S. 383; Hervorhebung nicht im Original)
Und wie müßte man nun – etwa im Gewirr der Intrigen und Beziehungsgeflechte der Höfischen Gesellschaft – tunlichst vorgehen? Natürlich: zweckrational bzw. strategisch. Man sieht: Es ändern sich also keineswegs die „Natur“ des Menschen und die grundlegende Art des Umgangs mit sozialen Situationen. Was sich ändert, ist der Grad der Aufmerksamkeit, das erforderliche Maß an Kalkulation und die Reichweite der Beachtung von Folgen und Nebeneffekten. Und der Grund dafür ist auch sehr verständlich: Als Ritter berechnend und zweckrational ab20
Elias, Norbert, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, 2. Band: Wandlungen der Gesellschaft. Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation, Frankfurt/M. 1976b, S. 382; Hervorhebungen nicht im Original.
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zuwarten, wäre ebenso töricht – wenn nicht sofort letal –, wie als Höfling polternd und gerade heraus seinen Affekten nachzugehen. Das unreflektiert-automatische und das bedacht-rationale Handeln kann man – mit Norbert Elias und in Anschluß an die Handlungstypen von Max Weber – also offenkundig als verschiedene Modi der Selektion des Handelns verstehen, zwischen denen eine „Wahl“ möglich ist (vgl. dazu bereits Abschnitt 6.8). Norbert Elias verband diese „Wahl“ mit typischen gesellschaftlichen Strukturen. Aber gesellschaftliche Strukturen tun nichts. Sie verändern nur die Randbedingungen des Handelns und der dafür nötigen „Berechnungen“. Und zwar hier die Randbedingungen dafür, ob der eine oder der andere Modus angemessener ist oder nicht. Wenn man genauer hinsieht und fragt, warum etwa in der Rittergesellschaft der automatische und in der Höfischen Gesellschaft der berechnende Modus vorherrscht, dann bietet sich eine erstaunliche Antwort an: Weil es jeweils vernünftiger ist. Und zwar nach den Regeln der Theorie der rationalen Wahl. Die Vernünftigkeit der Ignoranz Einer der wohl gravierendsten Unterschiede zwischen dem allwissenden homo oeconomicus und dem wirklichen Menschen ist dieser: Anders als die Theorie des rationalen Handelns annimmt, nehmen wirkliche Menschen ihre Umgebung nur sehr selektiv und nur in ganz kleinen Ausschnitten wahr. Der weitaus größte Teil der Umstände und Informationen bleibt schlichtweg ausgeblendet. Interessanterweise scheint diese Tendenz zur Ignoranz dann besonders stark zu sein, wenn die Umgebung komplexer und das Entscheidungsproblem angesichts des Wissens und der Kompetenzen des Akteurs schwieriger werden. Und die Konsequenz: Wenn die Welt (zu) komplex ist, dann macht sich der Akteur sie gedanklich so einfach, daß er sie (gerade) noch beherrschen kann. Das sind unter extremer Unsicherheit dann auch sehr ideosynkratische Muster des früher einmal als sicher erlebten Handelns: der Ruf nach der Mutter, der Griff zur Flasche oder das Verlangen nach geistlichem Beistand zum Beispiel, wenn es sehr eng und ungewiß wird. Ist das Verschließen der Augen vor den Komplexitäten der Welt eine Reaktion, die gegen die Theorie des rationalen Handelns spricht? Von Ronald A. Heiner stammt ein Modell, wonach diese Regression auf einfache Muster als außerordentlich vernünftige Reaktion auf Unwissen und Ungewißheit und mit
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den Mitteln der WE-Theorie erklärbar wird.21 Der Ausgangspunkt der Überlegungen von Ronald A. Heiner ist der von ihm so genannte C-D-Gap. Damit ist das Mißverhältnis zwischen der Schwierigkeit eines Entscheidungsproblems („difficulty“) einerseits und der Kompetenz des Akteurs, damit fertig zu werden („competence“), andererseits gemeint. Der C-D-Gap kann nach dem Typ des Entscheidungsproblems, nach den Umgebungsverhältnissen und nach den Eigenschaften der Akteure unterschiedlich groß sein. Der perfekt informierte homo oeconomicus bezeichnet nach Ronald A. Heiner den Grenzfall eines C-D-Gap von null. Die ökonomische Nutzentheorie meint ja, gerade mit dieser Annahme den Schlüssel zur Erklärung von Regelmäßigkeiten des Handelns in der Hand zu haben: Unsicherheiten – also ein C-D-Gap größer als null – könnten danach nur unvorhersagbare und erratische Irrtümer und Überraschungen erzeugen. Zur Isolation der systematischen Teile des Handelns müsse daher der Einfluß solcher Unsicherheiten schon von den Annahmen her ausgeschlossen werden.
Ronald A. Heiner zieht aus der Existenz eines C-D-Gap geradezu den gegenteiligen Schluß: Da die Welt sich stets verändert, wäre gerade das maximierende Handeln, das jeder noch so kleinen Änderung des Optimums folgen würde, erratisch und unvorhersehbar. Wenn ein Akteur aber – aufgrund seiner bounded rationality – eben nicht jede Veränderung wahrnimmt, dann bringt dies eine deutliche Konstanz in sein Verhalten hinein: Wenn ich nicht mitbekomme, daß sich die Benzinpreise fortwährend ändern, dann fahre ich auch nicht hektisch von einer Tankstelle zur anderen, um meinen Benzinpreisnutzen zu maximieren. Ich bleibe vielmehr Stammkunde bei immer der gleichen Tankstelle auf dem Weg zur Arbeit. Und ich tue gut daran, weil ich auf diese Weise viel an Zeit, Nervenkraft und Entscheidungskosten spare und obendrein meiner Umgebung mit meiner Hektik nicht auf die Nerven gehe. Aber irgendwann wird auch ein Akteur mit einer sehr begrenzten Rationalität und einem hohen C-D-gap sein Handeln ändern und den Chancen der Umgebung folgen. Aber wann? Ronald A. Heiner formuliert für diesen Wechsel von der Ausblendung der Umgebungsänderungen zur Aufnahme neuer Informationen die sog. Reliability Condition. Diese spezifiziert, wann die Inflexibilität des Handelns gegen Umgebungsänderungen aufgegeben wird. Dabei werden die folgenden Annahmen gemacht. 1. Es gibt bestimmte Umgebungsvariablen e, die die Komplexität des Entscheidungsproblems beschreiben. Zu dieser Komplexität gehören u.a. die Häufigkeit der betreffenden Situation und die Stabilität der Umgebung. Die Kompetenz des Akteurs zur Lösung von Entscheidungsproblemen wird über die Variable p beschrieben. Dazu gehört u.a. die Fähigkeit des Akteurs, die Eigenschaften der Umgebung richtig zu dechiffrieren und die entsprechenden 21
Ronald A. Heiner, The Origin of Predictable Behavior, in: The American Economic Review, 73, 1983, S. 560-595.
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Schlüsse für sein Tun daraus zu ziehen. Die Variablen e und p bestimmen den Gap zwischen Komplexität und Kompetenz – den C-D-Gap eben. Die Beziehungen sind in einer allgemeinen Funktion abgebildet, in der der Grad der Unsicherheit U des Akteurs von den Variablen p und e abhängig ist: U=u(p-, e+). Die Zeichen + und - bei e und p sollen anzeigen, daß die Unsicherheit U mit der Komplexität der Umgebung zunimmt und daß sie mit der Kompetenz des Akteurs abnimmt. 2. Der Akteur verfüge nun über ein festes und bewährtes Repertoire von Handlungen: Seine Gewohnheiten, Rituale, Regeln und Routinen. Eine davon abweichende neue Alternative würde er vorziehen, wenn er sich sicher sein könnte, daß er dafür das richtige timing träfe. Er würde sie nicht vorziehen, wenn das timing falsch wäre. Ein Arzt würde beispielsweise nur dann ein bestimmtes Medikament verordnen, wenn er sicher sein kann, daß der Patient auch genau die Krankheit hat, für die das Medikament gedacht ist. Die Wahrscheinlichkeit für das „richtige“ oder „falsche“ timing einer Entscheidung in Abhängigkeit des Zustandes der Umgebung seien mit p(e) für das richtige und mit 1-p(e) für das falsche timing angegeben. Die Wahrscheinlichkeiten p(e) und 1-p(e) geben dabei die objektiven Chancen an, daß ein Akteur mit einer Abweichung von seiner Routine das bessere Ende erwischt – oder aber nicht. Also: p(e) ist die Wahrscheinlichkeit, daß das Medikament auch auf die „richtige“ Krankheit trifft, 1-p(e) die Wahrscheinlichkeit dafür, daß die Verordnung sie eben nicht trifft. 3. Wegen seiner Unsicherheit und Unwissenheit wird ein Akteur nun aber in aller Regel nicht in der Lage sein, die neue Alternative genau zum „richtigen“ Zeitpunkt zu probieren. Die (bedingte) Wahrscheinlichkeit, daß er bei einem gegebenen Grad an Unsicherheit U die neue Alternative tatsächlich zum richtigen Zeitpunkt wählt, sei mit r(U) bezeichnet, wobei U – wie gesagt – eine Funktion von p und e ist. Der aus einer „richtigen“ neuen Handlung vor dem Hintergrund der Umgebungsvariablen e erwachsende Gewinn sei mit g(e) bezeichnet. Entsprechend ist w(U) die (bedingte) Wahrscheinlichkeit, daß die neue Handlung zum falschen Zeitpunkt gewählt wird, und l(e) der dann gegenüber der Routine drohende Verlust. Im Spezialfall des homo oeconomicus gibt es keine Unsicherheit. Für ihn sind r(U)=1 und w(U)=0: Er tut immer das Richtige und nie etwas Falsches. Jede Unsicherheit wird hingegen ein r(U)<1 und ein w(U)>0 nach sich ziehen. 4. Ein Akteur wird schließlich eine neue Alternative nur dann der Routine vorziehen, wenn der erwartete Gewinn aus der „richtigen“ Wahl der neuen Handlung den erwarteten Verlust aus einer „falschen“ Wahl beim Ausprobieren des Neuen übersteigt. Der erwartete Gewinn aus der richtigen Wahl ist aber nichts anderes als das Produkt der Wahrscheinlichkeit der richtigen Wahl zum richtigen Zeitpunkt mit dem dann eintretenden Gewinn. Also: r(U)*p(e)*g(e). Der erwartete Verlust aus der falschen Wahl zum falschen Zeitpunkt ist entsprechend w(U)*(1-p(e))*l(e). Gewählt wird eine neue Alternative den Regeln der WE-Theorie entsprechend genau dann, wenn gilt: r(U)*p(e)*g(e)>w(U)*(1-p(e))*l(e). Daraus ergibt sich für die Abweichung von der Routine nach Umstellen der Gleichung die gesuchte Reliability Condition: r(U)/w(U) > l(e)/g(e)*(1-p(e))/p(e). 5. Der Ausdruck r(U)/w(U) auf der linken Seite wird von Ronald Heiner auch als Reliability Ratio bezeichnet, der Ausdruck l(e)/g(e)*(1-p(e))/p(e) auf der rechten Seite als Tolerance Limit T(e). Das Tolerance Limit T(e) gibt an, „ ... how likely the chance of selecting an action under the right conditions must be compared to the chance of selecting it under the wrong conditions before allowing flexibility to select that action will improve performance.“ (Ebd., S. 566; Hervorhebung nicht im Original) Die Reliability Ratio r(U)/w(U) läßt
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sich interpretieren als „ ... the ‚actual’ reliability of selecting an action, in comparison to the ‚minimum’ required reliability specified by the tolerance limit T(e).“ (Ebd.; Hervorhebung nicht im Original) 6. Damit läßt sich die Frage beantworten, wann sich das Risiko „lohnt“, von der Routine abzuweichen oder – sogar –eine neue Handlung in das Repertoire der Routine aufzunehmen, also zu lernen: „do so if the actual reliability in selecting the action exceeds the minimum required reliability necessary to improve performance.“ (Ebd.; Hervorhebung nicht im Original) 7. Aus der Beziehung zwischen der Reliability Ratio und dem Tolerance Limit ergibt sich für die Übernahme neuer Alternativen eine formal zwar recht triviale, aber inhaltlich wichtige Folge: Für jedes gegebene Verlust-Gewinn-Verhältnis l(e)/g(e) steigt die Wahrscheinlichkeit einer im timing falschen gegenüber einer richtigen Entscheidung (1p(e)/p(e) mit dem Absinken der Wahrscheinlichkeit des richtigen timing p(e). Damit aber nimmt mit dem Absinken von p(e) auch die Höhe des „nötigen“ Tolerance Limit T(e) zu. Also: „Thus, an agent must be more reliable in selecting an action if the right situations for exhibiting it are less likely.“ (Ebd., S. 567; Hervorhebungen so nicht im Original). Oder: „Thus, for a given structure of uncertainty, U=u(p,e), which determines the reliability of selecting a particular action (i.e. which determines the ratio r(U)/w(U)), the Reliability Condition will be violated for sufficienty small, but positive, p(e)>0.“ (Ebd.)
Kurz: Das Absinken der Wahrscheinlichkeit für die richtige Entscheidung zum richtigen Zeitpunkt führt zu einer Verfestigung der gewohnten Routinen – und damit zur stärkeren Vorhersagbarkeit des Handelns der Akteure. Aufgrund der formalen Struktur der Beziehung ist sogar zu erwarten, daß für eine gewisse Untergrenze der Wahrscheinlichkeit des richtigen Tuns p(e) die erforderliche Reliabilität unendlich groß wird. Man sieht das unmittelbar aus der Formel für die Beziehung zwischen der Reliability Ratio und dem Tolerance Limit: Wenn p(e) gegen null geht, dann geht der Ausdruck l(e)/g(e)*(1-p(e))/p(e) insgesamt gegen unendlich. Das heißt: Das erforderlich Tolerance Limit T(e) für eine Abweichung wächst dann über alle Grenzen. Und keine noch so hohe Reliability Ratio r(U)/w(U) und keine noch so großen Gewinnaussichten g(e) können diese Bedingung erfüllen. In einem Diagramm lassen sich diese Zusammenhänge zusammenfassen und leicht erkennen (Abbildung 8.1): Man sieht aus der Abbildung unmittelbar, was geschieht, wenn p(e) kleiner als etwa 0.25 wird: Die Gewinne können noch so hoch, die Verluste noch so extrem, die Umgebung noch so durchsichtig und stabil und die Kompetenz des Akteurs noch so ausgeprägt sein: Er wird den Verlockungen einer neuen Möglichkeit bei eigener Unsicherheit nicht folgen und das weiter tun, was sich bisher für ihn bewährt hat. Das Modell von Ronald A. Heiner legt für das Handeln der Menschen eine etwas unerwartete Konsequenz nahe: Ein rationaler Akteur „muß“ bei einer noch nicht einmal extremen Unsicherheit über die Richtigkeit seines Tuns neue Möglichkeiten ignorieren. Die Anreize, an denen sich der perfekt infor-
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mierte homo oeconomicus doch so gerne und leicht orientiert, werden vollkommen unwichtig, wenn das Handeln unter Unsicherheit stattfinden muß. Erst wenn der nicht perfekt informierte homo oeconomicus mehr weiß und kann und wenn die Umgebung transparenter wird, wird es ratsam, die eingetretenen Pfade zu verlassen. Erst dann kann er sich trauen, rational und maximierend zu handeln. Und zwar: Wenn er vernünftig ist.
T(e) 10
5
Übernahme der neuen Alternative Beibehaltung der Routine
1
p(e) 0
.25
.50
.75
1.0
Abb. 8.1: Tolerance Limit und die Wahrscheinlichkeit des richtigen Zeitpunktes (nach Heiner S. 567)
Satisficing als Maximizing. Oder: Der kluge Umgang mit den knappen Gütern der Information und der Aufmerksamkeit Allen Varianten der These von der begrenzten Rationalität der Menschen ist gemeinsam, daß sie auf die Kosten einer maximierenden Rationalität hinweisen. Maximieren ist nämlich teuer – und das nicht zu knapp. Es erfordert An-
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strengungen der Berechnung und des Findens der Entscheidung, Aufmerksamkeit und – nicht zuletzt – die Suche nach und die Verarbeitung von Informationen. Was läge also näher, als diese Kosten in die Gesamtrechnung der Maximierung einzubeziehen. Genau das ist der Ansatz der sog. Informationsökonomie. Sie besagt: Es lohnt sich nicht immer, das letzte Quentchen an Informationen zu sammeln, das für das Finden des Optimalpunktes nach dem Marginalprinzip nötig ist. Aber wann man mit der Suche nach neuen Informationen aufhört – diese Entscheidung folgt wieder der Theorie des rationalen Handelns und dem Marginalprinzip. Suboptimale Zufriedenheit, Trägheit und X-Effizienz und das Ausblenden von Möglichkeiten sind danach nichts als ein bei rationalen Akteuren erwartbarer Umgang mit den Kosten von Informations- und Entscheidungsfindung. Von George J. Stigler und Gary S. Becker stammt eines der bekanntesten Modelle der Informationsökonomie – ganz in der Sprache der ökonomischen Preistheorie.22 Es geht um das Phänomen des sog. traditionalen Konsumentenverhaltens. Für viele Ökonomen war und ist es ja ganz erschreckend, wie wenig sensibel viele Konsumenten auf Änderungen in Preisen und Qualität der Produkte reagieren und sich um Markttransparenz und Preisvergleiche überhaupt nicht zu kümmern scheinen, auch wenn sie wissen müßten, daß sie anderswo günstiger kaufen könnten. Haben sie alle keinen Verstand oder zu viel Geld? Die Informationsökonomie sagt: Durchaus nicht. Die Überlegung ist folgende: Ein Konsument kaufe eine Einheit eines Gutes zu einem Preis pt zum Zeitpunkt t. Der niedrigste Preis für das Gut sei p’t. Um diese Gelegenheit zu ermitteln, müßte der Konsument sich im Zeitraum t-t0 auf die Suche nach einem besseren Preis begeben, wobei dann p’t eine Funktion des Suchaufwandes wäre. Die Kosten für die Suche seien C. Diese Kosten können gesenkt werden, wenn die Suche in der Periode weniger häufig erfolgt, wenn sich also der Konsument „traditional“ verhält. Je länger diese Periode des Abwartens, um so höher sei der dann gezahlte Preis pt im Vergleich zum „günstigsten“ Preis p’t. Entsprechend verfällt mit der Länge der Periode des Abwartens die Annäherung des gezahlten an den minimalen Preis. George J. Stigler und Gary S. Becker zeigen, daß der Konsument über den Preis des Gutes wie gleichzeitig über die Suchkosten dann minimiert – also: seinen Nutzen maximiert –, wenn die folgende Bedingung erfüllt ist: r = 2C/d*p’. Dabei ist r die Anzahl der Käufe in einer Periode ohne weitere Suche nach einem besseren Preis; also: ein Maß für den Verzicht auf das Maximizing, für ein traditionales Konsumentenverhalten also. Nach dieser Minimierungsbedingung nimmt r mit steigenden Suchkosten C, mit sinkendem Bestpreis p’ und mit der sinkenden Erwartung d zu, daß sich die Suche lohnt, weil die Preise ja doch nicht steigen. Es wäre also sogar maximierend rational, sich bei hohen Suchkosten und bei geringem und stabilem Preisniveau nicht auf eine dann offensichtlich sinnlose Suche nach dem Minimalpreis zu begeben.
Das traditionale und dumpfen Gewohnheiten folgende Handeln ist also in Wirklichkeit gar keine Abweichung vom Marginalprinzip, sondern viel eher: seine Bekräftigung. Die Optimierung erfolgt nun lediglich über alle Kosten des Handelns – die Such- und Entscheidungskosten C für die „beste“ Lösung 22
George J. Stigler und Gary S. Becker, De Gustibus Non Est Disputandum, in: The American Economic Review, 67, 1977, S.82f.; vgl. auch bereits George J. Stigler, The Economics of Information, in: The Journal of Political Economy, 69, 1961, S. 213-225.
Die Logik der subjektiven Vernuft
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eingeschlossen. Das heißt aber auch: Selbst sehr hohe Such- und Entscheidungskosten „lohnen“ sich unter Umständen – wenn der zu erwartende Ertrag hoch genug ist, oder, was das Gleiche ist, wenn eine wirklich gute Gelegenheit ohne weitere Suche nach ihr zu entgehen droht. Das wäre der Gewinn über den niedrigen Preis p’ als Ergebnis einer Marktanalyse. Aber auch bei hohen Gewinnaussichten muß ein rationaler Akteur noch nicht unbedingt aus der Lethargie erwachen. Es hängt auch davon ab, was er erwarten kann, wenn er nichts tut. Im Modell von Stigler und Becker ist diese default option für den Status quo der (hohe) Preis p. Und es ist davon abhängig, wie wahrscheinlich es ist, daß die Suche nach dem niedrigsten Preis auch erfolgreich ist. Das ist im Modell der Koeffizient d. Die Entscheidung, nicht zu entscheiden In der uns vertrauteren Sprache der WE-Theorie haben die beiden Politikwissenschaftler William H. Riker und Peter C. Ordeshook ein ganz analoges Modell entwickelt.23 Sie werden feststellen, daß wir damit schon gearbeitet haben – bei der Erklärung des Bildungsverhaltens in Abschnitt 6.2 und bei der Analyse der Umstände, unter denen Menschen beginnen, Unsicherheiten zu vermindern in Abschnitt 6.3. Die grundlegende Überlegung von Riker und Ordeshook besteht in der Annahme, daß – vor jedem konkreten Handeln – die Akteure eine Art von innerlicher Filterentscheidung über den Modus ihres Handelns treffen. Der Filter besteht aus zwei groben Alternativen 1 und 2 dieses Modus des Handelns, zwischen denen zu entscheiden ist. Dabei ist 1 der eine Modus: die Handlungsalternative „wähle aus dem Set A von Alternativen“. A bildet dabei den Set an Handlungsalternativen 1, 2,...,i,...n, wie er bisher für den Akteur immer in vergleichbaren Situationen nur in Betracht kam. In A ist die bislang bewährte und routinemäßig bevorzugte Handlungssequenz i enthalten. Es sei dann A’ der Set, der um eine Alternative n+1 erweitert ist. Die Alternative 2 ist der andere Modus: die innere Entscheidung, auf die Suche nach einer „besseren“ Alternative n+1 zu gehen. Es geht also bei den beiden Modi um die Entscheidung, mehr oder weniger Aufmerksamkeit für eine neue Alternative aufzuwenden, von deren Existenz der Akteur zwar im Prinzip weiß oder die er wenigstens vermutet, die er aber noch nicht genau kennt und jetzt erst einmal erkunden müßte.
Der erwartete Nutzen aus dem ersten Modus, der Beibehaltung des RoutineSets (1), ist einfacherweise der Nutzen aus der habitualisierten Reaktion i. Es ist der Nutzen des Status quo. Er tritt (subjektiv) mit Sicherheit ein. Die Ent23
Vgl. William H. Riker und Peter C. Ordeshook, An Introduction to Positive Political Theory, Englewood Cliffs, N.J., 1973, S. 21f.; wir folgen in der Notation des Beispiels den Autoren.
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Situationslogik und Handeln
scheidung für den zweiten Modus, die Suche nach einer besseren Alternative (2), setzt sich aus drei Komponenten zusammen: die (subjektive) Erwartung p, eine zu i „bessere“ Alternative mit dem Nutzen U(n+1) auch tatsächlich zu finden; die mit der komplementären Wahrscheinlichkeit dazu (1-p) gewichtete Nutzenerwartung für die habitualisierte Reaktion U(i); und die mit der Wahl von 2 mit Sicherheit auftretenden Suchkosten C. Die EU-Gewichte für die Wahl einer der beiden groben Alternativen 1 bzw. 2 lauten nach den geschilderten Annahmen dann so: EU(1) = U(i); EU(2) = pU(n+1) + (1-p)U(i) – C Das Modell erlaubt nun präzise Angaben über die Bedingungen, wann ein Akteur den Modus seines Tuns wechseln würde. Etwa: Wann er von den eingetretenen Pfaden eines Status quo abzuweichen und seine Aufmerksamkeit auf neue Möglichkeiten zu lenken beginnt. Eine solche Abweichung findet nach den Regeln der WE-Theorie natürlich solange nicht statt, wie gilt: EU(1)>EU(2). Daraus ergibt sich ausgeschrieben: U(i) > pU(n+1) + (1-p)U(i) – C. Und dann lautet die Bedingung für die Beibehaltung des ersten Modus, für die Unterdrückung der Aufmerksamkeit und für den Verzicht auf die Suche nach weiteren Informationen: U(n+1) – U(i) < C/p. Drei grundlegende Variablen enthält das Modell: den Anreiz zur Änderung des Modus U(n+1)-U(i), die Erwartung p, daß die Änderung des Modus erfolgreich sein wird, und die Kosten C der Informationsbeschaffung bzw. der inneren Aufwendungen für die Aufmerksamkeit. Sie alle drei variieren unabhängig voneinander. Beachten Sie auch die Ähnlichkeit der Beziehungen zwischen diesen drei Variablen mit dem Ergebnis in dem Modell von Stigler und Becker für die Bedingungen eines „traditionalen“ Konsumentenverhaltens oben, wonach die Anzahl der Käufe r in einer Periode ohne weitere Suche nach einem besseren Preis gemäß der Bedingung 2C/d*p’ mit den Kosten der Suche ansteigt und mit dem zu erzielenden besseren Preis sowie mit der Erfolgserwartung für die Suche danach absinkt.
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Situationslogik und Handeln
wenn die Verläßlichkeit und die Attraktivität der Alternative wieder deutlich absinken, „regrediert“ der Akteur zum „alten“ Modus der Routine.
Unabhängig von der Variation in U(n+1)-U(i) und p können natürlich auch die Kosten C steigen oder sinken. Im Diagramm haben wir eine Erhöhung der Kosten auf C’ eingezeichnet. Der Effekt ist klar: Mit der Zunahme der Kosten kann ein Wechsel des Modus von der Routine auf die Aufmerksamkeit, der zuvor stattgefunden hätte, unterbunden werden. Die Effekte der Kostenänderung sind am deutlichsten bei hohen Werten von p. Anders gesagt: Wenn die Suche nach neuen Möglichkeiten ohnehin unattraktiv ist oder wenig Erfolg verspricht, machen auch hohe Suchkosten nichts aus. Sie werden aber wichtig, wenn alle anderen Umstände dafür günstig sind: die Anreize des Neuen und die Wahrscheinlichkeit des Sucherfolges – wie beim Punkt S’’’. Versprechungen und Drohungen Das Modell kann für alle möglichen Entscheidungssituationen angewandt werden, in denen es um einen Wechsel von einem sicheren, aber relativ schlechten Status quo zu einem riskanten, aber besseren anderen Zustand geht. Beispielsweise: beim Vertrauen auf eine Versprechung oder bei der Abweisung von Drohungen. Einem Versprechen kann man mit Vertrauen folgen oder nicht. Folgt man nicht, bleibt es beim Status quo. SQ sei der Ertrag, den man erhält, wenn der Versprechung nicht gefolgt wird und alles beim alten Zustand bleibt. P sei der (Mehr-)Ertrag, der winkt, wenn man sich auf die Versprechung einläßt. Die Glaubwürdigkeit des Versprechens sei wieder p. C seien die Kosten, die entstehen, wenn man dem Versprechen folgt – später zu zahlende Gegenleistungen oder eine als unangenehm empfundene Verpflichtung dem Versprechenden gegenüber. Die Gleichungen für die Entscheidung, dem Versprechen zu vertrauen (t) oder nicht (m), lauten dann: EU(m) = SQ EU(t) = pP + (1-p)SQ – C. Die Übergangsbedingung vom Mißtrauen in das Versprechen auf das Vertrauen ist folglich: P-SQ > C/p.
Die Logik der subjektiven Vernuft
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Versprechungen „wirken“ nach dem Modell also nur, wenn sie einigermaßen glaubhaft sind, wenn sie sich gegenüber dem mißtrauischen Status quo lohnen und nicht allzu viel an Folgekosten mit sich bringen. Sind diese Bedingungen nicht erfüllt, werden sie ignoriert. Ganz analog „wirken“ Drohungen. Eine Drohung bedeutet: Es ist Gefahr im Anmarsch, und wenn ich der Drohung nicht glaube und sie in den Wind schlage, dann passiert vielleicht etwas Schlimmes. Der Wert des Zustandes ohne die weitere Beachtung der drohenden Gefahr sei wieder mit SQ bezeichnet. T umfasse die Stärke der Schädigung beim Eintreffen der angedrohten Tat, und p die Glaubwürdigkeit der Drohung. Die Vorsicht vor der Drohung bedeute auch sichere Kosten C – etwa die Prämie einer Versicherung oder der schlichte Aufwand, jetzt aufpassen zu müssen. Bei Vorsichtsmaßnahmen vor der Drohung – mit den Kosten C – sei der Nutzen SQ nicht gefährdet, wohl aber beim Ignorieren der Gefahr oder Drohung. EU(t) sei dann die Nutzenerwartung für den Fall, daß die Gefahr ignoriert wird, EU(c) für den Fall, daß sie beachtet und ihr begegnet werde. Dann gelten die folgenden Nutzenerwartungen: EU(t) = SQ – pT; EU(c) = SQ – C. Die Bedingung für das Ignorieren der Gefahr bzw. der Drohung ist wieder EU(t)>EU(c). Und entsprechend gilt: SQ – pT > SQ – C pT > C. Und daraus ergibt sich wieder die inzwischen vertraute Ungleichung: T > C/p. Einer drohenden Gefahr wird somit nach den gleichen Regeln keinerlei Aufmerksamkeit geschenkt wie Versprechungen oder neuen Möglichkeiten: Die Bedrohung muß eine gewisse Stärke T haben, sie muß mit einem nicht zu niedrigen p einigermaßen glaubhaft oder wahrscheinlich sein, und die Vorsichtsmaßnahmen auf die Bedrohung C dürfen nicht zuviel kosten.
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Situationslogik und Handeln
Der rationale Verzicht auf die Aufmerksamkeit Stets geht es im Grunde also um die gleiche Angelegenheit: Soll ein vernünftiger Akteur sich um bestimmte Dinge in seiner Umgebung überhaupt kümmern? Soll er sich anstrengen, seine Aufmerksamkeit aktivieren und die Sache „rational“ nach der Art des Maximizing angehen? Oder kann es beim sparsamen, aber unter Umständen weniger ertragreichen, Modus der automatischunreflektierten Reaktion des satisficing bleiben? Der besondere Verlauf der Abweichungsschwelle sorgt in allen diesen Fällen dafür, daß unwahrscheinliche und/oder unwichtige Alternativen überhaupt nicht beachtet werden. Das ist schon eine sehr beträchtliche Erleichterung des Alltagshandelns. Wenn es aber ernst wird, ist eine Abweichung von der behäbigen Ruhe der Routine jederzeit möglich. Die wichtigste soziale Folge der „rationalen“ Unterdrückung von Aufmerksamkeit ist die Entstehung von Trägheiten und von Verläßlichkeiten des Handelns, weil jetzt eben nicht auf jede kleine Änderung maximierend, hektisch und opportunistisch reagiert wird.
William H. Riker und Peter C. Ordeshook wollten mit ihrem Modell zeigen, daß das von Herbert A. Simon als grundlegende Alternative zum Maximizing vorgeschlagene Konzept des Satisficing lediglich ein Spezialfall der einfachen Theorie des rationalen Handelns ist: „To refuse to search (that is, merely to satisfy) would be to reject what is known to be better for what is known to be worse. Certainly Professor Simon is not asking for this, because even in his terms it is irrational to reject better for worse. As an irrationality, satisficing cannot be expected to occur.“ (Riker und Ordeshook 1973, S. 23)
Das kann wohl nicht bestritten werden. Riker und Ordeshook fügen ihrer Kritik am Konzept des satisficing von Simon einen bemerkenswerten Satz an: „Hence, we are back to our original point: unless we ask decision makers to play God, maximizing and satisficing are the same thing.“ (Ebd.)
Damit meinen sie: Woher können die Akteure denn eigentlich wissen, wie hoch der Wert der besseren Alternative n+1 im Set des Modus 2 ist? Und wie kommen sie eigentlich auf die Schätzung der Erfolgswahrscheinlichkeit p? Müßten sie dazu nicht allwissend sein? Und das sind die irdischen Menschen ja sicher nicht. Wir sind damit wieder an dem Punkt angelangt, der uns bereits im Zusammenhang mit der Paradoxie von Ellsberg und dem Problem der Unsicherheit beschäftigt hat (vgl. Abschnitt 7.3 und 8.2): Oft wissen die Menschen tatsächlich nicht einmal das Risiko ihres Tuns. Gleichwohl haben sie gewisse Anhaltspunkte für bestimmte Ahnungen darüber. So ist zwar der Wert des Status quo wohl stets bekannt. Aber auch, wenn man sonst nichts weiß, gibt es mehr oder weniger sichere Vermutungen darüber, daß es irgendwo eine Alternative mit einem minimalen besseren Wert als den Status quo geben mag: Etwas Besseres als den Tod finden wir überall –
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das wußten die Bremer Stadtmusikanten ziemlich sicher. Nur nicht: Wo und was mit welchem maximalen Wert auf der nach oben offenen Nutzenskala.
Gott wäre in diesen Fällen in der Tat nicht unsicher. Er würde das objektiv zutreffende Risiko und die beste Alternative kennen. Die Menschen sind immer über die Dinge besonders unsicher, die sie nicht unmittelbar sehen und erleben. Gleichwohl stellen sie ihre Vermutungen an: Sie schätzen mögliche Werte und Erwartungen und lassen dabei – je nach Vorwissen oder Hinweisen in der Situation – unterschiedliche Gradabstufungen der Ambiguität zu. Meist reichen diese vagen Vermutungen nicht aus, um sie aus der Ruhe zu bringen. Aber wenn es ihnen richtig schlecht geht oder wenn sie ahnen, daß ihnen viel entgeht, wenn sie jetzt nicht aufpassen, dann wird auch der Bequemste seinen Hintern erheben und beginnen, sich Gedanken zu machen. Es sei denn, die Erfolgsaussichten sind immer noch zu gering und/oder die Kosten der Suche nach der besseren Lösung auch jetzt noch entschieden zu hoch. Framing? Das Ergebnis des Experimentes von Amos Tversky und Daniel Kahneman über die asiatische Grippe (vgl. die Abschnitte 7.2 und 8.2) hat selbst viele Ökonomen, die sonst wirklich nur „Nutzen und Kosten“ kennen, sehr beeindruckt: Daß die sprachliche Formulierung eines Entscheidungsproblems alleine schon so wichtig sein kann, und daß alles offenbar auf das Setzen eines Referenzpunktes ankommt – das ist schon eine ernste Herausforderung an die einfache Nutzentheorie. Zwei Erklärungen sind für den Framing-Effekt vorgeschlagen worden. Erstens scheint die Beziehung zwischen objektiven Werten und dem subjektiv empfundenen Nutzen – etwa von Geld – nicht linear zu sein. Bei Gewinnen gibt es offenbar einen abnehmenden Grenznutzen und bei Verlusten – ganz ähnlich – einen abnehmenden Grenzschaden. Und das führt dazu, daß die Menschen, wenn es um Gewinne geht, vorsichtiger reagieren und bei drohenden Verlusten risikofreudiger werden (vgl. dazu auch noch Abschnitt 8.4). Zweitens könnte die unterschiedliche Reaktion auf die Worte „retten“ und „sterben“ etwas mit der Aktivierung von Werten, Normen und kulturellen Modellen zu tun haben: 200 schon vor dem Tode Gerettete setzt man – in unserem Kulturkreis jedenfalls – nicht mehr einem erneuten Risiko aus. Und wenn es ums Sterben geht, dann sollte jeder noch eine Chance haben.
Beide Erklärungen sind etwas gequält, wenngleich vielleicht nicht falsch: Handeln findet immer in einem Bezugsrahmen statt; und an dem Gesetz des abnehmenden Grenznutzens oder Grenzschadens ist sicher auch etwas Wahres. Auf jeden Fall aber sieht die herkömmliche Nutzen- bzw. WE-Theorie mit den Ergebnissen von Tversky und Kahneman und mit den Deutungen der Ergebnisse ganz alt aus: Mindestens das Axiom der Unabhängigkeit ist gravie-
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Situationslogik und Handeln
rend verletzt. Amos Tversky und Daniel Kahneman haben dann auch versucht, eine alternative Theorie zu entwickeln: die Prospect Theory (vgl. auch dazu noch Abschnitt 8.4). Sie ändert die WE-Theorie in wichtigen Punkten – und wird dadurch viel komplizierter. Allein wegen des Verlustes an Eleganz und Einfachheit ist es für eine Theorie aber immer besser, eine auftretende Anomalie im Rahmen ihrer herkömmlichen Annahmen zu beseitigen und möglichst wenig daran zu ändern. Und noch schöner wäre es, wenn sich zeigte, daß die Anomalie das Ergebnis eines „Fehlers“ nicht der Theorie, sondern der Experimentalanordnung war. Haben Tversky und Kahneman einen solchen Fehler gemacht?24 Zunächst muß auf eine wichtige Unterscheidung in den Vorgaben der Programme hingewiesen werden: die sprachliche Präsentation der Programme als Gewinn oder Verlust mit den Worten „retten“ und „sterben“; und das substantielle Ergebnis als positiv oder negativ in erwarteten Anzahlen von Überlebenden und Opfern. Schon bei der Schilderung der Anordnung des Experimentes in Abschnitt 7.2 war aber aufgefallen, daß die Vorgaben für die Versuchspersonen, mit denen sie die Erwartungswerte zu „berechnen“ hatten, unvollständig waren. Teilweise wurde ihnen explizit und vollständig gesagt, was mit den Programmen zu erwarten ist, teilweise mußten sich die Versuchspersonen den Rest erschließen. Eigenartigerweise gab es diese Unvollständigkeit in den Vorgaben immer nur für die „sichere“ Alternative (A oder C). Und es gab sie in einer merkwürdigen Asymmetrie: In der Gewinn-Formulierung (mit „retten“ als Vorgabe) wurde das negative Ergebnis ausgelassen, die Anzahl derjenigen nämlich, die sicher nicht überleben würden. Und in der Verlust-Formulierung (mit „sterben“ als Vorgabe) das positive Ergebnis, die Anzahl derjenigen also, die sicher überleben würden. Wenn man die von Tversky und Kahneman vorgelegten Vorgaben systematisch unter die Dimensionen Gewinn/Verlust-Formulierung und positive/negative Ergebnisse in der jeweils zu erwartenden Anzahl von Überlebenden ordnet, werden die Unvollständigkeit und die Asymmetrie deutlich (vgl. Abbildung 8.3).
24
Die folgenden Überlegungen folgen einem Forschungsbericht von Volker Stocké. Volker Stocké, Relative Knappheiten und die Definition der Situation. Die Bedeutung von Formulierungsunterschieden, Informationsmenge und Informationszugänglichkeit in Entscheidungssituationen: Ein Test der Framinghypothese der Prospect-Theory am Beispiel des ‚asian disease problem‘. Zwischenbericht des Forschungsvorhabens „Zum Framing von Entscheidungssituationen“ (Universität Mannheim), Mannheim 1996, S. 19ff.; Volker Stocké, Framing oder Informationsknappheit? Zur Erklärung der Formulierungseffekte beim Asian-Disease-Problem, in: Ulrich Druwe und Volker Kunz, Anomalien in der Handlungsund Entscheidungstheorie, Opladen 1998, S. 197-218; vgl. zur allgemeinen theoretischen Einordnung der Überlegungen in das Problem der Unsicherheit bereits Abschnitt 7.3.
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Die Logik der subjektiven Vernuft
Frame Ergebnis
Gewinn positiv
Verlust negativ
positiv
?
negativ
Programm A/C
mit p=1 200 Überlebende
?
B/D
mit p=1/3 600 Überlebende
mit p=2/3 0 Überlebende
mit p=2/3 0 Überlebende
mit p=0 400 Überlebende mit p=2/3 600 Überlebende
Abb. 8.3: Die Versuchsanordnung beim „Asian-Disease“-Problem von Tversky und Kahneman
Es ist zu sehen, daß bei den „sicheren“ Programmen ein Teil der Ergebnisnennung fehlt: im Gewinn-Frame (Programm A) die explizite Nennung des zu erwartenden negativen Ergebnisses, daß eben sicher 400 Personen nicht überleben werden; und im Verlust-Frame (Programm C) die explizite Nennung des positiven Ergebnisses, daß es sicher 200 Überlebende geben wird. Die fehlenden Nennungen sind durch Fragezeichen gekennzeichnet. Für die „riskanten“ Programme waren dagegen alle nötigen Informationen vollständig aufgeführt.
Die einfache WE-Theorie geht davon aus, daß sich der gottähnliche homo oeconomicus die fehlende Information einfach selbst erschließt – und dabei keinen logischen Fehler macht. Was aber geschieht, wenn die Menschen nicht ganz gottgleich sind und bei der internen Berechnung der EU-Gewichte bei den fehlenden Angaben doch – und seien es noch so kleine – Fehler machen? Wie sähe ein solcher Fehler aber jeweils aus? Die zu ergänzenden richtigen Angaben wären im ersten Fall (Programm A, Gewinn-Frame, negatives Ergebnis) der Halbsatz „ ... und 400 Personen werden nicht gerettet.“; und im zweiten Fall (Programm C, Verlust-Frame, positives Ergebnis) der Halbsatz „200 Personen werden nicht sterben, und ... .“ (vgl. Abschnitt 7.2 dazu bereits). Statt der Fragezeichen müßte also für Programm A eingetragen werden: „mit p=0 400 Überlebende“, und für Programm B: „mit p=1 200 Überlebende“. Das steht aber nicht explizit da. Die Versuchspersonen müssen sich die fehlenden Werte für die Wahrscheinlichkeiten p und für die Zahl der Überlebenden selbst erschließen. Wir wollen optimistischerweise davon ausgehen, daß sie nur Fehler bei der Schätzung der Wahrscheinlichkeiten p machen und die auch explizit fehlende Anzahl der Überlebenden richtig erschließen.
Welche Fehler in dieser Schätzung von p sind nun zu erwarten, wenn sie denn gemacht werden? Zunächst ist festzuhalten, daß es Wahrscheinlichkeiten grö-
336
Situationslogik und Handeln
ßer eins und kleiner null ja nicht geben kann. Bei den Programmen A und C geht es aber genau um das Erschließen dieser beiden Spezialfälle des Risikos – der Sicherheit: In Programm A gibt es in dem nicht genannten Halbsatz ein p von 0 für 400 Überlebende und in Programm B in dem nicht genannten Halbsatz ein p von 1 für 200 Überlebende. Folglich ergibt sich schon für die bloße Möglichkeit eines Fehlers in den beiden Varianten eine interessante Asymmetrie: Wenn überhaupt Fehler gemacht werden, dann muß die erschlossene Wahrscheinlichkeit dafür, daß 400 Personen überleben, in Programm A größer als null sein. Und entsprechend muß die Wahrscheinlichkeit dafür, daß es 200 Überlebende gibt, in Programm B kleiner als eins geschätzt werden. Den Fehler bei der Schätzung von p kann man mit einem Diskontierungfaktor d – mit 0 d 1 – ausdrücken. Um diesen Faktor werde die Schätzung des nicht genannten „richtigen“ Wertes von p=0 im zweiten Halbsatz für das Programm A verzerrt. Die Verzerrung um den Faktor d muß dort – wie gesagt – positiv sein, weil p nicht kleiner als null werden kann. In ganz analoger Weise werde die Schätzung des nicht genannten „richtigen“ Wertes von p=1 im ersten Halbsatz für das Programm C verzerrt. Hier muß – wie ebenfalls schon festgestellt – die Verzerrung negativ sein, weil es Werte kleiner eins für p nicht gibt. Der Diskontierungsfaktor für das Gewinn-Programm A sei mit dg, der für das Verlust-Programm B mit dl bezeichnet. Für Programm A wird also, wenn ein Fehler gemacht wird, statt p=0 für 400 Überlebende eine geschätzte Erwartung von 0+dg gebildet. Und für Programm C analog statt p=1 für 200 Überlebende eine geschätzte Erwartung von 1-dl.
Schreibt man nun nach diesen Überlegungen (analog zu Abschnitt 7.2 zu den ursprünglichen EU-Gewichten für die vier Programme mit der Anzahl der jeweils Überlebenden und den entsprechenden Wahrscheinlichkeiten dafür) die Gleichungen für die EU-Gewichte der vier Programme unter Berücksichtigung des Fehlers d noch einmal vollständig auf, dann ergibt sich: EUA = 1*200 EUB = (1/3)600 EUC = (1-dl)*200 EUD = (1/3)600
+ (0+dg)*400 + (2/3)0 + 0*400 + (2/3)0
> 200 = 200 < 200 = 200
Nach der vorgeschlagenen Erklärung ist also theoretisch zu erwarten, daß das Programm A dem Programm B, und das Programm D dem Programm C vorgezogen wird – wenn nur der kleinste Fehler bei der Schätzung der nicht genannten Wahrscheinlichkeit p auftritt. Und genau so haben die Versuchspersonen auch empirisch reagiert: Sie haben, wie Sie oben in Abschnitt 8.2 lesen konnten, in der Gewinnversion mit 72% dem Programm A vor B den Vorzug gegeben und in der Verlustversion mit 78% dem Programm D vor C. Das taten sie aber nach den hier berichteten Überlegungen nicht, weil sie von Wor-
Die Logik der subjektiven Vernuft
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ten verführt worden sind, sondern weil in der Experimentanordnung bei Tversky und Kahneman – zufälligerweise? – beim „retten“ die Angaben für die Sterbenden fehlten und beim „sterben“ die für die Geretteten; und weil die Versuchspersonen sich im Erschließen dieser fehlenden Angaben etwas geirrt haben. Vieles spricht also dafür, daß die von vielen so umjubelte „Präferenzumkehr“ im Experiment von Tversky und Kahneman keine Folge des sprachlichen und kulturellen Framing war, sondern eines schlichten Fehlers beim Erschließen nicht explizit vorhandener Informationen – und einer, an sich unverständlichen, Nachlässigkeit in der Experimentanordnung. Wenn wir jetzt noch berücksichtigen, daß es sich für rationale Akteure nicht immer lohnt, zu rechnen, und daß die (studentischen) Versuchspersonen keinen Grund hatten, wirklich genau nachzudenken, dann können die Ergebnisse von Tversky und Kahneman wohl kaum als Widerlegung der WE-Theorie gewertet werden. Im Gegenteil! Im Zusammenhang der Untersuchungen von Volker Stocké wurden entsprechend den theoretischen Überlegungen folgerichtig auch Vorgaben mit vollständigen und symmetrischen Angaben vorgelegt. Außerdem wurde eine unvollständig symmetrische Version getestet, bei der bei allen vier Programmen jeweils ein Teil der Angaben systematisch symmetrisch fehlte. Die hier vorgeschlagene Erklärung über die Auswirkung von Fehlern bei unvollständiger Information sagte für alle Experimente dieser Art, bei denen entweder alle nötigen Informationen explizit genannt werden oder in denen das Fehlen von Informationen genau symmetrisch ist, voraus, daß es dann keine „Framing“-Effekte mehr geben dürfe. In allen Experimenten mit dieser Anordnung verschwanden dann auch die Antwortunterschiede für die Programme und die Effekte des sprachlichen „Framing“ vollständig (vgl. Stocké 1996, S. 48ff.).
Eine Theorie, die in Schwierigkeiten gekommen ist, steht um so glänzender da, wenn es ihr bei einer Anomalie nicht nur gelingt, die Anomalie als einen Kunstfehler bei der Experimentalanordnung zu entlarven, sondern darüberhinaus mit ihrer Hilfe Vorhersagen machen kann, wie man sogar analoge „Anomalien“ künstlich erzeugen kann. Wenn die theoretischen Überlegungen von Volker Stocké nämlich stimmen, dann müßte es sogar zu einer Umkehrung des Framing-Effektes à la Tversky und Kahneman kommen, sofern die Asymmetrie in den fehlenden Vorgaben gegenüber dem Original umgekehrt wird. Nun müßte in der Gewinn-Version A der Hinweis auf die 200 mit einem p von eins überlebenden Personen fehlen, und es ist dafür explizit davon die Rede, daß es mit einem p von null 400 Überlebende gibt. Analog wird nun in der Verlust-Version B explizit von 200 sicher Überlebenden (p=1) gesprochen, es fehlt aber nun hier die Angabe, daß es mit einem p von null 400 Überlebende gebe. Die Aufstellung über die in den Vorgaben gebotene Ergebnisinformation von Wahrscheinlichkeiten und Angaben über Überlebende sieht in der „Umkehr“-Version also so aus:
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Situationslogik und Handeln
Frame Ergebnis
Gewinn positiv
Verlust negativ
positiv
mit p=0 400 Überlebende
mit p=1 200 Überlebende
mit p=2/3 0 Überlebende
mit p=2/3 0 Überlebende
negativ
Programm A/C
B/D
?
mit p=1/3 600 Überlebende
?
mit p=2/3 600 Überlebende
Abb. 8.4: Modifizierte Version des „Asian-Disease“-Experimentes mit „gedrehten“ Effekten
Die Formulierungen für die Fragebögen lauteten (auf Deutsch) entsprechend so: Programm A: Programm B: Programm C: Programm D:
Es werden 400 Personen nicht gerettet Es werden mit einer Wahrscheinlichkeit von 1/3 alle gerettet, und mit einer Wahrscheinlichkeit von 2/3 wird niemand gerettet Es werden 200 Personen nicht sterben Es wird mit einer Wahrscheinlichkeit von 1/3 niemand sterben, und mit einer Wahrscheinlichkeit von 2/3 werden alle sterben
Wieder wird angenommen, daß die Versuchspersonen die fehlenden Angaben fehlerhaft ergänzen. Nun wird allerdings beim Programm A von der Sicherheit der 200 Überlebenden der Faktor dg abzuziehen, und entsprechend beim Programm C bei der Erwartung von null für 400 Überlebende der Faktor dl hinzuzufügen sein. Daraus ergeben sich die folgenden EUGewichte: EUA = (1-dg)*200 EUB = (1/3)600 EUC = 1*200 EUD = (1/3)600
+ 0*400 + (2/3)0 + (0+dl)*400 + (2/3)0
< 200 = 200 > 200 = 200
Folglich müßten die Versuchspersonen jetzt in der Gewinnversion das riskante Programm B und in der Verlustversion das sichere Programm C vorziehen – ganz im Gegensatz zu den Ergebnissen von Tversky und Kahneman und der von ihnen entwickelten Erklärung dafür, der sog. Prospect Theory (vgl. dazu noch Abschnitt 8.4).
Empirisch ergab sich bei dieser Vorgabe des Tversky-KahnemanExperimentes die folgende Verteilung (Tabelle 8.2; nach: Stocké 1996, S. 55). Die Fallzahlen waren jeweils ca. 100. Zum Vergleich haben wir auch noch
339
Die Logik der subjektiven Vernuft
Tabelle 8.2: Ergebnis des Framing-Experimentes mit „gedrehter“ Unvollständigkeit der Vorgaben
empirische Ergebnisse Programm
NutzenErwartung
Original
Replikation
„gedrehte“ Replikation
A B
<200 200
72% 28%
50% 50%
32% 68%
C D
>200 200
22% 78%
25% 75%
59% 41%
einmal die Zahlen für das Originalexperiment bei Tversky und Kahneman, sowie das Ergebnis einer genauen Replikation von deren Experimemt aufgeführt. Schon die einfache Replikation von Tversky und Kahneman erbrachte einen geringeren „Effekt“ des Framing; deren deutliches Resultat ist im übrigen von keiner späteren Replikation mehr erreicht worden. Wie die theoretische Erwartung nahelegte, entschieden sich die Versuchspersonen bei der „gedrehten“ Replikation jetzt im Gewinn-„Frame“ mehrheitlich für die riskante Alternative B und im Verlust-„Frame“ für das sichere Programm C. Dieses Ergebnis ist eigentlich sensationell: Keine Rede mehr von Risikoaversion bei Gewinn und von Risikofreudigkeit bei Verlust! Und wo ist der Framing-Effekt geblieben? Und was hatte man sich darüber nicht alles für Gedanken gemacht! Die Resultate sind eine ernste Anomalie für die Hypothesen über das Framing als Anomalie der Nutzentheorie – und ein glänzender Sieg der herkömmlichen WE-Theorie. Aber sie bestätigen gleichzeitig – empirisch wie vor allem theoretisch! – eine andere Vermutung: Menschen sind zwar durchaus rational und folgen, wie man sieht, den Gesetzen der WE-Theorie – wenn sie die dazu nötigen Informationen haben. Aber sie sind – anders als der gottähnliche homo oeconomicus – nur recht unvollkommen in der Lage, sich die fehlenden Informationen zu beschaffen oder durch Nachdenken richtig zu erschließen. Deshalb ist das, was sie konkret sehen, hören, fühlen und besitzen, so wichtig – auch für ihre „rationalen“ Kalkulationen.
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8.4
Situationslogik und Handeln
Subjektive Vernunft und begrenzte Rationalität
Die – gegen-gegenreformatorischen – Ergebnisse in Abschnitt 8.3 sind ein deutlicher Hinweis darauf, daß Menschen nicht grundsätzlich außerstande sind, nach den Regeln der WE-Theorie rational zu handeln, daß nicht alles, was wie eine Anomalie aussieht, auch wirklich eine ist – und daß die Nutzentheorie auch von ihrem unmittelbaren empirischen Gehalt her nicht einfach zu verwerfen ist. Zwei Modifikationen des Göttlichkeitsmodells des homo oeconomicus scheinen aber unumgänglich zu sein: Die Anerkennung der subjektiven Vernunft der Menschen und die ihrer Grenzen der Rationalität. Die erste Modifikation knüpft an das Konzept des subjektiven Sinns eines jeden Handelns nach Max Weber, an das Thomas-Theorem und an die Unterscheidung von Konstruktionen erster und zweiter Ordnung bei Alfred Schütz an (vgl. Kapitel 2 und 6 dazu ausführlich): Es sind die subjektiven Bewertungen und die subjektiven Erwartungen, die das Handeln bestimmen – und nicht die objektiven Werte und Wahrscheinlichkeiten. Kurz: Die WE-Theorie müßte als Theorie der subjektiven Wert-Erwartung formuliert werden. Die zweite Veränderung zieht eine wohl unabweisbare Konsequenz aus den Anomalien und Paradoxien der Nutzentheorie: Menschen sind über die Welt nicht vollständig im Bilde, und die für eine „rationale“ Entscheidung nötigen Informationen sind knapp und nur unter hohem Aufwand zu erlangen. Und im Erschließen fehlender Informationen ohne weitere Hilfe machen die Menschen oft Fehler, gelegentlich ganz entsetzliche sogar. Kurz: Menschen haben keine vollkommene, sondern nur eine sehr begrenzte Rationalität. Herbert A. Simon sprach, wie wir schon aus Abschnitt 8.2 wissen, von der bounded rationality der wirklichen Menschen.
Um die subjektive Vernunft und die begrenzte Rationalität geht es in dem nun folgenden Abschnitt. Dabei soll jedoch nicht vergessen werden: Die Vernunft bleibt stets – wenigstens: auch – eine der Eigenschaften des menschlichen Handelns. Es wird darauf ankommen, die verschiedenen Aspekte der menschlichen Existenz miteinander in Verbindung zu bringen, ihre Grenzen und Unzulänglichkeiten, ebenso wie ihre Fähigkeiten und Begabung zu sinnhaftem und überlegtem Tun. Wie das gehen kann, soll zum Schluß dieses Abschnittes skizziert werden. 8.4.1 Subjektive Vernunft Kaum eine Annahme prägt die soziologischen Vorstellungen über das Handeln mehr als diese: Menschen leben nicht in einer „objektiven“ Umgebung, sondern in einer – symbolisch vermittelten – subjektiven Sinnwelt. Nur diese ist für das Denken, Fühlen und Handeln wichtig. Jedes Handeln ist daher alleine vom subjektiven Sinn geprägt, den der Akteur damit verbindet. Es sind eben nicht die objektiven Werte und Wahrscheinlichkeiten, die sein Tun be-
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stimmen, sondern seine subjektiven Ziele und subjektiven Alltagstheorien, wie sich diese Ziele erreichen lassen. In Kapitel 6 haben wir bereits gesehen, daß die Subjektivität des Handelns dessen „objektive“ und kausale Erklärbarkeit nicht ausschließt. Der praktische Syllogismus war ein Beispiel dafür, wie das gehen kann: Es müssen die „tatsächlichen“ subjektiven Vorstellungen und Bewertungen der Menschen in die Randbedingungen der Handlungserklärung eingehen – und nicht einfach die „objektiven“ Werte und Wahrscheinlichkeiten. Alfred Schütz hatte diesen Unterschied mit seinem Konzept von den Konstruktionen erster und zweiter Ordnung und Anthony Giddens mit seinem Hinweis auf die doppelte Hermeneutik der Sozialwissenschaften betont. Und William I. Thomas hatte eine Hypothese darüber entwickelt, woher die subjektiven Ziele und Vorstellungen kommen: aus der Definition der Situation. In dieser Allgemeinheit kann das alles nicht bestritten werden. Aber auch das gilt dann: Die Regel zur Selektion des Handelns bleibt auch mit der Subjektivierung die gleiche: Maximierung. Der einzige Unterschied ist, daß nun auf der Grundlage von subjektiven Bewertungen und Erwartungen maximiert wird. Kurz: Es ändern sich mit der Subjektivierung die Randbedingungen in der Nutzentheorie, nicht aber die Selektionsregel.
So weit, so gut. Im Zusammenhang mit der Diskussion des Thomas-Theorems waren wir aber auch schon auf ein ärgerliches Problem gestoßen: Wie will man der Willkürlichkeit begegnen, mit der den Menschen ihre subjektiven Ziele und Überzeugungen untergeschoben werden können, wenn die objektiven Umstände nicht die relevanten Randbedingungen sind? Das Konzept der sozialen Produktionsfunktionen war ein Versuch, die Subjektivität des Handelns zu „objektivieren“ und so die Beliebigkeit des Konzeptes der Definition der Situation einzugrenzen: Die subjektiven Ziele und Überzeugungen der Menschen folgen den objektiven institutionellen und kulturellen Gegebenheiten. Die aber sind relativ leicht, auch von einem externen Beobachter, feststellbar. Die Formulierung von Brückenhypothesen ist nichts anderes als das. Das St. Petersburg Paradox Die Entdeckung der Subjektivität der Gründe des Handelns ist beileibe keine Erfindung der Soziologen gewesen. Die statistische Entscheidungstheorie ist selbst bald auf das Problem gestoßen. Dabei ging es aber um etwas anderes als um die kulturellen und institutionellen Variationen in den Zielen und Vorstellungen, in den Weltbildern und Sinnwelten der Menschen. Es ging um die Feststellung von „universalen“ Abweichungen zwischen den objektiven Werterwartungen, etwa für Lotterien, bei denen es etwas zu gewinnen gab, oder für unangenehme seltene Ereignisse, gegen die man sich versichern könnte. Die Entdeckung des sog. St. Petersburg Paradoxons war einer der Anlässe, über den Unterschied zwischen objektiver Wert-Erwartung und subjektiven Nutzen-Erwartungen nachzudenken. Es stammt von dem Statistiker Daniel Ber-
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noulli (1700-1782), einem der Erfinder der WE-Theorie (vgl. Abschnitt 7.1 dazu bereits).25 Bei dem St. Petersburg-Spiel soll der Akteur eine sog. mehrstufige Lotterie beurteilen. Es geht um eine faire Münze mit 50% Wahrscheinlichkeit für Kopf oder Zahl. Bei Zahl erhält der Spieler, sagen wir, zwei DM, bei Kopf wird die Münze noch einmal geworfen. Kommt die Zahl im zweiten Spiel, gewinnt der Spieler 22=4 DM. Kommt wieder Kopf, wird die Münze wieder geworfen – und so weiter. Der objektive Erwartungswert EV für die Lotterie ist dann: EV = 0.5*2 DM + 0.25*4 DM + 0.125*8 DM + ... . = (0.5)i*2i DM = unendlich. Der objektive Erwartungswert für das St. Petersburg-Spiel ist also unendlich. Wenn man einem Spieler 1 Million DM sicher anbieten würde, müßte er dennoch die Lotterie wählen, weil unendlich ja unendlich viel mehr ist als 1 Million. Was würden Sie aber wohl tun, wenn ihnen bei einem solchen Spiel 1 Million DM angeboten würde? Wahrscheinlich dies: Sofort die Million nehmen und raus aus dem Spielsalon! In Experimenten geben Studenten das St. Petersburg Spiel meist schon für 20 DM ab.
Das St. Petersburg Paradox ist offensichtlich wieder ein Fall der Risikoscheu und des Besitztumseffektes. Wie könnte man es erklären? Subjektive Bewertungen: Von der EV- zur EU-Theorie Daniel Bernoulli schlug eine uns inzwischen recht geläufige Erklärung vor: Zwischen dem objektiven Wert der Auszahlungen in DM und dem subjektiv empfundenen Nutzen, den jede einzelne Mark im Innern des Akteurs stiftet, besteht kein linearer Zusammenhang, sondern ein konkaver: Der subjektiv empfundene Nutzen sinkt mit jeder weiteren Einheit des objektiven Wertes. Anders gesagt: Es gibt einen abnehmenden Grenznutzen. Und dann ist irgendwann ein Zuwachs von „unendlich“ weniger wert als ein bestimmter sicherer Betrag, den ich jetzt bekomme.
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Daniel Bernoulli, Specimen Theoriae Novae de Mensura Sortis, in: Commentarii Academiae Scientiarum Imperialis Petropolitanae, 5, 1738, S. 175-192; übersetzt von Louise Sommer, in: Econometrica, 22, 1954, S. 23-36.
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Welche Nutzenfunktion bei den Menschen zutrifft, ist natürlich eine empirische Frage. Genau darum geht es bei den empirischen Nutzen-„Theorien“: Herauszufinden, welche empirischen Verläufe die Nutzenfunktionen haben und – gegebenenfalls – zu erklären, wann und warum die Menschen unterschiedliche Verläufe „wählen“. Etwa: Wann sie risikoscheu und wann sie risikofreudig werden. Subjektive Erwartungen: Die SEU-Theorie Mit der Subjektivierung des Wertes zum Nutzen wurde aus der EV-Theorie die EU-Theorie. Aber nicht nur die Bewertungen der Menschen weichen von den objektiven Werten ab, auch die Erwartungen. Versicherungen, beispielsweise, „lohnen“ sich vom Standpunkt eines rationalen Akteurs nicht, weil der Erwartungswert jeder Versicherung negativ ist. Die Versicherungen machen ja ihre Gewinne, wie man sieht. Und die holen sie sich über die Prämien. Trotzdem sind die Menschen subjektiv nicht dumm, wenn sie sich gegen seltene, aber schlimme Dinge versichern. Einer der Gründe ist wohl: Sie überschätzen das objektive Risiko beispielsweise für eine Überschwemmung. Mit dieser Überschätzung steigt wegen der höheren subjektiven Wahrscheinlichkeit der Erwartungswert. Und dann lohnt sich plötzlich die Versicherung – aus der Sicht des, im Vergleich zum objektiven Risikos, etwas zu ängstlichen Akteurs. „Objektiv“ lohnt es sich nicht. Und genau das ist das Geschäft der Versicherungen.
Wie bei den Nutzenfunktionen können derartige Abweichungen der personalen subjektiven Erwartungen von den überpersonalen objektiven Wahrscheinlichkeiten für bestimmte Ereignisse auch als Funktion geschrieben werden. Geläufig geworden ist die Gewichtung der objektiven Wahrscheinlichkeiten p mit einem Gewicht w, das die betreffende Abweichung der subjektiven Erwartungen von den objektiven Wahrscheinlichkeiten wiedergeben soll. Also: Die subjektive Erwartung ist gleich w(p). Aus der objektiven Nutzenerwartung wird so eine subjektive Nutzenerwartung. Statt EUi=pij*Uj wird nun SEUi=w(pij)*Uj berechnet. Die EU-Gewichte für die Alternativen werden zu SEU-Gewichten. Die derartig modifizierte Nutzentheorie wird daher auch SEU-Theorie genannt. Frank P. Ramsey war wohl der erste Statistiker, der die Idee der subjektiven Erwartung in die Entscheidungstheorie eingeführt hat. Der Begriff der „personalen“ Wahrscheinlichkeit wurde von Leonard J. Savage popularisiert (vgl. dazu schon Kapitel 7). Und mit Ward Edwards und dessen Konzept der Gewichtungsfunktion w(p) hat das Konzept seinen festen Platz in der Entscheidungstheorie gefunden.26
26
Frank P. Ramsey, Truth and Probability, in: David H. Mellor (Hrsg.), Foundations. Essays in Philosophy, Logic, Mathematics and Economics. F. P. Ramsey, London und Henley
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Welchen genauen Verlauf die Gewichtungsfunktion der subjektiven Erwartungen für die objektiven Wahrscheinlichkeiten hat, ist wieder – wie bei den Nutzenfunktionen – eine empirische Frage. Vieles spricht dafür, daß im Großen und Ganzen die Menschen nicht sehr daneben liegen, wenn sie objektive Wahrscheinlichkeiten einschätzen – sofern sie darüber einigermaßen informiert und nicht vollkommen unsicher sind. Nur für sehr seltene und fast sichere Ereignisse gibt es offenbar deutlichere Abweichungen (vgl. dazu gleich unten mehr im Zusammenhang mit der sog. Prospect Theory). Eines scheint aber auf jeden Fall zuzutreffen: Daß sich die subjektiven Wahrscheinlichkeiten für wechselseitig ausschließende und exhaustive Ereignisse nicht unbedingt zu eins addieren. Die Prospect Theory Der am bekanntesten gewordene Versuch einer „neuen“ WE-Theorie unter Berücksichtigung der „wirklichen“ Verläufe von Nutzen und Erwartungen stammt von den beiden bereits mehrfach angesprochenen Psychologen Daniel Kahneman und Amos Tversky: die von den Autoren so genannte Prospect Theory.27 Die objektiven Werte sind in der Prospect Theory mit x, die objektiven Wahrscheinlichkeiten mit p angegeben. Die Werte x folgen einer Bewertungsfunktion (x), die Wahrscheinlichkeiten p einer Gewichtungsfunktion (p). Der „Wert“ V für eine bestimmte Handlungsoption ist dann: Vi=(pi)*(xi) über alle Folgen i des Handelns. Drei Besonderheiten behauptet die Prospect Theory dann: einen besonderen Verlauf der Bewertungsfunktion, einen besonderen Verlauf der Gewichtungsfunktion für die Wahrscheinlichkeiten und den sog. Reflection Effect. Alle drei Sachverhalte sind in den beiden Abbildungen 8.6a und b enthalten. Wir gehen sie der Reihe nach durch.
1978 (zuerst: 1926), S. 58- 100; Leonard J. Savage, The Foundations of Statistics, New York 1954, S. 27ff.; Ward Edwards, The Theory of Decision Making, in: Psychological Bulletin, 4, 1954, S. 380-417. 27
Daniel Kahneman und Amos Tversky, Prospect Theory: An Analysis of Decision under Risk, in: Econometrica, 47, 1979, S. 263-291; vgl. auch die Zusammenfassung bei Robert P. Abelson und Ariel Levi, Decision Making and Decision Theory, in: Gardner Lindzey und Elliot Aronson (Hrsg.), Handbook of Social Psychology, Band 1: Theory and Method, 3. Aufl., New York 1985, S. 246ff.
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eignissen, die eine Wahrscheinlichkeit von 1 haben. Die Funktion hat aber sowohl bei sehr kleinen wie bei sehr großen Wahrscheinlichkeiten eine Sprungstelle: Sehr kleine Wahrscheinlichkeiten werden überschätzt, sehr große dagegen unterschätzt. Kurz vor null und kurz vor eins ist die Funktion nicht definiert. Kahneman und Tversky vermuten, daß die Entscheider hier gleich auf die „sicheren“ Stellen – null bzw. eins – switchen oder die Wahrscheinlichkeiten entweder unter- oder überschätzen. In einem weiten Bereich verläuft die Gewichtungsfunktion dann fast parallel zu den objektiven Wahrscheinlichkeiten, allerdings im größten Bereich unterhalb der objektiven Wahrscheinlichkeit. Das heißt, daß bei nicht zu seltenen, aber nicht sicheren Ereignissen die Akteure die wirklichen Wahrscheinlichkeiten unterschätzen, ihnen aber gleichwohl folgen. Mit dem Reflection Effect ist gemeint, daß der Wendepunkt der S-förmigen Bewertungsfunktion nicht „objektiv“ festliegt, sondern verändert werden kann – je nachdem, in welchen objektiven Werten die Gewinn- oder Verlustzone definiert ist. „Nutzen“ kann ja als zusätzlicher Gewinn zu einem bereits vorhandenen Besitz oder als Verringerung eines bestehenden Verlustes, und „Schaden“ als verlorener Besitz oder als zusätzlicher Verlust entstehen. Kahneman und Tversky meinen, daß der Wendepunkt der Gewinn- und Verlustzone durch sprachliche Symbole, durch ein semantisches und symbolisches „framing“ also, gesetzt werden könne. Das Experiment über die asiatische Grippe war zum Nachweis dieses Framing-Effektes gedacht: Es ging einmal um „retten“ und „Gewinn“, ein anderes Mal um „sterben“ und „Verlust“. Und die Versuchspersonen reagierten tatsächlich so, wie die Prosepct Theory es nach der Bewertungsfunktion vorhersagt: Sie wurden risikofreudig, wenn es um das Sterben, und vorsichtig, wenn es um das Retten ging (siehe dazu aber auch das Ergebnis in Abschnitt 8.3). Was erklärt die Prospect Theory? Die Verläufe der Funktionen für die subjektiven Bewertungen und Erwartungen wurden von Daniel Kahneman und Amos Tversky nicht irgendwie „theoretisch“ abgeleitet, sondern sind die Zusammenfassung der empirischen Ergebnisse einer Unzahl von Experimenten zur Entscheidung unter Risiko – einschließlich jenes Experimentes über die asiatische Grippe, mit dem wir uns bereits ausführlich beschäftigt haben. Die Annahmen der Prospect Theory sollen vor allem die verschiedenen Anomalien der Nutzentheorie erklären helfen, beispielsweise den Besitztumseffekt, die Versicherung gegen seltene Unglücke, die Teilnahme an Lotterien mit sehr geringen Wahrscheinlichkeiten, aber
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auch sehr großen Gewinnen, und die Umkehrung der Risikoeinstellung mit dem sprachlichen Framing eines Entscheidungsproblems als Gewinn oder Verlust. Mit den Annahmen der Prospect Theory werden derartige Effekte in der Tat erklärbar, der Besitztumseffekt beispielsweise. Der besagt ja, daß Akteure einen sicheren Gewinn einer riskanten Lotterie mit dem gleichen Erwartungswert vorziehen. Die Gewichtungsfunktion für die Erwartungen (Abbildung 8.6b) zeigt, warum das meist so ist: Der sichere Gewinn wird mit eins gewichtet, die riskante Auszahlung aber subjektiv meist mit einem Wert, der unter p liegt. Nur bei sehr kleinen Wahrscheinlichkeiten dreht sich der Effekt um: Jetzt werden die Wahrscheinlichkeiten subjektiv überschätzt. Nun beginnen sich die Menschen Sorgen zu machen und schließen Versicherungen ab. Und es wird auch Lotto gespielt, obwohl man „objektiv“ den Einsatz auch gleich in die nächste Pfütze werfen könnte.
Mit der S-förmigen Nutzenfunktion läßt sich auch leicht die – angeblich – unterschiedliche Risikoeinstellung bei Gewinn oder Verlust ableiten. Wir gehen davon aus, daß einem Akteur G die folgende Lotterie angeboten wird: Er bekommt 100 DM sicher oder aber die 50%-Chance, entweder nur 50 DM zu gewinnen oder 150 DM. Einem anderen Akteur L wird dagegen angedroht, daß er entweder sicher 100 DM verlieren werde, ober aber mit 50% Wahrscheinlichkeit sogar 150 DM oder nur 50 DM verliert. Jeweils vom sicheren Ausgangspunkt – 100 DM Gewinn oder Verlust – aus gerechnet, sind die beiden Lotterien der WE-Theorie nach jeweils vollkommen gleich.
Nach der Prospect Theory müßten sich die beiden Akteure G und L jedoch vollkommen unterschiedlich verhalten: G müßte den sicheren Gewinn mitnehmen, L aber die riskante Option wählen. An der Bewertungsfunktion der Prospect Theory läßt sich leicht zeigen, warum (Abbildung 8.7). Auf der waagerechten Achse sind die objektiven Auszahlungen in DM eingetragen: 50, 100 und 150 DM im Gewinnbereich, –150, –100 und –50 bei den Verlusten. Die senkrechte Achse beschreibt die subjektiven Nutzenwerte. Der Einfachheit halber – und weil es am Ergebnis prinzipiell nichts ändert – nehmen wir einen symmetrischen Verlauf der Nutzenfunktion an. Und sofort wird erkennbar, was geschieht: Durch den konkaven Verlauf der Nutzenfunktion im Gewinnbereich zählt der mögliche Gewinn von zusätzlich 50 DM zu den bereits sicheren 100 weniger als der auch mögliche Verlust an Nutzen, wenn es gegenüber den 100 DM nur 50 DM gibt. Die Differenz a ist kleiner als die Differenz b. Und ganz analog gilt das Gegenteil für den Verlustbereich: Die Verringerung des sicheren Verlustes von 100 DM auf nur 50 DM zählt mehr als die drohende weitere Verschlechterung auf –150 DM. Die Differenz c ist größer als die Differenz d.
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Die Risikoeinstellung ist somit keine besondere „Haltung“ oder „Einstellung“, die zu den Nutzenüberlegungen irgendwie von außen hinzu käme, kein „Typ“ des Handelns und kein mentales Modell, das die Grundregel der Maximierung verändert. Sie ist eine Folge der Gestalt der Bewertungsfunktion bei Gewinnen und Verlusten und der Erwartungsfunktion für Sicherheit und Risiko für das Verhalten selbst. Eine ganz andere Frage ist natürlich, wie es kommt, daß Menschen die gleiche „objektive“ Situation mal als Verlust und mal als Gewinn sehen. Darauf geben Daniel Kahneman und Amos Tversky mit ihrem etwas dunklen Hinweis auf das sprachliche Framing der Entscheidungssituation und den Reflection Effect leider keine weitere Antwort. Ist also vielleicht doch etwas dran am Thomas-Theorem und an der symbolisch gesteuerten Orientierung, die jeder Handlung vorausgeht? 8.4.2 Begrenzte Rationalität In Abschnitt 8.3 hatten wir, wie Sie sich erinnern werden, auf der Grundlage empirischer Ergebnisse eine andere Erklärung der Framing-Effekte von Tversky und Kahneman vorgeschlagen: Wenn Menschen nicht wissen, was Sache ist, dann machen sie Schätzungen – und liegen ohne weitere Hilfe oft sehr daneben. Stehen ihnen die nötigen Informationen dagegen zur Verfügung, dann verhalten sie sich durchaus „rational“ und ohne besondere Beeinflussung durch objektiv irrelevante Aspekte der Situation. Gleichwohl gibt es solche Vorgänge wie das Framing: Ein Fleck auf dem Smoking, das etwas zu schrille Lachen oder ein peinlicher Versprecher verändern die Situation – es sei denn, man wüßte sicher, daß es sich anders verhält. Die Widerständigkeit des Framing gegen Veränderungen in den „objektiven“ Anreizen Ein deutlicher Hinweis darauf, daß das sprachliche Framing auch bei starken Veränderungen der objektiven Situation weiterhin wirksam ist, wurde in einigen weiteren Variationen des Tversky-Kahneman-Experimentes gefunden (vgl. Stocké 1996, S. 56ff.). Dabei wurde die asymmetrisch-unvollständige Originalversion von Tversky und Kahneman beibehalten, weil ja nur bei dieser der Framing-Effekt auftrat. Die Veränderung bestand jetzt darin, daß die objektiven Auszahlungen systematisch variiert wurden. Nun war in der sicheren Gewinn-Version A nicht von sicheren 200 Überlebenden die Rede, sondern von 201, 210, 250 oder gar 300. Entsprechend wurden in der riskanten Verlust-Version jeweils 399, 390, 350 oder nur 300 zu erwartende Opfer genannt. Für die Alternativen B bzw. D blieb dagegen die
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Vorgabe – und damit der Erwartungswert – gegenüber dem Original unverändert. Dadurch verschob sich die objektive Nutzenerwartung schrittweise zugunsten der Alternativen A bzw. C, während vorher ja Indifferenz herrschte. Zu erwarten war jetzt, daß A gegenüber B noch stärker bevorzugt würde. Aber es wäre auch zu erwarten gewesen, daß nun in der Verlustformulierung die riskante Alternative D gegenüber der risikoaversen Alternative C ihren, aus dem sprachlichen Framing hervorgehenden, Vorsprung verlieren müßte, weil sie doch zunehmend erkennbar objektiv die schlechtere ist.
Das Ergebnis der so veränderten Experimente (mit Fallzahlen wieder von ca. 100) steht in Tabelle 8.3. Tabelle. 8.3: Der Einfluß der Veränderung bei den objektiven Auszahlungen im Tversky-Kahneman-Experiment über die asiatische Grippe; jeweils Anteil Entscheidung für Alternative A bzw. C
Anteil Entscheidungen für Alternative A bzw. C Frame
„Gewinn“
„Verlust“
Anzahl von erwarteten Überlebenden
A gegen B
C gegen D
Differenz
72 50 53 55 61 64
22 25 32 36 40 48
50 25 21 19 21 16
200 (Original) 200 (Replikation) 201 210 250 300
Zum Vergleich haben wir in der ersten Zeile noch einmal das Ergebnis des Originalexperimentes bei Tversky und Kahneman und in der zweiten Zeile das der Replikation dieses Experimentes aufgeführt (vgl. auch Tabelle 8.2). Die Ergebnisse mit den veränderten Auszahlungen stehen darunter. Das wichtigste Resultat aber: Es gibt den „Framing“-Effekt weiterhin. Und er bleibt auch erhalten, wenn sich die objektiven Auszahlungen ändern. Die Differenz zwischen sicherer und riskanter Option bei Gewinn- versus Verlustformulierung verringert sich kaum, auch wenn die Anzahl der zu erwartenden Überlebenden auch für C deutlich ansteigt. Ist von „sterben“ die Rede, soll offenkundig niemand so bald ins sichere Verderben geschickt werden, auch wenn sich für alle die Chancen des Überlebens verschlechtern. Allerdings ändert sich die „Basis“ der Entscheidung in die erwartete Richtung: Je mehr Personen „objektiv“
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überleben, um so deutlicher fällt in beiden Varianten, der sicheren wie der riskanten, die Entscheidung zugunsten dieses Programms. Nur eben: Der Unterschied zwischen den Formulierungen als Gewinn und Verlust bleibt – auch bei ganz extremer Verschiebung der objektiven Auszahlung. Offenkundig spielen also bei den Entscheidungen der Menschen tatsächlich nicht nur „Nutzen und Kosten“ und „rationale“ Erwägungen und Berechnungen eine Rolle, sondern – wenigstens: auch – ganz andere Mechanismen: das durch Symbole gesteuerte „Einschalten“ von Modellen des „richtigen“ Handelns in einer Situation, auch ganz gegen die „objektiven“ Anreize und Möglichkeiten. Bounded Rationality Genau dies ist der, in Abschnitt 8.2 bereits angesprochene Ansatzpunkt, den Herbert A. Simon mit dem Konzept der begrenzten Rationalität, der bounded rationality, als Alternative zum Göttlichkeitsmodell der reinen Nutzentheorie vorschlägt. Mit dem Begriff der bounded rationality meint Simon die starke Selektivität und die Begrenztheit des Wissens der Menschen einerseits und ihre nur sehr beschränkten Fähigkeiten zur Aufnahme und Verarbeitung von Informationen andererseits. Das Handeln könne eben wegen dieser Begrenzungen der Maxime des maximizing nicht folgen, sondern begnüge sich – vernünftigerweise – mit dem satisficing. Von Simon stammt in diesem Zusammenhang auch die Unterscheidung von substantieller und prozeduraler Rationalität.28 Damit meinte er, daß eine angemessene Theorie des menschlichen Handelns schon in ihren Prämissen mehr auf die tatsächlichen Fähigkeiten und auf die tatsächliche Vernünftigkeit des Menschen eingehen müsse. Menschen handelten wegen der Grenzen in ihrer Fähigkeit zur Informationsverarbeitung nur in Ausnahmefällen maximierend und so im Sinne der Axiome der Nutzentheorie substantiell rational. Aber sie handelten bei allen ihren Begrenzungen in Wissen und Informationsverarbeitung keineswegs unvernünftig, sondern prozedural rational.
Begrenzte Rationalität heißt dabei also keineswegs, daß die Menschen dumm seien, keinen Verstand hätten oder nicht über die Folgen ihres Tuns nachdenken könnten oder würden. Im Gegenteil: Angesichts der Umstände ihrer Begrenzungen ist dann das, was sie empirisch tun, in hohem Maße verständig und nachvollziehbar – „reasonable“, wie Herbert A. Simon es nennt: „The rational person of neoclassical economics always reaches the decision that is objectively, or substantively, best in terms of the given utility function. The rational person of cognitive
28
Vgl. Herbert A. Simon, From Substantive to Procedural Rationality, in: Spiro J. Latsis (Hrsg.), Method and Appraisal in Economics, Cambridge u.a. 1976, S. 129-148.
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psychology goes about making his or her decisions in a way that is procedurally reasonable in the light of the available knowledge and means of computation.“29
Wir hatten mit der Darstellung einiger Einzelheiten der sog. Informationsökonomie, mit den Besonderheiten des Handelns unter Unsicherheit und mit der Rekonstruktion der Idee des satisficing durch William H. Riker und Peter C. Ordeshook (in Abschnitt 8.3) gesehen, daß das durchaus auch durch die Brille der Nutzentheorie selbst so gesehen werden kann. „Wirkliche“ Entscheidungen Herbert A. Simon geht – in seinen späteren Arbeiten – über die einfache informationsökonomische Interpretation der bounded rationality hinaus. Er skizziert dabei, auf der Grundlage von Ergebnissen und Einsichten u.a. der kognitiven Psychologie und der biologischen Evolutionstheorie, die Umrisse eines Verhaltensmodells, in dem – unter anderem – auch die Frames ihren Platz haben (Simon 1993, S. 27-45). Der Ausgangspunkt ist eine Bestandsaufnahme des „wirklichen“ Entscheidungsprozesses (ebd., S. 27f.). Danach sind erstens die allermeisten Entscheidungen keine besonders weitreichenden Entscheidungen. Der Blick beschränkt sich vielmehr auf meist sehr wenige, spezielle und voneinander als unabhängig angesehene Aspekte. Es werden für die Entscheidungen auch keine umfangreichen Szenarien entwickelt, Wahrscheinlichkeiten geschätzt und mit Präferenzen in Verbindung gebracht. Es gibt vielmehr nur eine ganz generelle Vorstellung über eine grobe Richtung, über einen grundlegenden Stil und über die wichtigen Dinge in der allernächsten Zukunft. Bei der Betrachtung einer Alternative kommen andere Verwendungen der verfügbaren Mittel meist gar nicht in den Sinn. Die Aufmerksamkeit ist ganz auf den einen bestimmten Aspekt fokussiert. Eine übergreifende Nutzenfunktion für alle Aspekte gibt es wahrscheinlich nicht, oder sie spielt zumindest keine systematische Rolle bei den Überlegungen. Schließlich wird – unter Umständen! – ein Teil der Anstrengungen darauf verwendet, Informationen zu sammeln und die „wahren“ Präferenzen herauszufinden. „Unter Umständen“ heißt: Diese zusätzlichen Aktivitäten werden nur bei folgenschweren Entscheidungen stattfinden und dann, wenn Gelegenheit und genügend Zeit dafür ist.
Das zur Nutzentheorie alternative Verhaltensmodell der bounded rationality gibt damit deren wohl problematischste Annahme endgültig auf (Simon 1993, S. 29f.): Daß die Menschen bei ihren Entscheidungen alles – alle Alternativen, alle Wünsche, alle Erwartungen, alle Folgen ihres Tuns – bedenken würden oder gar könnten. Das wäre schon technisch nicht möglich: Die „objektive“ äußere Welt der Menschen ist, wie das All, chaotisch, fast leer und äußerst 29
Herbert A. Simon, Rationality in Psychology and Economics, in: Robin M. Hogarth und Melvin W. Reder (Hrsg.), Rational Choice. The Constrast between Economics and Psychology, Chicago und London 1986, S. 27.
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komplex. Es gibt Myriaden von Variablen, die sich gegenseitig beeinflussen könnten, es aber meist nicht tun. Dagegen ist die subjektive innere Welt der Menschen, ihre Sinnwelt also, strukturiert, ausgefüllt und, bei aller möglichen Vielfalt, einfach. Wirkliche Entscheidungsprobleme sind daher meist relativ simpel, naheliegend und dringend, aber in typischer Weise vorstrukturiert und daher auf eine relativ einfache Weise zu lösen. „Rational“ muß dabei nicht überlegt werden. Das wird erst notwendig, wenn die vorstrukturierten Vereinfachungen nicht mehr greifen – oder wenn plötzlich doch sehr viel auf dem Spiele steht. Aber dann ist es auch vernünftig, nicht bei den einfachen vorfabrizierten Lösungen der bounded rationality stehen zu bleiben, sondern „rational“ nach besseren Lösungen zu suchen. Alfred Schütz hat eine ganz ähnliche Konzeption der Rationalität des Alltagshandelns entwickelt (vgl. dazu noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Das so skizzierte Verhaltensmodell gibt es nicht aus purem Zufall oder aus einem Versehen der Evolution. Im Gegenteil. Es spiegelt eine tiefe Vernunft des ökonomischen Umgangs mit knappen Mitteln wider: die Vernunft, sich in einer nicht einfachen und im Prinzip unfreundlichen Umgebung auf die jeweils nächst-wichtigen Dinge zu konzentrieren und einmal erfolgreiche und erprobte Lösungen zu habitualisieren, sich zu merken und bei der nächsten „passenden“ Gelegenheit wieder hervorzuholen und zu benutzen. Das Verhaltensmodell der bounded rationality entstammt der Welt der frühen Evolution des homo sapiens, der Welt der Höhlenmenschen und ihrer Vorfahren: „In dieser Welt passierte meistens sehr wenig, doch von Zeit zu Zeit mußte etwas unternommen werden, um mit dem Hunger fertigzuwerden, vor Gefahren zu fliehen oder Schutz vor dem kommenden Winter zu finden. Die Rationalität konnte sich auf eines oder wenige Probleme zur gleichen Zeit konzentrieren, in der Erwartung, daß auch für andere, neu auftauchende Probleme genügend Zeit vorhanden wäre.“ (Simon 1993, S. 30; Hervorhebungen nicht im Original)
Eine außerordentlich wichtige Funktion haben bei dieser fallweisen und anlaßbezogenen Konzentration auf ein Problem die Emotionen der Menschen. Emotionen sind unwillkürliche, auch somatische, Reaktionen auf typische Situationen. Sie sind eng mit den grundlegenden Präferenzen und Bedürfnissen verbunden und tief in dem inneren Erlebnis der Nutzenproduktion verankert. Sie sind eine Art von Kurzschluß zwischen der äußeren Situation und der inneren Erlebniswelt: Stolz bei der Erreichung eines Zieles, das man sich vorgenommen hatte; Ärger und Frustration, wenn es schiefgegangen ist; Trauer bei Verlust eines geliebten Objektes; Empörung, wenn legitim geltende Regeln verletzt werden; Angst bei Unsicherheit; Neid bei vermeintlicher oder wirklicher Zurücksetzung – unter anderem.30
30
Vgl. Zu den verschiedenen Arten und den Funktionen von Emotionen: Theodore D. Kemper, Toward a Sociology of Emotions: Some Problems and Some Solutions, in: The Ame-
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Emotionen binden die Fokussierung auf einen bestimmten Aspekt der Situation noch einmal auf eine ganz besonders widerständige und „heiße“ Weise. Aber, wie wir bereits bei den Mechanismen der Kontrolle von Affekten gesehen haben, geschieht dies nicht ohne Bezug auch zu den unemotionalen, rationalen, „kalten“ Aspekten der Situation. Kurz: Bei aller Einfachheit und bei aller spontanen Fokussierung der Entscheidungen treten die „rationalen“ Aspekte der Situation zwar in den Hintergrund, bleiben aber latent stets präsent. Sie können sich jederzeit aus dem Hintergrund wieder nach vorne drängen. Und zwar dann, wenn es neue fokussierende Aspekte gibt oder wenn die Konzentration auf das eine Problem schließlich doch zu viel zu kosten beginnt, etwa weil die Lösung anderer, letztlich ebenso wichtiger Probleme dabei liegen bleiben würde. Wiedererkennung und Unterbrechung Das Verhaltensmodell der bounded rationality kennt nicht nur eine Art der Selektion einer bestimmten Alternative, sondern mindestens zwei. Die erste, für die allermeisten Situationen übliche Art, ist die Wiedererkennung typischer Muster und die daran sich anschließende Reaktion. „Paßt“ ein Muster der Objekte einer Situation mit einem im Gedächtnis gespeicherten Muster für diese Situation, dann reagieren menschliche Akteure – wie konditionierte Tauben oder Ratten – ganz spontan, intuitiv und automatisch darauf – und zwar in der Weise, wie das bis dahin in ähnlichen Situationen gelernt worden ist und üblich war, mit allen dazu gehörigen Emotionen, die die betreffenden Situationen dann noch einmal auf die ihnen eigene Weise fest rahmen. Die Wiedererkennung von Mustern und die spontane Reaktion darauf ist ohne Zweifel ein ganz anderer Mechanismus als der der „rationalen“ Wahl. Es ist ein Vorgang der „Identifikation“ der Objekte einer neuen Situation mit vorhandenen Erwartungen. Spontan kann nur ein „vorbereiteter“ Verstand reagieren (Simon 1993, S. 37). Derart wiedererkannt werden dabei typische Muster von typischen Situationen und darin typischen Handlungen. Die gedanklichen Muster der Situationen und Handlungen sind im Gedächtnis der Akteure gespeichert und gedanklich mit dem Auftreten bestimmter Objekte verbunden, mit denen die Akteure die Modelle assoziieren – den Symbolen. Sie bilden den Bezugsrahmen seiner Orientierung in der Situation, ohne dessen Aktivierung ein sinnhaftes und verständliches Handeln nicht möglich wäre. Die Muster für die Modelle stammen nicht von den Akteuren, sondern rican Sociologist, 13, 1978, S. 30-41; Robert H. Frank, Passions Within Reason. The Strategic Role of the Emotions, New York und London 1988, Kapitel 6: Telltale Clues, S. 114-133; Jürgen Gerhards, Soziologie der Emotionen. Fragestellungen, Systematik und Perspektiven, Weinheim und München 1988, Teil II insbesondere.
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werden – in einem oft mühsamen und langwierigen Prozeß der Sozialisation – gelernt (vgl. dazu auch Kapitel 9). Sie sind Teil der Identität des Menschen und das Ergebnis von Prozessen der Institutionalisierung (vgl. dazu bereits Kapitel 1, sowie Band 5, „Institutionen“, und Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
Die gesellschaftlichen Institutionen und die kulturellen Muster und Symbole versorgen im wesentlichen den in seinen Fähigkeiten so eingeschränkten Akteur mit der nötigen Sicherheit auch seines Selbst. Im Schutze dieser Sicherheit wären eine rationale Berechnung und die peinlich genaue Beachtung von Konsequenzen ganz und gar abwegig. Sie würden nur eine irrationale Verschwendung des knappen Gutes der Aufmerksamkeit bedeuten – sofern die gedanklichen Modelle mit den beobachtbaren Eigenschaften der Situation „passen“ und die Folgen eines „falschen“ Handelns nicht unübersehbar kostspielig werden. Die unbedingt-spontane Reaktion der gut passenden Wiedererkennung ist jedoch nicht die einzige denkbare Art der Entscheidung. Die Nutzentheorie ist ja – wie wir in Abschnitt 8.3 gesehen haben – nicht komplett ohne jeden Wirklichkeitsbezug. Menschen können – und wollen manchmal – auch „rational“ handeln: Wenn sie Grund dazu haben und es ihnen nicht allzu schwer gemacht wird. Einen Grund für eine rationale Art der Entscheidungsfindung haben sie unter zwei Umständen: Wenn sie in der Situation nichts oder nicht wie gewohnt oder wie erwartet wiedererkennen, so daß sie ohne Bedenken spontan reagieren könnten; und wenn ihnen bei einer Fehlentscheidung viel entgehen würde. Dann wird die spontane Reaktion gehemmt. Nun gibt es einen anderen Mechanismus der Entscheidung: die Unterbrechung der spontanen Reaktion. Jetzt wird eben nicht mehr unbedacht „reagiert“, sondern – mehr oder weniger – überlegt und abgewogen und „ausgewählt“. Nun werden auch andere Aspekte bedacht, Folgen erwogen und sogar „rational“ kalkuliert. Und dann werden – wieder: unter Umständen, nicht unbedingt – auch neue Lösungen gesucht, Informationen gesammelt und Schlüsse gezogen. Wer vorher ein gutes Buch über die rationale Entscheidungstheorie gelesen und verstanden hat, wie das von Eisenführ und Weber (1993), wird dabei auch nur wenige Fehler machen – trotz seiner stets weiter bestehenden bounded rationality. Dann wird die Art der Entscheidung gewechselt – von der spontanen Reaktion zur bedachten Reflektion. Noch einmal: Modell und Modus Bei den „wirklichen“ Entscheidungen der Menschen geht es also im Prinzip um zwei Vorgänge, auf die wir in Abschnitt 6.8 über die Optimierung der Ori-
Die Logik der subjektiven Vernuft
357
entierung bereits hingewiesen haben: Erstens gibt es die Selektion eines bestimmten Musters oder, wie wir besser sagen sollten, eines Modells der Situation und des Handelns – Retten oder Sterben, Sicherheit oder Risiko. Die Selektion erfolgt über einen Prozeß der Muster-Wiedererkennung dieses Modells. Und zweitens findet die Selektion der Art oder, wie wir erneut besser sagen wollen, des Modus der Entscheidungsfindung statt – unbedingt-spontan versus reflektiert-rational. Eine komplette Theorie des menschlichen Entscheidungshandelns, die die bounded rationality ernst nimmt, aber auch die Fähigkeiten des Menschen zu Sinn und Verstand und rationaler Berechnung nicht außer Acht läßt, müßte beide Selektionen – die von Modell und Modus – beinhalten. Was nun nur noch fehlt, wäre dies: ein theoretisches Modell dafür, wann genau die Akteure welches Modell einer Situation und Handlung „wählen“ und wann sie dem spontanen oder dem reflektierten Modus der Entscheidung den Vorzug geben – und nach welcher Logik der Selektion sie das tun. Herbert A. Simon hat ein solches Modell nicht mehr formuliert. *** In drei, insgesamt und je für sich recht langen, Kapiteln haben wir ein für die soziologischen Erklärungen zentrales, aber in der schließlichen soziologischen Analyse dann nicht mehr vordringliches Thema ausführlich behandelt: Das Handeln der Menschen und seine Erklärung. Verhältnismäßig weniger vordringlich ist das Thema deshalb, weil die eigentliche soziologische Arbeit, wie wir bereits an den Beispielen zur Anwendung der WE-Theorie gesehen haben, in der Formulierung der Brückenhypothesen und in den Aggregationen der Handlungen zu kollektiven Folgen besteht. Die Soziologie ist eben keine (kognitive) Psychologie und keine statistische oder ökonomische Entscheidungstheorie. Ihre Aufgaben liegen woanders. Und alles, was für sie wichtig ist, ist, daß sie die Ergebnisse der mit der Erklärung des menschlichen Handelns speziell befaßten Disziplinen beachtet. Was aber bleibt dann? Dieses wohl: 1. Menschen handeln in der Tat nicht einfach nach den einfachen Regeln der WE-Theorie, obwohl die WE-Theorie für viele Erklärungsprobleme der Soziologie schon eine sehr gute und sehr brauchbare Annäherung darstellt. Die Versuche zur einfachen „empirischen“ Anreicherung der WE-Theorie – wie die Prospect Theory – sind keine gute Lösung: Sie sind „theoretisch“ nicht begründet und für die Zwecke der soziologischen Erklärung meist zu kompliziert. 2. Menschen leben in subjektiven Sinnwelten, in denen die ansonsten chaotische und fast leere Welt der objektiven Dinge institutionell und kulturell vereinfacht und vorstrukturiert ist. Diese Sinnwelt besteht insbesondere aus fertigen und sozial verankerten und geteilten Mo-
358
Situationslogik und Handeln
dellen von typischen Situationen und für ein darin typisches Handeln. Diese Modelle sind gedanklich mit bestimmten Anzeichen in der Situation verbunden, deren Existenz die Modelle „auslöst“. Diese Anzeichen werden auch als Symbole bezeichnet. Vor allem sie steuern normalerweise die Selektion des Handelns – über den Mechanismus der Wiedererkennung typischer Muster des Modells der Situation und des dazugehörigen Handelns. 3. Die Entscheidungen der Menschen können nach verschiedenen Modi getroffen werden. Die beiden wichtigsten Modi sind das erwähnte Wiedererkennen eines bestimmten Modells und die spontan-automatische Reaktion darauf einerseits; und die reflektiert-rationale Unterbrechung der Reaktion und das „Berechnen“ der Folgen des Handelns andererseits. Das „rationale“ Handeln nach den Regeln der WE-Theorie ist daher nur ein bestimmter Modus der Entscheidungsfindung, manchmal sogar geleitet durch ein kulturelles Modell der Zweckrationalität als Norm. 4. Handeln setzt damit stets zwei, dem eigentlichen Handeln vorgängige, simultane Selektionen voraus: die Selektion eines bestimmten Modells (für Situation und Handeln) und die Selektion des Modus, mit dem die Entscheidung für das Handeln selbst getroffen wird. 5. Meist sind die Situationen für die Menschen deutlich vorstrukturiert und einfach. Es geht meist nur um ein dominierendes Problem und nur um ein damit verbundenes und gut verankertes Modell der Situation und des Handelns. Dann ist die Wiedererkennung eines bestimmten Modells kein besonderes Problem, und der Modus der spontanen Wiedererkennung ist dann naheliegend. Erst wenn es mehrere „oberste“ Ziele gleichzeitig oder Störungen der gewohnten Situation oder nur schlecht verankerte Modelle gibt, wird der Modus der rationalen Reflektion „lohnend“. 6. Auch beim einfachen Wiedererkennen spielen die Anreize und die Kosten stets eine wichtige Rolle, wenngleich meist nur latent und im Hintergrund. Mit dem Ansteigen der Opportunitätskosten von „falschen“ Entscheidungen nimmt aber die Neigung zu, es auch bei deutlicher Wiedererkennung nicht einfach bei der spontanen Reaktion zu belassen, sondern den Modus der rationalen Reflektion zu benutzen.
Es käme nun darauf an, für dieses, von der einfachen Nutzentheorie doch deutlich abweichende Konzept der Logik der Selektion unter Beachtung der bounded rationality der Menschen ein – möglichst einfaches und möglichst präzises – theoretisches Modell zu entwickeln. Einstweilen werden wir uns für die allermeisten zu lösenden soziologischen Fragen mit der einfachen WETheorie begnügen können. Sie erlaubt bereits in hohem Maße das, was Max Weber als Aufgabe der Soziologie ansah: Das soziale Handeln der Menschen deutend zu verstehen und dadurch in seinem Ablauf und in seinen Wirkungen ursächlich zu erklären. Und das ist schon etwas! Aber vielleicht geht die Anwendbarkeit der WE-Theorie ja noch weiter. Warum soll sie nicht auch die Selektionen des homo rationalis von Professor Simon erklären können – die Selektion des Modells der Situation und des Modus der Entscheidungsfindung? In Band 6 über „Sinn und Kultur“ dieser „Speziellen Grundlagen“ werden wir ein Konzept vorstellen, wie das in der Tat geht.
Kapitel 9
Lernen
Die Wert-Erwartungstheorie liefert die Erklärung für das Handeln der Akteure in Situationen. Die beiden grundlegenden Variablen dabei sind die Erwartungen und die Bewertungen. Erwartungen und Bewertungen sind ihrerseits die zentralen Bestandteile der Identität der Akteure im Moment des Handelns. Sie werden, wie wir in Kapitel 5 noch etwas abstrakt zusammengefaßt haben, im Verlaufe der Biographie erworben oder durch Wahrnehmungen der Objekte in der Situation geschätzt. Der Erwerb von Erwartungen und Bewertungen durch unmittelbare „Erlebnisse“ des Akteurs wird ganz allgemein als Lernen bezeichnet.
9.1
Grundkonzepte der Lerntheorie
In seinem Buch „A Night to Remember“ über den Untergang der Titanic berichtet der Autor Walter Lord auch vom Schicksal einiger Überlebender, die ihm halfen, die Geschehnisse über den bloßen Ablauf hinaus besser zu verstehen. Dabei erwähnt er unter anderem die folgende Begebenheit: „For instance, Mrs. Noel MacFie (then the Countess of Rothes) tells how – while dining out with friends a year after the disaster – she suddenly experienced the awful feeling of cold and intense horror she always associated with the Titanic. For an instant she couldn´t imagine why. Then she realized the orchestra was playing ‚The Tales of Hoffmann‘, the last piece of afterdinner music played that fateful Sunday night.“1
Lernen ist, so können wir jetzt schon allgemein festhalten, die Ausbildung von Assoziationen: Wer „Child in Time“ öfters oder eindringlich zu einer wirklich wilden Gelegenheit hörte, wird innerlich die 70er Jahre wieder fühlen, sobald die alte Platte läuft, ähnlich wie die einstigen melancholischen Gefühle wieder erstehen, wenn John Lennon sein „Imagine“ singt, oder wie das der Mrs. Noel 1
Walter Lord, A Night to Remember, New York u.a. 1955, S. 143f.
360
Situationslogik und Handeln
MacFie mit „Hoffmanns Erzählungen“ und ihrer Erinnerung an die eisige Nacht zum 15. April 1912 geschah. Es ist wie bei einer Musikkassette, die öfters hintereinander gehört wurde: Noch ehe ein bestimmtes Lied ganz verklungen ist, hört man, ganz automatisch, innerlich schon den Beginn des nächsten – die Melodie, den Text und die besondere Stimmung, die es umgibt. Aber nicht nur Musik- und Textsequenzen, Gefühle und innere Bilder können auf diese Weise assoziiert werden: Wenn die Fische einige Male hintereinander an schattigen Stellen besonders gut beißen und an sonnigen eben nicht, dann weiß ein Angler schließlich, wo er wahrscheinlich erfolgreicher sein wird und wo nicht. Und er wird sich danach richten, wenn er wieder am See unterwegs ist (vgl. dazu bereits Abschnitt 6.1). Beide Vorgänge gehören zum Lernen. Es ist einerseits die Ausbildung der Assoziation von Eigenschaften der Situation und deren Bewertung – wie bei der Assoziation von Hoffmanns Erzählungen mit dem kalten Schauder der Eisnacht im Atlantik. Und es ist andererseits die Entstehung der Assoziation von Situation, Handlung und Erfolg, wie beim Angler am See, der sich schließlich eben nicht mehr in die Sonne setzt, wenn er Fische fangen will. Welche Dinge sind dabei aber wichtig? Und, insbesondere, welchen Gesetzen folgt das Lernen? Die Antwort auf diese Fragen gibt die sog. Lerntheorie.2 Sie hantiert mit einer Reihe von Begriffen, die – wenigstens teilweise – schon fast in die Alltagssprache eingegangen sind. Reiz und Reaktion Das Lernen verbindet gewisse Eigenschaften einer Situation mit bestimmten Reaktionen des Organismus. Die beim Lernen bedeutsamen Eigenschaften der Situation werden Reiz oder Stimulus (Plural: Stimuli), die Reaktionen des Organismus darauf auch Response genannt. Die Reaktion auf die Reize bzw. die Stimuli der Situation kann sowohl äußerlich sichtbar wie intern, unwillkürlich wie bewußt sein. Sie kann aus Verhalten wie aus Handeln jeder Art bestehen (vgl. dazu bereits Abschnitt 6.1). Auch Wahrnehmungen und Orientierungen 2
Eine kurze Übersicht zur Theorie des Lernens mit Hinweisen auch auf die klassischen Experimente und auf die verschiedenen Entwicklungsrichtungen findet sich bei Andrzej Malewski, Verhalten und Interaktion: die Theorie des Verhaltens und das Problem der sozialwissenschaftlichen Integration, 2. Aufl., Tübingen 1977, Kapitel III: Elemente einer Verhaltenstheorie, S. 45-71. Für eine ausführlichere Darstellung vgl. Karl-Dieter Opp, Verhaltenstheoretische Soziologie. Eine neue soziologische Forschungsrichtung, Reinbek 1972, Kap. III, S. 31-112. Eine Darstellung der aktuellen Forschungen und der Verbindungen zu kognitiven Vorgängen findet sich bei: Barry Schwartz und Daniel Reisberg, Learning and Memory, New York und London 1991, insbesondere Teil 1 und 2.
Lernen
361
können zu diesen Reaktionen gehören. Und sogar das Lernen selbst – nämlich die innere „Entscheidung“ eines Organismus eben diese und nicht jene Reaktion nach einem Reiz zu zeigen und als Disposition abzuspeichern – könnte als eine spezielle Art der Reaktion interpretiert werden. Vor allem aber werden zwei Sachverhalte verbunden: innerlich erlebte Bewertungen der Reize der Situation und bestimmte Erwartungen, daß in einer Situation mit bestimmten Reizen ganz bestimmte Reaktionen erfolgreich sind oder nicht. Kurz: Die Reize werden mit Bewertungen U und Erwartungen p assoziiert. Das Lernen ist der Vorgang, der dorthin führt (vgl. dazu noch die Zusammenfassung am Schluß des Abschnitts 9.2). Belohnung und Bestrafung Die Stimuli werden vom Organismus jeweils bewertet. Diese Bewertung kann drei unterschiedliche Arten haben: positiv, neutral und negativ. Ein positiv bewerteter Stimulus wird auch Belohnung oder Verstärker, ein negativ bewerteter Stimulus auch Bestrafung, Deprivation oder aversiver Stimulus genannt. Ein Stimulus, der weder als belohnend noch als bestrafend erlebt wird, wird als neutraler Stimulus bezeichnet. Belohnungen und Bestrafungen sind in bestimmter Weise logisch miteinander verbunden: Die Vorenthaltung einer Belohnung wirkt wie eine Bestrafung bzw. wie eine Deprivation. Und die Beseitigung einer Bestrafung wird umgekehrt als Belohnung erlebt. Anhand des Modells von Tversky und Kahneman über Gewinne und Verluste jeweils in der Gewinn- oder Verlustregion kann man sich diese logische Verbindung leicht klar machen (vgl. Abbildung 8.6a in Abschnitt 8.4): Die Verminderung eines Verlustes in der Verlustregion wird als gewinnbringend und belohnend erlebt. Und die Verringerung des Gewinns in der Gewinnregion ist verlustreich und bestrafend. (Un-)Bedingtheit Einige Stimuli haben eine positive oder negative Bewertung bereits unmittelbar, von „Natur“ aus und ohne jede weitere „Bedingung“ für einen Organismus – wie Nahrung oder liebevolle Zuwendung in positiver bzw. Informationsüberfülle oder soziale Mißachtung in negativer Hinsicht. Derartige Stimuli mit einem unmittelbaren Bezug zu den „natürlichen“ Bedürfnissen der Akteure werden auch als unbedingte Stimuli bezeichnet. Positiv oder negativ bewertete Stimuli, die ihre Bewertung nicht unmittelbar mit sich bringen, aber diese
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Situationslogik und Handeln
Eigenschaften später auf irgendeine Weise erworben haben, nennt die Lerntheorie bedingte Stimuli, weil sie von bestimmten gesellschaftlichen oder individuellen Verhältnissen abhängig sind – insbesondere, weil sie durch eine individuelle Lerngeschichte des Organismus „bedingt“ werden. Unbedingte Stimuli sind manchmal mit bestimmten Reaktionen so verbunden, daß bei ihrem Auftreten unmittelbare, reflexartige Reaktionen durch den Organismus gezeigt werden. Reaktionen, die auf diese Weise mit unbedingten Stimuli verbunden sind, heißen daher auch unbedingte Reaktionen. Hunde, die ein Kotelett sehen oder riechen, schnappen reflexartig danach, vor Katzen ziehen sie ebenso automatisch den Schwanz ein. Reaktionen, die nur in Verbindung mit bedingten Stimuli auftreten, werden entsprechend als bedingte Reaktionen bezeichnet. „Hoffmanns Erzählungen“ war für Mrs. Noel MacFie ein solcher bedingter Reiz: Erst nach der Nacht des Untergangs der Titanic empfand sie den kalten Horror, wenn das Stück erklang, vorher nicht. Dieses Phänomen, daß „an sich“ neutrale Merkmale der Situation allein durch bestimmte Vorgänge eine zuvor nicht vorhandene neue Bewertung erhalten, erklärt bereits im Prinzip, wie unterschiedliche Muster von Geschmack, Vorlieben und Werten für Dinge, Handlungsweisen oder auch Ideen, wie Kultur allgemein also, zustandekommen. Wie läßt sich aber erklären, daß es zu solchen Assoziationen kommt?
9.2
Zwei Mechanismen
Die Lerntheorie unterscheidet zwei grundlegende Mechanismen der Bildung von Assoziationen: das klassische Konditionieren und das instrumentelle Lernen. das klassische Konditionieren ist der Mechanismus, der den Erwerb von Präferenzen und Bewertungen erklärt. Über das instrumentelle Lernen entstehen die Alltagstheorien und die Erwartungen der Menschen über die Welt. Das klassische Konditionieren Das klassische Konditionieren ist das klassische Beispiel der Lerntheorie. Allgemein bekannt geworden ist es durch den Pavlovschen Hund – so benannt nach dem russischen Pionier der Lerntheorie, Ivan P. Pavlov (1849-1936):3 3
Ivan P. Pavlov, Conditioned Reflexes: An Investigation of the Physiological Activity of the Cerebral Cortex, Oxford 1927, S. 13ff.; vgl. die Zusammenfassung bei Schwartz und Reisberg 1991, S. 43ff.
Lernen
363
Ein Hund reagiert auf einen Glockenton oder auf das Ticken eines Metronoms so wie auf ein Stück Fleisch, das ihm zum Fressen vorgelegt wird: mit einer reflexartigen Speichelabsonderung. Wie kommt es dazu? Der Grundvorgang Auf Glockentöne oder Metronome reagiert ein Hund – zunächst – gar nicht, außer er erschrickt vielleicht. Glockentöne und das Ticken eines Metronoms sind für ihn zunächst nur neutrale Stimuli: „an sich“ uninteressante Geräusche. Wenn nun einige Male der Glockenton oder das Ticken gleichzeitig mit einem Stück Fleisch aufgetreten ist, dann reagiert der Hund schließlich auch auf den Glockenton oder das Ticken genauso wie auf ein Stück Fleisch – selbst wenn er gar kein Fleisch bekommt. Aus dem zunächst neutralen Stimulus des Glockentons bzw. des Tickens ist allmählich ein bedingter positiver Stimulus geworden. Und die zuvor unbedingte Reaktion der Speichelabsonderung ist nun eine bedingte Reaktion, die keineswegs jeder Hund aufweist. Der so „konditionierte“ Hund kann also nicht mehr unterscheiden, was genau die positive Bewertung auslöst. Er präferiert und „interpretiert“ Glockentöne und Tickgeräusche nun genauso wie ein Stück Fleisch. Und er reagiert darauf in genau der gleichen reflexartigen Weise mit verstärktem Speichelfluß. Dieser Vorgang der klassischen Konditionierung läßt sich auf die folgende Weise schematisieren (Abbildung 9.1): Der unbedingte Stimulus löst zunächst, „natürlich“, eine bestimmte unbedingte Reaktion aus. Nun wird der unbedingte Stimulus einige Male mit einem neutralen Stimulus gemeinsam präsentiert. Nach dem Gesetz der klassischen Konditionierung übernimmt der zunächst neutrale Stimulus die Eigenschaften des unbedingten Stimulus: Er löst die gleiche, nunmehr bedingte Reaktion aus. Er selbst wird dadurch zum bedingten Stimulus. Selbstverständlich können bestimmte Dinge über die Konditionierung auch mit negativen Bewertungen belegt werden: Die Abneigung vor Schlangen, Professoren oder dem Rollbrettfahren ist nicht angeboren. Sie wird jeweils erworben, wenn man schlechte Erfahrungen damit macht.
364
Situationslogik und Handeln
unbedingter Stimulus
unbedingte Reaktion
unbedingter Stimulus neutraler Stimulus
bedingter Stimulus
bedingte Reaktion
Abb. 9.1: Die Übertragung einer Bewertung von einem unbedingt bewerteten auf einen neutralen Stimulus über den Prozeß der klassischen Konditionierung
Sekundäre Verstärkung Die Stimuli, die ohne jede weitere Bedingung für den Organismus einen Belohnungswert haben, werden auch als primäre Verstärker bezeichnet. Die über die Assoziation mit primären Verstärkern entstandenen neuen, als belohnend erlebten bedingten Stimuli heißen entsprechend sekundäre Verstärker. In ihrer weiteren Wirkung sind die sekundären Verstärker – nach der erfolgreichen Konditionierung also – von den primären Verstärkern kaum mehr zu unterscheiden. Im Ernstfall – etwa bei starkem Hunger und bei Andauern des Nahrungsentzugs – helfen aber alle sekundären Verstärkungen nicht viel: Von Glockentönen und dem Ticken eines Metronoms wird niemand satt. Und nicht nur ein Hund wird dann wieder auf die Ebene des unmittelbaren Funktionierens seines biologischen Organismus zurückgeworfen: Er regrediert dann entsprechend zu Reaktionen, die seinen primären Bedürfnissen näher sind. So läßt sich im Prinzip das Phänomen der Werte-Hierarchie von Abraham H. Maslow erklären. Abraham H. Maslow hatte, wie wir schon aus Abschnitt 4.1 wissen, die These aufgestellt, wonach Menschen eine Rangordnung von Bedürfnissen von „unten“ nach „oben“ in der Weise hätten, daß als Basis die physischen Bedürfnisse (nach Nahrung, Schlaf und Sexualität zum Beispiel), darüber alle möglichen weiteren sozialen Bedürfnisse (wie nach Sicherheit und so-
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zialer Anerkennung) und ganz oben das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung stünden.4 Will man alle nicht-physischen Bedürfnisse nicht auch als unbedingte Deprivationen verstehen, dann sind die darüber gelagerten Bedürfnisse nur über die Entstehung bedingter Deprivationen zu erklären: Das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung würde also im Zusammenhang der Erfüllung der primären physischen und psychischen Bedürfnisse gelernt. Da die höher angesiedelten Bedürfnisse aber nur „sekundär“ sind, würde auf deren Einlösung auch dann eher verzichtet, wenn es eng wird. Wahrscheinlich ist die Theorie von Maslow aber ohnehin nicht haltbar. Es gibt zahllose Fälle der nachhaltigen Sublimierung der physischen Bedürfnisse wie die der fast selbstzerstörerischen Kraft von übergeordneten Werten, denen ein Akteur auch durch die größten physischen Entbehrungen hindurch folgt. Mit dem Konzept der sozialen Produktionsfunktionen und den beiden Grundbedürfnissen nach physischem Wohlbefinden und sozialer Anerkennung entgeht man diesen Schwierigkeiten leicht: Die soziale Anerkennung ist schon ein „primäres“ Bedürfnis. Und alle anderen, „darüber“ angesiedelten Bedürfnisse sind entweder die Folge sekundärer Verstärkung, oder sie sind über die sozialen Produktionsfunktionen definiert, werden zu sozial definierten Präferenzen für gewisse primäre Zwischengüter – und zerfallen oder wandeln sich unmittelbar mit der Änderung der sozialen Produktionsfunktionen. Das „Bedürfnis“ nach einem Leninorden sank in der ehemaligen DDR im Jahre 1989 jedenfalls ohne jede Konditionierung ganz drastisch.
Mit der Konditionierung sind im Grunde der Entstehung und Änderung von Präferenzen und abgeleiteten Bedürfnissen keine Grenzen gesetzt. Es kommt alles auf die Lerngeschichte an. Zwei Folgen der Konditionierung Die Konditionierung hat zwei wichtige Folgen. Die eigentlich neutralen Stimuli können erstens als „Stellvertreter“ für die primären Belohnungen und als Signal für eine positiv oder negativ zu bewertende Situation insgesamt fungieren. Sie sind dann Symbole für andere, mitunter nicht unmittelbar präsente Elemente der Situation: Künftige Ereignisse werden antezipiert, latente Eigenschaften erschlossen und eventuell bestehende Lücken der Gesamt-Situation über gedankliche und emotionale Assoziationen überbrückt. Konditionierungen sind damit erste Schritte zur Herausbildung von ganzen „Gestalten“ und symbolisch strukturierten Situations-Komplexen, die nur insgesamt und nicht in ihren Einzel-Elementen bewertet werden. Dadurch werden einerseits – eventuell lebensnotwendige – Reaktionen frühzeitiger als notwendig oder angebracht erkannt. Und andererseits wird die Ausbildung symbolisch gesteuerter Schemata, Drehbücher und „Handlungen“ für „fertige“ soziale Situationen in zusammenhängender und sinnhafter Weise möglich.
4
Abraham H. Maslow, Motivation and Personality, New York, Evanston und London 1954, S. 83ff.
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Situationslogik und Handeln
Oft kann der Organismus dann nicht mehr auseinanderhalten, was dabei Ursache und was Wirkung ist. Lernen bedeutet lediglich die Herstellung von einfachen Assoziationen zwischen Situationselementen und Reaktionen – und nicht unbedingt auch das Erlernen der „Kausal“Richtung. Hanno Buddenbrook, der etwas schwächliche und ängstliche Sohn von Thomas Buddenbrook in Thomas Manns Roman, war – wie üblich – nicht vorbereitet in die Lateinstunde gekommen, hatte aber mit Hilfe seines Freundes Kai die Verse des Ovid fließend ablesen können und dafür ein Lob des getäuschten Lehrers erhalten. Anschließend hatte Hanno das ihn erst etwas irritierende, dann aber immer sicherere Gefühl, daß er wirklich gut war und fleißig gelernt habe. Hanno starb übrigens kurz darauf – weniger an Typhus als an mangelnder Lebenstüchtigkeit.
Zweitens entstehen über den Vorgang des klassischen Konditionierens neue Präferenzen: Was vorher ein neutrales Ding war, wird jetzt zum Objekt der Begierde, der Furcht oder der Abscheu. So ist zu erklären, wie ganz unterschiedliche Kulturen mit sehr unterschiedlichen „tastes“ entstehen: Warum Franzosen lieber Kaffee, Briten eher Tee und Chinesen keine Milch mögen, zum Beispiel. Damit kann auch erklärt werden, daß Menschen sogar Vorlieben für Dinge entwickeln können, die zuvor ganz und gar uninteressant waren, als unwichtig oder gelegentlich sogar als lästig und unangenehm erschienen sind, zum Beispiel klassische Musik, moderne Kunst oder die innerweltliche Askese. Variationen im Geschmack, in den Werten und damit die mehr oder weniger groben Unterschiede von Menschen und Gruppen in ihren Vorlieben sind die Folge von Variationen in den Lern-Biographien von Kollektiven von Menschen. Daß jemand Karl Moik, die Beatles oder Michael Jackson mag oder nicht, hängt also nicht von unterschiedlichen genetischen Strukturen, von einer besonderen Begabung oder von der aktuellen Situation ab, sondern davon, ob er mit Musik von Karl Moik, den Beatles oder Michael Jackson in Berührung gekommen ist – und dabei nachhaltig und oft genug good (or bad) vibrations gehabt hat. Internalisierung Über Konditionierungen können nicht nur gewisse Folgen des Handelns, sondern sogar das Handeln selbst einen eigenen Belohnungswert erhalten. Der „wirkt“ auch dann, wenn das Handeln vom Akteur als wenig erfolgversprechend oder sogar kostenträchtig und riskant angesehen wird. Eine Großmutter geht schließlich aus eigenem Bedürfnis zur Kirche – und nicht, weil es das Gebot der Kirche dazu gibt oder weil sonst die Nachbarn reden. Dazu ist sie, in jungen Jahren und nicht ohne gewissen Nachdruck, einmal konditioniert worden. Derartiges gilt für jede Norm, die „internalisiert“ worden ist: Wenn die Befolgung einer Norm immer gemeinsam mit einem primären Verstärker
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auftritt, dann übernimmt nach einiger Zeit die Normbefolgung selbst den Belohnungswert der primären Verstärker. Werte, Normen und Rollen können so zu einem „inneren Bedürfnis“ des Menschen werden. Sie gewinnen durch ihre Internalisierung über den Prozeß der Konditionierung ihren typischen „Eigenwert“ – „unbedingt“ und unabhängig von ihrer instrumentellen Bedeutung für die anderen Ziele des Akteurs. Der Weg ist dann, wie wir bereits vorher im Zusammenhang des Konzeptes der Wertrationalität festgestellt haben, schon das Ziel (vgl. Abschnitt 6.7). Und die inneren Bewertungen gehen dabei als eigene Nutzenterme des betreffenden Handelns selbst in die Bewertungsvektoren der Akteure ein. Die Menschen wollen dann das schon, was sie sollen. Und sie tun dann aus eigenem inneren Antrieb die Dinge, wozu sie zweckrational kaum zu bewegen gewesen wären. Mit der Internalisierung wird die Reaktion selbst also als eine Belohnung empfunden, so daß die Menschen sich mit der Reaktion unmittelbar „identifizieren“ und im Tun selbst unabhängig von jedem äußeren „Zweck“ eine innere Lust verspüren. Dies wird Friedrich A. Tenbruck wohl auch gemeint haben, als er Ralf Dahrendorf vorhielt, daß die Menschen sich mit ihren Rollen auch „identifizieren“ und nicht nur nach den äußeren Sanktionen schielen (vgl. Abschnitt 3.1). Er dürfte aber kaum dabei bedacht haben, daß er dann die Annahme machen muß, daß Menschen die Normen in genau der gleichen Weise internalisieren, wie der Pavlovsche Hund die inneren Reaktionen auf den Glockenton oder auf das Metronom erwirbt. Das instrumentelle Lernen Beim klassischen Konditionieren werden Bewertungen von Reizen erworben, die zuvor neutral waren. Beim instrumentellen Lernen entstehen Erwartungen, wo vorher Unsicherheit und Ignoranz herrschte. Es bildet sich auch hier eine Assoziation: die als erfolgreich und problemlösend empfundene Verbindung zwischen einer bestimmten Reaktion und einer als problematisch empfundenen typischen Situation. Andrzej Malewski erläutert das Konzept an einem Kind, dem man einen gewünschten Gegenstand versagt hat – etwa den Kauf eines Spielzeugautos nach einem langen Samstag in der City. Das ist ohne Zweifel eine für alle Beteiligten sehr problematische Situation. Sie ist für das Kind durch einen negativ bewerteten Stimulus, eine Deprivation also, gekennzeichnet: kein Auto. Und folglich: großes Lamento. Natürlich ist dem Kind zur Beseitigung seiner Deprivation ein ganzes Arsenal von alternativen Reaktionen vorstellbar und möglich: stummes Fügen, Schreien, Trampeln und Um-sich-Schlagen – oder auch das Eintreten in einen argumentativen Diskurs mit den Eltern, zum Beispiel.
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Situationslogik und Handeln
Die als problematisch empfundene Situation sei durch den Stimulus Sp gekennzeichnet, hier: die Entbehrung eines gewünschten Spielzeugs. Die möglichen Reaktionen darauf – stummes Fügen, Trampeln, Schreien und so weiter – seien R1, R2, ... Rk, ... Rm. Diese verschiedenen Reaktionen auf das Problem Sp werden zuerst ganz ungezielt, zufällig und versuchsweise – nach „trial and error“ – erfolgen. Das Kind weiß anfangs eben noch nicht, womit es Erfolg haben wird. Das kann sich aber bald ändern: Wenn der gewünschte, als Belohnung gewertete Gegenstand mehrmals nach genau einer bestimmten Reaktion – sagen wir: mit Rk – tatsächlich erlangt wird, und wenn somit die Reaktion Rk als ein wirksames Mittel zur Beseitigung der Deprivation erlebt wird, dann wird genau diese Verbindung von dieser Reaktion zu genau dieser Art von Situation verstärkt: Wenn Sp, dann Rk zur Lösung des Problems. Die Lösung des Problems wird als Belohnung empfunden. Und je öfter mit Rk in einer Situation Sp die als Belohnung empfundene Problemlösung auftritt, um so wahrscheinlicher wird die Selektion von Rk, sobald es wieder eine problematische Situation mit der Eigenschaft Sp gibt. Es sei bei dem geschilderten Beispiel jedoch auch nicht vergessen, daß das Schreien, Trampeln und wohl besonders ein altkluger Diskurs für die Eltern auch eine problematische Situation ist, aus der sie nur herauskommen, wenn sie dem Kind geben, was es will, oder es zum Verzicht zu erziehen versuchen. Mit dem Kauf des Autos erstirbt der Krach; und das wird ohne Zweifel von den Eltern als belohnend empfunden. Auf diese Weise kann auch die Nachgiebigkeit der Eltern durch das Nachlassen der Belästigungen systematisch verstärkt werden. Nicht immer kann in solchen Situationen reziproken Ärgers geklärt werden, wer wen verstärkt.
Der Vorgang des instrumentellen Lernens wird treffenderweise auch als „Lernen am Erfolg“ bezeichnet. Dazu gehört selbstverständlich auch, daß Reaktionen, die zu einer Vergrößerung des Problems führen und deren Folgen als bestrafend empfunden werden, vermieden werden. Der Vorgang kann schematisierend wie in Abbildung 9.2 zusammengefaßt werden. Die Verstärkung bezieht sich beim instrumentellen Lernen also – anders als beim klassischen Konditionieren – nicht auf die Herstellung einer bewertenden Assoziation zwischen verschiedenen Elementen der Situation, sondern auf die Herstellung einer kognitiven Verbindung zwischen bestimmten Handlungen und dem Effekt der Problemlösung. Es entsteht ein Wissen etwa der Art: Immer, wenn ich in der als problematisch empfundenen Situation Sp die Handlung Rk wähle, dann wird sich das bestehende Problem lösen. Diese subjektive Kausalhypothese entspricht genau dem subjektiven Glauben eines Akteurs i in dem Modell der Logik des Handelns in Abschnitt 6.4, nämlich daß zur Erreichung des Zieles Z das Handeln H notwendig sei: (Z H)i.
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Lernen
Stimulus SP
Reaktionen (R 1, R 2, ..., Rk, ..., Rm)
Rk
Stimulus SP
Belohnung
Reaktion Rk
Abb. 9.2: Der Vorgang der Verstärkung beim instrumentellen Lernen
Die Entstehung des Wissens und der Werte Über die Konditionierung nehmen Objekte Bewertungen an, die zuvor neutral waren. Sie ist damit einer jener Vorgänge, durch den die Werte des Bewertungsraumes U belegt werden, der ja für die Berechnung der EU-Gewichte und für die Erklärung des Handelns bekannt sein muß. Andere Mechanismen gibt es auch: die Wahrnehmung der Empfindungen anderer oder die Übernahme von Informationen über den „Wert“ gewisser Objekte. Daß beim Schachspiel die Dame besonders wertvoll ist, lernt man mit den Spielregeln. Aber ohne Zweifel ist das handgreifliche „Erleben“, das die Konditionierung begleitet, ein ganz besonders nachhaltiger Mechanismus der Assoziation von Stimulus und bewertender Reaktion. Das instrumentelle Lernen erklärt dagegen die Entstehung von subjektiven Kausalhypothesen, von Wissen und von Alltagstheorien über die Strukturen der Welt. Mit dem instrumentellen Lernen läßt sich also die Entstehung des Erwartungsraumes P erklären, dessen Einträge neben den Werten des Bewertungsraumes U für die Bestimmung der WE-Gewichte bei der Erklärung des Handelns nach der WE-Theorie benötigt werden. Auch hierfür gibt es ohne Zweifel weitere Mechanismen: wieder die Wahrnehmung, auch die Imitation und das Vertrauen auf eine verläßliche Kompetenz, sogar das gedankliche Durchspielen geeigneter Mittel. Aber auch jetzt gilt wieder, daß nichts so lehrreich ist wie die eigene, zuweilen schmerzliche, Erfahrung, und daß man schließlich vor allem aus selbst erlebtem Schaden klug wird.
370
9.3
Situationslogik und Handeln
Einzelheiten und Regelmäßigkeiten
Für die Herstellung von Assoziationen zwischen Stimuli und Reaktionen gibt es eine Reihe von präzisen Gesetzmäßigkeiten. Für das Verständnis dessen, wie menschliche Akteure – und lebende Organismen allgemein – mit ihren Problemen und den Vorgaben der Umwelt umgehen, sind sie ungemein wichtig – und interessant. Das Effektgesetz Die wichtigste lerntheoretische Hypothese ist das sog. Effektgesetz. Es wurde von Edward L. Thorndike nach einer Serie von Experimenten über die Intelligenz von Tieren, insbesondere mit Katzen und Hunden, aufgestellt. In seiner ersten Fassung von 1911 lautet es so: „Von verschiedenen, auf die gleiche Situation ausgeführten Reaktionen, werden jene, die beim Tier von Befriedigung begleitet sind oder auf die schnell eine Befriedigung erfolgt, bei sonst gleichen Bedingungen fester mit der Situation verknüpft, so daß bei Wiederholung der Situation sich mit hoher Wahrscheinlichkeit auch dieselben Reaktionen wiederholen; bei jenen Reaktionen, die von Unbehagen begleitet sind oder auf die schnell Unbehagen folgt, wird unter sonst gleichen Bedingungen ihre Verbindung zur Situation geschwächt. Bei Wiederholung der betreffenden Situation besteht daher eine geringere Auftretenswahrscheinlichkeit dieser Reaktionen. Je größer die Befriedigung oder das Unbehagen, um so ausgeprägter die Verstärkung oder Schwächung der Verbindung.“5
Deutlich erkennt man das Grundprinzip, das nicht nur für Hunde und Katzen gilt: Es werden genau jene Reaktionen verstärkt, die der Organismus als nützlich empfindet, und jene werden abgeschwächt, die als nicht zuträglich erlebt werden. Es regiert – ganz offenbar – auch bei der Übernahme von Wissen und Werten das Nutzenprinzip. Nur wird jetzt nicht gehandelt, „um“ ein nützliches Ziel „zu“ erreichen, sondern es wird in bestimmter Weise reagiert, „weil“ in der Vergangenheit genau diese Reaktion selektiv als nutzenstiftend erlebt wurde. Kurz: Beim gelernten Verhalten treibt die biographisch geprägte Vergangenheit, beim intentionalen Handeln die imaginierte Zukunft – auf der Basis der gelernten Bewertungen und Erwartungen. Das Effektgesetz ist nicht speziell nur auf eine bestimmte Art des Lernens anwendbar. Klassisches Konditionieren und instrumentelles Lernen sind aber ohnehin nicht so verschieden, wie es zunächst scheinen mag. In beiden Fällen 5
Edward L. Thorndike, Animal Intelligence. Experimental Studies, New York 1911, S. 244; die deutsche Übersetzung folgt John W. Atkinson, Einführung in die Motivationsforschung, Stuttgart 1975, S. 195.
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wird ja eine Assoziation dadurch verstärkt, daß in einer als neutral oder deprivierend erlebten Situation eine Belohnung und eine Reaktion gleichzeitig auftreten. Es hat gleichwohl ein langer Streit darüber getobt, welcher Vorgang elementarer sei (vgl. Malewski 1977, S. 47ff.): das klassische Konditionieren oder das instrumentelle Lernen. Und in der Tat ist es zumindest in Experimenten sehr schwierig, die jeweils „reinen“ Bedingungen für ein Lernen am Erfolg und für die Übertragung von Bewertungen auf neutrale Stimuli zu trennen – zumal ja die Reaktionen selbst immer auch Situationselemente sind, auf die hin „konditioniert“ werden kann, wenn Belohnungen auftreten. Wir wollen diesen Streit hier nicht weiter führen, sondern – der Einfachheit halber – die nomologischen Bedingungen vor allem des instrumentellen Lernens und die grundlegenden Thesen der allgemeinen Verhaltenstheorie kurz zusammenfassen. Dabei sollen vier Bereiche angesprochen werden: die Bedingungen für die Verstärkung einer Reaktion, Generalisierung und Diskriminierung von Situations-Stimuli und Reaktionen, die Regelmäßigkeiten der Extinktion, der (Wieder-)Abschwächung von einmal erlernten Reaktionen also, und die lerntheoretische Erklärung von inneren Konflikten. Verstärkung Die Bedingungen für die Verstärkung einer Reaktion haben – das war im Effektgesetz deutlich gemacht worden – vor allem mit zwei zentralen Variablen zu tun: mit dem Wert der verstärkenden Belohnung und mit der zeitlichen Kontiguität der Reaktion und des Auftretens der Belohnung. Je stärker die belohnende Wirkung der Reaktion, je häufiger der gesamte Vorgang der Verstärkung und je regelmäßiger das Eintreten der Belohnung auf die Reaktion erfolgt sind, um so größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß mit dem Stimulus in einer Situation auch wieder das entsprechende Verhalten auftritt. Später auftretende, gleich wertvolle Belohnungen sind für die Verstärkung weniger wirksam als zeitlich unmittelbar erfolgende Belohnungen. Und wird die gleiche Belohnung kurz mehrmals hintereinander verabreicht, dann schwächt sich deren verstärkende Wirkung ab, weil ihr relativer Wert für die Problemlösung, aufgrund des Gesetzes vom abnehmenden Grenzertrag der Belohnung, sinkt (vgl. dazu auch schon Abschnitt 6.1 und die fünf Hypothesen von George C. Homans). Aus diesen Bedingungen läßt sich eine interessante übergreifende Hypothese ableiten: Die Verstärkung selbst ist eine Art von mentaler Selektion durch den Akteur. Der lernende Akteur „entscheidet“ sich innerlich aufgrund erlebter Ereignisse und Zusammenhänge für eine bestimmte Kausal-Hypothese
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Situationslogik und Handeln
darüber, für welche Reaktion es wohl am nützlichsten erschiene, sie – sozusagen – abzuspeichern. Es ist genau die Reaktion, für die der Wert der Belohnung einerseits und die Wahrscheinlichkeit, daß die Belohnung auch wirklich eintritt, gemessen an der Häufigkeit des bisherigen „Erfolges“ und an der zeitlichen Kontiguität, andererseits am höchsten sind. Auf der Grundlage der allgemeinen Prinzipien der Logik der Selektion nach der WE-Theorie wäre dann zu erwarten, daß solche Stimulus-Response-Verbindungen (S-RVerbindungen) vorzugsweise verstärkt werden, bei denen das Produkt des Wertes der Belohnung und der Erwartung, daß sie auch nach der Reaktion tatsächlich auftrete, am höchsten ist (siehe dazu noch unten zum Phänomen des latenten Lernens in Abschnitt 9.4). Generalisierung und Differenzierung Über das Lernen werden bestimmte Elemente der Situation – die Stimuli bzw. die Verstärker – und bestimmte Reaktionen miteinander verbunden. Keine Situation und keine Reaktion ist aber mit einer anderen vollständig identisch. Und viele Situationen und Reaktionen sind zwar verschieden, weisen aber dennoch mehr oder weniger starke Ähnlichkeiten auf. Leicht ist vorstellbar, daß diejenigen Organismen besonders im Vorteil sind, die es angesichts dieser „Komplexität“ der Welt geschafft haben, alle ihnen zuträglichen S-RVerbindungen zu selegieren, die zwar nicht identisch, aber mehr oder weniger ähnlich sind. Und andererseits: die S-R-Verbindungen zu unterscheiden, die sich in ihrer Zuträglichkeit deutlich unterscheiden, auch wenn sie gemeinsame oder ähnliche Merkmale aufweisen. Der erste Vorgang wird als Generalisierung, der zweite als Differenzierung bezeichnet. Generalisierung und Differenzierung können sich auf die Stimuli einerseits und auf die Reaktionen andererseits beziehen. Stimulus-Generalisierung liegt dann vor, wenn bestimmte Reaktionen auf eine Klasse ähnlicher Situations-Elemente zu dem ursprünglich verstärkten Stimulus erfolgen: Der Hund liebt nicht nur Glockentöne und das Ticken eines Metronoms, sondern auch Klavierspiel und ein Mandolinen-Orchester. Ein verständigungsbereiter Diskurs wird nicht nur beim Ertrotzen eines Spielzeugautos, sondern auch für Speiseeis, das Ansehen von Pornofilmen und eine unstandesgemäße Heirat versucht. Meist wird eine verstärkende Wirkung eines (belohnenden) Stimulus in dem Maße kleiner, wie die Ähnlichkeit zum „eigentlichen“ Stimulus abnimmt. Das Phänomen der Generalisierung gilt auch für die Wirksamkeit der verstärkenden Stimuli selbst: für die Belohnungen und damit für die Wirksamkeit
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von Verstärkungen. Ähnliche Arten der Belohnung verstärken eine Reaktion auch, aber ebenfalls in dem Maße schwächer, wie der verstärkende Stimulus vom ursprünglichen Stimulus abweicht: Statt eines Spielzeugautos tut es – manchmal –auch ein kleines Flugzeug, und statt Speiseeis tun es zur Not auch Dickmanns Mohrenköpfe. Es gibt in diesem Zusammenhang eine interessante Klasse von Verstärkern, die geeignet sind, ganz verschiedene S-R-Verbindungen herzustellen, weil sie über alle Menschen und über alle Situationen hinweg als belohnend und wertvoll empfunden werden. Derartige Verstärker werden auch als generalisierte Verstärker bezeichnet. Zu ihnen zählen unter anderem das Geld, die Macht und die Liebe. Und der Grund dafür ist leicht nachvollziehbar: Wem Geld, Macht oder Liebe nach einer Reaktion angeboten werden, der kann damit nahezu beliebige, ihm wertvolle Güter und Handlungen kaufen, erzwingen oder erpressen – unter Ausnutzung des Opportunismus, der Ohnmacht oder der Passion des anderen. Onkel Dagobert liebt das Geld zwar offensichtlich um seiner selbst willen, aber viele andere akzeptieren es eben bereitwillig und ganz zwanglos als „Belohnung“, auch wenn sie sonst sehr unterschiedliche Vorlieben haben. An dieser Stelle wird aber bereits deutlich erkennbar, wie begrenzt die Lerntheorie zur Erklärung des menschlichen Handelns ist. Geld, Macht und Liebe „wirken“ als generalisierte „Verstärker“ keineswegs darüber, daß die Akteure erst einmal auf sie konditioniert werden müssen: Man „weiß“ vielmehr schon bald, daß Geld, Macht und Liebe hochwirksame Zwischengüter sind, über die man andere Akteure veranlassen kann, die eigentlich interessierenden primären Objekte bereitzustellen. Es sind, um etwas vorwegzugreifen, generalisierte Medien der Transaktion (vgl. dazu u.a. auch noch Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, und Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Und wegen dieser „Nähe“ der generalisierten Güter Geld, Macht und Liebe zu den primären Objekten der Begierde sind sie auch für nahezu jedermann nützlich – auch bei sehr unterschiedlichen privaten „Präferenzen“ (vgl. dazu bereits Kapitel 3, sowie zur „kognitiven“ Interpretation von Verstärkern weiter unten Abschnitt 9.4).
Für die Reaktions-Generalisierung sind die Überlegungen ähnlich: Die Verstärkung bezieht sich auch auf einander ähnliche Reaktionen. Die ReaktionsWahrscheinlichkeit sinkt auch hier im Maße der Abweichung dieser Ähnlichkeit von der ursprünglichen Reaktion. Statt eines herrschaftsfreien und kompetenten Diskurses werden beispielsweise auch – mehr oder weniger ernst gemeinte – Schmeicheleien und Versprechungen, aber – zunächst wenigstens – keine Handgreiflichkeiten vorgebracht. Stimulus-Differenzierung bedeutet, daß in einer Klasse von zunächst ähnlich erscheinenden Situationselementen bzw. Verstärkern genau die UnterMenge deutlich unterschieden wird, bei der ganz andere Erfahrungen gemacht werden. Wenn der Pavlovsche Hund auf Glocken-, Triangel- und Hausgong-
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Situationslogik und Handeln
Schläge immer das Stück Fleisch, bei Klavier- und Spinett-Anschlägen aber einen Stromschlag erhält, dann wird er diese „Feinen Unterschiede“ schon bald bemerken, peinlich genau beachten und entsprechend reagieren. Und analog kommt es auch zu einer Reaktions-Differenzierung: Wenn Diskurse nur dann auch zur Verständigung führen, wenn ansonsten die Stimmung gut und die Ressourcen der Eltern reichlich sind, dann wird das rationale Trotzköpfchen genau darauf achten, ob diese Bedingungen gegeben sind, wenn es etwas erreichen will. Generalisierung und Differenzierung von Stimuli und Reaktion sind wichtige Prozesse der evaluativen und kognitiven Ordnung der subjektiven Welt. Beides birgt Risiken und ist nicht ohne Kosten zu haben. Wer Situationen und Reaktionen generalisiert, spart viel Aufwand einer genaueren SituationsAnalyse und Reaktions-Selektion. Wer aber zu grob generalisiert, vergibt auch Chancen und kommt möglicherweise in (tödliche) Gefahren, wie der Eskimo, der eben nicht zweiundzwanzig Schneesorten unterscheiden kann und deshalb in die Gletscherspalte gefallen ist. Wer Situationen und Reaktionen differenziert, reagiert sicher effizienter. Aber nicht immer lohnt dieser Aufwand – wie für den normalen Mitteleuropäer, der nur Neu- und Pappschnee unterscheiden können muß. Am günstigsten wäre es daher wohl, eine „optimale“ Mischung von Generalisierung und Differenzierung zu selegieren. Und zwar so, daß der jeweilige Ertrag der Verfeinerung von Situations-Unterscheidung und Reaktionsgenauigkeit die Kosten genau aufwiegt, die diese Differenzierung mit sich bringt. Wahrscheinlich ist jene Aufteilung der „Strukturen der Lebenswelt“ die klügste, bei der der „relevante“ Nahbereich sehr genau differenziert, und der immer weniger wichtige Fernbereich des Alltagshandelns immer gröber und immer generalisierender betrachtet wird. Jedenfalls kommt Alfred Schütz zu dem Ergebnis, daß genau dies der Hintergrund der ganz besonderen Rationalität des Wissens in der alltäglichen Lebenswelt sei. Die Lerntheorie sagt, daß eine solche optimale Aufteilung in Differenzierung und Generalisierung die Folge eigener Verstärkungs-Erfahrungen sei. Schön wäre es freilich, wenn die Problemlösungen des Alltags darauf nicht festgelegt wären und wenn es flexiblere und bei einem Fehler weniger letale Formen der Selektion einer optimalen Mischung von Generalisierung und Differenzierung gäbe. Extinktion Einmal erlernte Reaktionen können auch wieder abgeschwächt werden. Die Lerntheorie spricht in diesem Fall auch von Extinktion, von der Löschung der
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S-R-Verbindung also. Die Löschung erfolgt im wesentlichen ganz analog zur Verstärkung: Wenn ein zuvor stets belohntes Verhalten nicht mehr belohnt wird, dann verschwindet allmählich die Stimulus-Reaktions-Verbindung. Bei einer nachhaltig auftretenden Bestrafung geht die Löschung natürlich besonders rasch voran. In diesem Zusammenhang wurde ein äußerst interessantes Phänomen beobachtet: die sog. Löschungsresistenz bei intermittierender Verstärkung. Damit ist das Folgende gemeint: Wenn auf eine Reaktion in einer bestimmten Situation nicht immer, oder nicht regelmäßig, eine Belohnung erfolgt war, dann braucht es eine sehr lange Zeit, bis ein so „intermittierend“ verstärktes Verhalten wieder verschwindet. Glücksspieler, Angler und mittelmäßige Schlagersänger, die einmal einen großen Hit und irgendwann noch einmal einen kleineren hatten, wissen, was gemeint ist. In einem Experiment mit Ratten beispielsweise wurden diese durch intermittierende Verstärkung dazu gebracht, bis zu zweitausendmal einen Hebel zu drücken – auch wenn sie nur mit einem zuvor konditionierten Summen und mit dem Verschwinden eines Hindernisses, aber nicht mehr mit einem Primär-Verstärker belohnt wurden.6 Den Fluch der intermittierenden Verstärkung teilen diese Ratten unter anderem mit Jean Löring und seiner glücklosen Fortuna, die ab und zu ein Pokalendspiel oder dergleichen erreicht, und mit dem normalen Wissenschaftler, der sich seiner Erfolge auch nicht sicher ist und dem nichts Schlimmeres passieren kann, als ab und zu einmal eine gute Besprechung der Ergebnisse seiner Bemühungen zu erhalten: „Der schöpferisch Arbeitende, der, ohne sich Ruhe zu gönnen, tätig ist und bisweilen Belohnungen in Gestalt von Anerkennungen oder Titeln erhält, erinnert in geradezu verblüffender Weise an das Verhalten der Ratten in den Experimenten von Zimmerman.“ (Malewski 1977, S. 70).
So ist es. In der Tat. Gott sei’s geklagt. Innere Konflikte Eine Situation kann selbstverständlich auch widersprüchliche Elemente enthalten: Sie kann sowohl aus belohnenden wie aus bestrafenden Reizen bestehen. Und auch die Reaktionen können wiedersprüchliche Folgen haben: Es können gleichzeitig Belohnungen und Bestrafungen mit ihr auftreten. In derartigen Fällen tritt ein „Selektions“-Problem auf: Soll die widersprüchliche Si6
Donald W. Zimmerman, Durable Secondary Enforcement. Method and Theory, in: Psychological Review, 64, 1957, S. 373-383.
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Situationslogik und Handeln
tuation durch ein bestimmtes Verhalten geändert werden oder nicht? Und was soll man tun, wenn die damit zu erreichende neue Situation genauso belohnend, genauso bestrafend oder genauso widersprüchlich ist? Alle diese Fälle hatten wir bereits in Abschnitt 7.3 unter dem Problem des inneren Konfliktes in einem anderen theoretischen Zusammenhang kennengelernt. Ähnlich wie dort können drei Grundkonstellationen unterschieden werden: der Konflikt zwischen zwei gleich belohnenden Situationen, die mit einer Reaktion zu erreichen sind, als Appetenz-Appetenz-Konflikt; der Konflikt zwischen gleich bestrafenden Reaktionen als Aversions-Aversions-Konflikt; und der Konflikt, der auftritt, wenn mit einer Reaktion eine Situation erreicht wird, die zugleich als belohnend und bestrafend erlebt wird, der Appetenz-Aversions-Konflikt. Ähnlich wie die Handlungstheorie sagt nun auch die Lerntheorie, daß bei Konflikten das Verhalten von der relativen Stärke der jeweiligen „Tendenzen“ abhängt. Eine interessante Einzelheit sei in diesem Zusammenhang noch berichtet: Bei Annäherung an eine Situation, die sowohl belohnende wie bestrafende Elemente enthält, wächst die Tendenz zur Vermeidung schneller als die Tendenz zur Annäherung. Als Folge davon gibt es einen stabilen Abstand vom Ziel, der nicht unterschritten wird, weil dann die Furcht vor der Bestrafung die Belohnungserwartung überwiegt. Diese Asymmetrie von Verlust- und Gewinnerwartung entspricht im übrigen dem asymmetrischen Verlauf der Nutzen- und Schadens-Funktionen bei Tversky und Kahneman, über die in Abschnitt 8.4 berichtet worden war.
Ansonsten werden gerade hier die große Ähnlichkeit zwischen den Aussagen der Lerntheorie und der WE-Theorie erkennbar. Und das ist ja auch kein Wunder: Die Belohnungen und Bestrafungen werden – für gewisse Reaktionen und unter bestimmten Reiz-Bedingungen der Situation – innerlich erwartet. Es wird die Reaktion „gewählt“, die den höchsten erwarteten Belohnungswert aufweist. Und wenn es Belohnungen und Bestrafungen gleichzeitig gibt, dann wird das als ein unangenehmer innerer Konflikt erlebt. Es ist der gleiche Konflikt, den jeder Käufer durchmacht, der ja nicht nur ein interessantes Produkt ersteht, sondern dafür auch seine Brieftasche plündern muß.
9.4
Lernen und Handeln
Einige Einzelheiten des Effektgesetzes und der Lerntheorie waren uns bereits in Abschnitt 6.1 begegnet: Bei der Besprechung der fünf grundlegenden Verhaltenshypothesen von George C. Homans. Dort war auf eine – angeblich – besondere Stärke der Lerntheorie gegenüber allen Theorien des Handelns hingewiesen worden: Daß sie den Erwerb und die Ausführung von Reaktionen in einem Akt theoretisch zusammenführe: Mit dem Erlernen eines Verhaltens
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werde gleichzeitig die Wahrscheinlichkeit seines Auftretens in einer Situation erklärt. Daher glaubte Homans, mit seinen fünf Hypothesen nicht nur das Handeln seines Anglers, sondern auch das Erlernen von dessen Erwartungen und Bewertungen erklärt zu haben. Aber ist es ratsam, den Erwerb der Bewertungen und der Erwartungen und die Selektion des Handelns in eine Theorie unterzubringen? Sehen wir uns zuvor einmal an, was der Mensch – und andere „intelligente“ Lebewesen – über das bloße „Reagieren“ hinaus noch können. Das S-R und das S-O-R-Modell Das klassische Konditionieren, aber auch das Reagieren nach dem instrumentellen Lernen sieht äußerlich wie eine reichlich passive Angelegenheit des Organismus aus: Allein die zeitliche Kontiguität von neutralen und von primären Stimuli entscheidet, welchen Wert die neutralen Stimuli erhalten und wie der Organismus in bestimmten Situationen reagiert. Der Organismus selbst tut anscheinend nichts Besonderes dazu: Die Situation bzw. der Stimulus S löst die Reaktion R unmittelbar und reflexartig aus. Der Akteur reflektiert nicht weiter, sondern „reagiert“ nach Maßgabe seiner Verstärkungs-Biographie und bei Auftreten des entsprechenden Stimulus. Das Modell der unmittelbaren, passiven Reaktion R auf einen Stimulus S wird auch als S-R-Modell bezeichnet (siehe Abbildung 9.3; vgl. dazu bereits Abschnitt 6.1). Dieses Reflex-Modell des Verhaltens als Grundlage soziologischer Erklärungen ist in der „handlungstheoretischen“ Soziologie immer sehr skeptisch betrachtet worden. Schon bei der einfachsten Konditionierung ist der Organismus ja nicht unbeteiligt. Sekundäre Verstärkungen erfolgen nur insoweit, als die anderen Funktionen des Organismus nicht beeinträchtigt werden. Die Internalisierung von Bewertungen muß daher immer auch schon als eine Selektion durch den Organismus selbst angesehen werden – und nicht nur als die schiere kausal ablaufende „Prägung“ aufgrund einer äußerlichen Mechanik. Auch das Lernen ist, so können wir festhalten, eine Aktivität des Organismus. Er „entscheidet“ sich innerlich, was er übernimmt und was nicht. Und dann „entscheidet“ er sich davon noch einmal unabhängig, ob er in einer bestimmten Weise in einer Situation reagiert oder nicht.
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Situationslogik und Handeln
Stimulus (S)
Reaktion (R)
Abb. 9.3: Das S-R-Modell der Verbindung von Situation und Reaktion
Kurz: Der Organismus mit seinem Gedächtnis, aber auch mit seiner Fähigkeit zur Wahrnehmung und Interpretation von Symbolen und von auch gänzlich neuen Situationselementen, zum logischen Schließen und zur Bildung von Regeln, zu Kreativität und Findigkeit, sowie zur „Wahl“ zwischen Alternativen bildet eine intervenierende Instanz zwischen dem Stimulus der Situation und der Reaktion. Das entsprechende Modell, das dies ausdrücklich berücksichtigt, wird das S-O-R-Modell genannt, weil sich der „Organismus“ (als „O“) zwischen den Stimulus „S“ und die Reaktion „R“ (aus Abbildung 9.2) schiebt.
Stimulus (S)
Reaktion (R)
Organismus (O) Abb. 9.4: Das S-O-R-Modell der Verbindung von Situation und Reaktion
Der wichtigste Unterschied des S-O-R-Modells zum einfachen S-R-Modell ist der, daß damit systematisch der Erwerb von Eigenschaften und die Ausführung einer Reaktion unterschieden werden. Es ist – so sei doch angemerkt – genau die Unterscheidung, die auch das Grundmodell der soziologischen Erklärung macht. Die Verbindung zwischen Situation und Reaktion erfolgt über zwei Schritte: von der Situation auf den Akteur und vom Akteur auf das Handeln. Das S-R-Modell behauptet dagegen einen Kurzschluß: Die Reaktion folge unmittelbar und ohne jedes selektierende Zutun des Organismus.
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Latentes Lernen Mit dem S-O-R-Modell wird systematisch zwischen dem Erwerb von Bewertungen und Erwartungen und der Ausführung eines Handelns unterschieden. Das S-R-Modell kennt – so wie George C. Homans mit seiner Verhaltenstheorie – diese Unterscheidung nicht. Sie wurde zuerst von Edward C. Tolman vorgeschlagen, der ja auch einen der wichtigsten Beiträge zur Entwicklung der WE-Theorie geliefert hat. Er wurde dazu von einem Ergebnis angeregt, das den sehr behavioristisch gesonnenen Lerntheoretikern seiner Tage größtes Kopfzerbrechen bereitete: das Phänomen des latenten Lernens. Der Psychologe Hugh C. Blodgett stellte in einem im Jahre 1929 durchgeführten Experiment fest, daß hungrige Ratten, die bei jedem Versuch mit Futter belohnt wurden, bei ihren Durchgängen durch ein Labyrinth eine typische allmähliche Abnahme von „Fehlern“ und eine Verringerung der Suchzeit aufwiesen.7 Andere Ratten wurden ohne Futterbelohnung durch das Labyrinth geschickt. Diese hatten, weil sie ja kein richtiges Ziel hatten, nur eine sehr geringe Abnahme bei Fehlern und Suchzeiten im Durchgang durch das Labyrinth. Wenn man diesen Ratten anschließend aber auch eine Futterbelohnung anbot, dann zeigten sie bereits beim ersten Versuch nach der ersten Belohnung eine drastische Verminderung in den Fehlern und den Suchzeiten (vgl. Abbildung 9.5).
Die Gruppe 1 in dem Experiment waren Ratten, die sofort belohnt wurden, Gruppe 2 bestand aus Ratten, die nach dem 7. Tag, und Gruppe 3 aus solchen, die nach dem 3. Tag belohnt wurden, und das Ergebnis: Je länger die Ratten ihr Terrain auch ohne besonderen Grund erkundet hatten, um so steiler war ihre Lernkurve. Was war geschehen? Offensichtlich war der Erwerb einer Art von kognitiver Landkarte des Labyrinthes nicht davon abhängig, ob die Ratten darauf verstärkt wurden oder nicht. Vielmehr hatten sie sozusagen im Vorbeigehen ein „latentes“ Wissen erworben, das sie dann nutzen konnten, als es darauf ankam. Das scheinbar nutzlose Umherstreifen war anscheinend doch ganz nützlich gewesen. Nach dem Effektgesetz hätte etwas ganz anderes herauskommen müssen: Die später „verstärkten“ Ratten hätten eine ähnliche Reaktionsfunktion des Fehlerabfalls haben müssen – nur eben später beginnend. Hier aber vermindern sich – nach der unverstärkten Phase des latenten Lernens – die Fehler schlagartig schon nach der ersten Belohnung. Man könnte es auch so sagen: Die Ratten haben „latent“ eine Alltagstheorie erworben, die sie bei einer Änderung der Opportunitätsstrukturen sogleich findig und intelligent einsetzen und mit der sie eine unmittelbare Maximierung des erwarteten Nutzens erreichen. Schon Ratten „verhalten“ sich also offensichtlich nicht (im Sinne 7
Hugh C. Blodgett, The Effect of the Introduction of Reward upon the Maze Performance of Rats, in: University of California Publications in Psychology, 4, 1929, S. 113-134.
380
Situationslogik und Handeln
der „Lern“-Theorie), sondern „handeln“, indem sie ein latent erworbenes Wissen für die Nutzung der Möglichkeiten in der Situation flexibel verwenden.
3,0
Fehlerzahl
2,5 2,0
Gruppe I
Gruppe III
Gruppe II
1,5 1,0 0,5 0 0
1
2
3
4
5
6
7
8
9
Anzahl der Tage Abb. 9.5: Das Phänomen des latenten Lernens (nach Blodgett 1929, S. 120)
Die Reflexion der Reaktion Die wichtige Besonderheit ist also die, daß sich eigenständige kognitive und evaluative Prozesse zwischen die Situation und die Selektion der Reaktion schieben. Der „Organismus“ im S-O-R-Modell ist nur eine Kurzbezeichnung für alle diese Prozesse. In der WE-Theorie wird der „Organismus“ über die Erwartungen und Bewertungen sowie über die Evaluation und schließliche Selektion einer Alternative berücksichtigt. In der interaktionistischen Rollentheorie ist damit die Subjektivität, die Identität, die Kombination der verschiedenen „Me’s“ und des „I“ der Person gemeint. Die entwicklungspsychologische
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381
Sozialisationstheorie spricht vom moralischen Bewußtsein, das sich zwischen die Situation und die Ausführung eines Tuns legt, und Jürgen Habermas, der gute, von der Fähigkeit zu Reflexion und kommunikativer Vergewisserung. Menschen sind, wie in groben Zügen auch schon die Tiere, die etwa Edward C. Tolman oder H. C. Blodgett untersuchten, eben keine blinden Deppen, keine willenlosen Marionetten und keine verantwortungslosen Automaten. Ausführung und Erwerb In der handlungstheoretisch orientierten Soziologie ist die von Edward C. Tolman zuerst vorgenommene Trennung von Erwerb von Erwartungen und Bewertungen und der Ausführung einer Handlung eine geläufige Meinung. Alfred Schütz nennt – zum Beispiel – die Motive, die bei der Ausführung einer Handlung bedeutsam sind, bezeichnenderweise dann auch Um-zu-Motive: Die nicht verstärkten Ratten liefen nach der ersten Belohnung besonders rasch durch das Labyrinth, „um“ schnell an das begehrte Futter „zu“ gelangen. Ein Mörder erschlägt sein Opfer, „um“ – mangels anderer Chancen – rascher an einen Geldbetrag „zu“ gelangen. Und dazu muß das Produkt von Wissen und Anreiz vergleichsweise hoch sein, und die Situation muß auch die entsprechenden Chancen bieten. Dies ist der „a-historische“, immer geltende Teil der Logik der Selektion. Davon deutlich zu unterscheiden ist die „historische“ oder „biographische“ Frage nach dem Erwerb der Erwartungen und Bewertungen im Laufe des Lebens und der Sozialisation. Dieser Erwerb geschieht sicher auch über Lernen: latentes Lernen (für die Erwartungen und die „cognitive map“ allein schon durch Zusehen und Wahrnehmen), instrumentelles Lernen (mindestens als Folge einer durch die Belohnungen forcierten und gezielten Aufmerksamkeit für die Wirksamkeit der Alternativen) und mitunter durchaus auch über das klassische Konditionieren (insbesondere für den Erwerb der Bewertungen und Präferenzen). Die so entstandenen Muster an Erwartungen und Bewertungen nennt Alfred Schütz die Weil-Motive. Sie umschreiben die Ergebnisse der Lernbiographie eines Akteurs: das latente Wissen um die inneren Verschlungenheiten des Labyrinthes bei den Ratten; oder die mühsam im Rahmen des Absitzens von Vorstrafen erworbene Kenntnis von Techniken des Raubmordes, ohne die eine solche (Un-)Tat ein höchst unvernünftiges und ineffizientes Unterfangen wäre, für das auch bei entsprechenden Gelegenheiten in einer Situation das EU-Gewicht für den Mord und damit das entsprechende Um-ZuMotiv viel zu gering geblieben wäre.
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Situationslogik und Handeln
Mit dem Phänomen des latenten Lernens wurde selbst für das Verhalten von Ratten nachgewiesen, daß sie viel findiger und reflektierter agieren als die (behavioristische) Lerntheorie es sich hat träumen lassen. Offensichtlich ist bei allen einigermaßen aufnahmefähigen Organismen die „Penetration“ der Situation in den „Organismus“ keineswegs als eine passive Konditionierung, Prägung oder Verstärkung zu denken, sondern als ein selbst, mindestens in gewissem Grade, vom Akteur gesteuerter und mehr oder weniger selektiv gehandhabter Vorgang, eine Art von Selbstsozialisation also. Imitation Das latente Lernen besteht in einer Art von en passant-Aufnahme von Informationen über die jeweilige Umgebung. Diese Informationen werden aber nicht immer auch genutzt, sondern erst, wenn es sich „lohnt“. Und sie werden ganz offenkundig auch ohne jede weitere „Verstärkung“ aufgenommen. In einer Situation könnte es zum Beispiel auch andere Akteure geben, die sich vor dem Hintergrund bestimmter problematischer Situationen ganz erfolgreich verhalten. Die von diesen „Modellen“ der Problemlösung verfolgten Strategien könnte sich ein Akteur, der „Beobachter“, schon einmal – mehr oder weniger gezielt – für spätere Verwendungen merken. Das Verhalten des Modells kann der Beobachter also wahrnehmen und – ohne weitere eigene Erfahrungen – für Versuche einer eigenen, erfolgreichen Problemlösung in vergleichbaren Situationen nutzen. Ein derartiges Verhalten in Orientierung an Beobachtungen eines Modells wird auch als Imitation bezeichnet. Es kann allgemein als Ergebnis des Lernens aus den Erfahrungen anderer, als „stellvertretendes“ Lernen verstanden werden. Die Erklärung von Imitationen wurde zunächst ganz im Rahmen der herkömmlichen Lerntheorie und des Effektgesetzes versucht: Die Beobachter müssen auf das imitative Verhalten hin verstärkt werden. Die Psychologen Neal E. Miller und John Dollard haben zum Beispiel in verschiedenen Experimenten in der Tat herausgefunden, daß Ratten imitierende Reaktionen auf das Verhalten von Modell-Ratten dann verstärkt zeigten, wenn sie dafür belohnt wurden, daß sie die Modelle genau imitierten.8 Ratten, die aber dafür belohnt wurden, daß sie genau das Gegenteil von dem taten, was ihre Modelle zeigten, ließen die imitierenden Reaktionen alsbald sein (vgl. Abbildung 9.6). 8
Vgl. Neal E. Miller und John Dollard, Social Learning and Imitation, New Haven, Conn., und London 1941, S. 109ff.
383
Lernen
100
80
Imitation belohnt
imitierende 60 Reaktion in % 40 Nicht-Imitation belohnt 20
0 2.
4.
6.
8.
10.
12.
14. Tag
1. Versuch am ersten Tag
Abb. 9.6: Die Verstärkung imitierender Reaktionen bei Ratten (nach Miller und Dollard 1941, S. 110)
Noch in durchaus nicht veralteten Lehrbüchern der Sozialpsychologie wird dieses Ergebnis als ein Beleg dafür gewertet, daß die „Versuchstiere auf die Imitation anderer Versuchstiere konditioniert werden können.“9 Wäre aber nicht die folgende Erklärung viel plausibler und der wirklich erstaunlichen Intelligenz der Ratten viel angemessener? Nämlich: Die Ratten sind nicht konditioniert worden, sondern haben nur relativ schnell aufgrund ihrer Beobachtungen eine Regel erschlossen, unter welchen Bedingungen Erfolg oder Mißerfolg zu erwarten sind. Und die Orientierung an dieser Regel, nicht aber die mechanische Konditionierung auf ein fixiertes Verhalten, entscheidet, ob das Verhalten eine Imitation oder eine Nicht-Imitation ist. Das, was nach außen wie eine Konditionierung aussieht, ist – mindestens zu einem erheblichen Teil – nichts anderes als die Oberfläche der intelligenten Herausbildung und Selektion einer Regel, die aber nur dann angewandt wird, 9
So: Martin Irle, Lehrbuch der Sozialpsychologie, Göttingen, Toronto und Zürich 1975, S. 236; Hervorhebung so nicht im Original.
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Situationslogik und Handeln
wenn der Beobachter des Modells, die kluge Ratte, sich davon etwas verspricht. Die Theorie der Imitation ist später immer stärker in diese aktive, kognitive und intelligente Richtung hin verändert worden: Es werden Zeichen, Hypothesen, Rezepte, cognitive maps und das Handeln anderer beobachtet und wahrgenommen, in Regeln übersetzt und durch die eigenen Handlungen dann – mehr oder weniger – als „richtig“ oder als „falsch“ erlebt und somit „gelernt“. Das instrumentelle Lernen fungiert mehr als der letzte harte Test dieser Regeln am eigenen Leibe denn als eine „Verstärkung“ in dem passivistischen Sinne des Effektgesetzes. Lernen am Modell Dieses alles bezieht sich aber immer nur auf den Erwerb der kognitiven Strukturen. Die Ausführung der eigentlichen Handlung ist – so haben wir gesehen – davon logisch und empirisch deutlich abgetrennt. Diese Trennung wird in der Theorie des Lernens am Modell bzw. des Lernens durch Beobachtung, wie sie etwa auf O. Hobard Mowrer oder auf Albert Bandura und Richard H. Walters zurückgeht, auch experimentell nachhaltig bestätigt.10 Beispielsweise:11 Kindern wurden verschiedene Modelle aggressiven Verhaltens vorgestellt. Drei Gruppen wurden unterschieden: Eine Gruppe wurde dafür belohnt, daß sie das jeweilige Modell komplett imitierte. Eine andere Gruppe wurde nicht belohnt, aber auch nicht bestraft. Und die dritte Gruppe wurde für das Imitieren bestraft. Es zeigte sich – einigermaßen erwartungsgemäß – daß bei Bestrafung der Anteil der Imitationen deutlich absinkt. Anschließend wurde untersucht, ob sich die Kinder auch noch an ihre jeweiligen Handlungen erinnern konnten. Und es zeigte sich nun, daß sich die Kinder auch bei Bestrafung der Imitation sehr wohl gemerkt hatten, wie das Verhalten der „Modelle“ ausgesehen hatte: Die „richtigen“ Erinnerungen bei den Kindern aus der „bestraften“ Gruppe waren sogar leicht höher als bei den beiden anderen Gruppen. Mit anderen Worten: In der ersten Phase des Experimentes wurden die Modelle auch dann erworben, wenn es eine negative Verstärkung, eine Bestrafung gab.
Das Ergebnis belegt und bestätigt alle die Resultate die sich auch schon bei den Ratten-Experimenten zum latenten Lernen so nachhaltig zeigten: Situationen wirken keineswegs nur über das unmittelbare Erleben und über – mühse10
O. Hobart Mowrer, Learning Theory and the Symbolic Processes, New York und London 1960, Kapitel 3: Learning Theory and Language Learning: The Problem of ‚Imitation‘, S. 70-116; Albert Bandura und Richard H. Walters, Social Learning and Personality Development, New York u.a. 1963, S. 52ff.
11
Das folgende Experiment berichtet Albert Bandura, Influence of Models‘ Reinforcement Contingencies on the Acquisition of Imitative Responses, in: Journal of Personality and Social Psychology, 1, 1965, S. 589-595.
Lernen
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lige – Verstärkungen oder Extinktionen, sondern auch über Wahrnehmungen, über (für das Erleben: stellvertretende) Zeichen und Symbole, über „Modelle“, die beobachtet, intelligent und kreativ „interpretiert“ und keineswegs sklavisch nachgeäfft werden. Und die Ausführung von Handlungen ist – schon bei Ratten und kleinen Kindern – dann eine noch ganz andere Angelegenheit von manchmal erschreckender Raffinesse, strategischer Impulshemmung und Findigkeit. Imitation und Lernen am Modell haben, auch darauf waren wir in Abschnitt 6.1 schon gestoßen, einige gewaltige Vorteile für die flexible und kostensparende Anpassung gerade bei sich rasch wandelnden Umgebungen. Die Nachahmung eines Modells, das offensichtlich kompetent ist und weiß, wie man in einer selbst undurchschaubaren Umgebung erfolgreich agiert, erspart eigene mühselige Versuchs-und-Irrtums-Prozeduren. Und wenn das Modell offensichtlich wenig Erfolgversprechendes tut, dann ist es vernünftig, ihm nicht mehr zu folgen. Wenn ein Modell sich sogar systematisch irrt, dann hilft die Rekonstruktion des Algorithmus dieses Irrtums bei der Entwicklung einer eigenen Regel für ein Handeln, das das Modell nur als Taktgeber für eine ganz eigene Regel ausnutzt. Von blinder Imitation kann dann sicher keine Rede mehr sein, wohl aber von geschickter Ausnutzung der verfügbaren Informationen der Situation für die eigenen Zwecksetzungen. Natürlich ist das Beobachten und auch das intelligente Nachahmen von Modellen nicht ohne Risiko des Scheiterns, wenn man es selbst ausprobiert. Das ist der Preis für die Flexibilität und für die Kostenersparnis gegenüber der Sicherheit der eigenen Erfahrungen. Konditionierungen und instrumentelles Lernen überzeugen die Organismen sehr zuverlässig, aber langsam. Imitation und Lernen am Modell geht schnell, relativ preiswert, aber immer mit dem Risiko der Unsicherheit, daß das Rezept nicht (sofort) gelingt. Und sei es: weil die Durchführung selbst gewisse Fertigkeiten voraussetzt, deren Motorik erst einmal mühselig gelernt werden muß. Lernen als „Entscheidung“ Spätestens mit dieser Unsicherheit wird die Orientierung an Modellen, denen man folgen möchte, aber auch eine Frage der Selektion: Soll man eigene Erfahrungen machen oder ein Modell imitieren? Und wenn Imitation: Welches Modell soll es denn sein? Damit sind wir an einem wichtigen Punkt angelangt: Die „Interpenetration“ von Situation und Akteur erscheint selbst – schon von der Frage der wirkenden Mechanismen her gesehen – als ein Vorgang der aktiven Selektion von Erwartungen und Bewertungen durch den Akteur, der
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Situationslogik und Handeln
zwar von der Ausführung der overten Handlungen unabhängig, aber nach der gleichen Logik der Selektion erfolgt wie diese. Anders gesagt: Akteure „entscheiden“ sich innerlich auch für oder gegen die Abspeicherung von Erfahrungen und für oder gegen bestimmte Modelle und Orientierungen ihres „Verhaltens“. Die Frage nach einer „Entscheidung“ zwischen alternativen Modellen drängt sich dann besonders nachhaltig auf, wenn die Welt nicht mehr einfach strukturiert ist und – etwa – nur aus Helden und Erfolgsmenschen einerseits oder aus Schurken und Versagern andererseits besteht, sondern wenn es verschiedene und widersprüchliche Modelle gibt und wenn deren „Erwartungswert“ nicht eindeutig in die eine oder andere Richtung weist. Beispielsweise: Ein Modell ist sehr zuverlässig, erreicht aber nur mäßige Erfolge. Ein anderes Modell hat nicht immer Erfolg, wenn aber ein Erfolg eintritt, dann ist dieser sehr groß. Ein erfolgreiches und zuverlässiges Modell zeigt ein Verhalten mit einem hohen Schwierigkeitsgrad, bei dem die erfolgreiche Imitation unwahrscheinlich erscheint. Und ein anderes Modell scheint leicht zu imitieren, aber der Ertrag ist offenkundig nur recht gering. Und so weiter.
Woran soll man sich dann halten? Die Antwort ist nicht schwer: Speichere das Modell des Handelns in einer bestimmten Situation ab, das für die Lösung eines Problems dort am nützlichsten und am erfolgreichsten erscheint! Kurz: Maximiere auch beim Lernen die Wert-Erwartung der für das Lernen möglichen Alternativen! Die WE-Theorie ist also offenbar wirklich eine ganz allgemeine Angelegenheit. Sie kann sogar das Entstehen ihrer eigenen Randbedingungen erklären helfen: die Übernahme bestimmter Bewertungen und Erwartungen. Sie ist eine Super-Theorie. Super!
Kapitel 10
Die „Logik“ der Situation
Der besondere Charme der soziologischen Methode lag in der Vorstellung, soziale Strukturen unmittelbar aus sozialen Strukturen über gewisse soziologische Gesetze erklären zu können: Die protestantische Ethik erschafft den Kapitalismus, die Industriegesellschaft die Kleinfamilie und der Klassenkonflikt die Revolution, sowie letztendlich die klassenlose Gesellschaft – beispielsweise. Wir wissen inzwischen, daß die Suche nach solchen soziologischen Gesetzen eine etwas zu hoffnungsfrohe Vorstellung war. Wir wissen aber auch, daß die soziologische Methode einen durchaus haltbaren und beachtenswerten Kern hatte: Es gibt – unter Umständen – eine „Logik“ der Entstehung sozialer Strukturen aus sozialen Strukturen. Nur: Sie geht ihren „logischen“ Weg nicht über den einen Schritt eines soziologischen Strukturgesetzes, sondern immer nur über die drei Schritte einer soziologischen Erklärung, oft in längere Sequenzen hintereinander geschaltet. Wie eine solche, mit dem Modell der soziologischen Erklärung aufgebaute, übergreifende „Logik“ der Entstehung von Strukturen aus Strukturen aussieht, wird in dem nun folgenden Kapitel gezeigt. Beginnen wollen wir mit einer etwas genaueren Besprechung des Konzeptes der Situationslogik von Karl R. Popper, das wir ja in der Einleitung schon kurz erwähnt hatten.
10.1 Das Konzept der Situationslogik Unter Situationslogik wird von Karl R. Popper ganz allgemein die „logische“ Verknüpfung der gesellschaftlich strukturierten Handlungsumstände von Akteuren mit typischen Folgen des dadurch induzierten Handelns verstanden.1 Es sind danach eben nicht die inneren Antriebe der Menschen, die die gesellschaftlichen Prozesse hervorbringen, sondern die – materiell, institutionell und 1
Karl R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Band 2: Falsche Propheten. Hegel, Marx und die Folgen, 5. Aufl., München 1977 (zuerst: 1945), S. 114ff.
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Situationslogik und Handeln
kulturell geprägten – gesellschaftlichen Strukturen, und zwar über die dadurch strukturierten Interessen, Motive und Kognitionen der Menschen und ihr daran wiederum „logisch“ anschließendes Handeln. Wenn man genauer hinsieht, besteht das Konzept der Situationslogik exakt aus jenen drei elementaren Schritten, die den drei elementaren Schritten einer soziologischen Erklärung entsprechen. Wir gehen sie der Reihe nach durch. Die Objektivität der situationellen Bedingungen Der erste Aspekt des Konzeptes der Situationslogik ist die materiell, institutionell und kulturell bestimmte objektive „Logik der Situation“, an der die Akteure ihr Handeln orientieren. Die erste Aufgabe der soziologischen Analyse ist daher deren Rekonstruktion und Modellierung. Sie bedeutet bereits ein „Verstehen“ der Akteure – ohne sie selbst zu fragen! Denn dieses Verstehen ist nach Popper ein grundsätzlich objektives Verstehen, da es an den objektiv gegebenen Eigenschaften der Situation anknüpft. Das heißt aber, „ ... daß es eine rein objektive Methode in den Sozialwissenschaften gibt, die man wohl als die objektiv-verstehende Methode oder als Situationslogik bezeichnen kann. Eine objektivverstehende Sozialwissenschaft kann unabhängig von allen subjektiven oder psychologischen Ideen entwickelt werden. Sie besteht darin, daß sie die Situation des handelnden Menschen hinreichend analysiert, um die Handlung aus der Situation heraus ohne weitere psychologische Hilfe zu erklären. Das objektive ‘Verstehen’ besteht darin, daß wir sehen, daß die Handlung objektiv situationsgerecht war.“2
Mit dem Hinweis auf das objektive Verstehen wird betont, daß es nicht notwendig und nicht ratsam ist, bei der Beschreibung der Situation auf die Subjektivitäten und die individuellen Ideosynkrasien der Menschen einzugehen, sondern nur die „objektiven“ Merkmale der Situation zu betrachten, die für das Handeln der Menschen unverrückbare Gegebenheiten auch dann sind, wenn die Menschen dies einstweilen nicht sehen oder nicht wahrhaben wollen. Alle geltenden sozialen Regeln – Normen, Verbote, rechtliche Bestimmungen – gehören dazu, ebenso wie die eher materiellen oder technischen Beschränkungen und Möglichkeiten des Handelns und die kulturellen Rahmungen und Strukturierungen der Definition der Situation. In Teil A haben wir diesen Schritt der „Objektivierung“ der Definition der Situation ausführlich besprochen, insbesondere im Zusammenhang mit dem Konzept der sozialen Produktionsfunktionen (vgl. dazu gleich auch noch den Abschnitt 10.2). 2
Karl R. Popper, Die Logik der Sozialwissenschaften, in: Theodor W. Adorno u.a., Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, 10. Aufl., Darmstadt und Neuwied 1982 (zuerst: 1969), S. 120; Hervorhebungen im Original.
Die „Logik“ der Situation
389
Die Trivialität des situationsgerechten Handelns Der zweite Teil des Argumentes von der objektiven Kraft der Situationslogik bezieht sich auf die im obigen Zitat zuletzt angesprochene Selektionsregel eines „situationsgerechten“ Handelns. Popper meint, daß dieser Teil der Situationslogik derart selbstverständlich und so trivial sei, daß man ihn getrost vernachlässigen könne: „Eine Erklärung aus der Situation allein ist natürlich nie möglich; wenn wir erklären wollen, warum ein Mensch beim Überqueren der Straße den Fahrzeugen in bestimmter Weise ausweicht, so werden wir vielleicht über die Situation hinausgehen müssen; wir werden Bezug nehmen müssen auf seine Beweggründe, auf einen ‘Instinkt’ der Selbsterhaltung, auf einen Wunsch, Schmerzen zu vermeiden. Aber dieser psychologische Teil der Erklärung ist sehr oft trivial im Vergleich zu der detaillierten Bestimmung seiner Handlungen durch das, was man die Logik der Situation nennen könnte; ... .“ (Popper 1977, S. 122f.; Hervorhebung so nicht im Original)
Die Regeln der situationsgerechten Selektion des Handelns sind für Popper also derart offensichtlich, daß darüber nicht viel zu sagen wäre – außer der ihm selbstverständlichen Annahme, daß die Logik der Selektion die „rationale“ Ausführung der Vorgaben der Logik der Situation beinhalte. Dies sei aber keine „psychologische“ Gesetzmäßigkeit und keine empirische Eigenschaft des menschlichen Organismus, sondern eine Vorgabe, die in das Konzept der „Logik“ der Situation selbst eingeschlossen sei: „Die Methode der Anwendung einer Situationslogik auf die Sozialwissenschaften beruht auf keiner psychologischen Annahme über die Rationalität (oder eine andere hervorstechende Eigenschaft) der ‘menschlichen Natur’. Im Gegenteil: Wenn wir von ‘rationalem Verhalten’ oder ‘irrationalem Verhalten’ sprechen, so meinen wir damit ein Verhalten, das der Logik der Situation entspricht oder nicht.“ (Ebd., S. 123; Hervorhebungen nicht im Original)
Die „Logik“ der Situation beruht nach Popper also in ihrem zweiten Schritt gerade darauf, daß sich das Handeln der Menschen streng der Logik einer rationalen Selektion des Handelns fügt – und darüber dann fest der Logik der objektiven Vorgaben der Situation folgt. Die Befolgung dieser Selektionsregel sei daher keine Frage einer psychologisch verankerten, empirisch-deskriptiven Eigenschaft der menschlichen Natur. Aus dieser fast schon apriorisch anmutenden Begründung für die rationale Logik der Selektion des Handelns ergibt sich dann auch der Eindruck der Trivialität dieser Regel des Handelns: Alles, was „rational“ ist, ist „logisch“. Und alles was „logisch“ ist, ist ja in gewisser Weise tatsächlich selbstverständlich, apriori einsehbar und daher trivial und eigentlich nicht weiter erwähnenswert. Und das stimmt ja auch: Wenn man die situationalen Randbedingungen kennt und die Logik etwa der WE-Theorie
390
Situationslogik und Handeln
darauf anwendet, dann „folgt“ das Handeln einfach, trivial und logisch aus der Berechnung der EU-Gewichte und der Maximierungsregel. Die unintendierten Folgen des absichtsvollen Handelns Popper nennt ein drittes Element der Situationslogik, von dem her gesehen es geradezu absurd erscheinen muß, bei der Erklärung der sozialen Prozesse auf die psychischen Eigenschaften der menschlichen Akteure Bezug zu nehmen: Die sozialen Prozesse und gesellschaftlichen Institutionen sind so gut wie nie das unmittelbare Ergebnis bewußter Planung, sondern „ ... in der Regel das indirekte, unbeabsichtigte und oft unerwünschte Beiprodukt solcher Handlungen.“ (Ebd., S. 118; Hervorhebung so nicht im Original) Diesen Aspekt der von den Vorlieben und der bewußten Planung unabhängigen Situationslogik verdeutlicht Popper unter anderem so: „ ... zwar mögen manche Leute behaupten, eine Vorliebe für die Berge und die Einsamkeit sei psychologisch erklärbar, aber die Tatsache, daß, wenn zu viele Menschen die Berge lieben, sie dort keine Einsamkeit genießen können, ist keine psychologische Tatsache; ... .“3
Es ist also die unentrinnbare Eigenlogik der unintendierten Folgen, die dafür sorgt, daß sich die sozialen Prozesse oft genug auch gegen die Absichten, Wünsche und Bedürfnisse der Menschen nachhaltig durchsetzen – so wie es Robert K. Merton mit der Geschichte von der Last National Bank geschildert hat, bei der die ängstlichen Kunden ja sicher nicht wollten, daß die Bank wirklich und ausgerechnet durch ihr Tun zusammenbricht. Gerade das Studium „der unbeabsichtigten Rückwirkungen unserer Pläne und Handlungen“ (Popper 1977, S. 119) sei die wohl wichtigste Aufgabe der Soziologie: „Things always turn out a little bit differently. We hardly ever produce in social life precisely the effect that we wish to produce, and we usually get things that we do not want into the bargain. Of course, we act with certain aims in mind; but apart from these aims (which we may or may not really achieve) there are always certain unwanted consequences of our actions; and usually these unwanted consequences cannot be eliminated. To explain why they cannot be eliminated is the major task of social theory.“4
Zur Erklärung der unentrinnbaren Eigendynamik sozialer Prozesse nimmt Popper dann an, daß sich die drei Elemente – die Objektivität der Situation, 3
Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, 4. Aufl., Tübingen 1974a (zuerst: 1960), S. 124; Hervorhebung nicht im Original.
4
Karl R. Popper, Towards a Rational Theory of Tradition, in: Karl R. Popper, Conjectures and Refutations. The Growth of Scientific Knowledge, 5. Aufl., London 1974b (zuerst: 1963), S. 124; Hervorhebungen nicht im Original.
Die „Logik“ der Situation
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die trivial-apriorische Regel des rational-situationsgerechten Handelns und die Eigendynamik der unintendierten Folgen – zu einer festgefügten Einheit einer übergreifenden sozialen Logik zusammenschließen ließen. Die Einheit der drei Elemente macht dann das Konzept der Situationslogik aus. Ihre Rekonstruktion für die beobachtbaren sozialen Prozesse – warum etwa in den 60er Jahren an den amerikanischen Universitäten die Studentenproteste an den besseren Hochschulen begannen – ist die spezifische Aufgabe der Soziologie, eine Aufgabe, die ihr niemand nehmen kann, die aber auch kein anderes Fach in dieser Weise wahrnehmen könnte.
10.2 Was ist „logisch“ an einer Situation? Was ist nun aber derart „logisch“ an einer Situation, daß die Akteure letztlich gar nicht anders können, als den Vorgaben der Strukturen zu folgen und auch ihre subjektiven Orientierungen danach zu richten? Wir greifen das Beispiel der Studentenproteste an den amerikanischen Universitäten aus Kapitel 1 noch einmal auf, um die besondere Kraft der „Logik“ der Situation zu verstehen. Es geht wieder um die Professoren und um die Frage, warum diese sich in zwei deutlich unterscheidbare Gruppen – die forschenden Cosmopolitans und die lehrenden Locals – getrennt und auf die schlechteren und die besseren Universitäten selektiv verteilt haben, was dann, über einige andere Umstände, die Unruhen gerade an den besseren Universitäten auslöste. Die grundlegende Situation Professoren besetzen gewisse Positionen in der Institution der Universität. Diesen Positionen sind bestimmte Erwartungen zugeordnet: die Rolle eines Professors. Die Besonderheit der Rolle eines Professors ist, daß sie – mindestens – zwei, im Prinzip gleichrangige, Rollenelemente enthält: Forschung und Lehre. Und genau dies erzeugt, wenn wir davon ausgehen, daß beide Rollenelemente nicht gleichzeitig auszufüllen sind, ein Entscheidungsproblem: Forschung oder Lehre? Die primären Zwischengüter Das Handeln der Professoren ist, wie jedes Handeln, nichts anderes als Nutzenproduktion – organisiert um die in ihrem „System“ jeweils geltenden pri-
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Situationslogik und Handeln
mären und indirekten Zwischengüter und gesteuert über die Gestalt der sozialen Produktionsfunktionen (vgl. dazu Kapitel 3 insgesamt). Um die Rekonstruktion der sozialen Produktionsfunktionen geht es in erster Linie bei der Analyse der „Logik der Situation“ – dem ersten Schritt in dem Konzept der Situationslogik. Das ist hier nicht schwer: Die primären Zwischengüter der Professoren, die Ressourcen und Leistungen also, für die sie unmittelbar soziale Wertschätzung und physisches Wohlbefinden erlangen können, sind die beiden (kulturellen) Ziele, die über ihre Position und ihre Rolle im System der Universitäten definiert sind: exzellente Forschung und eine gute Lehre. Diese Ziele seien mit Zr (für research) und Zt (für teaching) abgekürzt und bezeichnet. Wir wollen annehmen, daß der input an Forschungsleistungen und an guter Lehre bzw. an den vorweisbaren Symbolen dafür, wie etwa Nobelpreise oder gute Lehrbewertungen, die Bedienung der beiden Bedürfnisse in der üblichen Form erzeugt: monoton steigend und mit abnehmendem Grenzertrag. Wiederum der Einfachheit halber sei angenommen, daß die Effizienz der beiden Produktionsfunktionen dafür gleich ist – obwohl wahrscheinlich im System der Universitäten eine gute Forschung mehr angesehen ist als eine engagierte Lehre. Dabei sei – erneut vereinfachend – davon ausgegangen, daß es einen gemeinsamen Maßstab zum Vergleich von Zr und Zt gibt. Dieser Maßstab ist der über die Erfüllung der beiden Ziele produzierbare Nutzen U. Damit können die beiden primären Zwischengüter sogar verglichen werden: Wieviel an Beliebtheit bei Studenten und lokalen Größen – etwa – wiegt einen Artikel in der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie oder einen Nobelpreis auf? Die Ergebnisse der Modellierung ändern sich aufgrund dieser Vereinfachungen im Prinzip nicht. Änderungen ließen sich leicht einbauen, wenn es dafür zwingende Hinweise gibt.
Über diese, nicht allzu waghalsigen, Annahmen können die beiden primären Zwischengüter Forschung Zr und Lehre Zt einfacherweise und unmittelbar mit dem Nutzen U bewertet werden. Die „Produktion“ von Lehre und Forschung Exzellente Forschung und eine gute Lehre müssen, wie alle primären Zwischengüter, produziert werden. Die dafür erforderlichen indirekten Zwischengüter sind die in Kapitel 3 bereits ausführlich beschriebenen typischen Orientierungen und die damit verbundenen Handlungen des Kosmopolitismus und des Lokalismus. Wir wollen sie als Xc (für cosmopolitan) und als Xl (für local) bezeichnen. Kosmopolitismus und Lokalismus sind somit keine bloßen „Haltungen“, die die Professoren auch sein lassen könnten, sondern die institutionell und insbesondere auch technisch definierten Mittel, die nötig sind, um überhaupt an die Ziele Zr und Zt heranzukommen. Es geht, im Anschluß an das elementare System einer Situation in Kapitel 1, also um die Kontrolle
394
Situationslogik und Handeln
eine bestimmte Menge x des jeweiligen Mittels einsetzen, aber wenn ein Professor die „falsche“ Orientierung und das „falsche“ Handeln wählt, dann produziert er das betreffende primäre Zwischengut und den damit zusammenhängenden Nutzen wesentlich ineffizienter als bei einer „richtigen“ Orientierung und einem „richtigen“ Handeln. Das Modell Wir wollen nun die verbale und die graphische Darstellung in die Sprache der WE-Theorie überführen. Denn nur mit einem logischen oder kausalen Argument kann es eine „‚Logik‘ der Situation“ geben. Und nur mit einem Anschluß der Situationsbeschreibung an die „triviale“ Theorie des rationalen Handelns geht es mit der Situationslogik weiter. Die Modellierung folgt der in Kapitel 7 allgemein dargestellten Art der Beschreibung einer Situation in der Sprache und in der Logik der WE-Theorie. Die Alternativen Die Alternativen sind die im gegebenen institutionellen Feld definierten Rollenerwartungen. Hier sind es zwei: die kosmopolitische und die lokale Orientierung. Es sind die Mittel Xc und Xl, die die Akteure in ihrem Handlungsfeld im Prinzip unter Kontrolle haben und einsetzen könnten – wenngleich wegen der Knappheiten, nicht zuletzt an Zeit, nicht gleichzeitig. Die Ziele und ihre Bewertungen Die institutionell bedeutsamen Folgen des Einsatzes der Alternativen sind die Forschung und die Lehre, die Realisierung der Ziele Zr und Zt also. Ihre Bewertung ergibt sich aus der damit möglichen Nutzenerzeugung. Es gilt also beim Erreichen der beiden Ziele jeweils die Bewertung U(Zr) und U(Zt). Wir wollen annehmen, daß die maximal erreichbare Bewertung bei 100 Nutzeneinheiten liegt. Der Vektor U des Bewertungsraumes lautet in unserem Beispiel dann, auch schon in konkreten Werten, so:
Die „Logik“ der Situation
U(Zr) U
395
100
=
= U(Zt)
100
Dieser Vektor der Zielbewertungen gelte für beide Gruppen gleichermaßen. Darin spiegelt sich die Annahme wider, daß es institutionell keinen Unterschied in der Bewertung guter Forschung oder guter Lehre geben soll. Und wir wollen, vielleicht empirisch nicht ganz korrekt, auch annehmen, daß die Professoren selbst die Forschung und die Lehre als primäres Zwischengut gleich bewerten. Die Erwartungen Die Matrix der Erwartungen ordnet die Alternativen den bewerteten Folgen eines Handelns über Wahrscheinlichkeiten zu. Das sieht für den gegebenen Fall in abstrakter Weise und für alle Professoren zusammen so aus:
P
Zr
Zt
Xc
pcr
pct
Xl
plr
plt
=
Gemäß dem elementaren System einer Situation (vgl. Kapitel 1) ist die Erwartung pij, daß ein bestimmtes Mittel i zu einem bestimmten Ziel j führe, das Produkt aus der Kontrolle ci über das Mittel und der kausalen Effizienz eij dieses Mittels zur Realisierung des Zieles: pij=ci*eij. Wenn wir – zunächst – davon ausgehen, daß die Professoren im Prinzip alle gleichermaßen Cosmopolitans und Locals sein können, wenn sie also die beiden Mittel gleichermaßen perfekt unter Kontrolle haben, dann werden die Erwartungen nur von den Effizienzen bestimmt. Die Effizienzen der Mittel sind aber, wie die Verläufe der sozialen Produktionsfunktionen in Abbildung 10.1 zeigen, für die beiden Ziele jeweils deutlich unterschiedlich: Mit der gleichen Menge an Xc wird deutlich mehr von Zr erzeugt als mit Xl – und umgekehrt. Die unterschiedliche Effizienz der sozialen Produktionsfunktionen kann in einem Koeffizienten zwischen 0 und 1 ausgedrückt werden, der – im Groben wenigstens – die unterschiedliche Produktivität jeweils wiedergibt. Der Einfachheit halber nehmen wir für die Modellierung dieser Unterschiede bei unseren (nicht-linearen) Produktionsfunktionen einen Wert von e=0.80 an, wenn für ein Ziel das „richti-
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Situationslogik und Handeln
ge“ Mittel eingesetzt wird, und einen Wert von e=0.20, wenn es das „falsche“ Mittel ist. Daraus ergibt sich, weil ja die Kontrolle c über die einsetzbare Menge des Mittels jeweils mit eins angenommen wird, die folgende P-Matrix des Wissens über die Eignung des Einsatzes der Alternativen für die Erreichung der Ziele: Zr Xc
Zt
pcr=ec pct=ect
0.80
0.20
0.20
0.80
r
P
=
= Xl
plr=elr plt=elt
Die Matrix gibt in der Sprache der WE-Theorie wieder, was im Diagramm der sozialen Produktionsfunktionen zu sehen ist: Kosmopolitismus ist für die Erzeugung guter Forschung deutlich effizienter als der Lokalismus, und lokale Aktivitäten wiederum sind geeigneter für die Organisation einer guten Lehre als die kosmopolitische Abwesenheit. Gruppenunterschiede Allerdings beschreibt die Matrix die Bedingungen für die Hochschulen und die Professorenschaft lediglich insgesamt, noch nicht aber für die beiden Teilgruppen der Forscher und der Lehrer. Und es geht ja eigentlich um die Bestimmung der typisch unterschiedlichen Logik der Situation für diese beiden Teilgruppen. Der entscheidende Schritt der Modellierung ist die Berücksichtigung von systematischen Unterschieden zwischen den beiden Gruppen. Nun wird die Kontrolle der verschiedenen Akteure über die Mittel bedeutsam. Denn genau das war ja das Ergebnis der Situationsanalyse der Professoren aus Kapitel 3 gewesen: Man kann nicht alles machen, muß sich auf eine Teilrolle konzentrieren und hat jeweils auch ein unterschiedliches Talent für die Forschung oder die Lehre. Durch zunehmende Habitualisierung und, nicht zuletzt, auch durch die Tendenz, den inneren Konflikt zu vermeiden, daß beide Teilrollen nicht gleichzeitig gleich gut erfüllt werden können, drängt es die professoralen Esel von Buridan schließlich zu einem der beiden Heuhaufen der Orientierung. Und einmal bei einem der Heuhaufen angekommen, können sie schließlich nur noch von diesem fressen. Es kommt zu einem Prozeß der „Pfadabhängigkeit“ und der unumkehrbaren Spezialisierung, wonach schließlich das jeweils andere Mittel gar nicht mehr zur Verfügung steht: Wer in seiner Fakultät immer abwesend ist, hat kein soziales Kapital und findet kein Gehör vor Ort; und wer nie zu Kongressen fährt, versinkt draußen allmählich ins Vergessen und bekommt später erst recht keine Einladungen mehr. Kurz: Es gibt eine Vorgeschichte der Situa-
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Die „Logik“ der Situation
tion und eine Biographie der Akteure, die festgelegt haben, was jetzt möglich ist und was nicht.
Mit der nach der Analyse der „objektiven“ Situation unumgänglichen Spezialisierung der Hochschullehrer auf eine bestimmte Orientierung und Tätigkeit – Kosmopolitismus oder Lokalismus – steht die jeweils andere Alternative also schließlich nicht mehr zur Verfügung. Der Koeffizient für die Kontrolle einer Ressource c, der im allgemeinen Modell noch für alle mit eins angenommen wurde, muß daher bei der jeweils auf eine Teilrolle spezialisierten Gruppe für die jeweils andere Teilrolle auf null gesetzt werden. Zur Beschreibung der Logik der Situation für die beiden Gruppen, der Cosmopolitans und der Locals, müssen also jeweils gesonderte P-Matrizen angegeben werden, die diese strukturell bedingten Unterschiede in der Kontrolle der Mittel wiedergeben: Cosmopolitans Zr
Locals Zt
Xc 0.80 0.20 Pc
=
Xc Pl
Xl
0
0
Zr
Zt
0
0
= Xl
0.20 0.80
In den beiden P-Matrizen spiegelt sich die beschriebene Spezialisierung wider: Die Locals haben schließlich keine Kontrolle mehr über die kosmopolitische Alternative, und die Cosmopolitans umgekehrt nicht mehr über die lokale Alternative. Gleichwohl können sie auch in dem ihnen jeweils „fremden“ Bereich durch ihre jeweilige Haltung etwas erreichen: Auch ein lokal orientierter Lehrer schreibt ja gelegentlich noch etwas Bemerkenswertes, etwa für eine Festschrift; und auch ein kosmopolitischer Forscher vermag, bei aller Abwesenheit, bei den Studenten noch etwas zu bewirken. Nur ist das jeweils nicht so wirksam wie beim „richtigen“ Handeln. Die Gewichtung der Alternativen Die unterschiedliche „Logik“ der Situation für die beiden Gruppen ergibt sich aus den Unterschieden der objektiven „Tendenzen“, in die die Akteure durch die Situationsvorgaben und das Gesetz des Handelns gebracht werden. Über die Situation haben wir jetzt alles Nötige beisammen. Es fehlt nur noch die Bestimmung der EU-Gewichte für die Alternativen bei den beiden Teilgruppen nach der WE-Theorie. Jeweils gibt es zwei EU-Gewichte für die beiden
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Situationslogik und Handeln
Alternativen Xc und Xl für die beiden Gruppen der Kosmopoliten c und der Locals l: EU(cc) und EU(cl) bei den Kosmopoliten für ein kosmopolitisches oder lokales Handeln, und entsprechend EU(lc) und EU (cc) für die Locals. Diese Rechnung ergibt, wenn wir die oben angenommenen Werte der beiden P-Matrizen und des U-Vektors nehmen, „trivialerweise“ für die beiden Gruppen: Cosmopolitans
Locals
EU(cc) = 0.80*100 + 0.20*100 = 100 EU(cl) = 0*100 + 0*100 = 0
EU(lc) = 0*100 + 0*100 = 0 EU(ll) = 0.80*100 + 0.20*100 = 100
Das ist die „Logik“ der Situation für die Professoren in den beiden Teilgruppen: Sie wollen genau das, was sie können. Sie ist von bestechender Einfachheit und von einer zwingenden Kraft. Und sie beruht auf einem sanften, aber wirksamen Zwang: Die Akteure würden sich selbst sehr schaden, wenn sie sie mißachten oder sogar bewußt gegen sie optieren würden. Soziale Lage und soziale Klassen Die besondere „Logik“ der Situation ergibt sich in unserem Beispiel aus der unterschiedlichen Verteilung der Kontrolle und aus der unterschiedlichen Effizienz der Mittel. Die Bewertung der Ziele war gleich. Das muß nicht so sein: Die Gruppen können sich auch in den Zielen und in deren Bewertungen, also in ihren Interessen unterscheiden. Meist ist das empirisch auch so. Ganz allgemein kann gesagt werden, daß die Orientierungen und psychischen Eigenheiten der Akteure in den verschiedenen Gruppen um so deutlicher voneinander verschieden sind, je stärker die jeweiligen EU-Gewichte die Alternativen zwischen den Gruppen diskriminieren. Und es kann auch angenommen werden, daß die Menschen sich in den jeweiligen Gruppen ihrer Interessen, ihrer Sache und ihrer „Identität“ umso sicherer sind, je weiter der EU-Wert der zweitbesten Alternative von der Alternative mit der höchsten Nutzenerwartung abweicht. In den EU-Gewichten spiegeln sich also die Gruppenunterschiede einer Gesellschaft ebenso wie die subjektiven Sicherheiten der Akteure, daß sie jeweils das Richtige tun, wider. Je deutlicher die Unterschiede zwischen den Gruppen und je höher die Sicherheiten der Akteure, umso weniger Varianz ist deshalb auch zwischen der objektiven und der subjektiven Definition der Situation zu erwarten.
Bei dieser Art der Modellierung einer typischen „Logik“ der Situation wird also unterstellt, daß die Akteure den objektiven – materiellen, institutionellen und kulturellen – Vorgaben der Logik der Situation auch wirklich folgen und keine davon besonders abweichende subjektive Definition der Situation vor-
Die „Logik“ der Situation
399
nehmen. Ihre subjektive Welt entspricht den objektiv geltenden sozialen Produktionsfunktionen. Das Gesetz des rationalen Handelns ist auch für diese Annahme die Grundlage: Die Menschen würden sich merklich ins eigene Fleisch schneiden, wenn sie sich den Luxus einer von der objektiven Logik der Situation abweichenden Situationsdefinition leisten würden. Die „Logik“ der Situation ergibt sich aus der, so wollen wir es nennen, jeweiligen gesellschaftlichen Lage der Akteure: aus der typischen Situation, in der sich die Akteure befinden und innerhalb deren Rahmen sie die Probleme ihres Alltags lösen müssen. Ihrer gesellschaftlichen Lage können die Akteure nicht einfacherweise entfliehen. Sie prägt, was sie wollen, was sie können und wie sie die Welt dann auch subjektiv sehen. Kurz: Die gesellschaftliche Lage spiegelt die objektive „Logik“ der Situation wider und strukturiert die subjektive Definition der Situation. Gruppen in einer typischen gesellschaftlichen Lage werden auch als soziale Kategorien bezeichnet. Wenn sie sich sowohl in ihren typischen Interessen, wie in der Kontrolle bestimmter Ressourcen systematisch unterscheiden, spricht man auch, wie wir schon in Abschnitt 4.3 gesehen haben, von sozialen Klassen (vgl. dazu auch noch Kapitel 12 und Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser " ausführlich). Die Cosmopolitans und die Locals bilden in diesem Sinne je für sich eine besondere soziale Klasse – innerhalb der übergreifenden sozialen Klasse der Professoren mit ihren gemeinsamen Interessen und Möglichkeiten, etwa daran, daß sie ihre Pension ungeschmälert erhalten, daß ihnen niemand in ihre Forschungen hineinredet und sie nicht immer nur dicke Lehrbücher schreiben müssen.
10.3 Soziologische Gesetze und die „Wirkung“ von Variablen Mit der „Logik“ der Situation wird verständlich, warum die individuellen Akteure, obwohl die gesamte Art der Erklärung am Handeln von menschlichen Individuen anknüpft, in ihren psychisch-ideosynkratischen Eigenschaften nahezu bedeutungslos werden: Die Logik der Situation strukturiert ihre Interessen und ihr Wissen objektiv und bestimmt in der daran anschließenden Logik der Selektion über die triviale Regel des rationalen Handelns das, was sie tun. Der Akteur ist in dieser Sicht nichts anderes als eine Art von Platzhalter für seine gesellschaftliche Lage, für typische Erwartungen und Bewertungen also, die über die sozialen Produktionsfunktionen bestimmt sind und über gewisse Brückenhypothesen in den U-Vektor und die P-Matrix überführt werden. Er ist nur ein anonymer und typischer Repräsentant seiner gesellschaftlichen Lage und darüber dann, sozusagen, lediglich eine Matrix und ein Vektor von ty-
400
Situationslogik und Handeln
gesellschaftliche Lage soziale Produktionsfunktionen „Logik“ der Situation
Brückenhypothesen
„Akteur“: U-Vektor P-Matrix
EUmax
Handeln
Abb. 10.2: Die „Logik“ der Situation
pischem Wissen und typischen Werten – und eben kein lebendiges Wesen aus Fleisch und Blut und einer unergründlichen inneren Unendlichkeit in seiner Seele. Außerdem ist der Akteur die mechanische Rechenmaschine für die Bestimmung der EU-Gewichte und, natürlich, der blinde Agent des Handelns, der brav, situationsgerecht und verläßlich das tut, was ihm die „Logik“ der Situation vorschreibt – gerade eben, weil er seinen Nutzen maximieren will. Im Rahmen des Modells der soziologischen Erklärung ist die „Logik“ der Situation also eine Art von Kurzschluß, der die beiden „logischen“ Schritte der Logik der Situation und der Logik der Selektion zu einer Einheit zusammenfaßt (vgl. Abbildung 10.2): Die gesellschaftliche Lage und die Prägung aus der Biographie bestimmen unmittelbar das Handeln. Genau das aber hat die Soziologie immer gemeint, wenn sie von der Strukturierung des Handelns durch die sozialen Strukturen sprach, von den sozialen Tatsachen, von der Bedeutungslosigkeit der Individuen, von den ehernen Gesetzen der gesellschaftlichen Strukturen und von den soziologischen Gesetzen „sui generis“. Und falsch ist das ja nicht, wie Popper in seiner Verteidigung der Autonomie der Soziologie gegen den Psychologismus gezeigt hat: Es gibt eine „Logik“ der Situation, die sich über die individuellen Ideosynkrasien hinweg durchsetzt (vgl. dazu auch noch das folgende Kapitel 11 über den „Kontext des Handelns“). Mit der „Logik“ der Situation ist die kollektive Ebene der sozialen Strukturen jedoch noch nicht erreicht, auf die sich auch das Konzept der Situationslogik von Popper bezieht. „Richtige“ soziologische Explananda ergeben sich erst, wenn die individuellen Handlungen wieder zu kollektiven Sachverhalten
Die „Logik“ der Situation
401
aggregiert werden – und sei es auf eine noch so einfache Weise, wie es etwa die Berechnung von Mittelwerten oder Kovarianzen ist (vgl. dazu noch das folgende Kapitel 11 und Abschnitt 10.4). Feste Kovariationen zwischen Typen von Situationen und Typen kollektiver Folgen der „Logik“ der Situation sind die Strukturgesetze, nach denen die Soziologie so sehr sucht – beispielsweise: daß es höhere Selbstmordraten in Regionen mit einem höheren Anteil von Protestanten gibt. Die Zusammenhänge des Modells der Studentenproteste aus Kapitel 1 sind auch nichts anderes als eine Kette solcher situationslogischer „struktureller“ Zusammenhänge. Auch dabei sind die kollektiven Folgen meist nichts als einfache statistische Aggregationen der zuvor erklärten individuellen Handlungen. Das gilt ohne Zweifel für die ersten Glieder der Sequenzkette des Modells in Abbildung 1.1: Die Reputation der Universitäten zieht die angesehenen Professoren an und ergibt so unmittelbar eine typisch unterschiedliche personelle Besetzung der Universitäten in Anteilen berühmter Professoren. Die Transformation besteht in diesem Fall aus einer einfachen Aufsummierung der bekannteren und der unbekannteren Professoren zu relativen Häufigkeiten an den jeweiligen Universitäten. Diese Verteilung angesehener und weniger bekannter Professoren erzeugt dann eine typische Verteilung von eher forschenden und eher lehrenden Professoren und darüber wiederum eine typische Verteilung von Cosmopolitans und Locals an den besseren und an den weniger exzellenten Universitäten. Die damit einhergehende unterschiedliche Anwesenheit vor Ort bringt die stärkere durchschnittliche Vernachlässigung der Studenten hier und eine höhere Betreuungsrate dort zustande. Und dies erzeugt wiederum – unter der Annahme, daß die Anwesenheit der Professoren den Studenten nicht gänzlich egal ist – unterschiedliche durchschnittliche Grade an Unzufriedenheit und Frustration an den beiden Typen von Hochschulen.
Häufig lassen sich solche Zusammenhänge auch als „Wirkung“ von „Variablen“ der sozialen Umgebung in einem Aggregat von Akteuren feststellen: Gewerkschaftsmitgliedschaft und Arbeiteranteil im Wohnbezirk, so könnte man beispielsweise in einem soziologischen Artikel lesen, „erklären“ zusammen soundsoviel Prozent an Varianz im Wahlverhalten, wobei die Gewerkschaftsmitgliedschaft ein deutlich höheres beta-Gewicht aufweise als der Arbeiteranteil und es einen leichten, nicht signifikanten Interaktionseffekt zwischen den beiden unabhängigen Variablen gebe. Die Technik der multivariaten Analyse ist in der Tat ein nützliches Instrument zur statistischen Aggregation der individuellen Handlungen und Dispositionen zu Kovarianzen, zur Schätzung der Gewichte der Situationsmerkmale und für die „Erklärung“ der „Varianz“ in den abhängigen Variablen des Handelns, Denkens und Fühlens der Menschen. Die empirische Soziologie wird daher nicht ohne Grund in weiten Teilen als eine Spielart dieser Vorstellung betrieben: Gesucht wird nach dem Satz an „Variablen“, mit dem sich möglichst viel an „Varianz“ bei der betrachteten abhängigen Variable „erklären“ läßt. Wir wollen diese Ansicht als Variablen-Soziologie bezeichnen. Sie ist eine Spielart der Suche nach
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Situationslogik und Handeln
soziologischen Strukturgesetzen. Der Unterschied zur klassischen Soziologie ist freilich der, daß diese Gesetze bei den Eigenschaften der individuellen Akteure gesucht werden, die – oft genug – außerdem wie isolierte Monaden behandelt werden, jede für sich statistisch „unabhängig“ aus einer „Grundgesamtheit“ zu einer Stichprobe gezogen (vgl. dazu auch noch Abschnitt 11.1 im folgenden Kapitel). In Abbildung 10.3 haben wir die „Situationslogik“ der soziologischen Strukturgesetze und die Annahme der Variablen-Soziologie über die „Wirkung“ der Variablen auf das Handeln in einem Schema skizziert.
soziologische Strukturgesetze/ Kovariation von Variablen Struktur 2/ Verteilung abhängige V.
Struktur 1/ Verteilung unabhängige V.
Akteure
Handeln
Abb. 10.3: Soziologische Gesetze und die „Wirkung“ von Variablen
Alleine für sich, ohne die Vertiefung über die Mikroebene, sehen die soziologischen Strukturgesetze, die Kovariationen zwischen Variablen und das gesamte situationslogische Geschehen wie eine „sinnlose“ Wirkung blinder kausaler Kräfte auf die Akteure aus. Aber – und genau das haben die StrukturSoziologen und die Variablen-Soziologen übersehen – die Situationslogik der strukturellen Zusammenhänge oder der Kovariation von Variablen besteht eben nicht aus einem „soziologischen Gesetz“ oder aus der „Wirkung“ gewisser „Variablen“ oder „Faktoren“ auf die Akteure, sondern aus der Verknüpfung aller drei Schritte der soziologischen Erklärung. Und hier tun auch die „typisierten“ und „anonymen“ Akteure etwas, was für sie einen Sinn hat: Sie nehmen – mehr oder weniger richtig, bewußt und reflektierend – ihre Situation wahr, interpretieren sie, denken über gewisse Folgen nach und bewerten die Alternativen vor diesem Hintergrund. Und schließlich handeln sie nach dem
Die „Logik“ der Situation
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Prinzip der subjektiven Vernunft und – deshalb! – in vorhersagbarer und verständlicher Weise. Erst mit einer solchen handlungstheoretischen Interpretation bekommen die soziologischen Gesetze und die Variablen-Soziologie Sinn. Und das in einem doppelten Sinne.
Exkurs über das Verhältnis von Brückenhypothesen und Handlungstheorien Fast alles hängt bei der Analyse der „Logik“ der Situation an der richtigen Beschreibung der jeweiligen gesellschaftlichen Lage der Akteure und an den Brückenhypothesen, die die Merkmale dieser sozialen Lage mit der Handlungstheorie verbinden, aus der sich die Logik des situationsgerechten Handelns ergibt. Sofort stellt sich die Frage, ob die Beschreibung der Situation und die Formulierung der nötigen Brückenhypothesen auch anders als über Erwartungen und Bewertungen, anders also als über eine P-Matrix und einen U-Vektor hätte gehen können. Und damit: Ob auch eine andere Handlungstheorie als die WE-Theorie möglich gewesen wäre, um zu der übergreifenden „Logik“ der Situation zu gelangen. Beispielsweise weiß ja niemand, ob die Professoren in unserem Beispiel nicht tatsächlich zu dumm oder zu feingeistig gewesen sind, um auf eine derart komplizierte Weise solche EUGewichte zu bilden und die Situation in Matrizen des Wissens und in Vektoren von Werten zu sehen. Oder ob es das Wissen und die Werte alleine sind, die das Handeln der Menschen bestimmen. Und natürlich ist es auch nicht ausgemacht, daß Menschen – oder gar Professoren – immer die Alternative mit dem höchsten EU-Wert selegieren, wenn man beispielsweise einmal den Soziologieprofessoren Glauben schenken möchte, die tief vom moralischen Bewußtsein der Menschen überzeugt sind und an ein Maximieren als allgemeiner Selektionsregel nur in der Nähe eines Weihwasserkessels denken möchten. Es gibt ja – wie wir nicht nur in Abschnitt 6.7 gesehen haben – noch ganz andere „Typen“ des Handelns mit ganz anderen Logiken der Selektion als die der Zweckrationalität.
Leicht läßt sich darauf eine Antwort geben: Selbstverständlich hätten auch eine andere Handlungstheorie gewählt und andere Brückenhypothesen formuliert werden können. Gleichwohl sei hier ausdrücklich – und mit der Empfehlung von Max Weber im Rücken, es immer erst einmal mit der Zweckrationalität zu versuchen – zur Vorsicht geraten, es anders zu machen. Der Grund für diese Vorsicht hat mit dem Ziel der ganzen Modellierung zu tun: Es soll ja ein strukturiertes Handeln erklärt werden. Und es soll ja nicht nur dabei bleiben, die Situation möglichst blumig und vollständig zu beschreiben. Situationen handeln nicht, sondern nur die Menschen. Und um deren Tun zu erklären wird – neben den Brückenhypothesen – auch eine nomologische Handlungstheorie benötigt. Man kann nicht einfach so tun, als sei das eine Frage des Ge-
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Situationslogik und Handeln
schmacks, der soziologischen Essayistik und Beliebigkeit, oder etwa auch der Sozialphilosophie und des Glaubens an das Gute im Menschen. Und gleich fallen dann eine ganze Reihe – darunter die spezifisch soziologischen – Handlungs-„Theorien“ aus, die diese Bedingung nicht oder nur schwerlich erfüllen (vgl. dazu noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Fast noch wichtiger als dieser Aspekt des eventuell fehlenden erklärenden Kerns einer anderen Handlungstheorie ist aber eine oft übersehene logische Verbindung zwischen der Art der Beschreibung der Situation in den Brückenhypothesen und den verwendeten Handlungstheorien: Da die Brückenhypothesen die Situationsmerkmale in die Sprache der unabhängigen Variablen der eingesetzten Handlungstheorie überführen müssen, ändern sich die Brückenhypothesen und die Situationsbeschreibungen notwendigerweise dann, wenn eine andere Handlungstheorie eingesetzt wird. Denn dann gibt es zwingend andere Variablen in der Handlungstheorie. In der WE-Theorie werden Situationen in Form typischer Muster von Wissen und Werten beschrieben und mit den Bedingungen der Situation verbunden: Geringe Erwartungen der Forscher beispielsweise, durch eine lokale Orientierung das für sie interessante Gut erzeugen zu können; oder das Interesse der Professoren an Forschung oder Lehre über recht hohe (Nutzen)Werte dieser beiden Ziele. Wie würde man aber wohl die Situation der Locals und der Cosmopolitans in Begriffen des kommunikativen, des kreativen, des normorientierten, des emotionalen usw. Handelns modellieren wollen? Wäre eine Modellierung überhaupt möglich? Und wenn ja: Wäre das Modell vollständig oder würde es einen wichtigen Aspekt ausblenden müssen, weil er in den Variablen der betreffenden Handlungstheorie gar nicht vorkommt? Was sagt beispielsweise die Rollentheorie dazu, was ein Professor genau tut, wenn er sich zwischen den beiden Rollen – Forscher oder Lehrer – entscheiden muß? Gibt es jetzt eine Variable in der Rollentheorie und, insbesondere, eine Entscheidungsregel, die hier weiterhilft? Wir fürchten: Nein.
Schon an diesen – zugegeben: etwas scheinheiligen – Fragen wird deutlich, daß Situationsbeschreibungen und Handlungstheorien auf das Engste zusammenhängen: Die Variablen der Handlungstheorie, die das darin als abhängige Variable vorkommende „Handeln“ erklären sollen, bestimmen in ihren unabhängigen Variablen die Konstrukte, innerhalb deren dann die Situationen modelliert werden müssen. Und es ist dann die Art der Handlungstheorie, die festlegt, in welcher Weise die Situation zu beschreiben ist, und aus welchen Konstrukten die Brückenhypothesen bestehen müssen. Unterschiedliche Handlungstheorien erzwingen daher geradezu unterschiedliche Arten von Situationsanalyse. Eine normative Handlungstheorie kann die Situation nur als normativ geregelt, eine symbolischinteraktionistische nur als symbolisch gesteuert, eine Theorie des kommunikativen oder des kreativen Handelns wahrscheinlich überhaupt nicht typisierend beschreiben. Wenn man Glück hat, reicht die Wahl einer dieser sehr speziellen
Die „Logik“ der Situation
405
und stets einseitigen Handlungstheorien zufälligerweise auch einmal aus – wie bei der Rollentheorie, wenn die Situation tatsächlich ausschließlich über Normen definiert ist. Aber was soll sein, wenn – sagen wir einmal – neben den Normen noch verlockende nicht-normative Anreize existieren? Oder wenn die Symbole undeutlich sind wie das Lächeln der Mona-Lisa? Wie wären – etwa – ein Autokauf, eine Wanderung oder eine Ehescheidung ausschließlich normativ, symbolisch-interaktiv oder kreativ zu erklären? Na also! Darum wird hier die WE-Theorie vorgezogen: Sie ist die einzige unter den vielen Handlungstheorien, die für die Beschreibung von Situationen offen und vollständig genug ist, so daß praktisch alle wichtigen Situationsmerkmale über Brückenhypothesen beschreibbar werden. Sie kommt gleichzeitig aber mit wenigen Variablen aus. Es werden lediglich Informationen über Wissen und Werte, P und U, Ziele und Mittel benötigt. Und sie hat – nicht zuletzt! – für die Erklärung des Handelns eine nomologische Regel, die einfach, präzise und empirisch gut bewährt ist. Viel mehr kann man eigentlich nicht verlangen – zumal eine bessere Alternative weit und breit nicht in Sicht ist.
10.4 Die – oft verzwickte – Logik der unintendierten Folgen Nicht immer ist die Aggregation der individuellen Handlungen zu einem kollektiven Ergebnis eine so einfache Sache wie bei den statistischen Aggregationen von Raten, Mittelwerten und Kovarianzen. Oft ist das Ganze tatsächlich mehr als die Summe seiner Teile geteilt durch die Stichprobengröße (vgl. dazu auch noch Kapitel 11). Wir wollen dieses Problem auch am Beispiel des Studentenprotestes aus Kapitel 1 besprechen. Und zwar am letzten Schritt der Sequenz aus Abbildung 1.1, nämlich U P: Warum haben die frustrierten Studenten an den besseren Universitäten tatsächlich protestiert? Es ist ein Beispiel für die Probleme, die sich – ganz allgemein – mit dem dritten Schritt einer jeden soziologischen Erklärung einstellen: Die Transformation der individuellen Effekte in das zu erklärende kollektive Phänomen (vgl. dazu auch noch Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Eine Paradoxie Auf den ersten Blick sieht auch dieser Schritt wieder wie eine einfache statistische Aggregation aus: Je höher der Anteil der Frustrierten, umso wahrscheinlicher der Protest. Denn, so glaubt man, wer frustriert ist, protestiert.
406
Situationslogik und Handeln
Aber so einfach ist die Sache diesmal nicht. Das hat einen allgemeinen soziologischen Grund, auf den wir noch häufig stoßen werden: Kollektiver Protest, Revolutionen und soziale Bewegungen ganz allgemein, finden nicht schon alleine deshalb statt, weil die Menschen unzufrieden sind – sonst gäbe es Protest und Revolutionen unentwegt (vgl. dazu auch noch Band 4, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Im Gegenteil: Der Historiker Alexis de Tocqueville (1805-1859) meinte angesichts seiner Analyse der Ursachen der Französischen Revolution, daß erst, wenn sich das gröbste Elend aufzulösen und die ärgste Unterdrückung zu lockern beginne, die Zeit reif sei für eine Revolution. Warum das so ist, läßt sich leicht vor Augen führen. Revolutionen – und Protest allgemein – sind – zumal wenn sie ernst gemeint sind und auf die Änderung von Zuständen zielen, an deren Erhalt andere Akteure ein massives Interesse haben – eine sehr riskante Angelegenheit: Der einzelne Beitrag zum Gelingen ist vergleichsweise klein – und dies umso mehr, je größer die Gruppe der Frustrierten ist. Das Protestieren selbst bringt aber für jeden einzelnen Akteur mit Sicherheit bestimmte Kosten mit sich, die umso höher sind, je massiver mit dem Widerstand der anderen Seite zu rechnen ist. Da der eigene Beitrag nur wenig die Erfolgsaussichten des Protestes erhöht, hängt alles davon ab, wieviele andere Akteure sich ebenfalls an dem Protest beteiligen. Diese anderen Akteure stellen aber die gleiche Überlegung an: Die Kosten sind sicher und der Erfolg höchst ungewiß. Hinzu kommt das sog. Trittbrettfahrerproblem: Wenn andere mit der Revolution Erfolg haben, dann genieße auch ich die Früchte der Änderung der Verhältnisse. Da jeder so denkt, wartet jeder auf jeden, aber geschehen tut nichts.
Und die Folge: Auch bei starken Unzufriedenheiten unterbleiben in den allermeisten Fällen die Revolutionen und kollektiven Proteste. Das Phänomen wird auch als das Tocqueville-Paradox bezeichnet. Schwellenwerte Revolutionen und kollektive Proteste sind also im Grunde sehr unwahrscheinliche Angelegenheiten, wenn man nur auf die individuellen Bereitschaften und auf die „durchschnittliche“ Frustration sieht. Das Ganze ist hier offensichtlich deutlich weniger als die Summe seiner (frustrierten) Teile. Wie wäre dann aber zu erklären, daß es doch eine Kovariation des Frustrationspotentials mit dem Protestverhalten an den angeseheneren Hochschulen gab? Für die Auflösung des Rätsels, warum es trotz der geschilderten Unwahrscheinlichkeiten manchmal doch zu Protest und Revolution kommt, gibt es eine ganze Reihe von Lösungsvorschlägen. Einer davon ist das Konzept der Schwellenwerte,
Die „Logik“ der Situation
407
wie es Mark Granovetter in einem mittlerweile berühmt gewordenen Artikel eingeführt hat.5 Das Schwellenwertmodell beruht auf einer einfachen Grundannahme: Ein Akteur beteiligt sich an einer bestimmten Aktion – etwa an einem Protest – genau dann, wenn eine bestimmte Anzahl an Akteuren das bereits vor ihm tut. Diese für seine Beteiligung notwendige Anzahl an anderen Akteuren ist der Schwellenwert des individuellen Akteurs. Er sei im folgenden mit der Variable t (von „threshold“) bezeichnet. Ein Akteur, der in einem Kollektiv der Größe 100 darauf wartet, daß sich erst acht andere Akteure beteiligen, ehe er selbst eingreift, hätte demnach einen Schwellenwert mit der Größe t=8. Die Werte der Schwellenwerte der Akteure können von 0 bis unendlich schwanken. Personen mit höheren Schwellenwerten sind daher die konservativeren Akteure. Solche mit einem Schwellenwert von null handeln auch ohne Rücksicht darauf, was andere tun. Und wer einen Schwellenwert von mindestens N hat, wird sich auf keinen Fall beteiligen, auch wenn alle anderen in dem Kollektiv das tun. Beide Arten von situational unbeeinflußbaren Akteuren sind – gewissermaßen – von ihren inneren Einstellungen allein geleitete Radikale.
Die aggregierende Situationslogik der unintendierten Folgen besteht nun darin, daß sich die Akteure – je nach der Höhe und je nach der Verteilung der Schwellenwerte – wechselseitig in ihrem Handeln „anstecken“ – unter Umständen so, daß schließlich auch Akteure mit hohen Schwellenwerten anfangen zu protestieren, die zunächst im Traume nicht daran gedacht haben. Der Grund: Einige andere Akteure, die schon eher zum Protest bereit waren, beteiligen sich an einer Aktion – und das hat die situationslogische Folge, daß jetzt für die konservativeren Gruppen der für sie kritische Schwellenwert erreicht oder gar überschritten ist. Der Domino-Fall Ein besonders interessantes Beispiel des Schwellenwertmodells ist der sog. Domino-Fall. Ausgehend von einem agent provocateur mit einem Schwellenwert von null wird schrittweise ein ganzes Kollektiv von Akteuren erfaßt, die sich nacheinander anstecken – bis auch der letzte mit dem höchsten Schwellenwert erfaßt ist. Alle fallen sie um, weil es der Vorgänger schon tut und sie berührt. Gäbe es aber eine Lücke in der Kette, dann würde der Prozeß an dieser Stelle stoppen. Wir wollen diesen Fall an einer kleinen Gruppe von zehn Akteuren skizzieren.
5
Mark Granovetter, Threshold Models of Collective Behavior, in: American Journal of Sociology, 83, 1978, S. 1420-1443.
408
Situationslogik und Handeln
Tabelle 10.1: Der Domino-Fall des Schwellenwertmodells
Akteure
a
b
c
d
e
f
g
h
i
j
t F(K)
0 1
1 2
2 3
3 4
4 5
5 6
6 7
7 8
8 9
9 10
Die Akteure a bis j sind in aufsteigender Reihenfolge ihrer Schwellenwerte t geordnet. Im Beispiel ist jeder mögliche Schwellenwert von 0 bis 9 mit genau einem Akteur besetzt. Es gibt für die Akteure die Alternativen K („Kooperation“ in einer Protestaktion) oder D („Defektion“ als Nicht-Teilnahme). Die Alternative K wird von einem Akteur genau dann gewählt, wenn vor ihm mindestens so viele andere Akteure K schon zeigen, wie sein Schwellenwert hoch ist. Diese Zahl ist die Summe derjenigen, die bisher aktiv geworden sind. Sie steht in der Funktion F(K). Der ganze Vorgang kann nun als ein schrittweiser Prozeß mit zehn aneinander anschließenden Stadien, beginnend beim ersten Akteur a mit dem Schwellenwert von 0, betrachtet werden. Entscheidend für den Gang der Dinge ist, was an jeder Stelle des Vorgangs die noch nicht aktiven Akteure tun. Die Antwort ist leicht zu geben: Ist für einen bestimmten Akteur die Summe der bereits Aktiven F(K) mindestens so hoch wie sein Schwellenwert, dann entscheidet sich dieser Akteur auch für K, andernfalls nicht. Der Fall ist jetzt leicht zu rekonstruieren. Es beginnt beim Akteur a mit dem Schwellenwert von 0. Dieser Akteur ist in seinem Tun ganz unabhängig von dem, was andere tun. Er ist vielleicht so grenzenlos frustriert, daß ihm alles andere egal ist. Alle anderen bleiben bis zu diesem Zeitpunkt ganz ungerührt, weil sie ja einen Schwellenwert größer als 0 haben – und weil bis dahin ja noch niemand aktiv geworden ist, der ihnen über diesen Schwellenwert hinaushelfen würde. Das Tun des Akteurs a verändert aber die Situation für alle anderen. Nun gibt es einen Aktiven. Und der ist genug, daß der zweite Akteur b sich zum Eingreifen in der Lage sieht: Er hat einen Schwellenwert von 1, braucht also genau einen Mitstreiter, und diesen einen aktiven Akteur gibt es jetzt in Gestalt des Akteurs a. Jetzt protestieren schon zwei – und der dritte Akteur c mit dem Schwellenwert von 2 wird unruhig und teilnahmebereit. Kaskadenartig geht es so weiter bis zum letzten Akteur j mit einem vergleichsweise hohen Schwellenwert von 9.
Das kollektive Ergebnis für jeden Zeitpunkt des Prozesses ist in der Summenfunktion F(K) zusammengefaßt. Das „Verhalten“ des Kollektivs ist das schließlich erreichte Gleichgewicht, bei dem sich nichts mehr ändert. Es ist der Wert von F(K), wenn auch der letzte Akteur j sein Verhalten gezeigt hat: Alle zehn Akteure des Kollektivs beteiligen sich an dem Protest. Die ganze Gruppe ist im Aufruhr.
409
Die „Logik“ der Situation
Lücken im Anschluß Der Domino-Fall ist ein Grenzfall, der sich aus der besonderen Anordnung der Akteure ergibt: Es existiert für jeden Schwellenwert, der im Kollektiv überschritten werden müßte, genau ein Akteur, der den erforderlichen Schwellenwert hat. Nicht immer aber sind die Akteure in Kollektiven so hübsch geordnet wie in dem Domino-Modell. Oft sind die Schwellenwerte gleich am Anfang zu hoch, als daß der Prozeß beginnen könnte. Und gelegentlich klaffen zwischen einigen wenigen wirklich Frustrierten mit entsprechend geringen Schwellenwerten und einer recht zufriedenen Mehrheit mit hohen Schwellenwerten große Lücken. Aber nicht nur das. Manchmal sind es ganz kleine, quantitativ fast unmerkliche Lücken, die ein qualitativ komplett anderes „Verhalten“ eines Kollektivs bewirken können. Wie sich auch nur eine ganz winzige Lücke in den „Anschlüssen“ der Schwellenwerte auch schon für den Domino-Prozeß auswirken kann, läßt sich leicht zeigen. Dazu haben wir das Beispiel aus Tabelle 10.1 ein wenig geändert (Tabelle 10.2): Tabelle 10.2: Die Auswirkung von Lücken in der Schwellenwert-Verteilung auf das kollektive Ergebnis
Akteure
a
b
c
d
e
f
g
h
i
j
t F(K)
0 1
1 2
2 3
3 4
4 5
5 6
7 6
7 6
8 6
9 6
Der Akteur g hat jetzt einen um einen Wert höheren Schwellenwert – statt t=6 weist er einen Wert von t=7 auf. Bis zum Akteur f läuft das Domino-Spiel wie vorher. Und deshalb beteiligen sich bis dahin auch wieder 6 Akteure. Nun benötigt aber der nächste Akteur g wegen seines geänderten Schwellenwertes von t=7 plötzlich 7 Aktive. Es gibt aber davon nur 6. Und die Folge: Er bleibt inaktiv. Das wiederum läßt den nächsten zögern. Der Prozeß stoppt also an dieser Stelle, weil nun auch für den Rest seiner noch zurückhaltenderen Kollegen, für die er das missing link war, die erforderlichen Aktivitätsgrade des Kollektivs nicht mehr erreicht werden. Die Summenfunktion F(K) beim letzten Akteur zeigt wieder das „Verhalten“ des Kollektivs: Das Gleichgewicht des Prozesses wird bei einem Wert von F(K)=6 erreicht.
410
Situationslogik und Handeln
Niveau und Verteilung Man sieht, daß das „Verhalten“ des Kollektivs von zwei ganz verschiedenen Gegebenheiten abhängt. Einmal ohne Zweifel vom durchschnittlichen Niveau der Schwellenwerte insgesamt: Wenn sehr viele Akteure einen Schwellenwert von null hätten, dann könnte es auch größere Lücken in der Domino-Kette geben. Sie wären gewissermaßen unschädlich, weil der Prozeß dann immer „oberhalb“ der kritischen Grenze der Domino-Summierung verläuft. Entsprechend würde überhaupt nichts geschehen, wenn es niemanden mit einem Schwellenwert von null gäbe und wenn die radikalsten Akteure im Kollektiv – sagen wir einmal – doch mindestens 5 solcher Vorreiter brauchten. Dann käme der Prozeß nicht in Gang – auch dann nicht, wenn doch zufällig jemand zu prostestieren begänne. Neben dem Durchschnitt bestimmt aber insbesondere – zweitens – die Art der Verteilung der Schwellenwerte über die Akteure in dem Kollektiv das Geschehen. Mit dem Hinweis auf die oftmals gravierenden Folgen des Fehlens auch nur eines Akteurs mit einem ganz bestimmten Schwellenwert ist das oben ja schon deutlich geworden. Kurz: Es sind das Niveau und die Verteilung der Schwellenwerte, die das Verhalten eines Kollektivs bestimmen. Beide Größen interagieren in gewisser Weise miteinander: Bei sehr hohem und bei sehr niedrigem Niveau wird die Verteilung der Schwellenwerte verhältnismäßig nebensächlich, weil dann entweder niemand oder alle über der kritischen Grenze des Domino-Effektes liegen. Erst wenn die Verteilung näher an diese kritische Grenze rückt, werden der Zufall und sogar bestimmte „Individuen“ bedeutsam. Dann aber sind sie oft – anders als zuvor – entscheidend für das ganze Ergebnis – so wie der Schlag eines Schmetterlings in Indien, der in China einen Reissack umfallen läßt und in Europa zum Sturz von Helmut Kohl führt. Dann kann sich die Welt aus einem geringfügigen Zufall verändern, aber nur weil die Verhältnisse an einer kritischen Stelle hinreichend anfällig geworden sind. Die Bedeutsamkeit guter Freunde Angefügt sei noch eine wichtige soziologische Besonderheit, die speziell für riskante kollektive Unternehmungen mit ungewissem Ausgang von großer Wichtigkeit sind: Die Teilnahme guter und geschätzter Bekannter und Freunde, naher Verwandter oder sonstwie emotional verbundener Personen bzw. einer „Bezugsgruppe“ hat für die Akteure in der Regel ein ganz besonderes Gewicht. Das läßt sich leicht mit der hohen Bedeutung der Gewinnung sozialer
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Wertschätzung bei der Nutzenproduktion erklären: Wer bei einem riskanten kollektiven Unternehmen nicht mitmacht, hat nachher meist mit starker sozialer Mißbilligung zu rechnen (vgl. dazu auch noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Deshalb wird es für die Entscheidung der etwas zurückhaltenderen Naturen oft so wichtig, daß die WG oder die Töpfergruppe schon an der Demo teilnehmen wollen. Und dann tue ich das auch, obwohl normalerweise mein Schwellenwert viel höher gewesen wäre. Die Nicht-Teilnahme wäre eine Art Feigheit vor dem Freund. Auf eine ähnliche Weise wirkt sich die Teilnahme einflußreicher und angesehener Persönlichkeiten aus: Sie zählen – wegen ihrer Funktion als opinion leader und wegen ihrer Glaubwürdigkeit, daß die Sache auch erfolgversprechend ist, bei der Summierung von K zu F(K) nicht einfach, sondern m-fach – und helfen damit, auch sehr hohe Schwellenwerte für das Tun von Menschen zu überwinden, die eigentlich nichts als Mitläufer sind. Deshalb wäre es so wichtig gewesen, daß sich der bayerische Ministerpräsident seinerzeit nach den rechtsradikalen Brandanschlägen an den Demonstrationen gegen den Rechtsradikalismus in Berlin beteiligt, und der Bundeskanzler Kohl sich höchstpersönlich zu der Trauerfeier für die Mordopfer nach Solingen begeben hätte. Beide wären ein Vorbild gewesen, dem man hätte folgen können und auch gefolgt wäre. Vier Konstellationen Die geschilderten Überlegungen wollen wir nun auf den Fall des studentischen Protestes an den amerikanischen Hochschulen anwenden, um den es in diesem Abschnitt inhaltlich ja geht. Dazu seien vier verschiedene Konstellationen betrachtet. Der Einfachheit halber wollen wir auch nun ein nur kleines Kollektiv von 10 Personen betrachten. Der durchschnittliche Schwellenwert ist mit dem Koeffizienten T, die Protestrate P mit dem Anteil der zum Schluß im Gleichgewicht des Prozesses protestierenden Studenten an der Gesamtzahl des Kollektivs gekennzeichnet (vgl. Tabelle 10.3).
412
Situationslogik und Handeln
Tabelle 10.3: Verschiedene Verteilungen von Schwellenwerten in einem Kollektiv von zehn Akteuren
Akteure
a
b
c
d
e
f
g
h
i
j
T
t F(K)
4 0
4 0
4 0
4 0
5 0
6 0
7 0
8 0
8 0
8 0
5.8
t F(K)
1 0
1 0
1 0
1 0
2 0
3 0
4 0
5 0
5 0
5 0
2.8
Fall III
t F(K)
0 1
1 2
1 3
2 4
2 5
3 6
4 7
5 8
5 9
5 2.8 10 1.0
Fall IV
t F(K)
0 1
0 2
0 3
4 3
4 3
4 3
4 3
4 3
4 3
4 3
Fall I Fall II
P
0.0 0.0
2.8 0.3
Der Fall I beschreibt die Situation der zufriedenen Studenten in den Provinzhochschulen. Es gibt hier zwar auch einige Unterschiede in der Zufriedenheit und in der Protestbereitschaft, aber auch der niedrigste Schwellenwert ist deutlich zu hoch, als daß etwas geschehen könnte. Der Fall II gebe dagegen die Unzufriedenheit der Studenten in den Renommieruniversitäten wieder: Bei ansonsten gleicher Struktur der Verteilung ist der Schwellenwert bei jedem Akteur um genau drei Einheiten geringer. Dies sei – so wollen wir einmal annehmen – zu zwei Einheiten die Folge der höheren Unzufriedenheit. Eine Einheit sei dem kritischen Bewußtsein der Elitestudenten und ihrem höheren Selbstvertrauen in die Wirksamkeit ihres Tuns zugestanden. Entsprechend sinkt der durchschnittliche Schwellenwert T und damit die „durchschnittliche“ Protestbereitschaft. Aber immer noch geschieht nichts weiter. Zwar würde jetzt nur ein einziger Mutiger benötigt, um die Kettenreaktion in Gang zu setzen. Den gibt es aber nicht, und die Protestrate P ist deshalb so wie in der Provinz: null. Gleichwohl ist die studentische Revolution schon viel wahrscheinlicher geworden. Nun muß nur noch bei einem der „anfälligen“ Studenten etwas geschehen, das seinen Schwellenwert auf null senkt. Das ist im Fall III tatsächlich geschehen – und zwar, so kann man annehmen, durch reinen Zufall: Liebeskummer, der 1. FC Köln ist leider doch noch
Die „Logik“ der Situation
413
nicht abgestiegen, Klausur nicht bestanden. Insgesamt hat sich zwar kaum etwas verändert. Der Akteur d ist sogar etwas vorsichtiger geworden. Der Mittelwert der Schwellenwerte T im Kollektiv ist genau der gleiche wie zuvor im Fall II. Und dennoch bricht der Sturm nun unwiderstehlich los. Die Protestrate P steigt auf ihr Maximum von 1. Es reichte jetzt ein, vielleicht nur ganz kurzfristig etwas verrückt gewordener, agent provocateur, um den Stein ins Rollen zu bringen. Vielleicht wird er ja später als der Held der Bewegung gefeiert. In der selbstzufriedenen Provinzuniversität hätte er gegen Windmühlenflügel angekämpft und sich vielleicht nur ganz privat betrunken. Und so wird es dann wohl auch an den amerikanischen Universitäten gewesen sein: Die Abwesenheit der cosmopolitans hat an den Eliteuniversitäten die Schwellenwerte so abgesenkt, daß nun nur noch etwas recht Nebensächliches geschehen mußte, damit es dort – im Unterschied zu den Provinzhochschulen – zu den Unruhen kam: ein wenig an kritischem Bewußtsein und rebellischem Zeitgeist der 60er Jahre. Die Anfälligkeit der Emergenz Kollektive Proteste und Revolutionen sind ein sehr interessanter Fall von Emergenz: Das Ganze ist mehr – oder weniger – als die Summe seiner Teile, und eine Revolution ist mehr als der Mittelwert der Frustration einer Bevölkerung. Das kollektive Ergebnis ist im gegebenen Fall – bei nur einigermaßen hinreichend abgesenkten Schwellenwerten insgesamt – eine Frage der Verteilung der Unzufriedenheiten. Leicht wird erkennbar, daß alles unter kritischen Bedingungen auch sehr davon abhängt, ob die Verteilung der Akteure lückenlose Anschlüsse für die Verbreitung des Protestes bereithält. Und das ist ohne Zweifel eine gelegentlich sehr unwahrscheinliche Angelegenheit. In Fall IV ist die Verteilung so, daß – bei erneut gleichem Mittelwert der Schwellenwerte – nun eine Untergruppe von drei radicals zu protestieren beginnt (P gleich 0.3). Ansonsten geschieht jedoch nichts weiter. Und es ist zu erwarten, daß auch die drei Aufgeregten sich bald wieder beruhigen. Der Grund ist gut zu erkennen: Es gibt eine Lücke in der Verteilung der Schwellenwerte, die dafür sorgt, daß der Protest begrenzt bleibt. Die begrenzte Aussagekraft von Mittelwerten Aus den Beispielen wird nicht nur deutlich, wie anfällig manchmal dieser Prozeß gegen Zufälligkeiten sein kann und wie resistent er sich dann aber
414
Situationslogik und Handeln
auch wieder gegen Variationen erweisen mag – je nach Verteilung der Schwellenwerte. Es wird auch deutlich, wie irreführend die Kennzeichnung von Kollektiven über Mittelwerte alleine sein kann, um deren „Verhalten“ vorherzusagen: Bei dem gleichen Mittelwert der Schwellenwerte von T=2.8 gibt es in den drei Kollektiven II, III und IV ein ganz unterschiedliches „Verhalten“: P ist mal 0, mal 0.3 und mal 1. Aber ganz bedeutungslos ist das durchschnittliche Frustrationspotential natürlich auch nicht: Durch die Absenkung der Schwellenwerte wird es auch bei vorhandenen größeren Anschlußlücken immer wahrscheinlicher, daß schließlich etwas im Kollektiv geschieht. Und dort, wo, wie im Fall I, alle sehr zufrieden sind, haben Provokateure praktisch keine Chance. Zeitgeist und Studentenprotest Raymond Boudon hatte dafür, daß an den amerikanischen Universitäten überhaupt Proteste auftraten, neben den geschilderten strukturellen Unterschieden zwischen den Universitäten – modellierbar als Unterschiede der Höhe und der Verteilung der Schwellenwerte zwischen den Hochschulen – auch einige konjunkturelle Bedingungen genannt, die in den 60er Jahren ein besonders günstiges Klima für das Gelingen von Protesten schafften: Eine Phase der wirtschaftlichen Hochkonjunktur, in der es wohl leichter fällt, sich kritisch zu engagieren; und – last but not least – die Einbettung der Proteste in die weltweite Studentenbewegung und den Zeitgeist der 60er Jahre.6 Anders gesagt: Die entspannte wirtschaftliche Situation senkte die Schwellenwerte für gesellschaftskritisches Handeln insgesamt, und die anderswo bereits protestierenden Studenten fungierten subjektiv als Mitakteure, durch die auch an sich noch hohe Schwellenwertgrenzen durch eine weltweite Kommunikation und gedankliche Koorientierung überwindbar wurden. Die geschilderte Kovariation des Ansehens der Hochschule und der Intensität des Studentenprotestes war deshalb ohne Zweifel auch ein Produkt der Zeit. Später protestierten dann nur noch eher die Studenten an den Provinzuniversitäten ein wenig, die auch mal Revolution machen wollten. Und heute protestiert niemand mehr – mögen die Professoren sein und tun, was sie wollen. Ein soziologisches Gesetz kann allein deshalb der Zusammenhang zwischen dem Ansehen der Hochschulen und dem Ausmaß des studentischen Protestes nicht sein. Man kann jetzt gut verstehen, warum das so ist. 6
Raymond Boudon, Die Logik des gesellschaftlichen Handelns. Eine Einführung in die soziologische Denk- und Arbeitsweise, Neuwied und Darmstadt 1980, S. 64f.
Kapitel 11
Der Kontext des Handelns
Das Handeln der Menschen ist immer in soziale Umgebungen eingebettet. Aus sich heraus sind die Menschen zu einem orientierten und geordneten Tun nicht in der Lage. Nicht immer freilich wird diese Grunderkenntnis beachtet, auch in der Soziologie nicht. Vor allem bestimmte Varianten der empirischen Sozialforschung scheinen die grundlegende soziale Einbettung des Handelns zu übersehen – die als Massensurvey veranstaltete Umfrageforschung beispielsweise. Wir widmen daher das folgende Kapitel den Ansätzen, die die Kontextgebundenheit des Handelns systematisch auch in die empirische Sozialforschung einbeziehen wollen: Die Kontext- und die Mehrebenenanalyse. Zum Schluß werden wir sehen, daß dabei auch etwas sehr Wichtiges für die Erklärung sozialer Prozesse ganz allgemein herauskommt: Es sind vor allem die personalen Nah-Umwelten, die Lebenswelten der Menschen also, die letztlich für die Orientierung der Akteure, für die subjektive Definition der Situation und für die „Rahmung“ ihres Handelns sorgen.
11.1 Bringing Society Back In! In einem 1986 erschienenen und seitdem vielzitierten Artikel über das Verhältnis von „Social Theory“ und „Social Research“ beklagt James S. Coleman zwei – seiner Meinung nach: gravierende – Fehlentwicklungen in der Soziologie seit den 30er Jahren, Fehlentwicklungen, von denen sie sich gerade erst etwas zu erholen beginne:1 Die Erklärungsansätze der soziologischen Theorie hätten immer mehr den Bezug auf das soziale Handeln, und die soziologische empirische Forschung immer mehr den Bezug auf die sozialen Strukturen verloren.
1
James S. Coleman, Social Theory, Social Research, and a Theory of Action, in: American Journal of Sociology, 91, 1986, S. 1309-1335.
416
Situationslogik und Handeln
So sei Talcott Parsons in seiner damals für die Soziologie insgesamt richtungsweisenden Arbeit über „The Structure of Social Action“ von 1937 noch – wie etwa vor ihm Thomas Hobbes, Adam Smith, John Locke, Jean Jacques Rousseau oder John Stuart Mill – ganz zwanglos vom Akteur und von einer „Voluntaristic Theory of Action“ zur Erklärung der sozialen Prozesse ausgegangen (vgl. dazu schon Kapitel 1). Danach sei aber – von Parsons selbst zum großen Teil getragen – in den fünfziger und sechziger Jahren die soziologische Theorie immer stärker zu einem strikt makro-soziologischen Konzept mutiert – vor allem in Gestalt der funktionalistischen Systemtheorie. Soziologische „Theorie“ habe schließlich nur noch aus der Klassifikation bestimmter Gleichgewichte von Teil-Systemen bestanden, in denen der Beitrag des interessegeleiteten Handelns der Akteure nicht mehr vorgekommen sei – sehr zum Schaden der Soziologie insgesamt. Die Entwicklung der empirischen soziologischen Forschung sei dagegen geradzu umgekehrt verlaufen. In ihren Anfängen seien empirische soziologische Untersuchungen vor allem solche des Typs der Gemeindestudie gewesen – wie beispielsweise die beiden Studien zur Veränderung der Gemeindestrukturen in der von den Autoren Robert S. Lynd und Helen M. Lynd so genannten Stadt „Middletown“ vor und nach der großen Depression 1929.2 Nach einer Art von „Wasserscheide“ in den Schwerpunkten der empirischen Forschung in den vierziger Jahren habe sich dann aber mehr und mehr jener heute wohlbekannte Typ des Surveys, die Stichproben-Befragung, durchgesetzt, bei dem die Untersuchungseinheit nicht mehr eine soziale Einheit – eine Gemeinde, ein Betrieb oder eine Religionsgemeinschaft –, sondern das „repräsentative“ und von seiner sozialen Einbettung statistisch „unabhängig“ gezogene Individuum sei. Kurz: Die Mehrzahl der soziologischen empirischen Forschungsarbeiten sei ebenso einseitig, diesmal aber einseitig mikro-soziologisch verzerrt.
James S. Coleman erklärt die beiden gegenläufigen Entwicklungen teils wissenschaftssoziologisch, teils mit allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklungen. Der Struktur-Funktionalismus Parsonsscher Prägung sei deswegen so dominant geworden, weil es ernsthafte Gegner in der eigenen Profession auf dem von Parsons angesetzten Allgemeinheitsniveau der soziologischen Theorie nicht gegeben habe. Diese Gegner hat es schon deshalb in der Soziologie kaum gegeben, weil der Gründungsvater der Soziologie, Emile Durkheim, die akteursbezogene Perspektive einer Erklärung sozialer Prozesse für ganz und gar ausgeschlossen erklärt hatte und weil – teilweise bis heute – eine solche „handlungstheoretische“ Erklärung sozialer Prozesse von vielen Soziologen grundsätzlich für unmöglich gehalten und sogar als Verrat an der Eigenständigkeit der Soziologie als Profession angesehen wird. Die Verbreitung des individualistischen Stichproben-Surveys hat nach Coleman mit drei verschiedenen, aber parallel laufenden, gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen zu tun: die zunehmende nationale Integration der amerikanischen Gesellschaft, die tatsächlich zu einer Abnahme der Bedeutung der lokalen Einheiten für das Alltagshandeln geführt habe; die enorme Verbreitung von individuell konsumierbaren und auch individuell wirksamen Massenmedien, wodurch ein massenhaftes gemeinsames Schicksal in Form gleichförmiger Information möglich wurde, die jedes Individuum einzeln daheim auf seiner Couch gleichermaßen beim Chipskauen erreicht; und die Entstehung des Wohlfahrtsstaates und das Aufkommen großer 2
Robert S. Lynd und Helen M. Lynd, Middletown. A Study in American Culture, New York 1929; Robert S. Lynd und Helen M. Lynd, Middletown in Transition. A Study in Cultural Conflicts, New York 1937.
Der Kontext des Handelns
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korporativer Akteure, wodurch – in der Sprache dieses Buches – die sozialen Produktionsfunktionen der Akteure von den sozialen Beziehungen der Akteure immer unabhängiger und von den Leistungen des Staates und von den Beziehungen zu den korporativen Akteuren immer abhängiger wurden.
Kurz: Die zunehmende Plausibilität von soziologischen Forschungen, die vom statistisch „unabhängig“ gezogenen Individuum ausgehen, hat u.a. damit zu tun, daß die Menschen tatsächlich aufgrund allgemeiner gesellschaftlicher Entwicklungen immer stärker „individualisiert“ wurden. Die beiden (Fehl-)Entwicklungen blieben schon in ihren Anfängen und bereits während ihrer Hochblüte keineswegs ohne Widerspruch. Der Mangel der funktionalistischen Perspektive wurde schon bald mit ihrem scheinbaren Siegeszug offenbar: Man konnte – etwa mit dem AGIL-Schema der strukturfunktionalen Theorie nach Parsons – nicht viel erklären, sondern höchstens beschreibend systematisieren, was man sowieso schon wußte. Es waren dabei insbesondere Robert K. Merton mit seiner Rekonstruktion der funktionalen Analyse und später die Vertreter des sog. interpretativen Paradigmas, etwa Arnold M. Rose oder Herbert Blumer, die bereits früh daran erinnerten, daß die „latenten Funktionen“ immer nur – meist unbeabsichtigte – Folgen des Handelns von Akteuren sind, und daß das Handeln der Akteure auf manifesten Absichten und auf symbolisch interpretierten Bedeutungen von Situationen beruht. Bringing Men Back In! Am deutlichsten hat die Kritik an der struktur-funktionalistischen Theorie George C. Homans in einem programmatisch gemeinten Artikel von 1964 vorgetragen. Dieser Artikel war mit dem einprägsamen und provokant gemeinten Titel „Bringing Men Back In“3 überschrieben. Man kann den dort vorgetragenen Einwand von George C. Homans gegen die Theorie von Talcott Parsons in zwei Argumenten und in je einem Satz aus dem Artikel von Homans zusammenfassen: Soziale Prozesse und Beziehungen erklären sich als Folge des Verhaltens nicht der sozialen Gebilde, sondern des Verhaltens von menschlichen Akteuren: „Nicht die Bedürfnisse der Gesellschaften erklären die Beziehung (etwa: zwischen der Einrichtung von Fabriken und der Entstehung der Kernfamilie; HE), sondern die Bedürfnisse der Menschen.“4 Und immer wenn man soziale Prozesse erklären will, dann muß man sich bereits aus theoretischen 3
George C. Homans, Bringing Men Back In, in: American Sociological Review, 29, 1964, S. 809-818; Hervorhebung nicht im Original.
4
Zitiert nach der deutschen Übersetzung des Artikels aus: George C. Homans, Wider den Soziologismus, in: George C. Homans, Grundfragen soziologischer Theorie, Opladen 1972b, S. 52.
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Gründen auf das Verhalten von Menschen beziehen, weil es nur für das Verhalten von Menschen, nicht aber für das der sozialen Systeme erklärende Gesetze geben könne. So gingen laut Homans entgegen aller makrosoziologischen Vorsätze in ihren konkreten Analysen – implizit – letztlich die Funktionalisten selbst vor. Nur: „Sie verstecken die psychologischen Erklärungen unter dem Tisch und ziehen sie verstohlen wie eine Flasche Whisky hervor, um sie zu benutzen, wenn sie Hilfe brauchen.“ (Ebd., S. 57)
Der Artikel von George C. Homans mit der einprägsamen Überschrift war der Ausgangspunkt für die Wiederentdeckung des Menschen als handelndes Subjekt und als der – das nicht immer durchschauende – „Konstrukteur“ der ihn umgebenden Gesellschaft. Es war der Beginn des Verfalls des Parsonsschen Struktur-Funktionalismus und der Startschuß für die Entwicklung der erklärenden Soziologie. Freilich hat George C. Homans – und mancher, der seinen Ansatz überzeugend fand – bei aller berechtigter Korrektur an der einseitig makrosoziologischen Sicht nicht immer auch genauso deutlich darauf verwiesen, daß die Akteure stets in sozialen Strukturen eingebettet sind und daß der Gegenstand der Soziologie immer zuerst die Erklärung der sozialen Strukturen und Prozesse ist. Und deshalb fanden sich auch gegen George C. Homans – nicht zu Unrecht – bald auch Stimmen, die darauf bestanden, das soziologische Kind nicht mit dem funktionalistischen Bade auszuschütten und nur noch Psychologie, Verhaltens- und Entscheidungstheorie zu betreiben. Ist das Ganze doch nur die Summe seiner Teile? Für die Erklärung sozialer Strukturen interessiert sich die atomistische Survey-Forschung meist nicht sonderlich. Es schwingt bei der Darbietung der Ergebnisse, wie bei den theoretischen Vorschlägen von George C. Homans, meist eine Art von aggregatpsychologischer Erklärung mit, wonach das Ganze der Gesellschaft letztlich immer genau die Summe der Einstellungen und Handlungen ihrer Bewohner – und nichts anderes – sei. Beispielsweise: Die Bundesrepublik verfalle als Leistungsgesellschaft, so hören wir von Elisabeth Noelle-Neumann aus Allensbach am Bodensee mitunter, weil sich in den Daten ihrer Meinungsumfragen ein immer lockereres Verhältnis der Deutschen zu den traditionalen Arbeitswerten zeige. Flugs stehen das Abendland und der Standort Deutschland vor dem Untergang, obwohl die Menschen – haben sie denn überhaupt einen Arbeitsplatz – so viel arbeiten wie nie zuvor und obwohl sie sich ganz privat – und etwa auch beim Besuch eines Interviewers von Allensbach – manchmal fragen, ob die ganze Plackerei denn wirklich sein müsse. Sie muß – weil sonst der Arbeitsplatz gefährdet ist, weil das Eigenheim anders nicht abbezahlt werden kann, und weil man, um es zu heizen, noch manchen Zentner fossilen Brennstoffs zu kaufen gezwungen ist.
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So naiv wie diese Meinungsforscher sind die – besseren – Soziologen aber nie gewesen. Immer noch ist – zu Recht – eines der Grundtheoreme der Soziologie die Emergenz der Gesellschaft und die weitgehende Unabhängigkeit der kollektiven Vorgänge von den individuellen Motiven und Einstellungen: Die soziologische Erklärung hat immer auch jenen dritten wichtigen Schritt zu tun – die Transformation der individuellen Effekte in einer Logik der Aggregation zu den kollektiven Phänomenen (vgl. dazu noch Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Es sind eben nicht die Motive und das Wissen der Menschen allein, die das soziale Geschehen bestimmen. Max Weber hat diesen Gedanken am Beispiel der Emergenz der kapitalistischen Gesellschaftsform gegenüber den religiösen Motiven, aus denen sie seiner Meinung nach einmal entstanden ist, ganz apokalyptisch, aber unzweideutig soziologisch, so formuliert: „Der Puritaner wollte Berufsmensch sein, – wir müssen es sein. Denn indem die Askese aus den Mönchszellen heraus in das Berufsleben übertragen wurde und die innerweltliche Sittlichkeit zu beherrschen begann, half sie an ihrem Teile mit daran, jenen mächtigen Kosmos der modernen, an die technischen und ökonomischen Voraussetzungen mechanisch-maschineller Produktion gebundenen, Wirtschaftsordnung erbauen, der heute den Lebensstil aller einzelnen, die in dies Triebwerk hineingeboren werden – nicht nur der direkt ökonomisch Erwerbstätigen –, mit überwältigendem Zwange bestimmt und vielleicht bestimmen wird ... .“5 (Hervorhebungen im Original)
Das Ganze der Gesellschaft, der sozialen Zusammenhänge und Prozsse ist eben in der Tat meist mehr als die Summe der inneren Einstellungen und Handlungen seiner statistisch „unabhängigen“ Teile. Sie ist, wie man mit Max Weber sagen könnte, eben kein dünner Mantel, den jeder nach Belieben jederzeit abwerfen könnte, sondern ein „stahlhartes Gehäuse“, aus dem es kaum ein Entrinnen gibt. Das Handeln ist eben nicht nur durch die inneren Einstellungen, sondern auch durch die äußeren Bedingungen, durch den materiellen, institutionellen und kulturellen Kontext also, bestimmt. Aggregatpsychologie Wir wollen die Vorstellung, daß das gesellschaftliche Ganze allein als Summe der inneren Einstellungen von ansonsten unabhängigen und autonomen Individuen gesehen werden könne, als Aggregatpsychologie bezeichnen. Folgte man der Philosophie der Aggregatpsychologie, dann wären etwa Leistungsge5
Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Band 1, 7. Aufl., Tübingen 1978 (zuerst: 1920), S. 203.
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sellschaften solche, in denen Leistungswerte möglichst weit verbreitet, demokratische Gesellschaften solche, in denen sich möglichst viele demokratisch gesonnene Individuen aufhalten, faschistische Gesellschaften solche, in denen es von autoritären Persönlichkeiten nur so wimmelt, und Terrorismus und regionalistische Militanz gäbe es besonders dort, wo es vergleichsweise mehr separatistische und intolerante Menschen gibt. Die Aggregatpsychologie ist als Erklärungsmodell immer dann besonders naheliegend, wenn der Ort des gesellschaftlichen Geschehens allein in die inneren Dispositionen, etwa die Werte, die Einstellungen, die verinnerlichten Normen oder die Moral der Subjekte, kurz: in die Identität verlegt wird – wie etwa bei der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule, bei mancher wohlmeinenden Pädagogik und bei Jürgen Habermas und seinen SchülerInnen ganz persönlich. Theodor W. Adorno u.a. haben dann auch tatsächlich den Faschismus in Deutschland so individualistisch, besser: so „psychologistisch“, zu erklären versucht. Sie haben in ihrer seinerzeit sehr einflußreichen Studie über die „Authoritarian Personality“ das Aufkommen des Faschismus in Deutschland als eine Folge der Verbreitung autoritärer, dogmatischer und faschistoider „Persönlichkeiten“ gesehen. Bezeichnenderweise ist die dabei entwickelte Faschismus-Skala – die sog. F-Skala – eine Zeitlang eine der beliebtesten Skalen in Umfragen gewesen, obwohl unser guter Theodor Wiesengrund Adorno nicht müde wurde, die Repressions- und Verschleierungsfunktion der empirischen Sozialforschung zu geißeln, die er selbst in einer ganz besonders un-soziologischen Weise in der genannten Studie, wennzwar vielleicht nicht selbst betrieben, wohl auch nicht ganz verstanden, aber als Ko-Autor der „Authoritarian Personality“ immerhin mitgetragen hat.
Oft verkleidet sich die Aggregatpsychologie ganz und gar soziologisch. Und manchmal taucht sie dann ausgerechnet dort auf, wo man glaubt, das Zentrum der Makro-Soziologie vor sich zu haben – beispielsweise in der soziologischen Sozialisationstheorie, wie sie etwa Emile Durkheim oder Talcott Parsons vorgeschlagen haben. Und das geht so: Die Einstellungen sind die in den „Persönlichkeiten“ der Akteure verinnerlichten Normen der Gesellschaft. Die Sozialisation ist der Vorgang der Internalisierung dieser Normen. Das Ergebnis ist die Befolgung der gesellschaftlichen Vorschriften durch die individuellen Akteure, die nichts tun, als – ganz „individuell“ – ihrem guten oder schlechten Gewissen zu folgen, das sie bei der Normeinhaltung bzw. bei der Normübertretung haben. Die Konformität zu den Normen ist für den erfolgreich sozialisierten Akteur aber nichts anderes als die individuelle Ausführung der normativ vorgeschriebenen Handlung. Das Ergebnis ist die Herstellung einer Art von Überschneidung der sozialisierten Persönlichkeiten, der Normen und Werte der Gesellschaft und dem sozialen Handeln darin. Dabei kommt – wie man sieht – auch die Gesellschaft zu ihrem Recht, deren Imperative ja mit dem normgerechten Handeln der „Individuen“ peinlich genau erfüllt werden.
Die Grenzen der Sozialisationserklärung des sozialen Handelns liegen in einem inzwischen wohlbelegten Sachverhalt: Es gibt kaum eine direkte Korrelation zwischen Einstellungen und Verhalten. Und wir kennen den Grund schon: Das Handeln ist keineswegs nur durch die verinnerlichten Einstellungen der Identität, sondern immer auch über die äußeren Bedingungen der Situation be-
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stimmt. Das wurde nicht zuletzt mit dem Zusammenbruch der DDR nachhaltig sichtbar: Ohne Zweifel gab es zuvor 40 Jahre lang massive Versuche zur Entwicklung, Internalisierung und möglichst weiten Verbreitung einer besonderen „sozialistischen Persönlichkeit“. Und das ist sicher auch nicht in allen Fällen ganz mißlungen. Aber als sich die aktuelle Situation änderte, war von den vielen, zuvor vielleicht sogar selbst von ihrer sozialistischen Identität überzeugten „Persönlichkeiten“ nicht mehr viel zu sehen. Wundern muß man sich darüber nicht: Selbst lange trainierte Mäuse ändern rasch ihr Verhalten, wenn sich die aktuelle Situation ändert, weil sie auch sehen, was die Situation sonst noch an Verlockungen und Gefahren mit sich bringt (vgl. dazu schon Kapitel 8). Und was Mäuse können, dazu sind gewiß auch Menschen fähig. Der individualistische Fehlschluß Der – in seiner akademischen Jugend sein ohne Zweifel großes soziologisches Talent noch für das Fach nutzende – Kölner Journalist Erwin K. Scheuch machte die Absurdität der Aggregatpsychologie in einem damals richtungsweisenden Beitrag an einem einprägsamen Beispiel deutlich: „If the object of explanation were not a nation but rather a factory, it would be much less plausible if an author were to argue that the specific character of the Renault versus the Peugeot factories and their products was due to a personality trait common to the workers in one but not in the other factory. Explanations of political systems with reference to personality traits of their members are plausible only because they tend to rephrase in an acceptable terminology what is already known by way of national stereotypes.“6
So ist es, Frau Noelle-Neumann! Erwin K. Scheuch bezeichnet in dem Artikel den – von der Logik der soziologischen Erklärung her gesehen: ganz und gar abwegigen – Schluß alleine von den Eigenschaften der Individuen auf die Eigenschaften der jeweiligen sozialen Gebilde als individualistischen Fehlschluß. Er entspricht dem Fehler des Psychologismus, auf den Karl R. Popper so deutlich hingewiesen hatte (vgl. die Einleitung und Abschnitt 10.1). Auf ihn kann man nur verfallen, wenn man nicht verstanden hat, daß soziologische Erklärungen immer beides berücksichtigen und miteinander verbinden müssen: die Strukturen und die individuellen Akteure mit ihrem Handeln. Und die Konsequenzen aus alldem: In die soziologischen Erklärungen wie in die Erhebung der empirischen Daten müssen die Eigenschaften der sozialen Umge6
Erwin K. Scheuch, Social Context and Individual Behavior, in: Mattei Dogan und Stein Rokkan (Hrsg.), Quantitative Ecological Analysis in the Social Sciences, Cambridge, Mass., und London 1969, Fußnote 5, S. 135.
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bung der Akteure systematisch einbezogen werden, wenn nicht schon vom Design und von der Art der Daten her ganz verhängnisvolle Fehlschlüsse geradezu unvermeidlich werden sollen. Die atomistische Survey-Forschung Die individualistische Einseitigkeit des Ansatzes von George C. Homans und die „soziologistische“ Aggregatpsychologie der Einstellungs- und Persönlichkeitsforschung verstärkten zunächst die zweite Fehlentwicklung nur noch, von der James S. Coleman spricht: die atomistische Survey-Forschung. Sie ist eine besonders eingeschränkte Variante der sog. Variablen-Soziologie (vgl. dazu schon Abschnitt 10.3): Alles, was interessiert und wichtig ist, sind Variablen, die sich auf den individuellen Akteur beziehen. Mit dieser Annahme kommt sie der Technik der Befragung sehr entgegen: Das Handeln der Menschen sei eine „kausale“ Folge ihrer – abfragbaren – inneren Einstellungen und Handlungsdispositionen, die sie zuvor über die Einflüsse bestimmter sozialer Umgebungen erworben haben. Das implizite Erklärungsmodell der atomistischen Survey-Forschung läßt sich etwa so zusammenfassen (vgl. dazu auch schon Abschnitt 10.3): Alles, was soziologisch interessiert, sind Verteilungen individueller Eigenschaften. Diese Verteilungen werden als Folge kausaler Einflüsse erklärt, wobei die wichtigsten Einflußgrößen die individuellen Einstellungen sind. Diese Einstellungen haben die Menschen irgendwann einmal in sozialen Umgebungen erworben: über Sozialisation und soziale Kontrolle im Laufe ihrer Biographie. Und deshalb gibt es auch gewisse Kovariationen der Einstellungen mit den sog. standarddemographischen Variablen wie etwa Alter, Geschlecht und soziale Schicht, die jeweils typische Prägungen der Akteure anzeigen. Nach dem Abschluß der Prägung der jeweiligen Persönlichkeit sind die aktuellen Situationseinflüsse vernachlässigbar: Das Handeln folgt den in der sog. formativen Phase der Biographie erworbenen Dispositionen. Damit wird es daher auch sinnvoll, die Erhebung der Daten ausschließlich über die Individuen selbst – etwa durch Befragung – vorzunehmen, da diese gut genug über sich Bescheid wissen und weil andere Variablen nicht weiter wichtig sind.
Im Hintergrund der atomistischen Survey-Forschung steht eine ganz bestimmte gesellschaftliche Annahme. Unter stabilen, deutlich abgegrenzten und für die Menschen eindeutig strukturierten sozialen Umgebungen kann in der Tat davon ausgegangen werden, daß die äußeren Bedingungen mit den inneren Einstellungen und diese dann wieder mit dem Handeln gut korrespondieren: Das Sein bestimmt dann wirklich das Bewußtsein, und die Identität spiegelt dann tatsächlich die soziale Lage, die Interessen und die Möglichkeiten der Menschen wider.
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Eine solche Übereinstimmung von objektiver Situation, subjektiver Disposition und faktischem Handeln findet man daher noch am ehesten in Gesellschaften mit einer deutlichen Cleavage-Struktur und bei eindeutigen und exklusiven Zugehörigkeiten der Menschen zu jeweils einem typischen sozial-moralischen Milieu der betreffenden Kategorie: in Klassen-, in Standes- und – besonders – in Kastengesellschaften (vgl. dazu auch noch Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Damit werden auch einfache Unterscheidungen für das Handeln vorhersagekräftig: Männer und Frauen, Alte und Junge, Farbige und Weiße, Protestanten und Katholiken, Türken und Deutsche, Juristen und Soziologen haben unterschiedliche Möglichkeiten, Interessen und Identitäten. Für die Träger solcher „sozialdemographischer“ Variablen – oder für spezielle, aber stabile und eindeutig abgrenzbare Kombinationen und Kreuzungen der betreffenden sozialen Kreise – läßt sich das Handeln dann ähnlich verläßlich vorhersagen wie für die Angehörigen verschiedener Kasten in Indien, bei den Ständen in den Feudalgesellschaften des Mittelalters oder bei den sozial-moralischen Milieus im Deutschen Reich um die Jahrhundertwende, in der Weimarer Zeit und teilweise auch noch bis heute, etwa im Sauerland oder in Düsseldorf.
Nicht immer freilich ist die Korrelation zwischen kategorialer Zugehörigkeit, äußeren Bedingungen der Situation und inneren Einstellungen so exklusiv, so stabil und deshalb so eng. Im Gegenteil: Alles deutet – besonders für die modernen Gesellschaften – auf nur sehr indirekte Zusammenhänge hin. Dies hängt auch wieder mit gesellschaftlichen Prozessen zusammen: Die kategorialen Zugehörigkeiten vervielfältigen und überkreuzen sich in den modernen Gesellschaften zumindest zunehmend und in ständig neuer und instabiler Weise. Und das Handeln ist immer auch von funktionalen Imperativen und kulturellen Codes bestimmt, die außerhalb der einfachen Kategorien der standard-demographischen Zugehörigkeit gelten. Kurz: Die Menschen wechseln ihre Identität je nach dem besonderen Bezugsrahmen der sozialen Umgebung, in der sie sich jeweils aufhalten. Bei einer Befragung im Wohnzimmer sind diese Bezugsrahmen meist nur noch schwach präsent – wenn sich der Akteur überhaupt daran erinnert. Aber auch dann gibt er meist eine Antwort. Wir hatten in Kapitel 2 mit dem Experiment von Richard T. LaPiere bereits gesehen, wie begrenzt und irreführend ein Ansatz sein kann, der das Handeln der Menschen allein als Folge der individuellen Einstellungen und ohne Rücksicht auf den situationalen Kontext zu erklären versucht. Das Hauptergebnis der empirischen Forschungen zu dem Problem des Verhältnisses von Einstellungen und Verhalten war dann auch, daß die äußeren Bedingungen die inneren Einstellungen im konkreten Handeln meist deutlich modifizieren und oft genug glatt außer Kraft setzen. Und immer wieder wird vor allem festgestellt, daß das kollektive Handeln von den individuellen Einstellungen der Menschen ganz unabhängig ist: Auf der Ebene von Survey-Daten gibt es – zum Beispiel – keinerlei Hinweis auf die Militanz der Basken im Unterschied zum friedlichen Regionalismus der Katalanen im Spanien nach Franco.7 Mit dem Schwellenwertmodell aus Kapitel 10 wissen wir, warum das auch nicht sonderlich erstaunlich ist. 7
Vgl die Ergebnisse, die Richard Gunther u.a. berichten: Richard Gunther, Giacomo Sani und Goldie Shabad, Spain after Franco. The Making of a Competitive Party System, Berkeley, Los Angeles und London 1986, S. 318-320.
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Und die Folge: Die kategorialen Variablen und – insbesondere – die inneren Einstellungen erklären oft nur einen relativ geringen Teil der Varianz des tatsächlichen Handelns. Und dann wird mit einem Male klar, daß letztlich auch immer noch etwas anderes für das Handeln wichtig ist: die spezielle und aktuelle soziale Umgebung beim Handeln, unabhängig von der kategorialen Zugehörigkeit und den inneren Einstellungen. Mindestens die sollte die VariablenSoziologie berücksichtigen, wenn es denn schon die Variablen-Soziologie sein muß. Bringing Society Back In! Auf diesen Mißstand der ganz und gar individualistisch betriebenen SurveyForschung hat vier Jahre nach dem Artikel von George C. Homans Allen H. Barton mit einem ebenso programmatisch gemeinten Beitrag hingewiesen. Der Artikel war mit „Bringing Society Back In“ überschrieben.8 Er sollte ein Plädoyer für die Abkehr von der atomisierenden Survey-Forschung und für die systematische Berücksichtigung sozialer Umgebungen in der Erklärung des Handelns menschlicher Akteure bei empirischen Untersuchungen sein. Allen H. Barton beginnt seinen Artikel mit einer etwas drastischen, aber durchaus zutreffenden Beschreibung des Problems: „For the last thirty years, empirical social research has been dominated by the sample survey. But as usually practiced, using random sampling of individuals, the survey is a sociological meatgrinder, tearing the individual from his social context and guaranteeing that nobody in the study interacts with anyone else in it. It is a little like a biologist putting his experimental animals through a hamburger machine and looking at every hundredth cell through a microscope; anatomy and physiology get lost, structure and function disappear, and one is left with cell biology.“ (Ebd., S. 1)
Bereits zehn Jahre zuvor hatte James S. Coleman als junger Assistenzprofessor eine ähnliche Kritik an der Survey-Forschung geübt. Zwar sei das Auszählen von individuellen Eigenschaften – wie etwa die Parteipräferenzen oder die Einstellung zu den Gewerkschaften – oft von einigem deskriptiven Wert. Wenn man aber wissen wolle, wie es zu diesen Einstellungen komme, müsse man über das Individuum als Analyseeinheit hinausgehen und Daten über seine soziale Einbettung erheben:
8
Allen H. Barton, Bringing Society Back In. Survey Research and Macro-Methodology, in: The American Behavioral Scientist, 12, 1968, S. 1-9; Hervorhebung nicht im Original.
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„It was in this analytical stage, then, beyond the simple description of a population, that survey research began to be of real use to social science.“9
Aber erstaunlicherweise würde diese Selbstverständlichkeit in den Surveys nicht berücksichtigt. Es werde vielmehr nur versucht, Einstellungen wieder durch andere Einstellungen zu erklären. Die typisch soziologische Perspektive – die Erklärung des sozialen Handelns aus der sozialen und institutionellen Einbettung der Akteure in soziale Umgebungen – werde daher schon vom Ansatz her verfehlt: „The individual remained the unit of analysis. No matter how complex the analysis, how numerous the correlations, the studies focused on individuals as separate and independent units. The very techniques mirrored this well: samples were random, never including (except by accident) two persons who were friends; interviews were with one individual, as an atomistic entity, and responses were coded onto separate IBM cards, one for each person. As a result, the kinds of substantive problems on which such research focused tended to be problems of ‘aggregate psychology’, that is, within-individual problems and never problems concerned with relations between people.“ (Ebd.; Hervorhebungen im Original)
Erst mit der systematischen Einbeziehung der sozialen Umgebungen wird die Technik der Massenumfrage also wieder „soziologisch“. Strukturelle Effekte Die Wirkungen sozialer Umgebungen unabhängig von den Wirkungen der individuellen Eigenschaften werden allgemein als strukturelle Effekte bezeichnet. Der Ausdruck stammt von Peter M. Blau.10 Blau beruft sich dabei ausdrücklich auf die empirischen Analysen von Emile Durkheim, etwa zum Selbstmord. Durkheim hatte ja festgestellt, daß – beispielsweise – die Rate der Selbstmorde zwischen bestimmten Kollektiven von Menschen – etwa Katholiken und Protestanten – systematisch variierte. Freilich wußte er, daß es immer auch bestimmte „individuelle“ Anlässe und „Motive“ für den Selbstmord gibt. Nur: Zur Erklärung der Selbstmordrate waren die Eigenschaften der Kollektive, nicht aber die individuellen Besonderheiten und Motive, entscheidend. Blau schreibt dann auch: „Durkheim, then, some sixty years ago, illustrated the method of isolating structural effects. The essential principle is that the relationship between the distribution of a given characteristic
9
James S. Coleman, Relational Analysis: The Study of Social Organizations with Survey Methods, in: Human Organization, 17, 1958, S. 28; Hervorhebung nicht im Original.
10
Peter M. Blau, Structural Effects, in: American Sociological Review, 25, 1960, S. 178193.
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in various collectivities and an effect criterion is ascertained, while this characteristic is held constant for individuals. This procedure differentiates the effects of social structures upon patterns of action from the influences exerted by the characteristics of the acting individuals or their interpersonal relationships.“ (Ebd., S. 191; Hervorhebungen nicht im Original)
Unser Modell der soziologischen Erklärung führt unmittelbar zu ähnlichen Überlegungen: Die Logik der Situation ergibt sich sowohl aus den äußeren, auf die Gruppen, die Kollektive, die Kategorien, die Sphären und die Milieus bezogenen Bedingungen der sozialen Umgebung, wie aus den inneren Einstellungen und der Identität, der Akteure. Keiner der beiden Aspekte darf ausgelassen werden.
11.2 Kontextanalyse In der – inzwischen auch als klassisch geltenden – Untersuchung „Union Democracy“ über die gewerkschaftlichen Aktivitäten von Druckereiarbeitern wurde u.a. auch der Grad von deren aktiver gewerkschaftlicher Organisation untersucht.11 Dabei wurden auch Daten über die Größe der Werkstatt, in der sie beschäftigt waren, und über die gewerkschaftlichen Aktivitäten in der Werkstatt insgesamt gesammelt. Eine der Fragen war, ob sich die Beteiligung mit der Größe der Werkstatt und mit dem politischen Konsens der Arbeiter in einer Werkstatt veränderte. Beides – Größe und Konsens – sind Eigenschaften der sozialen Umgebung. Und das kam dabei heraus (Tabelle 11.1): Tabelle 11.1: Die Auswirkung der sozialen Umgebung auf das individuelle Verhalten (in Prozent aktiver gewerkschaftlicher Betätigung)12
Konsens
große Werkstätten
kleine Werkstätten
hoch
43 (105)
29 (125)
niedrig
43 (160)
7 (28)
0
+22
Kontext-Effekt
11
Vgl. Seymour M. Lipset, Martin A. Trow und James S. Coleman, Union Democracy, Glencoe, Ill., 1956.
12
Zusammenstellung aus den Tabellen 16 und 17 bei Lipset, Trow und Coleman 1956, S. 167.
Der Kontext des Handelns
427
In den großen Druckereiwerkstätten war mit 43% der Grad der Gewerkschaftsaktivität gegenüber 29% bzw. sogar 7% in den kleinen deutlich höher und der Grad des politischen Konsenses wirkte sich offensichtlich nur bei den kleinen Werkstätten aus. Dort senkt ein niedriger Konsens die Beteiligung, während die Beteiligung in den großen Werkstätten vom Konsens unabhängig sehr hoch ist. Die Autoren – Seymour M. Lipset, Martin A. Trow und der oben schon erwähnte James S. Coleman – erklären den eigenartigen Interaktionseffekt zwischen Werkstattgröße und Konsens auf die Beteiligung damit, daß sich in den großen Werkstätten gerade wegen ihrer Größe leicht politisch homogene Cliquen herausbilden können. Die Cliquen können dann ihrerseits wiederum sehr unterschiedlich sein und über alle Akteure im gesamten Betrieb zum Dissens führen. Aber: Der Konsens oder Dissens im gesamten Betrieb wird, weil es die intern homogenen, extern aber unter Umständen sehr heterogenen Cliquen gibt, für die Meinungsbildung und die Beteiligung nicht weiter wirksam. Das ist in den kleinen Werkstätten ganz anders: Hier kann es keine Untergruppen und keine Aufteilung in Cliquen unterschiedlicher politischer Ansichten geben: Eine kleine Werkstatt ist – sozusagen – die eine größere Clique, in der sich alles abspielt. Konsens in der kleineren Werkstatt bedeutet daher einen gewissen sozialen Druck für sämtliche Mitglieder in der Werkstatt insgesamt. Dieser Druck ist aber, weil die kleine Werkstatt in der Regel nicht so groß ist wie die Cliquen in den großen Werkstätten, nicht sehr intensiv.
Das erklärt den insgesamt geringeren Beteiligungsgrad in den kleinen Werkstätten, aber auch die unterschiedliche Wirkung des Konsenses. Dissens erzeugt in den kleinen Werkstätten wegen des geringeren sozialen Drucks eine starke politische Apathie. In den großen Werkstätten wirkt sich der Dissens dagegen überhaupt nicht aus, weil er ja nur zwischen den Cliquen besteht, während es innerhalb der Cliquen einen starken Konsens und Gruppendruck gibt: „While in the small shops the absence of consensus in voting probably means an extremely apathetic shop politically, one which both tolerates dissensus und discourages political involvement, the large shops, with their many cohesive and propably near-unanimous subgroups or cliques, do not need shop-wide apathy as a correlate to lack of shop consensus on union politics.“ (Ebd.; S. 167)
Kurz: Unabhängig von den ohne Zweifel auch vorhandenen Einflüssen der individuellen Bereitschaften und Einstellungen bilden die Eigenschaften der sozialen Umgebung eine eigene Ebene der „Wirkung“ auf das Verhalten der Akteure. Die Nähe der sozialen Umgebung zu den Akteuren – informelle Cliquen oder die ganze Werkstatt als Organisation – spielt dabei offenbar eine besonders wichtige Rolle.
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Das Grundkonzept Die Kontextanalyse ist jene Variante der empirischen Sozialforschung, in der systematisch auch die soziale und personale Umgebung in die Variablen aufgenommen wird, mit denen ein bestimmtes Verhalten erklärt werden soll. Sie ist als eigene Technik auf der Grundlage der Überlegungen von James S. Coleman, Allen H. Barton und und Peter M. Blau entwickelt worden.13 Im einfachsten Fall werden zwei Arten von Variablen erhoben: Individuelle Variablen – wie die soziodemographischen Kategorien und die Einstellungen – und kontextuelle Variablen. Kontextuelle Variablen sind Eigenschaften der sozialen bzw. der personalen Umgebung der Akteure. Sie beziehen sich damit nicht unmittelbar auf die einzelnen Akteure, sondern sind ein davon grundsätzlich unabhängiges Merkmal. Allerdings können Kontextvariablen durch die Aggregation individueller Variablen gebildet werden (siehe dazu noch unten näher). Kontexte in diesem Sinne können dann beispielsweise sein: die Schulklassen von Schulkindern – mitsamt den Eigenschaften aller Mitschüler, des Lehrers, der umgebenden Schule, des Regierungsbezirkes als kontextuelle Variablen für die individuellen Schulkinder; die Stimmbezirke, in denen Wähler ihre Stimme abgeben – mitsamt der sozialen und politischen Struktur dieser Stimmbezirke, des weiteren Wahlkreises oder der Region als eventuelle kontextuelle Einflußgrößen auf das Wahlverhalten der individuellen Wähler; oder die ethnische Gemeinde für Migranten aus fernen Ländern – mitsamt allen Eigenschaften der Mitbewohner, der ausländischen wie der einheimischen, als mögliche kontextuelle Faktoren für Prozesse der Eingliederung, der Segmentation oder der ethnischen Konflikte.
Die Voraussetzung für die Kontextanalyse ist, daß es solche Umgebungen in hinreichend deutlich abgegrenzter Form wirklich gibt. Nicht ganz zufällig handelt es sich bei Schulklassen, Stimmbezirken und ethnischen Gemeinden um solche administrativ, organisatorisch, sozial und auch räumlich recht gut abgrenzbare Gebilde.
13
Vgl. zu den technischen Einzelheiten der Kontextanalyse insbesondere Lawrence H. Boyd Jr. und Gudmund R. Iversen, Contextual Analysis: Concepts and Statistical Techniques, Belmont, CA., 1979; Hubert M. Blalock und Paul H. Wilken, Intergroup Processes: A Micro-Macro Perspective, New York 1979, Kapitel 7: Contextual Effects: Theories and Processes; Gudmund R. Iversen, Contextual Analysis, Newbury Park, London und New Delhi 1991; Hans J. Hummell, Probleme der Mehrebenenanalyse, Stuttgart 1972; Hannes Alpheis, Kontextanalyse. Die Wirkung des sozialen Umfeldes, untersucht am Beispiel der Eingliederung von Ausländern, Wiesbaden 1988; Uwe Engel, Einführung in die Mehrebenenanalyse. Grundlagen, Auswertungsverfahren und praktische Beispiele, Opladen und Wiesbaden 1998.
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Die Logik der Kontextanalyse Die Grundidee der Kontextanalyse ist es, in einem statistischen Modell ein bestimmtes individuelles Handeln als abhängige Variable nicht nur – wie in der Survey-Forschung sonst üblich – als kausale Folge anderer individueller Variablen, sondern auch als Resultat der Einwirkung von kontextuellen Variablen zu erklären. Ein Kontexteffekt (ein „struktureller Effekt“ also) liegt dann vor, wenn sich bei Kontrolle der unabhängigen individuellen Variablen noch ein statistisch merklicher Effekt der Kontext-Variablen feststellen läßt. Individuelle und kontextspezifische Regression Diese Grundlogik der Kontextanalyse läßt sich an einem einfachen Regressionsmodell leicht klar machen. Betrachtet werde eine abhängige individuelle Variable y. Zunächst der übliche, der „individualistische“ Fall: Die Varianz in y soll durch eine unabhängige individuelle Variable x erklärt werden. Die Regressionsgleichung für die Vorhersage des i-ten individuellen Wertes aus der Stichprobe lautet: yi=d0+d1xi+ei. Dafür werden, wie üblich, die Koeffizienten für d0 als Achsenabschnitt und für d1 als Steigung der Regressionsgeraden sowie die erklärte Varianz geschätzt. Wir wollen nun davon ausgehen, daß „in Wirklichkeit“ nicht nur die individuelle unabhängige Variable x für die Varianz in y sorgt, sondern eine dem Forscher bislang unbekannte kontextuelle Variable xk. Die Individuen verteilen sich, so sei angenommen, auf zwei Gruppen, die Kontexte. Es bestehe nun ein gewisser Unterschied zwischen den beiden Gruppen. Dieser Unterschied bezieht sich auf beide Parameter der Regressionsgeraden: Im Kontext 1 sind, verglichen mit dem Kontext 2, der Achsenabschnitt und die Steigung geringer. Und beide differieren deutlich in Achsenabschnitt und Steigung der Regressionsgeraden für die „individualisierte“ Population (vgl. Abbildung 11.1). Die Regression yi=d0+d1xi+ei über die gesamte Population ist also ein nur wenig aussagekräftiges Aggregat aus zwei kontextspezifischen Beziehungen. Sie ist ein bloßes Artefakt dessen, daß die soziale Umgebung als Einflußgröße übersehen wurde. Keiner ihrer Koeffizienten – d0 wie d1 – sagt etwas darüber aus, wie sich x „wirklich“ auf y auswirkt. Und obendrein wird auch noch die erklärbare Varianz nicht ausgeschöpft. Kurz: Das Modell ist fehlspezifiziert, weil wichtige Variablen fehlen. Und das sind Variablen, die die soziale Umgebung der Akteure betreffen. Es ist ein schöner „individualistischer Fehlschluß“, ein sog. Populationsfehlschluß (vgl. dazu noch Abschnitt 11.3).
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In Abbildung 11.1 sind diese beiden Gleichungen als die kontextspezifischen Regressionen eingezeichnet. Den Gedanken der kontextuell „bedingten“ Regressionsgeraden kann man natürlich beliebig auf k Kontexte mit k Achsenabschnitten und k Regressionskoeffizienten erweitern. Die Grundidee der Kontextanalyse ist dann einfach: Die Parameter d0k und d1k werden nun als eigene, mit den Kontexten systematisch variierende Variablen betrachtet: Je nach Kontextzugehörigkeit verändern sich der Achsenabschnitt bzw. die Steigung der Regressionsgeraden für die Beziehung zwischen x und y. Und die Frage lautet nun: Wie stark ist die Wirkung der Kontexte, wie verändern sich folglich die Koeffizienten der kontextspezifischen Regressionsgeraden und wieviel an Varianz läßt sich durch bestimmte Eigenschaften wk der jeweiligen Kontexte erklären? Der Einfachheit halber bleiben wir bei nur zwei Kontexten. Die entsprechenden beiden neuen Regressionsgleichungen für die statistische Erklärung der kontextspezifischen Achsenabschnitte und Steigungen sehen dann in allgemeiner Form so aus: d0k = f(wk) + uk d1k = g(wk) + vk. Die Kontextvariablen wk, von denen die Achsenabschnitte d0k und die Steigungen d1k abhängen, können sehr verschiedener Art sein. Eine der gebräuchlichsten Formen, Kontexteigenschaften als Variable zu definieren, sind Mittelwerte, meist just diejenigen, die sich aus den unabhängigen individuellen xVariablen für den jeweiligen Kontext k über die darin befindlichen Individuen aggregieren lassen. Also: xk (als „wk“) wäre beispielsweise die durchschnittliche Intelligenz der Kinder in einer Schulklasse oder der Arbeiteranteil in einem Stimmbezirk. Entsprechend lassen sich die beiden Gleichungen für die Erklärung der Variation der „individuellen“ Achsenabschnitte und Steigungen dann so schreiben: d0k = b0 + b2xk + uk d1k = b1 + b3xk + vk. Eventuelle Variationen von d0k bzw. von d1k lassen sich leicht als Kontexteffekte interpretieren: Mit der Variation von xk verändern sich – ausgehend von einem „minimalen“ Achsenabschnitt b0 und ausgehend von einer „minimalen“ Steigung b1 – der Achsenabschnitt bzw. die Steigung bei den k kontextuell „bedingten“ Regressionen. Und zwar: nach Maßgabe des Koeffizienten b2 für die Änderung des Achsenabschnittes einerseits und des Koeffizienten b3 für
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die Änderung der Steigung andererseits. Und je nachdem welche Variation eintritt, handelt es sich um einen typisch anderen Effekt der sozialen Umgebung. Drei Effekte Wenn kontextuelle und individuelle unabhängige Variablen in der beschriebenen Weise einbezogen sind, dann lassen sich drei Effekte auf die abhängige Variable unterscheiden: der individuelle Effekt, der kontextuelle Effekt und der Interaktionseffekt. Zur Verdeutlichung zeigen wir diese Effekte jeweils in ihrer „reinen“ Form, also unter Abwesenheit der jeweils anderen Effekte (vgl. Abbildung 11.2a-c).
a. Individueller Effekt
b. Kontextueller Effekt
y
c. Interaktionseffekt y
y
x, xk
d1k d0k
x, xk
d1k d 0k
d 0k
x, x k
d 1k d 0k
d1k
d1k d 0k
d 1k
d 0k
xk
xk
xk
Abb. 11.2: Individuelle, kontextuelle und Interaktionseffekte bei der Kontextanalyse
Die obere Abbildung enthält jeweils die Verläufe der Variablen x und y für drei Kontexte. Die Kontexte und die kontextspezifischen Regressionen sind in stilisierter Weise durch drei Linien gekennzeichnet, deren Mitte jeweils der Mittelwert der Variablen x bzw. y ist. In der unteren
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Abbildung sind die Verläufe der beiden Parameter, des Achsenabschnittes d0k und der Steigung d1k der kontextspezifischen Regressionsgeraden, dargestellt.
Beim „reinen“ individuellen Effekt liegen alle kontextspezifischen Regressionsgeraden auf einer gemeinsamen Linie (Abbildung 11.2a). Man sieht gleich: Über die Kontexte und über die Variation von xk hinweg sind die Achsenabschnitte und die Steigungen gleich. Die Kontexte unterscheiden sich nur in der Verteilung auf der unabhängigen Variablen. Nun macht man keinen Fehler, wenn man die Regressionsgerade für die Stichprobe ohne weitere Berücksichtigung der Kontexte berechnet (vgl. dazu noch Abschnitt 11.3): Das Ganze ist in diesem Falle eben nicht mehr als die Summe seiner Teile. Die kontextuellen Effekte bestehen in der Veränderung der Achsenabschnitte d0k je nach Kontext und Wert von xk. „Reine“ kontextuelle Effekte zeigen sich, wenn dabei jeder individuelle Effekt fehlt. Deshalb sind in Abbildung 11.2b auch alle drei Steigungen der kontextspezifischen Regressionsgeraden gleich null. Zwischen den Kontexten variieren dagegen die Achsenabschnitte der Regressionsgeraden. Die Differenz der Achsenabschnitte in den kontextspezifischen Regressionen und die Steigung der zugehörigen Geraden d1k kann dann als das Ausmaß des Kontexteffektes interpretiert werden: Es ist der Anteil der Varianz bei y in der gesamten Population, der sich durch die Zugehörigkeit zu den verschiedenen Kontexten erklären läßt. Ein solcher kontextueller Effekt läßt sich leicht interpretieren. Betrachtet sei beispielsweise eine Schulklasse, in der die Leistungen y der Schüler erklärt werden sollen. Zunächst gebe es einen Effekt der individuellen Intelligenz x bei den einzelnen Schülern – und zwar quer über die verschiedenen Schulklassen hinweg. Dann wären, anders als in der Abbildung 11.2b, die Steigungen der Regressionsgeraden größer als null. Es sei nun xk die durchschnittliche Intelligenz in der Schulklasse k. Dann bedeutet eine Zunahme des Achsenabschnittes der Regressionsgeraden mit der Durchschnittsintelligenz xk in der jeweiligen Schulklasse, daß sich mit dem Intelligenzniveau in der Schulklasse die Leistung bei Kindern mit gleicher individueller Intelligenz noch einmal deutlich verändert. Anders gesagt: Kinder mit gleichen individuellen Eigenschaften ändern ihr Verhalten, wenn sie sich in unterschiedlichen sozialen Umgebungen aufhalten.
Ein Interaktionseffekt liegt vor, wenn sich mit den Kontexten die Steigungen der Regressionsgeraden ändern (vgl. Abbildung 11.2c). „Rein“ ist ein Interaktionseffekt dann, wenn es weder eine Änderung der Achsenabschnitte gibt, noch individuelle Effekte vorliegen: Bei einem Kontext im „Nullpunkt“ ist die Steigung der Regressionsgeraden gleich null. Und sie ist davon systematisch verschieden, je größer xk wird. Der Interaktionseffekt ist gleich der Steigung der Geraden d1k. Eine Zunahme der Steigung mit der Variable xk hieße etwa im Beispiel der Erklärung der schulischen Leistungen von Kindern: In Schulklassen mit sehr niedrigem Intelligenzniveau
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wirkt sich die individuelle Intelligenz nur wenig, mit der Zunahme des intellektuellen Klimas in der Klasse aber immer stärker aus.
Im empirischen Normalfall kommen die drei Effekte kaum in ihrer „reinen“ Form vor, sondern meist in gewissen Mischungen. Das Ausgangsbeispiel in Abbildung 11.1 enthielt alle drei Effekte. Das statistische Instrument der Kontextanalyse ist nichts anderes als ein Mittel, um die drei Effekte zu trennen und die jeweiligen Koeffizienten – d0k und d1k – aus den empirischen Daten zu schätzen. Ein integriertes Modell Selbstverständlich lassen sich die verschiedenen Effekte zusammenführen und die beiden kontextbezogenen Regressionsgleichungen in ein Modell integrieren. Der Ausgangspunkt ist die allgemeine Gleichung der Beziehung zwischen x und y für die gesamte Population aller Akteure i in allen Kontexten k: yik = d0k + d1kxik + fik. Unter Benutzung der Gleichungen für die Kontexteinflüsse auf d0k und auf d1k ergibt dies: yik = (b0+b2xk+uk) + (b1+b3xk+vk)xik + fik = b0 + b1xik + b2xk + b3xikxk + (uk+vkxik+fik) = b0 + b1xik + b2xk + b3xikxk + eik. In dieser Gleichung lassen sich sehr schön die drei verschiedenen „reinen“ Arten von Effekten unterscheiden: Der individuelle Effekt einer „kontextfreien“ Wirkung der individuellen unabhängigen Variablen mit b1xik; der Kontexteffekt, der sich aus der Wirkung der sozialen Umgebung ableitet, mit b2xk; und der Interaktionseffekt als die nach Kontexten „bedingte“ Wirksamkeit individueller Eigenschaften mit b3xikxk. Wir haben auch die Fehlerterme in aller Pracht aufgeführt, damit deutlich wird, daß der sich zunächst so unscheinbar und einfach gebende Fehler des Gesamtmodells – eik – tatsächlich aus einem sehr komplexen Konglomerat ganz verschiedener Residuen – uk+vkxik+fik – zusammengesetzt ist. Jetzt brauchte man, um die verschiedenen Effekte, die Fehler und die insgesamt erklärte Varianz zu schätzen, nur noch die entsprechenden Daten: Daten über die Individuen und über deren soziale Umgebungen.
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11.3 Mehrebenenanalyse So überzeugend der Ansatz der Kontextanalyse ist: Es findet sich kaum einmal eine Untersuchung, die individuelle Akteure und soziale Umwelten systematisch zusammenführt. Warum aber gibt es so wenig Kontextanalysen? Ein erster Grund ist wohl der: Oft lassen sich die für den Akteur jeweils relevanten Umgebungen nicht eindeutig benennen, weil es ein scharfes Kriterium der Mitgliedschaft nicht gibt. Dies ist in der Tat ein sehr ernstes Problem, besonders dann, wenn – wie in den modernen Gesellschaften – sich die Mitgliedschaften der Personen zu den Kontexten immer stärker vervielfältigen, differenzieren oder gar ganz aufzulösen scheinen. Ein zweiter Grund ist weniger verständlich, aber meist der eigentliche: Es ist immer sehr aufwendig, die sozialen Umgebungen zusätzlich zu den Individuen zu beschreiben, und die Sozialforscher scheuen den mit jeder Kontextanalyse verbundenen besonderen Aufwand. Einfache Befragungen helfen hier ja auch nicht sehr viel weiter: Meist kennen die Akteure ihre soziale Umgebung nicht gut genug, als daß man sie einfach darüber um Auskunft bitten könnte. Oft muß man auf schwer zugängliche Quellen zurückgreifen, um die erforderlichen Informationen über das Kollektiv zusammenzutragen – etwa Daten zur ethnischen Zusammensetzung von Stadtbezirken über die Einwohnermeldeämter der kommunalen Behörden. Und viele Merkmale der Umgebung, wie etwa den Konsens in einer Clique, kann man nicht einfach abfragen, sondern muß dieses Merkmal gesondert konstruieren.
Aus den geschilderten praktischen Gründen geschieht in den üblichen Umfragen dann meist auch das Übliche: Es werden in aller Regel entweder nur Individualdaten ohne Informationen über die sozialen Kontexte der Individuen oder nur Aggregatdaten von Eigenschaften sozialer Kontexte ohne eine Erfassung der Eigenschaften der Individuen in diesen Kontexten erhoben und analysiert. Im ersten Fall werden dann Zusammenhänge auf der Ebene von Stichproben individueller Akteure berechnet – beispielsweise eine Korrelation zwischen Bildungsgrad und abweichendem Verhalten, im zweiten Fall Zusammenhänge von Eigenschaften der Kontexte – etwa der Zusammenhang des Anteils von Hauptschülern in einzelnen Stadtteilen mit der Rate bestimmter Formen der Kriminalität. Meist werden diese Zusammenhänge dann auf der Ebene der Individuen interpretiert. Und genau darin liegt das Problem: Es wird eine kausale Zurechnung auf eine bestimmte „Ebene“ der Wirkung von Variablen vorgenommen, die durch die „Ebene“ der Daten nicht gedeckt ist.
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Mehrebenen-(Fehl-)Schlüsse Mit diesen Problemen befaßt sich die sog. Mehrebenenanalyse – eine Art von Wurmfortsatz der Grundideen der Kontextanalyse für den Fall, daß bestimmte Mehrebenen-Fehlschlüsse drohen. Beispielsweise: Eine in der Stichprobe von Individuen gefundene Korrelation zwischen den Variablen Bildung und Kriminalität werde als Zusammenhang oder gar als Kausaleffekt auf der individuellen Ebene gedeutet: Die geringe Bildung lasse die Menschen bei der Verfolgung der kulturellen Ziele zu illegitimen Mitteln greifen. Und eine Korrelation des durchschnittlichen Bildungsgrades mit der Kriminalitätsrate auf der Ebene von Stadtteilen werde ähnlich interpretiert: Ein geringer Bildungsgrad der Individuen führe zu deren Kriminalität, woraus sich die „ökologische“ Korrelation zwischen durchschnittlichem Bildungsgrad und Kriminalitätsrate in den Stadtteilen erkläre.
Beide Schlüsse sind aber ausgesprochen waghalsig – und eigentlich auch verboten. Es drohen also zwei verschiedene Arten von Fehlschlüssen: einerseits eine statistische Variante des oben schon erwähnten individualistischen Fehlschlusses – die Fehlinterpretation von Korrelationen auf der Ebene der Individuen als Kausalwirkung von ausschließlich individuellen Eigenschaften. Wir wollen diesen Fehlschluß als Populationsfehlschluß bezeichnen; in Abbildung 11.1 wurde ein solcher Populationsfehlschluß skizziert – der irreführende Schluß von einer Regression über die Gesamtpopulation ohne Berücksichtigung kontextspezifischer Einflüsse auf die Beziehung von individuellen Variablen. Und andererseits der sog. ökologische Fehlschluß – der fehlerhafte Schluß von Zusammenhängen auf der Ebene der Kontexte auf Zusammenhänge, die auch auf der Ebene der Individuen gelten sollen.
Beide Fehlschlüsse sollen etwas ausführlicher erläutert werden, damit deutlich wird, wie wichtig die systematische Berücksichtigung von „Situationen“ – und Kontexte sind ja nichts anderes als Situationen für die Akteure – auch schon bei Interpretationen von Daten der herkömmlich betriebenen empirischen Sozialforschung ist. Das Kovarianztheorem Das Problem des Populationsfehlschlusses läßt sich am besten über das sog. Kovarianztheorem erläutern.14 Ausgangspunkt sei die einfache Korrelation rxy zwischen zwei „individuellen“ Variablen x und y. Eine solche Korrelation – berechnet ohne weitere Berücksichtigung interner Differenzierungen in der 14
Vgl. zum Kovarianztheorem Franz Urban Pappi, Sozialstruktur und politische Konflikte in der Bundesrepublik: Individual- und Kontextanalysen der Wahlentscheidung, Köln 1977, S. 86f.; Karl Schuessler, Analyzing Social Data: A Statistical Orientation, Boston u.a. 1971, S. 217.
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Stichprobe nach Kontexten – wird im Zusammenhang mit dem Kovarianztheorem auch als die totale Korrelation rt bezeichnet. Das Kovarianztheorem besagt nun, daß diese totale Korrelation in zwei Komponenten zerlegt werden kann: in einen Teil, der die Beziehung der Variablen innerhalb eventuell vorhandener Kontexte beschreibt; und in einen Teil, der den Zusammenhang der Variablen zwischen den Kontexten wiedergibt. Die „within“-Korrelation sei als rw, die „between“-Korrelation als rb bezeichnet. Die Korrelation rw ist dabei eine Art von Sammelmaß für die verschiedenen „bedingten“ Beziehungen innerhalb der Kontexte über alle Kontexte hinweg. Sie berechnet sich aus den Einzelregressionen der individuellen Variablen x und y für die verschiedenen Kontexte – so wie sie in Abbildung 11.1 und 11.2 für jeweils mehrere Kontexte skizziert sind. Die Korrelation rb ist demgegenüber die Korrelation der Gruppenmittelwerte xk bzw. yk der beiden betrachteten Variablen, ebenfalls über alle Kontexte hinweg. Es ist die Korrelation zwischen den Kontexteigenschaften – unabhängig von dem, was mit den Individuen in den Kontexten geschieht. Diese Korrelation wird auch als ökologische Korrelation bezeichnet.
Für das Kovarianztheorem werden nun zwei weitere Größen wichtig, die sich auf die Wirksamkeit der Kontexte für das Verhalten der Akteure beziehen. Dies ist erstens die durch die Kontext-Zugehörigkeit der Individuen erklärte Varianz in den beiden Variablen x und y. Dabei wird berechnet, wie groß die Varianz in den Variablen x bzw. y ist, die sich allein aus den Abweichungen der Gruppenmittelwerte vom Gesamtmittelwert ergibt. Diese Varianz wird auch Zwischengruppenvarianz genannt. Wir wollen sie für die beiden Variablen x und y mit Cxxb bzw. mit Cyyb bezeichnen. Um die Zwischengruppenvarianz zu ermitteln, müssen, wie bei der Berechnung von Varianzen üblich, die Differenzen der Mittelwerte der Kontexte zum Populationsmittelwert – dem Mittelwert der Variablen in der gesamten Stichprobe also – für jeden Kontext ermittelt, quadriert und über alle Fälle aufsummiert werden.
Die Zwischengruppenvarianz kann als Anteil der durch die Kontexte „erklärten“ Gesamtvarianz interpretiert werden (siehe dazu noch unten). Die Gesamtvarianz aber ist die Quadratsumme der Abweichungen aller individuellen Werte – egal aus welchem Kontext – vom Populationsmittelwert. Die Gesamtvarianz für x bzw. y sei mit Cxxt bzw. mit Cyyt gekennzeichnet. Sofern mit der Zwischengruppenvarianz nicht bereits alles an Gesamtvarianz erklärt ist, bleibt natürlich immer ein Rest. Dieser Rest ist definitionsgemäß genau komplementär zur Gesamtvarianz: Restvarianz gleich Gesamtvarianz minus Zwischengruppenvarianz. Dieser Rest an durch die Gruppenmittelwerte nicht erklärter Gesamtvarianz ist aber nichts anderes als die Varianz in den betreffenden Variablen, die innerhalb der Kontexte auf der Ebene der Individuen besteht. Das ist die sog. Binnengruppenvarianz. Sie sei für die bei-
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den Variablen x und y mit Cxxw bzw. mit Cyyw bezeichnet. Sie ist die für das Verständnis des Kovarianztheorems wichtige zweite Größe. Die Binnengruppenvarianz berechnet sich so: Zunächst werden für alle Kontexte getrennt die Varianzen innerhalb der Kontexte berechnet: die Summe der Abweichungsquadrate der individuellen Werte von „ihren“ Kontextmittelwerten. Und diese kontextbezogenen Summen der in den Kontexten vorfindbaren Varianzen der Individuen werden dann für alle Kontexte aufsummiert.
Und nun gilt auch analog zu der oben genannten Beziehung: Wenn die Binnengruppenvarianz nicht schon alles an der Gesamtvarianz erklärt, dann bleibt ein Rest. Und dieser Rest ist definitionsgemäß wieder nichts anderes als die Zwischengruppenvarianz. An einem einfachen Diagramm seien diese zunächst etwas kompliziert erscheinenden Beziehungen über die Abweichungen bzw. Differenzen erläutert, aus denen sich die Varianzen berechnen (Abbildung 11.3).
xk
xik *
Binnengruppen-Differenz: (xik- xk )
*
x* Zwischengruppen-Differenz: (kk - x*)
*
*
*
Gesamt-Differenz: xik - x*
Abb. 11.3: Die Zerlegung der Gesamtdifferenz in Binnengruppen- und in schengruppendifferenz
Zwi-
Betrachtet wird die Abweichung der Variablen x vom Gesamtmittelwert x* der untersuchten Population für einen individuellen Fall xik in einem Kontext xk. Die Abweichung des individuellen Wertes xik vom Populationsmittelwert x* ergibt sich dann – trivialerweise – als Summe zweier Teilabweichungen: Die Abweichung des individuellen Wertes xik innerhalb des Kontextes von „seinem“ Kontextmittelwert xk; und die Abweichung zwischen den Kontexten als Differenz des Kontextmittelwertes xk vom Gesamtmittelwert x*. Als Gleichung:
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xik – x* = (xik – xk) + (xk – x*). Wenn man über alle Einzelfälle und über alle Kontexte hinweg diese Differenzen ermittelt, quadriert und aufsummiert, erhält man die folgenden Quadratsummen: (xik – x*)2 = (xik – xk)2 + (xk – x*)2. Dieses sind aber nichts anderes als die oben erwähnten drei Varianzen für die Variable x: Die Gesamtvarianz Cxxt, die Binnengruppenvarianz Cxxw und die Zwischengruppenvarianz Cxxb. Und damit kann man schreiben: Cxxt = Cxxw + Cxxb. Wenn man die drei Bestandteile der Gleichung als Anteile auf die Gesamtvarianz Cxxt bezieht, dann erhält man die Anteile der Varianzen an der Gesamtvarianz. Da Cxxt/Cxxt = 1 ist, gilt nun: 1 = Cxxw/Cxxt + Cxxb/Cxxt Der Ausdruck Cxxb/Cxxt beschreibt den durch die Zwischengruppenvarianz erklärten Anteil an der Gesamtvarianz, die auf den Bezugswert 1 gesetzt wurde. Dieser Anteil der durch die Zwischengruppenvarianz erklärten Gesamtvarianz ist das Maß 2 (siehe dazu noch unten). Der Ausdruck Cxxw/Cxxt beschreibt dagegen den durch die Binnengruppenvarianz erklärten Anteil an der Gesamtvarianz. Die beiden Anteile sind – wie man leicht sieht – jeweils zu 1 komplementär. Deshalb läßt sich das Ausmaß der durch die Binnengruppenvarianz erklärten Gesamtvarianz auch so schreiben: 1 = Cxxw/Cxxt + 2. Und damit kann für die Binnengruppenvarianz Cxxw/Cxxt auch geschrieben werden: Cxxw/Cxxt = 1-2. Für die gesamte Beziehung zwischen durch die Kontexte erklärter und nicht erklärter Varianz insgesamt gilt somit die Trivialität: 1 = (12)+ 2. Als Koeffizient für die Stärke eines Gruppenunterschiedes wird meist als Wurzel aus 2 betrachtet. Der Koeffizient ist damit ein Maß dafür, wie gut allein durch die Kenntnis der Gruppenzugehörigkeit die Varianz in einer Variablen erklärt werden kann. Es ist ein Maß für die Beschreibung von Gruppenunterschieden in einer Variablen. kann maximal den Wert 1 annehmen – wenn die Gesamtvarianz ausschließlich über die Gruppenunterschiede erklärt wird. Und 2 kann minimal null sein – wenn es keinerlei Gruppenunterschiede und nur individuelle Abweichungen vom Gesamtmittelwert gibt.
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Die Erläuterungen waren notwendig, um das Kovarianztheorem zu verstehen, das seinerseits ein Verständnis der Mehrebenenfehlschlüsse erlaubt. Das Kovarianztheorem für die Variablen x und y, jeweils gemessen auf der Ebene von Individuen und von Gruppen, lautet: rt (1 2 x ) * rw * (1 2 y ) 2 x * rb * 2 y
Also: Die totale Korrelation rt ist gleich der individuellen Korrelation rw, gewichtet mit dem durch die Kontexte nicht erklärten Varianzanteil von x und y, gemessen über die Ausdrücke 1-2x bzw. 1-2y, plus der ökologischen Korrelation rb, gewichtet mit dem durch die Kontexte erklärten Varianzanteil von x und y, gemessen über die Ausdrücke 2x bzw. 2y. Der Populationsfehlschluß Nun wird das erste Problem unmittelbar erkennbar: Eine unbesehene Gleichsetzung der totalen Korrelation rt mit der „eigentlich“ gemeinten individuellen Korrelation rw ist nur dann erlaubt, wenn 2x und/oder 2y gleich null sind. Dann – und nur dann – werden ja die Gewichte für rw im Binnengruppenteil des Kovarianztheorems gleich 1. Und nur dann gilt rt = rw. Dies bedeutet aber inhaltlich, daß die übliche „individualistische“ Deutung von Korrelationen in Umfragedaten nur dann zulässig ist, wenn es keine Kontexteffekte und keine Gruppenunterschiede – ablesbar an der Höhe von 2x und 2y gibt.15 Vollzieht man dennoch diesen Schluß, dann begeht man den „individualistischen“ Populationsfehlschluß. Die Analysen der üblichen Umfragedaten für Stichproben von „unabhängig“ gezogenen Individuen unterliegen der Gefahr dieses Fehlschlusses allein deshalb, weil Daten über die soziale Umgebung normalerweise nicht vorhanden sind und alle Beziehungen zwischen Variablen daher als „individuelle“ Beziehungen interpretiert werden müssen.
15
Vgl. dazu Hartmut Esser, Sozialökologische Stadtforschung und Mehr-Ebenen-Analyse, in: Jürgen Friedrichs (Hrsg.), Soziologische Stadtforschung, Sonderheft 29 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Opladen 1988, S. 43f.
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Der ökologische Fehlschluß Das umgekehrte Problem entsteht, wenn man nur Aggregatdaten, also Korrelationen zwischen Gruppenmerkmalen, zur Verfügung hat. Dann droht der sog. ökologische Fehlschluß. Dieses Problem kann leicht schon an der Grundgleichung der Kontextanalyse gezeigt werden, die wir oben bereits kennengelernt haben. Wir lassen der Einfachheit halber den Interaktionseffekt weg und erhalten dann die folgende Regressionsgleichung für die Erklärung einer individuellen abhängigen Variablen yik durch eine individuelle unabhängige Variable xik und eine kontextuelle unabhängige Variable xk: yik = b0 + b1xik + b2xk + eik. Die Berechnung der sog. ökologischen Korrelation zwischen x und y vollzieht sich über die Mittelwertbildung beider Variablen für die verschiedenen Kontexte. Über diese Mittelwerte der Variablen x und y wird dann die KontextKorrelation rk berechnet. Die entsprechende Regressionsgleichung für die Kontextmittelwerte yk als abhängige und xk als unabhängige Variable lautet dann so: yk = b0 + b1xk + b2xk + ek = b0 + (b1 + b2)xk + ek. Und sofort wird das Problem des ökologischen Fehlschlusses erkennbar: Nur dann, wenn der Koeffizient b2 gleich null ist, wäre der über die Aggregatdaten geschätzte „ökologische“ Regressionskoeffizient für die Variablen xk und yk gleich dem „gemeinten“ Koeffizienten b1 für den Zusammenhang der Variablen xik und yik auf der individuellen Ebene. Also gilt auch für diesen Schluß von der Kontextebene auf die Individualebene: Es dürfen keinerlei Kontexteffekte vorhanden sein, wenn man von Aggregatdaten auf individuelle Zusammenhänge schließt. *** Die beiden Mehrebenen-Fehlschlüsse, der Populations- und der ökologische Fehlschluß, beruhen also auf einer gemeinsamen Besonderheit: Sie drohen immer dann, wenn es systematische Einflüsse der sozialen Umgebung auf das Handeln der Menschen gibt. Und damit muß man ja – nach allem was man über die Logik der soziologischen Erklärung, über die Bedeutung der „Logik“
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der Situation, über die strukturellen Effekte und über die Fehlkonzeption des Psychologismus weiß – immer rechnen.
11.4 Merkmale sozialer Umgebungen Die „atomistischen“ Survey-Untersuchungen haben damit ein Problem, ebenso wie die Interpretation von Aggregatkorrelationen als individuelle Zusammenhänge. Der Ausweg ist naheliegend genug: Jede empirische Untersuchung des Handelns von Akteuren sollte sowohl Daten auf der Mikroebene der Individuen wie solche auf der Makroebene der Kollektive, der sozialen Umgebungen bzw. der sozialen Situationen enthalten. Alles andere wäre nicht nur nach der Logik der Mehrebenenschlüsse, sondern schon von der Logik der soziologischen Erklärung her unvollständig und irreführend. Genau das aber ist oft das Problem: Eigentlich naheliegende kontextanalytische Designs werden fast nie auch umgesetzt. Das ist zwar unverzeihlich, aber auch nicht unverständlich. Denn: Kontextanalysen sind sehr aufwendig und auch sehr voraussetzungsvoll. Und sofort tun sich einige Fragen auf, die sich die „normale“ Survey-Forschung selten stellt: Worin besteht die „soziale Umgebung“ der Akteure eigentlich? Wie kann man sie abgrenzen? Und wenn man sie denn kennt: Welche Eigenschaften sollte man tunlichst beachten? Und wie lassen sich diese Eigenschaften in ein Variablen-Modell umsetzen? Grenzen Die einfachste Art der Bestimmung sozialer Umgebungen liegt vor, wenn es feste und deutlich definierte Grenzen und Zugehörigkeiten gibt. Schulklassen, Betriebe und Familien beispielsweise erfüllen diese Bedingung. Nachbarschaften, das Netzwerk der nahen Bekannten oder die Berufsgruppe erfüllen sie schon weniger. Aber was ist, wenn ein Akteur verschiedenen Kontexten gleichzeitig angehört? Oder wenn er – wie beim Aufenthalt in den funktionalen Sphären – mehrmals täglich die Umgebung wechselt? Oder wenn er – wie bei den kulturellen Milieus – sich darin nur sehr punktuell aufhält oder mit der Umgebung nur in seinen Vorstellungen verbunden ist? Wir wollen auf die Komplikationen, die eine mehrfache Zugehörigkeit, unscharfe Grenzen und nicht fest definierte Mitgliedschaften mit sich bringen, nicht weiter eingehen. Das Modell könnte – theoretisch – ja um beliebig viele Kontexte, möglicherweise ineinander verschachtelt, erweitert werden (siehe dazu auch weiter unten über den „Kontext der Kontexte“). Ob es Kontextef-
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fekte gibt, ist – wie immer in der empirischen Sozialforschung – eine empirische Frage. Schön wäre es daher, wenn man bereits theoretisch mehr erfahren könnte, welche Arten von Kontexten warum und wie überhaupt wirksam werden können. Wir haben einstweilen nur eine ganz allgemeine Antwort darauf: Kontexte wirken nur insoweit wie sie die Erwartungen und die Bewertungen der Menschen systematisch zu beeinflussen vermögen. Und wenn die Grenzen unscharf und die Zugehörigkeiten nicht verbindlich sind, dann dürften auch keine besonderen Kontexteffekte anzunehmen sein. Die Kennzeichnung der Kontexte Die gebräuchlichste Art der Kennzeichnung sozialer Kontexte über spezifische Variablen sind in der Kontextanalyse die Mittelwerte der individuellen Variablen der Akteure in dem betreffenden Kontext. Dies ist aber beileibe nicht die einzige Möglichkeit, die Einflüsse einer sozialen Umgebung zu berücksichtigen. Die verschiedenen Arten des Verhältnisses zwischen Individuen und ihren sozialen Umgebungen – und damit auch: ein Spektrum von möglicherweise verhaltenssteuernden Eigenschaften sozialer Situationen – haben Paul F. Lazarsfeld und Herbert Menzel in einer berühmt geworden Typologie „On the Relation between Individual and Collective Properties“ zusammengefaßt.16 Wir wollen sie hier kurz wiedergeben. Lazarsfeld und Menzel beschreiben zunächst drei Eigenschaften von Kollektiven und dann vier Arten der Charakterisierung der Beziehung von Individuen zu einer sozialen Umgebung. Eigenschaften von Kollektiven Die drei Typen von Eigenschaften der Kollektive bezeichnen Lazarsfeld und Menzel als analytisch, strukturell und global. Analytische Merkmale von Kollektiven sind solche, die über bestimmte logische Operationen der Aggregation von individuellen Eigenschaften für jedes einzelne Mitglied des Kollektivs gewonnen werden. Beispiele dafür sind Durchschnitte, Prozentwerte, Standardabweichungen oder Korrelationen zwi16
Paul F. Lazarsfeld und Herbert Menzel, On the Relation between Individual and Collective Properties, in: Amitai Etzioni (Hrsg.), Complex Organizations. A Sociological Reader, New York 1962, S. 427ff. Die zur Erläuterung aufgeführten Beispiele orientieren sich gelegentlich an dem Text von Lazarsfeld und Menzel, die dabei auch lehrreiche Anspielungen auf einige, mittlerweile klassische empirische Studien der Soziologie machen.
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schen individuellen Merkmalen. Damit kann man verschiedene Grade der Verbreitung, der Streuung und des Zusammenhangs individueller Eigenschaften als Kontext-Variable erfassen. Im Hintergrund stehen aber immer „soziologische“ Variablen wie Grade sozialer Kontrolle oder des Bestehens sozialer Ungleichheiten. Wenn beispielsweise in einem Distrikt eine hohe Korrelation zwischen Berufszugehörigkeit und Wahlverhalten vorliegt, dann kann davon ausgegangen werden, daß es eine relativ starke Erwartung für ein berufsbezogenes Wahlverhalten gibt. Die Korrelation als analytische Eigenschaft des Kontextes ist damit nichts anderes als ein Indikator für das Ausmaß der sozialen Kontrolle in dem Kontext, die ihrerseits zur Erklärung des Verhaltens herangezogen werden kann. Strukturelle Merkmale werden durch bestimmte Operationen über die Beziehungen der Mitglieder eines Kollektivs zueinander gebildet. Dazu gehört beispielsweise das Ausmaß der Cliquenbildung, die Konzentration der Beziehungen auf einen soziometrischen Star oder das Ausmaß der räumlichen Konzentration bestimmter Gruppen in gewissen Enklaven einer Stadt im Vergleich zur Gleichverteilung über das jeweilige Kollektiv. Die globalen Eigenschaften von Kollektiven sind solche, die ihnen ohne jede weitere Information über die Eigenschaften der Individuen in den Kollektiven zugeschrieben werden können. Dazu gehört beispielsweise die Art der Verfassung der jeweiligen Gesellschaft, die Niederschlagsmenge für eine Region, die Persönlichkeit des jeweiligen Monarchen, des Dekans oder des Bundeskanzlers, die Entfernung eines Dorfes zur nächsten Stadt – und so weiter. Sie alle bilden für die Akteure im jeweiligen Kontext ein „gemeinsames Schicksal“, dem sie gleichermaßen ausgesetzt sind und dem sie „individuell“ nicht entrinnen können. Individuen und Kollektive Vier Eigenschaften beschreiben die Beziehung der Individuen zu den Kontexten, in die sie jeweils eingebettet sind: absolute, relationale, komparative und kontextuelle Merkmale. Absolute Eigenschaften sind solche Merkmale zur Beschreibung von Individuen, die den Individuen zugewiesen werden können, ohne daß man über die Kollektive, denen die Individuen zugehören, oder über die Beziehungen zu anderen Individuen etwas wissen müßte. Zu den absoluten Merkmalen gehören die wichtigsten soziodemographischen Variablen: Alter, Geschlecht, Geburtskohorte, Familienstand, Einkommen, Beruf, Religionszugehörigkeit – und so weiter.
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Relationale Eigenschaften von Individuen werden aus Informationen über die sozialen Beziehungen der betreffenden Person zu anderen Personen gebildet. Dazu gehört zum Beispiel, ob ein Akteur in einer Gruppe isoliert oder ein soziometrischer Star ist, ob er von anderen Akteuren akzeptiert wird oder Freunde und Bekannte mit bestimmten Merkmalen hat – etwa solche, die AIDS haben oder nicht. Komparative Merkmale charakterisieren Personen über einen Vergleich ihrer – absoluten oder relationalen – Merkmale mit einem Standard, etwa der Verteilung des betreffenden Merkmals in dem Kollektiv, dem sie angehören. Die Position in der Geschwisterreihenfolge etwa als Erstgeborenes oder die Eigenschaft, zu den obersten 10% in der Intelligenz in einer Schulklasse zu gehören, wären solche komparativen Merkmale. Die kontextuellen Eigenschaften schließlich sind diejenigen, die ein Mitglied eines Kollektivs über eine Eigenschaft just dieses Kollektivs beschreiben. Beispielsweise: Student in einer Massenuniversität, Bewohner einer ethnisch gemischten Nachbarschaft oder Soldat in einer Kompanie mit vielen Beförderungen wären allesamt solche kontextuellen Eigenschaften. Da sich die kontextuellen Eigenschaften auf Eigenschaften der Kollektive beziehen, kann es auch genau jene drei Arten an kontextuellen Eigenschaften geben, die wir oben als Eigenschaften von Kollektiven unterschieden hatten. Dies wären dann – sozusagen – analytisch-kontextuelle, strukturell-kontextuelle und global-kontextuelle Eigenschaften – und zwar der Individuen in den jeweiligen Kollektiven. *** Die Aufzählung von Lazarsfeld und Menzel ist eine Erinnerung an die Vielfalt der Möglichkeiten, über die auch in Massenumfragen die Logik der Situation der Akteure operationalisiert werden könnte. Und man sollte meinen, daß die systematische Berücksichtigung von sozialen Umgebungen und eine Charakterisierung der Individuen über kontextuelle Merkmale zur Erklärung des Handelns und der Einstellungen der Menschen eine Selbstverständlichkeit wäre. Das ist aber keineswegs der Fall. Damit diese Möglichkeiten nicht in Vergessenheit geraten, wurden sie hier vor allem erwähnt. Der Kontext der Kontexte Kontexte können ihrerseits natürlich wieder in Kontexte eingebettet sein. Das Individuum ist dann – gewissermaßen – von immer weiter entfernten Schich-
446
Situationslogik und Handeln
ten sozialer Umwelten umgeben: Familie, Verwandtschaft, Gemeinde, Provinz, Nation, übernationale Einheit, schließlich die Weltgesellschaft, für manche sogar das All. Es handelt sich um eine multiple und hierarchische Mehrebenen-Struktur, bei der die unteren Einheiten Teil der jeweils oberen Einheiten sind(vgl. dazu auch noch Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Im Prinzip können von allen diesen Ebenen eigene strukturelle Effekte ausgehen. Die vergleichende Gesellschaftsanalyse, wie sie etwa in der Tradition der Arbeiten von Stein Rokkan durchgeführt wird, beruht auch auf solchen Überlegungen.17 Die Grundlogik bleibt aber stets die gleiche: die Trennung der Effekte aus den verschiedenen Ebenen zur Erklärung von Varianz in der betrachteten individuellen abhängigen Variable.
11.5 Die Erklärung der Kontexteffekte Wir haben oben bereits darauf hingewiesen, daß die statistisch erklärte Varianz bei einer abhängigen Variablen keineswegs auch schon deren theoretische Erklärung darstellt (vgl. dazu auch schon Abschnitt 10.3). Auch der schönste statistische Kontexteffekt erklärt noch nicht, warum sich die Menschen je nach Gruppenzugehörigkeit auch bei ansonsten gleichen individuellen Eigenschaften anders verhalten. Dieses „theoretische Defizit“ teilt die Kontextanalyse mit allen Varianten der Variablen-Soziologie. Vor jeder inhaltlichen Deutung und theoretischen Erklärung eventuell gefundener struktureller Effekte lauert aber noch ein ganz anderes, ein eher statistisches Problem: Nicht alle Unterschiede, die zwischen sozialen Kontexten gefunden werden, können unbesehen als Kontexteffekt bzw. als struktureller Effekt interpretiert werden. Strukturelle Scheineffekte: Ein Beispiel In einer Untersuchung zur Assimilation und Integration ausländischer Familien waren vier Stadtteile von Köln – Kalk, Humboldt, Chorweiler und Bocklemünd – als sozialräumliche Kontexte ausgewählt worden.18 Sie unterschieden sich vor allem im Ausmaß der ethnischen Konzentration. Innerhalb der Stadtteile waren dann jeweils noch vier weitere, sehr viel 17
Vgl. zum Beispiel Stein Rokkan, Derek Urwin, Frank H. Aarebrot, Pamela Malaba und Terje Sande, Centre-Periphery Structures in Europe. An ISSC Workbook in Comparative Analysis, Frankfurt/M. und New York 1987, S. 272ff.
18
Hartmut Esser, Sozialräumliche Bedingungen der sprachlichen Assimilation von Arbeitsmigranten, in: Zeitschrift für Soziologie, 11, 1982, S. 288ff.
447
Der Kontext des Handelns
kleinere Gebiete – ebenfalls nach dem Grad der ethnischen Konzentration variierend – abgegrenzt worden. Die theoretische Überlegung war, daß ausländische Personen, die in ihrem Stadtteil bzw. in ihrer Nachbarschaft viele Gelegenheiten zu interethnischen Kontakten haben, rascher die deutsche Sprache lernen, und daß diese Gelegenheiten systematisch mit der ethnischen Konzentration in den Stadtteilen variieren. Die Frage war: Hat die Zugehörigkeit zu den vier Stadtteilen bzw. zu den insgesamt 16 Gebieten eine systematische Auswirkung auf die sprachliche Assimilation? Auf den ersten Blick sah das in der Tat auch so aus (vgl. Tabelle 11.2) Tabelle 11.2: Mittelwertverteilung von Skalenwerten der Variable Sprachkenntnisse nach Kontextzugehörigkeit
Gebiet (1) (2) (3) (4) (1) (2) (3) (4) (1) (2) (3) (4) (1) (2) (3) (4)
Bezirk
Mittelwerte
Kalk
2.96 3.14 3.36 3.37
Humboldt
3.15 3.45 3.57 3.73
Chorweiler
3.46 3.63 3.70 3.84
Bocklemünd
3.70 3.93 3.95 4.00
n
N
3.20
25 14 14 30
83
3.43
26 38 14 15
93
3.65
22 19 20 19
80
3.88
27 15 20 20
82
Die Tabelle beschreibt die durchschnittlichen Sprachkenntnisse in den vier Stadtbezirken Kalk, Humboldt, Chorweiler und Bocklemünd und darin jeweils noch einmal für vier Gebiete innerhalb dieser Stadtteile. So hat etwa Chorwei-
448
Situationslogik und Handeln
ler den Durchschnitt 3.65 insgesamt, und im Gebiet (3) liegt der Durchschnitt bei 3.70. Es sind jeweils auch die Fallzahlen n in den Einzelgebieten und N in den Bezirken aufgeführt. Es gibt also, auf den ersten Blick wenigstens, starke Unterschiede zwischen den Bezirken und Gebieten. Aber sind es auch „wirklich“ strukturelle Effekte oder Kontexteffekte? Selektive Migration Die Vorsicht ist nicht unbegründet. Die Mittelwertunterschiede zwischen den Gruppen können entstehen, ohne daß die soziale Umgebung irgendeinen unmittelbaren Einfluß nehmen müßte: durch die sog. selektive Migration in die betreffenden Umgebungen. Danach suchen die individuellen Akteure mit bereits vorhandenen Eigenschaften – etwa: bereits vorliegenden guten Sprachkenntnissen – selektiv bestimmte soziale Umgebungen auf. Und dann verteilen sich die Individuen über die Kontexte und erzeugen durch ihre selektive Anwesenheit die Mittelwertunterschiede, ohne daß von den Kontexten noch irgendeine systematische Wirkung ausgehen würde. Adjustierung Solche strukturellen Scheineffekte lassen sich jedoch leicht schon statistisch kontrollieren. Dazu benötigt man allerdings jene, auf der individuellen Ebene für die Erklärung der abhängigen Variable wichtigen unabhängigen Variablen. Und danach werden dann die strukturellen Effekte statistisch kontrolliert. Dies sind, um auf das oben skizzierte Beispiel zurückzukommen, für den Spracherwerb bei Ausländern im wesentlichen drei Variablen: Bildungsgrad, Aufenthaltsdauer und Einreisealter. Und die Grundidee ist dann die: Personen mit relativ hohem Bildungsgrad, längerer Aufenthaltsdauer und geringem Einreisealter haben bereits als „Individuen“ die besseren Sprachkenntnisse – und halten sich gleichzeitig selektiv in bestimmten Stadtbezirken auf, vorzugsweise in denjenigen, in denen die ethnische Konzentration relativ gering ist. Die Kontexte selbst haben also auf den Spracherwerb keinerlei Einfluß. Sie wirken lediglich darauf, daß sich bestimmte Typen von Akteuren von ihnen selektiv angezogen fühlen.
Das Problem läßt sich leicht wieder an Hand eines Diagramms zeigen, das die nach den Kontexten bedingten Regressionsgeraden enthält. Der Einfachheit halber wollen wir nur zwei Kontexte und nur eine unabhängige individuelle Variable betrachten (vgl. Abbildung 11.4)
450
Situationslogik und Handeln
nicht, weil der Kontext selbst sich auf das Sprachverhalten davon unabhängig auswirkt. Das statistische Instrument zur Kontrolle solcher Scheineffekte ist die Kovarianzanalyse. Darin wird – gewissermaßen – simuliert, daß die Komposition der Akteure mit bestimmten individuellen Merkmalen in den Kontexten gleich ist. Dies geschieht dadurch, daß die Gruppen durch eine formale Transformation – die sog. Adjustierung – auf gleiche Werte bei den unabhängigen individuellen Variablen gebracht werden. Es ist eine Art von statistischem Gedankenexperiment: Wie sähen die Mittelwertunterschiede in der abhängigen Variable zwischen den Kontexten aus, wenn in Hinsicht auf die unabhängigen individuellen Variablen „gleiche“ Akteure darin wohnen würden. Dadurch werden die bloßen Verteilungseffekte nach der unabhängigen Variablen kontrolliert. Die statistische Transformation wird in Abbildung 11.4 durch die Verschiebung der Akteure auf einen fiktiven gleichen Kontextwert gekennzeichnet – den Gesamtmittelwert x* in der gesamten Population. Man sieht leicht, was mit „selektiver Migration“ gemeint ist: Nach der Adjustierung der beiden Kontexte 1 und 2 auf den Populationsmittelwert x* und damit: auf einen gleichen Kontextmittelwert bei der unabhängigen Variablen, verschwindet jeder Unterschied in der abhängigen Variablen yk. Dies wäre nicht der Fall, wenn die Achsenabschnitte und/oder die Steigungen zwischen den Kontexten variierten. Man kann sich davon selbst überzeugen, indem man die gleiche Transformation für die Diagramme in Abbildung 11.2a und 11.2b vornimmt. Versuchen Sie es!
Erst wenn nach der Adjustierung noch Kontextunterschiede bestehen bleiben, kann daher von inhaltlich interpretierbaren Kontexteffekten gesprochen werden: eine „genuine“ Wirkung der sozialen Umgebung, die von allen bloßen Verteilungseffekten bereinigt ist. Gemessen werden die ursprünglichen, um die selektive Migration nicht-adjustierten Kontextunterschiede durch das uns bereits bekannte Maß . Die nach der Adjustierung auf den Populationsmittelwert noch verbleibenden Unterschiede werden in dem Maß wiedergegeben. Dies ist – sozusagen – das „“, das sich auf der Grundlage der Mittelwertangleichung berechnen läßt. In unserem Beispiel der sprachlichen Assimilation von Ausländern zeigte sich nach einer solchen Adjustierung der Gruppen in Bezug auf die drei unabhängigen Variablen Schulbildung, Aufenthaltsdauer und Einreisealter in der Tat eine deutliche Verringerung der ursprünglich recht starken Mittelwertunterschiede zwischen den Gebieten und den Stadtteilen – ablesbar an den wiedergegebenen Mittelwertdifferenzen vom Gesamtmittelwert einerseits und an der Verringerung des Wertes von auf als Maß für die Verringerung der Differenzen zwischen den 16 Gebieten und den vier Stadtteilen vor und nach der Adjustierung: von .32 auf .19 für die Gebiete und von .27 auf .12 für die Stadtteile.
Nach der Kontrolle der selektiven Migration ergaben sich die folgenden, „substantiellen“ strukturellen Effekte (vgl. Tabelle 11.3):
451
Der Kontext des Handelns
Tabelle 11.3: Mittelwertverteilung der Variable Sprachkenntnisse nach Adjustierung
Gebiet
(1) (2) (3) (4) (1) (2) (3) (4) (1) (2) (3) (4) (1) (2) (3) (4)
Bezirk
Abweichung nicht adjustiert
Abweichung adjustiert
Kalk
-.57 -.39 -.18 -.17
Humboldt
-.38 -.09 .04 .20
Chorweiler
-.08 .10 .17 .30
Bocklemünd
.17 .40 .42 .47
.34
.05 .31 .25 .19
,
.32
.27
.19
-.33
-.38 -.19 .07 .07
-.11
-.10
-.22 .08 -.04 -.02
-.04
.11
-.19 .00 .03 .07
-.03
.18 .12
Erst wenn es auch nach der Adjustierung deutliche Kontextunterschiede gibt, lohnt es sich also, darüber nachzudenken, woran das liegen mag und wie die theoretische Erklärung des gefundenen, „echten“ Kontexteffektes aussieht. Im Beispiel ist das Ergebnis eigentlich ganz eindeutig: Werte von .19 bzw. von .12 für das der nach Verteilungseffekten kontrollierten Kontextunterschiede sind zu klein, als daß man von strukturellen Effekten sprechen sollte. Hier gibt es also nicht viel an Kontexteinflüssen theoretisch zu erklären. Und das war auch das Hauptergebnis der Untersuchung, aus der die Tabellen stammen, insgesamt: Die Integration der ausländischen Familien war in erster Linie eine Folge ihrer individuellen Eigenschaften, Chancen und Ressourcen und ihrer ganz privaten Situation, insbesondere in ihrer Familie und in ihrer Verwandt-
452
Situationslogik und Handeln
schaft. Und die verstreute sich meist über die gesamte Stadt, die weitere Region und mitunter über das gesamte Bundesgebiet. Deshalb konnte es nicht verwundern, daß die Stadtteile „als solche“ auf das Verhalten der ausländischen Familien keinen eigenständigen Einfluß hatten: Sie waren – anders als die Familie und die Verwandtschaft – kein Teil der „relevanten“ Situation. Drei Mechanismen Die Kontextanalyse bzw. die Kovarianzanalyse können also helfen, empirisch festzustellen, ob es systematische strukturelle Effekte überhaupt gibt. Wenn sich ein solcher Effekt zeigt, stellt sich die theoretische Frage: Welche Mechanismen sind es eigentlich, die die statistisch beschriebenen strukturellen Effekte auch erklären können? Für die theoretische Erklärung von Kontexteffekten werden im Prinzip drei Mechanismen diskutiert (vgl. Esser 1988, S. 45ff.): Kontexte fungieren als Opportunitäten für das Handeln der Menschen; Kontexte bilden spezielle soziale Räume bzw. Milieus der Geltung von institutionellen Regeln und der sozialen Einflußnahme; und Kontexte sind über Identifikationen und über Orientierungen wirksam, die die Akteure mit ihnen – etwa in der Form einer symbolischen Ortsbezogenheit – verbinden. Kontexte als Opportunitätsstrukturen Wie man sich die theoretische Erklärung von Kontexteffekten vorzustellen hat, ist am deutlichsten für die Interpretation von Kontexten als Räumen typischer Möglichkeitsstrukturen bzw. Opportunitäten herausgearbeitet worden. In diesem Zusammenhang hat der Politologe Adam Przeworski ein interessantes Modell entwickelt.19 Es geht in dem Modell um Wahlverhalten in Abhängigkeit des Stimmenanteils y einer bestimmten Partei und in Abhängigkeit des Arbeiteranteils x in einem Stimmbezirk j. Przeworski geht von dem Stimmenanteil der Partei y in den verschiedenen Stimmbezirken aus. Diesen Anteil möchte er über den Arbeiteranteil in den Stimmbezirken statistisch erklären. Die Regressionsgleichung für die Erklärung des Stimmenanteils von y in den Stimmbezirken in Abhängigkeit des Arbeiteranteils x ergibt dann die folgende ökologische Regression:
19
Przeworski, Adam, Contextual Models of Political Behavior, in: Political Methodology, 1, 1974, S. 27-61.
Der Kontext des Handelns
453
yj = a + bxj + ej mit a als Anteil der Nicht-x-Gruppe, die y wählt; mit b als Anteil der x-Gruppe, die y wählt. Der Achsenabschnitt beschreibt also den Anteil von y im Stimmbezirk j, der sich ohne Einfluß der Zugehörigkeit zur x-Gruppe ergibt. Und dann kommt – nach Maßgabe der Parteiidentifikation der x-Gruppe, ausgedrückt durch die Steigung b – der Anteil hinzu, der von der Zugehörigkeit zur x-Gruppe ausgeht. Das alles sind aber so nur reine Verteilungs- und Kompositionswirkungen des individuellen Wahlverhaltens der Mitglieder der beiden Gruppen x und Nicht-x. Ein Kontexteffekt läge erst dann vor, wenn sich die Neigung in der x-Gruppe, die Partei y zu wählen, systematisch mit dem Anteil der xGruppe in den Stimmbezirken ändern würde. Dies kann als eine Funktion der Steigung b in der ökologischen Regression mit dem Stimmenanteil modelliert werden. Also: b = c + pxj mit c als Anteil der x-Gruppe, die y unabhängig von jeder Kontextzugehörigkeit wählt; mit p als Anteil der x-Gruppe, die y in Abhängigkeit des Anteils der x-Gruppe im Kontext j wählt. Diese Gleichung stellt die eigentliche Kontexthypothese dar: Es gibt in der xGruppe einen Anteil c, der ganz „unbedingt“ die Partei y wählt. Dann aber gibt es eine andere Teilgruppe mit dem Anteil p, die ihr Wahlverhalten vom Anteil der Akteure der eigenen Gruppe im Stimmbezirk abhängig macht. Soweit ist dies aber alles noch keine theoretische Hypothese, woran es denn liegen könnte, daß eine solche Abhängigkeit des Wahlverhaltens vom x-Anteil vorliegt. Hier stellt Adam Przeworski eine interessante Überlegung an: Der Anteil xj im Stimmbezirk j beschreibt nichts anderes als die Wahrscheinlichkeit, daß ein Mitglied der x-Gruppe auf ein anderes Mitglied seiner Gruppe trifft. Diese Wahrscheinlichkeit kann im einfachsten Fall als Zufallswahrscheinlichkeit in Abhängigkeit des Anteils der Personen der eigenen Gruppe angenommen werden. Und je wahrscheinlicher ein Akteur einen anderen trifft, der ihn in einer bestimmten Richtung beeinflussen könnte, um so eher ist zu erwarten, daß zu den individuellen Neigungen noch eine „Wirkung“ der sozialen Umgebung hinzutritt.
454
Situationslogik und Handeln
Soziale Beeinflussung Mit den Wahrscheinlichkeiten und mit dem bloßen Treffen ist es also noch nicht getan: Der im Grunde ja noch schwankende Wechselwähler muß auch nach einem Treffen mit einem Anhänger der Partei y erst noch richtig überzeugt werden, die Partei y zu wählen. Und das hängt wiederum von zwei Dingen ab: Ist die angetroffene Person bereits Anhänger von y und versucht, den potentiellen y-Wähler zu überzeugen? Und läßt sich dieser dann auch schließlich wirklich überzeugen? Das Ausmaß dieser „Anfälligkeit“ spiegelt sich in dem Koeffizienten p der Kontexthypothese wider. Adam Przeworski gibt damit seinem statistischen Modell eine eindeutige theoretische Interpretation – ein seltener Glücksfall, nicht nur in der Soziologie bzw. der Politologie. Die theoretische Interpretation des Modells enthält offenkundig eine Opportunitäten- und eine Beeinflussungshypothese: Die Treffwahrscheinlichkeiten leiten sich aus den Strukturen objektiv gegebener Möglichkeiten ab. Und die Wahrscheinlichkeit für eine wirkliche Beeinflussung ist teils ebenfalls eine strukturell vorgegebene situationale Größe – über den Anteil der bereits überzeugten y-Wähler in der x-Gruppe –, teils ist es ein Teil der inneren Einstellung der Akteure, die emotionale oder interessengebundene „Nähe“ zur Partei y, die ja immer zur Situation dazugehört. Die Erklärung des Kontexteffektes von Adam Przeworski ist also eine Art von Mischung der beiden ersten oben genannten Erklärungsmuster für Kontexteffekte. Und sie ist vollauf vereinbar mit dem Konzept der Situation, wie wir es in Teil A kennengelernt haben. Empirische Implikationen Das theoretische Modell von Adam Przeworski ist auch deshalb besonders instruktiv, weil sich daraus unmittelbar empirische Konsequenzen ableiten, die man wieder testen kann. Wenn man die Kontexthypothese in die ursprüngliche ökologische Regression der Variablen xj und yj einsetzt, dann erhält man: yj = a + (c + pxj)xj + ej = a + cxj + pxj2 + ej. Das aber bedeutet, daß das statistische Modell bei Richtigkeit des theoretischen Erklärungsmodells einen Interaktionsterm – pxj2 – enthalten müßte. Und daß dieses Modell sich dann als das am besten passende Modell erweisen müßte, wenn die theoretische Interpretation richtig war. Das Modell könnte
Der Kontext des Handelns
455
ferner leicht mit realistischeren Annahmen versehen werden, insbesondere über die Wirkung besonders naher Bekannter und über nicht-zufällige Treffwahrscheinlichkeiten für dieselben. Es kam hier nur darauf an, zu zeigen, auf welche Weise Kontexteffekte im Prinzip zustande kommen und wie sie theoretisch erklärt werden können. Kontexteffekte und Bastardtheorien Kontexte sind nichts anderes als Situationen mit bestimmten äußeren Bedingungen, die die Akteure dazu veranlassen, sich in bestimmter Weise vor dem Hintergrund ihrer biographisch erworbenen Identität zu verhalten. Die vorgeschlagenen theoretischen Erklärungen von Kontexteffekten betonen in erster Linie die Merkmale in der Logik der Situation – und leiten die Kontexteffekte über relativ einfache statistische Aggregationen der kontextuell beeinflußten individuellen Handlungen ab. Über die Logik der Selektion macht sich die Kontextanalyse wenig Gedanken. Die theoretischen Erklärungen der Kontextanalyse entsprechen damit dem Vorgehen wie es für die strukturelle Soziologie bzw. für die Variablen-Soziologie insgesamt üblich ist: Ein bestimmtes Handeln ergebe sich unmittelbar aus den situationalen Strukturen. Ein expliziter theoretischer Bezug auf die Akteure, auf deren Interpretationen und Entscheidungen scheint überflüssig. In der Konzeption des Modells der soziologischen Erklärung läßt sich diese Verkürzung als ein „Kurzschluß“ der Logik der Situation mit der Logik der Selektion beschreiben, so wie das in Abbildung 10.2 in Kapitel 10 skizziert wurde: Strukturelle Effekte sind ein Spezialfall der „Logik“ der Situation. Oft ist diese Verkürzung durchaus annehmbar: Wenn die Opportunitäten deutlich, die sozialen Einflüsse nachhaltig und die Orientierungen intensiv genug sind, dann folgen die Menschen auch dem, was die Situation ihnen – gewissermaßen – auferlegt. Viel an Logik einer „Selektion“ bleibt dann ja nicht übrig. Gleichwohl gibt es stets – auch beim oberflächlichen Gelingen – ein theoretisches Problem aus dieser Vermischung der Logik der Situation mit der Logik der Selektion: Das Handeln wird aus dem „Kontext“ unmittelbar ja nicht erklärt: Nicht die Statusmittelwerte von Schulen oder Freunden entscheiden sich für ein bestimmtes Bildungsverhalten, sondern immer nur die individuellen Schüler, die bestimmte Eigenschaften ihrer Umgebung wahrnehmen, sich daran und an ihren inneren Einstellungen orientieren, ihre Situation danach interpretieren und erst dann handeln. Siegwart Lindenberg hat diese, für die strukturelle Soziologie zum Programm gewordene – unentwirrbare
456
Situationslogik und Handeln
– Vermischung von Logik der Situation und Logik der Selektion als Bastardtheorie bezeichnet.20 Die üblich betriebene Kontextanalyse ist wohl auch deshalb eine bloße Technik der statistischen Identifikation, und damit: der Beschreibung, von strukturellen Effekten geblieben, weil sie nicht sauber genug zwischen der Logik der Situation und der Logik der Selektion unterschieden hat und gerade deshalb befriedigende theoretische Erklärungen für strukturelle Effekte nicht vorschlagen konnte. Sie ist kein Verfahren der Erklärung des Handelns als Folge der Variation situationaler Umstände. Mit strategischen Interdependenzen und der Dynamik von unintendierten Folgen, wie wir sie in den folgenden Teilen des Buches (etwa in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“) noch ausführlich kennenlernen werden, kann der Ansatz erst recht nichts anfangen. Die Kontext- und Mehrebenenanalyse ist eher zu einer Fortsetzung der Variablen-Soziologie mit anderen Mitteln degeneriert, statt zu einer brauchbaren Methodologie der soziologischen Erklärung. Der einzige Unterschied zu den „atomistischen“ Massensurveys ist, daß Umgebungsvariablen explizit einbezogen werden. Das ist zwar schon etwas. Aber – leider – nicht genug. Zur Entstehung von Kontexten Mit der empirischen Analyse und auch mit einer befriedigenden theoretischen Erklärung von Kontexteffekten ist noch nichts darüber gesagt, wie die Kontexte entstehen bzw. auf welche Weise sie sich als Gleichgewichte von sozialen Milieus und Interaktionssystemen reproduzieren. Oft genug möchte man aber gerade auch das wissen. Derartiges würde auch erklären, warum es Ströme der selektiven Migration in bestimmte Umgebungen gibt. Hier hilft die Kontextanalyse selbst auch nicht weiter: Wie Köln-Kalk oder KölnChorweiler in ihren besonderen Strukturen entstanden sind – das ist keine Frage der Situations- und Kontextanalyse alleine mehr, sondern eine solche der Erklärung der Genese der sozialen Strukturen. Wer sich dafür interessiert, muß daher das komplette Modell der soziologischen Erklärung anwenden – etwa auf die Erklärung der Entstehung ethnisch segregierter Stadtteile. Aber dem steht ja nichts im Wege, wenn man das für wichtig hält. Die Stadtsoziologie ist – zum Beispiel – voll von Erklärungsansätzen für die Ent-
20
Siegwart Lindenberg, Die Methode der abnehmenden Abstraktion: Theoriegesteuerte Analyse und empirischer Gehalt, in: Hartmut Esser und Klaus G. Troitzsch (Hrsg.), Modellierung sozialer Prozesse, Bonn 1991a, S. 29-78.
Der Kontext des Handelns
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stehung und für den Wandel städtischer Strukturen.21 Sie kann man zu Rate ziehen, wenn man wissen will, wie die Kontexte entstanden sind, deren strukturelle Effekte gerade vielleicht erklärt wurden. Und analog gilt das für die Erklärung der Entstehung aller anderen Kontexte, die als Situationen für das Handeln der Menschen bedeutsam sein könnten: Familien, Gemeinden, Organisationen, komplette Gesellschaften und historische Epochen zum Beispiel. Das Modell der soziologischen Erklärung erlaubt ja gerade auch die Erklärung der Genese der sozialen Strukturen, von denen die Kontextanalyse als gegebene Größen ausgehen kann.
11.6 Die Bedeutung der Nahumwelt Daß bei Kontextanalysen oft nicht viel an strukturellen Effekten herauskommt, ist kein ungewöhnliches Ergebnis. Oft zeigt sich schon mit der Kontrolle nur einer einzigen relevanten individuellen Variablen, daß die weitere soziale Umgebung – Stadtteile, Gemeinden oder Regionen – relativ wenig Einfluß auf das Handeln und Fühlen der Menschen hat. Dies liegt vor allem daran, daß die Menschen meist ja nicht nur einem, sondern mehreren Kontexten zugehören, und daß die Kontexte kaum abgrenzbar und oft sehr instabil sind. Kontexteffekte sind kaum zu erwarten, wenn die Mitgliedschaften der Akteure rasch wechseln, wenn es keine klaren Grenzen zwischen den Kontexten gibt, wenn überkreuzende Zugehörigkeiten möglich sind und wenn sich keine stabilen Gleichgewichte von Interaktionszusammenhängen – die „Milieus“ also – herausbilden. Deutlich abgegrenzte und stabile soziale Umwelten gibt es ohne Zweifel, das aber eher in statischen und segmentierten vormodernen Gesellschaften, kaum jedoch in den komplexen sozialen Systemen der Moderne. Das heißt freilich nicht, daß unter diesen Umständen die äußeren Bedingungen des Handelns unwirksam würden. Sie bleiben immer neben den inneren Einstellungen bedeutsam – nur nicht für alle Akteure einer bestimmten Kontextzugehörigkeit in der gleichen und in zeitlich hinreichend stabiler Weise. Das ist es ja gerade, was die Menschen in den modernen Gesellschaften so irritiert: Sie müssen sich immer den Umständen beugen, aber diese Umstände wechseln so rasch, daß man schon die Übersicht verlieren kann.
21
Siehe beispielsweise: Jürgen Friedrichs, Stadtanalyse. Soziale und räumliche Organisation der Gesellschaft, Reinbek 1977; Jürgen Friedrichs (Hrsg.), Soziologische Stadtforschung, Sonderheft 29 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Opladen 1988; Jürgen Friedrichs, Stadtsoziologie, Opladen 1995.
458
Situationslogik und Handeln
Es gibt freilich eine wichtige Ausnahme von der Regel, daß in den modernen Gesellschaften die Kontexte an übergreifender Wirksamkeit verlieren: Die unmittelbare persönliche Sphäre. Sie bleibt – gottlob – ein relativ stabiler Teil der sozialen Umgebung der Menschen – auch bei steigenden Scheidungsraten und bei zunehmender Mobilität der Menschen. Und – vor allem! – sie ist der weitaus wirksamste Teil der aktuellen Umgebung, von dem aus Kontexteffekte her entstehen können (vgl. dazu auch noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Ein instruktives Beispiel für die überragende Bedeutung sozialer Nahumwelten für das Handeln der Menschen bietet die Untersuchung von Ernest Q. Campbell und C. Norman Alexander.22 Es ging um die Studienpläne von Schulabsolventen. Die theoretische Hypothese war, daß der Status der Schule, die der potentielle Student gerade besuchte, als strukturelles Merkmal seine Studienabsichten – College-Besuch oder nicht – beeinflusse: Je höher der Status der Schule, desto stärker sei der soziale Druck, ein College zu besuchen. Für dreißig Schulen wurde der durchschnittliche Sozialstatus der Schüler ermittelt – als Maß für ein bestimmtes strukturelles „Klima“ der Schule in Bezug auf die Orientierungen der Schüler. Dann wurde zweitens der Sozialstatus der Freunde jedes einzelnen Schülers gemessen – als Maß für die unmittelbare soziale Umgebung, für das „personale Netzwerk“ jedes Schülers. Die These war nun: Wenn es einen strukturellen Effekt der Schule auf die Bildungsabsichten – die college plans – gibt, dann muß dieser auch dann erhalten bleiben, wenn man die Eigenschaften der Nahumwelt – den Status der Freunde also – statistisch kontrolliert. Bilden hingegen die Eigenschaften der Nahumwelt den Mechanismus, über den die soziale Umgebung das Handeln beeinflußt, dann müßte der Effekt der Schule verschwinden, der Einfluß der personalen Netzwerke – operationalisiert über den Status der Freunde – aber bestehen bleiben.
Campbell und Alexander haben die entsprechenden Ergebnisse für fünf verschiedene Stufen des Status der Eltern der jeweiligen Schüler dargestellt (vgl. Tabelle 11.4). Die Tabelle 11.4 ist so zu lesen: In den ersten drei Spalten stehen die bivariaten Korrelationen zwischen den Variablen Schulstatus und Bildungsabsicht (Spalte 1), Status der Freunde und Bildungsabsicht (Spalte 2) und Schulstatus und Status der Freunde (Spalte 3). Die beiden weiteren Spalten enthalten dann die partiellen Regressionskoeffizienten, zunächst des Schulstatus mit der Bildungsabsicht, kontrolliert mit dem Schulstatus (Spalte 4), und dann des Status der Freunde mit der Bildungsabsicht, kontrolliert mit dem Schulstatus (Spalte 5).
22
Ernest Q. Campbell und C. Norman Alexander, Structural Effects and Interpersonal Relationships, in: American Journal of Sociology, 71, 1965, S. 284-289.
459
Der Kontext des Handelns
Tabelle 11.4: Beziehungen zwischen Kontexteigenschaften, Nahumwelt und Bildungsplänen (Campbell und Alexander 1965, S. 286)
einfache Korrelationen
Bildung Eltern beide College einer College beide High-School einer High-School keiner High-School
partielle Regressionen
(1)
(2)
(3)
(4)
(5)
N
.10 .16 .15 .07 .14
.15 .29 .28 .19 .31
.49 .36 .50 .34 .40
.03 .06 .01 .01 .02
.12 .26 .24 .18 .28
172 183 147 178 295
Es bestehen auf der Ebene der (bivariaten) Roh-Korrelationen (Spalten 1 bis 3 der Tabelle 11.4) für fast alle Statusgruppen der Eltern nennenswerte Beziehungen zwischen Schulstatus bzw. Freundesstatus und den Orientierungen, wobei die „strukturellen“ Beziehungen durchweg geringer sind als die „Netzwerk“-Effekte. Der recht starke Zusammenhang zwischen dem Freundesstatus und dem Schulstatus ist dabei so verwunderlich nicht: Der Schulstatus definiert sich ja über die Aggregation des Status der Schüler, die füreinander ja jeweils auch Freunde sind. Daher muß es diese hohen Korrelationen geben. Wichtig für die theoretische Fragestellung, ob die strukturellen Effekte über Einflüsse von sozialen Nahumwelten vermittelt sind, sind nun insbesondere die partiellen Korrelationen (in Spalte 4 und 5 der Tabelle 11.4). Man erkennt deutlich: Die Beziehungen zwischen dem Status der Schule und den Orientierungen verschwinden, während die Beziehungen zwischen dem personalen Netzwerk und Orientierungen – bis auf wenige Ausnahmen – erhalten bleiben. Campbell und Alexander ziehen daraus den Schluß: „Given knowledge of an individual’s immediate interpersonal influences, the characteristics of the total collectivity provide no additional contribution to the prediction of his bevaviors ... . Thus we have no indication that an important structural effect exists independently of interpersonal influences.“ (Campbell und Alexander 1965, S. 288; Hervorhebungen nicht im Original)
Anders gesagt: Die objektiven sozialen Strukturen der Schule wirken – jedenfalls in der gegebenen Operationalisierung – offenbar nur über die interpersonalen Beziehungen, über die sozialen Kontrollen in der persönlichen Umwelt und über die Kommunikationen im Netzwerk der Alltagsbeziehungen.
460
Situationslogik und Handeln
Egozentrierte Netzwerke Soziale Nahumwelten sind spezielle Formen der sozialen Umgebung eines jeden Akteurs. Sie können in empirischen Untersuchungen auf eine relativ einfache Weise erhoben werden: als sog. egozentrierte Netzwerke. Egozentrierte Netzwerke umfassen die unmittelbaren sozialen Beziehungen, die ein Akteur – Ego – zu anderen Akteuren hat, und die die anderen Akteure untereinander unterhalten. Bei der empirischen Erfassung eines solchen egozentrierten Netzwerkes wird der Befragte als Informant über seine – drei bis fünf – „besten Freunde“ benutzt.23 Zuerst werden die Namen der besten Freunde ermittelt, indem man etwa danach fragt, an wen sich der Befragte mit einem großen persönlichen Problem wenden würde. Dann werden bestimmte Eigenschaften der besten Freunde erfragt: deren Alter, Geschlecht, Bildung, Beruf, Religion – und so weiter; dann: wie gut man den/die betreffende(n) Freund/Freundin kennt und mag, wie oft man sich trifft, ob man sich von ihm/ihr Geld leihen würde – und so weiter; und schließlich: wer von den Freunden wen kennt, besucht, mag, haßt – und so weiter. Man kann selbstverständlich auch andere Typen personaler Umwelten erfragen: Bekannte, mit denen man am liebsten die Freizeit verbringt, die persönlichen Beziehungen bei der Arbeit, persönlich bekannte Nachbarn usw.
Die verschiedenen egozentrierten Netzwerke einer Person bilden jeweils unterschiedliche Sektoren seiner sozialen Nahumwelt ab und sind so Teil seines sog. sozialen Kapitals (vgl. dazu noch Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Manche Menschen haben große egozentrierte Netzwerke. Manche haben nur einen wirklich guten Freund: ihren Kater, alkoholisch oder nicht, etwa. Und nicht wenige sind ganz alleine. Ein wichtiger Faktor für die Konsistenz der Orientierungen eines Ego kann bei den großen Netzwerken sein, ob sich diese sozialen Nahumwelten überschneiden, ob sie voneinander getrennt sind und/oder ob sie sich darin unterscheiden, was von unserem Ego alles erwartet wird, damit er Anerkennung und Wertschätzung finden kann. Wegen ihrer enormen Bedeutung für die Produktion gerade der primären Zwischengüter für die soziale Wertschätzung – und auch für das physische Wohlbefinden, wie etwa die Psychiater immer wieder feststellen – empfiehlt es sich immer auf die sozialen Nahumwelten besonders zu achten. Und das nicht nur wegen der Technik der Kontextanalyse und wegen der so23
Vgl. zur Technik der Erhebung und Analyse egozentrierter Netzwerke: Ronald S. Burt, Network Items and the General Social Survey, in: Social Networks, 6, 1984, S. 293-339; Edward O. Laumann, Bonds of Pluralism: The Form and Substance of Urban Social Networks, New York, London, Sydney und Toronto 1973; Franz Urban Pappi, Die Netzwerkanalyse aus soziologischer Perspektive, in: Franz Urban Pappi (Hrsg.), Methoden der Netzwerkanalyse, München 1987, S. 20ff.; David Knoke und James H. Kuklinski, Network Analysis, Beverly Hills, London und New Delhi 1982, S. 16f.
Der Kontext des Handelns
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ziologischen Erklärungen. Mit Hilfe der Erhebung egozentrierter Netzwerke geht das aber auch relativ unaufwendig, sogar in Massenumfragen. Einfluß und Orientierung Die objektive Situation muß also offenbar über soziale Prozesse der persönlichen Einflußnahme vermittelt werden. Erst dann wirkt sie auf das Handeln und auf die Orientierungen der Akteure. Warum die personalen Nahumwelten so wirksam sind, wird mit dem Konzept der sozialen Produktionsfunktion gut verständlich: Nur in den nahen persönlichen Interaktionen gibt es eine wirklich effiziente Produktion sozialer Wertschätzung. Ein goldener Käfig guter, aber unpersönlich vermittelter Möglichkeiten – einschließlich der rasch langweilenden und leeren Anhäufung von Geld und Orden – nutzt allenfalls der nötigsten Produktion des physischen Wohlbefindens etwas, nicht aber der Erzeugung von sozialer Wertschätzung. Das geht aber in gut funktionierenden persönlichen Interaktionen schon mit relativ wenig materiellem Aufwand. Und deshalb ist es den Menschen fast immer wichtiger, was diejenigen über sie denken, mit denen sie es täglich zu tun haben, als das, was sie auf ihrem Konto anhäufen. Ein Stirnrunzeln der wichtigen „Bezugs“-Personen fürchten sie meist mehr als – sagen wir – eine drastische Gehaltskürzung – falls die dann nicht erst recht zu Hause bei der signifikanten Anderen zu heftigem Stirnrunzeln führt.
Diese Bedeutung der sozialen Nahumwelten für die Bedienung eines der beiden zentralen allgemeinen Bedürfnisse der Menschen ist dann auch die Erklärung dafür, daß es immer eine Nachfrage danach, nach lebensweltlicher Gemeinschaft also, geben wird – mag sich die Gesellschaft auch insgesamt zur „Gesellschaft“ entwickeln wie sie will. Die Soziologie ist voll von Hinweisen darauf, daß Menschen ohne funktionierende soziale Nahumwelten nicht geordnet handeln können und daß sie erst durch sie auch einen Sinn in ihrem Tun finden. Kurz: Es sind insbesondere die Bezugsgruppen der alltäglichen Lebenswelt, die dem Handeln der Menschen den nötigen Bezugsrahmen geben und somit – letztlich – die weiter gezogenen Vorgaben der Opportunitäten und der institutionellen Regeln, der geltenden gesellschaftlichen Interessen und kulturellen Ideen mit Sinn, Energie und Leben füllen.
Kapitel 12
Soziale Klassen
Die Verteilung der Interessen und der Kontrolle von Ressourcen bilden den Kern der sozialen Strukturierung einer Gesellschaft – ihrer Spaltung ebenso wie ihrer Integration. Wir hatten am Beispiel des Studentenprotestes an den amerikanischen Hochschulen die Gruppen der Professoren und der Studenten und bei den Professoren die beiden Untergruppen der kosmopolitischen Forscher und der lokal orientierten Lehrer in dieser Weise unterscheiden können (vgl. dazu bereits Kapitel 1, 3 und 10). Das waren jeweils Kollektive von Akteuren mit typisch unterschiedlichen sozialen Produktionsfunktionen, mit folglich typisch unterschiedlichen Arten des Interesses und der Kontrolle von Ressourcen. Kollektive und Gruppen mit typisch ähnlichen sozialen Produktionsfunktionen, mit deshalb ähnlichen Interessen und mit einem ähnlichen Ausmaß der Kontrolle von Ressourcen und mit dadurch erklärbaren Chancen und Ansprüchen, Einstellungen und Verhaltensweisen nehmen, wie wir sagen wollen, jeweils eine typische gesellschaftliche Lage ein. Und die Akteure in der gleichen gesellschaftlichen Lage gehören zu einer bestimmten sozialen Kategorie. Die Studenten und die Professoren, die Forscher und die Lehrer befinden sich in derart typisch unterschiedlichen gesellschaftlichen Lagen und bilden somit typische soziale Kategorien. Es gibt sehr unterschiedliche Arten gesellschaftlicher Lagen und sozialer Kategorien – die etwa danach unterschieden werden können, ob sich die gesellschaftliche Lage auf die ökonomische Situation, auf das Prestige oder die Art der Lebensführung bezieht, ob die Unterschiede scharf abgegrenzt oder gleitend, ob sie erworben oder zugeschrieben oder mit einer besonderen Legitimität versehen sind oder nicht. Die Strukturierung einer Gesellschaft in soziale Kategorien ist die Grundlage der Art und des Ausmaßes der sozialen Ungleichheit einer Gesellschaft, etwa nach Beruf, Einkommen oder Bildung, oder aber auch nach Geschlecht, Alter, Familienstand oder regionaler Herkunft, sofern damit die Verwiesenheit auf typisch unterschiedliche soziale Produktionsfunktionen für die jeweiligen Akteure verbunden ist. Die beiden Grundformen der sozialen Ungleichheit sind die sozialen Klassen und die Stände. Soziale Klassen sind Kollektive von Akteuren mit einer gleichen „Klassenlage“, d.h. einer gesellschaftlichen Lage, die in erster Linie durch die Position in der ökonomischen Produktion und Verteilung bestimmt ist. Unter Ständen werden dagegen Kollektive von Akteuren mit einer ähnlichen „ständischen Lage“ verstanden, d.h. einem ähnlichen Prestige, ähnlichen über Ge-
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burt erworbenen Rechten bzw. Privilegien, ähnlicher Lebensführung und Kultur, ähnlichem Umgang und der Ausübung typischer Berufe. Alle anderen Arten der sozialen Ungleichheit, wie Kasten, soziale Schichten, die sog. sozialen Lagen oder Milieus sind entweder spezielle Varianten von Klasse und Stand, oder sie heben einen besonderen Aspekt davon heraus, wie etwa den Stil der Lebensführung (vgl. dazu insgesamt noch Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
Die Konzepte der gesellschaftlichen Lage bzw. der sozialen Kategorie und die daran anschließenden Unterkonzepte, wie Klasse und Stand, oder die verschiedenen anderen Formen der sozialen Ungleichheit, wie soziale Schichten, soziale Lagen oder Milieus, bilden – nach wie vor – eine der zentralen Grundlagen der soziologischen Analyse. Der Hintergrund ist die Annahme, daß die Zugehörigkeit zu bestimmten Kategorien für die objektive Definition der Situation und darüber für das Handeln und für die dadurch erzeugten kollektiven Folgen eine systematische Bedeutung habe. Genauer gesagt sind es drei Annahmen, die dabei gemacht werden: Erstens ist das die Vorstellung, daß es in jeder Gesellschaft deutlich unterscheidbare und objektiv begründbare gesellschaftliche Lagen bzw. soziale Kategorien gebe, aus denen sich das Gesamtbild der gesellschaftlichen Untergliederung ergebe. Zweitens gilt die Hypothese, daß sich aus den jeweiligen gesellschaftlichen Lagen alle möglichen Konsequenzen für die Situation der jeweiligen Akteure ergeben, für die Verteilung der interessanten Ressourcen vor allem, aber auch für die Einstellungen und das Bewußtsein, das Verhalten und die Stilisierung des alltäglichen Lebens. Und drittens wird angenommen, daß gewisse Konstellationen gesellschaftlicher Lagen bestimmbare Tendenzen des Wandels der gesamten Struktur der Gesellschaft nach sich ziehen, wie etwa in der Vorstellung von Karl Marx, daß die Klassenkonflikte, etwa die im Kapitalismus zwischen Lohnarbeitern und Kapitalbesitzern, zwingend zum Klassenkampf und zur Revolution der Gesellschaftsstruktur, also zur Überwindung des Privateigentums und der Abschaffung der kapitalistischen Gesellschaft führen würden.
Die Erklärung des Handelns und der Einstellungen von Akteuren und auch der gesellschaftlichen Folgen daraus über gewisse zentrale kategoriale Eigenschaften ist offenbar nichts anderes als die Anwendung der Methode der Situationsanalyse bzw. der Situationslogik. Die sog. Klassenanalyse ist ein Spezialfall davon. Es ist der Versuch, aus der Aufteilung einer Gesellschaft in typische soziale Klassen das Denken, Fühlen und Handeln der Akteure und die gesamte Richtung des gesellschaftlichen Wandels über die Klassenstruktur dieser Gesellschaft zu erklären. Ihre Aussagekraft hängt, wie man sich leicht vorstellen kann, davon ab, ob mit der jeweils angenommenen Klasseneinteilung auch wirklich zentrale Kategorien berührt werden oder nicht. Ein großer Teil der soziologischen Bemühungen geht ganz ähnlich vor, auch wenn dabei nicht unbedingt soziale Klassen, sondern alle denkbaren anderen sozialen Kategorien herangezogen werden, wie das Geschlecht, das Alter, die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht oder der jeweilige Lebensstil. In allen diesen Fällen wird jeweils auch versucht, die grundlegenden Unterschiede
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in sozialen Produktionsfunktionen über gewisse kategoriale Strukturen von Gesellschaften zu beschreiben und daraus dann alles weitere abzuleiten. Das Problem dabei ist nur: Woher weiß man, welche kategoriale Eigenschaft zentral und welche peripher ist – beispielsweise beim Geschlecht, beim Besitz eines Adelstitels, von Land oder einer Fabrik oder bei der Fähigkeit, einen guten von einem schlechten Rotwein zu unterscheiden?
12.1 Klasse und Klassenlage Am deutlichsten wird die Aufspaltung in klar abgegrenzte Kollektive unterschiedlicher gesellschaftlicher Lagen in einer feudalistischen, ständisch strukturierten Gesellschaft. Hier durchzieht die Situationslogik der ständischen Gruppenzugehörigkeit das gesamte Leben der Menschen – bis hinein in ihre alltäglichen Gewohnheiten, ihre Gefühle und ihren Stil, mit anderen Menschen umzugehen. Für individuelle „Entscheidungen“ ist kaum Raum. Ein Kastensystem ist wohl das eindrucksvollste Beispiel für derartige Verhältnisse. Die Grundlagen für diese Strukturierungen sind die systematische Verteilung bestimmter Rechte, die Geltung eines übergreifenden Systems von Prestige und die systematisch unterschiedliche Verfügung über Macht in der betreffenden Gesellschaft. Der Kern dieser Strukturen ist die grundlegende „Verfassung“ der Gesellschaft und die Definition der sozialen Produktionsfunktionen.
Ein Beispiel: Adel und Bauern Siegwart Lindenberg hat die Verbindungen zwischen dem Konzept der sozialen Produktionsfunktion, insbesondere der durch bestimmte Rechte festgelegten objektiven Logik der Situation, den dadurch erzeugten typischen Interessen und Möglichkeiten und dem dadurch strukturierten Handeln der Akteure sehr anschaulich beschrieben. Er tut das am Beispiel zweier Gruppen in typisch unterschiedlichen gesellschaftlichen Lagen im Frankreich kurz vor der Großen Revolution – dem Adel und den Bauern: „A nobleman enjoys certain privileges that confer status on him, such as tax exemptions, judicial privileges, and honorific rights. He may also own a public office that confers additional status and various streams of income. Yet by law or custom direct business activity is not possible for him. Compare this to a farmer with a small holding. Ownership of the land gives him some status in the community and makes him creditworthy to some degree. Most likely he has a wife and with their combined labor they are able to extract a certain amount of produce from
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the land, depending on the quality of the land, the weather, and their good health. In addition, the farmer may have the right to make use of the commons to graze his cattle.“1
Die soziale Produktionsfunktion des Adels beruhte also auf einer Reihe von besonderen Rechten und Privilegien, gelegentlich auf dem Zugang zu einem öffentlichen Amt, sowie auf dem Prestige, das der Adel – auch kurz vor der Französischen Revolution durchaus noch – überall in Frankreich genoß. Die Nutzenproduktion der Bauern gründete sich dagegen auf dem Landbesitz und auf der eigenen Arbeitskraft, einer gesunden Frau, möglichst vielen arbeitsamen Kindern ohne große Ansprüche – und etwas Glück mit dem Wetter und mit dem Herrn, der uns das alles bescheret hat, amen. Daraus ergibt sich ein deutliches Interesse des Adels am Ausbau der Erträge aus den Rechten und – vor allem – am Erhalt der Rechte und des sie tragenden gesellschaftlichen Systems. Und entsprechend ergibt sich daraus ein Interesse der Bauern an der Verbesserung der Böden, an einer wirksamen Vorsorge gegen die Unbilden des Wetters und gegen die Ungnade der göttlichen Gewalten, mehr aber noch am Erhalt des Rechtes auf Bodenbesitz und an der Verfügung über die eigene Arbeitskraft und die der Familie. Besonders aufgeregt würde deshalb der Adel reagieren, wenn es um seine Rechte und Privilegien und um die Prestigestruktur insgesamt ginge. Und entsprechend wären die Bauern ganz unruhig, wenn das Verfügungsrecht über Land und Arbeitskraft gefährdet wäre – aber wohl auch wenn der religiöse Glaube untersagt würde, der, wenigstens im Prinzip, etwas subjektive Sicherheit gegen die Willkür der Natur geben kann. In diesen Fällen ginge es um die Gefährdung der jeweiligen Produktionsfunktion insgesamt. Die Aktivitäten sind dann auf die Sicherung der Produktionsfunktion und weniger auf die Vermehrung der Kontrolle über die Menge der verfügbaren Ressourcen als Produktionsfaktoren gerichtet. Und die Aktivitäten der Akteure in den jeweiligen Gruppen sind daher auch immer besonders nachhaltig, besonders motiviert und besonders deutlich strukturiert, wenn die Effizienz ihrer jeweiligen Produktionsfunktion insgesamt auf dem Spiel steht. Beide Gruppen hatten also ein, wie wir in Abschnitt 4.3 gesagt haben, konstitutionelles Interesse daran, daß alles so bleibt, wie es ist, auch wenn die eine Gruppe von dieser „Konstitution“ der Gesellschaft deutlich mehr hatte als die andere. Anlaß zu Furcht vor der Vernichtung der gesamten Existenz gibt es aber – gottlob – nicht ständig. Die Kenntnis der typischen Strukturen der sozialen Produktionsfunktionen erlaubt daher gerade für den Normalfall des Alltags eine Vorhersage über das, was die Akteure in den jeweiligen gesellschaftlichen 1
Siegwart Lindenberg, Social Production Functions, Deficits, and Social Revolutions. Prerevolutionary France and Russia, in: Rationality and Society, 1, 1989, S. 54; Hervorhebungen nicht im Original.
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Lagen typischerweise tun werden. Man muß dann nicht viel über die einzelnen Adligen und Bauern wissen, um sagen zu können, woran sie ein Interesse haben und was sie an Handlungen versuchen werden. Siegwart Lindenberg beschreibt auch das für einige weitere typische gesellschaftliche Lagen im vorrevolutionären Frankreich sehr anschaulich. Zunächst die gesellschaftliche Lage der Händler und der Gewerbetreibenden: „For example, in prerevolutionary France, a shipper, merchant, wholesaler, or other business man could frequently invest in his business in order to become rich enough to give up his direct commercial activities and buy himself ennoblement, thereby improving his social production function enough to transform it. While recent ennoblement would not gain much extra social approval, it would be the beginning of an ascent to the aristocracy for his posterity three or four generations hence, and it would bring immediate tax and judicial privileges.“ (Ebd., S. 54f.)
Im Beispiel wird eine interessante Besonderheit geschildert: Wenn jemand mit Hilfe der Effizienz seiner angestammten Produktionsfunktion und des erfolgreichen Einsatzes von Produktionsfaktoren genügend Ressourcen angesammelt hat, dann wird es manchmal möglich, auf eine andere gesellschaftliche Lage mit einer effizienteren Produktionsfunktion, in eine andere Klasse oder einen anderen Stand also, überzuwechseln. Im vorrevolutionären Frankreich war dies die Möglichkeit, sich einen Adelstitel zu kaufen. Der brachte viel Ehre für die soziale Wertschätzung und mancherlei Steuervorteile für das physische Wohlbefinden. Heutzutage werden u.a. Doktorentitel oder Honorarprofessuren gegen entsprechende Leistungen aus anderen, nicht-akademischen Produktionsfunktionen verliehen. Der Konsul Weyer und die eine oder andere bestechliche Fakultät, aber natürlich auch die stolzen Ehren-Doktoren und „Honorar“-Professoren, leben davon ganz gut. Nun aber noch einmal zurück zu den Bauern. Auch die Bauern bestreiten ihr Leben auf der Grundlage bestimmter gegebener Rechte und objektiver Möglichkeiten. Jedoch: „Yet there are complications. He cannot simply live off the land because he has to pay various taxes and seignorial fees, and he may not be allowed to bake his own bread because the seigneur has a monopoly. More than 50 percent of the value of a small yield of his land may be absorbed by these taxes and fees. The remainder is not enough for feeding the family let alone for improving the farm. Thus it is likely that his wife, if it is at all possible, contributes to the income by going to work in, for instance, the local textile factory.“ (Ebd., S. 54)
Darin spiegeln sich die deutlichen Unterschiede in der gesellschaftlichen Lage und die soziale Ungleichheit zwischen den Bauern und dem Adel wider. Daß die Bauersfrauen auch noch „nebenbei“ arbeiten gehen, ist keine Frage ihrer „freien“ Entscheidung, sondern entspringt den durch die soziale Struktur der Gesellschaft bestimmten Besonderheiten ihrer sozialen Produktionsfunktionen und der Lebensnotwendigkeit zur Nutzenproduktion. Jedoch auch nun gibt es
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Möglichkeiten der Investition in eine bessere, aber auf diese Grundlage zugeschnittene Lebensweise. Und auch hier gibt es die – strukturell erzeugten und daher nach der gesellschaftlichen Lage typischen! – kleinen Träume der Menschen: „At the lower end of the scale, similar investment behavior could be observed. A country girl trying to improve the return on her own labor would frequently go into the nearest town to work as a servante and save up a dowry that would allow her to attract a young man who worked and saved with the same dream: setting up independently as a farmer or with one‘s own loom. With some luck, ten years of working and saving would allow them to save up enough for this purpose.“ (Ebd., S. 55; Hervorhebung im Original)
Ohne Zweifel ein idyllisches Bild – solange man die Bauern auf ihrem Acker, mit ihrer Familie und ihrem Dorfpfarrer, auf ihren sozialen Produktionsfunktionen und ihrem kleinen Kapital an Produktionsfaktoren dafür einigermaßen in Ruhe läßt. Wenn nicht: Lies nach bei Alexis de Tocqueville, von dem gleich unten noch die Rede sein wird! Die „Dieselbigkeit der Revenuen“: Karl Marx Die Logik der Klassenanalyse als soziologische Situationsanalyse wird am deutlichsten bei ihrem Begründer: Karl Marx. Für Marx sind es die von ihm so genannten Produktionsverhältnisse, die die sozialen Klassen konstituieren. Das sind die gesellschaftlichen Festlegungen der Rechte, unter denen die Produktion des gesellschaftlichen Reichtums erfolgt – vor allem die Rechte am Privateigentum. Daraus ergibt sich die Position des Einzelnen in der Produktion und in der Verteilung des Reichtums. Diese Position teilen dann deutlich abgrenzbare Aggregate von Akteuren. Und das schafft für sie eine klar strukturierte „gemeinsame Situation“: „Die ökonomischen Verhältnisse haben zuerst die Masse der Bevölkerung in Arbeiter verwandelt. Die Herrschaft des Kapitals hat für diese Masse eine gemeinsame Situation ... geschaffen.“2
Die „gemeinsame Situation“ muß jedoch einige besondere Eigenschaften aufweisen, damit von einer „Klasse“ im Sinne von Marx gesprochen werden kann:3
2 3
Karl Marx, Das Elend der Philosophie, in: Marx-Engels-Werke, Band 4, Berlin 1964a, S. 180f.; Hervorhebung nicht im Original. Vgl. dazu Johannes Berger, Was behauptet die Marxsche Klassentheorie – und was ist davon haltbar?, in: Hans-Joachim Giegel (Hrsg.), Konflikt in modernen Gesellschaften, Frankfurt/M. 1998, S. 31ff.
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1. Die Gemeinsamkeit muß eine objektive Grundlage haben. 2. Die einzelnen Gruppen sind scharf voneinander getrennt. 3. Zwischen den Gruppen bestehen deutliche (Interessen-)Konflikte. 4. Die Gruppen sind relativ geschlossen, so daß Eintritte und Austritte kaum möglich sind. 5. Die Grundlage der Unterscheidung ist die ökonomische Position- und eben nicht: irgendeine andere objektive kategoriale Zugehörigkeit, wie das Geschlecht, das Alter oder der Stil der Lebensführung.
Die soziologische Frage ist dann zunächst die nach den so jeweils zu unterscheidenden Aggregaten von Akteuren – vor dem Hintergrund des Sachverhaltes, daß es ja letztlich unendlich viele Dimensionen für „gemeinsame Situationen“ geben kann. Auf die Bestimmung der grundlegenden Dimensionen sozialer Differenzierungen hat Marx einen Großteil seiner wissenschaftlichen Arbeit verwandt. Im dritten Band des „Kapitals“ unterscheidet er „drei große gesellschaftliche Gruppen“: Die Lohnarbeiter, die Kapitalisten und die Grundeigentümer. Marx fragt zuerst allgemein „Was bildet eine Klasse?“. Und wird dann noch etwas genauer: „Was macht Lohnarbeiter, Kapitalisten, Grundeigentümer zu Bildnern der drei großen gesellschaftlichen Klassen?“
Und seine Antwort gleich darauf: „Auf den ersten Blick die Dieselbigkeit der Revenuen und Revenuequellen. Es sind drei große gesellschaftliche Gruppen, deren Komponenten, die sie bildenden Individuen, resp. von Arbeitslohn, Profit und Grundrente, von der Verwertung ihrer Arbeitskraft, ihres Kapitals und ihres Grundeigentums leben.“4
Die Verbindung des Konzeptes der sozialen Klasse zur Idee der sozialen Produktionsfunktion wird hier sehr deutlich: Die Lohnarbeiter, die Kapitalisten und die Grundeigentümer besitzen aufgrund der gesellschaftlichen Ordnung eine typische soziale Produktionsfunktion, die „Dieselbigkeit der Revenuen“ nämlich, aus deren „Verwertung“ sie „leben“: Die Verwertung der Arbeitskraft erzeugt den Arbeitslohn, beispielsweise. Und dieser ist – so können wir jetzt sagen – als primäres Zwischengut die alleinige Lebensgrundlage für die Lohnarbeiter. Die Verwertung des Kapitals erzeugt den Profit und dieser ist als primäres Zwischengut die Lebensgrundlage für die Kapitalisten. Und ana4
Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Dritter Band, Buch III: Der Gesamtprozeß der kapitalistischen Produktion, Marx-Engels-Werke, Band 25, Berlin 1964b, 52. Kapitel: Die Klassen, S. 893; Hervorhebungen nicht im Original. Vgl. zu einer Rekonstruktion der an vielen Stellen seines Werkes verstreuten Ausführungen über das Konzept der sozialen Klasse bei Marx die Darstellung von Ralf Dahrendorf, Soziale Klassen und Klassenkonflikt in der industriellen Gesellschaft, Stuttgart 1957, Kapitel I: Das Modell der Klassengesellschaft bei Karl Marx, S. 1-33.
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log erzeugt die Verwertung des Bodens die Grundrente. Und diese ist das primäre Zwischengut der Lebensgestaltung für die Grundrentner. Typische soziale Klassen gibt es also insoweit es typische soziale Produktionsfunktionen für typische ökonomische Verwertungsgrundlagen und typische ökonomische Zwischenprodukte gibt. Marx fährt daher folgerichtig fort: „Indes würden von diesem Standpunkt aus z.B. Ärzte und Beamte auch zwei Klassen bilden, denn sie gehören zwei unterschiednen gesellschaftlichen Gruppen an, bei denen die Revenuen der Mitglieder von jeder der beiden aus derselben Quelle fließen. Dasselbe gälte für die unendliche Zersplitterung der Interessen und Stellungen, worin die Teilung der gesellschaftlichen Arbeit, die Arbeiter wie die Kapitalisten und Grundeigentümer – letztre z.B. in Weinbergsbesitzer, Äckerbesitzer, Waldbesitzer, Bergwerksbesitzer, Fischereibesitzer – spaltet.“ (Ebd.)
An dieser Stelle bricht das Manuskript im „Kapital“ leider ab. Man ahnt aber schon, worauf sich das einschränkende „Indes“ zu Beginn des Zitates bezieht: Zwar unterscheiden sich auch die Ärzte und Beamten bzw. die verschiedenen Arten von „Besitzern“ in ihren speziellen sozialen Produktionsfunktionen ihrer jeweiligen ökonomischen Position – zum Beispiel gemäß der Ordnung des Gesundheitswesens, des Beamtenrechts, der EG-Bestimmungen und des Steuerrechts für die Winzer, für die Bauern, für die Waldeigentümer usw. Jedoch haben diese Untergruppen daneben eine weit stärkere Gemeinsamkeit: die Verwiesenheit auf eine ganz grundlegende gemeinsame soziale Produktionsfunktion, aus der sich über alle Partikularinteressen hinweg in der Beziehung zu den anderen Klassen jeweils eine deutliche und objektiv verankerte Gemeinsamkeit in den Interessen ergibt. Diese grundlegende Gemeinsamkeit ist der fundamentale Unterschied zu den Lohnarbeitern: Die einen besitzen Produktionsmittel, wenngleich der verschiedensten Art, die anderen aber besitzen nur ihre Arbeitskraft und ihre Nachkommen, die proles, und heißen deshalb auch Proletarier. Und es sind erst diese objektiven Gemeinsamkeiten bzw. Unterschiede in der Eigentumsordnung bzw. in der Stellung im Produktionsprozeß, die die verschiedenen anderen Differenzierungen und auch die subjektiven Sichtweisen, grosso modo wenigstens, überlagern – und so das Geschäft der soziologischen Analyse erst möglich machen. Interessen, Privilegien und Habitus: Der Klassenbegriff bei Lenski und Bourdieu Gesellschaftliche Lagen werden, ganz allgemein, durch die gesellschaftliche Definition der primären Zwischengüter und durch die gesellschaftliche Verteilung der indirekten Zwischengüter erzeugt. Soziale Klassen sind, wenn man Karl Marx folgt, durch typische Interessen und Möglichkeiten bei ökonomi-
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schen Ressourcen und die dadurch gegebenen Marktchancen festgelegt. Das ist – bis heute – die „deutsche“ Verwendung des Begriffs der sozialen Klasse. Anderswo wird der Begriff der Klasse, etwa als „class“, in einer viel weiteren Bedeutung gebraucht, die durchaus auch „ständische“ Aspekte miteinbezieht: das Prestige beispielsweise, das etwa ein Beamter gegenüber einem Waldbesitzer hat, oder der Stil der alltäglichen Lebensführung, der sich bei Ärzten oder Winzern in ihren Lebenswelten allmählich herausbildet. Der amerikanische Soziologe Gerhard Lenski etwa definiert den Begriff der „Klasse“ auch deutlich allgemeiner als Karl Marx so: „Wir definieren deshalb Klasse am besten als eine Summation von Personen innerhalb einer Gesellschaft, welche sich im Hinblick auf Macht, Privilegien oder Prestige in einer ähnlichen Position befinden.“5
Der Begriff „Summation“ meint natürlich: ein Aggregat von Akteuren, die sonst keinerlei Beziehungen unterhalten müssen. Lenski bezieht sich – explizit und implizit – auf die beiden zentralen Faktoren der sozialen Definition der Produktionsfunktionen: Die formellen Rechte und das informelle Prestige, sowie jenen wichtigen Aspekt der gesellschaftlichen Lage, wonach die Möglichkeiten des Handelns auch davon abhängen, wieviel jemand an Ressourcen kontrolliert, die für andere Akteure interessant sind: die Macht (vgl. dazu insgesamt bereits Kapitel 4, sowie noch Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Dann aber betont Lenski auch deutlich die zentrale Grundlage des Marxschen Konzeptes: das gemeinsame Interesse einer privilegierten Klasse am Erhalt der für sie günstigen Umstände, die ja weit über die bloßen ökonomischen Vorteile hinausgehen können. Danach „ ... haben die Angehörigen jeder ... Klasse ... bestimmte Interessen miteinander gemein, und diese gemeinsamen Interessen bilden die potentielle Basis einer Gegnerschaft anderen Klassen gegenüber. Dies ist das logische Korrelat der Tatsache, daß das Verbindende zwischen den Angehörigen einer Klasse ihr gemeinsamer Besitz, ihre gemeinsame Kontrolle oder Nutzung von etwas ist, was ihre Chancen hinsichtlich der Erfüllung ihrer Wünsche und Sehnsüchte beeinflußt.“ (Lenski 1973, S. 111; Hervorhebungen so nicht im Original)
Aus der durch Recht, Prestige und Macht strukturierten Anordnung der Gruppen zueinander ergibt sich – zusammen mit einigen allgemeinen Annahmen über die „Natur“ des Menschen – schließlich eine deutliche Strukturierung der Neigungen zum Handeln: „Denken wir an unsere früheren Thesen über die Natur des Menschen, so ist klar, daß alle Mitglieder einer bestimmten Klasse ein angestammtes Interesse daran haben, den Wert ihrer gemeinsamen Ressourcen zu schützen oder zu steigern und den Wert konkurrierender Ressourcen, wel5
Gerhard Lenski, Macht und Privileg. Eine Theorie der sozialen Schichtung, Frankfurt/M. 1973, S. 109; Hervorhebungen so nicht im Original.
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che die Basis anderer Klassen bilden, zu mindern.“ (Ebd.; Hervorhebungen nicht im Original)
Das Interesse am Erhalt des Wertes aller kontrollierten interessanten Ressourcen, an der Effizienz der jeweils geltenden sozialen Produktionsfunktionen auch außerhalb der engen Sphäre der Ökonomie, bestimmt somit die „Logik“ der Situation, die wiederum die sozialen Klassen erzeugt. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu spricht entlang ganz ähnlicher Überlegungen auch zunächst ganz allgemein von einer „Logik“ der „Stellungen“ im „sozialen Raum“, die die Klassen konstituiert: „Ausgehend von den Stellungen im Raum, lassen sich Klassen im Sinne der Logik herauspräparieren ... .“6
Pierre Bourdieu fügt – quer durch sein vielschichtiges Werk gerade dazu, wie sich die sozialen Gruppen systematisch voneinander unterscheiden – eine charakteristische Besonderheit hinzu: Die durch die „Logik“ der sozialen „Stellungen“ bedingte Gemeinsamkeit eint die Menschen einer Klasse nicht nur in ihren Interessen, sondern erzeugt auch eine ähnliche Alltagspraxis und – darüber – schließlich auch Gemeinsamkeiten in den überdauernden Dispositionen des Handelns und des Denkens, sowie der sozialen Beziehungen und des Stils der Lebensführung insgesamt. Soziale Klassen sind demnach „ ... Ensembles von Akteuren mit ähnlichen Stellungen, und die, da ähnlichen Konditionen und ähnlichen Konditionierungen unterworfen, aller Voraussicht nach ähnliche Dispositionen und Interessen aufweisen, folglich auch ähnliche Praktiken und politisch-ideologische Positionen.“ (Ebd.; Hervorhebungen nicht im Original)
Die „Positionen“ bei Lenski und die „Stellungen“ bei Bourdieu müssen also keineswegs nur „Klassenlagen“ bezeichnen. Die Logik der Analyse bleibt jedoch stets die gleiche wie bei Marx: Es sind die gesellschaftlich definierten Umstände der (Nutzen-)Produktion. Dazu zählt, folgt man Lenski und Bourdieu, nicht nur die „Dieselbigkeit der Revenuen“, wie Marx annimmt. Was die sozialen Klassen nach innen eint und was sie als Kategorien und Gruppen voneinander trennt, sind vielmehr alle möglichen primären und indirekten Zwischengüter, kulturellen Ziele und institutionalisierten Mittel und daran anschließenden Interessen, Möglichkeiten, Praktiken, Lebensstile, Weltanschauungen und Dispositionen.
6
Pierre Bourdieu, Sozialer Raum und „Klassen“. Leçon sur la leçon. Zwei Vorlesungen, 2. Aufl., Frankfurt/M. 1991, S. 12; Hervorhebung so nicht im Original.
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Der Baumfalke Von Alexis de Tocqueville, der die soziologischen Hintergründe der Französischen Revolution besonders eindrucksvoll und lebendig beschrieben hat, stammt dazu ein in vielerlei Hinsicht aufschlußreiches Beispiel. Tocqueville porträtiert im Zusammenhang des schleichenden Verfalls der für alle Seiten zeitweise durchaus erträglichen Situation des Feudalismus in Frankreich auch den sog. Baumfalken, einer von den Bauern in der Vorrevolution in Frankreich besonders verachteten Subspezies des Adels. Der Hintergrund ist die massive Landflucht der Adligen seit Beginn des 17. Jahrhunderts, die es sich wegen der unglaublichen steuerlichen Privilegien, abgestützt durch die damals schon sehr starke Zentralgewalt, erlauben konnten, die langweilig gewordene Provinz zu verlassen und den Glanz von Paris und die Nähe des Hofes des Königs von Frankreich – oder wenigstens die nächstgelegene größere Stadt – aufzusuchen. Aber nicht allen Adligen war dies möglich – wie etwa dem Edelmann. Der stand plötzlich zwischen allen Stühlen. Alexis de Tocqueville schreibt: „Es blieb fast nur noch der Edelmann auf dem Lande, dessen Vermögen zu gering war, um ihm die Abreise zu gestatten. Dieser befand sich den Bauern, seinen Nachbarn, gegenüber in einer Lage, in der sich, wie ich glaube, niemals ein reicher Grundeigentümer gesehen hatte. Da er nicht mehr ihr Oberherr war, hatte er auch nicht mehr wie ehemals ein Interesse, sie zu schonen, zu unterstützen und zu leiten; da er andererseits nicht denselben öffentlichen Lasten wie sie unterworfen war, konnte er auch kein lebendiges Mitgefühl mit ihrem Elend empfinden, das er nicht teilte, noch sich an ihren Beschwerden beteiligen, die ihm fremd waren. Diese Leute waren nicht mehr seine Untertanen, er war noch nicht ihr Mitbürger: eine Tatsache ohnegleichen in der Geschichte!“7
Alexis de Tocqueville zeigt, wie diese objektive Situation des Edelmanns nicht nur sein Handeln, sondern auch seine innere Gesinnung, seine Gefühle und seine Stimmungslage so strukturierten, daß die gesamte Klasse der Edelleute einen ganz eigenen Charakter annahm: „Daraus ergab sich, wenn ich mich so ausdrücken darf, eine Art Herzensabwesenheit, die noch häufiger und wirksamer als die eigentliche Abwesenheit war. Daher kam es, daß der auf seinen Gütern wohnende Edelmann oft die Ansichten und Gefühle zeigte, die in seiner Abwesenheit sein Intendant gehabt haben würde; gleich diesem erblickte er in den Zinsbauern nur noch Schuldner und forderte von ihnen unnachsichtlich alles, was ihm dem Herkommen oder dem Gesetz nach noch zustand, wodurch sich bisweilen die Erhebung dessen, was von den feudalen Gefällen noch übrig war, härter gestaltete als zur Zeit des Feudalismus selbst. Oft verschuldet und immer in Geldnot, lebte er in der Regel sehr kärglich in seinem Schloß, nur darauf bedacht, hier das Geld zu sammeln, das er im Winter in der Stadt ausgeben wird. Das Volk, das ja oft mit einem Wort den Nagel auf den Kopf trifft, hatte diesem kleinen Edelmann 7
Alexis de Tocqueville, Der alte Staat und die Revolution, München 1978 (zuerst: 1856), S. 125f.
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den Namen des kleinsten unter den Raubvögeln gegeben: es nannte ihn den Baumfalken (hobereau).“ (Ebd., S. 126; Hervorhebung im Original)
Nicht alle dieser Edelleute waren freilich so. Es gab auch Ausnahmen der Großherzigkeit, Abweichungen in den individuellen subjektiven Situationsdefinitionen also. Dazu aber Alexis de Tocqueville: „Man kann mir ohne Zweifel Individuen entgegenhalten; ich spreche von Klassen, sie allein dürfen die Geschichte beschäftigen. Daß es damals viele reiche Grundeigentümer gab, die sich ohne einen zwingenden Anlaß und ohne ein gemeinschaftliches Interesse mit der Wohlfahrt der Bauern befaßten, wer leugnet das? Aber diese kämpften nur – erfreulicherweise – gegen das Gesetz ihrer neuen Lage, das sie, gegen ihren eigenen Willen, zur Gleichgültigkeit hintrieb, wie ihre ehemaligen Vasallen zum Haß.“ (Ebd.; Hervorhebungen nicht im Original)
Schöner kann kaum gesagt werden, worum es in der Soziologie, die Alexis de Tocqueville noch mit der „Geschichte“ gleichsetzt, geht: Nicht um „Individuen“, sondern um das Auffinden der „Gesetze“ der jeweiligen gesellschaftlichen Lage in den verschiedenen Gruppierungen, der jeweiligen sozialen Produktionsfunktionen also, aus denen sich die objektive Logik, die entsprechende subjektive Definition ihrer Situation und die oft so beeindruckend gleichförmige Struktur des sozialen Handelns und des Sozialcharakters, der sozialen Identität der Menschen also, ergeben. Kennt man die Verfassung der Gesellschaft und die sozialen Produktionsfunktionen, dann kennt man auch die objektiven sozialen Trennlinien, die Stellungen, die Konditionen und die Konditionierungen, das „Gesetz“ der gesellschaftlichen Lage. Und dann muß man nicht mehr viel über die „Individuen“ wissen, um sagen zu können, was die Menschen jeweils denken, fühlen und tun. Kurz: Man „versteht“ die Menschen „objektiv“, wenn man die Struktur der sozialen Produktionsfunktionen kennt. Die Analyse der sozialen Produktionsfunktionen ist – so gesehen – in der Tat eine Art des objektiven „Verstehens“, eine Form der objektiven Hermeneutik. Und die Klassenanalyse ist nur eine besondere Form davon. Dabei verläßt sich der Sozialwissenschaftler gerade nicht auf die subjektiven Äußerungen der Akteure, etwa über eine Befragung oder über qualitative Einzelfallstudien eines sozialen Mikrokosmos – allein schon deshalb, weil die Menschen oft gar nicht wissen können, welchen objektiven Strukturen ihr Handeln unterliegt. Soziologische Erklärungen und Klassenanalysen verlangen die Vogelperspektive des Soziologen – und dessen analytisches Vermögen, die zentralen objektiven Strukturen und sozialen Produktionsfunktionen auch in für ihn zunächst fremden Feldern herauszufinden. Wissen über die subjektiven Befindlichkeiten aus der Froschperspektive der Akteure und ihrer Lebenswelt kann dabei sicher nicht schaden. Es reicht aber alleine in keinem Fall aus.
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Exkurs über Typenbildung Die Grundlage der Situationsanalyse, in welcher Form auch immer, ist die Herauspräparierung bestimmter Typen sozialer Kategorien und Muster von materiellen Opportunitäten, institutionellen Regeln und kulturellen Bezugsrahmen. Die Abgrenzung von sozialen Klassen und die Bestimmung grundlegender Spaltungen in Gesellschaften ist nur ein Spezialfall dieses Problems. Und eine der andauernden, bisher nicht gelösten und, wie man vermuten kann, auch nicht abschließend lösbaren Fragen, ist die nach den zentralen Grundstrukturen einer Gesellschaft, ihrer verschiedenen sozialen Gebilde und Abläufe, auf die sich die typisierende Beschreibung der sozialen Kategorien stützt, die die „relevanten“ gesellschaftlichen Lagen der Akteure ausmachen. Wegen der hohen Bedeutung dieser typisierenden Beschreibungen für die erklärende Modellierung sozialer Prozesse ganz allgemein sind einige Erläuterungen zu den Techniken der Gewinnung solcher Typisierungen nützlich, nein: notwendig. Zwei Verfahren Grundsätzlich lassen sich zwei Verfahren zur Bildung von „Typen“ unterscheiden: Verfahren der empirischen Klassifikation, die sog. natürliche Klassifikation und die Typenbildung durch gedankliche Abstraktion.8 Natürliche Klassifikation Die Bildung von Typen über ein Verfahren der empirischen Klassifikation wird deshalb als natürliche Klassifikation bezeichnet, weil hier zunächst einmal die „Wirklichkeit“ die Typenbildung steuert: Die Typenbildung folgt den vorliegenden empirischen Verhältnissen. Eine solche natürliche Klassifikation geschieht über die Zerlegung einer Gesamtheit von n Individuen – oder von sonstigen Untersuchungseinheiten – als Träger m-dimensionaler Merkmale in Teilgesamtheiten, die intern möglichst homogen und untereinander möglichst heterogen sein sollen. Also: Wo die Zwischengruppenvarianz der Merkmale der Individuen in den Teilgesamtheiten möglichst hoch und die Binnengrup8
Vgl. dazu Rolf Ziegler, Typologien und Klassifikationen, in: Günter Albrecht, Hansjürgen Daheim und Fritz Sack (Hrsg.), Soziologie. Sprache, Bezug zur Praxis, Verhältnis zu anderen Wissenschaften, Opladen 1973, S. 24ff.
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penvarianz möglichst gering ist (vgl. dazu bereits Abschnitt 11.2 über die sog. Kontextanalyse). Die genaue Definition der Homogenität bzw. der Heterogenität hängt von dem jeweils gewählten Kriterium ab. Natürliche Klassifikationen führen – wenn die empirischen Verhältnisse es gestatten – zur Zerlegung einer Gesamtheit zu Gruppen mit jeweils typischen Klumpungen von Variablen. Etwa: Arbeitslose, strenggläubige Türken mit vielen Kindern in Stadtteilen wie Köln-Kalk oder Chorweiler versus aus der Kirche ausgetretene DITC‘s – Double Income, Two Cats – in den teuren Lofts hoch über der Kölner Innenstadt am WDR. Spezielle Techniken der empirischen – oder auch: „natürlichen“ – Klassifikation sind die Clusteranalyse, die multidimensionale Skalierung oder – als neuere Mode – die Korrespondenzanalyse. Die sog. Diskriminanzanalyse geht anders vor. Sie ist eine Technik der empirischen Überprüfung einer zunächst hypothetisch angenommenen Klassifikation. Alles sind aber Verfahren der induktiven Gewinnung von Typen aus quantitativen Variablen mit möglichst zahlreichen Fällen.9 Wer dem eigenen Verstand nicht traut, sollte sich die nötigen technischen Kenntnisse aneignen. Aber Vorsicht: Ganz ohne „theoretische“ Überlegungen und Kenntnisse geht diese Art der Datenreduktion nicht lange gut. Irgendein Ergebnis gibt es zwar, etwa für eine Korrespondenzanalyse, immer, aber über die „theoretischen“ Interpretationen derjenigen, die zwar von Korrespondenzanalyse und dergleichen einiges, von Soziologie aber kaum etwas verstehen, hält sich dann die scientific community mitunter den Bauch vor Lachen. Konstruierte Typen Gedankliche Typen sind, anders als die natürlichen Klassifikationen, bloße „Gedankengebilde“, bei denen es auf die empirischen Besetzungen zunächst nicht ankommt. Es sind daher ganz und gar konstruierte Typen. Die genannten Verfahren der natürlichen bzw. der empirischen Klassifikation dienen deshalb auch eher als Ausgangsmaterial für die dann immer noch notwendige gedankliche Abstraktion oder als Verfahren der empirischen Bestimmung der zu9
Vgl. für einen Überblick über statistische Techniken der natürlichen Klassifikation: Wolfgang Sodeur, Empirische Verfahren zur Klassifikation, Stuttgart 1974. Als neuere Beiträge: Joseph B. Kruskal und Myron Wish, Multidimensional Scaling, Beverly Hills und London 1978; Anil K. Jain und Richard C. Dubes, Algorithms for Clustering Data, Englewood Cliffs, N.J., 1988; Glenn W. Milligan und Martha C. Cooper, Methodology Review: Clustering Methods, in: Applied Psychological Measurement, 11, 1987, S. 329-354; Susan C. Weller und Antone K. Romney, Metric Scaling: Correspondence Analysis, Newbury Park 1990.
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nächst nur gedanklich unterschiedenen Typen. Die Logik der gedanklichen Typenbildung kann – ganz allgemein – als ein Vorgang mit zwei Schritten beschrieben werden (vgl. Ziegler 1973, S. 11ff.). Zunächst werden die jeweils für bedeutsam erachteten Einzelvariablen benannt und in ihren Ausprägungen unterschieden. Dies erzeugt den sog. Merkmalsraum: der m-dimensionale Raum der m unterschiedenen Variablen. Er enthält alle logisch denkbaren Kombinationen der unterschiedenen Variablen. Nun erfolgt der zweite Schritt: die Reduktion des Merkmalsraumes nach einer theoretischen Regel, der sog. typologischen Theorie. Dies ist eine Anweisung darüber, welche Einzelelemente des Merkmalsraumes zu Klassen gleicher Zusammengehörigkeit zusammengefaßt werden sollen. Diese Klassen zusammengefaßter Elemente des Merkmalsraumes sind dann die Typen. Und die Gesamtheit der Typen bildet die Typologie. Das Verfahren sei an einem an Max Weber anknüpfenden Beispiel demonstriert. Es gehe um eine Typologie von Organisationen. Der Einfachheit und der Übersicht halber sollen nur drei Variablen mit jeweils nur zwei Ausprägungen unterschieden werden: die Existenz einer Amthierarchie (A), die Gliederung der Tätigkeiten im Rahmen fester Kompetenzen (K) und die Amtsführung nach festen Regeln einer einheitlichen Amtsdisziplin (R). Die drei Merkmale sind der Aufzählung von Max Weber zur Kennzeichnung von Organisationen bzw. von Typen der legalen Herrschaft entnommen worden.10 Weber unterscheidet in diesem Zusammenhang insgesamt zehn verschiedene Merkmale: Orientierung des Gehorsams nur an sachlichen Gesichtspunkten, feste Amtshierarchie, feste Amtskompetenzen, Anstellung über Vertrag, Anstellung über Fachqualifikation, Entlohnung über Geld, Amtsausübung als einzigen Hauptberuf, eine Laufbahn, Trennung von den Verwaltungsmitteln und eine strenge einheitliche Amtsdisziplin. Wir beschränken uns der Übersichtlichkeit wegen auf die Merkmale zwei, drei und zehn. Diese drei Merkmale lassen sich zu einem dreidimensionalen Merkmalsraum AxKxR aufspannen. Da es pro Merkmal zwei Ausprägungen gibt, besteht der Merkmalsraum aus insgesamt 23=8 Kombinationen. Bei Anwesenheit eines Merkmals werde die Ziffer 1, bei Abwesenheit die Ziffer 0 vergeben.
Der Merkmalsraum läßt sich dann folgendermaßen darstellen:
10
Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5. Aufl., Tübingen 1972 (zuerst: 1922), S. 126f.
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Situationslogik und Handeln
Merkmalsraum
typologische Regel
Typologie
(111)
I
[(110)
(101)
(011)]
II
[(100)
(010)
(001)]
III
IV
(000)
Ein Merkmalsraum ist noch keine Typologie, sondern erst der m-dimensionale Raum aller logisch möglicher Merkmalskombinationen. Die gedankliche Typenbildung „reduziert“ diesen Raum nach theoretischen Gesichtspunkten auf eine Anzahl von Typen, die stets kleiner als die Anzahl dieser Kombinationen ist. Hier besteht die dazu erforderliche Regel, die typologische Regel, in der Anweisung, die Elemente des Merkmalsraumes mit gleicher Anzahl „erfüllter“ Bedingungen zusammenzufassen und sie nach dieser Anzahl zu ordnen. Es wird im Anschluß an diese Regel also ausgezählt, wie häufig die jeweilige Bedingung A, K bzw. R erfüllt ist. Damit ist der Merkmalsraum bereits grob geordnet. Dabei fällt auf, daß je drei Kombinationen sich nicht weiter ordnen lassen, weil sie nach der Zahl der Nennungen äquivalent sind. Ein denkbarer Gesichtspunkt der angewandten typologischen Theorie könnte dann lauten: Fasse die Kombinationen mit der gleichen Anzahl von Nennungen zu einem Typ zusammen. Dies wurde hier vollzogen und mit den eckigen Klammern gekennzeichnet. Und dadurch wurden – über eine Ordnungsrelation und eine Äquivalenzrelation also – vier verschiedene Typen von Organisationen gedanklich erzeugt: I, II,. III und IV.
Die Einzeltypen I, II, III und IV, erzeugt aus dem Merkmalsraum der (dichotomen) Variablen A, K und R und einer bestimmten typologischen Regel, konstituieren dann die Typologie, hier eine von verschiedenen Formen der Organisation. Andere Regeln als die hier verwendete würden natürlich andere Typen und andere Typologien erzeugen, beispielsweise die, daß Organisationen, die entweder alle oder keine der drei Bedingungen aufweisen, von denen unterschieden werden, die die Merkmale in einer beliebigen Mischung aufweisen. Versuchen Sie selbst einmal, diese Typologie zu erstellen! Idealtypen Damit sind wir bei einem weiteren wichtigen Begriff der Soziologie angelangt, dem Begriff des Idealtyps. Wie so viele zentrale Konzepte der Soziolo-
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gie stammt auch dieses von Max Weber.11 Als Idealtyp kann ein Typ aus einer Typologie bezeichnet werden, der eine bestimmte „extreme“ Kombination von Merkmalen enthält. Hier gäbe es zwei davon: den Typus I mit der Kombination (111) und den Typus IV mit der Kombination (000). Der Typus I bezeichnet demzufolge Organisationen mit einer klaren Amtshierarchie, einer festen Kompetenzzuweisung und einer Amtsführung nach Regeln. Max Weber hat solche idealtypischen Organisationen – mit allerdings mehr als drei Merkmalen – als Bürokratie bezeichnet. Die Typen II, III und IV wären demnach sukzessiv als weniger bürokratisch anzusehen: Es wurde ein Index des Grades der bürokratischen Organisation aus den drei Variablen A, K und R konstruiert. Er enthält die Werte 3, 2, 1 und 0. Indizes sind also nichts anderes als spezielle Formen der gedanklichen Typenbildung: Die so konstruierten Typen erhalten numerische Werte und bilden auf diese Weise eine neue, ordinal- oder sogar intervallskalierte Variable, mit der man „rechnen“ könnte.
Typus IV ist wie der Typus I ein Extremtyp der so erzeugten Typologie. Er könnte wieder als ein Idealtypus angesehen werden: keine Amtshierarchie, keine Kompetenzzuweisung, keine Regeln. Piratenschiffe waren dem Vernehmen nach – wenigstens solange keine Beute am Horizont zu sehen war – oft so „organisiert“, später – wieder mehr dem Vernehmen nach – die Wohngemeinschaften der 68er-Bewegung, in denen die Klotüren ausgehängt waren und monatelang nicht gespült wurde. Schön wäre nun auch für diesen Extrembzw. Idealtypus ein griffiger Name, analog zu dem der bürokratischen Ordnung – etwa: selbstbestimmte Spontigemeinschaft oder parasitäre Anarchie. Unbedingt nötig ist der Name für die gedankliche Typenbildung nicht. Wichtiger sind die gedachten Variablen, der dadurch „logisch“ erzeugte Merkmalsraum und die angenommene typologische Theorie. Anders als bei der natürlichen Klassifikation sind die empirischen Besetzungen der Typen auch nicht wichtig. Manchmal können sie gerade als kontrafaktische Utopie dienen, denen jetzt das gesamte Trachten gelten soll. Als „Ideal“ und als heuristisches Gedankenmodell haben sie ihren Wert ganz unabhängig von ihrer realen Existenz.
11
Vgl. dazu insbesondere Max Weber, Die ‚Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 5. Aufl., Tübingen 1982a (zuerst: 1904), S. 190ff. Vgl. dazu auch noch Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“.
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Die „qualitative“ Bildung von Idealtypen Die gedankliche Typenbildung ist zwar – anders als die natürliche Klassifikation – frei von den Vorgaben empirischer Besetzungen der Merkmalskombinationen, aber sie ist in keiner Weise unabhängig von dem Wissen über die empirische Welt. Dies hat einen sehr einfachen Grund: Die Auswahl der „relevanten“ Einzelvariablen geschieht immer schon vor dem Hintergrund eines bestimmten Vorwissens und einer – meist noch recht undeutlichen – theoretischen Absicht oder Hypothese. Tatsächlich gehen in der Forschungsarbeit der Bildung von Idealtypen empirisch-induktive und gedanklich-deduktive Prozesse stark ineinander über. Dies zeigt sich am deutlichsten bei den sog. qualitativen Verfahren der Typenbildung, bei denen sukzessiv „am Material“ eine Reduktion der Vielfalt der Beobachtungen in möglichst wenige Kategorien vorgenommen wird. Dabei handelt es sich letztlich zwar um eine Art der natürlichen Klassifikation von Clustern bestimmter typischer Variablenkombinationen – wenngleich ohne größere Fallzahlen, ohne Computer und ohne besondere Vorkehrungen der Standardisierung. Aber gerade wegen des Fehlens standardisierter Vorgaben werden „gedankliche“ Anhaltspunkte für die Sicherung der Triftigkeit der Typenbildung besonders vordringlich. Die Medizinsoziologin Uta Gerhardt hat diese Verbindung der „qualitativen“ Typenbildung mit dem Weberschen Konzept des Idealtypus und den dort entwickelten Prüfregeln gezogen und am Beispiel bestimmter Patientenkarrieren illustriert.12 Sie unterscheidet – Webers Anregungen folgend – insgesamt drei Schritte der Analyse: Die Wissensprüfung, das Fortdenken und die Erfahrungsprobe. (Ebd., S. 52ff.) Die Wissensprüfung meint die Voraussetzung eines breiten Hintergrundwissens aller Art, besonders aber über die historischen Umstände, bei jeder Bildung eines Idealtypus. Die „ruhelose Suche nach Perfektion beim Wissen“ (ebd., S. 54) sei eine Gewähr dafür, daß sich unplausible und inadäquate Idealtypen im weiteren Verlauf der Prüfung nicht halten lassen. Theoretisch fruchtbare Idealtypen lassen sich nur auf einem breiten und mit viel Redundanz durchzogenen Vorverständnis bilden. Das Fortdenken ist dann ein Test eines einmal vorläufig gebildeten Idealtypus. Dies geschieht als eine Art des Gedankenexperimentes: Die verschiedenen Elemente des Idealtypus werden als kausal miteinander verbunden betrachtet, die so ein gleichgewichtiges System ei12
Uta Gerhardt, Verstehende Strukturanalyse: Die Konstruktion von Idealtypen als Analyseschritt bei der Auswertung qualitativer Forschungsmaterialien, in: Hans-Georg Soeffner (Hrsg.), Sozialstruktur und soziale Typik, Frankfurt/M. und New York 1986, S. 3183. Vgl. dazu auch Susann Kluge, Empirisch begründete Typenbildung. Zur Konstruktion von Typen und Typologien in der qualitativen Sozialforschung, Opladen 1999, Teil B IIb, S. 110-177.
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nes Wirkungszusammenhangs bilden. Der Test geht nun jede denkbare „Ursache“ und „Wirkung“ durch und untersucht, ob das Ergebnis auch anders hätte möglich sein können. Auf diese Weise würden „überflüssige Elemente ... vom Forscher aus dem Idealtypus ausgeschieden.“ (Ebd., S. 55) Der so „‚gereinigte‘ Idealtypus“ kann dann weiterverwendet werden, um „in der Analyse anderer Fälle sichtbar werdende Vorgänge danach zu trennen, ob sie als notwendige (typische) oder zufällige Ursachen (Verkettungen) im Einzelfall zu werten sind, und zwar per Bestimmung ihrer Abweichung vom Idealtypus.“ (Ebd., S. 56) Die Erfahrungsprobe schließlich ist die „‚Kontrolle durch den Erfolg‘“ (Ebd.). Es ist der Vergleich des Idealtypus mit „realen“ Einzelfällen, die sich vom Idealtypus nur in einer Variablen unterscheiden. Es ist nichts anderes als die sog. Differenzenmethode beim Experiment, wie sie schon Emile Durkheim vorgeschlagen hatte. Gleichzeitig soll dabei eine „Sinndeutung“ des kontrollierten Wirkungszusammenhangs erfolgen. Also: Es wird nicht nur (quasi-)experimentell kontrolliert, ob der im Idealtypus postulierte Zusammenhang besteht oder nicht, sondern dann auch, warum er besteht – und zwar im Lichte des sinnhaften Handelns der Menschen in der durch den Idealtypus beschriebenen Logik der Situation.
Die drei Schritte lassen sich im Einzelfall meist nicht genau auseinanderhalten. Es bleibt – für einen methodisch geschulten Soziologen zumal – immer auch ein gewisser Beigeschmack der unkontrollierten Intuition. Uta Gerhardt hofft aber, daß „ ... klar geworden sein (mag), daß idealtypisches Verstehen weit davon entfernt ist, intuitiv oder subjektiv willkürlich zu verfahren. Es bezweckt systematische begriffliche Analyse mit dem Ziel, durch intersubjektiv nachvollziehbares Verständlichmachen zu einer gültigen Erklärung gesellschaftlicher Phänomene zu gelangen.“ (Ebd., S. 62)
Anstelle von qualitativen Einzelfalläußerungen können natürlich auch die quantifizierbaren Antworten aus standardisierten Interviews zur Typenbildung herangezogen werden, so wie das etwa bei der Bestimmung von Typen des Lebensstils geschehen ist (vgl. dazu noch Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Das Problem bleibt jedesmal das gleiche: Die empirischen Daten alleine führen nur selten zu einer soziologisch belangvollen Typisierung. Immer müssen auch deduktiv-theoretische Überlegungen einfließen.13 Und was sollen das für Überlegungen sein? Na klar: Es 13
Vgl. dazu auch die Kontroverse über die geeignete Art der Bestimmung von Brückenhypothesen zur Beschreibung typischer sozialer Situationen und sozialer Produktionsfunktionen zwischen Siegwart Lindenberg einerseits und Udo Kelle, Christian Lüdemann, Karl-Dieter Opp und Jürgen Friedrichs andererseits: Siegwart Lindenberg, Die Relevanz theoriereicher Brückenannahmen, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 48, 1996a, S. 126-140; Udo Kelle und Christian Lüdemann, Theoriereiche Brückenannahmen? Eine Erwiderung auf Siegwart Lindenberg, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 48, 1996, 542-545; Karl-Dieter Opp und Jürgen Friedrichs, Brückenannahmen, Produktionsfunktionen und die Messung von Präferenzen, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 48, 1996, S. 546559; Siegwart Lindenberg, Theoriegesteuerte Konkretisierung der Nutzentheorie. Eine Replik auf Kelle/Lüdemann und Opp/Friedrichs, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 48, 1996b, S. 560-565.
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müssen Hypothesen sein, die aus dem Verständnis des Funktionierens des betreffenden sozialen Systems, seiner Reproduktion in einer bestimmten Umgebung, gewonnen werden. Das ist ein Problem, das ein wenig an den sog. hermeneutischen Zirkel erinnert: Ich verstehe die „Bedeutung“ eines Zeichens oder eines Einzelelementes erst, wenn ich seine Funktion in einem Gesamtzusammenhang, einem Text, einem „Kontext“, einem Reproduktionszusammenhang kenne. Und deshalb muß jeder, der sich an die Typenbildung macht, wenigstens eine grobe Vorstellung darüber haben, wie die Gruppe, Organisation oder Gesellschaft insgesamt funktioniert. Ansonsten bleiben die empirischen Einzeldaten nichts als relativ beliebige Kovariationen ohne jede weitere „Bedeutung“. Was nun? Was tun? Ob der Zweck einer systematischen und soziologisch bedeutsamen Typisierung, etwa von sozialen Kategorien, erfüllt wird oder nicht, kann also nicht „am Material“ der empirischen Daten alleine nachvollzogen werden. Die Typenbildung muß immer auch durch Hinweise auf die strukturellen Hintergründe untermauert sein – gerade so wie das Max Weber bei seinem Konzept des Idealtypus auch versucht hat. Und das heißt letztlich: durch Verweise auf die „Verfassung“ der jeweiligen Gruppe, Organisation oder Gesellschaft, auf die sozialen Produktionsfunktionen, auf die grundlegenden Opportunitäten der Akteure, auf die zentralen institutionellen Regeln und die signifikanten kulturellen Bezugsrahmen. Es ist exakt das Problem, das Alexis de Tocqueville schon in seiner Analyse der Vorgeschichte der Französischen Revolution so beschäftigt hatte und worauf er ganz eindeutig und mit guten Gründen reagierte: Nicht „Individuen“ und ihre subjektiven Sichtweisen, sondern „Klassen“ sind das, was die Geschichte bzw. die Soziologie nur interessieren kann. Und nach welchen „Gesetzen“ der gesellschaftlichen Lage sich die Akteure jeweils unterscheiden, ist ihnen aus ihrer Sicht oftmals ganz und gar unzugänglich. Gerade deshalb ist die Soziologie ja erfunden worden: Daß man sich nicht auf die Mikrosicht der kleinen Lebenswelten – die der narrativen Interviews wie die der standardisierten Umfragen! – verlassen kann, sondern sich auch theoretisch Gedanken machen möge über die Gesetze der Reproduktion der jeweiligen Gesellschaft. Die Soziologie ist zu allererst eine theoretische Disziplin – und keine bloße Technik der empirischen Bildung von Typen auf ausschließlich induktivem Wege, sei es nun quantitativ oder qualitativ, mit oder ohne Korrespondenzanalyse oder narrativen Interviews.
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12.2 Klassenbewußtsein und Klassenhandeln Das Konzept der sozialen Klasse und die Methode der Klassenanalyse knüpft an die für die Soziologie geradezu paradigmatische Idee an, daß sich die objektive Situation der Menschen aus den „gesellschaftlichen Verhältnissen“ der Definition der sozialen Produktionsfunktionen und der objektiven Verteilung von Rechten, Prestige und Macht ableitet, ihre Interessen und ihre Möglichkeiten objektiv bestimmt und damit eine strukturelle und nicht einfach wegzudefinierende Vorgabe für das Handeln, Fühlen und Denken und für die weiteren, ebenfalls strukturellen, Konsequenzen bildet. Das gilt auch dann, wenn andere Kategorien als das klassische Konzept der sozialen Klasse die objektive Strukturierung der Situation beschreiben – etwa die Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht, zu einer ethnischen Gruppe oder zu einer Alterskategorie. Auch wenn „Klassenanalyse“ nicht explizit drauf steht, ist, wenn die betreffende „Logik“ stimmt, Klassenanalyse drin. Die Strukturierung des Handelns So auch bei Robert K. Merton. Er hat die Idee der objektiven Strukturierung der Situation, des Handelns und der Handlungsfolgen durch die Untersuchung grundlegender kategorialer Eigenschaften zur Grundlage seiner Soziologie gemacht und damit eine Vielzahl auch heute noch stark beachteter Beiträge zur Soziologie, etwa des Wissens und der Wissenschaft oder des abweichenden Verhaltens, geliefert. Besonders eindrucksvoll hat Merton die Logik der Klassenanalyse in seinem wohl berühmtesten Beitrag, dem über „Social Structure and Anomie“, für die Frage nach der Erklärung typischer Muster des abweichenden Verhaltens bei typischen Aggregaten von Akteuren in einer Gesellschaft angewandt (vgl. dazu auch noch Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“).14 Merton geht dabei von der Beobachtung aus, daß es in der amerikanischen Gesellschaft typische Gruppen von Personen sind, die typische Arten der Nonkonformität mit den Werten und den Normen der amerikanischen Gesellschaft, vulgo: Kriminalität, zeigen, beispielsweise die Angehörigen der unteren Schichten, die farbigen Bevölkerungsteile oder die neu eingewanderten ethnischen Minderheiten. Er wendet sich, wie bereits William I. Thomas in seinem Konzept der Situationsanalyse des abweichenden Verhaltens (vgl. Kapitel 1), deutlich gegen eine biologische oder eine psychologische Erklärung: Die merkwürdigsten biologischen oder 14
Robert K. Merton, Social Structure and Anomie, in: Robert K. Merton, Social Theory and Social Structure, 11. Aufl., New York und London 1967c, S. 131-160.
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psychologischen „bundles of impulses“ gebe es überall und quer zu allen sozialen Gruppen, aber die Muster des abweichenden Verhaltens unterscheiden sich deutlich zwischen den Gruppen. In ganz ähnlicher Weise hatte schon Emile Durkheim argumentiert als er – unter anderem – die Unterschiede der Selbstmordraten zwischen Katholiken, Protestanten und Juden erklärte: Es sind eben nicht die biologischen, psychologischen oder sonstigen „individuellen“ Eigenschaften, aus denen sich die Unterschiede des Verhaltens der Akteure aus verschiedenen sozialen Gruppen erklären lassen. Und daher „ ... whatever the role of biological impulses, there still remains the further question of why it is that the frequency of deviant behavior varies within different social structures and how it happens that the deviations have different shapes and patterns in different social structures.“ (Merton 1967c, S. 131)
Sein Vorgehen – und das der „strukturell“ bzw. „klassenlogisch“ erklärenden Soziologie insgesamt – hat Merton dann so zusammengefaßt: „Our primary aim is to discover how some social structures exert a definite pressure upon certain persons in the society to engage in non-conforming rather than conforming conduct.“ (Ebd., S. 132; Hervorhebungen so nicht im Original)
Die Erklärung, die Merton für die soziale Systematik des konformen oder des abweichenden Verhaltens abgibt, ist im Grunde sehr einfach: Wenn alle Menschen einer bestimmten Gesellschaft an der Erreichung eines übergreifend als wichtig angesehenen Zieles, zum Beispiel an einem hohen Einkommen, interessiert sind, wenn die Menschen sich aber nach ihrer sozialen Zugehörigkeit darin unterscheiden, in welchem Ausmaß sie über die Mittel verfügen, die zur Erreichung dieses übergreifenden Zieles zugelassen und „institutionalisiert“ sind, wie der Zugang zu Bildungseinrichtungen, dann ist zu erwarten, daß die Menschen mit der geringeren Ausstattung an „konformen“ Ressourcen auch zu Mitteln greifen, die neu, oft genug aber auch verboten und mit Strafen belegt sind. Gerade neu eingewanderte Migrantengruppen wären ein Beispiel dafür. Sie unterscheiden sich von alteingesessenen Familien auch darin, wie sehr sie über die konformen oder als legitim definierten Ressourcen verfügen können, um das zu erreichen, was das Ziel aller im Land der unbegrenzten Möglichkeiten ist: Wohlstand und Ansehen. Aber sie unterscheiden sich nicht darin, daß sie auf ihre besondere Situation sinnhaft – und das heißt: intentional und an den Möglichkeiten orientiert, also ganz „normal“ und „vernünftig“, wenngleich unter Umständen und vor dem Hintergrund der institutionalisierten Mittel „abweichend“, – reagieren: „If we can locate groups peculiarly subject to such pressures, we should expect to find fairly high rates of deviant behavior in these groups ... because they are responding normally to the social situation in which they find themselves.“ (Ebd.; Hervorhebung nicht im Original)
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Die Gleichheit in den Interessen und die Ungleichheit in der Kontrolle über die Mittel zwischen den Gruppen ist also der Grund für die strukturellen inneren Spaltungen einer Gesellschaft und für das unterschiedliche Ausmaß des abweichenden Verhaltens bei verschiedenen sozialen Gruppen oder Kategorien (vgl. dazu auch schon Abschnitt 3.4). Merton verwendet seine Überlegungen insbesondere zur Erklärung des typischen Handelns typischer Gruppen bzw. sozialer Kategorien in der (amerikanischen) Gesellschaft. Besonders interessiert ihn die Lösung zweier empirischer Rätsel: Warum finden sich regelmäßig die höheren Raten bestimmter Formen der Kriminalität in den unteren sozialen Schichten? Und warum findet man bei der sog. lower middle class typischerweise ein Verhalten, das Merton als Ritualismus bezeichnet? Es sei an dieser Stelle nicht weiter die Frage problematisiert, ob dieser empirische Zusammenhang zwischen Schichtzugehörigkeit und abweichendem Verhalten tatsächlich so existiert wie Merton ihn beschreibt und annimmt. Eine gänzlich andere Ausgangslage wäre gegeben, wenn die Korrelation weniger mit dem „wirklichen“ Verhalten der Gruppen als mit Unterschieden in der Strafverfolgung oder in der statistischen Erfassung von Kriminaltaten zu tun hätte.
Wir wollen die Argumente von Merton zur Erklärung eines typischen „Klassenhandelns“ ganzer Aggregate von Akteuren so rekonstruieren, daß – ähnlich wie bei dem Beispiel der Locals und der Cosmopolitans bei den Professoren – die besondere objektive „Logik“ der Situation deutlich wird, aus der sich die beiden Zusammenhänge strukturell – und eben nicht: biologisch oder psychologisch – erklären lassen. Unterschicht, „Innovation“ und Kriminalität Warum findet sich das von den institutionalisierten Mitteln abweichende Verhalten vorwiegend in den unteren sozialen Schichten? Zur Beantwortung dieser Frage muß, wie wir in Abschnitt 7.2 gesehen haben, zunächst ein handlungstheoretisches Grundmodell entwickelt werden, das erklärt, wann Akteure ganz allgemein die Reaktion der Konformität wählen. Also dann: Im Falle der Konformität teilen die Akteure das Streben nach den kulturellen Zielen und sie wählen dazu die institutionalisierten Mittel. „Konformität“ meint damit also sowohl ein bestimmtes Handeln wie ein bestimmtes Motiv, ein Ziel, das mit dem Handeln erreicht werden soll. Das Motiv besteht letztlich in dem Nutzen, den die Akteure mit dem kulturellen Ziel verbinden. Das kulturelle Ziel ist also, in der Terminologie des Konzepts der sozialen Produktionsfunktionen, ein primäres Zwischengut zur unmittelbaren Erzeugung von sozialer Wertschätzung und physischem Wohlbefinden. Dieser Nutzen sei als Uz bezeichnet. An Alternativen zur Erzeugung dieses primären Zwischengutes stehen den Akteuren die institutionalisierten Mittel K oder ir-
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gendwelche anderen, innovativen, nicht-institutionalisierten, eventuell verbotenen und illegitimen Mittel I zur Verfügung. Es wird weiter angenommen, daß die Akteure die Erreichung der kulturellen Ziele über das konforme Handeln K mit der Wahrscheinlichkeit p und über das innovative Handeln mit der Wahrscheinlichkeit q erwarten. Die jeweiligen Komplementärwahrscheinlichkeiten – 1-p und 1-q – werden vernachlässigt, weil, so wollen wir annehmen, im Falle des Fehlschlags eine Situation mit einer Bewertung von null eintritt.
Daraus ergibt sich als Nutzenerwartung für die beiden Alternativen Konformität versus Innovation einfacherweise: EU(K) = p*Uz EU(I) = q*Uz. Das ist das Grundmodell. Es sagt uns, wie üblich, noch nicht viel. Insbesondere erklärt es als „allgemeines“ Modell noch nicht die Unterschiede des Verhaltens zwischen den Gruppen. Jetzt ist wieder die Stunde der Formulierung der Brückenhypothesen gekommen: Wie unterscheiden sich typischerweise die sozialen Gruppen in Hinsicht auf die Variablen dieses Grundmodells? Genau diese Frage geht Merton in seiner Analyse an. Er stellt, in der Sprache der WE-Theorie rekonstruiert, eine systematische Verbindung zwischen der Höhe von p – als der Erwartung, über institutionalisierte Mittel zu Wohlstand und Ansehen in der amerikanischen Gesellschaft zu kommen – und der sozialen Position der Menschen her: Die Kontrolle über die institutionalisierten Mittel ist eben nicht überall gleich. Und das muß sich in Unterschieden in der Erwartung p ausdrücken, weil die Erwartung p ja stets das Produkt aus der Effizienz e und der Kontrolle c ist (vgl. dazu bereits Kapitel 1, sowie Abschnitt 7.1). Wir wollen eine S-förmige Funktion für die Veränderung der Erwartungen p mit der sozialen Schichtzugehörigkeit (SES von „socio-economic status“) annehmen: In den unteren Schichten ist die Erwartung relativ gleichbleibend gering, steigt dann in den mittleren Schichten stark an und konvergiert in den oberen Schichten allmählich und wieder relativ konstant gegen den Maximalwert 1. In der Erwartung q spiegelt sich die „technische“ und die organisatorische Effizienz der innovativen, nicht-institutionalisierten, manchmal auch illegitimen Mittel wider. Sicher gibt es hier auch Unterschiede in der Kontrolle dieser Mittel zwischen den sozialen Klassen: In den Oberschichten beherrscht man wohl besser die Technik des Steuerbetrugs, in den mittleren Schichten gibt es vielleicht mehr Erfinder und in den unteren Schichten wird eher gelernt, wie man Safes aufschweißt. Von allen diesen – interessanten – Besonderheiten der Kenntnis und Beherrschung, legitimer wie illegitimer, innovativer Mittel in bestimmten Schichten und Subkukturen wollen wir hier aber absehen. Für den Verlauf von q in Abhängigkeit des sozioökonomischen Status (SES) sei daher einfacherweise nichts weiter angenommen: q sei in dieser auch sonst ja sehr vereinfachenden Analyse des Problems der Unterschichtendevianz über die sozio-ökonomische Position der Akteure hinweg konstant.
Alle diese Annahmen sind in Abbildung 12.1 zusammengefaßt. Auf der vertikalen Achse sind gleich die beiden entscheidenden EU-Gewichte für die Al-
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are closed or narrowed in a society which places a high premium on economic affluence and social ascent for all its members.“(Ebd., S. 145f.; Hervorhebungen so nicht im Original)
Das abweichende und das konforme Verhalten, das Auftreten eines Al Capone oder eines Thomas A. Edison, ist damit ein Ergebnis der besonderen und zwingenden Logik der Situation in den verschiedenen sozialen Schichten – erzeugt durch die zwingende Macht der sozialen Produktionsfunktionen und die dadurch vorgegebenen Ziele und verfügbaren Mittel. Der Ritualismus der unteren Mittelschichten Für die oberen und für die unteren Schichten ist die Angelegenheit ziemlich klar: Konformität hier und – zuweilen: illegitime – Innovation dort. Die Sache ist aber nur deshalb so einfach, weil außer dem Wert der kulturellen Ziele Uz und den Erwartungen p und q keine anderen Aspekte beachtet wurden, über die ein Handeln auch noch motiviert sein könnte. Insbesondere fehlt bisher jede Berücksichtigung einer besonderen „moralischen“ Verankerung des konformen Handelns. Und das war ja auch nicht nötig: Die oberen Schichten brauchen die Moral für ihre Konformität nicht, weil sie ohnehin leicht an die kulturellen Ziele herankommen. Und die unteren Schichten wissen, etwa als aus Sizilien frisch eingewanderte junge Familien, von der Konformität und der speziellen Moral der Amerikaner wenig. Außerdem würde, wenn sie es denn wüßten, ihnen das in ihren Alltagsproblemen nicht viel helfen, weil sie die nötigen Mittel nicht kontrollieren. Wie aber kommt nun die Moral ins Spiel? Die moralische Verankerung der institutionalisierten Mittel könnte man auf zweierlei Weise in der Modellierung der Logik der Situation berücksichtigen: als zusätzlichen „intrinsischen“ Nutzen des konformen Handelns, als die psychologische Prämie also, die ein gutes Gewissen zu verleihen vermag. Oder als zu erwartende negative Sanktion, die mit der Abweichung vom tugendsamen Pfad der institutionalisierten Mittel eventuell droht (vgl. dazu noch Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Der Einfachheit halber, insbesondere aber, weil das das Argument von Merton ist, wollen wir nur die moralische Prämie für das konforme Handeln und das damit erreichbare gute Gewissen berücksichtigen. Diese Prämie sei mit Uk bezeichnet. Die Prämie wird bereits mit der bloßen Ausführung des konformen Handelns K und daher ganz unabhängig von irgendeiner Zielerreichung oder irgendeinem „Erfolg“ fällig. Gerade das ist ja mit der „Internalisierung“ einer Norm gemeint (vgl. dazu auch bereits Abschnitt 4.1). Daher kann die Erwartung der Verwirklichung von Uk, weil das moralische „Ziel“ mit dem Handeln unmittelbar erreicht wird, mit 1 angenommen werden. Die Nutzenerwartung für das konforme Handeln wäre in diesem Falle also: EU(K)‘=p*Uz+Uk.
Merton unterstellt nun, daß bei den unteren Mittelschichten – im Unterschied zu den Unterschichten – eine solche Internalisierung der Befolgung der institutionalisierten Mittel in besonderen Maße stattgefunden habe. Gleichzeitig sei
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dort aber – ähnlich wie bei den unteren Schichten – die Erfolgserwartung zur Erreichung der kulturellen Ziele sehr klein. Warum das so ist, erklärt Merton leider nicht weiter, er stellt es nur fest. Vielleicht liegt es ja daran, daß den unteren Mittelschichten, wie den Unterschichten, der Weg nach oben verschlossen ist, daß sie aber, anders als die Unterschichten, durch Fehlverhalten durchaus absteigen können – und daß sie gerade wegen des drohenden Statusverlustes bei Abweichung besonders darauf achten, keinen Fehltritt zu begehen, auch wenn sie nicht wissen, wozu die peinliche Beachtung der Normen sonst noch gut sein soll.
Kurz: Die Angehörigen der unteren Mittelschicht erwarten von den institutionalisierten Mitteln nicht viel und haben sich auch von den kulturellen Zielen innerlich schon verabschiedet. Im Modell: Nicht nur p, sondern auch Uz ist in den unteren Mittelschichten sehr klein. Etwas übertreibend modelliert: Für die unteren Mittelschichten gelte p=0 und Uz=0; mithin: p*Uz =0. Das charakterisiert aber, wie wir schon gesehen haben, die Logik der Situation bei den unteren Mittelschichten noch nicht ganz: An die Stelle der Motivation durch die Nutzenerwartung für die kulturellen Ziele p*Uz tritt ja die moralische Prämie Uk für das konforme Handeln. Die Nutzenerwartung für die Wahl der institutionalisierten Mittel ist damit also EU(K)‘=0+Uk=Uk. Der Wert von Uk ist aber, so glaubt Merton in den kleinbürgerlichen unteren Mittelschichten der amerikanischen Gesellschaft beobachten zu können, stets größer als null, weil sie die betreffenden Normen verinnerlicht haben. Und da Uz für sie gleich null ist, hat jedes von der Konformität abweichende Verhalten, für das es in den unteren Mittelschichten ja keine moralische Prämie gibt, sondern allenfalls sogar negative Sanktionen, eine Nutzenerwartung von höchstens null. Damit aber hat die Beachtung der institutionalisierten Mittel gegenüber jeder Alternative die höhere Nutzenerwartung. Sie werden gewählt, auch wenn die kulturellen Ziele schon lange keine eigene Bedeutung mehr haben. Die Mittel in den unteren Mittelschichten sind zum – leeren – Selbstzweck geworden. Ein solches Verhalten nennt Merton daher durchaus treffend Ritualismus. Einen solchen Ritualismus gibt es überall – nicht nur in den unteren Mittelschichten der amerikanischen Gesellschaft zu der Zeit als Merton über die soziologische Theorie und die sozialen Strukturen nachdachte und schrieb. Merton hat die verschiedenen möglichen Kombinationen der Akzeptanz der kulturellen Ziele einerseits und der Kontrolle oder Beachtung der institutionalisierten Mittel andererseits in einer Typologie zusammengefaßt, dem sog. Anomie-Schema (vgl. dazu auch noch Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Es beschreibt noch weitere Varianten der Non-Konformität, wie den Rückzug in die innere Emigration oder gar die Rebellion gegen die Gesellschaft mit dem Ziel der Abschaffung der gege-
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benen kulturellen Ziele und institutionellen Mittel und deren Ersetzung durch neue. Die Grundidee ist jedoch stets diejenige, die auch die Logik der Klassenanalyse leitet: Aus der durch die Kombination von kulturellen Zielen und institutionalisierten Mitteln objektiv strukturierten Handlungssituation bei typischen gesellschaftlichen Gruppen oder Kategorien ergibt sich ein auch objektiv strukturiertes Handeln – und darüber dann der objektive Prozeß der Genese und Veränderung der gesellschaftlichen Strukturen insgesamt, einschließlich der Umwälzung der gesamten „Verfassung“ der Gesellschaft.
12.3 Klassenkonflikt, Klassenkampf und die Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse Eine „Klassenanalyse“, wie sie Robert K. Merton für die amerikanische Gesellschaft und für das typische Verhalten einiger typischer Gruppen darin oder Alexis de Tocqueville für die Vorgeschichte der Französischen Revolution vorgenommen haben, ist eines der wichtigsten Grundwerkzeuge der Soziologie. Es ist ein Muster für die Methode der Situationsanalyse, von der das Modell der soziologischen Erklärung ja auch ausgeht. Karl Marx war es, der die Unterteilung von Gesellschaften in typische Konstellationen sozialer Klassen und die Ableitung typischer kollektiver Folgen daraus zur expliziten theoretischen Grundlage der Soziologie erhoben hat. Er hat die Analyse der Beziehungen der sozialen Klassen – darüber hinaus – auch zur Basis seiner ganz besonderen Gesellschaftstheorie gemacht, in der er einen Zusammenhang zwischen der Art der gesellschaftlichen Strukturierung in soziale Klassen, dem gesellschaftlichen Wandel und der Entstehung neuer gesellschaftlicher Strukturen herstellte. Der Ausgangspunkt der Überlegungen ist die mit der jeweiligen Rechtsordnung gegebene Konfliktlage, in der sich die verschiedenen Klassen wiederfinden. Er sah in der Spaltung der objektiven Interessen etwa von Herren und Sklaven, von Adel und Leibeigenen, von Handwerkern, Grundeigentümern und Warenproduzenten, sowie schließlich von Lohnarbeitern und Kapitalisten die objektive Definition einer antagonistischen Grundstruktur der Gesellschaft. Er begründet so ihre grundlegenden und daher objektiven Konfliktlinien: die „gesellschaftlichen Widersprüche“. Diese objektiven Konflikte treiben die Geschichte der Menschheit als „eine Geschichte von Klassenkämpfen“ weiter – auch gegen das vor diesem Hintergrund dann „falsche Bewußtsein“ einer abweichenden subjektiven Definition der Situation durch die Akteure. Karl Marx hat, zusammen mit seinem Freund, Mäzen und Mitstreiter Friedrich Engels im „Kommunistischen Manifest“ diesen Prozeß als Abfolge von
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drei aufeinander folgenden Stufen der Klassenbildung und der Vorbereitung der gesellschaftlichen Umwälzung beschrieben. Am Anfang „ ... kämpfen die einzelnen Arbeiter, dann die Arbeiter einer Fabrik, dann die Arbeiter eines Arbeitszweiges an einem Ort gegen den einzelnen Bourgeois, der sie direkt ausbeutet.“15
In dieser ersten Stufe jedoch „ ... bilden die Arbeiter eine über das ganze Land zerstreute und durch die Konkurrenz zersplitterte Masse.“ (Ebd.; Hervorhebungen nicht im Original)
Dabei gibt es sie aber zunächst nur erst als „Klasse an sich“, als in seinen Einzelteilen unverbundenes Aggregat mit jedoch schon deutlich objektiv gleichen Interessen und objektiv gleichen (Un-)Möglichkeiten des Handelns. Die zweite Stufe wird durch den unaufhaltsamen Prozeß der weiteren Industrialisierung selbst erzeugt: „Aber mit der Entwicklung der Industrie vermehrt sich nicht nur das Proletariat; es wird in größeren Massen zusammengedrängt, seine Kraft wächst, und es fühlt sie mehr. Die Interessen, die Lebenslagen innerhalb des Proletariats gleichen sich immer mehr aus, indem die Maschinerie mehr und mehr die Unterschiede der Arbeit verwischt und den Lohn fast überall auf ein gleich niedriges Niveau herabdrückt. ... . ... immer mehr nehmen die Kollisionen zwischen dem einzelnen Arbeiter und dem einzelnen Bourgeois den Charakter von Kollisionen zweier Klassen an. Die Arbeiter beginnen damit, Koalitionen gegen die Bourgeois zu bilden; sie treten zusammen zur Behauptung ihres Arbeitslohns. Sie stiften selbst dauernde Assoziationen, um sich für die gelegentlichen Empörungen zu verproviantieren.“ (Ebd.; Hervorhebungen nicht im Original)
Nun entstehen also schon erste „Assoziationen“, die Vorläufer der späteren Gewerkschaften. Und das ist dann die Grundlage, daß das Proletariat zu einer „wirklich revolutionären Klasse“ wird. Zunächst wächst, nicht zuletzt „durch die wachsenden Kommunikationsmittel“ (ebd; S. 471), die „Vereinigung“ der Arbeiter immer mehr. Schließlich aber, und das ist die dritte, die revolutionäre Stufe der Entwicklung, geht die Auseinandersetzung der Klassen zwangsläufig über in einen Kampf um die Verfassung der Gesellschaft und damit um die politische Herrschaft. Im „Elend der Philosophie“ schreibt Karl Marx dazu: „Das ist so wahr, daß die englischen Ökonomen ganz erstaunt sind zu sehen, wie die Arbeiter einen großen Teil ihres Lohnes zugunsten von Assoziationen opfern, die in den Augen der Ökonomen nur zugunsten des Lohnes errichtet wurden. In diesem Kampfe – ein veritabler Bürgerkrieg – vereinigen und entwickeln sich alle Elemente für eine kommende Schlacht. Einmal an diesem Punkte angelangt, nimmt die Koalition einen politischen Charakter an.“ (Marx 1964a, S. 180)
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Karl Marx und Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, in: Marx-EngelsWerke, Band 4, Berlin 1964, S. 470; Hervorhebung nicht im Original.
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In diesem politischen Kampf mutiert die „Klasse an sich“ vollends in eine Klasse „für sich selbst“, eine Klasse, die jetzt weiß, was geschieht und was sie will. Zunächst „ ... ist diese Masse bereits eine Klasse gegenüber dem Kapital, aber nicht für sich selbst. In dem Kampf, den wir in einigen Phasen gekennzeichnet haben, findet sich diese Masse zusammen, konstituiert sich als Klasse für sich selbst. Die Interessen, welche sie verteidigt, werden Klasseninteressen. Aber der Kampf von Klasse gegen Klasse ist (dann; HE) ein politischer Kampf.“ (Ebd., S. 181; Hervorhebung nicht im Original)
Und noch deutlicher wieder im Kommunistischen Manifest: „Jeder Klassenkampf ist aber ein politischer Kampf.“ (Marx und Engels 1964, S. 471; Hervorhebungen nicht im Original)
Dieser politische Kampf hat schließlich, so glaubte Karl Marx ganz fest, auch Erfolg und endet mit dem Sieg des Proletariats, mit der Abschaffung des Privateigentums und damit mit dem eigentlichen Grund der gesellschaftlichen Spaltungen und Konflikte und des daraus entstehenden Elends. Am Ende der Entwicklung steht die klassenlose Gesellschaft, in der ein jeder nur nach seinen Fähigkeiten und Bedürfnissen leben könne. Bekanntlich ist (fast) alles anders gekommen. Daß Karl Marx so optimistisch in seiner Vermutung war, wonach sich die objektiven Interessen schließlich doch durchsetzen werden, hatte mit drei stark vereinfachenden Annahmen zu tun. Er hat erstens für jeden Gesellschaftstyp immer nur ein grundlegendes Paar von in Konflikt stehenden Klassen angenommen. Alle anderen Klassendifferenzierungen wären daher nichts anderes als eigentlich unerhebliche Anomalien. Der österreichische Ökonom und Soziologe Joseph A. Schumpeter, der in dem Jahr geboren wurde, in dem Karl Marx starb, 1883 nämlich, hat das in seiner Rekonstruktion der Marxschen Klassentheorie so ausgedrückt: „Es kommen Spaltungen innerhalb einer jeden Klasse und Zusammenstöße zwischen den Gruppen vor; sie können sogar von geschichtlich entscheidender Bedeutung sein. Aber für die letzte Analyse sind solche Spaltungen oder Zusammenstöße nur Zufälle.“16
Karl Marx meinte, daß das historisch letzte Gegensatzpaar die Gruppe der Lohnarbeiter und die der Kapitalisten wäre. Die Grundlage für diesen „historisch letzten“ Unterschied und für den daraus folgenden letzten, aber dafür um so tieferen Konflikt sah er in der Institution des Privateigentums. Noch einmal Joseph A. Schumpeter: 16
Joseph A. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, 7. Aufl., Tübingen und Basel 1993 (zuerst: 1942), S. 34; Hervorhebungen nicht im Original.
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„Der eine Antagonismus, der kein Zufall, sondern dem Grundriß der kapitalistischen Gesellschaft inhärent ist, beruht auf der privaten Verfügung über die Produktionsmittel: die Beziehung zwischen der Kapitalistenklasse und dem Proletariat ist ihrer tiefsten Natur nach Streit, – Klassenkampf.“ (Ebd.; Hervorhebungen nicht im Original)
Und worin dieser Konflikt begründet ist, wird auch gleich einsichtig: Das Privateigentum ist, wenigstens in einer naiven Sichtweise des Onkel-DagobertKapitalismus, ein Gut, das nur verteilt, aber ohne Ausbeutung der Arbeitskraft der Lohnabhängigen nicht vermehrt werden kann: Was der eine bekommt, muß der andere hergeben. Es ist in dieser Sicht ein Positionsgut und erzeugt einen Kontrollkonflikt in Form eines Nullsummenkonfliktes (vgl. dazu schon Abschnitt 4.3). Und die Verfassung, auf der die gesamte gesellschaftliche Ordnung beruht, erzeugt einen noch wesentlich tiefergehenden, durch nichts zu bändigenden Interessenkonflikt darüber, welche soziale Produktionsfunktion bzw. welches primäre Zwischengut „gelten“ soll: Kapital oder Arbeit. Die zweite Vereinfachung war einerseits die unbesehene Übernahme einer sogar noch radikalisierten Variante der sog. Arbeitswertlehre, die Hypothese also, daß nur die Arbeitskraft gesellschaftliche Werte schaffen könnte; und andererseits die Vorstellung, daß es durch die besondere Konstruktion des Kapitalismus als Konkurrenzwirtschaft notwendig zur Ausbeutung und zur Verelendung der Lohnarbeiter kommen müsse und daß darüber bei ihnen ein immer stärker werdendes Interesse an einer Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse entstehen müsse. Denn: Die Kapitalisten haben – so Karl Marx – durch die Institution des Privateigentums das Recht, sich alle Werte, die die Lohnarbeiter schaffen, anzueignen. Aber sie können den Lohnarbeitern den ihnen „objektiv“ zustehenden Lohn immer weniger bezahlen, weil sie selbst immer mehr in das Räderwerk des Kapitalismus, in ruinöse Konkurrenz und Monopolabhängigkeit vor allem, geraten, deshalb immer mehr an „konstantem“ Kapital investieren müssen, dadurch aber, weil ja nur die Arbeit die Werte schafft, relativ immer weniger an Mehrwert und Profit abschöpfen können, von dem die Löhne bezahlt werden müssen. Dadurch geraten die Lohnarbeiter zwingend immer stärker in die Verelendung – und die Kapitalisten zum großen Teil selbst an den Rand ihrer eigenen Existenz. Und es verstärken sich so die Interessen, die bestehende gesellschaftliche Ordnung umzuwälzen. Das Ziel dieser Umwälzung ist auch klar: Wenn die Rechtsgrundlage des Privateigentums aufgegeben ist, dann fallen auch die historisch einzig noch denkbare Spaltung der Menschheit in Gruppen mit unterschiedlichen Interessen und die daraus entstehenden Zwänge und Entfremdungen fort. Die Menschheit wäre dann eine einzige, universale Interessengemeinschaft, in der jeder nach seinen Fähigkeiten und Bedürfnissen glücklich werden kann. Wie schön. Die dritte Vereinfachung: Je stärker das Interesse an einer solchen Umwäl-
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zung ist, und je größer die Masse der Menschen, die dieses Interesse haben, um so eher komme es zur Revolution und zur Überwindung der historisch letzten Klassenspaltung. Kurz: Die Spaltung der Gesellschaft in große antagonistische Klassen führe notwendig zur revolutionären Änderung der gesamten gesellschaftlichen Strukturen, weil sich der Klassenkonflikt wegen des unumgänglichen Falls der Profitrate und dessen Folgen immer weiter verschärft. Die Marxsche Gesellschaftstheorie ist ein exzellentes, wenngleich in manchen Annahmen drastisch falsches und daher auch in ihren Prognosen irreführendes Beispiel für ein abstrahierendes Modell einer soziologischen Erklärung in Form einer „Klassenanalyse“ der gesellschaftlichen Vorgänge gewesen. Das Explanandum ist die Überwindung des historisch letzten Klassenkonfliktes. Die grundlegende „Logik der Situation“, der Klassenkonflikt, aber natürlich auch die Akteure, ihr Handeln und ihre Verflechtungen in Aggregationen des Handelns spielen dabei die zentrale Rolle. Karl Marx hat mit seiner Gesellschaftstheorie eben keine „Makro“-Soziologie betrieben, sondern geht, wie das Modell der soziologischen Erklärung, davon aus, daß es nur die Menschen sind, die ihre Geschichte machen, wenngleich sie das stets auch nur unter vorgefundenen Umständen tun und mit Folgen ihres Handelns, die sie so oft nicht gewollt haben. Falsch waren bei dieser Modellierung, wie wir inzwischen wissen, etwa die Annahmen, daß die Arbeit der einzige Quell des Mehrwertes sei, daß es im Kapitalismus nicht zu Massenwohlstand kommen könne und daß mit der Abschaffung des Privateigentums alle Konflikte aus der Welt zu schaffen wären. Herausgestellt hat sich auch, daß ohne Privateigentum niemand mehr so richtig daran interessiert ist, „Mehrwert“ zu schaffen, weil jeder darauf wartet, daß es der andere tut, und jeder, der einseitig damit beginnt, die Ausbeutung durch Trittbrettfahrer fürchten muß. Auch hat Karl Marx drastisch unterschätzt, daß es alleine die Interessen nicht sind, die die Menschen zur Änderung der Verfassung einer Gesellschaft und zur Revolution der Rechtsordnung bringen (vgl. dazu auch noch ausführlich Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, Band 3, „Soziales Handeln“, und Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
Das aber waren so ziemlich die einzigen Fehler in der auf dem Konzept der Klassen, der Klasseninteressen und Klassengegensätze beruhenden Gesellschaftstheorie von Karl Marx. Sie haben zwar für das Scheitern seiner speziellen Gesellschaftstheorie ausgereicht. Die von ihm dabei zu Meisterschaft entwickelte und betriebene Methode der „Klassenanalyse“ ist dagegen nach wie vor, zumal dann in der Form einer expliziten soziologischen Erklärung, eines der wichtigsten und mächtigsten Instrumente der situationslogischen und damit soziologischen Analyse gesellschaftlicher Prozesse und Zusammenhänge – auch in den modernen Gesellschaften, in denen es „Klassen“ scheinbar nicht mehr gibt, wohl aber sicherlich soziale Kategorien von Akteuren mit Ähnlichkeiten in Interessen und Möglichkeiten.
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Register
Abstraktion, abnehmende 21f. Adjustierung 448ff. Affekte 318f. Aggregation Logik der 16ff., 401f., 405ff., 419 Aggregatpsychologie 419ff. Akrasia 307f., 312 Akteur(e) 37ff. Alltagstheorie(n) 205f. Alternative(n) 44, 251f. Analyse, institutionelle 25f. Andere(r), generalisierte(r) 47f. Anomia 172 Anomie 172 Anomie-Schema 489 Ansprüche 144 Auferlegtheit 282f. Aufmerksamkeit 326f., 332f. Axiom der Transitivität 298f. der Unabhängigkeit 299 der Vergleichbarkeit 298f. Bastardtheorien 455f. Baumfalke, der 473ff. Bedingungen 49f. äußere 36, 51ff., 67, 166 innere 54ff., 162f., 166 Bedürfnis(se) 92ff.,126f., 134 Hierarchie der 128f. Beeinflussung, soziale 454 Behaviorismus 182f. Neo- 183 Belohnung 361 Bestrafung 361 Bewertungen 44ff., 253f. Bewußtsein, moralisches 55 Bezugsgruppe 410f., 457ff. Bezugsrahmen 53f., 103f., 165f., 355
Bias Repräsentativitäts- 312 Verfügbarkeits- 312 Biographie 162 Brückenhypothesen 15f., 76f., 261f., 268f., 399f., 403ff., 481f. Budget 89 Chicago-Schule 34 Cleavages 113ff., 146 Code 69, 103, 161, 165f., 228 conditio humana 93f. Denken, prälogisches 218ff. Denkfehler 210 Differenzierung, funktionale 12 Dilemma, soziales 157 Distinktion 123 Drohungen 330f. Effekte Besitztums- 301f., 311 Certainty- 311f. Framing- 312, 305ff., 333ff., 349ff. Opportunitätskosten- 312 Referenzpunkt- 312 Sunk-Cost- 311 Effekte, unintendierte 25, 390f. Effektgesetz 370ff. Effizienz 39ff., 88, 90f., 99f. Ehre 115ff. Eigennutz 244f. Eigenschaften askriptive 140f. erworbene 140f. Einbettung, soziale 19f. Einstellung(en) 36, 48, 67f. Einstellung und Verhalten 59ff. Emergenz 413f. Emotionen 354f.
508 Erklärung, historische 208f. Modell der soziologischen 1, 14ff., 494 rationale 203f., 207ff. strukturtheoretische 23 Tiefen- 9, 22 verstehende 198f. Erleben 163f., 193 Erwartungen 44ff., 254ff. bei Ambiguität 255, 291f. bei Risiko 255, 264f., 289f. bei Sicherheit 254, 264f., 289f. bei Unsicherheit 255, 286ff., 290f. Ethnomethodologie 70 EU -Gewichte 256ff. -Theorie 342ff. EV -Gewichte 256 -Theorie 342ff. Evaluation 256 Evidenz 197f. Evolution 18 Extinktion 374 feasible set 44 Fehlschluß individualistischer 421f. Mehrebenen- 436 ökologischer 416, 441 Populations- 416, 440 Folgen, unintendierte 25, 390f. Frame, Framing 165, 173, 305ff., 333ff. Frustrations-Aggressions-Hypothese 188f. Funktionalismus, Strukturfunktionalismus 7 Geld 121 Gesetze, soziologische 399ff., 402 Gestalt 365 Grenzen des Wollens 308, 312 Gründe 209f. Güter 299 Positions- 146 Habitus 470ff. Handeln 40, 84ff., 177ff., 181, 190ff., 377ff. affektuelles 224ff. covertes 68, 164f., 178
Register dramaturgisches 239f. kommunikatives 239ff. kreatives 237f. normatives 235f. normenreguliertes 239f. overtes 165f., 178 rationales 296ff. richtigkeitsrationales 215 Routine- 327ff. situationsgerechtes 389f. soziales 167 strategisches 239f. subjektiv zweckrational rationales 215 teleologisches 239f. traditionales 224ff., 327 Typen des 224ff. wertrationales 224ff. zweckirrationales 215 zweckrationales 215, 224ff. Handlung 190ff. -slogik 201ff. -sstrom 190f. Handlungstheorie(n) 16, 403ff. Hempel-Oppenheim-Schema 204ff. Hermeneutik 213 doppelte 211ff. der natürlichen Lebenswelt 212f. objektive 203, 474 Hermeneutischer Zirkel 482 Herrschaft 141ff. Heuristik 227 Hexerei 221f. Homans-Hypothesen 183ff. homo oeconomicus 313ff. homo sociologicus 82ff. Idealtypen 478ff. Identifikation(en) 77ff., 82f., 452 Identität 54ff., 162f. Ich- 55, 138 soziale 55, 68 Ignoranz 321ff. Imitation 382ff. Individualisierung 12 Individualismus Methodologischer 27f. Strukturtheoretischer 27f.
Register Informationsökonomie 326f., 352f. suche 293 verarbeitung 229, 352f. Innovation 90f., 485ff. Institutionen 103f., 356 Integration 137, 146, 156ff. Intention(en) 181 Interaktion 167, 194 Interdependenz(en) 145f. Interesse(n) 37ff., 126ff., 130ff., 470ff. konstitutionelles 147f., 151, 466f. Kontroll- 147f. Internalisierung 132ff., 366f. Interpenetration 108ff. Interpretation 165, 206f. Kapital 44 generalisiertes 151f. kulturelles 123 spezifisches 151f. Karriere, kriminelle 34 Kategorie(n), soziale 399, 462f. Klasse(n) an sich 492 -analyse 464f., 483ff., 494 -bewußtsein 484, 490ff. für sich selbst 492 -handeln 483ff. -kampf 490ff. -konflikt 490ff. -lage 465f. soziale 159, 398f., 462ff., 468ff. Klassifikation empirische 475ff. gedankliche 476ff. natürliche 475ff. Klassisches Konditionieren 362ff., 365f. Knappheit(en) 106f., 234 Kognition 161, 163f. Kollektivismus 26f. Kommunikation 167 Konditionierung 134 Konflikt(e) 143, 145ff., 186 Appetenz-Appetenz- 278, 376 Appetenz-Aversions- 276f., 376 Aversions-Aversions- 277, 376 innere(r) 276ff., 375f. Interessen- 143, 148ff., 158f.
509 Konstantsummen- 147 Kontroll- 152ff., 158f. Nullsummen- 147 strukturelle(r) 113ff. Konformität 485f. Konstitution, soziale 167ff., 173 Konstruktion, erster Ordnung 211ff. gesellschaftliche ~ der Wirklichkeit 1f., 13, 167, 274f. zweiter Ordnung 211ff. Kontext(e) -analyse 426ff. -effekte 429ff., 446ff., 455f. Entstehung von ~n 456f. soziale(r) 415ff. Kontrolle 37ff., 113, 140ff. Kooperation 145ff., 157f. antagonistische 145, 147 Ko-Orientierung 167 Kosten 107, 186 Opportunitäts- 186, 278 Such- 330f. Kovarianztheorem 436ff. Kriminalität 483ff. Lage, soziale/gesellschaftliche 398ff., 462f. Lebensstil, Lebensführung 472 Leidenschaft(en) 131f. Lernen 180f., 359ff., 377ff. am Modell 384f. instrumentelles 367ff. latentes 379f. Lerngeschichte, Lernbiographie 185, 189, 366 Lerntheorie 189, 359ff., 376 Logik der Aggregation 16ff., 401f., 405ff., 419 der Selektion 16ff., 241ff. der Situation 4f., 16ff., 76f., 387ff., 399, 465ff. Macht 142f., 471f. Definitions- 155f. Makrosoziologie 5ff. Marginalprinzip 299ff., 317f., 326 Maxi-Max-Regel 289 Maximierung 258 Maxi-Min-Regel 288
510 maximizing 309f., 326f. Me 47f., 55, 681, 38 Mehrebenenanalyse 435ff. Mentalismus 182f. Merkmale/Eigenschaften absolute 444 analytische 443f. globale 444 individuelle 443f. von Individuen 444f. von Kollektiven 443f. komparative 445 kontextuelle 445 relationale 445 strukturelle 444 Merkmalsraum 477ff. Methode Regeln der soziologischen 10ff. soziologische 5f. Verfall der soziologischen 12ff. Migration, selektive 448ff. Mikrosoziologie 5, 9f. Milieu(s), soziale 452 Mittel 39ff., 49f. institutionalisierte 110ff., 484f. legitime 112, 487f. nicht-legitime/illegitime 112, 487f. Modell(e), des Handelns 228f., 356f. mentale(s) 102f., 161, 166 der Situation 228f., 356f. Modus 228f., 284ff., 356f. Moral 135 Motive, Um-zu- 209, 381 Weil- 381 Myopia 307f., 312 Nahumwelt 457ff. Netzwerk(e), egozentrierte(s) 460f. Nutzen 86, 92, 96f. -funktion 298f. -prinzip 295f. -produktion 84ff. -theorie 295ff. opinion leader 411 Opportunität(en), Opportunitätsstrukturen 44, 51ff, 107, 452f. Optimierung 230, 235 der Orientierung 241
Register Optimismus 288f. Orientierung(en) 46, 162, 164f., 171f., 230, 235, 452 normative 49f., 192, 232ff. Paradigma interpretatives 9 verhaltenstheoretisches 9 Paradox Allais- 302f. Ellsberg- 303f. St. Petersburg- 341f. Tocqueville- 406 Pessimismus 288f. Pfadabhängigkeit 396 Postmaterialismus 129f. Präferenz(en) 44, 366 -ordnung 297ff., 315ff. Preis(e) 89, 106f. Prestige 104, 123f. Primat Analytischer 14f. Theoretischer 14f. Privilegien 470ff. Produktionsfunktion(en) 87ff. soziale 85ff., 91ff., 261f., 392ff., 400, 462, 465ff. Produktionsverhältnisse 468f. Programm 103, 161, 165f., 193 genetisches 179f. Prospect Theory 345ff. Prozesse, soziale 17ff. Psychologismus 24ff. Rahmung 46, 61ff. (s. auch Frame, Framing) Rationalität begrenzte 69f., 230ff., 309ff., 322ff., 340ff., 350, 352ff. objektive 215ff. Zweck- 197ff., 244ff. Reaktions -differenzierung 373f. -generalisierung 373f. Recht(e) 104, 113, 119, 141, 471 institutionalisierte 144f. zugestandene 144f. Reduktion von Komplexität 292f. Regeln institutionelle 51ff. soziale 101f.
Register Reiz und Reaktion 360f. Repräsentation(en), kollektive 102f. Reproduktion biologische 93ff. funktionale 18 Reputation 115ff. Ressource(n) 37ff. Revolution 490ff. Risiko -freudigkeit 289 -scheu 274, 289 Ritualismus 133, 485, 488f. Rolle, soziale 77ff., 84 Rollentheorie 83 satisficing 309ff., 312, 326f. Schwellenwerte, Schwellenwertmodell 406ff Second-Order-Probabilities 290ff. Selbst 48, 137f. -verwirklichung 129f. -bild 94ff., 118 Selektion 68f. des Handelns 258f., 262f., 389f. Logik der 16ff., 241ff. Self-fulfilling Prophecy 2ff. SEU-Theorie 344f. Sinn 194f. autopoietischer 195 funktionaler 195 nomischer 195 objektiver 195 semantischer 194 sozialer 53, 101f., 171, 194 subjektiver 65f., 178, 194ff., 199, 248 -zusammenhang 195ff. Sinnlosigkeit, Problem der 8f. Situation 29ff., 49f. Definition der 3ff., 35ff., 46, 55f., 61ff, 66ff., 161ff., 388 elementares System der 37ff. gesellschaftliche Definition der 110ff. Grundmodell der 50ff. Logik der 4f., 16ff., 76f., 387ff., 399, 465ff. objektive Definition der 75ff., 81f., 399, 465ff. „richtige“ subjektive Definition der
511 101f. subjektive Definition der 61ff., 66ff., 166 Vorgeschichte der 162f. kollektive Definition der 167ff. Situationsanalyse 29ff., 32ff., 396f., 404, 483ff. Situationslogik 24ff., 387ff., 464f., 494 Situationsmethode 32ff. S-O-R-Theorie 183, 377f. Sozialisation 134 Sozialökologie 34 Sozialphilosophie 210 Soziologie Autonomie der 25f. verhaltenstheoretische 189f. Spannungen, strukturelle 113ff. S-R-Theorie 182, 377f. Staat 142 Stand, Stände 120, 462f. Stigma 117 Stimulus -differenzierung 372f. -generalisierung 372f. Struktur(en) soziale 22ff. Tiefen- 103f., 114 strukturelle Effekte 425f. strukturelle Scheineffekte 446ff. Strukturierung 22ff., 483ff. Survey-Forschung 422f., 424f. Syllogismus, praktischer 209 Symbole 165, 355, 365f. signifikante 47f., 51ff., 292 Status- 117f. Technik 141 Technologie 90f. Teleologie, materiale 209 Thomas-Theorem 59ff., 63ff., 170ff., 174f. Transformationsregeln 16 Tun, inneres 68f. Typen, Typologie 477f. Typenbildung Logik der 475ff. qualitative 480ff. Unbedingtheit 282f. Ungleichheit, soziale 265ff., 274f., 462f. unit act 49f., 232f.
512 Unterbrechung 355f. Unterschiede, feine 122f. Unvollständigkeit, Problem der 8f. Utilitarismus 295f., 313f. Variablen 399ff. Variablen-Soziologie 402f., 422f. Verfassung 103f., 114, 144f., 147 Verhalten 178ff. Vernunft, subjektive 295ff., 340ff. Versprechungen 330f. Verstärkung 368f., 371f. Löschungsresistenz bei intermittierender 375 sekundäre 364f. Verstehen 195ff., 263f. Wahrscheinlichkeit(en) 43 Wandel, sozialer 18 Wert(e) 36f., 44ff., 135f., 369 -wandel 129f., 138ff. Werterwartungs-Theorie, WE-Theorie 185, 247ff., 257f., 357f., 376, 386, 403ff. Grundmodell der 251ff. Wertschätzung, soziale 92ff., 117f. Wiedererkennung 355f. Wissen 44ff., 369 mythisches 221f. Wohlbefinden, physisches 92ff. X-Efficiency 310f. Zeitgeist 414 Ziel(e) 39ff., 49f. kulturelle 110ff., 485ff. Ober- 69 Zuschreibung(en) 192f. Zwang der guten Gelegenheit 280f. repressiver 279f. der zwanglose ~ des besseren Argumentes 281 Zwischengüter indirekte 105ff. primäre 97ff., 108, 111, 391f.
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