Soziologie
Hartmut Esser
Soziologie Spezielle Grundlagen
Band 3: Soziales Handeln
Campus Verlag Frankfurt/New York...
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Soziologie
Hartmut Esser
Soziologie Spezielle Grundlagen
Band 3: Soziales Handeln
Campus Verlag Frankfurt/New York
Soziologie Spezielle Grundlagen Band 1: Situationslogik und Handeln Band 2: Die Konstruktion der Gesellschaft Band 3: Soziales Handeln Band 4: Opportunitäten und Restriktionen Band 5: Institutionen Band 6: Sinn und Kultur
Hartmut Esser ist Professor für Soziologie und Wissenschaftslehre an der Universität Mannheim. Er ist Autor und Herausgeber zahlreicher Veröffentlichungen. Zuletzt erschien von ihm als Buch die „Soziologie. Allgemeine Gundlagen“(3. Aufl. 1999)
Impressum Satz: Cornelia Schneider und Thorsten Kneip
Inhalt
VII
Vorwort 1. 2.
Soziale Situationen Strategien und Spiele
1 25
Exkurs über das Spiel
51
3.
Strategische Situationen
55
3.1 Koordination 3.2 Soziale Dilemma-Situationen 3.3 Konflikte
59 72 90
4. 5.
6.
7.
Ordnungsbedarf Soziale Ordnung
109 117
5.1 5.2 5.3 5.4 5.5
118 127 134 148 160
Arbeitsteilung: die Ordnung der Interessen Der Krieg aller gegen alle Die Evolution der Kooperation Interesse und Moral Die Ordnung komplexer Gesellschaften
Kooperation und Produktion
165
6.1 Eigenschaften von Ressourcen 6.2 Güterarten 6.3 Gesellschaftliche Produktion
166 168 194
Kollektives Handeln
199
VI
Inhalt
Mehr als Archimedes
224
8.
Interaktion
227
8.1 Koorientierung
229
Exkurs über Thomas C. Schelling und die Klugheit der Frauen 8.2 Symbolische Interaktion 8.3 Kommunikation
239 243 247
Exkurs über die Frage, ob sich Kommunikationen als Kette von Handlungen rekonstruieren und erklären lassen
295
9. Soziale Beziehungen 10. Transaktion
299 305
10.1 10.2 10.3 10.4
Die Transaktion des Tausches Konvertibilität Die Transaktion von Rechten: Autorität und Einfluß Medien der Transaktion
308 330 334 338
Exkurs über ein immer noch ungelöstes Rätsel: Der Kula-Ring
346
11. Die Organisation desTausches
353
11.1 Der generalisierte Tausch 11.2 Reziprozität
353 364
Exkurs über das Verhältnis von Pflicht und Vernunft 11.3 Transaktionssysteme
372 376
12. Macht
385
Exkurs über die Frage, ob die Macht ein Medium ist
411
Literatur Register
415 423
Vorwort
In diesem Band 3 der „Speziellen Grundlagen“ geht es um das Konzept des sozialen Handelns. Grundlegend dafür ist der Begriff der „sozialen“ Situation. Eine soziale Situation ist eine solche, bei der die Akteure wechselseitig in Rechnung stellen (müssen), daß das Ergebnis ihres Tuns von den Absichten und Handlungen der anderen Akteure mitbestimmt ist und daß alle auch wissen, daß das so ist. Viele, auch sehr wichtige, soziologische Fragen lassen sich zwar auch schon ohne diese Annahme bearbeiten, wie etwa die Frage nach der Reproduktion von sozialen Ungleichheiten oder der Organisation von Rollensystemen. Der grundlegend „interaktive“ Charakter aller sozialen Prozesse wird dadurch aber keineswegs aufgehoben, und manche Vorgänge und zunächst paradox anmutende Abläufe werden erst dadurch verständlich, daß sie auch ausdrücklich als Ergebnis eines „sozialen“ Handelns rekonstruiert werden, wie das etwa für die Mobilisierung sozialer Bewegungen oder für Konflikte in Organisationen der Fall ist. Der Band beginnt – ausgehend vom elementaren System einer Situation und vom Begriff des Handelns allgemein, wie sie in Band 1, „Situationslogik und Handeln“ vorgestellt wurden – mit der Bestimmung des Konzeptes einer sozialen Situation, mit der Systematisierung des Begriffs des sozialen Handelns und mit einer Differenzierung der verschiedenen Varianten des sozialen Handelns (Kapitel 1). Zentral sind dabei die Konzepte der Interdependenz und der (doppelten) Kontingenz sowie die theoretische Unterscheidung von drei grundlegenden Typen des sozialen Handelns: strategisches Handeln, Interaktion und soziale Beziehung. Die danach folgenden Kapitel gehen diese drei Typen des sozialen Handelns systemastisch durch: Die Kapitel 1 bis 7 behandeln insbesondere das strategische Handeln, Kapitel 8 die Interaktion und Kapitel 9 die sozialen Beziehungen. Die Kapitel 10 bis 12 benutzen dann die zuvor dargestellten Einzelheiten zur Darstellung des empirisch wohl wichtigsten Falles des sozialen Handelns: der sog. Transaktion als „Tausch“ von Gütern und Ressourcen. Die Besprechung der verschiedenen Varianten und Aspekte des strategischen Handelns nimmt deshalb den größten Raum ein, weil dabei viele Einzelheiten auch etwas ausführlicher zu behandeln sind, die bisher in der „strukturellen“, „normativen“ oder „symbolisch-interaktiven“, ganz zu
VIII
Vorwort
schweigen von der „system-theoretischen“ Soziologie kaum, wenn überhaupt, rezipiert worden sind, gleichwohl aber für die Analyse vieler sozialer Prozesse unentbehrlich sind, wie etwa die Grundkonzepte der Spieltheorie. Nach dem einleitenden Kapitel 1 werden in Kapitel 2 die wichtigsten Einzelheiten der sog. Spieltheorie dargestellt, dem wohl wichtigsten theoretischen Instrument für die Analyse des strategischen Handelns von Akteuren. Daran schließt sich eine Systematisierung der wichtigsten Typen strategischer sozialer Situationen an, aus denen sich ein jeweils typischer Ordnungsbedarf ergibt (Kapitel 3 und 4): Koordination, soziale Dilemma-Situationen und Konflikte mit ihrem Bedarf nach „konventionellen“, „essentiellen“ resp. „repressiven“ Regelungen. Eine (noch) ausschließlich mit den Prämissen des strategischen Handelns operierende Lösung des Problems der sozialen Ordnung wird in Kapitel 5 ausführlich besprochen – die sog. Evolution der Kooperation. In diesem Zusammenhang wird auch dargestellt, wie man sich den Übergang einer noch bloß an Interessen orientierten „Praxis“ der Kooperation zu einer auch schon „moralisch“ getönten Ethik oder kollektiven Solidarität erklären könnte. Erst in den noch folgenden Bänden, insbesondere in Band 5 über „Institutionen“ und Band 6 über „Sinn und Kultur“ wird jedoch dieses Problem genauer behandelt werden können. An Kapitel 5 anschließend geht es, die Ergebnisse der Kapitel vorher aufgreifend, um die Frage der Bedingungen für die „gesellschaftliche“ Produktion bestimmter Güter, wobei die Differenzierung verschiedener Arten von Ressourcen und Gütern im Mittelpunkt steht: Privatgüter, Kollektivgüter und Positionsgüter. Den Abschluß der Behandlung des strategischen Handelns bildet das Kapitel 7 über das Problem des „kollektiven“ Handelns als einem wichtigen Spezialfall des strategischen Handelns, der besonders für die Frage nach den Bedingungen der Bereitstellung kollektiver Güter und der Mobilisierung und Organisation kollektiver Aktionen und Bewegungen typisch ist. Zum Schluß dieses Kapitels werden – vor dem Hintergrund der Besonderheiten eines „nur“ strategischen Handelns – auch einige „strukturelle“ Bedingungen der Entstehung und Stabilisierung sozialer Ordnung alleine bereits aus den Interessen der Akteure angesprochen. Beim strategischen Handeln sind die Interessen der Akteure die zentrale Grundlage des Geschehens. Die symbolischen und mit dem kulturellen Wissen der Akteure verbundenen Prozesse des wechselseitigen Tuns in sozialen Situationen werden – in Abgrenzung zum „bloß“ strategischen und zum normativ gesteuerten Handeln in sozialen Situationen – zusammenfassend als Interaktion bezeichnet. Das Kapitel 8 widmet sich vor diesem Hintergrund insbesondere der Differenzierung solcher Prozesse der Interaktion, und zwar in Vorgänge der rein gedanklichen, der durch Symbole und Gesten und der durch gewisse, in ihrer Bedeutung explizit festgelegten, „Medien“ gesteuerten Interaktion: Koorientierung, symbolische Interaktion und das weite Feld der
Vorwort
IX
Kommunikation. Alle diese Vorgänge werden im Prinzip als aneinander anschließende „Ketten“ von aufeinander bezogenen, über gemeinsames Wissen miteinander verschränkten und aufeinander reagierenden Akten individueller Akteure rekonstruiert und dabei theoretisch über das Modell der WertErwartungstheorie erklärt. Das gilt auch für den Fall der Kommunikation. Es ist in diesem Zusammenhang unumgänglich, die Verbindungen und die Unterschiede zur derzeit wohl einflußreichsten Konzeption der Kommunikation, der von Niklas Luhmann nämlich, aufzuzeigen. Daß dabei eine explizit „handlungstheoretische“ Rekonstruktion des „Prozessierens“ sozialer Systeme und der soziologischen Systemtheorie herauskam, war ein nicht unbeabsichtigtes Nebenergebnis. Soziale Beziehungen sind, im Anschluß an Max Weber, über normative „Einstellungen“ geregelte Interaktionen. Weil es dazu an dieser Stelle nicht sehr viel mehr zu sagen gibt, ist das Kapitel 9 nur sehr kurz. Alles Weitere dazu wird in Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“ und dort insbesondere im Zusammenhang sozialer Rollen und sozialer Drehbücher anzusprechen sein. In Transaktionen geht es um die Verteilung von zuvor produzierten Gütern und Ressourcen, und der wichtigste Fall solcher Transaktionen ist der Tausch. Transaktionen bilden, neben der (kollektiven) Produktion von Gütern und Ressourcen, die Grundlage der Reproduktion von Mensch und Gesellschaft. Bei den konkreten Tauschakten sind im Prinzip, wenngleich in unterschiedlicher Gewichtung, alle drei theoretischen Grundformen des sozialen Handelns beteiligt. In Kapitel 10 geht es dann um den elementaren Fall einer derartigen Transaktion: den Tausch von Gütern zwischen zwei Akteuren. Dabei zeigt sich, daß schon der elementare Tausch ein an sich äußerst „unwahrscheinlicher“ Fall ist und daß alle Probleme und „Dilemmata“ des strategischen Handelns hierauf auch schon zutreffen. Kapitel 11 behandelt vor diesem Hintergrund dann die empirisch meist zu beobachetenden Formen einer institutionellen, kulturellen und teilweise sogar „moralischen“ Organisation von Transaktionen, also in ganzen Tausch-„Systemen“. Hier werden insbesondere die verschiedenen Konzepte des generalisierten Tausches, das Prinzip des Commitments und die Norm der Reziprozität bedeutsam. Auch diese Vorgänge werden als, wenngleich so meist nicht intendiertes, Ergebnis des im Prinzip interesse- und wissengeleiteten Handelns von Akteuren erklärt, wobei insbesondere die Einzelheiten zur Erklärung der Evolution der Kooperation aus Kapitel 3 bedeutsam werden. In zwei Exkursen, einer über den sog. Kula-Ring und einer über das Verhältnis von Pflicht und Vernunft, wird die handlungstheoretische Verankerung auch der „archaischen“ Formen der Transaktion an Fällen erläutert, die eigentlich als Anomalien dieser Sichtweise gehandelt werden.
X
Vorwort
Den Abschluß des Bandes bildet das Kapitel 12 über das für die Soziologie zentrale Konzept der Macht. Der Grund für diese Plazierung ist leicht zu nennen: Die „Macht“ eines Akteurs über einen anderen besteht aus nichts anderem als aus dem Verhältnis von Interesse und Kontrolle, das sie wechselseitig bei ihren Transaktionen haben: Wer über mehr und interessantere Ressourcen verfügt, kann, in gewissen und durch die Transaktionstheorie angebbaren Grenzen natürlich, bestimmen, was der andere tut. In diesem Zusammenhang wird dann auch verständlich, daß die Macht ein Phänomen ist, das nur vor dem Hintergrund sozialer Situationen und der Einbettung der Akteure in ganze Systeme von (Transaktions-)Beziehungen angemessen verstanden werden kann: Macht ist als „absolute“ Eigenschaft nicht denkbar, und allein deshalb kann es „absolute“ Macht (und Herrschaft) nicht geben. Ein kurzer Exkurs zur Frage, ob die Macht auch ein „Medium“ ist, wie die herkömmliche Soziologie teilweise bis heute annimmt, beschließt den Band. Auch der Band 3 kann im Prinzip allein und für sich gelesen werden, wenngleich auch diesmal die Lektüre der anderen Bände der „Grundlagen“ gewiß nicht schadet. Anzuraten wäre jedoch, sich zuvor wenigstens die Einzelheiten des Konzeptes einer elementaren Situation und die der WertErwartungstheorie aus Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ etwas genauer anzusehen. Die Fortsetzung der „Speziellen Grundlagen“ ist nach diesem Band über das soziale Handeln eine folgerichtige Angelegenheit. Sie folgt den drei grundlegenden Bestandteilen aller – sozialen wie nicht-sozialen – Situationen: „Opportunitäten und Restriktionen“ in Band 4, „Institutionen“ in Band 5 und „Sinn und Kultur“ in Band 6. Die Grundlagen zur Besprechung dieser Dinge sind mit den jetzt vorliegenden drei Bänden der „Speziellen Grundlagen“ jedenfalls vorhanden. Ich widme diesen Band Alphons Silbermann, dem ich gerne das komplette Werk über die Grundlagen der Soziologie überreicht hätte. Hartmut Esser
Mannheim, im März 2000
Kapitel 1
Soziale Situationen
Wenn ein Angler sich durch dichtes Brombeergestrüpp hindurch einen schattigen Platz an einem Teich sucht, dann tut er das, weil ihm das Angeln Freude macht, weil er sich gerne in den Besitz einer möglichst reichen Beute bringen will und weil – seiner Meinung nach – an einer schattigen Stelle die Aussichten auf das Anbeißen der Fische besser sind. Die Fische wissen dabei – so wollen wir jedenfalls annehmen – von dem Angler und seinen egoistischen, räuberischen und fischeverachtenden Absichten nichts. Und der Angler muß für den Erfolg seines Tuns nicht beachten, daß die Fische in Rechnung stellen könnten, er wäre hinter ihnen her. Er weiß, daß sie so schlau nicht sind. Er muß nur etwas vorsichtig sein und darf sie durch das Knacken im Gebüsch nicht verschrecken. Parametrische und soziale Situationen Der Angler befindet sich in einer zwar besonderen, aber keineswegs seltenen Art von Situation. Er hat es nur mit widerspenstigen Brombeerbüschen, mit dem stummen Teich und mit den dummen Fischen zu tun. Es gibt keine anderen Akteure, die auf ihn, seine Absichten und sein Tun selbst als sinnhaft handelnde Subjekte reagieren. Der Angler spielt – so könnte man sagen – sein Spiel nur gegen die Natur. Das wäre anders, wenn dem Angler jemand gefolgt wäre, der ihm den schönen Platz streitig machen wollte. Aber es ist weit und breit niemand zu sehen und auch nicht zu erwarten. Einen Angelschein hat unser Angler auch, so daß kein Kontrolleur zu fürchten ist, vor dem er sich vorzusehen hätte. Solche Situationen, in denen ein Akteur sein Handeln nicht auf andere Akteure ausrichtet, die ihn ebenfalls als handelnden Akteur beachten, werden auch als parametrische Situationen bezeichnet.
2
Soziales Handeln
Viele wichtige soziologische Fragen lassen sich bereits auf der Grundlage der Annahme beantworten, daß die Akteure nur nicht-soziale Objekte und eben keine Subjekte vor sich haben, daß sie nur einfache Wahrscheinlichkeiten und die damit verbundenen Auszahlungen bedenken müssen, und daß sie es – wie der Angler mit den Fischen am schattigen Ufer – lediglich mit der Natur zu tun haben, die keinerlei Notiz davon nimmt, was der Akteur gerade plant. Oft genug verhält sich die umgebende Gesellschaft der Menschen auch nicht anders als die Fische im Teich: Ihr ist der einzelne Akteur ziemlich gleichgültig. Anders gesagt: Die Menschen beachten sich häufig gegenseitig auch nicht als „Subjekte“, sondern als bloße „Objekte“ ihrer individuellen und einsamen Entscheidungen.
Nicht selten sieht die Situation aber ganz anders aus. Dann machen sich die Menschen wechselseitig Gedanken, was der jeweils andere jetzt wohl denkt und in Antizipation des Tuns des anderen dann tun wird – und sie richten ihr Handeln danach aus. Sie sind gegenseitig füreinander eine besondere Art Umgebung: keine ansonsten interessenlose Natur, sondern eine reflexionsund handlungsfähige Umgebung, eine soziale Umgebung. Situationen, in denen mehrere Akteure als handelnde Subjekte vorkommen, die aufeinander reagieren und in Rechnung stellen, daß sie voneinander wissen, werden allgemein soziale Situationen genannt.1 Soziale Situationen verändern die Umstände, unter denen gehandelt wird, und die Folgen des Tuns grundsätzlich, wie wir noch sehen werden. Das System einer sozialen Situation In sozialen Situationen handeln mindestens zwei Akteure. Der eine Akteur sei als Ego bezeichnet, der andere als Alter. Ego handelt immer in Bezug auf Alter – und umgekehrt. Alter ist dabei natürlich auch selbst ein „Ego“, das Ego wiederum als „Alter“ hat. Beide, Ego wie Alter, sind – ganz wie in den einfachen parametrischen Situationen – an bestimmten Ressourcen interessiert. Anders als in den parametrischen Situationen sind soziale Situationen aber solche, bei denen die Akteure nicht mehr allein kontrollieren, was sie interessiert und was das Ergebnis ihres Handelns ist. Und folglich sind nicht nur die Bewertungen und Erwartungen eines Akteurs für das Handeln bedeutsam, sondern die Bewertungen und Erwartungen auch des jeweils anderen Akteurs. Genau dies konstituiert eine soziale Situation. Nun erst mutiert für Ego ein anderer Akteur vom nicht-sozialen Objekt zu einem Alter als Subjekt. Beispielsweise:
1
Vgl. zur Unterscheidung von parametrischen und sozialen Situationen: Thomas Voss, Rationale Akteure und soziale Institutionen. Beitrag zu einer endogenen Theorie des sozialen Tauschs, München 1985, S. 4f.
4
Soziales Handeln
Ressourcen 1 und 2 dann i11, i12, c11, c12, i21, i22, c21 und c22. Je nach der Verteilung dieser Beziehungen ergeben sich andere Formen einer sozialen Situation. Und je nach dieser Verteilung drängt sich den Menschen ein anderes Handeln auf (siehe dazu gleich unten mehr). Das Modell des Systems einer sozialen Situation macht mit einer Annahme ernst, die die meisten Menschen nur schwer wahrhaben wollen: Sie interessieren sich füreinander – letztlich – nur insoweit als sie gegenseitig Ressourcen kontrollieren, die sie selbst interessieren. Beziehungen zwischen den Menschen entstehen also nur indirekt – über die Ressourcen in der Situation. Für den Menschen „an sich“ interessiert sich kein Schwein. Glauben Sie das ruhig! Es ist, leider, so. Auch die Liebe richtet sich ja nicht auf jedermann oder jedefrau und ist – entgegen allen Verklärungen in Schlagertexten und den Träumereien der Kommunitaristen – nicht bedingungslos. Das schon gar nicht. Soziales Handeln Das Handeln in sozialen Situationen ist ein soziales Handeln. Wieder stammt die hierzu einschlägige allgemeine Definition von Max Weber: „‚Soziales‘ Handeln aber soll ein solches Handeln heißen, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist.“3
Soziales Handeln wäre danach beispielsweise: Ich möchte an einem Fahrstuhl einem entgegenkommenden Kollegen ausweichen. Der scheint – aus meiner Sicht – rechts an mir vorbei zu wollen. Also halte ich nach links. Aber was tut der? Er schwenkt auch nach links. Und schon ist es geschehen. Und warum? Die Antwort liegt auf der Hand: Weil ich nicht alleine unter Kontrolle habe, was das Ergebnis meines Handelns ist. Ob wir aneinander vorbeikommen oder nicht, ist also keine Frage von rechts oder links oder der individuellen Interessen und Möglichkeiten alleine, sondern auch davon, was der andere jeweils plant und tatsächlich tut. Soziales Handeln beruht also darauf, daß sich die Akteure wechselseitig in Rechnung stellen und sich in den Erwartungen und Bewertungen gegenseitig beachten – so wie wir dies oben für das System einer sozialen Situation beschrieben haben. Nur „gleichmäßiges“ oder nur „beeinflußtes“ oder nur zufällig „soziales“ Handeln ist kein soziales Handeln. Als Beispiele für derartiges nicht-soziales Handeln nennt Max Weber das gleichzeitige Aufspannen von 3
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5. Aufl., Tübingen 1972 (zuerst: 1922), S. 1; Hervorhebung im Original.
Soziale Situationen
5
Regenschirmen einer Menge von Menschen, die sich alle nur individuell gegen einen einsetzenden Regen schützen wollen; die Beeinflussung des Verhaltens der unverbundenen Massen durch die Medien – „z.B. durch Vermittlung der Presse“ wie Max Weber meinte; oder den zufälligen Zusammenprall zweier Radfahrer, die sich in schlichter Unaufmerksamkeit über den Haufen gefahren haben. Wohl aber wären „ ... die auf den Zusammenprall folgende Schimpferei, Prügelei oder friedliche Erörterung ‚soziales Handeln‘.“ (Weber 1972, S. 11)
Die „anderen“ Akteure beim sozialen Handeln können konkrete einzelne und dem Handelnden bekannte Personen, aber auch „unbestimmt Viele und ganz Unbekannte“ sein, wie Max Weber ergänzte oder generalisierte Andere im Sinne von George Herbert Mead. Für das soziale Handeln reicht es auch aus, daß die Anderen nur vorgestellt, reine Phantasieprodukte oder Aggregate einzelner Akteure bzw. komplette soziale Gebilde oder Prozesse sind: strafende Götter, die „Geschichte“ oder das „Deutsche Volk“, die „Öffentliche Meinung“ oder die „Französische Revolution“, ZUMA oder die Fakultät, das Finanzministerium oder das Literarische Quartett zum Beispiel. Das ist eigentlich selbstverständlich, wenn man verstanden hat, daß es beim Handeln nur auf den „subjektiven“ Sinn ankommt. Und der kann von allen möglichen „Subjekten“ bevölkert sein, die es „objektiv“ vielleicht gar nicht als Subjekte gibt, die der Akteur aber bei seinem Tun als in seiner Vorstellung eigenständig handelnde Akteure beachtet. Das soziale Handeln ist – im Prinzip, wenngleich keineswegs empirisch – der Regelfall des gesellschaftlichen Alltags. Fast immer haben es die Menschen mit anderen Menschen zu tun, die auch Interessen haben, Ressourcen kontrollieren oder kontrollieren wollen und darauf achten, was die anderen Akteure jeweils tun. Manche höchst interessanten Ressourcen sind anders als in sozialen Situationen gar nicht zu bekommen. Konflikt und Kooperation, Spaltung und Integration gäbe es unter den Menschen nicht, wenn alle Situationen parametrisch wären. Das Leben wäre ein einziger Supermarkt, und die Menschen lebten wie die (blauen) Ameisen. Es wäre tödlich und langweilig und vermutlich beides zugleich. Komplexität und (doppelte) Kontingenz Mit zwei Akteuren und zwei Ressourcen hat die Situation ohne Zweifel an Komplexität zugenommen. Unter Komplexität werden – ganz allgemein – die Vielzahl und/oder die Unterschiedlichkeit der Handlungsalternativen und Handlungsfolgen sowie die Risiken bzw. die Unsicherheit der Handlungsfolgen, kurz: der Grad der Vielschichtigkeit, der Intransparenz und der Unübersichtlichkeit einer Situation, verstanden. Aber auch parametrische Situationen können schon sehr komplex werden: Wenn es viele Folgen zu bedenken gilt
6
Soziales Handeln
und viele unterschiedliche Erwartungen und Bewertungen zu kalkulieren sind, dann wird die Sache auch für den einsamen Akteur in seinem Spiel gegen die Natur rasch unübersichtlich – und er vereinfacht sie sich deshalb nach den Regeln seiner bounded rationality. Der eigentliche Unterschied zwischen einer parametrischen Situation und einer sozialen Situation liegt an etwas anderem: Bei sozialen Situationen sind die Folgen einer Handlung grundsätzlich auch von den Überlegungen und Handlungen anderer Akteure abhängig: Wenn ich die Verkehrsprognosen der Polizei zum Wochenende höre und dennoch Samstags losfahre, weil ich annehme, daß niemand so dumm sein wird, im Stau stehen zu wollen, dann hängt das Ergebnis davon ab, ob die anderen Autofahrer sich das Gleiche überlegt haben – oder nicht. Die Besonderheit einer sozialen Situation ist ja die, daß die Akteure jetzt nicht mehr jeweils alleine die Kontrolle über eine bestimmte Ressource haben. Und sie interessieren sich – unter Umständen – beide für die gleiche Ressource oder kontrollieren gerade das, was den jeweils anderen interessiert. Das Fremdwort für „Abhängigkeit“ heißt Kontingenz. Kontingenz des Handelns heißt: Es ist in seinem Erfolg von der Richtigkeit der Erwartungen abhängig. In parametrischen Situationen ist die Kontingenz des Handelns einfach, weil das Ergebnis nur von den Überlegungen und dem Tun des einen Akteurs abhängig ist. In sozialen Situationen und beim sozialen Handeln gibt es dagegen typischerweise eine doppelte Kontingenz: Das Eintreten einer bestimmten Folge des Handelns ist auch von den Erwartungen, Bewertungen und Entscheidungen anderer Akteure abhängig. Es gibt beim sozialen Handeln in sozialen Situationen ja immer nur wechselseitig bedingte Folgen: Wenn Du – von mir aus gesehen – rechts an mir vorbei gehst, und wenn ich mich links halte, dann stoßen wir nicht zusammen; andernfalls – Zusammenprall, Beschimpfung, Schlägerei, vielleicht sogar: Prozeß am Hals. Also: „There is a double contingency inherent in interaction. On the one hand, ego’s gratifications are contingent on his selection among available alternatives. But in turn, alter’s reaction will be contingent on ego’s selection and will result from a complementary selection on alter’s part.“ (Parsons, Shils, Allport, u.a. 1954, S. 16; Hervorhebung so nicht im Original.)
Die doppelte Kontingenz ergibt sich aus zwei Besonderheiten sozialer Situationen: Erstens ist jeder der Akteure sowohl handelnder Agent wie selbst Objekt der Orientierung. Als handelnde Agenten orientieren sich Ego wie Alter sowohl an sich selbst wie an dem jeweils anderen. Und sie haben zweitens als Objekte der Orientierung – für sich selbst wie für den anderen – jeweils eine bestimmte Bedeutung. Nämlich:
8
Soziales Handeln
Leicht läßt sich ausmalen, daß es mit der doppelten Kontingenz des Handelns für die Menschen erst richtig spannend wird – und für die Soziologen schwierig und herausfordernd. Für die sozialen Situationen lassen sich nahezu beliebige Komplexitäten in den – doppelten und ferner beliebig multiplen – Kontingenzen des Handelns ausdenken. Die Soziologie befaßt sich eigentlich nur damit, wie es trotz der unfaßbaren Unwahrscheinlichkeiten einer verläßlichen Abstimmung in sozialen Situationen dennoch meist nahezu mühelos gelingt, daß Ordnung und Struktur – auch noch in den tödlichsten Konflikten der Menschen – vorherrschen. Anarchie ist meist ein mühseliges und teures und schließlich armseliges Unternehmen. Rasch suchen die Menschen dringlich einen Ausweg aus dem Chaos und nach einer deutlichen Reduktion der Komplexität und Kontingenz in ihrer zu unübersichtlich gewordenen sozialen Situation. Und meist finden sie ihn auch ohne große Mühe. Komplexität und Kontingenz verschärfen ohne Zweifel das Problem der Selektion des Handelns, gerade vor dem Hintergrund der Weltoffenheit und der bounded rationality des Menschen: Wenn das Handeln fest programmiert wäre, dann könnte es „soziale“ Situationen letztlich nicht geben: Ameisenstaaten funktionieren, weil die Ameisen so programmiert sind. Bei Menschen ist das anders. Sie können wissen, was sie tun, aber sie können nicht alles wissen. Wenn die Akteure wirklich „perfekt“ informiert wären, dann wüßten sie zwar auch genau über die „bedingten“ Folgen in sozialen Situationen Bescheid und könnten danach getrost ihr Handeln selegieren. Menschliches Handeln ist aber weder fixiert noch perfekt informiert. Woran aber soll es sich angesichts der Unsicherheiten und Bedingtheiten der sozialen Situationen halten? Strukturelle Verbundenheit Soziale Situationen entstehen aber auch nicht ohne Grund. Darauf hatten wir oben bereits hingewiesen: Beachtung finden die anderen Menschen erst dann, wenn sie für das eigene Handeln wichtig werden. Und das werden sie erst dann, wenn sie Kontrolle über interessante Ressourcen haben. Erst diese Verbundenheit über die gegenseitige Kontrolle interessanter Ressourcen erzeugt den Hintergrund für das soziale Handeln. Solche Verbundenheiten lassen sich über typische Kombinationen der acht möglichen Beziehungen im Modell der einfachen sozialen Situation in Abbildung 1.1 darstellen. Drei dieser Typen struktureller Verbundheit sind besonders wichtig: Autonomie, Dependenz und Interdependenz.
Soziale Situationen
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Autonomie und Dependenz Der einfachste Fall der Beziehung eines Akteurs zu einer Ressource – und darüber zu anderen Akteuren – ist der, daß die Akteure jeweils alle die Ressourcen kontrollieren, die sie gerade interessieren. Dies ist beispielsweise beim ganz privaten Konsum von Gütern der Fall. Diese Konstellation ist die Autonomie. Ein Beispiel dafür wäre im Modell der elementaren sozialen Situation die Kombination i11-c11-i22-c22. Alle anderen Akteurs-RessourcenBeziehungen seien null. Der Akteur 1 kontrolliert die Ressource 1 und interessiert sich nur dafür. Und entsprechendes gilt für den Akteur 2 in Bezug auf die Ressource 2. Das Gegenstück zur Autonomie ist die – einseitige und komplette – Abhängigkeit des einen Akteurs von dem anderen: Ein Akteur kontrolliert alle die Ressourcen, die den anderen Akteur interessieren, unabhängig davon wie, sein eigenes Interesse an diesen Ressourcen ist. Die diesem Fall entsprechende Kombination einer vollständigen Dependenz des Akteurs 2 vom Akteur 1 wäre c11-c12-i21-i22: Akteur 1 kontrolliert alleine beide Ressourcen, für die sich nur der Akteur 2 interessiert. Der Gegenbegriff zur Dependenz ist der der Macht. Macht ist – so hatten wir in Kapitel 4 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ mit Max Weber schon erfahren – eine „jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen“, die eigenen Interessen also, „durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.“ (Weber 1972, S. 28) Sofort wird aber auch sichtbar, worauf diese „Chance“ beruht: nicht allein auf der Kontrolle einer Ressource, sondern gleichzeitig und unvermeidlich auf dem Interesse des jeweils anderen Akteurs daran. Das ist bei einem Galeerensträfling – etwa – das Interesse, weiterzuleben. Nur solange es dieses Interesse gibt, wird er sich fügen und weiterrudern (vgl. dazu insgesamt noch ausführlich Kapitel 10 und 12 in diesem Band).
In unserem Fall hätte der Akteur 1 vollständige Macht über den Akteur 2: Er kontrolliert alles, was den Akteur 2 interessiert, aber Akteur 2 hat nichts unter Kontrolle, was den Akteur 1 interessiert. Interdependenz Autonomie und Dependenz sind – auch als „soziale“ Situationen und auch bei aller Verwiesenheit der Akteure aufeinander – zwei Formen einer durchaus immer noch sehr „asozialen“ Beziehung zwischen Akteuren: Im ersten Fall brauchen sie einander nicht. Im zweiten Fall ist der dependente Akteur für den überlegenen Akteur im Prinzip uninteressant, weil der nichts kontrolliert, was ihn selbst interessiert. Fast könnte man, wenn es nicht begrifflich widersprüchlich wäre, von einer parametrischen sozialen Situation sprechen. Auch
Soziale Situationen
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dependenz erzeugt aus einem bloßen Aggregat von Akteuren ein soziales System einer materiell und damit objektiv und strukturell begründeten Verbundenheit: „What makes a social system, in contrast to a set of individuals independently exercising their control over activities to satisfy their interests, is a simple structural fact: Actors are not fully in control of the activities that can satisfy their interests, but find some of those activities partially or wholly under the control of other actors.“5
Warum die materielle Interdependenz so nachhaltig wirkt, wird unmittelbar einsichtig, wenn man sich in die Situation der so verbundenen Akteure hineinversetzt. Sie entwickeln ein aus der Konstellation abgeleitetes eigenes Interesse: Wie ausgesprochen nützlich wäre es wohl, jetzt Kontakt aufzunehmen und den jeweils anderen zu ersuchen, die wechselseitig interessierenden, aber nicht kontrollierten Ressourcen zu tauschen? Das Interesse und die alleine nur unzureichende Kontrolle über die Ressourcen bringt die Menschen bei Interdependenz zusammen und erzeugt bei ihnen ein neues Motiv: das Motiv zum Austausch der Güter und Ressourcen. Die wechselseitigen Akte zum Austausch interessanter Ressourcen werden allgemein auch als Transaktionen bezeichnet: „Thus pursuit of one’s interests in such a structure necessarily requires that one engage in transactions of some type with other actors.“ (Ebd.)
Mit der Abwicklung solcher Transaktionen tun die Menschen dann schließlich auch Dinge, die weit über den Tausch materieller Güter hinausgehen. Alles hängt aber an der „materiellen Basis“: an den Interdependenzen der Akteure und ihrer damit gegebenen Macht übereinander (vgl. dazu noch Kapitel 12 in diesem Band ausführlich). Externe Effekte und die ungeplante Entstehung von neuen Verbundenheiten: ein Beispiel Mit dieser Überlegung wird auch erklärbar, warum mit wachsendem Wohlstand die Menschen – nach allem, was die Umfragen zeigen – einsamer werden: Wenn sich die Menschen materiell nicht mehr brauchen, etwa weil es die Pflegeversicherung und den guten und krisensicheren Job gibt, dann verlieren sie das „materielle“ Interesse aneinander – und gehen dann eben alleine zum Bowling oder verkriechen sich alleine vor der Glotze, wo sie sich zuvor für 5
James S. Coleman, Foundations of Social Theory, Cambridge, Mass., und London 1990, S. 29; Hervorhebungen nicht im Original.
12
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für die Familie oder den Kirchenvorstand aufgeopfert haben. Besondere „Transaktionen“ haben sie dann nicht mehr nötig – und wissen nicht, was ihnen dabei alles entgeht. Manchmal entstehen Interdependenzen und das Interesse an gewissen Transaktionen und gemeinschaftlichen Initiativen aber ganz ungeplant auch in einer Welt der Vereinzelung wieder. Betrachten wir dazu den folgenden einfachen Fall. Der Akteur 1 sei ein Unternehmen, das ein bestimmtes Produkt – die Ressource 1 – zur Erzielung von wirtschaftlichen Gewinnen auf einem Markt produziert. Also: Akteur 1 hat Interesse und Kontrolle über die Ressource 1. Der Akteur 2 sei die Bevölkerung der Gemeinde, in deren Umgebung das Unternehmen tätig ist. Die Familien der Gemeinde leben – so wollen wir annehmen – ganz isoliert für sich in ihren jeweiligen Eigenheimen mit Rasen, Cockerspaniel, zwei netten Kindern und dem ganzen Frust der grünen Hölle der gutbürgerlichen Vereinzelung. Die Ressource 2 sei eine intakte Umwelt, ein Zustand an dem die Bevölkerung der Gemeinde ein massives Interesse habe und der – so wie die Dinge einstweilen liegen – scheinbar auch unter ihrer Kontrolle steht. Die entsprechenden Relationen lassen sich über die Kombination i11-c11-i22-c22 beschreiben. Die Akteure sind bzw. fühlen sich autonom und interessieren sich deshalb einstweilen füreinander nicht weiter. Nun verändere der Akteur 1 die Produktionsweise seines Betriebes – etwa durch eine massive Ausweitung der Produktion. Diese technisch bedingte Veränderung bewirkt, daß – möglicherweise ganz ohne Absicht des Akteurs 1 – offenbar wird, daß der Akteur 2 tatsächlich keine Kontrolle über die Ressource 2 hat, sondern daß diese Kontrolle alleine der Akteur 2 innehat: Die Umwelt der Bevölkerung der Gemeinde leidet nachhaltig unter der Produktionsausweitung. Solche Wirkungen des Handelns eines Akteurs auf die Kontrolle der Ressourcen, die andere Akteure interessieren, werden auch als externe Effekte bezeichnet (vgl. dazu u.a. noch Kapitel 3, 5 und 7 in diesem Band). Der externe Effekt schafft zunächst nur eine äußerliche Verbundenheit zwischen den Akteuren, wo vorher nichts als Autonomie herrschte. Was nun aber weiter geschieht, ist leicht nachzuvollziehen: Der Akteur 2, die Bevölkerung der Gemeinde also, muß in seinem Interesse versuchen, seinerseits etwas unter Kontrolle zu bekommen, was den Akteur 1, den Unternehmer, interessiert, um ihn über bestimmte Transaktionen dann eventuell dazu zu bewegen, die Beeinträchtigung der Interessen des Akteurs 2 einzustellen oder dafür etwas anderes Interessantes als Ausgleich herzugeben – beispielsweise: ein beheiztes Schwimmbad oder ein gut gefülltes Nummernkonto in der Schweiz für den Herrn Bürgermeister. Und schon ist ein neues Motiv da: das „kommunitäre“ Motiv, sich zu einer Bürgerinitiative zusammenzutun und etwas zu unter-
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planten Wirkungen erzeugt, typische Neigungen der Akteure zu bestimmten Arten von Handlungen oder Transaktionen hervorbringen – wo zuvor kein Gedanke daran war. Und es belegt noch einmal: Beziehungen haben die Menschen nicht im luftleeren Raum der Interessenlosigkeit, sondern – wenigstens: auch – wegen der Dinge, die ihnen „individuell“ wichtig sind. Grundtypen sozialer Situationen und das Prinzip der antagonistischen Kooperation Die Strukturen der sozialen Situationen sind zuallererst durch die Interdependenz der Akteure, durch die Art der Verteilung von Interesse und Kontrolle bestimmt. Schon unter zwei Akteuren lassen sich eine Vielzahl unterschiedlicher Arten sozialer Situationen und Interdependenzen vorstellen. Manchmal müssen alle beide koordiniert kooperieren, um ein bestimmtes, für sie gleichermaßen erfreuliches Ergebnis zu erlangen – wie bei den Radfahrern bei Max Weber, die auf einem anarchischen Radweg aneinander vorbeikommen wollen. Manchmal sind die Akteure zwar durchaus an einer Kooperation interessiert, aber zugleich auch daran, möglichst wenig selbst dazu beizutragen und möglichst viel von den Erträgen einzuheimsen – wie die einzelnen Mitglieder der Bürgerinitiative in ihren gemeinsamen Aktionen gegen die Chemiefabrik, die es ganz gerne sähen, wenn die jeweils anderen für sie die Kartoffeln aus dem Feuer holen würden. Manchmal aber stehen sich die Akteure in ihren Interessen unversöhnlich gegenüber, weil das, was dem einen nützt, dem anderen schadet – wie bei den Bürgern der Gemeinde und dem Vorstand der Chemiefabrik mit ihren ganz gegensätzlichen Interessen am Umweltschutz. Die geschilderten Situationen beschreiben drei grundlegende Typen sozialer Situationen. Sie werden als Problem der Koordination, als soziale Dilemma-Situation und als Konflikt bezeichnet (siehe dazu noch Kapitel 3 in diesem Band ausführlich). Der Grundzug des sozialen Handelns wird an diesen drei Typen besonders augenfällig: Einerseits sind die Menschen schon an einer Kooperation interessiert, weil ihnen das manches (lebens-)wichtige Problem löst. Andererseits aber soll die Kooperation nicht allzuviel kosten und nicht allzu riskant sein und vor allem nicht dazu führen, daß man schließlich ganz alleine etwas schafft, von dem nur die anderen etwas haben. Kurz: Das soziale Handeln unterliegt vor dem Hintergrund der strukturellen Verbundenheiten der Menschen dem Grundzug der antagonistischen Kooperation. Dieser „Widerspruch“ ist es vor allem, der besondere Einrichtungen der „Gesellschaft“ nötig macht,
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„damit“ es überhaupt zu einem einigermaßen erträglichen Auskommen miteinander kommen kann (vgl. dazu auch schon Kapitel 2 in Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“) Materielle, kulturelle und normative Verbundenheiten Koordinationsprobleme, Dilemma-Situationen und Konflikte sind drei grundlegende Formen der strukturellen Verbundenheit von Akteuren. Sie bilden – in unterschiedlichen Gewichtungen und Auswirkungen – den materiellen, auf die Interessen, die objektiven Anreize und Knappheiten bezogenen, Hintergrund für alle denkbaren sozialen Situationen und für jedes soziale Handeln. Die materiell-strategische Verbundenheit ist aber nicht der einzige Gesichtspunkt, der das soziale Handeln leitet. Hinzu kommen im faktischen sozialen Handeln und bei praktisch allen Transaktionen stets auch Aspekte der wechselseitigen gedanklichen Orientierung über angenommene Anhaltspunkte und erkennbare Zeichen und Symbole. Dies ist der Aspekt der kulturellen Verbundenheit der Akteure. Sie wird zu allererst über das sozial geteilte Wissen hergestellt: über die vorgestellten Modelle des Handelns und die damit verknüpften Symbole. Und schließlich ist nahezu jedes soziale Handeln in gewisse feste Bindungen eingebettet, manchmal sogar direkt davon geleitet. Zu solchen Bindungen gehören Emotionen, empfundene Verpflichtungen, „commitments“ und – insbesondere – als verbindlich anerkannte institutionelle Regeln für das soziale Handeln. Dies ist die normative Verbundenheit der Akteure beim sozialen Handeln. Drei Formen des sozialen Handelns Alle drei Aspekte der Verbundenheit, die materielle, die kulturelle und die normative Verbundenheit, sind – letztlich – bei allen Formen des sozialen Handelns beteiligt: Es gibt kein soziales Handeln ohne irgendeine Form der symbolischen Orientierung oder ohne irgendeine Art der empfundenen Verpflichtung oder normativen Regelung, aber auch nicht ohne jeden materiellstrategischen Hintergrund von Interesse und Kontrolle. Aber: Es lassen sich drei Grundformen des sozialen Handelns danach unterscheiden, welcher der drei Aspekte gerade dominant ist. Das strategische Handeln wäre dann jener Typus des sozialen Handelns, bei dem die materiellen Aspekte der Kontingenz des Handelns, insbesondere
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aber die Interessen der Akteure im Vordergrund stehen. Die betreffende spezielle soziale Situation sei auch als strategische Situation bezeichnet. Mit Interaktion wollen wir dann die Prozesse des sozialen Handelns bezeichnen, bei denen die wechselseitige gedankliche und symbolische Verschränkung und Beeinflussung und somit der kulturelle Aspekt überwiegt. Und eine soziale Beziehung soll schließlich jene Art des sozialen Handelns sein, die insbesondere bestimmten Festlegungen und gewissen – formellen wie informellen – Normierungen und institutionellen Regeln folgt. Die Übergänge zwischen den drei Typen des sozialen Handelns sind fließend, nicht zuletzt in der Unterscheidung von Interaktion und sozialer Beziehung. Interaktionen vollziehen sich, wie eine soziale Beziehung, auch über die wechselseitige Aktivierung von „Modellen“ der Situation und des Handelns. Bei sozialen Beziehungen ist aber die „Einstellung“ mit der Situation vergleichsweise fest vorgegeben, während bei Interaktionen die Situation erst noch in einem – mehr oder weniger langen – Vorgang des Aushandelns und der wechselseitigen Beeinflussung „definiert“ werden muß. Strategisches Handeln In rein strategisch definierten Situationen gibt es demnach nur die materiellen Interessen und die – wechselseitigen – Überlegungen, wie man es am besten anstellt, diese Interessen am besten zu bedienen. Alles hängt von den Möglichkeiten des Handelns, von den jeweils erreichbaren Ergebnissen und von den Erwartungen darüber ab, was der jeweils andere wohl tun wird. Dabei wird die Akteure allein der Gedanke leiten, daß der jeweils andere ein für sich selbst möglichst günstiges Ergebnis erzielen möchte – und daß das auch für den jeweils anderen Akteur zutrifft. Hier stehen sich die Menschen als „rationale Egoisten“ gegenüber, wissen das voneinander – und handeln danach. Die Orientierung dabei ist ausschließlich die des individuellen Interesses und die der – nur: strategisch gemeinten – Einfühlung in die subjektive Welt des anderen. Diese Einfühlung ist kein Mitgefühl, keine Sympathie, sondern ausschließlich eine kühl berechnende Empathie zur Maximierung des eigenen Vorteils. So selten ist ein solches strategisches Handeln nicht. Das genau tun ja die Radfahrer schon, wenn sie sich auf einem ungeregelten Weg entgegenkommen. Strategische Situationen werden, wenn sie in einer bestimmten formalen Weise dargestellt werden, auch als Spiele bezeichnet. Die sog. Spieltheorie ist jene spezielle Disziplin, die sich die formale Analyse strategischer Situationen
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und des daraus zu erwartenden strategischen Handelns vorgenommen hat (vgl. dazu inbesondere noch Kapitel 2, 3 und 5 in diesem Band). Das strategische Handeln hat im Falle einer Mischung von kooperativen und antagonistischen Zielen, bei antagonistischer Kooperation also, zwei grundlegende äußere Formen: Kooperation und Defektion. Defektion muß dabei nicht heißen: Offener Konflikt oder gar Feindseligkeit. Gemeint ist lediglich: Der Akteur nimmt an einem gemeinsamen Unternehmen nicht teil. Und oft genug ist er nur deshalb mit einer Kooperation zurückhaltend, weil er für sich einen drohenden Schaden vermeiden will. Die meisten der für die Menschen interessanten Güter können nur oder weitaus am günstigsten über gewisse kollektive Aktivitäten erzeugt und genutzt werden. Manche dieser nur kollektiv zu erzeugenden oder zu nutzenden Güter enthalten – wenigstens: latent – beide Aspekte des strategischen Handelns in der Form der antagonistischen Kooperation: Interesse an der Kooperation und einen Konflikt darüber, wer mehr beiträgt oder mehr bekommt. Zu diesen schwierig zu erzeugenden und zu nutzenden Gütern gehören insbesondere die sog. Kollektivgüter, wie es etwa die gegenseitige, aber zeitlich versetzte Nachbarschaftshilfe ist. Oft kommt es dann nicht zur Kooperation, weil jeder befürchtet, daß er schließlich alleine die Vorleistungen erbringt und der andere die Früchte erntet, ohne selbst etwas als Gegenleistung zu tun. Das ist ein Spezialfall des strategischen Handelns, und zwar der, daß es jetzt um die Kooperation in mehr oder weniger großen Kollektiven, sozialen Klassen oder Gruppen also, geht. Gelingt die Organisation einer kollektiven Kooperation, dann soll vom kollektiven Handeln gesprochen werden. (vgl. dazu noch Kapitel 6 und 7 in diesem Band ausführlich).
Daß zum strategischen Handeln die Kooperation dazugehört, mag manchen Soziologen überraschen – und ein wenig ärgern, weil ja gerade von Emile Durkheim und Talcott Parsons immer wieder bestritten wurde, daß es unter den Bedingungen der Zweckrationalität zu sozialer Ordnung überhaupt kommen könne, und daß es dazu stets einer normativen Orientierung und einer solidarischen Moral bedürfe. Aber: Unter bestimmten Bedingungen sind auch bei einem „rein“ strategischen Handeln unter rationalen Egoisten und ohne jede weitere „Moral“ verläßliche Kooperation und ein ertragreiches kollektives Handeln möglich. Das Kapitel 4 in diesem Band wird sich auch mit dieser Frage beschäftigen. Interaktion Das strategische (und das kollektive) Handeln ist zwar „soziales“ Handeln, aber keines, bei dem die Akteure sich auf gemeinsame Orientierungen beziehen – außer der, daß sie rationale Egoisten sind und daß das kulturelle Modell der Zweckrationalität die Situation definiert, natürlich. Bei Interaktionen stimmen sich die Akteure dagegen wechselseitig in ihren Orientierungen ab und „definieren“ die Situation in gegenseitiger Beeinflussung und gedankli-
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cher Verschränkung, auch in anderer Hinsicht als der, daß es bloß um „Strategie“ und „Nutzenmaximierung“ gehe. Dies können sie durch verschiedene Formen an Aktivitäten tun. Stets sind dabei mentale Vorstellungen beteiligt und – bis auf eine, wenngleich nicht unwichtige Ausnahme – kulturell verankerte Zeichen und Symbole. Es können drei Arten der Interaktion unterschieden werden (vgl. dazu ausführlich Kapitel 8 in diesem Band). Das ist erstens die rein gedankliche Interaktion einer wechselseitigen Einfühlung der Akteure zum Ziele der Konsensusfindung, ohne daß sie sonst in Kontakt miteinander träten. Diese Form der ausschließlich gedanklichen Interaktion sei als Koorientierung bezeichnet. Wenn sich die Akteure allein durch ihr Handeln wechselseitig beeinflussen, weil das Handeln, auch unbeabsichtigt, jeweils als Anzeichen oder als symbolische Geste für bestimmte Orientierungen oder Motive wahrgenommen, interpretiert und für das eigene Handeln in Rechnung gestellt wird, findet zweitens die sog. symbolische Interaktion statt. Ein Spezialfall davon ist drittens die Kommunikation. Hierbei gibt es die symbolische Beeinflussung über Zeichen, die mit den Akteuren vorher gut bekannten und festliegenden Bedeutungen und klar definierten Regeln versehen sind. Derartige Zeichen sollen Medien heißen. Die Sprache ist das wichtigste Medium einer solchen kommunikativen Interaktion.
Kommunikation, symbolische Interaktion und Koorientierung stehen in einem hierarchischen Verhältnis zueinander: Jede Kommunikation über Medien ist immer auch symbolische Interaktion und Koorientierung, wie jede symbolische Interaktion stets von Koorientierungen begleitet ist. Das umgekehrte gilt dagegen nicht. Soziale Beziehung Soziales Handeln, bei dem sich die Akteure zwar auch aufeinander einstellen, sich dabei in ihren Orientierungen zueinander aber von vorher bestehenden Festlegungen und Bindungen leiten lassen, ist eine soziale Beziehung (vgl. dazu noch Kapitel 9 in diesem Band). Von Max Weber stammt – erneut – die hierfür klassische Formulierung: „Soziale ‚Beziehung‘ soll ein seinem Sinngehalt nach aufeinander gegenseitig eingestelltes und dadurch orientiertes Sichverhalten mehrerer heißen.“ (Weber 1972, S. 13; Hervorhebungen so nicht im Original)
Max Weber zählt u.a. die Freundschaft, die Pietät, die Geschlechtsliebe, die Klassengemeinschaft, aber auch Konkurrenz, Kampf und Feindschaft dazu. Das sind alles – mehr oder weniger deutlich – vorher gewußte Modelle für das Denken, für die Gefühle, für empfundene Verpflichtungen und innere Festlegungen und für das äußerliche Handeln, etwa bei einer Freundschaft oder bei der Geschlechtsliebe. Es gibt aber, wie Max Weber schreibt, solche o-
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rientierenden Modelle auch für die Beziehung der Feindschaft, der Konkurrenz oder des Kampfes. Auch die Auseinandersetzungen und die Austragung der Konflikte sind also, bei allem,was die Menschen ansonsten trennt, in erwartbarer Weise geordnet. Die gedanklichen Modelle der Austragung dieser Auseinandersetzungen konstituieren die Konflikte als geordnete soziale Beziehung. Die mit der jeweiligen sozialen Beziehung verbundenen orientierenden Einstellungen erwartet der Akteur relativ sicher von den anderen Akteuren – und von sich selbst. Sie werden – sozusagen – in der unter dem jeweiligen Typ der Beziehung definierten sozialen Situation automatisch und ohne weitere Reflexion aktiviert – falls nicht deutliche strategische Erwägungen oder symbolische Hinweise dafür sprechen, die „Einstellung“ und das betreffende Handeln doch noch einmal zu überdenken. Die vorab orientierende Festlegung eines sozialen Handelns als „soziale Beziehung“ hat eine wichtige Folge für das soziale Handeln: Sie macht eine an sich ja immer von strategischen Elementen durchzogene, deshalb hochkontingente und durch Koorientierung, symbolische Interaktion und Kommunikation nie ganz verläßlich definierbare soziale Situation wieder zu einer parametrischen Situation: Die Akteure gehen wechselseitig davon aus, daß die jeweils definierte Orientierung zuverlässig gilt – so als ob jetzt wieder die Natur das Gegenüber wäre. Diese „Parametrisierung“, diese Vereinfachung, diese Reduktion von Komplexität und die Aufhebung der doppelten Kontingenz des sozialen Handelns zu einer einfachen Erwartung in einer an sich weiter „sozialen“ Situation, sind wohl die wichtigsten Funktionen von „sozialen Beziehungen“. Soziale Beziehungen sind so gesehen ein Spezialfall der Geltung institutioneller Regeln und der Normierung sozialer Situationen. Regeln und Strategien Die Unterscheidung zwischen den materiellen, den kulturellen und den normativen Aspekten des sozialen Handelns ist nur analytisch sinnvoll. Soziale Situationen ohne jede normative Regelung und ohne jeden Bezug zu kulturell verankerten Zeichen oder Symbolen gibt es nicht. Selbst in den eindeutig strategischen Situationen des reinen Interesses unterstellen die Akteure ja eine deutliche, fast schon normativ erwartete, Regelmäßigkeit für das Handeln des anderen, auf die sie sich fest verlassen können: daß der seinen Nutzen maximieren oder seinen Schaden minimieren will. Meist aber sind die strategischen Situationen auch institutionell geregelt. Mehr: Jede Situation beruht auf gewissen, expliziten oder impliziten Regeln. Sind die Regeln explizit, wird es
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besonders interessant. Nun werden – im Rahmen der institutionellen Regeln – strategische Überlegungen möglich, die ohne die institutionellen Regeln vollkommen unverständlich bleiben müßten: Erst vor dem Hintergrund der Abseitsregel ist es beispielsweise sinnvoll, eine Abseitsfalle aufzubauen. Und nur im Rahmen der Regeln des Schachspiels gibt es die Strategie der Sizilianischen Eröffnung. Kurz: Ein „strategisches“ soziales Handeln hat nur innerhalb eines allen anderen Akteuren bekannten und beachteten symbolischen und institutionellen Rahmens einen sozialen Sinn. Und mit der Veränderung der institutionellen Regeln verändern sich natürlich auch die strategischen Überlegungen der Akteure und die daran orientierten Muster ihres Handelns (vgl. dazu auch noch Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Transaktionen Von Interessen, von Symbolen und den gedanklichen und emotionalen Orientierungen an gewissen sozialen Beziehungen alleine werden die Menschen nicht satt. Jedes soziale Handeln ist, wie das Handeln ganz generell, letztlich um das Problem der individuellen und sozialen Reproduktion, der Nutzenproduktion und deren sozialer Organisation und damit um die Frage nach der Produktion von Ressourcen herum organisiert. Alleine und im bloßen Spiel gegen die Natur ist dieses Problem aber nicht zu lösen. Die Produktion der Ressourcen und Güter findet, ganz allgemein, als – mehr oder weniger – arbeitsteilige kollektive Veranstaltung statt, als „gesellschaftliche Produktion“. Sie ist ein Spezialfall des kollektiven Handelns (vgl. dazu noch Kapitel 6 in diesem Band). Mit der Produktion bringen Akteure Ressourcen unter Kontrolle, die für sie – und für andere! – von Interesse sind. Allein dadurch aber, daß die Akteure wechselseitig die Kontrolle über für sie weniger interessante Güter an Akteure übertragen, die daran ein höheres Interesse haben, kann die Ausstattung mit interessierenden Gütern (fast) mühelos verbessert werden, also einfach durch eine neue Verteilung der zuvor produzierten Güter und Ressourcen. Nun entsteht also ein Interesse an einem ganz speziellen Typ des sozialen Handelns. Wir haben ihn oben bereits erwähnt: an der sog. Transaktion. Transaktionen sind insbesondere der Tausch von Gütern und Ressourcen (vgl. dazu noch Kapitel 10 und 11 in diesem Band ausführlich). Wenn – beispielsweise – der eine Akteur Interesse an einem Steak hat, aber nur über Bier verfügt, und der andere Akteur gerne ein Bier hätte, aber nur Steaks besitzt, dann wäre es für beide von großem Vorteil, ihre Ressourcen zu tauschen. Denn: Ein Steak mit einem Bier schmeckt einfach besser als zwei Steaks oder zwei Bier
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allein – normalerweise jedenfalls. Also: Laßt uns die Ressourcen tauschen und einen netten Abend mit Steaks und Bier, obendrein noch in Gesellschaft miteinander, machen! Transaktionen gehen über mentale Akte und über die kommunikative Übertragung von Informationen weit hinaus. Sie bestehen im Austausch materieller und immaterieller Güter, Leistungen oder Rechte: der Kauf von Zahnpasta gegen Geld, der Tausch von Ratschlägen gegen soziale Anerkennung oder die wechselseitige Verpflichtung zu Treue und Hingabe „bis daß der Tod Euch scheidet“ etwa. Hierbei können selbstverständlich Interaktionen und vorgängig definierte soziale Beziehungen beteiligt sein – und sind es auch so gut wie immer. Die Besonderheit aber bleibt immer diese: der Austausch von Ressourcen aller Art mit dem übergreifenden Interesse einer möglichst günstigen Produktion und Reproduktion der materiellen und immateriellen Dinge, die für das Leben wichtig sind. Die kulturellen und die normativen Umstände sind der, oft genug: unentbehrliche, Rahmen dafür. Eine Übersicht Zur besseren Übersicht sind die verschiedenen Begriffe im Zusammenhang der Besonderheiten sozialer Situationen und der verschiedenen Formen des sozialen Handelns in einem Diagramm zusammengefaßt (Abbildung 1.5). Das Diagramm bedarf wohl keiner besonderen Erläuterungen mehr. Der gesamte Band 3 der „Speziellen Grundlagen“ beschäftigt sich mit den darin angesprochenen Konzepten und Vorgängen – grob in der Reihenfolge, wie die Konzepte in der Abbildung geordnet sind.
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bolisch oder institutionell definierte Situation die „Natur“ des Menschen? Ändern sich insbesondere die Regeln, nach denen in den verschiedenen Typen von Situationen das Handeln selegiert wird? Dazu ist nur dieses zu sagen: Zwar handelt es sich bei den sozialen Situationen ohne Zweifel um eine ganz andere, vor allem um eine sehr viel komplexere und (doppelt) kontingente Art von Situation als die beim einfachen Spiel gegen die Natur in den parametrischen Situationen. Aber das ist es auch schon: Es ist nur eine Änderung in den Randbedingungen, nicht aber in den Selektionsregeln des Handelns der Menschen. Und die Folge: Die Grundvariablen und die Regeln der Selektion des Handelns und der Orientierung der Akteure bleiben im Prinzip in allen sozialen Situationen und in allen Typen des Handelns die gleichen: das Wissen und die Werte der Akteure – und die Regel der Maximierung der Nutzenproduktion. George C. Homans hat diesen, eigentlich ganz einsichtigen, Grundsatz ganz besonders nachdrücklich vertreten: „Und in gewisser Hinsicht spielt es (die Unterscheidung von sozialer und parametrischer Situation; HE) tatsächlich keine Rolle, da keine neuen Hypothesen benötigt werden, um soziales Verhalten zu erklären. Es spielt jedoch für die Komplexität der Erklärung eine Rolle. Wenn die Aktivität eines Menschen durch die nichtmenschliche Umwelt belohnt wird, handelt er entsprechend den Gesetzen der Humanpsychologie, die Umwelt jedoch nicht. Wenn die Aktivität eines Menschen durch die eines anderen Menschen belohnt wird, handeln beide entsprechend diesen Gesetzen.“6
Also: Es ändern sich beim sozialen Handeln zwar die Randbedingungen und die jeweils „sinnvollen“ Strategien. Die Akteure und die Gesetze zur Erklärung ihres Handelns bleiben jedoch stets die gleichen. Was auch sonst?
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George C. Homans, Grundlegende soziale Prozesse, in: George C. Homans, Grundfragen soziologischer Theorie, Opladen 1972a, S. 70; Hervorhebungen nicht im Original.
Kapitel 2
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In seinem Traktat über die menschliche Natur beschreibt der schottische Diplomat, Historiker und Philosoph David Hume (1711-1776) die folgende Situation zweier Bauern – You und Me – zur Erntezeit: „Your corn is ripe to-day; mine will be so to-morrow. ‘Tis profitable for us both, that I shou’d labour with you to-day, and that you shou’d aid me to-morrow. I have no kindness for you, and know you have as little for me. I will not, therefore, take any pains upon your account; and should I labour with you upon my own account, in expectation of a return, I know I shou’d be disappointed, and that I shou’d in vain depend upon your gratitude. Here then I leave you to labour alone: You treat me in the same manner. The seasons change; and both of us lose our harvests for want of mutual confidence and security.“1
Eine böse Sache – für uns beide zusammen und für jeden von uns. Und warum? Die Antwort ist leicht erkennbar: Weil wir – von Natur aus – so egoistisch und so mißtrauisch zueinander sind. Besser wäre es für uns beide und für jeden einzelnen von uns, wenn wir etwas weniger an unseren eigenen Vorteil denken und etwas mehr dem anderen trauen würden. Aber so ist das geschilderte Ergebnis gewissermaßen „natürlich“ und kaum zu vermeiden. Es ist die logische Folge der beschriebenen Situation und der angenommenen allgemeinen Regel des egoistischen Handelns. Und das kommt so. Beide Bauern – nennen wir sie etwas anonymer A und B – haben ein eindeutiges Interesse: Sie wollen ihre Ernte einbringen. Dazu benötigen sie die Hilfe des jeweils anderen. Da die Ernte bei beiden nicht gleichzeitig eingebracht werden kann, muß einer von ihnen in Vorleistung treten. Sagen wir, das sei A. Der weiß, daß ihn dies mit Sicherheit etwas kostet: die Zeit und die Mühen der Hilfeleistung. Zwar würden diese Kosten mehr als aufgewogen, wenn der andere ihm danach bei der Ernte hilft. Aber ob er sich auf B verlassen kann – das weiß A nicht. Denn niemand ist dem anderen irgendwie verpflichtet oder empfindet besondere Gefühle für sein Wohlergehen: no kindness, no pains upon your account. A weiß nur 1
David Hume, A Treatise of Human Nature: Being An Attempt to Introduce the Experimental Method of Reasoning into Moral Subjects, Oxford 1967 (zuerst: 1739), S. 520f. Wir folgen in der Interpretation des Beispiels teilweise den Ausführungen bei Bernd Lahno; Bernd Lahno, Versprechen. Überlegungen zu einer künstlichen Tugend, München und Wien 1995, Kapitel 3.
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eines: Wenn er jetzt hilft, dann trägt er die Kosten mit Sicherheit. Und er weiß auch: B wäre fein heraus, wenn der dem A dann nicht helfen würde; er würde die Mühe der Mithilfe sparen, hätte aber alles erreicht, was ihn interessiert. Die Folge: A unterläßt die Hilfe – schon aus Vorsicht, nicht hinterher mit leeren Händen dazustehen und obendrein ansehen zu müssen, daß B sich womöglich lustig über ihn und seine Naivität macht. Da B aber genau so denkt, passiert nichts. Die Ernte verdirbt. Und übrig bleibt nur ein dringlicher Wunsch auf beiden Seiten: der nach einer Regelung dieser mißlichen Situation, die die Akteure wegen ihrer Vernunft gegen ihre Interessen in eine Situation gebracht hat, die ihnen beiden schadet.
Daß die beiden Bauern nur „rational“ agieren, nur an sich selbst denken und sich nicht über den Weg trauen, ist der Kern ihres gemeinsam erzeugten Unglücks. Die Akteure haben sich in der strategischen Kalkulation ihrer individuellen Vorteile so verfangen, daß sie sich schließlich selbst schaden. Das Beispiel ist zwar nur eine Parabel, aber eine Geschichte nicht ohne Wirklichkeitsnähe – gerade in unserer Zeit. Denn schon, wenn ich nur befürchten muß, daß der Andere meine Gutmütigkeit ausnutzen kann, werde ich mich selbst mit Vorleistungen zurückhalten. Dazu muß ich selbst keineswegs unmoralisch oder egoistisch sein, sondern nur nicht allzu blauäugig. Die Geschichte ist ein Lehrstück für den – von dem scheinheiligen Amateurphilosophen Ulrich Wickert inzwischen auch weiteren Kreisen bekannt gemachten – Satz, wonach der Ehrliche, der Gute, der Moralische offenbar tatsächlich immer der Dumme ist. Und die Geschichte macht klar, warum schon aus der – vielleicht unbegründeten, aber auch nicht ausgeräumten – Furcht davor mancherlei Dinge unterbleiben, an denen alle im Grunde ein massives Interesse haben.
Die folgenden Kapitel handeln von den wichtigsten Grundmustern strategischer Situationen, von den vielen Fallen, die darin lauern, von der Unwahrscheinlichkeit, daß „rationale Egoisten“ miteinander kooperieren, von den Möglichkeiten, diese Situationen theoretisch zu durchschauen – und von dem, eigentlich: unglaublichen, Wunder, daß es soziale Ordnung und Moral dennoch in einem erstaunlichen Ausmaße gibt. Spieltheorie Die von David Hume geschilderte Konstellation wird auch als einfaches Austauschspiel bezeichnet. Für die Analyse solcher und anderer strategischer Situationen gibt es eine eigene wissenschaftliche Disziplin: die Spieltheorie. Der Gegenstand der Spieltheorie ist die typisierende Modellierung von strategischen Situationen, von strategischen Spielen, wie sie auch genannt werden, und die formale Ableitung von aggregierten Folgen aus den jeweiligen Konstellationen, in denen sich die Akteure befinden.2 2
Vgl. zur Bedeutung des Wortes „Spiel“ auch noch den Exkurs über das Spiel gleich im Anschluß an dieses Kapitel.
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Grundannahmen Für die spieltheoretische Analyse werden einige besondere Eigenschaften der Situation und der Akteure angenommen:3 1. Das Ergebnis des Handelns ist von den Entscheidungen mehrerer Akteure abhängig. Das heißt: Kein einzelner Akteur hat das Ergebnis selbst ganz unter Kontrolle. Anders gesagt: Die Akteure befinden sich in doppelter Kontingenz und in Interdependenz zueinander. 2. Jeder Akteur ist sich bewußt, daß eine solche doppelte Kontingenz und Interdependenz besteht. 3. Jeder Akteur geht davon aus, daß sich alle anderen Akteure ebenfalls der doppelten Kontingenz und Interdependenz bewußt sind. 4. Jeder Akteur berücksichtigt bei seinen Entscheidungen die Bedingungen 1 bis 3.
Die genannten Bedingungen mögen als etwas gewagt, speziell und umständlich erscheinen. Aber es sind eigentlich nur etwas präzisere Beschreibungen für das, was in der Soziologie – und in Kapitel 1 dieses Bandes – allgemein als die typischen Besonderheiten des sozialen Handelns bezeichnet worden war: doppelte Kontingenz und Interdependenz. Rationaler Egoismus Um die kollektiven Folgen des Handelns der Spieler aus ihrer Situation abzuleiten, macht die Spieltheorie für das Handeln der Akteure eine einfache – und deutliche – Annahme. Es ist genau jene, die auch David Hume für seine beiden Bauern unterstellte: Jeder Akteur tut genau das, was ihm in der Situation individuell am nützlichsten erscheint. Kurz: Die Spieltheorie beruht auf der einfachen Nutzentheorie als Handlungstheorie (vgl. Kapitel 7 und 8 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ dazu ausführlich). Für die Spieltheorie kennen die Menschen also keine Moral und keine Vergangenheit. Und wenn sie einen Vorteil für sich sehen, dann nutzen sie den auch – selbst wenn der andere da3
Vgl. dazu etwa die folgenden Einführungen in die Spieltheorie: Manfred J. Holler und Gerhard Illing, Einführung in die Spieltheorie, 2. Aufl., Berlin u.a. 1993; Eric Rasmusen, Games and Information. An Introduction to Game Theory, Oxford und New York 1989; Morton D. Davis, Spieltheorie für Nichtmathematiker, 2. Aufl., München 1993; Henry Hamburger, Games as Models of Social Phenomena, San Francisco 1979; David M. Kreps, Game Theory and Economic Modelling, Oxford 1990; Evelyn C. Fink, Scott Gates und Brian D. Humes, Game Theory Topics. Incomplete Information, Repeated Games, and N-Player Games, Thousand Oaks, London und New Delhi 1998.
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bei zugrunde geht. Zu einem Gleichgewicht kommen sie in ihrem Handeln nur, wenn eine Änderung ihres Tuns sie individuell schlechter stellen würde. Und das kann auch ein Gleichgewicht sein, in dem sie sich kollektiv – und damit letztlich auch individuell – schaden.
Die Annahme, daß alle Menschen rationale Egoisten seien, macht die Spieltheorie nicht, weil die Spieltheoretiker der Ideologie der Ellbogengesellschaft verpflichtet wären – oder nicht wüßten, daß es auch Altruismus und Dummheit gibt. Auch das mag es ja geben. Der Grund ist viel einfacher: Diese Annahme ist nicht vollkommen abwegig, aber einfach und präzise genug, um die kollektiven Folgen des beiderseitigen Tuns auszurechnen. Mit anderen Handlungstheorien geht das einfach nicht, mindestens nicht so einfach. Die Annahme des rationalen Egoismus ist – man wagt es kaum zu sagen – also für die Spieltheorie eine eher technisch begründete Annahme. Sie hat auch deshalb ein so zähes Leben, weil die anderen Annahmen über das Handeln der Menschen meist viel zu unpräzise – oder empirisch noch gewagter als die Nutzentheorie – sind, als daß die Spieltheorie damit etwas anfangen könnte. Ohne Zweifel ist die Unterstellung vom Menschen als rationalem Egoisten etwas heroisch – und empirisch so auch oft nicht zutreffend, wenngleich auch keineswegs rundheraus falsch. Der Wert der Spieltheorie besteht deshalb auch weniger darin, das „wirkliche“ Handeln der Menschen zu erklären. Er liegt eher darin, unter den gegebenen Annahmen in Gedankenexperimenten bestimmte kollektive Konsequenzen ableiten zu können – wie beispielsweise David Hume das tat, als er die Prognose machte, daß sich die egoistischen Bauern hinterher wünschten, weniger egoistisch gewesen zu sein. Das Beispiel lehrt, daß für die Bauern ein wenig Vertrauensseligkeit bei wenigstens einem der beiden für beide ganz nützlich gewesen wäre. Dann hätte der andere sich – in seinem Interesse – überlegen können, ob er den anderen wirklich ausbeuten wollte. Daß die beiden Bauern sich auch noch in Zukunft benötigen, daß derjenige, der die einseitige Vorleistung erbringt, sich ggf. für das unkooperative Verhalten des jeweils anderen bei der nächsten Gelegenheit zum Schaden des anderen rächen könnte, und daß diese Furcht dann auch bei rationalen Egoisten zu Kooperation führen kann, wollen wir hier schon einmal erwähnen (vgl. dazu noch Abschnitt 5.3 in diesem Band insbesondere). Es handelt sich bei dem Erntehilfebeispiel zunächst nur um eine einmalige Angelegenheit, wie sie u.a. unter Fremden oder bei einem absehbaren Ende einer Beziehung vorkommt. Wie David Hume das bei seinen Bauern auf dem Lande unterstellen konnte, die sich ja kaum aus dem Wege gehen können, ist allerdings, lebensweltlich gesehen, schon etwas unverständlich.
Die Spieltheorie entwirft also – wenn man so will – worst-case-Szenarien für den Fall, daß die Menschen rationale Egoisten wirklich wären. Und dann kann man ja sehen, wie weit das die Wirklichkeit erklärt. Genau dieses Vorgehen hatte Max Weber den Soziologen übrigens auch schon empfohlen: „Rationale“ Analyse und die gesonderte „soziologische“ Untersuchung eventuel-
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ler Abweichungen davon (vgl. dazu bereits Abschnitt 6.3 und 6.4 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Die Unterstellung des rationalen Egoismus ist auch für den Fall hilfreich, daß man die Menschen überwiegend für Engel hält, es aber nicht ausgeschlossen ist, daß es doch wenigstens einige Teufel gibt. Denn: Weil der andere möglicherweise nur looks like an angel, und immer tatsächlich ein devil in disguise sein kann, muß auch der heiligste Engel damit „rechnen“, übers Ohr gehauen zu werden. Die Spieltheorie hilft den vielen Engeln auf Erden vielleicht etwas dabei, die Folgen und den Preis ihrer Tugendhaftigkeit abzuschätzen und möglichst tugendsame, aber wirksame Lösungen des Problems ihres Umgangs mit den egoistischen Teufeln zu finden. Engel müssen ja nicht unbedingt dumm und blauäugig sein.
Deshalb wollen wir einige Ideen und Instrumente der Spieltheorie benutzen: um bestimmte typische Grundstrukturen strategischer Situationen unter der pessimistischen Annahme des rationalen Egoismus der Menschen besser zu verstehen. Der Spielbaum Das Ziel der Arbeit des Spieltheoretikers ist die sog. Lösung eines Spieles (siehe dazu noch unten). Damit ist das Finden von Gleichgewichten gemeinsamer Handlungen gemeint, bei denen die Akteure keinen Anreiz mehr haben, eine andere Alternative anzustreben. Was es damit auf sich hat, wollen wir schrittweise entwickeln. Dazu sehen wir uns zuerst die Situation der beiden Bauern A und B einmal etwas systematischer an. Eine sehr übersichtliche Methode dafür ist der sog. Spielbaum. Dabei werden die möglichen Züge der beteiligten Spieler in einer Sequenz von Entscheidungen aufgeführt – so wie das Handeln von Menschen in Interaktion miteinander ja auch tatsächlich abläuft (vgl. dazu noch Kapitel 8 in diesem Band ausführlich). Am Ende der Sequenz stehen die möglichen Handlungskombinationen der Akteure mitsamt den Ergebnissen, die damit verbunden sind (vgl. Abbildung 2.1). Im Beispiel wird angenommen, daß A mit seiner Entscheidung beginnt. Die Mithilfe sei als C (von „cooperation“), die Verweigerung als D (von „defection“) bezeichnet. Wenn A gehandelt hat, kann B seine Entscheidung treffen: wiederum C oder D. Aus der Sequenz ergeben sich somit vier logisch mögliche Ergebnisse des Handelns von A und B, wobei die Entscheidung von A jeweils zuerst steht: CC, CD, DC und DD. Mit diesen Ergebnissen sind Bewertungen verbunden, die sog. Auszahlungen an die Akteure. Wir haben hier schon bestimmte Werte eingetragen, wobei der erste Wert jeweils die Auszahlung für A bezeichnet. Warum die Werte so sind wie sie sind, können Sie sich aus dem geschilderten Beispiel schon
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selbst rekonstruieren. Die genauere Begründung finden Sie weiter unten, wenn es um die sog. Auszahlungsfunktion geht. Spieler A
* D
C
Spieler B
*
C
*
D
C
Ergebnis
CC
CD DC
Auszahlung
3,3
1,4 4,1
D DD 2,2
Abb. 2.1: Spielbaum der strategischen Situation für das einfache Austauschspiel der Erntehilfe bei David Hume
Die Folge dieser Konstellation wurde oben schon angedeutet: Die beiden Bauern landen bei der unerfreulichen (fettgedruckten) Kombination DD mit einer Auszahlung von 2,2 – obwohl sie sich beide mit CC und der Auszahlung 3,3 besser stellen würden. Die Kombination DD ist die gesuchte Lösung des Spiels. Es ist ein sog. Gleichgewicht in dominanten Strategien (siehe auch dazu unten Näheres). Perfekte und vollständige Information Der Bauer B hat es in dem Beispiel gut: Er kann seine Strategie wählen, wenn er gesehen hat, was A getan hat. A muß ohnmächtig abwarten, was B tut. In der Terminologie der Spieltheorie handelt es sich um ein Spiel mit perfekter Information: Zu jedem Zeitpunkt ist jeder Spieler über alle vorangehenden
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Züge anderer Spieler informiert. Vor A zieht aber kein Spieler. Deshalb ist – bis zu diesem Zeitpunkt auch A „perfekt informiert“. Wenn einer der Spieler nicht weiß oder wissen kann, was der andere jeweils getan hat oder tun wird, oder wer gerade am Zuge ist, dann liegt imperfekte Information vor. Darüberhinaus wird noch die vollständige und die unvollständige Information unterschieden. Vollständige Information liegt vor, wenn die Spieler übereinander alles wissen – insbesondere welches ihre Strategien und welche Auszahlungen damit verbunden sind. Sind bestimmte Dinge den Spielern unbekannt, dann liegt unvollständige Information vor. Das Verbergen bestimmter Eigenschaften kann man natürlich auch strategisch einsetzen – wie derjenige, der eine Lebensversicherung abschließt und dabei verschweigt, daß er eine Leberzirrhose hat. Strategien Die Alternativen C und D sind die Handlungen, die den beiden Bauern bei ihren Zügen jeweils möglich sind. Von den Handlungen werden in der Spieltheorie die Strategien der Akteure unterschieden. Strategien sind Regeln über die Reaktionen und Handlungen, die ein Spieler für die im Spiel möglichen Situationen parat hat. Handlungen sind also das, was die Akteure tun. Strategien sind demgegenüber keine Handlungen, sondern Pläne der Akteure über ihre Handlungen als Reaktion auf die Handlungen des anderen Akteurs. Schachspieler haben beispielsweise bestimmte Strategien, wie sie – etwa – auf die Sizilianische Verteidigung ihres Gegners reagieren könnten. Im Erntehilfebeispiel könnte sich der Bauer B beispielsweise die folgende Strategie vorgenommen haben: Wenn der Kollege A zuerst kooperiert, dann kooperiere ich auch; wenn er aber defektiert, dann defektiere ich ebenfalls. Diese Regel wird auch als Tit-for-Tat-Strategie bezeichnet: Auge um Auge, Zahn um Zahn (siehe auch unten, sowie noch Abschnitt 5.3 in diesem Band insbesondere).
Der Satz der einem Akteur möglichen Strategien ergibt sich aus den logischen Möglichkeiten, auf das Handeln des anderen für die gesamte Sequenz bis zu der betreffenden Situation seines Zuges zu reagieren. Im Fall der beiden Bauern sieht das – unter der Bedingung der perfekten Information – für A anders aus als für B. Denn der Bauer A hat, weil vor ihm niemand gespielt hat, nur zwei Möglichkeiten: Entweder C oder D. Hier fallen also Strategien und seine in der Situation möglichen Handlungen zusammen. Demgegenüber kann der Bauer B auf die Kooperation von A entweder mit C oder D und auf die Defektion von A auch wieder entweder mit C oder D reagieren. Kurz: Er hat mehr „strategische“ Möglichkeiten als der Bauer A, weil
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Soziales Handeln
er nach dem Bauern A zieht und seine Reaktion von dem Handeln des Bauern A abhängig machen kann. Strategiekombination und Strategieraum Eine Kombination von Strategien wird auch als Strategievektor oder Strategiekombination bezeichnet. Sie wird allgemein mit s abgekürzt. Alle in einem Spiel möglichen Strategiekombinationen bilden den sog. Strategieraum S. Weil der Bauer B andere Möglichkeiten hat als der Bauer A, unterscheiden sich ihre Strategieräume. Für den Bauern A ist der Strategieraum einfach: SA=(C,D). Für den Bauern B besteht der Strategieraum SB dagegen aus allen denkbaren Reaktionsformen auf die Strategien von A. Diese lassen sich in einer sog. extensiven Form als Tabelle rekonstruieren (vgl. Abbildung 2.2).
a. Strategien Strategien B C++
TFT
FTF
D++
bei Zug A: C
C
C
D
D
bei Zug A: D
C
D
C
D
C++
TFT
FTF
D++
C
CC
CC
CD
CD
D
DC
DD
DC
DD
b. Ergebnisse
Strategien A
Abb. 2.2: Strategiekombinationen und Ergebnisse für B bei perfekter Information
Die Strategien des Bauern B sind also seine ihm nun möglichen Antworten auf die möglichen Züge des Bauern A: C++, TFT, FTF und D++ (oberste Zeile; zu den Bezeichnungen siehe unten). Sie sind ihm möglich, weil er weiß, was der Kollege A schon gemacht hat, wenn er selbst sich entscheiden muß. Wüß-
Strategien und Spiele
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te er das nicht, hätte er nur zwei Möglichkeiten: Kooperation oder Defektion – ins Blinde hinein (siehe dazu unten noch die sog. reduzierte Form). Eine von den in der oberen Zeile aufgeführten vier Strategien haben wir bereits erwähnt: Tit for Tat; sie steht über der zweiten Spalte als TFT. Eine andere Strategie von B für alle möglichen Züge von A könnte etwa sein, daß er immer defektiert – egal, was A tut. Dieser Fall findet sich in der Tabelle über der rechten Spalte als D++ mit den beiden „unbedingten“ Reaktionen CD und DD: Der Spieler B defektiert, wenn A kooperiert; und er defektiert auch, wenn A defektiert. Weil B immer defektiert, egal was A tut, heißt diese Strategie auch „Immer D“, abgekürzt D++.
Insgesamt besteht der Strategieraum für den Bauern B unter der Bedingung der perfekten Information also aus vier unterschiedlichen Strategien, die sich aus den logischen Möglichkeiten der bedingten Reaktionen ergeben. Im Einzelnen: Strategie 1:
Immer C: Kooperation, egal ob der Bauer A kooperiert oder defektiert; abgekürzt: C++.
Strategie 2:
Die zur Handlung von A gleichläufige Strategie: C, wenn der andere C spielt, und D, wenn er D spielt; oder: „Wie Du mir, so ich Dir“, „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ bzw. Tit for Tat; abgekürzt: TFT.
Strategie 3:
Die dazu entgegengesetzte Strategie: D, wenn der andere C spielt, C, wenn er D spielt; oder: „Ich zu Dir, wie Du nicht zu mir“ bzw. Tat for Tit; abgekürzt: FTF.
Strategie 4:
Immer D: Defektion, egal was der Bauer A tut: abgekürzt: D++.
Der Strategieraum des Bauern B sieht, wie die Abbildung 2.2a zeigt, also etwas komplizierter aus als der von A: SB = (C++, TFT, FTF, D++). In den Zellen der Tabelle stehen die jeweiligen Ergebnisse des Handelns der beiden Akteure, wenn sie ihren Strategien folgen; CC, CD, DC und DD. Da es – bei allen Strategien – immer nur zwei mögliche Handlungen geben kann, bleibt es bei diesen 2·2 Kombinationen von C und D. Das ist in Abbildung 2.2b zusammengefaßt. Anders gesagt: Verschiedene Strategien können durchaus zum gleichen sichtbaren Ergebnis des Handelns führen. Und bei begrenzten Alternativen des Handelns – und nur zwei Akteuren – sind diese Ergebnisse auch immer noch überschaubar, so kompliziert die dahinter stehenden Strategien auch sein mögen. Wenn A jetzt nach dem Zug von B selbst noch einen weiteren Zug machen könnte, würde die Tabelle neu zu schreiben sein. Jetzt stünde der Akteur B mit seinen vier Strategien C++, TFT, FTF und D++ auf der linken Seite. Und darauf könnte A jetzt wieder jeweils reagieren. Ganz links stünde wieder C++, ganz rechts D++. Irgendwo auch TFT und FTF. Aber jetzt gäbe es weitere Kombinationsmöglichkeiten und Varianten von Strategien. Mit der Zunahme der Züge wächst so der Strategieraum für jeden Akteur bald ins Aschgraue. Für unsere Zwecke reichen jedoch schon die beiden ersten Züge eines Spieles bzw. die Betrachtung besonders über-
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Soziales Handeln
Spieler A
* D
C
Spieler B
*
C
*
D
C
Ergebnis
CC
CD DC
Auszahlung
3,3
1,4 4,1
D DD 2,2
Abb. 2.3: Spielbaum bei imperfekter Information sichtlicher Strategien, wie dies C++, TFT, FTF und D++ auch für sehr komplizierte und endlose Spiele ja durchaus sind.
Trotzdem ist die Darstellung immer noch recht unhandlich. Und sie enthält auch viele Dinge, die wir eigentlich nicht brauchen – wie wir gleich noch sehen werden. Wenn nichts dagegen spricht, sollte man die Beschreibung der Situation ja ohnehin möglichst vereinfachen. Und das machen wir nun. Die „reduzierte“ Form Bisher sind wir davon ausgegangen, daß die Akteure wissen, was vorher geschah. Es handelte sich um ein Spiel mit perfekter Information. Meist wissen die Akteure aber nicht, was der andere getan hat, was er tun wird oder wer gerade am Zuge ist. Das sind, wie oben schon gesagt, Spiele mit imperfekter Information. Als Spielbaum werden sie mit einer kleinen Veränderung dargestellt: Die Entscheidung des Vorspielers A ist für den Nachspieler B nicht erkennbar. Das ist durch die gestrichelte Linie bei der entsprechenden Verzweigung gekennzeichnet (Abbildung 2.3).
Strategien und Spiele
35
Nun „reduziert“ sich der Strategieraum für den Spieler B ebenfalls auf nur zwei Strategien: SB = (C,D): Wenn ich nicht weiß, was der andere getan hat, kann ich keine „bedingte“ Reaktion haben. Die möglichen Ergebnisse des gemeinsamen Handelns – CC, CD, DC und DD – bleiben natürlich – ebenso wie die Auszahlungen gleich. Die Matrixdarstellung In einem solchen Fall der imperfekten Information läßt sich die strategische Situation der beiden Akteure in einer noch weiter stark vereinfachten Form darstellen: als Matrix, in der die beiden Akteure A und B und ihre beiden Strategien C und D gekreuzt werden. Die Zellen beschreiben die vier Ergebniskombinationen, wobei die Entscheidung von A jeweils wieder vorne steht (vgl. Abbildung 2.4)
B C
D
C
CC
CD
D
DC
DD
A
Abb. 2.4: Die Matrixdarstellung des einfachen Austauschspieles bei imperfekter Information
Wenn man die Annahme der imperfekten Information machen kann, dann ist die Matrixdarstellung eine besonders übersichtliche Art der Beschreibung einer strategischen Situation. Natürlich verliert man einige Informationen, etwa über die Reihenfolge der Züge. Das ist aber oft zu verschmerzen. Und dann ist die einfachste Form der Darstellung einer strategischen Situation – wie hier – auch die beste. Deshalb werden wir ab jetzt vorwiegend mit dieser Matrixdarstellung arbeiten, wenn es um die Modellierung strategischer Situationen geht.
36
Soziales Handeln
Ergebnisse und Auszahlungen Interessant werden die strategischen Situationen für die Akteure nicht wegen der schönen Strategien, sondern wegen der Erträge, die sie jeweils erwarten können – oder befürchten müssen, je nachdem welches Ergebnis erreicht wird. Der Nutzen eines kollektiv erbrachten Ergebnisses für einen individuellen Akteur läßt sich – wie wir gesehen haben – als Auszahlung an den Akteur verstehen: der Wert der eingebrachten Ernte für jeden der beiden Bauern, abzüglich der für die Hilfeleistung jeweils aufgewandten Kosten – beispielsweise für die Kombination CC. Der genaue Wert dieser Auszahlungen ist hier nicht weiter interessant. Es kommt nur auf die Reihenfolge der Bewertungen für die verschiedenen Ergebnisse an. Den Wert der Auszahlungen muß man daher meist nicht umständlich messen, sondern kann ihn – mit ein wenig Einfühlungsvermögen in die Lebenswelt und in die sozialen Produktionsfunktionen der Akteure, hier: die der Bauern bei David Hume – gewissermaßen deduktiv ermitteln. Das war auch hier nicht schwer. Am meisten hätte ja – bei ganz und gar auf ihren individuellen Eigennutz bedachten, von jedem Mitgefühl und von aller Rücksichtsmoral freien Akteuren – A davon, wenn B ihm hilft, er selbst aber nicht. Diese Konstellation DC hat für A daher den höchsten Wert 4. Am schlechtesten wäre für A die umgekehrte Situation: A hilft, B aber nicht (CD). Dieses Ergebnis bekommt deshalb den geringsten Wert 1 für A. Die für A – nach der Ausbeutung der Gutmütigkeit von B durch A – zweitbeste Lösung wäre freilich, daß sich beide gegenseitig helfen (CC). Das ergibt einen Wert von 3 für A. Und dann bleibt noch der Fall, daß beide die Hilfe unterlassen (DD). Dieses Ergebnis ist für A zwar noch besser als die unerwiderte Vorleistung, aber schlechter als die gemeinsame Hilfe. Deshalb erhält es für A den Wert von 2. Die gleiche Bewertungsreihenfolge ergibt sich entsprechend für B.
Den Kombinationen CC, CD, DC und DD lassen sich demnach für A die Nutzenwerte 3, 1, 4 und 2 zuordnen, für B entsprechend die Nutzenwerte 3, 4, 1 und 2. In Abbildung 2.1 stehen diese Werte in der untersten Zeile. Die Auszahlungsfunktion Bei der extensiven Form des Spiels bei perfekter Information hat der Bauer A die beiden Strategien C und D zur Verfügung, der Bauer B die vier Strategien C++, TFT, FTF und D++ (vgl. Abbildung 2.2). In den acht Zellen stehen die verschiedenen Ergebnisse, für die oben die Auszahlungen bestimmt wurden. Entsprechend füllt sich die Matrix der möglichen Strategien mit den folgenden Auszahlungen (vgl. Abbildung 2.5):
37
Strategien und Spiele
C++
TFT
FTF
D++
C
3,3
3,3
1,4
1,4
D
4,1
2,2
4,1
2,2
Strategien B
Strategien A
Abb. 2.5: Auszahlungen für die Strategiekombinationen aus Abbildung 2.2
Die Zuordnung von Strategiekombinationen und Nutzenwerten für die Akteure wird auch als die Nutzenfunktion U des Spiels bezeichnet. Sie wird auch die Auszahlungsfunktion des Spiels genannt. Sie gibt für den gesamten Strategieraum S an, was jeder der Spieler erhält, wenn aufgrund der Handlungen der Akteure eine bestimmte Strategiekombination s entsteht. Deshalb gibt es für jeden Spieler eine gesonderte Auszahlungsfunktion u. Wir wollen sie mit uA und uB bezeichnen. Wenn s nun eine bestimmte Strategiekombination ist, dann gibt ui(s) den Nutzen an, den der Spieler i mit der Strategiekombination s verbindet. Beispielsweise hätte B von der Strategiekombination DC++ den Nutzen 1 und A den Nutzen 4. Es gilt also: uA(DC++)= 4 und uB(DC++)= 1. So können für jeden Akteur und für jede Strategiekombination bestimmte Nutzenwerte zugeordnet werden. Die „Lösung“ des Spiels Bei welcher Strategiekombination und bei welchem Ergebnis werden die Akteure aber bei dieser Verteilung der Auszahlungen landen? Zunächst sieht man, daß für den Bauern A die Kooperation nur dann günstiger wäre als die Defektion, wenn der Kollege B die Strategie TFT spielen würde; er bekäme dann für CC 3 gegenüber nur 2 Einheiten bei DD. Er müßte dann aber damit rechnen, von B ausgebeutet zu werden und bei den Kombinationen C,FTF oder C,D++ zu landen und nur eine Einheit zu bekommen. Also wird er auf jeden Fall D wählen. Dann aber bleibt dem B nichts anderes übrig, als selbst D zu spielen. Und die Folge: Die Kombination DD mit der Auszahlung 2,2 ist diejenige, bei der die Akteure in der Sequenz des Spiels mit perfekter Information angelangen. Dabei ist es letztlich gleich, welche Strategie B „wirklich“ verfolgt: Wenn A schon D gespielt hat, dann folgt die Defektion von B sowohl für TFT wie für D++.
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Soziales Handeln
Die Ableitung der „Lösung“ des Spiels ist aus der extensiven Form der Darstellung, wie man sieht, nicht ganz so einfach. Zu dem gleichen Ergebnis kommt man indessen auch bei der reduzierten Form – auf eine sehr viel leichter zu verstehende Weise. Bei imperfekter Information haben beide Spieler nur die beiden einfachen Strategien C und D. Daraus ergeben sich die folgenden Auszahlungsfunktionen für die dann gegebenen vier Strategiekombinationen der beiden Spieler A und B: Spieler A: uA(CC)=3; uA(CD)=1; uA(DC)=4; uA(DD)=2; Spieler B: uB(CC)=3; uB(CD)=4; uB(DC)=1; uB(DD)=2. Die Darstellung kann man getrost noch weiter vereinfachen und schreiben: Ergebniskombination Auszahlungen
CC 3,3
CD 1,4
DC 4,1
DD 2,2
Sie entspricht, wie man sieht, den beiden unteren Zeilen im Spielbaum aus Abbildung 2.1. Mit der Matrixform des reduzierten Spiels ist eine noch übersichtlichere Art der Darstellung der Auszahlungsfunktion möglich: Die Auszahlungen werden einfach so in die Zellen der Matrix geschrieben, daß sie den jeweiligen Strategiekombinationen CC, CD, DC und DD entsprechen (vgl. Abbildung 2.6):
B C
D
C
3,3
1,4
D
4,1
2,2
A
Abb. 2.6: Die tabellarische Darstellung der Auszahlungsfunktion
Strategien und Spiele
39
In dieser Form wird die „Lösung“ des betreffenden Spiels leicht erkennbar: Die Kombination DD bildet mit der (fettgedruckten) Auszahlung 2,2 ein Gleichgewicht. Das Argument ist leicht verstehbar. B wird – in Unkenntnis dessen, was A tatsächlich tut – die folgende Überlegung anstellen: Wenn A die Strategie C wählt, dann ist es für mich – B – besser, zu defektieren, weil ich jetzt einen Wert von 4 gegenüber einem von 3 erhalten kann. Wenn A aber zur Strategie D greift, dann ist es für mich – B – wieder besser, auch D zu spielen, weil eine Auszahlung von 2 besser als eine von 1 ist. In jedem Fall ist D die bessere Strategie. Sie dominiert gewissermaßen immer die Alternative C. Da A die gleichen Überlegungen anstellt, ist das zwangsläufige Ergebnis die Kombination DD mit der Auszahlung 2,2.
Dieser sehr vereinfachten Zuordnung von Strategiekombinationen und Nutzenwerten zu den Akteuren werden wir im folgenden immer wieder – und in unterschiedlicher Weise – begegnen. Sie beschreibt die Logik einer strategischen Situation auf eine sehr übersichtliche Weise. Der Auszahlungsraum Was die Spieler bei den verschiedenen Strategiekombinationen zu erwarten haben, läßt sich übersichtlich auch in einem sog. Auszahlungsraum darstellen (vgl. Abbildung 2.7). Die Achsen beschreiben die möglichen Auszahlungen für die Spieler (hier: für A und B). In dem Raum sind dann die Strategiekombinationen (hier: CC, DC, CD und DD) nach der Verteilung der Auszahlungen auf die (beiden) Spieler eingezeichnet. Es sollte an dieser Stelle ein an sich sehr zentrales Problem angesprochen werden, das wir bisher ausgeklammert haben. Die Bewertungen der Ergebnisse, die Auszahlungen, waren in ordinalen Kennwerten beziffert worden. Das reichte für die Darstellung des Problems der beiden Bauern auch aus. In dem Diagramm des Auszahlungsraumes haben wir jedoch die Rangziffern 1 bis 4 als sog. kardinale Zahlen, als Intervallskala also, interpretiert. Das ist so ohne weiteres natürlich nicht möglich. In Kapitel 5 in diesem Band werden wir – bei den sog. iterierten Spielen – das auch so machen müssen. Da es hier einstweilen nur auf das Grundverständnis der betreffenden strategischen Situation ankommt, sei die Vernachlässigung des an sich wichtigen Unterschiedes zwischen ordinaler und kardinaler Nutzenmessung hoffentlich verziehen.
Strategien und Spiele
41
tiv naheliegenden Wechsel von DD auf CC. Und da hilft auch keine Absprache, da immer einer von beiden in Vorleistung treten muß und der andere abwarten kann. Eine irrationale Sympathie, eine Norm oder ein Gefühl der Pflichterfüllung könnten die Lösung des Problems sein. Aber ob die stark genug ist, wenn es um eine komplette Ernte beim Nachbarn geht, wenn man von der eigenen noch ganz erschöpft ist, die einzubringen freilich der Nachbar gerade behilflich war? Die Elemente des Spiels
Mit den Spielern, mit deren Strategien und den daraus folgenden Strategiekombinationen und mit der Auszahlungsfunktion ist alles zusammen, was ein Spieltheoretiker braucht. Wir fassen sie noch einmal zusammen. Ein Spiel der Spieltheorie enthält: - die Menge der Spieler N (1, 2, ... , n; hier zwei: A und B); - die Strategien der Spieler (1, 2, ... , m; hier in der reduzierten Form des Spiels ebenfalls zwei: C und D); - die Menge der Strategiekombinationen s, die sich als m·n-Produkt aus der Kreuzung der Strategien der Spieler ergibt. Die Menge der Strategiekombinationen wird auch als Strategieraum S bezeichnet; hier besteht er in der reduzierten Form des Spiels aus den 2x2=4 Kombinationen CC, DC, CD und DD. - die Auszahlungsfunktion U, über die jedem Spieler i für jede Strategiekombination s des Strategieraumes S ein bestimmter Wert ui(s) als Auszahlung zugewiesen wird; sie lautet im Beispiel in der oben genannten Reihenfolge der Strategiekombinationen (3,3), (1,4), (4,1), (2,2).
Diese Elemente bilden die Logik der (Spiel-)Situation. Aus ihr folgen – über die Logik der Nutzenmaximierung für das Handeln der Akteure – die kollektiven Konsequenzen ebenfalls „logisch“: Die Wahl bestimmter Strategiekombinationen mit dem Ergebnis bestimmter Auszahlungen an die Akteure. Die Spieltheorie ist, so könnte man es nennen, eine spezielle Variante des Konzeptes der Situationslogik von Karl R. Popper – mit allen drei Schritten einer kompletten soziologischen Erklärung. Arten von Spielen
Arten von Spielen gibt es so viele wie strategische Situationen denkbar sind. Praktisch also: unendlich viele. Einige der Eigenschaften von Spielen helfen
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Soziales Handeln
aber, ein wenig Übersicht und Ordnung in diese Vielfalt zu bekommen (vgl. dazu noch Kapitel 3 in diesem Band näher). Eine erste wichtige Unterscheidung bezieht sich darauf, ob die Spieler bindende Abmachungen treffen können. Wenn das der Fall ist, dann handelt es sich um ein kooperatives Spiel; wenn nicht: dann ist es ein nicht-kooperatives Spiel. Wenn die Spieler mit bestimmten Strategiekombinationen gegenüber anderen Strategiekombinationen insgesamt nichts gewinnen können, wenn also die Auszahlungen bei allen Strategiekombinationen gleich sind, liegt ein Konstantsummen-Spiel vor. Ein Spezialfall davon ist das Nullsummen-Spiel: Hierbei ist die Summe der Auszahlungen für jede Strategiekombination genau gleich null. Jedes Konstantsummenspiel kann über eine einfache Transformation in ein Nullsummen-Spiel überführt werden. Die Konstanz der Summe der Auszahlungen – mit dem Spezialfall einer Summe von Null – hat eine wichtige Folge: Was der eine Spieler bei einer bestimmten Strategiekombination gewinnt, muß der andere verlieren. Deshalb sind Konstantsummen- bzw. Nullsummenspiele eine geeignete Modellierung von Konflikten aller Art (vgl. dazu noch Abschnitt 3.3 in diesem Band). Ein besonders verschärfter Spezialfall davon sind dann ferner noch die sog. Negativsummen-Spiele: Spiele, bei denen alle Auszahlungen negativ sind, aber in der Summe jeweils wieder konstant. Kriege sind, mindestens, wenn sie andauern, Beispiele dafür. Spiele, deren Auszahlungen sich nicht alle auf null addieren, sind dann natürlich Nicht-Nullsummen-Spiele (bzw. Nicht-Konstantsummen-Spiele). Man nennt sie auch Variable-Sum-Games, meist aber Mixed-Motive-Games. Spiele mit nur zwei Spielern heißen Zwei-Personen-Spiele; und entsprechend solche mit N Personen N-Personen-Spiele. Wenn sich das Spiel zwischen den Akteuren nicht wiederholt, ist es ein One-Shot-Game. Ein wiederholtes Spiel wird auch als iteriertes Spiel bezeichnet. Das sog. Superspiel ist ein Sonderfall eines iterierten Spiels. Es ist ein Gefangenendilemma mit einer vorher nicht festliegenden Anzahl von Wiederholungen (vgl. dazu Abschnitt 3.2, sowie Kapitel 5 in diesem Band insgesamt). Die Bauern bei David Hume befinden sich demnach in einem nicht-kooperativen, MixedMotive-, Zwei-Personen-, One-Shot-Spiel. Das macht ja gerade ihr Problem aus: Wenn sie sich verläßlich und für den anderen überzeugend binden könnten, würden sie sich gerne gegenseitig helfen – und beide etwas davon haben. Da sie sich aber nur einmal sehen, können sie auch nicht darauf setzen, erst einmal zu kooperieren und den übernächsten Zug abzuwarten, je nachdem, was der andere tut. Da die beiden nur eine sehr kleine Gruppe sind, wären Absprachen hingegen wieder relativ leicht zu überwachen. Das wäre anders bei einem NPersonen-Spiel mit sehr vielen, einander fremden Bauern.
Man ahnt es schon: Für die beiden Bauern gäbe es schon eine gewisse Chance auf gegenseitige Kooperation, auch ohne daß sie ihre egoistisch-rationale Na-
Strategien und Spiele
43
tur ändern müßten: Wenn sie davon ausgehen könnten, daß sie sich auch in Zukunft noch brauchen und begegnen werden. Das Spiel gegen die Natur
Bevor wir zu dem eigentlichen Ziel der Spieltheorie, den „Lösungen“, kommen, muß noch eine Ergänzung nachgetragen werden: „Strategien“ können nur denkende Menschen, allenfalls ein Schachcomputer haben. Und nur Menschen wollen ihren Nutzen maximieren. Manchmal ist es aber auch in strategischen Situationen nützlich, die eigene Strategie von bestimmten Umständen abhängig zu machen, die nicht auf einen anderen „strategischen“ Akteur zurückgehen, sondern auf sog. Non-players. Das sind Individuen, die selbst nicht strategisch, sondern zufällig oder nach „Natur“-Gesetzen agieren. Oder – mit Max Weber – etwas anders gesagt: Non-players sind Akteure, die kein soziales Handeln zeigen. Der Zufall, mit dem die non-players spielen, kann selbstverständlich auch mit einem „Parameter“ gewichtet sein: Ich erwarte, daß mit einer Wahrscheinlichkeit von .999 mir auf einem ausgeschilderten Radweg kein anderer Radfahrer rechts entgegenkommt. Das ist eine Erwartung über das Handeln anderer Akteure als eine Art von Naturereignis: Der generalisierte andere Akteur ist ein Teil der Parameter der Situation, auf die ich mich ganz isoliert und ohne weitere strategische Erwägungen einstellen kann.
Um derartige „parametrische“ Ereignisse auch in die Analyse strategischer Situationen einbeziehen zu können, hat sich die Spieltheorie – einer Anregung übrigens der Nobelpreisträger John C. Harsanyi und Reinhard Selten zufolge – einen hübschen Trick ausgedacht: Die Natur ist ein solcher Non-player, der seine Züge mit bestimmten Wahrscheinlichkeiten zu spezifischen Zeitpunkten eines Spiels macht. Auf dem Radweg spielt die „Natur“ also etwa das folgende Spiel: Sie zieht bei jeder Situation eines mir entgegenkommenden, selbst von mir nicht als strategischer Akteur angenommenen Radfahrers aus einer Urne mit 1000 Losen, wovon 999 Lose die Aufschrift „Rechtsverkehr“ und ein Los die Aufschrift „Linksverkehr“ aufweist, ein Los. Und so kommt auf meiner rechten Seite jemand mit einer Wahrscheinlichkeit von .001, auf meiner linken Seite jemand mit einer solchen von .999 daher. Also fahre ich wohl ohne großes Nachdenken rechts – und muß mich um ein besonderes strategisches Handeln meinerseits nicht weiter kümmern.
Die Eigenschaften der Menschen, etwa ihre Intelligenz oder den Grad ihrer Vertrauenswürdigkeit, kann man als einen solchen, meist vor dem overten Handeln dieses Akteurs nicht erkennbaren, Zug der „Natur“ ansehen. Das overte Handeln kann dann als ein Hinweis auf den Zug gewertet werden, den die Natur in diesem Spiel zu ziehen geruht hatte. Leider geschieht dieser Zug
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Soziales Handeln
meist im Verborgenen. Und man kann auch seine Vertrauenswürdigkeit „strategisch“ dem anderen nur vorspielen, um ihn dann erst recht übers Ohr zu hauen. Ein Beispiel: die Vertrauenswürdigkeit der Menschen als „Zug“ der „Natur“
Am Beispiel der Vertrauenswürdigkeit von Personen läßt sich leicht illustrieren, was gemeint ist. Dazu wollen wir wieder auf die beiden Bauern von David Hume vom Beginn dieses Kapitels zurückkommen. Das Problem bestand ja darin, daß der Bauer A dem Versprechen des Bauern B angesichts der Auszahlungsstruktur nicht vertrauen konnte, denn er wußte ja sicher, daß der Bauer B, wie er selbst, sofort die Gutmütigkeit des anderen ausnutzen würde (CCCD), wenngleich immer noch davon auszugehen wäre, daß er, wenn der Bauer A defektiert, auch eher defektieren würde als selbst ausgebeutet zu werden (DD>DC). Wir haben also jetzt zwei mögliche Situationen vor uns: die Situation 1, wie sie David Hume ursprünglich beschreibt, und die Situation 2, wie sie gerade skizziert wurde. In der Situation 1 kommt es, wie wir wissen, unweigerlich zur wechselseitigen Defektion (DD). In der Situation 2 würde es sich dagegen für den Bauern A auszahlen, in Vorleistung zu treten, weil dann ja der Bauer B selbst auch kooperieren würde, denn der bevorzugt ja unter der Bedingung der Kooperation durch A selbst die Kooperation. Es käme dann also zu der für beide erfreulichen Konstellation (CC), und zwar ebenso zwangsläufig. Alles hängt aber davon ab, ob der Bauer A davon ausgehen kann, daß der Bauer B jemand ist, der der Situation 1 entspricht – und damit nicht vertrauenswürdig ist. Oder ob die Situation 2 gegeben ist – und damit der Bauer B Vertrauen verdient. Was der Fall ist, das weiß der Bauer A jedoch nicht. Vielmehr hat hier die „Natur“ schon einen (nicht-strategischen) Zug gemacht: Der Bauer B ist mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit entweder vertrauenswürdig (1-p) oder nicht (p). Man könnte die beiden Situationen und das Spiel der Natur wieder als einen Spielbaum mit den entsprechenden Auszahlungen modellieren, diesmal jedoch als Spielbaum mit zwei Varianten (vgl. Abbildung 2.8).
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Strategien und Spiele
Natur
* p
(1-p)
Situation 1 Bauer A
*
*
*
*
C
D
C
D
C
D
C
D
C C
C D
D C
D D
C C
C D
D C
D D
1,4
4,1
2,2
3,4
1,3
4,1
2,2
Auszahlung 3,3
Abb. 2.8:
*
*
Bauer B
Ergebnis
Situation 2
Die Einschätzung der Vertrauenswürdigkeit als „Spiel gegen die Natur“
Der linke Zweig beschreibt die ursprüngliche Situation (1), in der der Bauer B, wie der Bauer A, egal, was geschieht, defektiert. Im rechten Zweig erkennt man die Veränderung beim Bauern B: Der wäre nun an einer Kooperation interessiert, wenn der Bauer A vorher kooperiert, sonst jedoch wieder nicht. Alles käme für den Bauern A also darauf an herauszufinden, ob die Situation 1 oder 2 „wirklich“ besteht und ob er gleich defektieren sollte oder es mit der Vorleistung probieren kann. Das Problem ist nur: Die Natur hat ihren Zug schon gemacht, und zwar im Verborgenen. Es ist ein Spiel mit imperfekter Information, wie die gestrichelte Linie für den ersten Zug der Natur zeigt. Und deshalb muß der Bauer A nun, anders als zuvor, eine (mit p riskante) Ent-
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Soziales Handeln
scheidung treffen, die Entscheidung nämlich, ob er dem B vertrauen soll oder nicht (vgl. dazu auch noch Abschnitt 3.2 in diesem Band und das sog. Vertrauensmodell). Woher aber weiß der Bauer A, wie groß p bzw. 1-p ist? Na klar: Er kennt den B vielleicht schon länger und weiß, daß der einen gewissen Ruf hat, etwa als verläßlicher Nachbar. Er weiß unter Umständen auch, daß der B mit anderen Akteuren noch zu tun hat, die er, A, wiederum kennt. Und er bemerkt möglicherweise, daß der B sein Versprechen mit dem Brustton der Selbstverständlichkeit und den Worten „Du kennst mich doch!“ abgibt. Alles dies sind Informationen, „Signale“ und „signifikante“ Symbole für den A, den Wert von 1-p nicht zu gering anzusetzen, besonders dann, wenn die Beziehung der beiden Akteure in ein dichtes Netz weiterer Kontakte eingebettet ist und der Bauer A daher davon ausgehen kann, daß sich ein Vertrauensbruch des B alsbald herumsprechen und der deshalb davor schon mit einiger Sicherheit zurückschrecken würde (siehe dazu auch noch Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“ und die Auswirkung von Netzwerkstrukturen auf die Plazierung von Vertrauen und die Entstehung von „sozialem“ Kapital). Vollkommen sicher kann er sich jedoch nie sein, ob die „Natur“ den für ihn „richtigen“ Zug getan hat, und bei einem komplett Fremden würde er wohl sehr viel vorsichtiger sein. Die „Parametrisierung“ der strategischen Situationen
Die in Kapitel 1 in diesem Band von den sozialen Situationen ausdrücklich unterschiedenen parametrischen Situationen lassen sich also – ganz allgemein – als solche verstehen, bei denen es nur ein solches „Spiel gegen die Natur“ gibt – obwohl natürlich darin im Prinzip zu Raffinesse fähige Akteure auch vorkommen können. Aber solange diese sich an fest berechenbare Regeln – Normen, Rollen oder soziale Drehbücher – halten, muß ich mir um deren Strategien und ihre Gerissenheit keine Sorgen machen. In dieser „Re“Parametrisierung der strategischen Situationen besteht ja gerade die Funktion der Normen. Und die „Gesellschaft“ ist dann jener Non-player, der das Spiel der „Natur“ übernimmt und den sozialen Situationen ihre hohe Komplexität und ihre doppelte Kontingenz nimmt.
Strategien und Spiele
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Lösungen und Gleichgewichte
Die Definition des Strategieraumes und der Auszahlungsfunktion bilden die Logik der strategischen Situation. Hier liegt der Ausgangspunkt der eigentlichen spieltheoretischen Analyse. Ist die Bestimmung der Situation über die Benennung der Strategien und der Auszahlungsfunktion geschafft, dann geht es „nur“ noch um die sog. Lösung des Spiels: die Ableitung der kollektiven Folgen aus den individuellen Strategiewahlen, die sich aus der jeweiligen strategischen Situation ergibt. Dabei geht es um ganz bestimmte kollektive Folgen: Strategiekombinationen, bei denen die Akteure – gewissermaßen – hängenbleiben, weil sie keinen Anreiz mehr haben, von ihrer jeweiligen Strategie abzuweichen. Eine solche Strategiekombination wird als Gleichgewicht bezeichnet. Es ist die Kombination der jeweils individuell „besten“ Strategien für die Spieler, gegeben die jeweiligen Auszahlungen und Strategien der anderen Spieler. Das Auffinden so definierter Gleichgewichte ist die Lösung des Spiels. Für das Auffinden von Gleichgewichten wird aber ein Kriterium benötigt, wonach davon gesprochen werden kann, ob ein Gleichgewicht vorliegt oder nicht. Solche Kriterien werden Lösungskonzepte genannt. Die Konzepte des Gleichgewichts in dominanten Strategien oder das des Nash-Gleichgewichts sind derartige Lösungskonzepte (siehe dazu unten mehr). Die gefundenen Lösungen können natürlich verschiedene Ergebnisse haben. Ein besonders wichtiger Fall ist der, daß es in einem Spiel nur ein solches Gleichgewicht gibt. Manchmal gibt es in einem Spiel aber mehrere Gleichgewichte. Gelegentlich gibt es auch einen unablässigen Wechsel des Handelns der Akteure, und ein Gleichgewicht will sich nicht einstellen. Dann existiert eben kein Gleichgewicht. Auch das ist natürlich eine wichtige Antwort auf die Frage nach den kollektiven Folgen bestimmter strategischer Situationen. Die meisten Lösungen – das sei noch einmal betont – lassen sich nur deshalb ableiten, weil die Annahme der Nutzenmaximierung gemacht wird, wenngleich es auch hier in der Spieltheorie Ausnahmen gibt, etwa die Minimierung drohender Verluste als Ziel des Handelns (vgl. dazu schon Abschnitt 7.3 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen„ sowie noch Abschnitt 3.3 in diesem Band). Diese Annahme ist schon deshalb für die Spieltheorie so selbstverständlich, daß sie meist nicht eigens erwähnt wird. Darüber macht sie sich keine besonderen Gedanken. Die Lösungen sind ohnehin meist der schwierigste Teil der Analyse. Allein um hierfür eine einfache und präzise Regel zur Hand zu haben, wird die Annahme der Rationalität benötigt. Und wenigstens diesen Nutzen bietet die Nutzentheorie: Sie ist präzise und erlaubt die Ableitung ganz spezifischer kollektiver Folgen.
48
Soziales Handeln
Dominante Strategien
Die spieltheoretische – nicht jedoch: die „gesellschaftliche“! – Lösung des Spiels der Bauern bei David Hume war die Feststellung, daß die Strategiekombination DD diejenige ist, auf die die Akteure zwangsläufig und unter allen ihnen vorstellbaren Alternativen des Handelns des jeweils anderen kommen: D ist für beide Spieler eine dominante Strategie. Sie ist die Strategie mit dem individuell jeweils besten Ergebnis – gleichgültig, was der jeweils andere Spieler tut. Wir wollen diesen Sachverhalt – ausnahmsweise – etwas formaler und allgemeiner ausdrücken. Wenn ein Spieler i die Strategien 1 oder 2 spielen kann, wenn Ui(s) der Nutzen des Spielers i bei einer bestimmten Strategiekombination s und sjk die Strategie k des jeweils anderen Spielers j ist, dann ist die Auszahlung für i bei Wahl – etwa – der Strategie 1 unter der Bedingung, daß der Spieler j die Strategie k spielt, gleich Ui(si1, sjk). Das ist nur eine etwas genauere und allgemeinere Beschreibung der Nutzenfunktion des Spiels, die ja den Nutzen der Auszahlungen mit den Strategiekombinationen zusammenbringt. Die Strategie 1 ist nun für den Spieler i gegenüber der Strategie 2 eine dominante Strategie genau dann, wenn gilt: Ui(si1, sjk) > Ui(si2, sjk).
Der Begriff des Gleichgewichts – als Kriterium für die Lösung eines Spiels – hat in der Spieltheorie verschiedene Bedeutungen. Und je nach dem jeweils angewandten Lösungskonzept für die Suche nach einem Gleichgewicht sehen die Lösungen auch anders aus. Eines der wichtigsten Konzepte ist das geschilderte Gleichgewicht in dominanten Strategien. Nash-Gleichgewicht
Nicht immer existieren aber dominante Strategien – und trotzdem lassen sich Gleichgewichte bestimmen. Nun muß – freilich immer im Rahmen der Annahmen der Spieltheorie – ein anderes Lösungskonzept definiert werden. Ein solches ist das Konzept des sog. Nash-Gleichgewichts. Wir sprachen oben bereits davon. Das Nash-Gleichgewicht ist nach seinem Erfinder John Nash benannt worden.4 Damit ist gemeint, daß keiner der beiden Akteure sich durch eine andere Strategie besser stellen könnte – sofern sich die anderen Akteure selbst daran halten, immer die Strategie mit der für sie besten Auszahlung zu wählen. Das aber hält die Spieltheorie mit ihrer Annahme der rationalen Egoisten ja für selbstverständlich. Eine Strategiekombination s* aus S heißt danach also Nash-Gleichgewicht, wenn für jeden Spieler i gilt: Keine alternative 4
John Nash, Non-Cooperative Games, in: Annals of Mathematics, 54, 1951, S. 286-295.
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Strategien und Spiele
Strategie sichert ihm einen höheren Nutzen, wenn alle anderen Spieler ihre Strategie ebenfalls nach dieser Regel wählen. Das klingt etwas unübersichtlich. Wir wollen das Konzept daher an einem Beispiel erläutern (Abbildung 2.9):
B
A
b1
b2
b3
a1
3,-3
1,1
-3,3
a2
1,1
(2,2)
1,1
a3
-3,3
1,1
3,-3
Abb. 2.9: Das Auffinden eines Nash-Gleichgewichts
Zuerst geht man von einem der Spieler aus, beispielsweise von B. Mit den Augen von B betrachtet man die Strategien von A der Reihe nach. Also dann: Wenn A die Strategie a1 wählt, ist es für B ratsam, die Strategie b3 zu spielen; denn dort gibt es für ihn mit 3 die höchste Auszahlung. Wählt A die Strategie a2, dann würde B seinerseits b2 bevorzugen. Und bei a3 wäre b1 die angemessene Wahl für B. Hier sieht man schon, daß es für B keine dominante Strategie gibt: Je nachdem, was A tut, ist für B eine andere Strategie ratsam. Aber es kommen jetzt eigentlich nur noch drei Strategiekombinationen als Gleichgewicht in Frage: a1,b3; a2,b2 und a3,b1. Andere Kombinationen sind für B als Nutzenmaximierer nicht akzeptabel. Er würde sofort abweichen. Nun muß also „nur“ noch untersucht werden, welche Strategie unter dieser Bedingung für A die beste wäre. Man sieht gleich, daß dies die Strategie a2 ist: Bei a1 würde B ja b3 spielen, und A erhielte eine Auszahlung von -3; bei a3 würde B die Strategie b1 spielen, und es gäbe für A wieder -3. Dagegen erhielte A bei a2 eine Auszahlung von 2. Und die ist bekanntlich besser als -3. Da A nun aber weiß, daß – wie er selbst – auch B ein Nutzenmaximierer ist und deshalb die Strategie b2 wählen wird, wenn er – A – die Strategie a2 wählt, tut er das auch. Zu dem gleichen Ergebnis kommt man natürlich auch, wenn wir bei A beginnen. Das Nash-Gleichgewicht liegt also bei der Strategiekombination a2,b2 mit der Auszahlung 2,2 an die Spieler A und B. Die Klammer in der Abbildung zeigt, wo es liegt.
Das Gleichgewicht in den Strategiewahlen entsteht also, weil die Strategie a2 für A die beste Antwort auf die Strategie b2 von B ist, und weil die Strategie b2 für B die beste Antwort auf die drei möglichen Strategien von A ist. Genau das ist gemeint, wenn von einem Nash-Gleichgewicht gesprochen wird: Jeder Spieler formuliert für sich Erwartungen darüber, welche Strategie der Gegner wohl einschlagen wird, und überlegt sich darauf seine eigenen Reaktionen.
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Man erkennt, daß das Nash-Gleichgewicht höhere Anforderungen an die strategische Empathie der Akteure stellt als das Konzept der dominanten Strategien. Sie können hier nicht einfach still vor sich hin ihren dominanten Strategien folgen, die ja für alle Strategien des Gegners gleich sind, und – gewissermaßen – auf das Gleichgewicht warten. Sondern sie müssen sich genau ansehen, was für den anderen die jeweils beste Lösung bei den eigenen Zügen wäre. Auch nun wollen wir – wieder: ausnahmsweise – eine etwas präzisere Definition einfügen. Eine Strategiekombination s* der n Spieler eines Spiels ist ein Nash-Gleichgewicht genau dann, wenn für jeden Spieler i gilt, daß die Auszahlung seiner Gleichgewichtsstrategie si* größer ist als die Auszahlung jeder anderen seiner Strategien – unter der Bedingung, daß die anderen Spieler j jeweils auch die Gleichgewichtsstrategie s* spielen. Wenn man die Auszahlung für i unter der Bedingung der Strategien von i und j allgemein mit ui(si, sj) beschreibt, dann läßt sich diese Bedingung für das Nash-Gleichgewicht so zusammenfassen: ui(si*, sj*) > ui(si, sj*). Ein Nash-Gleichgewicht heißt stark, wenn die Auszahlung darin tatsächlich besser ist als die Auszahlung aller anderen Alternativen, es heißt schwach, wenn mindestens eine Alternative die gleiche Auszahlung hätte. Nur: Eine höhere Auszahlung darf jedoch nirgendwo dabei sein.
Das Nash-Gleichgewicht liefert eine Lösung eines Spiels also auch dann, wenn es kein Gleichgewicht in dominanten Strategien gibt. Insofern ist es eine etwas „schwächere“ Konzeption eines Gleichgewichts. Es macht ernst mit der Annahme, daß die Akteure allesamt ihren Nutzen maximieren wollen: Wenn es schon keine dominanten Strategien gibt, dann muß sich der Akteur bei seiner Strategiewahl darauf verlassen, daß sich die anderen ihre Vorteile sichern wollen. Aber gerade das erzeugt dann wieder ein „Gleichgewicht“. Daraus ergibt sich eine typische Asymmetrie zwischen den beiden Gleichgewichtskonzepten: Jedes Gleichgewicht in dominanten Strategien ist auch ein Nash-Gleichgewicht, weil die dominanten Strategien natürlich stets auch die besten Antworten auf die Strategien des Gegners sind. Das umgekehrte gilt aber nicht: Es gibt – wie wir gesehen haben – „beste“ Antworten, die nur für bestimmte Strategien des Gegners gelten. Aber die kann der Akteur herausfinden, indem er annimmt, daß der Gegner auch nur sein Bestes will. Pareto-Optimum
Kehren wir aber zu den beiden Bauern bei David Hume zurück! Das betreffende – einzige! – Gleichgewicht hat, wie wir schon in Abbildung 2.1 deutlich gesehen haben, eine sehr unerfreuliche Eigenschaft: Es erzeugt eine stabile Konstellation DD, die mit (2,2) schlechter ist als das, was bei CC mit (3,3) im
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Prinzip möglich wäre. Die Spieltheorie hat auch dafür einen Ausdruck gefunden: Das Gleichgewicht ist ineffizient. Man sagt auch, es sei nicht paretooptimal oder es sei pareto-inferior. Ein Ergebnis Q eines Spiels wird dann als pareto-optimal bezeichnet, wenn es keine andere Konstellation gibt, bei der sich ein Akteur verbessern könnte, ohne einen anderen gleichzeitig zu verschlechtern. Ein Ergebnis, das nicht pareto-optimal ist, ist pareto-inferior. Der Begriff Pareto-Optimum wird zu Ehren des italienischen Ökonomen und Soziologen Vilfredo Pareto (1848-1923) benutzt. Pareto hatte sich – unter vielem anderen – um die Frage gesorgt, wie man eine Gemeinschaft durch eine bloße Umverteilung von Gütern mit mehr Wohlfahrt versorgen kann, ohne dabei jemanden schlechter zu stellen. Ein Optimum der Wohlfahrt sei danach dann erreicht, wenn jede andere Verteilung mindestens einen der Akteure der Gemeinschaft schlechter stellen würde.
Dieses Optimum läge im Beispiel der Erntehilfe bei CC. Denn nun kann sich keiner verbessern, ohne den anderen schlechter zu stellen: Bei DC würde sich A verbessern, der B würde jedoch deutlich verlieren. Bei CD wäre das umgekehrt. Und bei DD sind beide die Dummen, da sie sich gemeinsam verbessern könnten. Alles spräche also „kollektiv“ für CC. Leider ist C aber keine dominante Strategie der Akteure, und CC ist leider auch kein Nash-Gleichgewicht. Das Gleichgewicht liegt bei DD, der kollektiv sogar schlechtesten Lösung, weil es hier insgesamt nur 2+2=4 Werteinheiten gibt, und bei allen anderen Konstellationen mehr. Und genau darin liegt das Problem, auf das David Hume seine Leser aufmerksam machen wollte – wenngleich mit anderen Worten als denen der heutigen Spieltheorie: Der rationale Egoismus kann die Menschen in stabile pareto-inferiore Gleichgewichte führen, die sie nicht wünschen, obwohl es bessere, pareto-optimale kollektive Lösungen gibt, an denen sie im Prinzip auch interessiert sind. Eine der wichtigsten Aufgaben der Soziologie liegt darin, institutionelle Regelungen zu finden, über die die Akteure in Situationen, wie sie im Erntehilfebeispiel von David Hume beschrieben sind, aus dem pareto-inferioren in ein pareto-optimales Gleichgewicht kommen können – ohne daß sie dafür ihre Natur ändern und Engel werden müssen. Wie das gehen könnte, werden wir in den folgenden Kapiteln noch ausführlich besprechen.
Exkurs über das Spiel Die Spieltheorie ist eine mathematische Disziplin, die sich vor allem mit den Lösungen bestimmter strategischer Interdependenzen befaßt. Sie ist inzwischen eine sehr komplizierte Angelegenheit geworden, die, wenn man sie
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ernsthaft betreiben will, fast schon ein eigenes Studium erfordert. Die hier beschriebenen Einzelheiten und Grundideen reichen jedoch aus, um die wichtigsten Grundkonstellationen strategischer Situationen darstellen zu können, mit denen es die Soziologie zu tun hat. Wer mehr wissen will, sollte sich unbedingt eines der in Fußnote 1 angegebenen Bücher ansehen – oder einmal zu den Volkswirten gehen, die heute sehr ausführlich auch Spieltheorie betreiben. Ein Spiel in der Spieltheorie ist aber offenbar etwas anderes als sonst in der Soziologie mit dem Begriff des Spiels gemeint ist. Den wohl wichtigsten Unterschied nennt der niederländische Freizeitsoziologe Jan Huizinga gleich zu Beginn seines in den 50er Jahren sehr einflußreichen Büchleins über den homo ludens: „Alles Spiel ist zunächst und vor allem ein freies Handeln.“5
Von homo ludens kann bei den beiden Bauern von David Hume wohl kaum gesprochen werden. Sie sind in mehrfacher Hinsicht „gefangen“: individuell in ihrer festen Bindung an die Maxime der Nutzenmaximierung, kollektiv in ihren dominanten Strategien und in der Falle der wechselseitigen Defektion. Strategien sind für sie bloße Mittel zur Mehrung des individuellen Vorteils – ohne jede weitere Freude an dem Spiel „an sich“. Die alles andere als zweckfreien Spiele des homo oeconomicus der Spieltheorie wollen wir im Folgenden zur besseren Unterscheidung von den eher „spielerischen“ Spielen des homo ludens auch als strategische Spiele bezeichnen. Und für die anderen Spiele soll es beim üblichen Ausdruck bleiben: Spiel. Das – mitunter sicher auch sehr strategische – Spiel des homo ludens dagegen „ ... steht außerhalb des Prozesses der unmittelbaren Befriedigung von Notwendigkeiten und Begierden, ja es unterbricht diesen Prozeß. Es schiebt sich zwischen ihn als eine zeitweilige Handlung ein. Diese läuft in sich selbst ab und wird um der Befriedigung willen verrichtet, die in der Verrichtung selbst liegt. So wenigstens stellt sich uns das Spiel an sich und in erster Instanz betrachtet dar: als ein Intermezzo im täglichen Leben, als Betätigung in der Erholungszeit und zur Erholung.“ (Ebd., S. 16; Hervorhebung nicht im Original)
Sein „Nutzen“ liegt in der spielerischen Tätigkeit selbst, nicht in den individuellen Vorteilen außerhalb. Es bringt zwar den Spielern durchaus etwas: an Spaß, an Befriedigung, an Lustgewinn. Der Spaß am Spiel kommt aber vor allem von der spielerischen Betätigung „sui generis“. Die Ziele des Spiels liegen
5
Johan Huizinga, Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, Hamburg 1956, S. 15; Hervorhebung im Original.
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„ ... außerhalb des Bereichs des direkt materiellen Interesses oder der individuellen Befriedigung von Lebensnotwendigkeiten.“ (Ebd., S. 16)
Spiele sind, in der Terminologie des Kapitels 3 aus Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“, „Erlebnisse“. Spiele schaffen eine zeitlich begrenzte eigene Welt mit einer eigenen und unbedingten Ordnung. Es ist diese Exklusivität und Striktheit einer künstlich geschaffenen Ordnung, die ihren Zauber und die Entlastung vom Alltag ausmachen: „In die unvollkommene Welt und in das verworrene Leben bringt es eine zeitweilige begrenzte Vollkommenheit.“ (Ebd., S. 17)
Verheerend für ein Spiel sind deshalb die Spielverderber. Sie sind schlimmer als die Falschspieler. Die halten sich ja immer noch an die Regeln und erhalten wenigstens „dem Scheine nach den Zauberkreis des Spiels“ (Ebd., S. 19). Kurz: Erst bestimmte Regeln – die Spielregeln – machen das Spiel zu einem Spiel, das dann auch die Mitspieler alle erfreut, auch den Verlierer. Nur in der strikten Beachtung seiner Regeln kann das Spiel jene Außeralltäglichkeit entfalten, die seinen Reiz „an sich“ ausmacht. Innerhalb des Rahmens der Spielregeln ist dann jedoch wieder viel Platz für das, was Jan Huizinga implizit an den strategischen Spielen der Spieltheorie kritisiert: der geschickte und fintenreiche Versuch, sich Vorteile zu verschaffen und das Spiel möglichst zu gewinnen: Abseitsfalle, Pokerface, Damenopfer. Spiele haben also eine interessante Doppelstruktur: Sie sind „freies Handeln“ und gleichzeitig bestimmten strikten Regeln unterworfen. George Herbert Mead hat in seiner Theorie der Sozialisation durch symbolische Interaktion auf eine Unterscheidung aufmerksam gemacht, die diese beiden Bedeutungen des Begriffs Spiel im Englischen gut wiedergibt:6 das noch nicht an ernsthaftere Folgen gebundene, „spielerische“ Hineinversetzen in Rollen, besonders bei Kindern – das Play. Und das als Wettkampf organisierte Game, bei dem die Einhaltung der Regeln von den Mitspielern genau beachtet wird. Beim Play gibt es nur ein einfaches Arrangement verschiedener Rollen – Mutter und Kind zum Beispiel –, die ein Kind etwa mit seinen Puppen ausprobiert. Play meint die lockere Übernahme mal dieser, mal jener Rolle – ohne Eingrenzung und Verbindlichkeit, wenngleich nicht ohne selbstversunkene Entrücktheit. Das ist ganz anders beim Wettkampf, beim Game. Nun gibt es eine festgelegte, nicht im Belieben des einzelnen Akteurs stehende Regelung des Ablaufs. Sie ist den Teilnehmern als Muster genau bekannt und wird wechselseitig auch auf Regelverletzungen hin kontrolliert. Das Play ist so etwas wie ein Spiel zur spielerischen Einübung in das Repertoire der sozialen Drehbücher und ein erster Schritt zur Sozialisation von 6
George Herbert Mead, Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus, Frankfurt/M. 1973 (zuerst: 1934), S. 201ff. Vgl. zur Einbettung dieses Gedankens in die Handlungs-, Interaktions- und Sozialisationstheorie von George H. Mead auch noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“.
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Soziales Handeln
Kindern. Das Game simuliert dagegen den Ernst der Abläufe der Rollenspiele des Lebens mit den bereits sehr „wirklichen“ Sanktionen, die jedem Falschspieler oder Spielverderber gerade bei den Kinderspielen drohen.
Play und Game bezeichnen für George Herbert Mead daher auch zwei wichtige Phasen der „Entwicklung“ von Kindern und der Vorbereitung auf den Ernst des Lebens – das dann ja bekanntlich rasch mit strategischen Spielen aller Art aufwartet. Die Spielregeln der vielen Games des Alltagslebens bilden den – mehr oder weniger – unverrückbaren Rahmen der Beziehungen der Akteure. Manche dieser Regeln sind dazu da, die schädlichen Folgen rein strategischer Spiele einzudämmen. Innerhalb dieses Rahmens ist dann aber wieder viel Raum für strategisches Handeln und Material für die Spieltheorie – bis auf den keineswegs seltenen Fall, daß die Spielregeln vorschreiben, kein strategisches Spiel zu treiben, sich nicht strategisch und nicht wie ein rationaler Egoist zu verhalten. Wer sich unter dieser Spielregel strategisch verhielte, würde sich nur selbst schaden. Und wer klug ist und strategisch denken kann, läßt es dann auch. Huizingas Büchlein erschien 1956. Das war eine Zeit der extremen Doppelmoral und der Bigotterie mit einer interessanten Arbeitsteilung unter den sogenannten und – zu einem nicht geringen Teil – aus dem tausendjährigen Reich mühelos in die Demokratie hinübergewechselten Eliten: Der Wiederaufbau geschah mit allen Mitteln des strategischen homo oeconomicus, während die Kulturschaffenden – vor allem die Deutschlehrer – sich vor dem Aufstand der nutzenorientierten, egoistischen, Rock-and-Roll-tanzenden, proletarischen Massen und dem Verfall der Kultur durch die Micky Maus und Donald Duck sorgten. Den homo ludens lasen die vielen Pädagogen – und all die vielen anderen guten Menschen – damals zur Adenauer-Zeit mit großem Entzücken. Sie alle waren mit der Reduktion des Menschen als homo sapiens, als homo faber, als homo sociologicus oder gar als homo oeconomicus nicht zufrieden und witterten in der Technisierung, Rationalisierung, Verstädterung, Modernisierung, Individualisierung und Trivialisierung des Lebens den Untergang des Abendlandes. Da kam Jan Huizinga mit seinem etwas feingeistigen und freischwebenden homo ludens wie gerufen. Er ist heute fast vergessen – nicht aber die Sehnsucht nach der Freiheit des spielerischen Spiels und die Furcht vor den strategischen Spielen der vielen rationalen Egoisten um uns herum.
Kapitel 3
Strategische Situationen
Die Bauern im Erntehilfebeispiel von David Hume, von denen wir im letzten Kapitel berichtet haben, befanden sich in dem sog. Prisoner’s Dilemma, dem Gefangenendilemma (vgl. dazu noch Abschnitt 3.2 in diesem Band gleich unten). Es gelten die folgenden Bewertungen der vier Strategiekombinationen: Bauer A: uA(DC)>uA(CC)>uA(DD)>uA(CD) Bauer B: uB(CD)>uB(CC)>uB(DD)>uB(DC). Das Ergebnis war für beide unerfreulich: Wechselseitige Defektion, u.a. weil die Ausbeutung der Kooperation durch den anderen am meisten gefürchtet wird – mehr noch als die wechselseitige Defektion. Die Rangordnung der Auszahlungswerte könnte in strategischen Situationen aber natürlich auch anders sein. Beispielsweise könnte auch die wechselseitige Defektion das sein, was beide Akteure jeweils am meisten fürchten, mehr jedenfalls noch als die einseitige Ausbeutung. Eine solche Situation wäre etwa dann gegeben, wenn die beiden Bauern auf Gedeih und Verderb darauf angewiesen sind, daß wenigstens irgendeiner der beiden etwas tut, was für beide von Bedeutung ist: Bei wechselseitiger Defektion gehen sie, so glauben sie jedenfalls, beide unter – unter Umständen: im wörtlichen Sinne. Beispielsweise: Die beiden Bauern wohnen in einem Gebiet, das von Überschwemmungen bedroht ist. Sie wissen, daß dagegen nur der Bau eines Deiches schützen würde. Den könnte zur Not einer von ihnen alleine fertigstellen. Einfacher und besser wäre es natürlich, wenn sie das als Gemeinschaftsaufgabe zusammen erledigen würden (CC). Wenn niemand etwas tut, droht beiden jedoch der kollektive Untergang. Die wechselseitige Defektion (DD) fürchten sie daher beide – anders als im Erntehilfebeispiel – am meisten. Am schönsten wäre es für jeden Einzelnen natürlich wieder, wenn der andere – A etwa – den Deich baut, und er – B zum Beispiel – beruhigt zusieht (CD). Schlecht wäre wieder der umgekehrte Fall: Ich – B – mache mir die Mühe des Deichbaus und schütze dabei auch mich vor dem Untergang, aber der andere – A – genießt kostenlos die Früchte meiner Arbeit (DC). Anders als beim Erntehilfebeispiel ist diesmal also die einseitige Ausbeutung nicht das Schlimmste, was jedem passieren kann, sondern die wechselseitige Defektion. Deshalb wartet jeder darauf, daß der andere die Nerven verliert und alsbald mit dem Deichbau beginnt. Wer aber die stärkeren Nerven hat – das weiß vorab niemand. Hoffentlich ist nicht alles zu spät, wenn die Flut kommt.
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Soziales Handeln
Bei einer solchen Konstellation – nennen wir sie das Deichbauernbeispiel – ergäbe sich die folgende Struktur in den Auszahlungen für die verschiedenen Ergebnisse: Bauer A: uA(DC)>uA(CC)>uA(CD)>uA(DD) Bauer B: uB(CD)>uB(CC)>uB(DC)>uB(DD). Diese – recht unscheinbare – Änderung in der Bewertung der wechselseitigen Defektion gegenüber der einseitigen Ausbeutung erzeugt nun aber eine ganz neue strategische Situation: ein sog. Chicken Game. Dieses Spiel hat eine gänzlich andere Lösung als das Prisoner’s Dilemma (vgl. dazu noch Abschnitt 3.2 in diesem Band gleich unten): Jetzt gibt es kein eindeutiges Gleichgewicht mehr. Zwar ist jeder der Bauern im Grunde bereit, selbst anzupacken, bevor gar nichts geschieht. Aber immer lauert jeder, wer wohl als erster anfängt. Drei Grundmuster ... Das Beispiel deutet auf die mögliche Vielfalt an strategischen Situationen durch die Veränderung in der Struktur der Auszahlungen hin. Selbst wenn man nur die Reihenfolge und nicht einmal die absoluten Beträge in den Werten der Auszahlungen betrachtet, ergeben sich schon für den einfachsten Fall einer strategischen Situation eines One-shot-game zwischen nur zwei Akteuren und bei nur zwei Alternativen des Handelns zahllose Möglichkeiten.1 Es hat sich aber – Gott sei Dank! – gezeigt, daß sich eine Reihe soziologisch bedeutsamer Konstellationen auf nur einige wenige Konstellationen zurückführen lassen.2 Drei Grundmuster solcher strategischer Situationen sind soziologisch besonders wichtig: das Problem der Koordination, soziale Dilemmasituationen und Konflikte. Sie haben – mal mehr, mal weniger – mit dem schon 1
2
Aus der Permutation der Auszahlungen in den vier Feldern eines 2x2-Spieles ergeben sich schon 576 verschiedene Typen. Die meisten der so resultierenden Spiele sind aber äquivalent mit anderen. Übrig bleiben 78 nicht-äquivalente Typen. Schon bei einer Spielerzahl von 3 explodieren die Möglichkeiten; es ergeben sich dann fast 2 Milliarden Kombinationen. Vgl. Anatol Rapoport und Melvin Guyer, A Taxonomy of 2x2 Games, in: General Systems, 11, 1966, S. 203-214; Anatol Rapoport, Exploiter, Leader, Hero, and Martyr: The Four Archetypes of the 2 x 2 Game, in: Behavioral Science, 12, 1967, S. 83. Vgl. zu den wichtigsten Grundkonstellationen strategischer Situationen etwa: Werner Güth und Hartmut Kliemt, Elementare spieltheoretische Modelle sozialer Kooperation, in: Ökonomie und Gesellschaft, Jahrbuch 12: Soziale Kooperation, Frankfurt/M. und New York 1995, Abschnitt 2: „Grundprobleme sozialer Kooperation“, S. 14-25; Andreas Diekmann, Soziale Dilemmata. Modelle, Typisierungen und empirische Resultate (1), in: Hartmut Esser und Klaus G. Troitzsch (Hrsg.), Modellierung sozialer Prozesse, Bonn 1991, S. 417-456.
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öfter genannten Grundzug der menschlichen Existenz zu tun: die antagonistischen Kooperation. ... und drei Beispiele Es gibt kaum einen Bereich des sozialen Lebens, an dem sich die Problemlagen der antagonistischen Kooperation und die drei Grundmuster strategischer Situationen schöner darstellen lassen, als die sog. Beziehungskisten: Love is – neben vielem anderen, das ohne Zweifel mit Kooperation zu hat – ja auch a battlefield. Wir wollen die drei Grundmuster daher zunächst an Hand von drei Beispielen aus der Welt der Beziehungskisten etwas anschaulicher machen. Der erste Fall: Zu Dir oder zu mir? Ein Paar, das sich gerade kennengelernt hat, habe sich – weil die Bahn nahte und die Zeit drängte – über den kurzen einseitigen Zuruf „Also dann bis Freitag. Um sieben!“ für das nächste Date verabredet. Der Freitag ist da, aber wo wollten sich die beiden treffen? Bei ihr oder bei ihm? Das Problem besteht offenbar in der Koordination des Tuns, ganz ähnlich dem Problem der anarchischen Radfahrer auf dem Radweg, die nicht wissen, ob gerade Rechts- oder Linksverkehr angesagt ist. Meist ist das kein schwieriges Problem. Der Ort des Treffens muß nach einiger Zeit nicht mehr besonders thematisiert werden, weil er irgendwie aus Gewohnheit selbstverständlich geworden ist oder aus unscheinbaren Nebensächlichkeiten leicht erschlossen werden kann. Aber was, wenn nicht, und das Handy nicht zur Hand ist, nur eine(r) der beiden eines hat, oder beide sich dauernd gleichzeitig anrufen und immer ist besetzt, weil sie das beide gleichzeitig tun? Der zweite Fall: Wer spült? Die Schaffung einer häuslichen Ordnung ist – unter gleichberechtigten Partnern – eine strategische Situation erster Güte: Am besten für beide wäre es, wenn beide gemeinsam aufräumen. Tut es nur einer, dann hat er die ganze Last, aber der andere profitiert von der Ordnung, ohne einen Finger zu rühren.
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Und weil beide so denken, sieht es bald aus wie bei Hempels unter dem Sofa. Es handelt sich offenbar um das gleiche Problem wie bei den beiden Bauern aus dem Erntehilfebeispiel. Analog zu der oben geschilderten Modifikation des Erntehilfebeispiels zum Deichbauernbeispiel kann sich aber auch der Zustand der Wohnung – wir möchten ihn hier nicht näher beschreiben – so zuspitzen, daß es beiden zuviel wird – bis schließlich eine(r) die Nerven verliert und dann vielleicht doch – nicht ohne die dazu gehörenden Verlautbarungen – alleine aufräumt. Aber er/sie nimmt sich fest vor, beim nächsten Mal so lange zu warten, bis der/die andere zu putzen beginnt. Nicht immer muß es aber so ausgehen. Wenn beide Partner – wie man häufig genug wohl annehmen kann – letztlich eine gemeinsam aufgeräumte Wohnung höher schätzen als eine, bei der sich nur der andere alleine geplagt hat – etwa weil man es selbst nicht ertragen kann, sich wie eine Drohne mit dem Freizeitanzug aus Fallschirmseide und einem Sixpack in das gemachte Bett zu legen –, dann gibt es nur noch ein Problem: Ich möchte nur nicht selbst der/die Dumme sein, der alleine die Wohnung aufräumt und zusehen muß, wie der/die andere sich ein schönes Leben macht. Wenn ich aber darauf vertrauen kann, daß der/die andere sich auch an der Arbeit beteiligt, wenn ich es tue – etwa weil er/sie erkennbar genauso denkt wie ich –, dann bin ich gerne auch dazu bereit. Alle drei Konstellationen der geschilderten häuslichen Ordnung sind strategische Situationen, die wir zusammenfassend als Dilemma-Situationen bezeichnen möchten. Das Grundmuster ist das bereits erwähnte Prisoner’s Dilemma. Die beiden anderen Konstellationen sind jeweils nichts anderes als punktuelle Änderungen dieses Grundmusters: das im Deichbauernbeispiel angesprochene Chicken Game, bei dem DD von beiden am meisten gefürchtet wird; und das sog. Assurance Game, bei dem CC höher bewertet wird als DC bzw. CD, jeweils aus der Sicht von A bzw. B. Der dritte Fall: Welcher Film? Zurück zu unserem jungen Paar. Wahrscheinlich haben sie sich bald ohne Probleme gefunden, weil jeder genau wußte, daß es für einen Besuch jeweils beim anderen noch etwas zu unpassend sein würde und daß der gemeinte Treffpunkt nur der Neumarkt sein konnte – jene Stätte der ersten unvergeßlichen Begegnung. Aber sofort gibt es ein neues Problem: Was sollen wir denn heute abend machen? Ins Kino! Aber welchen Film? Er mag Meg Ryan und
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will in French Kiss, sie mag Johnny Depp und möchte in Don Juan de la Marco. Das Problem wird gleich klar: In welchen Film sie auch gehen werden – einer der beiden muß zurückstecken. Das ist ersichtlich die Konstellation eines Konfliktes. Dieser Konflikt ist aber noch relativ milde, weil auch der Partner, der den jeweiligen Film nicht mag, immerhin noch die Gemeinsamkeit genießen kann: Sie mögen sich ja gegenseitig sehr und bewerten eine Trennung noch geringer als das gemeinsame Ansehen eines ungeliebten Films. Wahrscheinlich werden beide aus Liebe gegenseitig nachgeben wollen – und vor lauter Rücksichtnahme den Anfang des Films verpassen, in Streit geraten und erbost auseinandergehen. Möglicherweise werden sie aber eine andere Lösung finden, weil sie beide das Auseinandergehen ja gerade vermeiden wollen. Sie können beispielsweise eine Münze werfen oder sich verabreden, morgen in den anderen Film zu gehen. Eine solche Rücksichtnahme wäre nach der Scheidung des zwischenzeitlich verheirateten und zerstrittenen Paares wohl kaum mehr zu erwarten – etwa dann, wenn es um das Sorgerecht für das inzwischen eingetroffene Kind geht: Wer es hat, nimmt es dem anderen. Das wäre ein typischer Fall eines Nullsummen-Spieles. Es ist die schärfste Form eines Konfliktes. Und der Kampf um das umstrittene Gut bzw. um die Alternativen, die zu seiner Erlangung angestrebt werden, ist entsprechend gnadenlos, weil der Gewinn des einen immer auf Kosten des anderen geht. *** Koordinationsprobleme, Dilemmasituationen und Konflikte sind die drei wichtigsten Grundmuster strategischer Situationen, mit denen sich schon eine große Zahl inhaltlich ganz unterschiedlicher soziologischer Probleme beschreiben lassen. Sie erzeugen jeweils ganz typische Arten von Problemen für den Umgang der Akteure miteinander. Sie ziehen deshalb auch einen jeweils typischen Bedarf an Regelung und Normierung nach sich. Sie unterscheiden sich insbesondere darin, daß eine „gesellschaftliche“ Lösung des jeweils gegebenen Problems nicht immer gleichermaßen auch schon im „individuellen“ Interesse der Akteure liegt.
3.1
Koordination
Am einfachsten ist die Lösung des Problems der Sicherung eines auch kollektiv vernünftigen sozialen Handelns noch bei dem ersten Muster: dem Problem der Koordination.
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Soziales Handeln
Das Problem der Koordination Situationen, in denen es ein Problem der Koordination gibt, lassen sich bei zwei Akteuren A und B und zwei Alternativen des Handelns 1 und 2 wie in Abbildung 3.1 darstellen:
B 1
2
1
4,4
0,0
2
0,0
4,4
A
Abb. 3.1: Das Problem der Koordination
Das Problem ist leicht erkennbar: Die beiden Akteure können nur etwas gewinnen, wenn sie ihr Handeln koordinieren – hier: jeweils 4 Einheiten für die Kombinationen 1,1 oder 2,2. Verfehlen sie die Koordination, gehen sie beide leer aus: bei 1,2 oder bei 2,1 gibt es nichts.3 Beispiele für solche Situationen sind zahllos: Was soll ich anziehen, um nicht aufzufallen? Wer ruft zuerst wieder an, wenn die Leitung bei einem Telefonat unterbrochen wurde? Oder auch: Rechts- oder Linksgewinde bei Schrauben und Muttern, technische Normen aller Art, Pal oder Secam für das 3
Vgl. zum Problem der Koordination insbesondere: Thomas C. Schelling, The Strategy of Conflict, Cambridge, Mass., 1960, Kapitel 3 und 4; David Lewis, Konventionen. Eine sprachphilosophische Abhandlung, Berlin und New York 1975, Kapitel I: Koordination und Konvention; Edna Ullmann-Margalit, The Emergence of Norms, Oxford 1977, Kapitel II: CoOrdination Norms.
Strategische Situationen
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Farbfernsehen, VHS oder Video 2000 und eben auch das Finden eines Treffpunktes bei einem nicht weiter bestimmten Rendezvous. Immer geht es darum, eine von beiden Akteuren angestrebte Abstimmung, eine Koordination, des Handelns zu erreichen. Diese Abstimmung ist ohne weiteres nicht erreichbar, weil niemand vorher weiß, was der jeweils andere Akteur tun wird. Es gibt keine dominante Strategie, sondern zwei mögliche Gleichgewichte – 1,1 und 2,2 mit den Auszahlungen 4,4 jeweils (fettgedruckt in der Abbildung). Diese Gleichgewichte sind – einmal erreicht – stabil: Wenn die Abstimmung gelingt, dann hat niemand ein Interesse, von der einmal gefundenen Koordination wieder abzuweichen, weil er sich – und den anderen gleich mit – dann nur schlechter stellen würde. Das Problem ist nur: Wie findet man die Koordination, die allen nützt? Die beiden möglichen Gleichgewichte sind jeweils Nash-Gleichgewichte. Zur Erinnerung: Eine Strategiekombination ist ein Nash-Gleichgewicht genau dann, wenn für jeden Spieler gilt, daß die Auszahlung seiner Gleichgewichtsstrategie unter der Bedingung, daß die anderen Spieler ebenfalls diese Gleichgewichtsstrategie spielen, größer ist als die Auszahlung jeder anderen seiner Strategien (vgl. dazu Kapitel 2 in diesem Band). Wenn nun beispielsweise bekannt ist, daß Spieler B die Strategie 2 gewählt hat, dann würde A nur verlieren, wenn er selbst nicht auch die Strategie 2 wählt. Die Strategie 2 ist daher in diesem Fall die Gleichgewichtsstrategie für A. Denn es gilt hier: uA(sA*,sB*)=4>uA(sA,sB*)=0.
Drei Eigenschaften kennzeichnen das Problem der Koordination: die Gemeinsamkeit der Interessen an einer gelingenden Koordination, das Fehlen dominanter Strategien und die Existenz mehrerer Gleichgewichte sowie die (pareto-) Optimalität einer einmal gefundenen Lösung. Lösungen Am einfachsten wäre eine Lösung des Problems der Koordination natürlich über eine rasche Absprache. Aber das geht nicht immer. Und dann wird es kompliziert. Thomas C. Schelling hat diese Schwierigkeit am Beispiel eines Ehepaares beim Einkauf so geschildert: „When a man loses his wife in a department store without any prior understanding on where to meet if they get separated, the chances are good that they will find each other. It ist likely that each will think of some obvious place to meet, so obvious that each will be sure that the other is sure that it is ‚obvious‘ to both of them. One does not simply predict where the other will go, since the other will go where he predicts the first to go, which is wherever the first predicts the second to predict the first to go, and so ad infinitum. Not ‚What would I do if I were she?‘ but ‚What would I do if I were she wondering what she would do if she were I wondering what I would do if I were she ... ‘.“ (Schelling 1960, S. 54; Hervorhebung nicht im Original)
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Soziales Handeln
Kurz: Ohne weiteren Anhaltspunkt verlieren sich die gegenseitigen Überlegungen zur Koordination des Handelns in einer Spirale des Unendlichen einer auf immer höhere Stufen der Empathie getriebenen Kalkulation. Das Problem verschärft sich natürlich mit der Anzahl der Alternativen – und der Akteure! – sowie mit dem kompletten Fehlen eines jeden „obvious“ Anhaltspunktes. Das ist gemeint, wenn die Soziologen von der besonderen Komplexität der sozialen Situationen sprechen (vgl. dazu schon Kapitel 1 in diesem Band): Es gibt zahllose, gleich wahrscheinlich erscheinende Möglichkeiten, und keine zeichnet sich vor der anderen irgendwie aus. Die Lösung besteht in der Reduktion dieser Komplexität so weit, daß allen Beteiligten letztlich nur noch eine Handlung als naheliegend erscheint. Zwei Möglichkeiten dazu gibt es: eine „strukturelle“ und eine „kulturelle“ Lösung. Interessenkonvergenz Die strukturelle Lösung besteht darin, daß die Auszahlungen für die verschiedenen Koordinationskombinationen nicht gleich, sondern unterschiedlich sind, und daß eine der Kombinationen für beide eindeutig günstiger ist als die anderen. Wenn die Akteure das wissen und unterstellen, daß der jeweils andere sich rational verhält, dann ist die Lösung relativ leicht: Jeder wird – in der Erwartung, daß der andere das auch tut – die Handlung wählen, bei der die höchste Auszahlung zu erwarten ist. In Abbildung 3.2 sind zwei solcher Situationen dargestellt.
B
B 1
2
1
4,4
1,1
2
3,3
2,2
A
1
2
1
4,4
0,0
2
0,0
0,0
A
Abb. 3.2: Zwei Arten der Interessenkonvergenz
Ganz so einfach ist – jedenfalls aus der Sicht der Spieltheorie – die Lösung gleichwohl nicht. Im ersten Fall (links) hat B eine dominante Strategie: die Strategie 1; denn dabei erhält er immer mehr als bei Strategie 2, egal, was A
Strategische Situationen
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tut. A hat dagegen keine dominante Strategie: Spielt B die Strategie 1, dann wäre für ihn die Strategie 1 besser, andernfalls 2. Da A aber davon ausgehen kann, daß B ein rationaler Egoist ist, der seine dominante Strategie sicher spielen wird, kann er selbst getrost auch 1 ziehen. Und das führt dazu, daß beide zuverlässig die Kombination 1,1 mit der Auszahlung 4,4 erreichen – und dabei auch bleiben: Das Gleichgewicht ist stabil. Die gefundene Lösung ist ein sog. Gleichgewicht der iterierten Dominanz.4 Sie wird dadurch bestimmt, daß zuerst bestimmte Strategien aus dem Strategiensatz des einen Spielers gestrichen werden – etwa weil der eine dominante Strategie hat. Und dann sieht man „iterierend“ nach, was jetzt für den anderen am günstigsten wäre – bis nur noch eine Strategiekombination übrig bleibt (vgl. dazu auch noch den Fall der Schlacht in der Bismarcksee gleich unten in Abschnitt 3.3 in diesem Band). Das Konzept der iterierten Dominanz ist ein weiteres Lösungskonzept in der Spieltheorie. Es ist – gewissermaßen – zwischen dem Konzept der dominanten Strategien und dem des Nash-Gleichgewichts angesiedelt: Jedes Gleichgewicht in dominanten Strategien ist auch eines in iterierter Dominanz und das ist wiederum ein NashGleichgewicht – während das Umgekehrte jeweils nicht gilt.
Der zweite Fall (rechts in Abbildung 3.2) sieht auf den ersten Blick noch eindeutiger aus – ist es aber auch nicht: Es gibt für keinen der Akteure eine eindeutige dominante Strategie. Wenn A die Strategie 2 spielt, dann kann B mit der Strategie 1 oder 2 reagieren – er bekommt jedesmal die gleiche Auszahlung von null. Entsprechendes gilt umgekehrt für A, wenn B die Strategie 2 wählt. Infolgedessen ist die Kombination 2,2 selbst ein (Nash-)Gleichgewicht, ein sog. schwaches Nash-Gleichgewicht: Es gibt keinen Anreiz zu einem einseitigen Zug weg von 2,2. Allerdings würde jeder Übergang zu einer der beiden „off“-Kombinationen 1,2 und 2,1 sofort zum (starken) NashGleichgewicht 1,1 führen: Jeder würde schon durch einen einseitigen Zug seine und die Lage des anderen verbessern. Das kann er aber auch leicht riskieren, weil er mit dieser Fehlkoordination gegenüber der nutzlosen Koordination 2,2 nichts verliert. Gleichwohl gilt für beide Konstellationen: Es herrscht ein strukturelles Motiv zur Einigung. Wir wollen dieses Motiv aus der betreffenden Konstellation als Interessenkonvergenz bezeichnen: Alle wollen schon von ihren individuellen Bestrebungen her nur das Eine und finden alsbald auch ganz blind, nur der Stimme ihrer Interessen folgend, die kollektiv und individuell zuträglichste Lösung. Letztlich bedarf es keiner besonderen Worte und keiner „Verständigung“, um zu einer Koordination des Handelns zu kommen. Jedem muß nur klar sein, daß die Koordination des Handelns in beider Interesse ist.
4
Vgl. Eric Rasmusen, Games and Information. An Introduction to Game Theory, Oxford und New York 1989, S. 31.
64
Soziales Handeln
Fokalpunkte Auf die kulturelle Lösung von Koordinationsproblemen hat insbesondere Thomas C. Schelling hingewiesen. Sie wird erforderlich, wenn es von den Interessen her nicht nur eines, sondern mehrere Gleichgewichte gibt – wie im zuerst geschilderten Beispiel in Abbildung 3.1. Zu einer Einigung muß es irgendein „obvious“ Zeichen geben, das eine der Alternativen vor allen anderen unverwechselbar auszeichnet und somit den unendlichen Regreß der wechselseitigen Vermutungen prägnant beendet: „What is necessary is to coordinate predictions, to read the same message in the common situation, to identify the one course of action that their expectations of each other can converge on. They must ‚mutually recognize‘ some unique signal that coordinates their expectations of each other. We cannot be sure they will meet, nor would all couples read the same signal; but the chances are certainly a great deal better than if they pursued a random course of search.“ (Schelling 1960, S. 54; Hervorhebung nicht im Original)
Solche unverwechselbaren und eindeutigen Zeichen werden auch als Fokalpunkte bezeichnet. Zu Ehren von Thomas C. Schelling nennt man sie auch Schellingpunkte. Der Kölner Dom ist ein solcher für Touristen, die sich in Köln verlaufen haben. Symbole, Hymnen, Rituale, Mode, Gesten, typische Rollenhandlungen und andere markante Zeichen dienen – ganz allgemein – oft auch als derartige Fokalpunkte. Aber auch gemeinsame Erinnerungen oder wechselseitig gewußte Obsessionen und „automatisch“ ausgelöste Emotionen können die Funktion der Koordination übernehmen. Salienz Die Gemeinsamkeit der strukturellen und der kulturellen Lösungen ist eine Eigenschaft, die wir als Salienz bezeichnen möchten: Die eine Alternative drängt sich den Akteuren mit einer kaum bezwingbaren Macht auf – sei es, daß sie im Vergleich zu allen anderen Optionen offensichtlich für beide von gleich hohem Interesse ist, sei es, daß sie irgendein sichtbares Merkmal hat, das den Akteuren die Erwartung nahelegt, daß sich der jeweils andere auch daran orientieren wird. In der Abbildung 3.2 haben die Konstellationen 1,1 sogar beide Eigenschaften der Salienz: Sie sind strukturell eindeutig interessant – und führen ja deshalb relativ leicht zu einem Gleichgewicht. Und sie stechen, da sie jeweils darin auch „obvious“ und „einzig“ sind, gleichzeitig auch kulturell hervor. Kurz: „Hervorragende“ Interessen können nicht nur strukturell zum Konsens motivieren, sondern zugleich auch kulturelle Zeichen
65
Strategische Situationen
und Fokalpunkte sein (vgl. dazu auch noch Abschnitt 8.1 in diesem Band und das Problem der Koorientierung). Ungleiche Interessen Die Höhe der Auszahlungen bzw. die Stärke der Interessen einerseits und die kulturelle Salienz der Symbole andererseits wirken dabei unabhängig voneinander: Sofern die Koordination für jeden Akteur von höherem Interesse ist als irgendeine nicht-koordinierte Lösung, wird sie selbst dann erreicht, wenn nicht alle Akteure davon gleichermaßen profitieren. Und wenn es eine – etwa durch einen Schellingpunkt – ausgezeichnete Kombination gibt, dann einigen sich auch jene Akteure darauf, die „eigentlich“ auch mehr erreichen könnten. Betrachten wir dazu die folgenden beiden Situationen (Abbildung 3.3):
B
B
1
1
2
4,1
0,0
A
1
2
1
4,1
0,0
2
0,0
1,4
A 2
0,0
1,1
Abb. 3.3: Koordination bei ungleichen Auszahlungen
In beiden Fällen gibt es wieder zwei (Nash-)Gleichgewichte. Unklar ist, welches der Gleichgewichte erreicht wird. Im ersten Fall scheint die Lösung einfacher als im zweiten. Beide Akteure wissen im ersten Fall (links), daß es für sie nur zwei günstige Lösungen gibt: 1,1 oder 2,2. Eine davon – die Kombination 1,1 – bevorzugt jedoch im Unterschied zur anderen Lösung einen der beiden Akteure. Sie ist gewissermaßen „ausgezeichnet“. Der Spieler B kann davon ausgehen, daß A diese Kombination schon aus Interessegründen bevorzugt und deshalb die Strategie 1 wählen wird. Das ist aber ein Anhaltspunkt für B, wie er die Fehlkoordination vermeiden kann. Und deshalb wird er – wahrscheinlich, wenngleich von den Interessen allein her nicht sicher – selbst die Strategie 1 wählen. Das wiederum kann A unterstellen – und zieht selbst erst recht die Strategie 1. Und das wiederum kann B unterstellen. Kurz: Die höhere Auszahlung bei einer der beiden Möglichkeiten des gemeinsamen
66
Soziales Handeln
Gewinns dient schließlich auch als kultureller Fokalpunkt der Koordination, dem auch derjenige folgt, der weniger davon profitiert, aber gegenüber einer Fehlkoordination etwas zu verlieren hätte. Im ersten Fall war die Lösung deshalb möglich, weil die beiden Gleichgewichte asymmetrische Auszahlungen hatten und weil sich so ein eindeutiger kultureller Anhaltspunkt für die Koordination ergab: die Asymmetrie in den Auszahlungen. Anders ist die Situation im zweiten Fall (rechts). Hier wird das Interesse an einer Koordination von einem symmetrischen Konflikt überlagert. Zwar würden die Akteure ebenfalls beide von einer gelingenden Koordination profitieren und auf jeden Fall versuchen, die Kombinationen 1,2 bzw. 2,1 zu vermeiden. Aber jede der gefundenen Koordinationen – 1,1 oder 2,2 – bevorzugt den einen und benachteiligt den anderen Akteur in gleicher Weise. Jetzt gibt es zwei Nash-Gleichgewichte, bei denen keines irgendwie „ausgezeichnet“ ist (vgl. dazu auch noch Abschnitt 3.3 in diesem Band über die Situation des Konfliktes). Das Problem ist jetzt wieder – ähnlich wie im Fall der „reinen“ Koordination aus Abbildung 3.1 – die Frage, wie eine bestimmte Koordination überhaupt entstehen kann – auch ohne daß es irgendein „obvious“ Zeichen gibt. Und das unter der erschwerenden Bedingung, daß jetzt – anders als bei der „reinen“ Koordination – jede gefundene Lösung den einen Spieler bevorteilen und den anderen in Nachteil setzen würde. Konflikt und Koordination Thomas C. Schelling berichtet von einigen Experimenten zu diesem Problem der Koordination bei ungleichen, aber symmetrisch verteilten Interessen. Die Experimente waren jeweils so aufgebaut: Zwei Gruppen von Akteuren wurde versprochen, daß sie einen bestimmten Betrag gewinnen könnten, wenn sie ihr Handeln – ohne jede Absprache! – koordinieren könnten. Dabei wurde einer Gruppe ein höherer Gewinn für die eine Option, der anderen Gruppe für die andere Option in Aussicht gestellt. Natürlich würden sie alle nichts erhalten, wenn die Koordination nicht gelingt. Eines der Experimente war das folgende: „A and B are to choose ‚heads‘ or ‚tails‘ without communicating. If both choose ‚heads‘, A gets $3 and B gets $2; if both choose ‚tails‘, A gets $2 und B gets $3. If they choose differently, neither gets anything. You are A (or B); which do you choose?“ (Schelling 1960, S. 60)
Eigentlich hätte man wohl Zufallsantworten erwarten können: Fifty-fifty für heads versus tails, weil von den Interessen her alles gleich war. Das Ergebnis war aber anders: Von den 22 Versuchspersonen der A-Gruppe votierten 16 für
Strategische Situationen
67
heads und von den 22 Versuchspersonen der B-Gruppe taten das 15. Daß die Mitglieder der A-Gruppe mehrheitlich für heads votierten, ist nicht unverständlich: Sie hätten – etwa bei Zufallswahl der anderen Gruppe – ja einen höheren Gewinn erreichen können. Aber warum verzichteten die meisten Mitglieder der B-Gruppe auf die Aussicht auf einen maximalen Gewinn? Die Antwort ist wohl: Offensichtlich weil sie sich davon eher ein Gelingen der Koordination versprachen. Warum aber das? Auch Thomas C. Schelling findet keine ganz zwingende Antwort für das geschilderte Experiment und einige andere mit ähnlichem Aufbau und ähnlichen Ergebnissen. Er vermutet: „The general conclusion ... is that the participants can ‚solve‘ their problem in a substantial proportion of the cases; they certainly do conspicuously better than any chance methods would have permitted, and even the disadvantaged party in the biased games permits himself to be disciplined by the message that the game provides for their coordination. The ‚clues‘ in these games are diverse. Heads apparently beat tails through some kind of conventional priority ...“ (Schelling 1960, S. 64; Hervorhebungen nicht im Original)
Thomas C. Schelling glaubt also, daß eine der Optionen vor der anderen „konventionell“ hervorgehoben gewesen sei und so als Fokalpunkt für die Koordination fungieren konnte, dem auch diejenigen folgten, die wissen mußten, daß sie weniger erhalten würden als die andere Gruppe. Kurz: Auch schwache kulturelle Signale können als Ankerpunkte für eine Koordination dienen. Und das selbst dann, wenn man weiß, daß es eine bessere strukturelle Lösung für einen selbst gibt. Nicht Altruismus oder Masochismus trieb also die Versuchspersonen der Gruppe B, sondern das Wissen darum, daß sie nur so ihr – etwas kleineres – Schäfchen ins Trockene bringen könnten. Bewertungen als Fokalpunkt Nicht immer führt also offenbar der blinde Egoismus zum Erfolg. Kluge Egoisten wissen das. Sie nutzen alle kulturellen Hinweise auf die eine Lösung ihres strukturellen Problems. Gibt es solche Hinweise, dann verzichten sie auf mögliche, aber unwahrscheinliche Vorteile gegenüber einer wahrscheinlichen, aber nicht maximalen Lösung. Wichtig ist nur die Eindeutigkeit des Signals. Manchmal kann dieses Signal auch schon darin bestehen, daß es bei einer Reihe von möglichen Optionen mit gleicher struktureller Bewertung eine jetzt „kulturell“ wirkende, eindeutige Option gibt: die einzige Kombination mit einer schlechteren strukturellen Bewertung als alle anderen (vgl. Abbildung 3.4):
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Soziales Handeln
1
2
3
4
1
4,4
0,0
0,0
0,0
2
0,0
4,4
0,0
0,0
3
0,0
0,0
3,3
0,0
4
0,0
0,0
0,0
4,4
Abb. 3.4: Bewertungsunterschied als Fokalpunkt
Auch dieses Beispiel folgt einer Idee von Thomas C. Schelling (Schelling 1960, S. 295f.): Der einzige saliente Anhaltspunkt ist die Option 3,3 mit der Auszahlung 3,3. Sie wird gewählt, weil so der Gewinn von jeweils 3 Einheiten einigermaßen sicher verwirklicht werden kann, während die anderen schönen Luftschlösser – die Optionen 1,1, 2,2 und 4,4 mit der Auszahlung von jeweils 4 Einheiten für jeden – nur unwahrscheinliche Träume bleiben. Es ist also nicht die Höhe der Anreize allein, die die Koordination steuert, sondern vor allem die Auffälligkeit einer der Alternativen. Aber was wäre, wenn es für die Kombination 3,3 jeweils nur eine Einheit gäbe? Mancher würde wohl das Risiko einer anderen Koordination, etwa auf 1,1 eingehen, weil nun ja nicht viel zu verlieren ist, wenn es schief ginge, aber der Nettoertrag schon recht hoch wäre. Regelungsbedarf Spontane Lösungen des Problems der Koordination sind also keineswegs ausgeschlossen – auch dann nicht, wenn sie ganz und gar unwahrscheinlich erscheinen mögen. Solche Lösungen haben aber immer eine etwas riskante Grundlage: die wechselseitigen Vermutungen über die Salienz einer der Optionen. Leicht wird vorstellbar, daß dies eine etwas schwache Grundlage ist, wenn es nicht um 2 oder 3 Dollar, sondern um sehr viel mehr geht – etwa um das Leben beim Überqueren einer Straßenkreuzung. Kurz: Koordinationssituationen unterscheiden sich nach dem Regelungsbedarf. Dieser Regelungsbedarf ist – so haben wir gesehen – von zwei Größen abhängig: von dem Interesse der Akteure einerseits und von der Komplexität der Situation andererseits.
Strategische Situationen
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Die Stärke des Interesses am Gelingen der Koordination hängt von der Höhe der Auszahlungen im Vergleich zur Fehlkoordination und vom Grad der Interessenkonvergenz ab; also: von der Übereinstimmung der Akteure über die Wünschbarkeit bestimmter Lösungen. Die Komplexität nimmt mit der Anzahl der Alternativen, mit der Anzahl der beteiligten Akteure und insbesondere mit dem Fehlen eindeutiger Fokalpunkte zu. Es ist nun anzunehmen, daß der Regelungsbedarf durch eine Interaktion von Interesse und Komplexität bestimmt wird: Wenn das Interesse und die Komplexität beide hoch sind, dann drängen die Akteure nach einer verläßlichen Regelung. Das tun sie um so weniger, je geringer der zu erwartende Gewinn ist und/oder je eindeutiger eine der interessanten Alternativen sich kulturell schon anbietet. Kurz: Ein Konsens über eine gedankliche Koorientierung wird um so leichter und um so eher erreicht, je höher das beiderseitige Interesse und/oder je eindeutiger die Situation über einen Fokalpunkt „definiert“ ist (vgl. auch dazu noch den Vorgang der Koorientierung in Abschnitt 8.1 in diesem Band). Konventionen und Dekrete Welcher Art die gesuchte Regelung sein muß, ist auch leicht rekonstruierbar: Da es ja eine latente Übereinstimmung im Interesse an einer gelingenden Koordination gibt, und weil diese dann auch ein pareto-optimales Gleichgewicht bildet, muß es nur zu einer Regelung kommen, die die Abstimmung der Akteure erleichtert. Das kann über zwei Mechanismen geschehen: über Konventionen als einmal akzeptierte und aktuell etablierte, durch Zeichen und Symbole markierte Lösungen von wiederkehrenden, in der Vergangenheit bereits bewältigten Koordinationsproblemen. Oder über Dekrete als Lösungen für neu auftretende Probleme der Koordination. Ampeln, Verkehrsschilder oder die Rechts-vor-Links-Regel sind technische Umsetzungen von konventionellen Regelungen des Straßenverkehrs. Schutzpolizisten und der „Gesetzgeber“ greifen mit Hilfe von Dekreten ein, wenn die Technik der Konventionen einmal versagt oder es eine bisher unbekannte Situation gibt. Kurz: Tradition und Herrschaft fungieren auf diese – sehr milde, für die Beteiligten konsensuelle und damit ganz selbst-„verständlich“: legitime – Weise bei der Lösung von Koordinationsproblemen. Eigentlich täte es auch die stets neue kommunikative Verständigung der Akteure. Aber das dauert manchmal zu lange und ist oft genug auch technisch viel zu schwierig: Wer es eilig hat, kann sich nicht lange mit den anderen Autofahrern in einem herr-
70
Soziales Handeln
schaftsfreien Diskurs darüber einlassen, wer als erster über die dicht befahrene Kreuzung darf (vgl. dazu auch noch Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Sanktionen Bei den konventionellen Normen geht es also nur um eine moralisch ganz neutrale Angelegenheit: richtig oder falsch in einem bloß kognitiven Sinn. So können alle möglichen Konventionen – Kleidungsvorschriften für bestimmte Anlässe; Höflichkeitsregeln darüber, wer wen wann vorläßt; der Goldstandard beim Vergleich von Währungen u.a. – als bloße Vereinbarungen verstanden werden, die ohne weiteres auch anders hätten getroffen werden können. Deshalb geht es bei Konventionen – und bei „konventionellen“ Dekreten – zunächst auch nicht um „Recht“ oder „Unrecht“ oder um die Verletzung moralischer Ansprüche und der damit stets verbundenen Folgen. Ganz so neutral und unschuldig sind aber auch die bloß „konventionellen“ Konventionen manchmal nicht. Allzu häufig sind empirisch damit Interessendivergenzen und latente Konflikte verbunden. Und allein das fügt ihnen oft ein – mehr oder weniger nachdrückliches – Element von moralischem Anspruch oder gar von Zwang hinzu. Edna Ullmann-Margalit erwähnt dazu das Beispiel von Jugendgruppen aus verschiedenen Nachbarschaften, die sich gerne zu gemeinsamen Unternehmungen treffen. Solange die Nachbarschaften eng beieinander liegen und solange sie sozial und kulturell ähnlich sind, ist es gleichgültig, wo man sich trifft: mal hier, mal dort. Man muß sich nur absprechen. Mit der Zunahme der Entfernungen und mit der Zunahme des Aufsehens, das die eine Gruppe jeweils im Umfeld der anderen Gruppe erregt – etwa wenn die glutäugigen Türken aus Katernberg ihre feinen Freundinnen in Bredeney besuchen und umgekehrt –, driften die Interessen auseinander. Es gibt dann irgendwann einen Punkt, an dem der Wert der Gemeinsamkeit die entstehenden Kosten des Treffens für jeweils immer eine der Gruppen nicht mehr aufwiegt.
Die Lösung des Problems bestünde in der Einführung von Sanktionen oder moralischen Prämien: Wer den weiten Weg mitmacht, darf sich zu Hause als Held fühlen, wer ihn scheut, wird künftig in der Gruppe verachtet. Und so entsteht plötzlich doch das, was üblicherweise als Moral verstanden wird und normalerweise für die Lösung eines Koordinationsproblems nicht benötigt wird. Andere Beispiele für die Notwendigkeit von Sanktionen, auch für die Einhaltung von Konventionen, wären solche Vereinbarungen, die eine Gruppe benachteiligen, weil die mit der Konvention verbundenen Regelungen für sie teurer oder sonstwie ungünstiger sind als für die andere Gruppe. Dazu gehören beispielsweise die endgültige Einigung auf VHS bei Videorecordern und
Strategische Situationen
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deren Folgen für die Besitzer anderer Systeme oder die Einführung des metrischen Systems in Großbritannien als Folge des EG-Beitritts. In solchen Fällen müssen die Konventionen durchaus mit einigem Zwang eingeführt werden, weil die Einigung auf einen Standard für eine Gruppe sehr teuer wird und weil sich ansonsten keine Einigung erzielen ließe.5 Es ist jener Fall, der in Abbildung 3.3 rechts dargestellt ist: Beide Gruppen profitieren von der Einigung, aber die eine hat mehr davon als die andere. Es handelt sich um einen partiellen Konflikt. Zur Lösung muß der Zwang um so stärker sein, je größer die Interessendivergenz ist. Von alleine wird dieser Konflikt kaum überwunden. Daher müssen auch hier schon gewisse repressive Elemente bei den Regelungen eingebaut und angewandt werden (vgl. dazu noch Abschnitt 3.3 in diesem Band). Konventionelle Normen Wir wollen jene Regeln und Vereinbarungen, die schon zur Lösung von Koordinationsproblemen führen, zusammenfassend als konventionelle Normen bezeichnen. Damit soll daran erinnert werden, daß – im Prinzip – das Problem nur in der Abstimmung der Akteure liegt. Die einzige Schwierigkeit, die die Akteure haben, ist die zu hohe Komplexität der Situation. Sie kann durch eine Abstimmung auf eine einfache Weise beseitigt werden. Zur Einhaltung der getroffenen Regelung bedarf es keines Zwanges und keiner weiteren Sanktion. Sie ist, sozusagen, „self-enforcing“. Und das liegt wiederum an zwei sehr angenehmen Eigenschaften der strategischen Situation der Koordination: der Übereinstimmung der Interessen und der Pareto-Optimalität jedes einmal gefundenen Gleichgewichts. Deshalb lassen sich konventionelle Normen auch leicht einführen, begründen und legitimieren. Es reicht die bloße kommunikative Verständigung zwischen den Akteuren. Sonderlich herrschaftsfrei muß diese Verständigung dann gar nicht sein. Und wenn die Interessen eindeutig konvergieren, dann ist sogar jede Kommunikation überflüssig. Man versteht sich blind.
5
Vgl. dazu auch das Problem der Pfadabhängigkeit von Institutionen, auf das wir in Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“ noch zu sprechen kommen.
72
Soziales Handeln
3.2
Soziale Dilemma-Situationen
Das Problem der beiden Bauern im Erntehilfebeispiel aus Kapitel 2 dieses Bandes war mit einer kommunikativen Verständigung – leider – nicht zu lösen: Beide Bauern wollten sich durchaus gegenseitig helfen. Sie hätten sich auch leicht koordinieren können. Aber es kam nicht dazu, weil jeder immer noch befürchten mußte, vom anderen einseitig im Stich gelassen zu werden. Das Beispiel war eine typische soziale Dilemma-Situation. Im Unterschied zum Problem der Koordination fallen hier die individuellen und die kollektiven Interessen nicht zusammen. Hier gibt es ein Problem der antagonistischen Kooperation. Das Gefangenendilemma Der wichtigste Grundtyp einer sozialen Dilemma-Situation ist das sog. Gefangenendilemma. Wir haben den Begriff schon mehrmals benutzt. Die beiden Bauern des Erntehilfebeispiels befanden sich darin. Seinen etwas merkwürdigen Namen hat das Gefangenendilemma (abgekürzt auch: PD, von Prisoner’s Dilemma) von der Geschichte, mit der es ursprünglich illustriert wurde.6 Und die geht so: Zwei Verdächtige werden in Einzelhaft genommen. Der Staatsanwalt ist sich sicher, daß sie beide eines schweren Verbrechens schuldig sind, doch verfügt er über keine ausreichenden Beweise, um sie vor Gericht zu überführen. Er weist jeden Verdächtigen darauf hin, daß er zwei Möglichkeiten hat: das Verbrechen zu gestehen oder aber nicht zu gestehen und die Tat abzustreiten. Wenn beide abstreiten, dann – so erklärt der Staatsanwalt – wird er sie wegen ein paar minderer Delikte, wie illegaler Waffenbesitz, anklagen, und sie werden beide eine geringe Strafe bekommen: jeder ein Jahr Gefängnis. Wenn beide gestehen, werden sie zusammen angeklagt, aber er wird nicht die Höchststrafe von 10 Jahren beantragen, sondern nur eine solche von acht Jahren. Macht einer ein Geständnis, der andere aber nicht, so wird der Geständige wegen seiner Mithilfe sofort freigelassen, während der andere die Höchststrafe von 10 Jahren erhält.
6
Das Beispiel und die Bezeichnung „Gefangenendilemma“ geht auf den Spieltheoretiker A. W. Tucker zurück. Wir orientieren uns hier an der Darstellung bei R. Duncan Luce und Howard Raiffa, Games and Decisions. Introduction and Critical Survey, New York und London 1957, S. 95. Vgl. u.a. auch: Ullmann-Margalit 1977, Kapitel II: PD Norms; Robert Axelrod, Die Evolution der Kooperation, München 1987, S. 7ff.; Michael Taylor, The Possibility of Cooperation, Cambridge u.a. 1987, S. 13ff.; Thomas Voss, Rationale Akteure und soziale Institutionen. Beitrag zu einer endogenen Theorie des sozialen Tauschs, München 1985, S. 174ff.; Manfred J. Holler und Gerhard Illing, Einführung in die Spieltheorie, 2. Aufl., Berlin u.a., 1993, S. 2ff.
73
Strategische Situationen
Die Alternativen für die beiden Gefangenen – A und B – sind die Strategien „Abstreiten“ oder „Gestehen“. Aus der Geschichte ergibt sich dann die folgende Auszahlungsmatrix in den negativen Nutzenwerten der jeweils angedrohten Strafen (je nach den angedrohten Jahren Haft; vgl. Abbildung 3.5):
B Abstreiten
Gestehen
Abstreiten
-1,-1
-10,0
Gestehen
0,-10
-8,-8
A
Abb. 3.5: Die Auszahlungsmatrix des Gefangenendilemmas
Es geschieht im formalen Ergebnis das gleiche wie bei den beiden Bauern aus dem Erntehilfebeispiel: Beide Gefangenen gestehen, erhalten somit zusammen 16 (in Worten: sechszehn!) Jahre Knast, obwohl sie durch ein gemeinsames Abstreiten mit jeweils einem Jahr gut davongekommen wären. Daß das gemeinsame Interesse nicht verwirklicht wird, liegt natürlich wieder daran, daß die nicht-kooperative Strategie „Gestehen“ die kooperative Strategie „Abstreiten“ unter allen Umständen dominiert. Für A stellt sich die Situation ja so dar: Wenn B die Tat abstreitet, dann komme ich – A – sofort frei, wenn ich jetzt gestehe und den Kronzeugen spiele. Wenn B aber selbst die Tat gesteht, dann kann ich nur durch eigenes Gestehen verhindern, nicht selbst die Höchststrafe zu erhalten: Acht Jahre sind immer noch besser als zehn. Weil B die gleichen Überlegungen anstellt, gestehen beide und gehen jeweils acht Jahre ins Gefängnis. Ein wenig Ganovenehre und Sicherheit, daß man sich nicht verpfeift, hätte sie davor bewahren können.
Es geht im Gefangenendilemma jeweils um zwei alternative Strategien C und D, wobei C für Kooperation und D für Defektion steht. Die „Kooperation“ bezieht sich dabei natürlich nur auf die Beteiligung an einer für die jeweils betrachteten beiden Akteure sinnvollen Aktion. Gemeinsam ausgeführte Schandtaten – wie auch das Unterlaufen einer an sich gerechten Bestrafung oder das Einhalten eines Preiskartells durch Ölmultis – zum Schaden anderer könnten natürlich auch dazu gehören. Die Situation in den einzelnen Feldern der Tabelle läßt sich allgemein dann so beschreiben: Die geringste Bewertung erfährt die einseitige Kooperation (hier: einseitiges Abstreiten): Der Gute ist der Dumme. Im Englischen und in der Terminologie der Spieltheorie wird er, sorry,
74
Soziales Handeln
Sucker (S) genannt. Am besten wäre für den einzelnen Akteur die umgekehrte Situation: die einseitige Defektion. Dieser Fall wird mit Temptation (T) bezeichnet. Die kollektiv günstige Lösung der beiderseitigen Kooperation erbringt eine bestimmte Belohnung, einen Reward (R). Die beiderseitige Defektion dagegen eine Bestrafung: Punishment (P). Die Belohnung R wird der Bestrafung P vorgezogen. Sie wird aber geringer als die Versuchung T bewertet, während die Bestrafung P immer noch höher rangiert als die einseitige Ausbeutung S durch den anderen.
In Matrixform stellt sich diese Struktur wie in Abbildung 3.6 links dar. Rechts stehen noch einmal die Rangplätze für die Bewertung der verschiedenen Situationen – so wie sie schon in Kapitel 2 dieses Bandes für das Erntehilfebeispiel zusammengefaßt worden waren. Sie entsprechen in der Rangordnung genau den Auszahlungen in Jahren Haft der Situation der beiden Gefangenen.
B
B
C
C
D
R,R
S,T
A
C
D
C
3,3
1,4
D
4,1
2,2
A D
T,S
P,P
Abb. 3.6: Die Struktur des Gefangenendilemmas
Die Ausdrücke R, T, S und P bezeichnen also typische Konstellationen des Verhaltens der Spieler und der damit verbundenen kollektiven Ereignisse. Der Typ des Gefangenendilemmas kann dann durch die besondere Reihenfolge in der Bewertung der vier Situationen R, T, S und P beschrieben werden: Es gilt für die Situation eines Gefangenendilemmas die Rangfolge T>R>P>S. Beispiele für diese Struktur der Auszahlungen gibt es im sozialen Leben überreichlich, wobei jeweils der eine Spieler A und alle anderen bzw. die „Gesellschaft“ der Spieler B sind: Steuerehrlichkeit, Ladendiebstahl, Wählengehen, Umweltschutz, Gewerkschaftsmitgliedschaft – zum Beispiel. Immer wäre es am schönsten, wenn die anderen ehrlich, rechtschaffen, pflichtbewußt, altruistisch und diszipliniert wären, nur ich alleine nicht. Und immer wäre es am schlimmsten, wenn ich der einzige ehrliche, rechtschaffene, pflichtbewußte, altruistische und disziplinierte Mensch – der Sucker eben – wäre. An die Prämien durch ein gutes Gewissen, an den sanften Zwang der Umgebung oder an das Strafgesetz denken wir jetzt einmal nicht.
Das „Dilemma“ beim Gefangenendilemma ergibt sich aus der unvermeidlichen, weil „dominanten“, nicht-kooperativen Strategie D aufgrund der Rangfolge der Bewertungen von T, R, D und S. Immer wenn C oder D zur Wahl
Strategische Situationen
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anstehen, wird D vorgezogen: T ist größer als R, und P ist größer als S. Inhaltlich gesagt: Die individuelle Versuchung übersteigt die kollektive Belohnung, und die Furcht vor der einseitigen Ausbeutung ist größer als die vor der gemeinsamen Bestrafung. Und das bringt die Akteure in eine kollektiv deutlich schlechtere Situation (P,P) als sie möglich wäre, wenn beide kooperieren würden (R,R). In die Falle (P,P) durch die Strategiekombination DD gehen die Akteure dabei vor allem deshalb, weil sie niemals sicher ausschließen können, über den Tisch gezogen zu werden. Und das liegt daran, daß niemand sicherstellen kann, daß der jeweils andere – und man selbst! – nicht doch der Versuchung unterliegen wird, die Kooperation des einen auszubeuten. Es gibt noch eine zweite Bedingung für das Vorliegen eines PD. Dem Dilemma könnten die Akteure ja auch dadurch zu entkommen versuchen, daß sie sich anschließend den Betrag teilen. Für die einseitige Kooperation ergäbe das für jeden eine Auszahlung von (T+S)/2. Die dürfte nicht größer sein als die Belohnung R für die wechselseitige Kooperation. Es muß also auch noch die Bedingung gelten: R>(T+S)/2. Wir wollen im Folgenden immer davon ausgehen, daß diese Bedingung erfüllt ist. Sie wird erst dann wichtig, wenn das Spiel mehrfach wiederholt würde und die Spieler die Möglichkeit hätten, sich abwechselnd gegenseitig auszubeuten (vgl. zu den wiederholten Spielen noch Abschnitt 5.3 in diesem Band).
Absprachen haben in dem geschilderten Fall keinen Sinn: Selbst wenn sich beide Gefangenen hätten einigen können, gemeinsam alles abzustreiten, kann niemand von ihnen sicher sein, daß sich der jeweils andere schließlich wirklich daran halten wird. Das alles hat nicht unbedingt mit dem Egoismus der Akteure zu tun. Es gibt PD-Situationen und entsprechende Fallen auch bei Altruismus. Beispielsweise: In einem Bus sei noch ein Sitz frei, auf dem – wenngleich etwas unbequem – durchaus zwei Reisende Platz finden könnten. Jeder von ihnen will höflich sein und fände es wunderbar, wenn der jeweils andere sich setzte und er selbst sich im Glanze seiner Zuvorkommenheit stehend erfreute. Am schlimmsten wäre es für jeden der beiden jeweils, verlegen und rot vor Scham auf dem Sitze zu thronen und den anderen stehen und innerlich triumphieren zu sehen. Und die Folge: Beide verbringen die Fahrt stehend. Die Situation könnte man als das Altruisten-Dilemma bezeichnen.
Zusammengefaßt: Das Gefangenendilemma ist ein nicht-kooperatives mixedmotive-Spiel mit einem pareto-inferioren Gleichgewicht in dominanten Strategien. Auswege Die Tragik der Situation besteht darin, daß beide Akteure etwas davon hätten, wenn sie kooperieren würden. Es gibt durchaus eine Gemeinsamkeit der Interessen. Aber diese Gemeinsamkeit wird überlagert von der Versuchung bzw. der Furcht vor der Defektion. Welche Auswege gäbe es? Mindestens müßte ja
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Soziales Handeln
wohl dafür gesorgt werden, daß es die Dominanz von DD nicht mehr gibt, und daß darüber dann die Akteure eine Chance hätten, zur Kooperation zu finden. Aber am besten wäre es natürlich, wenn die Strategiekombination CC – auf irgendeine Weise – trotz aller Unsicherheiten und Versuchungen zur einzig wählbaren, vielleicht selbst sogar zur dominanten, Alternative würde. Zur Illustration des Problems wollen wir ein Beispiel wiedergeben, von dem Edna Ullmann-Margalit berichtet (Ullmann-Margalit 1977, S. 30ff.). The Mortarmen’s Dilemma Zwei Soldaten liegen auf einem vorgeschobenen Posten und erwarten einen Angriff des Feindes. Jeder der beiden hat zwei Möglichkeiten: Fight oder Flight. Fight ist die C-Strategie, Flight die D-Strategie. Wenn beide aushalten und kämpfen, kann der Angriff abgewehrt werden (CC mit den Auszahlungen 1,1). Wenn beide Fersengeld geben, wird der Feind durchbrechen, und sie gehen in Gefangenschaft (DD mit den Auszahlungen -1,-1). Wenn aber einer wegrennt und der andere auf seinem Posten bleibt, rettet der Feigling sein Leben, weil sein Kamerad den Feind lange genug aufhält, dabei aber getötet wird (DC mit der Auszahlung 2,-2 und CD mit der Auszahlung -2,2). In Abbildung 3.7 ist diese Situation zusammengefaßt.
Soldat 2 C
D
C
1,1
-2,2
D
2,-2
-1,-1
Soldat 1
Abb. 3.7: Die Auszahlungen im Mortarmen’s Dilemma
Es ist nicht schwer, zu erkennen, daß es sich auch hier um ein Gefangenendilemma handelt: Die einseitige Desertion geht vor dem gemeinsamen Kampf, und die Gefangenschaft ist immer noch besser als der Heldentod. Und die Folge: Die beiden Soldaten rennen gemeinsam davon, sobald der Feind naht.
Strategische Situationen
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Zwang, Disziplin und Ehre Was könnte man dagegen tun – außer natürlich: den Krieg abschaffen? Diese Frage dürften sich nicht nur die Kommandeure, sondern die beiden Soldaten selbst stellen, weil es ja eigentlich in ihrem eigenen Interesse liegt, gemeinsam den Feind abzuwehren und in Freiheit zu überleben – statt in Gefangenschaft zu gehen. Eine drastische Möglichkeit wäre die folgende: Rings um den Posten werden überall Minen verlegt, so daß jeder Versuch, sich davonzumachen, mit dem Leben bezahlt wird. Dadurch verändert sich die Situation derart, daß jetzt CC – das pareto-optimale gemeinsame Kämpfen – zur dominanten Strategie wird: Jede Alternative außer CC erhält die schlechteste aller Auszahlungen -2 (vgl. Matrix a in der Übersicht in Abbildung 3.8). Die Aussicht auf den sicheren Tod bei Verlassen des Postens bindet die Akteure aneinander – und erzwingt so die Kooperation. Eine andere Möglichkeit wäre es, die Soldaten an ihrem Posten buchstäblich festzuketten – so wie das durchaus etwa im Ersten Weltkrieg geschehen ist. Die Folge ist die gleiche: Wenn die Alternative D durch Zwang ausgeschlossen oder unattraktiv gemacht wird, wird die Kooperation nicht nur möglich, sondern selbst zur dominanten Strategie. Nicht immer ist solcher Zwang sinnvoll oder durchsetzbar: Minen könnten für die eigenen Operationen auch hinderlich sein. Es läge also nahe, einen anderen, einen „zwanglosen“ Zwang zur Kooperation zu entfalten. Zwei Möglichkeiten bieten sich an: die D-Strategie zu bestrafen und/oder die CStrategie mit einer besonderen Prämie zu versehen. Die erste dieser beiden Möglichkeiten wäre die Durchsetzung von Disziplin: die Androhung von scharfen disziplinarischen Maßnahmen bei Gehorsamsverweigerung oder gar Feigheit vor dem Feind – die Erschießung der Deserteure. Der Wert der Kooperation bleibe gleich – (1,1) bei CC. Es werde aber die gemeinsame Desertion in die Gefangenschaft „teurer“: Nach ihrer Gefangennahme könnten die Deserteure eventuell ausgetauscht werden, und dann droht ihnen mit einer hohen Wahrscheinlichkeit die Hinrichtung durch die eigene Truppe. Weil das aber immer noch unwahrscheinlicher ist als der sichere Tod auf dem einsamen Posten (jeweils -1 bei DD gegenüber -2 beim einseitigen Ausharren bei CD bzw. DC), ist auch nun das Wegrennen immer noch attraktiver als das Bleiben, wenn der andere den Posten verläßt. Hier gibt es also keinen Unterschied zum Gefangenendilemma. Anders als im Gefangenendilemma sieht es jetzt aber für den Fall aus, daß der andere bleibt. Wenn ich jetzt abhaue, dann kann es mir natürlich passieren, von den eigenen Truppen geschnappt und erschossen zu werden. Wenn diese Wahrscheinlichkeit hoch genug ist, dann sinkt der Wert für die einseitige Defektion deutlich, ggf.
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Soziales Handeln
unter den der Kooperation, beispielsweise auf 0. Und die Folge: Wenn der andere bleibt, dann werde ich – vorsichtshalber – ebenfalls bleiben – und gemeinsam wird der Feind abgewehrt (vgl. Matrix b in der Übersicht in Abbildung 3.8). Die Folge für die Struktur des Spiels ist interessant: Die Defektion ist jetzt keine dominante Strategie mehr. Es sieht so aus, als gäbe es jetzt zwei Gleichgewichte: DD und CC. D würde zwar gewählt, wenn es jeweils einer schon tut – einfach, um sich noch die Chance aufs Überleben zu erhalten, wenn der andere zu rennen beginnt. Aber wenn der jeweils andere ausharren würde, dann würde ich das sofort auch tun, weil es dann nur zu gewinnen gibt. Die gemeinsame Kooperation ist jetzt sogar die Strategiekombination, die für beide auch „individuell“ am attraktivsten ist. Insofern wäre – in Erinnerung an den Fall der Interessenkonvergenz beim Koordinationsproblem in Abschnitt 3.1 in diesem Band – sogar zu erwarten, daß die beiderseitige Kooperation in stabiler Weise erreicht wird. Das Problem bleibt aber: Kann ich mich auf den anderen verlassen und davon ausgehen, daß der andere im Ernstfall wirklich seine Nerven behält und seinen Posten hält? Schließlich hängt mein Leben davon ab, daß der andere sich so verhält, wie es die Spieltheorie behauptet (vgl. dazu auch die unten folgenden Ausführungen zum sog. Assurance Game).
Disziplinarische Maßnahmen bewirken also immerhin, daß die beiderseitige Defektion nicht mehr unvermeidlich ist. Noch besser wäre es natürlich, wenn die Kooperation unmittelbar zur dominanten Strategie würde. Diese Funktion kann die Ehre haben. Ehre bedeutet eine immaterielle Prämie für die heldenhafte Pflichterfüllung – und einen Malus für den Fall der Pflichtverletzung (vgl. dazu auch schon den Exkurs über die Ehre in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Durch die Ehre wird die Desertion deutlich unattraktiver: Man lebt zwar noch, das aber mit dem Makel des Feiglings (Auszahlung von 0 für den Deserteur bei DC bzw. CD – statt zuvor von 2 im ursprünglichen Modell). Andererseits wird der einsame Kampf auf dem verlorenen Posten sehr belohnt: Man ist zwar tot, gilt aber immerhin als strahlender Held. Diese Aussicht ist den Akteuren jetzt immerhin noch -1 wert – statt -2 bei einem Tod ohne die Prämie der Ehre. Und an der Gefangenschaft nach gemeinsamer Desertion kommt die rechte Freude auch nicht auf, wenn man in der Heimat als Verräter gilt (-2,-2 bei DD; vgl. Matrix c der Übersicht in Abbildung 3.8). Die Folge ist eindeutig: Jetzt gibt es wieder ein Gleichgewicht, weil die Kooperation durch die Prämien der Ehre zur dominanten Strategie geworden ist. Die Ehre überführt das Mortarmen’s Dilemma in ein pareto-optimales Gleichgewicht – ohne Zwang und ohne Minen. Die drei Konstellationen sind in Abbildung 3.8 zusammengefaßt. Die jeweiligen Gleichgewichte sind durch Fettdruck gekennzeichnet.
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Strategische Situationen
a. Zwang
C D
b. Disziplin
C
D
1,1
-2,-2
-2,-2 -2,-2
c. Ehre
C
D
C
1,1
-2,0
D
0,-2
-1,-1
C
D
C
1,1
-1,0
D
0,-1
-2,-2
Abb. 3.8: Die Auswirkungen von Zwang, Ehre und Disziplin auf das Mortarmen’s Dilemma
Man sieht gleich: Die Ehre ist zielgerichteter und sicherer in der Lösung des Problems als disziplinarische Maßnahmen. Lob wirkt zuverlässiger als Tadel. Auch der Zwang hat zwar eindeutige Folgen. Die Ehre hat aber offenkundig die gleiche „Funktion“ wie der Zwang: Es gibt jetzt ein von allen gewünschtes Gleichgewicht. Nur, daß unter dem Regime der Ehre die Akteure – anders als beim Zwang und der Disziplin – mit flammender Begeisterung bei der Sache sind – und überleben. Die Wirkung von Normen Alle Lösungen des PD-Problems drehen sich um die beiden Ungleichungen, die die Defektion dominant werden lassen: T>R und P>S. Um die Dominanz der Defektion zu brechen, müssen die Verhältnisse geändert werden: T
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Soziales Handeln
deln. Es gibt positive und negative, äußere und innere Sanktionen. Positive Sanktionen bedeuten eine Nutzenprämie für das erwartete Handeln, negative einen Nutzenabschlag. Äußere Sanktionen sind solche, die dem Akteur von außen zugefügt werden: das Lob oder der Tadel etwa. Hierbei gibt es das Problem der sozialen Kontrolle: Nicht immer wird festgestellt, daß jemand zu loben oder zu tadeln war. Und nicht immer rafft sich auch jemand auf, der lobt oder tadelt. Aus diesem Grunde arbeiten die äußeren Sanktionen immer etwas unzuverlässig: Der Akteur kann sich eine Chance ausrechnen, noch einmal davonzukommen – ebenso wie gegebenenfalls, daß sein löbliches Wirken entweder nicht entdeckt oder nicht gelobt wird. Das ist grundsätzlich anders bei den inneren Sanktionen: Das Erlebnis einer Prämie oder eines Abschlags erfolgt unmittelbar mit der Ausführung des Handelns selbst – in Form eines guten oder schlechten Gewissens, innerem Stolz oder innerer Scham. Innere Sanktionen sind das Ergebnis der sog. Sozialisation, genauer der Internalisierung der Normen: Die Ausführung der erwarteten Handlung wird selbst zum „Bedürfnis“. Letztlich sind aber auch diese „innengeleiteten“ Sanktionen davon abhängig, daß die äußeren Sanktionen im Notfall eingreifen: Irgendwann beginnt auch der moralischste Altruist zu zweifeln, wenn er immer nur der Dumme ist. Und wenn alle unmoralisch handeln, dann verliert sich auch ein schlechtes Gewissen ganz rasch. Die Wirksamkeit der Normen über die äußeren und inneren Sanktionen ist also letztlich davon abhängig, ob das System der sozialen Kontrolle intakt bleibt. Und hier gibt es ein sehr unangenehmes Problem: Die Verabreichung von Tadel sowie auch die Vergabe von Lob sind nicht kostenlos. Wer tadelt, muß – beispielsweise – mit Widerspruch rechnen, wer lobt – beispielsweise – mit der Kritik der Unbelobigten und dem Gelächter der Gelobten. Die Institutionalisierung und Ausübung der sozialen Kontrolle ist deshalb selbst ein Gefangenendilemma: Wenn Du dafür sorgst, daß die Bösen bestraft und die Guten belohnt werden, dann profitiere ich von der so entstandenen Ordnung, ohne selbst die Last des Strafens und des Lobens am Halse zu haben. Also lassen wir es beide. Und schon verfällt das System der sozialen Kontrolle, das uns aus dem Dilemma der dominanten Defektion geholfen hätte. Es sei denn, es gibt wieder eine normative Lösung des Problems der sozialen Kontrolle. Aber woher soll die denn plötzlich herkommen?
Normen bilden also in gewisser Weise eine exogene Lösung des Gefangenendilemmas. Diese Lösung hat selbst wiederum das endogene PD-Problem der sozialen Kontrolle, für das es wieder eine exogene Lösung geben müßte. Es ist ein endloser Regreß: Normen beruhen auf sozialer Kontrolle, die gesichert wird durch Normen, die auf sozialer Kontrolle beruhen, die gesichert wird durch Normen ... und so weiter. Die von der Soziologie vorgeschlagene „Lösung“ hilft daher hier auch nicht recht weiter. Es ist ja nicht die „Gesellschaft“, die für die Existenz der Normen sorgt. Die Gesellschaft sind wir alle. Wie aber schaffen „wir“ es, das Problem ohne externe Hilfen zu lösen? In Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“, aber auch schon in Abschnitt 5.3 dieses Bandes hier werden wir eine Lösung dieses Problems diskutieren. Die Änderung der Interessen Die Story von den Normen hat eine trivial klingende Quintessenz: Ein Gefangenendilemma ist ein Gefangenendilemma. Wenn es aber die Normen nicht so
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Strategische Situationen
ohne weiteres sein können, die das Problem lösen, wie soll es dann gehen? Oben haben wir die Spielstruktur des PD selbst erwähnt: Die Auszahlungen für die verschiedenen Strategiekombinationen könnten sich – wie auch immer – ändern – mit der Folge, daß jetzt die Defektion nicht mehr dominant ist und Kooperation entstehen kann, weil das Spiel selbst kein PD mehr ist. Auch dies wäre freilich – zunächst jedenfalls – nur ein Hinweis auf eine weitere exogene Lösung. Gegenüber der Lösung mit Hilfe von Normen hätte sie aber einen wichtigen Vorteil: Sie könnte unmittelbar mit den sozialen Produktionsfunktionen – und damit mit den Interessen der Menschen – verbunden werden und wäre keine „gesellschaftliche“ Zusatzmaßnahme, die den Akteuren – wie im Beispiel der Soldaten – von außen zugemutet und als System von Lob und Tadel mehr oder weniger mühsam unterhalten werden müßte. Immer geht es dabei um die Änderung in der Reihenfolge der Bewertungen bei den outcomes des Spiels. Zwei Typen von Situationen mit einer solchen Änderung der Interessen wollen wir betrachten: das sog. Chicken Game und das sog. Assurance Game. Das Ausgangsmodell ist jeweils das PD. In beiden Fällen wird demgegenüber jeweils nur an einer bestimmten Stelle eine Änderung vorgenommen. Wir haben sie hier schon einmal in eine Übersicht zusammengefaßt (Abbildung 3.9; die fettgedruckten Stellen bezeichnen die Gleichgewichte des jeweiligen Spiels).
a. Chicken Game
b. Assurance Game B
C
B
C
D
3,3
2,4
4,2
1,1
A
C
D
C
4,4
1,3
D
3,1
2,2
A D
Abb. 3.9: Die Struktur von Chicken Game und Assurance Game
Zum Schluß des Abschnitts wollen wir die beiden Typen noch kombinieren. Sie werden sich wundern, was dabei herauskommt.
82
Soziales Handeln
Das Chicken Game Das Chicken Game (CG) hat seinen Namen von dem amerikanischen Ausdruck „chicken“ für Feigling. Ein Beispiel dafür ist die berühmte Szene in dem Film „Denn sie wissen nicht, was sie tun“ mit James Dean. Zwei Jugendliche streiten sich um die Position des Anführers in einer Gruppe. Entschieden werden soll der Streit durch eine Mutprobe der beiden: Sie fahren mit einem Auto mit hoher Geschwindigkeit auf einen Abgrund zu. Wer zuerst aussteigt, hat verloren. Der Sieger führt die Gruppe, der Verlierer gilt ab jetzt als Chicken. Wenn niemand aussteigt, sind beide tot. Stoppen beide rechtzeitig, gibt es keinen Sieger. Gegenüber dem PD gibt es eine Veränderung: Jetzt ist nicht mehr die Position S die schlimmste, sondern P – der gemeinsame Untergang bei beiderseitiger Defektion. Lieber ein Feigling als tot. Kurz: Es gilt jetzt statt T>R>P>S die Reihenfolge T>R>S>P. Die Struktur des Spiels ist in Abbildung 3.9a beschrieben.7 Und die Folge: Die beiderseitige Defektion ist nicht mehr dominant. Es gibt jetzt zwei (Nash-)Gleichgewichte – DC und CD: Immer wenn eine bestimmte Gleichgewichtsstrategie erreicht ist, hat keiner der Akteure einen Grund, davon abzuweichen. Wenn beispielsweise die Situation DC gegeben ist, dann würde sich A ja durch Kooperation nur verschlechtern, besonders aber B durch den Wechsel auf die Defektion. Er würde dadurch A zwar mit in den Untergang reißen. Aber wenn er davon selbst nichts hat, läßt er es. Insofern wäre es von großem Vorteil, wenn es eine Möglichkeit gäbe, dem jeweils anderen unmißverständlich und glaubhaft zu signalisieren, daß man selbst gar nicht anders kann als zu defektieren. Günstig wären jetzt gewisse Irrationalitäten: etwa ein Ruf als cholerischer Charakter oder ein wertrational-fundamentalistischer Fanatismus. Jetzt gibt in der Tat der Klügere besser nach. Seine Furcht vor dem eigenen Verderben bringt ihn dazu – und läßt den Verrückten gewinnen. Bei dem Autorennen könnte man vielleicht nach dem Anfahren deutlich sichtbar das Lenkrad und das Gaspedal aus dem Fenster werfen, damit der andere sieht, daß es nur noch geradeaus gehen kann. Aber ist das nicht vielleicht bloß ein Trick? Die Bindung an die defektive Strategie muß schon glaubwürdig und ganz unzweifelhaft sein, am besten also sichtbar emotional.
Das Problem ist, daß die beiden Gleichgewichte asymmetrisch sind: Niemand kann – außer bei einer vorher bekannten Festlegung – ganz genau wissen, was geschehen wird, ganz ähnlich wie bei der Interessendivergenz im Koordinationsproblem. Eine Lösung gibt es beim Chicken Game für den Fall der „reinen“ Strategien D und C leider nicht.
7
Vgl. zum Chicken Game u.a Taylor 1987, S. 18f., 36ff.; Rasmusen 1989, S. 73; Holler und Illing 1993, S. 94ff.
Strategische Situationen
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Beispiele für ein CG sind häufiger als man zunächst denkt. Oft genug sind die Menschen auf ein Minimum an Kooperation angewiesen, wenngleich sie natürlich stets gerne hätten, daß die anderen die Arbeit tun. Eingangs haben wir das Problem am Beispiel der Deichbauern und der häuslichen Ordnung beschrieben. Im Umweltschutz stellen sich manchmal ähnliche Probleme. Auch der schlimmste Umweltschädiger weiß, daß, wenn alle sich so wie er verhalten würden, er selbst bald existentielle Probleme bekäme: Walfänger und Heringsfischer haben bald nichts mehr zu fangen, wenn es durch die rücksichtslose Defektion keine Wale und keine Heringe mehr gibt. Also einigen sie sich periodisch auf eine gewisse Zurückhaltung, die sofort wieder aufgegeben wird, wenn sich der Bestand wieder ein wenig erholt hat. Für Vereine und Ehen, die für die Beteiligten nicht mehr so ganz „an sich“ interessant sind, gilt das Gleiche: Niemand will so recht zur Jahreshauptversammlung seines Vereins gehen, aber der Verein soll natürlich auch nicht untergehen. Und zerstrittene Ehepaare, für die – einstweilen – eine Scheidung nicht in Frage kommt, schrecken bei allen Auseinandersetzungen vor der letzten Konsequenz schließlich doch immer wieder zurück. Und die schlechteren Karten hat der-/diejenige mit den schwächeren Nerven und der schlechteren Position auf dem Heiratsmarkt. Nicht zuletzt deshalb kann auch jeder Autofahrer, der rücksichtslos an der Schlange vor einer Baustelle vorbeizieht und sich ganz zum Schluß hineinzudrängen versucht, ganz beruhigt sein: Der „Gegner“ ist zwar sehr empört, bremst aber im Zweifel. Warum? Ist doch klar: Mei heilix Blechle!
Das Beispiel mit dem Autorennen auf den Abgrund zu klingt also schrecklicher als es ist: Gegenüber dem einfachen PD haben Situationen von der Struktur des CG einen ganz enormen Vorteil: Die wechselseitige Defektion ist jetzt kein dominantes Gleichgewicht mehr. Die Furcht vor dem gemeinsamen Untergang alleine kann also schon aus der Falle des PD herausführen. Und die Chancen dazu sind nicht schlecht: Es kann ja schon einer alleine das Disaster verhindern – und hat auch ein Interesse daran. Ob das dann aber zu einem stabilen kooperativen Gleichgewicht führt, ist sehr fraglich. Die Spieltheorie sagt etwas anderes: CD oder DC sind die beiden Gleichgewichte des Spiels. Welches das ist, das steht vorher nicht fest. In diesem Fall jedenfalls ist der Nachgiebige der Dumme, der – klugerweise – beide vor Schaden bewahrt. Selbstverständlich kann es auch Spiele mit einer gemischten Struktur geben. Besonders interessant ist eines, bei dem der eine Akteur A ein normales PD, der andere Akteur B aber ein CG spielt. Das heißt nichts anderes, als daß B auf das Gut, um das es in dem Spiel geht, mehr angewiesen ist als der andere – beispielsweise eine Ehefrau, die ihrem – inzwischen ziemlich unerträglich lieblos-egoistischen – Mann zuliebe auf die Karriere verzichtet hat, keine Alternative sieht und deshalb allem Ärger zum Trotz die Ehe um jeden Preis erhalten will – so wie das in früheren Zeiten nicht selten der Fall gewesen sein soll. Die Struktur dieses Hybrid-Spiels von PD und CG ist in Abbildung 3.10 dargestellt.
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Soziales Handeln
B C
D
C
3,3
1,4
D
4,2
2,1
A
Abb. 3.10: Hybridspiel aus Prisoner’s Dilemma und Chicken Game
Für A als PD-Spieler bleibt natürlich D die dominante Strategie. Das aber weiß B und wählt daher die unter diesen Umständen bessere Strategie C. Und die Folge: DC ist das einzige Gleichgewicht. Unter den gegebenen Bedingungen hat keiner der beiden einen Anreiz, etwas anderes zu tun: Der Mann beutet seine wehrlose Frau aus – oder umgekehrt, je nach den jeweiligen Verhältnissen. Und die/der läßt es geschehen. Denn: Gegenüber der für sie/ihn schlimmsten Aussicht DD ist das noch immer die vergleichsweise bessere Lösung – bis der rettende Engel kommt, etwa in Gestalt des Reitlehrers oder der alternden Jugendliebe. Bei Rapoport und Guyer wird dieses Spiel konsequenterweise – und wohl sehr zum Unverständnis der „Betroffenen“ – zu den Noconflict Games gezählt (Rapoport und Guyer 1966, S. 211). Obwohl es das CG erlaubt, die Falle der wechselseitigen Defektion des PD zu verlassen, bleibt die Situation gleichwohl immer noch sehr unerfreulich: Zwar wollen beide das Schlimmste verhindern. Aber sie lauern natürlich nur darauf, daß der jeweils andere das tut. Infolgedessen werden die Bemühungen um eine Kooperation nicht sehr ausgeprägt sein. Man tut gerade so viel, um die Katastrophe zu verhindern – aber nicht mehr. Und alles wird daran gesetzt, den anderen dazu zu bringen, die Nerven zu verlieren, damit er nachgibt. Das – jedenfalls vor dem Abkommen von Dayton/Ohio – nicht enden wollende Theater um die vielen sog. Waffenstillstände im ehemaligen Jugoslawien läßt sich so erklären, aber auch die – immer noch anhaltende – Fragilität des „Friedensprozesses“ in Israel (vgl. dazu auch schon Kapitel 8 in Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
Strategische Situationen
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Das Assurance Game Das PD war aus zwei Gründen so unangenehm: Es gab offensive und defensive Gründe für die Defektion. Daraus ergab sich die wechselseitige Defektion als einziges Gleichgewicht. Ein erster – wenngleich ein nicht sehr befriedigender – Ausweg aus dieser Falle der dominanten Strategiekombination DD war die Furcht vor dem gemeinsamen Untergang und der Übergang zur Struktur des Chicken Game. Ein anderer Ausweg ist sehr viel freundlicher: das sog. Assurance Game (AG). Gegenüber dem PD gibt es wieder nur eine Veränderung: Die gemeinsame Kooperation CC wird nun höher bewertet als die einseitige Ausbeutung des anderen (also DC bzw. CD). Das ist immer dann der Fall, wenn das Ergebnis der Zusammenarbeit den Akteuren auch „individuell“ mehr zählt als der einseitige Vorteil bei eigener Defektion. Anders als beim CG ist jetzt aber auch die eigene Ausbeutung wieder das Schlimmste, was passieren kann.8 Beim AG gilt damit statt T>R>P>S beim PD nun die Reihenfolge R>T>P>S. Die Struktur des Spiels läßt sich dann wie in Abbildung 3.9b zusammenfassen. Die Gründe für die Höherbewertung der Gemeinsamkeit können sehr unterschiedlich sein. Manchmal ist ein Gewinn nur durch die Kooperation aller zu erreichen – wie beispielsweise ein geselliges Erlebnis oder eine erfolgreiche Revolution, bei der es auf den Einsatz bis zum letzten Mann ankommt. Meist schmeckt ein Gewinn, der nur alleine erzielt wird, ganz fade: Geteilte Freude ist doppelte Freude. Oft genug hat man auch ein schlechtes Gewissen, wenn man den anderen alleine machen läßt. Manchmal gibt es eine innere Prämie zum individuellen Gewinn durch die gemeinsame Kooperation: eine Identifikation mit der gemeinsamen Aktion „an sich“ oder eine nicht weiter hinterfragte Loyalität mit dem Partner. Ein Spezialfall davon ist jene besondere emotionale Bindung, die auch als Altruismus oder Liebe bezeichnet wird: Zu dem eigenen „egoistischen“ Nutzen wird noch der Nutzen hinzuaddiert, den der andere Akteur erfährt. Je nach der Differenz zwischen T und R im ursprünglichen PD „muß“ die Prämie durch den Altruismus natürlich höher oder niedriger sein, damit die Ungleichung R>T statt T>R im PD gilt. Wenn die gemeinsame Kooperation schon ohnehin interessant ist, dann muß nicht mehr viel an Altruismus dazukommen, damit aus einem PD ein AG wird. Altruismus wird für die Kooperation also um so wichtiger, je größer die Versuchung zur einseitigen Ausbeutung ist. Natürlich könnte auch der entgegengesetzte Fall eintreten: negativer Altruismus. Dann freut mich das, was dem anderen schadet. In diesem Fall kann leicht aus einem schon bestehenden Assurance Game wieder ein PD werden, das mir dann schließlich selbst schadet (siehe dazu noch Abschnitt 3.3 in diesem Band).
8
Vgl. zum Assurance Game und zum Unterschied zum Gefangenendilemma u.a. Amartya K. Sen, Isolation, Assurance and the Social Rate of Discount, in: The Quarterly Journal of Economics, 81, 1967, S. 114ff.; Amartya K. Sen, On Economic Inequality, Oxford 1973, S. 96ff.; David Collard, Altruism and Economy. A Study in Non-Selfish Economics, Oxford 1978, S. 36ff.; Carlisle Ford Runge, Institutions and the Free Rider: The Assurance Problem in Collective Action, in: The Journal of Politics, 46, 1984, S. 158ff.
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Die Folge der Änderung in den Auszahlungen für T bzw. R ist ähnlich zu der beim CG: Die wechselseitige Defektion ist nicht mehr dominant. Es gibt jetzt – ähnlich wie beim CG – zwei Nash-Gleichgewichte: CC und DD. Das ist für die Kombination CC leicht nachzuvollziehen, denn dann haben beide Akteure das Maximum dessen erreicht, was überhaupt möglich ist. Leider ist aber – wie beim PD – auch die Kombination DD ein Nash-Gleichgewicht. Wenn sich die Akteure einmal darin befinden, dann kann davon auch beim AG nicht mehr einseitig abgewichen werden, weil der jeweils andere Spieler nicht mitzieht. Der Grund ist aus Abbildung 3.9b leicht zu ersehen: Wenn etwa der Spieler A die für ihn günstigere Kombination DC erreichen möchte, dann muß der Spieler B kooperieren. Aber das wird dieser mit Sicherheit nicht tun, weil er dann ja bei der schlechtesten Auszahlung 1 landet. Es gäbe nur eine Möglichkeit aus der Falle DD zu entkommen: Wenn der Spieler A dem Spieler B glaubhaft versichern könnte, daß er dessen Gutmütigkeit nicht ausnutzen würde. Anders als beim PD, bei dem solche Zusicherungen gar nichts nutzen, wäre das Vertrauen darauf nicht ohne Grundlage. Denn immerhin hätte ja auch der Spieler A etwas davon, wenn er selbst dann auch C spielen würde – nämlich die Verbesserung der Auszahlung von 3 bei DC auf 4 bei CC. Der Grund für diese Änderung gegenüber dem PD wurde schon genannt: Es gibt beim AG keinen offensiven Grund mehr für die Defektion. Das verbleibende Problem ist die immer noch bestehende defensive Furcht vor der einseitigen Ausbeutung.
Kurz: Beim Assurance Game „kommt es darauf an“, was der andere aller Voraussicht nach tun wird. Hierbei würde eine „Versicherung“ helfen. Daher der Name „Assurance“ Game. Assurance Game und Koordination Der Unterschied des AG zum CG und zum PD liegt auf der Hand: Es gibt jetzt zwei Gleichgewichte, und eines davon – CC – ist pareto-optimal. Deshalb gibt es jetzt die Möglichkeit für eine kooperative Koordination der individuellen Interessen und des kollektiven Handelns. Ob dieser Zustand, das pareto-optimale Gleichgewicht CC, erreicht wird, ist dagegen nicht garantiert. Das hängt von der Zusicherung ab, mit der die Akteure gegenseitig darauf vertrauen können, daß der jeweils andere auch mitmacht. Wie aber kann es eine solche Zusicherung geben? Eine Möglichkeit wäre die folgende: Da die Akteure – weil sie sich wechselseitig für rationale Egoisten halten! – wissen, daß sie sich bei CC beide besser stellen, und weil sie voneinander wissen, daß sie das wissen, ist die Chance nicht schlecht, daß sie beide sofort zu CC übergehen (vgl. Taylor 1987, S. 38 und 67). Diese Annahme ist für ein Spiel mit zwei verläßlich egoistisch rationalen Akteuren durchaus nachvollziehbar. Wenn der andere Spieler aber ein etwas erratischer Typ ist, dann gäbe es schon ein Risiko. Nun wäre Irrationalität nicht gut. Solche Unsicherheiten gäbe es unmittelbar, wenn der andere „Spieler“ eine größere Gruppe wäre, auf deren komplette Kooperation es jetzt ankäme. Dann verringert sich die Hoffnung auf die lückenlose „rationale“ Kooperati-
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on natürlich mit der Gruppengröße: Es kann immer einen Verrückten unter den vielen geben, der – zu seinem eigenen Schaden! – nicht mitspielt. Dann lasse ich das mit dem wachsenden Zweifel an der lückenlosen, aber notwendigen, Kooperation aller ebenfalls (vgl. Sen 1967, S. 116ff.). Und das erst recht dann, wenn ich dabei Kopf und Kragen riskiere. Mancher Aufstand ist allein deshalb nicht ausgebrochen, weil es zuviele waren, auf die man sich verlassen mußte.
Um aus der Falle der wechselseitigen Defektion herauszukommen, muß sich die Kooperation für die Akteure deshalb auch wirklich lohnen. Nur so kann ja der von Taylor beschriebene Mechanismus funktionieren. Und das heißt: Die Differenz zwischen R und T sollte – bei der ohnehin anzunehmenden ordinalen Anordnung R>T – möglichst groß sein, damit es zur problemlosen Koordination auf CC kommt. Oben war auf den Altruismus als eine Größe hingewiesen worden, über die R gegenüber T an Wert gewinnen kann. Wenn das aber so ist, dann kann es sich sogar aus egoistischen Gründen lohnen, nur so zu tun, „als ob“ man altruistisch wäre. Denn das signalisiert dem anderen Akteur einen hohen Wert von R des eigenen Tuns. Und dies wiederum erlaubt ihm den Schluß, daß ich wohl kooperieren werde. Dann aber kann er sich um so leichter dazu entschließen, selbst zu kooperieren. Und wir beide profitieren individuell von dem schönen Schein der Hingabe und der Liebe – obwohl jeder nur an sich selbst denkt. Der Erfinder dieser Idee war wieder – der nun schon wohlbekannte – Gary S. Becker. Er hat es das Rotten Kid Theorem genannt.9
Reale Akteure werden aber auch bei höheren Anreizen oft vorsichtig bleiben und nicht alles auf die unsicheren Versprechungen des Mitspielers setzen. Aber es gibt ja andere Möglichkeiten, das Risiko des Vertrauens in den anderen einzuschätzen: seine Reputation aufgrund seines Handelns in der Vergangenheit; seine Emotionen, die mir zeigen, daß er es ernst meint; die Existenz von institutionellen „Versicherungen“, möglicherweise mit einklagbaren Rechten. Kurz: Wenn es irgendein „obvious“ Zeichen gibt, daß der andere verstanden hat, daß auch ihm die Kooperation nützt, dann stehen die Chancen zur Koordination der Kooperation im AG nicht schlecht. Das Vertrauensmodell Viel hängt aber auch von dem möglichen Gewinn durch ein „richtig“ eingeschätztes Vertrauen und von dem drohenden Verlust bei einem „falschen“ Vertrauen ab. Dann ist die Entscheidung für eines der beiden Gleichgewichte – DD versus CC – eine Angelegenheit einer relativ einfachen Rechnung. Wir wollen sie das Vertrauensmodell nennen. 9
Gary S. Becker, A Treatise on the Family, Cambridge, Mass., und London 1981, S. 179; vgl. auch Voss 1985, S. 163f.
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Der Gewinn bei CC sei mit R und der Ertrag bei DD mit P angesetzt. Die Erwartung, daß der Partner kooperiert, werde mit p angenommen, und die komplementäre Erwartung, daß er das nicht tut, mit 1-p. Die Plazierung des Vertrauens in einem Assurance Game ist, so lehrt uns die WE-Theorie, dann angesagt, wenn der Erwartungsnutzen für das Vertrauen in die Kooperation höher ist als der für das Mißtrauen, daß der andere D spielt. Es gilt also für die Plazierung des Vertrauens V gegenüber dem Mißtrauen M: EU(V) = p·R EU(M) = (1-p)P. Wann wird ein mißtrauischer Akteur nun aber zu vertrauen beginnen? Das ist nach den üblichen Regeln der WE-Theorie genau dann der Fall, wenn gilt: EU(V) > EU(M). Und das ergibt: p·R > (1-p)P Daraus folgt als Bedingung für die Plazierung des Vertrauens: R/P > (1-p)/p. Man erkennt leicht, daß bei einer geringen Erwartung in die Kooperation der Gewinn R sehr groß werden muß, um das Vertrauen auszulösen: Der Bruch links geht gegen unendlich, wenn p gegen null geht. Und dann „müßte“ R, bei konstantem P, exorbitant hoch werden, damit es dennoch zum Vertrauen kommt. Kurz: Vertrauen muß sich „lohnen“, und das besonders dann und immer mehr, wenn die Erwartungen über die Verläßlichkeit des Partners nicht groß sind. Und wenn die Erwartung über die Verläßlichkeit ganz fehlt, dann gibt es keinen Anreiz, der hoch genug wäre, um das Vertrauen zu bewirken.
Dem aufmerksamen Leser wird nicht entgangen sein, daß das Assurance Game ein Spezialfall des Koordinationsproblems ist. Es ist eine ähnliche Situation wie bei dem Ehepaar im Kaufhaus – mit einer wichtigen Erleichterung: Eines der beiden Gleichgewichte – CC – ist gegenüber dem anderen strukturell und kulturell salient. Die Kombination CC bietet mit der für beide Akteure höchsten Auszahlung nicht nur einen Anreiz zur kooperativen Koordination des Handelns, sondern ist auch ein „obvious“ Signal, daß das gelingen kann. Übersetzt in das Vertrauensmodell heißt das: Der Anreiz R ist mit einer hohen Erwartung p verbunden. Dann aber sagt das Vertrauensmodell voraus, daß es ein Vertrauen erst recht gibt, weil beide relevanten Größen simultan in die gleiche Richtung weisen. Deshalb dürfte bei einem AG auch ohne weitere Versicherung die Koordination auf die Kooperation sofort gelingen. Es gibt zwar formal gesehen zwei Nash-Gleichgewichte. Es ist aber vermutlich faktisch nur eines von Bedeutung: die wechselseitige Kooperation – so wie das
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Michael Taylor gegen alle bloß formalen Weisheiten der mathematischen Spieltheorie gemeint hat. Die Kombination von CG und AG Betrachten wir abschließend zum Problem der sozialen Dilemma-Situationen von den vielen möglichen Konstellationen nur noch einen Fall: die Kombination von AG und CG. Jetzt werden beide dort vorgenommenen Änderungen der Ungleichung des PD ineinander gefügt. Nun gilt also: R>T>S>P – gegenüber T>R>P>S im PD (vgl. Abbildung 3.11).
B C
D
C
4,4
2,3
D
3,2
1,1
A
Abb. 3.11: Die Kombination von Chicken Game und Assurance Game
Es ist eine Situation, die die Motive des gemeinsamen Interesses mit der Furcht vor dem Untergang der Lebensgrundlage verbindet. Nun gibt es weder einen offensiven, noch einen defensiven Grund für den Verzicht auf die Kooperation. Mehr noch: Es besteht eine ganz und gar eindeutige Interessenkonvergenz mit C als dominanter Strategie auf beiden Seiten. Deshalb gibt es jetzt – wie beim PD – wieder ein Gleichgewicht, diesmal aber als paretooptimales Gleichgewicht. Die Gemeinsamkeit siegt zwingend über jeden Egoismus, weil das individuelle und das kollektive Interesse übereinstimmen. Essentielle Normen Was aber kann geschehen, wenn die Bedingungen für die Überwindung des PD nicht gegeben sind? Das Problem der Koordination kann, wie wir in Ab-
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schnitt 3.1 oben gesehen haben, auf eine relativ einfache Weise gelöst werden: durch die sog. konventionellen Normen. Die reichen aus, weil die Interessen der Akteure konvergieren, und weil es keinen Unterschied zwischen individuellen und kollektiven Interessen dabei gibt. Das ist bei den DilemmaSituationen grundsätzlich anders. Hier fallen die individuellen und die kollektiven Interessen auseinander. Die Akteure finden nicht zueinander – obwohl sie sich durch die Kooperation beide besser stellen könnten. Darin liegt ja gerade das „Dilemma“: Die Defektion ist dominant, es gibt nur ein Gleichgewicht, und das ist pareto-inferior. Jede Lösung des Problems muß deshalb diesen Widerspruch überwinden. Es muß ebenso etwas gegen die opportunistische Versuchung, wie gegen die defensive Furcht der Akteure getan werden. Das ist, es sei noch einmal wiederholt, mit „Verständigung“ und mit Konventionen alleine grundsätzlich nicht möglich. Es muß – wenn Zwangsmaßnahmen einmal außer Betracht bleiben sollen – irgendeine „Bindung“ an die kooperative Strategie hergestellt werden, die über die bloßen individuellen Interessen der Akteure hinausgeht. Regelungen, die diese Leistung erbringen, seien als essentielle Normen bezeichnet. Damit soll ausgedrückt werden, daß jetzt „wirklich“ und „essentiell“ etwas geschehen muß, damit die Menschen nicht vor lauter Opportunismus und Furcht ihre „wahren“ Interessen verfehlen. Interessant und wichtig ist dann die Frage, wie die Menschen freiwillig dazu kommen könnten, sich – in ihrem eigenen Interesse – solche essentiellen bindenden Normen zu verpassen. In Kapitel 5 dieses Bandes – und an vielen anderen Stellen dieser „Speziellen Grundlagen“ – werden wir auf diese Frage zurückkommen. Es ist die Frage nach der sozialen Ordnung, die allen nützt, wenn es sie denn gäbe, deren Kosten und Risiken aber niemand ohne weiteres zu tragen bereit ist.
3.3
Konflikte
Eine Gemeinsamkeit hatten die beiden bisher behandelten Typen strategischer Situationen: Die Akteure konnten im Prinzip stets gemeinsam etwas gewinnen. Nur der Weg dahin war nicht immer ohne weiteres erreichbar. Das ist bei dem dritten Typ einer strategischen Situation, den wir jetzt behandeln wollen, ganz anders: beim Konflikt. Hier gibt es grundsätzlich keine kooperative Lösung. Konflikte sind – ganz allgemein – durch das komplette Auseinanderfallen der Interessen gekennzeichnet: Der Gewinn des einen ist – unter allen Umständen der Ergebnisse des Spiels – der Verlust des anderen. Deutscher Meister kann immer nur einer werden, ebenso wie Klassenbester, Sieger in einem Schachspiel, beim Poker oder bei der Bundestagswahl. Sicher gibt es mancherlei Vorkehrun-
Strategische Situationen
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gen, um die Niederlage etwas erträglicher zu machen: Jetzt holen wir den UEFA-Pokal, Gott sei Dank bin ich kein Streber, immerhin habe ich 58 Züge gegen Kasparov durchgehalten, es war wenigstens ein schöner Abend, jetzt plane ich den Sturz des Kanzlers und in zwei Jahren bin ich dann dran ... und so weiter. Das Grundproblem aber bleibt stets unberührt: Es gilt immer nur, einen in der Summe konstanten Betrag umzuverteilen. Und da rationale Egoisten möglichst ihren Nutzen mehren wollen, muß sich ihr Handeln darauf richten, eine Situation anzustreben, die – aufgrund der Struktur der konstanten Summe des insgesamt zu verteilenden Betrages – notwendigerweise den anderen in dem Maße benachteiligt, wie er selbst einen Vorteil zieht.
Spiele, bei denen bei jedem Ergebnis die Summe der zu verteilenden Auszahlungen gleich ist, werden Konstantsummen-Spiele genannt. Die sog. Nullsummen-Spiele sind ein Spezialfall davon: Die für alle Ergebnisse konstante Summe der Auszahlungen ist gleich null. Die entsprechenden Spiele werden auch als strikt kompetitiv bezeichnet. Strikt kompetitiv ist ein Spiel dann, wenn die Präferenzen der Spieler in allen Konstellationen des Spiels genau entgegengesetzt sind: Wenn ein Spieler 1 das Ergebnis x gegenüber dem Ergebnis y vorzieht, der Spieler 2 aber das Ergebnis y dem Ergebnis x: „It is, therefore, a game in which cooperation and collusion can be of no value. Any improvement for one player necessitates a corresponding loss for the other.“ (Luce und Raiffa 1957, S. 85; Hervorhebung nicht im Original)
Alle sozialen Konflikte sind von ihrer Struktur her derartige kompetitive Spiele. Krieg Diese Art der Definition der Situation als kompetitives Spiel gilt insbesondere für den extremsten Fall eines sozialen Konfliktes – den Krieg. Kriege werden – meist, wenn zwar nicht immer – „erklärt“. Das ist nichts anderes als die Deklaration, daß ab jetzt eine bestimmte soziale Produktionsfunktion gilt: Was Dir schadet, nutzt mir. „Cooperation and collusion“ zwischen den Parteien sind dann – technisch und moralisch – ausgeschlossen. Mehr noch: Im Binnenverhältnis werden nachhaltige Schädigungen des Gegners als Heldentaten gefeiert. Trefferquoten, Versenkungen und die Vernichtung der feindlichen Ressourcen gelten als mit höchsten Orden dekorierbare primäre Zwischengüter. Das ändert sich erst, wenn sich die „Verfassung“ der Beziehung zwischen den Parteien durch eine neue Deklaration – den Friedensvertrag – wieder ändert. Dann geht es an den Wiederaufbau der Zerstörungen auch beim Gegner, weil dessen Untergang letztlich auch dem Sieger schadet. Und ab sofort zählen die Helden nicht mehr viel. Der Dank des Vaterlandes ist ihnen mit der Beendigung des Krieges mehr als ungewiß. Genau deshalb aber haben –
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Soziales Handeln
durchaus verständlicherweise – viele Kriegshelden auch gar kein Interesse an dem Frieden und stehen mit denjenigen im eigenen Lande, die den Frieden wollen, in einem sehr heftigen Konflikt. Die Schlacht in der Bismarck-See In einem Krieg gibt es kollektiv nichts zu gewinnen. Schlimmer noch: Alle erleiden Verluste. Der Krieg ist, so gesehen, sogar ein Negativsummen-Spiel: Mit dem Verlauf des Krieges wird die Summe dessen, was es umzuverteilen gibt, immer kleiner, und schließlich geraten alle in die Verlustzone, der eine mehr, der andere weniger. Diesen Rest will aber jeder ganz für sich. Es kann jedoch immer nur einer gewinnen. Wer den Kampf zu verlieren droht, hat nicht sehr viele Möglichkeiten, das abzuwenden. Allenfalls kann eine Partei, die schon auf der Verliererseite ist, versuchen, den Schaden möglichst zu begrenzen. Und das begrenzt wieder den Gewinn des Siegers. Wie das geht, zeigt das Beispiel der Schlacht in der Bismarck-See (vgl. die Darstellung bei Rasmusen 1989, S. 30ff.; Luce und Raiffa 1957, S. 64f.). Die Schlacht in der Bismarck-See fand im Jahre 1943 im Südpazifik statt. Die Kontrahenten waren der japanische Admiral Imamura und der amerikanische Admiral Kenney. Der amerikanische Geheimdienst hatte herausbekommen, daß die Japaner Truppen durch die BismarckSee nach Neuguinea transportieren wollten. Admiral Kenney wollte das durch eine Bombardierung des japanischen Flottenverbandes verhindern. Admiral Imamura hatte die Wahl zwischen zwei Routen: eine kürzere und klimatisch für ihn etwas günstigere, weil für Flugzeuge weniger einsehbare, Route über den Norden; und eine längere über den Süden der dort meist wolkenlosen Bismarck-See. Admiral Kenney mußte sich nun überlegen, wohin – nach Norden oder nach Süden – er seine Flugzeuge schicken sollte. Schickte er sie in die falsche Richtung, hätte er sie zwar noch zurückrufen können. Aber die Zeit für das Bombardement wäre dann entsprechend kürzer – und die Schädigung des Gegners geringer – gewesen. Stets geht es um eine Schädigung der japanischen Flotte. Der amerikanischen Flotte geschieht dagegen praktisch nichts. Je stärker diese Schädigung ist, um so mehr „gewinnen“ die Amerikaner: die Vermeidung jener Verluste, die durch die japanischen Truppen in Neuguinea zu erwarten wären. Je länger das Bombardement dauern kann, um so höher sind die Schäden für die japanische Flotte – und um so höher dann entsprechend der Gewinn der Amerikaner. Die Heftigkeit des Bombardements hängt von der Länge des Weges und von den Wetterumständen einerseits, sowie von der „richtigen“ Entscheidung des Admirals Kenney andererseits ab. Deshalb ist der Schaden für die Japaner bei dem langen Weg über die einsehbare Südroute größer als bei dem kurzen Weg über die oft wolkenverhangene Nordroute. Und er ist – davon unabhängig – auch größer, wenn Admiral Kenney seine Flieger richtig einsetzt, weil er sie dann ja nicht erst noch zurückrufen muß. Folglich ist der Schaden bzw. der Gewinn am höchsten bei der Kombination (Süden, Süden); und er ist am geringsten bei der Kombination (Süden, Norden) – jeweils von Admiral Kenney aus gesehen. Eine „falsche“ Entscheidung mindert den jeweiligen Routen-Gewinn um jeweils eine Einheit. Daraus erklären sich die Auszahlungen für die Kombinationen (Norden, Süden) und (Süden, Norden).
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Strategische Situationen
Die Struktur der Situation zwischen den beiden Admirälen läßt sich dann so beschreiben (Abbildung 3.12):
Imamura Norden
Süden
Norden
2,-2
2,-2
Süden
1,-1
3,-3
Kenney
Abb. 3.12: Die Schlacht in der Bismarck-See
Und die Frage stellt sich: Was sollen die beiden Admiräle in dieser Situation klugerweise tun? Die Lösung ist nicht schwer, wenn wir unterstellen, daß sie sich ihre Situation gegenseitig in gleicher Weise vorstellen – und daß sie ihren Verstand nicht verloren haben. Die Auszahlungen erklären sich wie folgt: Da Admiral Kenney davon ausgehen kann, daß Admiral Imamura seine Verluste möglichst gering halten will, muß er annehmen, daß der die Nordroute nehmen wird. Denn dort können die Japaner maximal einen Verlust von -2 erleiden, während ihnen bei der Südroute ein Schaden von maximal -3 droht. Obendrein könnte es natürlich sein, daß der amerikanische Admiral seine Flieger falsch einsetzt. Dann gäbe es – auf der Nordroute – sogar nur einen mäßigen Verlust von -1. Durch diese, sich in die Gedanken des Gegners einfühlende, Überlegung kann Kenney die Südroute aber aus seinen Überlegungen streichen. Und dann fällt ihm die Wahl seiner Strategie nicht schwer: Er schickt klugerweise seine Flieger nach Norden – wo er aufgrund der strategischen Vernunft seines Gegners hoffen kann, die japanische Flotte zu treffen.
Und das Ergebnis: Die Strategiekombination (Norden, Norden) ist diejenige, die strategisch eindeutig naheliegt. Es ist eine Lösung nach dem Prinzip der iterierten Dominanz (vgl. dazu bereits Abschnitt 3.2 in diesem Band). Tatsächlich fand die Schlacht in der Bismarck-See genauso statt. Die Minimierung des maximalen Verlustes Das Beispiel demonstriert nicht nur die Grundstruktur der strategischen Situation eines Konfliktes und seine „Lösung“ nach dem Konzept der iterierten Dominanz, sondern auch das Entstehen unterschiedlicher „Einstellungen“ der
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Soziales Handeln
Akteure zu dem Spiel – je nachdem, ob sie bei dem Konstantsummen-Spiel sicher davon ausgehen können oder müssen, daß sie auf der Gewinner- oder auf der Verliererseite sind. Admiral Kenney handelt zunächst genauso wie das die Spieltheorie annimmt: Er versucht, seinen Gewinn zu maximieren. Das versucht Admiral Imamura natürlich auch. Für den heißt das aber nur: die Minimierung der möglichen Verluste. Denn zu gewinnen hat er in der drohenden Schlacht nichts. Das aber führt ihn zu einem naheliegenden Gedanken: Er vergleicht die Strategien danach, wie hoch jeweils der dort maximal mögliche Verlust ist. Und dann sucht er die Strategie aus, die unter den maximal möglichen Verlusten den minimalsten Verlust mit sich brächte. So kommt er auf die Nordroute: Bei der Südroute droht maximal ein Verlust von -3, bei der Nordroute von -2. Das ist das Schlimmste, was der japanischen Flotte jetzt noch geschehen kann. Und er tut gut daran. Denn er kann die Amerikaner ja nicht beeinflussen oder mit irgendwelchen Kooperationsgewinnen locken. Diese Strategie wird in der Spieltheorie auch als Minimax-Strategie bezeichnet. Das ist im übrigen die gleiche Strategie, die auch die uns aus Abschnitt 7.3 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ bekannte Frau Professor Dr. Helma-Beate Wiesbaden-Wohlbestallt gewählt hatte, als sie sich in einer Situation extremer Unsicherheit befand und dann klugerweise von der Regel der Maximierung der Nutzenerwartung auf die Regel der Minimierung des maximal möglichen Verlustes wechselte. Man sieht: Auch Regeln der Selektion können gewählt werden. Und zwar: nach der Regel, dabei die Nutzenerwartung zu maximieren.
Das Vorgehen der Minimierung des maximalen Verlustes auf der einen Seite ist bei einem Nullsummen-Spiel natürlich gleichbedeutend mit der Minimierung des Gewinns auf seiten des Gegners. Admiral Kenney versucht unter diesen Umständen herauszuholen, was jetzt noch möglich ist: Er wählt die Strategie, die unter der vorsichtigen, verlustminimierenden Strategie des Admirals Imamura seinen dann noch möglichen Gewinn zu maximieren verspricht. Und genau das tut Admiral Kenney auch, indem er seine Flieger eben nicht nach Süden schickt, wo sie nur einen Gewinn von 1 erzielen können, sondern nach Norden, wo sie dem Gegner einen Schaden von -2 – und ihm selbst somit einen Gewinn von 2 – bereiten können. Er maximiert somit seinen ihm möglichen minimalen Gewinn. Diese Strategie heißt entsprechend auch Maximin-Strategie (vgl. dazu auch Holler und Illing 1993, S. 58f; Rasmusen 1989, S. 104). Sie liegt dann nahe, wenn es dem unterlegenen Gegner nur noch um Schadensbegrenzung geht und wenn der Gegner deshalb die Minimaxstrategie wählt. Die Kombination der beiden Strategien – Minimax bei Imamura und Maximin bei Kenney – führt unter den gegebenen Umständen zu dem beschrie-
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benen Gleichgewicht – hier: die Strategiekombination (Norden, Norden). Es ist in der Sprache der Spieltheorie eine Lösung in Maximin-Strategien – obwohl ja tatsächlich zwei Strategien beteiligt sind: Minimax bei Imamura, Maximin bei Kenney. Konflikt und Vernunft Die Schlacht in der Bismarck-See endete für die Japaner in einem Desaster. Aber hat Admiral Imamura unter den gegebenen Umständen falsch oder dumm gehandelt, als er die Nordroute wählte, obwohl er doch wissen mußte, daß Admiral Kenney – als rationaler Stratege – ihn im Norden erwarten würde? Die Antwort: Keineswegs! Denn: Auf der Südroute wäre der Verlust mindestens so hoch gewesen. Der Militärhistoriker O. G. Haywood schreibt deshalb auch ganz zutreffend: „Although the Battle of the Bismarck Sea ended in a disastrous defeat for the Japanese, we cannot say the Japanese commander erred in his decision.“10
Konflikte zwischen den Menschen setzen ihren Verstand also nicht unbedingt außer Kraft. Im Gegenteil: Manchmal lohnt sich ein wenig Empathie für den Gegner, um den eigenen Schaden zu begrenzen, oder um den dann immer noch möglichen maximalen Gewinn zu erzielen – je nachdem, auf welcher Seite man gerade ist. Eine ganz andere Frage ist dann freilich immer noch, wie „rational“ die „gesellschaftlichen“ Verhältnisse eigentlich sind, unter denen die Gegner ihre Strategien einsetzen. Aber das ist ja bekanntlich eine ganz andere Geschichte. Reine Konflikte Das Nullsummen-Spiel ist besonders gut geeignet, eine Konkurrenz um Alles oder Nichts, um Leben oder Tod, um Sein oder Nichtsein wiederzugeben. Wir wollen jene sozialen Situationen, in denen der Gewinn des einen notwendigerweise einen Verlust des anderen in der gleichen Höhe nach sich zieht, allgemein als reine Konflikte bezeichnen. Dazu seien wieder zwei Akteure betrachtet und zwei Möglichkeiten ihres Zusammenwirkens. Die „Akteure“ seien zwei unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen A und B. Etwa: Locals und Cosmopolitans bei den Professoren, 10
O. G. Haywood, Jr., Military Decision and Game Theory, in: Journal of the Operations Research Society of America, 2, 1954, S. 369.
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Proletarier und Kapitalisten im England des 19. Jahrhunderts, Flamen und Wallonen in Belgien, Katholiken und Protestanten in Nordirland, Serben und Albaner im Kosovo. Die Möglichkeiten ihres Zusammenlebens seien bestimmte „Verfassungen“, die sie sich gemeinsam geben: Hat die Lehre oder die Forschung Vorrang bei der Mittelvergabe? Werden das Privateigentum und das Erbe staatlich geschützt oder nicht? Gilt flämisch oder französisch als offizielle Landessprache? Bleibt Nordirland britisch und protestantisch oder geht es back to the Irish und wird katholisch? Setzt sich Milošević durch oder die NATO? Die alternativen Verfassungen seien mit 1 oder 2 bezeichnet. Für die Zwecke der soziologischen Analyse der Situation müssen wir das Spiel gegenüber den üblichen Annahmen des Nullsummen-Spiels etwas ändern: Beide Gruppen sind darauf angewiesen, ihre Verfassungen irgendwie zu koordinieren: Es gibt für sie keinen exit außerhalb der Koexistenz mit der jeweils anderen Gruppe. Das heißt, daß immer nur eine Verfassung jeweils installiert werden kann, der dann beide Parteien unterliegen. Gelingt dies nicht, so haben beide Gruppen einen Verlust zu erwarten, der höher ist als bei jeder der koordinierten Kombinationen. Deshalb werden in der folgenden Darstellung die entsprechenden unkoordinierten Kombinationen nicht weiter beachtet. Insofern handelt es sich strenggenommen nicht mehr um ein Konstantsummen-Spiel, weil in den off-Diagonalen die Auszahlungen deutlich schlechter sind als in einer der beiden koordinierten Kombinationen.
Die Besonderheit sei nun, daß, je nachdem welche Verfassung eingerichtet ist, die eine Gruppe davon profitiert und die andere Gruppe in dem gleichen Maße einen Verlust erleidet. Diese Struktur sei genau symmetrisch: Die Verfassung 1,1 bevorzugt die Gruppe A und benachteiligt die Gruppe B, die Verfassung 2,2 benachteiligt die Gruppe A und bevorzugt die Gruppe B. Und das jeweils in genau gleichem Maße – mal als Gewinn, mal als Verlust. Die Situation eines „reinen“ Konfliktes zwischen den beiden Gruppen läßt sich in stilisierter Weise dann so zusammenfassen (Abbildung 3.13):
Gruppe B Verfassung 1 Verfassung 1
Verfassung 2
4,-4
Gruppe A Verfassung 2 Abb. 3.13: Reiner sozialer Konflikt zwischen zwei Gruppen
-4,4
Strategische Situationen
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Die Interessen der Gruppen an der Durchsetzung einer bestimmten Verfassung sind – leicht erkennbar – diametral gegensätzlich. Das liegt daran, daß das Spiel symmetrisch aufgebaut ist – anders als dasjenige bei der Schlacht in der Bismarck-See. Leicht läßt sich ausmalen, was nun geschieht: Ohne jede weitere Festlegung gibt es einen nicht zu bändigenden Kampf um die Vorherrschaft. Er wird mit allen Mitteln geführt. Er zielt letztlich auf die Okkupation jener Mittel, die es gestatten, die Verfassung eines Landes festlegen zu können. Und das sind zunächst die Panzer, dann die Fernsehsender, dann die Verwaltung und später die Lehrer, die Professoren und – zum Schluß – die Kabarettisten. Kurz: Es geht um die Macht im Staate. Der Kampf um die Verfassung ist also ein Nullsummen-Konflikt in der Spezialvariante eines reinen Konfliktes. Die Auseinandersetzung um die Machtmittel dazu ist es ebenso (siehe dazu auch gleich unten mehr). Partielle Konflikte Nullsummen-Spiele sind ihrerseits Spezialfälle von sog. KonstantsummenSpielen. Natürlich könnte man durch eine einfache Transformation alle Konstantsummen-Spiele in ein Nullsummen-Spiel zurückführen. Aber dann ginge ein wichtiger soziologischer Gesichtspunkt verloren: Es gibt Konflikte auch dann, wenn es nicht bloß um Gewinn und Verlust geht, sondern nur um verschiedene Grade von Gewinnen. Konflikte, bei denen nur unterschiedlich hohe Gewinne, aber keine Verluste auftreten, seien als partielle Konflikte bezeichnet. Diese Art der strategischen Situation kennen wir bereits. Es ist der Fall der Koordination bei Interessendivergenz aus Abbildung 3.3. Es hat den hübschen und treffenden Namen Battle of the Sexes bekommen (vgl. bereits Luce und Raiffa 1957, S. 90). In den einleitenden Beispielen war das die Geschichte des jungen Paares, das ins Kino gehen wollte: er in French Kiss (FK), sie in Don Juan de la Marco (DJ; vgl. Abbildung 3.14). Auch nun gibt es einen symmetrischen Konflikt. Der ist aber bei weitem nicht von der gnadenlosen Sorte wie der oben beschriebene reine Konflikt: Jeder hat auch etwas davon, in den „falschen“ Film zu gehen – und beläßt es notfalls beim grimmigen Murren.
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Soziales Handeln
B FK FK
DJ
4,1
A DJ Abb. 3.14:
1,4
Die Struktur eines partiellen Konfliktes
Der partielle Konflikt ist – spieltheoretisch und auch lebensweltlich – gleichwohl eine unangenehme Situation (vgl. Holler und Illing 1993, S. 91ff.; Rasmusen, S. 34f.): Es gibt nun – wie beim CG und beim AG – zwei (Nash-)Gleichgewichte: (FK,FK) und (DJ,DJ) sind jeweils „wechselseitig beste Antworten“, von denen, sind sie einmal erreicht, nicht mehr abgewichen wird. Denn: Wenn ein bestimmtes Gleichgewicht – sagen wir: FK,FK – einmal vorhanden ist, dann kann ein Akteur durch einen einseitigen Zug nur verlieren. Eine Verbesserung zu seinen Gunsten ist nur durch eine koordinierte Aktion möglich. Aber dazu muß er den anderen erst einmal bringen. Da der aber nur verlieren kann, wird die Koordination auf das neue Gleichgewicht nicht gelingen – und deshalb unterbleibt die einseitige Aktion auch. Ohne irgendeine Regelung ist nicht klar, welches der Gleichgewichte von einer Ausgangssituation erreicht wird. Die Akteure könnten sich außerdem leicht verfehlen, wenn sie versuchen, sich unkoordiniert zu treffen. Oft helfen auch hier symbolische Anhaltspunkte und ein gemeinsames Vorwissen – wie wir in Abschnitt 3.1 gesehen haben. In einer patriarchalischen, wie natürlich erst recht in einer matriarchalischen Gesellschaft wäre die Sache einfach: (DJ,DJ) ganz ohne Frage hier, (FK,FK) ebenso selbstverständlich dort. Die Probleme kommen erst mit der Gleichberechtigung. Nun müssen raffiniertere Lösungen her. Etwa eine Regel wie: „Heute Du und morgen ich“. Oder man vertraut dem Zufall, der in the long run ja sowieso alles wieder ausgleicht. Dann kann es aber sein, daß sich die Verliebten dabei auch verfehlen und gar nichts voneinander haben. Und dann stellen sie beide etwas traurig fest: Ein klein wenig „unbedingte“ Dominanz auf einer Seite wäre für beide ganz hilfreich gewesen.
Die Situation des Kampfes der Geschlechter läßt sich leicht wieder auf das Problem sozialer Konflikte übertragen: Unabhängig von der Verfassung der Gesellschaft gibt es auch für die unterlegene Gruppe eine – mehr oder weniger – kommode Existenz. Beispielsweise: über Minderheitenrechte, Ausgleichszahlungen, wohlfahrtsstaatliche Mindestversorgung, auf dem Markte verwertbares Humankapital u.a. Solche Rechte und Ressourcen können – im Unterschied zu dem spezifischen Kapital, das seinen Nutzen nur bei einer bestimmten Verfassung stiftet – als generalisiertes Kapital aufgefaßt werden, das unabhängig von der Verfassung etwas wert ist. Deutlich wird erkennbar, daß das Motiv zum Umsturz dann kleiner ist als beim reinen Konflikt zuvor. Die jeweils benachteiligte Gruppe verliert nicht mehr alles. Das Motiv zur Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse ist um so kleiner,
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Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse ist um so kleiner, je geringer der Anteil an spezifischem Kapital jeweils ist. Jede einmal gefundene Regelung ist außerdem stabil, weil nur eine koordinierte Änderung der Verfassung in Frage kommt, an der die herrschende Gruppe kein Interesse hat. Gleichwohl bleibt ein stets latentes Interesse auf seiten der unterlegenen Gruppe, die gesellschaftlichen Verhältnisse zu ändern – und selbst die höhere Auszahlung einzustreichen (vgl. dazu Ullmann-Margalit 1977, S. 163f). Konflikte und soziale Produktionsfunktionen Den objektiven, den strukturellen Hintergrund der so beschriebenen Konflikte bilden natürlich die sozialen Produktionsfunktionen, aus denen die verschiedenen Gruppen ihre Reproduktion beziehen. Die reinen Konflikte entsprechen dabei jener Situation, wie sie in Abschnitt 4.3 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ für die sog. Interessenkonflikte beschrieben wurde: Je nach Geltung einer bestimmten Verfassung erzeugt ein bestimmtes primäres Zwischengut für die eine oder für die andere Gruppe entweder Nutzen oder das Gegenteil davon. Die gesamte Differenz zwischen dem Nutzen bei der „richtigen“ Verfassung und dem drohenden Verlust bei der „falschen“ Verfassung ist dann das Motiv, das die Akteure drängt, den Konflikt auch auszutragen. Entschärft werden könnte das Motiv zum Umsturz nur dadurch, daß es auch bei einer „falschen“ Verfassung etwas zu gewinnen gibt. Das ist bei den partiellen Konflikten der Fall. Im Konzept der sozialen Produktionsfunktionen würde dies bedeuten, daß mit der Geltung einer „falschen“ Verfassung das kontrollierte Kapital nicht gänzlich seinen Wert verliert, sondern immer noch einen – wenn zwar geringeren – Nutzen erzeugen kann. In Abbildung 3.15 sind diese beiden Konstellationen zusammengefaßt. Aus Vereinfachungsgründen betrachten wir nur die Situation einer Gruppe – etwa A; die der anderen wäre genau spiegelbildlich zu lesen. Zunächst der reine Konflikt: Wenn die Verfassung 1 gilt, winkt der Gruppe A bei einem Einsatz des primären Zwischengutes Z in Höhe von z ein Gewinn von u1, und es droht ein Verlust von -u2 bei einer Änderung der Verfassung. Die Differenz beträgt Ui = u1-(-u2) = u1+u2. Ui gibt die Intensität des Motivs der Gruppe A für eine Beibehaltung der Verhältnisse wieder – und entsprechend für eine Änderung auf seiten der Gruppe B. Ein partieller Konflikt läge vor, wenn bei einer Änderung der Verfassung von 1 zu 2 für die jeweilige Gruppe nicht mehr der komplette Verlust zu befürchten wäre, sondern sich lediglich die Höhe des Gewinns verringert. Die andere Gruppe erhöht in diesem Fall lediglich ihren Gewinn, der zuvor kleiner gewesen ist. So geschieht das in Demo-
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Revolution? Ob es zu einer offenen Austragung des Konfliktes kommt, ist dagegen eine noch ganz andere Frage. Der Einfachheit halber wollen wir annehmen, daß die beiden Gruppen als (kollektive) Akteure so handeln können wie Individuen. Dann ist die Entscheidung, eine Revolution zu beginnen, davon abhängig, ob die Nutzenerwartung für eine erfolgreiche Umwälzung der Gesellschaft größer ist als die für die Fügsamkeit in den Status quo. Wir wollen die Nutzenerwartung für den Status quo mit EU(S), die für die Revolution mit EU(R) annehmen. Die Erwartung, daß der Status quo doch nicht zu ändern sei, sei mit (1-p) angenommen. Dann ist p die Erwartung, daß eine Revolution Erfolg haben werde. Die sozialen Produktionsfunktionen liefern uns die Nutzenwerte: Uj ist die Intensität des Motivs zum Umsturz, Ui ist das, was ohne Revolution noch an Gewinn zu erwarten bleibt. Wie hoch Ui bzw. Uj jeweils sind, hängt natürlich von den Verfassungen und der dadurch erzeugten Art des Konfliktes ab. Daraus ergeben sich die folgenden Gewichte für die Unterstützung des Status quo versus die Revolution: EU(S) = (1-p)Ui EU(R) = pUj. Die Konstellation erinnert an das Vertrauensmodell beim Assurance Game aus Abschnitt 3.2 in diesem Band und an die Frage, ob es sich „lohnt“, auf das Vertrauen des Mitspielers zu setzen. Auch nun ergibt sich aus der Bedingung für eine Revolution EU(R)>EU(S) die folgende Übergangsschwelle vom Status quo in die Revolution: Uj/Ui > (1-p)/p. Man sieht leicht, warum auch größte Unzufriedenheiten mit dem Status quo – meßbar an einem hohen Betrag des Verhältnisses Uj/Ui – nicht ohne weiteres zu einem Umsturzversuch führen müssen: Wenn die Erfolgswahrscheinlichkeit für die Revolution p sehr klein ist, dann kann das Verhältnis Uj/Ui extrem groß werden, ohne daß die Übergangsbedingung von der Orientierung auf den Status quo in die Revolution erfüllt ist.
Kurz: Auch massive Unzufriedenheiten und Befürchtungen alleine machen noch keine Revolution. Die Parteien müssen auch eine gewisse Chance sehen, daß sie Erfolg haben werden. Und diese Chance ist gerade für die unterlegene Gruppe, die ja eben nicht die Machtmittel kontrolliert, normalerweise recht klein. Das Modell ist eine Erklärung für das sog. Tocqueville-Paradox, von dem schon einige Male die Rede war (vgl. auch noch Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
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Soziales Handeln
Negativer Altruismus Die rationalen EgoistInnen der Spieltheorie interessiert normalerweise nicht, wie es dem anderen geht. Sie hegen keine Gefühle – weder Sympathie, noch Antipathie. Sie denken nur an sich. Den lebendigen Menschen ist es dagegen oft nicht egal, wie es dem anderen geht. Den angenehmen Fall hatten wir bereits kennengelernt: Altruismus führt – unter Umständen – auch dort zur Kooperation, wo das normalerweise nicht zu erwarten ist. Sogar ein vorgespielter Altruismus hilft oft schon, das Eis zu brechen. Und man ahnt es schon: Neid und Haß zerstören eine Kooperationsgrundlage, die „an sich“, von den „objektiven“ Auszahlungen her gesehen, durchaus gegeben wäre. Betrachten wir dazu die Situation eines partiellen Konfliktes. Die „objektiven“ Auszahlungen seien die gleichen wie im Battle of the Sexes aus Abbildung 3.14. Nun aber komme der Neid hinzu: Jeder mißgönnt dem anderen dessen Gewinn. Das wirkt sich auf die subjektiven Auszahlungen derart aus, daß der Gewinn des einen Spielers bei einer bestimmten Strategiekombination vom „objektiven“ Gewinn des anderen Spielers abgezogen wird: Was den einen freut, ärgert den anderen. Die Auswirkungen sind interessant: Aus dem Positivsummen-Spiel und aus dem partiellen Konflikt des Battle of the Sexes wird ein Nullsummen-Spiel und ein reiner Konflikt (vgl. Abbildung 3.16). Und selbst der Gewinn des Siegers ist kleiner als zuvor ohne den Luxus der negativen Gefühle. a. Bruttobeträge
b. Nettobeträge B
FK FK
B DJ
FK
4(-1), 1(-4)
FK
A
DJ
3,-3
A DJ
1(-4),4(-1)
DJ
-3,3
Abb. 3.16: Die Auswirkung des negativen Altruismus
Der Neid hat in der Spieltheorie eine vornehme Bezeichnung gefunden. Dort heißt er negativer Altruismus. Der negative Altruismus kann in einer weiter verschärften Form auftreten. Nicht der absolute Gewinn des anderen ärgert, sondern schon der bloße Unterschied in den Auszahlungen – egal
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wie hoch der Gewinn schon ist. Das ist bei übertriebenem Ehrgeiz und Statusstreben der Fall: Dem eigenen Gewinn wird die Differenz in der Auszahlung zwischen mir und dem anderen hinzugefügt. Und wenn die Differenz klein ist, dann freut auch ein objektiv hoher Gewinn nicht sonderlich. Die Spieltheorie spricht auch von einem Game of Difference. In der Soziologie heißt dieses Phänomen relative Deprivation (vgl. auch Ullmann-Margalit 1977, S. 150ff.; vgl. noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“ und die Abschnitte dort über die Bezugsgruppen). Die dazu gegensätzliche Motivation ist die Präferenz für die Gleichheit: Eine Ungleichheit zum anderen wird als unangenehm empfunden, und die Gleichheit als zusätzliche Belohnung. Dieses Spiel heißt auch Game of Anti-Difference bzw. Game of Equality. Alexis de Tocqueville spricht in seinem Buch „Über die Demokratie in Amerika“ in einer Mischung von Bewunderung und Skepsis von der Leidenschaft zur Gleichheit bei den Amerikanern.11 Sie entschärft – natürlich – alle Situationen des Konfliktes und der antagonistischen Kooperation. Wohl auch deshalb, aber nicht alleine!, gab – und gibt – es keinen Sozialismus in den Vereinigten Staaten.
Die Auswirkungen von Neid und Differenzmotivation sind – kaum erstaunlich – denen des positiven Altruismus genau entgegengesetzt: Sie verstärken – ohne Not – die wechselseitigen Bemühungen, sich zu schaden. Michael Taylor hat gezeigt, daß der negative Altruismus auch bei anderen Konstellationen kollektiv ganz ungünstige Wirkungen hat, die den Neidern schließlich selbst schaden: Ein Gefangenendilemma wird unter Neid nur noch verschärft (Taylor 1987, S. 115ff.). Und eine Evolution der Kooperation ist dann auch unter günstigsten Bedingungen fast ausgeschlossen. Neid macht häßlich, weil die Welt schließlich auch „objektiv“ ganz freudlos wird. Ehepaare kurz vor der Scheidung scheinen hierin aber eine besondere Lust zu finden. Einem rationalen Egoisten sind solche schlechten – ebenso wie alle guten – Gefühle ganz und gar fremd. Anarchie Eine Lösung ist bei einem partiellen Konflikt also noch relativ leicht möglich. Eigentlich ist schon ein eindeutiger Fokalpunkt ausreichend. Fehlt ein solcher, dann bricht das System auch nicht zusammen. Es dauert nur etwas, und es hängt vom Zufall ab, was geschieht. Aber eine Ordnung wird mit großer Wahrscheinlichkeit schon erreicht – nicht zuletzt dadurch, daß die – wie auch immer – zuerst gefundene Koordination für alle weiteren Koordinationen zum Fokalpunkt wird, an dem sich auch die unterlegene Gruppe erst einmal gerne orientiert, weil „irgendeine“ Lösung für sie immer noch besser ist als gar keine. Kurz: Schon eine beginnende „Praxis“ kann den Fokalpunkt für eine anschließende, für alle ertragreiche Koordination werden (vgl. auch noch Band 11
Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika. Zweiter Teil, Zürich 1987, S. 50ff.
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5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“, zu dem Vorgang der Institutionalisierung). Eine solche vergleichsweise einfache Lösung durch den Aufbau von Gewohnheiten ist bei der folgenden Konstellation eines Konstantsummen-Spiels hingegen nicht möglich (Abbildung 3.17).
B FK
DJ
FK
4,1
1,4
DJ
1,4
4,1
A
Abb. 3.17: Die Struktur der Anarchie
Das ist jetzt offensichtlich kein gegenseitig verliebtes Paar mehr: A möchte gerne mit B ins Kino – egal in welchen Film. Auch B will sich irgendeinen Film ansehen – aber nicht zusammen mit A. Und was geschieht? A steht vor dem Kino, in dem French Kiss läuft (FK,FK). B sieht das und dreht ab zum anderen Kino (FK,DJ), A hinter B her (DJ,DJ), B wieder zurück zum Kino mit French Kiss ... und so weiter. Das System kommt nie zur Ruhe, wenn nicht irgendetwas geschieht, das wenigstens einem von beiden das Heft aus der Hand nimmt. Jetzt gibt es die Stabilität der Nash-Gleichgewichte des Battle of the Sexes nicht mehr: Einer der Spieler kann immer wieder durch einen einseitigen Zug seine Situation verbessern. Und das tut ein rationaler Egoist dann auch. Wir wollen diesen Zustand als Anarchie bezeichnen. Repressive Normen Die Situation des partiellen Konfliktes birgt auch nur ein partielles Problem, für das es vergleichsweise leicht eine Lösung gibt. Zwar bleibt immer auch hier ein latentes Interesse nach einer Änderung der Verhältnisse bestehen. Aber das ist so schwach, daß wahrscheinlich niemand sich aufraffen wird, um ernsthaft an eine Revolution der Gesellschaft zu denken. Das ist anders bei den beiden anderen geschilderten Zuständen: Anarchie und reiner Konflikt. Sie sind für die Akteure auf die Dauer unerfreulich, nein unerträglich. Bald werden die Akteure der ewigen Unordnung bzw. des Streitens müde sein –
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und sich schließlich lieber irgendeine als gar keine Lösung ihres Problems wünschen. Anders als beim Gefangenendilemma gibt es in diesem Antagonismus kein kooperatives Element. Die Versuchung, die jeweils individuell bessere Lösung anzustreben, kann grundsätzlich nicht ausgeschaltet werden. Schließlich wünschen sie sich beide eine externe Instanz herbei, die ihnen aus Anomie und Anarchie heraushilft – möglichst natürlich auf Kosten des jeweils anderen. Lösungen des Problems sind – wie man sieht – über konventionelle oder essentielle Normen nicht zu erreichen. Es sind im Prinzip repressive Maßnahmen nötig. Edna Ullmann-Margalit nennt sie folgerichtig auch „fortifying methods“. Wir wollen solche Normen, die es schaffen, Konflikte stillzustellen, daher auch als repressive Normen bezeichnen. Diese repressiven „norms of partiality“ – wie Edna Ullmann-Margalit sie auch nennt (1977, S. 173ff.) – sind nicht selbst-„verständlich“, sondern müssen immer durch einen externen Mechanismus durchgesetzt werden. Das geht letztlich nur durch irgendeine Form der Herrschaft. Herrschaft ist immer auch Macht, unterstützt durch einen Erzwingungsstab und – gegebenenfalls – durch eine gewisse Legitimation, die den Zwangscharakter einer jeden Herrschaft unter Umständen subjektiv entschärft, aber niemals außer Kraft setzen kann (vgl. dazu noch Kapitel 12 in diesem Band und Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Die innere Widersprüchlichkeit der Herrschaft Die Herrschaft sichert – unterstützt letztlich durch militärische Gewalt – also einen bestimmten Status quo und beendet auf diese Weise die Instabilität. Dieser Status quo muß natürlich bestimmte Gruppen in Vorteil setzen und andere benachteiligen. Das geht schon logisch gar nicht anders. Es ist in der Logik des Konfliktes selbst angelegt: Die Verfassung 1,1 begünstigt die eine, die Verfassung 2,2 die andere Gruppe. Die Einrichtung von Herrschaft und die Durchsetzung von repressiven Normen nützt aber natürlich letztlich auch der jeweils unterlegenen Gruppe – selbst dann, wenn sie massive Verluste etwa durch Ausbeutung, Unterdrückung oder soziale Ächtung zu erleiden hat. Sie findet – so die Annahme, auf der alles beruht – in der betreffenden Gesellschaft bei dem geltenden Status quo immer noch eine bessere Situation vor als außerhalb der Koordination der Verfassungen. Das bildet auch die Grundlage wenigstens für einen Rest der Legitimation auch auf seiten der unterlegenen Gruppe. In der Alternative außerhalb der Gesellschaft findet diese Legitimation ihre Grenze: Wenn die Alternative „außerhalb“ der Gesellschaft nicht schlechter ist, dann gibt es keinen Grund, der Koordination zu folgen. Nun
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kann nur noch die nackte Gewalt – oder die Apathie aus der Ohnmacht – verhindern, daß eine Änderung versucht wird. Leicht wird so anhand der strategischen Situation eines Konfliktes das jeder Herrschaft inhärente Problem erkennbar: Herrschaft integriert einerseits eine Gesellschaft durch die –vorläufige! – Beendigung eines Konfliktes, woran im Prinzip alle Parteien ein Interesse haben. Sie antagonisiert die Gruppen andererseits aber gleichzeitig gerade dadurch für die Dauer der jeweiligen Herrschaft: Herrschaft ist, um einen Status quo angesichts von Interessengegensätzen über die Verfassung der Gesellschaft zu sichern, notwendigerweise die Herrschaft der einen über die andere Gruppe. Und dabei hat die obsiegende herrschende Gruppe stets Vorteile aus der Herrschaft gegenüber der anderen Gruppe. Ändert sich die Herrschaft, dann ändert sich zwar die Verteilung von Gewinn und Verlust. Aber der latente Konflikt bleibt selbstverständlich erhalten. Man könnte diesen Zustand auch als die antagonistische Integration einer Gesellschaft bezeichnen. Aus der inneren Widersprüchlichkeit, aus der Dialektik der Herrschaft, aus der antagonistischen Integration durch die Herrschaft gibt es grundsätzlich keinen Ausweg: Wenn Konflikte – wenigstens: „partiell“ – unvermeidlich sind, und wenn die Lösung des Problems und die Schaffung einer gesellschaftlichen Ordnung nur über die repressiven Mittel einer Herrschaft möglich ist, dann trägt die Herrschaft zwar nicht unbedingt den Keim ihres Unterganges, wohl aber einen nicht stillzustellenden inneren Widerspruch – von der ganzen inneren Logik der Konstruktion her – notwendigerweise in sich. Um sie selbst entzündet sich ein – grundsätzlich nicht auszuschaltender – Konflikt: „The parties, that hitherto could have stood in no particular relation to each other, are necessarily brought into contact by it: relations of domination and subjection are thereby established, and along with them are sown seeds of further friction, tension, and conflict.“ (UllmannMargalit 1977, S. 168)
Natürlich läßt sich dieser innere Widerspruch entschärfen: durch Ausgleichszahlungen an die unterlegene Gruppe, durch eine Herrschaft, die den periodischen Wechsel möglich macht, durch ideologische Prämien an die unterlegene Gruppe – etwa. Wohlfahrtsstaat, Demokratie und eine Ideologie der natürlichen Ungleichheit der Menschen haben sämtlich den gleichen Effekt: Die Differenz in den Auszahlungen zwischen „günstiger“ und „ungünstiger“ Konstellation wird verringert. Und wenn jetzt nur noch hinzukommt, daß eine einmal geschaffene Ordnung nur schwer wieder zu ändern ist oder sonstwie als „selbstverständlich“ gilt, dann wird sich tatsächlich – trotz aller inneren Widersprüche – nichts tun.
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Die Bedingungen für eine Änderung des Status quo sind für die jeweils unterlegene Gruppe freilich meist nur sehr schwer zu erfüllen. Massive Benachteiligungen einerseits und die Überzeugung, daß jetzt die Zeit für einen Wechsel reif sei, müssen sich gleichzeitig verbreiten. Aber auch dann ist es noch nicht ausgemacht, daß etwas geschieht. Denn die Umwälzung der Gesellschaft ist ein sog. Kollektivgut, bei dessen Produktion exakt jenes Dilemma besteht, das wir oben als Gefangenendilemma kennengelernt haben. Und ob ausgerechnet verelendete Massen die Kraft zu einer Überwindung dieses Problems aufbringen, ist mehr als ungewiß. In Kapitel 7 in diesem Band werden wir noch genauer sehen, warum das so ist. Weder Parsons, noch Marx – Dahrendorf! Nach allem, was wir gesehen haben, ist es für große Gesellschaften kaum denkbar, daß es keine Konflikte gibt. Es wird immer Unterschiede der Gruppen in den sozialen Produktionsfunktionen und in Interesse und Kontrolle und damit Konflikte geben, die nur durch Herrschaft zu lösen sind. Konflikte, nicht irgendwelche Gemeinsamkeiten, sind der Grundzug der komplexen Gesellschaften. Seit Emile Durkheim teilt aber die Soziologie – insbesondere in der Variante des Strukturfunktionalismus bei Talcott Parsons – die Überzeugung, daß Gesellschaften nur Bestand finden könnten, wenn es ein übergreifendes Wertesystem, eine moralische Basis des Handelns, eine – mechanische oder organische – Solidarität der Mitglieder gäbe, in denen alle Konflikte aufgehoben wären. Jürgen Habermas noch knüpft daran mit seiner Theorie des kommunikativen Handelns auch nach dem Verfall des Strukturfunktionalismus von Talcott Parsons an: Letztlich könnten Gesellschaften ihren Bestand nur im – argumentativ begründeten – Konsensus der Menschen über ihre Interessen als Gattung insgesamt finden. Karl Marx war demgegenüber derjenige unter den Soziologen gewesen, der die inhärente Widersprüchlichkeit jeder Herrschaft deutlich erkannt hatte (vgl. bereits Kapitel 4 und 12 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ dazu). Er hatte nur gemeint, daß die Herrschaft des Kapitals der historisch letzte Konflikt unter den Menschen sei, daß die Verelendung des Proletariats notwendigerweise eine Revolution nach sich ziehe und daß es eine Gesellschaft danach geben werde, die weder Unterschiede in den Interessen, noch in der Kontrolle von Ressourcen und daher auch keine Herrschaft und keinen Staat mehr kenne. Beide Ansichten sind wohl nicht haltbar: Komplexe Gesellschaften lassen sich nicht über ein Wertesystem integrieren, dafür sind die Konflikte zu viel-
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fältig und die dann noch möglichen gemeinsamen Werte zu abstrakt. Und ob je die Konflikte aufgehoben und die Herrschaft überflüssig werden, ist nach den jüngsten Erfahrungen mit dem Langzeitexperiment der Theorie von Marx auch sehr fraglich. Viel plausibler erscheint da die Position, die Ralf Dahrendorf einmal in Auseinandersetzung mit Marx und mit Parsons formuliert hat: Jede Vergesellschaftung erzeugt Interessenunterschiede und dadurch Konflikte. Und deshalb wird für jede Gesellschaft irgendeine Form der Herrschaft notwendig.12 Ralf Dahrendorf formuliert diesen Gedanken unter anderem so: „Vom Standpunkt dieses Modells (des oben beschriebenen, an die Grundidee von Dahrendorf angelehnten Konfliktmodells; HE) werden Gesellschaften nicht durch Consensus, sondern durch Zwang, nicht durch allgemeine Übereinstimmung, sondern durch die Kontrolle einiger durch andere zusammengehalten. Es mag für gewisse Zwecke nützlich sein, vom Wertsystem einer Gesellschaft zu sprechen, aber im Konfliktmodell sind solche geltenden Werte herrschende, nicht gemeinsame, erzwungene, nicht akzeptierte Werte zu einem gegebenen Zeitpunkt. ... Wir setzen voraus, daß Konflikt allgegenwärtig ist, weil Zwang allgegenwärtig ist, wo immer Menschen sich soziale Verbände schaffen.“ (Dahrendorf 1974, S. 262; Hervorhebung nicht im Original).
Freilich: Die Existenz von Konflikten muß nicht heißen, daß sich die Menschen jetzt in nach ihren Interessen wohlabgegrenzten Cleavages unversöhnlich gegenüberstehen und eine Revolution der sozialen Produktionsfunktionen nach der anderen droht. Mehr und mehr geschieht vielmehr das, was Georg Simmel einmal die „Kreuzung der socialen Kreise“ und Niklas Luhmann die „Überkreuzung der Konfliktfronten“ genannt haben: In komplexen Gesellschaften sind die Menschen Mitglieder verschiedener Gruppen gleichzeitig – und haben von daher oft selbst widerstreitende Interessen. Allein das entschärft das Potential der Konflikte zwischen den Gruppen. Und heraus kommt etwas, was weder Parsons, noch Marx wohl für möglich gehalten haben (vgl. dazu bereits Kapitel 6 in Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“): die eventuell sogar von niemandem so beabsichtigte „Integration“ der Gesellschaft, ganz ohne Wertkonsensus und ganz ohne Aufhebung der Interessenkonflikte – allein dadurch, daß sich die Menschen „individualisieren“ und sich in ihren Konflikten über die Herrschaft im Lande wechselseitig neutralisieren.
12
Ralf Dahrendorf, Soziale Klassen und Klassenkonflikt in der industriellen Gesellschaft, Stuttgart 1957, Kapitel V: Soziale Struktur, Klasseninteressen und sozialer Konflikt; Ralf Dahrendorf, Pfade aus Utopia. Arbeiten zur Theorie und Methode der Soziologie. Gesammelte Abhandlungen I, 3. Aufl., München 1974.
Kapitel 4
Ordnungsbedarf
Das soziale Handeln ist für die physische und psychische Existenz des Menschen von grundlegender Bedeutung. Es ist aber, wie wir auch gesehen haben, nicht ohne Risiken und (doppelte) Kontingenzen. Darin liegt das Problem der sozialen Ordnung: Einerseits gibt es einen hohen Bedarf zur Kooperation, nach Überwindung der Komplexitäten, Kontingenzen und Risiken des strategischen Handelns und nach einem geordneten sozialen Handeln. Andererseits ist aber mit dem bloßen Bedarf nach Ordnung die Ordnung natürlich noch nicht hergestellt. Wir wollen das Problem der sozialen Ordnung und des Normbedarfs etwas weiter systematisieren. Dazu knüpfen wir an das vorhergehende Kapitel 3 und an die dort behandelten grundlegenden Typen strategischer Situationen an. Genau genommen gibt es nämlich nicht nur eines, sondern drei Probleme der sozialen Ordnung: das Problem der Koordination, soziale Dilemma-Situationen und Konflikte. Und da es sich jeweils um unterschiedliche Arten von Problemen handelt, sind auch die nötigen Lösungen anders. Kurz: Es gibt systematische Zusammenhänge zwischen der Art des Problems der sozialen Ordnung und dem Typ von Normen, der für das betreffende Problem angemessen ist. Koordination und konventionelle Normen Die geringsten Schwierigkeiten bereiten strategische Situationen vom Typ eines Problems der Koordination. Hierbei geht es darum, aus mehreren, gleich bewerteten Möglichkeiten von Strategiekombinationen jene eine zu finden, bei der sich eine ertragreiche Koordination des Handelns ergibt. Das Problem liegt im Auffinden eines eindeutigen und allseits bekannten Fokalpunktes, von dem die nötige Koorientierung der Akteure ausgehen kann. Als soziale Mechanismen dazu reichen gemeinsames Wissen, Konventionen, Symbole, Verständigung und Kommunikation aus (vgl. dazu auch noch Kapitel 8 in diesem Band). Jürgen Habermas glaubt, daß hierin – in der kommunikativen
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Verständigung – der Schlüssel zur Abstimmung des Handelns und der Integration der Gesellschaft liege (vgl. dazu auch bereits Abschnitt 6.7 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Beim sog. kommunikativen Handeln, dem von Habermas als übergreifend verstandenen Handlungstypus, geht es für ihn offenbar darum alleine: „Die Aktoren suchen eine Verständigung über die Handlungssituation, um ihre Handlungspläne und damit ihre Handlungen einvernehmlich zu koordinieren.“1
Wegen der Identität der Interessen bei Koordinationsproblemen ist jede einmal gefundene Lösung in der Tat selbststabilisierend: Niemand hat einen Anreiz, eine einmal gefundene Koordination wieder zu verlassen. Er würde sich nur schaden. Es sei hier auch an einen nicht unwichtigen Spezialfall der Koordination erinnert: die Interessenkonvergenz. Damit ist gemeint, daß es schon von den Anreizen her nur eine Strategiekombination für alle Akteure gibt, die für sie von Interesse ist. Da sie das wissen – und da sie wissen, daß alle das wissen – wird in diesem Fall nicht einmal eine konventionelle Norm oder eine ausdrückliche „Verständigung“ benötigt. Das „soziale“ Handeln ist in diesem Fall eine Art des individuellen Spiels gegen die Natur. Strategische Erwägungen müssen eigentlich nicht angestellt werden, weil alle Motive in die gleiche Richtung weisen. Es ist ein „isoliertes“ und rein „individuelles“ Handeln – etwa das der Petersilienfrau auf dem Markt, die mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit erwarten kann, daß es Kunden gibt, die mit ihr tauschen möchten. Die Art der Handlungskoordination wollen wir mit einem von Emile Durkheim etwas verächtlich gegen Herbert Spencer gemünzten Ausdruck als mutualistisch bezeichnen (vgl. dazu auch noch Abschnitt 5.1 in diesem Band).
„Echte“ Probleme der Koordination regeln sich nicht ohne weiteres und nicht nur über die Interessen. Es müssen irgendwelche Hinweise auf gemeinsame Orientierungen vorliegen. Wir wollen alle solche Regelungen, die eine Koordination – aber noch nicht mehr! – erlauben, als konventionelle Lösungen bezeichnen. Die entsprechenden Normen sind die konventionellen Normen, von denen in Abschnitt 3.1 oben schon die Rede war. Dilemma-Situationen und essentielle Normen Konventionelle Lösungen sind für soziale Dilemma-Situationen nicht ausreichend. Das liegt daran, daß hier das individuelle und das kollektive Interesse auseinanderfallen. Im wichtigsten Typ solcher Situationen – dem Gefangenendilemma – wird das Problem besonders gut deutlich: Jeder könnte von der 1
Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Band 1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, Frankfurt/M. 1981, S. 128 (Hervorhebung nicht im Original).
Ordnungsbedarf
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Kooperation gewinnen, aber die weniger ertragreiche wechselseitige Defektion ist – leider – das einzige Gleichgewicht. Das hat zwei Gründe – einen defensiven und einen offensiven. Der defensive Grund liegt in der Furcht vor der Ausbeutung der eigenen Kooperation durch den anderen Akteur, der offensive in der Versuchung, die Kooperation des anderen Akteurs selbst auszunutzen. Alle Lösungen dieses Problems der sozialen Ordnung laufen auf die Auflösung der Dominanz der Defektion hinaus. Wenn der defensive Grund wegfällt, entsteht ein Chicken Game, wenn der offensive Grund nicht mehr besteht, ein Assurance Game. Wenn beide Gründe wegfallen gibt es sogar eine Interessenkonvergenz. Chicken Game und Assurance Game haben jeweils zwei – unterschiedliche – Gleichgewichte. Das Assurance Game hat eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Koordinationsproblem. Hier wie dort kommt es „nur“ noch darauf an, einen verläßlichen Fokalpunkt für die Koordination der dann über die einseitige Ausbeutung hinaus ertragreicheren Kooperation zu finden. Dann helfen in der Tat auch schon wieder konventionelle Lösungen. Die Frage ist nur: Wie kommt es zu jener wundersamen – und wunderbaren – Transformation eines Defektionsgleichgewichtes in irgendeine freundlichere Lösung, etwa in ein Chicken- oder gar in ein Assurance Game?
Wenn es nicht andere Lösungen – wie diejenigen, die in Abschnitt 5.3 in diesem Band über die Evolution der Kooperation noch beschrieben werden – gibt, dann ist eine Lösung dieses Problems der sozialen Ordnung nur möglich, wenn die Anreizstrukturen so geändert werden, daß die defensive Furcht überwunden und – insbesondere – die offensive Versuchung ausgeschaltet werden kann. Hierfür sind verschiedene soziale Mechanismen geeignet. Die wichtigsten sind: die Verhängung von (negativen) Sanktionen bei Defektion; und die Internalisierung von „unbedingten“ moralischen Prämien bei Kooperation. Unter bestimmten sozialen Bedingungen entstehen die nötigen Sanktionen und moralischen Prämien spontan und aus der „Einsicht“ der Menschen. Das ist der Kern der Lösung des Problems, wie sie David Hume gesehen und vorgeschlagen hat (vgl. dazu noch Abschnitt 5.4 in diesem Band). Weil ohne diese – recht speziellen – sozialen Bedingungen eine Lösung des Problems nur gegen die „individuellen“ Interessen von rationalen Egoisten möglich ist, und weil es daher um „wirklich“ an die Substanz gehende Eingriffe geht, seien Lösungen, die einen Ausweg aus der sozialen DilemmaSituation vom Typ des einfachen Gefangenendilemmas – aber nicht mehr! – weisen, als essentielle Lösungen bezeichnet. Die betreffenden Normen sollen, wie schon in Abschnitt 3.2 oben gesehen, essentielle Normen heißen.
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Konflikte und repressive Normen Konflikte sind die schärfste Form des Auseinanderfallens der Interessen der Akteure. Das ist am deutlichsten beim Nullsummen-Konflikt: Der Gewinn des einen ist notwendigerweise der Verlust des anderen. Das Problem liegt in der Absicherung irgendeines Status quo gegenüber dem von allen als noch schlechter empfundenen Zustand des unendlichen anarchischen Wechsels der Verhältnisse. Aber: Jeder einmal gefundene Status quo benachteiligt unvermeidlicherweise die jeweiligen „Verlierer“. Deshalb gibt es hier grundsätzlich keine irgendwie – intern oder extern – stabilisierbare kooperative Lösung. Das ist genau jener Fall, den Thomas Hobbes mit dem Krieg aller gegen alle meinte (vgl. dazu noch Abschnitt 5.2 in diesem Band). Hier versagen alle essentiellen – und erst recht: alle konventionellen – Lösungen. Der einzige Ausweg ist die Etablierung einer Herrschaft, die den einmal gefundenen Status quo auch gegen die Interessen der unterlegenen Gruppe sichert. Weil das nicht ohne – mehr oder weniger: massive – Unterdrückung wenigstens einer Gruppe möglich ist, seien diese Lösungen als repressive Lösungen bezeichnet. Repressiv bleiben diese Lösungen grundsätzlich auch dann, wenn die Akteure irgendwelche Sonderprämien für die Hinnahme des Status quo erhalten: Heilsprämien im Rahmen einer religiös begründeten Legitimation oder wohlfahrtsstaatliche Ausgleichszahlungen – zum Beispiel. Die entsprechenden Normen seien im Anschluß an den Abschnitt 3.3 oben als repressive Normen bezeichnet. Eine Systematik Wir wollen die drei Probleme der sozialen Ordnung, die jeweiligen sozialen Mechanismen, den Typ ihrer jeweiligen Lösung bzw. den Typ des Normbedarfs in einem Diagramm zusammenfassen (vgl. Abbildung 4.1). Der Vollständigkeit halber haben wir den Spezialfall einer „individuellen“ strategischen Situation – die Interessenkonvergenz – mit aufgeführt. In die letzte Spalte haben wir – auch als Denksportaufgabe – jeweils einen jener Autoren der Soziologie geschrieben, der die Grundstrukturen des jeweiligen Problems und der jeweiligen Lösung besonders deutlich herausgearbeitet und als eigene Gesellschaftstheorie vertreten hat. Aus der Übersicht wird eine interessante Anordnung der Lösungen des jeweiligen Problems erkennbar: Die jeweils „schärferen“ Lösungen wären auch geeignet, das jeweils vorhergehende Problem in den Griff zu bekommen: Die Herrschaft des Leviathan von Thomas Hobbes kann die Dominanz der Defek-
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Ordnungsbedarf
tion brechen und den Fokalpunkt für eine Koordination festsetzen. Und Sanktionen und eine internalisierte Moral können auch koordinierende konventionelle Funktionen haben. Man sieht daran gleich: Nicht alle gesellschaftlichen Probleme verlangen einen gleich massiven Eingriff in die Entscheidungsfreiheit der Akteure. Man kann auch bei den Normen mit Kanonen auf Spatzen schießen. Wenn die Menschen in ihren Interessen übereinstimmen, dann braucht es keine Moral, mitunter selbst keine Symbole und erst recht keine Herrschaft. Im Gegenteil: Wer jetzt mit zu schwerem Geschütz auffährt, zerstört vielleicht gerade die Motive, die die Menschen ganz zwanglos dazu bringen, ihre Interessen gemeinsam und ohne größere Fremdbestimmung, in bloßer kommunikativer Koordination etwa, zu verfolgen. Die umgekehrte Beziehung gilt dagegen nicht: Symbole und Verständigung sind alleine zu schwach, um die Dominanz der Defektion zu brechen, geschweige denn: Konflikte zu lösen und den ewigen Kreislauf der Anarchie zu brechen. Und auch Sanktionen und die Moral helfen letztlich nicht, einen Konflikt so zu entschärfen, daß die Herrschaft dauerhaft unnötig würde.
Strategische Situation
Problem
sozialer Mechanismus
Typ der Lösung
Autor
Konvergenz der Interessen
Spiel gegen die Natur
individuelles Handeln
mutualistisch
Smith
Koordination
Finden von Fokalpunkt
Symbole/ Verständigung
konventionell
Habermas
Dilemma
Dominanz Defektion
Sanktion/ Moral
essentiell
Hume
Konflikt
Sicherung Sta- Herrschaft tus quo
repressiv
Hobbes
Abb. 4.1: Übersicht über die drei Probleme der sozialen Ordnung und über ihre jeweilige Lösung Wenn man das so sagen will: Jürgen Habermas ist naiver – oder optimistischer – als David Hume, und David Hume ist das wiederum in größerem Maße als Thomas Hobbes. Alle drei Autoren unterscheiden sich offenbar systematisch in ihrem Glauben an das Gute im Menschen: Jürgen Habermas setzt auf die letztlich auch alle Konflikte und Dilemmata überwindende Kraft der Sprache und des Motivs zur Verständigung. David Hume hält Sympathie, Altruismus und Moral auch schon von der Natur des Menschen her wenigstens für möglich, wenngleich nicht ohne besondere gesellschaftliche Hintergründe – wie eine bereits bestehende erfolgreiche Praxis konventioneller Regeln. Thomas Hobbes schließlich bleibt dagegen
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Soziales Handeln
stets Pessimist: Die Menschen sind nicht nur rationale Egoisten, sondern neiden einander auch grundsätzlich den Erfolg. Und so kann selbst ein einfaches Koordinationsproblem zu einem Gefangenendilemma oder gar zu einem Nullsummen-Konflikt werden, weil jeder nicht nur nach seinem individuellen Nutzen strebt, sondern auch danach, den anderen möglichst auszustechen und ganz alt aussehen zu lassen.
An der Systematik wird auch erkennbar, wie eine Entschärfung bestehender Probleme der Sicherung der sozialen Ordnung möglich wird: durch die schrittweise Überführung des einen Problems in dasjenige, das die nächst mildere Lösung verlangt. Und von da an kann man dann weitersehen. So entsteht unter Umständen auch Frieden aus Krieg. Also: Nullsummen-Konflikte könnten dauerhaft gelöst werden, wenn sie – zunächst – in eine Dilemma-Situation überführt werden: Die Beendigung des Konfliktes ist selbst wieder ein Problem der antagonistischen Kooperation Dazu muß es freilich für beide Seiten noch etwas zu gewinnen geben. Ist dieses Problem gelöst, wartet nur noch dieses: Wer zuerst nachgibt, zieht den Kürzeren. Aber hier helfen dann die essentiellen Lösungen für die DilemmaSituationen schon. Eine Dilemma-Situation kann dann schon eher in ein Koordinationsproblem überführt werden. Die Iteration des Spiels ist dafür der wichtigste Mechanismus (vgl. dazu noch Abschnitt 5.3 in diesem Band ausführlich). Sie führt unter Umständen in ein Assurance Game, das so weit ja von einem einfachen Koordinationsproblem nicht mehr entfernt ist. Aber auch schon die Einsicht, daß der gemeinsame Untergang schlimmer ist als die einseitige Ausbeutung, die Einsicht in die wechselseitige Abhängigkeit eines Chicken Games also, die sich sogar endogen aus dem Negativsummenaspekt der zerstörerischen Konflikte und der anhaltenden Defektion ergeben kann, mag schon helfen, die Dominanz der Defektion zu brechen. Und dann ist es nicht mehr sehr weit bis zur Einsicht in die Gemeinsamkeit der Interessen und in die – interessengestützte! – Dämmerung einer Ahnung, daß man sich jetzt nur noch „verständigen“ müßte.
Langandauernde Konflikte finden meist ihr Ende erst, wenn beide Seiten ausgelaugt sind und es nichts mehr – auf Kosten des anderen – zu gewinnen gibt. Leider kommt die Einsicht darüber oft erst dann zustande, wenn die Folgen der Defektion für alle ganz handgreiflich spürbar werden. Aber selbst dann geht es meist nicht ohne repressive Sicherungen, letztlich: nicht ohne militärische Gewalt, ab. Warum stehen die NATO wohl sonst immer noch, und wohl für immer, in Bosnien, um den Friedensschluß von Dayton zu schützen, und die KFOR-Truppen im Kosovo nach dem Abrücken der Serben? Normbedarf und Normentstehung Mit dem Bedarf an Normen sind die Normen noch keineswegs auch schon entstanden. Für die konventionellen Normen ist das ein eher geringes Problem, weil jeder ja ein Interesse an der Normierung hat und bei einer Abweichung davon sich nur schaden würde. Auch für die repressiven Normen ist das Problem soziologisch nicht sonderlich ergiebig: Es ist die Frage danach,
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wer den Kampf um die Herrschaft gewinnt und wie rasch es gelingt, die Herrschaft zu sichern. Interessanter sind die essentiellen Normen für die Regelung der DilemmaSituationen. Essentielle Normen sind sog. Kollektivgüter, deren segensreiche Kraft, wenn es sie einmal gibt, allen zugute kommt. Die Herstellung solcher Kollektivgüter ist immer aufwendig und riskant (vgl. dazu noch Kapitel 6 und 7 dieses Bandes ausführlich). Für die essentiellen Normen heißt das: Sie müssen propagiert und ihre Einhaltung muß überwacht werden. Außerdem gibt es hier eine große Versuchung: Wenn sich alle anderen an die essentiellen Normen halten, nur ich nicht, dann könnte ich mir einen großen Vorteil verschaffen. Das kann nur durch effiziente Sanktionen verhindert werden. Wer aber nimmt es auf sich, diese Sanktionen zu verhängen? Empörung ist teuer und der gehobene Zeigefinger oft peinlich. Kurz: Die Einrichtung und Einhaltung der essentiellen Normen, die eine Dilemma-Situation lösen sollen, ist selbst wieder ein Dilemma, genauer: wieder ein Gefangenendilemma. Es geht jetzt um die Sanktionierung der Abweichler. Und es stellt sich erneut die Frage: Wie kommen die Akteure spontan dazu, in der Sanktionierung der Abweichung zu kooperieren, wenn die beiderseitige Nicht-Sanktionierung wieder zum pareto-inferioren Gleichgewicht wird? Wir werden auf dieses Problem noch des öfteren wieder stoßen. Gleich im nun folgenden Kapitel zum Beispiel.
Kapitel 5
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Menschen haben bei ihrem Handeln letztlich immer die Wahl: Sie sind genetisch eben nicht fest programmiert, sondern können sich stets neu entscheiden, was sie gerade tun wollen. Gerade das aber schafft ihnen in sozialen Situationen ein großes Problem: Nie ist ganz gewiß, was der jeweils andere tun wird. Auch wenn ich noch so sehr davon überzeugt bin, daß der Opportunismus nicht der Grundzug des menschlichen Handelns ist: Sicher kann ich nie sein, daß mich der andere nicht doch ausbeutet. Und wer weiß? Wenn nur die Versuchung groß genug wird, dann bin ich vielleicht selbst nicht dagegen gefeit, die Gutmütigkeit des anderen auszunutzen und – beispielsweise – ein Versprechen zu brechen oder mit der Moral mein Geld zu verdienen. Ulrich Wickert läßt schön grüßen. Da aber alle davon ausgehen müssen, daß ihnen bei allen guten moralischen Vorsätzen der nie still zu stellende Opportunismus doch in die Quere kommt, unterbleiben auch solche Unternehmungen, die letztlich allen sehr genützt hätten. Das ist das Problem der sozialen Ordnung, das wir in Kapitel 3 und 4 dieses Bandes in seinen drei Dimensionen untersucht und systematisiert haben. Es entsteht aus der wohl wichtigsten Eigenart des menschlichen Handelns: dem gleichzeitigen Interesse an der Kooperation mit den anderen einerseits und dem Interesse an der Maximierung des individuellen Gewinns daraus andererseits. Kurz: Das Problem der sozialen Ordnung ist eine Folge des Problems der antagonistischen Kooperation. Welche Lösung aber gibt es für das Problem der sozialen Ordnung? Die Soziologie hat eine – wohl: allzu – einfache Lösung gefunden: An die Stelle der genetischen Programmierung muß eine sozial verankerte Versicherung treten, daß die Ausbeutung der Kooperationsbereitschaft ausgeschlossen ist. Die einfachste, aber auch die rabiateste Lösung wäre ein Staat, der dafür mit einem eigenen Sanktionsapparat sorgt. Etwas riskanter, aber immer noch wirksam, wären bestimmte Werte und Normen, eine bindende Verpflichtung, eine Moral, die den Akteuren als ganz selbstverständlich und „unbedingt“ gelten. Kurz: Das Problem der sozialen Ordnung wird über die Einrichtung von Institutionen als gelöst angesehen. Kaum denkbar wäre in dieser Perspektive
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Soziales Handeln
dagegen eine dritte Lösung des Problems: Die soziale Ordnung entsteht auch unter der Bedingung der antagonistischen Kooperation, weil die Akteure selbst ein Interesse daran entwickeln; ein Staat, Moral oder besondere Institutionen würden dagegen nicht benötigt. Diese dritte Lösung hätte gegenüber den beiden anderen einen bedeutsamen Vorteil: Die soziale Ordnung entsteht in dieser Sicht „self enforcing“ und endogen – ausschließlich also aus bestimmten Umständen der sozialen Situation und ohne jede Verniedlichung des Problems des egoistischen Opportunismus der Menschen. Staat, Moral und Institutionen dagegen werden exogen als deus ex machina eingeführt. Dabei entsteht sofort ein neues Erklärungsproblem: Ein Staat, die Moral und die Institutionen sind selbst Ergebnisse der Kooperation der Menschen, die es doch erst noch zu erklären gilt. Von daher wird die endogene Erklärung sozialer Ordnung zur eigentlichen theoretischen Aufgabe für die gestellte Frage. Um das Problem der sozialen Ordnung und die verschiedenen Lösungsvorschläge, insbesondere aber um die Vorschläge zur endogenen Lösung des Problems, geht es in diesem Kapitel. Wir beginnen mit einer Streitfrage, die den Beginn der Soziologie als Fach sehr geprägt hat: Ist die Arbeitsteilung – als eine besonders interessante und ertragreiche Form der sozialen Ordnung – alleine schon aus den Interessen der Menschen heraus möglich? Oder bedarf es dazu eines besonderen „gesellschaftlichen“ Rahmens, der die Menschen erst dazu bringen kann, sich ihre Aufgaben zu teilen und anschließend in Tauschbeziehungen einzutreten?
5.1
Arbeitsteilung: die Ordnung der Interessen
Adam Smith beginnt sein großes Werk über den Reichtum der Nationen mit einer wohl immer noch unumstrittenen Feststellung: „The greatest improvement in the productive powers of labour, and the greater part of the skill, dexterity, and judgment with which it is any where directed, or applied, seem to have been the effects of the division of labour.“1
Ohne Arbeitsteilung gäbe es die komplexen modernen Gesellschaften mit ihrem, verglichen zu früher jedenfalls, schier unglaublichen Wohlstand nicht. Das hat einen einfachen Grund: Die Menschen, ihre Talente und die Umstände, in denen sie leben, sind verschieden. Wenn sie sich auf die Produkte spezialisieren, wozu sie besonders talentiert sind und wozu die jeweilige Umge1
Adam Smith, An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, Oxford 1976a, S. 13.
Soziale Ordnung
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bung besonders geeignet ist, dann entsteht aus den komparativen Kostenvorteilen der Spezialisierung ohne Mehraufwand eine deutliche Mehrproduktion, die schließlich allen zugute kommt: Wenn Portugal mit seiner Sonne nur noch Wein, und wenn England mit seinen Weiden und Schafen und seinem Regen nur noch Wolle herstellen würde, und wenn beide Länder ihre Produkte tauschen, hätten sie gemeinsam deutlich mehr an Wein und Wolle als es bei autarker Produktion je möglich sein könnte. Ein Staat mit seinen Zöllen und Handelsbeschränkungen könnte hier nur hinderlich sein. Freihandel und Freizügigkeit und die Aufgabe der Autarkie nutzen letztlich allen. Adam Smith – und mit ihm die klassische liberalistische Wirtschaftstheorie – nahm an, daß die wechselseitige Einsicht in die Vorteile der Arbeitsteilung und des Tausches schon des Anreizes zur arbeitsteiligen Kooperation genug sei: Nicht auf das Wohlwollen und auf die Nächstenliebe können wir bauen, wenn wir Hilfe von anderen erwarten. Wir können ihnen aber zeigen, daß wir Dienste anbieten können, die wiederum für sie von Vorteil sind. Dann werden sie ihrerseits jene Angebote machen, die wir uns wünschen: „ ... man has almost constant occasion for the help of his brethren, and it is in vain for him to expect it from their benevolence only. He will be more likely to prevail if he can interest their self-love in his favour, and shew them that it is for their own advantage to do for him what he requires of them.“ (Ebd., S. 26)
Bei diesem Akt des wechselseitigen Anbietens von speziellen Diensten sieht Adam Smith keinerlei weitere Probleme, schon gar nicht, daß die Menschen egoistisch seien. Im Gegenteil: „Whoever offers to another a bargain of any kind, proposes to do this. Give me that which I want, and you shall have this which you want, is the meaning of every such offer; and it is in this manner that we obtain from one another the far greater part of those good offices which we stand in need of. It is not from the benevolence of the butcher, the brewer, or the baker, that we expect our dinner, but from their regard to their own interest.“ (Ebd., S. 26f.)
Der Egoismus und das Wissen um die Vorteile allein bringen also den Metzger, den Brauer und den Bäcker dazu, Steaks, Bier und Baguette möglichst gut und günstig herzustellen und anzubieten, auf daß sie sich und wir uns alle einen netten Abend mit reichlich Steak, Bier und Baguette machen können, der ansonsten recht karg und einseitig ausgefallen wäre. Die Arbeitsteilung entsteht spontan und ohne jede staatliche Planung, ohne Solidarität, Moral oder menschliches Wohlwollen, allein aus den Interessen und dem Wissen um die Vorteile ihrer Verfolgung.
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Industrielle Solidarität In der frühen Soziologie hat diese Idee Herbert Spencer vertreten. Es gibt laut Herbert Spencer – anders als in dem sog. „kriegerischen Gesellschaftstypus“ – in dem „industriellen Gesellschaftstypus“ einer arbeitsteiligen Gesellschaft keinerlei kollektives Bedürfnis nach einer alle Akteure umfassenden Gemeinsamkeit, sondern nur ein die Menschen als Individuen verbindendes Bewußtsein um die wechselseitigen Vorteile der Arbeitsteilung. Diese Form des Bewußtseins nannte Herbert Spencer industrielle Solidarität. Damit sie entsteht und besteht, bedarf es keinerlei besonderer Unterstützung – etwa durch einen Staat oder durch die „Gesellschaft“. Im Gegenteil: „Mit dem Fehlen des Bedürfnisses nach jener gemeinsamen Thätigkeit, durch welche die Anstrengungen der ganzen Gesellschaft zu kriegerischen Zwecken ausgenutzt werden können, verbindet sich natürlich auch das Fehlen des Bedürfnisses nach einer despotischen, die Oberaufsicht über das Ganze führenden Gewalt.“2
Die Beziehungen unter den Menschen sind für Herbert Spencer also nicht (mehr) durch eine übergreifende vertragliche oder gar despotische Koordination des Kollektivs insgesamt, sondern nur noch durch unzählige bilaterale Verträge zwischen den Individuen gekennzeichnet: „Eine solche Gewalt ist aber nicht blos überflüssig, sie ist auch unmöglich geworden. Denn wenn es, wie wir gesehen haben, zu den wesentlichen Erfordernissen des industriellen Typus gehört, dass der Individualität des Einzelnen uneingeschränkter Spielraum gelassen werde, ... , so wird dadurch die despotische Oberaufsicht, die sich nothwendig gerade darin fühlbar macht, dass sie die Individualität der Menschen auf mancherlei andere Weise einschränkt, natürlich ausgeschlossen.“ (Ebd.)
Die einzige Basis der industriellen Gesellschaft sei jenes so entstehende Riesensystem von unzähligen Privatverträgen. Die soziale Solidarität ist nicht mehr der Gruppenzusammenhang und irgendeine Art von Kollektivbewußtsein oder kollektiver Moral, sondern alleine noch die spontane Übereinstimmung der individuellen Interessen. Nur hierdurch werde gewährleistet, daß die Akteure nach ihren Leistungen entlohnt werden. Und das ist auch gut so: „Wenn jeder Einzelne als Erzeuger, Vertheiler, Verwalter, Berather, Lehrer oder Helfer irgendwelcher Art von seinen Genossen keine andere Belohnung für seine Dienste erhält, als dem Werthe derselben, welcher durch die Nachfrage bestimmt wird, entspricht, so ergibt sich daraus genau jene Vertheilung der Belohnung je nach dem Verdienst, welche das Gedeihen der Überlegenen sichert.“ (Ebd., S. 720)
2
Herbert Spencer, Die Principien der Sociologie, III. Band, Stuttgart 1889, S. 716.
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Und das Gedeihen der in ihren „industriellen“ Fähigkeiten Überlegenen wiederum nützt allen – auch den Unterlegenen. Gegenüber dem kriegerischen Gesellschaftstypus nehme somit der Zwang und die Regulierung des Handelns zugunsten der freien Entfaltung der Talente ab. Stattdessen wird „ ... das Vertragsverhältnis zur allgemeinen Regel, und im vollentwickelten industriellen Typus herrscht dasselbe ganz allgemein.“ (Ebd.)
Emile Durkheim, der wohl schärfste Kritiker dieses Konzeptes einer allein über die Interessen arbeitsteilig organisierbaren Gesellschaft, hat diesen Gedanken Spencers so zusammengefaßt: „Die Individuen ... würden von der Gruppe nur in dem Maße abhängen, in dem sie untereinander abhängen, und sie hängen in dem Maß voneinander ab, das von den privat und freiwillig zugestandenen Abmachungen gekennzeichnet ist. Die soziale Solidarität wäre also nichts anderes als die spontane Übereinstimmung der individuellen Interessen, eine Übereinstimmung, deren natürlicher Ausdruck die Verträge sind. Der Typ der sozialen Beziehungen wäre die wirtschaftliche Beziehung, frei von jeder Reglementierung, so wie sie aus der völlig freien Initiative der Parteien erwachsen ist. Die Gesellschaft wäre, mit einem Wort, nur die Zusammenfassung von Individuen, die die Produkte ihrer Arbeit austauschen, eine Zusammenführung, bei der keine wirkliche soziale Tätigkeit diesen Austausch regelt.“3
Warum aber soll es dennoch einer „wirklich sozialen Tätigkeit“ und einer eigenen Regelung des Austausches bedürfen? Ist es denn nicht exakt so wie Adam Smith und Herbert Spencer gemeint haben: Die Einsicht in die Vorteile des Tausches macht ihn schon möglich? Die Antwort lautet: Die Welt ist tatsächlich etwas komplizierter als sich das Adam Smith und Herbert Spencer gedacht haben. Wir ahnen es vielleicht schon: Spezialisierung macht auch verwundbar. Und wenn es dagegen keinen Schutz gibt, dann unterläßt man sie vorsichtshalber – zum eigenen Schaden und zum Schaden der Gesellschaft.4 Damit die Arbeitsteilung möglich wird, bedarf es also eines rechtlichen – und anderen – Rahmens, der über die Einzelverträge hinausweist. Emile Durkheim zeigt dann auch detailliert, daß wenigstens eine der Behauptungen von Herbert Spencer falsch ist: Mit der Zunahme der Arbeitsteiligkeit von Gesellschaften nehmen die rechtlichen Regulierungen nicht ab, sondern in deutlichem Ausmaß zu (Durkheim 1977, S. 246ff.). Wer wüßte das nicht aus seiner Alltagserfahrung heutzutage zu bestätigen, die ja kaum ein drängenderes Problem zu kennen scheint als das der sog. Deregulierung? 3 4
Emile Durkheim, Über die Teilung der sozialen Arbeit, Frankfurt/M. 1977, S. 243. Vgl. dazu auch Hans J. Hummell, Moralische Institutionen und die Ordnung des Handelns in der Gesellschaft. Die „utilitaristische“ Theorietradititon und die Durkheimsche Herausforderung, in: Hartmut Esser und Klaus G. Troitzsch (Hrsg.), Modellierung sozialer Prozesse, Bonn 1991, S. 81ff.
122
Soziales Handeln
Das Spezialisierungsdilemma Das Problem, von dem Emile Durkheim die allzu optimistische Sicht von Herbert Spencer kritisiert, läßt sich an einem vereinfachenden Beispiel leicht zeigen.5 Wir finden auf einer einsamen Insel zwei Akteure vor – Robinson und Freitag. Sie leben an verschiedenen Enden der Insel und können nicht beobachten, was der jeweils andere dort gerade macht. Robinson und Freitag seien – in einiger Abweichung von der Geschichte bei Daniel Defoe – nur an zwei Gütern interessiert: Steaks und Bier. Ihre individuellen Produktionsfunktionen für physisches Wohlbefinden seien so, daß sie stets mindestens eine Einheit von jeweils einem dieser beiden Güter benötigen. Beide haben unterschiedliche Talente: Bei Robinson ist die technische Produktionsfunktion für die Herstellung von Steaks besser als bei Freitag, während umgekehrt Freitag sich besser auf das Bierbrauen versteht. Nach Abzug aller Kosten ergeben sich für die beiden unter den gegebenen Begrenzungen die folgenden – technisch bedingten – Produktionsmöglichkeiten (vgl. Tabelle 5.1): Tabelle 5.1: Die Produktionstechnologien von Robinson und Freitag
Technologie Robinson Bier
5
Steak
Technologie Freitag Bier
Steak
**0
10
**10
0
1
8
8
1
*2
6
*6
2
3
4
4
3
4
2
2
4
5
0
0
5
Wir folgen in dem Beispiel der Darstellung von Hartmut Kliemt, Das Ricardosche Vergesellschaftungsgesetz und das Spezialisierungsdilemma, in: Wirtschaftswissenschaftliches Studium, 22, 1993, S. 335ff. Vgl. auch Hartmut Kliemt, Antagonistische Kooperation. Elementare spieltheoretische Modelle spontaner Ordnungsentstehung, Freiburg und München 1986, S. 21ff.; Hartmut Kliemt, The Costs of Organizing Social Cooperation, in: Michael Hechter, Karl-Dieter Opp und Reinhard Wippler (Hrsg.), Social Institutions. Their Emergence, Maintenance and Effects, Berlin und New York 1990, S. 62ff.
Soziale Ordnung
123
Es gibt also jeweils sechs Produktionsalternativen. Bei autarker Produktion in Einsamkeit und Freiheit (vgl. die mit * gekennzeichneten Kombinationen) würden – so sei angenommen – Robinson die Kombination (2 Bier, 6 Steaks) und Freitag die Kombination (6 Bier, 2 Steaks) herstellen. Insgesamt führt das zu einem Kollektivprodukt von 2+6=8 Bier und 6+2=8 Steaks. Leicht sieht man die Vorteile der Arbeitsteilung nach dem Prinzip der Spezialisierung gemäß den komparativen Kostenvorteilen: Wenn Robinson nur Steaks, und wenn Freitag nur Bier herstellen würden, dann ergäbe das ein Gesamtprodukt von 0+10=10 Bier und 10+0=10 Steaks (vgl. die mit ** gekennzeichneten Kombinationen). Gegenüber der Autarkie ergäbe sich – ohne jede weitere Kostensteigerung! – also ein Mehrprodukt von 2 Bier und 2 Steaks. Adam Smith und Herbert Spencer würden jetzt annehmen, daß Robinson und Freitag egoistische und – daher – vernünftige Menschen sind, die den beiderseitigen Vorteil sofort erkennen, sich verabreden, jeweils nur Bier oder Steaks herzustellen und später die Früchte der Arbeit – wohl nicht ohne das dazugehörige irrationale Festgelage – zu tauschen. Kurz: Robinson und Freitag schließen einen bilateralen Vertrag, in dem sie die Art der Produktion und die spätere Verteilung der Produkte verabreden. Dann kehren sie in ihre Gebiete auf der Insel zurück – und beginnen im Vertrauen auf die Wirksamkeit der Verabredung mit ihrem Werk. Aber: Tun sie das dann wirklich? Wäre die Verabredung tatsächlich eine verläßliche Grundlage für die Zusammenarbeit? Ist schon die Einsicht in die Vorteile der Spezialisierung alleine ein ausreichender Grund für das Gefühl der Angewiesenheit und einer „organischen“ Solidarität des Gefühls der wechselseitigen Abhängigkeit? Emile Durkheim hätte da Bedenken, größte Bedenken sogar. Hören wir, was er dem Vertragsoptimismus des Herbert Spencer entgegenhält: „Ist das (die Solidarität aus dem bloßen Interesse; HE) tatsächlich der Charakter der Gesellschaften, deren Einheit aus der Arbeitsteilung kommt? Wenn es so wäre, dann könnte man wirklich an ihrer Stabilität zweifeln. Denn wenn das Interesse die Individuen auch näher bringt, so doch nur für einige Augenblicke; es kann aber zwischen ihnen nur ein äußerliches Band knüpfen. Im Tausch selbst bleiben die verschiedenen Träger außerhalb einander und jeder bleibt derselbe und zur Gänze Herr über sich, wenn das Geschäft beendet ist. Ihr Bewußtsein berührt sich nur oberflächlich, durchdringt einander nicht, noch verbindet es sich. Wenn man tiefer schaut, dann sieht man, daß jede Interessenharmonie einen schlummernden und einfach vertagten Konflikt verdeckt. Wo aber das Interesse allein regiert, ist jedes Ich, da nichts die einander gegenüberstehenden Egoismen bremst, mit jedem anderen auf Kriegsfuß, und kein Waffenstillstand kann diese ewige Feindschaft auf längere Zeit unterbrechen. Das Interesse ist in der Tat das am wenigsten Beständige auf der Welt. Heute nützt es mir, mich mit Ihnen zu verbinden; morgen macht mich derselbe Grund zu Ihrem Feind. Eine derartige Ursache kann nur zu vorübergehenden Annäherungen und zu flüchtigen Verbindungen führen.“ (Durkheim 1977, S. 243f.)
124
Soziales Handeln
Emile Durkheim wußte noch nichts von dem Gefangenendilemma, aber er hat das Problem des pareto-inferioren Gleichgewichts in dominanten Strategien deutlich geahnt. Denn wie sieht die soziale Situation aus, in der sich Robinson und Freitag nach ihrer Verabredung befinden? Gehen wir der Reihe nach vor. Beide haben – zurückgekehrt in ihr eigenes kleines Reich auf der Insel – zwei Möglichkeiten: die Einhaltung der Verabredung auf Spezialisierung (C) und das Brechen des Versprechens (D), sich ganz auf das eine Produkt zu konzentrieren und nichts von dem jeweils anderen Produkt herzustellen. Infolgedessen gibt es vier Möglichkeiten. 1. Beide halten sich an ihre Verabredung, spezialisieren sich vollständig und tauschen die so erzeugten Produkte (CC). Heraus kommen dadurch 10 Bier und 10 Steaks. Jeder erhält verabredungsgemäß die Hälfte: 5 Bier und 5 Steaks für Robinson und Freitag – gegenüber 2 Bier und 6 Steaks bei Robinson und 6 Bier und 2 Steaks bei Freitag ohne die Arbeitsteilung wie bisher. 2. Robinson kann sich aber auch das Folgende überlegen: Freitag könnte kooperieren und sich vollständig spezialisieren und ausschließlich Bier produzieren. Dann aber ist es besser, daß ich mich als Robinson nicht spezialisiere (DC). Denn ich weiß ja, daß Freitag mindestens ein Steak zum Leben braucht. Wenn ich aber das für mich lebenswichtige Bier selbst herstelle, dann kann ich dem wehrlosen Freitag am Tage des Tausches einen hohen Preis für das eine Steak abverlangen, das er so nötig braucht. Denn er hat ja kein Mittel in der Hand, um mich seinerseits zur Fairness zu zwingen. Und die Folge: Es lohnt sich, mich nicht ganz zu spezialisieren. Beispielsweise könnte ich statt 10 nur wie bisher 6 Steaks herstellen, dafür aber 2 Bier. Nun treffe ich auf Freitag, der verabredungsgemäß 10 Bier und kein Steak produziert hat. Für ein Steak könnte ich dem Freitag bis zu 9 Bier abverlangen: Er würde den Preis zahlen, weil er das eine Steak zu seinem Überleben braucht. Ein Bier muß ich ihm natürlich noch lassen, damit er am Leben bleibt; denn vernichten will ich ihn ja nicht. Die Verteilung sähe anschließend so aus: Robinson 11 Bier und 5 Steaks, Freitag 1 Bier und 1 Steak – gegenüber der Verabredung mit dem Ergebnis 5 Bier und 5 Steaks für jeden bei kompletter Arbeitsteilung. 3. Sicher gehen Robinson auch die folgenden Gedanken durch den Kopf: Freitag könnte seinerseits der Versuchung erliegen, sich nicht an die Verabredung der vollen Spezialisierung zu halten. Wenn er – Freitag – etwa wie bisher nur 6 Bier und 2 Steaks herstellt, dann stelle ich – Robinson – mich selbst auch besser, wenn ich mich nicht vollständig spezialisiere (CD). Denn täte ich das, dann stünde ich – Robinson – mit null Bier da und müßte für das eine wichtige Bier 9 der 10 schönen Steaks herausrücken. Und dann hätte ich eine Verteilung von 1 Bier und 1 Steak zu erwarten, während Freitag mit 5 Bier und 11 Steaks bestens davon käme. 4. Also wird wahrscheinlich jeder sich ein wenig vor der Überspezialisierung schützen – und im allergrößten Vorsichtsfall beim Status quo der Autarkie bleiben (DD). Wir wollen annehmen, daß beide sich ein wenig spezialisieren, aber auch versuchen werden, den anderen im Vertrauen auf dessen Vertrauensseligkeit auszubeuten – so wie das im Beispiel geschildert wurde. Und das heißt: Robinson produziert 2 Bier und 6 Steaks und Freitag 6 Bier und 2 Steaks, zusammen also 8 Bier und 8 Steaks. Teilen müssen sie jetzt nicht mehr. Alles bleibt wie zuvor. Die Vorsicht voreinander kostet sie aber jeweils ein Bier und ein Steak.
125
Soziale Ordnung
Wir wollen die Auszahlungen in Steaks und Bier jeweils getrennt aufführen. Dann erhält man die folgenden beiden Matrizen der strategischen Struktur der arbeitsteiligen Spezialisierung (Abbildung 5.1).
Freitag Bier
Steaks
C
D
C
5,5
1,11
D
11,1
2,6
C
D
C
5,5
1,5
D
5,1
6,2
Robinson
Abb. 5.1: Die strategische Struktur des Spezialisierungsdilemmas
Leicht wird der Typ der strategischen Situation erkennbar: Die arbeitsteilige Spezialisierung ist – wieder einmal – ein Gefangenendilemma. Die Bedingung DC>CC>DD>CD bzw. CD>CC>DD>DC ist erfüllt. D ist eine dominante Strategie für beide Seiten. Es gibt ein pareto-inferiores Gleichgewicht: Die an sich für alle nützliche Spezialisierung unterbleibt. Daß sie unterbleibt, hat einen defensiven und einen offensiven Grund: Die einseitige Kooperation kann ausgebeutet werden. Und niemand will das Opfer sein oder auf den sich bietenden Ausbeutungsvorteil verzichten. Genau das aber ist der Kern dessen, was Emile Durkheim dem etwas blauäugigen Optimismus von Herbert Spencer entgegenhält: Die Einsicht in die kollektiven Vorteile alleine bringt rational-egoistische Akteure nicht dazu, sich auf das Wagnis der arbeitsteiligen Spezialisierung einzulassen. Und bilaterale Verträge helfen hier – wie Emile Durkheim nicht nur geahnt hat – in keiner Weise weiter. Die Unwirksamkeit des Versprechens Robinson und Freitag gingen also mit einem Versprechen auseinander, das sie nicht halten konnten. Verträge zwischen individuellen Akteuren sind – ohne staatlichen Erzwingungsstab, ohne eine verpflichtende Moral oder eine si-
126
Soziales Handeln
chernde Institution im Hintergrund – immer eine Art von Versprechen, dessen Einhaltung nicht erzwungen werden kann. Versprechungen beziehen sich darauf, daß die Akteure in Vorleistungen im Vertrauen darauf eintreten, daß der andere Akteur die Zusage einhält, die Vorleistung auch wirklich zu erwidern. Das Problem wird gleich offenbar: Verträge und Versprechungen sind unter rationalen Egoisten nichts wert, wenn ihre Einhaltung nicht erzwungen werden kann. Sie lösen das Problem der sozialen Ordnung unter den Bedingungen eines Gefangenendilemmas grundsätzlich nicht. Betrachten wir dazu noch einmal die Situation von Robinson und Freitag: Freitag gibt dem Robinson das Versprechen, sich zu spezialisieren, wenn er es auch tut. Um das Problem zu verdeutlichen, sei es als eine Handlungssequenz dargestellt, bei der Robinson in Vorleistung tritt und Freitag nach dem „Zug“ von Robinson seinerseits entscheidet. Damit können wir das Sequenzmodell für die beiden Bauern aus dem Erntehilfebeispiel bei David Hume benutzen (vgl. Abbildung 2.1 in Kapitel 2 in diesem Band). Natürlich ändern sich jetzt die Auszahlungen: Für CC gibt es 5,5 Einheiten an Steak bzw. Bier, für DD jeweils 2,6 Bier für Robinson und Freitag, bzw. 6,2 Steaks, bei DC jeweils 5,11 und bei CD jeweils 1,1. Durch das Versprechen ändert sich das Spiel für die beiden rationalen Egoisten aber etwas: Der Ast DC (aus Abbildung 2.1 für das Erntehilfebeispiel aus Kapitel 2 in diesem Band) fällt weg, weil Freitag ja nur kooperieren würde, wenn es Robinson schon getan hat. Das Versprechen auf Kooperation gilt ja nur für den Fall der Vorleistung. Wenn Robinson defektiert, wird Freitag das mit Sicherheit auch tun. Also kann man hier gleich zu DD gehen (vgl. Abbildung 5.2). Man spricht dann auch von der reduzierten Form eines Spieles, hier: des einfachen Austauschspiels. Wenn Robinson im Vertrauen auf das Versprechen des Freitag – kooperiert, hat Freitag zwei Möglichkeiten – während Robinson ohnmächtig zusehen muß, was jetzt geschieht. Die erste ist diejenige, die Robinson sich wünscht (CC mit der Auszahlung 5,5). Die zweite ist die, die er fürchtet: Freitag bricht das Versprechen und Robinson steht als Sucker da (CD mit der Auszahlung 1,1).
Das Ergebnis war zu erwarten: Das Spiel bleibt auch bei einem Versprechen ein Gefangenendilemma mit DD als paretoinferiores Gleichgewicht in dominanten Strategien. Weil Robinson weiß, daß Freitag ihn übers Ohr hauen wird, defektiert er schon aus Vorsicht gleich – obwohl er dadurch die Chance vertut, daß Freitag vielleicht doch sein Versprechen hält, und beide etwas davon haben. Es gäbe wohl einen Ausweg aus dem Dilemma: Wenn sich der Freitag im vornhinein und ganz unmißverständlich festlegen könnte, daß nur – und nur! – die Einhaltung des Versprechens für ihn in Frage kommt, und wenn deshalb der Robinson ganz sicher erwarten kann, daß die Kombination CC auch wirklich erreicht wird, wenn er seine Vorleistung erbringt, dann könnte er auch beruhigt in diese Vorleistung treten. Wie aber soll eine solche Festlegung – ohne Werte, ohne Moral, ohne Ehrgefühl, ohne Menschenliebe, ohne Normen, ohne Staat, ohne ein bißchen Irrationalität – möglich sein?
127
Soziale Ordnung
Robinson
* C
Freitag
D
*
D
D
Kombination/ CC Ergebnis
CD
DD
Bier Steaks
1,11 1,5
2,6 6,2
C
5,5 5,5
Abb. 5.2: Arbeitsteilung als Spezialisierungsdilemma zwischen Robinson und Freitag
5.2
Der Krieg aller gegen alle
Es gibt nicht nur „ein“ Problem der sozialen Ordnung, wie wir in Kapitel 3 und 4 in diesem Band gesehen haben. Soziale Dilemma-Situationen – wie es die Arbeitsteilung offenbar eine ist – sind soziologisch jedoch wohl die interessantesten Varianten davon, weil eine kollektiv rationale, für alle Akteure interessante Lösung möglich ist, aber durch den individuellen rationalen Egoismus verhindert wird. Kurz: Weil hier die kollektive und die individuelle Rationalität, die System- und die Handlungsrationalität, die „Gesellschaft“ und das „Individuum“ auseinanderfallen. Das Problem läßt sich als Frage auch so formulieren: Ist die Entstehung sozialer Ordnung unter rationalen Egoisten auch ohne Zwang und ohne irgendwelche Zusatzmotive – wie Altruismus oder eine verinnerlichte Moral – möglich? Lassen sich dabei individuelle und kollektive Interessen verbinden? Ist so eine Versöhnung von Gesellschaft und Individuum denkbar?
128
Soziales Handeln
Eine eindeutige negative Antwort auf diese Frage stammt von dem englischen Staatsmann und Philosophen Thomas Hobbes (1588-1679). Er entwickelt seine Überlegungen anhand von zwei Fragen in seinem epochalen Werk über den „Leviathan“:6 Wie ist die Ordnung des Handelns einerseits und – auf dieser Grundlage – die Ordnung der Gesellschaft andererseits möglich? Den Hintergrund bilden einige allgemeine Betrachtungen zum Verhältnis der „Leidenschaften“ zum „Verhalten der Menschen“ und zu den „natürlichen Bedingungen des Menschseins“. Thomas Hobbes gibt zu den beiden Problemen, der Ordnung des Handelns und der sozialen Ordnung, eine unmißverständliche Antwort: Auf der Grundlage des Utilitarismus – die Annahme des rationalen Egoismus der Menschen also – sind beide Probleme grundsätzlich nicht lösbar. Die Ordnung des Handelns Für die Frage nach dem Problem der Ordnung des Handelns lautet das Argument – kurzgefaßt – so, daß die Menschen von einer Vielzahl von Begehrungen, Leidenschaften und Neigungen erfüllt sind, daß es aber keine Regel und keine Grundlage gebe, die diesen vielen Begehrungen, Leidenschaften und Neigungen irgendeine Dauerhaftigkeit verleihen könne. Thomas Hobbes dazu: „Die Verfassung des menschlichen Körpers unterliegt einem ständigen Wechsel. Die gleichen Dinge können unmöglich zu jeder Zeit die gleichen Neigungen und Abneigungen in ihm verursachen, und noch viel weniger können alle Menschen das gleiche Verlangen nach demselben Gegenstand haben.“ (Hobbes 1965, S. 39)
Und das liegt daran, daß das Begehren der Menschen nicht von unverrückbaren Eigenschaften der Gegenstände selbst ausgeht, sondern bereits eine „Entscheidung“ der einzelnen Akteure ist: „Einen jeden Gegenstand seiner Neigung und Begierde wird man für sich selbst gut nennen, den des Hasses und der Abneigung dagegen schlecht. ... . Die Bezeichnungen gut, schlecht und verachtenswert sind immmer nur von dem abhängig, der sie gebraucht. Es gibt nichts, was in sich und absolut gut, schlecht oder verachtenswert wäre, und es gibt auch keine Regel für Gut und Böse, die auf die Natur der Gegenstände selbst gegründet wäre. Maßgeblich ist allein ... der einzelne Mensch ... .“ (Ebd., S. 39f.; Hervorhebungen so nicht im Original)
Kurz: Die Wünsche variieren – sofern sie nicht von einer externen Instanz wie einem Staat oder einem Schiedsrichter eingegrenzt werden – ohne eine über6
Thomas Hobbes, Leviathan oder Wesen, Form und Gewalt des kirchlichen und bürgerlichen Staates, Reinbek 1965 (zuerst: 1651), S. 37ff., S. 76ff., S. 96ff.
Soziale Ordnung
129
greifende Regulierung zufällig. Und es gibt daher dann auch keinerlei Eingrenzung schon in den Zielen bzw. den Präferenzen, die dem Handeln eine Struktur verleihen könnten. Soziale Ordnung Die unter der Prämisse des rationalen Egoismus somit grundsätzlich ausgeschlossene Ordnung des Handelns der einzelnen Akteure führt unmittelbar zu dem zweiten Problem: der Frage nach der Erklärung der sozialen Ordnung. Das Problem hat für Thomas Hobbes seinen Ursprung in der eben behandelten Schwierigkeit: Die Wünsche, Leidenschaften, Neigungen und Ziele der Menschen sind von Natur aus nicht begrenzt und variieren daher „at random“. Die Menschen haben eigentlich nur einen einzigen Antrieb: den Hunger nach Macht. Dieser unstillbare Hunger der Menschen nach Macht ist zwar kein dem Menschen eigenes Bedürfnis, sondern wird durch die besondere Konstellation, in der sie sich wechselseitig befinden, erzeugt. Aber das ändert nichts daran, daß sie sich diesem Streben fügen müssen, wollen sie nicht selbst untergehen. Die Gleichheit der Menschen ist dabei der zentrale strukturelle Faktor für das Entstehen dieser Konstellation. Davon geht Hobbes in der Tat aus: „Die Menschen sind von Natur aus gleich, sowohl in ihren körperlichen als auch in den geistigen Anlagen.“ (Ebd., S. 96).
Sie haben daher auch „die gleichen Hoffnungen, ein Ziel zu erreichen“ (Ebd., S. 97). Und die Folge: „So werden zwei Menschen zu Feinden, wenn beide zu erlangen versuchen, was nur einem von ihnen zukommen kann. Um ihr Ziel zu erreichen (welches fast immer ihrer Selbsterhaltung dient, nur selten allein der größeren Befriedigung ihrer Bedürfnisse), trachten sie danach, den anderen zu vernichten oder ihn sich untertan zu machen.“ (Ebd.)
Aus der Gleichheit der Fähigkeiten entsteht somit unvermeidlich ein Wettlauf um die Aneignung der Macht, der allein dadurch motiviert ist, den anderen zuvorzukommen. An dem Wettlauf müssen sich auch diejenigen beteiligen, die eigentlich daran kein Interesse haben: „Das verlangt nur seine Selbsterhaltung und wird deshalb allgemein gebilligt. Schon weil es einige geben mag, die bestrebt sind, aus Machtgier und Eitelkeit mehr an sich zu reißen, als zu ihrer Sicherheit notwendig wäre. Die aber, die glücklich wären, sich in schmalen Grenzen zu begnügen, würden schnell untergehen ...“ (Ebd., S. 98; Hervorhebung nicht im Original)
Kurz: Die Macht ist bei Gleichheit der Menschen ein Gut, das nichts wert ist, wenn ich es nicht als erster erlange: Wer zu spät kommt, den bestraft das Le-
130
Soziales Handeln
ben. Und folglich rennt jeder mit jedem um die Wette, um beim Kampf um die Macht nicht zu unterliegen. Der Mensch ist deshalb dem Menschen ein Wolf, und deshalb herrscht der Krieg aller gegen alle: homo hominis lupus und bellum omnium contra omnes. Dieser Zustand bleibt solange, wie keine oberste Gewalt „ ... in der Lage ist, die Ordnung zu bewahren.“ (Ebd., S. 99) Die Beziehungen der Menschen untereinander können unter diesen Umständen nur in zwei Varianten bestehen: Andere durch Gewalt zum Mittel der eigenen Machterweiterung zu nutzen, oder sie durch Betrug und Irreführung von den eigenen Zielen abhalten. Da jeder so denkt – bzw. denken muß – sind Gewalt und Betrug – „force and fraud“ – die einzigen Formen des Zusammenlebens in diesem gesellschaftlichen Zustand: „Wenn ein jeder gegen jeden Krieg führt, so kann auch nichts als unerlaubt gelten. Für die Begriffe Recht und Unrecht, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit bleibt kein Raum. Wo es keine Herrschaft gibt, gibt es auch kein Gesetz. Wo es kein Gesetz gibt, kann es auch kein Unrecht geben. List und Gewalt sind die einzigen Tugenden.“ (Ebd., S. 101)
Und das Ergebnis: „In einem solchen Zustand gibt es keinen Fleiß, denn seine Früchte werden ungewiß sein, keine Bebauung des Bodens, keine Schiffahrt, keinerlei Einfuhr von überseeischen Gütern, kein behagliches Heim, keine Fahrzeuge zur Beförderung von schweren Lasten, keine geographischen Kenntnisse, keine Zeitrechnung, keine Künste, keine Literatur, keine Gesellschaft. Statt dessen: Ständige Furcht und die drohende Gefahr eines gewaltsamen Todes. Das Leben der Menschen: einsam, arm, kümmerlich, roh und kurz.“ (Ebd., S. 99; Hervorhebung nicht im Original)
Die Pointe an der Hobbesschen Darstellung der „Natürlichen Bedingungen des Menschseins“ ist vor allem der Widerspruch zwischen den Intentionen der Menschen und dem dadurch erzeugten kollektiven Ergebnis: Sie wollen sich als individuelle Akteure nur gegen die Gefahr schützen, daß andere ihnen schaden. Sie geraten aber gerade dadurch in eine kollektive Situation, die allen sehr viel Schaden zufügt. Die individuelle und die kollektive Rationalität fallen bei einer ausschließlich utilitaristischen Orientierung der Menschen auseinander. Der Naturzustand als Gefangenendilemma Das von Thomas Hobbes beschriebene Problem entspricht – wie leicht zu sehen ist – in seiner Struktur wiederum einem Gefangenendilemma.7 Die „Gesellschaft“ bestehe – der Einfachheit halber – aus zwei Akteuren. Jeder der 7
Vgl. dazu Michael Taylor, The Possibility of Cooperation, Cambridge u.a. 1987, S. 129ff.
Soziale Ordnung
131
beiden Akteure hat zwei Optionen: Streben nach Macht (D) oder Verzicht darauf (C). Frieden herrscht, wenn beide Akteure auf das Machtstreben verzichten (CC), Krieg ist, wenn sie das beide nicht tun (DD). Bei Krieg ist das Leben grausam, kurz und kümmerlich, bei Frieden blüht dagegen der gesellschaftliche Wohlstand. Eigentlich sollte jetzt Frieden herrschen, weil alle das letztlich wünschen. Aber im „state of nature“ hat jeder das „right of nature“, die ihm zur Verfügung stehende Macht zu nutzen. Jeder kann sich davon auch einen zusätzlichen individuellen Vorteil versprechen. Mindestens aber muß er befürchten, daß andere so denken und auch so handeln. Also muß er sich vor dem Machtstreben der anderen schützen, auch wenn er selbst darauf zu verzichten bereit wäre. Und somit: „Als eine Vorschrift oder allgemeine Regel der Vernunft hat daher zu gelten: Jeder Mensch suche Frieden, solange er hoffen kann, dieses Ziel zu erreichen, und nehme allen Nutzen und Vorteil eines Krieges wahr, wenn er zu keinem Frieden gelangen kann.“ (Ebd., 103)
Thomas Hobbes sagt damit nichts anderes, als daß es für jeden vernünftig – und damit: zwingend – ist, D zu wählen, wenn er nur befürchten muß, daß das andere auch tun. Und das ist nie auszuschließen. Kein Vertrag und keine Versprechung helfen dabei. Wer sich an einen Vertrag oder an ein Versprechen der Zurückhaltung in seinem Opportunismus hält, kann nie sicher sein, daß das auch die anderen tun, wenn sie dazu nicht gezwungen werden: „Ohne eine solche Macht jedoch kann niemand, der einen Vertrag zuerst erfüllt, irgendwelche Sicherheit haben, daß auch der andere seine Leistung erbringen werde. Die Kraft der Worte ist zu gering, als daß sie Machthunger, Geiz, Zorn und andere Leidenschaften der Menschen zu zügeln vermöchte.“ (Ebd., S. 108)
Sich diesem Risiko auszuliefern aber wäre ganz gegen das von Natur aus bestehende Recht zur Selbsterhaltung: „Wer dann einen Vertrag als erster erfüllt, begibt sich nur in die Hände seiner Feinde und handelt wider jenes (unveräußerliche) Naturrecht, welches ihm gebietet, sein eigenes Leben und die ihm dazu erforderlichen Mittel zu verteidigen.“ (Ebd.)
Und: „Wenn aber die anderen Menschen nicht gleichfalls auf ihre Rechte verzichten, ist es für niemanden sinnvoll, dem seinen zu entsagen. Man würde sich eher den anderen als Beute ausliefern (und dazu ist niemand gezwungen), als daß man dem Frieden diente.“ (Ebd., S 103)
Das aber kann schon von den unveräußerlichen natürlichen Rechten her niemand verlangen. Kurz: Aus der Strategiekombination DC kann jeder Akteur sich einen zusätzlichen Vorteil gegenüber CC erhoffen. Damit muß jeder rechnen und folglich aus der Kombination CD gegenüber DD einen großen
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Soziales Handeln
Nachteil befürchten. Den hinzunehmen wäre gegen die „Natur“ des Menschen. Damit wird D für alle zur dominanten Strategie. Und die Akteure landen mit DD zwangsläufig beim Krieg aller gegen alle als dem einzigen, deutlich pareto-inferioren Gleichgewicht. Die (schwierige) Einrichtung des Leviathan Als Ausweg aus dieser mißlichen Lage sieht Thomas Hobbes nur eine Möglichkeit. Sie ist im Zitat oben schon angedeutet: eine souveräne Gewalt, an die die Akteure ihre natürlichen Rechte abtreten, um so in den Genuß des Friedens zu kommen: „In einem Staat jedoch, in dem es eine Macht gibt, diejenigen zu zügeln, die sonst das Vertrauen der anderen mißbrauchen würden, ist eine solche Furcht völlig unbegründet. Wer durch das Abkommen verpflichtet ist, seine Leistung zuerst zu erbringen, muß dieser Pflicht deshalb nachkommen.“ (Ebd., S. 108f.; Hervorhebung nicht im Original)
Kurz: Der Staat schafft die nötige „Versicherung“ gegen die Ausbeutung der Gutmütigkeit, gegen die Furcht davor ebenso, wie gegen die Versuchung dazu. Wie diese zentrale Gewalt entstehen soll, hat sich Thomas Hobbes so vorgestellt, daß die Menschen gerade wegen ihres Grundinteresses an der Selbsterhaltung bald nur noch einen Wunsch haben: den „ ... Wunsch, jenem elenden Zustand des Krieges aller gegen alle zu entrinnen.“ (Ebd., S. 133)
Da sie selbst sehen, daß dieser Wunsch nur durch die Einrichtung einer souveränen Gewalt verläßlich erfüllt werden kann, bilden sie schließlich eine „Versammlung“ und schließen einen Vertrag. Darin tritt ein jeder sein Recht, über sich selbst zu bestimmen, einem bestimmten „anderen Menschen oder dieser Versammlung“ ab, unter der alleinigen Bedingung, daß dies auch die anderen tun (ebd., S. 137). Kurz: Die Menschen gründen einen Staat: „Wenn sich Menschen so zu einer Person vereinigen, bilden sie einen STAAT, der Lateiner sagt CIVITAS. Dies ist die Geburt des großen LEVIATHAN, oder vielmehr (um ehrerbietiger zu sprechen) des sterblichen Gottes, dem allein wir unter dem ewigen Gott Schutz und Frieden verdanken.“ (Ebd., S. 137; Hervorhebung im Original)
Das sieht auf den ersten Blick ganz überzeugend aus, ist es aber nicht. Das erste Problem ist jene wundersame Einsicht, daß plötzlich der Krieg aller gegen alle schlimmer sein soll als der einseitige Untergang. Denn nur dann kann ja der Wunsch nach Frieden beherrschend werden. Also: Warum wandelt sich
Soziale Ordnung
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das Gefangenendilemma plötzlich in ein Chicken Game? Thomas Hobbes verrät es uns nicht. Das zweite Problem ist gravierender. Angenommen es wäre tatsächlich so wie es Thomas Hobbes beschreibt, daß sich die Menschen des Streites müde zusammentun und einen Vertrag über die Einrichtung eines Souveräns schließen wollen. Woher käme dann aber die Garantie, daß sich an diesen Vetrag wirklich jeder hält, wo das ja gerade vorher das Problem gewesen ist? Es gibt also bei der Bildung der Institution des Staates, die das Problem der sozialen Ordnung lösen soll, ein neues Problem der sozialen Ordnung: Jeder, der sich insgeheim vornimmt, nicht selbst auch seine Rechte abzutreten, hätte alle Möglichkeiten, die anderen auszunutzen, die dies gutmütig getan haben. Und da ein jeder so denkt, kommt es zu dem Vertrag über die Staatsgründung eben nicht. Kurz: Die Staatsgründung selbst unterliegt dem Problem, für das sie die Lösung sein soll. Utilitarian Dilemma? Die Analyse des Problems der sozialen Ordnung unter rationalen Egoisten durch Thomas Hobbes ist zum Ausgangspunkt einer der wichtigsten Doktrinen der klassischen Soziologie geworden. Bis in die Formulierungen hinein folgt schon Emile Durkheim – wie wir oben gesehen haben – den Grundgedanken von Thomas Hobbes bei seiner Untersuchung des Problems der Arbeitsteilung. Talcott Parsons hat das von Thomas Hobbes aufgeworfene Problem zum Ausgangspunkt seiner Soziologie gemacht. Er nannte es das utilitarian dilemma (vgl. dazu noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“): Ohne die Bindung an normative Orientierungen sind weder ein geordnetes Handeln noch eine gesellschaftliche Ordnung auch nur denkbar. Die formale Analyse des Spezialisierungsdilemmas hat die Einwände von Thomas Hobbes, von Emile Durkheim und von Talcott Parsons gegen eine allzu einfache Erklärung der Entstehung spontaner Ordnung über Interessen und bilaterale Verträge auch theoretisch befriedigend untermauern können. Gleichwohl sind die Stimmen nie verstummt, die da sagen, daß es doch unter bestimmten Umständen zur Entstehung sozialer Ordnung auch schon allein über die Interessen der Menschen kommen könne. Diese Stimmen haben ein wichtiges methodologisches Argument auf ihrer Seite: Wenn es denn stimmt, daß die Entstehung des Staates und der Normen allgemein selbst wieder ein Problem der sozialen Ordnung ist – wie sollte denn dann die allenthalben zu beobachtende Ordnung überhaupt erklärt werden können, wenn es nicht doch
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Soziales Handeln
Bedingungen gibt, unter denen rationale Egoisten beginnen, Versprechen zu halten und auf die Ausbeutung des anderen zu verzichten? Kurz: Der exogene Leviathan bzw. die exogenen soziologischen Tatbestände der Moral und der normativen Orientierung müssen irgendwie doch schon einen endogenen Ursprung haben. Wie das gehen könnte, soll nun gezeigt werden.
5.3
Die Evolution der Kooperation
Wenn zwei Akteure unter den Bedingungen eines Gefangenendilemmas handeln, müssen sie zwingend Ergebnisse erwarten, die sie beide nicht wünschen. Versprechungen und Absprachen helfen nicht viel: Jeder muß befürchten, daß, solange es keine glaubwürdigen Bindungen und Festlegungen gibt, der andere seine Kooperationsbereitschaft ausbeutet. Und allein dieser defensive Wunsch führt schon dazu, daß sie nicht kooperieren, obwohl beide wissen, daß ihnen die gemeinsame Kooperation mehr bringen würde. Das ist alles sehr traurig – aber auch reichlich unrealistisch: Die Situation des PD wird ganz aus dem sozialen und vor allem: dem zeitlichen Zusammenhang isoliert, in den sie normalerweise eingebettet ist. Auch ein an sich unmoralischer Mensch, der ein Versprechen bricht, kann sich normalerweise nicht sehr über die einseitige Ausbeutung freuen. Die Folgen seines Tuns reichen ja üblicherweise über die eine Situation und über seinen Partner hinaus. Und dann kann es teuer werden, weil niemand in Zukunft mehr so dumm sein wird, sich mit ihm wieder einzulassen. Im Grunde weiß es doch jeder: Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus. Kurz: Es muß meist berücksichtigt werden, daß sich die Akteure auch in Zukunft wieder begegnen werden, und daß es andere Akteure geben kann, die davon erfahren. Das Brechen eines Versprechens hat dann zwar vielleicht einen kurzfristigen Vorteil in der einen Situation. Es schadet aber langfristig oft weit mehr als dadurch zu gewinnen ist. Und deshalb kann es durchaus auch im Interesse von rationalen Egoisten sein, sich moralisch zu verhalten und sich einen guten Ruf zu erwerben. Das ist die Grundidee der sog. wiederholten Spiele.8 Sie können – müssen aber nicht! – ein Ausweg aus 8
Vgl. dazu insbesondere Robert Axelrod, Die Evolution der Kooperation, München 1987, S. 915; Taylor 1987, Kapitel 3; Bernd Lahno, Versprechen. Überlegungen zu einer künstlichen Tugend, München und Wien 1995, Kapitel 6; weiterhin u.a.: Thomas Voss, Rationale Akteure und soziale Institutionen. Beitrag zu einer endogenen Theorie des sozialen Tauschs, München 1985, Abschnitt 4.2; Manfred J. Holler und Gerhard Illing, Einführung in die Spieltheorie, 2. Aufl., Berlin u.a., 1993, S. 21-24, sowie Abschnitt 4.2 dort; Eric Rasmusen, Games and Information. An Introduction to Game Theory, Oxford und New York 1989, S. 91ff.
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dem (Gefangenen-)Dilemma und dem von Thomas Hobbes, Emile Durkheim und Talcott Parsons beschriebenen Problem sein. Der Schatten der Zukunft Damit die Wiederholung des Spieles die rationalen Egoisten zur Besinnung bringen kann, muß sie sich auf die gegenwärtigen Überlegungen auswirken. Wenn ich weiß, daß ich den anderen nie wieder sehen werde, wenn ich weiß, daß ich auch niemanden treffen werde, der den anderen kennt, wenn es nie bekannt wird, was ich in der aktuellen Situation tue, oder wenn mir das, was künftig geschieht, nichts bedeutet, dann können auch die Folgen meiner jetzigen Defektion nichts ausrichten. Das Gewicht, das meine Erwartungen über die Zukunft auf mein jetziges Handeln legt, wird auch als der Schatten der Zukunft bezeichnet (Axelrod 1987, S. 11). Er wird in jenem Bruchteil ausgedrückt, den mir eine bestimmte Auszahlung im nächsten Zug noch wert ist. Beispielsweise: 0.5, wenn der Ertrag im nächsten Zug nur noch die Hälfte, 0.9, wenn er noch 9/10 wert wäre. Wir wollen diesen Bruchteil allgemein mit w abkürzen. Es ist ein „Abschlag“ des Gegenwartswertes auf den nächsten Zug. Deshalb wird w auch als Diskontparameter bezeichnet. Der Ausdruck (1-w) ist entsprechend die Diskontrate, mit der sich eine bestimmte Auszahlung auf den nächsten Zug auswirkt. Je höher der Diskontparameter, desto niedriger ist die Diskontrate, und desto stärker ist also der Schatten der Zukunft. Die Bedeutung des Diskontparameters kann man sich leicht klar machen. Ein bestimmtes Spiel – etwa das PD – werde nicht nur einmal, sondern in einer unendlich langen Folge zu den Zeitpunkten t0, t1, t2, ... , tn gespielt. Da der Diskontparameter w den Anteil ausdrücken soll, der beim nächsten Zug vom jetzigen Wert einer Auszahlung noch übrig bliebe, hat er einen Wert von 0>w>1. Wird w beispielsweise mit 0.5 angenommen, dann beträgt der Wert, etwa der Auszahlung S, zum Zeitpunkt t1 nur noch halb so viel wie im Ausgangsspiel zum Zeitpunkt t0, zu dem der volle Wert von S zum Tragen kam: w1S = wS = S·0.5. Zum Zeitpunkt t2 wird dieser Betrag erneut mit w gewichtet; also: w2S = w(wS) = w2S = (0.5·0.5)S = 0.25·S. Für den Zeitpunkt 3 gilt entsprechend w3S = w(w2S) = w3S = (0.5·0.5·0.5)S = 0.125·S. Und so weiter. Je ferner die Zukunft, um so weniger wiegt also eine Auszahlung bei den jetzigen Überlegungen. Und je stärker der Abschlag – etwa statt 0.5 beim nächsten Zug nur noch 0.1 des aktuellen Wertes – um so weniger zählt das kommende Geschehen für die Gegenwart: Nach drei Zügen würde bei w = 0.1 die Auszahlung S nur noch mit 0.001 ins Gewicht fallen. Wenn wir nun die Auszahlung S mit dem Wert 1 annehmen, dann ergibt das die unendliche Folge 1 + w + w2 + w3 + ... + wn . Der Grenzwert dieser Folge ist – wenn man der Schulmathematik und dem Beweis über die sog. vollständige Induktion glauben darf – gleich 1/(1-w). Das ergibt in unserem Fall eine Gesamtauszahlung über eine unendliche Folge von Spielen für den Betrag S=1 in Höhe von S·1/(1-w) = 1/(1-0.5) = 2. Natürlich können die Auszahlungen auch andere Werte annehmen: Wenn es etwa um den Betrag von R=3 mit einem Diskontparameter von 0.5 ginge, dann ergäbe dies eine Gesamtauszahlung von R·1/(1-
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w) = 3/(1-0.5) = 3/0.5 = 6. Bei einem schwächeren Schatten der Zukunft von 0.1 wäre das Ergebnis 3/(1-0.1) = 3/0.9 = 3.33. Und so weiter, nach Belieben.
Leicht läßt sich auf diese Weise berechnen, wie groß für zwei Spieler die Gesamtauszahlung für alle möglichen Strategiekombinationen und alle möglichen Auszahlungskombinationen bei einem gegebenen Schatten der Zukunft wäre. Wenn beispielsweise ein Spieler A – warum auch immer – grundsätzlich immer defektiert und der Spieler B im ersten Spiel kooperiert, dann ergibt das für A im ersten Spiel die Auszahlung T=4 und für B eine Auszahlung von S=1. Wenn anschließend B es noch einmal im Guten versucht und kooperiert, erhält A natürlich wieder T=4 und B erneut S=1, diesmal allerdings diskontiert um w. Anschließend würde auch B nicht mehr mitspielen, und beide erhalten somit für den Rest ihrer Zeit stets P=2, jeweils gewichtet mit dem Schatten einer immer ferner werdenden Zukunft. Wenn wir hierfür dann den Diskontparameter mit 0.5 annehmen, dann ergeben sich daraus die folgenden Reihen an Auszahlungen und zu erwartenden Endsummen für die Spieler A und B: für A:
T + wT + w2P + w3P + ... wnP = T + wT + Pw2/(1-w)9 = 4 + 0.5·4 + 2·0.25/0.5 =4+2+1 = 7;
für B:
S + wS + w2P + w3P + ... wnP = S + wS + Pw2/(1-w) = 1 + 0.5·1 + 2·0.25/0.5 = 1 + 0.5 + 1 = 2.5.
Und was sehen wir? Der gutmütige Spieler B ist – jedenfalls hier – der Dumme. Wenn er gleich im zweiten Zug defektiert hätte, wäre die Auszahlung an ihn – mit dann wP statt wS – gleich 1 gewesen, anstatt nun 0.5; und die Gesamtsumme hätte damit 3 statt 2.5 betragen. Dann hätte auch der andere, der aggressive Spieler A weniger bekommen: ebenfalls wP=1 statt wT=2 im zweiten Zug; und er hätte somit nur 6 Einheiten als Endauszahlung statt 7 erhalten. 9
Weil die Auszahlungen wechseln, kann man nicht einfach den Grenzwert 1/(1-w) einsetzen. Erst wenn die Auszahlung bis in die Unendlichkeit gleich bleibt, geht das wieder, nur daß diesmal mit dem dann „ersten“ Betrag begonnen wird, vom dem dann die Zukunft abdiskontiert wird.
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Aber das könnte den B nur mäßig trösten, der so voreilig mit einem jetzt offensichtlich sturen Bock kooperiert hatte. Er hätte – schon um sich selbst vor Verlusten zu schützen – gleich ebenfalls defektieren sollen. Dann hätten beide Spieler die folgende Auszahlung zu erwarten gehabt: P + wP + w2P + w3P + ... wnP = P/(1-w) = 2/0.5 = 4. Das wäre nicht nur mehr als 2.5 bei der gutmütigen Strategie oben. Auch das Ärgernis der – so wollen wir sie nennen – relativen Deprivation gäbe es nicht mehr, daß zum Schluß der Unnachgiebigere besser dasteht als derjenige, der erst einmal nachgibt. Warum hat B aber wohl nicht sofort die Kooperation beendet? Möglicherweise weil er hoffte, daß A sich durch die Demonstration einer nachhaltigen Kooperationsbereitschaft vielleicht noch besinnen würde. Die Auszahlungen sähen dann so aus: für A:
T + wR + w2R + w3R + ... wnR = T + RW/(1-w) =4+3 =7
für B:
S + wR + w2R + w3R + ... wnR = S + RW/(1-w) =1+3 = 4.
In der Tat gewinnt B durch die Kooperation von A ab dem zweiten Zug: 4 statt zuvor 2.5 Einheiten. Insofern war das Risiko einer nochmaligen einseitigen Vorleistung nicht ganz unverständlich. Für A lohnt sich diese Kooperation aber nicht: Er gewinnt mit seiner sturen Defektion exakt genau so viel wie mit der Kooperation mit B. Und wenn der B, der ja offenbar ein gutmütiges Schaf ist, nur noch einmal die Nerven verliert, dann ist das sogar noch günstiger als der jetzt noch zu erwartende „schlechteste“ Fall der immerwährenden Defektion auf beiden Seiten. Kurz: A hat von der Kooperation als Einlenken auf die Gutmütigkeit von B nichts weiter. Sie brächte genau so viel wie die weitere Defektion. Und deshalb läßt er sie wohl auch, wenn er schon einmal so hübsch beim Defektieren ist. Warum soll man sich ändern, wenn nichts dabei herausspringt?
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Dennoch: Weil der Spieler A zwischen den beiden Strategien D und C nun ganz indifferent ist, sind die Chancen nicht schlecht, daß sich alles zum Guten wendet. Denn wenn die Versuchung T nur etwas geringer gewesen wäre, dann hätte sich die Kooperation auch für ihn schon gelohnt. Nehmen wir beispielsweise an, T betrage nicht 4 Einheiten, sondern nur 3.8. In diesem Fall gilt immer noch die Bedingung des Gefangenendilemmas mit T>R>P>S, weil T = 3.8 weiterhin größer als R = 3 ist. Dann ergibt sich daraus für den Spieler A aus dem Beibehalten der Defektion im ersten Beispiel oben: = T + wT + Pw2/(1-w) = 3.8 + 0.5·3.8 + 2·0.25/0.5 = 3.8 + 1.9 + 1 = 6.7 Das ist zunächst schon weniger als 7 wie zuvor. Als Gesamtauszahlung käme bei Kooperation gleich nach dem ersten Zug für A jetzt aber sogar das folgende Ergebnis heraus: T + RW/(1-w) = 3.8 + 3 = 6.8 Und siehe da: Jetzt, nach der Absenkung der Versuchungsauszahlung T von 4 auf 3.8 Einheiten, lohnt sich die Kooperation mit B gleich nach dem ersten Zug schon – sofern A nicht damit rechnet, daß B bald doch wieder einmal schwach wird und einseitig kooperiert, auch wenn er – A – weiter durchgehend defektiert. Aber das wäre sehr unwahrscheinlich. Backwards Induction Die Beispiele zeigen: Bei der Wiederholung eines Gefangenendilemmas ist die wechselseitige Defektion nicht unbedingt mehr die dominante Strategiekombination. Kooperation unter rationalen Egoisten ohne Bindung wird so möglich – wenngleich, wie wir noch sehen werden, nur unter recht speziellen Bedingungen. Dazu muß – unter rationalen Egoisten – das Spiel aber wirklich „endlos“ sein: Wenn ein Ende des Spieles vorab bekannt ist, dann wird die wechselseitige Defektion wieder zur dominanten Strategie – so wie im einfachen PD. Warum das so ist, läßt sich mit Hilfe der sog. Backwards Induction zeigen (vgl. dazu u.a. Lahno 1995, S. 182f.).
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Die Überlegung ist ganz einfach. Die Sequenz der Spiele habe eine endliche Länge von n Zügen. Die Spieler entscheiden sich bei jedem Zug nach Maßgabe des zu erwartenden Nutzens aus dem Rest der Spiele. Lohnt sich die Kooperation, dann tun sie es; wenn nicht: nicht. Wie sieht die Situation aber im letzten, im n-ten Spiel aus? Da es sich dabei – wie bei allen Teilspielen der ganzen Sequenz – um ein einfaches PD handelt, wird die Defektion wieder zur dominanten Strategie – egal, was vorher war. Das ist der Grund für das sog. Lame DuckPhänomen: Wenn die Untergebenen wissen, daß der Chef bald geht, dann „lohnt“ sich eine Kooperation mit ihm nicht mehr sonderlich. Was aber ist mit dem vorletzten Spiel in einer solchen endlichen Folge? Die – rationalen – Akteure wissen, daß sie im darauf folgenden letzten Spiel – aus den genannten Gründen – defektieren werden. Sie können sich also sicher den Betrag ausrechnen, den sie im letzten Spiel erhalten – egal was vorher war. Ihre Entscheidungssituation gleicht deshalb völlig der im letzten Spiel: Wenn der andere Akteur kooperiert, dann kann ich durch einseitige Defektion gewinnen, wenn der andere defektiert, dann muß ich mich vor der Ausbeutung durch die eigene Defektion schützen. Denn einen „Ausgleich“ kann es nicht mehr geben, weil die Auszahlung für das letzte Spiel ja feststeht. Deshalb wird auch im vorletzten Spiel die wechselseitige Defektion die dominante Strategie sein. Und was ist dann im drittletzten Spiel? Genau: The same procedure as everytime before. Und so zurück bis zum Anfang der ganzen Sequenz.
Das Ergebnis ist schon etwas deprimierend: Wenn rationale Akteure ein definitives Ende ihrer Beziehung absehen können, dann finden sie nicht zur Kooperation. Alle Probleme, die sich mit dem einfachen PD auftaten, wiederholen sich exakt für diesen Fall. Begrenzte Kooperation Die Überlegungen der Backwards Induction erscheinen nicht unverständlich, sind aber auch etwas weltfremd: Manchmal lohnt sich eine Kooperation auch dann, wenn man weiß, daß sie nicht ewig dauert. Es kommt darauf an, wieviel dabei in Relation zur Versuchung und zum Verlustrisiko dabei herausspringt. Der schon mehrfach erwähnte Bernd Lahno hat eine interessante Modifikation für diese Überlegungen vorgenommen. Zwei Akteure hätten die Möglichkeit in einer begrenzten Serie von 100 Spielen in jedem Spiel jeweils 100 DM zu erhalten, wenn sie miteinander kooperieren. Defektieren sie beide, dann erhalten sie nichts. Wenn einer der Akteure in Vorleistung tritt, der andere aber defektiert, habe derjenige, der die Vorleistung erbrachte, einen Schaden von 10 DM, während der Empfänger der Vorleistung 110 bekommt. Leicht läßt sich rekonstruieren, daß dies wieder ein PD ist: Die Versuchung T beträgt 110 DM, die Belohnung R 100 DM, die Bestrafung P ist gleich 0 DM und die Sucker-Auszahlung S -10 DM. Das Spiel werde nun 100 mal gespielt. Was sollten die – nutzenmaximierenden – Spieler tun? Die Spieltheorie rät den Spielern mit dem Argument von der Backwards Induction, sofort zu defektieren. Das erbringt einen Gewinn von null für beide, sie verlieren aber auch nichts. Aber diese Vorsicht wäre ganz absurd: Durch die Kooperation von Beginn bis zum Ende der 100 Spiele hätte es für jeden sage und schreibe 10 000 DM zu gewinnen gegeben. Käme man da nicht ins Grübeln, es erst einmal mit einer Kooperation zu versuchen, und die 10 DM der einseitigen Ausbeutung zu riskieren
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mit der Aussicht, daß der andere Akteur darauf eingeht – zumal ja gleich im ersten Spiel schon jeweils 100 DM gewonnen werden können?
Kurz: Anders als die Idee der Backwards Induction annimmt, lohnt es sich in Abhängigkeit der absoluten Höhe der Auszahlungen durchaus, es einmal zu versuchen, ob der Partner ein beinharter Defektor ist oder nicht. Gerade zu Beginn der Serie sind die gemeinsam erreichbaren Gewinne so hoch, daß eine Kooperation auch schon unter schwachem Vertrauen, daß der andere mitmacht, riskiert werden kann. Je weiter das Spiel jedoch fortschreitet, um so geringer wird der dann noch mögliche Kooperationsgewinn. Irgendwann nähert sich der Prozeß somit einer Grenze, ab der einer der beiden der Versuchung nicht mehr wiederstehen kann, die Vorleistung des anderen auszunutzen. Ab dann gibt es natürlich keine Kooperation mehr. Derjenige, der dann das Nachsehen hat, wird vielleicht bedauern, daß er die 10 DM verloren hat. Das wäre nicht geschehen, wenn er gleich von Beginn an defektiert hätte. Aber was wäre den beiden insgesamt alles durch die Lappen gegangen? Nicht auszudenken! Deshalb kann man dem Fazit von Bernd Lahno – unter Zurückstellung aller bekannten formalen Bedenken der üblichen Spieltheorie – wohl zustimmen: „Es ist nicht sehr schwer, diese Zusammenhänge zu durchschauen. Mir scheint, daß man deshalb erwarten sollte, daß im landläufigen Sinne ‚vernünftige‘ Akteure in einer solchen Folge von Austauschsituationen ein begrenztes Maß an Kooperation zuwege bringen werden.“ (Lahno 1995, S. 184)
Vertrauen, abgesichert durch untrügliche Signale, die Erfahrungen, die man mit einem Akteur bereits gemacht hat, seine Reputation also, sowie – natürlich – die Höhe des möglichen Kooperationsgewinns in Relation zum Verlustrisiko bestimmen, ob es zu dieser begrenzten Kooperation kommt und wie weit sie sich dann dem bekannten Ende nähert. Ein Ruf als verläßlicher Partner kommt den Akteuren dabei sehr entgegen, besonders, wenn es viel durch die Kooperation zu gewinnen gibt. Insofern entwickeln die wirklich schlauen Egoisten ein besonderes Interesse an etwas, das man ihnen normalerweise nicht zugetraut hätte: als moralischer Mensch zu gelten. Einen solchen Ruf bekommt man aber nur, wenn man auch tatsächlich und beobachtbar so handelt: Tue Gutes und sprich darüber! Wohl auch deshalb sind Moral und der Wunsch nach einem guten Ruf unter den Menschen weiter verbreitet als man zunächst für rationale Egoisten – die die Menschen nun einmal sind – hätte annehmen können (vgl. dazu auch schon den Exkurs über die Ehre in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
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Superspiel-Strategien Wiederholte Spiele vom Typ des Gefangenendilemmas werden auch als Superspiele bezeichnet. Für sie lassen sich bestimmte Strategien in ähnlicher Weise angeben wie für die einfachen Spiele, aus denen sie bestehen. Die sog. Superspiel-Strategien sind dann komplette Listen bestimmter Sequenzen von Einzelstrategien für die Einzelspiele, aus denen die ganze Serie besteht. Sie werden auch als Strategie-Vektoren bezeichnet. Oben hatten wir z.B. für den Spieler A die Sequenz D, D, D, .... D und für B die Sequenz C, C, D, ... D angenommen. Manche dieser Strategie-Vektoren lassen sich leicht abkürzen, weil es nicht viel an Wechsel gibt, oder weil sie recht einfach zu durchschauen und zu beschreiben sind. Drei solcher einfachen Strategien wollen wir unterscheiden (vgl. zum Konzept der Strategie schon Kapitel 2 in diesem Band): 1. Die unbedingte Defektion D++; 2. Die unbedingte Kooperation C++; 3. Die bedingte Kooperation in der Form der sog. Tit-for-Tat-Strategie TFT. Die beiden unbedingten Strategien besagen ganz einfach, daß der betreffende Spieler in jedem Teilspiel immer die entsprechende Strategie – D oder C – wählt – ganz gleichgültig, was der andere macht. D++ heißt somit auch „Immer D“, C++ entsprechend „Immer C“. Die Tit-for-Tat-Strategie (TFT) ist eine Strategie, die das eigene Handeln vom Tun des anderen im vorhergehenden Zug abhängig macht. Sie beginnt grundsätzlich mit C und bleibt auch dabei – bis der andere Spieler einmal defektiert. Dann wird mit D reagiert. Sobald der andere Spieler wieder kooperiert, wird wieder mit Kooperation geantwortet. TFT ist somit eine sowohl vergeltende wie verzeihende Strategie. Sie ist auch leicht zu durchschauen. Wahrscheinlich ist sie deshalb – wie die Studien von Robert Axelrod (1987, Kapitel 2) zu belegen scheinen – besonders geeignet für die Evolution der Kooperation. Für die beiden Spieler gibt es folglich auch für die wiederholten Spiele Strategiekombinationen. Zum Beispiel (C++, D++). Darauf sind dann auch wieder Auszahlungen bezogen, abhängig von den Werten in den Einzelspielen und dem Diskontparameter – berechenbar in der Weise, wie das oben gezeigt wurde. Wie bei den einfachen Spielen kann es auch bei wiederholten Spielen Gleichgewichte in den Superspiel-Strategien geben: Niemand hat bei einer bestimmten Strategiekombination einen Anreiz, davon wieder abzuweichen. Und die Frage ist dann: Bei welcher Kombination von Superspiel-Strategien
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läßt sich eine wechselseitige Kooperation bei einem wiederholten PD erwarten? Unbedingte Strategien Die Entstehung der Kooperation unter rationalen Egoisten ist stets ein zartes Pflänzchen, das nicht viel Unsicherheit verträgt. Insbesondere müssen die – im Prinzip ja mißtrauischen und vorsichtigen – Akteure einander durchschauen können. Denn bei jedem Zweifel in das, was jetzt noch kommen mag, werden sie die Defensive ergreifen. Und das heißt ja bekanntlich: Defektion. Allein deshalb müssen die Strategien in den wiederholten Spielen möglichst einfach sein. Diese Eigenschaft haben die beiden Strategien D++ und C++ in besonderer Weise. Aber führen sie auch zur Evolution der Kooperation? Leicht ist zu zeigen, daß sie dazu beide nicht taugen. Betrachten wir zuerst D++. Wenn einer der Spieler bedingungslos D spielt und der andere reagiert zuerst auch stets mit D, dann erhalten beide die Auszahlung P in jedem Spiel. Nun wechsle der zweite Spieler auf C. Dies veranlaßt den ersten natürlich nicht, zu kooperieren, weil der ja mit D++ festgelegt ist. Deshalb erhält der kooperierende Spieler notwendigerweise die im Vergleich zu P stets geringere Auszahlung S – und der erste Spieler die höchste Auszahlung T. Jede weitere Kooperation würde den zweiten Spieler nur noch schlechter stellen. Infolgedessen kann die einzige vernünftige Antwort auf einen hartnäckigen Defektor nur die eigene hartnäckige Defektion sein. (D++, D++) ist deshalb immer ein Gleichgewicht – unabhängig von der Höhe der Auszahlungen und der Höhe des Schattens der Zukunft. Das ist traurig – und überhaupt nicht vario. Wie sieht es mit C++ aus? Ähnlich deprimierend: (C++, C++) kann niemals ein Gleichgewicht sein. Der Grund dafür ist noch einfacher: Wenn ich gegen einen Spieler antrete, der bedingungslos kooperiert, dann kann ich leicht und folgenlos T gewinnen, indem ich D spiele. Und der Gewinn ist um so höher, je eher ich damit beginne. Da der andere festgelegt ist, habe ich nichts zu befürchten. Kurz: Auf C++ wird ein rationaler Egoist sofort mit immerwährendem D antworten. Und die Folge: Zur unbedingten Kooperation wird – wenigstens auf die Dauer – niemand freiwillig bereit sein. Wie Du mir, so ich Dir Die beiden unbedingten Strategien C++ und D++ führen also unter keinen Umständen zu einem Ausweg aus dem Dilemma. Somit kommen – wenn über-
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haupt – nur bedingte Strategien in Frage. TFT ist unter bestimmten, unten näher beschriebenen, Bedingungen eine solche. TFT beginnt optimistisch: Erst einmal wird kooperiert, dann sehen wir weiter. Die Verhaltensregel lautet: Solange Du kooperierst, tue ich es auch. Sobald Du mich schädigst, antworte ich mit Defektion – Auge um Auge, Zahn um Zahn. Wann „lohnt“ sich TFT aber für einen rational egoistischen Spieler in wiederholten PDs?10 Wir nehmen an, daß der eine Spieler in der Tat TFT benutzt – und der andere zunächst auch so verfährt. Dann ist der Gewinn für die unbegrenzte Serie nach der oben genannten Regel für einen beliebigen Spieler: R + wR + w2R + w3R + ... = R/(1-w). Wenn der zweite Spieler statt TFT aber D++ spielt, dann erhält er im ersten Spiel die Auszahlung T und in allen weiteren P, weil der TFT-Spieler auf diese Defektion ja selbst mit Defektion antwortet. Das ergibt für den Spieler, der D++ gewählt hat, eine Auszahlung von; T + wP + w2P + w3P + ... = T + Pw/(1-w). Die Frage ist dann nur: Lohnt sich dieser Wechsel auf D++? Und die Antwort: Ein Verzicht auf D++ – und damit faktisch die Wahl von C++, weil der TFTSpieler ja mit C begonnen hat – wird dann stattfinden, wenn die Auszahlung R/(1-w) für TFT bzw. C++ größer ist als T + Pw/(1-w) für D++. Also, wenn gilt: TFT R/(1–w) R R wT – wP w(T–P) w
> > > > > > >
D++ T + wP/(1–w) T(1–w) + wP T – wt + wp T–R T–R (T–R)/(T–P)
Dies ist die entscheidende Bedingung dafür, daß unter rationalen Egoisten Kooperation über TFT entstehen kann: Wenn der Schatten der Zukunft w größer ist als der Ausdruck (T – R)/(T – P), dann lohnt sich die Defektion gegen TFT nicht. Dann ist für einen rationalen Egoisten die Kooperation ange10
Vgl. dazu Axelrod 1987, S. 186ff.; Taylor 1987, S. 65ff.; Werner Raub und Thomas Voss, Nachwort: Selbstinteresse und Kooperation als Gegenstand der Sozialtheorie – Elemente eines Forschungsansatzes, in: Axelrod 1987, S. 205ff.
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sagt. Die Nutzenerwartung dafür ist eben höher als für die Defektion. Gefühle, Bindungen, Vertrauen und dergleichen sind dazu nicht weiter erforderlich. Es regiert weiter das reine Interesse. Kooperationskosten und Konfliktkosten Wichtig sind die beiden Differenzen (T – R) und (T – P) in der genannten Bedingung. (T – R) drückt die auf die Versuchung T bezogenen Kooperationskosten aus. Je höher bei einem gegebenen T, bzw. je geringer T bei einem gegebenen R, um so weniger „kostet“ mich der Verzicht auf die Versuchung, und um so eher kann ein gegebenes w unterschritten werden. Die Differenz gibt den Betrag wieder, auf den ein Akteur, der D spielen will, um an T zu kommen, einbüßen würde, wenn er mit dem anderen C spielt. Die Differenz (T – P) beschreibt dagegen die Konfliktkosten. Die Differenz beschreibt das, was einem Akteur, der D spielt, entgeht, wenn es der andere auch tut. Die Ungleichung besagt dann – plausiblerweise –, daß niedrige Kooperationskosten und hohe Konfliktkosten die Kooperationsbereitschaft fördern. Oder anders gesagt: Hohe Kooperationskosten und/oder niedrige Konfliktkosten müssen durch einen relativ hohen Schatten der Zukunft ausgeglichen werden, „damit“ es zur Kooperation kommt. Andere Strategien? D++ ist natürlich nicht die einzige Strategie, auf die TFT treffen kann. Michael Taylor (1987, S. 67ff.) zeigt aber, daß nur noch eine andere Strategie möglich ist, die gegen TFT besser abschneiden könnte: die – sozusagen – inverse Strategie zu TFT. Also: Beginnen mit D und dann ganz normal TFT. Wir wollen diese Strategie mit FTF bezeichnen (vgl. auch dazu bereits Kapitel 2 in diesem Band). Daraus ergäbe sich die folgende Sequenz für zwei Spieler, von denen der erste FTF, der zweite TFT spielt: Spieler A (FTF): D, C, D, C, ... Spieler B (TFT): C, D, C, D, ... Der Spieler A beginnt also mit D und der Spieler B mit C. Darauf reagieren beide entsprechend ihrer Strategien FTF bzw. TFT: A reagiert mit C und B mit D, und so weiter. Es ergibt sich so für FTF beim Spieler A eine fixe Reihe des Wechsels von einem Beginn mit D nach C und zurück. FTF ist dann – in
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der „Umgebung“ von TFT! – also selbst so etwas wie eine unbedingte Strategie. Die Auszahlung dafür berechnet sich entsprechend so: T + wS + w2T+ w3S+ ... . Und das ergibt: (T + wS)w2/(1 – w). Wenn diese Auszahlung kleiner wird als die für TFT mit R/(1-w), „lohnen“ sich die Wahl von TFT und die Kooperation. Die Bedingung dafür ist dann (vgl. auch Axelrod 1987, S. 187): w > (T – R)/(R – S). Kooperationsabhängigkeit und Kooperationsinteresse Diese zweite Bedingung haben wir nicht wegen der schönen Formeln aufgeschrieben, sondern wegen der Differenz (R – S), die im Nenner auftaucht. Sie verweist auf einen weiteren inhaltlichen Aspekt der Entstehung von Kooperation über TFT in wiederholten Spielen: Wenn die Auszahlung bei Kooperation gegenüber der Ausbeutung nicht sehr hoch ist, dann unterbleibt die Kooperation gegebenenfalls. Der Überschuß von R gegenüber S kann als ein Ausdruck für den Grad der Abhängigkeit des betreffenden Akteurs von der Kooperation mit dem anderen Akteur bezeichnet werden, damit er nicht als alleiniger Verlierer dasteht. Wir wollen sie die Kooperationssabhängigkeit nennen. Es gibt noch einen weiteren Aspekt, über den die Kooperationsauszahlung R zur Kooperation motivieren kann. Den erkennt man bei der Umstellung der zuerst genannten Bedingung w > (T – R)/(T – P). Dieser Ausdruck ist nämlich formal äquivalent zu der folgenden Ungleichung11: (1-w)/w < (R – P)/(T – R). Das Verhältnis von Diskontrate und Diskontparameter – ein Maß sozusagen für den Verfall der Gegenwart – darf also nicht kleiner sein als die Kooperationsauszahlung gegenüber der Auszahlung im Konfliktfall (R – P) bezogen auf die Kooperationskosten (T – R): Wenn der Unterschied zwischen Kooperation und Konflikt, zwischen Krieg und Frieden nicht sonderlich hoch ist, dann gibt es eben eher Konflikt bzw. Krieg – mit w konstantgehalten. Die Differenz (R 11
Vgl. zur Ableitung Raub und Voss 1987, S. 207; vgl. auch James W. Friedman, Game Theory with Applications to Economics, New York und Oxford 1986, S. 88f.
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– P) ist – wie (R – S) – ebenfalls eine Größe, die die Abhängigkeit des Akteurs von der Kooperation des anderen bzw. sein Interesse daran ausdrückt. Es ist der bei allseitiger Kooperation erreichbare Gewinn gegenüber dem Zustand der allseitigen Defektion. Wir wollen diese Differenz deshalb das Kooperationsinteresse nennen. Die Anreize zur Kooperation Für die Entstehung der Kooperation werden also zwei Arten von Bedingungen wichtig, die eng aufeinander bezogen sind: der Schatten der Zukunft einerseits und die Anreize andererseits. Die Anreize gibt es in vier inhaltlichen Komponenten: die Kooperationskosten, die Konfliktkosten, die Kooperationsabhängigkeit und das Kooperationsinteresse. Wir wollen diese Bedingungen und ihre Beziehungen zur Chance, daß eine Evolution der Kooperation stattfindet, in einem Diagramm zusammenfassen (Abbildung 5.3).
Ausdruck T–R T–P R–S R–P w
Bezeichnung
Bedingung für Kooperation
Kooperationskosten Konfliktkosten Kooperationsabhängigkeit Kooperationsinteresse
niedrig hoch hoch hoch
Schatten der Zukunft
hoch
Abb. 5.3: Die Bedingungen der Entstehung von Kooperation
Wieder „interagieren“ also, wie schon bei der WE-Theorie Erwartungen und Bewertungen miteinander. Es gibt keine „isolierten“ und unbedingten Umstände, unter denen die Kooperation gelingt. Es ist ein Prozeß der Evolution, in dem die Erwartungen, die Bewertungen und die Strategien jeweils Umwelten füreinander bilden. Und manchmal finden sich dann Konstellationen, in denen das ursprüngliche Gefangenendilemma sich zu einer freundlicheren Situation gewandelt hat.
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Die Auflösung des Dilemmas Wie freundlich die Situation werden kann, zeigt schließlich noch die folgende Überlegung. Es seien TFT und D++ die einzigen Strategien, die die Akteure spielen können, und es seien die genannten Bedingungen dafür erfüllt, daß es zur wechselseitigen Kooperation kommt. Wie sehen dann die Auszahlungen in einem Superspiel mit den Strategien TFT einerseits und D++ andererseits aus? Klar ist, daß die wechselseitige Kooperation in TFT, also (TFT, TFT), jetzt gegenüber allen anderen Kombinationen die höchste Auszahlung hat; das besagen die Bedingungen ja. „Unterhalb“ dieser optimalen Kombination stellt sich natürlich wieder das alte Elend ein: Wenn einer – jetzt natürlich: gegen alle Vernunft – defektiert und der andere nicht, dann erhält er eine höhere Auszahlung als der andere. Wieder ist die einseitige Kooperation über TFT gegenüber D++ die schlechteste Position. Davor kann nur die Kombination (D++, D++) schützen. Stellt man die so gegebenen Auszahlungen zusammen, dann ergibt sich die folgende Anordnung (Abbildung 5.4; vgl. dazu Taylor 1987, S. 67):
TFT
D++
TFT
4,4
1,3
D++
3,1
2,2
Abb. 5.4: Auszahlungen in einem Superspiel mit den Strategien TFT und D++ bei Erfüllung der Bedingung zur Entstehung von Kooperation
Das aber ist – leicht erkennbar – nichts anderes als ein Assurance Game. Es hat zwei Gleichgewichte: (TFT, TFT) und (D++, D++). Weil aber – den Regeln des Nash-Gleichgewichtes zufolge – kein rationaler Spieler vom anderen erwartet, daß der die weniger einträgliche Gleichgewichtsstrategie verfolgt, bildet (TFT, TFT) das einzige Gleichgewicht – ohne jede weitere Koordination, die bei weniger rationalen Spielern wohl noch nötig wäre, weil TFT keine dominante Strategie ist.
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Quod erat demonstrandum! Bei wiederholten Spielen kann es aus dem Gefangenendilemma also einen Ausweg geben: Die Wiederholung überführt die Dilemma-Situation tendenziell in ein – relativ einfach lösbares – Koordinationsproblem vom Typ eines Assurance Game. Auch solche sind aber manchmal durchaus vertrackt. Deshalb wird gelegentlich auch ein Fokalpunkt oder eine andere Form der Koordination hilfreich sein, wenn das PD zu einem AG geworden ist. Aber das sind nur peanuts gegenüber dem Problem der Dominanz der Defektion im einfachen PD. Kurz: Kooperation ist möglich. Und zwar: Gerade unter rationalen Egoisten – ohne jede Moral, ohne jeden Zwang, ohne Staat und ohne Leviathan und ohne jede Sonderprämie etwa einer internalisierten Norm. Das hatte die Soziologie immer bestritten. Hier ist der (Existenz-)Beweis dafür, daß es doch geht.
5.4
Interesse und Moral
Weder die Bauern im Erntehilfebeispiel, noch Robinson und Freitag auf ihrer Insel konnten sich aufeinander verlassen. Gegenseitige Versprechungen nutzten ihnen nichts. Aber sie hatten schon einen großen Wunsch: daß es einen Ausweg aus ihrem Dilemma geben möge. Thomas Hobbes hatte als Lösung den Staat in Gestalt des Leviathan, Emile Durkheim die Moral in Gestalt der organischen Solidarität vorgeschlagen. Die Idee von der Evolution der Kooperation wies einen dritten Weg: Unter bestimmten Umständen können sogar rationale Egoisten daran interessiert sein, es erst einmal im Guten zu versuchen. Und wenn dann der andere mitmacht, ist das eine kräftige Bestärkung der Annahme, daß die Fortsetzung der Kooperation auch erneut erwidert wird. Das Interesse an der Kooperation Die Idee von der spontanen Evolution der Kooperation unter rationalen Egoisten hatte bereits David Hume.12 Er hat den Gedanken unmittelbar im Anschluß an das Erntehilfebeispiel sehr deutlich ausgedrückt. Zunächst bezweifelt er, daß es Sinn mache, auf eine Änderung der menschlichen Natur zur Lösung des Problems zu setzen. Wie Thomas Hobbes geht David Hume 12
Vgl. zur Konzeption der sozialen Ordnung, insbesondere zur Institution des Versprechens bei David Hume: Lahno 1995, insbesondere die Einleitung, sowie die Kapitel 1, 2, 5 und 8. Vgl. auch Hummell 1991, S. 91ff.; Taylor 1987, S. 150ff.
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also vom rationalen Egoismus der Menschen als unveränderlichem Teil ihrer Natur aus: „All this is the effect of the natural and inherent principles and passions of human nature; and as these passions and principles are inalterable, it may be thought, that our conduct, which depends on them, must be so too, ... .“13
Politiker und Moralisten, die eine Besserung des Menschen in dieser Hinsicht mit Blick auf das öffentliche Interesse versuchten, könnten nur enttäuscht werden: „And indeed, did the success of their designs depend upon their success in correcting the selfishness and ingratitude of men, they wou’d never make any progress, unless aided by omnipotence, which is alone able to new-mould the human mind, and change its character in such fundamental articles.“ (Ebd.)
Viel wirksamer sei es dagegen, gesellschaftliche Verhältnisse zu schaffen, in denen die rationalen Egoisten selbst erkennen, daß die Zurückstellung des Egoismus in ihrem eigenen Interesse ist. Dann aber: „Hence I learn to do a service to another, without bearing him any real kindness; because I forsee, that he will return my service, in expectation of another of the same kind, and in order to maintain the same correspondence of good offices with me or with others. And accordingly, after I have serv’d him, and he is in possession of the advantage arising from my action, he is induc’d to perform his part, as foreseeing the consequences of his refusal.“ (Ebd.)
Die Bereitschaft eines Akteurs zur „bedingten“ Kooperation ist danach offensichtlich von zwei Bezügen des Interesses abhängig: vom Nutzen, der aus der Kooperation unmittelbar zu ziehen ist; und – vor allem – vom Schaden, der entstehen würde, wenn der Akteur einmal seine Gegenleistung nicht erbringt. Die Reputation der Verläßlichkeit wird unter der Bedingung wiederholter Kooperationen also zu einem Kapital, das seinen Wert sofort verlieren würde, wenn auch nur eine Verletzung des Vertrauens einträte. Das weiß der Akteur nur zu gut. Und folglich achtet er selbst sehr darauf, daß seine Reputation nicht den geringsten Schaden leidet (vgl. dazu auch schon den Exkurs über die Ehre in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Alles hängt dabei natürlich von der Höhe des Kapitals ab: vom Wert des Ertrages aus der Kooperation gegenüber der wechselseitigen Defektion und von der voraussichtlichen Dauer der Beziehung zwischen den Akteuren, von der Abhängigkeit der Akteure voneinander, insbesondere des Kooperationsinteresses R–P, und vom Schatten der Zukunft also. Gibt es diese Bedingungen, dann gibt es auch ein Interesse an einer Reputation der 13
David Hume, A Treatise of Human Nature: Being An Attempt to Introduce the Experimental Method of Reasoning into Moral Subjects, Oxford 1967 (zuerst: 1739), S. 521; Hervorhebung nicht im Original.
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gungen, dann gibt es auch ein Interesse an einer Reputation der Verläßlichkeit. Das Interesse an der Verfassung Das Interesse an der Reputation verlagert das Interesse der Akteure auf eine bemerkenswerte Weise. Jetzt geht es nicht mehr allein um das Interesse am Kooperationsgewinn, sondern um ein Interesse an der allseitigen Beachtung und am Erhalt der Regeln, auf denen die so ertragreiche Kooperation beruht; an der „Verfassung“ also, auf der die sozialen Produktionsfunktionen und somit die Reproduktion des Alltags beruhen. Die Regeln, die das System der Kooperation sichern, bestehen aus bestimmten, jedermann bekannten Konventionen darüber, was ein Akteur in einer bestimmten Situation zu tun hat. Beispielsweise: daß er ein Versprechen auf Erwiderung einer Vorleistung auch tatsächlich hält. Solche Regeln sind die – ebenfalls jedermann bekannten – Bedingungen dafür, daß das gesamte System der Kooperation funktioniert: Mit der Wiederholung wird – sofern die Anreizstrukturen entsprechend sind – ein Gefangenendilemma zu einem Assurance Game. Das ist, wie wir gesehen haben, im Prinzip ein Koordinationsspiel und verhältnismäßig leicht zu lösen. Aber auch nun hängt alles davon ab, ob alle auch richtig und verläßlich mitspielen. Diese Bedingung wird durch die Beachtung bestimmter Konventionen erfüllt. Und folglich entsteht ein Interesse an der Beachtung eben dieser Konvention. Viktor Vanberg und James M. Buchanan sprechen daher auch sehr zutreffend vom konstitutionellen Interesse – dem Interesse an einer bestimmten Regel – im Unterschied zum sog. operationalen Interesse.14 Letzteres ist das Interesse an bestimmten Alternativen innerhalb eines bestehenden Regelsystems: Niemand möchte eine rote Karte bekommen oder in eine Abseitsfalle tappen, aber jeder ist daran interessiert, daß grobe Unsportlichkeiten sanktioniert werden und etwas gegen die faulen Abstauber im gegnerischen Strafraum getan wird. Genau dies aber – die Konzeption des konstitutionellen Interesses – ist die Idee, die David Hume mit der Institution des Versprechens als „künstlicher Tugend“ zur Lösung des Problems der sozialen Ordnung hat: Es gibt Situationen, in denen es im unmittelbaren Interesse der Akteure liegt, selbst die Regeln als „System“ – hier: die Konvention des Versprechens – zu beachten, je14
Viktor Vanberg und James M. Buchanan, Rational Choice and Moral Order, in: Analyse und Kritik, 10, 1988, S. 138-160; vgl. auch schon Abschnitt 4.3 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“.
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denfalls solange, wie das auch die anderen tun. Die Einhaltung der Regeln erzeugt dabei selbst das Gleichgewicht der Kooperation, bei dem jede einzelne kooperative Handlung eines Akteurs jedem anderen wieder signalisiert, daß er die Regel beachtet und weiter beachten wird, und daß sich eine Vorleistung im Vertrauen auf die Regelbeachtung auch auszahlen wird. Wissen und Moral Damit die Regeln, die die Grundlage des Systems der Kooperation bilden, Beachtung finden, müssen sie natürlich den Menschen bekannt und, vor allem, einsichtig sein (vgl. dazu insgesamt noch ausführlich Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Das ist nicht selbstverständlich, einfach deshalb, weil es sich um gesellschaftliche Konstruktionen handelt, deren Sinn sich erst dann erschließt, wenn auch der weitere Kranz der Einbettung der Regeln bekannt ist: Ihren Sinn haben eine rote Karte oder eine Abseitsregel nicht von Natur aus, sondern nur innerhalb der Institution des Fußballspiels und der Gesellschaft, in die der Fußball als Institution eingebettet ist. Und ebenso wird die Institution des Versprechens auch nur dann einsichtig, wenn die Akteure erkennen, um was es bei einem Versprechen geht: die Sicherung eines Kooperationsgewinns. Das Wissen um die Regel ist eine erste, eine notwendige Bedingung für ihre „Geltung“. Aber das ist noch nicht hinreichend. Kein Koordinationsspiel und somit erst recht kein Assurance Game sind dagegen gefeit, daß es nicht doch jemanden gibt, der aus dem so interessanten, weil ertragreichen, System ausschert. Das ist besonders wahrscheinlich, wenn die Gruppe immer größer wird: Immer kann es irgendeinen geben, dessen Interessen nicht ganz bedient werden. Immer kann es vorkommen, daß irgendjemand die Regel nicht „versteht“. Mit der Gruppengröße sinkt in aller Regel der Schatten der Zukunft, weil die Wahrscheinlichkeit steigt, auf einen Fremden zu treffen; und nicht alle können in einer großen Gruppe von meiner Verläßlichkeit und Ehrenhaftigkeit erfahren. Spätestens nun aber „muß“ die Regel auf eine andere Grundlage gestellt werden als alleine die des Interesses und des Wissens: Die Regelbeachtung muß mit einem „unbedingten“ Gefühl beim Akteur verbunden werden, das der Akteur nicht mehr unter seiner Kontrolle hat. Kurz: Zum Interesse muß eine moralische Bindung hinzutreten. Beide Bedingungen – die Einsichtigkeit der Regel und die moralische Bindung an sie – sind nicht selbstverständlich, nicht „natürlich“. David Hume hat dies gleich zu Beginn seines Kapitels „Of the obligation of promises“ – sozusagen – in Stein gehauen:
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„That the rule of morality, which enjoins the performance of promises, is not natural, will sufficiently appear from these two propositions, which I proceed to prove, viz. that a promise wou’d not be intelligible, before human conventions had establish’d it; and that even if it were intelligible, it wou’d not be attended with any moral obligation.“ (Hume 1967, S. 516)
Die moralische Bindung verändert den Charakter der Beziehungen der Menschen untereinander und zu der Regel: Es liegt nicht in der Macht des einzelnen, einen Beschluß darüber zu fassen, wann er ein bestimmtes moralisches Gefühl hat und wann nicht. Das aber hat eine außerordentlich wichtige Wirkung: Wenn mit der Regel moralische Gefühle verbunden werden, dann wird ihre Befolgung von den – kurzfristigen! – Interessen der Menschen unabhängig. Aus der „bedingten“ Kooperation wird mit der Moral eine „unbedingte“ Angelegenheit. Warum berührt uns das Allgemeinwohl? Nun aber folgt das große Problem für eine Theorie der sozialen Ordnung, die ja immer noch vom rationalen Egoismus der Menschen ausgehen möchte: Wie ist es möglich, daß rationale Egoisten nicht nur ein Interesse an der Regel, sondern sogar ein moralisches Gefühl für sie entwickeln? Und vor allem: Wie ist es möglich, daß rationale Egoisten sich auch emotional mit etwas zu identifizieren beginnen, was nicht unmittelbar in ihrer „Natur“ verankert ist? Denn: Die Regel selbst ist ja nicht „natürlich“, sondern eine gesellschaftliche Konstruktion. Deren Sinn kann schon nur dem „verständlich“ sein, der weiß, worum es geht. Um wieviel weniger kann sich die Einhaltung der Regel auf irgendwelche „natürlichen“ Gefühle stützen! Kurz: Warum berührt einen rationalen Egoisten überhaupt das Allgemeinwohl? Oder auch: Wie entsteht aus einer interessenabhängigen und deshalb stets „bedingten“ Praktik eine interessenunabhängige und damit „unbedingte“ Ethik? Bei David Hume finden wir eine Reihe von Hinweisen auf Mechanismen, die das bewirken: Sympathie, Konsistenz, Assoziation, der Nutzen der Regel und die sog. Praxis. Sie sind auch heute noch der Rede wert. Sympathie Anders als Thomas Hobbes erkennt David Hume an, daß Menschen von Natur aus nicht nur rationale Egoisten, sondern auch mitfühlende Wesen sind. Diese Fähigkeit, sich in die Lage des anderen mitfühlend hineinzuversetzen nennt David Hume – ganz ähnlich wie auch Adam Smith – Sympathie. Es ist die
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„ ... propensity ... to receive by communication their inclinations and sentiments, however different from, or even contrary to our own.“ (Hume 1967, S. 316) Bzw. „ ... nothing but the conversion of an idea into an impression by the force of imagination.“ (Ebd., S. 427)
Worte und Gesten erzeugen in uns also nicht nur eine kognitive Idee der Lage des anderen, sondern einen nachhaltigen und gefühlsbesetzten Eindruck – allein durch die Kraft der inneren Vorstellung aus ihnen. Die Gefühle der anderen werden auf diese Weise zu eigenen inneren Gefühlen. Ausgelöst werden sie durch die Wahrnehmung äußerer Zeichen beim anderen: „When I see the effects of passion in the voice and gesture of any person, my mind immediately passes from these effects to their causes, and forms such a lively idea of the passion, as is presently converted into the passion itself.“ (Ebd., S. 576)
Die Sympathie ist die Grundlage dafür, daß die an sich egoistischen Menschen sich vom Schicksal anderer beeindrucken lassen können. Und wenn sie „mit“-fühlen, dann ist das ein Teil dessen, was sie bei ihren Handlungen auch emotional bewegt. Freilich gibt es für die so entstehende benevolence deutliche Grenzen: Mitgefühl entwickeln die Menschen nur für das, was ihnen nahesteht. Und da sie sich stets auch mit anderen vergleichen, sind Gefühle des Stolzes, der Mißgunst und des Neides auch nicht fern – gerade denjenigen gegenüber, die einem am ähnlichsten sind (vgl. dazu auch noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Konsistenz Das Allgemeinwohl ist – normalerweise – so fern von uns, daß die Sympathie alleine nicht zur Bildung der moralischen Grundlage der Kooperation ausreicht. Es gibt noch ein zweites Problem: Die Sympathie variiert mit den Eigenarten der Handlungen und der Personen. Die Besonderheit der moralischen Gefühle ist aber ihre Stabilität über die vielen Variationen der Situationen hinweg. Folglich bedeutet ein moralisches Urteil immer auch eine Art der Distanzierung. Sie entspringt einem nach David Hume ebenfalls „natürlichen“ Bestreben: dem Streben nach einem einheitlichen Standard der Bewertung, der Vermeidung von Dissonanzen also: „When we form our judgments of persons, merely from the tendency of their characters to our own benefit, or to that of our friends, we find so many contradictions to our sentiments in society and conversation, and such an uncertainty from the incessant changes of our situation, that we seek some other standard of merit and demerit, which may not admit of so great variation.“ (Hume 1967, S. 583; Hervorhebung nicht im Original)
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Auf diese Weise wird das – über die Sympathie erst einmal ausgelöste – moralische Urteil auf eine distanzierte und einheitliche Basis gestellt. Es wird zu einem „Standard“ der Pflichterfüllung. An die Stelle der hektischen Emotionalität der bloßen Sympathie tritt das „ruhige Gefühl“ eines abgewogenen Werturteils. Es ist ein distanziertes Urteil, verbunden mit einem wohltemperierten Gefühl. Assoziation Jetzt wissen wir genauer, auf welchen „natürlichen“ Neigungen und Fähigkeiten die Ausbildung moralischer Gefühle beruht, und wie diese Gefühle beschaffen sein müssen. Immer noch aber bleibt die Frage offen, wann und warum genau es zu diesem Gefühl für das Allgemeinwohl, für die Verfassung, für das Regelsystem, auf der die Kooperation beruht, kommt. Erst dann ist geklärt, wie die moralische Bindung an die Institution etwa des Versprechens kommt. David Hume gibt letztlich nur eine Antwort auf diese spezielle Frage: Die Identifikation mit einer Regel ist die Folge einer „Assoziation“ zwischen einer Regelmäßigkeit des Handelns und den Belohnungen, die dabei erlebt werden. Bernd Lahno faßt in seiner Rekonstruktion den Vorgang so zusammen: „Eine bestimmte Handlungsweise wird von uns regelmäßig beobachtet. Da die einzelnen Handlungen regelmäßig zu einem moralisch relevanten Nutzen führen, sind sie jeweils vermittels der Sympathie mit einem Gefühl der Billigung verbunden. Wegen dieser Billigung nennen wir die Handlung gut. Da Gefühl und Urteil regelmäßig einer Handlung der bestimmten Handlungsweise folgen, bildet sich eine geistige Verbindung zwischen der Wahrnehmung einer entsprechenden Handlung und dem Gefühl bzw. dem Urteil. Gefühl und Urteil stellen sich nun schon ein, wenn die Handlung beobachtet wird, ehe noch der ursprüngliche Grund der Billigung, nämlich die positive Konsequenz, beobachtet wird.“ (Lahno 1995, S. 271; Hervorhebung nicht im Original)
Es ist also fast so wie beim Pavlovschen Hund aus dem Kapitel 9 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ über das Lernen und die Konditionierung: Weil die Beobachtung einer Handlungsweise stets mit einem Belohnungserlebnis assoziiert war, löst die Beobachtung der Handlungen allein schon das gute innere Gefühl aus, auch ohne daß die positiven Folgen unmittelbar und wirklich eintreten müßten. Daraus ergibt sich die für das Problem wichtige Folge, „ ... daß nicht konkrete Handlungen aufgrund ihrer Konsequenzen Gegenstand unseres moralischen Urteils sind, sondern Handlungsweisen aufgrund ihrer allgemeinen (aber nicht ausnahmslosen) Tendenz, nützlich zu sein.“ (Lahno 1995, S. 272; Hervorhebung nicht im Original)
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Kurz: Über den Mechanismus des Lernens und der sog. Stimulusgeneralisierung erhalten Regeln – die Handlungsweisen also – ihre emotionale Besetzung für die Akteure. Die Soziologie hat diesen Vorgang auch als Internalisierung bezeichnet. Der Nutzen der Regeln Aus allem, was bisher zu erfahren war, läßt sich entnehmen, daß die Identifikation mit dem Allgemeinwohl – letztlich – doch immer etwas mit dem Nutzen zu tun hat, den die Beachtung der betreffenden Regel mit sich bringt – oder in der Vergangenheit regelmäßig mit sich brachte. Dieser Nutzen wird zunächst aus den einzelnen Handlungen gezogen, die der Regel erwachsen. Er überträgt sich mit der Generalisierung auf die Regel selbst. Bei David Hume findet sich für dieses Interesse an den Regeln als einem kompletten System das Bild von einem Gewölbe:15 Anders als bei einer einfachen Mauer erhält ein Gewölbe seinen Wert erst durch die kunstvolle Anordnung aller einzelnen Steine. Nimmt man einzelne Steine heraus, so besteht die Gefahr, daß die ganze Konstruktion zusammenbricht. Unter Umständen – aber man weiß nie genau, welche das sind – reichen wenige Abweichungen aus, um auch ein System von kooperativen Handlungen zum Wanken zu bringen. Die – ausnahmslose – Befolgung der Regel ist also nicht so sehr wichtig für den dadurch eingebüßten Nutzen der Einzelhandlung, sondern wegen der Gefährdung des gesamten Systems. Das „öffentliche“ Interesse an der Beachtung von Regeln der Kooperation ist also auch unabhängig von der Internalisierung und intellektuell einsehbar: Wenn die Akteure erkennen, daß ihre gesamte Wohlfahrt nicht so sehr von den einzelnen Handlungen abhängt, sondern davon, daß das Regelsystem seine unbedingte Geltung behält, dann werden sie an dem Erhalt der Regeln selbst ein hohes Interesse entwickeln. Die drohenden Folgen eines Verfalls der Regeln als System verwandelt das Prisoner’s Dilemma im Hintergrund der ganzen Angelegenheit offenbar in ein Chicken Game: „ ... without justice, society must immediately dissolve, and every one must fall into that savage and solitary condition, which is infinitely worse than the worst situation that can possibly be suppos’d in society.“ (Hume 1967, S. 497; Hervorhebungen nicht im Original)
15
David Hume, Enquiries Concerning Human Understanding and Concerning the Principles of Morals, 3. Aufl., Oxford 1975, S. 305; vgl. Lahno 1995, S. 258ff.
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Der Erhalt der betreffenden Ordnung als Gesamt-System wird auf diese Weise zum Selbstzweck – unabhängig von den unmittelbaren Handlungskonsequenzen: „But however single acts of justice may be contrary, either to public or private interest, ‘tis certain, that the whole plan or scheme is highly conducive, or indeed absolutely requisite, both to the support of society, and the well-being of every individual.“ (Ebd.; Hervorhebung nicht im Original)
Dieses massive Interesse am „System“ der Regeln insgesamt, an der kompletten „Verfassung“ der Gesellschaft also, ist schließlich die Grundlage für die Entstehung der moralischen Gefühle und der emotionalen Identifikation. Moral – so könnte man folgern – ist ein generalisiertes Interesse, begründet auf einem „System“ einer unübersehbaren Vielzahl massiver Folgen schon durch den Akt der Regelverletzung „an sich“. Praxis Damit sind wir bei der Frage angelangt, wie dieses System der Konsequenzen entstehen kann, auf dem die moralische Bewertung der Regeln der Kooperation beruht. Es ist die Frage danach, wie eine Praxis der Kooperation entstehen kann – zunächst ganz ohne Regeln und moralische Verpflichtung. David Hume hat hierzu auch ein instruktives Beispiel gefunden: Zwei Ruderer in einem Boot, die von einem Ufer zum anderen kommen wollen. David Hume meint, daß sie sich dabei gemeinsam anstrengen, einfach weil sie sich darüber spontan geeinigt haben – ohne jedes Versprechen (Hume 1967, S. 490). Die Angelegenheit ist aber komplizierter. Denn beim Rudern kann natürlich jeder versuchen, seine eigene Anstrengung so gering wie möglich zu halten. Einerseits wäre es nett, wenn der andere sich anstrengt. Andererseits möchte ich nicht wieder der Dumme sein, der den anderen mitzieht. Das hat zur Folge, daß beide nur langsam ans andere Ufer kommen. Es ist offenbar schon wieder klar: Auch die beiden Ruderer 1 und 2 befinden sich in einem Gefangenendilemma mit den folgenden Auszahlungen für die betreffenden Strategiekombinationen von „Anstrengung“ A und „Hängenlassen“ H (Abbildung 5.5a):16
16
Vgl. auch die Rekonstruktion des Beispiels bei Lahno 1995, S. 156f. und bei Hummell 1991, S. 92.
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Soziale Ordnung
a. Variante 1
b. Variante 2 Ruderer 2
Ruderer 2
A
A
H
3,3
1,4
Ruderer 1
A
H
A
3,3
0,0
H
0,0
2,2
Ruderer 1 H
4,1
2,2
Abb. 5.5: Zwei Ruderer im Boot
Aber stimmt das wirklich? Anders als im üblichen Gefangenendilemma können sich die beiden Ruderer ja gegenseitig beobachten. Und sie befinden sich in einer kontinuierlichen Sequenz ihres Tuns. Jeder kann jederzeit sein Verhalten ändern. Und so können sie sich gegenseitig zu einer „bedingten“ Kooperation bringen: Wenn Du richtig mitruderst, dann tue ich das auch. Wenn Du Dich aber hängen läßt, dann werde ich mich auch nicht mehr anstrengen. Damit entfällt die Furcht vor der einseitigen Ausbeutung. Und infolgedessen werden die Strategiekombinationen AH und HA bald nicht mehr in Frage kommen – sofern die beiden Akteure das Ziel haben, ans andere Ufer zu gelangen. Diese Situation läßt sich dann wie in Abbildung 5.5b zusammenfassen. Das „Dilemma“ der beiden Ruderer verwandelt sich durch ihre wechselseitige Beobachtbarkeit und die Iteration ihres Handelns offenbar zu einem einfachen Problem der Koordination: Es geht nur noch um die Kombinationen A,A oder H,H. Dabei sind aber die Interessen eindeutig: Beiderseitiges Rudern mit großer Anstrengung (vgl. dazu auch noch Abschnitt 10.1 über „Die Transaktion des Tausches“ in diesem Band). Das Beispiel zeigt, wie auch in an sich problematischen Situationen Konventionen entstehen können. Konventionen sind noch keine Versprechungen. Letztere sind ja auch nicht nötig, weil die Akteure sich wechselseitig korrigieren können. Eine Konvention entsteht aus der wechselseitigen Beobachtung und Anpassung des Verhaltens – etwa der Beachtung von Eigentumsrechten: „I observe, that it will be for my interest to leave another in the possession of his goods, provided he will act in the same manner with regard to me. He is sensible of a like interest in the regulation of his conduct. When this common sense of interest is mutually express’d, and is known to both, it produces a suitable resolution and behaviour.“ (Hume 1967, S. 490; Hervorhebung im Original)
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Mit der Beobachtung der so koordinierten Praxis verbreitet sich unter den Akteuren ein Wissen: das Wissen über die gemeinsamen Interessen, der „common sense of interest“. Und jede mit diesem Wissen übereinstimmende Handlung bestärkt das Wissen über diese Gemeinsamkeit und darüber dann die Konvention aufs Neue. Eine einmal als wechselseitig beobachtbares gemeinsames Tun begonnene Praxis ist dann die Grundlage für alles Weitere: Das Wissen um die Gemeinsamkeit der Interessen, die Entstehung einer einfachen Konvention über das kooperative Handeln, die Überführung der Konvention in eine allgemeine Regel, die Ausbildung eines eigenständigen Interesses am Erhalt der Regel als „System“ und schließlich die moralische Identifikation mit der Regel. Die moralische Verankerung der Regel trägt dann selbst wieder zur Verbreitung und Verfestigung der Praxis bei – bis ein gleichgewichtiges und abgestimmtes System der kooperativen Praxis und der moralischen Gefühle entstanden ist, in dem sich die Akteure auch in ihren Interessen wiederfinden. Der Hintergrund bei alledem bleibt freilich stets das Interesse an den Früchten der Kooperation. Verfällt dieses „materielle“ Interesse im Hintergrund der eingelebten Praxis – etwa weil es Alternativen zur betreffenden Lebenswelt gibt, auf der die kooperative Praxis beruht –, dann wird über kurz oder lang auch alles andere versinken. Es ist nun einmal so: Erst kommt das (materielle) Interesse und dann die (konstitutionelle) Moral. Hobbes und Hume – oder: die Notwendigkeit des Staates Anders als Thomas Hobbes kann David Hume sich die soziale Ordnung leicht auch ohne Staat vorstellen. Auch ein übergreifendes Wertesystem bzw. eine unbedingte Moral müssen nicht vorausgesetzt werden: Sie sind nicht die Ursache, sondern die Folge der Interessen der Akteure an einer Kooperation, und sie entwickeln sich über eine allmähliche Praxis und die darauf aufbauenden Konventionen. Seine Ideen nehmen viele Einzelheiten der neueren spieltheoretischen Erklärungen für die Evolution der Kooperation vorweg. Er ist wirklich einer der ganz Großen der Gesellschaftswissenschaften. David Hume läßt allerdings keinen Zweifel daran, daß die endogene Erklärung der sozialen Ordnung an gewisse soziale Bedingungen geknüpft ist: Die Entstehung von Konventionen über die wechselseitige Beobachtbarkeit des Handelns und über die Abhängigkeit der Akteure vom Gelingen der Kooperation sind nur denkbar in relativ kleinen, überschaubaren und stabilen Gesellschaften – in „Lebenswelten“ also, wie Jürgen Habermas sie so träumerisch beschreibt. David Hume wußte ganz genau, daß die endogen stabilisierte Organisation
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der Ordnung auf Schwierigkeiten stößt, wenn die Gesellschaft immer größer wird: „Two neighbours may agree to drain a meadow, which they possess in common; because ‘tis easy for them to know each others mind; and each must perceive, that the immediate consequence of his failing in his part, is the abandoning the whole project. But ‘tis very difficult, and indeed impossible, that a thousand persons shou’d agree in any such action; it being difficult for them to concert so complicated a design, and still more difficult for them to execute it; while each seeks a pretext to free himself of the trouble and expence, and wou’d lay the whole burden on others.“ (Ebd., S. 538; Hervorhebung nicht im Original)
Die spontane Ordnung ist eine Frucht der kleinen und isolierten Gruppe und der Abhängigkeit der Menschen voneinander (vgl. dazu auch noch Kapitel 7 in diesem Band). Nicht überall geht es aber so zu wie in der Steinzeit oder wie bei den beiden Ruderern im Boot bei David Hume. Die bildeten in der Tat eine kleine und gleichzeitig isolierte Gruppe mit einem hohen Kooperationsgewinn und mit einer guten Zurechenbarkeit der Leistungen – und fanden deshalb leicht aus dem Dilemma der antagonistischen Kooperation heraus. Die modernen Gesellschaften sind aber alles andere als klein und isoliert. Dort könnte jedermann in das Meer der Anonymität abtauchen und die anderen rudern lassen. Und deshalb läßt sich die Lösung der spontanen Ordnung eben nicht ohne weiteres auf große Gesellschaften mit exit-Möglichkeiten für deren Mitglieder übertragen. Kurz: Die Art der Ordnung, die in kleinen Lebenswelten entsteht, reicht nicht aus, um die Systeme der großen und komplexen Gesellschaften zu integrieren. Es müssen andere, „systemintegrierende“ Mechanismen hinzutreten. Und eine davon ist in der Tat der Staat. Thomas Hobbes hatte mit seiner Idee vom Leviathan tatsächlich auch nur an Großgesellschaften gedacht – und hatte deshalb mit seiner Analyse auch so Unrecht nicht. David Hume dachte nicht nur an große Gesellschaften. Auch er findet aber, daß die Evolution der Kooperation in Großgesellschaften schwieriger wird, und daß diese deshalb stets eines Staates bedürfen. Das ist für ihn aber kein Leviathan, sondern einzig jene „unbedingte“ und verläßliche Versicherung, die nötig ist, damit niemand sich alleine vor der einseitigen Ausbeutung schützen muß. Und das heißt: Der Staat – wie David Hume sagt: „the persons, whom we call civil magistrates, kings and their ministers, our governors and rulers“ – muß nur dafür sorgen, daß jene Regeln auch Beachtung finden, die zuvor ihre Grundlage in den moralischen Gefühlen, in der wechselseitigen Abhängigkeit und in der Beobachtbarkeit und Zurechenbarkeit des Handelns der Akteure im Alltag der kleinen Lebenswelten hatten. Er muß – kurz gesagt – ein verläßliches Gegengewicht gegen die Fallen des Opportunismus und gegen die Furcht vor der Ausbeutung bilden.
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Der Staat hat – auch als milder Leviathan – einen gewichtigen Vorteil gegenüber anderen Akteuren: Er ist autonom und kann so ganz im Interesse des Ganzen handeln, das, davon geht Hume jedenfalls aus, sowieso das Interesse der civil magistrates, kings, ministers, governors und rulers ist. Im Anschluß an das oben zitierte Beispiel der Nachbarn, die ihre Wiese bewässern wollen, meint David Hume dann auch: „Political society easily remedies both these inconveniences (die Furcht vor Ausbeutung und die Versuchung des Opportunismus; HE). Magistrates find an immediate interest in the interest of any considerable part of their subjects. They need consult no body but themselves to form any scheme for the promoting of that interest. ... Thus bridges are built; harbours open’d; ramparts rais’d; canals form’d; fleets equip’d; and armies disciplin’d; every where, by the care of government, ... , by one of the finest and most subtle inventions imaginable, a composition, which is, in some measure, exempted from all these infirmities.“ (Hume 1967, S. 538f.; Hervorhebung nicht im Original)
Kurz: Der Staat muß nur jene Verdünnung des Vertrauens ausgleichen, die dadurch entsteht, daß sich die Menschen in großen Gruppen nicht mehr unmittelbar beobachten und korrigieren können und daß sie nicht mehr so ganz voneinander abhängig sind. Und der Staat kann das auch: Er selbst bedarf bei seinem Handeln dieser Versicherung nicht, da er souverän ist und deshalb keinen Gegen-„Spieler“ hat.
5.5
Die Ordnung komplexer Gesellschaften
Sowohl bei Thomas Hobbes wie bei David Hume bleibt der Staat aber immer eine exogene Lösung des Problems der sozialen Ordnung. Das eigentliche theoretische Problem ist damit jedoch nicht gelöst: Wie kann es in großen und komplexen Gesellschaften zu einer stabilen und pareto-optimalen Ordnung kommen – auch ohne Staat und Leviathan? Die Soziologie und die Ökonomie haben diese Frage ganz unterschiedlich beantwortet. Das lag daran, daß jeweils auf unterschiedliche Aspekte des Problems gesehen wurde. Die – oben ausführlich besprochenen – Schwierigkeiten bei der Einhaltung von Versprechungen und Verträgen zwischen rationalen Egoisten ist das Problem, das Emile Durkheim bei seiner Analyse des Problems der Arbeitsteilung und bei seiner Kritik an Herbert Spencer im Auge hatte. Adam Smith sah etwas anderes: die den Akteuren ins Auge springenden Vorteile der Spezialisierung und des kooperativen Tausches.
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Im Streit über jene „Zwei Formen der Arbeitsteilung“17 haben sich im 19. Jahrhundert die Gesellschaftswissenschaften in zwei durchaus feindliche Lager gespalten: die Ökonomie in der Tradition von Adam Smith und die Soziologie in der von Emile Durkheim. Herbert Spencer und David Hume waren – sozusagen – jeweils im falschen Fach. Die Ökonomie glaubt(e), daß es zur Arbeitsteilung und für andere Formen des kollektiven wirtschaftlichen Handelns keines solchen besonderen Rahmens bedürfe. Keine Moral und kein Gesellschaftsvertrag – und erst recht kein Staat – sind nötig. Sie behindern nur das freie Spiel der schöpferischen Kräfte des nutzenorientierten Handelns, führen zu Fehlallokationen und geben unproduktive Anreize zum Klüngeln, zum rent seeking und zur Bestechlichkeit. Kurz: Die Gesellschaft ist in dieser Sicht ein gigantischer Markt, der seine Ordnung aus der Vielzahl der Einzelbeziehungen von Anbietern und Nachfragern bezieht, die sich zueinander in vollständiger Konkurrenz befinden. Das Risiko der Spezialisierung haben sie nicht, weil Märkte unter diesen Bedingungen nur ein Spiel gegen die Natur und keine strategische Situation sind: Die Petersilienfrau auf dem Wochenmarkt kann (fast) sicher sein, daß sie Kunden finden wird, und daß die sie nicht aus strategischen Gründen auf ihren Petersilien sitzen lassen werden. Und außerdem erzieht der Markt die Akteure auch in gewisser Weise: Nur wer sich fair und der Markt„ordnung“ gemäß verhält, kann auf wirklichen und verläßlichen Gewinn hoffen.18 Die Soziologie war und ist da ganz anderer Ansicht: Ohne Werte, ohne Moral, ohne Bindung an etwas, das nicht dem bloßen Interesse ausgeliefert ist, ist der Gute immer der Dumme. Auf den Staat als Retter will sie auch nicht setzen. Ohne einen unhintergehbaren Rahmen gibt es aber für sie grundsätzlich keine soziale Ordnung, sondern nur den Krieg der widerstreitenden Interessen, die Ausbeutung der Gutmütigkeit und das Lügen und Betrügen in der Ellenbogengesellschaft.19 In der – vorgeblich zwangsläufigen – Ausblendung der moralischen Dimension sahen Emile Durkheim und später Talcott Parsons den grundlegenden Fehler eines jeden Versuches, das Handeln der Menschen und die Ordnung der Gesellschaft in der Tradition des von ihnen so 17
18
19
Vgl. zu dieser doppelten Bedeutung des Problems der Arbeitsteilung: Michael Schmid, Arbeitsteilung und Solidarität. Eine Untersuchung zu Emile Durkheims Theorie der sozialen Arbeitsteilung, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 41, 1989, S. 631ff. Vgl. dazu Michael Baurmann und Hartmut Kliemt, Zur Ökonomie der Tugend, in: Ökonomie und Gesellschaft, Jahrbuch 11: Markt, Norm und Moral, Frankfurt/M und New York. 1995, S. 27ff.; Michael Baurmann, Der Markt der Tugend. Recht und Moral in der liberalen Gesellschaft. Eine soziologische Untersuchung, Tübingen 1996, insbesondere Teil III: Der Markt der Tugend. Vgl. dazu etwa Johannes Berger, Warum arbeiten die Arbeiter? Neomarxistische und neodurkheimianische Erklärungen, in: Zeitschrift für Soziologie, 24, 1995, S. 416ff.
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genannten Utilitarismus zu erklären (vgl. dazu noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Talcott Parsons beginnt sein epochales, gegen die vorgebliche moralische Blindheit des Utilitarismus geschriebenes Buch über die „Structure of Social Action“ aus dem Jahre 1937 so auch mit dem Zitat eines gewissen Professors Brinton, der in seiner Abhandlung über „English Political Thought in the Nineteenth Century“ triumphierend gefragt hatte: „Who now reads Spencer?“. Und Talcott Parsons fügt – nicht weniger triumphierend – das Urteil hinzu: „Spencer is dead.“20 Warum aber ist Herbert Spencer nach Ansicht von Talcott Parsons wissenschaftlich tot? Die Antwort: Weil der in seiner Naivität, daß die unsichtbare Hand schon alles zum Besten richten werde, an der Entwicklung der Gesellschaften wie der Gesellschaftstheorie gescheitert sei: Die Gesellschaft ist eben nicht als ein gigantischer Markt des bloß utilitaristischen Handelns denkbar, der sein Gleichgewicht schon von alleine aus dem freien Spiel der Interessen findet. Ohne einen übergreifenden Rahmen der Solidarität und der Orientierung an gemeinsamen Werten, ohne Werte, ohne Moral gibt es nur den Krieg aller gegen alle – die Anomie. Die Gesellschaft ist damit eine Art von zentral gesteuerter Organisation mit einem für alle letztlich bindenden kollektiven Ziel unter einer von allen anerkannten Verfassung, die die Einzelinteressen zu moralischen Verpflichtungen zusammenfaßt und erst so – und eben nicht „spontan“ – gegen die pareto-inferioren Versuchungen und Befürchtungen zu einem guten Ende führt. Die Durkheimsche Fassung des Problems der Arbeitsteilung ist der wichtigste Aspekt der Fachidentität der klassischen Soziologie gewesen. Ihr Kern ist die Kritik an der Annahme des rationalen Egoismus der Menschen. Talcott Parsons hat darauf aufgebaut. Das Vorbild dieser Konzeption der Gesellschaft als Organisation mit einem übergreifenden Ziel, einem gemeinsamen Wissen und einer Verpflichtung auf das übergreifende Ziel waren die einfachen Stammesgesellschaften und die militärischen Hierarchien der Feudalgesellschaften Alteuropas. Emile Durkheim – und mit ihm die gesamte sog. strukturfunktionale Soziologie – glaubte aber, daß das Bild von der Gesellschaft als moralische Organisation grundsätzlich für alle Typen der Gesellschaft, auch für die „industriellen“, modernen, arbeitsteilig organisierten Gesellschaften, zutreffe. Der Rahmen, unter dem sich die modernen arbeitsteiligen Gesellschaften organisieren, ist für ihn dann zwar nicht mehr die mechanische Solidarität der einfach segmentierten Stammesgesellschaften, wohl aber immer noch eine organische Solidarität aus dem Wissen über die Verbundenheit in der Arbeitsteilung und aus der moralischen Einheit in der Verschiedenheit des Wertes eines „Kultes der Individualität“.
Herbert Spencer und seine „mutualistische“ Theorie der arbeitsteiligen Differenzierung ist mit der Idee von der spontanen Evolution der Kooperation auch 20
Talcott Parsons, The Structure of Social Action. A Study in Social Theory with Special Reference to a Group of Recent European Writers, Band 1: Marshall, Pareto, Durkheim, New York und London 1937, S. 1.
Soziale Ordnung
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von rationalen Egoisten deutlich wieder aufgelebt. Auf der anderen Seite sehen mehr und mehr die Ökonomen selbst den homo oeconomicus und die einfache Markttheorie in der Klemme. Und die Frage, die die Ökonomie und die Soziologie so entzweit (hat), ist nach wie vor aktuell – und ungelöst: Sind für das Funktionieren auch großer, komplexer, arbeitsteilig organisierter, moderner Gesellschaften übergreifende Instanzen – Moral oder Staat – nötig? Oder ist soziale Ordnung allein schon aus dem freien Spiel des Marktes und aus der bloßen Konvergenz der Interessen möglich? Inzwischen sind die feindlichen Lager in dieser Frage wieder deutlich in Begegnung und in Bewegung gekommen. Die Soziologie in der Tradition von Emile Durkheim und Talcott Parsons hat beispielsweise übersehen, daß die Moral selbst ein Gut ist, an dem die Menschen auch materiell interessiert sein müssen und das ihnen nicht zu teuer zu stehen kommen darf. Mit dem Problem der Rollenkonflikte und der Schwierigkeit, für funktional differenzierte Gesellschaften einen übergreifenden Werterahmen zu finden, ist sie nicht fertiggeworden. Aber natürlich gibt es weiter Soziologen, die an die Bedingung des moralischen Konsenses glauben. Jürgen Habermas gehört mit seiner Theorie des kommunikativen Handelns dazu. Er überträgt offenbar die Ideen etwa von David Hume über die self enforcing moralische Kraft der überschaubaren Verhältnisse dort auf die Bestandsbedingungen auch der komplexen Großgesellschaften. Es mehren sich aber auch in der Soziologie die Stimmen, die da glauben, daß die Annahme eines Wertekonsenses für das Funktionieren komplexer Gesellschaften weder möglich, noch nötig sei. Die soziologische Systemtheorie von Niklas Luhmann gehört zu diesen Stimmen: Gesellschaften „prozessieren“ als soziale Systeme, aber sie werden dabei nicht durch Konsens zusammengehalten. Sondern: durch generalisierte Medien, durch „Verfahren“ und durch die „Überkreuzung der Konfliktfronten“ (vgl. dazu schon Kapitel 6 in Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Das aber sind nur andere Ausdrücke für spontane Ordnung, vollständige Konkurrenz und Systemintegration ganz ohne Wertkonsens.
Anders als die sog. neoklassische Ökonomie dachte die klassische Ökonomie um Adam Smith und David Hume wie selbstverständlich an Vorgänge, die den – an sich ja nicht verdammenswerten – Egoismus der Menschen schon von „Natur“ aus eindämmen: die Sympathie, die moralischen Gefühle, das Interesse an einer dauerhaften Kooperation, das Interesse an einem Ruf der Verläßlichkeit und das Bestehen einer schon eingespielten Praxis des Alltagshandelns. Die Ökonomie nach Adam Smith und David Hume hat dagegen den ganz und gar „individualistischen“ homo oeconomicus für selbstverständlich angesehen – und dabei übersehen, wie sehr Märkte und Verträge auch von nicht-ökonomischen Umständen abhängig sind. In der neueren, nach-neoklassischen Ökonomie erinnert man sich – angestoßen durch zahllose Beobachtungen des Marktversagens und der Unvollständigkeit von Verträgen – hingegen mehr und mehr daran, was Adam Smith implizit stets und explizit in seinem zweiten großen Werk – der „Theory of Moral Sentiments“21 – angenommen hatte: Märkte und Verträge sind immer eingebettet in institutionelle Strukturen und Netzwerke sozialer Beziehungen und in die da21
Adam Smith, The Theory of Moral Sentiments, Oxford 1976b (zuerst: 1759).
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Soziales Handeln
durch verstärkten moralischen Gefühle der Menschen. Die sog. Institutionenökonomie um Oliver E. Williamson oder Douglass C. North knüpft an diese Gedanken der Schottischen Moralphilosophie an (vgl. dazu noch Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Von seiten der neueren Soziologie hat Mark Granovetter die Ökonomie und die ökonomistisch gesonnenen Soziologen an diese Bedingung der „embeddedness“ ökonomischer Beziehungen erinnern müssen.22
Es sieht derzeit also durchaus so aus, als könnten Ökonomie und Soziologie und die Perspektiven von Interesse und Moral wieder in einer Theorie des sozialen Handelns und einer solchen von Wirtschaft und Gesellschaft zusammenfinden. Bei Thomas Hobbes, Adam Smith und David Hume kann man im Umriß schon sehen, wie das gehen könnte. Zuvor aber werden wohl noch einige heilige Kühe zu schlachten sein. Auf beiden Seiten.
22
Oliver E. Williamson, Markets and Hierarchies: Analysis and Antitrust Implications, London und New York 1975; Douglass C. North, Institutions, Institutional Change and Economic Performance, Cambridge u.a. 1990; Mark Granovetter, Economic Action and Social Structure: The Problem of Embeddedness, in: American Journal of Sociology, 91, 1985, S. 481-510.
Kapitel 6
Kooperation und Produktion
Manche Güter, die für die Menschen besonders interessant und wichtig sind, lassen sich nur in Gemeinsamkeit oder in Kooperation mit anderen Akteuren erstellen oder konsumieren. Und das hat unter Umständen – meist. unbeabsichtigte – Auswirkungen auf andere Akteure. Und die Folge: Wer an einem solchen Gut interessiert ist, muß sich auf eine soziale Situation und auf die Komplexitäten und Kontingenzen des sozialen Handelns einlassen. Die Verbindung eines Gutes zu einer typischen sozialen Situation ist dabei keine bloß gesellschaftlich „konstruierte“, sondern meist schon eine objektive technische Eigenschaft der betreffenden Produktionsfunktion für den Nutzen, den das Gut stiften kann. Zum Beispiel: Eine Currywurst gegen den schnellen Hunger kann ich zwar noch genußvoll ganz alleine verzehren, einen geselligen Abend unter Freunden kann ich mir – bis zum endgültigen Ausbruch der Schizophrenie wenigstens – aber nicht alleine bereiten. Ein als Achter ausgelegtes Ruderboot müssen mehrere Ruderer koordiniert bedienen. Einen Hobbyclub kann man nicht alleine aufmachen. Die OPEC muß alle Ölproduzenten zur Einhaltung des Kartells bewegen, wenn sie den Preisverfall des Öls stoppen möchte. Und Klassenbester kann ich nur werden, wenn es eine Schulklasse gibt, in der ich Mitglied bin und es den anderen zeigen kann.
Geselligkeit, ein Sieg im Achter, eine Hobbygemeinschaft, ein Preiskartell, die Position des Klassenprimus sind sämtlich Güter, die den Akteuren etwas bedeuten. Durch ihre technischen Eigenschaften entstehen objektive Verbindungen zwischen ihnen und typischen sozialen bzw. strategischen Situationen. Diese technischen und sozialen Eigenschaften der Güter strukturieren – zusammen mit dem Interesse an ihnen – die Beziehungen der Menschen zueinander: Ob sich die Menschen verbunden fühlen oder im Konflikt zueinander stehen – zum Beispiel. Daran allein liegt es, ob sich die Menschen hassen oder lieben, ob sie einander trauen oder sich die Butter auf dem Brot nicht gönnen (vgl. dazu bereits Abschnitt 4.3 und Kapitel 10 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
166
6.1
Soziales Handeln
Eigenschaften von Ressourcen
Bei allen Ressourcen und Gütern treten drei grundlegende Probleme auf. Erstens: Wie werden sie produziert? Zweitens: Wie werden sie für den Konsum zugeteilt, wenn es sie einmal gibt? Drittens: Haben Produktion und Konsumtion Auswirkungen auf andere Akteure? Die Lösung dieser Probleme – das der Produktion, das der Allokation und das der externen Effekte – hat mit den Bedingungen zu tun, die in die betreffenden sozialen Produktionsfunktionen eingehen. Beispielsweise kann nur ein hinreichend großer Verein sich ein schickes Vereinshaus leisten. Aber je mehr Mitglieder ein Verein hat, um so mehr Personen müssen sich das Vereinshaus teilen, so daß der Ertrag für den Einzelnen sich mit der Anzahl der Mitglieder wieder verringert (vgl. dazu noch das Konzept des Clubgutes in Abschnitt 6.2.3.3 gleich unten in diesem Band). Die technischen und sozialen Umstände der Produktion, der Allokation und der externen Effekte spiegeln sich in typischen Konstellationen von einigen grundlegenden Eigenschaften der Güter wieder.1 Die wichtigsten dieser Eigenschaften sind die Teilbarkeit, die Ausschließbarkeit und die Rivalität. Unter Teilbarkeit wird dabei jene Eigenschaft verstanden, daß bei der Konsumtion eines Gutes durch eine Person das betreffende Gut anderen Akteuren nicht mehr zur Verfügung steht: Ein Brötchen, das ich aufesse, kann niemand anderes mehr verzehren. Entsprechend gibt es auch unteilbare Güter. Sie haben die Eigenschaft der jointness of supply. Das sind solche Güter, deren Konsum durch die eine Person die Verfügbarkeit des Gutes für andere Akteure nicht beeinträchtigt: Der Genuß eines friedvollen Sonntagmorgens wird nicht dadurch beeinträchtigt, daß auch die anderen die Ruhe gerade erleben. Die Ausschließbarkeit eines Gutes bedeutet, daß die Kontrolle über das Gut und seine Konsumtion – ist es einmal produziert – auf bestimmte Akteure beschränkt werden kann. Das gilt etwa wieder für ein Brötchen: Mit dem Erwerb ist das Eigentum daran auf den Käufer übergegangen. Es steht jetzt anderen Interessenten nicht mehr zur Verfügung. Natürlich gibt es auch Güter, die nicht ausschließbar sind. Der friedvolle Sonntagmorgen gehört wieder dazu: Wenn es ihn gibt, dann können alle daran teilhaben. Man spricht auch von der impossibility of exclusion. Die Eigenschaft der Rivalität – die rivalness – bedeutet, daß der Wert des Gutes für einen Akteur auch davon abhängt, wieviel andere Akteure es auch noch unter Kontrolle haben. Daß auch andere den friedvollen Sonntagmorgen genießen, interessiert mich normalerweise nicht weiter. Anders sieht das für das Mitglied des Eliteclubs aus: Wenn Kreti und Pleti ihm angehören, dann habe ich nicht mehr viel davon.
1
Vgl. zu den technischen sozialen Besonderheiten von Ressourcen und Gütern u.a.: James S. Coleman, Foundations of Social Theory, Cambridge, Mass., und London 1990, S. 33f.; Michael Taylor, The Possibility of Cooperation, Cambridge u.a. 1987, S. 5ff.; Russell Hardin, Collective Action, Baltimore und London 1982, S. 17ff.
Kooperation und Produktion
167
Über die Eigenschaften der Teilbarkeit und der Ausschließbarkeit wird eine erste Unterscheidung möglich – die zwischen Privatgütern und sozialen Gütern (vgl. zu den verschiedenen Güterarten noch Abschnitt 6.2 und 6.3 gleich unten in diesem Band ausführlich): Privatgüter sind perfekt teilbar und ausschließbar. Die Nutzenproduktion mit ihnen kann – etwa über ihren Konsum – in der Einsamkeit einer parametrischen Situation erfolgen. Die sozialen Güter haben mindestens eine dieser beiden Eigenschaften dagegen nicht. Das läuft in der Regel auf irgendeine Form einer strategischen Situation hinaus: ein Koordinationsproblem, eine Dilemmasituation oder ein Konflikt. Die Eigenschaften der (Un-)Teilbarkeit und der (Nicht-)Ausschließbarkeit können sich natürlich auch mischen. Es gibt Güter, die unteilbar, aber ausschließbar sind – wie etwa eine Brücke, für die ein Wegezoll erhoben werden kann. Und es gibt Güter, die teilbar, aber nichtausschließbar sind – wie die Blumen in einem Vorgarten, die jeden erfreuen, der vorbeikommt, aber auch einzeln abgeschnitten werden könnten.
Mit der Eigenschaft der Rivalität kommt in die Güter ein Konfliktelement hinein. Privatgüter sind – ebenso wie die sog. Positionsgüter (vgl. speziell dazu Abschnitt 6.2.4 gleich unten in diesem Band) – perfekt rivalisierend: In dem Maße wie sie ein Akteur konsumiert, mindert sich der Nutzen für einen anderen Akteur. Fast immer ist die Eigenschaft der Rivalität mit der Größe der Gruppe verbunden, die sich ein Gut teilt: Je mehr beteiligt sind, um so weniger Wert hat das Gut dann noch für den Einzelnen. Das gilt etwa für gute Noten oder für einen Wanderweg durch eine „unberührte“ Landschaft. Die Emotionen des Neides oder der Mißgunst können Güter auch unabhängig von der Gruppengröße mit Rivalität belegen. Neben der Teilbarkeit, der Ausschließbarkeit und der Rivalität gibt es noch eine Reihe anderer Eigenschaften, die wir hier nur erwähnen (vgl. Coleman 1990, S. 34). Dazu gehört einmal die Veräußerlichkeit des Gutes. Das bedeutet, daß die Kontrolle über eine Ressource – beispielsweise: Geld oder ein Besitzrecht – an andere Akteure übertragen werden kann. Menschenrechte wären aber zum Beispiel Ressourcen, die – in bestimmten Gesellschaften jedenfalls – nicht einfach übertragbar sind oder abgegeben werden können. Sie sind „unveräußerlich“. Diese Eigenschaft haben sie aber nicht von „Natur“ aus, sondern aufgrund bestimmter Regeln, die in der Gesellschaft gelten und stets neu durchgesetzt werden müssen. Eine weitere Eigenschaft ist die sog. Erhaltung. Sie hat damit zu tun, daß eine Ressource sich bei Verbrauch um einen bestimmten Anteil verringert, der dann zum Verbrauch nicht mehr zur Verfügung steht. Dies gilt für die üblichen Konsumgüter: Mit dem Verzehr eines Bissens vom Brötchen ist es kleiner geworden. Bestimmte, strategisch nicht weiter wichtige, Informationen beispielsweise haben diese Eigenschaft nicht, weil sie im Prinzip als Ressource ungeschmälert auch dann zur Verfügung stehen, wenn sie von einigen Akteuren bereits „kontrolliert“ werden. Deshalb gibt es zum Beispiel Vorlesungen. Sie verlieren – oder gewinnen! – kaum an Wert, wenn sie jemand schon gehört hat. Mit dem Übertragungstermin ist gemeint, daß bestimmte Ressourcen in einer Transaktion nicht sofort übertragen werden können oder aber erst später lieferbar sind. Bei Transaktionen mit solchen Gütern tritt ein Problem des Vertrauens und der Absicherung der Transaktion auf, wie wir es beispielsweise bei den bei-
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Soziales Handeln
den Bauern im Erntehilfebeispiel bei David Hume gesehen haben (vgl. dazu noch Kapitel 10 in diesem Band ausführlich).
Die genannten Eigenschaften der Teilbarkeit, der Ausschließbarkeit und der Rivalität haben insbesondere mit den Wirkungen der Güter auf andere Akteure zu tun, den sog. externen Effekten, auch Externalitäten genannt.2 Der private Konsum eines Brötchens hat soweit keine externen Effekte. Ist das Brötchen aber mit Tilsiter belegt, und findet der Konsum in einem besetzten Zugabteil statt, dann entfaltet auch das als Privatgut verzehrte Brötchen – hier: massive – externe Effekte. Man unterscheidet negative und positive Externalitäten. Negative Externalitäten sind die Nutzeneinbußen der anderen Akteure durch den Konsum bzw. die Produktion des Gutes: Wer Tilsiter nicht mag, fühlt sich beeinträchtigt. Positive Externalitäten sind entsprechend Nutzengewinne bei anderen: Die von mir gepflanzten Blumen im Vorgarten erfreuen nicht nur mich alleine, sondern auch meine Nachbarn und alle, die vorübergehen. Wenn es solche nicht ausschließbaren externen Effekte gibt, dann entwickeln die Akteure typische Interessen – je nachdem, ob sie Erzeuger oder Betroffener eines negativen oder eines positiven externen Effektes sind (vgl. Opp 1983, S. 70f.). Diejenigen, die eine positive Externalität erzeugen, möchten möglichst an dem Zusatznutzen der anderen beteiligt sein. Und die davon Betroffenen möchten möglichst auch weiter kostenfrei die Nutzengewinne beziehen. Die Interessen für die negativen Externalitäten sind genau entgegengesetzt: Die Erzeuger negativer externer Effekte möchten möglichst für die Nutzeneinbußen der anderen nicht herangezogen werden. Die davon Betroffenen möchten dagegen die Externalität beseitigt wissen oder einen Ausgleich für die Nutzeneinbußen erhalten.
Die externen Effekte – und die damit verbundenen Eigenschaften der Güter – erzeugen bei den Verursachern und den Betroffenen unvermeidlicherweise typische Konflikte, die dann auch die Beziehungen und die Stimmungen der Akteure prägen: Das Sein der sozialen Produktionsfunktionen für die die Akteure interessierenden Güter bestimmt deren soziale Beziehungen und ihr Bewußtsein. Kurz: Die „Technik“ der Nutzenproduktion bestimmt auch die Art der sozialen Situation und der Stimmung, in der sich die Menschen dann wiederfinden.
6.2
Güterarten
Vier Arten von Ressourcen sind für die Strukturierung der Situation und der Beziehungen zwischen den Menschen besonders typisch und wichtig: Privat2
Vgl. zum Begriff der externen Effekte u.a. Karl-Dieter Opp, Die Entstehung sozialer Normen. Ein Integrationsversuch soziologischer, sozialpsychologischer und ökonomischer Erklärungen, Tübingen 1983, S. 67ff.
Kooperation und Produktion
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güter, Kommunalgüter, Kollektivgüter und Positionsgüter. Teilweise haben wir sie oben schon erwähnt. Die Kommunalgüter, die Kollektivgüter und die Positionsgüter bilden zusammen, in Abgrenzung von den Privatgütern, die Klasse der sozialen Güter. Ihre Produktion, Allokation und Konsumtion erfolgt jeweils in typischen Situationen, die durch ihre technischen und sozialen Eigenschaften erzeugt werden (vgl. dazu noch Abschnitt 6.3 gleich unten in diesem Band). 6.2.1 Privatgüter Ein privates Gut ist ein solches, bei dem die Akteure im Moment der Nutzung die alleinige Kontrolle besitzen, das bei einer Übertragung von einem Akteur auf den anderen seine Eigenschaften behält und bei dem mit seiner Nutzung keine externen Effekte erzeugt werden. Es ist ein Extremfall der beiden Eigenschaften der Teilbarkeit und der Ausschließbarkeit: Private Güter sind perfekt teilbar und komplett ausschließbar. Der Musterfall der Nutzenproduktion über ein privates Gut ist der Konsum, wie er in der ökonomischen Nutzentheorie beschrieben wird (vgl. Kapitel 8 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, und Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“): Ein beliebig teilbares Gut – ein nicht gerade mit Butterkäse belegtes Brötchen beispielsweise – wird von dem Konsumenten ohne weitere negative oder positive Folgen für andere zum Zwecke der Bedürfnisbefriedigung verfrühstückt; hier wohl: zur Erzeugung von physischem Wohlbefinden. So „privat“ die Privatgüter auch sein mögen: Gänzlich „asozial“ sind sie keineswegs. Bestimmte Verteilungen von privaten Gütern über die Akteure hinweg erzeugen beispielsweise ein Interesse der Akteure aneinander. Angenommen jemand hat zwei Brötchen privat unter Kontrolle, aber keine Wurst, und jemand anderes verfügt privat über zwei Scheiben Wurst, aber über kein Brötchen. Was läge näher, als daß beide miteinander tauschten: ein Brötchen gegen eine Scheibe Wurst und umgekehrt. Die Beziehung zwischen den beiden Akteuren folgt dann einer typischen Struktur: Jeder hat Interesse an etwas, was er nicht, was aber der andere kontrolliert. Das war die in Abschnitt 5.1 oben in diesem Band ausführlich beschriebene Situation des arbeitsteiligen Tausches zwischen Robinson und Freitag – den Prototypen des einsamen homo oeconomicus. Dieser Fall der Verschränkung von Interesse und Kontrolle über Privatgüter erzeugt ein neues Interesse: das Interesse an einer Transaktion, die auch als Tausch bezeichnet wird, das sog. Transaktionsinteresse. In Kapitel 10 bis 12 in diesem Band werden wir darauf ausführlich zurückkommen und sehen, daß die Transaktion des Tausches alles andere als eine unproblematische, eine „asoziale“ oder gar rein „private“ Angelegenheit ist. Es ist, wie sich das ja schon bei Robinson und Freitag angedeutet hat, letztlich auch wieder ein Fall einer sozialen Dilemmasituation, die einer sozialen Regelung bedarf.
170
Soziales Handeln
Der Konsum von Privatgütern ist von seiner Grundstruktur dagegen ohne Zweifel erst einmal eine ganz und gar „private“ Angelegenheit. Er findet nicht in einer sozialen, sondern in einer parametrischen Situation statt (vgl. zur Terminologie Kapitel 1 in diesem Band). Deshalb gibt es bei den Privatgütern in aller Regel auch keine besonderen „sozialen“ Probleme, wie sie für soziale Situationen meist so unvermeidlich und so typisch sind. 6.2.2 Kommunalgüter Ein Schachspiel gegen einen Computer ist mit Abstand nicht so interessant wie ein solches gegen einen lebendigen Menschen, der sich auch richtig ärgert, wenn er verliert – was den Gewinner dann besonders erfreut. Das einmalige Gefühl nach einem zum Schluß doch noch aus dem Feuer gerissenen Fußballspiel ist kaum zu beschreiben. Es kann – wenn überhaupt – nur entstehen, wenn sich zwei Mannschaften zusammengefunden und für eine gewisse Zeit nur an dem Spiel „an sich“ Interesse entwickelt haben (vgl. dazu oben den Exkurs über das Spiel im Anschluß an Kapitel 2). Und nur ein joint gerauchter Joint ist wirklich ein Joint, der es schafft, daß der Tag wird Dein Freund. Das Erlebnis eines Schachspiels, ein kaum noch geglaubter Sieg im Spiel oder ein joint Joint sind sämtlich Güter, deren Produktion schon technisch nur in der Gemeinsamkeit mit anderen Menschen möglich ist. Sie seien daher als Kommunalgüter bezeichnet. Man könnte sie auch als „Gesellungs“Güter bezeichnen. Das klingt aber etwas zu sehr nach Altertum und Georg Simmel, und deshalb lassen wir das. Andere Beispiele für Kommunalgüter wären das Familienleben; ein geselliges Beisammensein am Abend; der Spaß beim Wettkampf: „it’s more fun to compete“ steht an jedem besseren Flippergerät; das Erlebnis des gemeinsamen Bestehens von Gefahren oder der gemeinsamen Lösung eines verwickelten Problems; das Arbeiten in guten Teams ganz allgemein; besonders aber natürlich die Liebe und all die freudigen Momente, die das Erlebnis der damit verbundenen gemeinsamen sonstigen Aktivitäten zwischen Menschen mit sich bringt, über die wir hier aber nicht näher berichten wollen, weil es nicht der richtige Ort dafür ist.
Kommunalgüter entstehen im geselligen Zusammenwirken von Akteuren. Und sie entstehen nur über den Akt dieses Zusammenwirkens unmittelbar. Die Gemeinsamkeit hat keinen anderen Zweck als die Erzeugung dieses Erlebnisses. Das ist die „Technik“ ihrer Produktion. Jede Fremdbestimmung stört die Nutzenproduktion durch sie. Anders als andere Güter, die auch nur mit anderen Akteuren zusammen erzeugt werden können, wird mit ihnen also nichts weiter als dieses Erlebnis der Gemeinsamkeit „an sich“ beabsichtigt. Deshalb gibt es hier – anders als bei den sog. Kollektivgütern (vgl. dazu Ab-
Kooperation und Produktion
171
schnitt 6.2.3 gleich unten) – auch kein Problem der Allokation der Erträge der Kooperation. Die Kooperation selbst ist schon der Ertrag. Der Weg ist hier schon technisch das Ziel. An Kommunalgütern haben die – meisten – Menschen ein ganz besonders unbändiges Interesse. Spiel und Freizeit und das Verlobungssofa zu Hause sind die üblichen Produktionsorte dafür. Der Hintergrund für dieses Interesse der Menschen an den diversen Kommunalgütern ist eine gut belegte anthropologische Eigenschaft: die anthropologische Gegebenheit der Sozialität – grundlegende Abhängigkeit des Menschen von sozialen Kontakten, vor allem – aber nicht nur! – zur Bedienung seines Bedürfnisses nach sozialer Wertschätzung vor dem Hintergrund seiner Weltoffenheit und seines Bestrebens nach einem positiven Selbstbild. Nichts vermag Menschen mehr zu erfreuen und zu begeistern als der zweckfreie Austausch mit Menschen gleichen Geistes. Georg Simmel hat diese Grundlage des Interesses an Kommunalität – etwas pathetisch formulierend – so beschrieben: „Das wertvollste Objekt für den Menschen ist der Mensch, unmittelbar wie mittelbar.“3
Simmel meint dabei freilich noch etwas anderes als das Interesse an der Kommunalität: Daß der Mensch für den Menschen eigentlich die wertvollste Ressource überhaupt sei und daß daher alle Menschen ein ganz besonderes Interesse entwickeln, „ ... dieses kondensierteste aller Güter, die menschliche Seele, ... “ (ebd., S. 179), in Besitz zu nehmen und zu kontrollieren, und daß sie daher umeinander um ihre Seele konkurrieren. Gemeint ist auch das ganz eigenständige Interesse an der Interaktion mit anderen Menschen – ganz ohne Blick auf andere Ressourcen, Güter oder Interessen. Peter M. Blau hat die Produktionsumstände solcher Glücksgefühle zur Grundlage seiner Theorie sozialer Interaktionen gemacht: „Most human pleasures have their roots in social life. Whether we think of love or power, professional recognition or sociable companionship, the comforts of family life or the challenge of competitive sports, the gratifications experienced by individuals are contingent on actions of others.“4
Beispielsweise gehören zu einem guten Abendessen keineswegs allein die Qualität der Zugaben und die Bequemlichkeiten der Umgebung. Sondern: „Enjoyable as a good dinner is, it is the social occasion that gives it its luster.“ (Ebd.; Hervorhebung nicht im Original) 3
4
Georg Simmel, Soziologie der Konkurrenz, in: Georg Simmel, Schriften zur Soziologie, Frankfurt/M. 1983 (zuerst: 1908), S. 178. Peter M. Blau, Exchange and Power in Social Life, New York, London und Sydney 1964, S. 14.
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Kommunalgüter sind also solche, die nur in Kooperation und Geselligkeit mit anderen Menschen erzeugt werden können und die den Nutzen schon durch den Akt der Kooperation selbst erzeugen – und daher grundsätzlich kein Allokationsproblem kennen. Sie setzen daher – anders als der einsame Konsum der privaten Güter – zwingend das Eintreten in eine soziale Situation der unmittelbaren Begegnung voraus. Mit virtuellen Kontakten im Internet ist es dabei bei weitem nicht getan. Da die Effizienz der Produktion der Kommunalgüter schon technisch vor allem von der persönlichen Wiedererkennung, von der „Identität“ der Akteure also, abhängt und an den speziellen Zeitpunkt ihrer Produktion gebunden ist, sind sie immer nur in personaler „Gemeinschaft“, in partikularer Weise und aktuell konsumierbar. Sie lassen sich deshalb nicht teilen, nicht veräußern, nicht erhalten und auch nicht – oder nur als blasses Surrogat: etwa als Schachspiel gegen einen Computer – übertragen. Solche Kommunalgüter können gerade deshalb einen extrem hohen Wert für die Menschen bekommen: Sie stiften Identität in einer ansonsten überkomplexen Welt. Eine gemeinsame Biographie oder eine intime Freundschaft tun das zum Beispiel. Soziale Wertschätzung wird im Wesentlichen – neben den privaten Gütern der individuellen Ehre und der individuellen Reputation – darüber erzeugt. Und dann wundert es nicht sehr, wenn die Menschen, die dies wissen oder erlebt haben, alles tun, um die Gemeinschaft zu erhalten, die die soziale Grundlage für die Produktion dieses so wertvollen Gutes ist. Andererseits sind die Kommunalgüter nur mit viel Zeitaufwand und bei umfänglicheren sozialen Vorinvestitionen effizient zu erstellen: Sie sind als Instant-Produkt grundsätzlich nicht zu haben. Von daher verwundert es auch nicht, daß mit der Erhöhung der Kosten für die Zeit, die Bereitschaften zur Produktion solcher Kommunalgüter abnehmen, die Attraktivität der leichter teilbaren und zeitlich und sozial unabhängiger konsumierbaren Privatgüter zunimmt und auch der Blick für die Wichtigkeit funktionierender Gruppen-Gemeinschaften – als der sozialen Grundlage für die Produktion von Kommunalgütern – tendenziell verschwindet (vgl. dazu auch noch den Abschnitt 6.2.3.3 gleich unten über die sog. Clubgüter).
Gleichwohl: An den Kommunalgütern haben die Menschen immer ein starkes unmittelbares Interesse. Aber sie müssen sich – anders als beim Konsum eines Privatgutes – dafür zusammenfinden. Ihre Produktion ist, sind die Kosten der dazu nötigen Zeit nicht zu hoch, dann nicht mehr sonderlich problematisch: Hier ist der Weg der Kooperation ja bereits das Ziel des Gemeinschaftserlebnisses. Kommunale Güter gehören somit ganz bestimmt zu jener großen Klasse von sozialen Gütern, die nicht Privatgüter sind. Man kann nicht generell sagen, ob sie teilbar oder ausschließbar oder mit Rivalität besetzt sind oder nicht. Das hängt davon ab, von wo aus man die Sache sieht – von außen oder von innen. Im Außenverhältnis haben die Kommunalgüter eine Gemeinsamkeit mit den Privatgütern: Für die Akteure, die sich zur Produktion eines Kommunalgutes zusammengefunden haben, ist es nach außen für andere ausschließbar. Im Innenverhältnis sieht das ganz anders aus: Für die das Kommunalgut produzierende Gemeinschaft ist das Gut intern nicht teilbar und nicht ausschließbar. Vor allem aber gibt es keine Rivalität über diejenige hinaus, die zur „Technik“ des jeweiligen Gutes gehört: Ein intimes Zusammensein zu zweit hätte sicher eine starke Rivalität nach außen, aber sicher überhaupt keine nach innen. Das ist ja das Besondere und Schöne daran. Ein Kommunalgut ist für das Innenverhältnis der Gemeinschaft ein Spezialfall von anderen sozialen Gütern, die wir im nächsten
Kooperation und Produktion
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Abschnitt noch kennenlernen werden – die sog. Kollektivgüter. Der wichtigste Unterschied zu solchen Kollektivgütern kann hier schon benannt werden: Bei Kommunalgütern richtet sich das Interesse auf die Gemeinsamkeit und auf den Akt der Kooperation selbst, bei Kollektivgütern sind die Gemeinsamkeit und die Kooperation nur ein Mittel zum Zweck. Kurz: Bei Kommunalgütern sind die Interessen der Akteure gleichgerichtet, bei Kollektivgütern sind sie das nicht unbedingt.
Bei einem Kommunalgut geht es also nur um die Kooperation „an sich“ – und um nichts weiter. Die strategische Situation ist die eines Koordinationsspiels mit konvergierenden Interessen. Das liegt an zwei Dingen: Erstens hängen Produktion und Konsumtion davon ab, daß die Akteure alle mitmachen. Wer sich drückt, schadet sich selbst. Und zweitens macht ja schon der Akt des Mitmachens selbst Spaß. Die Kooperation ist hier ja nicht bloß ein Mittel zu irgendeinem fremdbestimmten Zweck. Das einzige wirkliche, aber relativ leicht lösbare Problem dabei ist die Abstimmung der Akteure über gewisse Konventionen darüber, wie sie ihre Gemeinschaft gestalten wollen – das Problem der Koordination (zwischen den Aktivitäten C1 und C2): Wann waren wir verabredet? Wer kommt sonst noch? Was soll man anziehen? Infolgedessen sieht die strategische Situation so aus (Abbildung 6.1):
B C1
C2
C1
4,4
0,0
C2
0,0
0,0
A
Abb. 6.1: Die strategische Situation bei der Produktion von Kommunalgütern
Es bleibt eigentlich nur ein, relativ leicht lösbares technisches Problem: Man muß sich nur zeitlich, sachlich und sozial richtig treffen – zum Schach, zum Fußball oder zum Joint. Diese Probleme können die Akteure aber einfacherweise dadurch lösen, daß sie sich aufeinander gedanklich einstellen, sich „verstehen“ und miteinander kommunizieren – und darin oft schon ihr Vergnügen finden. Und notfalls helfen schon einfache Konventionen und jedermann bekannte Fokalpunkte.
174
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6.2.3 Kollektivgüter Kommunalgüter sind nach innen für die Produzenten nicht teilbar und nicht ausschließbar. Die Produzenten sind immer auch die Konsumenten. Das Interesse an dem Gut fällt mit der Kontrolle zusammen. Wenn die Unteilbarkeit und die Nicht-Ausschließbarkeit auch nach außen für diejenigen gilt, die sich an der Produktion des Gutes nicht beteiligen, dann haben wir es mit einem Kollektivgut zu tun. Solche Güter können auch von Akteuren konsumiert oder erlebt werden, die mit deren Produktion nichts zu tun hatten oder an einem Konsum nicht interessiert sind. Hier fallen also Produktion und Konsumtion, Kontrolle und Interesse nicht zusammen. Daher gibt es nun ein neues – und gravierendes – Problem: das der Produktion und der Verteilung der kooperativ erstellten Güter. Die erfolgreiche Produktion des Gutes ist jetzt alles andere als selbstverständlich und die Frage der Allokation kann nun nicht mehr alleine durch „Verstehen“ oder durch Koordination gelöst werden. Hier entstehen eine mindestens latente Konkurrenz und ein nicht auszuräumendes Mißtrauen darüber, ob die Allokation der Güter, nachdem sie kooperativ erstellt sind, auch auf gerechte Weise vor sich geht.5 Das Problem hängt damit zusammen, daß es in diesem Fall nicht die Kooperation selbst schon ist, die die Akteure interessiert, sondern eigentlich geht es ihnen nur um die Früchte der Kooperation. Der Unterschied zu den Kommunalgütern besteht darin, daß jetzt die Kontrolle über das Gut und über den Einsatz der Vorprodukte dafür nicht gesichert ist: Einige Akteure können versuchen, die Früchte der Zusammenarbeit an sich zu reißen, andere mögen der Versuchung nicht widerstehen, erst einmal abzuwarten, daß die anderen mehr leisten als man selbst. Und diese Versuchung wird besonders dann groß sein, wenn die Zahl der Kooperationspartner groß, wenn die kooperative Tätigkeit „an sich“ ganz uninteressant oder sogar lästig und wenn die Möglichkeit einer Zurechnung des Einsatzes und des Ertrages auf die individuellen Akteure nur gering ist. Und die Folge: Das betreffende Gut wird oft nicht erstellt, obwohl alle vielleicht ein großes Interesse daran haben. Erst gewisse Regeln der Allokation, die nicht bloß konventioneller Art sind und notfalls auch zwangsweise exekutiert werden, lösen das Problem. Mit einer bloßen Verständigung und einer Koordination des Handelns über einen kulturellen Code ist es nicht getan. Es muß etwas „essentiell“ gegen den immer drohenden Opportunismus der Menschen unternommen werden. In einem der wichtigsten Bü5
Vgl. dazu Michael Hechter, Principles of Group Solidarity, Berkeley, Los Angeles und London 1987, S. 34f.
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cher über dieses Thema, der „Logik des kollektiven Handelns“ von Mancur Olson, finden wir eine einprägsame Definition für die gemeinte Art von Gütern: „Ein Gemein-, Kollektiv- oder öffentliches Gut wird hier als jedes Gut definiert, das den anderen Personen in einer Gruppe praktisch nicht vorenthalten werden kann, wenn irgendeine Person Xi in einer Gruppe X1,...Xi,...Xn es konsumiert. Mit anderen Worten, denjenigen, die von dem öffentlichen oder kollektiven Gut weder etwas kaufen noch dafür bezahlen, kann man es weder vorenthalten noch kann man ihnen seinen Konsum verwehren, wie man das bei nicht-kollektiven Gütern kann.“6
Die wohl erste Definition des Begriffs im Sinne der Eigenschaften der Unteilbarkeit und Nicht-Ausschließbarkeit stammt von dem berühmten amerikanischen Ökonomen Paul A. Samuelson, wobei der insbesondere die jointness of supply betonte – und offenbar die Nichtausschließbarkeit für selbstverständlich hielt. Kollektivgüter sind danach Güter, „ ... which all enjoy in common in the sense that each individual’s consumption of such a good leads to no substraction from any other individual’s consumption of that good, ... .“7
Als Beispiele für solche Güter nennt Paul A. Samuelson „ ... an outdoor circus or national defense, ...“ (Samuelson 1955, S. 350). Einem einsehbaren Zirkus und einer schützenden Armee können sich auch die „außenstehenden“ Akteure nicht entziehen. Samuelson beeilt sich hinzuzufügen, daß es sich natürlich nur dann um „Güter“ handelt, wenn die Akteure entsprechende Präferenzen haben, sie also Zirkus mögen und an der Verteidigung ihres Landes interessiert sind. Andere Beispiele für solche Güter wären: eine saubere Umwelt, die allen zugute kommt, wenn es sie denn gibt – auch denjenigen, die heimlich und unmerklich nichts dafür tun; ein öffentliches Schwimmbad; ein Deich, der auch die schützt, die ihn nicht aufgeschüttet haben; ein Leuchtturm, der auch den Schiffen den Weg weist, deren Reeder sich an den Kosten nicht beteiligen; die deutschen Autobahnen für die nach Italien durchreisenden Dänen, für die Holländer und – ganz besonders – für die Franzosen, die Gebühren für ihre Autobahnen kassieren; Erfindungen, für die der Erfinder vergessen hat, ein Patent anzumelden; der Sieg in einem wichtigen Fußballspiel, der auch dem zugute kommt, der – wegen unprofessioneller Einstellung, vulgo: durchzechte Nacht – in einer Formkrise steckte und zum Siege mitgeschleppt werden mußte; das Prestige des Eliteclubs, das auch auf denjenigen strahlt, der es eigentlich nicht verdient hat. Und vieles andere mehr.
6
7
Mancur Olson, Jr., Die Logik des kollektiven Handelns. Kollektivgüter und die Theorie der Gruppen, Tübingen 1968 (zuerst: 1965), S. 13f. Paul A. Samuelson, The Pure Theory of Public Expenditure, in: The Review of Economics and Statistics, 36, 1954, S. 387. Vgl. auch Paul A. Samuelson, Diagrammatic Exposition of a Theory of Public Expenditure, in: The Review of Economics and Statistics, 37, 1955, S. 350356.
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Soziales Handeln
Die Beispiele haben wir auch so gewählt, daß die nun folgende weitere Unterteilung von Kollektivgütern in Untervarianten verständlich wird. Wenn man genauer hinsieht gibt es nämlich – mindestens – drei Varianten von solchen Kollektivgütern. Es gibt einerseits die sog. „reinen“ Kollektivgüter, an die Mancur Olson und Paul A. Samuelson wohl dachten und für die die Eigenschaften der Unteilbarkeit und NichtAusschließbarkeit auch ungebrochen zutreffen – wie der Fall der nationalen Verteidigung oder die saubere Umwelt. Hinzu kommt – von Olson und Samuelson nicht direkt benannt – eine dritte Eigenschaft: die Nichtrivalität beim Konsum der betreffenden Güter. Damit ist gemeint, daß der Nutzen für den Einzelnen nicht von der Anzahl derjenigen abhängt, die das Gut mit ihm konsumieren. Wir wollen solche Güter im Folgenden als Öffentliche Güter bezeichnen. Der englische Ausdruck dafür ist public good. Andererseits gibt es aber auch Güter, die zwar kollektiv gemeinsam produziert werden und deren Ertrag auch allen zugute kommt und insgesamt auch nicht teilbar ist, wobei aber sowohl beim individuellen Beitrag dazu wie bei der kollektiven Verteilung der Erträge Unterschiede entstehen können. Auch das hat mit der Eigenschaft der Rivalität zu tun: Alle sind an der Kooperation interessiert, aber auch daran, dabei einen möglichst günstigen Schnitt zu machen. Und das ist – wegen der Eigenschaft der Rivalität – auch möglich. Solche Güter wollen wir Kooperationsgüter nennen. In der betreffenden Literatur heißen solche Güter manchmal auch – etwas mißverständlich – joint goods. Die Eigenschaft der Rivalität führt noch zu einer dritten Variante eines Kollektivgutes – den Clubgütern. Sie werden in der englischsprachigen Literatur oft – und ungenau – auch zu den joint goods gezählt (vgl. Hechter 1987, S. 33f.). Clubgüter sind Kollektivgüter, die ihren Wert – eben anders als die Öffentlichen Güter – mit der Zahl derjenigen einbüßen, die an ihnen teilhaben. Die Autobahnen, das Schwimmbad und die Eliteclubs gehören dazu.
Das Konzept des Kollektivgutes bildet damit den Oberbegriff für drei Varianten von Gütern, bei denen Produktion, Allokation und Konsumtion auseinanderfallen können: Öffentliche Güter, Kooperationsgüter und Clubgüter. Sie unterscheiden sich partiell und auf unterschiedliche Weise in den grundlegenden Eigenschaften der Unteilbarkeit, der Nicht-Ausschließbarkeit und vor allem der Nichtrivalität. Gemeinsam ist ihnen allen aber ein Grundproblem: das Zusammentreffen von einem Interesse an der Organisation einer effizienten Kooperation und an einer für sie möglichst günstigen Allokation der Erträge. Kurz: Anders als bei den Kommunalgütern gibt es hier das Problem der antagonistischen Kooperation. 6.2.3.1 Öffentliche Güter Öffentliche Güter sind der übliche Fall, wenn von „Kollektivgütern“ die Rede ist. Früher wurden die Begriffe auch nicht weiter unterschieden. Und das ist nicht unverständlich, weil hier die Grundeigenschaften und das Grundproblem am deutlichsten werden: die grundlegende Differenz zu den Privatgütern – bzw. zu den Kommunalgütern, was das Außenverhältnis angeht – einerseits und die strategische Situation der antagonistischen Kooperation andererseits.
Kooperation und Produktion
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Beispiele für Öffentliche Güter in diesem Sinne sind etwa Absprachen über die Reduktion der Ölförderung zwecks künstlicher Verknappung des Öls mit dem Ziel der Durchsetzung eines höheren Preises: Den durch eine Kartellabsprache künstlich erhöhten Preis streichen auch die Förderländer ein, die mit einem niedrigeren Preis zufrieden wären. Oder eine saubere Umwelt: Sie ist auch für den noch intakt, der – als einziger! – die Ressourcen der Natur verschwendet, weil sein umweltschädigender Beitrag ja nur sehr unmerklich ist. Oder eine funktionierende soziale Ordnung: In ihren Genuß kommen alle in ihrem Geltungsbereich, auch die Anarchisten, die die Ordnung gerne abgeschafft sähen.
Öffentliche Güter haben die Eigenschaft der Nicht-Ausschließbarkeit und der Nicht-Teilbarkeit deswegen, weil sie externe Effekte auf diejenigen haben, die sie nicht mitproduzieren. Externe Effekte von kollektiven Handlungen müssen nicht nur positiver Art sein. Gibt es negative externe Effekte, dann spricht man von Öffentlichen Übeln. Öffentliche Übel wären jeweils das Gegenteil von den geschilderten Öffentlichen Gütern: Einer ruinösen Preiskonkurrenz können sich auch diejenigen nicht entziehen, die sich an die Absprache halten würden; die Folgen einer rücksichtslosen Umweltschädigung tragen auch diejenigen, die sich umweltbewußt verhalten; und der gnadenlose egoistische Krieg aller gegen alle trifft auch die, die ihn gerne beenden möchten.
Die Beseitigung eines Öffentlichen Übels ist daher – logischerweise – selbst ein Öffentliches Gut. Mehr noch: Die Lösung des noch eingehend zu besprechenden Problems, daß normalerweise Öffentliche Güter nicht bereitgestellt werden, ist selbst wieder ein Öffentliches Gut. Privatgüter und Öffentliche Güter Den Unterschied eines Öffentlichen Gutes zu einem Privatgut hat Paul A. Samuelson in seinem zweiten klassischen Artikel zu dem Problembereich ebenfalls in klassischer Weise zusammengefaßt. Bei den Privatgütern ist der Gesamtnutzen eines Gutes – wegen der Teilbarkeit und Ausschließbarkeit – gleich der Summe der Einzelteile, die die Akteure davon konsumieren: „A private consumption good, like bread, whose total can be parcelled out among two or more persons, with one man having a loaf less if another gets a loaf more. Thus if X is total bread, and X1 und X2 are the respective private consumptions of Man 1 and Man 2, we can say that the total equals the sum of the separate consumptions – or X = X1 + X2.“ (Samuelson 1955, S. 350; Notation leicht modifiziert; Hervorhebungen so nicht im Original)
Das ist bei einem Öffentlichen Gut ganz anders. Es unterscheidet sich von einem Privatgut
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Soziales Handeln
„ ... in that each man’s consumption of it, X1 and X2 respectively, is related to the total X2 by a condition of equality rather than of summation. Thus, by definition, X1 = X2,...“ (Ebd.; Hervorhebung im Original)
Allgemein ausgedrückt: Für den Gesamtnutzen X eines Privatgutes gilt über alle n Individuen i: X = Σxi. Jeder konsumiert seinen Anteil, und der Gesamtnutzen ist die Summe dieser Anteile. Für den Nutzen X eines Öffentlichen Gutes gilt jedoch x1 = x2 = ... = xn = X. Der Nutzen eines einmal bereitstehenden Öffentlichen Gutes ist für alle gleich, von der Zahl der Konsumenten unabhängig und jeweils gleich dem „Gesamt“-Nutzen. Das liegt an den genannten Eigenschaften der (Un-)Teilbarkeit, der (Nicht-)Ausschließbarkeit und der (Nicht-)Rivalität. Die Bereitstellung eines Öffentlichen Gutes als Gefangenendilemma Man sollte annehmen, daß Öffentliche Güter damit eine unproblematische Angelegenheit sind: Jeder profitiert davon, und eine Rivalität gibt es nicht. Das Problem liegt auch nicht im Konsum, sondern in der Produktion eines Öffentlichen Gutes. Nehmen wir dazu das Beispiel des Umweltschutzes. Dazu gehen wir der Einfachheit halber von nur zwei Akteuren bei einem Kollektiv aus – wieder A und B. Wir wollen annehmen, daß beide ein Interesse an einer sauberen Umwelt haben. Die saubere Umwelt wäre dann ein typisches Öffentliches Gut: Wenn es sie gibt, haben beide ungeschmälert etwas davon, niemand könnte ausgeschlossen werden, und es störte auch den einen Akteur nicht, wenn der andere sich der sauberen Luft erfreut. Eine intakte Umwelt ist aber nicht kostenfrei zu haben. Die Akteure müßten auf bestimmte andere Güter verzichten und ggf. selbst auch Kosten tragen – wie den Einbau von wärmedämmenden Fensterscheiben, den Mehrpreis für einen Katalysator oder den Verzicht auf die Bequemlichkeiten des Autofahrens. Von diesem Verzicht hätten sie freilich jeweils auch etwas: den Grad an zusätzlichem Umweltschutz, den sie durch ihren individuellen Beitrag dazu erzielen. Es sei beispielsweise angenommen, daß jeden der beiden Akteure der Verzicht auf 100 km Autofahren subjektiv 10 Einheiten eines Verrechnungswertes kostet (wobei die Ersparnisse an Benzin und dergleichen schon eingerechnet sind). Dadurch würde jeder gleichzeitig einen Beitrag zum Umweltschutz in Höhe von 7 Einheiten leisten. Man sieht gleich: Das lohnt sich für den Einzelnen nicht: Der erzielte Nettonutzen ist negativ. Anders sieht die Sache aber gleich aus, wenn beide verzichten: Dann bringt zwar jeder wieder die 10 Einheiten an Kosten auf. Jeder kommt aber nun in den Genuß von 14 (!) Einheiten der gemeinsam verbesserten Umwelt. Das Wunder ist eine Folge der Eigenschaften des Umweltschutzes als Öffentliches Gut: Jeder genießt wegen der Unteilbarkeit und der Nicht-Ausschließbarkeit auch den Beitrag, den der andere leistet, ohne selbst etwas dafür zu tun.
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Kooperation und Produktion
Das Beipiel läßt schon ahnen, worauf die Sache hinausläuft: Öffentliche Güter sind ein Anwendungsfall der strategischen Situation eines sozialen Dilemmas; genauer: eines Gefangenendilemmas (vgl. dazu Hardin 1982, S. 25ff.). Das läßt sich an Hand des Beispiels leicht zeigen. Die alternativen Strategien seien wieder die Kooperation C und die Defektion D in Bezug auf das Umweltverhalten. Die Kooperation kostet jeden 10 Einheiten und erbringt für jeden kooperierenden Akteur sieben Einheiten. Wenn niemand kooperiert, fallen weder Kosten, noch Erträge an Umweltschutz an. Wenn nur ein Akteur kooperiert, dann erhält der andere, der defektierende Akteur, die 7 Einheiten natürlich auch, die der kooperierende Akteur erzeugt, muß aber nichts bezahlen.
Daraus ergibt sich die folgende Auszahlungsstruktur für das Beispiel (Abbildung 6.2):
B
B
C
C
D
14-10/14-10
7-10/7-0
A
C
D
C
4,4
-3,7
D
7,-3
0,0
A D
7-0/7-10
0/0
Abb. 6.2: Die Produktion eines Öffentlichen Gutes als Gefangenendilemma
Links stehen die ausführlichen Ziffern für die jeweiligen individuellen Kosten und kollektiven Erträge, rechts die sich daraus ergebenden Summen des jeweiligen Nettonutzens. Es zeigt sich, daß die Ordnung der Auszahlungen genau den Bedingungen eines Gefangenendilemmas entspricht. Die Folgen sind entsprechend: DD ist das einzige und pareto-inferiore Gleichgewicht in dominanten Strategien. Genau das ist dann auch das grundlegende Problem bei den Öffentlichen Gütern – wie etwa beim Umweltschutz: Alle haben ein Interesse daran, aber niemand will etwas dafür tun. Und deshalb muß – falls nicht ein Wunder geschieht – jemand einspringen, der den Gordischen Knoten der dominanten Defektion zerschlagen kann, weil er das gegen alle Risiken will und auch in der Lage dazu ist. Und das ist oft genug nur der Staat, der z.B. Steuern für die Finanzierung all der Öffentlichen Güter braucht, die die Bürger so sehr wünschen, aber aus eigener Kraft nicht bereitstellen können.
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Soziales Handeln
Der N-Personen-Fall Im Beispiel sind wir von der kleinsten denkbaren Einheit einer „Öffentlichkeit“ ausgegangen: zwei Akteure. Das Problem läßt sich leicht auf größere Gruppen übertragen. Dazu hilft eine einfache Überlegung.8 Wir wollen annehmen, daß A weiter ein einzelner Akteur ist, daß aber B jetzt alle anderen Akteure umfasse, mit denen A noch in einer „Gruppe“ zu tun hat. Plausibel ist sicher die Annahme, daß der Wert des Öffentlichen Gutes mit dem Anteil derjenigen zunimmt, die aus der Gruppe B kooperieren: Je mehr aus der Gruppe auf das Autofahren verzichten, um so mehr freut sich die Umwelt – unser Freund A und alle anderen aus der Gruppe B. Wie sieht nun die Auszahlungsstruktur im Spiel von A gegen den „Akteur“ B aus? Ein Extremfall wäre der, daß niemand von B kooperiert und daß nur A seinen Beitrag leistet. Da für A aber die individuellen Kosten seines Beitrags den dadurch erzeugten kollektiven Nutzen übersteigen, wäre es für ihn günstiger, in dieser Situation ebenfalls nicht zu kooperieren. Wir wollen die beiden Optionen C und D für diesen Fall mit Gewichten versehen: C wäre für A ungünstiger als D; deshalb erhält C das Gewicht 1, und D das Gewicht 2. Nun sei angenommen, daß 50% der Mitglieder der Gruppe B mitmachen. Für diese Situation werden die Gewichte für C oder D für A natürlich höher als im ersten Fall, weil jetzt doch schon einiges für den Umweltschutz getan wird. Aber wieder muß sich A vor Augen halten, daß es für ihn individuell günstiger ist, nicht mitzumachen: Er käme ja in den Genuß des Beitrags der Gruppe, auch ohne daß er sich selbst beteiligen müßte. Kurz: Er könnte gefahrlos den free rider spielen und sich die Kooperationskosten sparen – zumal sein eigener Beitrag zur Nutzenerhöhung in einer größeren Gruppe kaum merklich wäre. Folglich erhöhen sich zwar die Gewichte für C und D gegenüber der ersten Situation, aber wieder bekommt C das gegenüber D geringere Gewicht. Deshalb weisen wir nun C ein Gewicht von 3 und D eines von 4 zu. Entsprechend kommen wir zu einem Gewicht von 5 für C bzw. von 6 für D für den anderen Extremfall: Alle aus der Gruppe B machen mit beim Umweltschutz. Und wieder kann sich A vorstellen, daß es für ihn besser ist, das auszunutzen.
In einem Diagramm läßt sich die geschilderte Erweiterung der DilemmaSituation auf eine Gruppe von N Personen zusammenfassen wie in Abbildung 6.3. Sofort wird deutlich: In jeder der drei Situationen dominiert bei A wieder die Defektion. Leicht läßt sich vorstellen, daß das für jeden beliebigen Anteil an Kooperationswilligen in der Gruppe zutrifft. Da die geschilderte Konstellation aber für jeden der N Akteure aus der Gruppe gilt – mit sich selbst jeweils als Akteur A –, dominiert die Defektion für alle Akteure der Gruppe insgesamt. Es handelt sich um ein sog. N-Personen-Gefangenendilemma (vgl. dazu näher u.a. Taylor 1987; Kapitel 4). Die Folge dieser Struktur ist die gleiche wie für das einfache 2-Personen-PD: ein pareto-inferiores Gleichgewicht der allseitigen Defektion auch für den N-Personenfall. Kurz: Öffentliche Güter werden – soweit – in Gruppen beliebiger Größe nicht bereitgestellt.
8
Vgl. dazu Bruno S. Frey, Ökonomie ist Sozialwissenschaft. Die Anwendung der Ökonomie auf neue Gebiete, München 1990, S. 38ff.
181
Kooperation und Produktion
Beteiligungsgrad der Gruppe B 0%
50%
100%
C
1
3
5
D
2
4
6
Verhalten des Akteurs A
Abb. 6.3: Die Produktion von Öffentlichen Gütern im N-Personenfall
Die „Lösung“ Bei den „reinen“ Kollektivgütern, die wir Öffentliche Güter nennen, tritt das Problem der antagonistischen Kooperation besonders deutlich hervor. Alle Lösungen, die für die betreffende strategische Situation – das (N-Personen-) Gefangenendilemma – geeignet sind, lösen auch dieses Problem. Kurz: Zur Bereitstellung Öffentlicher Güter „muß“ es entweder essentielle Normen oder die Bedingungen der Entstehung einer spontanen sozialen Ordnung unter rationalen Egoisten geben. Es ist ein Problem des kollektiven Handelns, auf das wir in Kapitel 7 gleich unten in diesem Band ja noch besonders eingehen werden. Für den N-Personenfall wollen wir hier aber schon anführen: Je größer die Gruppe ist, die mit dem Problem konfrontiert ist, um so schwieriger wird die spontane „Selbstorganisation“ des Öffentlichen Gutes sein. Und das heißt aber auch: Um so nötiger werden Bindungen, Normen, Institutionen und letztlich – wenn alles nicht hilft – ein Leviathan. Thomas Hobbes – und auch David Hume – haben darauf schon deutlich hingewiesen. Sie haben aber auch beide schon auf das damit wieder verbundene Problem aufmerksam gemacht: Auch ein Staat, eine essentielle Norm mit ihren Sanktionen oder eine funktionierende Institution des Versprechens sind Öffentliche Güter. Und sofort entsteht ein neues Problem – sozusagen: ein Problem zweiter Ordnung: Wie entstehen die Normen und die Institutionen und ein Staat denn dann, wenn sie selbst Öffentliche Güter sind? Im Zu-
182
Soziales Handeln
sammenhang mit der Erklärung der Entstehung von Institutionen und Normen werden wir darauf zurückkommen (vgl. dazu noch Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ausführlich). 6.2.3.2 Kooperationsgüter Nicht immer sind die Verhältnisse aber so tragisch wie bei den Öffentlichen Gütern. Das galt ja auch schon für die sozialen Dilemmasituationen insgesamt: Neben dem traurig stimmenden Prisoner’s Dilemma gab es ja noch die etwas hoffnungsfroheren Varianten des Assurance Game und des Chicken Game. Sehen wir uns dazu einmal zwei Beispiele von etwas anderen Gütern an, an denen Akteure ein Interesse haben. Das erste Beispiel: Rudern um den Olympiasieg Das Gut, um das es gehe, sei der Olympiasieg, sagen wir zunächst einmal: im Zweier, bei dem jeder der beiden Ruderer einen Riemen bedient. Für den Olympiasieg gibt es sicher viel an sozialer Wertschätzung, dokumentiert über die Goldmedaille, und an Mitteln für das physische Wohlbefinden – die Tantiemen für die fetten Werbeverträge danach. Dazu muß viel trainiert werden, es muß die Tagesform stimmen und ein bißchen Glück muß auch dabei sein. Das Gut selbst kann aber auf jeden Fall nur erreicht werden, wenn beide Ruderer im Endlauf alles geben. Um was für ein Gut handelt es sich aber? Es handelt sich bei dem Rudern um den Olympiasieg zunächst sicher nicht um ein Kommunalgut, weil das gemeinsame Rudern nicht unmittelbar schon das Ziel ist, sondern erst der Olympiasieg. Kurz: Die volle Verausgabung macht schon Mühe und tut – auf den letzten 500 Metern spätestens – auch physisch weh. Es wäre also nicht unverständlich, wenn jeder der Akteure – wenn es nur den Sieg nicht gefährdet – auch unterhalb seiner Leistungsgrenze bliebe. Als Alternativen für diese Situation wollen wir das Rudern mit voller Kraft (V) und dann das Rudern mit halber Kraft (H) annehmen. Die Auszahlungen für die verschiedenen Kombinationen von V und H lassen sich dann so annehmen: Am günstigsten wäre es natürlich für beide Ruderer, wenn beide bis zum Schluß mit voller Kraft rudern würden – auch wenn der Vorsprung schon groß ist: Man weiß nie, was noch geschehen könnte. Ganz und gar ungünstig wäre der Fall für beide, wenn einer mit voller und
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Kooperation und Produktion
der andere mit halber Kraft rudern würde: Sie würden sofort einen Krebs drehen und verlieren. Dazwischen läge die Variante, daß beide gemeinsam nur mit halber Kraft den knappen Sieg nach Hause fahren – immer unter der Gefahr, zum Schluß doch noch Pech zu haben.
Diese Konstellation erzeugt offenbar ein Koordinationsspiel mit konvergierenden Interessen (vgl. Abbildung 6.4a). Und die Lösung ist sozusagen self enforcing: Beide rudern aus eigenem Interesse mit voller Kraft bis zum Sieg – wenn sie denn durchhalten. Und der Grund: Jedes „einseitige“ Nachlassen würde sofort den Krebsgang erzeugen. Allenfalls müßte der eine dem anderen zurufen, daß er jetzt nicht mehr könne und sie doch einen etwas langsameren Schlag gehen sollten.
a. einfacher Zweier
b. Doppelzweier
Ruderer 2
Ruderer 2
V
H
V
4,4
0,0
H
0,0
2,2
V
H
V
4,4
1,3
H
3,1
2,2
Ruderer 1
Abb. 6.4: Das Rudern um den Olympiasieg im einfachen Zweier und im Doppelzweier
Soweit der einfache Zweier. Der Clou bei allen Überlegungen zum Verhältnis von Gütern und sozialen Situationen ist, daß allein schon die Technik der Produktion eines Gutes bestimmen kann, in welcher Art von sozialer Situation sich die Akteure wiederfinden. Nehmen wir nun den Fall des Doppelzweiers. Hier koordiniert aufgrund der Technik des Bootes jeder einzelne Ruderer seine Schläge und ist darin auf den anderen nicht angewiesen. Jetzt kommt es im Wesentlichen nur noch auf die eingesetzte Kraft an. Nun kann sich ein Ruderer – koordiniert natürlich – etwas hängen lassen, ohne daß gleich der ganze Sieg in Frage stünde, weil das Boot ja weiter geradeaus fährt. Nun wäre zwar immer noch der Olympiasieg das oberste Ziel, und das gemeinsame Rudern mit voller Kraft hätte die erste Priorität. Aber ehe ich den anderen, der mich alleine machen läßt, zum Sieg mitschleppe, höre ich lieber auch damit auf, mich anzustrengen. Kurz: Beim Rudern im Doppelzweier verwandelt sich das Koordinationsspiel in ein Assurance Game: Wenn der andere voll mitmacht, dann tue ich das auch; wenn nicht: nicht (vgl. Abbildung 6.4b).
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Soziales Handeln
Im Zweier sind solche Probleme – wie wir ja schon am Beispiel der beiden Ruderer bei David Hume in Abschnitt 5.4 in diesem Band gesehen haben – relativ leicht zu lösen. Leicht ist festzustellen, wer den anderen ausbeutet. Was aber wäre im Achter? Oder in einer Galeere mit Hunderten von Ruderern? Oder beim Tauziehen mit 100 Mitstreitern? Oder in einem großen Arbeitsteam? Hier könnte sich leichter jemand hinter allen anderen verstecken. Und schon ist das Problem keines mehr einer leicht zu bewerkstelligenden Koordination oder einer relativ einfach zu überwachenden „Versicherung“, daß auch alle mitmachen. Und weil die Sache ja „an sich“ nicht interessiert, muß – wie beim Öffentlichen Gut – damit gerechnet werden, daß es free rider gibt und daß deshalb die Produktion des alle interessierenden Gutes nur suboptimal ist. Das zweite Beispiel: The Tragedy of the Commons Von Garrett Hardin stammt ein oft zitiertes Beispiel für die Problematik bei der Bereitstellung von Kollektivgütern. Es ist die Geschichte von der Tragödie der Allmende.9 Als Allmende wurde früher die Dorfwiese bezeichnet, auf die jedermann aus dem Dorfe seine Rinder treiben konnte. Solange die Zahl der Rinder klein blieb – beispielsweise, weil durch Rinderseuchen und andere Ursachen die Sterblichkeit der Rinder hoch war – gab es kein weiteres Problem: Die Weide reichte allen. Solange konnte auch verborgen bleiben, daß die Hüter der Rinder – wie alle Menschen – nichts anderes wollten, als ihren Nutzen zu maximieren. Nun hören mit einem Male die Seuchen auf, und die Rindersterblichkeit sinkt. Jeder Bauer könnte nun zusätzliche Rinder auf die Allmende treiben. Vielleicht würden die nicht mehr ganz so fett wie zuvor. Aber von jedem Rind könnte er sich einen zusätzlichen Vorteil versprechen. Andererseits sieht auch der egoistischste Bauer, daß das für die Allmende nicht gut ist: Es droht die Überweidung der Allmende. Dazu trägt er aber – aus seiner Sicht und auch objektiv – nur einen kleinen Teil bei. Deshalb kann er sich immer noch einen Gewinn versprechen, wenn er ein zusätzliches Rind auf die Allmende bringt. Und er fragt sich: Warum sollte ausgerechnet ich jetzt zurückstehen? Und er sagt sich: Wenn ich jetzt verzichte, profitieren nur die anderen von dem freien Platz, treiben so viel Rinder auf die Allmende wie möglich ist – und die Überweidung tritt auch ohne mein Dazutun ein. So aber denken alle Bauern, treiben alle ihre Rinder ungehemmt auf die Dorfwiese – bis es sie nicht mehr gibt, und niemand mehr ein Rind darauf weiden lassen kann.
Auf den ersten Blick sieht diese „Tragödie“ wie ein Gefangenendilemma und das betreffende Kollektivgut – die Vermeidung der Überweidung – wie ein Öffentliches Gut aus. Das ist es aber wohl nicht. Den Grund dafür kann man sich vom Ende der Geschichte her erschließen: Die Bauern werden die Überweidung vielleicht eine ganz Zeit lang tatsächlich betreiben. Aber sie sehen ja was sie anrichten, wenn sie so weitermachen wie bisher: Sie treiben sich kol9
Garrett Hardin, The Tragedy of the Commons, in: Science, 162, 1968, S. 1243-1248.
Kooperation und Produktion
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lektiv in den Untergang, weil sie ihre Lebensgrundlage allmählich zerstören. So weit werden sie es schließlich aber nicht kommen lassen wollen – zumal sie ja nur wenige sind, und einer alleine schon durch seinen Verzicht die letzte Katastrophe vermeiden könnte. Kurz: Die schlechteste aller Alternativen in ihren Strategiekombinationen ist die ungehemmte Überweidung durch alle. Das heißt aber: Die Tragödie der Allmende hat nicht die Struktur eines Gefangenendilemmas, sondern die eines Chicken Game. Das Gut ist für die Akteure lebenswichtig. Ihnen ist schließlich der einseitige individuelle Beitrag zu seiner Bereitstellung wichtiger als die Tatsache, daß die anderen sich dann ins Fäustchen lachen. Andere Beispiele für diese Art von Gütern, auf die die Akteure schließlich um keinen Preis verzichten mögen, sind alle nicht einfach zu erneuernden Ressourcen und alle für die eigene Existenz unersetzlichen Güter. Daher schrecken auch die schlimmsten Walfänger vor der endgültigen Ausrottung der Wale und die skrupelloseste Industrie vor der restlosen ökologischen Zerstörung der Umwelt immer doch noch zurück – wenngleich stets nur fünf vor zwölf. Auch kriselnde, aber innerlich noch intakte Ehen sind solche Güter, weil man (noch) daran hängt: Letztlich ist man doch bereit, nachzugeben, ehe die Ehe selbst auf dem Spiele steht (vgl. dazu auch schon Abschnitt 3.2 in diesem Band).
Man sollte noch hinzufügen, daß eine Bedingung für das Zurückschrecken vor dem letzten Schritt in den Untergang ist, daß jeder der Akteure mit seinem individuellen Verzicht auch tatsächlich einen merklichen Beitrag liefert. Das geht nur in kleinen Gruppen oder bei Akteuren, die sehr wirksam handeln können. Kurz: Das geht nur bei Oligopolen. Dörfer, Walfänger, die Großindustrie und Ehen bilden solche Oligopole. Die Gefahr einer richtigen Tragödie entsteht also erst dann, wenn die Gruppen sehr groß sind und der Einzelbeitrag deshalb nur sehr unmerklich wird. Gleichwohl ist auch unter der Oligopolbedingung die Sache sehr unerfreulich. Chicken Games erzeugen ja die unangenehme Neigung, daß – sobald der Untergang nicht mehr unmittelbar droht – die Beteiligten sofort wieder versuchen, sich gegenseitig zu übervorteilen. Droht die Katastrophe, werden alle etwas vorsichtiger. Einer wird dann die Nerven verlieren und auf die weitere Defektion verzichten. Dann aber machen die anderen gleich weiter, weil sie davon ja profitieren und der Untergang nicht mehr sofort droht. Das aber bringt sie alle wieder dem Untergang nahe. Und so weiter. So wird es auch mit der Allmende, den Walen, der Umwelt und den Ehen in der Krise gehen: Sobald die schlimmste Gefahr abgewendet ist, geht das ganze Theater wieder los. Wäre es nicht so traurig, könnte das Spiel eine Komödie sein. Eine richtige Tragödie – wie beim sicheren Untergang im Gefangenendilemma – ist es jedoch nicht.
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Soziales Handeln
Die Besonderheit der Kooperationsgüter Die beiden Beispiele verweisen auf zwei weitere Arten von Kollektivgütern. Für sie gilt zwar jeweils auch das Problem der antagonistischen Kooperation, aufgrund ihrer technischen Eigenschaften zieht ihre Produktion jedoch keine PD-Situation, sondern eine AG- oder eine CG-Situation nach sich. Es sind in diesem Sinne also keine Öffentlichen Güter: Die wechselseitige Defektion ist nicht dominant. Das aber war die grundlegende Eigenschaft der Öffentlichen Güter. Kollektivgüter, die nicht mit einem Prisoner’s Dilemma verbunden sind, sondern entweder mit einem Assurance Game oder einem Chicken Game, wollen wir zusammenfassend als Kooperationsgüter bezeichnen. Das Wort klingt vielleicht etwas zu freundlich für die damit verbundenen Probleme. Aber es soll zum Ausdruck kommen, daß die Akteure schon an einer Kooperation, genauer: an den Früchten derselben, interessiert sind. Anders als bei den „reinen“ Kollektivgütern, den Öffentlichen Gütern, setzen sie nicht die höchste Priorität in die aktive Ausbeutung der anderen, und sie fürchten auch nicht die passive Ausbeutung am meisten. Sie sind entweder besonders an den Früchten einer gelingenden Kooperation interessiert oder daran, daß wenigstens einer kooperiert und der gemeinsame Untergang vermieden wird. Assurance- und Chicken-Güter Die Kooperationsgüter wollen wir wegen dieser Unterschiedlichkeit auch noch einmal begrifflich differenzieren: Die Kooperationsgüter, bei denen die höchste Priorität im gemeinsamen Handeln gesehen und nur die einseitige Ausbeutung gefürchtet wird, seien als Assurance-Güter bezeichnet. Und diejenigen, bei denen die wechselseitige Defektion die schlechteste aller Situationen erzeugt, sollen Chicken-Güter heißen. Sie teilen mit den in ihrem Namen stehenden strategischen Situationen eine durchaus tröstliche Eigenschaft: Ihre Bereitstellung ist auch unter rationalen Egoisten nicht mehr ausgeschlossen. 6.2.3.3 Clubgüter Öffentliche Güter nutzen jedermann: ein funktionierender Umweltschutz, der Frieden unter den Menschen oder die Verteidigung eines Landes gegen Feinde von außen. Ihr Wert steigt mit der Anzahl der Menschen, die sich daran beteiligen. Das hat zwei einfache Gründe: Der gemeinsam produzierte Ertrag
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wird mit der Anzahl der Beteiligten größer, und die durchschnittlichen Kosten der Bereitstellung sinken für alle die – üblichen – Fälle, daß immer auch gewisse Investitions-, Fix- und „Gemein“-Kosten anfallen, die jetzt auf mehr Schultern verteilt werden können. Kurz: Für Öffentliche Güter kann die Gruppe der Beteiligten eigentlich nicht groß genug sein. Deshalb gibt es – unter anderem – Kommunalreformen mit der Zusammenlegung von Gemeinden oder die Europäische Gemeinschaft. Aber nicht immer gilt dieser nützliche Zusammenhang vom Wert eines Kollektivgutes und der Gruppengröße. Nehmen wir etwa einen Golfclub. Sicher kann kaum jemand alleine einen 18-Loch-Platz mit einem exklusiven Clubhaus installieren. Es wäre auch langweilig: Golf ist als Spiel zunächst einmal ja ein Kommunalgut. Und für Spiele gilt ja die Produktionsbedingung: It’s more fun to compete. Wie schön wäre es also, wenn sich mehrere Gleichgesinnte zusammenfänden und einen Golfclub gründeten. Gesagt, getan. Der Golfplatz ist angelegt, das Clubhaus steht, und der Betrieb beginnt. Und jedes der Gründungsmitglieder zahlt seinen Beitrag zum Unterhalt sowie die Zinsen für den Einrichtungskredit, und alle sorgen mit der Übernahme von Ehrenämtern dafür, daß der Betrieb auch läuft. Nun melden sich andere Interessenten. Wie schön, denken sich die Mitglieder: Jetzt kommen mehr Mitgliedsbeiträge in die Kasse, und die verschiedenen Aufgaben können auf mehr Schultern verteilt werden. Und weil der Club so schön floriert, gibt es immer mehr Interessenten. Und plötzlich gibt es etwas, woran zunächst keiner gedacht hatte – externe Effekte: Diese Drängelei am Abschlagsplatz und auf dem Grün! Golf zusammen mit Kreti und Pleti? Wie unangenehm! Jetzt kommen sogar die Soziologieprofessoren! So hatten wir uns das nicht gedacht! Und was machen wir? Ganz einfach: Eine saftige und prohibitive Aufnahmegebühr, notfalls sogar einen Aufnahmestop.
Dieser Effekt – das Absinken des Ertrages mit steigender Größe der Gruppe ab einem bestimmten Schwellenwert – liegt wieder an einer technischen Eigenschaft des Gutes: der Rivalität. Zum Erlebnis des Golfspieles gehört es ja technisch, daß der Platz nicht überlaufen ist – von den sozialen Abgrenzungsbedürfnissen der dort versammelten, meist selbsternannten, Eliten einmal ganz abgesehen. Eine ähnliche Empfindlichkeit gegen das sog. overcrowding gilt etwa für Schwimmbäder, Autobahnen, Universitäten und Freizeitparks. Kollektivgüter, bei denen der Ertrag, den jeder beteiligte Akteur erhält, mit steigender Gruppengröße schließlich absinkt, werden als Clubgüter bezeichnet.10 Clubgüter sind Kollektivgüter mit den Eigenschaften der Unteilbarkeit und der Nicht-Ausschließbarkeit für die Mitglieder einer bestimmten Gruppe – und mit der – von der Gruppengröße abhängigen – Eigenschaft der Rivalität auch bereits im Binnenverhältnis. Die Erträge bei Clubgütern haben deshalb in Abhängigkeit der Gruppengröße einen sehr typischen Verlauf: Sie nehmen zuerst zu, weil es zu der gewünschten Aktivität einer gewissen Mindestzahl von Teilnehmern bedarf. 10
Vgl. den klassischen Artikel dazu von James M. Buchanan, An Economic Theory of Clubs, in: Economica, 32, 1965, S. 1-14.
Kooperation und Produktion
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Weihnachtsfeier nie den Nikolaus spielen. Weiter oberhalb der optimalen Clubgröße wandelt sich dann die Situation grundlegend: Jeder möchte, daß die jeweils anderen nur ihren Beitrag zahlen, ansonsten aber nicht sämtlich auch wirklich kommen. Andererseits sollten gleichwohl schon einige immer da sein, denn alleine ist die schönste Tennishalle öde und leer. Kurz: Oberhalb der optimalen Clubgröße nimmt die soziale Situation sogar immer mehr den Charakter eines Konfliktes an. Freizeitfußballer kennen das Problem nur zu gut: Im Winter kommen nur wenige, und jeder Gast ist willkommen. Im Sommer sind es oft zu viele. Niemand aber möchte, damit überhaupt ein Spiel möglich wird, draußen stehen.
Clubgüter sind also nicht einfach den bisher besprochenen Arten von Gütern und sozialen Situationen zuzuordnen. Es kommt darauf an, wie groß die Mitgliederzahl des Clubs in Bezug auf den Optimalpunkt ist. Im Binnenverhältnis sind Clubgüter Kollektivgüter: Sie sind für die Mitglieder unteilbar und nicht ausschließbar und vor Erreichen des Optimalpunktes auch noch ohne Rivalität. Sie ähneln dann sogar den Kommunalgütern: Das gemeinsam ausgeübte Hobby macht einfach an sich schon Spaß. Wegen der Eigenschaft der Rivalität ändert sich das mit dem Überschreiten des Optimalpunktes. Nun kommt ein Konfliktelement in das Interesse an der Gemeinsamkeit hinein. Kurz: Je weiter die Zahl der Aktiven den Optimalpunkt überschreitet, um so mehr wird aus dem freudig begrüßten Kommunalgut ein schon opportunistischer betrachtetes Kooperationsgut und schließlich ein Gut, um das nur noch rivalisiert wird. Für die Entwicklung der sozialen und emotionalen Beziehungen zwischen Einwanderern und Einheimischen wird häufig genau dieser Verlauf beobachtet: Zuerst sind die – noch – wenigen Einwanderer willkommen und werden mit einer Mischung aus Sympathie, Neugier und hoffnungsfroher Erwartung aufgenommen. Dann steigt allmählich ihre Zahl, weil – etwa über den Mechanismus der Kettenwanderung – immer mehr nachkommen. Allmählich wird so der Optimalpunkt des „Clubs“ erreicht – und überschritten: Der Ernüchterung – auf beiden Seiten – folgt bald der mehr oder weniger offene Konflikt und der Versuch der Einheimischen, den Zustrom zu bremsen: „Das Boot ist voll“. Und so ist es ja wohl auch mit den sozialen und emotionalen Beziehungen zwischen Ost und West nach der sog. Wende gekommen.11
Welcher strategischen Situation sehen sich nun aber die Vereinsmitglieder in einem Club gegenüber, der seine optimale Größe schon überschritten hat und in dem die ersten Konflikte beginnen? Mit dem Überschreiten des Optimums haben die Mitglieder zwei Möglichkeiten: Brav ihren Beitrag zahlen, aber nur zurückhaltend auch aktiv am Clubleben teilnehmen (Z); oder den Beitrag zahlen und auch voll am Clubleben teilnehmen und alle facilities nutzen wollen (V). 11
Das wäre eine etwas andere Erklärung des sog. Race Relation-Cycle, als die, die wir in Abschnitt 7.2 von Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“ vorgeschlagen haben. Vgl. zum Race Relation-Cycle u.a. Emory S. Bogardus, A Race Relations-Cycle, in: American Journal of Sociology, 35, 1930, S. 612-617; auch: Robert E. Park, Our Racial Frontier on the Pacific, in: Robert E. Park, Race and Culture, Glencoe, Ill., 1950, S. 149f.
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Soziales Handeln
Wenn kaum noch jemand teilnähme (Z,Z), wäre das freilich genauso übel wie der Fall, daß alle gleichzeitig auf den Golfplatz drängen (V,V). Am liebsten hätte jeder, daß er selbst voll teilnimmt, und der andere sich etwas zurückhält (V,Z bzw. Z,V). Derjenige, der voll teilnimmt, profitiert von der – zur Produktion des Clubgutes ja unbedingt nötigen, aber gleichwohl zurückhaltenden – Anwesenheit des anderen. Der hat natürlich auch etwas davon, verzichtet aber eben auf die volle Partizipation am Clubleben – zum Wohle des anderen.
Die Auszahlungsstruktur für die Mitglieder des Clubs sähe für die verschiedenen Strategiekombinationen von Z und V dann also so aus (Abbildung 6.6):
Mitglied 2 Z
V
Z
0,0
3,4
V
4,3
0,0
Mitglied 1
Abb. 6.6: Strategische Situation bei Clubgütern oberhalb der optimalen Mitgliederzahl
Das ist die strategische Situation des partiellen Konfliktes – das Spiel des Battle of the Sexes (vgl. dazu bereits Abschnitt 3.3 in diesem Band): Wenn niemand kommt, kann man nicht gemeinsam Golf spielen. Wenn alle kommen, macht es erst recht keinen Spaß. Wer aber soll zurückstehen? Solange der Optimalpunkt nicht sehr überschritten ist, wird nicht viel an Zurückhaltung verlangt. Deshalb haben wir auch immer noch einen Wert von 3 für Z bei den Kombinationen (V,Z) und (Z,V) eingetragen. Mit dem weiteren overcrowding wird die Auszahlung für Z aber immer kleiner, weil man immer seltener teilnehmen könnte. Das geht dann bis zu dem Extrempunkt, daß es sich fast nicht mehr lohnt, überhaupt noch zu kommen, daß sich alle wünschen, der andere möge austreten – und so das Club-„Gut“ fast zu einem sogenannten Positionsgut wird, bei dem der eine nur etwas gewinnen kann, wenn der andere etwas abgibt (vgl. dazu noch Abschnitt 6.2.4 gleich unten in diesem Band). Im Vergleich zu den Öffentlichen Gütern und den Privatgütern bilden die Clubgüter also eine Zwischenposition: Für die „reinen“ Öffentlichen Güter ist die optimale Gruppengröße unendlich, für die Privatgüter ist sie gerade gleich eins. Clubgüter benötigen eine Mindestgröße und haben eine Maximalgröße sowie einen Optimalpunkt, die jeweils zwischen eins und unendlich liegen.
Kooperation und Produktion
191
Der Optimalpunkt eines Clubs – zwischen eins und unendlich – ist natürlich wieder eine technische Größe. Deshalb ist er auch variabel. Das sieht man schon an den Kurvenverläufen in Abbildung 6.5: Wenn die Kosten rascher sinken, wird die optimale Clubgröße kleiner, ebenso wie in dem Fall, daß die Nutzenfunktion eher ihren Umschlagspunkt erreicht. Daraus ergeben sich interessante Folgen. Ein für die Menschen wichtiger, ja unverzichtbarer Spezialfall von Clubgütern sind – nach wie vor – kollektiv erbrachte Leistungen in Gruppen, wie etwa das „genossenschaftliche“ Teilen von Dreschmaschinen, Waschmaschinen oder Rasenmähern. Solche „Clubs“ werden auch Sharing Groups genannt (vgl. Abschnitt 9.3 in Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“ dazu bereits). Wenn Menschen auf eine solche kollektive Produktion ihrer Ressourcen angewiesen sind – etwa weil ihr Einkommen zu gering ist, um sich alles „privat“ auf einem Markt zu kaufen – und wenn es zu dieser Organisation der Sharing Group einer gewissen Mindestanzahl von „Genossen“ bedarf, dann liegt der Gipfel der Ertragskurve in Abbildung 6.5 um so weiter rechts, je abhängiger die Menschen von dem jeweiligen Clubgut und je ineffizienter der Beitrag einzelner Akteure oder der eingesetzten Einzelressourcen – die Dreschmaschinen, die Waschmaschinen und die Rasenmäher zum Beispiel – ist. Beides – die Abhängigkeit vom Clubgut und die Ineffizienz der Technik – treibt die optimale Clubgröße für solche Sharing Groups also nach oben (vgl. dazu auch Buchanan 1965, S. 11f.). Das heißt andererseits aber natürlich auch: Wenn die individuellen Einkommen und Möglichkeiten der Menschen steigen, und wenn die Effizienz der eingesetzten Technik zur Produktion der Güter zunimmt, dann sinkt die Nachfrage nach großen Sharing Groups – bis schließlich alle nur noch einsam auf ihrem Trecker oder vor der Glotze sitzen und sich das, was sie brauchen, per Teleshopping und virtueller Kommunalität selbst besorgen.
Die Größe einer Gruppe ist eine ganz und gar objektive Angelegenheit. Sie beeinflußt – wie wir gesehen haben – die Technik der Güterproduktion unhintergehbar und setzt allen guten Vorsätzen auf eine kollektive „Verständigung“ eine auch objektive Grenze. Darauf waren wir – etwa mit Thomas Hobbes, mit David Hume und mit Emile Durkheim – ja auch schon vorher gestoßen. Wir werden in Kapitel 7 in diesem Band noch genauer sehen, daß die Gruppengröße nicht nur für die Clubgüter, sondern für die Produktion von Kollektivgütern ganz allgemein eine zentrale Rolle spielt. 6.2.4 Positionsgüter Unter Positionsgütern werden solche Ressourcen verstanden, die – aus technischen oder aus „logischen“ Gründen – knapp und nicht vermehrbar sind, oder die im Zuge sozialer Prozesse ihren Wert dadurch verlieren, daß sie von anderen Akteuren ebenfalls genutzt werden.12 Ihre zentrale Eigenschaft ist die Ri-
12
Vgl. Fred Hirsch, Social Limits to Growth, Cambridge, Mass., 1976, S. 27f.
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Soziales Handeln
valität in einer Öffentlichkeit. Dadurch erzeugt das Bestreben nach solchen Gütern unvermeidlicherweise die strategische Situation eines Konfliktes (vgl. dazu bereits Abschnitt 3.3 in diesem Band). Die Eigenschaft der Rivalität teilen die Positionsgüter mit den Clubgütern und – insbesondere – mit den Privatgütern. Privatgüter haben aber – anders als die Positionsgüter – weiter keine externen Effekte: Neid und Mißgunst darüber, daß jemand anders ein Wurstbrot verzehrt, würden ein Privatgut mit einer Öffentlichkeit verbinden. Das Wurstbrot wäre dann aber nicht länger ein „Privat“-Gut, sondern ein kollektives Übel. Clubgüter werden – wie wir oben in Abschnitt 6.2.3.3 schon gesehen haben – nach außen hin mehr und mehr zu Positionsgütern, sobald die optimale Clubgröße überschritten zu werden droht. Dann gibt es eine Torschlußpanik um die letzten freien Plätze – wo zuvor freundliche Offenheit auf der einen, und eine gelassene Neugier auf der anderen Seite herrschte. Positionsgüter sind damit also auch geradezu das Gegenteil von Kommunalgütern und von Kooperationsgütern, die ihren Wert ja aus der Gemeinsamkeit ihres Besitzes, ihrer Produktion oder ihres Konsums beziehen. Und sie sind auch etwas ganz anderes als Öffentliche Güter, die wegen des Opportunismus der Menschen zwar schwierig zu produzieren, aber – wenn es sie denn gibt – für alle gleichermaßen verfügbar, gewinnbringend und deshalb interessant sind – im Prinzip ohne jede weitere Rivalität.
Es gibt verschiedene Sorten von Positionsgütern. Erstens gehören dazu alle relativ „besten“ Positionen – Trendsetter, Klassenbester, Nobelpreisträger, Führungspositionen, der soziometrische Star einer Clique: Es kann nicht jeder überdurchschnittlich sein. Es können nicht alle Teilnehmer olympisches Gold ernten. Es kann nicht jeder als Erster die teure Rolex-Uhr sein eigen nennen. Es gibt immer nur ein Fräulein Kiesewetter bei der Führung des Fähnleins Fieselschweif; und wer ihr dies streitig machen will, muß mit dem Schlimmsten rechnen. Und, so schrieb einst die FAZ nach der Brent-Spar-Aktion von Greenpeace, es drängeln sich auf der Plattform der Moral die Gerechten, die sich darin zu überbieten suchen, wer der bessere Mensch ist. Zweitens zählen zu den Positionsgütern alle Ressourcen, die nur verteilt, aber nicht vermehrt werden können: Bei gleichbleibendem Sozialprodukt kann die Lohnquote nur auf Kosten der Unternehmergewinne erhöht werden – und umgekehrt. Ein Schach- oder ein Fußballspiel kann – von der Variante des Remis abgesehen – immer nur einer gewinnen, und der jeweils andere muß dann verlieren. Und von den drei KandidatInnen, die sich um den Parteivorsitz streiten, kann auch nur eine(r) es werden – und die anderen müssen nach der Wahl wieder zurück ins Glied. Drittens sind Positionsgüter alle die Ressourcen, die die Menschen im Zuge ihrer Nutzung durch größere Anzahlen von Akteuren selbst entwerten. Dies kann auf zweierlei Weise geschehen. Erstens kann der relative Wert eines solchen Gutes dadurch gesenkt werden, daß es zum Allgemeingut wird: Wenn jeder das Bundesverdienstkreuz oder den Doktortitel erhält, dann sind das keine für die Produktion sozialer Wertschätzung geeigneten Ressourcen mehr. Zweitens kann der Wert einer Ressource dadurch verfal-
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len, daß die Nutzung der Ressource durch anfangs erst wenige Glückliche andere Interessenten anlockt – wodurch der Wert der Ressource schließlich für alle zerstört wird. Fred Hirsch (1977, S. 36ff.) nennt den Tourismus und den Wunsch nach einem Eigenheim in suburbia als Beispiele. Weil immer mehr Touristen die sagenhafte Ruhe der Toscana genießen möchten, gibt es diese bald nicht mehr. Und weil alle gerne die Kombination von Kurfürstendamm und Ostsee in Köln-Hahnwald verwirklichen wollen, finden sich die Eigenheimbesitzer alle plötzlich in der gleichen Enge wieder, der sie doch entfliehen wollten.
Positionsgüter sind – ganz anders als die Öffentlichen Güter, die Kommunalund die Kooperationsgüter – immer nur in exklusiver, andere Bewerber wirksam ausschließender Weise effizient für die Nutzenproduktion. Das liegt an ihrem grundlegenden Merkmal – der Rivalität. Daraus ergibt sich für das Streben nach Positionsgütern eine eindeutige und brutale Logik der Situation: „Without mutual coordination, the best tactic for every isolated individual will be to rush in before others have spoiled it even more.“ (Hirsch 1977, S. 38)
Kurz: Es setzt ein gnadenloser Wettlauf um die Nutzung bzw. um die Inbesitznahme der Ressourcen mit Positionsguteigenschaften ein. Fred Hirsch nennt diesen Wettlauf „positional competition“: „By positional competition is meant competition that is fundamentally for a higher place within some explicit or implicit hierarchy and that thereby yields gains for some only by dint of losses for others. Positional competition, in the language of game theory, is a zero-sum game: what winners win, losers lose.“ (Ebd., S. 52)
Sankt Florian ist der Schutzheilige der Positionsgüter. Die oft ganz unglaublichen Aufgeregtheiten, wenn es etwa um die Ehre oder um Landbesitz, um das Atomkraftwerk in der eigenen oder in der fremden Umgebung, um Flämisch oder Französisch als Landessprache, oder – ganz allgemein – um die Herrschaft in einem jetzt noch ungeregelten, aber künftig in bestimmter Weise „definierten“ Bereich geht, werden so etwas verständlicher. Mord und den Kampf bis aufs Messer gibt es deshalb – neben den bereits genannten Anlässen der Liebe, der Ehre und des Geldes – vornehmlich auch dann, wenn es um die Herrschaft für die nächsten tausend Jahre geht: Wer bei den Positionsgütern zu spät kommt, den bestraft das Leben tatsächlich – und zwar: ganz besonders hart und nachhaltig. Dieser Wettlauf ist – worauf Fred Hirsch explizit hinweist – ein Korrelat der durch die Technik eines Positionsgutes erzeugten strategischen Situation: Konflikt. Konflikte sind nicht – so haben wir in Abschnitt 3.3 und in Kapitel 4 dieses Bandes gesehen – durch einfache konventionelle Absprachen und auch nicht über essentielle Regelungen zu bändigen. Fred Hirsch irrt also, wenn er meint, daß dieser Wettlauf durch eine „mutual coordination“ zu bändigen sei. Weil es ums Ganze, um Alles oder Nichts geht, müssen härtere Regelungen
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Soziales Handeln
greifen. Die Versuchungen sind bei den Positionsgütern aus technischen Gründen schon viel zu groß, als daß man sich auf moralische Verpflichtungen und Versprechen verlassen könnte. Positionsgüter erzeugen jenen Krieg aller gegen alle, von dem Thomas Hobbes sprach. Bei Positionsgütern bedarf es institutioneller Mittel, die – zur Not – auch gegen den Willen und gegen die Interessen bestimmter Akteure repressiv durchsetzbar sind. Es gibt – letztlich – also nur ein Mittel der repressiven Durchsetzung von Regeln, die den Wettlauf um Positionsgüter beenden könnten: die Herrschaft. Leider ist die Herrschaft selbst ein Positionsgut: Es kann sie nur einer ausüben. Um so heftiger wird deshalb der Wettlauf sein, sie unter Kontrolle zu bekommen. Wer aber – so ist gleich zu fragen – soll denn diesen Wettlauf beenden? Und plötzlich zeigt sich, daß die Einrichtung einer Herrschaft, die den ruinösen Kampf um die Positionsgüter beenden könnte, selbst ein Öffentliches Gut wäre, mit allen Merkmalen eines Gefangenendilemmas: Die Einrichtung der Herrschaft nutzt letztlich allen – auch denjenigen, die an ihr nicht unmittelbar teilhaben, weil auch für sie der Krieg aller gegen alle beendet ist. Aber wer zuerst beim run um das Positionsgut „Herrschaft“ aufgibt, hat schon den Kürzeren gezogen. Und deshalb bleibt es in diesem Zustand der Anarchie – falls nicht ein Wunder geschieht und sich die Menschen nicht doch noch zu einem erfolgreichen kollektiven Handeln zusammenfinden.
6.3
Gesellschaftliche Produktion
Das Ziel dieses Kapitels war es, verständlich zu machen, auf welche Weise die objektiven Umstände der Produktion und der Konsumtion bestimmter Ressourcen, an denen die Menschen Interesse haben, typische soziale Situationen erzeugen und auf diese Weise die Beziehungen der Menschen objektiv strukturieren. Es ging darum, die Art der technischen und sozialen Produktionsfunktionen für bestimmte Arten von Gütern vor dem Hintergrund ihrer technisch bestimmten sozialen Einbettung zu präzisieren. Wir wollen die Einzelheiten nicht wiederholen und auch keine Zusammenfassung liefern, wohl aber zwei Systematisierungen vornehmen. Die erste Systematisierung ist eine Typologie der Güter, die oben besprochen wurden (vgl. Abbildung 6.7):
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Soziales Handeln
Effekte der Gruppengröße. Die Kooperationsgüter können dann noch einmal differenziert werden: Wenn von der Struktur der Auszahlungen her die kollektiven Früchte der Kooperation attraktiver sind als die Ausbeutung des anderen, handelt es sich um ein Assurance-Gut; wenn die gemeinsame Defektion die schlechteste aller Lösungen bildet, ist es ein Chicken-Gut. Mit dieser Typologie ist nun eine Zuordnung der verschiedenen Arten von Gütern zu typischen strategischen Situationen möglich (vgl. Abbildung 6.8). Sie ergibt sich unmittelbar aus der Technik der jeweiligen Produktionsumstände – den Eigenschaften der (Un-)Teilbarkeit, der (Nicht-) Ausschließbarkeit, der (Nicht-)Rivalität, der externen Effekte ganz allgemein, und damit: der Struktur der Auszahlungen in Abhängigkeit der Folgen der Strategien der Akteure und der Auswirkungen der Gruppengröße.
Güterart
Situation
Typ des Problems
Spieltyp
Privat-Gut
parametrisch
keines
Gegen die Natur
Kommunal-Gut
Koordination
Kollektiv-Gut Kooperations-Gut Öffentliches Gut Assurance-Gut Chicken-Gut Club-Gut
Dilemma
Positions-Gut
Prisoner’s Dilemma Assurance Game Chicken Game Battle of the Sexes
strategisch
Konflikt
Nullsummenspiel
Abb. 6.8: Arten von Gütern und Typen strategischer Situationen
Der – nutzenstiftende – Konsum von Privatgütern ist auf parametrische Situationen beschränkt. Alle anderen Güter sind auf irgendeine Weise auf soziale Situationen, genauer: auf strategische Situationen bezogen. Die Zuordnung zu den drei zentralen Arten der sozialen Güter ist einfach: Die Erzeugung der Kommunalgüter bildet ein Problem der Koordination, die der Kollektivgüter – grosso modo – eines einer sozialen Dilemmasituation, und die Positionsgüter
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Kooperation und Produktion
ziehen einen Konflikt nach sich. Die weiteren Unterscheidungen entsprechen speziellen Varianten dieser drei spieltheoretischen Grundkonstellationen: Öffentliche Güter korrespondieren mit einem Gefangenendilemma. Bei den Kooperationsgütern ist die Zuordnung etwas schwieriger. Einmal ist es ein Assurance-Game, und einmal handelt es sich um ein Chicken Game. Bei den Clubgütern ist ohne weiteres keine Zuordnung möglich. Clubgüter haben unterschiedliche Eigenschaften – je nach der Situation in Bezug auf ihre Optimalgröße. Besonders typisch scheint für sie aber der partielle Konflikt zu sein, der mit dem Überschreiten des Optimalpunktes stets droht. Wir haben ihnen deshalb die strategische Situation des Battle of the Sexes zugeordnet. Die Positionsgüter schließlich lassen sich wieder eindeutig klassifizieren: Sie sind definitionsgemäß ein Ergebnis von Nullsummenkonstellationen und erzeugen die strategische Situation des reinen Konfliktes. Entsprechend sehen dann natürlich auch die Lösungen für eine effiziente Produktion der jeweiligen Güter und der entsprechende Normbedarf aus. Im Anschluß an die Darstellung in Abbildung 4.1 in Kapitel 4 in diesem Band lassen sie sich so zuordnen (Abbildung 6.9):
Güterart
strategische Situation
Normbedarf
Privatgut
parametrisch
(keiner)
Kommunalgut
Koordination
konventionell
Kollektivgut
Dilemma
essentiell
Positionsgut
Konflikt
repressiv
Abb. 6.9: Güterarten, strategische Situationen und Normbedarf
Kurz: Für die Nutzenproduktion durch Privatgüter reichen schon die Interessen der Akteure und ihre individuelle Kontrolle über die betreffenden Ressourcen. Einen besonderen Normbedarf gibt es für deren Konsumtion nicht, wohl aber freilich schon wieder für ihre Verteilung, etwa über die Transaktion des Tausches (vgl. dazu noch Kapitel 10 bis 12 dieses Bandes). Für die Produktion der Kommunalgüter reichen einfache Konventionen. Ihre Welt ist die freundliche Welt der Interessenkonvergenz und der kommunikativen Verstän-
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Soziales Handeln
digung. Für die Bereitstellung der Kollektivgüter müssen – ganz generell und ohne weitere Unterscheidung – dagegen schon essentielle Normen heran, um die Falle der antagonistischen Kooperation zu durchbrechen. Und bei den Positionsgütern führt vollends nur noch eine repressive Regelung zur Beendigung des Wettstreits – wenn die Menschen das überhaupt wollen. Essentielle Normen und die Herrschaft sind aber selbst wieder Formen der Einrichtung einer sozialen Ordnung unter den Bedingungen der antagonistischen Kooperation und des Konfliktes. Sie sind selbst – wie die soziale Ordnung ganz allgemein – wiederum Kollektivgüter, weil die Menschen schon der Falle der Dilemmasituation entgehen oder den Konflikt beendet sehen möchten. Auf sie treffen alle Eigenarten zu, wie wir sie dafür kennengelernt haben, insbesondere die, daß sie nicht ohne weiteres bereitgestellt werden. Damit das geschieht, müssen sich die Menschen zu einer besonderen kollektiven Anstrengung aufraffen. Es ist das allgemeine Problem des kollektiven Handelns. Wir kommen gleich darauf zu sprechen – im nächsten Kapitel.
Kapitel 7
Kollektives Handeln
Die über die enge und zahlenmäßig kleine „Gemeinschaft“ von Familie und Verwandtschaft hinaus organisierte arbeitsteilige große „Gesellschaft“ mit ihrer staatlich verwalteten Infrastruktur, mit ihren weitläufigen Institutionen, vielfältigen Verbänden und Interessenvertretungen und mit ihrer übergreifenden und auf Beachtung kontrollierten rechtlichen Verfassung ist eine ganz besonders geeignete Erfindung gewesen, um das Leben der Menschen deutlich zu erleichtern. Damit erst hat sich der Mensch von den Zwängen der Natur und von seinen anthropologischen Mängeln emanzipieren können. David Hume formuliert diesen – so wohl nicht überall geteilten–Gedanken so: „’Tis by society alone he is able to supply his defects, and raise himself up to an equality with his fellow-creatures, and even acquire a superiority above them. By society all his infirmities are compensated ... .“1
Das Problem liegt auf der Hand: Alleine – und in allzu kleinen Gemeinschaften – sind die Menschen hilflos und ungeschützt und stets von Elend und Untergang bedroht: „When every individual person labours a-part, and only for himself, his force is too small to execute any considerable work; his labour being employ’d in supplying all his different necessities, he never attains a perfection in any particular art; and as his force and success are not at all times equal, the least failure in either of these particulars must be attended with inevitable ruin and misery.“ (Ebd.)
Gemeinschaftlich in der Gesellschaft sind sie dagegen eine Macht. Und zwar: Durch die Zusammenlegung ihrer Kräfte, durch die arbeitsteilige Spezialisierung und durch die wechselseitige Absicherung gegen die Fährnisse des Lebens: „Society provides a remedy for these three inconveniences. By the conjunction of forces, our power is augmented: By the partition of employments, our ability encreases: And by mutual 1
David Hume, A Treatise of Human Nature: Being An Attempt to Introduce the Experimental Method of Reasoning into Moral Subjects, Oxford 1967 (zuerst: 1739), S. 485.
200
Soziales Handeln
succour we are less expos’d to fortune and accidents. ‘Tis by this additional force, ability and security, that society becomes advantageous.“ (Ebd.)
Je mehr Menschen sich in einer Gesellschaft zusammenfinden, um so mehr an Arbeitsteilung, an Ressourcenzusammenlegung und Versicherung sind möglich. Wohl nicht völlig gegen die Interessen der Menschen werden daher die Gesellschaften tendenziell immer größer – bis hin zur Perspektive einer, wenn nicht „sozial“ integrierten, so doch ökonomisch interdependenten, Weltgesellschaft. Daß es zur Organisation großer, arbeitsteiliger Gesellschaften und ihrer Infrastruktur gekommen ist, kann nicht bestritten werden. Aber daß das geschehen konnte, war keineswegs selbstverständlich. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Die Zusammenlegung von Ressourcen, die Arbeitsteilung und die gegenseitige Versicherung sind – wie die Gesellschaft und der Staat als Ganzes – jeweils ein Kollektivgut, genauer: ein Öffentliches Gut. Und solche Güter werden – wie wir in Kapitel 6 in diesem Band ja gesehen haben – nicht so ohne weiteres bereitgestellt. Es kommt noch eine verschärfende Schwierigkeit hinzu, auf die wir bei der Besprechung der Kollektivgüter in Kapitel 6 oben in diesem Band schon stießen: Die Überwindung dieses Problems ist um so schwieriger, je größer die Gruppe ist, die sich „selbst“-organisieren will. Kurz: Je attraktiver die Zusammenlegung der Ressourcen wegen der Größe der Gruppe ist, um so schwieriger wird das Unternehmen gleichzeitig. Das Problem Das geschilderte Problem ist ein Spezialfall des Problems der Erzeugung eines Öffentlichen Gutes. Es ist der Gegenstand einer inzwischen schon klassisch gewordenen Analyse gewesen: „Die Logik des kollektiven Handelns“ von Mancur Olson.2 Das Argument ist so einfach wie einleuchtend. Für den Einzelnen wäre es – auch bei einem großen Interesse an dem jeweiligen Öffentlichen Gut – ganz und gar unvernünftig, freiwillig den erforderlichen Beitrag zu leisten: Die Kosten für die Produktion des Gutes wären ihm sicher. Er würde es auch erhalten, wenn es die jeweils anderen bereitstellen. Aber sein individueller Beitrag hätte nur einen unmerklichen oder zumindest vergleichsweise kleinen Effekt darauf, daß es bereitgestellt wird. Dieser individu2
Mancur Olson, Jr., Die Logik des kollektiven Handelns. Kollektivgüter und die Theorie der Gruppen, Tübingen 1968 (zuerst: 1965). Beachten Sie bitte, daß wir im Folgenden auf der Grundlage der Begrifflichkeit aus Kapitel 6 in diesem Band nicht, wie Mancur Olson, von Kollektivgütern, sondern von Öffentlichen Gütern sprechen. Vgl. zur Diskussion über den Beitrag von Olson u.a. Lars Udéhn, Twenty-five Years with The Logic of Collective Action, in: Acta Sociologica, 36, 1993, S. 239-261. Versuchen Sie selbst einmal, sozusagen als Übung, zum Schluß dieses Kapitels die z.T. sehr kritischen Einwände von Udéhn zu beantworten.
Kollektives Handeln
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elle Beitrag sinkt schon aus technischen Gründen mit der Größe der Gruppe. Und ebenfalls sinkt mit der Gruppengröße die Gefahr, daß sein Trittbrettfahren auffällt, und er sich die empörten Gesichter der anderen ansehen muß.
Kurz: Die ohnehin schon bestehenden Schwierigkeiten, ein Öffentliches Gut zu erstellen, werden größer und größer, je größer die Gruppe der Interessenten an dem Öffentlichen Gut ist. Mancur Olson erläutert das Problem des kollektiven Handelns am Beispiel eines Gewerbezweiges, der sich eine staatliche Unterstützung wünscht – einen Zoll für seine Produkte, eine Steuerermäßigung, ein Preisstützungsprogramm etwa. Der Zoll, die Steuerermäßigung bzw. die Preisstützung wären das Öffentliche Gut, um das es der Branche geht. Was müßte getan werden? Die einzelnen Unternehmer der Branche müßten eine Lobby organisieren, die eine Kampagne beginnen müßte. Das wiederum verlangt nach Geld und Personal, Anzeigen und Werbespots müßten geschaltet werden – und so weiter. Aber jeder einzelne Unternehmer denkt sich im Stillen: Warum gerade ich? Wenn ich keinen Beitrag zahle, schadet das nicht viel. Wenn ich es aber tue, dann nutzt das auch nicht sehr – und das alles um so weniger, je größer die Zahl der Mitinteressenten ist. Das ersparte Geld könnte ich dagegen gut gebrauchen – etwa um durch Investitionen die eigenen Produktionskosten zu senken, dadurch die Gewinnspanne individuell zu steigern und die anderen vom Markt zu drängen. Und wenn die anderen die Kampagne machen und Erfolg haben? Großartig! Dann habe ich den Zoll, die Steuerermäßigung oder die Preisstützung noch obendrein.
Die Nichtorganisierbarkeit der kollektiven Interessen ist offenbar nichts weiter als ein Spezialfall des Gefangenendilemmas: Öffentliche Güter sind nicht teilbar und – vor allem – nicht ausschließbar. Und deshalb wird ein jeder abwarten und hoffen, daß die anderen das Gut bereitstellen, und daß er selbst als free rider, als Trittbrettfahrer, die Früchte von deren Bemühungen miterntet: „Obwohl ... alle Mitglieder der Gruppe ein gemeinsames Interesse haben, diesen kollektiven Vorteil zu erlangen, haben sie doch kein gemeinsames Interesse daran, die Kosten für die Beschaffung dieses Kollektivgutes zu tragen. Jeder würde es vorziehen, die anderen die gesamten Kosten tragen zu lassen, und würde normalerweise jeden erreichten Vorteil mitgenießen, gleichgültig, ob er einen Teil der Kosten getragen hat oder nicht.“ (Olson 1968, S. 20)
Das Problem des kollektiven Handelns gibt es für alle Aggregate von individuellen Akteuren mit einem gemeinsamen Interesse vom Typ eines Öffentlichen Gutes – auch dann, wenn sie massive Interessen daran haben. Anders als das etwa die soziologische Gruppentheorie lange Zeit geglaubt hat, wächst mit der Intensität des Interesses und mit der Zahl der Betroffenen keineswegs die Wahrscheinlichkeit, daß sich – etwa – die entrechteten Massen zum Kampfe zusammenschließen. Geradezu das Gegenteil scheint der Fall zu sein. So ist zum Beispiel auffällig, daß sich Arbeitslose, Rentner, Obdachlose, Hausfrauen oder Sozialhilfeempfänger praktisch nirgendwo zu eigenen Interessengruppen organisieren, obwohl sie allen Grund dazu hätten und auch
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Soziales Handeln
durchaus von großer Zahl sind. Nein: Jeder leidet still vor sich hin und wartet individuell, daß etwas geschieht. Kurz: Ohne weiteres werden große unorganisierte Massen kaum etwas unternehmen, um ihr Schicksal durch kollektives Handeln zu wenden. Das Problem ist keineswegs auf Unterprivilegierte oder auf die Organisation von Umstürzen beschränkt – wie schon das Beispiel von der schwierigen Organisation einer Lobby zeigte. Den gleichen Problemen sieht sich etwa auch die Einrichtung eines wirksamen freiwilligen Umweltschutzes gegenüber (siehe auch das für Abbildung 7.1 erläuterte Beipiel unten). Die OPEC hat – nach ihrer zeitweiligen Blüte in den 70er Jahren – mindestens zeitweise jede Fähigkeit verloren, die Ölpreise auf einem Niveau zu halten, das ihren Interessen entspricht – und auch für das Energiebewußtsein und die Entwicklung alternativer Energien wichtig wäre. Nicht erst neuerdings haben die Gewerkschaften, die Parteien, die vielen Vereine, Verbände und „Interessen“-Gemeinschaften alle Hände voll damit zu tun, ihre Mitglieder bei der Stange zu halten – von zunehmenden Schwierigkeiten, noch jemanden zur Übernahme eines Ehrenamtes oder dergleichen zu bewegen, einmal ganz zu schweigen. Und trotz aller patriotischer Ideologien und nationaler kultureller Werte gibt es keinen größeren Staat, der sich allein durch freiwillige Abgaben erhalten könnte: Ohne Kontrolle verkommt überall die Steuer zur Spende, von der allein aber kein Staat zum Wohle seiner Bürger leben kann. Die Parzellenbauern von Frankreich Gelegentlich wird – auch von Mancur Olson – Karl Marx die naive Auffassung zugeschrieben, daß die massenhafte Verbreitung von Interessen alleine schon ihre kollektive Organisation bewirken könne (Olson 1968, S. 106f.). Für diese Unterstellung gibt es sicher auch manchen Grund: Karl Marx hat in der Tat sehr unterschätzt, wie voraussetzungsreich der Übergang von dem objektiven Interesse der Klasse an sich in das subjektive Bewußtsein und das revolutionäre kollektive Handeln der Klasse an und für sich ist (vgl. dazu bereits Abschnitt 10.4 und 12.3 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, sowie noch einige Beispiele in Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Aber mindestens hat er das Problem geahnt. Im „Achtzehnten Brumaire“ beklagt sich Karl Marx beispielsweise sehr über die von ihm so genannten Parzellenbauern in Frankreich, weil die sich in keiner Weise gegen die Operettenrevolution des Louis Bonaparte von 1851 gewandt hätten, obwohl sie – wie auch das Pariser Proletariat – seiner Theorie gemäß dazu ein objektives Interesse hätten haben und auch hätten danach handeln sollen. Aber er findet
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eine interessante Erklärung dafür: Die Bauern waren auf ihren Parzellen zu isoliert voneinander und konnten daher keine schlagkräftige Vertretung ihrer Interessen auf die Beine stellen: „Die Parzellenbauern bilden eine ungeheure Masse, deren Glieder in gleicher Situation leben, aber ohne in mannigfache Beziehung zueinander zu treten. Ihre Produktionsweise isoliert sie voneinander, statt sie in wechselseitigen Verkehr zu bringen. ... Jede einzelne Bauernfamilie genügt beinahe sich selbst, produziert unmittelbar selbst den größten Teil ihres Konsums und gewinnt so ihr Lebensmaterial mehr im Austausche mit der Natur als im Verkehr mit der Gesellschaft. Die Parzelle, der Bauer und die Familie; daneben eine andre Parzelle, ein andrer Bauer und eine andre Familie. Ein Schock davon macht ein Dorf, und ein Schock von Dörfern macht ein Departement. So wird die große Masse der französischen Nation gebildet durch einfache Addition gleichnamiger Größen, wie etwa ein Sack von Kartoffeln einen Kartoffelsack bildet.“3
Natürlich bilden die Parzellenbauern für Karl Marx eine soziale „Klasse“ (vgl. dazu Kapitel 12 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ausführlich): Sie teilen ja die „Dieselbigkeit der Revenuen“ und haben so ein gemeinsames objektives Interesse – gegen andere Klassen mit anderen Interessen: „Insofern Millionen von Familien unter ökonomischen Existenzbedingungen leben, die ihre Lebensweise, ihre Interessen und ihre Bildung von denen der andern Klassen trennen und ihnen feindlich gegenüberstellen, bilden sie eine Klasse.“ (Marx 1960, S. 198)
Aber die objektiven Interessen und die bloße räumliche Nähe ohne jede weitere Verbundenheit reichen offenkundig nicht, um sie auch dazu zu bringen, ihre Interessen kollektiv zu organisieren und in der politischen Auseinandersetzung wirksam zu vertreten: „Insofern ein nur lokaler Zusammenhang unter den Parzellenbauern besteht, die Dieselbigkeit ihrer Interessen keine Gemeinsamkeit, keine nationale Verbindung und keine politische Organisation unter ihnen erzeugt, bilden sie keine Klasse. Sie sind daher unfähig, ihr Klasseninteresse im eigenen Namen, sei es durch ein Parlament, sei es durch einen Konvent geltend zu machen. Sie können sich nicht vertreten, sie müssen vertreten werden.“ (Ebd.; Hervorhebung nicht im Original)
Deshalb fielen sie auf Louis Bonaparte, einen, wie Karl Marx meint, aus der Fremde herbeigelaufenen Glücksritter ungewisser Geburt, und auf die Erinnerung an glorreiche Zeiten herein: „Durch die geschichtliche Tradition ist der Wunderglaube der französischen Bauern entstanden, daß ein Mann namens Napoleon ihnen alle Herrlichkeit wiederbringen werde. Und es fand sich ein Individuum, das sich für diesen Mann ausgibt, weil es den Namen Napoleon
3
Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: Marx-Engels-Werke, Band 8, Berlin 1960, S. 198.
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Soziales Handeln
trägt, infolge des Code Napoléon, der anbefiehlt: ‚La recherche de la paternité est interdite‘“ (Ebd., S. 199)
Kurz: Die Parzellenbauern fanden auch nicht in ihrem Bewußtsein zu ihrem objektiven Interesse und zu keinem daran orientierten kollektiven Handeln, weil sie zu isoliert voneinander waren. Karl Marx meinte, daß die Zusammenführung der arbeitenden proletarischen Massen in den Fabriken der Großstädte dieses Problem beheben würde, und daß deshalb – mit der unausweichlichen Zunahme der Verelendung der Massen – es zwangsläufig zur gesellschaftlichen Umwälzung komme. Auch darin hat Karl Marx sich sehr geirrt: Die sozialistische Revolution fand im landwirtschaftlichen Rußland statt, und es war eine Revolution von oben. Später haben sich die kritischen Soziologen der sog. Frankfurter Schule auch über die – für sie empörend – unkritische „Massenloyalität“ der ArbeiterInnen im „Spätkapitalismus“ gewundert, die sich mehr für Schalke 04, Lady Di und die Super-Illu, als für ihre wirklichen Interessen zu interessieren schienen. Und andere haben dann versucht, den Massen gewaltsam das richtige Bewußtsein in die Köpfe zu bomben. Erfolglos, wie wir wissen.
Ihnen allen sei – wissenschaftlich – verziehen: den Massen, weil sie dem Problem des kollektiven Handelns gegenüberstanden. Und Marx und Habermas und Baader und Meinhof, weil sie von Olson und dem Problem des kollektiven Handelns nichts wußten. Die Logik des kollektiven Handelns Wie eine „Gruppe“ handelt, hängt davon ab, was die einzelnen Mitglieder der Gruppe kollektiv tun. Das Grundproblem des kollektiven Handelns ist uns nicht neu. In Kapitel 6 in diesem Band wurde es ausführlich im Zusammenhang mit den Öffentlichen Gütern behandelt. Dort war festgestellt worden, daß das „Dilemma“ bei der Erstellung von Öffentlichen Gütern von der Anzahl der Betroffenen unabhängig sei: Die aufzubringenden Kosten übersteigen bei einem Öffentlichen Gut immer den zu erwartenden individuellen Nutzen – egal wie groß die Gruppe ist. Das wollen wir am Beipiel der Organisation einer sauberen Umwelt durch freiwillig motiviertes Handeln noch einmal genauer betrachten. Das die Akteure interessierende Gut sei eine intakte Umwelt. Es wird angenommen, daß alle Akteure das gleiche Interesse an einem effektiven Umweltschutz haben. Umweltschutz ist ein Öffentliches Gut par excellence: Saubere Luft ist unteilbar, nicht ausschließbar und nicht rivalisierend. Die Gruppe habe die Größe N. Die Anzahl derjenigen, die sich jeweils aktiv am Umweltschutz beteiligen, betrage n (als Teilmenge von N). Eine naheliegende techni-
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sche Annahme wäre dann, daß der Wert des Öffentlichen Gutes „Umwelt“ linear mit der Anzahl der Aktiven n zunimmt. Also: In die Produktionsfunktion des Gutes geht die Anzahl der Produzenten mit ein. Der Maximalwert des Öffentlichen Gutes sei mit Ue bezeichnet. Er ist gemäß dieser Annahme erreicht, wenn alle Mitglieder der Gruppe mitmachen. Und das heißt: Der Wert des Öffentlichen Gutes ist minimal bei n=0 und maximal bei n=N. Über sechs einfache Annahmen läßt sich dann die soziale Situation der Akteure modellieren. 1. Der realisierte Wert des Öffentlichen Gutes Ur ist gleich dem maximalen Nutzen des Öffentlichen Gutes Ue, gewichtet mit dem Anteil der Aktiven an der Gesamtzahl der Gruppe; also: Ur=(n/N)Ue. Der Minimalwert ist damit gleich 0, der Maximalwert (N/N)Ue=Ue. 2. Das umweltgerechte Handeln zieht für den betreffenden Akteur sichere Kosten in Höhe von C nach sich. 3. Durch die Beteiligung eines Akteurs steigt der Wert des Öffentlichen Gutes um einen bestimmten Betrag. Und zwar: um die Differenz seines Wertes vor und nach der Beteiligung durch den Akteur. Vor der Beteiligung ist der Wert gleich (n/N)Ue, danach gleich ((n+1)/N)Ue. Dieser Wert des eigenen Beitrags sei mit Ui bezeichnet. Also: Ui=((n+1)/N)Ue-(n/N)Ue. 4. Ur bzw. Ue und Ui beziehen sich auf das Öffentliche Gut. Es gebe aber auch, neben den sicheren Kosten K, jeweils auch einen sicheren individuellen weiteren Anreiz zum umweltgerechten Handeln – etwa die Prämie eines guten Gewissens oder das Wohlwollen einer umweltgerechten lila Freundin, wenn sie riecht, daß sich ihr Gefährte zur Schonung der fossilen Energieträger wochenlang nicht geduscht hat. Diese sichere Extraprämie der Beteiligung sei mit Um abgekürzt. 5. Der Wert seiner Beteiligung an der Bereitstellung des öffentlichen Gutes setzt sich damit für den individuellen Akteur aus dem für ihn positiven externen Effekt der auch ohne ihn realisierten kollektiven Bereitstellung des Gutes Ur, den mit seiner Beteiligung erhöhten Wert Ui und dem unmittelbaren individuellen Nutzen Um zusammen. 6. Die Kosten K der Beteiligung seien – einstweilen! – stets größer als der aus der individuellen Beteiligung sicher zu erwartende Nutzen. Es gilt also: K>Ui+Um.
Alle diese Annahmen bleiben, so wollen wir ferner annehmen, für die verschiedenen möglichen Teilnehmerzahlen zwischen n=0 und n=N gleich. Wie sehen dann die Gewichte für die Handlungsalternativen der Akteure aus? Die Alternativen seien – wie üblich – mit C (umweltgerechte Kooperation) und D (umweltschädliche Defektion) bezeichnet. Alle Erwartungen sind – der Annahme gemäß – sicher. Daher kommen nur Nutzen U und Kosten K, aber keine Erwartungen p in den Gewichtungen von C und D vor. Aus den Annahmen 1 bis 6 lassen sich dann die EU-Gewichte für die Alternativen C und D – EU(C) und EU(D) – leicht benennen: EU(C) = Ur + (Ui+Um) – K
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Das Ergebnis ist eindeutig: Auch im N-Personenfall bildet die Bereitstellung eines Öffentlichen Gutes ein Gefangenendilemma mit der allseitigen Defektion als einzigem Gleichgewicht (vgl. dazu auch schon Abschnitt 6.2 in diesem Band). Es ist die Verallgemeinerung des Gefangenendilemmas auf beliebig große Gruppen und auf beliebig fein unterteilbare Grade an Kooperation. Kleine Gruppen Soweit, so deprimierend. Aber stimmt das eigentlich so ohne weiteres, daß sich unter allen Umständen und auch in kleinsten Gruppen das Problem des kollektiven Handelns nicht auch durch freiwillige Kooperation und Selbstorganisation lösen läßt? Mancur Olson fügt an vielen Stellen seines Argumentes den eher unscheinbaren Zusatz ein, daß das Problem auch deshalb entstehe, weil für den Einzelnen die individuellen Kosten immer sicher und merklich, der individuelle Beitrag zur Produktion des Kollektivgutes – und damit der durch die eigene Teilnahme zu erwartende zusätzliche Ertrag – aber unmerklich und nur minimal seien. Beispielsweise beschreibt Mancur Olson die Situation für das normale Mitglied in einer großen Organisation oder für einen Steuerzahler in einem Staate so: „Seine eigenen Anstrengungen werden keinen merklichen Einfluß auf die Situation seiner Organisation haben; er selbst jedoch kann sich jeder Verbesserung erfreuen, die von den anderen herbeigeführt wurde, gleichgültig ob er zur Unterstützung seiner Organisation beigetragen hat oder nicht.“ (Olson 1968, S. 15; Hervorhebung nicht im Original)
Der „merkliche Einfluß“ aber hat durchaus etwas mit der Größe der Gruppe zu tun: Bei einer Anzahl von drei Akteuren in der Gruppe beträgt das Gewicht für meinen Einfluß immerhin ein Drittel des Gesamtwertes des Öffentlichen Gutes. Wenn das Gut für mich sehr wertvoll wäre, dann lohnte es sich vielleicht schon, es alleine zu produzieren – vorausgesetzt die Kosten wären nicht zu hoch. Dann wäre mir auch egal, ob andere als free rider mitführen: Ein rationaler Egoist kennt die Mißgunst – wie die Liebe – nicht. Bei einer Gruppe von 100, von 3000 oder gar 80 Millionen sieht das natürlich ganz anders aus. Dies allein zeigt, um mit Georg Simmel in seinem berümten Beitrag zur quantitativen Bestimmtheit der Gruppe zu sprechen, „ ... die ungeheure Bedeutung der Zahlbestimmtheit für die Struktur der Gruppe.“5
5
Georg Simmel, Die quantitative Bestimmtheit der Gruppe, in: Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, 5. Aufl., Berlin 1968a (zuerst: 1908), S. 47.
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Wenn der individuelle Anteil bei der Erzeugung des Öffentlichen Gutes – wie bei kleinen Gruppen durchaus denkbar – nicht zu gering ist, dann kann es Konstellationen geben, bei denen die Nutzen-Kostenbilanz bei bestimmten Anteilen von Kooperateuren positiv ist – und eben nicht wie in Abbildung 7.1 – unterschiedslos immer negativ. Das aber hängt wiederum vom genauen Verlauf der Kosten- und der Ertragsfunktionen in Abhängigkeit der Teilnehmerzahl in einer Gruppe ab. Kritische Massen Die Gruppe habe – wie im oben besprochenen Fall des N-PersonenGefangenendilemmas – die Größe N. Es soll angenommen werden, daß der Wert Ue des Öffentlichen Gutes linear mit dem Anteil n/N der kooperierenden Akteure zunehme. Die Kostenfunktion habe jedoch – anders als im Beispiel oben – einen nicht-linearen Verlauf. Zuerst sind die (durchschnittlichen) Kosten pro Einheit des Öffentlichen Gutes höher als sein Wert. Die Kosten pro Einheit des Öffentlichen Gutes und pro Teilnehmer an seiner Herstellung sinken dann jedoch ab. Der Grund dafür ist einleuchtend: Meist müssen für die Bereitstellung Öffentlicher Güter einige Startinvestitionen vorgenommen werden, die jetzt auf immer mehr Schultern verteilt werden können. Außerdem gibt es Effekte der sog. economies of scale: die Kostenersparnisse durch die „Massenproduktion“. Das ist ja gerade der Grund, warum Clubs gegründet werden. Ab einem bestimmten Schwellenwert steigt jedoch die Kostenkurve wieder an. Auch dafür gibt es Gründe genug: Jedes Produkt hat solche technisch bedingten Schwellen der effizienten Produktion (vgl. dazu noch Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ausführlich). Bei manchen Kollektivgütern – den sog. Clubgütern – kommt außerdem bald die bisher nicht weiter bemerkbare Rivalität zum Tragen (vgl. dazu schon Abschnitt 6.2 oben): Wenn immer mehr mitmachen, steigen die Kosten der eigenen Teilnahme (vgl. dazu Olson 1965, S. 21-31). Einen ähnlichen Effekt kann die zunehmende Zahl der Teilnehmer auf den Ertrag haben: Er nimmt ab, je mehr Mitglieder ein Club hat, die alle Ressourcen gleichzeitig beanspruchen. Schließlich wachsen die Kosten mit steigender Teilnehmerzahl immer schneller und über alle Grenzen hinaus.
Diese Zusammenhänge zwischen Teilnehmerzahl, linearen Erträgen und nicht-linearen Kosten beim kollektiven Handeln lassen sich graphisch wie in Abbildung 7.2 zusammenfassen (vgl. auch Olson 1965, S. 31).
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Gewicht für die Kooperation C wie zuvor kleiner als für die Defektion D, dann gibt es – wenn die Kosten hinreichend absinken – eine Zone, in der es größer ist. Und schließlich ist das EU-Gewicht für die Kooperation C wieder kleiner als für die Defektion D.
In der Zone zwischen a und b (in Abbildung 7.1 und 7.2 ) wäre also ein eigener individueller zusätzlicher Anreiz für die bis dahin noch nicht kooperierenden Mitglieder naheliegend und nützlich. Die Frage ist nur: Wie bringe ich – auch in einer recht kleinen Gruppe – die anderen dazu, schon einmal so weit anzufangen, daß die kritische Masse von Aktiven in Punkt a erreicht wird, und daß es sich jetzt auch für mich lohnt, einzusteigen? Die Ausbeutung der Großen durch die Kleinen Bisher haben wir die Annahme gemacht, daß alle Akteure das gleiche Interesse an dem Öffentlichen Gut haben, und daß sie auch alle nur einen relativ kleinen Beitrag liefern können. Das muß natürlich nicht so sein. In den meisten Gruppen gibt es Akteure, die einen größeren Beitrag liefern wollen und auch können als andere. Im Extremfall: Einer alleine könnte schon das Öffentliche Gut bereitstellen – oder wenigstens so viel davon, daß die kritische Untergrenze a in den Beispielen in Abbildung 7.1 und 7.2 überschritten würde. Jetzt müßten exakt diese Akteure noch ein besonderes Interesse an dem Gut haben, das höher ist als die Kosten seiner Bereitstellung. Wenn das aber der Fall ist, dann werden diese wenigen mächtigen und interessierten Mitglieder der Gruppe das Öffentliche Gut beschaffen – und die vielen kleinen, vielleicht noch mehr interessierten, aber deutlich weniger einflußreichen, werden freudig zusehen, wie die Großen Gutes für sie tun. Von der Struktur der strategischen Situation ist es dann kein Gefangenendilemma mehr: Die interessierten Mitglieder fürchten nicht so sehr, daß sie alleine aktiv werden würden, sondern – mehr als alles andere – daß das Gut nicht entsteht. Deshalb machen ja Chefs lieber selbst die Arbeit, ehe sie zusehen müssen, daß die Mitarbeiter sich nicht rühren oder alles – wie immer – in den Sand setzen. Es handelt sich aus der Sicht des Chefs um die Struktur eines Chicken Games: Lieber mache ich selbst den Kram, als daß nichts geschieht. Und dazu nehme ich auch in Kauf, daß meine Mitarbeiter sich ein schönes Leben machen. Einstweilen jedenfalls.
Mancur Olson hat dieses Phänomen, daß die Großen gelegentlich die Nerven verlieren und das Öffentliche Gut lieber alleine auf die Beine stellen als darauf zu warten, daß sich die Kleinen einigen, die „Tendenz zur ‚Ausbeutung‘ der Großen durch die Kleinen“ genannt (Olson 1968, S. 28). Ein historisches Beispiel dafür sind die Gründung der NATO und der UNO gewesen: Die USA hatten – in den Zeiten des Kalten Krieges – daran jeweils ein massives Interesse und die
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Mittel dazu. Und Dänemark, Holland, Belgien, Luxemburg und die kleine deutsche Bundesrepublik haben sich darüber gefreut. Für die Europäische Union spielt die größer gewordene Bundesrepublik Deutschland seit einiger Zeit diese Rolle. Es ist die Rolle des Zahlmeisters, der das aber keineswegs bloß aus Altruismus tut.
Das Phänomen weist auf einen interessanten Sachverhalt hin: Die Gleichheit der Menschen kann sie gerade in großen Gruppen lähmen. Ein mächtiger und interessierter Herrscher brächte sie – unter Umständen! – zum kollektiven Handeln und zur Erzeugung von Gütern, die sie ohne die Herrschaft niemals erreicht hätten. Das ist der Kern einer jeden Legitimierung von Herrschaft und der Grund dafür, daß es Herrschaft auch gegen alle darin eingebauten Konflikte überall dort gibt, wo Menschen sich zu Verbänden zusammengeschlossen haben. Ausnahmslos. Gruppengröße und Gruppenverhalten Es ist also leicht vorstellbar, daß in kleinen Gruppen die Wahrscheinlichkeit zunimmt, daß es wenigstens ein Mitglied gibt, das das Öffentliche Gut erzeugen will und kann. Natürlich gibt es auch für sehr kleine Gruppen dafür keine Garantie: Öffentliche Güter unterliegen im Prinzip immer dem Gefangenendilemma; und das gilt auch schon für eine Gruppe von zwei Personen. Alles hängt von den Produktionsfunktionen und von der Verteilung von Interesse und Kontrolle in der Gruppe ab. Hoffentlich gibt es wenigstens den Einen, der die Nerven verliert und die nötigen Mittel hat. Das Problem verschärft sich jedoch ohne Zweifel mit der Größe der Gruppe: Der Anteil des Beitrags jedes einzelnen Mitgliedes wird kleiner und unmerklicher. Und deshalb wird es in großen Gruppen immer unwahrscheinlicher, daß irgendjemand sich bereit findet. Daher klingt die zentrale Hypothese über das Problem des kollektiven Handelns bei Mancur Olson auch ganz plausibel: „ ... je größer die Gruppe ist, um so weniger wird sie in der Lage sein, die optimale Menge eines Kollektivgutes bereitzustellen.“ (Olson 1968, S. 33).
Aber so ohne weiteres stimmt das auch wieder nicht: Auch in sehr großen Gruppen kann es ja – wie wir oben gesehen haben – einen sehr interessierten und hinreichend mächtigen Akteur geben, der sich der Sache annimmt. Die Einteilung der Gruppen in solche, die sich „selbst“ organisieren können, und solche, für die das nicht gilt, muß also anders erfolgen als über den alleinigen Verweis auf die Größe der Gruppe – obwohl die schiere Anzahl der Mitglieder einer Gruppe für die Logik des kollektiven Handelns ohne Zweifel ein wichtiger Parameter ist.
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Latente und privilegierte Gruppen Gruppen, in denen es niemanden gibt, dessen individuelles Interesse an dem Öffentlichen Gut seine Kosten übersteigt, werden seit Mancur Olson – im Anschluß an eine Ausdrucksweise von Georg Simmel – als latente Gruppen bezeichnet. Privilegierte Gruppen sind demgegenüber solche, bei denen es mindestens ein Mitglied gibt, das interessiert und in der Lage wäre, das Gut zu beschaffen. Der Extremfall wäre natürlich, wenn alle Mitglieder der Gruppe in dieser Lage wären. Sanktionen Leicht wird nachvollziehbar, daß die Wahrscheinlichkeit der Existenz einer privilegierten Gruppe mit der Gruppengröße zusammenhängt: Mit der Größe der Gruppe steigen wahrscheinlich die Organisationskosten, und es sinkt der individuelle Beitrag. Hinzu kommt aber noch ein Faktor, der „eigentlich“ unter rationalen Egoisten nicht weiter wichtig sein sollte. Mancur Olson weist selbst darauf hin: „Es kommt darauf an, ob die individuellen Handlungen eines oder mehrerer Mitglieder der Gruppe von den anderen Mitgliedern bemerkt werden können. Das hängt ganz offensichtlich, jedoch nicht ausschließlich, von der Anzahl der Gruppenmitglieder ab.“ (Olson 1968, S. 44; Hervorhebung nicht im Original)
Also: Es sind auch die bemerkbaren Handlungen und Sanktionen anderer Mitglieder, die jemanden dazu bewegen können, sich doch an der Produktion des Öffentlichen Gutes zu beteiligen – die negativen Sanktionen des Tadels ebenso wie die positiven eines Lobs. Man verachte deren Bedeutung nicht: Lob und Tadel sind höchst effiziente Zwischengüter für die Produktion sozialer Wertschätzung oder deren Entzug. Und deshalb gehen sie nicht nur nebenbei in die sozialen Produktionsfunktionen für das Handeln der Menschen ein. In kleinen Gruppen aber können sich die Menschen leicht gegenseitig selbst beobachten und kontrollieren, in großen Gruppen wird das immer schwieriger: Die Beziehungen werden notwendigerweise anonymer (vgl. dazu auch schon Abschnitt 5.4 in diesem Band). Sanktionen – Belohnung und Lob, Bestrafung und Tadel – können natürlich auch in großen Gruppen institutionalisiert werden – über die Polizei, die Steuerfahndung oder das Bundesverdienstkreuz beispielsweise. Gleichwohl bleibt das Problem bestehen: Die jeweils korrekt zurechenbare negative Sanktionierung der Defektion und die positive der Kooperation ist in kleinen Gruppen schon aus technischen Gründen leichter zu erreichen als in großen Gruppen.
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Intermediäre Gruppen In latenten Gruppen gibt es niemanden, der einen genügend hohen Anreiz hat, das Kollektivgut bereitzustellen; oder auch nur: damit anzufangen, in der Erwartung, daß damit eine kritische Schwelle für die Kooperation der anderen überwunden werde. In privilegierten Gruppen hat mindestens ein Mitglied diesen Anreiz und die Mittel dazu. Es gibt aber auch Gruppen, in denen zwar niemand alleine hinreichend interessiert und mächtig wäre, es aber eine kleine Kerntruppe einzelner Akteure gibt, die – wenn sie sich zusammenschlösse – als „kollektiver Akteur“ die kritische Grenze der Kooperation überwinden könnte – und wollte. Solche Gruppen werden von Olson als mittelgroße oder – weniger mißverständlich – als intermediäre Gruppen bezeichnet. Was bei solchen intermediären Gruppen geschieht, läßt sich nicht ohne weiteres sagen: Es kommt darauf an, ob diese wenigen Akteure sich tatsächlich zusammenfinden. Das aber wiederum wäre ja ein neues Problem des kollektiven Handelns, diesmal allerdings unter deutlich besseren Vorzeichen: Ein Oligopol läßt sich als kleine Gruppe wieder leichter organisieren als die große Masse, in die es eingebettet ist – aus all den Gründen, die oben genannt wurden, warum kleine Gruppen eine höhere Wahrscheinlichkeit haben, eine privilegierte Gruppe zu sein, als größere. Also: „Eine ‚mittelgroße‘ Gruppe ist eine Gruppe, in der einerseits kein einzelner einen genügend großen Anteil am Gewinn erhält, um sich veranlaßt zu sehen, das Gut selbst bereitzustellen, die aber andererseits nicht so viele Mitglieder zählt, daß niemand bemerken würde, ob ein Mitglied zur Bereitstellung des Kollektivgutes beiträgt oder nicht. In einer solchen Gruppe mag ein Kollektivgut erlangt werden, es mag auch ebensogut nicht erlangt werden; aber in keinem Fall kann ein Kollektivgut ohne irgendwelche Gruppenübereinkunft oder organisation erlangt werden.“ (Olson 1968, S. 49)
Ob die mittelgroße Gruppe latent oder privilegiert ist oder nicht, ist – ebenfalls wie zuvor – keine Frage der Größe alleine. Das war auch schon Georg Simmel aufgefallen: Ab wann eine Gruppe „groß“ oder „klein“ sei – mit allen daran hängenden soziologischen Folgen –, ist genauso schlecht zu beantworten wie „ ... die klassische Rätselfrage: wieviel Weizenkörner einen Haufen ergeben?“ (Simmel 1968a, S. 53). Offenkundig werde dieses Problem der „Unentschiedenheit“ bei Gruppen, die weder ganz klein noch sehr groß seien: „Jenes Schwanken betrifft ersichtlich nur gewisse mittlere Größen; gewisse niedere Zahlen bilden sicher noch nicht die fraglichen Kollektivitäten, gewisse ganz hohe bilden sie ganz fraglos.“ (Ebd., S. 54; Hervorhebung nicht im Original)
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Beispiele dafür seien: ein „Soldatentrupp, der noch keine Armee ausmacht“, oder eine Gruppe von „kooperierenden Spitzbuben, die noch keine ‚Bande‘ sind.“ Sie haben einerseits schon gewisse Eigenschaften von „numerisch geringfügigeren Gebilden“. Andererseits gilt für sie: „Indem diesen Qualitäten nun die andern, für die große Gemeinschaft ebensowenig zweifelhaften gegenüberstehen, läßt sich der Charakter der numerisch Dazwischenstehenden als aus beiden zusammengesetzt deuten – so daß jeder von beiden rudimentär in einzelnen Zügen sich fühlbar macht, bald auftaucht, bald verschwindet oder latent wird. Indem also derartige, in der mittleren numerischen Zone gelegenen Gebilde auch objektiv an dem entschiedenen Charakter der darunter und der darüber gelegenen partiell oder abwechselnd teilhaben, erklärt sich die subjektive Unsicherheit in der Bestimmung darüber, welcher von beiden sie angehören.“ (Ebd.; Hervorhebung im Original)
Intermediäre Gruppen sind zunächst wohl meist latente Gruppen: Spitzbuben helfen einander vielleicht mal, ein Ding zu drehen, sie trauen sich aber nicht und sind erst recht noch keine verschworene Räuberbande. Sie können aber verhältnismäßig leicht zu privilegierten Gruppen werden. Dazu müssen sie sich – in Verhandlungen etwa – einigen, oder – wie David Hume das gezeigt hat – über die Praxis ihres Tuns zu einer Versprechensmoral finden, die unter der Bezeichnung Ganovenehre bekannt ist. Nicht nur der Fall der OPEC hat gezeigt, daß solche bindenden Vereinbarungen und funktionierenden Verabredungen auch unter recht günstigen Bedingungen nicht leicht zu haben sind und meist nur schwer auf Dauer stabil gehalten werden können. Selektive Anreize Die Tragik an den latenten Gruppen ist, daß eine große Zahl von Menschen im Grunde ein intensives Interesse an dem Öffentlichen Gut haben. Beispielsweise: Die Massen der Proletarier an einer Änderung der Eigentumsordnung, die Millionen Autofahrer an der freien (Auto-)Bahn für freie Menschen, oder die inzwischen unzähligen Professoren am Erhalt ihrer akademischen Freiheit und Freizeit. Aber: Es kommt und kommt die Revolution der Arbeiterklasse nicht; allenfalls gibt es mal eine Massenschlägerei nach einem nicht gegebenen Elfmeter auf Schalke. Überall nehmen die Geschwindigkeitsbegrenzungen zu – ohne Aufstand der Massen der Autofahrer. Und all die abgebrochenen ehemaligen Studenten, die es dann mit der Politik versucht haben, gehen in den Landtagen als Abgeordnete den Universitäten geradezu mit Wollustgefühlen ans Fell, ohne daß sich irgendwo organisierter professoraler Widerstand regt.
Kurz: Das Interesse allein und die Verbreitung eines gemeinsamen Schicksals sind kein hinreichender Grund für ein koordiniertes kollektives Handeln. Ein Konsens über die Interessen ist weder hinreichend, noch notwendig dafür. Das Problem verschärft sich schon allein aus der „Technik“ der Produktion Öffentlicher Güter bei großen Gruppen. Auch dieses Problem hat Georg
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fentlicher Güter bei großen Gruppen. Auch dieses Problem hat Georg Simmel schon für die numerisch größeren Gruppen gesehen: Jeder versucht, seine Pflichten und Verantwortungen auf das mit der Gruppengröße zunehmend unpersönliche Gebilde abzuwälzen – und verliert jede persönliche Initiative für die öffentlichen Interessen (Simmel 1968a, S. 66f.). Wie aber ließe sich das Problem der Passivität bei latenten Gruppen lösen? Die einfachste Antwort darauf haben wir mit den Gewichtungsgleichungen für die beiden Strategien C und D oben bereits angedeutet: durch eine zusätzliche Auszahlung bei der Kooperation, die die Lücke zwischen erwartetem Ertrag und Teilnahmekosten schließt. In die Nutzenfunktion für die Kooperation geht ja nicht nur der Wert des Öffentlichen Gutes Ue und der Zusatzertrag dafür durch den individuellen Beitrag Ui ein, sondern auch noch eine davon unabhängige individuelle Zusatzprämie Um. Diese Zusatzprämie ist mit dem Akt der Kooperation unmittelbar verbunden. Im Beispiel (vgl. Abbildung 7.1 und die dazu aufgeführten Gleichungen) war zwar die Annahme gemacht worden, daß die Zusatzprämie Um nicht ausreicht, um die Teilnahmekosten auszugleichen. Diese Annahme muß aber natürlich nicht immer stimmen: Die Zusatzprämie kann so hoch werden, daß nun gilt: C
Solche Zusatzprämien, die ausreichen, das „Dilemma“ beim kollektiven Handeln zu lösen, werden mit Mancur Olson als selektive Anreize bezeichnet. Sie können ganz verschiedener Art sein: materiell oder immateriell, individuell oder sozial, extrinsisch oder intrinsisch, rein nutzenbezogen oder moralisch oder sonstwie – erotisch, altruistisch, affektiv. Wichtig ist nur, daß ihr Wert groß genug ist, um die Differenz zwischen dem individuellen Wert des Öffentlichen Gutes bei eigener Teilnahme (Ui+Um) zu den Kosten C auszugleichen. Eine latente Gruppe, die durch selektive Anreize zu einer privilegierten Gruppen wird, nennt Mancur Olson auch eine mobilisierte latente Gruppe. Drei Arten von selektiven Anreizen zur Mobilisierung latenter Gruppen sind insbesondere zu nennen: materielle Prämien, soziale Prämien und moralische Prämien. Materielle Prämien wären individuelle Vorteile aus der Kooperation, auch unabhängig vom Wert des Öffentlichen Gutes. Deshalb bietet zum Beispiel der ADAC, der eigentlich „nur“ eine Interessenvertretung der Autofahrer sein will, etwa Versicherungen oder einen Reiseservice an. Sonst hätte er wohl nicht so viele Mitglieder – und wäre auch nicht so mächtig. Zu den materiellen Prämien lassen sich auch alle Verluste zählen, die Nicht-Mitglieder eventuell hätten: Gewerkschaften liebäugeln immer mit der Idee des closed shop, um die Trittbrettfahrer fernzuhalten, die von der Tätigkeit der Gewerkschaften profitieren, ohne selbst einen Beitrag zu leisten. Soziale Prämien sind alle Sanktionen, die mit der Kooperation positiv und mit der Defektion negativ zusammenhängen. Selbstlosigkeit wird gelobt, Trittbrettfahren verachtet. Schon die Furcht vor dem Runzeln bestimmter Augenbrauen bringt manchen dazu, das Opfer doch zu bringen. Nichts erzeugt wirksamer soziale Wertschätzung als altruistisches Tun. Die Heldenverehrung hat ihren Grund darin, daß die Helden das Opfer auf sich nehmen und den ersten und wichtigsten Schritt tun, der dann die Teilnahme für die anderen leichter
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macht. Die moralischen Prämien sind dann nichts weiter als verinnerlichte Belohnungen, die mit dem kooperativen Akt unmittelbar ausgelöst werden. Gerade wegen dieser Unbedingtheit sind sie so wichtig für die Lösung des Problems des kollektiven Handelns: Es gibt die moralischen Prämien auch dann, wenn niemand die gute Tat bemerkt (vgl. dazu auch den Exkurs über die Ehre in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Kurz: Gerade in großen Gruppen wird die Moral wichtig. Leider verschwindet sie dort auch meistens sehr rasch. Akteure, die sich bereitfinden, für das Gelingen kollektiver Projekte durch die Bereitstellung selektiver Anreize zu sorgen, werden auch als politische Unternehmer bezeichnet. Sie lösen, wenn sie es denn auch tun, das ansonsten nur schwer bezwingbare Problem der kollektiven Apathie.
Das kollektive Handeln zweiter Ordnung Auf den ersten Blick sieht die Lösung des Problems des kollektiven Handelns über die selektiven Anreize und die politischen Unternehmer ganz einfach und überzeugend aus. Aber nur auf den ersten Blick! Denn: Wer findet sich bereit, die Mittel für die materiellen Anreize aufzubringen? Lob und – vor allem – Tadel sind nicht kostenfrei. Man handelt sich nur Blamagen und Ärger ein. Und das nicht nur, wenn man die Falschen erwischt oder den Zeitpunkt nicht richtig trifft. Auch die moralischste Handlung gibt es außerdem nicht im luftleeren Raum: Helden werden meist nicht alt. Und die Alltagsmenschen können sich ein Übermaß an Moral, Heldentum und damit oft verbundener Realitätsverleugnung normalerweise sowieso nicht leisten. Die Bereitstellung der selektiven Anreize ist offenkundig selbst wieder ein Problem des kollektiven Handelns. Es hat die gleiche Struktur wie das Ausgangsproblem. Jetzt geht es nur um eine etwas andere Frage. Sie lautet nicht mehr: Wer produziert das Öffentliche Gut. Sondern: Wer sanktioniert diejenigen, die sich nicht beteiligen wollen? Es ist wieder ein (N-Personen-) Gefangenendilemma. Einen wichtigen Unterschied zum Ausgangsproblem gibt es freilich schon: Die Lücke zwischen dem Wert des Gutes und den Kosten ist deutlich kleiner geworden. Es ist – sozusagen – ein Problem des kollektiven Handelns zweiter Ordnung. Seine Lösung ist zwar ohne Zweifel leichter geworden. Ein Problem des kollektiven Handelns ist es aber weiterhin (vgl. dazu noch Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ausführlich). Hierarchien und Föderationen Die Lösung eines solchen Problems des kollektiven Handelns zweiter Ordnung ist in großen Gruppen aber immer noch sehr unwahrscheinlich, schlicht,
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weil eine wirksame Sanktionierung die genaue individuelle Zurechenbarkeit des Handelns voraussetzt. In kleinen Gruppen ist schon ein solches Problem erster Ordnung meist leicht lösbar. Aber auch in den mittelgroßen Gruppen gibt es jetzt eine gute Chance, die Sache auf den Weg zu bringen. Es geht ja erst einmal nicht um den vollen Aufwand für das ganze Gut, sondern darum, gewisse Ressourcen zusammenzulegen, einen Sanktionsstab aufzubauen und „Öffentlichkeits“-Arbeit zu leisten. Darauf können sich wenige Oligopolisten leichter verständigen als große Massen – weil sie als Oligopolisten ja wiederum eine numerisch kleine Gruppe bilden. Diese Oligopolisten wiederum können „Gruppen“ sein, die als Untergruppen des gesamten Aggregates abgrenzbar sind. Für sie stellt sich im Binnenverhältnis natürlich wieder das Problem des kollektiven Handelns – erster und zweiter Ordnung. Aber da diese Untergruppen nur Teilgruppen sind, sind sie deutlich kleiner als das Aggregat insgesamt, können sich jeweils für sich relativ leicht organisieren und so die Grundlage für die Organisation der Gesamtgruppe werden. So können Hierarchien von in föderativen Untergruppen zergliederten Aggregaten großer Massen das Problem des kollektiven Handelns schrittweise – jeweils erst für sich und dann untereinander – lösen. Kurz: „Organisationen, die selektive soziale Anreize einsetzen, um eine an einem Kollektivgut interessierte latente Gruppe zu mobilisieren, müssen Föderationen kleinerer Gruppen sein.“ (Olson 1968, S. 61; Hervorhebung so nicht im Original)
Deshalb sind es wohl auch empirisch nicht die großen, aber undifferenzierten Massen, die sich mobilisieren lassen, sondern vorzugsweise solche Aggregate, die in derartige Hierarchien von Föderationen zergliedert sind. Das ist wohl der Hauptgrund dafür, daß die blutigsten und heftigsten Konflikte nicht zwischen den Massen von Arbeitern und Kapitalisten, sondern zwischen religiösen und ethnischen Gruppen stattfinden, die oft genau auf diese Weise – als föderative Hierarchien von Familien, Verwandtschaften und Clans oder als Dorfgemeinschaften – organisiert sind. Kleine Gruppen und Moral Mancur Olson stellt eine deutliche Verbindung zwischen der Gruppengröße und dem Gruppenverhalten her. Nicht in jedem Fall aber ist garantiert, daß kleine Gruppen auch privilegierte und große Gruppen latente Gruppen sind. Das ist Mancur Olson später des öfteren vorgehalten worden – etwa von Rus-
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sell Hardin oder von Michael Taylor.6 Gleichwohl kann nicht bezweifelt werden, daß kleine Gruppen hinsichtlich des kollektiven Handelns enorme Vorteile haben. Jeder Parlamentspräsident, jeder Dekan, jeder Vereinsvorsitzende weiß es: Wenn es schwierig wird, und wenn wirklich etwas weggeschafft werden soll, muß ein „Komitee“ oder ein „Ausschuß“ gebildet werden. Das ist zwar auch keine Garantie für ein gutes Ergebnis. Im Palaver der Plenarversammlung, des Fakultätsrates oder der Jahreshauptversammlung wird mit Sicherheit aber nichts herauskommen. Darin stimmen eigentlich alle Beobachter überein – so etwa auch Georg Simmel, der Klassiker des Verhältnisses von Gruppengröße und Gruppenverhalten: „Kleine und zentripetal organisierte Gruppen pflegen die in ihnen vorhandenen Kräfte auch voll aufzurufen und zu gebrauchen; in großen dagegen bleiben sie nicht nur absolut, sondern auch relativ viel mehr in latentem Zustand.“ (Simmel 1968a, S. 36; Hervorhebung nicht im Original)
Warum? Sicher spielen auch die in kleinen Gruppen deutlich geringeren Kosten der Abstimmung – die sog. Transaktionskosten – eine Rolle: Informationen sind unter wenigen Akteuren rascher austauschbar, Verhandlungen leichter zu führen, Kompromisse eher zu finden. Das ist alles sicher zutreffend. Der wohl wichtigste Grund ist aber, daß in kleinen Gruppen jenes Bindemittel besonders gut gedeihen kann, das am wirksamsten das Problem des kollektiven Handelns löst: die moralischen Prämien für die Mühen, die man sich macht. Wichtig ist dabei keineswegs die vorherige „Internalisierung“ einer Art von Pflichtbewußtsein; davon wollen wir einmal ausgehen. Vielmehr lebt jede Moral davon, daß sie immer wieder so bestärkt wird, daß der Gelobte oder Getadelte genau weiß, daß seinem Tun die Reaktion gilt. Dazu muß das Lob und der Tadel aber auch die „Richtigen“ und zum „richtigen“ Zeitpunkt treffen. Wenn das moralische Handeln nicht zurechenbar ist, Lob und Tadel nur routinemäßig, sichtbar uninteressiert oder zur Unzeit erfolgen, dann liegt der Punkt nicht fern, ab wann auch die internalisierteste Moral zu wanken beginnt. Kurz: Man kann sich nicht darauf verlassen, daß eine Moral – so es sie denn schon gibt – ohne weitere Bedingungen auch erhalten bleibt. Die Moral muß von der Gruppe selbst immer wieder neu reproduziert werden. Es ist das
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Vgl. Russell Hardin, Collective Action, Baltimore und London 1982, S. 42-49; Michael Taylor, The Possibility of Cooperation, Cambridge u.a. 1987, S. 8-13. Der Vorwurf ist etwas ungerecht, weil Mancur Olson das Problem durchaus selbst so gesehen hat; vgl. etwa Olson 1968, S. 56.
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Problem des kollektiven Handelns zweiter Ordnung: Wer lobt, wer tadelt zum richtigen Zeitpunkt und an die richtige Adresse und schafft es dabei, sich erkennbar zu engagieren? Exakt dieses Problem wiederum ist in kleinen Gruppen deutlich müheloser zu lösen als in großen. Mancur Olson hat diese Bedingung in der Fußnote 17 seines Kapitels über „Gruppengröße und Gruppenverhalten“ unmißverständlich zusammengefaßt: „Selbst wenn moralische Haltungen darüber entscheiden, ob eine Person gruppenorientiert handelt oder nicht, kommt es darauf an, daß die moralische Reaktion als ‚selektiver‘ Anreiz wirkt. Wenn das Schuldbewußtsein oder der Verlust der Selbstachtung, der bei jemandem einsetzt, der glaubt, seine moralischen Grundsätze verraten zu haben, sowohl diejenigen träfe, die zur Erreichung des Gruppenziels beitrugen, wie auch jene, die keinen Beitrag leisteten, könnte der Moralkodex die Mobilisierung einer latenten Gruppe nicht erleichtern.“ (Olson 1968, S. 60; Hervorhebung nicht im Original)
Kurz: Die individuelle Zurechenbarkeit der Kooperation oder der Defektion ist der grundlegende Mechanismus, über den in Gruppen jener wichtige Kitt erzeugt wird, der das Dilemma des kollektiven Handelns leicht lösbar werden läßt. Das aber hat etwas mit der Sichtbarkeit des Handelns und mit der Identifizierbarkeit der Akteure zu tun. Beides ist in kleinen Gruppen eher vorzufinden als in großen. Und deshalb blühen die Gruppenmoral, der Teamgeist, die Gruppensolidarität auch viel eher in kleinen als in großen Gruppen. Die sozialen Bedingungen des kollektiven Handelns Das Problem der Mobilisierung einer latenten Gruppe ist uns eigentlich schon wohlvertraut: Es ist nichts anderes als ein Spezialfall der Frage nach der spontanen Evolution der Kooperation unter rationalen Egoisten, die sich in einer sozialen Dilemmasituation befinden, eventuell mit der Folge, daß sich danach auf der Grundlage einer gewissen andauernden Praxis der Kooperation eine eigene Ethik oder gar Solidarität herausbildet, die ihrerseits die kooperative Praxis unterstützt und das Ganze in ein System der funktionalen Reproduktion umwandelt (vgl. dazu auch schon Abschnitt 5.4 oben in diesem Band). In Abschnitt 5.3 in diesem Band haben wir die beiden zentralen theoretischen Variablen kennengelernt, die diesen Vorgang steuern: die verschiedenen Anreize zur Kooperation einerseits und der Schatten der Zukunft andererseits. Die Anreize zur Kooperation lassen sich – aus der Zusammenfassung in Abbildung 5.3 in Abschnitt 5.3 in diesem Band – in vier Differenzen von Auszahlungen in der Matrix des Gefangenendilemmas und vier inhaltliche Ausdrücke gliedern: die Kooperationskosten T-R, die Konfliktkosten T-P, die Kooperationsabhängigkeit R-S und das Kooperationsinteresse R-P. Für die Evolution der Kooperation günstig sind ein hoher Schatten der Zukunft, niedrige Ko-
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operationskosten, hohe Konfliktkosten, eine hohe Kooperationsabhängigkeit und ein hohes Kooperationsinteresse.
Die Anreize und der Diskontparameter sind zunächst nur inhaltsleere Größen, die mit „Strukturen“ verbunden werden müssen. Die Frage lautet im Zusammenhang des Problems des kollektiven Handelns dann: Von welchen strukturellen Variablen der Gruppenzugehörigkeit hängen diese theoretischen Variablen ab? Mindestens sechs soziale Bedingungen und Mechanismen scheinen – auch nach den Untersuchungen zum Zusammenhang zwischen Gruppengröße und Gruppenverhalten – hier bedeutsam zu sein:7 eine hohe Sichtbarkeit und Zurechenbarkeit des Handelns der Akteure; intensive und dichte Kommunikationsbeziehungen; die Wiederbegegnung identischer Interaktionspartner; eine Geschichte gemeinsamer Erfahrungen; das Fehlen von Alternativen und exit-Möglichkeiten; sowie die Stabilität des Kontextes, in dem die Kooperation stattfindet. Wie diese sozialen Bedingungen auf die theoretischen Variablen wirken, läßt sich leicht in die theoretischen Begriffe des Modells der Evolution der Kooperation übersetzen. Die Zurechenbarkeit, die Kommunikation, die Identität der Akteure und die gemeinsame Geschichte senken die Kooperationskosten und erhöhen die Konfliktkosten. Das Fehlen von Alternativen erhöht die Abhängigkeit von der Kooperation und das Kooperationsinteresse. Die Stabilität sorgt vor allem für einen hohen Schatten der Zukunft. Das leisten aber auch die Identität der Akteure, die Sichtbarkeit und die Kommunikation. Dabei werden drei Variablen vermittelnd bedeutsam: Koorientierung, Reputation und die moralische Bindung an das ganze „System“. Sichtbarkeit, Kommunikation, Identität, gemeinsame Geschichte, Stabilität und – über das moralerzeugende Interesse am System der Kooperation – die Abhängigkeit der Akteure von der jeweiligen „Gemeinschaft“ sorgen allesamt dafür, daß Konventionen über Koorientierung, Verläßlichkeit über Reputation und eine moralische Bindung aus „Sympathie“ für die Menschen und die betreffende Gemeinschaft entstehen.
Insbesondere die Kombination von Abhängigkeit und Kooperationsinteresse einerseits – über das Fehlen von Alternativen und exit-Möglichkeiten – und interner sozialer Kontrolle andererseits – über die Sichtbarkeit und Zurechenbarkeit – scheint hier wichtig zu sein.8 Wenn es diese Bedingungen gibt, dann entsteht nicht nur bloße Kooperation, sondern bald auch die emotionale Über7
8
Vgl. dazu die Zusammenstellung sozialer und struktureller Bedingungen der Kooperation bei Thomas Voss, Rationale Akteure und soziale Institutionen. Beitrag zu einer endogenen Theorie des sozialen Tauschs, München 1985, Abschnitt 4.3: Soziale Bedingungen der Kooperation, S. 197-208; Werner Raub und Thomas Voss, Die Sozialstruktur der Kooperation rationaler Egoisten. Zur „utilitaristischen“ Erklärung sozialer Ordnung, in: Zeitschrift für Soziologie, 15, 1986, S. 315ff. Vgl. Michael Hechter, Principles of Group Solidarity, Berkeley, Los Angeles und London 1987, S. 52ff.; Michael Hechter, The Emergence of Cooperative Social Institutions, in: Michael Hechter, Karl-Dieter Opp und Reinhard Wippler (Hrsg.), Social Institutions. Their Emergence, Maintenance and Effects, Berlin und New York 1990, S. 16ff.
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Kleine Gruppen, Kooperation und Evolution Und so scheint es tatsächlich gewesen zu sein. Homo sapiens hat sich als intelligentes Hordenwesen, mühsam und stets vom Untergang bedroht, nur in kleinen, „insulierten“, hoch-kohäsiven Gruppen entwickeln können. Und das war kein Zufall: Kleine Gruppen bieten gerade unter Bedingungen größter Knappheit und stärkster Umgebungseinflüsse enorme Vorteile der Reproduktion in einer schützenden Umgebung, die intelligentes Handeln belohnt. Das kollektive Handeln „lohnte“ sich, gerade dann, wenn auch die ersten Hominiden – wovon auszugehen ist – schon rationale Egoisten waren. Der Kooperationsgewinn war hoch und der Schatten der Zukunft sehr groß: Das Überleben in der sehr feindlichen natürlichen Umgebung war nur durch gemeinsame Unternehmungen, etwa: die kooperative Jagd, möglich. Einen Ausweg hatte niemand. Und jeder, der nicht mitmachte, war sofort zu entdecken. Darin ist sich die biologische und die soziologische Anthropologie einig. Dieter Claessens bezeichnet die kleinen „insulierten“ Gruppen der Urgeschichte des Menschen daher auch zutreffend als „ ... erste ‚soziale Falle‘, in die der Vormensch sich selbst hineinmanipuliert, in der er aber auch Mensch wird.“9
Die kleine, über Dependenz und Überschaubarkeit sich selbst organisierende Gruppe war die erste Form einer sich selbst stabilisierenden sozialen Ordnung, die es erlaubte, die genetischen Fixierungen durch gesellschaftlich konstruierte Festlegungen zurückzudrängen. Nicht schwer läßt sich vor diesem Hintergrund vorstellen, wie sich dann allmählich aus sehr kleinen Anfängen die größeren Gesellschaften entwickeln konnten: erst über Familien und Verwandtschaftssysteme zu Clans und Stämmen als kooperative Kerne und dann zu weiter gefaßten, föderativ-hierarchischen Systemen der Kooperation – etwa als Konföderationen der Clans und Stämme. Und von dorther konnte dann die Geschichte beginnen, die wir alle kennen: die Entstehung von Zentralinstanzen und Staaten sowie der stratifikatorischen Arbeitsteilung der Feudalsysteme, von denen aus sich dann die modernen, arbeitsteiligen, funktional differenzierten Gesellschaften entwickeln konnten.10 9
10
Vgl. dazu Dieter Claessens, Das Konkrete und das Abstrakte. Soziologische Skizzen zur Anthropologie, Frankfurt/M., 1980, S. 89. Vgl. dazu zusammenfassend Gerhard Lenski, Macht und Privileg. Eine Theorie der sozialen Schichtung, Frankfurt/M. 1973, Kapitel 5 bis 12; Stephen K. Sanderson, Macrosociology. An Introduction to Human Societies, 2. Aufl., New York 1991, Kapitel 4 bis 7. Siehe insgesamt dazu auch Abschnitt 9.2 in Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“.
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Die kleine Gruppe ist – wie Dieter Claessens (1980, S. 88f.) weiter meint – ein „kleiner Leviathan“. Der braucht im Unterschied zum großen Leviathan von Thomas Hobbes nicht zwingend einen Zwangsapparat, entfaltet aber gleichwohl eine unhintergehbare Macht – die Macht der Früchte der Überwindung des Egoismus im erfolgreichen kollektiven Handeln, von dem aus die Organisation und Evolution der Großgesellschaften beginnen konnte. Das Konkrete und das Abstrakte Ob die anonymen Systeme der Massengesellschaften auf Dauer erhalten bleiben, steht dahin. Das Problem ist ganz offenkundig: Für kleine isolierte Gruppen läßt sich eine Moral der solidarischen Gemeinschaft relativ leicht aufbauen und erhalten, für große Gesellschaften nur mit größter Mühe. Besonders darauf weist Dieter Claessens hin (Claessens 1980, S. 137ff.): Homo sapiens kann sich aufgrund seiner langen Vorgeschichte als insuliertes Gruppenwesen leicht mit dem „Konkreten“ seiner Nahumwelten identifizieren, nur schwer jedoch mit dem „Abstrakten“ der anonymen Systeme der Großgesellschaften – besonders dann, wenn diese nicht mehr irgendwie – etwa über Helden oder Territorien oder Mythen – „real abstrakt“ erlebt werden können. Das war der Kern schon der Skepsis von Thomas Hobbes und auch von David Hume über die selbstorganisatorische Kraft der großen Gesellschaften. Skeptisch muß man auch sein mit der Lösung, die Emile Durkheim – und danach Talcott Parsons oder Jürgen Habermas – vorschlugen: Die Solidarität der Lebenswelten müsse irgendwie übertragen werden auf eine Identifikation mit der Großgesellschaft. Das ist keine sonderlich tragfähige Lösung, weil die Solidarität viel zu abstrakt werden müßte, um mit den Widersprüchlichkeiten der Differenzierungen dort vereinbar zu sein. Eher überzeugt schon die Lösung, die die Ökonomie einerseits und Niklas Luhmann andererseits vorschlagen (vgl. dazu schon Abschnitt 5.5 oben in diesem Band): Die sozialen Systeme der Großgesellschaften finden durch die kunstvolle Anordnung ihrer Interdependenzen zu einem stabilen Prozeßgleichgewicht – ohne jede moralische Unterstützung aus den Lebenswelten, in denen es sich die Menschen schon recht gemütlich machen, die aber für den Bestand der Systeme eigentlich entbehrlich sind. Ob diese Konstruktion – wenn es sie denn wirklich so gibt – tatsächlich hält, weiß niemand. Wir erleben mit der Transformation der Welt nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes derzeit ein neues globales Großexperiment dazu. Niemand kann vorhersagen, wie es ausgeht. Bisher war es jedenfalls stets so: Die großen Reiche und Staaten kamen und gingen. Kriege und Katastrophen zerstörten die kunstvollen Gebilde der großen Gesellschaften.
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Zivilisationen brachen zusammen und machten mancherlei Barbarei Platz. Immer aber blieb die menschliche Existenz auf einer Stufe noch erhalten: die kleine überschaubare Gruppe. George C. Homans schreibt in seinem berühmten Buch über die menschliche Gruppe daher auch zutreffend: „Auf der Stufe des Stammes, des Dorfes, der kleinen Gruppe, das heißt auf der Stufe eines Sozialgebildes (gleichgültig mit welchem Namen wir es nun bezeichnen), bei dem jedes Mitglied bis zu einem gewissen Grade direkt mit jedem anderen bekannt ist, war der menschlichen Gesellschaft viele Jahrtausende hinter die geschriebene Geschichte zurück der Zusammenhalt möglich. ... . Erschreckenderweise jedoch ist bisher jede Zivilisation – bis auf eine – nach einer Zeit der Blüte zusammengebrochen. ... . So weit (bis auf die Ebene der kleinen Gruppe; HE) kann die Gesellschaft sinken, aber anscheinend auch nicht weiter, und wenn sie bis dahin gefallen ist, beginnt sie vielleicht nochmals von vorn. ... . Auf der Stufe des Stammes oder der (kleinen; HE) Gruppe vermochte die Gesellschaft immer zusammenzuhalten.“11
Und so wird es wohl auch weiterhin sein. Aber das Leben in solchen Lebenswelten am Existenzminimum der Zivilisation ist – bei aller Verklärung der dort herrschenden Geborgenheit, Wärme und Solidarität – nicht sehr angenehm. Es ist beengt, kümmerlich und kurz, wenngleich vielleicht nicht einsam und auch nicht unbedingt brutal, wiewohl auch das oft genug vorkommt. Wehe jedoch dem Außenseiter, dem Abweichler, dem Querdenker dort! Die ertragreiche Kooperation in den großen Verbänden einer offenen Gesellschaft war die einzigartige befreiende Leistung der menschlichen Zivilisation, von der David Hume – und andere Aufklärer – zu Recht so schwärmten. Und die möglichen Kooperationsgewinne sind ja auch wirklich derart beachtlich, daß die Geschichte der Befreiung von der Enge der kleinen Lebenswelten wohl auch immer wieder neu beginnen wird, wenn die vielen unmerklichen und unpersönlichen Mechanismen einmal versagen sollten, die die Systeme der Großgesellschaften zusammenhalten.
Mehr als Archimedes Soweit also zum strategischen Handeln. Das ist schon ein dicker Brocken, und manches Problem, mit dem sich die Soziologie lange vergeblich abgemüht hat, läßt sich allein darüber erklären. Und mancher, nicht nur bei den Ökonomen, die so gut wie ausschließlich nur das strategische Handeln gelten lassen wollen, glaubt, daß es damit getrost sein Bewenden haben könne: Kultur, Symbole, Normen – das sei alles nur soziologischer Schnickschnack und bloßer Überbau der Struktur der Interessen. Wozu dann noch Interaktion und so11
George C. Homans, Theorie der sozialen Gruppe, 6. Aufl., Opladen 1972b, S. 418ff.
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ziale Beziehungen? Aber Vorsicht. An manchen Stellen haben wir schon beim strategischen Handeln gesehen, wie wichtig gewisse „kulturelle“ Anhaltspunkte sein können, bei den Schellingpunkten und bei der Reputation der Akteure zum Beispiel, und bei den Umständen, die den Schatten der Zukunft bestimmen. Bevor wir mit den Einzelheiten der anderen Formen des sozialen Handelns – Interaktion, soziale Beziehungen, Transaktionen – fortfahren, sei – nicht nur zur Entspannung – eine kleine Geschichte erzählt. Sie stammt von dem Schweizer Hans Conrad Zander, einem ehemaligen Mönch.12 Die Geschichte hat die Überschrift „Mehr als Archimedes“. Warum sie so heißt, werden Sie gleich verstehen. Sie geht so: „Eins weiß ich besser als ihr alle: was Archimedes empfand, als er im Bade lag, und ihm das Heureka der Erleuchtung entfuhr. Was vorging in Isaac Newton, als ihm der Apfel auf den Kopf fiel, und was für ein Gefühl Albert Einstein überwältigte, als er das Gesetz der Relativität erkannte - dies wußte ich schon besser als ihr alle, als ich noch nicht einmal lesen oder schreiben konnte. Aber ging ich auch noch nicht zur Schule, so ging ich doch bereits zur Kirche. An einem Sonntagmorgen fügten es die Umstände, daß ich ein paar Minuten zu spät zur Messe kam. Schon hatte der Priester mit dem "Asperges me" begonnen, und so konnte ich nicht mehr nach vorne rechts zu den Bänken für die Knaben. Rechts bei den Männern hatte ich nichts zu suchen, und links mich hinzustellen zu den Frauen, verbot die Ehre mir. So gab es für mich kleinen Bub nur einen Platz. Ganz rechts hinten aber, neben dem Weihwasserbecken, stand bereits er. Er, das war ein mongoloider junger Mann, großgewachsen, blond und vielleicht zwanzigjährig. Seine Mutter, eine kleine, gebückte Frau, pflegte ihn, da sie ihn ja nicht mit zu den Frauen nehmen konnte, vor der Messe auf der Männerseite zuhinterst, neben dem Weihwasserbecken, abzustellen, recht so wie andere einen Hund vor einem Laden abstellen. Jetzt stand ich neben ihm und sah zu ihm hinauf. Obwohl er sich mit den Füßen nicht von der Stelle rührte, war das Gebärdenspiel seines Gesichts und seiner Hände von großer Lebhaftigkeit. Weil er aber soviel größer gewachsen war als ich, und weil ich mich zuerst nur verstohlen getraute, zu ihm aufzusehen, dauerte es eine ganze Weile, bis ich durchschaute, was er tat. Der Schwachsinnige machte jede Geste des Priesters vorn am Altar nach. Dies war noch die Zeit des alten lateinischen Ritus, und wer nicht mehr weiß, was das war, dem sei gesagt, daß dies ein Ritus von großer Kompliziertheit war. So kompliziert, daß ich ihn, obwohl ich selber als Kind Messdiener war, nie ganz verstanden habe, und deshalb bei jeder Messe, sei es mit dem Messbuch, sei es mit der Glocke, sei es mit dem Weihrauchfaß, etwas falsch machte. Der Schwachsinnige machte nichts falsch. Ob der Priester am Altar die Hände ausbreitete oder faltete, ob er den Kelch hob oder das Missale küßte, hinten neben dem Weihwasserbecken, im Halbdunkel neben mir machte der Mongoloide jede Bewegung richtig nach. 12
Hans Conrad Zander, Mehr als Archimedes, in: Hans Conrad Zander, Der Ausgewählten Werke 1. Band, Von der Religiosität der Katzen. 24 Sonntagsweisheiten, 2. Aufl., Münster 1990, S. 37-41.
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Soziales Handeln
Machte er sie nach? Nein, im Gegenteil. Bei jeder rituellen Geste kam der Schwachsinnige dem Priester um zwei bis drei Sekunden zuvor. Dann blickte er gebannt nach vorn. Sah er dann, daß der Priester wirklich die gleiche Gebärde nach-vollzog, dann schüttelte er sich vor Lachen, ganz lautlos, doch mit weit aufgerissenem Mund. Barlach allein hätte das Lachen dieses Mongoloiden malen können und das maßlose Glück der Erkenntnis, das in diesem Lachen lag. Der Schwachsinnige hatte wohl keinen Zusammenhang verstanden, wohl aber eine Abfolge, und zwar eine recht schwierige. Er war fähig zum wichtigsten Akt der Wissenschaft, nämlich zur Voraussage. Und diese Fähigkeit des menschlichen Geistes erfüllte ihn mit reinem Glück. Heureka! Seit jenem Kindheitstag sind viele Jahre ins Land gegangen. Der Mongoloide ist schon lang gestorben. Ich komme auch nicht mehr zu spät zur Kirche, sondern gar nicht mehr. Manchmal aber gerate ich unter Leute, die sich fragen, ob es so etwas wie Erkenntnis gebe, und was das sei, des Menschen Geist. Bei solchen Gesprächen pflege ich zu schweigen mit dem Lächeln dessen, der es besser weiß. Ich bin ja als kleiner Bub einmal zu spät zur Kirche gekommen und habe so, eine heilige Messe lang, aufgeschaut zu einem Mongoloiden. Und siehe, neben mir stand mehr als Archimedes.“
Heureka? Heureka! Sie werden gleich wissen, warum!
Kapitel 8
Interaktion
In einigen berühmt gewordenen Experimenten hat der amerikanische Sozialpsychologe Harold Garfinkel Studenten gebeten, selbst geführte Alltagsgespräche in ihrem genauen Wortlaut auf die linke Seite eines Blattes aufzuschreiben, und auf der rechten Seite zu notieren, worüber sie und ihr Gesprächspartner inhaltlich gesprochen haben. Eines der auffallendsten Ergebnisse dieser Experimente war, daß es meist sehr leicht fiel, die wörtliche Sequenz zu protokollieren, daß es aber erhebliche Schwierigkeiten bei der Offenlegung des gemeinten Inhaltes gab. Die Studenten wußten buchstäblich nicht, was sie dort hinschreiben sollten – obwohl die Gespräche ganz störungsfrei verlaufen waren und sie letztlich genau mitbekommen hatten, was geschah (vgl. dazu auch noch die Behandlung der sog. Ethnomethodologie in Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Eines der Gespräche, das ein Student (H) mit seiner Ehefrau (W) über ihr gemeinsames Kind Dana führte, ergab das folgende Protokoll – links des Wortlautes, rechts der Hintergrundgedanken dabei:1 This afternoon as I was bringing Dana, our four-yearold son, home from the nursery school, he succeeded in reaching high enough to put a penny in a parking meter, when we parked in a meter parking zone, whereas before he has always had to be picked up to reach that high.
H:
Dana succeeded in putting a penny in a parking meter today without being picked up.
W:
Did you take him to the Since he put a penny in a meter that means that you record store? stopped while he was with you. I know that you stopped at the record store either on the way to get him or on the way back. Was it on the way back, so that he was with you or did you stop there on the way to get him and somewhere else on the way back?
1
Vgl. Harold Garfinkel, Studies of the Routine Grounds of Everyday Activities, in: Harold Garfinkel, Studies in Ethnomethodology, Englewood Cliffs, N.J., 1967, S. 38f.; vgl. auch S. 25f.
228
Soziales Handeln
H:
No, to shop.
the
shoe
repair No, I stopped at the record store on the way to get him and stopped at the shoe repair shop on the way home when he was with me.
W:
What for?
H:
I got some new laces for my shoes.
shoe As you will remember I broke a shoe lace on one of my brown oxfords the other day so I stopped to get some new laces.
W:
Your loafers heels badly.
new Something else you could have gotten that I was thinking of. You could have taken in your black loafers which need heels badly. You’d better get them taken care of pretty soon.
I know of one reason why you might have stopped at the shoe repair shop. Why did you in fact?
need
So, wie auf der linken Seite protokolliert, sehen in der Tat die meisten Gespräche unseres Alltags aus, besonders dann, wenn sich die Partner länger kennen und eine gemeinsame Biographie haben: Eine nicht unterbrochene, von den Akteuren offenbar ganz mühelos erzeugte und verstandene Kette von knappen, einem Außenstehenden kaum nachvollziehbaren Andeutungen – vorgetragen ganz offenbar ohne viel innere Reflexion, aber ohne Zweifel auch von einer intensiven, wenngleich unbewußten und nicht als sonderlich anstrengend empfundenen Gedanken- und Beobachtungstätigkeit begleitet. Viele Dinge sind an der Gegenüberstellung von sichtbarem (Kommunikations-) Handeln und dem dabei im Hintergrund mitlaufenden Gedankenfluß der Gesprächteilnehmer bemerkenswert: Es wird erheblich mehr gedacht als ausdrücklich gesagt. Viele Sachverhalte werden gar nicht erwähnt, und dennoch werden sie in Rechnung gestellt. Jeder überlegt offenbar, was der andere an Informationen wahrscheinlich schon hat. Und jeder spricht erst wieder, nachdem er Anzeichen dafür hat, daß die vorzubringende Information vom anderen bereits antizipiert wird. Kurz: Die Worte und Sätze der verschiedenen Sprachakte sind keineswegs bloß „Informationen“, die die Akteure nur austauschen oder als „Botschaft“ aussenden oder übernehmen. Es sind vielmehr – auch und vor allem – Anzeichen auf ein nicht explizit thematisiertes, hintergründiges Muster des Wissens, das jeder beim anderen voraussetzt, mit dem Gang des Gesprächs verändert und selbst dazu nutzt, diese Änderungen in Rechnung zu stellen und beim anderen zu antizipieren. Auf diese Weise kann auch ohne viel Worte sehr viel gesagt werden. Man versteht sich eben – blind sogar. Ältere Ehepaare oder langjährige Intimfeinde in einer Fakultät wissen, was gemeint ist. Und nur ein Außenstehender, der bloß die Gesprächsfetzen auf der linken Seite des Protokolls hört oder liest, käme sich etwas verloren vor.
Interaktion
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Das Gespräch zwischen dem Studenten und seiner Partnerin ist ein Beispiel für eine soziale Interaktion. Die Erläuterungen auf der rechten Seite des Protokolls legen offen, daß bei einer Interaktion immer drei verschiedene Prozesse beteiligt sind, die sich empirisch meist überlagern, aber theoretisch getrennt werden können und müssen (vgl. dazu bereits Kapitel 1 in diesem Band): die Koorientierung der Akteure über ein gemeinsames Hintergrundwissen; die gegenseitige Abstimmung der Orientierungen über Anzeichen, Gesten und andere Symbole als symbolische Interaktion; und die wechselseitige Weitergabe, Aufnahme und Verwendung von Informationen für das weitere Handeln über den Prozeß der Kommunikation mit Hilfe einer besonderen Art von Zeichen – den sog. Medien. Das nun folgende Kapitel befaßt sich mit den Besonderheiten dieser drei Formen der Interaktion – auch in Abgrenzung zu den beiden anderen unterschiedenen Arten des sozialen Handelns: strategisches Handeln und soziale Beziehung.
Die Interaktion zwischen dem Studenten und seiner Partnerin ist – soweit man das an den Äußerungen erkennen kann – kein bloß an Interessen orientiertes strategisches Handeln. Sie folgt auch keinem irgendwie festgelegten Ritual der Vorgaben einer institutionalisierten sozialen Beziehung. Gleichwohl ist sie von beiden Arten des sozialen Handelns – sozusagen – umgeben: Sie ist in die soziale Beziehung einer Studentenehe mit einem Kind und den entsprechenden Rollen eingebettet. Und wenigstens die Ehefrau verfolgt auch gewisse pädagogisch-strategische Interessen, indem sie ihrem Gatten, fast nebenbei, den dezenten, und auch wohlverstandenen, Hinweis darauf gibt, die Schuhe in Zukunft etwas besser in Ordnung zu halten. Es ist ein Hinweis darauf, daß die Beziehung der beiden auch eine Transaktionsbeziehung ist, bei der beide ihren Teil an Leistungen beizutragen haben und nicht alles, was in einer Familie wichtig ist, mit Vaterstolz alleine schon erledigt ist.
8.1
Koorientierung
Koorientierung ist die gemeinsame und „koordinierte“ gedankliche Orientierung an dem gleichen vorgestellten Modell des Handelns – ohne jede weitere Kontaktnahme in der Situation.2
2
Vgl. zum Problem und den Prozessen der Koorientierung insbesondere Johannes Siegrist, Das Consensus-Modell. Studien zur Interaktionstheorie und zur kognitiven Sozialisation, Stuttgart 1970, vor allem die Abschnitte 1.1 und 2.1.
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Konsens und Dissens Das Ergebnis einer auf das gleiche Modell des Handelns bezogenen gemeinsamen Orientierung mehrerer Akteure kann ein Konsens sein.3 Von Dissens wird gesprochen, wenn die Akteure nicht zu einer Koorientierung gelangen. Ob ein Konsens oder ein Dissens „wirklich“ vorliegt, kann letztlich nur ein externer Beobachter beurteilen. Stimmen objektiver und subjektiver Konsens überein, dann spricht man auch von einem monolithischen Konsens. Entsprechend gibt es auch einen monolithischen Dissens. Manchmal meinen die Akteure nur, daß sie einen Konsens erreicht hätten. In Wirklichkeit deuten und agieren sie aneinander vorbei – und merken es nicht. Das ist der Fall des Schein-Konsens oder eines falschen Konsens. Erst ein offensichtlich nicht passendes Ereignis bringt sie dann aus der Scheinwelt des Mißverstehens zurück. Verwechslungskomödien und Horrorgeschichten leben davon. Ein besonders interessanter Fall des Schein-Konsens ist die sog. pluralistische Ignoranz: Alle glauben, daß alle anderen eine bestimmte Meinung haben – und verhalten sich danach. In Wirklichkeit hat aber niemand diese Meinung. Beispielsweise: In einer Gemeinde wird in einem Bürgerbegehren eine Vorlage zur Abstimmung gebracht, etwa gegen die Abbaggerung der Gemeinde durch den Braunkohlebergbau – unter Zahlung von hohen Abfindungen. Die Mehrheit der Gemeindemitglieder ist klammheimlich für die Vorlage, weil sie sich individuell von den Abfindungen eine Lösung ihrer jeweils privaten sozialen Frage erhoffen. Aber jeder denkt für sich, daß alle anderen dagegen seien, und nur er schließlich das, möglicherweise öffentlich gebrandmarkte, moralische Schwein sei, das sich aus dem Staube machen will. Und so kommt etwas zustande, was letztlich niemand gewollt hat: Die Bürger stimmen entgegen ihrer Interessen gegen die Vorlage, der Konzern nimmt sein Angebot zurück, die Gemeinde wird schließlich doch nach einem langwierigen Rechtsstreit abgebaggert, aber jeder erhält nur das, was ihm rechtmäßig an Entschädigung zusteht – viel weniger als der Konzern zuvor angeboten hatte.
Natürlich kann es auch einen Schein-Dissens geben: Man meint, man hätte sich nicht geeinigt, stellt dann aber fest, daß es doch so war. Auch dann ist oft die Überraschung groß, wenn sich der Irrtum herausstellt. Nicht immer wird das mit Freude begrüßt – wie bei dem inzwischen mit neuen Partnern versehenen Paar, das plötzlich feststellt, wieviel Gemeinsamkeit doch noch vorhanden ist, und aller Streit auf einem riesigen Mißverständnis beruhte.
3
Vgl. zu den verschiedenen Varianten des Konsenses: Thomas J. Scheff, Toward a Sociological Model of Consensus, in: American Sociological Review, 32, 1967, S. 32-46.
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231
Koordination durch Koorientierung Die wichtigste soziale Folge der Koorientierung ist die Koordination des Handelns der Akteure, ohne daß es dazu weiterer Absprachen, Normen oder einer Führung bedarf. Die Koordination durch Koorientierung ist das Ergebnis von – im Moment des Handelns jedenfalls – einsamen gedanklichen Aktivitäten der Akteure, die sich wechselseitig vorstellen, was jetzt wohl der andere sich vorstellen mag, wobei sie sich an gemeinsamen Erlebnissen und geteilten Vorstellungen orientieren. Es ist eine Verständigung ohne „Verständigung“. Thomas C. Schelling spricht treffenderweise von tacit coordination. Die tacit coordination ist der wichtigste Mechanismus zur Lösung des strategischen Problems der Koordination, das wir aus Abschnitt 3.1 in diesem Band kennen: Es gibt mehrere pareto-optimale Gleichgewichte, aber die Akteure müssen sich auf eines einigen, wenn sie etwas gewinnen wollen. Ein sog. Schellingpunkt hilft ihnen dabei, dieses eine Gleichgewicht zu finden, auch ohne sich ausdrücklich zu verständigen. Motivation und Anhaltspunkte Nicht immer gelingt freilich eine Koordination durch Koorientierung. Das liegt oft daran, daß es eben keine hinreichend eindeutigen Schellingpunkte gibt. Aber die Menschen strengen sich auch nicht immer besonders an, um eine Koordination zu finden. Das hat einen einfachen Grund: Die nötige Koorientierung ist anstrengend und die Koordination nicht immer wichtig genug, als daß sich diese Anstrengung lohnen würde. Wann aber lohnt sich eine Koorientierung? Es sind, folgt man der WertErwartungstheorie, zwei Umstände, die bestimmen, wann Menschen eine Koorientierung besonders betreiben und wann ein Konsens bzw. eine Koordination eher gelingt. Es muß erstens ein strukturelles „Problem“ geben, das die Akteure veranlaßt, sich der Anstrengung der Koorientierung zu unterziehen. Dieses Problem ist in den Auszahlungen des Koordinationsproblems beschrieben: der Unterschied in den Auszahlungen für die Akteure bei erfolgreicher versus nicht gelingender Koordination. Dieser Unterschied bildet die motivationale Basis der Anstrengungen zu einer erfolgreichen Koordination: Je höher die Differenz der Auszahlungen zwischen gelingender und nicht gelingender Koordination ist, um so stärker wird koorientierend nach der „richtigen“ Koordination gesucht, und um so intensiver wird über eventuell doch vorhandene Schellingpunkte nachgedacht.
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Soziales Handeln
Der zweite Sachverhalt verweist auf die kulturellen Bedingungen der Koorientierung: Das sozial geteilte Vorwissen und die in der Situation erkennbaren Zeichen – die faktische Existenz von Schellingpunkten also. Dies ist die kognitive Grundlage der Koorientierung. Auch nun gibt es eine naheliegende Regelmäßigkeit: Je stärker das geteilte Vorwissen im Gedächtnis verankert, je deutlicher es mit jeweils verstehbaren Symbolen – in den individuellen (!) Gehirnen – assoziiert und je zuverlässiger es von den Akteuren identifiziert wird, um so geringer müssen die gedanklichen Anstrengungen sein, um zu einer Koorientierung zu gelangen. Und um so eher kann es zu einer Koordination kommen, auch wenn die Anstrengungen dazu nur gering sind. Die strukturellen bzw. die motivationalen und die kulturellen bzw. kognitiven Aspekte bilden also zwei voneinander unabhängige Dimensionen der Koorientierung. Interessant sind vor allem die beiden Fälle einer hohen strukturellen Motivation, mal mit und mal ohne kulturellen Anhaltspunkt. Bei geringer Motivation ist es den Akteuren ja letztlich ohnehin egal, ob eine Koordination gelingt oder nicht. Und dann kann man die Sache getrost so laufen lassen, wie sie kommt. Gibt es dabei deutliche kulturelle Anhaltspunkte, dann plätschert der Alltag leicht und konsensuell vor sich hin. Das ist wohl der Normalfall. Gibt es sie nicht, dann wundern sich die Menschen hin und wieder, aber machen sich auch nichts weiter daraus – wie in Fahrstühlen mit etwas seltsamen unbekannten Mitreisenden, oder in Restaurants, in denen man noch nie gewesen ist, wo es aber auch nicht weiter tragisch ist, daß man den falschen Löffel benutzt. Reflexivität und innere Unendlichkeit Das ist ganz anders bei einer hohen Motivation zur Koordination. Nun hängt viel davon ab, ob eine Koordination gelingt oder nicht – wie bei den anarchischen Radfahrern bei Max Weber, denen ja unter Umständen das Krankenhaus droht. Gibt es deutliche kulturelle Anhaltspunkte, wie das wechselseitig als sicher unterstellte Wissen um die Straßenverkehrsordnung, und – obendrein – ein dieses Wissen noch einmal bekräftigendes Verkehrsschild, vielleicht sogar einen finster schauenden Polizisten an der Ecke, den beide sehen, und wobei beide auch sehen, daß sie beide ihn sehen, dann wird – trotz des hohen Einsatzes – nicht viel nachgedacht. Es ist wegen der starken subjektiven Sicherheit für das Gelingen der Koorientierung unnötig. Problematisch wird die Koorientierung also eigentlich nur in einem Fall: Bei hoher Motivation und bei fehlenden gedanklichen Anhaltspunkten. Es ist das von Thomas C. Schelling geschilderte Problem des Ehepaares, das sich in
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der Großstadt verloren hat und sich verzweifelt sucht, nicht so sehr weil sie sich so lieben – das wohl auch –, sondern weil die Geschäfte in 20 Minuten schließen und der günstige Großkochtopf, weswegen man sich aufgrund des ständigen Hungers der Kinder den Weg von Landau nach Mannheim gemacht hat, morgen wahrscheinlich nicht mehr zu haben sein wird. Was aber nun, wenn es – wie in Mannheim und vielen anderen Städten – keinen Kölner Dom gibt, der das Problem der Koordination durch die Koorientierung an einem sehr signifikanten Schellingpunkt leicht lösen hilft? Das Problem, das nun entsteht, ist in der Natur des Menschen, in seiner Weltoffenheit, angelegt: Es gibt keinen „natürlichen“ Haltepunkt für den jetzt ansetzenden unendlichen Regreß der wechselseitigen Überlegungen zweier Akteure A und B. Auf der ersten Stufe der Reflexion denkt sich A vielleicht: Wohin würde B wohl gehen? Und er nimmt an: Zum Paradeplatz, weil das der zentrale Ort in Mannheim ist. B fragt sich, ebenfalls auf einer ersten Stufe der Reflexion: Wo würde A sich wohl hinbegeben? Wahrscheinlich zum Schloß, weil das der markanteste Punkt weit und breit ist. Schon aber kommt A auch auf den nächsten Gedanken und auf eine zweite Stufe der Reflexion: Was wird B wohl denken, wohin ich gehen werde? B wird wohl annehmen: Zu Teutsch Technikland, wo es bekanntlich die billigsten Großkochtöpfe gibt. Und B denkt sich – nun ebenfalls auf der zweiten Stufe der Reflexion – ganz ähnlich: Wovon wird wohl A ausgehen, wenn er sich über mich Gedanken macht? Wahrscheinlich wird er annehmen, daß ich zum Bahnhof komme, damit wir, wenn schon die Geschäfte geschlossen sind, nicht auch noch den letzten Zug nach Landau verpassen. Aber auch das ist nicht sicher. A fragt sich jetzt, wieder eine Stufe der Reflexionsleiter hinauf, was B wohl annehmen wird, was A tut, wenn der das Handeln von B in Rechnung stellt. Und B tut das umgekehrt auch. Und so weiter und so fort – ohne Haltepunkt hinein in die innere Unendlichkeit der beiden Psychen von A und B aus Landau.
So steigen die Beteiligten eine unendliche Leiter von immer höher geschraubten Stufen der wechselseitigen Einfühlung und der Meta-Meta-Meta-...Überlegungen hinauf. Wenn die Zeit drängt, die Geschäfte geschlossen haben, der Zug fast weg ist und die (noch) dicken Kinder in Landau eine Heimkehr ohne Großkochtopf nicht verzeihen, dann wächst der Wunsch, wenigstens für das nächste Mal dafür zu sorgen, daß so eppes nicht noch einmal geschieht. Der soziologische Ausdruck für das Problem und die inneren Vorgänge bei den Akteuren ist der Begriff der Reflexivität. Es ist eine Erweiterung des Begriffes der doppelten Kontingenz (vgl. dazu bereits Kapitel 1 in diesem Band): Jeder der Akteure ist gleichzeitig Subjekt und Objekt des Wissens und der Erwartungen. Und das Wissen und die Erwartungen des anderen sind jeweils auch wieder Objekte dieses Wissens und der Erwartungen – ohne irgendeinen natürlichen Stoppunkt.
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Soziales Handeln
Empathie und Sympathie Spätestens hier wird deutlich, daß es für die schweigende Koordination über Koorientierung auch eine psychisch-individuelle Grundlage gibt, die nicht selbstverständlich ist: die Fähigkeit und die Motivation, sich in die subjektive Sinnwelt des anderen hineinzudenken. Diese gedankliche Leistung, sich in mögliche Absichten und Reaktionen anderer Akteure gewissermaßen vorauseilend hineinzuversetzen und innerlich deren Perspektive zu übernehmen, wird auch als Empathie bezeichnet. Sie ist für die Koordination des menschlichen Handelns deshalb so bedeutsam, weil sie es erlaubt, „ ... daß sich der Einzelne dazu anregt, die Haltung des anderen in seiner Reaktion auf das Objekt zu übernehmen.“4
Der Begriff ist ganz neutral gemeint: Empathie kann zu guten wie zu bösen Zwecken genutzt werden. Sie ist zum Beispiel für Schachspieler und Feldherren unerläßlich, die ihr Spiel gewinnen wollen. Aber auch für liebende Paare, die sich wechselseitig die Wünsche von den Lippen abzulesen versuchen und erst darin finden, was sie sich wünschen. Unter Sympathie wird demgegenüber das affektiv gefärbte „Mitfühlen“ mit anderen verstanden. Das meint bereits: das Mitfreuen und das Mitleiden mit anderen – auch ohne selbst an den Umständen der Freude und des Leides unmittelbar beteiligt zu sein. Adam Smith hat in seiner „Theory of Moral Sentiments“ dem Begriff der Sympathie eine besondere Bedeutung gegeben: Es ist der Gedanke an eine Empfindung, die man verspüren würde, wenn man in derselben Lage wäre, wie derjenige, den man gerade beobachtet. Sympathie rührt also ebenfalls – wie die Empathie – aus einer gedanklichen Leistung des Hineinversetzens in den anderen – nun aber verbunden mit einem moralischen Urteil: die Billigung oder Mißbilligung eines Schicksals oder einer als richtig oder als ungerecht beurteilten Behandlung. Adam Smith beginnt seine „Theory of Moral Sentiments“ so – und zwar als eine ihm ganz offenkundig wichtige, ja unerläßliche, Ergänzung seiner ansonsten ja durchaus utilitaristischen Ansichten über die menschliche Natur: „How selfish soever man may be supposed, there are evidently some principles in his nature, which interest him in the fortune of others, and render their happiness necessary to him, though he derives nothing from it except the pleasure of seeing it. ... The greatest ruffian, the most hardened violator of the laws of society, is not altogether without it.“5
4
5
George H. Mead, Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus, Frankfurt/M. 1973 (zuerst: 1934), S. 129. Adam Smith, The Theory of Moral Sentiments, Oxford 1976b, S. 9 (zuerst: 1759).
Interaktion
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Für die bloße koordinierende Abstimmung sozialer Handlungen sind Freundlichkeit und Sympathie also nicht weiter wichtig. Es kommt nur auf das Eine an: die gedankliche Übernahme der Perspektive des anderen. Bei der empathisch gesteuerten Koorientierung müssen die Akteure ja mit vorher verabredeten oder gemeinsam erlebten Zeichen und mit einsamer Gedankentätigkeit auskommen, weil sie eben nicht in Kontakt miteinander stehen. Der Abbruch der Reflexion Eine gelingende Koordination durch Koorientierung ist das aggregierte Ergebnis von an sich isolierten inneren Akten der Akteure. Die Akteure haben – jeweils für sich – die Alternative, jede weitere Überlegung zu stoppen oder aber mit der Reflexion weiterzumachen. Und die Frage ist: Wann hören sie an einem bestimmten Punkt mit der weiteren Reflexion möglicher Koordinationspunkte auf? Und die Antwort: an einem von allen Akteuren als sicher angesehenen Haltepunkt der Koorientierung, an dem sich die wechselseitigen Vermutungen festhaken und die Überlegungen zu einem Ende kommen, bei dem jeder davon überzeugt ist, daß das jetzt der richtige Punkt ist. Auf diese Weise wird selbst dann, wie wir in Abschnitt 3.1 in diesem Band gesehen haben, eine Koordination gefunden, bei der der eine Akteur weiß, daß er nicht so viel bekommt wie der andere. Er weiß aber auch sicher: Wenn nicht dieser Punkt gefunden wird, dann gehen alle, und damit auch er selbst, leer aus. Und daran wird erkennbar, daß auch die Koorientierungen innere Entscheidungen der Akteure sind, bei denen sie sich gut überlegen, welches Ergebnis wohl das günstigste ist. Auch dieser Vorgang läßt sich gut über die WE-Theorie modellieren. Es sei Uc der Ertrag aus der gelingenden Koordination, Un der Ertrag bei Fehlschlagen der Koorientierung. Die Beträge entsprechen beispielsweise den Werten in dem Koordinationsspiel aus Abbildung 3.1 in Kapitel 3 in diesem Band. Dann sei c die subjektive Sicherheit, daß mit der gerade gegebenen Annahme irgendeiner Stufe der Reflexion, der Ertrag Uc erreicht werde. Die weitere Reflexion erfordere – gegenüber dem Stop – einen gewissen Aufwand: Nervenkraft, Zeit, Kauf von Stadtplänen, beispielsweise. Der Aufwand sei mit C beziffert. Die subjektiv eingeschätzte Wahrscheinlichkeit, daß mit einer weiteren Stufe der Reflexion die Koorientierung gelänge, betrage dann p.
Daraus ergeben sich für die beiden Alternativen des Stops der Reflexion oder deren Weiterführung die folgenden EU-Gewichtungen: EUstop = cUc + (1-c)Un = U EUrefl = pUc + (1-p)U - C.
236
Soziales Handeln
Weiter reflektiert wird nach den Regeln der WE-Theorie, wenn EUrefl>EUstop ist. Daraus ergibt sich als Übergangsbedingung vom Stop der Reflexion in das weitere Nachdenken: pUc + (1-p)U - C > U pUc + U - pU - C > U pUc - pU >C p(Uc-U) >C Uc - U
> C/p.
Es ist, wie man sieht, ein Spezialfall des allgemeinen Modells zur Erklärung der Informationsbeschaffung unter den Bedingungen der begrenzten Rationalität (vgl. Abschnitt 8.3 und 8.4 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Die Bedingungen zur Fortsetzung der Reflexion sind entsprechend. Sie sind in den Einzeltermen der Größe U und in der Ratio C/p erkennbar: Je höher die Auszahlung für eine gelingende Koordination, je höher die eingeschätzte Wahrscheinlichkeit des schließlichen Erfolgs, je geringer die Reflexionskosten sind, und je kleiner der Ertrag wäre, wenn man jetzt nicht weiter nachdächte, um so eher wird weiter reflektiert. Schreibt man die Größe U in der Ungleichung aus und stellt ein wenig um, dann werden die Beziehungen zum Koordinationsproblem aus Abschnitt 3.1 in diesem Band noch deutlicher: Uc - (cUc + (1-c)Un)) > C/p Uc - (cUc + Un - cUn) > C/p (Uc - Un) - c(Uc - Un) > C/p Nun sieht man unmittelbar, wie wichtig die Differenz Uc - Un, der Koordinationsgewinn in einem Koordinationsspiel also, ist. Er erst beflügelt die Motivation zur Reflexion. Und es wird auch deutlich, welche Folgen die eingeschätzte Sicherheit c des Gelingens der Koordination ohne weiteres Nachdenken hat: Je mehr sich c dem Wert eins annähert, um so stärker wird die, eine weitere Reflexion motivierende Wirkung des Koordinationsgewinns wieder gedämpft. Wenn c gleich eins ist, dann lohnt sich die Reflexion praktisch überhaupt nicht mehr. Es ergibt sich dann ja für die beiden Ausgangsgleichungen: EUstop = Uc EUrefl = pUc + (1-p)Uc - C = pUc + Uc - pUc - C
Interaktion
237
= Uc - C. Das aber heißt: Immer wenn C auch nur geringfügig größer ist als null, wird unter der Bedingung der subjektiven Sicherheit für einen koordinierenden Anhaltspunkt jede weitere Reflexion abgebrochen. Allerhöchstens könnte Indifferenz herrschen – wenn die Reflexion wirklich nichts kostet. Nur Intellektuelle, die weiter nichts zu tun haben, als zu reflektieren, könnten auf diesen Gedanken kommen. Oder sogar darauf, daß die Dauerreflexion in die innere Unendlichkeit hinein auch Spaß macht und daß daher zu dem Gewicht Erefl=Uc-C noch ein zusätzlicher Nutzenterm für diesen Spaß dazugehört – mit der Folge daß auch reflektiert wird, wenn es eigentlich nicht nötig wäre und Kopfschmerzen verursacht. Normale Menschen aber haben weder Zeit noch Nerven für derartige Späße. Besonders dann nicht, wenn in Landau die hungrigen Kinder warten. Kollektive Repräsentationen und Kultur Gelingende soziale Interaktionen sind – auf den ersten Blick wenigstens – durchaus unwahrscheinlich. Manches alltägliche wie außeralltägliche Ereignis kann man nur bestaunen – wie es Johannes Siegrist zu Beginn seines auch ansonsten immer noch lesenswerten Buches über das „Consensus-Modell“ tut: „Ein konzertierendes Duo fällt aus dem Takt. Was geschieht? Eine kriegerische Auseinandersetzung führt zu einem Waffenstillstand; noch bevor die beiden Parteien Verhandlungen aufnehmen, anerkennen sie stillschweigend eine vorläufige Grenze. Wie kommt es dazu? Nach dem Attentat auf Rudi Dutschke gelangten protestierende Studenten großenteils ohne Vereinbarung zu einem gemeinsamen ‚Treffpunkt‘, dem Springer-Hochhaus. Wie ist diese wortlose Verständigung zustandegekommen?“ (Siegrist 1970, S. 1)
Die Antworten zur Erklärung der Vorgänge fallen nun nicht schwer: Ein konzertierendes Duo kennt die Partitur und den nächsten salienten Einsatz. Der Fluß, an dem die Heere stoppen, obwohl sie ohne weiteres hätten weitermarschieren können, ist der einzige markante Anhaltspunkt dafür: Wenn nicht dort, wo denn dann? – werden sich die beiden Heerführer übereinstimmend gefragt haben, ohne je miteinander zu reden. Und das Springer-Hochhaus mitsamt der Person, die ihm seinen Namen gab, war mit Hilfe der BILD-Zeitung für die empörten Studenten 1968 sogar zu etwas mehr als bloß einem salienten kulturellen Symbol der Koorientierung geworden – ganz ähnlich wie die Bastille am Vorabend der Französischen Revolution oder die Nikolaikirche während der sog. Wende im Herbst 1989 in Leipzig. Allen diesen Beispielen ist gemeinsam, daß es ein Problem der Koordination gibt, daß den Menschen
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Soziales Handeln
etwas daran liegt, daß es gelöst wird – und daß sie als sicher geltende und sozial geteilte Anhaltspunkte zur Verfügung haben, die dann jede weitere Reflexion überflüssig machen. Es sind Anhaltspunkte eines gemeinsamen Wissens und gemeinsam verstandener Symbole, die zum Auslöser dieses Wissens werden. Sie seien – einem Ausdruck von Emile Durkheim folgend – als kollektive Repräsentationen bezeichnet. Ihre Besonderheit ist, daß sie eben nicht auf den schwankenden Psychen des individuellen Bewußtseins, sondern auf dem sicheren Grund der „Gesellschaft“ stehen. Und daß sie, wie das Modell des Abbruchs der Reflexion gezeigt hat, gerade daher ihre orientierende und koordinierende Kraft gewinnen: „Was uns lenkt, sind nicht die wenigen Ideen, die gegenwärtig unsere Aufmerksamkeit beanspruchen; es sind die Residuen, die unser bisheriges Leben hinterlassen hat. Die angenommenen Gewohnheiten, die Vorurteile und Bestrebungen sind es, die uns bewegen, ohne daß wir uns dessen bewußt wären ... .“6
Die Gesamtheit des derart sozial geteilten und mit Symbolen versehenen Wissens sei dann mit Talcott Parsons und Edward A. Shils als Kultur bezeichnet: „A shared symbolic system is a system of ‚ways of orienting‘ plus those ‚external symbols‘, which control these ways of orienting ... . Such a system, with its mutuality of normative orientation, is logically the most elementary form of culture.“7
Die Kultur, die dauerhaften Bestandteile des Wissens, die Gewohnheiten, Vorurteile und wertenden Standards des Handelns also, ist das Ergebnis wiederkehrender Situationen und der gemeinsamen Erinnerung daran (vgl. dazu insgesamt noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Systematische Wiederholungen von Situationen gibt es aber nur als Gleichgewicht von wechselseitig bezogenen Handlungen, als „gesellschaftliche“ Organisation. Der soziale Charakter des Wissens bzw. der Kultur ist es also, der die aktuellen Koordinationen des Alltags leitet. Und weil die Probleme meist drängend, die Sicherheit der „Geltung“ des kulturellen Wissens wegen seines sozialen Charakters aber hoch ist, gewinnen die Anhaltspunkte dieses Wissens für das Handeln einen obligatorischen Zug. Dieser obligatorische Zug des kulturellen Wissens wird von den Menschen oft als Ausdruck übermenschlicher Kräfte, etwa auch als eigenständiger Gruppengeist oder als Kollektivbewußtsein, gedeutet. Über- oder außermenschlich ist die Kultur aber in keiner Weise, wie wir als Soziologen, die das alles durchschaut haben, nun wissen. 6 7
Emile Durkheim, Soziologie und Philosophie, Frankfurt/M. 1976, S. 50f. Talcott Parsons, Edward A. Shils, Gordon W. Allport, u.a., Some Fundamental Categories of the Theory of Action: A General Statement, in: Talcott Parsons und Edward A. Shils (Hrsg.), Toward a General Theory of Action, Cambridge, Mass., 1954, S. 16.
Interaktion
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Nur der einzelne muß es aus seiner Sicht wohl so sehen, weil er die Kontrolle über das, was sich als Gleichgewicht des Wissens herausbildet, und über das, was er als Kultur erwirbt, alleine eben nicht hat – und er darüber nicht einmal nachdenken darf, soll er nicht ins Stolpern geraten bei den vielen Koordinationen des Alltagslebens.
Exkurs über Thomas C. Schelling und die Klugheit der Frauen In seinem berühmten Buch über „The Strategy of Conflict“ berichtet Thomas C. Schelling auch über einige einfache Experimente zum Auffinden eines Koordinationspunktes.8 Eines dieser Experimente ging so: Einer Gruppe von Studenten wurde die folgende Zahlenreihe vorgelegt: 7 100 13 261 99 555. Die Studenten sollten nun eine davon ankreuzen und sich dabei vorstellen, daß es dann einen gewissen Geldbetrag für alle gebe, wenn sie ausnahmslos die gleiche Zahl ankreuzen würden. Es ging also um das Auffinden eines Fokalpunktes für eine gewinnbringende Koordination ohne „Verständigung“ und nur durch die gedankliche Koorientierung der Akteure. Aber welche Zahl sollte es sein? Die Zahlen hatten irgendwie alle „was“: Die 7 ist die magische Zahl und steht zuerst in der Reihe, die 100 ist eine prominente Zahl des kulturell gut verankerten Dezimalsystems, dann natürlich die „13“ als Unglückszahl, die beiden Schnapszahlen 99 und 555, sowie sogar die 261, die als einzige keinerlei Besonderheit aufzuweisen scheint. In dem Experiment von Schelling kam heraus, daß ca. 90% der Nennungen auf die ersten drei Zahlen, die 7, die 100 und die 13 also, entfielen, wobei die 7 am häufigsten genannt wurde. Dieses Experiment wurde im Wintersemester 1999/2000 in einigen Veranstaltungen der Mannheimer Fakultät für Sozialwissenschaften wiederholt. Insgesamt verteilten sich die Äußerungen nicht ganz so deutlich wie bei Schelling, aber immer noch erkennbar systematisch: Nahezu 70% der Nennungen konzentrierten sich auf die ersten drei Zahlen, und dann noch einmal weitere 15% auf die „99“, weil, wie die auch erbetenen offenen Antworten zur Begründung der jeweiligen Wahl zeigten, sich manche am Anker des Jahres 1999 orientiert haben (vgl. Tabelle 8.1, unterste Zeile zur Gesamtverteilung). Nun gut.
8
Thomas C. Schelling, The Strategy of Conflict, Cambridge, Mass., 1960, S. 54f.
240
Soziales Handeln
Das Experiment wurde, anders als bei Schelling, in zwei Varianten durchgeführt. In der ersten Variante war den Studenten ein Gewinn von jeweils 5 DM, in der zweiten Variante einer von 1000 DM versprochen worden, wobei sie eindringlich gebeten worden waren, sich wirklich ernsthaft vorzustellen, sie bekämen das Geld ggf. tatsächlich. Der Hintergrund dieser Variation des Experimentes ist auch klar: Wenn die Rekonstruktion der Koorientierung in der Sprache der WE-Theorie etwas auf sich hat, dann müßte sich die Erhöhung der Anreize auf die Intensität der Versuche zur Koorientierung und möglicherweise auch auf die Erhöhung des Konsenses auswirken. Die empirischen Verteilungen über die Zahlen für diese beiden Varianten an Gewinnanreizen sahen dann so aus: Tabelle 8.1: Die Verteilung der Nennungen bei der Replikation des Koordinationsexperimentes von Schelling
Zahl Gewinn Gewinn gesamt
7
100
13
261
99
555
N
5 DM 16.2 5000 DM 16.0
27.6 36.8
22.9 17.0
4.8 7.5
15.2 15.1
13.3 7.5
105 106
16.1
32.2
19.9
6.2
15.2
10.4
211
Auf den ersten Blick scheint es so, als ob der erhöhte Anreiz in der Tat zu einer Erhöhung des Konsenses geführt habe. Deutlich mehr Stimmen konzentrieren sich nun auf die 100, während die 13 und die 555 abgeben mußten. Dafür gab es einen naheliegenden „symbolischen“ Grund: Viele Studenten sagten in der offenen Frage, warum sie genau diese Zahl angekreuzt hätten, daß sie die 100 mit dem Betrag von 1000 DM assoziiert hätten und davon ausgingen, daß das auch die anderen täten. Und ganz ähnlich argumentierten die Studenten mit der 5-DM-Auszahlung, warum sie die 555 so häufig angekreuzt hätten. Gleichwohl ist kein systematischer Effekt der Anreize auf die Erhöhung des Konsenses durch bloße Koorientierung festzustellen, denn das wohl einfachste Maß dazu, das χ2 für die Verteilungen in der Tabelle oben, zeigt mit einem Wert von nur 7.65 bei 5 Freiheitsgraden, daß die Unterschiede in der Verteilung der Stimmen nur zufällig sind, etwa weil die Studenten sich jedesmal nichts besonderes gedacht haben oder zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen in ihren Überlegungen kamen. Gleichwohl ist etwas geschehen. Es war auch gefragt worden, ob die Antwort eher auf Zufall oder auf Überlegung beruht hätte. Und es zeigte sich,
241
Interaktion
ganz im Einklang mit der Erklärung der Koorientierung als „inneres Tun“ nach den Regeln der WE-Theorie, daß der Anteil derjenigen mit „Überlegungen“ zunimmt, wenn die Anreize steigen (vgl. Tabelle 8.2): Tabelle 8.2: Die Änderung des Anteils an „Überlegung“ mit der Erhöhung der Anreize
Gewinn 5 DM
Gewinn 1000 DM
56.2
65.1
105
106
n
N 211
Der Unterschied ist nicht groß, aber diesmal signifikant (mit p<0.02). Eher zufällig wurde aber auch noch ein anderer Unterschied entdeckt: der Unterschied im Grad der Überlegungen, den offenbar der „kleine Unterschied“ macht, der nach Geschlecht also. Hier gab es eine ähnlich hohe Differenz: Die weiblichen Studenten gaben zu 54.1% an, sich bei ihren Antworten etwas überlegt zu haben, die männlichen dagegen zu 70.1% (mit p<0.02 wiederum). Beide Effekte wirken, wie man der Tabelle 8.3 entnehmen kann, voneinander unabhängig, wobei es sogar einen Interaktionseffekt derart zu geben scheint, daß fast nur die männlichen Studenten auf die Anreizerhöhung reagierten. Tabelle 8.3: Die „Interaktion“ von Geschlecht und Anreiz auf den Anteil der Antworten mit „Überlegung“
Geschlecht Anreiz
n
weiblich 5 DM 1000 DM 51.6 64
56.9 58
männlich 5 DM 1000 DM 63.4 41
76.1 46
N
209
Was ist denn das? Also doch: weibliche Intuition versus männliche Rationalität? Gilt die WE-Theorie also, wie das manche immer schon vermutet haben, nur für Männer? Die Sache wird noch etwas seltsamer, wenn wir uns ein weiteres Ergebnis ansehen. In einer offenen Frage war erfaßt worden, worin denn die Überlegungen bestanden. Darunter gab es dann Äußerungen wie die, daß die sieben eine magische Zahl wäre oder daß die 555 an die 5-DM-
242
Soziales Handeln
Auszahlung erinnere. Das waren sicher nachvollziehbare und auf das Problem bezogen auch „sinnvolle“ Überlegungen. Es fanden sich aber auch Äußerungen derart, daß die betreffende Zahl eine „persönliche“ Glückzahl wäre oder an den eigenen Geburtstag erinnere. Diese Notierungen zeigten, daß nicht alle „Überlegungen“ wirklich gut überlegt waren, denn diese eher persönlichen Äußerungen zeigten, daß diese Versuchspersonen sich zwar Gedanken gemacht, aber offenbar das Problem nicht verstanden hatten. Es gab also bei den „Überlegungen“ auch viel nicht-rationalen Unfug. Wir haben deshalb aus der Kategorie der „Überlegungen“ diese sachfremden Erwägungen herausgenommen und dann noch einmal nach den Unterschieden geschaut, diesmal also nach den Unterschieden zwischen den Geschlechtern und den Anreizvarianten in Hinsicht auf die wirklich „systematischen“ und „rational“ auf das Problem bezogenen Überlegungen. Und dabei kam das folgende heraus (Tabelle 8.4): Tabelle 8.4: Die „Interaktion“ von Geschlecht und Anreiz auf den Anteil der Antworten mit „systematischer“ Überlegung
Geschlecht Anreiz
n
weiblich 5 DM 1000 DM 39.7 63
42.1 57
männlich 5 DM 1000 DM 61.0 41
56.5 46
N
207
Und was sehen wir? Zunächst: Nun erhöhen die Anreize das Ausmaß der „systematischen“ Überlegungen auch bei den Männern nicht. Im Gegenteil: Bei denen nimmt die Systematik der Urteilsbildung eher sogar ab, wenngleich der Unterschied unter der Signifikanzgrenze liegt. Und vor allem: Jetzt gibt es sogar nur noch einen Geschlechtseffekt. Man könnte es auch so sagen: Das Geschlecht und nicht die Anreize in der Situation bestimmen den Modus der Reaktion und den Grad der „Rationalität“. Dann also doch das Undenkbare? Das könnte schon sein, auch wenn sich die Tastatur sträubt, den jetzt fälligen, politisch notwendigerweise nicht sonderlich korrekten und für die Annahme der „Allgemeinheit“ der WE-Theorie geradezu desaströsen Satz zu schreiben. Aber Vorsicht: Die Annahme einer geringeren „Rationalität“ der Frauen muß aus den Ergebnissen so noch keineswegs geschlossen werden. Denn das WE-Modell der Koorientierung sagt ja auch, daß, wenn sich jemand in seinem Urteil sicher ist, nicht weiter über-
Interaktion
243
legt wird, aber auch dann nicht, wenn die Erfolgsaussichten auf einen Konsens sehr gering sind. Warum sollte man seine Energie auf eine aussichtslose Sache verschwenden? Ob es wirklich „rational“ war, weitere Überlegungen anzustellen, müßte man auch an den Ergebnissen ablesen können und damit am Erfolg der Entscheidungen, also am Grad des erreichten Konsenses. Und was sieht man da? Die (hier nicht weiter dargestellten) Ergebnisse zeigen, daß weder das Geschlecht, noch der Grad der (systematischen) Überlegungen irgendeinen signifikanten Effekt auf den tatsächlich erzielten Konsens haben. Der Grund dafür ist auch leicht einsehbar: Weil im Grunde alle Zahlen irgendeinen Ankerpunkt abgeben könnten, wäre es viel vernünftiger, ohne weitere Verzögerung der Intuition zu folgen. Und das tun vor allem die Frauen dann auch. Sie sind damit eigentlich, mindestens im Rahmen unserer Rekonstruktion der Koorientierung als WE-Entscheidung und gegen den ersten Augenschein, sogar „rationaler“ als die Männer, weil sie angesichts einer eigentlich unlösbaren Aufgabe unnötigen Aufwand einsparen. Vielleicht ist das sogar ein genetisches Erbe: Frauen mußten im Verlaufe der soziobiologischen Evolution des homo sapiens sorgfältiger mit ihren Ressourcen umgehen, weil es für die Reproduktion der Männer nicht sonderlich bedarf. Einer reichte eigentlich für alle. Bei den Frauen war das anders: Sie müssen in größerer Zahl vorhanden sein. Und deshalb war – und ist – es für sie besonders vernünftig, sich keine Gedanken zu machen, wenn das ohnehin zu nichts führt. Intuition spart Kosten, und sie schadet nichts, wenn jede „systematische“ Überlegung ein anderes Ergebnis bringen kann. Der Grad der „Überlegung“ allein ist es, so muß man wohl festhalten, nicht, was die Vernünftigkeit eines Tuns ausmacht. Und insbesondere die männlichen Versuchspersonen haben mit den Verlockungen der 1000 DM zwar ihren Kopf rauchen lassen, sich dabei aber nicht besonders vernünftig angestellt.
8.2
Symbolische Interaktion
Ein musizierendes Duo, das aus dem Takt fällt, hat es für die Koordination seines Tuns in wenigstens einer Hinsicht deutlich leichter als das verzweifelte Ehepaar aus Landau: Die beiden Virtuosen sehen einander und können sich, etwa durch das kurz angedeutete Hochziehen einer Augenbraue, gegenseitig mit Hilfe eines Zeichens in der Situation einen Anhaltspunkt geben, um den Takt wiederzufinden. Eine solche wechselseitige Steuerung durch Zeichengabe geschieht aber keineswegs nur, wenn der Fluß des Musizierens stoppt. Es
244
Soziales Handeln
begleitet vielmehr die gesamte Aufführung. Das Notenblatt ist nur eine äußere und recht grobe Anweisung. Die Aufführung selbst verlangt deutlich mehr: „Die Mitaufführenden (sagen wir ein Solist, der von einem Tasten-Instrument begleitet wird) müssen Tätigkeiten ausüben, die sich in die Außenwelt einschalten und daher in der verräumlichten äußeren Zeit geschehen. Entsprechend orientiert sich jede Handlung des Mitaufführenden nicht nur am Gedanken des Komponisten und an seiner Beziehung zum Auditorium, sondern auch reziprok an den Erfahrungen in der inneren und äußeren Zeit seiner mitaufführenden Kollegen. Technisch gesehen findet jeder von ihnen auf dem Notenblatt vor ihm nur den Teil des musikalischen Inhaltes, den der Komponist seinem Instrument für die Übersetzung in Töne zugeschrieben hat. Jeder muß deshalb darauf achten, was der andere gleichzeitig auszuführen hat.“9
Wieder gibt es also ein Problem der Koordination. Die nun erforderliche Koorientierung erfolgt aber unter einer anderen Bedingung: „Beide teilen nicht nur die innere Durée, durch die sich der Inhalt der gespielten Musik selbst aktualisiert; jeder teilt unmittelbar in lebendiger Gegenwart den Bewußtseinsstrom des anderen. Dies ist möglich, weil das gemeinsame Musizieren sich in einer wahren Gesichtsfeldbeziehung ereignet ... . Die Gesichtsausdrücke des anderen, seine Gesten, wenn er sein Instrument spielt, kurz: alle seine Aufführungstätigkeiten schalten sich in die Außenwelt ein und können vom Partner unmittelbar erfaßt werden. ... . Jeder Kammermusiker weiß, wie störend eine Sitzordnung sein kann, die es den Mitaufführenden nicht möglich macht, einander zu sehen.“ (Ebd., S. 148; Hervorhebung so nicht im Original)
Gesten und Gestenkonversation Die wechselseitige Abstimmung des Tuns dadurch, daß die jeweiligen Reaktionen als typische Zeichen für typische Absichten und Reaktionsbereitschaften übernommen werden und daß darauf auch typisch reagiert wird, ist ein weit verbreiteter Mechanismus der Koordination von Akten – nicht nur bei Konzerten und nicht bloß bei freundlicher Kooperation: Es werden Gesten ausgetauscht, die jeweils die eigenen Absichten anzeigen sollen und die dazu benutzt werden, die Absichten des jeweils anderen zu erschließen – keineswegs nur bei Menschen: „Feindselige Hunde bedienen sich einer solchen Gestensprache. Sie umkreisen einander, jaulen und schnappen, warten auf eine Möglichkeit zum Angriff.“ (Mead 1973, S. 53)
9
Alfred Schütz, Gemeinsam Musizieren, in: Alfred Schütz, Gesammelte Aufsätze, Band 2: Studien zur soziologischen Theorie, Den Haag 1972, S. 147.
Interaktion
245
Über Gesten – einem von dem Psychologen Wilhelm Wundt entwickelten Konzept – wird eine besondere Beziehung zwischen den interagierenden Organismen hergestellt: „Eben die Tatsache, daß der Hund zum Angriff auf einen anderen bereit ist, wird zu einem Reiz für diesen anderen, seine eigene Position oder seine eigene Haltung zu ändern. Kaum tritt dies ein, löst die veränderte Haltung des zweiten Hundes beim ersten wiederum eine veränderte Haltung aus.“ (Ebd., S. 82)
Die beschriebene Beziehung besteht in einer bestimmten, nicht-sprachlichen „Konversation“ über Zeichen, die, bei nicht-menschlichen Organismen vorwiegend, jeweils eine fixe Bedeutung haben. Genau deshalb sind Katze und Hund nur selten Freunde: Das Wedeln mit dem Schwanz ist für den Hund ein unverrückbares Zeichen der Freude, für Katzen bedeutet es ebenso unverrückbar Angriffslust. Und so gehen die arglos-dummen Hunde freudig auf den Kater zu, der verstohlen-erregt mit der Schwanzspitze zuckt – und holen sich eine blutige Nase. Signifikante Symbole Bei Interaktionen zwischen menschlichen Akteuren sind Gesten nicht einfach „Reize“, die eine fixierte Reaktion auslösen. Es sind vielmehr Anzeichen für ganz bestimmte gedankliche Vorstellungen, die denjenigen leiten, der die Geste aussendet. Jene Gesten, mit denen die Akteure eine gemeinsame „Idee“ über einen vollständigen Handlungsablauf verbinden, werden von George Herbert Mead auch als signifikante Symbole bezeichnet: „Wenn nun eine solche Geste die dahinterstehende Idee ausdrückt und diese Idee im anderen Menschen auslöst, so haben wir ein signifikantes Symbol.“ (Ebd., S. 85)
Kämpfende Hunde interagieren über einfache Gesten, die keine signifikanten Symbole sind, weil die Hunde – wahrscheinlich – mit den Gesten keine „Idee“ verbinden. Boxer, Fechter und Fußballer im Wettkampf, Sänger, Musiker, Dirigent und Publikum in der Oper, Minister und Rektoren als Festredner, Ehepartner in Liebe und im Streit, Bundeskanzler und Minister am Kabinettstisch – und so weiter – koordinieren ihr Tun dagegen über signifikante Symbole. Ihre Gesten lösen jeweils innere Vorstellungen aus. Sie geben dem gestischen Geschehen so einen Sinn: Aha – mein Gegenüber ärgert sich, will wohl einen Doppelpaß spielen oder meint es gut mit mir. Und wenn auf beiden Seiten die gleiche Vorstellung, die gleiche Idee also, aktiviert und so der gleiche Sinn ausgelöst werden, dann kann auch die Koordination – eines Konzertes, eines Streites, eines Spiels – gelingen. Es ist – sozusagen – auch eine empathische
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Soziales Handeln
Koorientierung, diesmal aber unter Zuhilfenahme von Anhaltspunkten, die in der Situation von den Akteuren gegenseitig ausgetauscht werden. George H. Mead hat dies so beschrieben: „Insoweit der Einzelne ihn (den durch eine Geste oder ein anderes Zeichen angezeigten Sinn; HE) sich selbst in der Rolle des anderen aufzeigt, macht er sich dessen Perspektive zu eigen, und da er ihn dem anderen aus seiner eigenen Perspektive aufzeigt, das Aufgezeigte also identisch ist, muß es in verschiedenen Perspektiven auftreten können.“ (Ebd., S. 129; Hervorhebungen nicht im Original)
Hier wird noch einmal deutlich, worin der entscheidende Punkt in der gestisch-interaktiven gedanklichen Abstimmung des Handelns liegt: in der als identisch aufscheinenden Idee bei den verschiedenen Akteuren als Folge der wechselseitigen Beobachtung von Gesten. Die Idee kann deshalb als identische Idee entstehen, weil es sie als gesellschaftlich-kulturelles Faktum gibt, weil sie mit bestimmten äußeren Zeichen fest verbunden ist und weil sich die Perspektiven der individuellen Akteure über die gegenseitige Beobachtung in einem Akt des symbolisch gesteuerten empathischen gedanklichen Hineinversetzens verschränken können. Signifikante Symbole erbringen über den Mechanismus der Selbst- und Fremdanregung und der so leicht möglichen, stets neu überprüfbaren, gedanklichen Koordination über gemeinsame Projekte, Ideen und Absichten einen großen Vorteil für die vergesellschaftende Anpassung durch koorientierende Koordination: „Kurzum, die bewußte oder signifikante Kommunikation durch Gesten ist ein weit geeigneterer und effektiverer Mechanismus der gegenseitigen Anpassung innerhalb einer gesellschaftlichen Handlung, die voraussetzt, daß jedes darin tätige Individuum die Haltungen der anderen sich selbst gegenüber übernimmt, als das bei der unbewußten oder nicht-signifikanten Geste der Fall ist.“ (Ebd, S. 85f.)
Man kann es auch so sagen: An die Stelle der stets sehr unsicheren, auf die Existenz von sicheren kulturellen Elementen angewiesenen „tacit“ coordination tritt eine in der Situation jeweils neu erfolgende interaktive und daher auch flexible Koordination über Gesten und – besonders – über sichtbare signifikante Symbole. Diese Art der interaktiven Koordination sei als symbolische Interaktion bezeichnet (vgl. dazu insgesamt noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ausführlicher). Sprache und Interaktion Das für die Abstimmung menschlicher Handlungen wichtigste System signifikanter Symbole ist die Sprache. Sie ist ein besonders leistungsfähiges System zur Auslösung gemeinsamer Ideen und Haltungen. Besonders die Selbst-
Interaktion
247
anregung ist hier wichtig: Signifikante Symbole bauen in dem Akteur ein Bild auch der Vorstellungen des anderen auf. Und über das Sprechen gelingt dies besonders nachhaltig: Man hört sich ja selbst sprechen und macht sich damit unmittelbar auch selbst gedanklich zum Objekt der möglichen Überlegungen anderer über das, was gemeint ist, was von mir wohl erwartet wird und was jetzt geschehen soll. Noch einmal eine der unzähligen Stellen bei Mead zum Unterschied von Gesten und signifikanten Gesten bzw. signifikanten Symbolen, insbesondere in der Form der Sprache: „Die Hunde sprechen nicht miteinander; Hunde haben keine Ideen; wir nehmen auch nicht an, daß ein Hund dem anderen eine Idee mitzuteilen versucht. Wenn aber die Geste, wie im Fall des Menschen, eine Parallele zu einem bestimmten psychischen Zustand aufweist – nämlich der Idee darüber, was eine Person tun wird –, und wenn diese Geste eine gleiche Geste und eine gleiche Idee im anderen Menschen auslöst, wird sie zu einer signifikanten Geste.“ (Ebd., S. 87; Hervorhebung nicht im Original)
Und genau das ist die Wirkung und Funktion der signifikanten Gesten und der sprachlichen Kommunikation: „Sie steht für die Idee im Denken beider.“ (Ebd.; Hervorhebung nicht im Original)
Sprachliche signifikante Symbole werden von George Herbert Mead auch als vokale Gesten bezeichnet. Symbolische Interaktion über die Sprache ist aber schon „mehr“ als nur „symbolische“ Interaktion. Es ist bereits Kommunikation.
8.3
Kommunikation
Was aber „ist“ dann Kommunikation? Die meisten Definitionen des Begriffs der Kommunikation sind recht allgemein und umfassend, um nicht zu sagen: nichtssagend. Eine ältere, aber recht berühmte und noch dazu gut verständliche und relativ präzise Definition lautet so: „By communication is here meant the mechanism through which human relations exist and develop – all the symbols of the mind, together with the means of conveying them through space and preserving them in time. It includes the expression of the face, attitude and gesture, the tones of the voice, words, writing, printing, railways, telegraphs, and whatever else may be the latest achievement in the conquest of space and time. All these taken together, in the intricacy of their actual combination, make up an organic whole corresponding to the organic
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Soziales Handeln
whole of human thought; and everything in the way of mental growth has an external existence therein.“10
Jeder Begriff ist natürlich nur eine Frage der Festlegung, die mehr oder weniger sinnvoll ist, insofern sie die Aufmerksamkeit auf empirisch feststellbare und theoretisch wichtige Unterschiede lenkt. Nur deshalb wollen wir das Konzept der Kommunikation im Rahmen der anderen Formen der Interaktion abgrenzen: Kommunikation ist zunächst nichts weiter als eine besondere Form der symbolischen Interaktion. Die Koorientierung ist eine rein gedankliche Interaktion ohne jede direkte Beeinflussung. Bei der symbolischen Interaktion gibt es eine solche wechselseitige Beeinflussung – und sei es nur dadurch, daß das beobachtete Handeln des jeweils anderen als Anzeichen für dessen Absichten oder Vorstellungen gewertet werden. Kommunikation sei als Form der Interaktion definiert, bei der die Verständigung nicht bloß über Gesten verläuft. Bei Gesten ist die Bedeutung den Akteuren zwar ersichtlich und deutlich, aber nicht irgendwie geregelt oder gar institutionalisiert. Gesten gewinnen außerdem ihre koordinierende Kraft vor allem durch ihre räumliche, zeitliche und soziale Unmittelbarkeit. Zeichen, die einen systematischen und institutionell oder kulturell festgelegten „Sinn“ auszulösen und so eine Situation in besonderer Weise zu „definieren“ vermögen, und dabei auch in mittelbarer Weise „wirken“ können, seien als Medien bezeichnet. Die wichtigsten Medien der Kommunikation sind in diesem Sinne die mündliche Sprache, die Schrift und die sog. symbolisch generalisierten Medien. Symbolisch generalisierte Medien eröffnen durch ihre Eigenschaft der „Definition“ der Situation besonders hohe Chancen für eine systematische, auf einen bestimmten Sinn fokussierte, geregelte und eigenen Gesetzen unterliegende Interaktion (vgl. dazu noch Abschnitt 8.3.5, sowie Abschnitt 10.4 in diesem Band).
Kommunikation ist dann – so wollen wir nun festhalten – eine symbolische Interaktion mit Hilfe eines Mediums. Bei Verwendung eines Mediums kann eine Kommunikation – anders als die symbolische Interaktion, wenngleich auch nun immer noch: mehr oder weniger – auch über den unmittelbaren Nahbereich der Akteure hinausgreifen und von dessen Kontext weitgehend gelöst werden. Auf diese Weise können Akteure aus ganz verschiedenen geographischen, kulturellen und sozialen Räumen, ja aus verschiedenen zeitlichen Zusammenhängen, zu „kommunikativen“ Einheiten gekoppelt und sogar zu einem „sozialen System“ zusammengebracht werden, an dem sie gleichwohl als Akteure immer nur sehr partiell teilhaben (vgl. dazu besonders Abschnitt 8.3.5 in diesem Band gleich unten).
10
Charles H. Cooley, Social Organization. A Study of the Larger Mind, New York 1962 (zuerst: 1909), S. 61.
Interaktion
249
8.3.1 Das allgemeine Konzept der Kommunikation Das klassische Konzept der Kommunikation unterscheidet in seiner einfachsten Form drei Elemente:11 Sender, Information und Empfänger. Die Kommunikation ist eine spezielle Form der Verbindung zwischen ihnen. In einer einmal sehr bekannten Kurzformel, die man inzwischen fast nicht mehr hören kann, sind von Harold D. Lasswell die Einzelvorgänge und Elemente der Kommunikation in einer längeren, hier noch etwas modifizierten, Frage zusammengefaßt worden:12 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
Wer sagt was mit welcher Absicht womit wodurch mit welcher Wirkung zu wem?
Sender Akt der Mitteilung Information Zielsetzung, Intention Medium, Zeichen, Signal Kanal Effekt Empfänger
Danach besteht eine Kommunikation aus einem kommunikativen Akt des Senders, der bestimmte Absichten verfolgt und dazu eine Information in ein Medium eingibt. Diese Information erreicht dann bestimmte Empfänger, die aber nicht mit denen identisch sein müssen, an die der Sender dachte. Auf die Empfänger „wirkt“ die Botschaft dann – freilich nicht immer so, wie sich das der Sender vorgestellt hatte.
11
12
Als Übersichten über die verschiedenen Konzepte und Elemente der (Massen-)Kommunikation vgl. aus soziologischer Sicht: Alphons Silbermann, Massenkommunikation, in: René König (Hrsg.), Handbuch der empirischen Sozialforschung, Band 10: Großstadt, Massenkommunikation, Stadt-Land-Beziehungen, 2. Aufl., Stuttgart 1977, S. 146-278. Aus sozialpsychologischer Sicht: Carl F. Graumann, Interaktion und Kommunikation, in: Carl F. Graumann (Hrsg.), Handbuch der Psychologie, 7. Band: Sozialpsychologie, 2. Halbband: Forschungsbereiche, Göttingen 1972, S. 1117-1123. Aus kommunikationstheoretischer Sicht: Paul Watzlawick, Janet H. Beavin und Don D. Jackson, Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien, 8. Aufl., Bern, Stuttgart und Toronto 1993, insbesondere Kapitel 1: Die begrifflichen Grundlagen. Die Frage geht ursprünglich auf Harold D. Lasswell zurück: Harold D. Lasswell, The Structure and Function of Communication in Society, in: Lyman Bryson (Hrsg.), The Communication of Ideas, New York 1948, S. 37-51.
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Soziales Handeln
Medium Die Information wird nach dem Konzept vom Sender über ein bestimmtes Medium, zum Beispiel die mündliche Sprache, an den Empfänger weitergegeben. Für einen abgeschlossenen Akt der Kommunikation ergeben sich dann – in eine Richtung gesehen – zwei Beziehungen: die Beziehung zwischen Sender und Medium einerseits; und die Beziehung zwischen Medium und Empfänger andererseits. Enkodierung und Dekodierung Die erste Beziehung ist die der Eingabe der Information in das Medium durch den Sender. Sie wird als Enkodierung bezeichnet. Die Enkodierung erfolgt über besondere Effektor-Organe: Kehlköpfe oder Füllfederhalter, zum Beipiel. Die zweite Beziehung ist die Rezeption, die Aufnahme der Information über die Dekodierung der im Medium verschlüsselten Information durch den Empfänger. Die Dekodierung setzt spezielle Rezeptor-Organe voraus, die mit den Effektor-Organen korrespondieren müssen: zuhörende Ohren oder lesende Augen, zum Beispiel. Kanal, Rauschen und Redundanz Die im Medium verschlüsselte Information wird über einen Kanal übertragen: Schallwellen oder Druckbuchstaben auf Papier, zum Beispiel. Dabei können gewisse Störungen – Rauschen – auftreten, die die Dekodierung erschweren oder gar ausschließen können: Nebengeräusche am Biertisch oder verschmierte Photokopien etwa. Ist die Redundanz der Mitteilung groß genug, dann können auch star k ver tü melte Nchrcten ohne besonderen Informationsverlust übertragen werden. Dies hängt aber nicht zuletzt auch davon ab, ob Sender und Empfänger bereits über ähnliche Vorstellungswelten und über gemeinsam erprobte Medien der Verständigung verfügen: Je weniger vorgängige Gemeinsamkeiten vorhanden sind, um so größer muß die Redundanz, die Elaboriertheit, die Befolgung syntaktischer Regeln und die Störungsfreiheit der Kommunikation sein. Dieses allgemeine Konzept ist im Prinzip auf die Kommunikation aller Arten von Sendern und Empfängern anwendbar: Funkpeilungen zwischen Flugzeugen und Flugleitstellen über elektromagnetische Wellen in einem bestimmten Frequenzkanal; ein Streitgespräch zwischen ProfessorInnen am Biertisch über die Wunderlichkeiten der Bielefelder Soziolo-
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formation von einer sozialen Einheit zu einer anderen aus, ohne daß diese Einheiten dabei in besonderer Weise, etwa als entscheidende und handelnde „Akteure“, beteiligt wären. Kommunikation geschieht in diesem Konzept etwa so, wie Funkwellen von einem Sendemast ein Radio erreichen, das, wenn der betreffende Sender richtig eingestellt ist, gar nicht anders kann als zu empfangen und die Töne wiederzugeben. Und auch der Sendemast tat ganz mechanisch und unreflektiert seine Arbeit. Alles, was geschehen kann, sind gewisse Störungen: Stromausfall, Überreichweiten, fehlerhafter Schaltkreis, zum Beispiel. Aber nicht: Strategische Plazierung einer Mitteilung durch den Sender zur bewußten Verwirrung des Empfängers, oder die Ablehnung oder Uminterpretation der vermittelten Information durch den Empfänger. Und auch der Kontext und die „Geschichte“ des Geschehens sind ganz unwichtig: Sender und Empfänger sind isolierte Einheiten, die zwar aufeinander „reagieren“, sich aber nicht aufeinander „einstellen“, voneinander und miteinander lernen oder gar „gemeinsam altern“ und voneinander wissen, daß sie das tun. Kommunikation als selektiver Prozeß Kommunikation ist – kurz gesagt – alles andere als ein mechanischer, isolierter oder „asozialer“ Vorgang. Es ist eine besondere Form der Interaktion zwischen handelnden, und deshalb: selektierenden, und sich dabei auch gedanklich aufeinander beziehenden Akteuren. Betrachtet man aber die Kommunikation als einen Spezialfall der symbolischen Interaktion – unter Einschluß auch von zahlreichen Aktivitäten der empathischen Koorientierung –, dann wird das Problem mit dem mechanischen klassischen Konzept gleich deutlich (vgl. Siegrist 1970, S. 9ff.): Kommunikation ist die – emergente, oft so nicht beabsichtigte – Folge von Selektionen und gegenseitigen gedanklichen Durchdringungen, die die Akteure vornehmen, sich dabei gegenseitig beobachten und ihre Selektionen von diesen Beobachtungen abhängig werden lassen – und dabei immer auch etwas anderes tun könnten. Mit dem klassischen mechanischen Modell der Kommunikation ist dies nicht erfaßbar: „Dieses ‚Miteinander‘ ... wird durch ein Modell gegenseitiger Stimulation zweier isolierter Entitäten nicht erfaßt. Kommunikative Vergesellschaftung ist etwas anderes, ist mehr als die Addition zweier isolierter Individuen, die Reize austauschen.“ (Ebd., S. 11.; Hervorhebung nicht im Original)
Stets müssen bei einer Kommunikation Entscheidungen getroffen werden. Und stets muß dabei gedanklich vorauseilend bedacht werden, was wohl der andere denkt, mitbekommt und dann tut. Etwa: Was soll mitgeteilt werden? Wie soll etwas mitgeteilt werden? Soll ich die Information ernst nehmen? Be-
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rücksichtige ich sie bei meinen weiteren Handlungen? Freilich spielen beim gesamten Prozeß immer auch technische Dinge eine wichtige Rolle: Schallwellen reichen nicht sehr weit; und eine Sprache, die nicht verstanden wird, erzeugt kein Verstehen einer mitgeteilten Information. Aber vor diesem eher technischen Hintergrund sind es insbesondere gewisse selektive Aktivitäten von menschlichen Akteuren, die das Geschehen erzeugen und tragen. Kurz: Menschen sind keine Sendemasten und keine Radios. Der Prozeß der Kommunikation ist so gesehen, wie jedes soziale Handeln und wie jede Interaktion eine Sequenz des situationsorientierten, selektiven und gegenseitig aufeinander bezogenen Tuns von Akteuren und gewisser aggregierter Folgen dieses Tuns. Die Erklärung der Kommunikation ist so nichts weiter als die Erklärung eines sozialen Prozesses nach dem Muster der genetischen Erklärung. Es ist ein Spezialfall des Modells der soziologischen Erklärung. „Schon wieder“, wäre man fast geneigt, zu seufzen. Die elementare Einheit der Kommunikation Eine abgeschlossene Kommunikation besteht aus drei Schritten. Ihre Gesamtheit bildet die elementare Einheit einer Kommunikation, an die sich beliebige andere Folgen, natürlich auch: weitere elementare Einheiten der Kommunikation, anschließen können.13 Der erste Schritt ist die Selektion bestimmter kommunikativer Akte durch den Sender. Dieser Schritt besteht wiederum aus zwei verschiedenen Teilselektionen: Die Auswahl der zu übermittelnden Information und die Auswahl der übermittelnden Handlung bzw. Technik der Übermittlung: die Mitteilung des Senders. Der zweite Schritt ist der des Erreichens des Empfängers. Dieser Schritt bestimmt, ob die Mitteilung zu einem Bestandteil der Situation des Empfängers wird – oder nicht. Das Erreichen ist so gesehen zunächst einmal in der Tat ein eher technischer Vorgang. Er hat vor allem mit der Reichweite des Mediums zu tun: Schallwellen werden durch Mauern gebremst; die BILD-Zeitung gibt es nicht überall; und den neuesten Klatsch aus der Fakultät er13
Vgl. zu dem „interaktionistischen“ Konzept der Kommunikation insbesondere: Thomas Luckmann, Lebenswelt und Gesellschaft. Grundstrukturen und geschichtliche Wandlungen, Paderborn u.a. 1980, Kapitel 3: Aspekte einer Theorie der Sozialkommunikation, S. 92-121. In den folgenden Einzelheiten der Selektionen bei einer Sequenz der Kommunikation orientieren wir uns teilweise, wenngleich nicht in jeder Hinsicht, an den Überlegungen zum Konzept der Kommunikation bei Niklas Luhmann. Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt 1984, Kapitel 4: Kommunikation und Handlung. S. 191ff. Bei gelegentlichen Kurzzitaten daraus stehen die entsprechenden Seitenzahlen in Klammern.
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reicht den Professor nicht, der gerade sein Freisemester in der Toscana verbringt. Oft genug sind hier aber auch wieder soziale Prozesse und Selektionen von Akteuren beteiligt: Wissenschaftliche Aufsätze können ihr Publikum erst dann erreichen, wenn die Herausgeber einer Fachzeitschrift sich entschieden haben, sie abzudrucken; Gerüchte nehmen einen ganz unterschiedlichen Weg je nach der Art der Struktur des Netzwerkes der Personen; erst wenn ich den „Spiegel“ lese, in dem steht, jetzt sei die Zeit reif für Kohl, erreicht mich die Information – selbst wenn es vorher noch so oft schon im „Spiegel“ gestanden hatte. Kurz: Das Erreichen des Empfängers durch den Sender ist ein eigenständiges Problem der Erklärung eines aggregierten Effektes der Selektionen des Senders auf die Situation des Empfängers.
Mit dem bloßen Erreichen ist die Information aber beim Empfänger noch keineswegs „angekommen“. Dies geschieht erst im dritten Schritt. Der wiederum besteht aus drei Teilselektionen, diesmal aus solchen, die der Empfänger vornimmt. Die drei Teilselektionen sind: das Verstehen der Mitteilung; die Rezeption der Information in der Weise, daß sie den Empfänger in einer bestimmten Weise beeinflußt; und schließlich die Wirkung der mitgeteilten Information in der Hinsicht, daß der Empfänger nun auch in einer angebbaren Weise handelt. Die Selektionen der Schritte eins und drei können ganz problemlos als besondere Formen des „Handelns“ aufgefaßt werden: Die Selektion von Information und Mitteilung zum Zwecke der Kommunikation ist ohne Zweifel ein – mehr oder weniger – absichtsvolles innerliches und äußerliches Tun des Senders. Das Verstehen und die Rezeption können aber auch als Handeln, als ein innerliches, mentales Handeln des Empfängers, als Interpretation von Wahrnehmungen, als Lernen oder als Orientierung aufgefaßt werden. Und die Reaktion auf die mitgeteilte, verstandene und rezipierte Information ist ja ohnehin ein ganz normaler Vorgang der Selektion eines Handelns durch den Empfänger (vgl. dazu noch Abschnitt 8.3.2 und 8.3.3 in diesem Band gleich unten).
In einem vereinfachenden Schema lassen sich die drei Schritte der elementaren Einheit einer Kommunikation dann so zusammenfassen (Abbildung 8.2):
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antizipiert und dann nur noch exekutiert wird. Wohl aber: Daß alle Akteure im Prinzip wissen und in ihre Überlegungen einbeziehen, daß alles, was geschieht, Selektionen sind, die auch anders ausfallen könnten; daß sie antizipieren und als Antizipation antizipieren, daß andere antizipieren und als Antizipation antizipieren. Kurz: Es gibt eine im Prinzip stets gewußte Differenz zwischen Information, Mitteilung, Verstehen, Rezeption und Wirkung. Das aber gerade macht die Kommunikation zur Kommunikation, und unterscheidet sie von der bloß technischen „Übertragung“ von Informationen: „In die Kommunikation geht immer auch die Selektivität des Mitgeteilten, der Information, und die Selektivität des Verstehens ein, und gerade die Differenzen, die diese Einheit ermöglichen, machen das Wesen der Kommunikation aus.“ (Ebd., S. 225f.)
Wegen dieser Differenz und wegen der Identität der Differenz beruht jede Kommunikation auf gewissen, mehr oder weniger: unsicheren, Anläufen und Abläufen der Koorientierung und einer folgenden ununterbrochenen symbolgesteuerten Überprüfung des Geschehens – auch wenn sich anschließend herausstellt, daß alles schließlich keineswegs anders war, als gedacht und angenommen. Diese grundlegende Unsicherheit in allen, auch noch den festesten Ritualen der Kommunikation, bringt in jede der Selektionen ein besonders starkes Element der (doppelten) Kontingenz hinein. Wir haben es im Zusammenhang mit der Koorientierung oben bereits angesprochen (vgl. Abschnitt 8.1 in diesem Band oben): die stete Möglichkeit einer in die innere Unendlichkeit der Psychen immer weiter getriebenen Reflexivität der wechselseitigen Annahmen über einander. Das aber heißt: Die Absichten der beteiligten Akteure und ihre Erwartungen alleine bestimmen das Ergebnis nicht. Es gibt nicht nur einfach unintendierte externe Effekte eines kommunikativen Aktes. Sondern es gibt, wie bei jedem sozialen Handeln, auch die Unsicherheit schon beim kommunikativen Akt selbst, daß mißverstanden werden, anders als geplant rezipiert oder die beabsichtigte Wirkung verfehlt werden könnte. Das liest sich in den üblichen Texten zur Kommunikation mit dem üblichen Bielefelder Jargon dann etwa so: „In der mit jedem neuen Kommunikationsbeitrag reproduzierten Möglichkeit eines Verstehens, das durch die Äußerung eines Sprechers ausgelöst wurde, aber dessen Intention verfehlt, ist die Differenz von intentionalem Handeln und nicht-intendierten Effekten in der Kommunikation präsent.“14
14
Wolfgang Ludwig Schneider, Die Komplementarität von Sprechakttheorie und systemtheoretischer Kommunikationstheorie. Ein hermeneutischer Beitrag zur Methodologie von Theorie-
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Es ist der Sachverhalt, der besonders von Harold Garfinkel in seinen Experimenten herauspräpariert wurde (vgl. dazu bereits den Beginn dieses Kapitels, sowie noch einige Kapitel in Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ausführlich): Die Akteure unterstellen – meist unbewußt und nicht-thematisiert – ein gewisses Hintergrundwissen. Und das bildet den stets prekären und im Prinzip als prekär gewußten Rahmen, vor dem erst die kommunikativen Selektionen einigermaßen sinnhaft vorgenommen werden und das kommunikative Geschehen ablaufen können. Vor dem Hintergrund dieses latenten Wissens um die (doppelte) Kontingenz der Kommunikation unternehmen die Akteure – sofern es ihnen wichtig genug ist! – besondere Versuche und nutzen spezielle Techniken der Weiterführung einer Kommunikation, wenn sie abzubrechen droht oder einen nicht gewünschten Weg nimmt. Erving Goffman hat sich besonders intensiv darum bemüht, solche Tricks und Techniken der Rettung einer schiefgehenden „Einheit“ der Kommunikation zu beschreiben und zu systematisieren.15 Strukturelle Kopplung Mit dem Abschluß einer elementaren Einheit der Kommunikation könnte jetzt der Weg vom Empfänger und dessen Handeln sofort weitergehen, eventuell auch zurück zum Sender. Für die Fortsetzbarkeit von einmal begonnenen Kommunikations-Sequenzen ist einerseits das Erreichen wichtig. Andererseits aber auch, ob die nun folgende Reaktion des Empfängers wieder von einem anderen Empfänger – bzw. dem ursprünglichen Sender – verstanden, rezipiert und repliziert werden kann. Diesen Sachverhalt, der eintreten kann oder auch nicht, wollen wir als den Anschluß einer Sequenz an eine bereits abgelaufene Sequenz der Kommunikation bezeichnen. Ganz allgemein – und so noch etwas nichtssagend – hängt die Fortsetzung einer Kommunikation über die elementare Sequenz von Sender zu Empfänger also davon ab, ob es überhaupt Anschlußmöglichkeiten, und dann auch tatsächlich erfolgreiche Anschlüsse, gibt. Anschlußmöglichkeiten müssen aber keineswegs vorhanden sein, und Anschlüsse müssen nicht gelingen. Kommunikations-Sequenzen können allein deshalb bald aufhören, weil sie immer aus höchst anfälligen und letztlich sehr unwahrscheinlichen Selektionen aus einem weiten Horizont von anderen
15
vergleichen, in: Zeitschrift für Soziologie, 25, 1996, S. 275; Hervorhebung so nicht im Original. Insbesondere in: Erving Goffman, Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen, Frankfurt/M. 1980 (zuerst: 1974), Kapitel 3 und 4 insbesondere. Vgl. dazu auch noch Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“.
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Möglichkeiten und aus oft sehr fragilen strukturellen Kopplungen bestehen. Bestimmte Sequenzen können aber ganz andere, inhaltlich völlig verschieden definierte weitere Sequenzen, auch nicht-kommunikativer Art, auslösen. Ein Gespräch in einem IC-Abteil wäre ein Beispiel dafür: „Finden Sie es nicht auch unerhört, daß die Arbeitgeber die Tarifverträge sofort gekündigt haben, kaum daß die Kohl-Regierung das sog. Sparpaket mit der Beschränkung der Lohnfortzahlung verabschiedet hat?“ – „Genau! Daran ist aber wirklich nur der Kohl schuld, der jetzt ganz scheinheilig die beleidigte Leberwurst spielt.“ Beide Äußerungen sind ohne Zweifel Selektionen. Man hätte jeweils auch etwas ganz anderes aus dem Welthorizont anderer Themen und darin eingelagerter und sinnvoller Äußerungen auswählen können. Das Gespräch bestand aus dem Anschluß der Erwiderung auf die Eröffnung. Und es bietet danach Anschlußmöglichkeiten für weitere Selektionen. Zum Beispiel: „Das kann man so aber aber nicht sagen. Es mußte doch etwas für den Standort Deutschland ...“ – „....“. Offenbar also schließlich doch: Ende der Anschlußmöglichkeiten, Ende weiterer Selektionen, Ende der Kommunikation, Ende des Prozessierens einer Sequenz eines bestimmten thematischen Sinns und Ende des einfachen sozialen Systems „Gespräch in einem IC-Abteil“ – es sei denn: es gäbe nun einen Anschluß an eine ganz andere Sequenz des sozialen Handelns mit nur noch geringen Anteilen an „Kommunikation“. Etwa: politisch motivierte Handgreiflichkeiten. Die Diskutanten wollen sich aber offenkundig lieber nicht in einen Streit hineinsteigern und beenden vorsichtshalber die gerade erst entstandene Sequenz über eine spezielle innere Selektion: Schweigen oder der Entschluß zum Aussteigen bei der nächsten Gelegenheit.
Die Herstellung eines Anschlusses besteht somit aus der Verbindung der Aktivitäten des ersten Akteurs mit bestimmten Aktivitäten eines weiteren Akteurs: Es muß zu einer (Re-)Aktion kommen, die die erste elementare Einheit fortsetzt und darauf – irgendwie! – in nachvollziehbarer Weise Bezug nimmt. Die erfolgreiche Herstellung eines Anschlusses einer Einheit der Kommunikation an eine neue Einheit sei als strukturelle Kopplung bezeichnet (vgl. dazu noch Abschnitt 8.3.4 in diesem Band gleich unten). Eine strukturelle Kopplung besteht demnach aus vier Teilen: das Erreichen des Empfängers, dessen Verstehen der Botschaft, die Rezeption in seine Vorstellungen und die Wirkung auf sein Handeln so, daß nun wieder ein kommunikativer Akt erfolgt: Selektion einer Information und deren Mitteilung. Erfolgt als „Wirkung“ kein weiterer kommunikativer Akt, dann bricht der Prozeß der Kommunikation an dieser Stelle ab. Die strukturelle Kopplung zur Weiterführung der Kommunikation ist dann unterbrochen. Codes und Programme Das wichtigste Problem bei der Weiterführung der Anschlüsse ist genau dies: Daß sichergestellt werden kann, daß kommunikativ in einem bestimmten Sinn – und keinem anderen! – weiteragiert wird. Beispielsweise: Daß ein beiläufiges Gespräch unter Fremden ein solches bleibt und nicht – unvermittelt min-
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destens – in eine heiße Intimkommunikation mutiert. Eine solche sinnerhaltende strukturelle Kopplung ist aber keineswegs selbstverständlich. Immer kann die Kommunikation eine andere Wendung nehmen oder ganz einfach aufhören. Hilfreich, ja notwendig, sind – neben den technischen und sozialen Bedingungen des Erreichens – dann vor allem oft mehr oder weniger grobe, aber wechselseitig bekannte und als verbindlich anerkannte Regeln über geeignete Anschlüsse einzelner Teile von Sequenzen oder von Sequenzen mit sehr verschiedenem Sinn. Diese Regeln der Kommunikation, eingebaut als Rahmen der Situation in die verschiedenen Medien der Mitteilung, seien als die Codes der Kommunikation bezeichnet. Sie rahmen, wie die Codes der Situationsdefinition ganz allgemein (vgl. Abschnitt 6.7 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“), die Situation in einer ganz bestimmten Weise und steuern damit die Selektion der kommunikativen Akte. Mit der Einschaltung eines Rahmens durch den Code wissen die Akteure, was jetzt an „Sicht“ der Dinge möglich, erlaubt, nötig ist. Er sagt den Akteuren, daß – etwa – in einer Liebesbeziehung nicht „gerechnet“ wird oder daß man ein wissenschaftliches Argument nicht durch „Betroffenheit“ wahr machen kann. Die Codes vereinfachen und ökonomisieren durch diese Rahmung viele wichtige Vollzüge und Transaktionen des Alltagshandelns. Sie steuern die Kommunikation durch deutliche Koorientierungen auch dann, wenn es viel Rauschen und Abweichungen aus menschlichem Versagen – oder sogar: entgegenstehende Interessen – gibt. Und sie helfen den Menschen nicht zuletzt auch, die Unsicherheiten, die Regellosigkeiten und die Anomie der Welt gegen alle Fluktuationen des tatsächlichen Vollzugs der kommunikativen Sequenzen einzudämmen.
Das Programm einer Kommunikation ist entsprechend eine Vorschrift, wie innerhalb des Rahmens eines Codes kommunikativ agiert werden soll oder muß. Rollenerwartungen und soziale Drehbücher gibt es auch für die kommunikativen Akte: Was kann wie wann mitgeteilt, verstanden und rezipiert werden? Zu den Programmen gehört nicht zuletzt auch die Art und der Stil der kommunikativen Akte: Gefühle und Ironie sind manchmal erlaubt oder gar vorgeschrieben und manchmal eben nicht (vgl. dazu insgesamt auch noch Abschnitt 8.3.4 gleich unten in diesem Band). Meist sind die Programme als feste Sequenzen des Tuns zusammengekoppelt, die mit der Rahmung durch den Code fast automatisch abgerufen werden. Je stärker Codes die Situation rahmen, Programme auslösen und so die kommunikativen Akte steuern, um so eigenständiger wird die strukturelle Kopplung und damit der Prozeß der Kommunikation gegen die Ideosynkrasien der Akteure und die Zufälligkeiten der Situation. Die symbolisch generalisierten Medien der Kommunikation leisten dies in besonderem Maße (siehe auch dazu noch Abschnitt 8.3.4 gleich unten in diesem Band). Sie rufen bei den Akteuren – sozusagen – vorgefertigte, ihnen als typisiertes Wissen ver-
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fügbare und als soziale Regeln institutionalisierte Vorstellungen über feste Sequenzen typischer Abläufe der Kommunikation auf. Solche integrierenden Vorstellungen über komplette Sequenzen der Kommunikation haben einen wichtigen Effekt: Sie erzeugen eine – mehr oder weniger – starke „Definition“ der Situation und Vorhersagbarkeit des Verlaufs kommunikativer Sequenzen und damit verbundener sozialer Prozesse. Kommunikative Akte Kommunikation ist – ganz allgemein gesagt – also ein Prozeß, bei dem Informationen mitgeteilt werden, einen Empfänger erreichen und von ihm dann – gegebenenfalls – verstanden, rezipiert und in sein „anschließendes“ Handeln übernommen werden, worauf eine neue Sequenz beginnen kann – oder der Prozeß einfach aufhört. Fast alles dabei beruht auf Selektionen bei einem Sender und einem Empfänger – außer freilich die technischen Gegebenheiten des Erreichens. Die Selektionen der dabei beteiligten Akteure waren oben zusammenfassend als kommunikative Akte bezeichnet worden. Kommunikative Akte aber sind ein ganz normales Handeln. Und deshalb gibt es keinen Grund, sie nicht mit dem Instrumentarium einer handlungstheoretischen Erklärung anzugehen. 8.3.2 Die Selektionen des Senders Jede Kommunikation besteht aus mindestens einer elementaren Einheit. Und diese beginnt mit den beiden Selektionen des Senders: Information und Mitteilung. Information Unter Information wird die inhaltliche Nachricht verstanden, die der Sender dem Empfänger nahebringen will. Das tut er – wie bei jedem anderen Handeln auch – mit gewissen Absichten und in der Erwartung, daß über die Mitteilung der Information etwas erreicht werden könnte, was seine Absichten bedient. Dazu muß eine Selektion, eine Wahl also, aus möglichen Alternativen getroffen werden: „Information ist nach heute geläufigem Verständnis eine Selektion aus einem (bekannten oder unbekannten) Repertoire von Möglichkeiten.“ (Luhmann 1984, S. 195)
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Beispielsweise: die Botschaft eines mit der Luhmannschen Systemtheorie langsam ungeduldig gewordenen Wissenschaftstheoretikers an die wissenschaftliche Öffentlichkeit: „Mit Begriffen allein sind soziologische Erklärungen nicht möglich“. Der Sender hat sich innerlich entschieden, diese – und keine andere – Information zu kommunizieren. Und dazu hat er seine guten Gründe. Mitteilung Um seine Absichten zu verwirklichen, reicht der rein innerliche Akt der Selektion einer Information natürlich nicht aus. Die Information muß – sozusagen – entäußert werden. Der Sender muß sie in irgendeiner Form einer Öffentlichkeit oder einem bestimmten Adressaten mitteilen. Der Akt der Mitteilung ist die zweite Selektion des Senders – die Auswahl des besonderen kommunikativen Aktes zur Weitergabe der Information an einen Empfänger: „Ferner muß jemand ein Verhalten wählen, das diese Information mitteilt.“ (Ebd., S. 195)
So ist es. Es ist die Entscheidung für eine bestimmte Art der Mitteilung und damit für ein bestimmtes Medium, in das der Inhalt der Mitteilung enkodiert, sowie für den Kanal, über den das Medium transportiert werden soll. Etwa: die Entscheidung, die Information „Mit Begriffen sind Erklärungen nicht möglich“ in einen sprachlich richtigen Satz in einem Einführungsbuch der Soziologie als schriftsprachliche Äußerung „‚Mit Begriffen sind Erklärungen nicht möglich‘“ abdrucken zu lassen. Auch diese Wahl geschieht mit bestimmten Absichten und der Erwartung, daß genau diese Art der Mitteilung – schriftlich in einem Buch – die Absichten am ehesten umsetzt. Und eben nicht: mündlich mit einem Megaphon, mit Hilfe von Rauchzeichen oder unverständlichem systatischem Jargon. Die Differenz von Information und Mitteilung Ehe eine „Botschaft“ irgendeinen Empfänger erreichen kann, müssen zwei verschiedene Selektionen vorgenommen werden: Inhalt der Information und Art der Mitteilung. Da beide Selektionen unabhängig voneinander sind, gibt es in der Tat eine „Differenz von Information und Mitteilungsverhalten“ (195). Es gibt einen Unterschied – etwa – zwischen einem sprachlichen Satz, so wie er einen Empfänger erreichen kann, und dem, was er inhaltlich aussagt, wie er vom Sender gemeint ist und was der mit ihm im Schilde führt. Um die-
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se „Differenz“ wissen die Akteure in aller Regel auch meist sehr genau. Es ist das Wissen um die nie sichere „Einheit“ der Kommunikation. Daher kann eine Mitteilung alleine in der Tat auch „ ... nichts weiter als ein Selektionsvorschlag, eine Anregung“ (194) sein. Es ist stets ganz offen, was der Empfänger damit anfängt. Nur bei einigen wenigen Fällen – etwa der emotionalen Erregung, die mit dem Erröten eines Senders bei der Mitteilung der Botschaft „Ich liebe Dich“ einhergeht – könnte eine EmpfängerIn (fast) sicher sein, daß Information und Mitteilung übereinstimmen. Jede Mitteilung existiert – in den Grenzen der Sinnestäuschungen – also durchaus real, ihr erkennbarer Inhalt muß aber keineswegs „wahr“ sein, und muß auch vom Sender so nicht gemeint sein, wie sie erscheint. Die Information kann etwa auch eine Täuschung oder Provokation bedeuten, die der Empfänger aber vielleicht nicht versteht oder verstehen will. Und die Folge: Auch die Art, wie die Differenz zwischen Information und Mitteilung gestaltet, offengelegt oder verborgen wird, ist eine Selektion des Senders. Es ist – wenn man so will – die dritte innere Entscheidung, die er bei der Mitteilung einer Information trifft. Und er trifft auch diese Entscheidung wiederum nach gewissen Absichten und Erwartungen – und dem stets unsicheren Wissen darüber, inwieweit die gewählte Art der Differenz vom Empfänger antizipiert, erkannt oder ignoriert wird oder sonstwie auf ihn Einfluß hat. Sprechakte Die kommunikativen Akte des Senders – die Wahl der Information, der Mitteilung und der Äußerung der Differenz von beidem – werden aus gewissen „pragmatischen“ Gründen selektiert. Das heißt: Der Sender will mit ihnen etwas bewirken. Der Ausdruck „pragmatisch“ entstammt der sog. Semiotik, der allgemeinen Lehre von den Zeichen und ihren Beziehungen untereinander und zu anderen Dingen. In Bezug auf die Beziehungen der Zeichen werden dreierlei Bereiche unterschieden: Die Lehre von den Beziehungen der Zeichen zueinander, von den Regeln der Zeichenverwendung also, ist die Syntax. Die Lehre von den Beziehungen der Zeichen zu Sachverhalten, von der Bedeutung der Zeichen also, ist die Semantik. Und die Lehre von den Wirkungen der Zeichen auf Menschen und soziale Prozesse ist die Pragmatik. Die Frage nach der Wirkung von Kommunikationen auf das Handeln eines Empfängers ist danach ebenso eine „pragmatische“ Frage wie die nach den Absichten, die ein Sender mit einem bestimmten kommunikativen Akt verfolgt.
Es mag etwas ungewöhnlich klingen, kommunikative Akte als einen Spezialfall des absichtsvollen Handelns zu interpretieren. Was sollte aber dagegen sprechen? Mit Sprechen handeln wir unentwegt: Wir erteilen Ratschläge, trös-
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ten, lügen, fragen nach dem Weg, geben Anweisungen, loben und tadeln und so weiter. Für den Begriff des Handelns ist es unerheblich, ob wir den Arm bewegen oder den Kehlkopf zur Formierung gewisser Lautäußerungen benutzen und den Mund dabei spitzen. Diese intentionale, „pragmatische“ Bedeutung der (sprachlichen) Kommunikation hat am deutlichsten wohl der Sprachphilosoph John L. Austin für die sog. Sprechakte herausgestellt:16 „Wenn etwas gesagt wird, dann wird das oft, ja gewöhnlich, gewisse Wirkungen auf die Gefühle, Gedanken oder Handlungen des oder der Hörer, des Sprechers oder anderer Personen haben; und die Äußerung kann mit dem Plan, in der Absicht, zu dem Zweck getan worden sein, die Wirkungen hervorzubringen. Wenn wir das im Auge haben, dann können wir den Sprecher als Täter einer Handlung bezeichnen ... .“ (Ebd., deutsche Ausgabe, S. 116; Hervorhebung nicht im Original)
Und wenn ein Sprecher ein „Täter“ ist und seine „Handlung“ eine bestimmte Mitteilung, dann spricht nichts – aber auch gar nichts! – dagegen, für die Akte der sprachlichen Mitteilung alle Möglichkeiten der erklärenden Handlungstheorien zu nutzen. Das Organonmodell der Sprache Der Ausgangspunkt der Überlegungen auch von John L. Austin ist das sog. Organonmodell der Sprache von Karl Bühler gewesen.17 Karl Bühler schreibt in diesem Modell der Sprache drei Funktionen über die Begriffe Symbol, Symptom und Signal zu. Ein sprachliches Zeichen ist danach „ ... Symbol kraft seiner Zuordnung zu Gegenständen und Sachverhalten, Symptom (Anzeichen, Indicium) kraft seiner Abhängigkeit vom Sender, dessen Innerlichkeit es ausdrückt, und Signal kraft seines Appells an den Hörer, dessen äußeres oder inneres Verhalten es steuert wie andere Verkehrszeichen.“ (Bühler 1934, S. 28; Hervorhebungen im Original)
Ein Symbol ist ein sprachliches Zeichen also, insoweit es Gegenstände oder Sachverhalte bezeichnet. Dies ist seine kognitive Funktion. Dann kann es zweitens ein Symptom für einen inneren Zustand des Sprechers sein. Dies ist seine expressive Funktion. Und es kann drittens als Signal für eine Aufforderung an einen Hörer fungieren. Dies ist die appellative Funktion der Sprache. Die expressive bzw. die symptomatische Funktion von Zeichen und „Sprache“ finden wir bereits bei Tieren: Alle Tiersprachen verweisen unmittelbar auf aktuelle Zustände des Organismus. Das sind die instinktiv gesteuerten Gesten, mit denen Tiere sich „verständigen“. Die 16
17
Vgl. John L. Austin, How to do Things with Words, Oxford 1962, Lecture VIII, S. 94ff. Deutsche Ausgabe: Zur Theorie der Sprechakte, Stuttgart 1972. Karl Bühler, Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache, Jena 1934, S. 24ff.
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symbolische und die appellative Funktion sind dagegen allein auf die menschliche Sprache beschränkt.
Weil bei der kognitiven Funktion der Symbole und bei der appellativen Funktion der Signale ein Zeichen nicht mehr ungebrochen mit einem bestimmten inneren Zustand verbunden werden kann, gibt es für diese typisch „menschlichen“ Funktionen die grundlegende Differenz zwischen Information und Mitteilung, auf die oben bereits hingewiesen wurde. Insoweit Kommunikationen tatsächlich überwiegend auf der symbolisch-kognitiven und appellativen Funktion der Sprache beruhen, ist es sicher auch richtig, von dieser Differenz auszugehen. Sie verleiht jeder Kommunikation die grundlegende Unsicherheit der Weltoffenheit und der Verweisung auf einen Horizont anderer Möglichkeiten, die die Akteure wenigstens implizit immer auch in Rechnung stellen müssen. Und sie macht Absicherungen – wie Regeln, Konventionen oder soziale Drehbücher für typische Verläufe der Kommunikation, kurz: Codes und Programme – zu dringend benötigten Hilfen bei der Fortführung von Kommunikation auch unter beträchtlichen Störungen und Irritationen. Lokution, Illokution, Perlokution In der Sprechakttheorie von John L. Austin wird insbesondere die dritte Funktion der Sprache aufgegriffen: Mit Sprache – und manchmal: nur mit Sprache – können bestimmte Handlungen vollzogen werden. Beispielsweise: Ein Versprechen wird gegeben, eine Bitte gestellt, ein Befehl erteilt. John L. Austin unterscheidet drei verschiedene Arten solcher sprachlicher Akte: Lokutionen, Illokutionen und Perlokutionen. Mit Lokutionen drückt ein Sprecher lediglich bestimmte Sachverhalte aus: Er beschreibt nur einfach etwas. Mit Illokutionen vollzieht der Sprecher eine Handlung, indem er etwas sagt – wie gesagt: Behauptungen, Versprechungen, Befehle, Geständnisse. Perlokutionen schließlich sind solche Sprechakte, die beim Hörer einen Effekt erzielen, der über das Handeln durch Sprechen hinausgeht. Durch die Sprachhandlung „bewirkt“ der Sprecher etwas. Kurz: Bei Lokutionen sagt der Sprecher etwas, bei Illokutionen handelt er, indem er etwas sagt, und bei Perlokutionen bewirkt er etwas, dadurch daß er handelt, indem er etwas sagt.
Alle drei Arten des Sprechens können als Handeln verstanden werden. Manchmal ist das Sprechen selbst schon die beabsichtigte Folge, manchmal wird für eine bestimmte Handlung das Sprechen unmittelbar benötigt, weil es technisch nicht anders geht, manchmal aber führen die Akteure noch anderes im Schilde – wie etwa einen Betrug.
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Kommunikatives Handeln Zur Vorbeugung von Mißverständnissen muß an dieser Stelle auf einen Begriff eingegangen werden, den Jürgen Habermas in die Soziologie eingeführt hat:18 Kommunikatives Handeln. Damit ist etwas ganz spezielles gemeint: die Abwesenheit irgendwelcher „strategischer“ Absichten beim Sprechen (vgl. dazu auch schon kurz Abschnitt 6.8 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Der Hintergrund des Konzeptes des kommunikativen Handelns ist der Versuch von Jürgen Habermas gewesen, ein Verfahren zu finden, über das Menschen zur bindenden Begründung gemeinsam geteilter Normen und Werte vorstoßen könnten, ohne daß dabei nur die Interessen der Menschen eine Rolle spielen oder sie nicht ganz verstehen, was geschieht. Jürgen Habermas glaubt, daß dies dann geschehen kann, wenn das Einverständnis, einer Regel zu folgen, keine bloße unreflektierte Übereinstimmung ist, auch nicht auf einer Täuschung oder einem Irrtum beruht, erst recht nicht von außen auferlegt, durch Macht und Sanktionsdrohungen erzwungen ist oder durch Bestechung erkauft wird. Sondern: Es muß ein Einverständnis erzielt werden, bei dem nur das Motiv zur Verständigung herrscht. Dazu müssen die Akteure alle wichtigen Argumente austauschen. Und sie müssen – insbesondere – dabei davon ausgehen können, daß es nur um die Richtigkeit dieser Argumente und eben um nichts anderes geht (siehe dazu auch schon Abschnitt 7.3 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Im Hintergrund der Überlegungen steht u.a. auch eine Kontroverse unter den Sprachphilosophen über die Abgrenzung von illokutionären und perlokutionären Sprechakten. Man hat sich schließlich darauf verständigt, daß perlokutionäre Akte nur solche seien, bei denen die Absichten nicht offen deklariert sind. Für Jürgen Habermas war diese – etwas sehr spitzfindig erscheinende – Besonderheit sehr wichtig: Eine kommunikative „Verständigung“ aller Menschen ist natürlich nur dann möglich, wenn jeder die Karten offen auf den Tisch legt und keinerlei Hintergedanken hegt.
Infolgedessen kann es eine vorbehaltlose Verständigung bei perlokutionären Akten grundsätzlich nicht geben. Und folglich: (nur!; HE) „Diese Art von Interaktionen, in denen alle Beteiligten ihre individuellen Handlungspläne aufeinander abstimmen und daher ihre illokutionären Ziele vorbehaltlos verfolgen, habe ich kommunikatives Handeln genannt.“ (Habermas 1981, S. 395; Hervorhebungen im Original)
18
Vgl. hierzu ausführlich Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Band 1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, Frankfurt/M. 1981, S. 388ff.
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In der Terminologie der Sprechakttheorie von John L. Austin liegt ein kommunikatives Handeln also dann vor, wenn es keine perlokutionären Motive gibt. Und das heißt: Wenn die Differenz zwischen Information und Mitteilung nicht bewußt zur Erreichung von Zielen benutzt wird, die in der Mitteilung selbst nicht zu erkennen ist. Und noch etwas einfacher ausgedrückt: Kommunikativ wird nach Jürgen Habermas dann gehandelt, wenn die Akteure sich wirklich und wahrhaftig verständigen wollen und wenn sie neben diesem einen Motiv zur kommunikativen Verständigung wirklich keine anderen Absichten haben (vgl. dazu noch ausführlich Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Damit aber wird deutlich: Auch das kommunikative Handeln ist ein kommunikativer Akt, der mit gewissen Absichten selektiert wird. Nur: Diese Absichten sind lauter, rein und moralisch. Eben „kommunikativ“ – so wie der gute Jürgen Habermas das wie immer ganz ehrlich, aufrecht und durchaus auch klar meint. Die Logik der Selektion bei den kommunikativen Akten Was immer ein Akteur mit der Mitteilung einer Absicht für eine Wirkung erzielen will: Es gibt keinerlei Grund anzunehmen, daß er bei der Selektion sowohl der Information, der Art der Mitteilung wie auch der Gestaltung der Differenz von Information und Mitteilung nicht auch den Regeln folgt, die das gesamte andere nicht-soziale wie soziale Handeln steuern: die Logik der subjektiven Vernunft nach den Regeln der WE-Theorie aus Kapitel 7 und 8 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“. Man unterläßt danach solche kommunikativen Akte, von denen ein Erfolg nicht erwartet werden kann. Man hält – etwa – seinen Vortrag auf einem internationalen Symposium der Soziologie auf Englisch und gerade nicht auf Deutsch, wenn man eine gewisse Wirkung erzielen will: „Wer eine (bestimmte; HE) Kommunikation für aussichtslos hält, unterläßt sie.“ (Luhmann 1984, S. 218)
Anders gesagt: Wenn bei einer bestimmten Mitteilung das EU-Gewicht für die erhoffte Wirkung kleiner ist als die für die verschiedenen Alternativen zur Kommunikation, dann unterläßt ein kluger Kommunikator sie – und sagt, falls das günstiger ist, etwas anderes oder auf eine andere Art. Oder schweigt ganz einfach.
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Soziale Regeln Zur Selektion kommunikativer Akte nach den Regeln der subjektiven Vernunft gehört auch, daß ein Sender gut daran tut, die jeweils geltenden sozialen Regeln zu beachten – einschließlich Syntax und Grammatik. Die sozialen Produktionsfunktionen für die Wirkung der kommunikativen Akte bestehen auch – fast könnte man sagen: vorwiegend! – aus Regeln der Zeichenverwendung und den oft sehr verzwickten sozialen Regeln der Kommunikation allgemein. Eine als „wirksam“ beabsichtigte Kommunikation ist fast immer an die Beachtung gerade dieser Regeln gebunden. Nirgendwo sind Unterschiede schon in Nuancen bedeutsamer als hier. Bei wissenschaftlichen Diskussionen wäre es zum Beispiel sehr angeraten, sich an die Regeln zu halten, die sich im Diskurs der Wissenschaften als Organon der argumentativen Rede herausgebildet haben, und die auch (fast) überall in den Wissenschaften beachtet werden: die Regeln der Logik. Für andere Zwecke wären andere Regeln vernünftiger – beispielsweise verschiedene Formen der Rhetorik bei politischen Appellen, die gleichnishafte und salbungsvolle Rede bei der religiösen Exhortation oder die jeweils gerade en vogue befindlichen Formeln des Liebesgeflüsters.
Eine Kultur kann geradezu über den Vorrat an solchen mehr oder weniger typisierten, auch formal festgelegten Regeln der Kommunikation für alle wichtigen Bereiche und Momente des sozialen Lebens definiert werden. Die soziale Intelligenz und das kulturelle Kapital von Sprechern zeigt sich nicht zuletzt darin, ob sie in der Lage sind, diese oft sehr feinen Unterschiede der Stilistik der Rede – der geschickte Einsatz von Ironie und Betroffenheit zum Beispiel – auch richtig plaziert und unauffällig genug einzusetzen, damit ihre Wirkung nicht verfehlt wird. 8.3.3 Die Selektionen des Empfängers Die kommunikativen Akte des Senders sind relativ umstandslos als innere Entscheidungen zu identifizieren, auf die die Regeln der WE-Theorie leicht anzuwenden sind. Auf die explizite Modellierung können wir daher hier verzichten. Bei den kommunikativen Akten des Empfängers scheint das anders zu sein. Die Frage ist also: Sind Verstehen, Rezeption und Wirkung auch als kommunikative „Akte“ zu verstehen? Wie ließen sie sich als Entscheidungen modellieren? Oder sind es Selektionen, bei denen es nichts zu „entscheiden“ und daher nichts zu modellieren gibt?
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Verstehen Am schwersten und am abwegigsten scheint die Deutung als innere Entscheidung beim Verstehen. Das Verstehen einer Mitteilung ist ja zunächst nichts anderes als der Vorgang der Dekodierung der Mitteilung und der Rekonstruktion der Bedeutung der Information: Die Auslösung von Assoziationen von Bedeutungen aufgrund der „Anregungen“ des neuronalen Systems des Empfängers über die Mitteilung. Diese Dekodierung ist davon abhängig, ob es Gemeinsamkeiten in den Zeichensystemen und ob es kollektiv geteilte Systeme von Hypothesen über Zusammenhänge von Zeichen und gedanklichen Inhalten gibt (vgl. dazu noch die Anmerkungen unten zu den Sprachbarrieren). Ansonsten aber handelt es sich – zunächst wenigstens – um eine Art von automatisch einsetzendem match zwischen gespeicherten Dispositionen und den in der Situation erkennbaren Mustern, gegen den sich der Akteur nicht zur Wehr setzen kann. Und die Folge: Dem Verstehen kann, wenn es den match gibt, nicht ausgewichen werden. Es gibt mit dem Erreichen der Mitteilung und dem verstehenden match unausweichlich eine Zustandsänderung beim Empänger: „Man liest: Tabak, Alkohol, Butter, Gefrierfleisch usw. gefährde die Gesundheit, und man ist (als jemand, der das hätte wissen und beachten können) ein anderer – ob man’s glaubt oder nicht!“ (Luhmann 1984, S. 203)
Aber auch wenn man das Verstehen in erster Linie als eine automatische Dekodierung der mitgeteilten Information verstehen will und die Übereinstimmung der jeweiligen Codes als die zu allererst bedeutsame technische Bedingung dazu ansieht: Das Verstehen ist auch eine kognitive Leistung. Und wie jede Aktivität kann so auch das Verstehen als eine Selektion verstanden werden, bei der die isolierte Mitteilung nicht allein wirkt, sondern auch die „aktive“ Berücksichtigung des weiteren Kontextes, die Exploration des Wahrnehmungsfeldes und das Suchen im Gedächtnis eine Rolle spielen können. Und dabei werden – nicht zuletzt! – die Interessen des Akteurs am „Verstehen“ einer bestimmten Mitteilung wichtig. Das Verstehen der mitgeteilten Information ist also – kurz gesagt – auch ein Akt der interpretierenden Selektion. Darin sind sich selbst Niklas Luhmann und Jürgen Habermas ausnahmsweise einmal einig. Jürgen Habermas versteht unter dem Verstehen, daß der Hörer eine Aufforderung in ihrem Inhalt interpretieren und die Bedingungen rekonstruieren kann, unter denen der Zustand, der in der Aufforderung beschrieben ist, tatsächlich eintreten würde. Zum Beispiel: Ein Hörer versteht die Aufforderung „Rauchen einstellen“, wenn er sich die Handlungen vorstellen kann, die diesen Zustand herstellen. (Habermas 1981, S. 403) Das Vorstellen muß er aber auch tun. Nach Niklas Luhmann ist das Verstehen eine Art von Test einer Hypothese, der bei Kommunikationen gewissermaßen nebenbei immer mitläuft. Dabei werden verschiedene Varianten von möglichen Interpretationen des Sinns einer Mitteilung nach und nach geprüft,
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verworfen und eine schließlich konfirmiert und akzeptiert. (Luhmann 1984, S. 198f.) Das alles wäre aber nicht nötig, wenn es zum „richtigen“ Verstehen der gleichen Mitteilung nicht immer mehrere Alternativen und nicht den Zwang zur „Auswahl“ von einer davon gäbe.
Kurz: Auch wenn der match zwischen gespeichertem und erkennbarem Muster einer wahrgenommenen Mitteilung automatisch und nicht selbst als „Wahl“ beeinflußbar ist, bleibt immer noch die Möglichkeit eines anderen Verstehens. Und damit sind wir da, wo die Entscheidung, Kommunikation als Selektion zu sehen, zwangsläufig hinführt: Bei der handlungs- und entscheidungstheoretischen Interpretation selbst des Verstehens einer Mitteilung. Also dann: Die Alternativen sind das Verstehen V einer Botschaft oder das Nichtverstehen N derselben. Es sei dann Uv der Nutzen, den ein Akteur vom „richtigen“ Verstehen einer Botschaft hat, Un dagegen der Nutzen des Nichtverstehens dieser Botschaft. Der match zwischen mitgeteilter Information und gespeicherter Disposition sei p; der mismatch ist entsprechend 1-p. Dann gilt für die Nutzenerwartung des Verstehens einer Mitteilung gegenüber der Nutzenerwartung für das ignorierende oder verdrängende Nichtverstehen: EU(V) = pUv EU(N) = (1-p)Un. Wieder gelte die Maximierungsregel: „Verstanden“ wird dann, wenn EU(V)>EU(N) ist. Für den Übergang vom Nichtverstehen in das Verstehen gilt dann die Bedingung: Uv/Un > (1-p)/p.
Gut wird nun erkennbar, worin die Besonderheit des Verstehens als Selektion liegt: Wenn – wie wohl empirisch meist – es mit der Identifikation eines Wortes oder eines Satzes einen perfekten match gibt und es daher keinen Zweifel geben kann, was die Mitteilung bedeutet, dann ist p gleich 1. Dann aber wird der rechte Ausdruck der Ungleichung gleich null. Und dann können die Interessen am Nichtverstehen so groß sein, wie sie wollen: Es wird „verstanden“ – ob man will oder nicht. Das Glauben der Botschaft, die Rezeption also, ist freilich noch eine andere Sache. Das aber ist genau der Effekt, der beim „automatischen“ und unwiderstehlichen Verstehen gemeint ist. Sobald jedoch der match nicht ganz perfekt ist, können die Interessen wieder ins Spiel kommen, und die Wünsche das (Miß-) Verstehen steuern. Und dann wird auch bei gut lesbaren oder hörbaren Mitteilungen nicht verstanden – und sei es, daß man, unbewußt-absichtlich, nicht richtig zuhört oder das zum Nichtverstehen nötige Rauschen innerlich selbst erzeugt.
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Sprachbarrieren Beim Verstehen von Mitteilungen spielen u.a. sprachliche Subkulturen, unterschiedliche Sprachstile, kulturelles Hintergrundwissen u.ä. eine wichtige Rolle. Es ist – zunächst jedenfalls – wie bei der üblichen technischen Kommunikation zwischen Maschinen auch: Wird auf verschiedenen Frequenzen gesendet und empfangen, dann ist eine Kommunikation auch dann nicht möglich, wenn die Feldstärke des Senders zum Erreichen durchaus ausreichend ist. Versteht ein empfangendes Ego – in einem weiten Sinne – schon die Sprache des sendenden Alter nicht, dann endet die Kommunikation bereits hier. Die strukturelle Kopplung ist damit – wie man sieht – kein Problem der (physikalischen) Reichweite eines Mediums allein, sondern auch eines des „Verstehens“ der Mitteilung durch den Empfänger. Probleme der Dekodierung von Mitteilungen stellen daher eine der wichtigsten Barrieren der Verständigung zwischen sprachlich differenzierten Kulturen dar. Oft genug gibt es solche Sprachbarrieren auch innerhalb einer ansonsten grammatikalisch durchaus einheitlichen Sprachgemeinschaft. Soziologen mit ihren einhundertunddrei verschiedenen Ansätzen dürften ahnen, was damit gemeint ist, daß man zwar erreichbar ist, aber dennoch nicht versteht, was der Kollege aus dem anderen Paradigma mitzuteilen hat. Die sozialen Auswirkungen von Dekodierungsproblemen bei der sprachlichen Kommunikation sind in der Bildungs-Euphorie der 60er und 70er Jahre unter dem Titel der Einebnung von sprachlich bedingten Benachteiligungen von Kindern der Unterschicht in der Mittelschichteninstitution „Schule“ ausdauernd diskutiert worden. Die These war, daß es schon aufgrund unterschiedlicher „Stile“ der Kommunikation zu – unbeabsichtigten – Benachteiligungen in der Schule mit allen denkbaren Folgen für die „Perpetuierung“ der „Klassengesellschaft“ des Kapitalismus kommen könne: Kinder der Unterschicht sprechen direkter, „restringierter“ und mit viel implizit gelassenem Hintergrundwissen. Dies werde von den Lehrern als Hinweis auf mangelnde Kompetenz gedeutet. Nun müsse man den Kindern in einer besonderen Anstrengung der kompensatorischen Erziehung beibringen, wie man sich in der Schule elaborierter ausdrücken könne, damit es diese Benachteiligungen nicht mehr gäbe. Der wichtigste Vertreter der These von der Wichtigkeit der Sprachstile für die Erklärung sozialer Ungleichheit über die sprachliche Sozialisation war Basil Bernstein.19
19
Basil Bernstein, Elaborated and Restricted Codes. Their Social Origins and Some Consequences, in: John J. Gumperz und Dell Hymes (Hrsg.), The Ethnography of Communication, Sonderheft des American Anthropologist, 66, 1964, S. 55-69.
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Eng verbunden war diese These mit einer anderen, damals auch sehr populären Ansicht: Daß die sprachlichen Strukturen einer Sprachgemeinschaft gewissermaßen auch deren Denkweisen vorschrieben. Beispielsweise: Die am Lateinischen orientierten, „logischen“ und „rationalen“ Sprachstrukturen der angelsächsischen Sprachfamilie erzwängen die „analytische“ und „berechnende“ Weltsicht der westlichen Kultur, während die mehr ganzheitlichen Sprachstrukturen mancher Indianerstämme auch zu einer viel stärker systemischen Betrachtung der Natur, der Gesellschaft, des Regenbogens und damit auch zu einer viel weiseren Auffassung über die inneren Zusammenhänge und die Vernetzungen der Dinge der Welt führten: „Erst wenn der letzte Baum... .“ Sie wissen schon. Die These von der Einheit von Sprache und Denken ist auch als die SapirWhorf-Hypothese bekannt geworden.20 Sie wurde mit der Bernstein-These in der Weise verbunden, daß es bei einem restringierten Code dann wohl auch ein restringiertes Denken geben müsse, dem man ebenfalls durch kompensatorische Sozialisation abhelfen sollte. Die „Sesamstraße“ ist ein spätes Relikt dieser heute als etwas zu vereinfacht geltenden Vorstellungen. Längst hat sich nämlich herausgestellt, daß Unterschichtkinder alles andere als restringiert denken. Sie reden nur nicht so vorlaut, altklug und geschwollen wie Professoren-Sprößlinge mit der Bibliothek von Papa und dem Kulturtick von Mama im Rücken. Daß sie benachteiligt sind – so weiß man heute – liegt an ihrer sprachlichen (In-)Kompetenz zu allerletzt. Kurz: Alle die Thesen, daß sprachliche Barrieren auch prinzipielle Hindernisse des Verstehens der Inhalte von Mitteilungen seien, und daß es also eigentlich auch keine bruchlosen Übersetzungen von Informationen aus der einen in die andere Sprachgemeinschaft geben könne, sind wenigstens in der geschilderten deterministischen Weise nicht richtig. Kritisch äußert sich zu diesen Thesen im Abstand der Jahre noch zuletzt der Anthropologe Marvin Harris.21 Und schon viel früher hatte der Linguist William Labov, der sich mit dem Problem besonders ausgiebig befaßt hat, gemeint: „The problems working-class children may have in handling logical operations are not to be blamed on the structure of their language. There is nothing in the vernacular which will inter-
20
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Nach den beiden Linguisten Edward Sapir und Benjamin Lee Whorf; Edward Sapir, Language. An Introduction to the Study of Speech, New York 1921; Benjamin Lee Whorf, Language, Thought and Reality, Cambridge, Mass., 1956. Marvin Harris, Sprache und Kultur, in: Marvin Harris, Kulturanthroplogie. Ein Lehrbuch, Frankfurt und New York 1989a, S. 72ff.
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fere with the development of logical thought, for the logic of standard English cannot be distinguished from the logic of any other dialect of English by any test that we can find.“22
Dem ist nichts hinzuzufügen. Außer natürlich: daß bei kulturellen Differenzen zwischen Sprachsystemen die nötigen Anstrengungen für das Verstehen immer groß sind. Jeder, der – etwa – einem Vortrag in einer ihm nicht ganz geläufigen Sprache zuhören muß, weiß, was gemeint ist. Und wer das Pech hatte, nicht in die dominante Sprachgemeinschaft hineingeboren worden zu sein, und wer zu faul oder zu hochnäsig war, den Nachteil durch Lernen auszugleichen, muß schließlich als der Dumme erscheinen, auch wenn seine mentale Hardware vollkommen in Ordnung ist. Rezeption Gerne sei zugestanden, daß die Deutung des Verstehens als kommunikativer „Akt“ etwas gequält klingt. Mit dem nächsten Schritt kommunikativer Selektionen wird die Deutung als selektiver „Akt“ jedoch schon wieder sehr viel naheliegender: die Rezeption der mitgeteilten Information. Die Rezeption ist die Entscheidung, eine verstandene Information in die eigene Befindlichkeit zu übernehmen oder aber nicht. Roman Herzog hat dies in einer seiner vielen launigen Wendungen einmal so ausgedrückt: „Es ist die freie Entscheidung jedes Menschen, mich zu kritisieren. Und es ist meine Entscheidung, ob ich das zur Kenntnis nehme.“
Nicht der Sender also entscheidet mit seiner Mitteilung schon, in welchen Hals die Botschaft gerät und was sie darin anrichtet, sondern immer nur der Empfänger. Aber es ist eine Entscheidung. Die Rezeption ist also nicht bereits die Frage danach, ob sich der Empfänger den Direktiven des Senders fügt, und ob die Kommunikation für den Sender insoweit „Erfolg“ hat und eine bestimmte „Wirkung“ zeigt. Es ist nur die Frage nach der Änderung der Vorstellungen des Empfängers, nachdem er verstanden hat. Jürgen Habermas spricht von der „Ausrichtung“ des weiteren Handelns in Abhängigkeit von Annahme oder Ablehnung der im Sprechakt enthaltenen Aufforderung (Habermas 1981, S. 399). Um diese innere Ausrichtung des Akteurs geht es bei der Rezeption, noch nicht um das daraus eventuell folgende Anschluß-Handeln.
Unter dem Vorgang der Rezeption kann mit der WE-Theorie als Grundlage aller Selektionen etwas sehr Präzises verstanden werden: die Änderung der Erwartungen und Bewertungen des Akteurs nach dem Verstehen einer Information. Diese Änderung erfolgt also auch als eine mentale Handlung: 22
William Labov, Language in the Inner City. Studies in Black English Vernacular, Philadelphia 1972, S. 229.
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mation. Diese Änderung erfolgt also auch als eine mentale Handlung: Sieht sich der Akteur veranlaßt, Teile der bisher gültigen P-Matrix bzw. des UVektors zu verändern? Die Annahme der Information wäre dann eine Änderung der bestehenden Erwartungen und Bewertungen, sofern die mitgeteilten Informationen dies nahelegen. Etwa: die Erhöhung der Erwartung, daß Rauchen auch persönlich gesundheitsschädlich ist, oder die Minderung der Präferenz nach Zigaretten, wenn man liest, Rauchen sei krebserregend. Eine Ablehnung der Information erfolgt entsprechend dann, wenn eine verstandene Information zu keiner Änderung der kognitiven und bewertenden Strukturen beim Empfänger führt. Man liest und versteht, glaubt die mitgeteilte Information aber nicht, oder wehrt die Annahme der Information in einem Anfall von Reaktanz gar vehement ab: Ich rauche gerne! Ich bekomme keinen Lungenkrebs! Dieter Baumann kann nicht gedopt haben, weil, wenn doch, alle Dämme brächen! Kurz: Die Annahme einer Information ist ein Lernen, und kann somit als eine „innere“ Handlung rekonstruiert werden, bei der die Übernahme vom Gewicht der Information als „Information“, etwa in Form ihrer Glaubwürdigkeit, und vom Wert der Beibehaltung oder Änderung der Überzeugungen bestimmt ist.(vgl. dazu bereits Kapitel 9 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Wieder läßt sich dieser Vorgang entscheidungstheoretisch auf eine einfache Weise modellieren. Die Alternativen sind klar: Rezeption R oder Ablehnung. Rezeption hieße: Änderung der Erwartungen oder der Bewertungen, Ablehnung: deren Beibehaltung. Die Nutzenerwartung für die Ablehnung ist der Wert des Status quo Usq einer Beibehaltung der gegebenen Erwartungen und Bewertungen. Die Variablen zur Bestimmung des EU-Gewichtes der Rezeption sind die Glaubwürdigkeit ps des Senders, die Wichtigkeit Ur der Übernahme der Information, sowie die sonstigen zu erwartenden Folgen der Übernahme, etwa: kritische Reaktionen der Bezugsumgebung, Aufgabe lieber Gewohnheiten oder entspannender Laster. Eine wichtige sonstige Folge wäre die Entstehung einer – kognitiven oder emotionalen – Dissonanz aus der Übernahme der Information in die bestehende Wissens- und Wertestruktur. Wir wollen diese Folgen allgemein mit Cr bezeichnen. Daraus ergibt sich im einfachsten Fall für die EUGewichte der Rezeption R gegenüber der Ablehnung A einer Information wieder die schon bekannte Gleichung für die Rezeption als Abweichung von einer sicheren Alternative (vgl. Abschnitt 8.4 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“): EU(R) = psUr + (1-ps)Usq - Cr EU(A) = Usq. Als Bedingung für die Rezeption einer Information gilt wie üblich EU(R)>EU(A). Und dann wieder: Ur - Usq > Cr/ps.
Wieder lassen sich aus dem Modell einige interessante Konsequenzen herauslesen. Natürlich ist die Wichtigkeit der Änderung Ur von großer Bedeutung
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für die Rezeption: Wenn die Übernahme der Information ein großes Problem löst, dann wird sie – ceteris paribus – eher aufgenommen, als wenn sie wenig nützt oder gar schadet. Man sieht aber auch, wie bedeutsam die Glaubwürdigkeit des Senders ist: Wenn sie gegen null geht, dann kann es kaum einen Grund geben, die Information anzunehmen: Ur müßte gegenüber Usq über alle Maßen groß werden. Ist die Glaubwürdigkeit ps dagegen perfekt, dann gilt die einfache Ungleichung Ur>Usq+Cr. Nun ist immer noch keineswegs sicher, daß die Information übernommen wird: Wenn Usq+Cr als die Summe aus Status quo und entstehenden Dissonanzen bzw. anderen negativen Folgen größer ist als die Wichtigkeit der Information, wird sie immer noch abgelehnt. Es kann natürlich auch vorkommen, daß eine Rezeption bestehende Dissonanzen vermindert oder andere positive Folgen hat; dann wäre das Vorzeichen für C zu ändern. Und dann spricht – sofern nicht andere Gründe eine Ablehnung nahelegen – nur noch der Wert des Status Quo gegen die Übernahme der Information. Ist der nicht sonderlich hoch, dann motiviert allein schon die Herstellung des inneren Gleichgewichtes den Akt der Rezeption. Eine Information kann also angenommen oder aber ignoriert, verdrängt oder als irrelevant, unglaubwürdig oder falsch abgewiesen werden. Das nachfolgende Handeln würde in diesem Fall auf der Grundlage der gleichen PMatrix und des gleichen U-Vektors wie zuvor selektiert werden. Erst mit der Annahme der Information ändern sich die P-Matrix und der U-Vektor und damit auch die EU-Werte für alle denkbaren Folge-Handlungen. Argumentative Überzeugung Von Jürgen Habermas stammt in diesem Zusammenhang eine interessante Behauptung: Wenn man die Struktur einer Handlungssituation so gestalte, daß der Sender einem Empfänger nur Gründe für die Annahme einer Information mitteilt, die dieser zwar kritisieren kann, die aber der Kritik stets standhalten, dann wird der Empfänger die Information „rational“ und (damit) bindend übernehmen (vgl. dazu bereits Abschnitt 8.3.2 in diesem Band, sowie Abschnitt 7.3 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, und auch Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Auf diese Weise könne ein Sprecher – als Sender – einen Hörer – als Empfänger – sozusagen zur Annahme eines Sprechaktangebotes rational motivieren, gerade weil er die Gewähr dafür übernehmen kann, erforderlichenfalls überzeugende Gründe anzugeben, die einer Kritik des Hörers am Geltungsanspruch stets standhalten (Habermas 1981, S. 406). Offenbar hat Habermas im Sinn, daß es möglich sein könne, durch Aufklärung mit Hilfe von „Argumenten“ einen Empfänger darüber zu infor-
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mieren, daß es letztlich auch in seinem Interesse liegen würde, wenn er der Aufforderung zur Rezeption der Informationen aus einem Sprechakt folgen würde – und gleich danach handelt. Anfängliche Dissonanzen und Bedenken würden durch eine „zwanglose“, weil „argumentative“ Änderung seines belief systems aufgelöst. Und dies habe die Folge, daß der Empfänger nun der Direktiven „rational motiviert“ nachkomme. Wie beispielsweise: ein moralisches Bewußtsein für unser Gemeinwesen und für die Umwelt zu entwickeln, weil dieses ja letztlich im objektivierbaren Interesse aller – und auch des anfangs vielleicht noch bornierten und widerspenstigen Hörers – liege. Wirkung Wir kommen nun zum letzten Schritt einer abgeschlossenen kommunikativen Sequenz: Das Handeln im „Anschluß“ an Information, Mitteilung, Erreichen, Verstehen und Rezeption der Information. Nimmt man die Absicht des Senders als Vergleichsmaßstab, dann geht es nun um die Frage nach dem Erfolg des anschließenden Handelns des Empfängers aus der Sicht des Senders. Es geht darum, ob der Empfänger auch in seinem Handeln – und nicht nur im Verstehen der Mitteilung und der Rezeption der Information – tatsächlich auf die „Direktiven“ des Senders eingeht. Ein „Erfolg“ des kommunikativen Aktes liege also dann vor, wenn der Adressat so handelt, wie es der Sender beabsichtigte: Die Kompanie steht nach dem auch in dieser Absicht vom Feldwebel gebrüllten Befehl „stillgestanden“ wirklich still. Es wird gleich deutlich: Bei der Selektion des Handelns, das über Erfolg oder Mißerfolg der kommunikativen Akte eines Senders entscheidet, sind der Inhalt der Information des Senders, das Erreichen, das Verstehen und die Rezeption nicht alleine von Bedeutung. Auch eine akzeptierte Information ändert ja immer nur Teile der Erwartungen und Bewertungen eines Akteurs. Und es werden auch danach immer noch Alternativen verglichen und selektiert. Und wenn die eingehende Information nicht die Prioritäten in bestimmten EU-Werten ganzer Handlungen geändert hat, dann bewirkt die Information auch dann nichts, wenn sie Teile der P-Matrix und des U-Vektors in der Tat veränderte.
Auf diesen Hintergründen beruht die oft gemachte Beobachtung, daß die „Wirkung“ von Kommunikationen – etwa des Ansehens von Horrorfilmen auf das Handeln von Kindern – meist nicht eindeutig vorhergesagt werden kann.23 Es ist immer der gesamte sonstige Hintergrund der Erwartungen und Bewertungen der Akteure noch dabei zu berücksichtigen. Es ist ein ähnliches Problem wie das, was wir bereits in Kapitel 2 in Band 1, „Situationslogik und 23
Vgl. zur Wirkung von Medien auf das Verhalten und Handeln: Michael Jäckel, Medienwirkungen. Ein Studienbuch zur Einführung, Opladen und Wiesbaden 1999.
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Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ über das Thomas-Theorem kennengelernt hatten: daß es zwischen Attitüden und dem tatsächlichen Handeln keinerlei direkte Beziehungen gibt. Erst wenn sich der EU-Wert der bisher gewählten Handlungs-Alternative im Vergleich zu anderen so verändert, daß sie nicht mehr den höchsten Wert hat, erfolgt auch eine Änderung des Handelns als „Wirkung“ der Kommunikation. Dabei kann aber bei den Erwartungen und den Bewertungen im Hintergrund sehr viel geschehen, ohne daß sich die Prioritäten der Handlungswahlen verändern müßten. Und deshalb geschieht genau das, was so oft beobachtet wird: Verstehen und auch Rezeption durchaus, aber keine Wirkung. Ich glaube zwar, daß das Rauchen schadet, aber das ist mir egal. 8.3.4 Strukturelle Kopplung Eine elementare Einheit der Kommunikation ist mit der Wirkung auf den Empfänger abgeschlossen. Insoweit wären ein ungehörter Hilferuf, ein unerwiderter Gruß, eine Liebeserklärung ohne Entgegnung allesamt bereits Kommunikation. Wie aber geht es mit der begonnenen Kommunikation weiter? Wie könnte vor allem sichergestellt werden, daß der Empfänger nun als Sender so reagiert, daß der Sender oder jemand anderes daran wieder als Empfänger anschließen kann ... und so weiter? Das muß nicht unbedingt heißen, daß zugestimmt würde: Ja ich komme! Und selbst? Ich Dich auch! Wohl aber: daß irgendeine sinnhafte Reaktion auf die Eröffnung folgt. Kurz: Wie kann schon in der Eröffnung sichergestellt werden, daß die Anschlüsse nicht irgendein wirres „Hineinpropellieren“ in den Alltag bilden, sondern einen von den Akteuren verstehbaren und als sinnhaft erlebten Vorgang bilden – wie das etwa bei einem relativ gesitteten Gespräch, einer Verhandlung oder einer wissenschaftlichen Debatte von Replik und Gegenreplik normalerweise der Fall ist? Das ist die Frage nach der strukturellen Kopplung. Es ist das Problem der Sicherstellung einer im Prinzip erwartbaren und anschlußfähigen Wirkung einer Kommunikation. Dazu muß in die kommunikativen Akte des Senders – Information und Mitteilung – eingebaut sein, daß der Empfänger erreicht wird, daß er versteht, daß er rezipiert und dann in bestimmter Weise selbst kommunikativ und für weitere Kommunikation anschlußfähig agiert. Kurz: Die strukturelle Kopplung sorgt dafür, daß Erreichen, Verstehen, Rezeption und Wirkung ihrerseits eine Einheit bilden. Und sie ist damit auch eine Bedingung dafür, daß eine Menge von Akteuren ein „soziales System“ einer fortlaufenden Kommunikation bilden können, das in bestimmter Weise sinn-
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haft organisiert ist und in dem ohne größere Irritationen oder Unterbrechungen sinnhaft gehandelt und kommuniziert wird. Eine Lösung dieses Problems kennen wir aus den Vorgängen der Koorientierung und der symbolischen Interaktion – und aus der Geschichte „Mehr als Archimedes“ von Hans Conrad Zander über den Mongoloiden in der Kirche – schon: Wenn es für ganze Sequenzen von Einheiten der Kommunikation fertige und von den Akteuren vorab gewußte Modelle gibt, dann fungieren diese Modelle als eine Art von verbindlichem Drehbuch für den kompletten Ablauf bestimmter Sequenzen. Ein Thema bildet beispielsweise ein solches Modell. Themen ordnen – wie Rituale allgemein – für typische Situationen typische Möglichkeiten des Anschlusses. Zwar lassen sie vieles für Improvisationen offen. Aber die Akteure wissen ziemlich genau, was sie wann dürfen und was wann nicht. Diese Ordnung erleichtert das Leben ungemein. Auf diese Weise können etwa relativ leicht die tiefen Peinlichkeiten eines gemeinsamen Schweigens überbrückt werden – wobei diese Peinlichkeit nichts anderes ist, als die Folge der Verletzung der hintergründigen sozialen Anweisung, keine Gesprächslücken in bestimmten Interaktionsritualen des Alltags entstehen zu lassen (vgl. dazu noch Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ausführlich).
Aber nicht immer ist zu erwarten, daß es solche fertigen sozialen Drehbücher und Normen für komplette Interaktionsrituale gibt. Strukturelle Kopplung „muß“ aber oft gerade auch dann gelingen, wenn die Akteure ganz verschiedenen kulturellen und sozialen Bereichen entstammen. Mehr noch: Erst dann ist so etwas wie eine Vergesellschaftung über kulturelle und soziale Unterschiede hinweg möglich, wie das ja empirisch tatsächlich in hohem Ausmaß geschieht. Der Prozeß der funktionalen Differenzierung über die Lebenswelten der problemlosen Verständigung hinweg kann geradezu so beschrieben werden: Als strukturelle Kopplung von Akteuren und Gruppen, die ansonsten so gut wie nichts gemein haben. Wie soll das aber gehen, ohne daß alle Akteure der Prozedur einer gleichen gemeinsamen Sozialisation unterworfen werden müßten? Vier Probleme – drei Medien Vier Probleme treten bei der strukturellen Kopplung auf: die Erreichbarkeit potentieller Empfänger durch ein Medium, die Sicherstellung des Verstehens, die Garantie der Rezeption und die verläßliche Wirkung eines Anschlusses weiterer kommunikativer Akte. Die Medien der Kommunikation unterscheiden sich insbesondere darin, inwieweit sie diese Garantien bereitstellen können. Drei Arten von Medien sind in dieser Hinsicht zu unterscheiden: die mündliche Sprache, die sog. Verbreitungsmedien und die symbolisch generalisierten Medien der Kommunikation.
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Mündliche Sprache Gesten und Symbole funktionieren nur sehr direkt: Mit ihnen ist die Information festgelegt. Die Geste wird entweder verstanden – oder aber nicht. Mehr nicht. Dies beschränkt die strukturelle Kopplung bei einer symbolischen Interaktion sehr. Kommunikation beginnt daher erst mit den vokalen Gesten der mündlichen Sprache. Die mündliche Sprache bietet nämlich gegenüber den Gesten und Symbolen einen enormen Schritt in der Ausweitung der Mitteilung von Informationen. Einerseits wird das Repertoire der verstehbaren Kommunikation praktisch ins Unendliche ausgeweitet. Insbesondere aber wird es erst mit der mündlichen Sprache möglich, in die Kommunikation die Differenz von Information und Mitteilung einzubauen: Mit Sprache kann eine Kommunikation selbst thematisiert werden. Es kann über die Kommunikation kommuniziert werden. Das ist mit Gesten kaum möglich. Außerdem muß jetzt nicht mehr unmittelbar beobachtet werden, was der andere tut. Man kann hören, ohne zu sehen. Alles dies erleichtert die strukturelle Kopplung über ein durch Rückfragen und Erläuterungen besseres Verstehen und eine durch Techniken der rhetorischen Überzeugung eher zu sichernde Rezeption und Wirkung. Die mündliche Sprache ist aber gleichwohl sehr beschränkt. Sie ist das Medium, das strukturelle Kopplungen über weite Distanzen hinweg noch am wenigsten garantieren kann. Das hat einen einfachen technischen Grund: Mündliche Sprache ist auf die räumliche und zeitliche Anwesenheit der Akteure angewiesen. Aber nicht nur die recht beschränkte technische Reichweite ist ein Problem für eine weitläufigere strukturelle Kopplung durch mündliche Kommunikation: Das Verstehen, die Rezeption und die Wirkung sind bei der mündlichen Sprache sehr stark vom Kontext abhängig. Mit den Möglichkeiten der Sprache kann ja die Differenz zwischen Information und Mitteilung vollauf zum Tragen kommen: Sprachlich erzeugte Paradoxien und Scheingewißheiten werden möglich und können die strukturelle Kopplung von Verstehen, Rezeption und Wirkung an jeder Stelle auch wieder unterbrechen. Nicht aus Zufall sind sprachliche Kommunikationen fast immer von Koorientierungen und symbolischer Interaktion begleitet, die das Gelingen der strukturellen Kopplung unterstützen – wie das Beispiel des Ehepaares zu Beginn dieses Kapitels sehr deutlich ja auch zeigt. Rhetorik, Eloquenz und gezielt eingesetzte Ironie – beispielsweise – sind daher oft nötige Mittel zur Eindämmung der ansonsten leicht ins Unendliche abgleitenden Kontingenz der mündlichen Kommunikation. Aber alles das sind an die Anwesenheit der Akteure gekoppelte Mittel. Was also nun?
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Schrift In einfachen face-to-face-Situationen scheint es ein besonderes Problem des Erreichens nicht zu geben – außer etwa bei einem Sprachfehler des Senders oder bei Schwerhörigkeit oder notorischer Unaufmerksamkeit des Empfängers. Genau das aber ist das Problem jeder Kommunikation, die die räumlichen und zeitlichen Beschränkungen der unmittelbaren Anwesenheit zu überwinden hat: „Es ist (bei der mündlichen Sprache; HE) unwahrscheinlich, daß eine Kommunikation mehr Personen erreicht, als in einer konkreten Situation anwesend sind; und diese Unwahrscheinlichkeit wächst, wenn man zusätzlich die Anforderung stellt, daß die Kommunikation unverändert weitergegeben wird. Das Problem liegt in der räumlichen und in der zeitlichen Extension.“ (Luhmann 1984, S. 218)
Das Problem ist ein dreifaches. Es liegt im physischen Erreichen durch Medien, die weiter reichen als der Schall. Es liegt im psychischen Erreichen durch eine Form der Mitteilung, die nicht unmittelbar die volle Aufmerksamkeit des Adressaten verlangt. Und es liegt in der De-Kontextualisierung der Mitteilung so, daß die Information auch ohne sehr viel an koorientierenden und symbolischen Zutaten „ankommt“. Zur Lösung dieses Problems der strukturellen Kopplung von Situationen und Selektionen über weite Differenzen und Distanzen hinweg wurde die Schrift erfunden, später andere Verbreitungsmedien wie Druck und Funk und Internet. Die Schrift ist ein besonders eindrucksvolles Beispiel für die Erweiterung der strukturellen Kopplung.24 Die wichtigste Funktion der Schrift ist die Ausweitung der Erreichbarkeit über große zeitliche, räumliche, kulturelle und soziale Distanzen hinweg. Die Hervorbringung, die Aufnahme und die Weiterführung der Kommunikation werden getrennt – und gleichzeitig doch miteinander verbunden. In schriftlosen Gesellschaften verläuft jede Abstimmung sozialer Handlungen über nichtsprachliche Gesten oder über die mündliche Sprache. Die Bedeutungen der Zeichen müssen daher in den konkreten Interaktionen immer wieder neu festgelegt, neu „definiert“ und „ratifiziert“ werden. Dies geschieht im Akt der fortlaufenden Konversationen jeweils gleichzeitig mit den mündlichen Sprechakten selbst. Der einzige Speicher für soziale Erfahrungen ist das Gedächtnis der lebenden Einzelpersonen. Das „kollektive Gedächtnis“ ist dort daher auch an die Konstanz der Personen bzw. an die Konstanz der mündlichen Überlieferungen gebunden. Und auch dies ist nur möglich, indem die Konstanz der Bedeutungen jeweils im Akt selbst immer wieder rückversichert und bestätigt wird. Es ist gut vorstellbar, welche enorme Bedeu24
Vgl. zu den sozialen Voraussetzungen und Auswirkungen der Schriftsprache insbesondere: Jack Goody und Ian Watt, The Consequences of Literacy, in: Comparative Studies in Society and History, 5, 1963, S. 304-345; Jack Goody, Evolution and Communication: The Domestication of the Savage Mind, in: The British Journal of Sociology, 24, 1973, S. 1-12.
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tung daher in schriftlosen Gesellschaften, die meist sehr kleine Gruppengrößen aufweisen, der unmittelbare persönliche Kontakt und insbesondere die religiösen Rituale haben, die ja dort die einzige Grundlage für die Herstellung einer Konstanz von Bedeutungen und Überlieferungen des lebensnotwendigen Wissens darstellen.
Mit der Schriftsprache werden also nicht nur Adressaten an anderen Orten und zu anderen Zeiten erreichbar, es wird nun auch die Sicherung der Konstanz von der unmittelbaren personalen und rituellen Ratifizierung der Mitteilung unabhängiger. Im Prinzip könnte jedermann jederzeit die Mitteilung daraufhin überprüfen, ob die Information tatsächlich dem entspricht, was „der Fall ist“. Dies aber hat wieder Auswirkungen auf die Einschätzung der Bedeutung der Sprache für die mentale Ordnung der Welt und auch auf die sozialen Beziehungen der Menschen: Die Zeichen werden von den Bedeutungen abtrennbar und es entsteht das Problem der stets unsicheren Korrespondenz von mitgeteilter Information und wirklichen Sachverhalten. Auf diesem Unterschied einer Information über das, was tatsächlich „der Fall ist“ und der Mitteilung, die diese Information als Aussage enthält, beruht die sog. Korrespondenztheorie der Wahrheit, die auf Alfred Tarski zurückgeht: Eine Aussage ist dann wahr, wenn sie enthält, was der Fall ist. Eine Aussage kann dann ja auch Informationen beinhalten, die nicht dem entsprechen, was „der Fall ist“.25 Das Problem ist nur, daß niemand letztgültig beweisen kann, ob es eine solche Korrespondenz von Information und Mitteilung gibt. Darauf beruht die grundlegende Unsicherheit über die Geltung von wissenschaftlichen Theorien, sowie auch aller Kommunikationen darüber. Mit dem Ausbrechen der Kommunikation aus den Lebenswelten des unmittelbaren Kontaktes entsteht diese Unsicherheit für alles Wissen der Menschen. Die Schrift kann einen Teil dieser Unsicherheit wieder auffangen.
Die Mitteilungen und Informationen werden mit der Erfindung der Schriftsprache endgültig von konkreten Menschen als Sprechern ablösbar und können so – wie es scheint – ein ganz eigenständiges System der Kommunikation bilden. Jetzt kann eine mitgeteilte Information genauer überprüft, hin und her gewendet und auch relativ folgenlos negiert werden. Der Sender weiß das und muß jetzt darauf achten, daß er die Annahme nicht mehr selbst unterstützen kann. So wird es wichtig, daß die Mitteilung einen gewissen nachprüfbaren Gehalt hat, und gewisse Regeln der schriftlichen Niederlegung beachtet werden, weil Rückfragen bei evtl. Mißverständnissen nicht mehr möglich sind. So entstehen eine Grammatik und eine Syntax der Sprache als verbindliches und sanktioniertes Regelsystem. Und für die besonderen Zwecke der wissenschaftlichen Argumentation, bei der es auf eine möglichst weitgehende Ausschaltung der „Konstruktion“ der Wirklichkeit nur durch eine falsch verwendete Sprache ankommt, wird die Logik als allgemeine Grundregel einer objek-
25
Alfred Tarski, Logic, Semantics and Metamathematics, Oxford 1956, S. 152-278.
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tiven, von subjektiven Kontexten weitgehend entbundenen, Verständigung erfunden. Es sei in diesem Zusammenhang ergänzt, daß Karl R. Popper an die Sprachtheorie von Karl Bühler im Zusammenhang mit der Bedeutung von Aussagen zur Beschreibung von Sachverhalten in Form wissenschaftlicher Theorien anknüpft.26 Er fügt neben der kognitiven, der expressiven und der appellativen eine vierte Funktion der Sprache hinzu: die argumentative Funktion. Schon bei der deskriptiven Funktion taucht das Problem der Differenz zwischen Information und Mitteilung in Gestalt der Frage nach der „Wahrheit“ der mitgeteilten Information auf: Die Information kann wahr oder falsch sein, und der Empfänger kann dies nicht immer sofort oder selbst überprüfen. Bei der argumentativen Funktion tritt zusätzlich die Frage der inneren Stimmigkeit der mitgeteilten Information nach Regeln auf. Die Logik ist – als Organon der Kritik – eigens dazu erfunden worden, um diese Erfordernis von „Argumentationen“ bei Mitteilungen überprüfen zu können. Sprachliche Mitteilungen, die dieses Kriterium notorisch verletzen, können daher – ganz unabhängig von der Wahrheit der darin enthaltenen Informationen – nicht für Argumente verwendet werden, weil sie bereits die Mindestregeln einer argumentativ geführten Kommunikation nicht erfüllen. Jede argumentative Überzeugung, auch die, die Jürgen Habermas im Zusammenhang des kommunikativen Handelns im Sinne hat, setzt daher die Einhaltung der Regeln logischer Argumente und die „Rationalisierung“ der Kommunikation voraus.
Mit der Schriftsprache wird mit einem Male deutlich, daß Begriffe immer nur als Namen für Sachverhalte fungieren, die von dem „Begriff“, vom Sender und den Umständen der Erzeugung der Mitteilung ganz unabhängig sind und keinerlei eigene Realität aufweisen – außer natürlich, daß sie mitgeteilt werden und bei Hörern wieder Selektionen erzeugen. Nun werden die Überlieferung vom tatsächlichen Geschehen, der Mythos von der Geschichte, rhetorische Tricks vom „Gehalt“ der Aussage und „Theorie“ von „Realität“ abtrennbar. Wahrscheinlich ist die Schriftsprache – im Zuge des Aufblühens der griechischen Stadtstaaten in weitläufigem Handel – einmal entstanden, um Unsicherheiten bei Verträgen zu beseitigen, deren Einhaltung nicht mehr unmittelbar sozial oder moralisch erzwungen werden konnte, weil mit den Handelsbeziehungen der enge Bereich der Binnenmoral der polis verlassen wird – und weil von der Erfüllung der Verträge viel abhing. Kurz: Es war wohl die Ausweitung der Transaktionen über größere räumliche Entfernungen, zeitliche Distanzen und soziale Grenzen hinweg, die eine Nachfrage nach einem Medium der Interaktion erzeugte, das den Inhalt einer Information präzisierte, de-kontextualisierte, überprüfbar und ablehnbar machte. Die Schrift war eine dauerhafte, formal geregelte, lagerbare und jederzeit prüfbare Art der Mitteilung, die derartigen Bedürfnissen besonders gut nachkommen konnte.
Die sozialen Auswirkungen der Erfindung der Schriftsprache auf den Prozeß der gesellschaftlichen Differenzierung und auf die Ausweitung der kommunikativen Verbundenheit der Menschen bis hinein in eine sich inzwischen ab26
Karl R. Popper, Erkenntnistheorie ohne erkennendes Subjekt, in: Karl R. Popper, Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf, Hamburg 1973, S. 137f.
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zeichnende Weltgesellschaft können gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Um es kurz zu machen: Ohne die Erfindung der Schriftsprache – und der anderen Verbreitungsmedien wie insbesondere des Buchdrucks – wäre die Entstehung moderner Gesellschaften undenkbar gewesen. Moderne Gesellschaften beruhen ja gerade darauf, daß Teilbereiche und Institutionen existieren, die auch dann in der jeweiligen Definition der Situation stabil bleiben, wenn die Menschen einander nicht kennen, wenn sie ganz unterschiedliche Motive haben, wenn sie ihre Position und ihre Identität wechseln und dabei – ganz unvermeidlicherweise – nicht alle Inhalte der jeweiligen „Verfassung“ eines Teilbereichs im Kopf behalten können, in dem sie sich gerade bewegen. Und dazu muß man zur Not einmal in ein Gesetzblatt hineinsehen können, wo alles mit ehernen Lettern aufgeschrieben steht. Die Schriftsprache ist also ein Medium, das die Menschen über weite Distanzen von Raum, Zeit und Kultur zusammenführt. Sie trennt sie aber auch voneinander, weil sie sich jetzt nicht mehr in die Augen sehen oder wenigstens noch zuhören müssen. Mit der Schriftsprache wird es technisch möglich, das Handeln in funktionale Teilbereiche zu zergliedern, deren jeweiliger funktionaler Code von den Menschen durchaus vergessen werden kann, weil er irgendwo dokumentiert ist – etwa in der Landesverfassung oder in einem Handbuch der Beratung von Sozialhilfeempfängern. Wenn man es gelehrt und altgriechisch so ausdrücken möchte: Die Schriftsprache ist ein Mittel des symballein wie gleichzeitig des dia-ballein, ein symbolisches wie ein diabolisches Medium zur gleichen Zeit. Symbolisch generalisierte Medien Mit der Schrift können das technische Problem des Erreichens und das kognitive Problem des Verstehens für eine weiter gefaßte strukturelle Kopplung schon wesentlich besser gelöst werden als mit der mündlichen Sprache oder gar mit den symbolischen Gesten. Immer aber noch kann die Mitteilung abgelehnt werden. Bei der Schrift ist das sogar besonders leicht möglich: Es gibt die mimischen, gestischen und rhetorischen Pressionen zur Annahme nicht, die oft die mündliche Sprache und die unmittelbare Anwesenheit begleiten. Das Problem ist also: Wie kann – zusätzlich zur besseren Erreichbarkeit! – auch die Rezeption sozusagen „erzwungen“ und damit eine bestimmte Wirkung wahrscheinlicher gemacht werden? Medien, die nicht nur weite Distanzen überbrücken können und eindeutig verstanden werden, sondern zusätzlich auch eine bestimmte Rezeption und Wirkung garantieren, werden als symbolisch generalisierte Medien der Kom-
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munikation (SGMK) bezeichnet. Mit ihnen wird es – sozusagen – möglich, einen Empfänger mit der Mitteilung sicher zu motivieren, die Direktiven des Senders aufzunehmen und die Kommunikation in bestimmter Weise fortzuführen. Mit ihnen gelingt es, „ ... die Selektion der Kommunikation so zu konditionieren, daß sie zugleich als Motivationsmittel wirken, also die Befolgung des Selektionsvorschlages hinreichend sicherstellen kann.“ (Luhmann 1984, S. 222; Hervorhebung nicht im Original)
Geld ist das wohl einsichtigste dieser fabelhaften symbolisch generalisierten Medien der Kommunikation (vgl. dazu noch Abschnitt 10.4 unten in diesem Band): Es wird – innerhalb bestimmter Grenzen freilich – nahezu automatisch genommen. Es werden dafür ebenso bereitwillig – sofern der Preis stimmt – Dinge fast aller Art hergegeben. Und jeder kann sicher sein, daß ihm niemand den Besitz der Dinge streitig macht, die er sich für Geld gekauft hat. Noch einmal: Codes und Programme Warum die SGMK die beschriebene Wirkung haben, ist leicht zu verstehen. Sie vereinfachen mit ihrem Gebrauch die Situation auf eine doppelte Weise: Sie rahmen die Situation in einem spezifischen Code; und sie strukturieren das Handeln in einem besonderen Programm. Die Rahmung der Situation durch ein SGMK in einem besonderen Code bezieht sich auf zwei Aspekte: Es wird durch das jeweilige SGMK ein spezifischer Sinn für die Situation festgelegt; und damit gleichzeitig ein besonderes Oberziel, um das sich nun alles dreht. Beim Geld ist dies die Rahmung der Situation mit dem Sinn des ökonomischen Tausches – und eben nicht: als Intimbeziehung, als wissenschaftliche Disputation oder als politische Zielfindung. Das Oberziel ist dabei: ökonomische Effizienz – und eben nicht: Altruismus, Wahrheitsfindung oder die Durchsetzung politischer Ziele. Das mit dem Medium verbundene Programm des Handelns gibt gleichzeitig mit der Rahmung an, welche Tätigkeiten nun erfordert werden oder verpönt sind, einschließlich der Art und des Stils des Handelns und des Umgangs mit Informationen und Gefühlen. Erneut für das Geld: Nun werden rechnerisches Nachzählen und kühle Kalkulation von Effizienz und Nutzen erwartet – und eben nicht: gefühlvolles Geflüster wie bei der Liebe, kritischer Austausch von Argumenten wie in einer wissenschaftlichen Debatte oder volkstümliche Zuspitzung grobschlächtiger Vereinfachungen wie in einer Wahlkampfrede in der Sphäre der Politik. Mit der Festlegung von Code und Programm muß sich ein Sender daher nicht mehr darum besonders kümmern, welche sonstigen Eigenschaften ein
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Empfänger hat. Er weiß, daß der Empfänger im Rahmen des „Sinns“ dieses Mediums agieren wird. Und auch der Empfänger hat es sehr viel einfacher. Auch er weiß, daß der Sender an den Vorgaben dieses Rahmens orientiert handeln wird. Die zuvor so bedrohliche Differenz von Information und Mitteilung ist mit einem Male zu einer festen Größe geworden, die sich leicht erkennen und „berechnen“ läßt. Und wie der Verrückte in der Geschichte bei Hans Conrad Zander können sich die Akteure schon vorher darüber freuen, daß alles nach der Pfeife des jeweiligen SGMK tanzt. Das alles erzeugt eine hohe Garantie, daß eine begonnene Kommunikation Anschlüsse in ganz bestimmter Weise relativ sicher findet. Kurz: Die symbolisch generalisierten Medien haben die spezifische Funktion, auch für eigentlich ganz unwahrscheinliche Umstände und Inhalte noch gesichertes Erreichen, Verstehen, Annahmebereitschaft, Rezeption und Wirkung zu verschaffen. Medientheorie In der Soziologie gibt es einige breit angelegte Versuche zu einer Theorie der symbolisch generalisierten Medien der Kommunikation. „Theorie“ meint dabei: Versuche der Aufzählung und Sortierung von solchen Medien. Die wichtigsten Ansätze stammen – wie könnte es anders sein? – von Talcott Parsons und Niklas Luhmann.27 Talcott Parsons unterscheidet vier symbolisch generalisierte Medien der Kommunikation: Geld, Macht, Einfluß und Commitment.28 Geld ist das Medium, das überall dort „zirkuliert“, wo wirtschaftlich gehandelt wird. Macht sichert die Durchsetzung politischer Ziele, notfalls mit der Gewalt von Gerichtsvollzieher, Polizei oder gar Militär. Einfluß ist das Medium, das dafür sorgt, daß die Akteure den allgemein anerkannten Normen einer Gemeinschaft folgen. Commitment schließlich ist die unbedingte Bindung an bestimmte Werte. Die vier Medien sind systematisch den vier Subsystemen der Gesellschaft und den damit verbundenen vier AGIL-Funktionen zugeordnet: Geld dem Subsystem Wirtschaft in der A-Funktion; Macht dem Subsystem Politik in der G-Funktion; Einfluß dem Subsystem der gesellschaftlichen Gemeinschaft in der I-Funktion; und Commitment dem Treuhand-Subsystem in der LFunktion. Die AGIL-Funktionen definieren dabei die jeweiligen Codes des Mediums: den sozialen Sinn und das Oberziel in dem jeweiligen Subsystem (vgl. dazu auch noch Band 6, 27
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Vgl. dazu die Übersicht und Zusammenfassung bei Uwe Schimank, Theorien gesellschaftlicher Differenzierung, Opladen 1996, S. 110ff., 168ff. Vgl. Talcott Parsons, On the Concept of Political Power, in: Talcott Parsons, Sociological Theory and Modern Society, New York 1967a, S. 297-354; Talcott Parsons, On the Concept of Influence, in: Talcott Parsons, Sociological Theory and Modern Society, New York 1967b, S. 355-382; Talcott Parsons, On the Concept of Value-Commitments, in: Talcott Parsons, Politics and Social Structure, New York 1969, S. 439-472.
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„Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Bei Niklas Luhmann gibt es mehr symbolisch generalisierte Medien der Kommunikation als bei Talcott Parsons.29 Er befreit sie auch von der engen Zuordnung zu den vier AGIL-Funktionen. Das alles hat einen einfachen Grund: Es gibt in den modernen Gesellschaften offenbar mehr als nur vier soziologisch wichtige Subsysteme. Und jedes braucht sein eigenes Medium. Für Niklas Luhmann gibt es daher zwar auch Geld und Macht als SGMK, wie bei Talcott Parsons, nicht jedoch Einfluß und Commitment. Beim ihm sind aber auch Wahrheit, Liebe, religiöser Glaube und bestimmte „Grundwerte“, selbst die Kunst solche SGMK. Manche Autoren zählen sogar den Sport zu den Subsystemen. Und Rekorde sind darin das Medium, sprich: das Oberziel. Mein Gott!
Nach Niklas Luhmann sind die symbolisch generalisierten Medien der Kommunikation alle binär codiert. Sie haben immer nur zwei Werte. Die SGMK grenzen gerade dadurch den Sinn des Handelns in ganz spezifischer Weise und ganz radikal von jeweils anderem Sinn ab: Geld oder nicht, Liebe oder nicht, Wahrheit oder nicht, Kunst oder Kitsch. Tertium non datur. Die SGMK sorgen gerade auf diese Weise dafür, daß die Anschlußkommunikationen auch wirklich verläßlich stattfinden: Geld gewährleistet den Warentausch und schließt alles andere aus. Die Liebe sorgt dafür, daß der Liebende dem Geliebten viele Dinge tut, die er sonst nicht täte; bei anderen muß das eben nicht befürchtet werden. Die Unterordnung einer Kommunikation unter den Code der Wahrheit stellt sicher, daß – etwa – Geld, die Moral und das Mitleid eben keine Rolle spielen, sondern nur die Richtigkeit des Argumentes und die Bewährung der Hypothese im Experiment. Und die gelungene Deklaration eines Müllhaufens als Kunst verschafft dem Müllhaufen eine besonders geartete Aufmerksamkeit – und außerhalb der Geltung des Codes der Kunst: Unverständnis, Gelächter oder Unwillen, manchmal sogar seine Entfernung durch die ordentlichen Putzfrauen des Museums. Symbolisch generalisierte Medien der Kommunikation als Spezialsprache Die symbolisch generalisierten Medien der Kommunikation bilden somit eine Zuspitzung bestimmter Eigenschaften der Sprache. Man kann sie als eine Art von Spezialsprache für bestimmte Handlungsfelder der Gesellschaft verstehen. Als solche haben sie eine Reihe von Gemeinsamkeiten, vor allem in Abgrenzung zur einfachen mündlichen Sprache. Am wichtigsten sind ihre Spezifizität, ihre Generalität und ihre Fähigkeit zur „imperativen“ Definition der 29
Vgl. Niklas Luhmann, Einführende Bemerkungen zu einer Theorie symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien, in: Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung 2. Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft, Opladen 1975a, S. 170-192; Niklas Luhmann, Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt/M. 1982, Kapitel 2: Liebe als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium, S. 21-39; sowie: Luhmann 1984, S. 222f.
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Situation. Talcott Parsons hat diese drei Gemeinsamkeiten der SGMK gegenüber der normalen Sprache einmal so zusammengefaßt: „These mechanisms operate in social interaction in a way that is both much more specific and more generalized than communication through language. Furthermore they have in common the imperative mood, i.e. they are ways of ‚getting results‘ rather than only of conveying information.“ (Parsons 1967b, S. 361; Hervorhebungen nicht im Original)
Die symbolisch generalisierten Medien der Kommunikation sind spezifisch insofern, als sie die Situation jeweils auf einen Code hin definieren. Sie wirken in generalisierter Weise, da sich die Akteure innerhalb dieser Codierung ganz allgemein und ohne Rücksicht auf weitere Motive oder Besonderheiten dieser spezifischen Codierung unterwerfen. Und sie sind „imperativ“ in dem Sinne, daß sich der soziale Sinn des Codes und das zugehörige Programm des Handelns ganz eindeutig und zwingend dem Akteur „auferlegen“: Wenn er etwas erreichen will, dann muß er sich dem Code und dem Programm fügen. Liebe und Wahrheit – beispielsweise – kann man für Geld nicht kaufen, und von der Liebe und der Wahrheit wird man andererseits nicht satt. So werden schon mit der Mitteilung der Information über das Medium der Mitteilung das „getting results“ und die strukturelle Kopplung von an sich sehr unwahrscheinlichen Kommunikationen gesichert. Die „kommunikative“ Integration der Gesellschaft Auf diese Weise gelingt mit Hilfe der symbolisch generalisierten Medien der Kommunikation genau das, was mit der mündlichen Sprache fast ausgeschlossen und mit der Schrift auch noch sehr unwahrscheinlich ist: die Erzeugung einer spezifischen und sicheren Wirkung und Steuerung bestimmter Kommunikationen – und damit auch: von Transaktionen – über weite Distanzen aller Art hinweg. Die symbolisch generalisierten Medien verbinden – sozusagen – die distanzüberbrückenden Eigenschaften der Schrift mit den Rezeptions- und Wirkungspressionen der symbolischen Gesten und der mündlichen Sprache. Man erkennt gleich wie enorm wichtig diese Funktionen für die Ausdifferenzierung von Gesellschaften mit großen und unterschiedlichen Bevölkerungen sind, in denen die Menschen sich ja eben nicht mehr alle persönlich kennen können, in denen nicht mehr alles von oben her dekretiert werden kann und in denen es doch eine hohe Verläßlichkeit der Kommunikationen geben muß, damit die verschiedenen Teilsysteme sich als eigenständige Einheiten abgrenzen und so erst in einen für alle, auch in ihren Lebenswelten, gewinnbringenden Austausch miteinander treten können. In den modernen, komple-
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xen, funktional differenzierten Gesellschaften, in denen der soziale Zusammenhalt und die Abstimmung der Handlungen nicht mehr über persönliche Kontakte möglich ist, werden diese Formen der Koordination des Handelns über symbolisch generalisierte Medien der Kommunikation daher besonders bedeutsam. Sie sind dort der wichtigste Mechanismus der „Interpenetration“ der verschiedenen Sphären der Gesellschaft und (damit) der Integration von unterschiedlichen Bereichen des Sinns des Handelns – ohne daß die Menschen sich an einheitlichen Werten oder gar an einem gesellschaftlichen Konsens orientieren müßten (vgl. dazu auch schon Kapitel 6 in Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Die Integration komplexer Gesellschaften über symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien verläuft, auch ohne daß es eine „Wertegemeinschaft“ geben müßte, ganz und gar ohne Zwang: Die Menschen fügen sich den Imperativen der generalisierten Medien bereitwillig, weil das Verstehen von deren Mitteilung leicht und die Rezeption ihrer Information wie die Befolgung ihrer Direktiven im Handeln auch vor dem Hintergrund ganz verschiedener privater Motive der Menschen höchst naheliegend und nützlich ist. Geld stinkt eben nicht, sondern überzeugt auf seine ganz eigene Weise. *** Wir wollen die spezifischen Leistungen der drei Medien – Sprache, Schrift und SGMK – kurz zusammenfassen. Alle drei Medien unterscheiden sich von den Gesten durch eine enorme Ausweitung und Flexibilisierung der verstehbaren Mitteilungen. Die Enge der symbolischen Gesten hatte jedoch einen Vorzug: Die strukturelle Kopplung ist – wenngleich im engen Rahmen der gestischen Konversation – relativ sicher. Die mündliche Sprache erweitert im Vergleich dazu das Repertoire des Verstehens enorm. Die strukturelle Kopplung an Rezeption und Wirkung muß sich jedoch sehr auf den unmittelbaren Kontext der Kommunikation stützen: auf mitlaufende Koorientierung und fortwährende symbolische Interaktion. Die Schrift erweitert die Reichweite der Sprache und löst sie vor allem vom unmittelbaren Kontext. Nun werden strukturelle Kopplungen über weite räumliche, zeitliche und soziale Distanzen hinweg zwar möglich, aber auch wieder unwahrscheinlicher, weil der stützende Kontext des Nahbereiches fehlt. Die Entwicklung von formalen Vorkehrungen – wie Regeln der Syntax und der logischen Argumentation – hilft hier nur in bestimmten Bereichen, wie etwa in der Verbreitung von Printmedien und in der Wissenschaft. Erst die Erfindung der symbolisch generalisierten Medien löst das Problem einer sicheren strukturellen Kopplung – nun aber nur für ganz spezifische Formen der Kommunikation und für die Interaktion in
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und zwischen ganz spezifischen Sphären der Gesellschaft. Die leibhaftigen Menschen treten dabei – so scheint es auf den ersten Blick wenigstens – immer mehr in den Hintergrund. Die Kommunikation scheint dadurch eine Art von eigenständiger Existenz zu bekommen, die sich über die Köpfe und die Seelen der Menschen hinweg entfaltet und ihren eigenen Gesetzen folgt. 8.3.5 Kommunikation als soziales System Die abgeschlossene Sequenz einer elementaren Einheit der Kommunikation besteht aus der Selektion von Information und Mitteilung durch einen Sender, dem Erreichen eines Empfängers und dessen anschließender Selektionen: Verstehen, Rezeption und Wirkung. Die Wirkung ist – gegebenenfalls, keineswegs zwingend! – selbst wieder ein kommunikativer Akt, an den sich eine weitere Sequenz einer elementaren Einheit der Kommunikation anschließen kann – und so weiter. Leicht lassen sich auf diese Weise ganze Ketten elementarer Einheiten der Kommunikation zusammenschließen, die auch – return to sender – den Initiator der Sequenz wieder erreichen mögen und so eine symmetrische Beziehung zwischen zwei Kommunikatoren konstituieren. Fortlaufende, aneinander anschließende Sequenzen derartiger elementarer Einheiten der Kommunikation seien mit Luhmann – ganz allgemein – als soziale Systeme bezeichnet. Die symmetrische Kommunikation ist ein Spezialfall davon (vgl. dazu auch schon Kapitel 2 in Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Nur zur Vorsicht sei hier noch ergänzt, daß die betreffenden Akte auch ganz normales, nicht primär kommunikatives „Handeln“ sein können; es kommt nur darauf an, daß dieses nicht-kommunikative Handeln, wie etwa Zuhören in einer Vorlesung oder die Tät-i gung einer Banküberweisung, auch symbolische Begleitfolgen für andere Akteure hat, die daraus den jeweils spezifischen „Sinn“ des Tuns und der betreffenden Situation erschließen können. Soziale Systeme als Prozesse der Kommunikation Soziale Systeme sind also nichts anderes als emergente Folgen der Selektion kommunikativer Akte durch menschliche Akteure, dem fortlaufenden „Gelingen“ der strukturellen Kopplung, der Eröffnung von Anschlußmöglichkeiten und der Verwirklichung tatsächlich gelingender Anschlüsse. Sie lassen sich
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tiven Sequenz müssen dabei konsensuell sein. Bei dem geschilderten Beginn wahrscheinlich sowieso nicht. Auch Streitereien oder das peinliche Schweigen nach einem Tritt ins Fettnäpfchen mit den anschließenden mühseligen Versuchen, die Situation wieder zu retten, sind so gesehen höchst „kommunikativ“. Wichtig ist nur eines: daß die Sequenzen kommunikativer Akte irgendwie aneinander sinnhaft anschließen und das einmal begonnene soziale System – hier: eines Abendessens unter Kollegenfamilien – nicht zusammenbricht.
Für einen externen Beobachter ist in der Regel nur die Sequenz Sit0-Sit1-Sit2Sit3-Sit4-...-Sitn sichtbar, so wie die Sequenz der Äußerungen zwischen den Akteuren H und W in dem Beispiel von Harold Garfinkel ganz zu Beginn dieses Kapitels auf der linken Seite des Gesprächsprotokolls. Oft läßt sich eine bestimmte Sequenz als Reproduktion von sozial typisierten und bekannten Abläufen wiedererkennen: Begrüßungszeremonien, die Kommunikation zwischen Kellner und Gast, eine lateinische Messe in der rituellen Kommunikation von Priester, Messdienern, Gläubigen und – manchmal – einem Schwachsinnigen. Gelegentlich scheint eine Sequenz zwar durch gewisse Vorgaben gesteuert, ist aber gleichwohl in ihrem Ablauf offen: das oben erwähnte Gespräch im Zugabteil zum Beispiel, das ja nur mit Mühe an einer Schlägerei vorbeiging, oder das mit dem Ausruf „Ach Gott!“ so unglücklich begonnene Abendessen, von dem auch schon zu berichten war. Und sicher lassen sich auch kommunikative Sequenzen denken, die gänzlich „individuell“ und „spontan“ keinerlei bereits vorgestanzter Schablonen folgen, sondern sich nach vorne offen in die Wirklichkeit buchstäblich hineinschrauben. Offene Sequenzen und Rituale Zwei Extremfälle solcher Sequenzketten der Kommunikation lassen sich unterscheiden: einerseits vollständig offene und ungesteuerte Sequenzen, bei denen die Akteure vorab keinerlei Vorstellungen über einen typischen Ablauf mitbringen, sondern sich ausschließlich an ihren privaten Erwartungen und Bewertungen und der vom jeweils anderen Akteur erzeugten Situationsänderung orientieren. Diese Variante wollen wir als offene Sequenz bezeichnen. Und andererseits bereits in den Vorstellungen der Akteure komplett festgelegte Sequenzen, bei denen die Akteure ausschließlich den Vorgaben dieser Vorstellungen, des jeweiligen Drehbuchs der Sequenz also, folgen. Diese Art der Kommunikation wollen wir Ritual nennen (vgl. dazu auch schon Kapitel 27 der „Soziologie. Allgemeine Grundlagen“). Die beiden Extremvarianten sozialer Systeme lassen sich als Spezialfälle des allgemeinen Modells aus Abbildung 8.3 schematisieren (Abbildung 8.4). Bei den offenen Sequenzen gibt es eine Linie der Kommunikation ohne jede vorherige Vorstellung der Akteure über eine solche Linie. Das soziale Sys-
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tem prozessiert unintendiert und „evolutionär“, ausschließlich als Nebenprodukt der sequentiellen Aktionen und Re-Aktionen der Akteure. Es ist daher nur über Punkte gekennzeichnet. Hier sind die Akteure allein mit ihren situativen Entscheidungen die Träger der Einheit der Kommunikation als einer nach vorne offenen Sequenz. Eine besondere „Einheit“ der Kommunikation als Modell eines Gesamtablaufes gibt es hier nicht. Bei den Ritualen stellen sich die Akteure dagegen eine ganz bestimmte Einheit modellhaft vor und arbeiten diese vorgestellte Einheit nach und nach ab, jeden Einzelschritt des anderen antizipierend, selbst daraufhin agierend und dessen „richtige“ Reaktion als eigenen „Einsatz“ nutzend. Die Spielräume für das Handeln sind dabei äußerst gering. Daher verfällt der Ritus auch nicht, wenn ein Akteur einmal punktuell abweicht. Die anderen Akteure – und er selbst – werden den Fehler überspielen, und der Versager wird rasch wieder zum vorgesehenen Drehbuch zurückfinden – falls er es gut genug kennt. Jeder, der einmal einem Gottesdienst einer ihm fremden Religion oder einem Festessen in einer ihm fremden Familie beigewohnt hat, weiß, was gemeint ist. Bei Ritualen scheint die Sequenzkette daher ein eigenes, von den Akteuren unabhängiges Leben zu besitzen. Sie ist deshalb in der Abbildung als solide Linie gezeichnet. Wegen der Wirksamkeit dieser Vorstellungen ist der „individuelle“ Beitrag beim Vollzug der Einheit solcher Sequenzen nur sehr gering. Deshalb hier nun bloß die Punkte. Bei Ritualen kann es so scheinen, als seien die Akteure eigentlich überflüssig – oder sie würden in ihrer menschlichen Unzulänglichkeit den Idealablauf des betreffenden sozialen Systems nur stören. Zwischen diesen Extremformen gibt es unzählige Zwischentypen von mehr oder weniger „vorgestellten“, typisierten, normierten Abläufen: über gewisse Themen gesteuerte, aber im genauen Ablauf relativ offene Sequenzen, mehr oder weniger eingeübte und kontrollierte Programme und Drehbücher für standardisierte Situationen, Teil-Rituale mit einer gewissen Flexibilität, usw. Hier müssen die Akteure fortwährend Lücken des Verlaufs selbst füllen und selbst für neue Anschlüsse sorgen, wenn sie an einer Fortsetzung einer bestimmten „Linie“ interessiert sind. Da dies ein Problem auf beiden Seiten ist, findet diese Suche nach Überbrückungen und Linien in einem fortwährenden Test über neue Gemeinsamkeiten und andere Anschlußmöglichkeiten statt. Und hierbei helfen viele nützliche Nebensächlichkeiten: der Stil der Sprache, gewisse Gesten, der Verweis auf gemeinsame Erinnerungen und nicht zuletzt: das Herausheben, Markieren und Etikettieren bestimmter Abschnitte der ablaufenden Kommunikation als eine jedermann bekannte Normal-Sequenz eines Interaktionsrituals, dem sie alle schon oft beigewohnt haben.
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fenen Sequenz und eines Rituals auch nur als gedankliche Idealtypen angesehen werden. In der sogenannten „Wirklichkeit“ kommen sie so nicht vor: In jede noch so offene Sequenz bringen die Akteure immer auch bestimmte Vorstellungen über den weiteren typischen Ablauf ein, die sie dann oft rasch revidieren und neu selektieren müssen. Und jedes noch so festgefügte und geheiligte Ritual bleibt immer eine Selektion aus einem Horizont prinzipiell offener Möglichkeiten. Jeder Priester hat sich schon einmal versprochen. Die Umwelt der Kommunikation In einem gewissen Sinn kann man – wie wir gesehen haben – bei Ritualen davon sprechen, daß die darüber ablaufenden Sequenzen von Kommunikationen ein Eigenleben haben, nämlich: ein Eigenleben in den mentalen Vorstellungen über bestimmte Abläufe. Wenn die Einhaltung dieser Regeln für die beteiligten Menschen wichtig ist, dann ist auch zu erwarten, daß die Menschen den empirischen Vollzug einer solchen standardisierten und geregelten Sequenz beobachten, auf eventuelle Abweichungen von der Referenz dieses Standards hin überwachen und ihr und das Verhalten der anderen auf die Einhaltung des Standards hin kontrollieren. Da die empirischen Menschen, die solche Rituale des Alltags ausführen, aber oft genug die richtige Ausführung solcher Sequenzen – aus Unkenntnis, mangelnden Fähigkeiten oder Nachlässigkeit – „gefährden“, könnte man sogar eine Metapher gebrauchen, die auf den ersten Blick ganz und gar eigenartig klingt, es dann aber nicht ist: Die Menschen sind – gefährliche! – Umwelten für die Rituale der Kommunikation. Die wechselseitige Konstitution der psychischen und sozialen Systeme Die sozialen Systeme sind somit im Grunde stets recht fragile Gebilde, auch als Rituale. Sie „bestehen“ aus nichts anderem als aus dem Prozessieren und Anschließen kommunikativer Akte. Das heißt aber keineswegs, daß die Menschen, die diese Akte alle tragen, kompakte Einheiten und festgefügte „Subjekte“ wären. Auch sie sind in Bezug auf den Prozeß der Kommunikation nichts weiter als „Systeme“ – psychische Systeme. Und das heißt genauso wie zuvor: Sie „bestehen“ aus einem fortwährenden Prozessieren von inneren Aktivitäten – etwa Gedanken, Emotionen, Bewertungen, Bewußtsein. Aus diesem inneren Prozessieren heraus entstehen die kommunikativen Akte, die dann die sozialen Systeme tragen. Aber die Kommunikation „wirkt“ ja auch auf die Akteure und auf ihr Bewußtsein: Nach Erreichen und Verstehen wer-
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den – gegebenenfalls – bestimmte Dirketiven in das Bewußtsein aufgenommen. Und das verändert natürlich die Befindlichkeit der psychischen Systeme im Prozessieren ihres Bewußtseins. Kurz: Nicht allein die Menschen prägen und tragen die Systeme der Kommunikation. Im – nahezu: simultanen! – Gegenzug werden mit jeder Kommunikation auch wieder die Menschen durch die Kommunikation geprägt. Psychische und soziale Systeme konstituieren sich gegenseitig. Sie sind ohne einander nicht denkbar. Aber sie bilden gleichwohl voneinander zu unterscheidende Einheiten. Genau darauf wollten Peter L. Berger und Thomas Luckmann in dem Zitat hinweisen, mit dem wir die Einleitung in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ begannen. Organisationen und lockere Kopplungen In der geschilderten Allgemeinheit als kommunikative Sequenzen lassen sich alle möglichen sozialen Gebilde und Prozesse als „soziale Systeme“ verstehen. Organisationen mit fest gefügten Positionsstrukturen und dazugehörigen Vorschriften und Anweisungen beispielsweise wären – so gesehen – nichts anderes als komplexe Systeme von fertig vorgeschriebenen und kontrollierten, nahezu rituellen Sequenzen der Kommunikation, bei denen – sozusagen: nebenbei – die Produktion der Ressourcen stattfindet, weswegen die Organisation gebildet wurde. Insbesondere die sog. sozialen Rollen bilden dabei – vor dem Hintergrund des Organisationsziels als letztem Bezugspunkt der Selbstbeschreibungen der Organisation – die Modelle der Kommunikationen für die Mitglieder der Organisation (vgl. dazu noch Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ausführlich). Und eben weil die Menschen die RollenModelle, das Organisationsziel und die Selbstreferentialitäten etwa des Vorstandes nicht von Geburt an kennen, andererseits aber die peinliche Einhaltung der Modelle für den Organisationsbetrieb sehr wichtig ist, „muß“ dafür gesorgt werden, daß die leibhaftigen Menschen die in den Modellen vorgeschriebenen sozialen Systeme alsbald nicht allzusehr gefährden. Kurz: Die Menschen müssen für das reibungslose Geschehen in „organisierten“ sozialen Systemen sozialisiert, kontrolliert und – nötigenfalls – sanktioniert werden, „damit“ sie die Interaktionsrituale der Organisation nicht allzusehr stören.
Feste Modelle kommunikativer Rituale – wie bei einem Hochamt, beim Karneval und auf dem Kasernenhof – gibt es aber beileibe nicht in allen Organisationen, vielleicht noch in dem einen oder anderen mittelständischen Metzgereibetrieb in Oberbayern. Für die allermeisten Beziehungen und Organisationen wären an Positionen fixierte rituelle Kommunikationen entschieden zu inflexibel. Die Menschen lassen sich – wenigstens heutzutage – nicht mehr fest sozialisieren oder lückenlos kontrollieren. Und für einen Betrieb oder eine Verwaltung als Organisation wäre das in einer komplexen
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Verwaltung als Organisation wäre das in einer komplexen Umwelt sogar sehr schlecht: Sie wären unfähig zur Anpassung an die wechselnden Anforderungen und gingen bald unter wie die Dinosaurier oder wie Helmut Kohl, der letzte der Patriarchen. Aber auch die Anarchie der nach vorne offenen evolutionären Sequenzen löst das Problem nicht. Irgendeine „Linie“ muß das Handeln der Akteure schon finden, wenn sie – wie in Organisationen immerhin auch – aufeinander abgestimmt etwas tun sollen. Es müßte also eine Art von lockerer, aber gleichzeitig bindender Kopplung der Sequenzen geben, bei der die Akteure weder einem festen Programm folgen, noch aber auch völlig frei tun können, was sie wollen. Diese Leistung der lockeren und gleichzeitig verläßlichen Kopplung sozialer Systeme erbringen die symbolisch generalisierten Medien: eine kommunikative Sequenz, die über symbolisch generalisierte Medien zu einer festen Einheit zusammengefügt wird, ohne daß diese Einheit – wie beim Ritual – von den Akteuren selbst intendiert und überwacht würde. Generalisierte Medien – wie Geld – sorgen ja dafür, daß die strukturelle Kopplung, der „Erfolg“ und damit die Anschlußhandlung nahezu „garantiert“ werden, auch wenn die Akteure sehr verschiedene Motive und Vorstellungen haben. Dadurch erhält die Kette der Sequenzen äußerlich eine Sicherheit der Fortsetzung des Prozessierens, die der rituellen Kommunikation nicht nachsteht, aber ohne daß die Akteure irgendeine Vorstellung über das „System“ haben müßten. Genau das aber ist die spezifische Leistung von Kommunikationen über die Codes der symbolisch generalsierten Medien: Sie binden die Menschen und ihr Handeln auch dann sehr fest zu sozialen Systemen zusammen, wenn die Menschen sehr unterschiedlich sind und wenn sie selbst gar keine besondere Vorstellung von der Einheit ihrer jeweiligen Beziehung, der Organisation oder der ganzen Gesellschaft haben. *** Zum Abschluß dieses wieder etwas langen Kapitels über ein allerdings besonders wichtiges Thema der Soziologie seien die drei Formen der Interaktion noch einmal kurz systematisiert. Das fällt nun leichter als zu Beginn des Kapitels. Unterschieden wurden Koorientierung, symbolische Interaktion und Kommunikation. Die Unterscheidung folgte den drei Mechanismen, die die jeweilige Leistung tragen: die Empathie und gedankliche Koordination leitet die Koorientierung, Gesten und Symbole die symbolische Interaktion und die verschiedenen Medien, mündliche Sprache, Schrift, symbolisch generalisierte Medien, die Kommunikation. Dies ist in Abbildung 8.5 skizziert.
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Mechanismus Empathie Gesten/Symbole Medien
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Koorientierung x
Symbolische Interaktion x x
Kommunikation x x x
Abb. 8.5: Das hierarchische Verhältnis von Koorientierung, symbolischer Interaktion und Kommunikation
Die drei Formen der Interaktion bauen in gewisser Weise hierarchisch aufeinander auf: Jede symbolische Interaktion ist auch Koorientierung. Und jede Kommunikation beruht auch auf symbolischer Interaktion und damit ebenfalls auf Koorientierung. Anders gesagt: Kommunikation allein etwa über Sprache, Schrift oder das Medium Geld ist unmöglich. Immer werden mit sprachlichen Akten oder mit einem Geldschein auch symbolische Gesten getauscht und an ein reiches Hintergrundverständnis angeknüpft. Alleingelassen mit einem Notenblatt ohne jedes Vorwissen darüber, was eine „Sonate“ ist, könnte kein Orchester der Welt „vom Blatt“ spielen. Und ohne ihre gemeinsame Biographie hätten sich der Student und seine Frau aus dem Experiment zu Beginn dieses Kapitels mit noch so vielen Worten nichts zu sagen gehabt.
Exkurs über die Frage, ob sich Kommunikationen als Kette von Handlungen rekonstruieren und erklären lassen Wer in der Soziologie über Kommunikation spricht, kommt an Niklas Luhmann und seiner Theorie sozialer Systeme nicht vorbei. Wir haben uns in dem letzten Kapitel in weiten Teilen ohne Probleme und mit großem Gewinn darauf stützen können, aber nicht in allen. Insbesondere zwei Besonderheiten seiner Konzeption haben viel Verwirrung gestiftet: der Gedanke, daß die agierenden Menschen Umwelten der Kommunikation bzw. der sozialen Systeme seien, und die Behauptung, daß Kommunikation sich eben nicht als Sequenz kommunikativer Handlungen erklären lasse. Wir müssen, gerade weil die soziologische Kommunikationstheorie den Beiträgen Luhmanns viel verdankt, kurz darauf eingehen und die drohenden Mißverständnisse bereinigen – damit angesichts der aus unserer Sicht unnötigen Irritationen die vielen wichtigen
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Einsichten der Theorie sozialer Systeme von Niklas Luhmann nicht verschüttet werden. Wir beginnen mit der These von den Menschen als – anregende wie gleichzeitig gefährdende – Umwelt der Kommunikation und der durch sie erzeugten sozialen Systeme. Die Sache ist eigentlich recht einfach. Es stimmt zwar: Geht man von dem vorgestellten Idealablauf eines bestimmten Modells der Kommunikation – ein perfektes Abendessen zu zweit, eine reibungslose Betriebsversammlung, ein Doppelpaß mit blindem Verstehen wie aus dem Lehrbuch – aus, dann können die fehlbaren Menschen ja tatsächlich nur davon abweichen und so das vorgestellte ideale Modell der Kommunikation gefährden. Abweichungen von Vorstellungen, die die Menschen, die er etwas abstrahierend psychische Systeme nennt, haben, meint Niklas Luhmann aber eben nicht. Sondern: Es ist seiner Meinung nach die Kommunikation selbst, die sich „von sich selbst“ ein Modell anfertigt, sich auf die Einhaltung dieses Modells dann selbst beobachtet, kontrolliert und sich so gewissermaßen aus sich selbst heraus herstellt und dabei die Akteure nur als notwendiges Material benötigt, etwa so wie die Menschen die Luft zum Atmen als Voraussetzung ihres Handelns brauchen, die Luft aber keine relevante Variable für die Erklärung des Handelns ist. Die von den Akteuren gedanklich vorgestellten Modelle der Kommunikation nennt Luhmann auch Selbstbeschreibungen des sozialen Systems und – irritierenderweise – manchmal auch „Handlungen“ (vgl. dazu auch schon Abschnitt 6.2 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). In der Sprache der soziologischen Systemtheorie hört sich das bei Niklas Luhmann so an: „Auf der Basis des Grundgeschehens Kommunikation und mit ihren operativen Mitteln konstituiert sich ein soziales System demnach als Handlungssystem. Es fertigt in sich selbst eine Beschreibung von sich selbst an, um den Fortgang der Prozesse, die Reproduktion des Systems zu steuern. Für Zwecke der Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung wird die Symmetrie der Kommunikation asymmetrisiert, wird ihre offene Anregbarkeit durch Verantwortlichkeit für Folgen reduziert. Und in dieser verkürzten, vereinfachten, dadurch leichter faßlichen Selbstbeschreibung dient Handlung, nicht Kommunikation, als Letztelement.“ (Luhmann 1984, S. 227f.)
Und: „ ... Handlung wird in sozialen Systemen über Kommunikation und Attribution konstituiert als eine Reduktion der Komplexität, als unerläßliche Selbstsimplifikation des Systems.“ (Ebd., S. 191)
Deshalb gelte: „Als Ausgangspunkt ist festzuhalten, daß Kommunikation nicht als Handlung und der Kommunikationsprozeß nicht als Kette von Handlungen begriffen werden kann.“ (Ebd., S. 225)
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Wie bitte? Die Selbstbeschreibung eines sozialen Systems als System von sich selbst simplifizierenden „Handlungen“ entsteht also nach Luhmann dadurch, daß das soziale System in seinem Prozessieren gewissermaßen erschrocken innehält, sich über sich selbst Rechenschaft ablegt und sich darum sorgt, was jetzt schief gehen könnte. Daraufhin fertigt es flugs innerlich ein Modell von sich an, auf das es sich dann selbst bezieht, bei dem was nun geschieht. Das soziale System vereinfacht sich so die Abläufe: Der zunächst symmetrisch erscheinende Vorgang der Kommunikation wird über das Modell in durchschaubare asymmetrische Sequenzen zerlegt, mit ihm werden Verantwortlichkeiten vereinfachend zugeschrieben, und alles wird mit Anhaltspunkten markiert, an denen sich „die“ Kommunikation angesichts der Offenheiten und Kontingenzen des Prozesses orientieren kann. Man muß sich, um die zunächst doch sehr merkwürdigen Vorstellungen der soziologischen Systemtheorie verständlich zu finden, etwa ein Gremium von Richtern, Gutachtern oder Prüfern vorstellen, die nicht genau wissen, was sie tun sollen, aber gezwungen sind, zu einem Ergebnis zu kommen, erst einmal alle durcheinander sind und entsprechend auch reden. Die Komplexität der für ein Ergebnis nötigen kommunikativen Sequenzen ist nur zu bewältigen, wenn das Gremium zu solchen Vereinfachungen findet, den Prozeß der Kommunikation in die Gußformen eines allen bekannten Modells gießt und das Geschehen damit als eine „Handlung“, die alle irgendwie verstehen – „Urteilsberatung“, „Prüfung“, „Konferenz“ zum Beispiel – ausflaggt und für alle somit wieder überschaubar macht
Ganz ohne Zweifel ist es wichtig, das kommunikative Geschehen einerseits und die Selbstbeschreibungen der Akteure darüber andererseits zu unterscheiden. Und wer wollte bestreiten, daß die „Selbstbeschreibungen“ von sozialen Systemen als vorgestellte Modelle wiederum für die faktischen Akkordierungen der kommunikativen Akte außerordentlich bedeutsam sind? Aber heißt das denn auch, daß die Kommunikation oder die sozialen Systeme von „sich“ aus diese Selbstbeschreibungen anfertigen und auf Einhaltung kontrollieren? Vielleicht. Niemand hat bisher aber zeigen können, daß Gesellschaften, Städte, Familien oder Partygespräche „selbst“ etwas tun. Soziale Prozesse und Gebilde entwickeln vielleicht gewisse Eigendynamiken. Aber das zwingt in keiner Weise zur Annahme, ihnen eine eigene Handlungsfähigkeit, Intentionalität und Subjektivität zuzusprechen. Einsichtiger, einfacher und weniger von der bekannt unseligen Metaphysik des soziologischen Kollektivismus belastet ist daher die folgende Annahme: Es ist nicht die Kommunikation höchstpersönlich, die irgendwie „vor“ den kommunikativen Akten der Akteure besteht und die dann durch die Unzulänglichkeiten der Menschen in Gefahr gerät. Sondern: Kommunikation und soziale Systeme sind nichts weiter als emergente Effekte der Selektionen von Menschen und der von ihnen nicht immer kontrollierten strukturellen Kopplungen. Der einzige Ort, wo die sozialen Systeme als Modell kommunikativer Se-
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quenzen und als „Handlung“ existieren, sind die Köpfe der individuellen Menschen. Und es sind immer nur Menschen, die Beschreibungen von sozialen Systemen anfertigen, ihr Handeln darauf ausrichten und kontrollieren, daß auch die anderen das tun – nicht immer freilich bewußt und beabsichtigt. Wenn dies aber auseinander gehalten wird und wenn man – in Gottes Namen – die ablaufenden kommunikativen Akte und die strukturellen Kopplungen einerseits und die Orientierung der Akteure an Modellen der Kommunikation als „Handlungen“ andererseits unterscheidet, dann lassen sich Kommunikationen und soziale Systeme sogar leicht als Ketten, zwar nicht von „Handlungen“, aber von kommunikativen Akten, von Selektionen durch Akteure, rekonstruieren. Bei diesen Selektionen helfen die „Handlungen“ den Menschen als simplifizierende und so auch koorientierende und koordinierende Schellingpunkte über die vielen Untiefen der doppelten und mehrfachen Kontingenzen der Interaktion hinweg. Und mit den an „Handlungen“ orientierten kommunikativen Akten bestärken sich die Akteure jeweils wieder in den Vorstellungen der „Handlungen“ und darüber dann wieder in ihrer Identität als psychische Systeme.
Kapitel 9
Soziale Beziehungen
Eine soziale Beziehung ist, so hatten wir in Kapitel 1 dieses Bandes mit Max Weber festgehalten, eine Orientierung, mit der sich die Akteure in einer sozialen Situation in ihrem Handeln gegenseitig aufeinander „einstellen“. Wir wiederholen, wegen ihrer Bedeutung, noch einmal die einschlägige Definition von Max Weber dazu: „Soziale ‚Beziehung‘ soll ein seinem Sinngehalt nach aufeinander gegenseitig eingestelltes und dadurch orientiertes Sichverhalten mehrerer heißen.“1
Diese Einstellung haben die Akteure bereits vor dem Eintreten in die Situation. Sie wird also nicht – wie unter gewissen Umständen bei einer Koorientierung, bei einer symbolischen Interaktion oder einer Kommunikation – erst in der Situation durch die Akteure neu definiert oder mühsam „ausgehandelt“. Max Weber zählt eine Reihe von Beispielen für solche vorab inhaltlich definierten sozialen Beziehungen auf: „ ... Kampf, Feindschaft, Geschlechtsliebe, Freundschaft, Pietät, Marktaustausch, ‚Erfüllung‘ oder ‚Umgehung‘ oder ‚Bruch‘ einer Vereinbarung, ökonomische oder erotische oder andre ‚Konkurrenz‘, ständische oder nationale oder Klassengemeinschaft ... .“ (Ebd.)
Die Einstellungen, die die sozialen Beziehungen ausmachen, müssen nicht immer von allen Beteiligten komplett gewußt oder geteilt werden. Wichtig ist nur, daß es eine, von einem externen Beobachter angebbare „Chance“ gibt, daß sich die Akteure an den jeweiligen sozialen Regeln, an der jeweiligen Maxime, der jeweiligen Codierung, den Leitmotiven, den Normen, sozialen Drehbüchern und Handlungsprogrammen u.a. orientieren können, die den Inhalt der Einstellung ausmachen. Eine derart verstandene soziale Beziehung existiert nur, insoweit es diese Chance gibt:
1
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Tübingen 1972 (zuerst: 1922), S. 13; Hervorhebungen so nicht im Original).
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„Die soziale Beziehung besteht also durchaus und ganz ausschließlich: in der Chance, daß in einer (sinnhaft) angebbaren Art sozial gehandelt wird, einerlei zunächst: worauf diese Chance beruht.“ (Ebd., S. 13; Hervorhebungen im Original)
Die Einstellungen und die damit verbundenen Regeln, die eine soziale Beziehung konstituieren, beinhalten, wie es bei Max Weber dann so schön altertümlich heißt, den „ ... Sinngehalt, welcher eine soziale Beziehung perennierend konstituiert ... .“ (Ebd., S. 14; Hervorhebung im Original)
Dieser dauerhafte, nicht an das aktuelle Aufeinandertreffen gebundene, Sinngehalt „ ... kann in ‚Maximen‘ formulierbar sein, deren durchschnittliche oder sinnhaft annähernde Innehaltung die Beteiligten von dem oder den Partnern erwarten und an denen sie ihrerseits (durchschnittlich und annähernd) ihr Handeln orientieren.“ (Ebd.; Hervorhebung im Original)
Die Maximen fassen die normierten und als stabil geltend angenommenen Erwartungen zusammen, unter denen die „Beziehung“ definiert ist, und mit welcher Orientierung, mit welchen Gefühlen und mit welchem sichtbaren Handeln die Akteure gegenseitig zu rechnen haben. Insbesondere legen die Maximen die jeweiligen Oberziele fest, um die es in der betreffenden sozialen Beziehung geht. Es sind die Codes der Situation, von denen – beispielsweise – im Zusammenhang mit den symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien gesprochen wurde. In die Einstellungen eingebaut sind immer aber auch Vorstellungen über typischerweise erlaubte, vorgeschriebene oder verbotene Handlungsabläufe – die Programme des Handelns in einer als soziale Beziehung definierten sozialen Situation. Kurz: Eine soziale Beziehung bezeichnet eine von den Akteuren vorab gewußte und in der Situation – mehr oder weniger – automatisch aktivierte Einstellung über einen typischen Code der Situation und über ein typisches Programm des Handelns darin. Es ist eine „Handlung“ in dem Sinne, wie wir dies in Abschnitt 6.2 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ definiert hatten. Die inhaltliche Codierung einer bestimmten sozialen Beziehung ist somit nichts anderes als der gemeinsam geteilte Bezugsrahmen, unter dem das soziale Handeln dann jeweils steht. Der jeweilige Typ der sozialen Beziehung entspricht den Me-Sektoren der Identität der Akteure, über die sie sich beim sozialen Handeln koordinieren. Die sog. sozialen Rollen und die sozialen Drehbücher sind die wohl wichtigsten Beispiele für eine derart verstandene soziale Beziehung als institutionell definiertes soziales Handeln (vgl. auch noch Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
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Die wichtigste Folge der Regelung einer sozialen Situation über die Orientierung an eine institutionalisierte „soziale Beziehung“ wurde in Kapitel 1 in diesem Band bereits genannt: Die „Parametrisierung“ der sozialen Situation von einer Situation des strategischen Handelns zu einem einfachen Spiel gegen die Natur. Ohne die Einbettung auch des strategischen Handelns und – insbesondere – der Interaktionen, sei es als Koorientierung, als symbolische Interaktion oder als Kommunikation, in eine solche übergreifende und vorab geltende Orientierung wäre ein geregeltes soziales Handeln, wären eine einigermaßen kostengünstige Produktion und Reproduktion, wäre die Gesellschaft, nicht denkbar. Das bei sozialen Beziehungen in einem Kollektiv von Akteuren geteilte gemeinsame Wissen erlaubt es ihnen, gerade wegen dieser institutionellen Parametrisierung der Situation, ganz problemlos auch in sehr komplexen sozialen Situationen der doppelten Kontingenz ihre „Rolle“ zu spielen. Auf diese Weise treten Schach- und Fußballspieler, die Mitglieder eines Streichquartetts, jung Verliebte und Geschäftsleute, Arbeitgeber und Arbeitnehmer u.a. relativ problemlos und ohne viel Aufhebens in eine „soziale Beziehung“ zueinander – auch in solche mit widerstreitenden Interessen und Konflikten.
Die Regeln, unter denen die sozialen Beziehungen jeweils definiert sind, geben somit auch die Bedingungen an, wann davon gesprochen werden kann, daß eine bestimmte Beziehung oder ein bestimmtes Gebilde – eine Freundschaft oder eine Ehe etwa – besteht oder nicht. Kurz: Soziale Beziehungen sind durch den sozialen Sinn einer institutionellen Regel definiert. Und es „gibt“ sie, sofern die beteiligten Akteure die betreffende Einstellung aktiviert haben und sich in ihrem Handeln daran gegenseitig orientieren. Eine bestimmte soziale Beziehung entsteht oder verfällt daher auch genau dann, wenn der betreffende Sinngehalt die Akteure orientierend leitet oder es nicht mehr tut (vgl. dazu auch schon Kapitel 1 in Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, über „Emergenz und Transformation“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Der einmal definierte Sinngehalt einer sozialen Beziehung kann sich natürlich auch ändern: Eine politische Beziehung zwischen Parteifreunden aus dem Modell „Solidarität“ kann von einer Interessenkollision überlagert werden, etwa wenn es um die Posten geht. Und sofort wird dann deutlich, daß es neben den institutionellen Regeln noch etwas anderes gibt und daß die zuvor als parametrisch angesehene Situation plötzlich strategisch geworden ist: die strategischen Interdependenzen der Akteure, die sich alleine aus dem Interesse und aus der Kontrolle der Akteure an den für sie wichtigen Ressourcen ergeben. Und dann kann ein anderes institutionell definiertes Modell sich in den Vordergrund drängen, das die neue Situation nun definiert und eine ganz andere Art der sozialen Beziehung etabliert: Feind, Todfeind, Parteifreund.
Die funktionalen Sphären einer Gesellschaft mit ihren typischen Codes und Programmen bilden die wohl wichtigsten gesellschaftlichen Rahmungen für die Definition des Sinngehaltes bestimmter sozialer Beziehungen, an denen sich die Akteure im Geltungsbereich der jeweiligen funktionalen Sphäre orientieren. Aber nicht nur die funktionalen Sphären oder die verschiedenen kulturellen und ständischen Milieus mit ihren speziellen Codes und Programmen,
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sondern auch komplette soziale Gebilde und ganze soziale Prozesse können als Komplexe und „Orte“ von derart institutionell geregelten sozialen Beziehungen aufgefaßt werden. Mehr noch: Sie bestehen nur über die gegenseitigen „Einstellungen“ der Akteure, unter dem jeweiligen Code und Programm zu handeln. Wie immer, wenn Sie es nicht gleich glauben wollen, hilft vielleicht wieder ein Weber-Zitat: „Die soziale Beziehung besteht, auch wenn es sich um sogenannte ‚soziale Gebilde‘ wie ‚Staat‘, ‚Kirche‘, ‚Genossenschaft‘, ‚Ehe‘ usw. handelt, ausschließlich und lediglich in der Chance, daß ein seinem Sinngehalt nach in angebbarer Art aufeinander eingestelltes Handeln stattfand, stattfindet oder stattfinden wird.“ (Ebd., S. 13; Hervorhebungen so nicht im Original)
„Staat“, „Kirche“, „Genossenschaft“, „Ehe“ und „Scheidung“, eine „ethnische Gruppe“ und eine „Nation“, eine „Revolution“ oder eine „soziale Bewegung“, ein „Begräbnis“, ein „date“, ein „Stand“ und ein „Lebensstil“ oder eine „Szene“, sogar eine gemeinsam geteilte „Biographie“ usw. „sind“ allesamt nichts weiter als Muster sozial definierter Beziehungen, die die Akteure als Modelle, mehr oder weniger genau, in ihrem Kopfe haben, die sie teilen, und an denen sie sich – wie bei einem Spiel gegen die Natur – in ihrem Umgang ganz „automatisch“ und ohne weitere Reflexion orientieren. Und die Gebilde und ihr jeweils besonderer sozialer Sinn „bestehen“ nur dann und solange, wie es die Einstellungen und das daran gegenseitig orientierte Handeln gibt. „Soziale Beziehungen“ sind somit die fiktiven „Handlungen“, die modellhaften „Selbstbeschreibungen“, mit denen die Akteure sich gegenseitig die sozialen Situationen vereinfachen und „anzeigen“ und so – deutlich entlastet – miteinander umgehen, die sozialen Systeme mit Leben erfüllen, nein: sie damit „konstituieren“. Oft genug versuchen die Akteure – mitunter ganz verzweifelt, weil die Sache nicht so recht gelingen will –, die fiktiven Orientierungen in den vorgestellten „Handlungen“ der ihnen vorschwebenden „sozialen Gebilde“ in die Tat umzusetzen: eine patriarchalische Ehe, die nicht gelingen will, eine Trauerrede, die ins Stocken gerät, oder die Rolle eines Prorektors, dem diese Rolle nach kurzer Zeit mächtig auf die Nerven geht, zum Beispiel. Aber das wußten wir ja nicht erst von Niklas Luhmann: Die Vorstellungen über bestimmte soziale Systeme sind das eine, das fehlbare und kostenträchtige Tun der Menschen das andere. Die Verwirklichung der Orientierung, die eine soziale Beziehung ausmacht, muß ja nicht immer gelingen. In der etwas seltsamen Sprache der soziologischen Systemtheorie hieß das: Die handelnden Akteure sind die Umwelten der sozialen Beziehungen (vgl. dazu schon Abschnitt 8.3 oben in diesem Band). Und nicht immer sind sie – in der Tat – den Ansprüchen der Fiktionen in den sozialen Beziehungen gewachsen. Und sie „gefährden“ damit das Gelingen der betreffenden sozialen Beziehung.
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Der Sinngehalt einer sozialen Beziehung erhält, wie jeder „Sinn“, den die Akteure als „sinnhaft“ einsehen, seine orientierende Kraft – letztlich – durch seine problemlösenden Funktionen. Es ist die Frage nach der von den Akteuren empfundenen Legitimität von institutionellen Regeln ganz allgemein. Oft ändern sich natürlich die Interessen und die Möglichkeiten. Und dann ändert sich auch das Erlebnis des „Sinns“ des Sinngehaltes einer sozialen Beziehung und der Orientierung des Handelns daran. Und so kann es kommen, daß ein Sinngehalt einer bestimmten „sozialen Beziehung“, der einmal sehr überzeugend war, mehr und mehr verblaßt und schließlich ganz unverständlich wird, so daß es die betreffende soziale Beziehung als Institution nur noch in der Erinnerung gibt: die – allesamt ehemals von allen Beteiligten als sinnvoll und legitim angesehenen – Beziehungen etwa zwischen Feudalherren und Leibeigenen, die Institution der Blutrache oder die erwähnte patriarchalische Ehe zum Beispiel, deren „Maximen“ und deren sozialer Sinn den Menschen heute schon sehr fremd vorkommen muß. Die Erklärung des Entstehens, des Bestehens, des Wandels und des Verfalls sozialer Beziehungen ist damit eine Frage, die sehr viel allgemeiner zu stellen ist. Es ist die Frage nach der Entstehung, dem Bestehen, dem Wandel und dem Zerfall sozialer Institutionen ganz generell. Darauf kommen wir noch ausführlich zurück, in Band 5, „Institutionen“, und Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“ (vgl. dazu aber auch noch Kapitel 11 gleich unten in diesem Band). Hier können wir uns damit begnügen, zu beschreiben, was eine soziale Beziehung eigentlich „ist“: ein „Modell“ des Umgangs der Menschen miteinander.
Kapitel 10
Transaktion
Als Transaktion werden alle Aktivitäten im Zuge der kooperativen Produktion und der Verteilung von Gütern bezeichnet. Der Kern jeder Transaktion ist der Tausch. Ein Tausch ist – ganz allgemein – das gegenseitige Geben und Nehmen von wertvollen und interessanten Ressourcen. Fast alles, was Menschen in sozialen Situationen tun, ist danach Transaktion und Tausch, auch das „Austauschen“ von Gedanken, Gesten und Informationen.1 Transaktion und Tausch sind auch eine Form des sozialen Handelns, die für das gesellschaftliche Leben wohl wichtigste sogar. Sie sind, glaubt man dem Klassiker der soziologischen Tauschtheorie, Georg Simmel, sogar der Kitt, der alle Gesellschaften zusammenhält:
1
Die soziologische Theorie des Tausches umfaßt nahezu alle zentralen Themen und Probleme der Soziologie. Daher alleine war – und ist – sie ein Spielplatz für die Anwendung der soziologischen Theorie insgesamt. Zu ihrer Entwicklung vgl. u.a.: George C. Homans, Social Behavior as Exchange, in: American Journal of Sociology, 63, 1958, S. 597-606; John W. Thibaut und Harold H. Kelley, The Social Psychology of Groups, New York, London und Sydney 1959; Peter M. Blau, Exchange and Power in Social Life, New York, London und Sydney 1964; Peter M. Blau, Interaction: Social Exchange, in: David L. Sills (Hrsg.), International Encyclopedia of the Social Sciences, Band 7, New York und London 1968, S. 452-458; George C. Homans, Elementarformen sozialen Verhaltens, 2. Aufl., Opladen 1972c; Peter P. Ekeh, Social Exchange Theory. The Two Traditions, London 1974; Viktor Vanberg, Die zwei Soziologien, Individualismus und Kollektivismus in der Sozialtheorie, Tübingen 1975, Kapitel 3; Richard M. Emerson, Social Exchange Theory, in: Annual Review of Sociology, 2, 1976, S. 335-362; Anthony Heath, Rational Choice and Social Exchange. A Critique of Exchange Theory, Cambridge u.a 1976, Teil I; Karen S. Cook (Hrsg.), Social Exchange Theory, Newbury Park, London und New Delhi 1987; Marvin Harris, Kulturanthropologie. Ein Lehrbuch, Frankfurt/M. und New York 1989, Kapitel 6; Peter Kappelhoff, Soziale Tauschsysteme. Strukturelle und dynamische Erweiterungen des Marktmodells, München 1993, Kapitel 1-3.
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Soziales Handeln
„Das Geben überhaupt ist eine der stärksten soziologischen Funktionen. Ohne daß in der Gesellschaft dauernd gegeben und genommen wird – auch außerhalb des Tausches – würde überhaupt keine Gesellschaft zustande kommen.“2
Ihre gesellschaftlich-bindende Funktion beziehen Transaktion und Tausch dadurch, daß über sie die zunächst „reinen“ Psychen der Menschen in eine sachliche Beziehung zueinander treten, die immer einen festeren Grund hat als jede bloße Seelenverwandtschaft: „Der Tausch ist die Sachwerdung der Wechselwirkung zwischen Menschen. Indem einer eine Sache gibt und der andre eine Sache zurückgibt, welche denselben Wert hat, hat sich die reine Seelenhaftigkeit der Beziehungen zwischen den Menschen herausprojiziert in Gegenstände, und diese Versachlichung der Beziehung, das Hineinwachsen ihrer in die Dinge, welche hinund herwandern, wird so vollkommen, daß ... überhaupt jene persönliche Wechselwirkung ganz und gar zurücktritt ... .“ (Ebd., S. 443; Hervorhebungen nicht im Original)
Beim sozialen Handeln waren in Kapitel 1 oben in diesem Band drei „reine“ Typen unterschieden worden: strategisches Handeln, Interaktion und soziale Beziehung. Transaktionen verbinden, obwohl sie zuerst immer durch „Sach“Beziehungen motiviert sind, stets Eigenschaften aller drei dieser „reinen“ Typen des sozialen Handelns. Immer sind Interessen, aber auch Wissen, Symbole und Medien, soziale Regeln und kulturelle Modelle von sozialen Beziehungen beteiligt. Eine konkrete Transaktion vollzieht sich in jeweils unterschiedlicher Gewichtung davon: Manche sind mehr strategisches Handeln, manche mehr Interaktion, manche mehr soziale Beziehung. Meist werden Transaktion und Tausch auf „freiwillige“ Akte des sozialen Handelns beschränkt: „‚Social Exchange‘ ... refers to voluntary actions of individuals that are motivated by the returns they are expected to bring and typically do in fact bring from others.“ (Blau 1964, S. 91; Hervorhebungen nicht im Original)
Das ist, so scheint es, eine naheliegende Feststellung. Es ist aber schwer zu sagen, wo die Grenze zwischen einem freiwilligen und einem unfreiwilligen Tausch liegt. Einfacher und allein deshalb sinnvoller ist es, Transaktion und Tausch ganz allgemein als Geben und Nehmen aufzufassen, und die Freiwilligkeit als einen – nicht immer vorliegenden – Spezialfall zu sehen. So können Transaktionen auch unter äußerem Zwang und bei einer verinnerlichten Moral – freilich auch als sehr spezielle Extremfälle – dazu gezählt werden: Wer einem Räuber, der Geld oder Leben fordert, die Brieftasche gibt, tauscht ohne Zweifel etwas: sein Geld gegen den Erhalt des Lebens. Und der hochherzige 2
Georg Simmel, Exkurs über Treue und Dankbarkeit, in: Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, 5. Aufl., Berlin 1968b (zuerst: 1908), S. 444.
Transaktion
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Spender, der seiner inneren Stimme des Mitleids folgt, spekuliert zwar vielleicht wirklich nicht auf den dankbaren Hundeblick des Bettlers, aber er „tauscht“ seine Almosen auch mit einem „Anderen“: mit dem generalisierten Anderen in seinem Inneren. Als Gegenleistung erhält er von dem dann den Himmelslohn des guten Gewissens und die Beruhigung, daß alles weiter seine gute Ordnung hat. Transaktion und Tausch bedeuten ganz allgemein die gegenseitige Übertragung der Kontrolle über interessante Ressourcen. Alle möglichen Dinge gehören dazu: der Austausch beispielsweise von „ ... material objects such as a dress, a flower or a bottle of wine, money and equivalent forms of payment, a kiss, a medical or beauty treatment, a newspaper, a congratulatory handshake, a glance of admiration or reproach, a pat on the back, or a punch on the nose.“3
Tausch und Transaktion sind jedoch nicht dasselbe: Die Aktivitäten bei den Transaktionen werden weiter gefaßt als die des Tausches. Zu den Transaktionen gehören auch alle möglichen strategischen, gedanklichen, symbolischen und kommunikativen Begleitaktivitäten bei der wechselseitigen Übertragung der Ressourcen und Leistungen eines Tausches im engeren Sinn: „Those transactions include not only what is normally thought of as exchange ... . These include bribes, threats, promises, and resource investments. It is through these transactions, or social interactions, that persons are able to use the resources they control that have little interest for them to realize their interests that lie in resources controlled by other actors.“4
Besonders bei Verhandlungen, einer speziellen Variante des Tausches (vgl. dazu noch Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“) werden diese Begleitaktivitäten wichtig: Wer beispielsweise glaubhaft drohen kann, hat beim Tausch die besseren Karten. Transaktion und Tausch sind – wie jedes andere soziale Handeln – ein emergenter Vorgang des Handelns individueller Akteure: Erst wenn die Leistung eines Akteurs durch die Gegenleistung eines anderen Akteurs beantwortet ist, „gibt“ es die Transaktion bzw. den Tausch als kollektives Ereignis. Transaktionen und Tauschakte beruhen damit stets – wie alles andere soziale Handeln auch – auf Entscheidungen der individuellen Akteure und der Aggregation dieser Entscheidungen zu dem kollektiven Ereignis, dem Gelingen oder dem Mißlingen einer Transaktion (vgl. dazu schon Kapitel 1 in Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Und 3
4
Edna B. Foa und Uriel G. Foa, Resource Theory: Interpersonal Behavior as Exchange, in: Kenneth J. Gergen, Martin S. Greenberg und Richard H. Willis (Hrsg.), Social Exchange. Advances in Theory and Research, New York und London 1980, S. 78. James S. Coleman, Foundations of Social Theory, Cambridge, Mass., und London 1990, S. 29.
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Soziales Handeln
sofort stellt sich wieder die Frage: Was bringt die Akteure dazu, genau jene individuellen Entscheidungen zu treffen, die zur Emergenz einer Transaktionsbeziehung notwendig sind? Die Antwort wollen wir gleich hier schon geben: Es sind – bei allen normativen Vorgaben, bei allen kulturellen Maskeraden und bei allen symbolischen und strategischen Begleiterscheinungen – die Gewinne aus der Transaktion, die die Akteure dazu treibt, aufeinander zuzugehen und sich gegenseitig mit gewissen Leistungen zu versorgen, die sie für ihr eigenes Leben brauchen. Das muß in keiner Weise heißen, daß jeder gleich viel erhält, daß Leistung und Gegenleistung immer sofort ausgeglichen würden oder daß es keine Liebe unter den Menschen gäbe. Aber nur vor dem Hintergrund der möglichen Gewinne aus der Transaktion werden das strategische Handeln, die Formen der Interaktion und die sozialen Beziehungen verständlich, die die Transaktionen begleiten. Das gilt – zum Beispiel – für einfache ökonomische Transaktionen etwa eines Gebrauchtwagens gegen Cash auf die Hand bei einem windigen Straßenhändler; für das gegenseitige Schreiben von Weihnachtskarten an Bekannte, die sich nur selten sehen; für die nur widerwillige, aber aus Mangel an besseren Alternativen hingenommene Unterordnung eines Untergebenen unter das drückende Regime eines ätzenden Chefs; für die Einladung zum Abendessen an eine vielversprechende, aber bislang leider nur flüchtige Bekannte, die sie zwar gerne annimmt, aber nur mit den deutlich weniger vielversprechenden Worten „ ... also dann bis bald mal, vielleicht ... .“ erwidert; für das Abhalten eines Festgelages zum Geburtstag, bei dem die einkommenden Geschenke bei weitem den Aufwand nicht aufwiegen, aber alles getan wird, damit auch alle Gäste nicht nur zufrieden, sondern sogar etwas beschämt und neidisch sind; wie auch etwa für den Tausch von Frauen zwischen bestimmten Indianerstämmen, die sich Heiratsregeln und Inzesttabus zugelegt haben, angesichts derer die heiratslustigen jungen Indianer gezwungen sind, gegenseitig über ihre Stammesgrenzen hinaus auf Brautschau zu gehen, wollen sie nicht alleine bleiben oder etwas sehr Verbotenes tun.
Letztlich beruhen sämtliche Formen von Transaktionen auf den Interessen der Menschen an bestimmten Ressourcen und auf der nicht immer mit diesen Interessen übereinstimmenden Kontrolle dieser Ressourcen. Transaktionen sind die, auch strategisch eingesetzte, Reaktion der Menschen auf ihre zuerst materiell bedingte Interdependenz, umgeben, begleitet und durchdrungen dabei von zahllosen kulturellen Anhaltspunkten gegenseitig unterstellter „sozialer Beziehungen“ und von Akten der Koorientierung, der symbolischen Interaktion und der Kommunikation.
10.1 Die Transaktion des Tausches Der Tausch ist, so haben wir oben festgehalten, der Kern jeder Transaktion. Er besteht in der wechselseitigen Übergabe von Ressourcen aller Art. Es gibt ihn in vielen unterschiedlichen Formen und für sehr verschiedene Arten von Ressourcen, aber es gibt ihn überall und zu jeder Zeit der Existenz menschli-
Transaktion
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cher Gesellschaften. Einige der wichtigsten Konzepte der Soziologie und einige der interessantesten institutionellen, kulturellen und moralischen Erfindungen des Menschen werden erst vor dem Hintergrund der Transaktionsform des Tausches verständlich: Geld, Macht, Status und Autorität, Herrschaft, Gerechtigkeit, Hingabe, Verpflichtung und Vertrauen, selbst die Sprache, zum Beispiel. Das Verständnis der Transaktion des Tausches ist der Schlüssel zum Verständnis der Gesellschaft. 10.1.1 Der elementare Vorgang des Tausches Die elementarste und einfachste Form des Tausches besteht in der unmittelbaren wechselseitigen Übergabe der Kontrolle über Ressourcen zwischen zwei Akteuren – zum unmittelbaren Vorteil beider. Peter M. Blau hat in einer seiner berühmtesten Studien, „The Dynamics of Bureaucracy“, beschrieben, wie und warum eine solche einfache Transaktion von unmittelbarer Leistung und Gegenleistung entstehen kann.5 Der Ausgangspunkt war die Beobachtung, daß sich die Mitarbeiter in einem Büro entgegen den offiziellen Vorschriften nicht vorzugsweise an ihren Vorgesetzten wandten, wenn sie ein Problem hatten, sondern an bestimmte Kollegen im Nachbarzimmer. Warum sie das taten, war klar: Niemand gesteht gerne einem Vorgesetzten seine Inkompetenz ein. Um Rat gefragt wurde auch erst dann, wenn es sich um ein wichtiges oder um ein alleine nur schwer lösbares Problem handelte. Auch dafür ist der Grund einsichtig: Man unterbricht nicht gerne einen Kollegen wegen einer Lappalie, und wenn man ihm dauernd mit Kleinigkeiten kommt, ist er vielleicht sauer, wenn es wirklich etwas Wichtiges zu besprechen gibt.
Aber warum läßt sich der um Rat angegangene Kollege in seiner Arbeit unterbrechen und geht der Bitte auch nach? Die Antwort war in dem beschriebenen Fall offenkundig: Wer um Rat gebeten wurde, fühlte sich geschmeichelt. Einer der derart begehrten Angestellten formulierte das so: „‚I like giving advice. It’s flattering, I suppose, if you feel that the others come to you for advice‘.“ (Blau 1955, S. 108)
Kurz: Es wird guter Rat gegen Anerkennung getauscht. Und beide haben etwas davon: Der um Rat suchende Akteur kann sein Problem besser lösen, und der um Rat gebetene Akteur gewinnt Anerkennung und Prestige. So entsteht die Transaktion einer Konsultation unter Kollegen im Büro als elementarer Tausch:
5
Peter M. Blau, The Dynamics of Bureaucracy, Chicago 1955, S. 105ff.
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Soziales Handeln
„A consultation can be considered an exchange of values; both participants gain something, and both have to pay a price.“ (Ebd.; Hervorhebungen nicht im Original)
Weil beide etwas davon haben, gehen sie aufeinander zu. Nur die Vorschrift, bei Fragen zuerst den Vorgesetzten zu konsultieren, steht dem entgegen. Aber die ist offenbar nicht stark genug, um den Austausch von Rat gegen Anerkennung zu unterbinden. Die soziale Situation des Tausches Situationen verbinden, wie wir aus Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ wissen, Akteure mit Ressourcen über die Beziehungen des Interesses und der Kontrolle. In sozialen Situationen sind mehrere Akteure einbezogen. Ausgehend vom Modell der sozialen Situation aus Kapitel 1 in diesem Band läßt sich der elementare Vorgang des Tausches dann als eine typische Änderung in der Kontrolle über Ressourcen zwischen zwei Akteuren darstellen (vgl. Abbildung 10.1). Die beiden Akteure stehen über vier Ressourcen in Beziehung. Was sie inhaltlich bedeuten, steht in der Mitte des Diagramms. Die Pfeile symbolisieren das Interesse an und die Kontrolle über die Ressourcen. Links ist die Situation vor, rechts die nach der Transaktion des Tausches skizziert. Jeweils zwei der Ressourcen bündeln sich in besonderer Weise. Die Ressourcen 1 und 2 betreffen die Produkte der Arbeit der beiden Büroangestellten ohne jede Transaktion zwischen ihnen. R1 ist das Produkt, das A1 herstellen würde, wenn er niemanden um Rat fragen, R2 das Produkt von A2, wenn der weiter unbehelligt seine Arbeit tun würde. An diesen beiden Ressourcen haben A1 und A2 ein gewisses Interesse. Es ist ja ihr Job. Sie haben diese beiden Ressourcen auch unter ihrer Kontrolle: Das kann ihnen keiner nehmen, wenn sie weiter alleine ihre Arbeit tun. In bezug auf ihre eigene Arbeit und deren Ergebnis sind die Akteure also – in der Terminologie des Kapitels 1 in diesem Band – autonom. Das ist anders bei den Ressourcen Rr und Ra (in der Situation vor dem Tausch nach Abbildung 10.1a). Rr ist ein guter Rat, Ra eine Bezeugung sozialer Wertschätzung. An dem guten Rat hat A1 ein großes Interesse, kontrolliert ihn aber nicht. Das ist ja sein Problem. Umgekehrt ist A2 an der Anerkennung interessiert, hat sie aber nicht unter Kontrolle.
Kurz: In bezug auf die Ressourcen Rr und Ra ist jeweils einer der Akteure vom anderen abhängig. Sie sind darin gegenseitig dependent – interdependent. Und genau diese Interdependenz ist es, die sie auf den Gedanken an eine Transaktion bringt. Gedacht, getan. Die Folgen des Tausches zeigt das Diagramm in Abbildung 10.1b: Mit der Transaktion verändert sich die Kontrolle über bestimmte Ressourcen, während die Interessen die gleichen bleiben: Der Akteur A1 gibt die Kontrolle über die Anerkennung ab und verschafft damit dem Akteur A2
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Soziales Handeln
Nutzen und Kosten der Transaktion Das Interesse an einer Ressource Ri ist nichts anderes als der Nutzen Ui, den die Ressource stiftet, wenn sie ein Akteur unter Kontrolle hat (vgl. dazu schon Kapitel 1 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Es ist der Wert, den ein Akteur ihr beimißt, wenn er sie hat oder hätte. Jede der betrachteten vier Ressourcen hat einen solchen Nutzen, entsprechend dem Interesse des Akteurs daran. U1 und U2 sind der Wert der eigenen Arbeit für A1 bzw. A2. Entsprechend ist Ur der Wert des guten Rates und Ua der Wert der Anerkennung. Mit der Transaktion gewinnen beide Akteure die Kontrolle über eine für sie wertvolle Ressource. A1 verfügt dann über die Ressourcen R1 und Rr, und A2 über die Ressourcen R2 und Ra – während beide vorher nur ihre eigene Arbeit R1 bzw. R2 hatten. Der „Mehrwert“ von (U1+Ur) gegenüber bloß U1 bzw. von (U2+Ua) gegenüber nur U2 ist jeweils der maximal mögliche Gewinn für A1 bzw. A2 aus der Transaktion. Aber es gibt bei einer Transaktion nicht nur etwas zu gewinnen. Der „an sich“ durch eine einfache Umverteilung erreichbare Gewinn ist nämlich bei beiden Akteuren nicht ungeschmälert. Jeder muß auch etwas hergeben, was ihn interessiert. Der ratgebende Kollege opfert einen Teil seiner Arbeitszeit; denn guter Rat an den Kollegen ist oft teuer, wenn er darüber seine eigene Arbeit liegen läßt. Und der ergeben um Rat nachsuchende Kollege gibt – so muß man es wohl sehen – ein Stück seines Selbstbildes und seines Prestiges im Büro auf. „Soll“ es zum Tausch kommen, dann „muß“ für beide Akteure die Bilanz des Tauschgewinns und der damit verbundenen Aufwendungen positiv sein. Peter M. Blau hat dies für seinen Fall so beschrieben: „The questioning agent is enabled to perform better than he could otherwise have done, without exposing his difficulties to the supervisor. By asking for advice, he implicitly pays his respect to the superior proficiency of his colleague. This acknowledgment of inferiority is the cost of receiving assistance. The consultant gains prestige, in return for which he is willing to devote some time to the consultation and permit it to disrupt his own work.“ (Blau 1955, S. 108)
„Kosten“ sind also jene für einen Akteur interessanten Ressourcen, die er mit einer Transaktion aufgeben muß. Zwei Arten von derartigen Kosten entstehen bei Transaktionen: die unmittelbaren Kosten und die sog. Transaktionskosten. Die unmittelbaren Kosten bestehen aus der – mit den Tauschakten unvermeidlichen – Abgabe von Kontrolle über an sich für den Akteur ebenfalls interessante Ressourcen. Das wäre in unserem Beispiel der Wert Ca des Prestigeverlustes, den A1 mit dem Ersuchen um Rat und der Vergabe der Anerkennung erleidet, sowie der Verlust an wertvoller Zeit Cr, den A2 hinnehmen
Transaktion
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muß, wenn er der Bitte um Konsultation nachgibt und den Rat erteilt. Es sind jeweils Kosten, die sich unmittelbar auf einen der Akteure und seine individuellen Handlungen bei der Transaktion zurechnen lassen. Transaktionskosten sind demgegenüber diejenigen Aufwendungen, die in der Transaktion selbst begründet sind. Dazu gehört beispielsweise der Aufwand, daß sich die Partner überhaupt finden und verständigen, einschließlich der für das Gelingen der Transaktion nötigen „bribes, threats, promises“, aber auch die Übertretung des Gebotes, daß bei einem Problem nur ein Vorgesetzter zu konsultieren sei. Wenn die beiden Kollegen in dem Büro beispielsweise weit entfernt sitzen, sich nicht leiden können oder nicht die gleiche Sprache sprechen, oder wenn das bürokratische Gebot streng überwacht und eine Übertretung schwer geahndet wird, sind die Kosten der Transaktion deutlich höher, als wenn sie nahe beieinander sitzen und sich gut verstehen oder wenn es keinen stört, daß die Vorgesetzten umgangen werden. Aus Gründen der Vereinfachung sind die Ressourcen, die die Kosten verursachen, weil sie für die Akteure zwar interessant sind, aber für den Tausch aufgegeben werden müssen, im Diagramm der Abbildung 10.1 nicht aufgeführt. Zur Übung können Sie ja einmal versuchen, das komplette Diagramm auch mit den Kostenressourcen, vor und nach dem Tausch, zu zeichnen. Nehmen Sie dazu ein großes Blatt!
Wir werden die Höhe der Transaktionskosten mit Ct kennzeichnen. Sie können für beide Akteure unterschiedlich groß sein. Wir wollen jedoch der Einfachheit halber hier davon ausgehen, daß die Transaktionskosten für beide Akteure gleich sind. Die Entscheidungen der Akteure In der geschilderten Situation stehen jedem der beiden Akteure zwei Alternativen zur Wahl. Der Akteur A1 kann einsam seine eigene Arbeit fortführen (e1) – oder aber auf A2 zugehen, ihn um Rat bitten und dabei seine Anerkennung anbieten (a12). Der Akteur A2 kann seinerseits unbeirrt mit seiner eigenen Arbeit fortfahren (e2) – oder aber der Bitte von A1 um den guten Rat entsprechen (r21). Eine Transaktion kommt – als emergentes Ereignis – nur dann zustande, wenn beide Akteure sich individuell zur betreffenden Transaktionshandlung entschließen: A1 muß dem A2 Anerkennung anbieten, und A2 muß dem A1 die Hilfe gewähren. Dazu müssen natürlich die Nutzenerwartungen, die EU-Gewichte also, dafür jeweils höher sein als die für die ununterbrochene Weiterführung der eigenen Arbeit. Wie sehen aber die jeweiligen EUGewichte für die Alternativen der beiden Akteure aus? Zur Veranschaulichung wollen wir den abstrakten Werten gleich auch konkrete Zahlen zuordnen. Dabei sei der Nutzen U1 bzw. U2 der eigenen Arbeit jeweils mit 2 Werteinheiten versehen. Der Wert Ur des guten Rates betrage für A1 16 Einheiten, die Anerkennung sei dem
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Soziales Handeln
Akteur A2 mit Ua 12 Einheiten wert. Die unmittelbaren Kosten Ca bzw. Cr belaufen sich jeweils auf 3 Einheiten und die Transaktionskosten Ct für beide Akteure gleichermaßen jeweils auf eine Werteinheit.
Für die Alternative der Weiterführung der eigenen Arbeit ist die Sache bei beiden Akteuren einfach: Jeder erhält mit Sicherheit den Wert der Arbeit ohne die Unterbrechung einer Transaktion. Das sind bei Akteur A1 der Wert U1 der Ressource R1 und bei Akteur A2 der Wert U2 der Ressource R2. Dabei gehen wir davon aus, daß der jeweils andere Akteur auch stets bei seiner eigenen Arbeit bleibt (siehe dazu aber noch unten). Damit ergeben sich als EUGewichte für die Alternativen e1 (unter der Bedingung e2!) bzw. e2 (unter der Bedingung e1!) einer bloßen Weiterführung der eigenen Arbeit bei den beiden Akteuren A1 und A2 einfacherweise: EU(e1,e2) = U1 =2 EU(e2,e1) = U2 =2 Bei den beiden „Transaktions“-Alternativen ist die Sache etwas komplizierter. Auch hier gehen wir – einstweilen – davon aus, daß stets der jeweils andere Akteur mitmacht. Wir beginnen mit dem Akteur A1 und der Alternative a12, der Vergabe von Anerkennung an A2. Mit der Vergabe von Anerkennung hofft A1, einen guten Rat im Wert von Ur zu erhalten. Aber: Ob A1 – bei allem guten Willen von A2! – einen guten Rat auch wirklich in Höhe von Ur bekommt, ist nicht sicher – zumal wenn der ratsuchende A1 in dem Büro noch neu ist und die Kompetenz von A2 so gut auch wieder nicht kennt. Deshalb wird der Wert Ur noch mit der Erwartung par zu gewichten sein, daß mit der Transaktionshandlung a1 der Vergabe von Anerkennung ein guter Rat im Wert von wirklich Ur herauskommt. Der Erwartungsnutzen parUr wird in der Gewichtung zum erwarteten Wert der eigenen Arbeit U1 hinzugefügt. Es geht ja um das durch den guten Rat aufgewertete Produkt der eigenen Arbeit. Die Wahrscheinlichkeit, daß A1 tatsächlich den guten Rat erhält, wenn er darum bittet, betrage im konkreten Fall par=0.75. Abgezogen werden die Kosten der Transaktion: Ca als die unmittelbaren Kosten des Prestigeverlustes beim anerkennenden Ratfragen, und Ct als die Transaktionskosten von A1, wenn er von seinem Schreibtisch aufsteht, seinen Kollegen aufsucht und eine formelle Regel des Bürolebens verletzt. Die mit der Anerkennung anfallenden Kosten von A1 seien zusammen mit C1, und der gesamte Nettogewinn an gutem Rat durch die Transaktion mit Utr abgekürzt.
Daraus ergibt sich die folgende EU-Gleichung für die Alternative a12 des Transfers von Anerkennung durch A1 an A2 gegen dessen guten Rat:
Transaktion
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EU(a12,r21) = U1 + parUr - Ca - Ct = U1 + parUr - C1 = U1 + Utr = 2 + 0.75·16 - 4 = 2 + 8 = 10 Bei A2 sieht die Gleichung für die Handlung r21 – die Abgabe des guten Rates an A1 – ganz ähnlich aus. Sie ist sogar noch einfacher. Anders als A1 kann A2 nämlich sicher sein, daß er mit der Transaktion die Gegenleistung wirklich bekommt. Er erhält die Anerkennung ja uno actu mit der Frage um Rat durch A1, und das Ereignis R4 tritt daher mit der Transaktion mit Sicherheit ein. Daher wird bei dessen Entscheidung, den guten Rat zu geben, die Wahrscheinlichkeit pra für den Erhalt der vollen Anerkennung mit 1 angenommen. Der Nutzen Ua der Anerkennung kann daher nun voll auf den Wert der eigenen Arbeit U2 von A2 aufgeschlagen werden. Abgezogen werden bei A2 natürlich auch die unmittelbaren Kosten der Beratung in Höhe von Cr, sowie seine Transaktionskosten Ct, zusammen abgekürzt mit C2. Der Nettogewinn an Anerkennung durch die Transaktion sei dann Uta.
Die Transaktionshandlung r21 des Transfers von gutem Rat durch A2 an A1 gegen dessen Anerkennung hat damit das folgende EU-Gewicht: EU(r21,a12) = U2 + Ua - Cr - Ct = U2 + Ua - C2 = U2 + Uta = 2 + 12 - 4 = 2 + 8 = 10. Jeder der beiden Kollegen im Büro würde sich durch den Tausch in gleichem Maße gegenüber dem Status quo deutlich verbessern – trotz aller Kosten der Transaktion und auch trotz des Risikos, ob der gute Rat wirklich so gut ist, wie A1 sich das erhofft. Der elementare Tausch: Dilemma-Situation oder Interessenkonvergenz? Man sollte also meinen, daß die Akteure von sich aus und ohne weiteres zu dem Entschluß kommen, den Tausch auch wirklich vorzunehmen – so wie das Peter M. Blau ja in dem Büro auch beobachtet hat. Sehen wir uns aber die Situation doch einmal etwas genauer an. Dazu wollen wir die möglichen Kombinationen der Alternativen von A1 und A2 mit den betreffenden Nutzen- und Kostenkomponenten in eine Matrix schreiben (Abbildung 10.2).
316
Soziales Handeln
A2 guter Rat
eigene Arbeit
r21
e2
Anerkennung a12
U1+Utr, U2+Uta
U1-Ca, U2+Ua
eigene Arbeit e1
U1+parUr, U2-Cr
U1, U2
A1
Abb. 10.2: Handlungskombinationen und Nutzenkomponenten in einer tion des elementaren Tauschs
Situa-
Bisher haben wir aber nur zwei bestimmte Kombinationen des Handelns der beiden Akteure betrachtet: (e1,e2) als das beiderseitige Verharren in der eigenen Arbeit und (a12,r21) als die gegenseitige Vergabe von Anerkennung gegen guten Rat. Was aber ist mit den anderen beiden, logisch und empirisch natürlich auch möglichen Kombinationen (a12,e2) und (e1,r21)? Das sind zwei eigenartige Konstellationen: A2 bekommt von A1 die Anerkennung, unterbricht aber seine eigene Arbeit nicht, und A1 erhält von A2 den guten Rat ohne seine Gegenleistung der Anerkennung. Das heißt aber: Derjenige, der jeweils die Transaktionshandlung einseitig vornimmt, hat deren Kosten zu tragen, erhält aber die Gegenleistung nicht. Und derjenige, der seine Arbeit weiter tut, ohne etwas dafür herzugeben, hat den Gewinn aus allem, ohne die Kosten der Transaktionshandlung. Es ergeben sich daraus die folgenden Nutzenerwartungen für die Kombinationen der „off“-Diagonale, jeweils aus der Sicht der beiden Akteure betrachtet: Akteur 1:
EU(a12,e2) = U1 - Ca =2-4
= -2
EU(e1,r21) = U1 + parUr = 2 + 12 = 14 Akteur 2:
EU(e2,a12) = U2 + Ua = 2 + 12
= 14
EU(r21,e1) = U2 - Cr = 2 -4
= -2.
317
Transaktion
Diese Konstellation erinnert nicht nur aus Zufall an den Fall des Gefangenendilemmas (vgl. Abschnitt 3.2 oben in diesem Band): Wer sich mit der Gegenleistung defektiv zurückhält, streicht den größten Gewinn ein, und der Gute, der einseitig freundlich ist oder hilft, ist – wieder einmal – der Dumme. Wenn man in die Matrix die konkreten Werte der Auszahlungen einträgt, wird das unmittelbar erkennbar (Abbildung 10.3).
A2 guter Rat
eigene Arbeit
r21
e2
Anerkennung a12
10,10
(-2,14)
eigene Arbeit e1
(14,-2)
2,2
A1
Abb. 10.3: Auszahlungen in einer Situation des elementaren Tauschs
Der elementare Tausch ist also offenbar eine durchaus problematische Situation. Der mit der Transaktion winkende Gewinn alleine ist es dann wohl noch nicht, der die Akteure zum wirklichen Tausch bewegt. Die Darstellung in Abbildung 10.2 und die vorhergehende Beschreibung der Entscheidungsgewichte der Akteure rekonstruiert in Abbildung 10.3 – mit etwas anderen Zahlen – ein ähnlich aussehendes Diagramm, mit dem George C. Homans das von Peter M. Blau beschriebene Geschehen zusammengefaßt hat.6 George C. Homans meint dabei, daß die beiden asymmetrischen Konstellationen „Anerkennung/eigene Arbeit“ und „eigene Arbeit/guter Rat“ nicht realistisch wären. Sie beschreiben in der Tat zwei – für ein normales Büro jedenfalls – etwas weltfremd anmutende Situationen: A1 vergibt Anerkennung, ohne daß A2 sich rührt, und A2 gibt einen Rat, ohne daß er von A1 darum gebeten wurde oder Anerkennung erhält. Können Sie sich das vorstellen: Jemand läuft zu einem Kollegen und überschüttet ihn mit guten Ratschlägen, obwohl der offensichtlich alleine gut zurecht kommt? Oder ein Kollege macht einen tiefen Bückling vor dem anderen ohne jeden Grund? Kaum. Daher könne man, so George C. Homans, die Kombinationen (e1,r21) und (a12,e2) getrost streichen. Kurz: Wir gehen davon aus, daß es sich um ein iteriertes Spiel handelt und daß sich die Kooperation für beide lohnt – so wie wir das in Abschnitt 5.3 oben in diesem Band ausführlich für die „Evolution der Kooperation“ besprochen haben. Für nicht zu große Büros mit nicht allzu hoher Fluktua-
6
George C. Homans, Grundlegende soziale Prozesse, in: George C. Homans, Grundfragen soziologischer Theorie, Opladen 1972a, S. 70ff.
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Soziales Handeln
tion ist das keine allzu gewagte Annahme. Das hat George C. Homans, der von der „Evolution der Kooperation“ noch nichts wissen konnte, geahnt. Wir haben deshalb in die Abbildung 10.3 die betreffenden Kombinationen in Klammern geschrieben.
Kurz: Die Kombinationen (a12,e2) und (e1,r21) sind in der besonderen Situation eines Büros, in dem sich die Akteure in der Tat ständig wiederbegegnen können, sehr unwahrscheinlich: Jemand, der den anderen übervorteilt oder es auch nur versucht, tut das wahrscheinlich nur einmal. Das heißt aber: In einem Büro zählen nur die reziproken Kombinationen (e1,e2) und (a12,r21). Und dann wäre der elementare Tausch plötzlich wieder eine sehr unproblematische Angelegenheit. Er wäre dann nichts als ein simples Koordinationsspiel, sogar eines unter einer deutlichen Interessenkonvergenz mit dem einen, schon strukturell salienten, Schellingpunkt (a12,r21) – so wie es offenbar in dem Büro der Fall war, das Peter M. Blau beobachtet hat. 10.1.2 Transaktionsinteresse und Tauschrisiko Die Grundlage eines jeden Tauschs sind, wie wir gesehen haben, die Nutzenerwartungen der Akteure für die Transaktionshandlung oder für deren Unterlassung. Die Bestandteile der EU-Gewichte für die Alternativen und die Struktur der Auszahlungsmatrix als Gefangenendilemma zeigen deutlich, welche Umstände eine Transaktion als elementaren Tausch fördern und welche ihn behindern können. Alles hängt von zwei Bedingungen ab: erstens davon, daß die Rechnung für jeden der beiden Akteure stimmt. Dies ist das Interesse der Akteure an der Transaktion. Es sei als das Transaktionsinteresse bezeichnet. Und zweitens davon, daß das Risiko des Ausgleichs der Leistung überwunden werden kann. Dieses Risiko sei Tauschrisiko genannt. Jede Transaktion und jeder Tausch bildet eine Mischung von Transaktionsinteresse und Tauschrisiko. Es handelt sich immer um einen Fall der antagonistischen Kooperation. Und es kommt daher stets auf beides an: auf die Höhe des Transaktionsinteresses und auf die Überwindung des Risikos, das die Akteure bei jedem Tausch mit der dahinter stehenden Dilemmasituation eingehen. Kooperationsgewinn und Transaktionsinteresse Das Interesse an einer Transaktion ist das Interesse an der Verbesserung der Situation durch den Tausch. Daher muß es zur Bestimmung des Transaktionsinteresses immer einen Bezugspunkt geben, auf den hin die Verbesserung zu vergleichen ist. Im geschilderten Beispiel ist dieser Bezugspunkt der Wert der
Transaktion
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eigenen Arbeit: U1 bzw. U2. Der (Netto-)Wert der mit der Transaktion jeweils erhaltenen Ressource, guter Rat oder Anerkennung, besteht dann aus dem Wert der vom jeweils anderen Akteur transferierten Ressource, abzüglich der eigenen Kosten der Transaktion, also: parUr-C1=Utr bzw. Ua-C2=Uta. Kommt die Transaktion zustande, dann kontrolliert jeder Akteur die Ressource der eigenen Arbeit plus dieser Verbesserung: U1+(parUr-C1)=U1+Utr bzw. U2+(UaC2)=U2+Uta. Die Verbesserung aus der Transaktion ist also einfacherweise jeweils der Betrag Utr bzw. Uta. Die Beträge Utr und Uta können auch als der Kooperationsgewinn aus der Transaktion bezeichnet werden. Dieser Kooperationsgewinn ist es letztlich, der das Transaktionsinteresse der Akteure bestimmt. Im Beispiel ergeben der Kooperationsgewinn KG1 bzw. KG2 der beiden Akteure und das Transaktionsinteresse TIij bzw. TIji des einen Akteurs an einem Tausch mit dem anderen die folgenden Werte: EU(a12,r21) - EU(e1,e2)
= (U1+Utr) - U1 = parUr - C1 = KG1 = TI12 = 10 - 2 = 8
EU(r21,a12) - EU(e2,e1)
= (U2+Uta) - U2 = Ua - C2 = KG2 = TI21 = 10 - 2 = 8
Im einfachen bilateralen Fall läßt sich das Transaktionsinteresse natürlich einfacherweise aus der Hauptdiagonalen der Auszahlungsmatrix entnehmen. Es ist dann nichts als ein anderer Ausdruck für die Stärke der Interessenkonvergenz der Akteure an einer Transaktion. Ohne weiteres ließe sich natürlich die geschilderte Konstellation im Anschluß an die Kapitel 3 und 5 in diesem Band als Dilemma-Situation rekonstruieren und bestimmen, welcher Schatten der Zukunft nötig wäre, „damit“ es zur Evolution der Kooperation in dem Büro unter den gegebenen Auszahlungen kommt. Die Beteiligung an der Transaktion wäre dann die Kooperation C, das Weiterwursteln mit der eigenen Arbeit die Defektion D. Natürlich müssen die Auszahlungen und die Differenzen und die Transaktionsinteressen so schön gleich nicht sein. Manchmal kann der eine mehr von einer Transaktion haben als der andere, oder der andere hat in der Autarkie schon mehr als der eine. Manchmal kann sogar der eine ein Transaktionsinteresse haben, der andere aber nicht im geringsten – wie bei einer unerwiderten Liebe. Kurz: Die Kooperationsgewinne – und damit die Transaktionsinteressen – können zwischen den Akteuren variieren. In Kapitel 12 über die Macht unten in diesem Band kommen wir darauf zurück. Man ahnt es schon warum: Macht ist nichts anderes als die Ungleichheit in den Transaktionsinteressen.
320
Soziales Handeln
Der Kooperationsgewinn, und damit das Transaktionsinteresse, ist, wie wir aus den Gewichtungsfunktionen für die verschiedenen Transaktionshandlungen wissen, selbst ein Kompositum, und Unterschiede im Transaktionsinteresse können über alle Bestandteile dieses Kompositums entstehen. Der Kooperationsgewinn steigt mit dem Wert des Produktes, das der jeweils andere anbieten kann. Und er sinkt mit den Kosten, die die Akteure selbst aufbringen müssen: mit den unmittelbaren Kosten wie mit den Transaktionskosten. Wer wenig Wert auf Prestige legt, wird daher kaum Scheu haben, um Rat zu fragen. Wer sonst nichts zu tun hat, wird gerne einen Rat erteilen. Das senkt die unmittelbaren Kosten. Und kostengünstige Fokalpunkte und Gelegenheiten des Zusammentreffens – die Kantine, das Etagenklo und der Fotokopierer, ein gemeinsamer Club, gemeinsame Bekannte –, gemeinsame sonstige Interessen, geteiltes Vorwissen und vorher entstandenes Vertrauen können die Transaktionskosten so weit senken, daß auch schon geringe Interessengemeinsamkeiten zwanglos zu einer Tauschbeziehung führen. Alles käme also, wie stets im Leben, darauf an, den Wert der Tauschgüter zu erhöhen und die Kosten der Transaktion zu senken. Eine der wichtigsten Möglichkeiten zur Steigerung des Kooperationsgewinns und damit des Transaktionsinteresses ist – im Prinzip! – die arbeitsteilige Spezialisierung. Mit der Konzentration auf ein besonderes Produkt, für das man besonders begabt ist, wird das Produkt wertvoller. Und es lassen sich, etwa durch Kostendegressionen bei der Massenproduktion, auch die unmittelbaren Kosten absenken. „Im Prinzip“ sollten daher mit der Spezialisierung der Kooperationsgewinn und damit das Transaktionsinteresse ansteigen. Das tun sie auch. Aber nur: im Prinzip, wie wir ja u.a. aus Kapitel 5 in diesem Band schon wissen. Tauschrisiko Mit einer Spezialisierung ist immer der Verzicht auf die eigene Herstellung anderer Produkte verbunden: Man kann nicht alles gleichzeitig machen. Das aber liefert den Akteur, der sich voll spezialisiert, dem jeweils anderen aus: Mit dem eigenen speziellen Produkt alleine ist nicht gut leben. Und da er es braucht, hat der andere, der dieses Produkt kontrolliert, ihn in der Hand. Kurz: Es wächst – wiederum: im Prinzip – mit der, an sich für beide vorteilhaften, Spezialisierung das Risiko der einseitigen Vorleistung und der Auslieferung an den jeweils anderen (vgl. dazu schon Abschnitt 5.1 oben in diesem Band und das dort besprochene Spezialisierungsdilemma zwischen Robinson und Freitag).
Transaktion
321
Daneben gibt es, selbst in der elementarsten Transaktion, noch ein weiteres Problem: Jeder der Tauschpartner ist – bei allem Interesse am Gelingen der Transaktion – immer auch daran interessiert, seinen Aufwand möglichst klein und seinen Gewinn möglichst groß zu gestalten. Das ist schon auf jedem Wochenmarkt so: Die Petersilienfrau möchte einen möglichst hohen, ich aber einen möglichst niedrigen Preis für das Bund Petersilie. Und wo treffen wir uns? Beim „Markt“-Preis. Darüber freut sich aber keiner so recht: Mir ist der Preis immer zu hoch, der Petersilienfrau ist er zu niedrig. Aber günstiger geht es für beide nicht, weil es ohne den Tausch uns beiden noch deutlich schlechter geht (vgl. dazu noch Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ausführlich). Also sind wir schließlich doch zufrieden, wenn wir uns beim Marktpreis beide wiederfinden.
Das Problem tritt schon dann auf, wenn die Leistungen der beiden Partner zeitlich nicht ganz unmittelbar erfolgen – wie das selbst schon unter den Kollegen im Büro von Peter M. Blau möglich sein könnte. Es ist exakt das gleiche Problem, das bereits die Bauern im Erntehilfebeispiel von David Hume hatten (vgl. Kapitel 2 und 3 in diesem Band): Kann ich mich auch wirklich darauf verlassen, daß mir – beispielsweise – geholfen wird, wenn ich schon mit meiner Frage nach Rat in vorauseilender Unterwürfigkeit Anerkennung nicht nur anbiete, sondern übertrage, ohne schon den guten Rat gehört zu haben? Finde ich mich nicht vielleicht schließlich doch in der unangenehmen Situation der Zelle unten links (oder oben rechts) in der Matrix von George C. Homans und bin das Gespött des ganzen Büros? Und lasse ich es dann nicht besser mit der Transaktion und sitze weiter stumm und verbissen vor meinem Schreibtisch und versuche, mit der Sache alleine fertig zu werden? Die Gegenleistung ist in einem Büro, in dem wir es miteinander noch eine Weile zu tun haben, zwar vielleicht kein sehr großes Risiko – weil wir uns ja wiedersehen und „noch sprechen werden“, und weil die anderen Kolleginnen und Kollegen mit ihrem Klatsch schon dafür sorgen, daß niemand den anderen so ohne weiteres übervorteilt. Wie sieht es aber bei einem fliegenden Gebrauchtwagenhändler auf dem grauen Markt in Essen-Borbek aus, der mir gerade auf Polnisch ein wirklich gutes Angebot macht, den ich aber wohl nie wiedersehen werde, wenn er mir seine aufpolierte Zitrone angedreht hat? Wie hilfreich wäre es dann, einen guten Freund mitgebracht zu haben, der beim TÜV arbeitet und sich mit Autos und Gebrauchtwagenhändlern auskennt und eine gewisse Ähnlichkeit mit Mike Tyson hat!
Ein Büro mit Kollegen ist offenbar ein – gottlob: nicht allzu seltener – Spezialfall, bei dem es kein besonderes Tauschrisiko gibt. Deshalb kann dort – wie in ähnlichen Situationen – die Off-Diagonale mit den Kombinationen a12,e2 und r21,e1 ja wirklich getrost gestrichen werden. Oft genug aber ist es – auch bei vergleichsweise hohem Transaktionsinteresse und daraus folgender Interessenkonvergenz – sehr unwahrscheinlich, daß Transaktionen zustande kommen, weil es dieses Risiko eben doch gibt. Und es käme für das Gelingen einer Transaktion auch in Situationen, die nicht so sind wie das Büro von Peter M. Blau, darauf an, diese Unwahrscheinlichkeit zu vermindern.
322
Soziales Handeln
Gibt es also, möglichst kostengünstige, Möglichkeiten und Mittel, die Unwahrscheinlichkeit einer Transaktion zu vermindern? Die Antwort: Ja, es gibt solche Mittel. Es sind die Medien der Transaktion. Wir werden uns in Abschnitt 10.4 gleich unten in diesem Band noch näher damit befassen. 10.1.3 Tausch und Abhängigkeit Die wohl wichtigste Besonderheit der Transaktion des Tausches ist, wie bei jedem sozialen Handeln, die (doppelte) Kontingenz des Eintretens der Ereignisse, die Abhängigkeit davon also, was der jeweils andere tut (vgl. Kapitel 1 in diesem Band dazu). Diese besondere Kontingenz ist der Hintergrund der Abhängigkeiten bzw. der Dependenzen der Akteure voneinander. Der Vorgang des Tausches und die (wechselseitige) Abhängigkeit der Akteure hängen eng miteinander zusammen. Ereignisse Die Abhängigkeiten bzw. die Dependenzen der Akteure lassen sich, nach einigen nötigen Erläuterungen, auf eine einfache Weise präzise bestimmen. Im Kern geht es um die Verteilung des Interesses an und der Kontrolle über die mit einer Transaktion eintretenden Ereignisse bei den beteiligten Akteuren. Wir wollen wieder am Beispiel der Konsultation im Büro zeigen, wie die Bestimmung der Dependenzen der Akteure voneinander vor sich geht. Ausgangspunkt sind die Transaktionsmatrizen in Abbildung 10.2 und 10.3. Dort sind die Ereignisse schon beschrieben, um die es geht. Für die Transaktionsmatrix in den Abbildungen 10.2 und 10.3 mit ihren beiden Kombinationen (e1,e2) und (a1,r2) gäbe es beispielsweise bei der Kombination (e1,e2) das Ereignis „Akteur 1 tut allein seine eigene Arbeit“. Ein anderes Ereignis wäre der Sachverhalt „A1 gibt A2 Anerkennung und erhält dafür von A2 einen guten Rat“, wenn die Kombination (a1,r2) vorliegt. Insgesamt gibt es also für die Transaktion des Tausches unter zwei Akteuren mit zwei Alternativen und ohne Berücksichtigung der „Off“-Diagonalen in der Tauschmatrix vier Ereignisse: das Ereignis E1 als die Fortführung der eigenen Arbeit von A1; und entsprechend E2 für die Fortführung der eigenen Arbeit bei A2. Er sei die Weitergabe des guten Rates von A2 an A1 gegen die Anerkennung von A2 durch A1; und Ea sei entsprechend die Anerkennung von A2 durch A1 gegen die Beratung von A1 durch A2.
Die vier Ereignisse E1, E2, Er und Ea werden von den Akteuren mit bestimmten Werten belegt. Der Wert eines Ereignisses ist der Mehr-Wert, um den sich
Transaktion
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der Wert der kontrollierten Ressourcen mit dem Eintreten des Ereignisses gegenüber einer Vergleichssituation verbessert, abzüglich der mit dem Eintreten des Ereignisses verbundenen Kosten. Das Ereignis E2 ist beispielsweise dem Akteur A2 mit U2=2 Einheiten wert, weil das der Wert der mit dem Ereignis E2 verbundenen Ressource R2 ist. Hier entspricht der Wert der Ressource dem Wert des Ereignisses „Verrichtung der eigenen Arbeit“. Es ist der „Mehrwert“, den der Akteur im Büro erhält, wenn er überhaupt etwas tut. Entsprechendes gilt für das Ereignis E1. Die Ereignisse Er und Ea beschreiben dagegen das Neue an der Situation, wenn es zum Tausch gekommen ist: Er ist das Ereignis „guter Rat gegen Anerkennung“ aus der Kombination (a1,r2) für den Akteur A1, Ea entsprechend das Ereignis „Anerkennung gegen guten Rat“ für A2. Der Wert für das Ereignis Er ist der Mehrwert, den A1 mit der Transaktion gegenüber dem Ereignis E1 erzielen kann. Dieser Mehrwert ist nichts anderes als sein Kooperationsgewinn. Er hat im Beispiel für das Ereignis Er den Wert parUr-C1=Utr=8. Entsprechend hat das Ereignis Ea den Wert Ua-C2=Uta=8. Es ist der Kooperationsgewinn für A2.
Das Interesse der Akteure an den Ereignissen, die mit der Transaktion eintreten, ist also deren Transaktionsinteresse TI, wie wir es in Abschnitt 10.1.2 definiert haben. Im Beispiel also: Utr für das Ereignis Er, und Uta für das Ereignis Ea. Die Kontrolle über die Ereignisse folgt unmittelbar der Kontrolle an jenen Ressourcen, die dem jeweiligen Ereignis seinen Wert geben. Beispielsweise kontrollieren beide Akteure jeweils ihre eigene Arbeit, aber nicht die des jeweils anderen. Demnach hat A1 über das Ereignis E1 die Kontrolle, nicht aber über das Ereignis E2. Analoges gilt für die anderen Ereignisse bei der Transaktion des Tausches, etwa für das Ereignis Ea: Der Akteur A1 hat die Ressource Ra, die Anerkennung, mit dem Wert Ua unter Kontrolle, deren Übertragung an A2 zum Eintreten des Ereignisses Ea mit dem Wert UaC2=Uta für A2 führt. Und folglich kontrolliert A1 das Eintreten des Ereignisses Ea.
Die verschiedenen Beziehungen des Interesses an und der Kontrolle über Ereignisse lassen sich, vor allem, wenn es um mehr Akteure und um mehr Ereignisse geht, am einfachsten über zwei Matrizen beschreiben, eine für das Interesse und eine für ihre Kontrolle.7 In der Interessenmatrix stehen die Akteure in den Zeilen und die möglichen Ereignisse in den Spalten, in der Kontrollmatrix stehen dagegen die Akteure in den Spalten und die Ereignisse in den Zeilen. In jeder Zeile der Interessenmatrix ist nämlich beschrieben, wie sich die Interes-
7
Diese formale Übersetzung des elementaren Systems einer sozialen Situation als Beziehung von Akteuren zu Ressourcen über Interesse und Kontrolle hat James S. Coleman vorgeschlagen: James S. Coleman 1990, S. 681ff. Vgl. auch: Franz U. Pappi, Politischer Tausch im Politikfeld „Arbeit“ – Ergebnisse einer Untersuchung der deutschen Interessengruppen und politischen Akteure auf Bundesebene, in: Jahrbuch zur Staats- und Verwaltungswissenschaft, Band 4, Baden-Baden 1990, S. 158ff. Für ein einfaches Beispiel vgl. Franz U. Pappi und Peter Kappelhoff, Abhängigkeit, Tausch und kollektive Entscheidung in einer Gemeindeelite, in: Zeitschrift für Soziologie, 13, 1984, S. 89ff.
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Soziales Handeln
sen eines jeden Akteurs über alle betrachteten Ereignisse verteilen. In der Kontrollmatrix findet man ebenfalls zeilenweise, wie sich die Kontrolle an jedem der betrachteten Ereignisse über alle beteiligten Akteure verteilt.
In Tabelle 10.1 findet sich die Interessen- und Kontrollmatrix für das Beispiel der Konsultation unter Kollegen auf der Grundlage der Transaktionsmatrix in Abbildung 10.2 mit den beiden Akteuren A1 und A2, den Handlungskombinationen (e1,e2) und (a1,r2) und den damit verbundenen vier Ereignissen E1, E2, Er und Ea. Tabelle 10.1: Interessenmatrix und Kontrollmatrix für das Beispiel der Konsultation unter Kollegen
a. Interessenmatrix abstrakte Auszahlungen
Akteur 1 Akteur 2
E1
E2
Er
Ea
Σ (Gesamtinteresse)
U1 0
0 U2
Utr 0
0 Uta
U1+Utr = EU(a12) U2+Uta = EU(r21)
E1
E2
Er
Ea
Σ (Gesamtinteresse)
2 0
0 2
8 0
0 8
10 10
konkrete Werte
Akteur 1 Akteur 2
b. Kontrollmatrix E1 E2 Er Ea
Akteur 1 1 0 0 1
Akteur 2 0 1 1 0
Σ (Gesamtkontrolle) 1 1 1 1
Transaktion
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Die Interessenmatrix ist sowohl mit abstrakten Nutzenerwartungen wie mit konkreten Werten dargestellt. Die Kontrolle ist jeweils mit 1 oder 0 codiert – je nachdem, ob ein Akteur über das Eintreten des betreffenden Ereignisses die Kontrolle hat oder nicht. Die Tabelle liest sich leichter als es zunächst erscheinen mag. So hat A1 ein Interesse von Utr=8 am Eintreten des Ereignisses Er, dem Erhalt eines guten Rates gegen die Hergabe von Anerkennung, aber der Akteur A2 kontrolliert das Eintreten just dieses Ereignisses. Deshalb steht in der Interessenmatrix in der ersten Zeile für den Akteur A1 in der Spalte für das Ereignis Er eine acht als Wert und in der Kontrollmatrix in der Zeile Er für den Akteur A2 in der zweiten Spalte die Ziffer eins. Im Prinzip könnte man auch verschiedene Stärken der Kontrolle eintragen: Nicht immer muß ein Akteur alleine die volle Kontrolle über eine Ressource haben, und nicht immer muß er sie komplett genau auf eine Ressource verteilen (vgl. dazu noch unten, sowie Kapitel 12 in diesem Band über die Macht).
In der äußeren rechten Spalte der beiden Matrizen stehen jeweils die Zeilensummen. In der Interessenmatrix beschreiben die Zeilensummen jeweils das sog. Gesamtinteresse eines jeden Akteurs über alle Ereignisse. Das ist hier nichts anderes als die Auszahlung im Falle des Gelingens der Transaktion: der Wert der eigenen Arbeit plus dem Kooperationsgewinn. Das ist ja alles, was den jeweiligen Akteur interessiert. Die Zeilensumme in der Kontrollmatrix beschreibt entsprechend die sog. Gesamtkontrolle für jedes Ereignis über alle Akteure. Sie zeigt an, was der jeweilige Akteur insgesamt an Ressourcen hat und einsetzen könnte. Die Bestimmung der Dependenzen Die Interessen- und die Kontrollmatrix beschreiben ein komplettes – und nach außen abgegrenztes – „System“ von Beziehungen zwischen Akteuren. Mit den Werten des Interesses und mit der Verteilung der Kontrolle liegt strukturell fest, was die Akteure aneinander finden, und ob sie aufeinander zugehen werden oder nicht – ganz unabhängig davon, was sie sonst noch miteinander zu tun haben oder wie sympathisch oder abstoßend sie sich finden mögen. Gibt es die Interessen- und die Kontrollmatrix, dann lassen sich auf eine einfache Weise diese strukturell bedingten Abhängigkeiten bzw. die Dependenzen der Akteure untereinander bestimmen. Dazu müssen die Interessen- und die Kontrollmatrix erst noch normiert werden. Normierung heißt: Das Gesamtinteresse eines jeden Akteurs über alle Ereignisse und die Gesamtkontrolle aller Akteure über jedes Ereignis werden jeweils auf den Wert 1.0 gesetzt und die Verteilung entsprechend jeweils als Anteil von eins dargestellt. In unserem Fall ist das besonders einfach: Das Gesamtinteresse über alle vier Ereignisse beträgt bei beiden Akteuren 10, und die Nutzenbeträge 2 bzw. 8 werden jetzt zu den Anteilswerten 0.2 bzw. 0.8 an dem
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Soziales Handeln
jeweils auf 1.0 gesetzten Gesamtinteresse von zehn. An der Kontrollmatrix muß in unserem Beispiel nichts geändert werden: Hier war die Gesamtkontrolle von den beiden Akteuren für jedes der vier Ereignisse sozusagen schon von Hause aus auf 1 normiert.
Die Dependenzen der Akteure voneinander berechnen sich aus der Multiplikation der Interessen- mit der Kontrollmatrix. Das ergibt eine neue Matrix: die gesuchte Dependenzmatrix. Weil in der Interessenmatrix in den Zeilen und in der Kontrollmatrix in den Spalten jeweils die Akteure vorkommen, enthält die Dependenzmatrix in ihren Zeilen und Spalten jeweils auch Akteure. Und das ist ja auch sehr sinnvoll: Die Dependenzmatrix gibt – „wie der Name schon sagt“ – die Abhängigkeiten bzw. die Dependenzen der Akteure untereinander an – so wie sie im Interesse an und der Kontrolle über bestimmte Ereignisse miteinander verbunden sind. Warum die Multiplikation der Interessen- mit der Kontrollmatrix sinnvoll ist, um zu den Abhängigkeiten der Akteure untereinander zu gelangen, läßt sich mit der folgenden Überlegung verstehen. „Abhängig“ im Ausmaß dij ist ein Akteur i von einem anderen Akteur j ja nur dann, wenn j ein Ereignis kontrolliert, das i selbst interessiert. Ein Interesse von i, das nicht mit einer Kontrolle von j zusammenfällt, ist für die Dependenz ebenso bedeutungslos, wie eine Kontrolle von j, die auf kein Interesse bei i stößt. Diese Überlegung läßt sich mit der Multiplikation des Interesses an mit der Kontrolle über das jeweilige Ereignis übersetzen. Dies wird für jeden Akteur nacheinander jeweils über alle Ereignisse hinweg getan, einschließlich des betrachteten Akteurs selbst. Die über alle Ereignisse summierte Multiplikation der Zeile i der Interessenmatrix mit der Spalte j der Kontrollmatrix ergibt damit die Dependenz dij des Akteurs i vom Akteur j. In unserem Beispiel beträgt nach dieser Überlegung die Dependenz d21 des Akteurs 2 von Akteur 1: d21=0·1+2·0+0·0+8·1=8; bzw. in der Normierung: 0·1+0.2·0+0·0+0.8·1=.8. Es ist die Summe der Produkte der Interessenwerte aus der zweiten Zeile der Interessenmatrix (für den Akteur 2, dessen Abhängigkeit zu bestimmen ist) mit den Werten der Kontrolle aus der ersten Spalte der Kontrollmatrix (für den Akteur 1, um den es bei der Abhängigkeit des Akteurs 2 geht). So werden auch die Abhängigkeiten der Akteure von sich selbst bestimmt. Das ist ja nichts anderes als die Produktsumme von Zeilen und Spalten jeweils mit der gleichen Rangziffer i. Das Ergebnis, die Dependenzen dii, bilden die Diagonale der Dependenzmatrix. Sie beschreibt für alle Akteure die Abhängigkeit eines jeden Akteurs i von sich selbst – seine Autonomie.
Für unser Beispiel ergibt sich so die in Tabelle 10.2 folgende, wegen der Normierung der Ausgangsmatrizen ebenfalls normierte, Dependenzmatrix. Die Zeilen der Dependenzmatrix beschreiben den jeweils als „abhängig“ betrachteten Akteur, die Spalten geben an, von wem er jeweils abhängig ist. Die Zeilensummen rechts in der Dependenzmatrix geben die Gesamtabhängigkeit eines jeden Akteurs an. Sie sind wegen der Normierung jeweils auch gleich 1. In den einzelnen Feldern der Tabelle stehen dann die betreffenden Dependenzen dij, ausgedrückt als Anteil der von dem „anderen“ Akteur jeweils kontrollierten Abhängigkeit. Akteur 2 ist beispielsweise mit einem Anteil von 0.8 von Akteur 1 und mit einem Anteil von 0.2 von sich selbst abhängig.
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Transaktion
Tabelle 10.2: Die Bestimmung der Dependenzmatrix (nach Normierung)
a. Interessenmatrix
E1
A1 A2
E2
Er
0.2 0 0.8 0 0.2 0.8
b. Kontrollmatrix
Ea
0 0
Σ 1 1
E1 E2 Er Ea
c. Dependenzmatrix
A1
A2
Σ
A1
A2
Σ
1 0 0 1
0 1 1 0
1 1 1 1
A1 0.2 0.8 A2 0.8 0.2
1 1
Autonomie und Interdependenz Die Gesamtabhängigkeit kann, wie man sieht, in zwei Bestandteile zerlegt werden: die Abhängigkeit von sich selbst und die „eigentliche“ Dependenz von anderen Akteuren. Die Abhängigkeit von sich selbst ist die Autonomie des Akteurs. Sie beschreibt den Anteil der von einem Akteur selbst kontrollierten Gesamtabhängigkeit. Sie steht, wie gesagt, in der Diagonalen der Dependenzmatrix und hat bei beiden Akteuren jeweils einen Anteil von 0.2 an der individuellen Gesamtabhängigkeit im Werte von 1: d11=d22=0.2. Was nicht Autonomie ist, ist natürlich Dependenz von anderen Akteuren, hier allerdings nur von einem anderen Akteur (vgl. dazu noch Kapitel 12 in diesem Band über die Macht). Wichtig ist das Verhältnis zwischen Autonomie und den sonstigen Abhängigkeiten: Beide Akteure sind nur zu 20% autonom, aber zu 80% vom jeweils anderen abhängig. Sobald es Dependenzen auf beiden Seiten gibt, liegt der Fall der Interdependenz vor. Die Interdependenz wäre vollständig, wenn die Gesamtdependenz beider Akteure restlos auf den jeweils anderen Akteur entfiele und bei beiden damit keinerlei Autonomie vorläge. Die vollständige Autonomie ist der andere Grenzfall. Sie liegt vor, wenn alle Abhängigkeiten beim Akteur selbst liegen. Dann gibt es eine Interdependenz von null. Die Dependenzmatrix in Tabelle 10.3 zeigt auf eine andere Weise, was die Beschreibung des Beispiels der Konsultation im Büro schon inhaltlich nahelegte: Die beiden Akteure sind voneinander abhängig, aber nicht vollständig. Jeder behält einen gewissen Rest an Autonomie. Der Tausch von Rat gegen Anerkennung würde sich für beide, verglichen mit der einsam-autonomen
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Soziales Handeln
Fortführung ihrer eigenen Arbeit, schon sehr lohnen. Und in diesem Wunsch, in ihrem Transaktionsinteresse, sind sie beide gleich. Meist gibt es freilich, anders als in unserem bewußt einfach gehaltenen Beispiel, Unterschiede in (Inter-)Dependenz und in der Autonomie. Ganz allgemein läßt sich dabei sagen, daß derjenige Akteur, der die für ihn interessanten Dinge mehr unter Kontrolle hat, autonomer, weniger abhängig, weniger an der Transaktion interessiert – und damit mächtiger ist als der andere Akteur (vgl. dazu noch Kapitel 12 in diesem Band und das dort besprochene principle of least interest). Tausch und Autonomie Transaktionen bedeuten die Übertragung der Kontrolle über eine Ressource von einem Akteur auf den anderen und damit wieder das Eintreten eines bestimmten Ereignisses. Wie verändern sich durch die Transaktion des Tausches aber die Dependenzen und damit die Autonomie der Akteure? Die wichtigste Folge ist die Abgabe der Kontrolle über die Ressource, die der jeweils andere nachfragt: Das Geld, das für Petersilie ausgegeben wird, ist nach der Transaktion nicht mehr im Portemonnaie des Käufers, sondern in der Kasse der Marktfrau. Und die Petersilie wandert in den Einkaufskorb und fehlt dann in der Auslage des Marktstandes. Das gilt – pari passu – für alle Ressourcen, die übertragen und damit getauscht werden können, auch für guten Rat und Anerkennung: Die Kontrolle darüber wechselt mit dem Eintreten des Ereignisses des Tausches den „Besitzer“. Was geschieht dann aber mit den Dependenzen. Zunächst ist festzuhalten: Die Interessen an den Ressourcen, die alles bestimmen, bleiben von der Transaktion unberührt, nicht aber die Kontrolle. Der naheliegenste Fall ist der, daß mit der Transaktion jeder der beiden Akteure die Kontrolle über das vom anderen nachgefragte Gut vollständig abgibt. In diesem Falle werden beide Akteure mit der Transaktion vollkommen autonom. Die gesamte Abhängigkeit konzentriert sich nach dem Tausch auf die Akteure selbst. Genau das ist gemeint, wenn vom Gleichgewicht des Tausches die Rede ist: Es interessiert nach dem Tausch die Akteure nichts mehr, was der jeweils andere kontrolliert. Und sie kontrollieren auch nichts mehr, was den anderen interessiert. Es gibt nach dem Tausch keine Interdependenz und daher kein weiteres Transaktionsinteresse mehr. Einstweilen jedenfalls nicht. Die Kontrollmatrix in Tabelle 10.2 würde sich dabei natürlich verändern: In der Zeile der Kontrolle von A1 bzw. A2 über das Ereignis Er steht jetzt nicht mehr 0 1, sondern 1 0, und in der Zeile für das Ereignis Ea entsprechend 0 1 statt 1 0 wie zuvor. Das zeigt an, daß nun A1 die Kontrolle über das Ereignis Er, den guten Rat also, übernommen hat, und A2 die Kontrolle über das Ereignis Ea, die Anerkennung.
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Transaktion
Wir wollen eine etwas andere, etwas hinterhältige und leider nicht ganz unrealistische, Annahme machen: Der Akteur A2 läßt sich nicht voll in die Karten sehen. Er gibt, wenn A1 unterwürfig gekrochen kommt, nur die Hälfte seiner Kontrolle über seine Expertise ab und behält die andere Hälfte der von A1 erwarteten Information zurück. Daraus ergeben sich die folgenden Matrizen von Kontrolle, Interesse und Abhängigkeit nach der Transaktion (Tabelle 10.3; die Zeilensummen für die Interessen- und die Kontrollmatrix sind ausgelassen): Tabelle 10.3: Veränderungen der Kontroll- und der Dependenzmatrix durch die Transaktion von Rat gegen Anerkennung bei unvollständigem Kontrolltransfer durch A2
a. Interessenmatrix (unverändert)
E1
E2
Er
b. Kontrollmatrix nach der Konsultation Ea
A1 0.2 0 0.8 0 A2 0 0.2 0.8 0
E1 E2 Er Ea
c. Dependenzmatrix nach der Konsultation
A1
A2
A1
A2
Σ
1 0 0.5 0
0 1 0.5 1
A1 0.6 0.4 A2 0 1
1 1
A2 ist zufrieden: Es ist mit dem Transfer der Anerkennung von A1 auf A2 das Ereignis eingetreten, das er sich erhoffte, und er hat somit alles, was er wünschte: die volle Anerkennung. Aber A1 muß sich getäuscht sehen. Als Folge der einseitigen – und unfairen – Zurückhaltung seines Partners ist er nach dem „Tausch“ weiter von A2 abhängig: Er hat die Kontrolle über den guten Rat nur halb erhalten und müßte, um an das Ereignis Er ganz heranzukommen, noch etwas tun. A1 ist also weiter an einer Transaktion interessiert, A2 dagegen nicht. Weil aber A2 jetzt kein Transaktionsinteresse mehr hat, kommt kein neuer Tausch zustande, obwohl A1 das gerne hätte und legitimerweise auch darauf bestehen dürfte. Aber A1 kann nichts machen, außer sich empören. Wenn A2 nicht seinerseits ein schlechtes Gewissen bekommt, müßte A1 schließlich etwas anderes zusätzlich anbieten, was für A2 von Interesse ist. A2 hat den A1 sozusagen in der Hand. Er hat Macht über ihn, weil der andere noch ein Transaktionsinteresse hat (vgl. dazu noch Kapitel 12 in diesem Band ausführlich), er selbst aber nicht mehr. Aber ob A1 es wirklich mit A2, dem Filou, auch bei noch so starkem Interesse noch einmal versucht, ist mehr als
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Soziales Handeln
fraglich. Jetzt ist nämlich genau der Fall eingetreten, den George C. Homans für ausgeschlossen halten wollte: Einer der beiden hält sich in der Vorleistung zurück. Und dann ist es bald zu Ende mit der Kollegialität unter den Kollegen im Büro. Die Änderung des Gleichgewichts Mit dem Abschluß der Transaktion ist also ein Gleichgewicht entstanden. Es hat den gleichen Grund wie die Gleichgewichte der verschiedenen strategischen Situationen, die wir in Kapitel 2 und 3 in diesem Band kennengelernt haben: Niemand hat einen Anlaß, noch etwas anderes zu tun. Er würde sich nur wieder schlechter stellen (vgl. dazu auch noch die Kapitel über Märkte und Verhandlungen in Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Wenn nun nichts weiter geschieht, ist in unserem Büro sogar die Grundlage für „mehr“ geschaffen: Für die Entstehung eines „Systems“ der Kollegenhilfe, das bald nicht nur bloß auf Interessen beruht, sondern auch auf einer eingespielten Praxis und einer Kultur des Umgangs miteinander. In Kapitel 11 dieses Bandes gleich anschließend werden wir darauf noch einmal zurückkommen.
10.2 Konvertibilität Getauscht werden können im Prinzip alle möglichen Ressourcen. Daß man aber nicht bei allen beliebigen Gütern leichthin von „Tausch“ sprechen kann, war in dem Beispiel der Konsultation unter Kollegen schon deutlich geworden. Anerkennung ist doch etwas anderes als ein guter Rat, und zum Tausch der beiden Güter müssen die Akteure sich schon etwas überwinden. Gleichwohl ist der Austausch eines guten Rates gegen Anerkennung im Büro nicht ungewöhnlich oder gar verpönt. Aber was wäre wohl gewesen, wenn der ratsuchende Kollege als Gegenleistung für den guten Rat eine Liebeserklärung angeboten hätte? Es gibt also offenbar Dinge, die leichter, und andere, die schwerer gegeneinander zu tauschen sind. Das ist das Problem der Konvertibilität von Tauschgütern. Das Problem der Konvertibilität hat meist mit normativen Regeln, oft aber auch mit so etwas wie der „Technik“ der Ressourcen und ihren Funktionen und Nebenwirkungen zu tun. So gibt es beispielsweise Ressourcen und Güter, die „eigentlich“ gar keinen Wert haben – und dennoch sehr begehrt sind. Dazu zählt vor allem das Geld. Es läßt sich für fast alles eintau-
Transaktion
331
schen: Waren, Dienstleistungen, auch Anerkennung und Dank. Geld wieder gegen Geld zu tauschen, würde dagegen schon deutlich weniger Sinn machen, außer in der Wechselstube natürlich. Es gibt aber auch Güter, bei denen es sich fast verbietet, sie miteinander zu verrechnen – wie das Geld mit der Liebe beispielsweise. Eine Klassifikation Von Edna B. Foa und Uriel G. Foa stammt eine für diese Zusammenhänge aufschlußreiche Klassifikation von Tauschressourcen nach ihrer Konvertibilität.8 Sie unterscheiden sechs verschiedene Klassen von Tauschressourcen – Liebe, Status, Information, Geld, Güter und Dienste: „Love is defined as an expression of affectionate regard, warmth, or comfort; status is an expression of evaluative judgment which conveys high or low prestige, regard, or esteem; information includes advice, opinions, instruction, or enlightenment, but excludes those behaviors which could be classed as love or status; money is any coin, currency, or token which has some standard unit of exchange value; goods are tangible products, objects, or materials; and services involve activities on the body or belongings of a person which often constitute labor for another.“ (Foa und Foa 1980, S. 79; Hervorhebungen im Original)
Die sechs Ressourcen können nach Foa und Foa entlang von zwei Dimensionen geordnet werden: Konkretheit versus Symbolismus und Partikularismus versus Universalismus. Eine Dienstleistung ist – beispielsweise – konkreter als eine Information. Und die Liebe ist, da sie stets an eine ganz bestimmte Person gebunden ist, partikularer als das Geld, das ja von jedermann gerne genommen wird. In einem zweidimensionalen Raum sieht die Anordnung dann so aus wie in Abbildung 10.4. Je weiter die Ressourcen in diesem Raum voneinander entfernt sind, um so schwieriger wird ihr Tausch. Besonders schwierig ist deshalb der Tausch von Geld gegen Liebe oder von Status gegen Güter. Je partikularer eine Ressource ist, um so eher wird sie gegen die gleiche Ressource getauscht: Liebe gegen Liebe also, kaum aber Geld gegen Geld. Das liegt daran, daß Geld letztlich nur ein „Medium“ des Tausches ist und keinerlei eigenen Wert hat (vgl. dazu noch Abschnitt 10.4 gleich unten in diesem Band). Und wertlose Dinge zu tauschen, macht sicher keinen Sinn. Eine unmittelbare und äquivalente Gegenleistung ist am ehesten zu erwarten, wenn sich die Ressourcen in ihren Eigenschaften dem Geld nähern. Also: Eher bei Information gegen Güter als bei 8
Vgl. Foa und Foa 1980, S. 78ff.; siehe auch Paul B. Hill und Johannes Kopp, Familiensoziologie. Grundlagen und theoretische Perspektiven, Stuttgart 1995, S. 94ff.
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Ressource unter Kontrolle, die er aber leider nicht gegen eine ihn sehr interessierende andere Ressource tauschen darf: Geld gegen Liebe oder Liebe gegen Geld, beispielsweise wieder einmal. Was nun? Ein Ausweg aus dem Problem der mangelnden Konvertibilität mancher wichtiger Ressourcen ist die Schaffung einer diffusen Beziehung, in der sich mehrere Transaktionen mit verschiedenen Arten von Tauschgütern überkreuzen und vermischen. Die Beziehung ist dann nicht mehr an eine Ressource gebunden und uniplex, sondern an mehrere gleichzeitig und somit multiplex. Meist geht das nicht mehr als einfacher bilateraler Tausch mit fixierter und terminierter Gegenleistung, allein weil die verschiedenen Transaktionen dann nur noch mit äußerster Mühe alle gleichzeitig abgeschlossen und ausgeglichen werden können. Das spätestens erzwingt, bei hinreichend hohem Transaktionsinteresse, Tauschformen, bei denen der Ausgleich multilateral und eben nicht fixiert und nicht terminiert erfolgt, und wobei deshalb auch nicht nur tauschnahe Ressourcen umlaufen müssen. Es kommt zum sog. generalisierten Tausch (vgl. dazu noch Abschnitt 11.1 in diesem Band ausführlich). Der Ausbau einer Beziehung von einem einfachen bilateralen und auf eine Sache beschränkten Tausch zu einer Beziehung, die an vielen Fäden hängt, ist der Beginn eines solchen multilateralen generalisierten Systems, in dessen Rahmen alle interessanten Leistungen erbracht und verteilt werden (siehe dazu auch noch Kapitel 11 in diesem Band insgesamt). Ein anderer Ausweg aus dem Problem der mangelnden Konvertibilität bestimmter Ressourcen ist dagegen gerade die Abkehr von diffusen und multiplexen und generalisierten Tauschbeziehungen: die Spezialisierung und die Auslagerung des Tausches bestimmter Ressourcen, die „normalerweise“ nur schwer unmittelbar zu tauschen sind, in eigene funktionale Sphären oder kulturelle Milieus, sowie die, gleich schon mit dem Beginn der Beziehung einberechnete, spezielle Tauschleistung (vgl. dazu bereits Kapitel 3 über die „Soziale Differenzierung“ in Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Das geht etwa über die Schaffung von speziellen Institutionen, eigenen sozialen Beziehungen oder von besonderen sozialen Räumen, in denen relativ tauschferne Ressourcen, gewollt und als Zweck der Einrichtung, oder unintendiert und nebenbei, doch getauscht werden können: beim Friseur etwa eine Dienstleistung gegen Information (und indirekt gegen Geld natürlich). Oder im Bordell eine bestimmte und auf einen ganz bestimmten Aspekt zugespitzte Art von „warmth or comfort“ gegen Bezahlung mit Geld. Die auch offizielle Umdefinition der Prostitution als „Dienstleistung“ würde – beispielsweise – das Problem der Konvertibilität zweier zunächst recht entfernter Ressourcen weiter entschärfen. Und wenn diese Art der „Liebe“ gar als ein ganz normales Markt-„Gut“ gehandelt werden könnte, dann läge dem relativ problemlosen einfachen Tausch nichts mehr im Wege.
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Großzügige Partner für gelegentliche Treffs, Sex-Shops und Begleitagenturen sind – mit allen ihren Zwischenschattierungen – also Einrichtungen, in denen die Transformation der „Liebe“ in eine leicht monetarisierbare Ware weit vorangetrieben wird – und wodurch die Menschen, letztlich wohl zu ihrem Schaden, zunehmend unabhängiger von dem diffusen und für sie unentbehrlichen multiplexen Beziehungsgeflecht werden, in die die Produktion und Transaktion von Liebe und Zuneigung normalerweise eingebettet sind. Es sind gesellschaftliche Einrichtungen zur Verstärkung der Konvertibilität von Ressourcen, die normalerweise kaum getauscht werden können.
10.3 Die Transaktion von Rechten: Autorität und Einfluß Eine der interessantesten Ressourcen ist das Handeln der Menschen unmittelbar. Aber ausgerechnet darüber kann die Kontrolle auf einen anderen Akteur nicht übertragen werden: Wer nicht gut Schreibmaschine schreiben oder Arien singen kann, erwirbt diese Fähigkeit nicht, wenn er jemandem, der es kann, dafür Geld gibt. Man kann höchstens selbst einen Kurs besuchen oder einen Gesangslehrer engagieren und dafür bezahlen und sich dann an die Schreibmaschine setzen oder auf die Bühne stellen. Der Erfolg wäre sehr ungewiß. Viel einfacher wäre demgegenüber: Man stellt jemanden ein, der gegen Bezahlung und auf Anweisung die betreffende Tätigkeit ausübt – möglichst so, wie man sich das vorgestellt hat. Die Transaktion von Rechten Das aber heißt: Wer immer an gewissen, mit dem Handeln einer Person unmittelbar verbundenen, Leistungen interessiert ist, kann zwar nicht das Handeln dieser Person selbst, wohl aber die Bestimmung über deren Handeln unter Kontrolle zu bringen versuchen. Anders gesagt: Ein Akteur 1 tritt – gegen eine bestimmte Kompensation und in einem festgelegten Rahmen – das zunächst von ihm gehaltene Recht über die Kontrolle des eigenen Handelns an einen Akteur 2 ab. Rechte gibt es über Güter, über Nutzungen von Gütern oder auch über Rechte wiederum, oder aber auch über das eigene Handeln. Ein Recht besteht dann, wenn ein Akteur die Kontrolle über eine Ressource ausübt, ohne daß jemand diese Kontrolle bestreitet (vgl. dazu bereits Abschnitt 4.2 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“; vgl. auch Coleman 1990, S. 67ff.). Ob jemand ein Recht „hält“ oder nicht, ist also eine
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Frage des Konsensus unter den betreffenden Akteuren oder der jeweils geltenden Verfassung. Ein Recht, das jemand „hat“, ist so gesehen auch eine kontrollierte Ressource, die man – bis auf bestimmte Ausnahmen wie die zugeschriebenen oder die „unveräußerlichen“ Rechte – an andere Personen übertragen kann. Ein Recht ist folglich so etwas wie ein Stück Papier, auf dem beschrieben ist, was der Akteur 2, der das Papier besitzt, von dem Akteur 1 verlangen kann, ohne daß sich Widerspruch erhebt: „The actor (Akteur 2; HE) holding this paper has the right to direct certain actions of actor 1. This right is subject to the following limitations (on classes of actions, time, place, or other dimensions).“ (Coleman 1990, S. 67)
Die Übertragung des Rechtes auf die Bestimmung des Handeln löst das beschriebene Problem, daß die Kontrolle über das Handeln selbst nicht transferiert werden kann. Nun kann ich jemanden einstellen, der Schreibmaschine schreiben oder Arien singen kann, und das besser als ich, auch nach langen Kursen und zahllosen Gesangsstunden. Autorität Die Abgabe des Rechtes über das eigene Handeln oder die Übernahme des Rechtes über fremdes Handelns ist für die Akteure oft eine ganz besonders interessante Transaktion: Der Chef kann eben nicht alles selbst machen und braucht dazu jemanden, der seinen Weisungen folgt. Und die arbeitslose Sekretärin sucht händeringend einen Job, der ihr Arbeit, ein Einkommen und eine sinnvolle Beschäftigung bietet. Und deshalb tauscht sie, bereitwillig, das Recht über ihre Arbeitskraft gegen die tariflich geregelte Bezahlung und ein tariflich nicht zu regelndes gutes Betriebsklima. Die Übertragung eines Rechtes auf die Bestimmung des eigenen Handelns von einem Akteur auf den anderen geschieht, wenn nicht Zwang dahinter steht, über einen freiwillig geschlossenen Vertrag, in dem festgelegt ist, was wann wo gegen welche Entlohnung zu leisten ist. Aber auch nun gibt es wieder ein Problem: Eine Sekretärin kann zwar eingestellt und in ihre Aufgaben eingewiesen werden, schreiben und das Büro organisieren muß sie aber immer noch selbst. Der Chef hat – mit der Vertragsschließung und in dessen Rahmen – nur das Recht auf die Bestimmung ihres Handelns, nicht aber das Handeln selbst unter Kontrolle. Er könnte der Sekretärin zwar „mit Recht“ sagen, daß jetzt aber bald mal wieder die Ablage gemacht werden müßte, und daß sie, bitte, gleich aber zum Diktat kommen möge. Die Sekretärin wird – normaler-
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weise – den Anweisungen für ihr Handeln auch folgen. Sie erhält ja eine Bezahlung dafür. Aber was sie genau kann und will und tut, das ist immer nur sehr schwer zu kontrollieren. Mit der Abgabe des Rechtes auf die Bestimmung des Handelns entsteht eine sog. Autoritätsbeziehung: Die das Recht abgebende Person unterwirft sich der „Herrschaft“ desjenigen, der das Recht erwirbt. Das ist – von den Extremfällen des Zwanges, etwa bei der Sklaverei, einmal abgesehen – wie bei jedem Tausch keine einseitige Angelegenheit: Die Abgabe des Rechtes muß sich für die abgebende Person lohnen. Warum sollte jemand sonst die Bestimmung über sein Handeln abgeben? Meist wird, jedenfalls nach einiger Zeit, eine zunächst durchaus rein auf Interessen gegründete Beziehung der Autorität bzw. der Herrschaft von einem normativen und „erklärenden“ Rahmen umgeben, der der Beziehung eine besondere Begründung, Geltung und Legitimation verleiht. Die Legitimation einer Autorität bzw. einer Herrschaft ist ein Spezialfall der Entstehung einer Institution: Die zuerst auf bloßem Tausch beruhende Beziehung wird zu einer normativ gestützten sozialen Beziehung (vgl. dazu noch Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Konjunkte und disjunkte Autorität James S. Coleman unterscheidet zwei verschiedene Arten eines Tausches von Rechten gegen bestimmte Leistungen und damit zwei verschiedene Arten von Autoritätsbeziehungen (Coleman 1990, S. 72ff.): eine konjunkte und eine disjunkte Autoritätsbeziehung. Konjunkt ist eine Autoritätsbeziehung dann, wenn die Kompensation für die Überlassung des Rechtes in gewissen „intrinsischen“ Leistungen aus der Autoritätsbeziehung selbst besteht: Schutz, Orientierung, Unterhaltung, Führung oder Entlastung bei Entscheidungen. Der Eintritt in eine Kommune oder Sekte, der Tausch von Schutz gegen Lehen im Feudalismus oder die Unterordnung unter einen charismatischen Führer sind Beispiele für eine konjunkte Autoritätsbeziehung. Charakteristisch ist hierbei, daß die Interessen der Akteure konvergieren und die strategische Situation dabei keine DilemmaSituation ist: Die Leistung der Autorität selbst ist es, was die Untergebenen interessant finden und was sie als Gegenleistung für ihre Unterordnung und Hingabe suchen. Eine disjunkte Autoritätsbeziehung gibt es dagegen dann, wenn die Gegenleistung in einer „extrinsischen“ Bezahlung, etwa mit Geld oder anderen anderweitig tauschbaren Gütern erfolgt. Geschäftsführer, die die Geschäfte des
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Vorstandes einer Aktiengesellschaft gegen ein gutes Gehalt führen, unterliegen einer solchen disjunkten Autoritätsbeziehung. Hier divergieren die Interessen von Vorgesetzten und Untergebenen. Nun handelt es sich um eine Dilemma-Situation besonderer Art – das sog. principal-agent-Problem (vgl. Coleman 1990, S. 145ff.): Der Agent möchte – wegen der Divergenz der Interessen – möglichst wenig an Leistung gegen eine möglichst hohe Kompensation erhalten, der Prinzipal ist genau am Gegenteil davon interessiert. Ein großer Teil der Organisationssoziologie hat genau mit diesem Problem zu tun: Wie überwindet man das principal-agent-Problem? Unsere Sekretärin wird bei ihrer Einstellung wohl zunächst nur disjunkte Gründe gehabt haben. Wenn der Chef nett und das Betriebsklima auch sonst gut ist, kommt vielleicht der eine oder andere konjunkte Gesichtspunkt dazu. Aus einem Büro, in dem jeder auf die Uhr und auf die nächste Gehaltserhöhung schielt, kann so allmählich eine familiäre und „gemeinschaftliche“ Angelegenheit werden, der sich alle, schließlich auch der Chef, unterwerfen, und mit der sich alle identifizieren (vgl. dazu auch noch Abschnitt 11.3 unten in diesem Band). Aber auch der umgekehrte Fall wird übrigens beobachtet. Zwang versus Vertrag Die Übertragung von Rechten, und damit: die Konstitution einer Autoritätsbeziehung, kann, wie oben bereits beschrieben, über Zwang oder Vertrag erfolgen. Der Unterschied ist die Freiwilligkeit, mit der die Rechtsübertragung erfolgt: Einem Despoten wird das Recht über das eigene Handeln überlassen, damit der bestimmte befürchtete Dinge nicht tut. Um das zu verhindern, unterwirft man sich dem Willen des Despoten. Einem vertraglichen Angebot wird dagegen zugestimmt, um an die Vorteile der Gegenleistungen zu kommen. Manchmal gibt es Mischformen freiwilliger und unfreiwilliger Autoritätsbeziehungen. Ein Arbeits- oder Liebesverhältnis wird vielleicht „vertraglich“ begonnen, entwickelt sich dann aber nicht zum Guten. Inzwischen sind jedoch die – vorher noch überreichlich angebotenen – Alternativen entschwunden und die Austrittskosten deutlich gestiegen. Es tut sich – Schritt für Schritt und ganz unmerklich – eine verhängnisvolle Falle auf, aus der nur ein Lottogewinn oder der Märchenprinz einen Ausweg weisen könnten. Oder aber der umgekehrte Fall: Es wird ein ungeliebter Job übernommen oder eine Vernunftehe geschlossen. Und mit einem Mal sind es der Traumberuf und die Wunschehe.
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Einfluß Unter Einfluß wird dann jener Spezialfall einer Autoritätsbeziehung verstanden, bei dem ein Akteur das Recht auf sein Handeln an einen anderen ohne jede erkennbare Gegenleistung abtritt. Das ist der Fall bei den sog. opinion leaders oder bei den Trendsettern, denen blindlings in jeder neuen Torheit gefolgt wird. Gegenseitige Autorität Der Tausch des Rechtes auf die Bestimmung des eigenen Handelns kann natürlich auch gegenseitig sein. Das ist, so hört man, in Liebesbeziehungen so. Auch diese gegenseitige Überlassung des Rechtes auf das eigene Handeln ist eine Transaktion. Sie geschieht, wenn sich beide davon eine Verbesserung der Situation versprechen. In ihrem Rahmen wird vieles an anderen Transaktionen möglich, was sonst unterbleiben würde, weil die Ressourcen „eigentlich“ nicht getauscht werden können oder dürfen. Insofern ist die Liebe – und, wie wir noch sehen werden, das Geld – nicht nur eine interessante Ressource, sondern unter Umständen auch ein Mechanismus zur Überwindung von Hemmnissen der Transaktion noch ganz anderer Güter und Leistungen. Der Zerfall der Autorität Wie jede andere Transaktion muß auch die gegenseitige Übertragung von Rechten auf das eigene Handeln nicht auf ewig halten. Eine Beziehung der Autorität zerbricht, wenn einer der Transaktionspartner die Überlassung des Rechtes auf sein Handeln nicht mehr vorteilhaft genug findet – vorausgesetzt es gibt für ihn eine bessere und auch verfügbare Alternative. Scheidungen und Revolutionen sind Spezialfälle für einen solchen Zerfall einer Autoritätsbeziehung. Dazu reicht es, wenn einer die Nase voll hat – und sich aufrafft, das Nötige zu tun.
10.4 Medien der Transaktion Die technischen und normativen Beschränkungen in der Konvertibilität bestimmter Ressourcen, wie wir sie eben kennengelernt haben, sind oft schon ein großes Hindernis für manche, an sich ganz nützliche Transaktion. Auch
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die für viele kollektive Unternehmungen so hilfreiche Übertragung von Rechten an eine Autorität unterbleibt oft genug, weil die Risiken, das einmal abgetretene Recht wiederzugewinnen, allzu hoch erscheinen. Davon unabhängig steht, wie wir in Abschnitt 10.1.2 gesehen haben, jede elementare Transaktion ohnehin vor zwei weiteren großen Hemmnissen: den Kosten der Transaktion und dem Risiko, ob eine Vorleistung auch wirklich ausgeglichen wird. Diese Hemmnisse sind ein ganz besonderes Problem besonders schon bei jener Grundform des Tausches, ohne die die Entwicklung der Menschheit, vor allem in ihren frühen Formen der gesellschaftlichen Organisation, undenkbar gewesen wäre, und auch heute noch in vielen Teilen der Welt undenkbar ist: dem unmittelbaren oder direkten Tausch von Naturalgütern „Ware gegen Ware“. Das Problem eines direkten Tausches „Ware gegen Ware“ läßt sich leicht veranschaulichen. Wenn ich etwa Gemüse anbaue und anbieten kann und gleichzeitig Fisch brauche und nachfrage, dann muß ich jemanden finden, der zu mir genau komplementär Fisch anbietet und Gemüse nachfragt. Und nichts anderes. Sonst kommt der Tausch nicht zustande. Die Suche nach diesem seltenen, genau passenden Exemplar eines interessierten und gleichzeitig interessanten Tauschpartners ist aber meist mühselig und teuer und erscheint oft aussichtslos. Es gibt jedoch einen Ausweg: Ich könnte einem Fischhändler, der zwar kein Gemüse will, wohl aber, sagen wir einmal, Salz, versprechen, daß, wenn er mir jetzt den Fisch gibt, ich ihm später das gewünschte Salz vorbeibringe, sobald ich jemanden gefunden habe, der mir das Salz gegen mein Gemüse tauscht. Oder: Ich verspreche, daß der Salzhändler selbst vorbeikommt und das Salz bringt, das ich ihm, dem Fischhändler schulde, und womit er mir für die Herausgabe des Gemüses an ihn bezahlt hätte, wenn ich selbst das Salz gebracht hätte. Mit dieser Abmachung könnte ich mich mit meinem Fisch alsbald nach Hause begeben. „Aber“, so fragt sich der Fischhändler, „kommt – von wem auch immer – das Salz wirklich bei mir an?“ Kurz: Was ist, wenn der Fischhändler meinen Beteuerungen nicht glaubt? Wahrscheinlich winkt er ab – und ich muß weitersuchen. Inzwischen ist das Gemüse schon ganz welk geworden. Und auch der Fisch auf der Auslage des Fischhändlers riecht schon ganz bedenklich.
Das Problem ist klar: Es gibt zwar Interdependenzen zwischen den Akteuren, und es gibt ein prinzipielles Transaktionsinteresse, aber die Verteilung von Kontrolle über und Interesse an den Gütern ist unglücklicherweise nicht so, daß die Akteure ein unmittelbares bilaterales Transaktionsinteresse entwickeln oder die Hürde des Risikos der einseitigen Vorleistung leichthin überwinden könnten. Wie nützlich wäre es da, wenn es ein Gut gäbe, an dem alle Akteure ein hohes Interesse hätten und bereit wären, dafür ihr jeweiliges Produkt herzugeben, und bei dem der Ausgleich der Leistungen tatsächlich auch unmittelbar erfolgen könnte, so daß es eine „Vor“-Leistung und damit ein Risiko nicht mehr gäbe! Selbstverständlich sollten die Transaktionen mit diesem Gut nicht ihrerseits allzu teuer sein und nicht selbst wieder einem zu hohen Risiko unterliegen. Gäbe es ein solches fabelhaftes Gut aber, so könnte es –
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sozusagen – zwischen den Transaktionen mit den „eigentlichen“ Tauschgütern „vermitteln“. Und allen wäre geholfen. Etwa so: Ich gebe mein Gemüse an irgendjemanden, der es haben will, und erhalte dafür, sagen wir, eine seltene Muschel, von der ich weiß, daß jedermann sie begehrt. Mit der Muschel kann ich mich dann wohlgemut auf die – jetzt deutlich erleichterte – Suche nach einem Fischhändler machen, der mit Gemüse nichts im Sinn haben muß, aber, wie ich sicher annehme, die Muschel als Gegenleistung gerne akzeptiert. Und das tut der nicht allein, weil die Muschel so hübsch und selten ist, sondern – auch, oder vor allem – weil er ebenso sicher weiß, daß dies jeder andere auch täte, dem er sie für eine (nahezu) beliebige Leistung anbietet.
Die Muschel schiebt sich also zwischen die Transaktion von Gemüse gegen Fisch und vermittelt so deren Tausch. Sie ist damit ein Medium der Transaktion der „eigentlich“ interessierenden Waren. Als ein solches Medium hat sie selbst nicht unbedingt einen wirklichen eigenen Gebrauchswert, wenngleich das nicht ausgeschlossen ist, etwa wenn jemand ein leidenschaftlicher Sammler seltener Muscheln ist. Ihr Wert liegt vielmehr in ihrer Funktion: die Leistung einer drastischen Senkung der Transaktionskosten und einer deutlichen Minderung des Risikos des Tausches – mit der Folge, daß alle besser dastehen, auch wenn die ganze Geschichte mit der Kette „Ware-Medium-Ware“ auf den ersten Blick umständlicher und „entfremdeter“ erscheinen mag als der unmittelbare Tausch von „Ware gegen Ware“. Geld Das Geld ist ein solches Medium der Transaktion. Mehr noch: Es ist das einzige Medium der Transaktion, das alle genannten Bedingungen vollauf erfüllt: die Senkung der Transaktionskosten und der sofortige Ausgleich der Leistungen mit der Folge einer Ausschaltung des Tauschrisikos. Außerdem erfüllt es, wenn es als „Währung“ eine „Geltung“ hat, in besonderem Maße die Bedingung, daß seine Verwendung als Medium selbst wenig kostet und seinerseits, sofern die Inflationsrate niedrig ist, kaum Risiken birgt. Seine wichtigste Eigenschaft ist das allgemeine Interesse an seinem Besitz, wodurch es seine Eigenschaft als generalisiertes Tauschmittel erhält. Die Erfindung des Geldes Der Zusammenhang zwischen allgemeinem Interesse und der Verwendbarkeit einer Ressource als Transaktionsmedium wird bei der Erfindung des Geldes als Medium der Transaktion sehr deutlich.
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Entstanden ist das Geld aller Wahrscheinlichkeit nach auf die folgende Weise:9 Zunächst wird von einigen findigen Akteuren beobachtet, daß es allgemeiner interessierende Tauschgüter gibt, wie Salz oder Vieh. Es wäre also naheliegend, ein angebotenes spezielles und selten nachgefragtes Gut erst in ein solches, mehr „fungibles“ Gut einzutauschen und dann damit auf die deutlich erfolgversprechendere Suche nach einem Tauschpartner zu gehen, der das nachgefragte spezielle Gut zwar anbietet, aber das angebotene spezielle Gut nicht nachfragt, jedoch bereit wäre, das allgemeinere Gut zu akzeptieren. Wenn das funktioniert, finden bald auch weniger findige Interessenten, daß das eine hilfreiche Sache ist. Mit der Verbreitung dieser Technik wird der Tausch mit dem einmal etablierten allgemeiner interessierenden „Medium“ immer leichter. Salz oder Vieh oder andere allgemeiner interessierende Güter, wie Zigaretten in Kriegsgefangenenlagern oder, wie in manchen Indianerstämmen, sogar Frauen, fungierten so als Vor- oder Ersatzformen des Geldes.
Nicht alle Güter eignen sich jedoch gleichermaßen als Medium der Transaktion. Salz beispielsweise ist feuchtigkeitsempfindlich und Vieh nur schwer zu transportieren und, wenn es nötig wäre, umständlich zu portionieren, sowie, wenn man es dann doch tut, leicht verderblich. Wie hilfreich wäre da ein Gut, das zwar auch allgemein interessant ist, aber dauerhaft, teilbar und leicht transportierbar wäre und, nicht zuletzt, nicht so leicht zu produzieren oder selten ist – und schließlich nur noch als Medium fungiert, aber gleichwohl sein allgemeines Interesse behält! So sind die Münzen erfunden worden, auf denen ein bestimmter Wert aufgeprägt war. Zunächst waren sie aus Gold und repräsentierten den Tauschwert durch ihren Metallwert. Später wurde der gleiche Wert auch auf minderes Material geprägt. Dabei zeigte sich rasch die Wirksamkeit des sog. Greshamschen Gesetzes: Das in seinem „Eigenwert“ schlechtere Geld verdrängt das gute Geld, weil es neben seiner Funktion als Tauschmedium noch als Gebrauchsgut begehrt ist. Goldmünzen werden gehortet, Blechmünzen dagegen nicht, aber die Blechmünzen funktionieren – unter gewissen Bedingungen – weiterhin als Transaktionsmedium. Ähnliches wird für die sog. Zigarettenwährungen berichtet.10 Schließlich reicht es aus, daß der Geld-„Wert“ nur noch auf einem als Gebrauchsgut völlig uninteressanten Schein aufgedruckt steht. Und spätestens dann wird etwas anderes wichtig: die Brauchbarkeit der Ressource allein als Medium – und die Garantie, daß diese Brauchbarkeit auch „gilt“.
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Vgl. Carl Menger, Ueber das exacte (das atomistische) Verständniss des Ursprungs jener Socialgebilde, welche das unreflectirte Ergebniss gesellschaftlicher Entwickelung sind, in: Carl Menger, Untersuchungen über die Methode der Socialwissenschaften und der Politischen Oekonomie insbesondere, Leipzig 1883, S. 174ff.; Harris 1989, S. 137ff. Siehe auch Ferdinando Galiani, Money, in: Arthur E. Monroe (Hrsg.), Early Economic Thought. Selections from Economic Literature Prior to Adam Smith, New York 1975, S. 281-307. Vgl. R. A. Radford, The Economic Organization of a P.O.W. Camp, in: Economica, 12, 1945, S. 194.
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Geld und Geltung Muscheln, Gold oder bedruckte Papierscheine haben alle diese, für die Funktion als Medium der Transaktion, sehr nützlichen Eigenschaften. Aber gerade deshalb fehlt ihnen eine andere Eigenschaft: Sie sind – anders als Salz oder lebendes Vieh etwa, von Frauen einmal ganz abgesehen! – eben nicht unmittelbar interessant. Wenn jetzt jemand die angebotene Muschel, das Gold oder den Papierschein nicht annähme, dann stünde ich wieder da. Es müßte also für den Wert des „an sich“ ganz wertlosen Mediums eine Garantie geben, daß es auch überall akzeptiert wird. Kurz: Das betreffende Medium müßte zur „Geltung“ kommen. Dann erst wäre es „richtiges“ Geld. Die Geltung eines Gutes als Geld kann durchaus „evolutionär“ ohne besonderen hoheitlichen Akt entstehen und rein auf Konvention oder Gewohnheit beruhen. In den Frühphasen der Entstehung des Geldes sorgte für die Absicherung der soziale und zeremonielle Rahmen, in den etwa bei einfachen Stammesgesellschaften alle ökonomischen Transaktionen eingebettet sind: Man sieht sich immer wieder und tut auch noch andere Dinge gemeinsam, so daß ein Mißbrauch der als „Geld“ fungierenden Medien sofort auffallen und sanktioniert würde (siehe dazu auch noch den Exkurs über ein immer noch ungelöstes Rätsel: Der Kula-Ring gleich unten, sowie Kapitel 11 in diesem Band insgesamt). Für größere und funktional differenzierte Gesellschaften ist diese Art der gemeinschaftlichen Absicherung der Geltung des Geldes nicht mehr ausreichend. Deshalb sorgen dort der Staat und die jeweiligen Zentralbanken dafür. Heute wird Geld fast ausschließlich über hoheitliche Akte zur Geltung gebracht, etwa über eine Währungsreform, wie bei der Ablösung der Reichsmark durch die Deutsche Mark 1948, bei der Herstellung einer Währungsunion, wie bei jener zwischen der DDR und der „alten“ BRD im Sommer 1990, oder über die geplante und auch gegen Widerstände durchgesetzte Schaffung einer neuen Währung – wie bei der Einführung des Euro als einheitliches europäisches Zahlungsmittel. Oft wird angesichts dieser hoheitlichen Garantien vergessen, daß die Zirkulation von Geld immer etwas mit dem Vertrauen zu tun hat, daß sich damit letztlich unmittelbar interessierende Güter unter Kontrolle bringen lassen. Spätestens in Zeiten des Geltungsverfalls einer Währung, wie bei einer galoppierenden Inflation, zeigt sich aber, daß es auf die Allgemeinheit des Interesses, auf die tatsächliche Verläßlichkeit des Geltungsversprechens und auf die „reale“ Fundierung des Tauschkreislaufs in einem Verkehr von unmittelbar interessanten Waren ankommt. Als nach dem Zweiten Weltkrieg die Reichsmark nichts mehr wert war, wurden auf den Schwarzmärkten die Waren mit Zigaretten als Medium, der sog. Zigarettenwährung, getauscht. Warum wohl waren es Zigaretten und nicht – sagen wir – Brillengestelle?
Geld ist also ein Medium der Transaktion, das Geltung besitzt. Es bedarf der Sicherung seiner Geltung um so mehr, je weniger „intrinsischen“ Wert es hat. Diesen intrinsischen Wert verlieren die Medien, wie wir gesehen ha-
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ben, jedoch aus einem guten Grund: Sie werden einfacher zu handhaben und sind für ihren Zweck als Medium ganz schlicht brauchbarer und kostengünstiger. Deshalb hat sich das Geld von seinen Vorformen als Salz oder Rinder über (seltene) Muscheln und Gold schließlich zu Münzen und Papierscheinen entwickelt, auf denen früher noch stand, daß gegen Vorlage der Münze oder des Scheines die Bank des Herrschers einen gewissen Gegenwert an Gold zahlen würde. Alles das war immer noch sehr unhandlich. Kaum etwas stört das Shopping mehr als ein mit Geldscheinen und Münzen zu volles Portemonnaie, das einem auch geklaut werden kann. Inzwischen gibt es das Giralgeld, das keiner mehr sieht oder in den Händen hält. Und es gibt die Kreditkarten, bei denen man, wenn alles gut läuft und Papa pünktlich die Apanage überweist, sogar ganz vergessen kann, daß es um Gegenleistungen und um Knappheiten geht.
Mit der Ausdünnung des intrinsischen Wertes des Geldes, mit dem Wert der gehandelten Güter und mit dem Risiko der wirklichen Geltung wird die institutionelle Absicherung der Funktion des Geldes als Medium der Transaktion immer wichtiger. Das aber sind alles Folgen, die die Ausdehnung des Handels und der Beziehungen ganz allgemein über weite zeitliche, räumliche und soziale Distanzen mit sich gebracht hat. Das Geld ist deshalb inzwischen nicht aus Zufall fast überall ein gesetzliches Zahlungsmittel und eben keine bloße informelle soziale Konvention, über die die Gemeinschaft insgesamt und eben keine Zentralinstanz wacht. Mit der institutionellen und hoheitlichen Absicherung kann es aber auch auf die eine Funktion konzentriert werden, zu der es erfunden wurde: seine Funktion als Medium. Staat und Zentralbank versprechen – mit der Zuspitzung des Geldes als „nacktes“ Medium auf seine einzige Funktion der Vermittlung von Transaktionen – inzwischen auch überhaupt keine „reale“ Gegenleistung mehr – wie noch bei dem Versprechen auf den Eintausch einer Münze oder eines Papierscheins gegen Gold in Höhe des aufgestanzten oder aufgedruckten Betrags. Sondern nur noch: die Sicherung der Funktion des Geldes als Zahlungsmittel und seines Umlaufwertes über die Bekämpfung der Inflation. Geld als Symbol Geld ist aber nicht nur ein Medium der Transaktion von Gütern, sondern auch ein Zeichen. Geld definiert die Situation auch kulturell und erfüllt sie mit einem ganz bestimmten sozialen Sinn. Es wird mit einer Zahlung mit Geld immer auch ein bestimmter Code der gedanklichen und emotionalen Rahmung der Situation aufgerufen und ein ebenso bestimmtes Programm des Handelns aktiviert. Geld ist damit stets auch ein Symbol für eine bestimmte „soziale Beziehung“: Ein als Geld geltender bunter Papierschein oder allein schon der
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sichtbare Akt einer „Zahlung“ löst bei den Akteuren gewisse innere „Einstellungen“ aus, an denen sie sich in ihrem Handeln gegenseitig orientieren. Wenn es um Geld geht also: Sparkasse, Wirtschaft, Egoismus, Rationalität, Berechnung. Und eben nicht: Brüderlichkeit, Altruismus, Moral, Liebe oder Wahrheit. Beim Geld hört bekanntlich die Freundschaft auf – und das nicht erst, wenn das geliehene Geld nicht pünktlich trotz aller freundschaftlicher Beteuerungen zurückgezahlt worden ist. Kurz: Geld ist nicht nur ein materielles Medium der Transaktion, sondern gleichzeitig ein symbolisches Medium der Kommunikation und der sozialen Definition der Situation. Die symbolische Funktion des Geldes ist dabei kein bloßes Beiwerk. Mit ihr wird die „eigentliche“ Leistung des Geldes als Medium der Transaktion deutlich unterstützt: Es garantiert über seinen eindeutigen Code und über sein klares Programm seine Annahme und damit seine Wirkung als Medium. Mit jeder vollzogenen Zahlung wird außerdem die „Geltung“ des Geldes noch einmal kulturell bekräftigt. Die symbolische Absicherung und Ingeltungsetzung des Geldes und die Praxis des Zahlens sparen so ebenfalls Transaktionskosten und senken die Befürchtungen und Risiken einer einseitigen Vorleistung noch weiter. Die kulturelle und praktische Garantie des Mediums funktioniert – in gewissen Grenzen freilich und auch nicht ewig – dann sogar weitgehend ohne die Unterstützung einer externen hoheitlichen Instanz. Aber, so sei gleich hinzugefügt, die symbolische Funktion verfällt bald, wenn die „reale“ Geltung einer Währung ins Schwanken kommt. Es ist halt so, wie es im wirklichen Leben eben immer ist: Symbole sind ganz hilfreich und oft sogar nötig, aber letztlich bilden sie doch nicht den eigentlichen Kern der Transaktionen und der Medien, die sie erleichtern oder möglich machen. Wenn die materielle Geltung des Geldes verfällt, dann wird der Geldschein der unter Druck geratenen Währung bald zu einem anderen Symbol. Nämlich dem, die Finger von dem Schein zu lassen, der offenbar das Papier nicht wert ist, auf dem sein Geldwert gedruckt ist. Andere „Medien“ der Transaktion? Die Funktionen des Geldes sind die Senkung der Transaktionskosten und die Ausschaltung des Tauschrisikos. Diese Funktionen können ohne Zweifel auch andere Vorkehrungen, Umstände oder Aktivitäten erfüllen. Märkte etwa, an denen Händler aller Art zusammenkommen, senken auch Transaktionskosten. Das Vertrauen in den Tauschpartner läßt ohne Zweifel die Schwelle eines Tauschrisikos überwindbarer werden. Auch hilft die Orientierung an einem Oberziel, wie die Wahrheit, beim Austausch, etwa von methodischem und theoretischem Rat in einer soziologischen Forschergruppe. Unkontrollierbare Gefühle, unbedingte Hingabe oder feste innere Bindungen an
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den Akt der Transaktion selbst oder die Personen, die daran beteiligt sind, haben die gleichen Wirkungen, ebenso wie gewisse innere und äußere Prämien, die ein Akteur durch den Akt der Transaktion selbst bezieht. Auch externe Vorkehrungen der Absenkung von Transaktionskosten und der Sicherung der Transaktion haben eine solche Wirkung. Daher gewinnen auch Macht, staatliche Herrschaft, eine institutionell verankerte und mit Sanktionen bewehrte soziale Ordnung oder das Phänomen des Einflusses allgemein die Funktion der Erleichterung von Transaktionen (vgl. dazu auch noch Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
Macht und Wahrheit und Liebe und Moral haben – so gesehen – durchaus die gleiche Funktion wie das Geld: Sie machen an sich sehr unwahrscheinliche Transaktionen nicht nur möglich, sondern scheinen sie sogar gegen materielle Interessen zu erzwingen. Aber sind das alles dann auch „Medien“ der Transaktion, so wie es das Geld ohne Zweifel eines ist? Die herkömmliche soziologische Theorie scheint davon auszugehen. Sie unterscheidet nicht zwischen den symbolischen Medien der Kommunikation, von denen in Abschnitt 8.3 in diesem Band die Rede war, und den einen Tausch von Gütern vermittelnden Medien der Transaktion. Für sie sind Macht oder Liebe oder Wahrheit oder die Kunst auch „Medien“ – nicht nur der Kommunikation alleine. Das ist zunächst nicht unverständlich. Denn wie wir schon beim Geld gesehen haben, können symbolisch generalisierte Medien der Kommunikation durchaus auch die Funktion der Überwindung von Tauschhemmnissen haben. Ein „Medium“ der Transaktion kann, wenn man es dann doch einmal wörtlich nimmt, aber nur eine Ressource sein, die beim Tausch anderer Ressourcen vermittelt und dabei Transaktionskosten senkt und das Risiko abfedert. Solch ein Medium ist alleine das Geld. Moral, Vertrauen, Gefühle, Wahrheit oder der Code der Kunst sind keine Ressourcen, die sich irgendwie „zwischen“ die Transaktionsakte legen. Sie sind eben deshalb keine Medien der Transaktion. Ihre Wirkung ist eine andere: Sie „rahmen“ die gesamte Situation und bringen mit ihren Codes und Programmen die Transaktionen in eine Art von übergreifender „Organisation“. Mit ihrer Hilfe befinden sich die Akteure dann eben nicht mehr in einer strategischen, sondern in einer parametrischen Situation. Und vor diesem Hintergrund wird vieles an Transaktion möglich, was ansonsten unterbleibt. Aber nicht alles, was eine Transaktion ermöglicht, ist deshalb gleich auch ein Medium der Transaktion.
Eine rahmende Funktion hat das Geld mit seiner Symbolkraft zwar auch. Das Besondere am Geld ist aber, im Unterschied zu allen anderen „Medien“ der Transaktion, eben dies: Es entschärft die Risiken des Tausches auch in weiterhin strategischen Situationen – und macht somit Vertrauen, Moral und Gefühle überflüssig; für den Zweck des ökonomischen Tausches von Gütern wenigstens. Es ist das symbolische Medium für eine Welt, in der vor allem gerechnet und berechnet wird. ***
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Die symbolischen und institutionellen Aspekte des Geldes und der bei jeder Transaktion beteiligten Medien der Kommunikation sind wegen ihrer „mediatisierenden“ Funktionen in keiner Weise bloßes Beiwerk von Transaktionen. Ein bestimmter Kleidungsstil und die normative Definition der Beziehung als „Geschäft“ zeigt – etwa: dem Angestellten einer Bank im Gespräch mit einem Kunden am Schalter – an, daß eine bestimmte Vorleistung nicht allzu riskant ist. Symbole und dadurch aktivierte Einstellungen vermögen es, die Vorleistung mit dem nötigen Vertrauen zu versehen, ohne das die Transaktion unterblieben wäre. Umgangsformen und kleine Details des Äußeren sind daher, in der Wirkung ähnlich wie persönliche Bekanntschaften, ein oft ganz zentraler Teil der Senkung von Transaktionskosten und der Einschätzung des Risikos, daß die Gegenleistung auch wirklich erbracht wird. Praktisch alle, auch die naheliegendsten und selbst die allein vom Geld getragenen, Transaktionen müssen in einen solchen kulturellen und institutionellen Rahmen eingebettet sein, weil für sich allein genommen die Risiken und die Transaktionskosten meist zu hoch wären.
Exkurs über ein immer noch ungelöstes Rätsel: Der Kula-Ring In seinem Buch über die „Argonauten des westlichen Pazifik“ beschreibt der Anthropologe Bronislaw Malinowski eine, bis auf den heutigen Tag, etwas seltsam anmutende Form der Transaktion – den sog. Kula-Ring.11 Das Kula ist eine besondere Art des Tauschhandels zwischen bestimmten Stammesgesellschaften in der westmelanesischen Inselwelt (gewesen). Die Einwohner der Stämme lebten auf einer, wenn man etwas abstrahierend auf die bei Malinowski abgedruckte Seekarte sieht, ringförmig angeordneten Kette von Inseln (vgl. Abbildung 10.5). „Argonauten“ nannte Bronislaw Malinowski – bewundernd – die Inselbewohner, weil sie bei ihren Transaktionen wagemutig und mit großem Geschick äußerst risikoreiche Kanufahrten über das offene Meer unternahmen – um an Dinge zu kommen, die keinerlei unmittelbaren Wert zu haben schienen.
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Bronislaw Malinowski, Argonauten des westlichen Pazifik. Ein Bericht über Unternehmungen und Abenteuer der Eigeborenen in den Inselwelten von Melanesisch-Neuguinea, Frankfurt/M. 1979 (zuerst: 1922), insbesondere Kapitel III: Die Grundzüge des Kula, S. 115-141; vgl. auch die Zusammenfassungen bei Ekeh 1974, S. 24ff.; Heath 1976, S. 51ff.; Kappelhoff 1993, S. 92ff.; Harris 1989, S. 128ff.
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Abb. 10.5: Die in den Kula-Ring einbeschlossenen Inseln (nach Malinowski 1979, S. 114)
Die Geschichte vom Zug der Argonauten ist eine der großen Sagen des klassischen Altertums. Als Jason von Pelias, dem Stiefbruder seines Vaters Äson, die Herrschaft über Jolkos, dem heutigen Thessalien, arglos und mit nicht unfreundlichen Worten zurückerbittet, fleht ihn dieser, nicht ohne Hintergedanken, um einen großen Gefallen an: Er könne seine Seelenruhe nur finden, wenn man ihm das Goldene Vlies hole. Das Goldene Vlies befand sich bei Aetes, dem Herrn von Kolchis an der Küste des Schwarzen Meeres. Es wurde in der ganzen damaligen Welt als großer Schatz betrachtet. Er, Pelias, sei inzwischen leider zu alt für solche Abenteuer. Aber er, Jason, könne sich mit dem Raub des Goldenen Vlieses einen großen Namen machen. Pelias rechnete darauf, daß Jason der Versuchung auf diesen Ruhm nicht widerstehen könnte – und bei dem gefährlichen Zug über das Meer untergehen würde. Jason sagte in der Tat zu. Die berühmtesten Helden Griechenlands wurden anschließend zu dem kühnen Unternehmen aufgefordert. Am Fuße des Berges Pelion wurde aus einer Holzart, der das Meerwasser nichts anhaben konnte, ein Schiff für fünfzig Ruderer erbaut – „Argo“ genannt. Es war das erste lange Seefahrzeug, mit dem sich die Griechen auf die offene See wagten. Unter Gebeten und feierlichen Opfern weihte Jason vor der Abfahrt das Schiff dem Poseidon, dem Gott des Meeres. In einer abenteuerlichen Reise gelangte Jason schließlich trotz aller Widrigkeiten mit dem Goldenen Vlies wieder zurück in seine Heimat.
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Wenigstens auf den ersten Blick sieht der Kula-Tausch nicht wie ein Handel mit ökonomischen Gütern aus, sondern wie ein gigantisches Zeremoniell: Es wurden vom Gebrauchswert her eigentlich nutzlose Muschelschmuckstücke, die vaygu’a, getauscht. Diese bestanden aus zwei verschiedenen Arten: Halsketten aus roten Muscheln (soulava) und Armreifen aus weißen Muscheln (mwali). Der Tausch unterlag einer strengen Regelmäßigkeit: Wer die links von ihm liegende Insel besuchte, brachte Armreifen mit und erhielt Halsketten, wer die rechts von ihm liegende Insel aufsuchte, brachte Halsketten mit und erhielt Armreifen. Die Armreifen wanderten somit entgegen, die Halsketten im Uhrzeigersinn um die Inseln herum. Daher auch die Bezeichnung Kula-„Ring“. Der Kula-Tausch folgte zwei Grundsätzen: Es war erstens kein direkter „Tausch“, sondern eine „Gabe“, die nach einiger Zeit mit einer Gegengabe erwidert wurde; und die Bestimmung der Gegengabe lag zweitens allein in der Hand des Gebenden und konnte nicht erzwungen werden. Bei Annahme oder Weitergabe der Schmuckstücke wurde daher nicht verhandelt. Das wäre ein schwerer Bruch eines stillschweigenden Einverständnisses gewesen. Die Gegengabe konnte außerdem nicht direkt erfolgen. Ein Eingeborener von den Laughlan Inseln (oben rechts in der Abbildung 10.5) konnte beispielsweise die von jemandem von der Insel Woodlark erhaltenen Halsketten nur dadurch erwidern, daß er sie an einen Partner auf der Insel Misima weitergab. Der „Ausgleich“ mit seinem Nachbarn auf Woodlark erfolgte also nur durch die Weitergabe von Armreifen, die er von seinem Partner auf Misima erhalten hatte.
Da es sich bei den Halsketten und Armreifen um zwei verschiedene Arten von Schmuckstücken mit jeweils sehr unterschiedlicher Größe, Schönheit und Wert handelte, wäre ein unmittelbarer Ausgleich schon technisch gar nicht möglich gewesen. Konkret sah der Kula-Handel daher so aus: „Nehmen wir nun an, ich, ein Mann aus Sinaketa, besäße ein Paar großer Armreifen. Eine Übersee-Expedition aus Dobu im D’Entrecasteaux-Archipel landet in meinem Dorf. Ich blase auf einem großen Muschelhorn, nehme ein Armreifenpaar und biete es meinem ÜberseePartner an, indem ich sage: ‚Dies ist eine vaga (Eröffnungsgabe); nach einer angemessenen Zeit sollst du mir eine große soulava (Kette) dafür geben.‘ Im nächsten Jahr, wenn ich das Dorf meines Partners besuche, ist er entweder im Besitz einer gleichwertigen Halskette, die er mir dann als yotile (Ausgleichsgabe) gibt, oder aber er hat keine Halskette, die gut genug wäre, meine letzte Gabe zu entgelten. In diesem Fall wird er mir eine kleinere Halskette geben, die zugestandenermaßen meiner Gabe nicht gleichwertig ist; diese wird er mir als basi (Zwischengabe) geben. Das bedeutet, daß die Hauptsache bei einer künftigen Gelegenheit entgolten werden muß und die basi, die zum Zeichen der Vertrauenswürdigkeit gegeben wurde, wiederum von mir in der Zwischenzeit durch eine Gabe von kleinen Armreifen entgolten werden muß. Die letzte Gabe schließlich, die ich empfange, um die ganze Transaktion zum Abschluß zu bringen, würde dann kudu (äquivalente Gabe) genannt werden, im Gegensatz zu basi.“ (Malinowski 1979, S. 135; Hervorhebungen im Original)
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Auf diese Weise benötigte ein ganzer Tauschzyklus für ein bestimmtes KulaSchmuckstück zwischen zwei und zehn Jahren. Kurz: Der Kula-Handel war eine – zeitlich, sachlich, räumlich und sozial – indirekte und multilaterale Angelegenheit. Aber: Die gesamte Inselwelt wußte im Grunde ganz genau, wo sich gerade die verschiedenen Schmuckstücke befanden. Und wehe, wenn einer versucht hätte, ein besonders wertvolles Stück klammheimlich für sich privat zu behalten. Der Kula-Handel war keine beliebige Angelegenheit. Er war von vielen Beschränkungen und Vorschriften umgeben. Eine davon besagte, daß der Handel nur zwischen bestimmten Partnern ablaufen könne. In eine solche Partnerschaft trat man in einer genau bestimmten Weise und unter besonderer Beachtung gewisser Förmlichkeiten ein. Sie begründete eine lebenslange Beziehung. Die Kula-Partnerschaft war somit eine auf Dauer ausgelegte Beziehung des Gebens und Nehmens, die über die rein „ökonomischen“ Aspekte hinaus eine Reihe von anderen wohltätigen Wirkungen hatte: „Der überseeische Partner ist ... Gastgeber, Beschützer und Bundesgenosse in einem Land voller Gefahr und Ungewißheit. ... Er sorgt für Lebensmittel, macht Geschenke, und sein Haus, das zwar niemals zum Schlafen benutzt wird, dient während des Aufenthalts im Dorf als Treffpunkt. Auf diese Weise sorgt die Kula-Partnerschaft dafür, daß jeder Beteiligte einige Freunde in seiner Nähe und ein paar freundlich gesonnene Verbündete in entfernt gelegenen, gefährlichen und fremden Gebieten besitzt.“ (Ebd., S. 124f.)
Der Kula-Tausch beruhte somit auf einer besonderen Form der Ordnung. Es war weder ein Markt, der ja nur aus lauter bilateralen direkten Beziehungen des elementaren Tausches besteht, noch eine zentral gesteuerte Organisation. Es war ein Netzwerk von direkten und indirekten Partnerschaften – aufrechterhalten über hunderte von Seemeilen hinweg und konzentriert auf eine „an sich“ vollkommen nutzlose Obsession: „Das Kula ist ein riesiges Netz intertribaler Beziehungen, eine große Institution, die aus Tausenden von Männern besteht, die alle von einer gemeinsamen Leidenschaft für den KulaTausch zusammengehalten werden und in zweiter Linie durch viele geringfügigere Bindungen und Interessen.“ (Ebd., S. 125)
Wie genau und warum der Kula-Handel funktionierte, wußte keiner der Eingeborenen genau – und auch die Soziologie bis heute nicht so recht. Aber jeder der Eingeborenen wußte ganz gewiß: Daß es sich um eine äußerst wichtige Angelegenheit handelte, und was genau dabei zu tun war. Kurz: Das Kula war die zentrale Institution der Stämme und durchdrang deshalb ihr gesamtes Alltagsleben, ihre Gedanken und Gefühle von morgens bis abends – im sprichwörtlichen Sinne sogar. Es war eine totale und mit starker Symbolik
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durchsetzte zeremonielle Angelegenheit – beginnend mit dem Bau der Kanus, der Vorbereitungen der Expeditionen, der eigentlichen Seereise bis hin zu den Ritualen der Übergabe und des Empfangs der Schmuckstücke. Es sieht also so aus, als wäre, von einem „ökonomischen“ Standpunkt aus betrachtet, das Ganze eine reichlich sinnlose Sache gewesen: Warum, so könnte man schon fragen, nehmen die Argonauten des westlichen Pazifik alle diese Mühen und Risiken auf sich, nur um ein paar Muscheln zu erhalten, die allenfalls einen gewissen ästhetischen Wert haben? Der Eindruck der Sinnlosigkeit wird noch dadurch verstärkt, daß der Ring-Tausch manchmal Züge des demonstrativen Konsums annahm. Marcel Mauss hat in seinem berühmten Essay über „Die Gabe“ das Kula als „eine Art großer Potlatsch“ bezeichnet.12 Der Potlatsch ist ein Fest, bei dem der Ausrichter des Festes seine Gäste durch seine besondere Freigiebigkeit zu beeindrucken versucht. Es ist, wie Marcel Mauss an anderer Stelle seines Essays schreibt, eine „totale Leistung vom agonistischen Typ“ (Mauss 1968, S. 25). Der Potlatsch wurde insbesondere von Ruth Benedict für die Kwakiutl-Indianer in Nordamerika beschrieben, und später für viele andere Kulturen nachgewiesen.13 Er ist auch heutzutage und hierzulande keineswegs ausgestorben. Der Hintergrund der Potlatsch-Feste war der Versuch der Häuptlinge der Indianer-Dörfer, möglichst viel an Prestige und „Kredit“ und – dadurch! – an Gefolgschaft zu gewinnen. Normalerweise gleichen sich die verschiedenen „Guthaben“ an Freigiebigkeit im Zyklus der Feste aus – oder aber es scheidet ein Dorf, das nicht mehr mithalten kann, aus dem System aus. Potlatsche haben daher ihr starkes antagonistisches Element. Manchmal entsteht sogar ein ruinöser Wettlauf: Wenn die Bevölkerung schrumpft, wächst die Konkurrenz um die Gefolgschaft. Und wer zuerst aufgibt, hat alles verloren. Diese sog. destruktiven Potlatsche gab es daher nicht zufälligerweise mit der Dezimierung der indianischen Bevölkerung in Nordamerika zu Beginn des 19. Jahrhunderts.
Eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Kula liegt natürlich nahe: Es ging eben nicht allein um Schmuck und Rituale, sondern, sozusagen im Rahmen und im Schutz der Rituale, auch um handfesten ökonomischen Tausch. Die Argonauten des westlichen Pazifik nahmen auf ihren Reisen nämlich auch viele wirtschaftlich nützliche und notwendige Dinge, gimwali, mit, die sie dann gegen andere nützliche und notwendige Güter tauschten: Kokosnüsse, Sagomehl, Fisch, Yams, Körbe, Matten oder Pflanzen zum Beispiel. Streng wurde zwischen den beiden Sphären der Geschenke und der Waren unterschieden. Während die Häuptlinge sich dem aristokratisch-partnerschaftlichen Ritual des Tausches der vaygu’a hingaben, feilschten die anderen Mitglieder der Expedition nach allen Regeln der Kunst des ökonomischen Tausches um
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Marcel Mauss, Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, Frankfurt/M. 1968, S. 54. Ruth Benedict, Patterns of Culture, Boston 1934; vgl. zur Institution des Potlatsch auch Heath 1976, S. 52f.; Harris 1989, S. 134ff.
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die gimwali. Für beide Arten des Tausches galt auch eine strikt getrennte Moral: Freigiebigkeit, Seelengröße, Bescheidenheit hier, hartnäckiges Feilschen und peinliche Berechnung der Gegenleistung dort. Der Eindruck ist nicht falsch, daß die Zweckrationalität des Tausches der gimwali nur im Schutze der Traditionen des Tausches der vaygu’a möglich war. Gleichwohl bleibt das Kula ein Rätsel, wenn man nur an seine ökonomischen Aspekte und nur in den Kategorien von Transaktionsgewinn und rationalem Egoismus denkt.14 Der Warenhandel und die – sicher auch unterhaltenden – Aktivitäten der Vorbereitung und der Durchführung der Reisen waren nämlich, glaubt man den Beschreibungen von Bronislaw Malinowski, immer nur nachgeordnete Angelegenheiten. Im Mittelpunkt stand das Kula als zentrale Institution und als „gemeinsame Leidenschaft“ des ganzen Insellebens – und eben nicht die „geringfügigeren“ Gemeinsamkeiten der ökonomischen Interessen: „Wenn ich das Kula als primäre und wichtigste Aktivität einstufe und die übrigen als sekundär, so deshalb, weil ich meine, daß diese Vorrangstellung in den Institutionen selbst begründet liegt. Untersucht man das Verhalten der Eingeborenen und alle in Frage kommenden Bräuche, so zeigt sich, daß das Kula in jeder Hinsicht das Hauptziel darstellt: Die Termine werden festgelegt, die Vorbereitungen abgewickelt, die Expeditionen arrangiert und die soziale Organisation bestimmt – nicht im Hinblick auf den Handel, sondern im Hinblick auf das Kula.“ (Ebd., S. 137; Hervorhebungen nicht im Original)
Die Schmuckstücke und ihr Tausch hatten für die Eingeborenen eine ganz besondere magische Kraft. Alle Aktivitäten um sie herum sind in Rituale, Magie und Mythen eingebettet: „Der Glaube an die Wirksamkeit der Magie spielt eine sehr bedeutende Rolle im Kula wie bei so vielen anderen Unternehmungen der Eingeborenen: Magische Riten müssen über dem Hochseekanu, schon während es gebaut wird, praktiziert werden, um es schnell, fest und sicher zu machen. Magie ist auch notwendig, damit ein Kanu im Kula Glück bringt. Ein anderes System von magischen Riten wird durchgeführt, um die Gefahren der Seefahrt abzuwenden. Das dritte magische System im Zusammenhang mit den Übersee-Expeditionen bildet die mwasila oder die eigentliche Kula-Magie. Dieses System besteht aus zahlreichen Riten und Formeln, die alle direkt auf die Gedanken (nanola) des Partners einwirken und ihn weich und ein bißchen nachgiebig stimmen und ihn begierig machen, Kula-Gaben zu geben.“ (Ebd., S. 138f.; Hervorhebungen im Original)
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Vgl. zu einem Rekonstruktionsversuch des Kula-Rings als Organisation zur Minimierung von Transportkosten: Bernard Grofman und Janet Landa, The Development of Trading Networks among Spatially Separated Traders as a Process of Proto-Coalition Formation: The Kula Trade, in: Social Networks, 5, 1983, S. 347-365; zur Interpretation als iteriertes Spiel siehe: Rolf Ziegler, Das Rätsel des Kula-Rings. Eine strukturell-individualistische, evolutionäre Erklärungsskizze, in: Werner von der Ohe (Hrsg.), Kulturanthropologie, Berlin 1987, S. 421-442.
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Also doch alles nur Zauber? Wohl nicht ganz. Denn als zentrale Institution stand das Kula den Notwendigkeiten des Lebens ja nicht nur nicht im Wege, sondern erlaubte und sicherte Transaktionen von ganz unschätzbarem – ökonomischem wie sozialem und psychischem – Wert für alle. Dieser Wert wurde von den Eingeborenen, wie Bronislaw Malinowski ausführlich beschreibt, ohne Zweifel ganz handgreiflich erlebt – wie auch der letzte Satz in der oben zitierten Passage belegt. Er erinnert daran, daß die Argonauten keine Verrückten mit einem „prälogischen Denken“ waren, sondern sehr wohl – im Rahmen ihrer besonderen Sinnwelt natürlich – wußten, was sie wollten, auch wenn sie nicht wußten, daß viele Funktionen des Kula eine unbeabsichtigte Folge der Institution und des Tuns im Rahmen dieser Institution war. Die Argonauten des westlichen Pazifik handelten also zweifellos nach der Logik ihrer magischen und von Mythologien durchtränkten subjektiven Definition der Situation. Als „Modell“ ihres Lebens, als Code und Programm, war das Kula allen präsent und in den vielfältigsten kollektiven Erinnerungen und magischen Vorstellungen verankert. Die mit ihm verbundenen Aktivitäten und Ereignisse und die als zuträglich erlebten symbolischen, emotionalen und ökonomischen Folgen bestärkten dieses „Modell“ immer wieder aufs Neue – subjektiv-individiuell und kollektiv als „totales soziales Phänomen“ mit allen daran hängenden Aktivitäten, Gefühlen und Vorstellungen. Das war nicht nur eine kognitive oder bloß „kulturelle“ Bestärkung dieses Modells: Die Folgen wurden ja auch in vielfältigster Weise als unmittelbar nützlich erlebt. Und warum soll man einer Institution nicht sogar leidenschaftlich anhängen, die einem so viel Gutes beschert, nicht zuletzt verläßliche Partner in weiter Ferne, die sich freuen, wenn man sie besucht und von denen man sicher sein kann, daß sie einen nicht übers Ohr hauen, wenn es auch einmal um gimwali geht? Gerade weil aber auch die Rückkehr der Gaben im Kreislauf an sich so unwahrscheinlich war und trotzdem mit einer naturgesetzlichen Sicherheit erfolgte, wurde das Erlebnis des Funktionierens der Institution zu einer derart kräftigen Bestätigung des Bildes eines geordneten, organischen und selbstverständlichen Ganzen, daß niemand auch nur auf den Gedanken kommen konnte, den Ringtausch von sich aus zu unterbrechen und die gefahrvolle Fahrt über die hohe See nicht mehr zu wagen. Er hätte sich nur lächerlich gemacht und gegen seine eigenen Interessen verstoßen.
Kapitel 11
Die Organisation des Tausches
Das Beispiel der Konsultation im Büro von Peter M. Blau aus Abschnitt 10.1 oben in diesem Band beschreibt den elementarsten Fall einer Transaktion: Es geht nur um die beiden Akteure A1 und A2 und um deren eng definierte Interessen – ohne jede weitere kulturelle oder normative Einbettung und ohne eine weitere zeitliche Perspektive der Beziehung. Das System des Kula-Rings schien dagegen etwas ganz anderes zu sein: ein von „ökonomischen“ und „individuellen“ Interessen weit entferntes Zirkulieren aller möglichen Dinge, vor allem symbolischer Art, und ein Ritual, das ein fester und selbstverständlicher Teil der Alltagskultur war. Das verweist auf einen Aspekt gesellschaftlicher Transaktionen, den die Soziologie immer besonders betont hat: die „Generalisierung“ der Tauschakte über die bilateralen und kurzfristigen Beziehungen der Akteure weit hinaus und die Entstehung ganzer „Systeme“ von Transaktionen – bis hin zu deren informeller wie formeller „Organisation“, etwa in einem Büro, und ihrer Verankerung in den Gefühlen der Menschen (vgl. zum Konzept der „Organisation“ noch Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ausführlich).
11.1 Der generalisierte Tausch Der Fall der bilateralen Konsultation unter Kollegen wird auch als einfacher Tausch bezeichnet. Er ist deutlich von dem sog. generalisierten Tausch zu unterscheiden.
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strategischen, kommunikativen und moralischen Begleitaktivitäten – sind letztlich materiell und von der Struktur der Interdependenzen her motiviert. Sie entstehen zuerst auf dem Boden der Interessen der Akteure und der Vorteilen, die sie alle aus der Transaktion der Güter ziehen können. Der generalisierte Tausch Ein funktionierendes Büro ist aber etwas anderes als eine bloße Ansammlung von Dyaden des einfachen Tausches: Man sieht sich, man kennt sich, man hilft sich – ohne unmittelbar an den sofortigen Ausgleich der Leistungen durch ganz bestimmte Akteure zu denken. Es geht auch längst nicht mehr alleine um den Tausch von Rat gegen Anerkennung. Eine Menge anderer Akteure ist einbeschlossen – in Form multilateraler Netzwerke von Interdependenzen, Interaktionen und Transaktionen der vielfältigsten Art. Sie alle umgreift schließlich sogar eine eigene normative Grundlage über die eng definierten Interessen hinaus: die „soziale Beziehung“ der „Kollegialität“. Und an ein fixiertes Ende ist nicht zu denken (vgl. dazu auch noch Abschnitt 11.3 gleich unten in diesem Band). Kurz: Die Beziehungen von Kollegen in einem Büro ähneln eher denen der Argonauten des westlichen Pazifik als dem hektischen Treiben auf einem Markt des einfachen Tausches – etwa an der Frankfurter Börse oder auf einem Markt für Antiquitäten. Transaktionen von der Art, wie sie etwa im Kula-Ring beschrieben sind, werden als generalisierter, gelegentlich auch als primitiver oder sozialer Tausch bezeichnet.1 Die Eigenschaften des generalisierten Tausches ergeben sich spiegelbildlich zu den Merkmalen des einfachen Tausches: Der generalisierte Tausch findet über ein „System“ von mehr als zwei Akteuren statt. Die Gegenleistung erfolgt nur mittelbar und ohne genaue Festlegung des Wertes und des Zeitpunktes der Gegenleistung, wenngleich mit einer diffusen Erwartung des Ausgleichs insgesamt, der nicht „nachgehalten“ wird, über den nicht verhandelt wird und der, insbesondere, nicht eingefordert werden kann. Bei Peter M. Blau finden wir zur Beschreibung des von ihm so genannten sozialen Tausches (gemeint ist der generalisierte Tausch): „Social exchange ... involves favors that create diffuse future obligations, not precisely specified ones, and the nature of the return cannot be bargained about but must be left to the disc1
Vgl. Marshall Sahlins, Stone Age Economics, London 1974, Kapitel 5: On the Sociology of primitive Exchange, S. 185-275. Vgl. als aktuellere Beiträge etwa Marshall D. Sahlins, Zur Soziologie des primitiven Tauschs, in: Berliner Journal für Soziologie, 9, 1999, S. 149-178; Peter Bearman, Generalized Exchange, in: American Journal of Sociology, 102, 1997, S. 1383-1415.
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retion of the one who makes it. Thus, if a person gives a dinner party, he expects his guests to reciprocate at some future date. But he can hardly bargain with them about the kind of party to which they should invite him, although he expects them not simply to ask him for a quick lunch if he had invited them to a formal dinner.“ (Blau 1964, S. 93f.; Hervorhebungen nicht im Original)
Der generalisierte Tausch findet als geschlossene Kette von Transaktionen einzelner Akteure – bzw. von Gruppen oder korporativen Akteuren – statt, die von einem Absender über verschiedene Zwischeninstanzen wieder zum Absender zurückführt. Claude Lévi-Strauss, der den Begriff des generalisierten Tausches im Zusammenhang mit seiner Analyse von Verwandtschaftssystemen und Heiratsregeln bei archaischen Stammesgesellschaften eingeführt hat, beschreibt ihn am Beispiel der Exogamie zwischen vier Indianerstämmen A, B, C und D folgendermaßen: „Diese (die Apinayé-Indianer; HE) verteilen sich auf vier exogame Gruppen oder kiyé, die durch ein System von Präferenzheiraten verbunden sind: so heiratet ein Mann A eine Frau B, ein Mann B eine Frau C, ein Mann C eine Frau D und ein Mann D eine Frau A. Hier hätten wir es also mit einem einfachen System des verallgemeinerten Tauschs zu tun ... .“2
Die Transaktionen verlaufen, anders als beim einfachen Tausch, also immer nur in eine Richtung. Der Ausgleich kommt nur über den Umweg über andere Akteure zustande, oft über lange Ketten und ohne daß sich die Akteure alle kennen müßten. Typisch für den generalisierten Tausch sind der Transfer von nicht-materiellen, von nur schwer quantifizierbaren Zuwendungen wie Aufmerksamkeit, Verständnis, Vertrauen oder Liebe, und die Transaktion von direkt nur schwer konvertierbaren Ressourcen über ganze Ketten von Tauschpartnern hinweg (vgl. dazu schon Abschnitt 10.2 oben in diesem Band). Er ist daher auch typisch u.a. für Stammesgesellschaften, Verwandtschaftssysteme und Clans, für Gruppen mittlerer Größe mit einem gemeinsamen Interesse, für funktionierende Hausgemeinschaften, oder Fakultäten mit wirklich hoher Kollegialität. Mehrseitiger und gegenseitiger generalisierter Tausch Der generalisierte Tausch ist im Prinzip also eine multilaterale Angelegenheit. Er sei etwas genauer auch als mehrseitiger generalisierter Tausch bezeichnet, weil der Ausgleich der Leistungen immer über andere Akteure führt und daher stets mehr als zwei Akteure umfassen muß. Er ist in Abbildung 11.2a für vier Akteure skizziert. 2
Claude Lévi-Strauss, Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, Frankfurt/M. 1981 (zuerst: 1949), S. 106; Hervorhebungen so nicht im Original.
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ling schließlich ist eine Mischung der beiden anderen Typen: Einer übernimmt für die Gruppe eine bestimmte Aufgabe, und dafür übertragen die Mitglieder der Gruppe gewisse Ressourcen auf ihn. Eine spezielle Form dieses Poolings ist der sog. redistributive Tausch. Dabei werden die Produkte mehrerer Personen an einen zentralen Ort gebracht, sortiert, gezählt und dann verteilt. Das ist oft eine aufwendige Angelegenheit, die von einer dazu besonders geeigneten Person, dem Redistributor, übernommen wird. Der versucht oft ganz bewußt, die Produktion zu steigern, weil er auf diese Weise an Prestige – und auch an Reichtum – gewinnen kann.4 Häufig verbindet sich die Redistribution mit großen Festgelagen, veranstaltet zu hervorstechenden Ereignissen, wie – natürlich – dem Abschluß der Ernte, aber auch Heirat, Hausbau, Geburt oder Todesfall.
Welcher Form aber auch immer der generalisierte Tausch ist: Es ist eine Angelegenheit, in der die Menschen, wie es scheint, nicht mehr auf den kurzfristigen Vorteil schielen oder sich sorgen, daß sie ausgebeutet würden. Das Leben ist von wohltemperierten Gefühlen durchzogen – gerade weil es nun auf den sofortigen Ausgleich der Leistungen nicht ankommt, und weil jede „Berechnung“ sofort bestraft würde. Indirekter Tausch Alle diese Formen des Tausches können – im Prinzip – stattfinden, indem sich die Akteure nur aneinander orientieren. Das Vertrauen darin, daß die Gegenleistung auch eintrifft, muß nicht unbedingt von einer besonderen Einstellung zu irgendeiner „Institution“ ausgehen, sondern kann sich allein, etwa, auf individuelle Erfahrungen oder glaubwürdige Berichte stützen. Gleichwohl ist das ein sehr seltener Fall. Im allgemeinen haben die Menschen vielmehr, beim einfachen wie besonders aber beim generalisierten Tausch, ein normatives „Modell“ vor Augen, das sie bei ihren Entscheidungen für oder gegen die Transaktion leitet: die geschäftliche Kühle bei einer Verhandlung, das Skript der Gefühle für eine Liebeserklärung, die Norm der noblesse oblige bei der Ausrichtung einer Feier – zum Beispiel. „Damit“ eine Transaktion zustande kommt, reicht es aus, daß sich die Akteure jeweils individuell daran orientieren. Symbole steuern die Aktivierung dieser Einstellungen über „Modelle“ der Transaktion: Weihnachten und der Potlatsch der Geschenke, wenn es dunkler wird und die Lichtlein brennen, Karneval und das pünktliche Ausbrechen der organisierten Spontaneität, wenn d’r Zoch kütt unn de decke Trumm jeschlaren weed, und Ostern und das Frühlingserwachen in 4
Vgl. Marvin Harris, Kulturanthropologie. Ein Lehrbuch, Frankfurt/M. und New York 1989, S. 130f.
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gewissen Transaktionen, wenn vom Eise befreit sind Flüsse und Bäche und überall die Hasen hoppeln – zum Beispiel. Kurz: Transaktionen sind oft als kulturelle Modelle institutionalisiert, als typische „soziale Beziehungen“ also, an denen sich die Akteure orientieren. Der Kula-Ring existierte eben nicht alleine als Praktik, sondern vor allem als Institution – mit vielen engen Verbindungen zu den anderen Institutionen, die das Leben der westmelanesischen Inselbewohner durchzogen und der Institution des Kula einen einsehbaren, aber auch imperativen und selbstverständlichen, Sinn gaben. Transaktionen, die durch normative, institutionell gesicherte kulturelle Modelle und Einstellungen gesteuert sind, seien – im Anschluß an einen Vorschlag von Peter M. Blau (1964, S. 259ff.) – als indirekter Tausch bezeichnet. Sowohl der einfache, wie der generalisierte Tausch können auf diese Weise „indirekt“ gesteuert sein: Die Orientierung bezieht sich nicht mehr auf die individuellen Tauschpartner, sondern auf das gedankliche Modell, auf die kollektive Repräsentation, das sie alle individuell leitet, auf den „generalisierten“ Anderen eben. Das Kula war (auch) eine Form dieses indirekten Tausches. Commitment Die Besonderheit des generalisierten Tausches ist, daß es keine kleinliche „Berechnung“ von Gewinn und Verlust und kein besorgtes Nachhalten der Leistungen gibt, sondern ein recht blindes Vertrauen darin, daß sich alle an die, meist: ungeschriebenen, Regeln halten. Erklärungsbedürftig ist die – von außen her gesehen jedenfalls: oft – erstaunliche Bindung der Akteure an die Beziehung und an die Orientierungen, in die die Transaktionen eingebettet sind. Es ist die Frage nach der Entstehung des sog. Commitments. Was aber ist das? Unter Commitment versteht man ganz allgemein die Beibehaltung einer „Linie“ in einem Verhalten – gegen alle externen Irritationen, Störungen und Versuchungen.5 Drei spezielle Eigenschaften werden dann mit dem Begriff des Commitment verbunden: die Persistenz des Handelns über die Zeit; die bedingungslose Orientierung an einem als primär gesetzten Ziel; und die Unempfindlichkeit der Zielverfolgung gegen Schwierigkeiten und auftretende Alternativen. Eine Person, die sich, etwa in einer Liebesbeziehung, derart an eine andere Person gebunden hat, geht, wie man sagt, mit ihr durch dick und dünn. 5
Vgl. Howard S. Becker, Notes on the Concept of Commitment, in: American Journal of Sociology, 66, 1960, S. 33ff.; Harold H. Kelley, Love and Commitment, in: Harold H. Kelley u.a. (Hrsg.), Close Relationships, New York und San Francisco 1983, S. 287ff.
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Genau das aber sind auch die Eigenschaften des generalisierten Tausches – wie die des „normativ“ geleiteten Handelns insgesamt. Wie aber kommt Commitment zustande? Howard S. Becker erklärt das Commitment, in einem der ersten Beiträge zu seiner theoretischen Erklärung überhaupt, vor allem durch externe Bedingungen, in die sich der Akteur so verfangen hat, daß er gar nicht anders kann, als dem einmal eingeschlagenen Weg zu folgen (Becker 1960, S. 35ff.). Das kann dadurch geschehen sein, daß rechtliche oder administrativ geregelte Bindungen eingegangen wurden, über deren Tragweite sich der Akteur keine Gedanken gemacht hat. Es können sich aber auch die Kosten der Alternativen und/oder die Gewinne aus dem einmal betretenen Pfad so entwickelt haben, daß es ebenfalls keinen vernünftigen Ausweg mehr gibt. Es ist das Phänomen der sog. Pfadabhängigkeit (vgl. dazu noch Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Akteure können sich aber auch vor einer Entscheidung bestimmte Alternativen bewußt und für jedermann sichtbar aus der Hand nehmen lassen, so daß sie gar nicht anders mehr können. Das war die Weisheit des Odysseus angesichts der trügerischen Verlockungen der Sirenen (vgl. dazu bereits die Passagen über Akrasia und Myopia in Abschnitt 8.2 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, sowie die Kapitel über Verhandlungen in Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
Alle diese Mechanismen sind auch für den generalisierten Tausch von Bedeutung: Die Regeln lassen sich meist nicht ohne große individuelle Nachteile einfach übertreten. Es gibt auch hier enorme Kostenersparnisse und Gewinne und den Ausschluß vernünftiger Alternativen, sobald der Tausch einmal begonnen oder gar institutionalisiert ist. Und viele Dinge hat man einfach eben selbst nicht mehr in der Hand, so daß etwas anderes als Loyalität, Solidarität und ewige Treue eben gar nicht möglich ist (vgl. dazu auch schon Abschnitt 5.3 in diesem Band oben über die Evolution der Kooperation). Howard S. Becker erwähnt aber auch bestimmte kulturelle Werte als Faktoren der Begrenzung des Handelns. Das war ja auch das, was Bronislaw Malinowski zur Erklärung des Kula-Handels herausgestellt hatte: die Bindung an eine unbedingt geltende Institution und die Transaktion des Kula, letztlich als indirekter Tausch in der fraglosen Orientierung an dieser Institution. Die Erklärung des Commitment: Ertrag und Varianz In stabilen Welten, wie bei den Argonauten des westlichen Pazifik, mag das auch alles für die Verbreitung von Vertrauen und Commitment ausreichen. Aber was ist, wenn es, wie in modernen Gesellschaften, Alternativen, wenigstens ab und an, gibt, wenn diese Alternativen so unattraktiv nicht sind, oder wenn die Möglichkeiten zunehmen, das Heft auch für Dinge in die Hand zu nehmen, die man ganz der externen Kontrolle überantwortet glaubte – wie etwa die Unzerbrüchlichkeit des „Sakramentes“ der Ehe? Harold H. Kelley
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hat hierzu einen interessanten Vorschlag gemacht: Das Commitment an eine bestimmte Beziehung sei eine Art von innerer Entscheidung der Akteure und hänge dann von zwei Variablen ab: vom Mittelwert der Gewinne aus der Beziehung einerseits und von der Varianz, mit der diese Gewinne auf bestimmte Handlungen hin auftreten,andererseits (Kelley 1983, S. 296ff.). Es geht also, wie so oft im Leben, einerseits um die schiere Einträglichkeit der Beziehung, wie beim einfachen Tausch sowieso. Dann aber ganz besonders auch andererseits darum, als wie verläßlich die Beziehung angesehen wird. Daraus ergeben sich eine Reihe von interessanten Folgen. Etwa die: Man bindet sich nicht unbedingt an den attraktivsten Partner, wenn der nicht auch wenigstens in einem Mindestmaß verläßlich ist. Oder eine freudige Überraschung, etwa der Blumenstrauß, den der Ehemann plötzlich mit nach Hause bringt, irritiert mehr, als er an Freude bringt – und versetzt der bis dahin ganz fraglosen Bindung einen herben Schlag. Und eine schon relativ unattraktive Beziehung wird sofort aufgegeben, wenn auch nur einmal die Pantoffeln nicht pünktlich vor dem Fernseher stehen. Natürlich könnte man die Idee von Harold H. Kelley wieder in unsere bereits öfter angewandten Modelle der begrenzten Rationalität umformulieren. Die anstehende innere „Entscheidung“ wäre die, eine bestimmte Beziehung mit einem Commitment zu belegen oder nicht. Der Mittelwert der so zur „Disposition“ stehenden Beziehungen wäre dann nichts anderes als ihr Nutzen U, und die Varianz wäre die Sicherheit p der „Geltung“ der Annahme, daß die unbedingte Bindung auch beim anderen gilt. Man könnte aber auch die Fraglosigkeit der Bindung darüber erklären – gegenüber der Alternative, sich nach einer neuen Beziehung umzusehen. Dann gehen die Mittelwerte wieder in die Nutzenterme ein, und die Varianz bezieht sich auf die Sicherheit c des Status quo. Mit dieser Modellierung kämen zwei weitere Variablen ins Spiel, auf die Harold H. Kelley nicht kommt: die Wahrscheinlichkeit für das Finden einer besseren Beziehung q und die Kosten der Informationssuche C. Vielleicht schreiben Sie zur Übung die beiden Modelle zur Erklärung des Commitment bzw. des Verzichtes auf die Suche nach einer anderen Beziehung einmal selbst auf! Zur Not sehen Sie noch einmal in den Abschnitten 8.3 und 8.4 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ nach, wie das gehen könnte.
Spätestens hier wird wieder deutlich, daß auch die festesten Bindungen und die ehernsten Institutionen auf den immer wieder neu zu treffenden Entscheidungen von individuellen Akteuren beruhen. Und dann stellt sich eine Frage, die man sich in der herkömmlichen Soziologie kaum zu stellen traut, weil sie sich bei der Erklärung von Bindungen, die ja gerade darauf beruhen, daß nichts mehr in der Disposition der Akteure steht, sozusagen a priori verbietet: Unter welchen Bedingungen „entscheiden“ sich Akteure für ein Commitment an eine bestimmte Beziehung? Mit dem Vorschlag von Harold H. Kelley – und unserem Modell – läßt sich die Frage gut stellen – und leicht beantworten.
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Zwei Traditionen? Beim einfachen Tausch herrschen der Verstand und die Interessen, beim generalisierten Tausch dagegen – wie es nach außen oft scheint – nicht. Wirklich nicht? Sind die Interessen und der Verstand der Menschen beim generalisierten Tausch tatsächlich ausgeschaltet? Handelt es sich beim einfachen Tausch um eine – im Vergleich zur archaisch-„gemeinschaftlichen“ Form des generalisierten Tausches – relativ neue, andere, „rationale“, „westliche“, „moderne“, „gesellschaftliche“, „kapitalistische“ Variante des sozialen Lebens? Wechseln die Menschen ihr Wesen, wenn sie in Umgebungen handeln, in denen entweder der einfache oder der generalisierte Tausch institutionalisiert sind? Sind die Menschen wirklich einmal nur zweckrational und das andere Mal nur wertrational, affektuell oder traditional orientiert? Und müssen die beiden Formen des Tausches jeweils mit ganz anderen theoretischen Mitteln angefaßt werden? Oder ist alles nur eine Frage unterschiedlicher Bedingungen des Denkens und Handelns – bei der gleichen „Natur“ des Menschen und ihren beiden allgemeinen Bedürfnissen nach physischem Wohlbefinden und sozialer Wertschätzung? Das waren natürlich, wie üblich, nur rhetorische und scheinheilige Fragen: Menschen sind, so sei hier ausdrücklich festgehalten, immer zu verständigem und nutzenorientiertem Handeln in der Lage, aber manchmal sind die Umstände eben so, daß es für sie besser ist, wenn sie emotional, traditional und altruistisch reagieren, denken und fühlen. Damit ist ein alter und heftiger, für viele keineswegs beigelegter oder entschiedener Streit in den Sozialwissenschaften angesprochen – der etwa zwischen Claude Lévi-Strauss und George C. Homans, zwischen der französischen und der britisch-amerikanischen Soziologie und zwischen der kollektivistischen und der individualistischen Sozialtheorie insgesamt.6 Es ist ein Streit, der bereits vorher in der Kulturanthropologie entstanden war und in dem sich u.a. die Deutungen von Marcel Mauss und James G. Frazer gegenüberstanden.7 Es ist die alte Auseinandersetzung zwischen Emile Durkheim und Herbert Spencer, die hier auflebt (vgl. dazu auch schon Abschnitt 6.6 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“, sowie die Abschnitte 5.1, 5.3 und 5.4 in diesem Band): Sind nicht alle Menschen, und damit auch: die Wilden, letztlich rationale Egoisten? Und sind nicht alle Verpflichtungen und jede Moral die Folge – und nicht: die Ursache – von Verflechtungen, die letztlich in den Interessen und Möglichkeiten der Akteure begründet sind? Und trifft es eben nicht zu, daß die Beziehungen kollektiven „Tiefenstrukturen“ folgen, die sich über die Köpfe und über die Interessen der Menschen durchsetzen?
6
7
George C. Homans und David M. Schneider, Marriage, Authority, and Final Causes: A Study of Unilateral Cross-Cousin Marriage, Glencoe, Ill., 1955; Lévi-Strauss 1981, S. 30; vgl. auch die Übersicht bei Peter P. Ekeh, Social Exhange Theory. The Two Traditions, London 1974, Kapitel 8: Social Exchange Processes and Sociological Theory. Vgl. Marcel Mauss, Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, Frankfurt/M. 1968; James G. Frazer, Folklore in the Old Testament, Band 2, London 1919.
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Nach allem, was wir inzwischen über die „Evolution der Kooperation“ und den Zusammenhang von Praxis und Moral wissen, besonders aber auch nach der Darstellung der Erklärung des Commitment durch Harold H. Kelley, kann der Streit beendet werden: Ohne Zweifel orientieren sich die Menschen jeweils an gewissen mentalen Modellen und gewissen Codes und Programmen der sozialen Organisation und folgen ihnen oft genug mit fraglosem Commitment. Solange diese Modelle „gelten“ und solange der Mittelwert der Folgen hoch genug und die Varianz hinreichend niedrig ist, gibt es keinen Grund, sie in Frage zu stellen und das Commitment aufzukündigen. Und jeweils gilt auch ein anderer Bezugsrahmen des Handelns und eine andere „Moral“: Egoismus und Berechnung hier, Altruismus und Affektualität dort. Die Sicherheit über die Geltung des Commitments auch bei den anderen Akteuren beziehen die Menschen in erster Linie aus bestimmten Symbolen, die sie mit der Geltung der mentalen Modelle gedanklich verbinden – und daraus, daß das gesamte „System“ ihnen zuträglich ist, wie im einzelnen auch immer erlebt. Und die Interessen der Menschen werden ja auch beim generalisierten Tausch bedient – solange er die generalisierten Erwartungen der Menschen erfüllt und nichts ganz Ungewöhnliches geschieht. Und so sagt auch der Verstand, etwa beim hoch-ritualisierten Kula-Tausch von wertlosen Muscheln, oder wenn, so sicher wie das Amen in der Kirche, alle Jahre wieder die Weihnachtsgrüße auf den billigen Postkarten kommen, daß das gesamte „System“, auf dem alles beruht, offensichtlich funktioniert und daß es keinen Grund zur Unruhe und zur Berechnung gibt.
11.2 Reziprozität Wenn ein Tausch zu beiderseitigem Nutz und Frommen gelungen ist, hat niemand einen Anlaß zur Klage. Man ist’s zufrieden, freut sich insgeheim über die Freundlichkeiten der Welt und erwartet frohgemut, was noch kommen mag. Bronislaw Malinowski schreibt in seiner Schrift über „Sitte und Verbrechen bei den Naturvölkern“: „Es hat sich herausgestellt, daß die meisten, wenn nicht gar alle wirtschaftlichen Handlungen eine Kette von Gabe und Gegengabe bilden, die sich auf die Dauer ausgleichen und beiden Seiten gleichmäßig Gewinn bringen.“8
Daß die eine Hand die andere in schließlich ausbalancierter Weise waschen kann, und daß sich so beide Seiten gleichmäßig nutzen können, wissen alle – 8
Bronislaw Malinowski, Sitte und Verbrechen bei den Naturvölkern, Wien o.J. (zuerst: 1926), S. 40f.; Hervorhebungen nicht im Original.
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in den einfachen Stammesgesellschaften wie in den komplexen (Inter-) Netzwerken der Postmoderne. Siehe: Kohl! Das Wissen um die Gegenseitigkeit in Gleichheit wird, wenn sich die Sache wiederholt, als Selbstverständlichkeit abgelagert und allmählich von einer eher „kalten“ Erwartung in einen, mehr oder weniger, „heißen“ Anspruch, in eine emotional verankerte Moral überführt. Dann ist die Vorstellung schließlich normativ verankert, daß man sich unterstützen solle, und – insbesondere – daß eine Vorleistung in the long run mit einer „reziproken“ Gegenleistung erwidert werden muß (vgl. dazu auch noch Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Die Norm der Reziprozität Das ist die Norm der Reziprozität wie sie Alvin W. Gouldner in einem inzwischen klassischen Aufsatz beschrieben hat. Sie verlangt einfacherweise: „ ... (1) people should help those who have helped them, and (2) people should not injure those who have helped them.“9
Die Norm der Reziprozität erinnert, nicht ganz aus Zufall, an jene Strategie, mit der sogar rationale Egoisten zu friedvoller Kooperation kommen können: Wie Du mir, so ich Dir! Nun ist es aber keine bloße kühle kognitive Überlegung mehr (alleine), ob sich angesichts des Schattens der Zukunft und der möglichen Gewinne die Kooperation „lohnt“, sondern ein normativer Anspruch: people should help! Zufriedenheit „Reziprozität“ heißt zunächst nur, daß der Wert der Gegenleistung dem der Vorleistung entspricht. Wenn das der Fall ist, dann stellt sich bei den Beteiligten ein Gefühl der Erwartungserfüllung ein, das sich bei Wiederholung, sozusagen im Wege der indirekten Verstärkung, auf die Beziehung und die weitere Situation überträgt und generalisiert. Die regelmäßig erlebte und schließlich als selbstverständlich erwartete Gegenleistung wird damit zu einem Referenzpunkt für die Bewertung der Beziehung. Es ist, wie es John W. Thibaut und Harold H. Kelley (1959, S. 80f.) genannt haben, der Comparison Level (CL), auf den hin die Beziehung beurteilt wird. Liegt die Gegenleistung genau auf 9
Alvin W. Gouldner, The Norm of Reciprocity: A Preliminary Statement, in: American Sociological Review, 25, 1960, S. 171.
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diesem Referenzpunkt, dann wird die Beziehung als neutral erlebt, ist sie darüber, dann stellt sich das Gefühl der Zufriedenheit ein, bleibt sie darunter, das der Unzufriedenheit. John W. Thibaut und Harold H. Kelley haben daran anschließend auf einen wichtigen Punkt hingewiesen: Auch nicht zufriedenstellende Beziehungen werden unter Umständen nicht verlassen – dann nämlich, wenn es zu der betreffenden Beziehung keine bessere Alternative gibt. Die nächstbeste verfügbare Alternative nennen sie CLalt (Thibaut und Kelley 1959, S. 100ff.; vgl. dazu auch noch das folgende Kapitel 12 über die Macht in diesem Band). Und so kann es kommen, daß jemand mit der Gegenleistung eines Partners mehr als unzufrieden ist, aber gleichwohl dabei bleibt und, oft genug, sogar emotional daran hängt – eben weil alles andere noch schlechter wäre, und eine nächstbeste Alternative weit und breit nicht zu sehen ist. Das ändert sich schlagartig, wenn es den Silberstreif am Horizont in Gestalt einer attraktiven Alternative dann doch gibt.
Die Reziprozität ist damit eine Frage des Standards, nach dem eine Tauschbeziehung bewertet wird. Es geht um die Rechtfertigung, die Legitimation, einer bestimmten Gegenleistung in einer Beziehung. Nicht aus Zufall kommen mit dem Problem der Reziprozität zu den Begriffen des Interesses und des Nutzens solche wie die von Rechten und Pflichten, von Zufriedenheit, von Gerechtigkeit, von Treue und von Dankbarkeit ins Spiel. Und es geht jetzt auch um emotionale und moralische Reaktionen, nämlich jene, die dann eintreten, wenn die Standards der Reziprozität verletzt worden sind. Ärger und Schuld Eine Gegenleistung kann mit den Erwartungen auf zweierlei Weise in Widerspruch stehen: Die Erwartungen werden unter- oder übererfüllt. Die Reaktionen darauf sind typischerweise anders. Wenn die erwartete Gegenleistung ausbleibt, reagiert der negativ enttäuschte Akteur mit Ärger, der eventuell in Aggression umschlägt: Das habe ich nun wirklich nicht verdient! Das war der Inhalt der sog. Frustrations-Aggressions-Hypothese von George C. Homans, angewandt auf Tauschsituationen.10 Auf freudige Überraschungen reagieren die Menschen oft mit Stolz und Zufriedenheit, aber nicht immer. Das geschieht nur, wenn die positive Enttäuschung bloß „unerwartet“ kommt, aber weiter keinen Standard oder Regel verletzt, und wenn sie als Hinweis auf die eigene Vortrefflichkeit, besser sogar noch: moralische Überlegenheit, gewertet werden kann. Ist das nicht der 10
vgl. George C. Homans, Grundlegende soziale Prozesse, in: George C. Homans, Grundfragen soziologischer Theorie 1972a, S. 68; vgl. auch schon Abschnitt 6.1 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
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Fall, entsteht das Gefühl der Schuld: Das habe ich eigentlich gar nicht verdient! Wie peinlich! Schuldgefühle stellen sich insbesondere ein, wenn der Überschuß in der Gegenleistung extrem hoch ist, und wenn nicht gleichzeitig eine „Erklärung“ dafür vorhanden ist, etwa, daß eben viel vergängliches Glück dabei war, oder daß es der Lohn für verborgene Qualitäten und Leistungen ist. Ärger und Schuldgefühle widersprechen der Rationalität des Geschehens nicht. Sie sind kein „überflüssiger“ emotionaler Luxus für paranoide oder sensible Seelen. Im Gegenteil: Sie erinnern gerade den „egoistischen“ Akteur daran, daß mit der Unter- wie mit der Übererfüllung die Reziprozität in der Beziehung gefährdet ist und daß, wenn nicht „nachgezogen“ wird, die ganze, insgesamt ja auch für ihn selbst sehr wichtige und nützliche, Beziehung auf dem Spiele steht. Ärger und Schuldgefühle sind der Kern der Moral in einer eingespielten und für alle ertragreichen Praxis der Kooperation (vgl. dazu schon Abschnitt 5.4 oben in diesem Band). Sie haben daher eine wichtige funktionale Bedeutung für den Erhalt ertragreicher Transaktionsbeziehungen: Sie sorgen auf emotional-automatische Weise für die Beachtung der Norm der Reziprozität, an der der Bestand der Beziehung hängt. Der Ärger motiviert dazu, die unzureichende Gegenleistung beim Anderen einzufordern, die Schuld hält dazu an, selbst dafür zu sorgen, daß die Norm der Reziprozität eingehalten wird. Es sind, wenn man das so sagen will, rationale emotionale Reaktionen im eigenen und im kollektiven Interesse – dem nämlich am Erhalt einer ertragreichen Kooperation.
Wenn die Unter- oder Übererfüllung der Erwartungen allerdings anhalten, dann ändert sich der Standard der Bewertung der Reziprozität. Es ist die Frage nach der Entstehung und der Änderung eines Anspruchsniveaus (vgl. dazu auch Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ausführlich). Der Mechanismus ist die Reduktion von Dissonanzen: Wenn sich die Wirklichkeit nicht ändert, dann kann man immer noch die Erwartungen und Ansprüche ändern, um die eingetretene Spannung zu mindern. Nichts geht rascher als die Gewöhnung an freudige Ereignisse und die Anpassung der Ansprüche nach oben. Happiness is eben nur a warm gun. Und selbst stärkste Schuldgefühle werden bald abgebaut und machen der Einschätzung Platz, daß alles doch irgendwie seine Ordnung habe. Sogar die Anpassung der Erwartungen nach unten funktioniert – gottlob? – ganz zuverlässig. Das Leben wäre für viele nicht erträglich, wenn sie sich endlos über ihr schweres Schicksal und die Ungerechtigkeit der Welt ärgern würden. Richtig glücklich, ganz unzufrieden und frustriert oder in tiefster Schuld zerknirscht sind daher letztlich immer nur wenige: diejenigen, die die Anpassung an die Abweichungen vom erwarteten Standard noch nicht geschafft haben. Und wer aus diesem Anpassungsloch nicht doch herauskommt, wird bald wohl zur Flasche greifen und/oder von starken Männern in weißen Kitteln abgeholt.
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Gerechtigkeit Alles hängt also an dem Standard der Bewertung der Leistungen. „Gerechtigkeit“ waltet in einer Beziehung dann, wenn jeder erhält, was er nach diesem Standard „legitimerweise“ erwarten kann, und was er danach „verdient“ hat. Was aber heißt das? Es ist das allgemeine Problem der Legitimität gewisser Regeln und des Prozesses ihrer Legitimation (vgl. dazu ausführlich noch Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Die sog. Equity-Theorie ist für den Spezialfall des Tausches der Versuch gewesen, den Standard für die Gerechtigkeit und damit für die „Norm der Reziprozität“ zu bestimmen.11 Eine erste Fassung der Equity-Theorie stammt von George C. Homans unter der Bezeichnung ausgleichende Gerechtigkeit (Homans 1958, S. 604). Damit war gemeint, daß die Gewinne der Akteure aus der Tauschbeziehung gleich sein sollen. Der Gewinn ist dabei natürlich nichts anderes als die Differenz zwischen dem Ertrag aus der Transaktion abzüglich der Kosten dafür (vgl. Abschnitt 10.1 in diesem Band oben dazu). Für zwei Akteure A und B liegt ausgleichende Gerechtigkeit also dann vor, wenn gilt: ErtragA - KostenA = ErtragB - KostenB GewinnA = GewinnB In unserem Beispiel der Konsultation unter Kollegen betrugen die Gewinne jeweils: Utr=parUr-C1 für den Akteur A1, Uta=Ua-C2 für den Akteur A2. Diese Gewinne waren im Beispiel in der Tat auch gleich: acht Werteinheiten für jeden. Und infolgedessen wäre hier das Prinzip der ausgleichenden Gerechtigkeit erfüllt. In einer zweiten Version berücksichtigt George C. Homans den unterschiedlichen Einsatz der Akteure bei der Transaktion (Homans 1968, S. 206): Wer viel in eine Transaktion „investiert“, hat auch ein Recht auf einen höheren Gewinn. Gefordert wird damit die relative Gleichheit der Gewinne. Es ist das Konzept der proportionalen Gerechtigkeit. Die Gewinne sollen sich proportional zu den Investitionen verhalten: Gewinn A Gewinn B = Investition A Investition B
Wer also, etwa, 1000 DM bei einer Transaktion eingesetzt hat und dafür 50 DM zurückerhält, muß sich gegenüber jemandem nicht in der Schuld fühlen, der nur 5 DM Gewinn herausholt, aber auch nur 100 DM investiert hat. Und Letzterer hat auch keinen Grund, die Ungerechtigkeit der Gewinnverteilung zu beklagen und sich zu ärgern. Zu den „Investitionen“ zählt George C. Homans übrigens auch Eigenschaften, die neben dem rein „materiellen“ Einsatz für den 11
Vgl. zu den verschiedenen Varianten der Equity-Theorie Günter F. Müller und Helmut W. Crott, Gerechtigkeit in sozialen Beziehungen: Die Equity-Theorie, in: Dieter Frey und Martin Irle (Hrsg.) Theorien der Sozialpsychologie, 2. Aufl., Band 1: Kognitive Theorien, Bern, Stuttgart und Toronto 1984, S. 219ff.
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für den Wert einer Transaktion bedeutsam sein können: Erfahrung, Alter, Intelligenz, Geschlecht, ethnische und soziale Herkunft des Partners, kurz also: auch askriptive Merkmale, die mit der direkten „Leistung“ nichts zu tun haben. Weil es bei einer Tauschbeziehung aber nicht nur Gewinne, sondern unter Umständen auch Verluste gibt, hat J. Stacy Adams das Konzept der proportionalen Gerechtigkeit auf das „Ergebnis“ des Nettobetrages von Gewinn und Verlust hin erweitert – egal, ob ein Gewinn oder ein Verlust herauskommt.12 Equity bzw. proportionale Gerechtigkeit liege dann vor, wenn gilt: ErgebnisA Investition A
=
ErgebnisB Investition B
Später haben Elaine Walster, G. William Walster und Ellen Berscheid versucht, gewisse formale Probleme mit diesen Formeln zu lösen.13 Die Grundidee bleibt jedoch stets die gleiche: „Gerecht“ ist eine Tauschbeziehung dann, wenn jeder bekommt, was er – aufgrund von Leistungen oder sonstigen Eigenschaften – „verdient“ hat.
Offenkundig können also verschiedene Anhaltspunkte für die Festlegung der Legitimität einer Gegenleistung angesetzt werden. Wir wollen drei verschiedene Stufen unterscheiden: individuell begründete Standards, durch Vergleich begründete Standards und die traditionale Begründung der Gerechtigkeit in einer Tauschbeziehung. Wenn es, wie bei der distributiven Gerechtigkeit, nur um den Gewinn bzw. das Ergebnis geht, dann spielen erworbene Eigenschaften keine Rolle, sondern nur die „rein“ individuelle Leistung bei der aktuellen Transaktion. Das ist anders, wenn, wie bei der proportionalen Gerechtigkeit, bei dem zu berücksichtigenden Einsatz auch „Verdienste“ eingehen sollen, für die der Akteur nichts kann oder für die er nichts getan hat – wie die Intelligenz, das Alter oder eine bestimmte soziale Herkunft. Hier ist der Anhaltspunkt nicht mehr die individuelle Leistung, sondern der Vergleich über eine generalisierende Typisierung: Gerecht behandelt fühle ich mich, wenn andere, die meinem „Typ“ – etwa in Intelligenz, Alter oder Herkunft – entsprechen, das Gleiche bekommen. Auf diese Weise bekommen auch die Verhältnisse in Kastengesellschaften Legitimität – obwohl die Reziprozität mit individuellen Leistungen hier wirklich nicht viel zu tun hat. Diesen Gedanken kann man natürlich noch weiter treiben: Eine ganz eigene Legitimität bekommen Tauschbeziehungen schließlich sogar dann, wenn die Akteure für eine gewisse Auszahlung keinerlei Alternative sehen: So wie es ist, ist es schon recht, weil es immer schon so war und gar nicht anders denkbar. Es ist eine, so wollen wir sie nennen, Form der traditionalen Legitimation eines Standards der Gerechtigkeit.
12
13
J. Stacy Adams, Toward an Understanding of Inequity, in: Journal of Abnormal and Social Psychology, 67, 1963, S. 424ff.; J. Stacy Adams, Inequity in Social Exchange, in: Leonard Berkowitz (Hrsg.), Advances in Experimental Social Psychology, Band 2, New York und London 1965, S. 280ff. Elaine Walster, Ellen Berscheid und G. William Walster, New Directions in Equity Research, in: Journal of Personality and Social Psychology, 25, 1973, S. 152ff.; Elaine Walster und G. William Walster, Equity and Social Justice, in: Journal of Social Issues, 31, 1975, S. 21ff.
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Die drei beschriebenen Formen der Bestimmung eines Standards von Legitimität und Gerechtigkeit ordnen sich im Grad ihrer Abhängigkeit von der unmittelbaren Leistung des Akteurs. Die Frage nach dem Standard der Legitimität von Ergebnissen einer Transaktion – distributive, proportionale oder traditionale Gerechtigkeit – ist also offensichtlich ein Spezialfall der allgemeinen Frage nach der Geltung eines bestimmten mentalen Modells, eines Bezugsrahmens also, unter den Akteure die soziale Situation eines Tausches stellen. Es ist, wieder einmal, die Frage nach der Definition der Situation. Die Varianten der Equity-Theorie und die drei unterschiedenen Formen der Begründung des Gerechtigkeitsstandards machen deutlich, daß diese Definition nicht festliegt, sondern (auch) das Ergebnis der Interessen der Akteure und ihrer Möglichkeiten ist, einen bestimmten Standard durchzusetzen oder einen bestehenden zu ändern. Natürlich: immer den, der ihnen bei gegebenen Verhältnissen am besten zustatten kommt. Die Pflicht des Gebens und die Pflicht des Nehmens Der Standard, der an den Ausgleich der Leistungen angelegt wird, ist also eine normative Angelegenheit: die „Norm“ der Reziprozität eben. Am deutlichsten hat dies Marcel Mauss in seinem berühmten Essay über die Gabe ausgesprochen: Die Institution des Potlatsch, wie die des Kula, wie die aller anderen Formen der sog. primitiven Transaktionen besteht aus drei Pflichten – aus der Pflicht, Geschenke zu machen, aus der Pflicht, Geschenke anzunehmen und aus der Pflicht, Geschenke zu erwidern (Mauss 1968, S. 36). Keiner dieser Pflichten kann ausgewichen werden. Ein Gast, ein Klan oder eine Hausgemeinschaft hat eben nicht die Wahl, die Gastfreundschaft nicht in Anspruch zu nehmen, ein Geschenk nicht anzunehmen oder Heiratsverbindungen nicht einzugehen (Ebd. 1968, S. 36f.). Auch das Geben ist eine streng verbindliche Pflicht: Es nicht zu tun „ ... kommt einer Kriegserklärung gleich; es bedeutet, die Freundschaft und die Gemeinschaft verweigern.“ (Ebd., S. 37)
Die Verpflichtung zur Erwiderung der Gaben ist dann nur eine Folge der Pflichten des Gebens und des Nehmens. Sie schließt die Kette zu einem System des generalisierten Tausches.
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Reziprozität als „totales soziales Phänomen“ Die dreifache Pflicht von Geben, Nehmen und Erwidern berührt alle Teile der Transaktion und des gesamten sozialen Systems, in den sie eingebettet ist. Alle drei Pflichten verbinden sich, wie Marcel Mauss betont, zu einem totalen sozialen Phänomen: „Alles, was das eigentliche gesellschaftliche Leben der Gesellschaften ausmacht, ... ist darin verwoben. In diesen (wie wir sie nennen möchten) ‚totalen‘ gesellschaftlichen Phänomenen kommen alle Arten von Institutionen gleichzeitig und mit einem Schlag zum Ausdruck: religiöse, rechtliche und moralische – sie betreffen Politik und Familie zugleich; ökonomische – diese setzen besondere Formen der Produktion und Konsumtion oder vielmehr der Leistung und Verteilung voraus; ganz zu schweigen von den ästhetischen Phänomenen, in welche jene Tatsachen münden, und den morphologischen Phänomenen, die sich in diesen Institutionen offenbaren.“ (Ebd., S. 17f.; Hervorhebungen nicht im Original)
Auf dieser „Totalität“ der Aspekte und Beziehungen beruht die starke Bindungskraft der Institution insgesamt: Wenn man nur ein Teil herausnimmt, werden das Ganze und die Teile unverständlich. Es sind eben nicht nur ökonomische oder soziale oder ästhetische oder zeremonielle oder magische Aspekte beteiligt, sondern alle gleichzeitig. Und alles ermöglicht, unterstützt und begrenzt sich gegenseitig, und kein Teil darf fehlen: „Alles kommt und geht, als gäbe es einen immerwährenden Austausch einer Sachen und Menschen umfassenden geistigen Materie zwischen den Clans und den Individuen, den Rängen, Geschlechtern und Generationen.“ (Ebd., S. 39)
Wenn man dies in Rechnung stellt, wird die „Sinnlosigkeit“ mancher dieser Tauschsysteme und ihrer Einzelakte aufgelöst. Bei einer derartigen „totalen“ Einbettung der Transaktionen werden zum Beispiel sofort auch die Mythologien verständlich, die mit den Tauschgegenständen verbunden sind und die Pflicht zur Reziprozität magisch überhöhen und begründen: Die als Geschenk übergebenen Gegenstände sind keine „leblosen“ und nur „nützlichen“ Ressourcen, sondern sie tragen einen „Geist“ in sich, der die Seele des Gebers weiter repräsentiert. Marcel Mauss zitiert, ganz offenkundig: begeistert, aus den Aufzeichnungen eines Informanten über den Stamm der Maori in Neuseeland und den hau, den „Geist der Sachen“, den sie annahmen:14 „Ich will Ihnen jetzt vom hau erzählen ... . Das hau ist nicht der Wind, der bläst. Ganz und gar nicht. Stellen Sie sich vor, Sie besitzen einen bestimmten Gegenstand (taonga) und geben ihn mir; Sie geben ihn mir ohne festgesetzten Preis. Wir handeln nicht darum. Nun gebe ich diesen Gegenstand einem Dritten, der nach einer gewissen Zeit beschließt, irgend etwas als Zahlung dafür zu geben (utu), er schenkt mir irgend etwas (taonga). Und dieses taonga, das er 14
Vgl. dazu auch Sahlins 1974, Kapitel 4: The Spirit of the Gift, S. 149-183.
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mir gibt, ist der Geist (hau) des taonga, das ich von Ihnen bekommen habe und das ich ihm gegeben habe. Die taonga, die ich für die anderen taonga (die von Ihnen kommen) erhalten habe, muß ich Ihnen zurückgeben. Es wäre nicht recht (tika) von mir, diese taonga für mich zu behalten, ob sie nun begehrenswert (rawe) oder unangenehm (kino) sind. Ich muß sie Ihnen geben, denn sie sind ein hau des taonga, das Sie mir gegeben haben. Wenn ich dieses zweite taonga für mich behalten würde, könnte mir Böses daraus entstehen, ganz bestimmt, sogar der Tod. So ist das mit dem hau, dem hau des persönlichen Eigentums, dem hau der taonga, dem hau des Waldes. Kati ena (genug davon).“ (Mauss 1968, S. 32f.; Hervorhebungen im Original)
Selbst also, wenn der Gegenstand physisch und rechtlich den Besitzer gewechselt hat, bleibt er stets auch ein Stück des Gebers. Auf diese Weise „durchdringen“ sich Geber und Nehmer. Und wenn es viele Geber und Nehmer gibt, dann bezieht sich diese geistige Durchdringung sogar auf das Kollektiv und so auf das ganze „totale soziale Phänomen“. Die Mythologie des hau hat natürlich, wie könnte es anders sein?, eine ganz handfeste Grundlage. In einer etwas profaneren Weise kennen wir sie schon: Die Eingeborenen wissen ganz genau, daß sie voneinander abhängig sind, daß der Kooperationsgewinn aus der Institution enorm hoch ist und daß es einen mächtigen Schatten der Zukunft gibt. Kurz: Die magische Überhöhung der Norm der Reziprozität ist nichts anderes als der kulturelle und mystische Widerschein des Kooperationsgewinns, des Transaktionsinteresses und des konstitutionellen Interesses am Erhalt des gesamten Zusammenhangs. Sie hilft – ganz ohne Zweifel – als nicht-kontraktueller Teil der Transaktionen, das komplette und für alle so ertragreiche System auch gegen Widrigkeiten und Versuchungen abzusichern. Und sie gewinnt als „geistige Macht“ wie als für sich interessantes und als durchaus auch mit viel fun verbundenes rituelles Treiben eine eigene, durchaus nicht-magische Grundlage.
Exkurs über das Verhältnis von Pflicht und Vernunft Als durch und durch „totales“ soziales Phänomen findet sich die Norm der Reziprozität wohl nur in Stammesgesellschaften, etwa in der Südsee, bei den Indianern, im Hunsrück, im Kölner Klüngel, auf Schalke oder in einer Fakultät. In modernen Gesellschaften tritt die „Norm“ der Reziprozität in ihrer strikten Unerbittlichkeit ohne Zweifel gegenüber den milderen, weniger magischen, aber keineswegs weniger zwingenden Mechanismen des unmittelbaren Ausgleichs, etwa über das symbolisch generalisierte Medium Geld, zurück. Die Menschen haben die moderne Gesellschaft nicht zuletzt erfunden, um der Enge und dem Terror der Reziprozität und der Dankbarkeit zu entkommen. Aber auch dort bleibt die „Totalität“ der Transaktionen in einem hohen Aus-
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maß erhalten. Die inzwischen nachgerade zur Mode gewordene Erinnerung an die Bedeutung des Vertrauens, der Moral und allgemein der sozialen Einbettung gerade in modernen Gesellschaften ist ein Hinweis darauf. Und das ist ja auch kein Wunder: Unter gewissen Bedingungen ist das Vertrauen in den „Geist“ der Transaktionen ja der Schlüssel zu ertragreicher Kooperation und zu großem Gewinn – für alle. Kurz: Blindes Vertrauen, die nicht weiter hinterfragte Befolgung von Normen, die klaglose Erfüllung von Pflichten und die Ausschaltung berechnender Vernunft sind – manchmal – ein Gebot der wirklich „vernünftigen“ Vernunft. Das „Umschalten“ von der Berechnung auf die Verpflichtung ist freilich keine leichte Sache, wie die Erklärung der Entstehung von Commitment gezeigt hat. Aber es funktioniert: Menschen binden sich bedingungslos, wenn der „Mittelwert“ und die „Varianz“ der Auszahlungen entsprechend sind, wenn es sich also lohnt. Wie sieht es aber umgekehrt aus? Ist, etwa beim Kula oder bei einem Potlatsch, in der Bindung an Normen, Pflichten und Magie der Verstand ausgeschaltet? Gibt es dabei keinerlei „Berechnung“? Und wo bleibt die Versuchung, sich der oftmals auch drückenden Lasten der Verpflichtungen zu entziehen? Diese Frage behandelt Bronislaw Malinowski in seiner, oben bereits zitierten, Schrift über „Sitte und Verbrechen bei den Naturvölkern“ ausführlich. Es geht um das weiter gezogene Problem gewisser universaler Eigenschaften der Gattung des homo sapiens und um die Frage „ ... inwiefern sich der primitive Geist von dem unseren unterscheidet und wie weit er ihm ähnlich ist, ob der Wilde dauernd in einer Welt übernatürlicher Mächte und Bedrohungen lebt oder im Gegenteil seine lichten Momente hat, in dem Maße, wie wir sie haben; ob die Solidarität des Klans wirklich eine so überragende und universale Macht darstellt, oder ob die Heiden ebenso selbstsüchtig und eigennützig sein können wie wir Christen.“ (Malinowski o.J., S. 5)
Die Antwort von Bronislaw Malinowski ist eindeutig: Es gibt keinen Hinweis darauf, daß sich die „Wilden“ in Verstand, Neigung zur Selbstsucht und Drückebergerei von „zivilisierten“ oder „modernen“ Menschen und – wie Malinowski hinzufügt – Christen unterscheiden. Er belegt dies u.a. am Beispiel des Kula, den er ja so ausführlich untersucht hat, und des damit auch verbundenen kooperativen Fischfangs mit Booten. Ohne Zweifel gibt es danach einen Zwang der gegenseitigen Pflichten und eine ausgeprägte soziale Kontrolle der Einhaltung dieser Pflichten. Aber das ist nicht das einzige Motiv, das die Eingeborenen zur Einhaltung der Regeln bringt: „Die Nützlichkeit der Beschäftigung, das dringende Verlangen nach frischer und guter Kost, vor allem aber vielleicht die Anziehungskraft dessen, was für die Eingeborenen einen äußerst spannenden und faszinierenden Sport bedeutet, sind offensichtlichere, bewußtere und wirksamere Triebkräfte als alles, was wir bisher als legale Verpflichtungen beschrieben haben.“ (Ebd., S. 31)
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Nicht zuletzt macht die Unterordnung unter gewisse (Spiel-)Regeln ja auch mächtig Spaß. Jeder aktive Fußballspieler weiß das. Das aber nur, wenn alle sich daran halten und es keinen Spielverderber gibt (vgl. dazu auch den Exkurs über das Spiel im Anschluß an Kapitel 2 oben in diesem Band): „Und wenn man an einem sportlichen oder vergnüglichen Anlaß teilnimmt, so kann man sich des Genußes nur wirklich erfreuen, wenn man alle Regeln getreulich befolgt, seien es nun die allgemeinen Regeln der guten Sitte oder die eigentlichen Spielregeln.“ (Malinowski o.J., S. 52)
Kurz: Unter der Abseitsregel leidet man nicht, ebensowenig wie unter dem Ritual des Kula. Aller Enthusiasmus und alle soziale Kontrolle verhindern gleichwohl nicht, daß die folgenden, uns modernen Menschen und Christen allzu wohlbekannten, Erscheinungen auch bei den Wilden auftreten: „Denn allem Anreiz und allen Lockungen zum Trotz trifft man bei jeder Gelegenheit Individuen, die mürrisch, schlecht disponiert und von anderen Interessen – sehr häufig von Intrigen – beherrscht, gerne ihren Verpflichtungen entrinnen möchten, wenn sie könnten. ... Wenn der Eingeborene irgendwie ohne Prestigeverlust oder ohne Verlust eines in Aussicht stehenden Gewinnes von seinen Pflichten loskommen kann, so tut er es, genau so, wie ein zivilisierter Geschäftsmann es zu tun pflegt.“ (Ebd., S. 31f.)
Was sie alle bei der Stange hält, ist, neben den vielen angenehmen Seiten der Beteiligung, die Unausweichlichkeit einerseits und die Gewöhnung an die Abläufe andererseits. Von „automatischer Glattheit“, die von außen oft der Pflichterfüllung der Wilden zugeschrieben werde, könne, so Bronislaw Malinowski weiter, keine Rede sein. Man entdecke vielmehr „ ... daß bei den Transaktionen beständig allerlei Hindernisse auftauchen, daß viel gemurrt wird, daß Klagen und Gegenklagen fallen und daß selten der eine Partner mit dem anderen vollkommen zufrieden ist. Im allgemeinen aber dauert die Partnerschaft an, und im allgemeinen sucht jeder seine Pflichten so gut wie möglich zu erfüllen, denn er ist ja dazu gezwungen, zum Teil aus Eigennutz, zum Teil, weil er seinen sozialen Ambitionen und Gefühlen gehorcht.“ (Ebd., S. 32f.)
Alles befinde sich durchaus in einem gewissen Gleichgewicht. Es sei ein „wohlgeordnetes Geben und Empfangen“, über das jedoch „ ... im Geiste Buch geführt wird, wobei das Konto mit der Zeit immer einen Ausgleich findet. Es gibt hier ... keine ‚kommunistische‘ Mißachtung von Kerbholz und Eigentumszeichen.“ (Ebd., S. 30)
Man höre: Auch beim generalisierten Tausch wird also „Buch geführt“ und auf den „Ausgleich“ der Leistungen geachtet, wenngleich über längere Perioden hinweg. Alles vollzieht sich aber in einer erstaunlichen Leichtigkeit, die zu dem Irrtum führen könne, daß die Wilden nicht wüßten, was sie tun:
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„Die freie und leichte Art, in der alle Transaktionen ausgeführt werden, die guten Sitten, welche überall walten und Störungen und Hindernisse verdecken, machen es dem oberflächlichen Beobachter schwer, den starken Eigennutz und die abwägende Berechnung, die alles durchziehen, zu sehen. Für einen, der die Eingeborenen genau kennt, ist nichts offensichtlicher als dies.“ (Ebd.)
Und selbst die so vielgerühmte Freigiebigkeit der Eingeborenen, besonders von deren Häuptlingen, hat auch einen ganz naheliegenden, nicht gerade altruistischen, Grund: Sie ist „gleichwertig mit Ruhm und Ehre“ und jeder „ ... weiß übrigens, daß jedes Übermaß an Eifer und Großzügigkeit sich bald früher, bald später bezahlt macht.“ (Ebd., S. 34)
Und ebenso wie die Eingeborenen das wissen, so ist ihnen auch sehr klar, daß sie bei einer nachhaltigen Verletzung der Norm der Reziprozität nichts zu lachen hätten: „Der wahre Grund, warum diese wirtschaftlichen Verpflichtungen normalerweise innegehalten, und zwar sehr gewissenhaft innegehalten werden, ist der, daß ein Sich-nichtfügen-Wollen den Eingeborenen in eine unhaltbare Situation stürzen und eine Nachlässigkeit in der Erfüllung seiner Pflicht ihn mit Schimpf und Schande bedecken würde. Der Eingeborene, der bei seinen wirtschaftlichen Transaktionen dauernd die Vorschriften außer acht ließe, würde sich bald außerhalb der wirtschaftlichen und sozialen Ordnung gestellt sehen – und das weiß ein jeder ganz genau!“ (Ebd., S. 42)
Nichts daher also von den, den Wilden oft zugeschriebenen, Eigenschaften des „spontanen“ oder „sklavischen“ Befolgens der Traditionen und Regeln, von „unwissentlichen oder „intuitiven Methoden“, von „instinktiver Unterwerfung“ unter einen Kollektivgeist oder von einem geheimnisvollen „Gruppengefühl“, das „gleicherweise für Recht, Ordnung, Kommunismus, sexuelle Promiskuität“ wie aus einem „bolschewistischen Paradies“ (ebd., S. 17) verantwortlich sei! Bei genauerer Untersuchung entdecke man „ ... ein festes System der Verteilung der Funktionen und ein strenges System gegenseitiger Verpflichtungen, in welchem der Sinn für Pflichtgefühl und die Erkenntnis von der Notwendigkeit der Zusammenarbeit Seite an Seite stehen mit der Betätigung des Eigennutzes und der Ausnützung der Privilegien und Gewinne.“ (Ebd., S. 25)
Nicht die „Natur“ der Wilden ist also anders als die des zivilisierten Menschen, sondern nur die Umstände, unter denen sie leben. Alle streben offensichtlich nach physischem Wohlbefinden und sozialer Wertschätzung unter den Bedingungen der antagonistischen Kooperation. Alle sind sowohl freigiebige und freundliche „Kollektivisten“ wie mürrische und berechnende „Individualisten“. Alle folgen, wenn nichts dagegen spricht, lieber den eingetretenen Pfaden der Tradition und hängen in etwas sentimentaler Weise daran. Alle sind manchmal etwas indisponiert, selbstsüchtig, intrigant oder auch nur mür-
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risch. Was die Menschen in der Gewichtung der verschiedenen Aspekte – nicht nur in ihrer Bindung an die Norm der Reziprozität – unterscheidet, sind die „Verfassungen“, die Abhängigkeiten, die möglichen Gewinne und die Alternativen, unter denen sie das tun. Und dann gibt es keinen Unterschied zwischen den (Transaktions-)Gemeinschaften, die die Wilden bilden und irgendeiner anderen Gemeinschaft mit ähnlichen Strukturen, sei es nun „ ... ein osteuropäisches Ghetto, ein Oxfordcollege oder eine Sektengemeinde im Mittelwesten von Amerika.“ (Ebd., S. 51)
Genau.
11.3 Transaktionssysteme Zum Schluß dieses Kapitels über den generalisierten Tausch müssen wir aus der exotischen Welt des westlichen Pazifik und der Indianer noch einmal in das etwas verstaubte Büro von Peter M. Blau und den einfachen Tausch zurückkehren – um verstehen zu lernen, wie aus einfachen, bilateralen Beziehungen ganze „Systeme“ von Tauschrelationen werden können, so daß auch hier so etwas entstehen kann wie ein Kula-Ring. Es beginnt ganz einfach, da nämlich, wo wir in Abschnitt 10.1 oben aufgehört haben: Wenn meine ehrerbietige Bitte um Rat von dem Kollegen nicht erwidert wird, wenn es kein guter Rat war, den er mir gab, oder wenn mein Prestigeverlust bei den anderen Kollegen im Büro höher ist, als erwartet, dann ist das nicht ohne Folgen für die weitere Beziehung im Büro: Es verringern sich pa3 bzw. U3, und der ab jetzt erwartete Nutzen der Transaktion, bzw. es erhöhen sich die unmittelbaren Kosten C5 für A1. Und wenn die Differenz von EU(a12,r21) und EU(e1,e2) nicht sehr hoch gewesen ist, dann wird es von A1 keinen zweiten Versuch zu einem Tausch mit A2 mehr geben. Ganz analog wird es mit A2 sein, wenn der – beispielsweise – erfährt, daß die Ehrerbietung von A1 nur geheuchelt war, oder wenn er feststellen muß, daß man ihm doch mehr Zeit gestohlen hat, als er zuerst dachte. Und die Geschichte endet, kaum daß sie begonnen hatte. Das muß freilich nicht sein. Transaktionen können gelingen und wiederholt werden und von einer punktuellen Angelegenheit einmaliger Akte in der Tat zu einem „System“ mutieren, das sich in einem gewissen Sinne von den kurzfristigen Motiven und Befindlichkeiten der Akteure ablöst. Das geht in drei, theoretisch zu unterscheidenden, Schritten: Die Bildung eines Gleichgewichts der Tauschraten, die Rahmung der Transaktion als eine soziale Beziehung und der Ausbau der Beziehung auch auf andere Ebenen und Dimensionen der ursprünglichen Transaktion.
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Das Gleichgewicht der Tauschraten Wenn der Tausch einmal gelungen ist und wenn es keine bösen Überraschungen gegeben hat, dann erhöhen sich die Chancen, daß auf den einmaligen Tauschakt eine Wiederholung folgt. Nun weiß A1 ja verläßlicher, daß A2 wirklich ein hilfreicher Experte ist. Es erhöhen sich pa3 und damit die Werterwartung für den Transaktionsgewinn. Und A2 merkt auch gleich, was er von der Sache hat, wenn er zuvor auch noch Zweifel hegte. Außerdem sinken bei jeder Wiederholung der Transaktion die Transaktionskosten Ct für beide. Kurz: Eine Wiederholung der Transaktion würde sich für beide lohnen. Wirklich? Sehen wir uns dazu zunächst den Experten A2 an. Er sitzt an seiner Arbeit und wird nun schon zum dritten Male von A1 um Rat gefragt, natürlich nicht ohne dessen Ehrbezeugungen. Aber die gehen dem A2 allmählich schon beträchtlich auf die Nerven. Leicht ist zu verstehen, warum. Es ist erstens immer der gleiche tiefe Bückling. Vor allem aber fehlt zweitens inzwischen wirklich die Zeit, weil die eigene Arbeit wieder einmal liegen bleiben müßte und inzwischen immer dringender wartet. Kurz: Der Nutzen für die Anerkennung gerät in die Zone deutlich abnehmender Grenzerträge, und die unmittelbaren Kosten steigen steil an. Mehr als, sagen wir, zwei Ratschläge pro Tag, lohnen sich für A2 nicht. Der dritte Tauschakt würde ihm sogar schaden. Aber auch A1 wird von sich aus darauf kommen, nicht mit jedem neuen Problem und nicht immer wieder sofort zu A2 zu rennen, wenn es etwas gibt. Für ihn dürften vor allem die Kosten des Prestigeverlustes zu Buche schlagen: Rasch gilt man im ganzen Büro als lästiger Versager, wenn man sich allzu oft fremden Rat holt. Vielleicht unterliegt auch der Rat des Experten A2 dem Gesetz des abnehmenden Grenzertrages. Nichts verliert seinen Tauschwert schneller als ein guter Tip. Und so nähert sich auch bei A1 die Menge der sich lohnenden Wiederholungen einem bestimmten Grenzwert, von dem ab die Kosten den Gewinn übersteigen würden. Wir wollen annehmen, daß A1 vor diesem Hintergrund gerne drei Beratungen pro Tag von A2 hätte. Leicht läßt sich nun vorstellen, was geschieht. Es entsteht ein Gleichgewicht in der Menge der Tauschakte pro Zeiteinheit. Dieses Gleichgewicht kann man getrost schon als „System“ bezeichnen (vgl. dazu schon Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Es besteht in dem Andauern von zwei Konsultationen pro Tag zwischen A1 und A2. Seine Obergrenze findet es dort, wo bei mindestens einem der Akteure die Bilanz umschlägt. Denn das wissen wir ja schon: Eine Transaktion findet als emergentes kollektives Ereignis nur statt, wenn beide Akteure die betreffenden Handlungen vornehmen. Das wäre in unserem Beispiel die Tauschrate
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Soziales Handeln
von zwei pro Tag, zu der A2 bereit ist. A1 läßt das zwar nicht ganz zufrieden zurück. Er hätte gerne drei Beratungen und würde dafür auch noch einmal den Hut tief ziehen. Mehr lassen die Umstände aber nicht zu. Es sei denn: A1 ist bereit, den Gewinn für A2 zu erhöhen, so daß sich für den die erhöhte Tauschrate wieder lohnt. Aber das kann A1 sich wiederum nicht leisten, so daß ab jetzt das System sich nicht weiter ändert. Als Ergebnis des gesamten Prozesses kommt schließlich ein stabiles Gleichgewicht von Tauschraten heraus. Im Büro von Peter M. Blau zeigte sich das in Form eines Musters von regelmäßigen Konsultationsbeziehungen einerseits und eines Statussystems andererseits. Es ist in Abbildung 11.4 dargestellt.
keine Partner
Beurteilung durch den Vorgesetzten
2
hoch
mittel
8
10
niedrig
14
13
6
11
9
12
15
16
7
1
3
4
5
Abb. 11.4: Konsultationsbeziehungen und Statussystem (nach Blau 1955, S. 107)
Aufgeführt sind die 16 Kollegen in dem Büro. Die Nummern geben die Einschätzung des Statusranges durch die Kollegen an. Deren Status, und der aller anderen, ist natürlich das Ergebnis des „Angebotes“, das die Nachfrager nach ihrem guten Rat machen: Wertschätzung. Es zeigt sich, daß diese Einschätzung stark mit der „objektiven“ Beurteilung durch die Vorgesetzten korreliert. Interessanterweise sind die am höchsten eingeschätzten Kollegen nicht in die regelmäßigen Konsultationen einbezogen: Sie werden fallweise und relativ selten, eben bei den wirklich schwierigen Problemen, aufgesucht. Auch das gehört ja zum Gleichgewicht: Die besonders kompetenten Experten können
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für relativ wenig Belästigung einen hohen Status herausholen – weil ihr Rat so gut und so selten ist (vgl. dazu auch noch ausführlich das gleich folgende Kapitel 12 über die Macht, sowie noch das Kapitel über „Netzwerke und Beziehungsstrukturen“ in Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Transaktion als „soziale Beziehung“ Mit der Wiederholung der Transaktion werden zunächst alle Abläufe „ökonomisiert“. Man weiß jetzt, beispielsweise, den Weg zum Zimmer des Experten, hat etwas über seine Empfindlichkeiten erfahren und kennt die Fettnäpfchen bei den Kollegen schon besser. Es muß auch nicht jedes Wort neu überlegt werden. Einzelne Akte werden zu Sequenzen oder kurzen Gesten und angedeuteten Hinweisen zusammengefaßt. Schließlich kann der ganze Vorgang der Transaktion zu einer übergreifenden Einheit gedanklich zusammengefaßt und – gegebenenfalls – in einem Akt als eine Art von eingespieltem Ritual abgespult werden. Jetzt fehlt nur noch ein Wort für die Angelegenheit. Sagen wir: „Konsultation“. Das Wort „Konsultation“ alleine schon vereinfacht das an sich komplexe Geschehen noch weiter und faßt es zu einem verständlichen und verstandenen „Modell“ des Interagierens mit einem typischen Code und einem ebenso typischen Programm für den gesamten Vorgang zusammen. Mit dem Wort und mit dem gedanklichen Modell ist also eine kognitive Vorstellung bei den Akteuren verbunden, an der sie sich leicht wechselseitig orientieren können, wenn sie sich für die betreffende Transaktion suchen und zusammenfinden wollen. Bald verbinden sich mit dem Modell aber nicht nur Erwartungen über typische Abläufe, sondern auch typische Bewertungen, etwa über die „richtige“ und „gerechte“ Größenordnung der Auszahlungen an die Akteure. Die Tauschrate wird normiert und zu einem Standard der Gerechtigkeit transformiert. Erfolgreich abgeschlossene und gleichgewichtige Tauschakte lassen die Beteiligten meist auch mit Gefühlen der Zufriedenheit und des Dankes zurück, die sich in einer Art von Konditionierung auf den Akt selbst übertragen können. Mit der Wiederholung entsteht somit nicht nur ein Gleichgewicht in den Auszahlungen, sondern auch in Bewertungen und Emotionen, die mit der Transaktion selbst verbunden werden und ihr einen eigenen Belohnungswert geben. Auch für solche typischen Bewertungen und Gefühle mögen sich schließlich Bezeichnungen bilden, die, wenn sie in einer Situation genannt werden, bei den Akteuren wieder gewisse affektive Assoziationen hervorrufen
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Soziales Handeln
– wie etwa das Wort von der „Kollegialität“, bei dem ja nicht nur kalte Berechnung mitschwingt, sondern auch ein gewisser Comment des Umgangs miteinander. Schließlich können die kognitiven und die affektiven Assoziationen auch in eine „Einstellung“ und in ein sprachliches Symbol für eine innere Vorstellung zusammengeschmolzen werden. Das Wort und das Konzept der „Konsultation unter Kollegen“ wäre so etwas: „Konsultation“ ruft die typischen Erwartungen, „Kollegen“ die typischen Bewertungen auf. Allen ist damit klar, daß es sich hierbei um eine besondere Art der auch schon deutlich normierten sozialen Beziehung handelt, in deutlichem Unterschied etwa zum Modell einer „Beratung mit dem Vorgesetzten“ oder der „Einholung eines externen Gutachtens“, mit denen ganz andere Akte, ganz andere Bewertungen und Gefühle und ganz andere Tauschraten und Gleichgewichte gedanklich verbunden werden. Und wenn jemand dann sagt, er ginge gerade mal wieder zu einer Konsultation mit dem Kollegen, dann wissen alle Bescheid – und können ungestört weiter ihre Arbeit tun. Mit der Etablierung und symbolischen bzw. sprachlichen Repräsentation eines koginitv-affektuellen Modells einer Transaktion ist also eine „soziale Beziehung“ entstanden, wie wir sie im Anschluß an Max Weber in Kapitel 1 und 9 dieses Bandes definiert haben: Eine Orientierung, in der sich die Akteure in einer sozialen Situation gegenseitig aufeinander „einstellen“. Diese Orientierung bringen die Akteure in die Situation schon mit. Jeder weiß – wie der Mongoloide in der Kirche aus der Geschichte „Mehr als Archimedes“ oben im Anschluß an das Kapitel 7 dieses Bandes – im voraus, was jetzt geschehen wird. Der Code und das Programm einer „Konsultation unter Kollegen“ wird, sobald die Situation „da“ ist, automatisch aktiviert. Lange Verhandlungen und komplizierte Gewinn-Verlust-Rechnungen werden überflüssig – sofern alle Anzeichen und erkennbaren Umstände im üblichen Rahmen bleiben (vgl. dazu auch noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ausführlich). Die Rahmung einer Transaktion als soziale Beziehung spart auf diese Weise vor allem Transaktionskosten – und macht so Transaktionen möglich, die ansonsten in die Verlustzone geraten wären. Einen „Kollegen“ berät man eben eher als jemanden, der nur als Hospitant anwesend ist – oder gar jemanden, der sich als unkollegial erwiesen hat. Bei alledem darf jedoch der „eigentliche“ Hintergrund nicht vergessen werden: Wenn sich die Auszahlungen bei der Transaktion – aus welchem Grund auch immer – nicht mehr lohnen, dann nutzt schließlich auch das schönste Modell einer sozialen Beziehung nichts mehr. Die Orientierung an eine soziale Beziehung unterstützt die Transaktion ohne Zweifel sehr, trägt sie letztlich aber nicht.
Als soziale Beziehung einer „Konsultation unter Kollegen“ ist die zunächst ja recht egoistisch-individuelle und sozial sehr isolierte Transaktion in einen
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kulturellen, normativen, ja auch moralischen Rahmen eingebettet. Das ist aber nicht alles. Die sozialen Beziehungen stehen meist nicht isoliert da, sondern sind – in bürokratischen Organisationen zumal – immer in andere und weiter gefaßte Transaktionen und soziale Beziehungen eingebunden, vor allem in die formellen Beziehungsstrukturen der betreffenden sozialen Einheit. Im Gleichgewicht sind dann alle Transaktionen und gedanklichen Modelle der zugehörigen sozialen Beziehungen aufeinander abgestimmt und mit gewissen fixen Tauschraten versehen: die Beziehung zu den Vorgesetzten, zu den anderen ratsuchenden Kollegen, zu den Klienten, aber auch zu den Ehefrauen, die ab und zu anrufen und fragen, ob man sie noch liebe, und dabei die gerade ablaufende Konsultation unter den Kollegen empfindlich zu stören pflegen. Dann hilft nur Eines: „Du, Schatz, ich berate mich gerade mit dem netten Kollegen A2 in einer wichtigen Sache. Ich ruf’ Dich gleich zurück. Gruß an Lucy und Felix.“ Und jeder weiß, was zu tun ist, weil jeder die Modelle der sozialen Beziehungen „Konsultation unter Kollegen“, „grüne Witwe“ und „Ehemann im Büro“ kennt. Hoffentlich. Der Ausbau der Beziehung Im Laufe der zunächst rein „sachlich“ motivierten Transaktionen können sich A1 und A2 immer besser kennenlernen und feststellen, daß es noch mehr Interdependenzen und noch andere Anreize für weitere Transaktionen gibt. Man sieht sich schließlich nicht nur im Büro, sondern auch in der Sauna, bei Fortuna und mit den Frauen zu Hause, die den netten Kollegen auch einmal sehen wollten, und spielt gemeinsam mit den lieben Katzen. Es kann – kurz gesagt – zu einem Ausbau der Beziehung kommen (vgl. Homans 1972a, S. 73ff.). Dies ist eine weitere Stufe der „System“-Bildung bei Transaktionen. Zu dem einen dünnen Faden des Interesses am bloßen Tausch von Rat gegen Anerkennung und zu der recht isolierten und auf das Büro beschränkten sozialen Beziehung der Kollegialität gesellen sich weitere Fäden, an denen schließlich die Beziehung zwischen A1 und A2 hängt und die sie vom Verfall des „sachlichen“ Interesses unabhängiger macht. Kurz: Aus einer uniplexen Beziehung ist allmählich eine multiplexe Beziehung geworden, bei der der eine oder andere Faden durchaus reißen kann, ohne daß gleich die Beziehung zerbricht (vgl. zu den verschiedenen Aspekten und Eigenschaften von sozialen Netzwerken und Beziehungsstrukturen noch Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Auch dies führt – wie bei dem „System“ der sozialen Beziehung – zu einer Verstetigung und Einbettung der Transaktionen. Der zuerst nur „ökonomi-
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Soziales Handeln
sche“ Tausch von Rat gegen Anerkennung und der recht spezifische Rahmen der Kollegialität ist dann, wenn es mal Krach im Büro geben sollte, längst überlagert vom Interesse an anderen Transaktionen, schließlich auch von Gefühlen, von Vertrauen, und eventuell sogar ja von einem noch anderen institutionellen Rahmen einer „sozialen Beziehung“ – etwa dem der sozialen Beziehung einer Freundschaft. Aus einem einfachen Tausch ist so ein generalisierter Tausch geworden, aus einer bilateralen Beziehung so etwas wie ein Kula-Ring – unter dem rahmenden Dach der Institutionen von Kollegialität und Freundschaft. Wahrscheinlich sind die zusätzlichen Interdependenzen dann aber auch solche, in denen der ansonsten doch etwas bedauernswerte A1 auch von A2 Anerkennung bezieht, am besten eine solche, die sich ebenfalls auf die Arbeit im Büro bezieht, so daß nun der Tausch von Rat und Anerkennung auch den umgekehrten Weg geht und die Beziehung in dieser Hinsicht ausgeglichen ist. Ansonsten dürfte die neue Freundschaft wohl keinen langen Bestand haben. Echte Freundschaften vertragen Statusunterschiede nämlich nicht. So will es die geltende gesellschaftliche Definition des Modells der sozialen Beziehung einer Freundschaft. *** Jede Transaktion ist ein soziales Handeln. In das empirische Geschehen von Tausch und Transaktion gehen, wie wir gesehen haben, stets alle drei Aspekte sozialer Situationen und alle drei „reinen“ Formen des sozialen Handelns ein: Materielle Aspekte des strategischen Handelns; kulturelle Aspekte der Interaktion mit ihren gedanklichen, der symbolischen und kommunikativen Abstimmungen; und institutionelle Aspekte, die eine Transaktion als einen bestimmten Typus einer sozialen Beziehung normieren, etwa als die einer geschäftlichen Beziehung und – beispielsweise – eben nicht die eines Bankraubes. Bei alledem gilt aber stets: Wenn es kein materielles Motiv zur Transaktion gibt, dann nützt die schönste symbolische, kulturelle, institutionelle und sonstige soziale Einbettung nichts. Alles das wäre leeres Beiwerk, das niemanden weiter interessiert und das auch bald verfällt, wenn sich die Interessen geändert haben – wie die Damenkaffees mit ihrem symbolischen Brimborium bei der Gattin des Rektors, die einstmals tatsächlich den Rahmen für die Transaktion höchst wichtiger Ressourcen der akademischen Welt abgaben. Heute werden sie nur noch als lästige Pflicht und überflüssiger Muff aus einer längst vergangenen Welt empfunden, weil die Interessen der ProfessorengattEn und das Wohlbefinden ihrer GemahlInnen längst an anderen Dingen hängen, und es eher die Steuerschätzer in Land und Bund und Teufel und Eichel
Die Organisation des Tausches
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sind, auf die sich alle Augen richten. Ohne Transaktion und Tausch können die Menschen ohne Zweifel nicht existieren. Sie sind der Kern der materiellen Reproduktion des Menschen und damit der Kern auch seiner sozialen Existenz. Immer geht es dabei letztlich aber um die Erzeugung und die Verteilung von Ressourcen zur Sicherung der physischen und psychischen Existenz: „Auch die Gesellschaft ist kein Perpetuum mobile, das sich selbst mit Treibstoff versorgt. ... Sie muß Güter bereitstellen, die die Menschen nicht deshalb belohnend finden, weil sie Angehörige einer besonderen Kultur, sondern weil sie Menschen sind.“15
Kurz: Wenn es den Menschen ernsthaft um diesen „Treibstoff“ geht, dann finden in ihren Transaktionen auch die Kultur und die Moral ihre Grenze. Und daher ist es kein Wunder, daß bei Transaktion und Tausch die Dialektik der antagonistischen Kooperation und des Verhältnisses von materieller Struktur und symbolischer Kultur in ganz besonderer Weise zum Tragen kommt.
15
George C. Homans, Elementarformen sozialen Verhaltens, 2. Aufl., Opladen 1972c, S. 336.
Kapitel 12
Macht
Beim Tausch des guten Rates gegen Anerkennung im Büro von Peter M. Blau mußte keiner der beiden Akteure auf den anderen neidisch sein: Der Gewinn aus der Transaktion war für beide gleich, denn jeder verbesserte sich um acht von zwei auf zehn Werteinheiten (vgl. Abschnitt 10.1 in diesem Band). Und niemand konnte den anderen zwingen, mehr zu geben als er selbst. Das ist ein, wenngleich nicht seltener, Spezialfall des Tausches: der gleiche Tausch. Oft ist das Ergebnis oder der Gewinn aus einem Tausch jedoch ungleich: Der eine Akteur gibt mehr als er vom anderen bekommt oder er hat zum Schluß mehr als der andere.1 Warum aber tritt auch derjenige – durchaus: freiwillig – in die Transaktion ein, der weniger davon hat? Das ist die Frage nach den Grundlagen der Macht. Was ist Macht? Was aber „ist“ Macht? Max Weber hatte die Macht bekanntlich als die „Chance“ definiert, innerhalb einer sozialen Beziehung den „ ... eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.“2
Das ist eine sehr allgemeine Definition. Oft wird mit Macht auch die Vorstellung von Gewalt oder Zwang, von Autorität und von Einfluß verbunden, oder sie wird allgemein als Mechanismus der Auferlegung von Handlungsdirektiven verstanden. Macht wird in diesem Sinne manchmal sogar als symbolisch 1
2
Vgl. dazu George C. Homans, Elementarformen sozialen Verhaltens, 2. Aufl., Opladen 1972c, S. 80ff. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5. Aufl., Tübingen 1972 (zuerst: 1922), S. 28; Hervorhebung nicht im Original. Vgl. dazu auch schon Abschnitt 4.2 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“.
386
Soziales Handeln
generalisiertes Medium der Kommunikation aufgefaßt, wie etwa von Talcott Parsons oder von Niklas Luhmann (vgl. dazu noch den diesen Band abschließenden Exkurs über die Frage, ob die Macht ein Medium ist). Hier wird der Begriff der Macht einerseits weiter, andererseits enger definiert. Macht ist danach erstens „mehr“ als Gewalt, Zwang, Autorität, Einfluß oder ein spezielles „Medium“ der Kommunikation. Zweitens ist sie aber auch ein sehr spezieller Grundzug bestimmter sozialer Situationen: Sie entsteht und „besteht“ als Folge einer besonderen Verteilung von Interesse und Kontrolle an Ressourcen. Sie ist damit ein Teil und die Folge von Transaktionsbeziehungen. Sie ergibt sich unmittelbar aus der Verteilung der Transaktionsinteressen und damit aus der Dependenz der Akteure voneinander (vgl. dazu auch schon Kapitel 1 und Abschnitt 10.1 in diesem Band). Alles andere – Gewalt, Zwang, Autorität, Einfluß, Macht als Medium u.ä. – sind dann nur wieder Spezialfälle von Situationen des Tausches, Spezialfunktionen der Macht oder besondere Formen ihrer Manifestation. Kurz: Ohne die Transaktion des Tausches, ohne das Konzept des Transaktionsinteresses und das der Dependenz sind die Macht der Menschen übereinander und deren spezielle Funktionen, Formen und Manifestationen nicht zu verstehen. Und deshalb behandeln wir das für fast alle gesellschaftlichen Strukturen und Prozesse so wichtige Konzept der Macht im Anschluß an die beiden Kapitel über die Transaktion und den Tausch. Tausch und Macht Wie hängen nun aber Macht und die Transaktion des Tausches zusammen? Mit dem Tausch konnten sich die Akteure in dem Beispiel der Konsultation im Büro, das Peter M. Blau beschreibt, in eine vergleichsweise komfortable Situation bringen – und hatten daran beide auch ein Interesse. Wir wollen jetzt aber annehmen, daß der Akteur A2 ohnehin schon genug an Prestige hat und daher auch ohne die Anerkennung durch A1 seine eigene Arbeit aufgewertet sehen kann. Diese Aufwertung wollen wir mit einer Höhe von Up = 8 annehmen. Den so veränderten Gesamtwert der eigenen Arbeit von A2, e2’, kann man daher mit U2+Up = 10 Einheiten ansetzen. Aber noch etwas anderes ist geschehen: Dem A2 ist die Gegenleistung von A1, dessen Anerkennung abzüglich der Kosten der Transaktion also, inzwischen nicht mehr viel wert, teils weil mit dem Prestigezuwachs die Anerkennung für A2 aufgrund des Gesetzes vom abnehmenden Grenzertrag relativ an Wert verloren hat, teils weil, so wollen wir annehmen, für A2 die Kosten der Konsultation deshalb gestiegen sind, weil sein Prestige exakt damit zu tun hat, daß er inzwischen noch wichtigere Arbeiten zu tun hat, und daß damit auch seine Zeitkosten
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für die Konsultation gestiegen sind. Für den guten Rat erhält A2 zwar äußerlich noch die gleiche Ressource, etwa die Worte „Vielen Dank dann mal wieder!“, aber der Wert dieser Gegenleistung durch A1 beträgt für ihn statt Uta = 8 jetzt nurmehr Uta’ = 0.
Und die Folge: A2 hätte nun keinen Grund mehr, von seiner Arbeit abzulassen, wenn er um Rat gefragt wird, denn seine Entscheidungssituation sieht jetzt so aus: EU(e2’,e1) = U2 + Up =2+8 = 10 EU(r21’,a12)’ = U2 + Up + Uta’ = 2 + 8 + 0 = 10. Die Transaktion kommt somit jetzt nicht zustande, weil die ungestörte Weiterführung der eigenen Arbeit für A2 nicht schlechter wäre als der „Tausch“. A2 würde den A1, der jetzt schon wieder vor dessen inzwischen wesentlich bedeutender gewordenem Schreibtisch antichambriert, wahrscheinlich mit einem schon etwas mürrischen Blick einfach abblitzen lassen. Was könnte A1, der ja nach wie vor an dem guten Rat von A2 interessiert ist, nun aber tun? Hier muß nicht lange überlegt werden: A1 wird dem A2 zusätzlich etwas von Interesse anbieten müssen, um ihn zu einer für ihn, A1, so nützlichen Transaktion zu bewegen. Sagen wir einmal: Er wird die Anerkennung mit besonders anerkennenden Worten vermitteln, etwa: „Ganz herzlichen Dank! Ich bewundere Sie!“. Die besonders herzliche Anerkennung sei dem A2 als Gegenleistung für den guten Rat Uta’’= 4 wert. Der Einfachheit halber wollen wir davon ausgehen, daß diese besondere Anerkennung dem A1 keine weiteren Kosten verursacht: Freundlichkeit und Bewunderung kostet nicht viel, wenn sie sich in Grenzen hält. Alle anderen Größen der Entscheidung können damit gleich bleiben. Und jetzt sieht das Gewicht für die Entscheidung zum Tausch mit A1 bei A2 so aus: EU(r21’’,a12) = U2 + Up + Uta’’ = 2 + 8 + 4 = 14. Damit aber sind die Gewichte für die Entscheidungen der Akteure gegenüber der Ausgangssituation des gleichen Tausches wieder so geändert, daß die Transaktion zustande kommen wird. Die verschiedenen Konstellationen sind in Abbildung 12.1 zusammengefaßt, wobei die Matrix links die Situation des gleichen Tausches aus Abbildung 10.3 des Abschnitts 10.1 oben in diesem Band noch einmal beschreibt, die Matrix in der Mitte die für A2 gegenüber dem gleichen Tausch zunächst veränderte Situation, und die Matrix rechts die Situation nach dem erhöhten Angebot von A1 an ihn – mit den Werten von EU(e’,e1) und EU(r21’’,a12) also.
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a. gleicher Tausch
b. verringertes Interesse bei A2
A2 r21 a12
c. erhöhtes Angebot von A1
A2 e2
10,10
r21’ a12
A2 e2’
10,10
r21’’ a12
e2’’
10,14
A1 e1
2,2
e1
2,10
e1
2,10
Abb. 12.1: Ungleicher Tausch
Für A1 hat sich in der Situation b gegenüber der ursprünglichen Situation a zunächst nichts geändert. Er hat mit acht Werteinheiten das gleiche Transaktionsinteresse wie zuvor. Aber für A2 ist die Situation anders geworden: Er hat nun kein Interesse mehr an der Transaktion, weil der Kooperationsgewinn gleich null für ihn ist: TI12 = (U1+Utr) - U1 = 10 - 2 = 8 TI21’ = (U2+Up+Uta’) - (U2+Up) = 10 -10 = 0 Mit dem Zusatzangebot der großen Herzlichkeit sieht die Sache in der Situation c aber wieder anders aus. Nun hat A2 wieder ein Interesse an der Transaktion, und zwar in Höhe von vier Werteinheiten: TI12 = (U1+Utr) - U1 = 10 - 2 = 8 TI21’’ = (U2+Up+Uta’’) - (U2+Up) = 14 - 10 = 4 Deshalb kommt es jetzt wieder zum Tausch. Aber die Werte der Auszahlungen sind nun, erneut anders als zuvor, ungleich. A2 hat mehr von dem Tausch: Er erhält 14 gegenüber den zehn Einheiten, mit denen sich A1 begnügen muß, aber wohl auch zunächst damit weiter zufrieden ist. Die Fähigkeit von A2, den A1 zu einer Transaktion zu bewegen, bei der er mehr erhält, ist nun – ganz allgemein – seine Macht über A1. Den Zusatzbetrag „muß“ A1 ja aufbringen, wenn er tauschen und dadurch seine Lage verbessern will. Was sonst? Anders ist A2 ja nicht zum Tausch zu bequemen, an dem A1 nach wie vor ein Interesse hat. A2 könnte sogar in aller Ruhe darauf warten, daß A1 zu ihm noch etwas
Macht
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freundlicher ist. Er ist auf die Transaktion mit A1 nicht sonderlich angewiesen. Er könnte den Preis noch weiter nach oben treiben. Denn von der Transaktion hat A1 immer noch mehr Gewinn als A2: Acht gegenüber vier Einheiten – bis es dem A1 schließlich doch zu viel wird, weil die überbordende Freundlichkeit dann doch ihren Preis zu haben beginnt, der den Transaktionsgewinn so weit schmälert, daß auch A1 kein Interesse an einer Ausweitung seines Angebotes mehr hat. Sofort erkennt man aber auch die Grenzen der Macht (vgl. dazu noch unten mehr). Wenn A2 für den guten Rat mehr als vier zusätzliche Einheiten verlangen würde, und wenn der Mehraufwand für die Anerkennung den A1 nun doch etwas kosten würde, dann verringerte sich für A1 der Kooperationsgewinn immer weiter. Dadurch würde das Transaktionsinteresse von A1 sinken – schließlich bis zu einem Punkt, wo auch für den die Sache ganz und gar uninteressant würde. A2 könnte sogar schrittweise herauszufinden versuchen, wie weit er gehen kann. Hoffentlich hat A1 aber nicht inzwischen schon etwas Besseres gefunden und ist, wenn A2 zuviel verlangt, plötzlich über alle Berge. Macht und Dependenz Wie verändern sich nun aber mit der Änderung der Auszahlungen und des Transaktionsinteresses die Dependenzen der Akteure? Sehen wir uns dazu die Dependenzmatrizen für die beiden, gegenüber dem gleichen Tausch geänderten, Situationen in der Abbildung 12.1b und 12.1c einmal an. Sie sind nach genau jener Logik gebildet, die wir in Abschnitt 10.1.3 oben in diesem Band beschrieben haben: die „Durchmultiplikation“ von Interesse und Kontrolle zur Gewinnung der Tabellen 10.1 und 10.2. In Tabelle 12.1 benennt das Ereignis E2’ entsprechend den angenommenen Änderungen in der Situation die aufgewertete eigene Arbeit von A2, das Ereignis Ea’ die abgewertete Anerkennung durch A1. Bei A2 konzentriert sich damit das gesamte Interesse auf die aufgewertete eigene Arbeit. Und A1 kontrolliert daher jetzt mit Ea’ ein Ereignis, das leider kein Interesse bei A2 mehr findet (zu den beiden unteren Zeilen in der Dependenzmatrix vgl. die Erläuterungen gleich unten).
390
Soziales Handeln
Tabelle 12.1: Die Dependenzmatrix für die Auszahlungen der Tauschsituation in Abbildung 12.1b
a. Interessenmatrix
A1 A2
b. Kontrollmatrix
E1
E2 ’
Er
E a’
0.2 0
0 1
0.8 0
0 0
E1 E2 ’ Er E a’
A1
A2
1 0 0 1
0 1 1 0
c. Dependenzmatrix A1
A2
Σ
0.2 0
0.8 1
1 1
0.2 Σ Anteil 0.1
1.8 0.9
2 1
A1 A2
Die Folgen werden in der Dependenzmatrix unmittelbar erkennbar: A1 bleibt weiter stark von A2 abhängig, A2 dagegen ist jetzt – im Vergleich zur ursprünglichen Situation des gleichen Tausches in Tabelle 10.1 und 10.2 des Abschnitts 10.1 oben in diesem Band – vollkommen autonom und von A1 vollständig unabhängig. Das war ja auch das Ergebnis oben: A2 hatte keinerlei Transaktionsinteresse mehr und war deshalb zum Tausch nicht zu bewegen. Wie sehen die Dependenzen nun aber nach dem Mehrangebot von A1 aus? Die im Wert erhöhte Anerkennung sei das Ereignis Ea’’ gemäß den Auszahlungen nach Abbildung 12.1c. Die wichtigste Folge ist eine neue Verteilung des Interesses von A2 auch auf das Ereignis Ea’’: Von den insgesamt vierzehn Einheiten, die es zu gewinnen gibt, entfallen vier auf das Ereignis Ea’’ und eben nicht mehr alles auf die eigene Arbeit E2’. Das macht 4/14≈0.28. Und entsprechend richtet sich das Interesse auf die eigene Arbeit E2’ nur noch zu ≈0.72. Nun verändert sich entsprechend die Dependenzmatrix wieder (vgl. Tabelle 12.2). Das Ergebnis der Änderungen ist erneut sofort erkennbar: Jetzt ist A2 nicht mehr, wie noch zuvor, vollkommen autonom. Das liegt hier allein an der Neuverteilung des Interesses. Aber er ist gleichwohl mit einer Dependenz von .28 von A1 deutlich weniger abhängig als dieser von ihm mit einer Dependenz von .80. Das liegt, natürlich, daran, daß A2 auch in der neuen Konstellation ein deutlich geringeres Interesse an dem Ereignis, das A1 kontrolliert, hat als umgekehrt.
391
Macht
Tabelle 12.2: Die Dependenzmatrix für die Auszahlungen der Tauschsituation in Abbildung 12.1c
a. Interessenmatrix E1
A1 0.2 A2 0
E2 ’
Er
Ea’’
0 0.8 0.72 0
0 0.28
b. Kontrollmatrix
c. Dependenzmatrix
A1
A2
A1
1 0 0 1
0 1 1 0
E1 E2 ’ Er E a’
A1 A2
A2
Σ
0.20 0.80 0.28 0.72
1 1
0.48 1.52 Σ Anteil 0.24 0.76
2 1
Zwei Aspekte der Macht: Jede Macht ist, wie wir gesehen haben, in den Dependenzen der Akteure, in ihren Interessen und in der Kontrolle über Ressourcen und Ereignisse verankert. Die Systematisierung des Begriffs der Dependenz über die Dependenzmatrix erlaubt nun auch eine Präzisierung des Begriffs der Macht. Macht kann vor dem Hintergrund eines ungleichen Tausches auf zweierlei Weise verstanden werden: als „umgekehrte“ Dependenz und als sog. kontrolliertes Gesamtinteresse. Macht als „umgekehrte“ Dependenz Macht als umgekehrte Dependenz ergibt sich einfacherweise als „logischer“ Kehrbegriff zur Abhängigkeit der Akteure voneinander:3 Wenn ein Akteur Ai von einem Akteur Aj in einem bestimmten Grade abhängig ist, dann hat Aj in 3
Vgl. Richard M. Emerson, Power-Dependence Relations, in: American Sociological Review, 27, 1962, S. 32ff.; Karen S. Cook und Richard M. Emerson, Power, Equity and Commitment in Exchange Networks, in: American Sociological Review, 43, 1978, S. 721ff.; Franz U. Pappi und Peter Kappelhoff, Abhängigkeit, Tausch und kollektive Entscheidung in einer Gemeindeelite, in: Zeitschrift für Soziologie, 13, 1984, S. 91f.; Peter Kappelhoff, Soziale Tauschsysteme. Strukturelle und dynamische Erweiterungen des Marktmodells, München 1993, S. 76ff.
392
Soziales Handeln
dem gleichen Maße Macht über Ai. Wenn das so definiert wird: logo. In den Dependenzmatrizen stehen, zeilenweise gelesen, die Dependenzen dij eines jeden Akteurs Ai von einem jeden Akteur Aj. Liest man die Zellen der Dependenzmatrizen jedoch spaltenweise, dann betrachtet man den gesuchten „Kehrwert“ der Abhängigkeit der einzelnen Akteure voneinander: die Macht mji, die ein Akteur Aj über einen Akteur Ai hat. Es gilt also trivialerweise: mji=dij. A1 ist in der Dependenzmatrix der Tabelle 12.2 danach beispielsweise zu einem Anteil von .80 von A2 abhängig, und A2 hat damit in diesem Ausmaß Macht über A1, während A2 nur mit .28 von A1 abhängig ist, der seinerseits daher auch nur zu .28 Macht über A2 hat. Die Autonomie ist wieder ein Spezialfall: Sie ist die Dependenz eines Akteurs von sich selbst, und sie ist deshalb, nun: trivialerweise, auch die Macht eines Akteurs über sich selbst. Macht als kontrolliertes Gesamtinteresse Die umgekehrte Dependenz ist die Macht zwischen zwei einzelnen Akteuren. Macht kann aber auch als das Ausmaß verstanden werden, in dem ein Akteur die Kontrolle der gesamten Interessen im „System“ aller Akteure und Ressourcen bzw. Ereignisse innehat. Das ist mit dem Begriff des kontrollierten Gesamtinteresses gemeint. Nun werden die beiden unteren Zeilen in den Dependenzmatrizen der Tabellen 12.1 und 12.2 wichtig. In der vorletzten Zeile unter der Dependenzmatrix stehen die spaltenweise aufaddierten einzelnen Dependenzen. Wegen der Normierung aller Werte auf 1 geht das. Die Summe dieser Summen über die Spalten hinweg ergibt das kontrollierte Gesamtinteresse über alle Akteure und Ereignisse bzw. Ressourcen hinweg. Das ist die Summe in der vorletzten Zeile rechts unten in der Tabelle 12.2. Wegen der Normierung der Interessen jeweils auf eins, ist das kontrollierte Gesamtinteresse gleich der Anzahl der Akteure; hier also gleich zwei. Die Summen unter den einzelnen Spalten geben dann an, wieviel der Kontrolle an dem Gesamtinteresse auf jeden einzelnen Akteur entfallen. Die unterste Zeile beschreibt die Anteile des jeweils kontrollierten Gesamtinteresses für die Akteure.
In der Dependenzmatrix der Tabelle 12.2 kontrolliert somit der Akteur A1 24% des Gesamtinteresses, und A2 die komplementären 76%. In Tabelle 12.1 wird erkennbar, daß A2 zwar, wegen seiner vollständigen Unabhängigkeit von A1, zu einem Tausch nicht zu bewegen ist, daß er aber gleichwohl nicht alles, was in dem „System“ an Interessen vorkommt, kontrolliert: A1 hat immerhin noch 10% des Gesamtinteresses unter Kontrolle. Dieser Rest an Eigenständigkeit von A1 hat einen einfachen Grund: Die eigene Arbeit mit einem Wert von zwei kann ihm niemand nehmen.
Macht
393
Bilaterale Macht und Macht im System Die beiden Aspekte der Macht – Macht als Kehrwert der bilateralen Abhängigkeit und Macht als Anteil am kontrollierten Gesamtinteresse – sollen nun auch begrifflich unterschieden werden. Als bilaterale Macht sei die Macht bezeichnet, die ein bestimmter Akteur über einen bestimmten anderen Akteur nach Maßgabe der jeweiligen (Inter-)Dependenz ausübt. die bilaterale Macht ergibt sich unmittelbar aus der umgekehrten Dependenz. Dabei gilt, wie oben bereits festgehalten, die Definition, daß die Macht mji gleich der Dependenz dij ist. Die Autonomie ist somit ein Spezialfall der bilateralen Macht: Die „bilaterale“ Macht eines Akteurs über sich selbst. Als Macht im System soll dagegen die Kontrolle bezeichnet werden, die ein Akteur über die Interessen aller Akteure ausübt. Sie ergibt sich aus dem kontrollierten Gesamtinteresse, wie es oben beschrieben wurde. In einem bestimmten Aspekt verbinden sich individuelle Macht und Macht im System schon „logisch“: Eine hohe Macht im System kann allein daher herrühren, daß alles, was im System der Akteure und Ressourcen interessant ist, von dem betreffenden Akteur schon selbst kontrolliert wird. Eine hohe Autonomie vermindert seine bilateralen Abhängigkeiten und erhöht damit seine bilaterale Macht über andere Akteure. Und sie verstärkt gleichzeitig den Anteil am kontrollierten Gesamtinteresse, weil das, was ein Akteur schon selbst kontrolliert, eben nicht mehr von anderen kontrolliert werden kann. Macht und Ungleichheit Macht – in welcher Form auch immer – haben Akteure ganz allgemein also insoweit, wie sie interessante Ressourcen kontrollieren. Macht gibt es daher auch schon in der Situation des gleichen Tausches, so wie das in dem Beispiel für den elementaren Tausch in Abschnitt 10.1 oben in diesem Band der Fall war und in der Abbildung 12.1a noch einmal beschrieben wurde. Nur ist dort die Macht jeweils für beide Akteure gleich. Eine engere Fassung des Konzeptes der Macht wäre die Annahme, daß die „Macht“ eines Akteurs über einen anderen eigentlich erst dann entsteht, wenn es Ungleichheiten in den Dependenzen und in dem Anteil der Kontrolle am Gesamtinteresse gibt. In dieser Fassung hätten die Akteure in der Situation des gleichen Tausches, bei aller Dependenz voneinander, eben keine Macht übereinander, weil sie in den Dependenzen und in der Kontrolle des Gesamtinteresses jeweils gleich sind. Macht gäbe es danach erst in Situationen des ungleichen Tausches.
394
Soziales Handeln
Das ist eine sinnvolle Festlegung, der wir folgen wollen: Die Wurzel der Chance für die Durchsetzung des „eigenen Willen auch gegen Widerstreben“ liege erst in gewissen Ungleichheiten schon beim Transaktionsinteresse, woraus die Unterschiede in der Dependenz und in der Kontrolle des Gesamtinteresses entstehen, aus denen sich schließlich die Ungleichheiten in den Auszahlungen der Transaktion ergeben. Es ist also erst die Ungleichheit in den Auszahlungen beim Tausch, die Anlaß zur Frage nach der Chance geben, warum ein Akteur einem anderen ein höheres Angebot abverlangen und damit – auch ohne „Gewalt“ – Erfolg haben kann. Bei gleichen Transaktionsinteressen sind die Akteure wechselseitig gebunden, und der eine kann eben nicht tun, was er will. Es gibt dann zwar so etwas wie Macht zwischen den beiden Akteuren. Sie entspricht der „Machtbalance“ einer Interdependenz. Interdependenz erzeugt Interessenkonvergenz, aber keine Macht des einen über den anderen. Ist die Macht auf beiden Seiten gleich, kann eben niemand seinen eigenen Willen einfach auch gegen das Widerstreben des anderen durchsetzen. Das geht, so haben wir gesehen, nur bei deutlichen Unterschieden in den Transaktionsinteressen. Bei Ungleichheit in den Transaktionsinteressen hingegen kann der jeweils mächtig(er)e Akteur – in gewissen Grenzen freilich immer – diktieren, was geschieht. Das gerade macht ja seine „Macht“ aus: Im Büro wartet A2 gelassen auf das bessere Angebot von A1, weil er dessen Anerkennung eben nicht braucht. Und das Angebot kommt tatsächlich, weil A2 auch mit der höheren Gegenleistung von einer Transaktion etwas hätte. Schicksals- und Verhaltenskontrolle In einem inzwischen klassischen Beitrag über Macht und Abhängigkeit beschreiben John W. Thibaut und Harold H. Kelley diesen Zusammenhang der Ungleichheit im Transaktionsinteresse und der Macht. Sie skizzieren zwei Formen der Ausübung von, wie sie es nennen, Kontrolle über andere Akteure.4 Sie nennen sie fate control einerseits und behavior control andererseits: Schicksalskontrolle und Verhaltenskontrolle. In Abbildung 12.2 sind die beiden Konstellationen in je einer Matrix zusammengefaßt.
4
John W. Thibaut und Harold H. Kelley, The Social Psychology of Groups, New York, London und Sydney 1959, Kapitel 7: Power and Dependence, S. 10ff.
395
Macht
a. Schicksalskontrolle
b. Verhaltenskontrolle A2
A2
c
d
a
1,4
4,4
b
1,4
4,4
A1
c
d
a
1,4
4,4
b
4,4
1,4
A1
Abb. 12.2: Die Auszahlungen bei Schicksalskontrolle und bei Verhaltenskontrolle (modifiziert nach Thibaut und Kelley 1959, S. 102f.)
Die Alternativen seien je zwei beliebige Handlungsweisen a und b für A1 und c und d für A2. Für A2 sind alle Auszahlungen gleich. Darin zeigt sich, daß dem A2 eigentlich alles egal ist: A1 kann machen, was er will. Er hat nichts in der Hand, um den A2 zu einer für ihn günstigen Handlungsweise zu bringen oder von einer ungünstigen abzuhalten. Dagegen hat A2 es in der Hand, wie es dem A1 geht: Er hat die volle Kontrolle über das Handeln und sogar über das Schicksal von A1. Schicksalskontrolle liegt nun dann vor, wenn es allein vom Verhalten des mächtigeren Akteurs A2 abhängt, welche Auszahlung der unterlegene Akteur A1 erhält (Abbildung 12.2a): Wählt A2 die Alternative c, dann gibt es für A1 stets eine Einheit, egal, ob er nach a oder b handelt. Wählt A2 dagegen die Alternative d, bekommt A1 immer vier Einheiten, wieder unabhängig von seinem eigenen Tun. A2 hält also das ganze Schicksal von A1 in seiner Hand. Der aber kann tun, was er will. Es ändert sich nichts. Es ist wie bei Nero und den Gladiatoren im Kollosseum zu Rom: Daumen nach oben oder Daumen nach unten, rein nach gusto. Schicksal eben. Das ist anders im Fall der Verhaltenskontrolle (Abbildung 12.2b). Nun hat A1 es selbst in seiner Hand, wie hoch seine Auszahlungen sind. Er kann „freiwillig“ bestimmen, wie gut es ihm geht. Dazu „muß“ er aber den Vorgaben von A2 folgen. Beispielsweise: Wenn A2 die Alternative d gewählt hat, dann sollte er selbst tunlichst mit a antworten, um an die Auszahlung von vier Einheiten zu kommen. Mit der Reaktion b würde er ohne Not einen Vorteil verschenken. Sofern A1 in seinem Handeln seinen eigenen Vorteil sucht, bleibt A2 der Herr des Geschehens. Er kann den A1 leicht am indirekten Zügel der Auszahlungen führen.
396
Soziales Handeln
Schicksalskontrolle und Verhaltenskontrolle sind zwei extreme Konstellationen. Eine „Transaktion“ ist jedoch eigentlich nur der Fall der Verhaltenskontrolle. Nur hier kann der Akteur A1 etwas „geben“, um dafür eine höhere Auszahlung zu erhalten. Aber auch dann hat A2, wie gesehen, den A1 ganz in seiner Hand. Das völlig fehlende Transaktionsinteresse von A2 ist der Grund: Für A2 gibt es kein spezielles Handeln von A1, das ihn irgendwie tangieren würde. Die Auszahlungsunterschiede zwischen allen Alternativen sind für ihn gleich null. Ihm ist buchstäblich gleich-„gültig“, was der andere macht. Erst wenn die unterlegene Seite selbst beginnt, Kontrolle über interessante Ressourcen auszuüben, ändert sich die extreme Abhängigkeit. Das aber heißt stets: eine Zunahme des Transaktionsinteresses auch auf der Seite, bei der es zunächst vollkommen fehlte. Das Prinzip des geringsten Interesses Machtunterschiede liegen also offenkundig an Unterschieden in den Interessen an den Gütern, die der jeweils andere kontrolliert. Also: in den Unterschieden im Transaktionsinteresse. Jeder weiß es aus der Alltagserfahrung: Wer sich mehr für die Sachen interessiert, die der andere kontrolliert als umgekehrt, ist in dessen Hand. Der amerikanische Soziologe Edward A. Ross beginnt das Kapitel über die „Ausbeutung“ in seinem Buch über die „Principles of Sociology“ so: „All about us we see one making use of another, the wife becoming a barren parasite, the husband loafing on his wife’s earnings, the grown son hanging around home, one brother or sister ‚working‘ the others, friend exploiting friend, and so on.“5
Was ist aber das gemeinsame Prinzip, das alledem zugrunde liegt? Genau: „The thing is common and its key is simple. In any sentimental relation the one who cares less can exploit the one who cares more.“ (Ebd.)
Das ist das sog. principle of least interest: Es hat derjenige in einer Beziehung die größere Macht, der das geringere Interesse an der Transaktion hat. Bei Georg Simmel finden wir das Prinzip des geringsten Interesses in der für ihn typischen Sprache auf den Fall von Ehe und Liebe so formuliert:
5
Edward A. Ross, Principles of Sociology, 3. Auflage, New York 1938, S. 172; Hervorhebung so nicht im Original; vgl. auch Willard Waller und Reuben Hill, The Family. A Dynamic Interpretation, New York, Chicago und San Francisco 1951, S. 190ff.
Macht
397
„In jedem Liebesverhältnis hat der weniger Liebende ein Übergewicht, er kann sozusagen seine Bedingungen stellen, der andere ist ihm ausgeliefert. ... . In der Ehe pflegt, unter sonst gleichen Umständen, der zu herrschen, der das geringere Gefühl einsetzt.“6
So ist es. Und das nicht nur in Liebe und Ehe. Dritte Nicht leicht ist das Leben also mit einem Partner, der das Interesse an der Transaktion nicht im gleichen Maße teilt. Die Einsamkeit in der Freiheit von der Beziehung ist aber auch nicht jedermanns Sache, zumal sie oft genug ein erst recht kümmerliches Leben verspricht. Es gibt jedoch einen Ausweg: Wer sich aus der mißlichen Situation eines zu hohen Transaktionsinteresses befreien möchte, könnte sich nach einem alternativen Tauschpartner umtun. Schon mancher Pascha – das Beispiel gilt natürlich auch in umgekehrter Geschlechtscodierung – stand mit seinem bis dahin äußerst komfortablen least interest auf einmal ganz überrascht und weinerlich da, als die bisher bedenkenlos ausgebeutete Gattin plötzlich mit einem offensichtlich ernstzunehmenden Konkurrenten um ihre Gunst aufwartete – und damit als Alternative zu ihm. Da hilft, denkt sich der Pascha, nur noch Eines: Sich selbst jemanden zu suchen und damit das alte Machtverhältnis wieder herstellen. Nicht immer ist freilich jemand sofort da, der hilft, das alte Ungleichgewicht wieder herzustellen – falls die Sache überhaupt noch zu retten ist.
Transaktionen und Beziehungen der Macht finden, so lernen wir daraus, selten nur zwischen zwei Akteuren alleine und meist eben nicht im luftleeren Raume statt, und das ganz bestimmt nicht in einem Büro mit vielen ratsuchenden und auch einer Reihe von erfahrenen Kollegen, die ebenfalls einen guten Rat geben könnten. Kurz: Jederzeit können dritte (und weitere) Personen auftreten und sich zwischen die zunächst nur bilaterale Beziehung und das dort etablierte Transaktions- und Machtverhältnis schieben. Dritte Personen kommen mit den bilateral verbundenen Akteuren wiederum über die Relationen des Interesses und der Kontrolle an Ressourcen in Beziehung. Sie können dabei in zweierlei Weise in Erscheinung treten: Als Alternative oder als Konkurrenz – je nach dem, von wem aus die Sache gesehen wird. Wir beginnen mit der Konkurrenz.
6
Georg Simmel, Fragmente aus einer Philosophie der Liebe, in: Georg Simmel, Schriften zur Philosophie und Soziologie der Geschlechter, Frankfurt/M. 1985, S. 183f.
398
Soziales Handeln
Konkurrenz Nicht nur ein Mitarbeiter hatte in dem von Peter M. Blau beschriebenen Büro gelegentlich Probleme mit seiner Arbeit. Die – relativ wenigen – Experten sahen sich daher von einer ganzen Reihe von Kollegen umworben und um Rat gefragt. Häufige Anfragen um Beratung sind bei dem, den sie treffen, nicht von vorneherein unerwünscht: Sie schmeicheln, heben den Status und die Selbstsicherheit des so Umworbenen. Aber es kann auch bald etwas zuviel werden. Einer der durch besonders viele Dritte angefragten und daher, ach, so beliebten Experten gab Peter M. Blau dann auch leicht seufzend zu Protokoll: „I never object, although sometimes it’s annoying.“ (Blau 1955, S. 108).
Der sinkende Enthusiasmus hat einen einfachen Grund, den wir schon in Abschnitt 10.1 oben in diesem Band besprochen haben, als es darum ging, zu erklären, warum die Konsultationen nicht beliebig wiederholt werden: Das Gesetz des abnehmenden Grenzertrages gilt auch für die Anerkennung. Und die Bedienung jeder Anfrage kostet Zeit, die für die eigene Arbeit verloren geht. George C. Homans beschreibt die Folgen des Auftretens eines solchen konkurrierenden „Dritten Mannes“ so, wobei „Person“ in der zitierten Passage unserem Akteur A1, und „Anderer“ dem Akteur A2 entspricht: „Nehmen wir an, der Dritte Mann ist in der Büroarbeit genauso unerfahren wie Person, so daß er Hilfe ebenfalls hoch bewertet und bereit ist, dafür Anerkennung zu zollen. Jetzt spielen sich zwei Austauschbeziehungen ab, wo vorher nur eine stattgefunden hat, und dieser Umstand wirkt sich auf die Nettobelohnungen aller Beteiligten aus. Sobald Anderer beginnt, beide Männer zu beraten, steigen rasch die Kosten in Form verlorener eigener Arbeitszeit und der Wert zusätzlicher Anerkennung, die Anderer jetzt erhält, geht entsprechend der Sättigungshypothese zurück.“ (Homans 1972c, S. 82)
Das Auftreten eines Konkurrenten von A1 um den guten Rat von A2 senkt also den Wert der Anerkennung als Gegenleistung – und somit das Interesse von A2 an der Ressource, die A1 und der Konkurrent kontrollieren. Außerdem müssen beide sich die Kontrolle um „ihr“ Gut, die Anerkennung, teilen. Man ahnt es schon: Mit dem Erscheinen eines Konkurrenten um den guten Rat sinkt die Macht von A1, den A2 zur Konsultation zu bewegen. Alternative In jedem Büro gibt es aber meist auch nicht nur den einen Experten, der Bescheid weiß. Jede dritte Person, die dem ratsuchenden A1 ebenfalls helfen könnte, würde genauso willkommen sein. Wenn dieser Dritte wie A2 Interesse
400
Soziales Handeln
Als Konkurrent tritt A3 in seinem Interesse an einem guten Rat und an einer Transaktion mit A2 „neben“ A1, als Alternative in seinem Interesse an Anerkennung und an einer ratgebenden Transaktion mit A1 „neben“ A2. In der Graphik wird auch deutlich, daß mit dem Wechsel der „Bezugsperson“ des Tausches ein Konkurrent zur Alternative und eine Alternative zum Konkurrenten wird: In der Situation 12.3a ist A3 für A2 eine Alternative zur Erlangung von Anerkennung zu A1, und in der Situation 12.3b wird A3 für A2 zum Konkurrenten um die Gunst und die Anerkennung von A1. Die Änderung der Auszahlungen Wie verändern sich nun aber die Auszahlungen an die Akteure, wenn sie – unter der Bedingung der Konkurrenz oder der Alternative – in Beziehung zueinander treten? Für die jeweiligen „Paare“ in den Beziehungen können bei gleichem Interesse die gleichen Auszahlungen angenommen werden: für A1 und A2 in ihrer Beziehung zu A3 als gleich interessierte Konkurrenten um den guten Rat von A2, und für A2 und A3 als Alternative für A1 und einem gleichem Interesse an dessen Anerkennung. Der Einfachheit halber sehen wir uns deshalb immer nur eine Beziehung an – die zwischen A1 und A2, mit A3 einmal als Konkurrent von A1 und einmal als Alternative zu A2.
Als Bezug des Vergleichs dient die Transaktionsmatrix in Abbildung 12.1 oben. Die Beratung von A1 durch A2 unter der Bedingung einer Konkurrenz um den guten Rat durch A3 sei mit r21kon bezeichnet. Jetzt erhält A2 wegen der bei ihm gestiegenen Kosten der Transaktion und wegen des Gesetzes des abnehmenden Grenzertrages der Anerkennung eine geringere Auszahlung als zuvor, sagen wir: statt acht Einheiten vorher nun nur noch zwei. Die Auszahlung an Anerkennung für die Beratung von A2 beträgt damit nur noch U2+Utakon = 2+2 = 4. Das ist im Vergleich zur konkurrenzlosen Situation zuvor mit einer Auszahlung von 10 ein beträchtlicher Verlust. Und die Folge: Der Kooperationsgewinn von A2 sinkt – in Bezug auf beide Akteure A1 und A3 – deutlich, und damit auch sein Transaktionsinteresse an einem Tausch mit A1. Die Anerkennung von A2 durch A1 bei Existenz einer Alternative für A2 werde mit a12alt bezeichnet. Mit dem Auftreten der Alternative verringere sich der Kooperationsgewinn aus dem gutem Rat von A2 für A1 auf den Wert Utralt= 4. Die gesamte Auszahlung an A1 beträgt dann U2+Utralt = 2+4 = 6. Nun lohnt sich für A1 die Kooperation mit A2 – wie auch mit A3 – deutlich weniger als zuvor. Und entsprechend hat sich nun das Transaktionsinteresse von A1 an einem Tausch mit A2 abgeschwächt.
401
Macht
Wir wollen diese Veränderungen in den Transaktionsinteressen beim Auftreten von dritten Personen als Konkurrenz und Alternative wieder an Hand von zwei einfachen Tauschmatrizen zusammenfassen und verdeutlichen (vgl. Tabelle 12.3). Tabelle 12.3: Die Auswirkung dritter Personen als Konkurrenz von A1 und als Alternative zu A2 in der Beziehung zwischen A1 und A2
b. Alternative
a. Konkurrenz
A2
A2
a12
r21
r21kon
10,10
10,4
e2
A1
r21 A1
e1
2,2
e2
a12 10,10 alt a12 6,10 e1
2,2
In der ursprünglichen Situation des gleichen Tausches nach Abbildung 12.1 erhielten A1 und A2 mit der Transaktion jeweils zehn Einheiten gegenüber zwei Einheiten ohne die Transaktion. In Abbildung 12.3a sind die Folgen eines Konkurrenten von A1 um die Beratung durch A2 in den geschilderten konkreten Werten eingetragen. Das Ergebnis: Zwar lohnt sich für A2 die Beratung immer noch. Wenn aber noch mehr Konkurrenten auftauchen und der Gegenwert für die Beratung weiter sinkt, dann ist bald der Punkt erreicht, an dem das Transaktionsinteresse von A2 ganz erlischt. Nun müßte A1 seine Leistungen erhöhen, um A2 dennoch wieder zur Transaktion zu motivieren – ganz analog zu dem Fall der Macht in Abbildung 12.1. Entsprechend läßt sich die Matrix in Abbildung 12.3b lesen. Sie beschreibt die Änderung im Kooperationsgewinn für A1, wenn es zu A2 und zu dessen guten Rat eine Alternative gibt. Nun hat A2 an Macht verloren und müßte, wenn es für A1 immer bessere Alternativen gibt, oder die eine immer attraktiver wird, seinerseits bald etwas tun, wenn er weiter im Geschäft des Tausches Rat gegen Anerkennung bleiben möchte. Allein an den veränderten Kooperationsgewinnen lassen sich also schon die Folgen von Konkurrenz und Alternative ablesen: Machtgewinn beim Anbieter und Machtverlust beim Nachfrager im Fall der Konkurrenz, und
402
Soziales Handeln
Machtverlust beim Anbieter und Machtgewinn beim Nachfrager im Fall der Alternative. Und wer jeweils mehr an Macht hat, kann dann auch mehr für seine Leistungen verlangen, wenngleich nicht unendlich viel. Dritte, Dependenz und Macht Die wichtigste Auswirkung des Auftretens von Dritten ist also die Änderung der Transaktionsinteressen. Wie verändern sich mit dem Auftreten von Konkurrenz und Alternative nun aber die Dependenzen, und damit: die bilaterale Macht und die Macht im System? Dazu müssen die Ereignisse und die Relationen von Interesse und Kontrolle entsprechend den jeweils angenommenen Umständen und Auszahlungen verändert werden. Der dritte Akteur wird, je nach dem, mit A3kon bzw. A3alt abgekürzt und in das System der Beziehungen einbezogen. Er tut ebenfalls seine eigene Arbeit (E3), hat Interesse an Beratung durch A2 oder an Anerkennung durch A1 und kontrolliert jeweils Anerkennung oder guten Rat. Er „teilt“ sich jeweils also die Kontrolle des betreffenden Ereignisses mit den anderen Akteuren: die Anerkennung mit A1 und den guten Rat mit A2, wieder: je nach dem. Der Einfachheit halber werden für ihn sonst immer die gleichen Werte angenommen wie für seinen „Partner“ – A1, wenn er dessen Konkurrent ist, A2, wenn er für den die Alternative stellt. Die durch einen Dritten als Konkurrenz oder Alternative veränderten Ereignisse Er bzw. Ea sind jeweils mit Ekon bzw. Eralt gekennzeichnet. a
In Tabelle 12.4 sind die Veränderungen in der Interessen-, Kontroll- und Dependenzmatrix zuerst für den Fall der Konkurrenz und dann für den der Alternative eingetragen. Die Werte ergeben sich aus den Auszahlungen in der Tabelle 12.3. Leicht werden die Folgen des Auftretens eines dritten Akteurs für die (Inter-)Dependenzen und die Machtbeziehungen erkennbar: Ein Dritter als Konkurrent um eine Leistung stärkt die Macht des Anbieters, bilateral wie im System. Und eine Alternative für eine Leistung schwächt die Macht des Anbieters, ebenfalls bilateral und im System. Fügt man, was wir hier nicht mehr tun, beide „Dritte“ in ein System von vier Akteuren zusammen, dann gleichen sich die Effekte tendenziell wieder aus. Es ist das, was Norbert Elias wohl meint, wenn er von der „Machtbalance“ spricht: Macht ist keine „individuelle“ Angelegenheit und kein „Nullsummenspiel“, bei dem der eine gewinnt und der andere abgibt, sondern eine Eigenschaft des ganzen Systems. Der Ausgleich erfolgt nach Maßgabe der Unterschiede darin, wie die Konkurrenz und die Alternative die Macht des Anbieters jeweils stärkt oder schwächt. In unserem Fall schlägt die „Balance“ der Macht leicht zugunsten von A1 aus, weil der im Vergleich das geringere Transaktionsinteresse hat, wenn der Konkurrent zu A1 und die Alternative für A2 aufeinandertreffen.
403
Macht
a. Konkurrenz Interesse E1
E2
A1
0.2 0
A2
0
A3kon 0
Eakon
E3
Er
0
0.8 0 0
0.5 0 0
Kontrolle
0.5
0.2 0.8 0
A1
A2
A3kon
E1
1
0
0
E2
0
1
0
E3
0
0
Er
0
1
Eakon
0.5 0
Dependenz A1
A2
A3kon
Σ
A1
0.2
0.8
0
1
1
A2
0.25
0.5
0.25
1
0
A3kon
0
0.8
0.2
1
Σ Anteil
0.45
2.1
0.45
3
0.25
0.5
0.25
1
0.5
b. Alternative Interesse E1
E2
A1
0.33 0
A2
0
A3alt 0
E3
0
0.2 0 0
Eralt
Kontrolle A1
A2
A3alt
E1
1
0
0
0.67 0
E2
0
1
0
0
0.8
E3
0
0
1
0.8
Eralt
0
0.5 0.5
Ea
1
0
0.2 0.0
Ea
Dependenz A3alt
Σ
A1
0.33 0.33 0.33
1
A2
0.8
0.2
0
1
A3alt
0.8
0
0.2
1
A1
A2
0 1.93 0.53 0.53 Σ Anteil 0.64 0.18 0.18
3 1
Tabelle 12.4: Dependenz und Macht bei Auftreten von Konkurrenz und Alternative
Comparison Level und Drohpunkt Der Bezugspunkt für die eigene Dependenz – und damit für die Macht des anderen – ist die nach der Transaktion jeweils „zweitbeste“ Alternative. Das ist bisher immer die eigene Arbeit bzw. die Einsamkeit gewesen. Was aber geschieht, wenn sich dieser Bezugspunkt ändert, etwa weil es eine Alternative
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gibt, die zwar nicht gleich gut oder gar besser als der bisherige Tauschpartner ist, aber besser als die einsame eigene Arbeit im Büro? Nehmen wir an, daß die Auszahlungen ansonsten sind wie im Fall des ungleichen Tausches in Abbildung 12.1, daß es nun aber für A1 eine Alternative zu A2 gebe, die zwar nicht zehn Einheiten verspricht, aber immerhin fünf. Die Tauschmatrix sieht jetzt so aus (Abbildung 12.4):
A2 r21 a12 A1
a1alt e1
e2
10,10 5,10 2,2
Abb. 12.4: Die Auswirkung einer Alternative als „zweitbeste“ Lösung
Mit einer neuen, wenn auch noch nicht gleich guten, Alternative im Rücken mindert sich also offenbar das Transaktionsinteresse des Abhängigen. Es sinkt von acht Werteinheiten auf nun fünf. Und das mindert natürlich die Macht des Überlegenen. Wirklich verlassen wird die frustrierte Ehefrau ihren Pascha zwar erst, wenn die neue Perspektive wirklich besser und dann auch die „erst“-beste Alternative ist. Aber auch so tut der neue Lover, neben allem anderen, schon seine guten Dienste: Nicht mehr die Einsamkeit der Scheidung ist die Alternative, sondern die nicht mehr ganz so üble Perspektive eines neuen Lebens, sagen wir, in einer alternativen WG mit etwa Uwe Ochsenknecht als a1alt. Die Transaktion mit der dritten Person als Alternative übernimmt in dem geschilderten Fall die Funktion eines sog. Drohpunktes. Das ist der unterste Wert, bis zu dem sich eine bestimmte Transaktion für einen Akteur überhaupt noch lohnt. Sinkt die Auszahlung darauf ab und schließlich gar darunter, dann wird die Beziehung verlassen. In bilateralen Beziehungen ist dieser Drohpunkt allgemein die Situation der wechselseitigen Defektion im einsamen Weiterwursteln beider, im Beispiel die Kombination (e1,e2) also. Dritte Personen erhöhen als „bessere“ Alternative den Wert dieses Drohpunktes. Daher haben wir die Alternative a1alt auch dem „letzten“ Drohpunkt (e1,e2) zugeord-
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net. Die nächstbeste Alternative ist dann nicht mehr der Verzicht auf jede Transaktion, sondern das Wechseln zu der dritten Person. John W. Thibaut und Harold H. Kelley nennen diesen Drohpunkt für das Verlassen der Beziehung CLalt – Comparison Level. Es ist der Referenzpunkt für die Bewertung der bestehenden Beziehung: „This best alternative will be the most favorable of any of the alternatives to the present relationship, including the state of being alone.“ (Thibaut und Kelley 1959, S. 100)
Die Förderung von Konkurrenten um die eigene Leistung oder die Suche nach besseren Alternativen ist daher eine wirksame Vorsorge für den Fall, daß die Macht des Anderen allzu groß und seine Forderungen unerfüllbar werden. Ist die Suche erfolgreich, dann ist die Alternative zur Transaktion mit dem Anderen nicht mehr die Katastrophe der wechselseitigen Defektion, sondern die etwas geringere Anerkennung oder der etwas weniger gute Rat einer dritten Person. Und das ist, jetzt wieder im Büro von Peter S. Blau, immer noch besser, als ungefragt und unbeachtet mit seinem Expertenwissen im Zimmer zu sitzen oder ganz alleine vor der kniffligen Aufgabe zu stehen. Die Grenzen der Macht Das Transaktionsinteresse ist die Grundlage der Macht. Es hat, wie wir gesehen haben, verschiedene einzelne Bestandteile, die sich aus der Verteilung von Interesse und Kontrolle an den Ressourcen ergeben. Insbesondere sind offenbar dritte Personen – Konkurrenten und Alternativen zur betreffenden Transaktion – wichtig. Hieraus ergeben sich – sozusagen im Umkehrschluß – eine Reihe von Möglichkeiten, die Dependenz in einer Beziehung zu manipulieren und sich von bestimmten Transaktionen mit bestimmten Partnern unabhängiger zu machen – wenn man das möchte.7 Gegeben sei eine Machtbeziehung zwischen zwei Akteuren A1 und A2, bei der A2 ein geringeres Transaktionsinteresse habe als A1. Was könnte A1 tun, um den Unterschied im Transaktionsinteresse zu verringern, das die Macht des anderen begründet? Es bieten sich (mindestens) neun Möglichkeiten an. Sie haben allesamt mit den beiden zentralen Variablen des Interesses und der Kontrolle einerseits und mit der Existenz von Konkurrenz oder Alternativen zu tun. Die Möglichkeiten im Einzelnen: 1. Die Verringerung des Interesses von A1 an den Ressourcen, die A2 kontrolliert. 2. Die Erhöhung der Kontrolle von A1 über die Ressourcen, die für A2 von Interesse sind. 7
Vgl. hierzu insbesondere Emerson 1962, S. 35ff.; Cook und Emerson 1978, S. 722ff.
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3. Die Erhöhung des Interesses von A1 an den von ihm selbst kontrollierten Ressourcen. 4. Die Verstärkung der Kontrolle von A1 an den Ressourcen, an denen er selbst interessiert ist. 5. Die Erhöhung des Interesses von A2 an Ressourcen, die A1 kontrolliert. 6. Die Verringerung der Kontrolle von A2 an Ressourcen, an denen A1 interessiert ist. 7. Die Verringerung des Interesses von A2 an Ressourcen, die A2 ohnehin schon kontrolliert. 8. Die Verringerung der Kontrolle von A2 an Ressourcen, an denen A2 ohnehin schon interessiert ist. 9. Die Suche nach Alternativen und/oder die Ausschaltung von Konkurrenten (einschließlich der unter eins bis acht beschriebenen Maßnahmen in bezug auf dritte Personen).
Alle diese Strategien berühren das Prinzip des geringsten Interesses: Derjenige hat relativ mehr Macht, der das geringere Interesse an einer Transaktion hat. Nicht alle diese Möglichkeiten sind freilich auch wirklich „interessant“ oder einfach umsetzbar. Warum sollte ich etwa nur um der Verringerung einer Dependenz willen dafür sorgen, daß A2 seine für mich nach der Transaktion so nützlichen Ressourcen verliert? Macht ist eben nicht alles. Und oft genug lohnt sich auch eine starke Abhängigkeit sehr. Dazu müssen wir nicht einmal das – längst überfällige – Loblied auf den Feudalismus, das Patriarchat und das Lehrstuhlsystem singen, von dem ja stets die Untergebenen auch etwas haben – und zwar deutlich mehr als ohne dieses System. Ein Hinweis auf die so fruchtbaren (Inter-)Dependenzen bei der arbeitsteiligen Spezialisierung genügt auch schon. Auch hier lohnt sich die Transaktion für denjenigen, der absolut und relativ weniger davon profitiert – im Vergleich zum armseligen Leben in der Unabhängigkeit der Autarkie (siehe dazu bereits Abschnitt 5.1 oben in diesem Band).
Andere Möglichkeiten der Machteingrenzung unterliegen nur schwerlich der freien Willenskontrolle. Die Senkung des Interesses an den Dingen der Welt verleiht zwar Freiheit – die Freiheit des Hans im Glück. Die ist aber nicht jedermanns Sache. Manchmal lassen sich die Interessen nicht so ohne weiteres durch Beschluß absenken. Nicht nur hat jeder Selbstbetrug seine eigenen Grenzen, es gibt auch Verpflichtungen, die die eigenen Interessen binden. Auch lassen sich andere in ihrem Interesse und ihrer Kontrolle so leicht meist auch nicht beeinflussen. Aber andererseits können Anspruchsniveaus durchaus gewollt verändert, Intrigen absichtlich gesponnen oder Koalitionen zielgerichtet geschmiedet werden: Der gute Rat ist wohl so gut gar nicht, wie man sagt; ein bißchen schlechte Nachrede treibt dem arroganten Experten vielleicht doch etwas die Flausen aus dem Kopf; und wenn wir Neulinge im Büro uns zusammentun, uns gegenseitig etwas helfen und etwa einen Weiterbildungskurs organisieren, dann kann uns der Experte sowieso bald einmal am Abend besuchen.
Das wirksamste und auch am ehesten zu kontrollierende Mittel gegen die Abhängigkeit und gegen eine – inzwischen vielleicht: bedrückende – Übermacht ist die Anhebung des Comparison Level über die Suche nach einer besseren Alternative für eine an sich ganz interessante Transaktion – aber eben nicht mit diesem einen Partner. Nicht aus Zufall brechen schon länger unglückliche Ehen praktisch augenblicklich auseinander, sobald nur eine einzige nette und
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verständnisvolle Alternative da ist, während es zuvor ein stummes Leiden und das zähe Zurechtfinden in Abhängigkeit und Unglück gab. Und nicht ohne Grund gibt es die Revolutionen – als den kollektiven Versuchen der Verringerung einer bedrückenden Abhängigkeit – meist erst dann, wenn sich am Horizont eine Alternative bereits deutlich abzuzeichnen beginnt. Nicht zu vergessen ist schließlich, daß auch der noch so Mächtige etwas von der Beziehung hat – und deshalb immer auch ein Interesse an den Unterlegenen und daran, daß die jene Ressourcen nicht einbüßen, die den Mächtigen interessieren. Und wenn es die Unterlegenen nicht mehr gibt, etwa weil sie eine bessere Alternative gefunden haben, oder wenn ihre physische Existenz der Macht zum Opfer gefallen ist, dann fehlt auch dem mächtigen Herrn plötzlich etwas. Deshalb wurden – beispielsweise – Sklaven und Kriegsgefangene keineswegs nur gequält oder umgebracht, sondern oft genug als wertvolle Arbeitskraft gepflegt. Und auch die Herrscher müssen sich anstrengen: Wenn sie nicht mehr das leisten, was die Untergebenen – in aller ihrer Unterlegenheit – als interessant empfinden, dann verfällt das Interesse an der Beziehung zu ihnen – und schließlich auch das emotionale Beiwerk, das manchen Mächtigen einst wie selbstverständlich umgeben hat, als er wegen seiner Leistungen die Untergebenen noch begeistern konnte: das Charisma und die unbedingte Hingabe an einen Führer, beispielsweise. Macht – und was sonst noch? Macht beruht auf der Kontrolle von Ressourcen, die für andere Akteure von Interesse sind. So ist sie „definiert“, und wenn man etwas anderes meint, dann muß man das auch begrifflich unterscheiden. Darauf hatten wir oben schon hingewiesen. Gleichwohl ist die Macht nicht alles, was einem Akteur die „Macht“ gibt, daß ein anderer Akteur ihm folgt. Mindestens drei weitere Sachverhalte und Vorgänge können bewirken, daß ein Akteur den Dirketiven eines anderen folgt: Herrschaft, Einfluß und Prestige. Herrschaft ist dabei nichts anderes als die Geltung gewisser institutioneller Regeln für spezielle Situationen, die, wie alle Regeln, auch von einer gewissen Legitimität unterstützt sind, letztlich aber auch auf einer Beziehung von Leistung und Gegenleistung beruhen (vgl. dazu schon Abschnitt 10.3 oben in diesem Band, sowie noch ausführlich Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Einfluß ist, wie wir in Kapitel 10 festgehalten haben, die „freiwillige“ Unterordnung unter eine „Führung“, auch ohne erkennbare Gegenleistung, weil der sich unterordnende Akteur davon einen gewissen, wiederum speziellen, Vorteil erhofft, etwa die Ersparnis von Entscheidungskosten (siehe auch dazu
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schon Abschnitt 10.3 oben in diesem Band). Prestige schließlich ist der Grad der Wertschätzung, den eine Person genießt – auch unabhängig von ihrer Macht, der Verankerung ihrer Stellung in einem System der Herrschaft oder ihres Einflusses (vgl. dazu schon die Abschnitte 3.2 und 4.1 in Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Herrschaft, Einfluß und Prestige sind also jeweils etwas anderes als die bloße Macht. Es sind, wenn man so will, spezielle Formen der Kontrolle interessanter Ressourcen: Bei der Herrschaft kommt – in Gestalt von situationsspezifischen Sanktionen – die Kraft spezieller institutioneller Regeln dazu, beim Einfluß wird die – hoffentlich – höhere Einsichtskraft des Akteurs für spezielle Problemlagen genutzt, und die Folgsamkeit ist, sozusagen, die unbeabsichtigte „Gegenleistung“ dafür. Und das Prestige ist entweder auch ein Teil von speziellen (institutionellen oder kulturellen) Regeln oder aber die unmittelbare Folge von speziellen Leistungen des Akteurs, dem das Prestige zugeschrieben wird, und der Generalisierung dieser Leistungen auf die Person „an sich“. Und man sieht gleich: Die Macht ist tatsächlich die ganz allgemeine Münze, die hinter allen diesen speziellen Beziehungen der Ungleichheit in den (Transaktions-)Beziehungen steht. Mitunter kann sie freilich dann auch in Widerspruch zu den nicht auf Macht beruhenden speziellen Elementen von Beziehungen stehen. Daraus können große Spannungen und Konflikte entstehen, etwa zwischen institutionell „Vorgesetzten“, die aber faktisch in der Hand der Untergebenen sind, weil diese über Spezialkompetenzen und damit über eine von den institutionellen Regeln unabhängige Macht verfügen. Solche Widersprüche, Spannungen und Konflikte aus einer nur institutionell geregelten „Herrschaft“, einem nur auf spezielle Vorgänge bezogenen Einfluß und einem evtl. bloß nur noch als kulturelle Hülle bestehenden Prestige und der aus der „reinen“ Macht bestehenden „Chance“, den eigenen Willen durchzusetzen – „gleichviel, worauf diese Chance beruht“ – gehören zu den soziologisch interessantesten Themen, und der soziale Wandel ist vor allem ein Ergebnis solcher Widersprüche (vgl. dazu noch Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Macht und soziales Kapital Das Konzept der Macht bezieht sich zunächst nur auf den einzelnen Akteur und auf seine Kontrolle von Ressourcen in seinem Verhältnis zu einem anderen Akteur. Das gesellschaftliche Leben besteht aber aus ganzen „Systemen“ von Beziehungen. Mit der Betrachtung einer „dritten“ Person hatten wir einen
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ersten wichtigen Schritt der Erweiterung der einfachen bilateralen Betrachtung des Konzeptes der Macht auf eine multilaterale Sichtweise getan: Was ist mit meiner Macht, wenn ich über jemanden Macht habe, der seinerseits mit Macht über andere Akteure versehen ist? Es ist die (nötige) Erweiterung der Betrachtung der Macht zu einer „System“- oder „Netzwerk“-Perspektive (vgl. dazu auch noch Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“ und die Kapitel über das „Tauschgleichgewicht“ und „Das System des Marktes“ dort). Die Verhältnisse scheinen nach dem, was wir bis jetzt besprochen haben, eindeutig zu sein: Die Macht eines Akteurs steigt, je weniger der andere Akteur, mit dem er in Beziehung steht, seinerseits über weitere Beziehungen dieser Art verfügt. Und sie sinkt, wenn der „Alter“, mit dem er bis dahin in einer „exklusiven“ Tauschbeziehung stand, plötzlich mit einer dritten Person als Alternative aufwarten kann und somit selbst an Macht gewinnt. Der Grund war leicht einzusehen: Mit der Verfügung über eine Alternative steigt der Drohpunkt, zu dem Alter aus der Beziehung aussteigen würde. Und so sollte man meinen, daß die Vernetzung der „anderen“ Akteure stets zur Verringerung der Macht eines Akteurs führt – wie das im Fall des perfekten Marktes und der vollständigen Konkurrenz ja auch tatsächlich der Fall ist: Hier hat niemand mehr einen Vorsprung vor einem anderen, und alle unterliegen unterschiedslos den Gesetzen des „anonymen“ Marktes (vgl. dazu noch Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Denkbar ist jedoch auch ein ganz anderer Fall: Jemand hat „Macht“ gerade dadurch, daß er mit möglichst vielen anderen mächtigen Akteuren verbunden ist und Macht über sie ausübt. Das ist etwa für „Makler“ typisch, die zwischen ansonsten unverbundenen Akteuren vermitteln: Ein Akteur B, der Informationen von einem Akteur A an einen Akteur C weitergeben kann, bezieht seine „Macht“ gerade daraus, daß es sich um wichtige Informationen handelt, und deren Wichtigkeit steigt ohne Zweifel mit der Macht der Akteure A und C, zwischen denen B vermittelt. Die Macht eines Akteurs wächst also einmal oder sie schrumpft, wenn die anderen Akteure selbst mächtig sind. Was also? Die Antwort ist nicht schwer: Die beiden Fälle beschreiben offenbar zwei typisch verschiedene Arten von Verbundenheiten, auf denen die „Macht“ eines Akteurs beruhen kann:8 negative oder positive Verbundenheit. Negative Verbundenheiten sind Verbindungen, bei denen es um die Verteilung nicht vermehrbarer knapper Ressourcen und damit um Konkurrenzen und Konflikte um die Kontrolle der Ressourcen 8
Vgl. dazu auch die Zusammenfassung bei Dorothea Jansen, Einführung in die Netzwerkanalyse. Grundlagen, Methoden, Anwendungen, Opladen 1999, Abschnitt 7.3: Macht in Tauschnetzwerken, S. 163-175.
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geht – so wie wir das bei dem üblichen Vorgang der Transaktion bisher immer angenommen haben. Positive Verbundenheiten sind dagegen solche, bei denen die jeweiligen Beziehungen komplementär zueinander sind, wie etwa bei Verpflichtungen oder beim Einfluß eines Akteurs auf einen anderen oder bei bestimmten Informationen, die für die Akteure allesamt wichtig sind und deren Wert sich nicht verringert, wenn viele Akteure einbezogen werden, sondern dadurch vielleicht sogar noch zunimmt. Offensichtlich handelt es sich also um zwei ganz verschiedene Interpretationen des Begriffs der „Macht“, die von der Art der jeweiligen Güter abhängt, um die es geht: Macht aus der Kontrolle von Ressourcen mit der Eigenschaft der Rivalität einerseits, und Macht aus der Kontrolle von Ressourcen, die die Eigenschaft der Rivalität nicht haben. Die technische Eigenschaft der Rivalität entscheidet also über die Art der Verbundenheit – negativ oder positiv – und damit über die „Wirkung“ der sozialen Einbettung der Akteure. Informationen beispielsweise sind – oft, wenngleich durchaus nicht immer! – derartige Ressourcen, die positive Verbundenheiten erzeugen, die üblichen (Privat-)Güter dagegen solche, die mit negativen Verbundenheiten einhergehen. Bei Verpflichtungen, beim Einfluß oder beim Tausch von Informationen steigert daher die Vernetzung der anderen Akteure (meist) die Macht eines Akteurs, beim Tausch von (Privat-)Gütern wird sie dagegen (so gut wie immer) gesenkt. Offensichtlich geht es jeweils um etwas ganz anderes, und damit es keine (unnötigen) Verwirrungen gibt, sollen auch hier wieder die beiden Bedeutungen von „Macht“ begrifflich deutlich getrennt werden. Für den Fall der Kontrolle rivalisierender Güter und negativer Verbundenheiten sei daher der bisher benutzte Begriff der „Macht“ reserviert – und zwar ausschließlich. Der andere Fall, der Fall der Kontrolle nicht rivalisierender Güter und positiver Verbundenheiten, sei dagegen – ganz allgemein – als soziales Kapital bezeichnet. Wir werden in Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“ noch sehen, daß auch dieses Konzept weiter untergliedert werden muß. Einstweilen ist es hier nur wichtig, den Begriff der Macht für die Fälle negativer Verbundenheiten zu reservieren. Und so kann man die Sache an dieser Stelle schon einmal so zusammenfassen: Die Macht eines Akteurs sinkt mit der Macht der anderen Akteure, mit denen er es zu tun hat, aber es steigt – unter bestimmten Umständen, wie wir noch sehen werden! – sein soziales Kapital.
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Exkurs über die Frage, ob die Macht ein Medium ist Macht ist eine spezielle Beziehung zwischen Akteuren. Sie ist, wie wir gesehen haben, eng mit dem Vorgang der Transaktion von Ressourcen verbunden und findet darin ihre Grundlage. Ist die Macht aber auch ein „Medium“ der Transaktion, so wie das Geld eines ist (vgl. dazu bereits Abschnitt 10.4 oben in diesem Band)? Talcott Parsons und Niklas Luhmann und mit ihnen viele andere Vertreter und Interpreten der soziologischen Systemtheorie haben das gemeint.9 Für Talcott Parsons, beispielsweise, ist die Macht eines der vier Medien für den double interchange zwischen den vier gesellschaftlichen Subsystemen nach dem AGIL-Schema, die zusammen die Integration der Subsysteme der Gesellschaft zu einem funktional abgestimmten Gesamtsystem sichern. Er ordnet dabei das Medium der Macht der gesellschaftlichen Sphäre der Politik und damit der G-Funktion der Zielverwirklichung zu. Macht ist danach die Fähigkeit des politischen Systems, Entscheidungen kollektiv verbindlich durchzusetzen. Die anderen drei Medien bei ihm sind das Geld für das ASubsystem, Einfluß für das I-Subsystem und Commitment für das LSubsystem. Die Macht ist aber für Parsons durchaus auch in den Interessenlagen der Akteure verankert: dem Interesse an einer Koordination des Handelns und dem an der Überwindung des utilitarian dilemma durch bindende Entscheidungen. Und die Fügsamkeit unter die Imperative der politischen Macht und die Hingabe von Loyalität an das System der Politik sind der Preis für diese Leistung der fairen Koordination der wiederstrebenden Interessen. Niklas Luhmann schließt an diese Ideen an, erweitert jedoch die Bedeutung der Macht als Medium ganz deutlich, indem er ihre Funktion als ein symbolisch generalisiertes Medium der Kommunikation allgemein herausstellt. Macht ist demnach – wie bei ihm etwa auch das Geld, die Liebe und die Wahrheit – eine über Symbole gesteuerte „Spezialsprache“, mit der es gelingt, ganz bestimmte Selektionsleistungen systematisch zu verknüpfen. Das geschieht dadurch, daß sich die Akteure verläßlich an einem bestimmten „Code“ orientieren – und alle wechselseitig voraussetzen können, daß sie das tun (vgl. hierzu bereits die Abschnitte 8.3 und 10.4 in diesem Band). Mit der Symbolisierung werden, wie bei den anderen symbolisch generalisierten Medien auch, das mit dem Code der Macht verbundene Oberziel – bindende Entscheidun9
Vgl. Talcott Parsons, On the Concept of Political Power, in: Talcott Parsons, Sociological Theory and Modern Society, New York und London 1967a, S. 297-354; Niklas Luhmann, Macht, Stuttgart 1975b, S. 4ff., S. 31ff. insbesondere; Stefan Jensen, Talcott Parsons. Eine Einführung, Stuttgart 1980, S. 178ff.; Uwe Schimank, Theorien gesellschaftlicher Differenzierung, Opladen 1996, S. 110ff.
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gen – wie die mit dem Programm normierten Handlungsabläufe aktiviert, und so eine an sich sehr prekäre, strategisch komplizierte und hochkontingente Situation deutlich vereinfacht und „parametrisiert“. Das „Medium“ der Macht überführt eine strategische Situation in eine spezielle „soziale Beziehung“ und so in ein einfaches „Spiel gegen die Natur“. Es ist ein Mittel der Reduktion von Komplexität und der Überführung der doppelten Kontingenz des sozialen Handelns in die einfache Kontingenz einer bloßen „Entscheidung“, vergleichbar mit der Wirkung der Definition einer sozialen Situation als „soziale Beziehung“ (vgl. dazu Kapitel 9 in diesem Band). Was ist dazu zu sagen? Etwas eigenartig gequält klingt vor allem die Sache mit den symbolischen Aspekten der Macht als Medium. Es sieht so aus, als suchte man, wo die Medien-„Theorie“ mit dem Geld für das Subsystem der Wirtschaft so gut funktioniert hatte, mit Gewalt nach den anderen Medien für die anderen Subsysteme, und das immer in Analogie zum Geld. Und schon werden Fragen wie diese gestellt: Was ist die Entsprechung für den Geldschein bei dem Medium der Macht? Und die Antworten sind nicht leicht. Luhmann, etwa, beschreibt zwar sehr ausführlich und reich illustrierend das Konzept der Symbolisierung – ganz allgemein. Aber wenn es um die Symbolisierung der Macht geht, findet er nur sehr blasse Konkretionen: die gedankliche Assoziation von „Kraft, Fähigkeit, Potenz“ zum Beispiel (Luhmann 1975b, S. 32). Der Verweis auf Hoheitszeichen, Dekore, Embleme, Fahnen, Rangzeichen, Wappen und so weiter, wie etwa bei Jensen (1980, S. 180), überspannt das Konzept der symbolisch generalisierten Medien drastisch: Der Spielraum für die Akteure ist bei diesen Symbolen, außer in sehr engen Handlungsfeldern wie auf dem Kasernenhof oder bei einer nationalen Gedenkfeier, viel zu groß, als daß man an eine Spezialsprache denken könnte, die, wie das Geld, unmißverständlich und schon in den inneren Motiven der Akteure die Situation fest definiert und die Selektionsleistungen der Akteure garantiert. Die mühselige – und letztlich erfolglose – Suche nach den symbolischen Aspekten der Macht ist wohl kein Zufall gewesen: Macht ist, folgt man einmal nur der Tauschtheorie, nichts als eine spezielle Beziehung des Interesses an und der Kontrolle über Ressourcen zwischen Akteuren. Macht ist, kurz gesagt, immer Tauschmacht. Von einem Surrogat oder Symbol ist dort nicht die Rede, und das muß es, ganz anders als beim Geld, auch nicht, das ja als Surrogat oder Symbol eben wieder aus schieren Interessen entstand und weiter besteht: Salz und Vieh sind nun einmal als Tauschmedium etwas unhandlich. Und nur deshalb kam man auf den klugen Gedanken, den damit verbundenen Wert symbolisch auszudrücken, mit der Folge schließlich, daß das Symbol unter gewissen, allerdings recht weitgefaßten Bedingungen der Geltung einer Währungsordnung, alleine schon ausreicht, um sozial wirksam zu sein.
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Wie aber sieht es bei der Macht aus? Wenn es „Macht“ gibt, dann kann zwar in der Tat ein Akteur dem anderen gewisse Dinge auferlegen, und zwar, wie Max Weber zu Recht anfügt, „ ... gleichviel worauf diese Chance beruht“. Der unterlegene Akteur wird, wie wir oben gesehen haben, den Vorgaben des ungleichen Tausches folgen – sofern er an der Transaktion weiter ein Interesse hat. Mit der Macht eines Akteurs über einen anderen kommt, wenn man so will, also durchaus eine gewisse Verläßlichkeit in die Beziehung, etwa gegenüber einem reinen Koordinationsproblem und der dort herrschenden – mehrfachen und letztlich: unendlichen – doppelten Kontingenz. Und weil die Macht in der Tat zum Gelingen einer ansonsten sehr unwahrscheinlichen Transaktion beiträgt, wurde wohl die Idee geboren, die Macht auch als ein „Medium“ zu betrachten: Wenn es Macht gibt, dann können riskante Transaktionen sozusagen zwanglos erzwungen werden. Und genau diese Funktion hatte ja auch das Geld als Medium für riskante Transaktionen. Also, so offenbar die Überlegungen der Erfinder der soziologischen Systemtheorie im üblichen Überschwang ihrer begrifflichen Reifikationen, „ist“ auch die Macht ein Medium. Und wenn sie das ist, dann „muß“ sie auch die anderen Eigenschaften des Mediums Geld haben – die Symbolisierung beispielsweise. Nun sieht man sofort, wo der gedankliche Fehltritt liegt: Das Geld ist ein „Medium“, weil es über eine eigene Transaktion, als Gegenstand und als Symbol, wie bei der Zahlung mit einer Münze etwa, buchstäblich „zwischen“ die „eigentliche“ Transaktion tritt und diese dadurch sehr erleichtert. Die Macht tritt jedoch nicht irgendwie „zwischen“ die Akteure und die Ressourcen. Sie hat jedoch – unter Umständen – die gleiche Funktion wie das Geld, die Transaktionserleichterung nämlich. Diese Funktion hat die Macht aber ohne die gleichen Mechanismen, vor allem ohne den Mechanismus der Symbolisierung. Macht „ist“ aber, anders als das Geld, weder eine eigene Transaktion, noch ein eigener Gegenstand, noch ein Symbol. Sie bildet eine spezielle Art der Transaktionsbeziehung zwischen den Akteuren, die freilich genauso „wirkt“ wie das Geld: Senkung von Transaktionskosten und Überwindung des Problems der doppelten Kontingenz. Ganz ähnliche Wirkungen „wie“ das Geld haben in diesem Sinne dann auch die anderen „Medien“, auch ohne daß die damit „richtige“ Medien wären: Autorität, Einfluß, Wahrheit, Liebe, Moral, Grundrechte und der Code der Kunst erleichtern und sichern ebenfalls spezielle Transaktionen. Aber erneut sind es stets wieder besondere Beziehungen zwischen den Akteuren oder aber normative Vorgaben, Codes und Programme für solche Beziehungen. Jedes dieser „Medien“ reduziert „ ... die Mühe der Informationsbeschaffung und -auswertung im Einzelfall und erspart eine vollständige Neuorientierung von Fall zu Fall.“ (Luhmann 1975b, S. 31)
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Genau. Denn das ist ihre Funktion. Aber deshalb sind es noch lange keine „Medien“ der Transaktion, so wie das Geld ohne Zweifel eines ist. Denn sonst wäre alles, was – irgendwie! – die Abstimmung des sozialen Handelns erleichtert, ein Medium – etwa auch eine Ampel, die dem Straßenverkehr ja auch das Problem der doppelten Kontingenz nimmt, oder ein rassisches Merkmal, das Akteure mit gleichen Interessen auszeichnet und sie und andere in ihrem Tun koordiniert.
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Register
Allgemeinwohl 152 Altruismus, negativer 102 Anarchie 103f. Anreize, selektive 214ff. Anspruchsniveau 367 Arbeitsteilung 118ff., 161 Assurance-Game 81ff., 85ff., 89 Ausbeutung der Großen durch die Kleinen 210f. Auszahlung 36 Auszahlungsfunktion 36f. Auszahlungsraum 39f. Autonomie 8ff., 327f. Autorität 334ff. disjunkte 336f. konjunkte 336f. Backwards Induction 138ff. Battle of the Sexes 97f. Beziehung, soziale 16, 18f., 22, 299ff. Chicken-Game 81ff., 89 Club 187ff. Code 258f., 282f. Commitment 360ff. Comparison Level 403ff. Defektion, unbedingte 33, 141ff. Dekret 69f. Dependenz 8ff., 322ff. Deprivation, relative 103 Dilemma-Situation 14, 22, 56ff., 72ff., 110f., 113 Dissens 230 Drohpunkt 403ff. Effekte, externe 11ff., 168 Egoismus, rationaler 27ff. Einfluß 334ff., 407f. Empathie 234f., 295 Erreichen 253f. Ethnomethodologie 227
Evolution der Kooperation 134ff., 221f. Föderation 217 Fokalpunkt 63ff., 67f., 109f., 113 Gabe, Geschenk 364ff., 370 Game 53f. Gefangenendilemma 55ff., 72ff. Geld 340ff. Gerechtigkeit 368ff. Geste 244f., 295 vokale 247 Gestenkonversation 244f. Gruppen kleine 207f., 217ff., 222ff. intermediäre 213f. latente 212 mobilisierte latente 215 privilegierte 212 -größe 211f. -verhalten 211 Gut Assurance- 186, 195ff. Chicken- 186, 195ff. Club- 186ff., 195ff. Kollektiv- 114f., 174ff., 195ff. Kommunal- 170ff., 195ff. Kooperations- 182ff., 195ff. öffentliches 176ff., 195ff., 200f. Positions- 166f., 191ff. Privat- 166, 169f., 195ff. soziales 166f., 195ff. Handeln kollektives 17, 181, 199ff., 204ff. kollektives ~ zweiter Ordnung 216 kommunikatives 110, 264f. soziale Bedingungen des kollektiven 219ff. soziales 3ff., 7, 15 strategisches 16f., 22
424 Herrschaft 69, 105ff., 113, 407f. Hierarchie 217 Homo ludens 52ff. Information 253f., 260 Differenz von ~ und Mitteilung 261 Information imperfekte 31, 34 perfekte 30f. unvollständige 31 vollständige 30f. Integration antagonistische 106f. kommunikative 285f. Interaktion 16ff., 22, 227ff. symbolische 18, 22, 243ff., 295 Interdependenz 8ff., 327f. Interesse konstitutionelles 150 operationales 150 Interessenkonvergenz 62f., 110, 113 Internalisierung 111 Kollektive Repräsentationen 237f. Kommunikation 18, 22, 247ff., 295 als Kette von Handlungen 295ff. als selektiver Prozeß 252ff. als soziales System 287ff. die Einheit der 255f. elementare Einheit der 253f. klassisches Konzept der 248f. Kommunikative Akte 254, 259 Komplexität 5f. Konflikt 14, 22, 57ff., 90ff., 111ff., 113, 192f. Interessen- 99f. partieller 71, 97ff. reiner 95ff. und Koordination 66f. und soziale Produktionsfunktion 99f. Verfassungs- 99f. Konfliktkosten 144f., 220f. Konsens 230 monolitischer 230 Schein- 230 Konstitution 292f. Kontingenz doppelte 5ff., 7 einfache 6f. Konvention 69f.
Register Kooperation antagonistische 14f. bedingte 33, 141ff. gesellschaftliche 165ff. unbedingte 33, 141ff. -sabhängigkeit 145f., 220f. -sgewinn 318ff. -sinteresse 145f., 148f., 220f. -skosten 144f., 219ff. Koordination 14, 22, 56f., 59ff., 109f., 113, 231f. Koorientierung 18, 22, 229ff., 295 Krieg 91f. aller gegen alle 127ff. Kritische Masse 208f. Kula-Ring 346ff. Kultur 237f. Leviathan 132f. Lösung eines Spiels 37f., 47ff. Macht 9, 319, 329f., 385ff. als „umgekehrte“ Dependenz 391f. als kontrolliertes Gesamtinteresse 392 als Medium 411ff. bilaterale 393 Grenzen der 389, 405ff. im System 393 und Alternativen 397ff. und Dependenz 389ff., 402f. und dritte 397ff. und Herrschaft 407f. und Konkurrenz 397ff. und soziales Kapital 408ff. und Ungleichheit 393f. Markt 161 Medien, 248ff., 277ff., 295 symbolisch generalisierte 259, 281ff. Medientheorie 283f. Minimierung des maximalen Verlustes 93f. Mitteilung 253f., 260f. Moral 148ff., 217ff. Mutualismus 110, 113, 162f. Nash-Gleichgewicht 47ff., 61, 82 Naturzustand 130f. Neid 103 Norm(en) essentielle 89f., 110f., 113 konventionelle 71, 109f., 113
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Register repressive 104f., 111ff., 113 Wirkung von 79f. -bedarf 114f., 197 -entstehung 114f. Ordnung, soziale 109ff., 113f., 117ff., 160ff. Organisation 162 Pareto-Optimum 50f. Pflicht 372ff. Play 53f. Pluralistische Ignoranz 230 Politische Unternehmer 216f. Potlatsch 350 Praxis 156ff. Prestige 408 Prinzip des geringsten Interesses 396f. Produktion, gesellschaftliche 165ff., 194ff. Programm 258f., 282f. Rahmung 258f. Reflexion 232f., 235f. Regel(n) 19f., 266f. Ressourcen Eigenschaft der Ausschließbarkeit von 166ff. Eigenschaft der Rivalität von 166ff. Eigenschaft der Teilbarkeit von 166ff. Konvertibilität von 330ff. Revolution 101 Rezeption 254, 271ff. Reziprozität 364ff. als „totales soziales Phänomen“ 371f. Norm der 365f. Ritual 289ff. Sanktion 70f., 111ff. Schatten der Zukunft 135ff., 146, 219f. Schellingpunkt 63ff., 231f. Schicksalskontrolle 394ff. Semiotik 262 Sharing-Groups 191 Sinn, sozialer 301ff. Situationen parametrische 1ff., 7, 22 soziale 1ff., 7, 22 strategische 16f., 55ff., 113 Solidarität 120ff. Spezialisierungsdilemma 122f., 125
Spiel als Game of Anti-Difference 103 als Game of Difference 103 als Game of Equality 103 Arten von 41f. Elemente des 41 extensive Form eines 32f. gegen die Natur 6f., 43ff., 113 interiertes 42 Konstantsummen- 42, 91 kooperatives 42 Lösung eines 37f., 47ff. Mixed-Motive- 42 Negativsummen- 91f. nicht-kooperatives 42 N-Personen- 42 Nullsummen- 42, 91 One-Shot- 42 reduzierte Form eines 34f. soziologisches Konzept des 51ff. strategisches 16f., 25ff. Super- 42, 140f. Variable-Sum- 42 Zwei-Personen- 42 Spielbaum 29f. Spieltheorie 16f., 26ff. Sprachbarrieren 269f. Sprache 246f. mündliche 277f. Organonmodell der 263 schriftliche 278ff. Sprechakt 262f. Sprechakttheorie 264f. Staat 158ff. Status 378f. Strategie 19f., 25ff., 31ff. bedingte 141 dominante 47ff. Maximin- 94f. Minimax- 94f. Superspiel- 140f. Tit-for-Tat- 33, 141ff. unbedingte 142f. Strukturelle Kopplung 257ff., 275f. Symbol 113, 295 signifikantes 245ff. Sympathie 152f., 234f. Tausch 20f., 305ff. als Dilemma-Situation 315ff.
426 einfacher 354f. elementarer Vorgang des 309ff. generalisierter 333, 355ff. indirekter 359f. und Macht 386ff. -risiko 318ff., 320f. -gleichgewicht 328f. Tauschtheorie 305, 363f. Tradition 69 Tragedy of the Commons 184f. Transaktion 20f., 22, 305ff. als „soziale Beziehung“ 379f. gruppenbezogene 358f. Medien der 338ff. von Rechten 334ff. -sinteresse 13, 318ff. -skosten 312f. -ssystem 376ff. Utilitarian Dilemma 133 Utilitarismus 162 Verbundenheit kulturelle 15, 22 materielle 15, 22 negative 409f. normative 15, 22 positive 410 strukturelle 8ff., 22 Verhaltenskontrolle 394ff. Versprechen 125f. Verstehen 254, 267ff. Vertrag 337 Vertrauen 44ff., 87f., 357 Wirkung von Kommunikation 274f.
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