Soziologie
Hartmut Esser
Soziologie Spezielle Grundlagen
Band 4: Opportunitäten und Restriktionen
Campus Verlag Frankfurt/New York
Soziologie Spezielle Grundlagen Band 1: Situationslogik und Handeln Band 2: Die Konstruktion der Gesellschaft Band 3: Soziales Handeln Band 4: Opportunitäten und Restriktionen Band 5: Institutionen Band 6: Sinn und Kultur
Hartmut Esser ist Professor für Soziologie und Wissenschaftslehre an der Universität Mannheim. Er ist Autor und Herausgeber zahlreicher Veröffentlichungen. Zuletzt erschien von ihm als Buch die „Soziologie. Allgemeine Gundlagen“(3. Aufl. 1999)
Impressum Satz: Cornelia Schneider und Thorsten Kneip
Inhalt
Vorwort 1.
Der Raum der Möglichkeiten
VII 1
Die Weissagung der Deutschen Bank
22
2.
Angebot und Nachfrage
23
2.1 Die Nachfrage 2.2 Einkommen und Preise 2.3 Das Angebot
25 32 34
Die Produktion des Nutzens
60
3.1 Konsum als Produktion 3.2 Nutzenmaximierung 3.3 Präferenzen
60 72 85
3.
4. 5. 6. 7.
Verhandlungen Tauschgleichgewicht Das System des Marktes Netzwerke und Beziehungsstrukturen
97 134 144 177
7.1 Soziale Einheiten und Beziehungen 7.2 Die Einbettung der Akteure und die Struktur der Beziehungen 7.3 Prestige, Macht und strukturelle Autonomie 7.4 Cliquen und strukturelle Äquivalenz 7.5 Die Entstehung und die Wirkung von Netzwerken
180 190 203 207 212
VI 8.
Inhalt
Das Kapital der Akteure
215
8.1 8.2 8.3 8.4 8.5 8.6
219 220 231 239 240 242
Ökonomisches Kapital Humankapital Kulturelles Kapital Institutionelles Kapital Politisches Kapital Soziales Kapital
Exkurs über soziale Räume und über die Frage, ob nicht letztlich doch das Geld die Welt regiert
272
9.
Die stumme Macht der Möglichkeiten
275
Beispiel 1: Heterogenität, Homogenität und die Beziehungen zwischen Gruppen Beispiel 2: Segregation Beispiel 3: Kritische Massen und Mobilisierung Beispiel 4: Schwellenwerte und die Eigendynamik von Kollektiven Beispiel 5: Netzwerkstrukturen und die Ausbreitung von Neuerungen Beispiel 6: Toleranz und Koexistenz Beispiel 7: Die Dynamik ehelicher Beziehungen Beispiel 8: Der selbsterzeugte Untergang
277 284 288 296 306 315 325 334
Exkurs über die Methode der abnehmenden Abstraktion und über das Verhältnis von Soziologie, Psychologie und Ökonomie
345
Literatur
361
Vorwort
Die Bände 4, 5 und 6 der „Speziellen Grundlagen“ befassen sich mit den drei grundlegenden Elementen der Strukturierung von Situationen: materielle Opportunitäten, institutionelle Regeln und kulturelle Bezugsrahmen. In Band 4 geht es dabei um eine Perspektive, die besonders in den ökonomischen Sozialwissenschaften verbreitet und selbstverständlich ist: Alles Handeln und alle daran anknüpfenden sozialen Prozesse finden im Rahmen von unhintergehbaren und nicht einfach wegzudefinierenden Restriktionen statt. In der Soziologie wird dieser Gedanke insbesondere von Peter M. Blau in der Idee vertreten, daß sich wichtige soziale Prozesse – wie Interaktionen und Beziehungen zwischen Gruppen, Konflikte und Mobilität – alleine schon aus den jeweils vorliegenden Opportunitäten heraus erklären ließen. Daher der Titel des Bandes 4: Opportunitäten und Restriktionen. Die ersten drei Kapitel führen vor diesem Hintergrund in einige grundlegende Einzelheiten des (mikro-)ökonomischen Instrumentariums ein, das in der üblichen Soziologieausbildung meist nicht einmal gestreift wird: Wodurch bestimmt sich der Raum der objektiven, nicht hintergehbaren Möglichkeiten des Handelns (Kapitel 1)? Wie kommen die Nachfrage nach gewissen Ressourcen und Leistungen und wie das Angebot dafür zustande? Warum hat die Nachfragefunktion meist eine negative und die Angebotsfunktion meist eine positive Steigung (Kapitel 2)? Und wie läßt sich vor diesem Hintergrund das konkrete Handeln der Menschen erklären (Kapitel 3)? In diesem Zusammenhang werden alle Annahmen und Vorgänge strikt durch das Wirken von Restriktionen erklärt, wie sie sich durch das „Vermögen“ der Akteure, ihr Einkommen und ihr Kapital insbesondere, die Kosten und die Preise für die verschiedenen Güter und Leistungen, gewisse technische Vorgaben von Produktionstechnologien und – nicht zuletzt – durch die Begrenzungen der (Echt)Zeit ergeben, die für jedes „produktive“ Tun aufgewandt werden muß. Vor diesem Hintergrund wird auch noch einmal der Grundgedanke verdeutlicht, der schon in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, der „Speziellen Grundlagen“ im Mittelpunkt der Analyse von Situationslogiken stand: Das Handeln der Menschen ist nicht als ein sinn- oder zielloses Tun, sondern in seinem Kern als Nutzenproduktion zu verstehen und unterliegt in diesem Sinne eini-
VIII
Vorwort
gen – technischen, sozialen und kulturellen – Begrenzungen, aus denen sich schon vieles erklären und verstehen läßt, was an sozialen Prozessen geschieht. Der Rest des Bandes ist gewissen Anwendungen dieser (und verwandter) Grundinstrumente gewidmet, insbesondere aber der Darstellung von bestimmten Modellen der Aggregation von Folgen des derart an Opportunitäten und Restriktionen gebundenen Handelns der Menschen. In Kapitel 4 über die „Verhandlungen“ wird besprochen, welche Möglichkeiten Akteure haben, sich bei – unhintergehbaren – Interessendivergenzen dennoch auf ein Ergebnis zu einigen, das ihnen allen zugute kommt – und welche Restriktionen es dabei wiederum gibt, wie zum Beispiel die verrinnende Zeit und die Verhandlungskosten. In Kapitel 5 wird in direktem Anschluß daran das Modell des Tauschgleichgewichts von James S. Coleman an einem einfachen Beispiel erläutert. Dieses Modell ist eine Art von missing link zwischen den Verhandlungsmodellen der Spieltheorie mit ihren relativ wenigen Akteuren und dem Marktmodell der Ökonomie mit im Grunde unendlich vielen Teilnehmern. Die Funktionsweise von derart „anonymen“ Märkten wird dann in Kapitel 6 besprochen und an einigen soziologischen Beispielen erläutert, wie das der Bildungsentscheidungen in Unter- und in Mittelschichten oder das der Wirkung von Studiengebühren auf die Macht der Professoren. In diesem Zusammenhang wird auch auf die besondere „Dynamik“ von Märkten eingegangen. Dabei wird, etwa am Beispiel des sog. Cobweb-Theorems, gezeigt, wie man auf eine relativ einfache Weise „selbstreferentielle“ dynamische soziale Prozesse modellieren und dabei auf die besonders für gewisse Zweige der Soziologie üblich gewordenen Wortspielereien und begrifflichen Hochstapeleien verzichten kann, die von „Systemen“ immer nur reden, aber nicht wissen, wie man damit erklärend umgehen kann. Die Kapitel 7 und 8 befassen sich dann mit zwei wichtigen Aspekten von sozialen Begrenzungen und Möglichkeiten des Handelns und sozialer Prozesse: Netzwerke und Beziehungsstrukturen einerseits und „Das Kapital der Akteure“ andererseits. Hierbei wird auch deutlich, daß die „materiellen“ Restriktionen und Möglichkeiten stets eine institutionelle und eine kulturelle Komponente haben, wie das etwa beim Konzept des kulturellen und des sozialen Kapitals unübersehbar wird. Die Wirkung ist freilich stets die gleiche: Schon die formale Art der Beziehungsstrukturen in den Netzwerken einerseits und allein die Höhe der Ausstattung mit Kapital, welcher Art auch immer, bestimmt, was möglich ist, auch natürlich an kollektiven Prozessen, etwa die Emergenz von „Systemvertrauen“ in Gruppen und ganzen Gesellschaften. Das Kapitel 9 schließlich ist eine Sammlung von insgesamt 8 Beispielen für die Modellierung sozialer Prozesse über die „stumme Macht der Möglichkeiten“, der aggregierten Wirkungen von Opportunitäten und Restriktionen also. Dabei werden gerade solche Modelle vorgestellt, die für eine
Vorwort
IX
große Vielzahl inhaltlich sehr unterschiedlicher sozialer Prozesse benutzt werden können, wie das Opportunitätenmodell von Peter M. Blau, das Modell der „kritischen Massen“ von Pamela Oliver, Gerald Marwell und Ruy Teixeira, das Schwellenwertmodell von Mark S. Granovetter, die Segregationsmodelle von Thomas C. Schelling, das Ansteckungs- und Diffusionsmodell von James S. Coleman, Elihu Katz und Herbert Menzel u.a. Zum Schluß wird auch ein, wennzwar einfaches, so doch instruktives Modell eines nichtlinearen dynamischen Interaktionszusammenhangs besprochen: das sog. Räuber-Beute-Modell als pars pro toto für nicht-lineare und „selbstreferentielle“ Zusammenhänge insgesamt. Alle diese Modelle können als Teile bzw. fertige Module bei soziologischen Erklärungen eingesetzt werden, wenn, was selbstverständlich ist, die Anwendungsbedingungen dafür jeweils gegeben sind. Es sind zum Teil sogar schon sog. Strukturmodelle für typische inhaltliche Abläufe, etwa für die Erklärung typischer Sequenzen der Mobilisierung sozialer Bewegungen. Mit dem Band 4 der „Speziellen Grundlagen“ verbindet der Verfasser vor allem die Hoffnung, daß sich in der Soziologie, wenigstens hier und da, auch einige grundlegende Kenntnisse ökonomischer Erklärungen und formaler Modelle sozialer Prozesse durchsetzen mögen – insbesondere aus der Erkenntnis, wie überaus nützlich sie sein können, wenn es um die Erklärung komplexer Aggregationen und unerwarteter „Emergenzen“ geht. Mit ihnen ist vieles möglich, wovon die Soziologie oft nur etwas verschwommen reden kann: Die Aufdeckung zwingender situationslogischer Dynamiken, denen die Akteure wie von Naturgewalten unterworfen sind, die aber nur sie tragen. Dieser Band ist, vor allem weil er für viele Soziologen recht neue und ungewohnte Konzepte und Modelle behandelt und sie deshalb meist von Grund auf und in leicht nachvollziehbaren Schritten entwickelt, in ganz besonderem Maße alleine für sich und ohne das vorherige Studium der anderen Bände zu lesen, obwohl, wie immer gleich hinzuzufügen ist, das sicher auch nicht schadet. Besonders die Lektüre des Bandes 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“, dürfte dabei hilfreich sein. Paul B. Hill sei für die Hartnäckigkeit gedankt, mit der er darauf bestand, in einen Band über die „Opportunitäten und Restriktionen“ doch auch ein eigenes Kapitel über die sozialen Netzwerke aufzunehmen. Und Frank Kalter danke ich für seine Geduld, mir bei der Aufbereitung der formalen Modelle in Kapitel 9 korrigierend über die Schulter zu sehen. Die evtl. verbliebenen Fehler gehen natürlich nur auf die Kappe des Verfassers. Hartmut Esser
Mannheim, im Juli 2000
Kapitel 1
Der Raum der Möglichkeiten
Situationen bestehen aus externen und internen Bedingungen. Opportunitäten, institutionelle Regeln und Bezugsrahmen bilden die externen, die Einstellungen des Akteurs die inneren Bedingungen. Die Selektion des Handelns und die Erzeugung neuer Situationen erfolgt vor diesem Hintergrund. Dazu gibt es nach den ersten Bänden dieser „Speziellen Grundlagen“ nicht viel mehr zu sagen. Viel Streit gibt es aber um die „richtige“ Erklärung des Handelns in einer Situation: Reagieren die Menschen bloß auf Reize? Kalkulieren sie nur Nutzen und Kosten? Folgen sie blindlings normativen Orientierungen, Rollen oder Einstellungen? Oder „interpretieren“ sie und „definieren“ sie die Situation erst, bevor es zum Handeln kommt? Und wenn ja – wie geht das? Und so weiter. In dieser verzwickten Lage kommt ein kluger Gedanke des norwegischen Philosophen und Ökonomen Jon Elster wie gerufen: Das Handeln sei die Folge eines zweifachen Selektionsprozesses. Im ersten Schritt werde die Menge der Möglichkeiten ausgefiltert, aus denen dann in einem zweiten Schritt in einem Akt der Entscheidung überhaupt noch „gewählt“ werden könne.1 Kurz: Bevor ein Akteur überhaupt die „Wahl“ hat, sind die Alternativen schon objektiv deutlich vorstrukturiert. Und oft genug gibt es dann für den Akteur nicht mehr viel zu „entscheiden“ und zu selektieren: Wem keine schmutzigen Angebote gemacht werden, hat es zum Beispiel leicht, sauber zu bleiben, die anderen wären immerhin mit der Möglichkeit konfrontiert, sich unmoralisch zu verhalten. Diese Idee des doppelten Filterprozesses macht das ohnehin schon reichlich schwierige soziologische Leben deutlich leichter – und manchen Streit über die „angemessene“ Logik der Selektion überflüssig. Denn selbst wenn es keine stabilen oder einheitlichen Regeln der Selektion des Handelns gäbe, könnte man sich auf eines verlassen: Es gibt in jeder Situation eine große Zahl an Alternativen, die in einem zweiten Schritt der Selektion allein deshalb 1
Jon Elster, Nuts and Bolts for the Social Sciences, Cambridge u.a. 1989a, S. 13.
2
Opportunitäten und Restriktionen
nicht zum Zuge kommen können, weil sie schon den ersten Filter nicht passieren. Daraus schon lassen sich oft genug gute Vorhersagen darüber treffen, was die Menschen tun werden. Und deshalb genügt zur Erklärung vieler sozialer Prozesse bereits eine vergleichsweise einfache Art der Situationsanalyse allein: Welche Möglichkeiten des Handelns haben die Akteure überhaupt, und wie sehen die Restriktionen aus, denen sie sich gegenübersehen? Auf dieser Überlegung beruhen zum Beispiel die allermeisten Instrumente der Wirtschaftspolitik, besonders die der Geld- und der Finanzpolitik. Wenn die Bundesbank etwa den Diskontsatz erhöht, dann verteuert sie die Kredite, die die Banken an ausgabewillige Kunden vergeben wollen. Das aber hat zwingend zur Folge, daß einige der Kreditnehmer die teuren Zinsen nicht mehr zahlen können, daß ihre Kredite platzen werden, oder daß neue nicht aufgenommen werden können. Alle Kreditnehmer müssen obendrein einen höheren Anteil ihres Geldes an die Bank bzw. an die Bundesbank abgeben. Das aber führt insgesamt unweigerlich dazu, daß weniger Geld zum Ausgeben zur Verfügung steht. Und die Folge: Der Konsum sinkt, die Preise fallen – und die Bundesbank hat erreicht, was sie wollte: die Senkung der Inflationsrate.
Diese Logik der zwingenden Macht der Opportunitäten wirkt sicher und unerbittlich, wenn es um Restriktionen geht. Nicht ganz so zuverlässig funktioniert die Erweiterung der Möglichkeiten: Nicht alles, was möglich wird, interessiert die Menschen und verleitet sie zu einem bestimmten Tun. Keineswegs immer, beispielsweise, führt nämlich eine Senkung des Diskontsatzes – in der Absicht, die Wirtschaft wieder in Gang zu bringen – auch dazu, daß die Kunden jetzt sofort wieder kreditwilliger und konsumfreudiger werden. Das liegt daran, daß zwar der Raum der Möglichkeiten wieder größer geworden ist. Aber entscheiden müssen die Kunden schon selbst, ob sie die sich bietenden Gelegenheiten nutzen wollen oder nicht. Oft genug reagieren die Menschen etwa mit der Verfügung über mehr Geld nicht sofort wie gewünscht mit einer Zunahme der Geldausgabe. Sie sparen vielmehr den Mehrbetrag – etwa aus Gründen der Vorsicht in Zeiten des wirtschaftlichen Niedergangs. Nun wird also auch der zweite Schritt, die „entscheidende“ Selektion einer möglich gewordenen Alternative, wichtig. Wie heißt es in Bankerkreisen so schön: Man kann die Pferde zwar zu Wasser führen, saufen müssen sie aber schon selbst!
Die Situation eines Akteurs kann also im einfachsten Fall als bloßer Raum von Möglichkeiten beschrieben und das Handeln als erzwungene oder möglich gewordene Folge von Veränderungen darin erklärt werden. Dabei geht es letztlich um zwei einfache Fragen: Welche alternativen Möglichkeiten haben die Akteure überhaupt? Und welche Folgen für das Handeln haben die bloßen Änderungen in diesen Möglichkeiten – noch ganz ohne jeden Blick auf die Präferenzen und Erwartungen der Menschen?
Der Raum der Möglichkeiten
3
Der Möglichkeitsraum Die Menge der vom Akteur kontrollierten und einsetzbaren Alternativen wird als Möglichkeitsraum bezeichnet. Andere Ausdrücke dafür sind opportunity set oder feasible set – im Unterschied zum virtual set aller denkbaren, aber nicht sämtlich auch kontrollierten Alternativen.2 Ein Beispiel: Steaks oder Bier? Die Idee des Möglichkeitsraumes läßt sich am einfachsten am Beispiel einer Welt erläutern, die nur zwei Güter kennt, zwischen denen sich jemand entscheiden soll, der an diesen Gütern ein Interesse hat. Dazu wollen wir wieder das Beispiel von Robinson und Freitag und deren Vorliebe für Steaks und Bier aus Abschnitt 5.1 in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ aufgreifen. Wir müssen das Beispiel dazu etwas verändern. Wir wollen annehmen, daß Freitag beide Güter auf einem Markt zu einem bestimmten Preis anbietet und daß Robinson ein bestimmtes Budget hat, für das er sich jetzt bestimmte Mengen Steaks oder Bier kaufen könnte. Das Problem wird unmittelbar erkennbar: Wie soll er, Robinson, das verfügbare Geld sinnvollerweise auf bestimmte Kombinationen der von Freitag angebotenen Mengen an Steaks und Bier aufteilen? Das Bier und die Steaks sind also jeweils indirekte Zwischengüter X, mit denen sich Robinson das ihn eigentlich interessierende primäre Zwischengut Z, etwa das eines schönen Abends mit guten FreundInnen, bereiten kann, wodurch er – unter Einsatz von Zeit und wohl nicht vergebens – hofft, soziale Wertschätzung und physisches Wohlbefinden zu erzeugen, um die es ihm – wie allen Menschen – letztlich geht. Die zur Beschaffung der indirekten Zwischengüter nötigen finanziellen Mittel – sein Budget bzw. sein Einkommen – sind dann nichts als weitere Produktionsfaktoren, die eingesetzt werden müssen, um an die indirekten Zwischengüter X zu kommen.
Die beiden indirekten Zwischengüter – Bier und Steaks – seien mit Xb bzw. mit Xs bezeichnet.
2
Vgl. zu den folgenden Einzelheiten der sog. Preistheorie u.a.: Jack Hirshleifer und Amihai Glazer, Price Theory and Applications, 5. Aufl., Englewood Cliffs, N.J., 1992, Kapitel 11; Edwin von Böventer, Einführung in die Mikroökonomie, 4. Aufl., München und Wien 1986, Kapitel 2 und 3; Kelvin J. Lancaster, Moderne Mikroökonomie, 3. Aufl., Frankfurt/M. und New York 1987, Kapitel 7; Robert H. Frank, Microeconomics and Behavior, New York u.a. 1991, Kapitel 6.
4
Opportunitäten und Restriktionen
Acht Alternativen Zur Wahl stünden nun jeweils verschiedene Mengen von kombinierten Bündeln der Güter Xb bzw. Xs. Die jeweiligen Einzelmengen seien mit xb und mit xs abgekürzt. In Tabelle 1.1 sind acht verschiedene Mengenkombinationen der Güter Xb und Xs aufgeführt und mit den Buchstaben a bis h symbolisiert. Tabelle 1.1: Alternativen, Ausgaben und Spielräume
Alternativen
a b c d e f g h
Mengen
Ausgaben
xb
xs
x b ⋅p b
5 2 6 12 0 3 5 10
3 5 3 0 6 6 8 15
50 20 60 120 0 30 50 100
x s ⋅p s 60 100 60 0 120 120 160 300
Spielraum A 110 120 120 120 120 150 210 400
I-A 10 0 0 0 0 -30 -90 -280
Noch vor der Frage, welches der acht Güterbündel die „beste“ Wahl wäre, stellt sich eine andere: Welche der acht Güterbündel stehen für eine solche Wahl überhaupt zur Verfügung? Preise und Einkommen Wir wollen annehmen, daß der Preis für eine Maß Bier, dem Gut Xb, 10 DM, und der für ein Steak, dem Gut Xs, 20 DM beträgt. Robinson verfüge über ein Budget bzw. über ein Einkommen I von 120 DM. Die Preise für eine Einheit des jeweiligen Gutes seien mit pb bzw. ps bezeichnet. Es gilt also: I=120 DM, pb=10 DM und ps=20 DM. Unmittelbar wird einsichtig, daß diese Größen den Raum der Alternativen in zwei deutlich getrennte Zonen einteilen: in mit dem verfügbaren Einkommen realisierbare und nicht realisierbare Alternativen. Der Bereich der unter den genannten Bedingungen realisierbaren Alternativen ist der Möglichkeitsraum des Handelns. Nur daraus können – anschließend – weitere Selektionen vorgenommen werden.
Der Raum der Möglichkeiten
5
Die Ausgaben Für eine realisierbare Wahl kommen natürlich nur die alternativen Güterkombinationen in Frage, die höchstens so viel kosten wie das gesamte Einkommen I hoch ist. Die Ausgaben A – die für den Erwerb der Güterbündel aufzubringenden Kosten also – lassen sich leicht berechnen. Sie ergeben sich aus dem Preis pro Mengeneinheit eines bestimmten Gutes multipliziert mit der Menge dieses Gutes. Eine jede Alternative besteht aber aus einer Kombination von Xb und Xs. Deshalb müssen für die beiden Güterbündel die Ausgaben jeweils getrennt berechnet und dann addiert werden. Betrachten wir dazu einmal die Alternative a. Hier werden 5 Einheiten des Gutes Xb und 3 Einheiten des Gutes Xs kombiniert. Bei einem Preis pb für Xb von 10 DM pro Einheit und von ps für Xs in Höhe von 20 DM kosten die 5 Einheiten von Xb dann 5⋅10=50 DM und die 3 Einheiten von Xs entsprechend 3⋅20=60 DM. Die Gesamtausgaben für die Alternative a betragen damit zusammen 50+60=110 DM. Da das Einkommen 120 DM beträgt, gehört die Alternative a zu dem Möglichkeitsraum von Robinson. Es bleiben somit noch 10 DM übrig.
Die Ausgaben A für jede der acht Alternativen errechnen sich entsprechend nach der Formel A=pb⋅xb+ps⋅xs. Das Ergebnis findet sich in den Spalten mit der Überschrift Ausgaben in Tabelle 1.1. Wir haben in der letzten Spalte der Tabelle aufgeführt, wie hoch die Differenz zwischen dem Einkommen I und den jeweiligen Gesamtausgaben A ist. Diese Differenz ist der Spielraum, den Robinson jeweils noch hat, wenn er eine bestimmte der acht Alternativen verwirklichen würde. Die Alternative a Betrachten wir nun einmal die verschiedenen Alternativen. Recht unproblematisch ist die Wahl der eben berechneten Kombination a. Bei dieser relativ bescheidenen und gut erschwinglichen Kombination bleibt von dem veranschlagten Budget von 120 DM sogar noch ein Betrag von 10 DM übrig. Er könnte gespart oder aber für andere Dinge ausgegeben werden. Wenn die Welt tatsächlich nur zweidimensional wäre und wenn es keine andere sinnvolle Verwendung für Einkommen gäbe, dann wäre diese Wahl aber nicht sehr vernünftig: Es würden einsetzbare Ressourcen nicht genutzt, ohne daß dafür eine andere sinnvolle Verwendung entstünde. Robinson täte also besser daran, den Restbetrag auch noch auszugeben. Beispielsweise, indem er noch eine Einheit des Gutes Xb dazu kauft. Dann wäre sein Geld weg. Aber er hätte ja auch etwas davon, während die 10 DM vorher ganz nutzlos brach lagen. Nur:
6
Opportunitäten und Restriktionen
Welche Alternative sollte das sein und nach welcher Regel sollte Robinson sie auswählen? Die Alternative h Diese Frage stellt sich bei der nächsten betrachteten Alternative nicht. Wenn man davon ausgeht, daß – ganz allgemein gesehen – eine Güterkombination mit größeren Mengen einer solchen mit geringeren Mengen vorgezogen wird, dann sollte man annehmen, daß ohne weiteres Zögern die Kombination h gewählt würde. Die Ausgaben dafür betragen – bei gegebenen Preisen – jedoch stolze 400 DM. Dem steht aber nur das Einkommen von 120 DM gegenüber. Es entsteht also ein Fehlbetrag von 280 DM. Den könnte unser Robinson sicher zeitweise – die Freiheit nehm’ ich mir! – durch einen Kredit oder – etwas nachhaltiger möglicherweise – durch eine reiche, alte GönnerIn auffangen. Das aber sicher auch nur in gewissen Grenzen zeitlicher, sachlicher, sozialer und moralischer Art. Und letztlich auch nicht kostenlos. Zwei Sonderfälle Zwei interessante Sonderfälle bilden die Kombinationen b und c. Sie sind – wie man an dem Differenzbetrag von Ausgaben und Einkommen von null sieht – mit dem verfügbaren Einkommen gerade so eben zu erhalten. Das Einkommen wird jeweils komplett für die Güter Xb und Xs ausgegeben. Ein Spielraum für andere Dinge bleibt nicht. Insoweit wäre dies eine Verwendung des Einkommens, bei der nichts unnütz verschenkt wird. Robinson bewegt sich jetzt aber auch hart am Rande seiner Möglichkeiten und kann sich keinen, noch so kleinen, finanziellen Fehltritt mehr leisten. Und zwei weitere Sonderfälle Bei den Alternativen d und e wird das Einkommen ebenfalls gerade und komplett ausgegeben. Nun haben wir auch wieder zwei – ganz besonders interessante – Spezialfälle vor uns: Das gesamte Einkommen wird für jeweils ein Gut verausgabt. Für das andere Gut bleibt nichts übrig. Leicht sieht man, daß es beide Male die mit dem verfügbaren Einkommen maximal erwerbbare Menge des Gutes Xb (im Falle von d) bzw. des Gutes Xs (im Falle von e) ist, die mit dem Einkommen gerade erworben werden kann. Dies sind für das Gut
Der Raum der Möglichkeiten
7
Xb genau 120/10=12 Mengeneinheiten, weil es für 120 DM von einem Gut mit dem Preis 10 DM maximal genau diese Menge gibt. Und für das Gut Xs sind es entsprechend 120/20=6 Mengeneinheiten. Die Alternativen b, c, d und e haben damit eine Eigenschaft gemeinsam: Sie nehmen das gesamte Einkommen restlos in Anspruch, sind aber auch damit immer noch realisierbar. Leicht läßt sich vorstellen, daß es noch mehr solcher Alternativen gibt: Alle möglichen Kombinationen der Zusammensetzung von Xb und Xs, bei denen die Ausgaben genau dem Einkommen entsprechen. Die Gesamtsituation Bei der Alternative a wurden Ressourcen verschenkt, und die Alternative h lag weit außerhalb der Reichweite der Möglichkeiten. Auch die Alternativen f und g liegen – wenigstens: einstweilen – außerhalb des Möglichkeitsraumes von Robinson Crusoe. Zur Veranschaulichung der acht Alternativen und der gesamten Situation von Robinson wollen wir die Zahlenverhältnisse aus Tabelle 1.1 in einer Graphik darstellen (Abbildung 1.1).
Der Raum der Möglichkeiten
9
Einkommen und bei den vorliegenden Preisen realisierbaren Möglichkeiten ist der gesuchte Raum der Möglichkeiten. Das allgemeine Modell Wir wollen die Überlegungen etwas verallgemeinern. Gegeben seien bestimmte Mengen xi der n Alternativen X1, X2, ... Xi, ... Xn. Dies sei der Gütervektor X. Jede Einheit i der n Alternativen hat ihren Preis pi: p1, p2, ... pi, ... pn. Dies ist der Vektor der Preise P. Dann ergeben sich die Gesamtausgaben A für die betrachtete Mengenkombination der Güter aus den jeweiligen Mengen, multipliziert mit den angegebenen Preisen und aufaddiert über alle n Alternativen: A = p1x1 + p2x2 + ... + pixi + ... pnxn = Σpixi. Oder in der Vektorschreibweise einfach: A = PX. Der Akteur beziehe ein Einkommen von I. Mit diesem Einkommen kann er Ausgaben höchstens bis zur Höhe von A bestreiten. Es gilt also für alle seine Wahlen die einschränkende Bedingung: A = PX ≤ I. Diese Ungleichung wird auch als Bilanz- oder als Budget-Ungleichung bezeichnet. Sie bestimmt die Menge der möglichen Alternativen. Diese Menge der mit einem gegebenen Einkommen bzw. Budget realisierbaren Güterkombinationen wird auch Budgetmenge genannt. Die Budgetrestriktion Nun lassen sich einige weitere Implikationen der Budget-Ungleichung leicht veranschaulichen. Dazu werde zunächst die Bugdet-Ungleichung als BudgetGleichung geschrieben: I = A = PX. Mit der Gleichsetzung von Einkommen und Ausgaben soll berücksichtigt werden, daß die Ausgaben A das verfügbare Einkommen I gerade eben und
10
Opportunitäten und Restriktionen
vollständig aufzehren. Es ist die jeweils maximale Menge einer Güterkombination, die mit I bestritten werden kann. Bei nur zwei Alternativen lautet diese Bedingung demnach: I = p1x1 + p2x2. Diese Gleichung wird auch als Budgetrestriktion bezeichnet. Wir sind ihr oben im Anschluß an das Beispiel in Abbildung 1.1 für die Güter Xb und Xs bereits begegnet. In ihr stecken alle Informationen zur Bestimmung des Möglichkeitsraumes: die maximal möglichen Mengen für jede Güterart und die Einteilung der Kombinationen in mögliche und unmögliche Alternativen. Maximal realisierbare Mengen Wenn nun jeweils von einem der beiden Güter nichts konsumiert werden soll, dann gibt es im Zwei-Alternativen-Fall zwei charakteristische Fälle. Ihre Besonderheit liegt darin, daß von jeweils einem der beiden Güter nichts gekauft und das gesamte Einkommen für das andere Gut ausgegeben wird. Das ist dann die Maximalmenge x*i des Gutes i, die sich für das Einkommen I erwerben läßt. Für die beiden Güter X1 und X2 ergibt das jeweils: I = p1x*1 + p2⋅0 = p1x*1; I = p1⋅0 + p2x*2 = p2x*2. Daraus folgt für die möglichen Maximalmengen: x*1 = I/p1 x*2 = I/p2. Die „Eckpunkte“ d und e für das Bier und für die Steaks in Tabelle 1.1 bzw. in Abbildung 1.1 entsprechen diesem Spezialfall. Ihre Werte errechnen sich nach den angenommenen Preisen und dem unterstellten Einkommen: d = x*b = I/pb = 120/10 = 12 e = x*s = I/ps = 120/20 = 6.
Der Raum der Möglichkeiten
11
Die Budgetgerade Wenn man die Gleichung der Budgetrestriktion nach x1 und nach x2 auflöst, dann erhält man die beiden folgenden Zusammenhänge: x1 = I/p1 - (p2/p1)x2 x2 = I/p2 - (p1/p2)x1. Die Mengen x1 und x2 werden hierbei als Variablen verstanden, die sich in Abhängigkeit der Variation der jeweils anderen Variablen systematisch ändern. Die beiden Gleichungen bezeichnen also den gleichen Zusammenhang, jeweils aber einmal mit x1 als abhängige oder als unabhängige Variable in Bezug auf x2. Die dabei entstehende Linie wird als Budgetgerade bezeichnet. Die Budgetgerade weist einige interessante Eigenschaften auf. Die Achsenabschnitte I/p1 und I/p2 entsprechen exakt den Maximalwerten x*1 und x*2 der beiden Güter X1 und X2. Sie bleiben als „Konstante“ übrig, wenn der Wert von x2 bzw. von x1 jeweils gleich null ist: x*1= I/p1 - (p2/p1)0 = I/p1; * x 2= I/p2 - (p1/p2)0 = I/p2. Besonders wichtig ist aber die Steigung einer jeden der beiden Geraden. Sie hat bei x1 als abhängiger Variable den Wert p2/p1, und bei x2 als abhängiger Variable den Wert p1/p2. Die Steigung der Budgetgeraden entspricht also jedesmal dem Preisverhältnis der beiden Güterarten mit dem Preis im Zähler, der sich auf die jeweils unabhängige Variable bezieht. Die Rate der Substitution Das Preisverhältnis bzw. die Steigung der Budgetgeraden ist gleichzeitig das Verhältnis, in dem die Güter gegenseitig ausgetauscht werden müssen, wenn die Ausgaben das Einkommen weder unter- noch überschreiten sollen. Man spricht auch von der Rate der Substitution der beiden Güter. Was das bedeutet, sei an dem Diagramm in Abbildung 1.2 erläutert. Dort sind zwei Güterkombinationen (1 und 2) auf der Budgetgeraden x2=I/p2-(p1/p2)x1 eingetragen.
Der Raum der Möglichkeiten
13
Substitution: Wird Gut X2 teurer, dann muß davon weniger, wird es billiger eben mehr gegen eine Einheit des Gutes X1 hergegeben werden. Für die andere Budgetgerade mit den Mengen x1 als abhängiger und x2 als unabhängiger Variable gelten diese Beziehungen natürlich ganz analog. Änderungen der Möglichkeiten Die Restriktionen des Handelns werden also über die Budgetgerade beschrieben. Sie teilt die Welt in Möglichkeiten und in Unmöglichkeiten ein. Die Budgetgerade ist – wie gesehen – von zwei objektiven und nicht einfach, etwa durch einen bloßen Beschluß oder eine „Definition“ der Situation, zu verändernden Größen abhängig: vom Einkommen des Akteurs einerseits und von den Preisen der Güter andererseits (siehe dazu auch noch den Schluß dieses Kapitels und die Bemerkungen über die Weissagung der Deutschen Bank dort). Beide Größen können unabhängig voneinander variieren und den Raum der Möglichkeiten ändern – ihn erweitern oder einschränken. Wir betrachten erst die Preisänderungen und dann die des Einkommens. Preisänderungen Es werde angenommen, daß sich der Preis für das Gut X1 ändert. Dies soll dadurch ausgedrückt werden, daß der Preis mit einem bestimmten Betrag a multipliziert wird: Bei einer Preissenkung ist a kleiner, bei einer Preiserhöhung größer als 1. Der für ein Gut Xi gesenkte Preis sei mit pi-, der erhöhte Preis mit pi+ gekennzeichnet. Wir betrachten zuerst eine Preissenkung des Gutes X2 mit dem neuen Preis p2⋅a=p2-, wobei a vereinbarungsgemäß kleiner als 1 ist. Daraus ergeben sich die folgenden beiden Budgetgeraden für die Menge x1 des im Preis unveränderten Gutes X1 und für die Menge x2p- für das billiger gewordene Gut X2: x1 = I/p1 - (p2⋅a/p1)x2. x2p- = I/p2⋅a - (p1/p2⋅a)x1. Man sieht gleich, daß sich für die Menge x2p- als abhängiger Variable – verglichen mit der ursprünglichen Budgetgeraden x2=I/p2-(p1/p2)x1 – sowohl der Achsenabschnitt wie die Steigung geändert haben. Wenn a – wie angenommen – kleiner als 1 ist, dann wird der Achsenabschnitt – der Maximalwert des jetzt erwerbbaren Gutes x*2p-=I/p2⋅a also – größer. Gleichzeitig nimmt die
14
Opportunitäten und Restriktionen
Steigung der Budgetgeraden – das Verhältnis der Preise (p1/p2⋅a) – zu. Somit steigt auch die Rate der Substitution von Gut X2 gegen das Gut X1: Jetzt muß für Gut X2 im Tausch gegen eine Einheit von Gut X1 vergleichsweise mehr hergegeben werden als vor der Preissenkung. Der Achsenabschnitt I/p1 der Budgetgeraden mit dem Gut X1 als abhängiger Variablen bleibt dagegen, wie man sieht, unverändert, denn p1 ist ja gleich geblieben. Aber es sinkt die Steigung p2⋅a/p1, weil ja jetzt p2 um den Faktor a (<1) kleiner geworden ist. Die Budgetgerade dreht sich also gewissermaßen um den konstanten Eckpunkt x*1 der Budgetgeraden auf der X2-Achse nach oben auf den neuen Achsenabschnitt x*p2- (vgl. die Darstellung in Abbildung 1.3). Und die Folge davon insgesamt: Die Budgetgerade schließt jetzt mehr Alternativen ein als zuvor. Die Restriktionen haben sich gelockert. Und es wird deshalb – aller Voraussicht nach und wenn die Kunden das wollen – mehr vom Gut X2, das billiger geworden ist, nachgefragt. Aber – auf den ersten Blick: erstaunlicherweise – auch von Gut X1 können sich die Akteure jetzt mehr leisten als zuvor: Auch der Spielraum nach rechts ist ja offenkundig größer geworden. Und das obwohl der Preis für das Gut X1 unverändert geblieben ist. Der Lockerungseffekt der Preissenkung von Gut X2 wirkt sich also auch auf die Erschwinglichkeit der anderen Alternativen X1 aus.
16
Opportunitäten und Restriktionen
senkung ausgehen. Daraus ergeben sich die folgenden neuen Budgetgeraden für die beiden Güter X1 und X2: x1p- = I/p1⋅a - (p2⋅a/p1⋅a)x2 x2p- = I/p2⋅a - (p1⋅a/p2⋅a)x1. Sofort sieht man, daß nun die Steigungen in beiden Fällen gleich bleiben, weil sich die jeweils gleichen Änderungskoeffizienten a aus den Preisverhältnissen wegkürzen. Entsprechend bleibt auch die Rate der Substitution konstant. Und es wird auch klar, daß sich die Achsenabschnitte im gleichen Verhältnis a, also proportional zu den Preisverhältnissen, ändern. Im Diagramm von Abbildung 1.4 zeigt sich dies als eine Parallelverschiebung der Budgetgeraden nach oben – bei proportionalen Preissenkungen, wenn der Faktor a kleiner als 1 ist; und nach unten – bei proportionalen Preiserhöhungen, wenn der Faktor a größer als 1 ist. Da angenommen wird, daß sich beide Preise nach dem gleichen Faktor a ändern, gilt also zusätzlich zur oben beschriebenen einseitigen Preisänderung des Gutes X2 nun auch die Beziehung p1-
18
Opportunitäten und Restriktionen
Einkommenserhöhung kennzeichnet. Oder a ist größer als 1 und beschreibt damit eine Einkommensminderung. Nicht nur aus Vereinfachungsgründen wollen wir den Koeffizienten 1/a mit b kennzeichnen. Wenn b größer als 1 ist und das Einkommen also steigt, sei das entsprechende Einkommen mit I+, wenn b kleiner als 1 ist, mit I- gekennzeichnet. Die Folgen entsprechender Einkommensänderungen lassen sich an der Budgetrestriktion leicht darstellen. Daraus ergeben sich die folgenden beiden Budgetgeraden: x1I+/- = I⋅b/p1 - (p2/p1)x2 x2I+/- = I⋅b/p2 - (p1/p2)x1. Man sieht gleich wieder, was geschieht: Die Steigungen der Budgetgeraden bleiben unverändert, weil sich die Preise nicht geändert haben, und die Steigungen sind ja nichts anderes als die Preisverhältnisse. Es verschieben sich aber die Achsenabschnitte der beiden Budgetgeraden – und zwar um den Faktor b. Wenn b kleiner als 1 ist, dann werden sie kleiner, wenn b größer als 1 ist, dann werden sie größer. Anders gesagt: Die Maximalmengen der erwerbbaren Güter verschieben sich proportional zu der Einkommensänderung – ausgedrückt im Faktor b. Einkommenseffekte und proportionale Preisänderungen Daß Einkommensänderungen den Möglichkeitsraum insgesamt vergrößern oder verkleinern ist ja ganz plausibel. Der gleiche Effekt ist uns aber schon oben begegnet: bei der proportionalen Preisänderung. Die Steigungen der Budgetgeraden bleiben jedes Mal gleich, und die Achsenabschnitte ändern sich in beiden Fällen proportional. Wir können daher das Diagramm für die Effekte proportionaler Preisänderungen in Abbildung 1.4 auch zur Veranschaulichung der Einkommenseffekte benutzen. Deshalb haben wir dort auch die Beziehung I-
Der Raum der Möglichkeiten
19
mensänderung um den Faktor b=1/a (jeweils für die Güter X1 und X2; vgl. Abbildung 1.4). An den Budgetgeraden läßt sich das leicht zeigen. Wir nehmen dazu nur die Gerade mit der Menge x2 als abhängiger Variable. Jetzt setzen wir aber statt b den oben vereinbarten Wert 1/a ein. Dann lautet die Budgetgerade für die mit der Einkommensänderung nun möglichen Mengen x2: x2I+/- = I⋅b/p2 - (p1/p2)x1 = (I⋅(1/a))/p2 - (p1/p2)x1 = I/(p2⋅a) - (p1/p2)x1. Dies entspricht aber genau der Budgetgeraden für die oben erläuterte proportionale Preisänderung: Die Steigung bleibt gleich, und der Achsenabschnitt ändert sich im Nenner um den Faktor a. Analoges gilt für die jeweils andere Budgetgerade. Kurz: Mit der Änderung des Einkommens verschieben sich die Bugdetgeraden parallel: Erhöht sich das Einkommen wird der Möglichkeitsraum größer, verringert es sich, wird er kleiner. Das Ergebnis läßt sich natürlich auch umkehren: Eine proportionale Preisänderung um a ergibt eine Änderung im Achsenabschnitt um den Faktor 1/a=b im Zähler. Und genau das ist ja der Einkommenseffekt einer proportionalen Preisänderung, von dem oben schon die Rede war. Formal – und auf dem Bankkonto am Monatsende – ist es also ganz gleich, ob sich die Preise für alle Güter proportional ändern oder das Einkommen insgesamt. Beides führt zu einer Ausweitung oder Eingrenzung der Spielräume und Möglichkeiten – bei Konstanz der relativen Knappheiten zwischen den Gütern. Und natürlich können sich die Preise und das Einkommen gegenläufig so ändern, daß sich „real“ am Spielraum nichts tut – wie bei Lohnerhöhungen, die durch die Inflation gleichzeitig wieder aufgefressen werden. Ob das auch psychologisch als gleich empfunden wird, ist freilich eine ganz andere Frage. Das Beispiel noch einmal Wir wollen das Ergebnis der formalen Analyse von Preis- und Einkommensänderungen an Hand unseres Zahlenbeispiels aus der Tabelle 1.1 noch einmal verdeutlichen und zusammenfassen. Der Ausgangspunkt seien die Werte aus dem Beispiel von Robinson und seinem schönen Abend bei Bier und Steaks in Tabelle 1.1. Zur Erinnerung: Das Bier – Gut Xb – kostet 10 DM pro Einheit, die Steaks – das Gut Xs – 20 DM pro Einheit. Das Einkommen I beträgt 120 DM.
20
Opportunitäten und Restriktionen
Nun seien schrittweise drei Änderungen eingeführt: Erstens halbiere sich der Preis des Gutes Xs auf 10 DM. Dann werde zweitens zusätzlich auch der Preis des Gutes Xb geringer – und zwar proportional zur Preisänderung bei Xs um die Hälfte auf nun 5 DM. Und schließlich verdoppele sich das Einkommen von Robinson auf 240 DM, aber die Preise bleiben auf dem ursprünglichen Niveau von 10 DM für Xb und 20 DM für Xs. Die vier entsprechenden Budgetrestriktionen mit den Mengeneinheiten der beiden Güter Xb und Xs können dann so geschrieben werden: Situation 1: Situation 2: Situation 3: Situation 4:
120 = 10⋅xb + 20⋅xs 120 = 10⋅xb + 10⋅xs 120 = 5⋅xb + 10⋅xs 240 = 10⋅xb + 20⋅xs
Ausgangssituation Preissenkung von Xs um a = 0.5 Preissenkung von Xb um a = 0.5 Einkommenserhöhung um b = 2.
Daraus ergeben sich die folgenden vier Paare von Budgetgeraden: Situation 1:
xb = 12 - 2.0 xs xs = 6 - 0.5 xb
Ausgangssituation
Situation 2:
xb = 12 - 1.0 xs xsp- = 12 - 1.0 xb
nun: Preissenkung von Xs um a = 0.5
Situation 3:
xbp- = 24 - 2.0 xs xsp- = 12 - 0.5 xb
dazu: Preissenkung von Xb um a = 0.5
Situation 4:
xbI+ = 24 - 2.0 xs xsI+ = 12 - 0.5 xb
alternativ: Einkommenserhöhung um b = 2
In Abbildung 1.5 sind diese Veränderungen der Budgetgeraden eingetragen. Der Situation 1 entspricht die Linie, die die Werte 6 und 12 verbindet, der Situation 2 die Linie mit den Endpunkten 12 und 12. Die Linie zwischen 12 und 24 bildet die Situation 3 und 4 ab. Das ist jedoch nicht verwunderlich: Die beiden letzten Änderungen – eine proportionale Preissenkung und eine Einkommenserhöhung um den entsprechenden Faktor – sind ja im Ergebnis exakt gleich: Es führt zum gleichen Möglichkeitsraum, wenn sich das Einkommen bei gleich bleibenden Preisen verdoppelt, oder wenn sich die Preise bei konstantem Einkommen halbieren.
22
Opportunitäten und Restriktionen
sieht es jedoch ganz anders aus. Nun kann er in gewisser Weise auch machen, was er will – es nutzt nichts: Außerhalb der Grenzen des Möglichen ist eine „Wahl“ grundsätzlich nicht möglich.
Die Weissagung der Deutschen Bank Die Ökonomie hat ihre Überlegungen zu einem großen Teil auf die zwingende Kraft der Restriktionen gestützt, die Soziologie eher auf die „definierende“ Macht der Werte, Normen und Symbole: Auch die Möglichkeiten und die Restriktionen, so hört man, seien die Folge kultureller Definitionen und sozialer Konstruktionen. Und in der Tat: Niemand kann bestreiten, daß es Werte, Normen und Symbole gibt, daß etwa die Bundesbank, Theo Waigel, Hans Eichel und die Maastrichter Kriterien das Ergebnis gesellschaftlicher „Definitionen“ sind und daß die Menschen oft genug das Unmögliche versuchen. Aber: Der Raum der Möglichkeiten setzt die unverrückbaren externen Bedingungen der Situation, denen sich der Akteur beugen muß – ob er will oder nicht. Und keine „Konstruktion“ der gesellschaftlichen Wirklichkeit, keine subjektive Definition der Situation und keine normative Orientierung können daran etwas ändern. Und so höret denn alle, die Ihr voller Wünsche und guten Willens, aber knapp bei Kasse seid, an die alleinige Kraft der Normen, der Werte und der Symbole glaubt und daran, daß alles bloß eine Frage der „Definition“ der Situation sei, und die Ihr von der Ökonomie und der zwingenden Macht der Möglichkeiten nichts wissen wollt! So nämlich lautet die Weissagung der Deutschen Bank: Erst wenn die letzte Mark ausgegeben, erst wenn der letzte Scheck geplatzt, und erst wenn die letzte Kreditkarte eingezogen ist, werdet Ihr merken, daß ohne Geld Ihr Euch nichts kaufen könnt!
Niemand kann sich der Weisheit dieser Weissagung entziehen – jedenfalls sobald es um mehr als um Peanuts geht, und Papa nicht mehr zahlt. Die Budgetgerade ist die Wirklichkeit – groß und unerbittlich, mit dem Gerichtsvollzieher bald vor der Tür, weil die Freiheit der Kreditkarten letzten Endes eben doch nicht grenzenlos ist.
Kapitel 2
Angebot und Nachfrage
Unter der Nachfrage nach einem Gut wird die Bereitschaft eines Akteurs verstanden, für eine bestimmte Ressource, die ihm angeboten wird, einen bestimmten Gegenwert herzugeben, das heißt: einen bestimmten Preis zu zahlen – nicht mehr, lieber jedoch weniger. Das Angebot ist demgegenüber die Bereitschaft eines Akteurs, eine bestimmte Ressource herzustellen und herzugeben – und zwar: gegen die Zahlung eines bestimmten Preises, der nicht weniger, gerne aber mehr betragen darf. Angebot und Nachfrage sind die beiden zentralen Kategorien, mit denen soziale Prozesse aller Art als Folge des Zusammenspiels von Möglichkeiten und Begrenzungen erklärt werden können. Die Grundgesetze dieses Zusammenspiels sind nicht schwer zu verstehen: Das Kapitel über Angebot und Nachfrage in seiner Einführung in die Volkswirtschaftslehre beginnt der berühmte amerikanische Ökonom Paul A. Samuelson mit dem Zitat eines unbekannten Autors, der gemeint hatte, daß man aus jedem Papageien einen gelehrten Nationalökonomen machen könne: Dem Papageien müsse man nur die beiden Worte „Angebot“ und „Nachfrage“ beibringen.1 Zwar beeilt sich Paul A. Samuelson gleich, den Satz wieder zu relativieren. Es ist aber etwas Wahres daran, wie Sie gleich sehen werden. Was die Akteure zur Nachfrage nach und zum Angebot von Gütern „treibt“, ist nicht schwer nachzuvollziehen: Die Nachfrage wird durch gewisse Wünsche nach bestimmten Ressourcen motiviert – Wünsche zur Nutzenproduktion durch den Einsatz der nachgefragten Ressourcen, die dazu gebraucht werden. Der „Konsum“ von Gütern ist ja nichts anderes als die Produktion von Nutzen (vgl. dazu noch Kapitel 3 unten in diesem Band). Das Angebot ist letztlich auch so motiviert. Nur wird ein etwas umständlicherer – oft genug aber auch: erfolgreicherer – Weg der Nutzenproduktion gewählt: Ich produziere, etwa als Unternehmer, unter Einsatz von allerlei Produktionsfaktoren zuerst jene Ressourcen, die die nachfragenden Konsumenten – hoffentlich – 1
Paul A. Samuelson, Volkswirtschaftslehre. Eine Einführung, Band I, 3. Aufl., Köln 1964, S. 81.
24
Opportunitäten und Restriktionen
interessieren. Mit dem Verkauf erlöse ich dann nicht nur die Kosten, die bei dieser Produktion anfallen, sondern auch einen darüber hinausgehenden „Gewinn“ – jenes oft nicht unbeträchtliche Unternehmereinkommen, mit dem ich mir jetzt meine Wünsche als selbst nachfragender Konsument besonders gut und nachhaltig erfüllen kann: Segelyacht, Golfclub, teure Geliebte. Angebot und Nachfrage gehorchen – in aller Regel, wenngleich nicht ausnahmslos – typischen Gesetzen: Die Nachfrage sinkt mit steigenden Preisen und sie nimmt zu, wenn die Preise zurückgehen. Das Angebot erhöht sich mit den Preisen und es nimmt ab, wenn die Preise in den Keller gehen. Kurz: Die Nachfrage variiert gegensinnig, das Angebot gleichsinnig mit dem Preis eines Gutes. Warum das so ist, werden wir gleich unten in den Abschnitten 2.1 und 2.3 in diesem Band noch sehen. Angebot und Nachfrage bilden zusammen das einfachste System eines sozialen Handelns vom Typ einer Transaktion (vgl. dazu bereits Kapitel 10 und 11 in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ausführlich). Das Zusammentreffen von – im Prinzip unendlich vielen – Nachfragern und Anbietern wird allgemein als Markt bezeichnet. Leicht ist jetzt schon einzusehen, daß es hier in aller Regel sehr geordnet zugehen muß: Die Nachfragefunktion hat eine negative, die Angebotsfunktion eine positive Steigung. Also müssen sie sich an einem Punkte schneiden, an dem die Preise einerseits und die nachgefragten bzw. die angebotenen Mengen genau gleich sind. Und jeder müßte zufrieden sein, weil er sich besser stellt als zuvor und sich im Moment des Tausches aus eigener Kraft nicht mehr verbessern kann. Manche Ökonomen glauben, daß man über den Mechanismus der Märkte praktisch alle sozialen Prozesse auch des „soziologischen“ Alltags erklären könne.2 So ganz falsch ist diese Ansicht nicht. Wir werden in Kapitel 6 dieses Bandes das System des Marktes genauer besprechen und dabei auf einige Beispiele stoßen, von denen man zunächst nicht glauben würde, daß sie auch über den Marktmechanismus geregelt werden. Warum auch schon ein Papagei die Logik von Märkten verstehen kann, hat einen einfachen Grund: Die Gesetze von Angebot und Nachfrage beruhen nicht auf komplizierten Entscheidungsregeln oder auf den schwankenden Motiven der Akteure. Sie ergeben sich vielmehr alleine schon aus den objektiven Möglichkeiten und Bedingungen der Situation des Handelns. Auf geordnete „Präferenzen“ und auf „Nutzenfunktionen“, auf „perfekte Information“, auf 2
Vgl. beispielsweise Richard B. McKenzie und Gordon Tullock, Homo Oeconomicus. Ökonomische Dimensionen des Alltags, Frankfurt/M. und New York 1984; Gerard Radnitzky und Peter Bernholz (Hrsg.), Economic Imperialism. The Economic Approach Applied Outside the Field of Economics, New York 1987; Bernd-Thomas Ramb und Manfred Tietzel (Hrsg.), Ökonomische Verhaltenstheorie, München 1993.
Angebot und Nachfrage
25
komplizierte Gewichtungsregeln etwa einer EU-Funktion oder auf heroische Annahmen über die „rationalen“ Fähigkeiten der Akteure muß kein Bezug genommen zu werden. Man muß nur drei Dinge kennen: Die Preise der Ressourcen, das Einkommen bzw. das Budget der Akteure und die Technologie der Herstellung der Ressourcen, die Produktionsfunktionen also. Alle diese drei Größen sind objektiv und vom einzelnen Akteur nicht zu beeinflussen. Jeder Ökonom oder Soziologe könnte sie aber – wie fast schon auch ein Papagei – leicht feststellen und messen – und dann dahersagen, was auf dem betreffenden Markt geschieht. Die Logik von Angebot und Nachfrage ist also genau deshalb eine so einfache Sache, weil sie ohne jede besondere Logik der Selektion des Handelns im Möglichkeitsraum auskommt. Sie funktioniert letztlich alleine nach dem Prinzip der Weissagung der Deutschen Bank. Sicher könnte man auch noch eine eigene Logik der Selektion innerhalb des Raumes der Möglichkeiten annehmen, wie das zum Beispiel die Nutzentheorie tut (vgl. dazu bereits die Kapitel 7 und 8 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“, sowie noch die Abschnitte 3.2 und 3.3 unten in diesem Band). Aber es geht auch so, alleine mit der Untersuchung der Möglichkeiten der Akteure und der unumstößlichen Folgen von Änderungen und Unterschieden dabei.
2.1
Die Nachfrage
Wir beginnen mit der Nachfrage in der denkbar einfachsten Situation. Es gehe um die Nachfrage nach einem Gut. Der Akteur habe ein festes Einkommen. Wenn jetzt der Preis für das Gut ebenfalls feststeht, dann ist auch der Möglichkeitsraum bestimmt – wie wir in Kapitel 1 oben in diesem Band schon gesehen haben. Die erste Frage lautet: Was geschieht mit der Nachfrage nach dem Gut, wenn sich der Preis ändert, auf den der Akteur ja keinen unmittelbaren Einfluß hat? Das Gesetz der Nachfrage Nach dem, was wir in Kapitel 1 oben in diesem Band über die Wirkung von Preiserhöhungen auf den Möglichkeitsraum gesehen haben, liegt die Antwort nahe: Je höher der Preis des Gutes, um so weniger kann davon mit dem gegebenen Einkommen erworben werden. Und folglich muß – wenigstens in der Aggregation der vielen individuellen Wahlakte und im Durchschnitt – die
Angebot und Nachfrage
27
der Nachfrage bezeichnet. Es ist eines der wichtigsten Elemente der ökonomischen Theorie überhaupt. Es gibt zwar einige Güter, die dem Gesetz nicht folgen und mit steigendem Preis eher mehr nachgefragt werden – wie Rolexuhren oder französischer Sekt zum Beispiel. Aber die weitaus meisten Güter des Alltagslebens gehorchen diesem fundamentalen Gesetz. Es läßt sich auch – viel komplizierter als wir das gleich tun werden – aus der ökonomischen Nutzentheorie ableiten. Diese muß dazu eine Reihe sehr starker und unrealistischer Annahmen machen: Die Akteure müssen genau und konsistent wissen, was sie wollen und welche Möglichkeiten sie haben. Und sie müssen exakt jenen Punkt der Güterkombination auf der Budgetgeraden finden wollen, der ihre Nutzenstiftung maximiert (vgl. dazu schon die Kapitel 7 und 8 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“, sowie noch Kapitel 3 unten in diesem Band). Das ist den meisten Menschen zu mühsam, zu aufwendig und sogar nutzenmindernd. Deshalb geben sie sich in den allermeisten Fällen mit groben Daumenregeln zufrieden. Aber an dem Gesetz der Nachfrage ändert das nichts.
Wir werden gleich sehen, daß es der Rationalitätsannahme nicht unbedingt bedarf, um zu erklären, warum es – normalerweise – einen negativen Zusammenhang zwischen Preis und nachgefragter Menge gibt. Die Macht der Restriktionen Warum das so ist, hat der uns inzwischen bereits wohlbekannte Gary S. Becker auf eine genial einfache Weise gezeigt.3 Die Grundidee kennen wir auch schon: Es ist die Anwendung der Weissagung der Deutschen Bank auf ein Aggregat von Akteuren, die – mehr oder weniger – „irrational“ ihr Geld ausgeben, dabei – ebenfalls: mehr oder weniger – in ihren Ausgaben am Rande ihrer Möglichkeiten stehen und jetzt damit konfrontiert werden, daß sich die Preise oder das Einkommen ändern. Preisänderungen und die Änderung der Nachfragemenge Wir beginnen mit den Änderungen der Preise. Betrachten wir dazu einmal die Situation in Abbildung 2.2.
3
Gary S. Becker, Irrationales Verhalten und ökonomische Theorie, in Gary S. Becker, Der ökonomische Ansatz zur Erklärung menschlichen Verhaltens, Tübingen 1982, S. 167-186.
Angebot und Nachfrage
29
die Akteure sich so zurückhaltend verhalten, ist nicht weiter wichtig. Jedenfalls handeln sie keineswegs alle „rational“ – wenigstens in dem Sinne, daß sie ihr gesamtes Einkommen ausgeben und nichts davon unproduktiv verfallen lassen. Was geschieht nun aber, wenn sich die Preise ändern? Unzweifelhaft, weil unausweichlich, sind die Folgen, wenn sich die Restriktionen verschärfen und sich die Akteure in der Situation S1 nach der Preiserhöhung für das Gut X1 wiederfinden. Jetzt bekommen einige mit voller Macht die Weissagung der Deutschen Bank zu spüren, zuerst natürlich diejenigen, die schon in der Situation S0 ihr gesamtes Einkommen komplett oder nahezu vollständig ausgegeben haben: d, e und f. Sie werden alle mindestens bis auf die Grenze der jetzt für S1 geltenden Budgetgeraden zurückgedrängt und nehmen so die Positionen d’, e’, und f’ ein. Und die Folge: Die durchschnittliche nachgefragte Menge ist dadurch kleiner geworden. Denn: Niemand fragt mehr nach als zuvor, einige aber deutlich weniger. Und die aggregierte Folge für die Nachfrage nach dem Gut X1: Es wird mit steigendem Preis weniger vom Gute X1 nachgefragt – weil es gar nicht anders geht. Und wenn sich die Akteure von der Budgetgeraden auch etwas nach unten drängen lassen, dann nimmt sogar die Nachfrage nach dem Gute X2 ab. Das ist die Folge des in Kapitel 1 oben in diesem Band bereits besprochenen Einkommenseffektes, der mit jeder Preisänderung verbunden ist und auch auf Güter überstrahlt, die sich im Preise nicht ändern. Nicht ganz so eindeutig sind freilich die Folgen einer Erweiterung des Möglichkeitsraumes durch eine Preissenkung und die Änderung der Budgetgeraden auf die Situation S2. Nun muß angenommen werden, daß nicht alle Akteure weiter habituell an ihrem einmal bewährten Konsummuster festhalten, sondern daß manche von ihnen die neuen Möglichkeiten auch nutzen. Aber das ist eine nicht allzu gewagte Annahme. Es wird immer Menschen geben, die neu eröffnete Wege auch wirklich gehen – und sei es nur aus Neugier oder aus Unachtsamkeit. Das wollen wir für die drei in der Situation 1 zurückgedrängten Akteure d, e und f in der Tat annehmen. Sie bewegen sich jetzt auf die neuen Positionen d’’, e’’ und f’’, wobei der Akteur e auch diesmal nicht alle seine Möglichkeiten ausschöpft. Auch für einen der zuvor allzu vorsichtigen Akteure wollen wir annehmen, daß der nun die neue Gelegenheit nutzt: b geht auf die Position b’’. Nur a und c sind nicht zu bewegen, ihren angestammten und bescheidenen Platz zu verlassen. Aus diesen, wohl nicht sehr waghalsigen, Annahmen folgt im Aggregat, daß mit sinkenden Preisen die Nachfrage zunimmt. Alleine die Veränderung des Möglichkeitsraumes erklärt also bereits das Gesetz der Nachfrage – auch bei „irrationalen“ Akteuren. Gary S. Becker, von
30
Opportunitäten und Restriktionen
dem diese ebenso einfache wie geniale Idee stammt, faßt die Angelegenheit mit dem lapidaren Satz zusammen: „Gerade das fundamentale Theorem der traditionellen Theorie – nämlich, daß Nachfragekurven negativ geneigt sind – resultiert im wesentlichen allein aus Veränderungen der Opportunitäten und ist weitgehend unabhängig von der Entscheidungsregel.“ (Becker 1982a, S. 172; Hervorhebungen nicht im Original)
Kurz: Das Gesetz der Nachfrage gilt auch bei allen Formen der Irrationalität – bei Heiligen, bei Verrückten und bei allen für das Maximieren zu dummen oder zu faulen Menschen. Auf allen lastet eben die Weissagung der Deutschen Bank. Und dahinter stehen die Knappheiten der irdischen materiellen Welt, etwa die an Zeit, Ressourcen und Energie. Groß und unerbittlich. Die Änderung des Einkommens und die Verschiebung der Nachfragefunktion Das Einkommen ist neben dem Preis der zweite wichtige Parameter für die Nachfrage nach Gütern. Einkommensänderungen lassen sich als Parallelverschiebung der Budgetgeraden modellieren. Das haben wir in Kapitel 1 in Abbildung 1.3 oben in diesem Band schon gesehen und müssen es deshalb hier nicht mehr eigens aufzeichnen. Zur Übung sollten Sie in die Abbildung 2.3 einmal die Akteure a bis f aus dem Beispiel der Abbildung 2.2 einzeichnen. Was geschieht? Genau: Mit der Änderung des Spielraumes der Akteure werden sie wieder entweder nach links unten zurückgedrängt oder erhalten einen größeren Spielraum nach rechts oben, den einige wohl auch nutzen werden. Zurückgedrängt werden sie bei einer Senkung des Einkommens, einen größeren Spielraum erhalten sie bei einer Erhöhung des Einkommens. Das ist auf den ersten Blick nicht viel anders als bei einer Preisänderung. Aber die Folgen für die Nachfragefunktion sind doch ganz anders als zuvor. Der zentrale Unterschied zur soeben betrachteten Situation ist, daß jetzt bei gleichen Preisen von den Gütern mehr bzw. weniger nachgefragt werden kann bzw. muß. Bei einem für beide Güter konstant gebliebenen Preis verlangen die Akteure jetzt eine größere oder kleinere Menge. Deshalb verschiebt sich mit einer Änderung des Einkommens die komplette Nachfragefunktion entsprechend parallel – bei einer Einkommenssenkung parallel nach links, bei einer Einkommenserhöhung parallel nach rechts (Abbildung 2.3). Man spricht bei einer Einkommensänderung auch von einer Veränderung der Nachfragefunktion insgesamt, während eine Preisänderung eine Änderung der Nachfrage auf einer gegebenen und unveränderten Nachfragefunktion bedeutet. Die ursprüngliche Nachfragefunktion beim Einkommen I ist in Abbil-
32
2.2
Opportunitäten und Restriktionen
Einkommen und Preise
Das Einkommen und die Preise legen den Raum der Möglichkeiten fest. Sie steuern – wie wir gesehen haben – die Nachfrage mit eherner Unerbittlichkeit. Woher kommen nun aber das Einkommen und die Preise? Einkommen
Einkommen ist das, was ein Akteur als Gegenleistung für Ressourcen und Leistungen erhält, die er anderen Akteuren anbietet. Meist besteht – in den modernen Geldwirtschaften jedenfalls – die Gegenleistung, etwa für den Verkauf einer Ware oder einer Dienstleistung, aus Geld. Das ist der sog. Erlös, den der Anbieter durch den Verkauf erzielt. Der Erlös R ist dabei – trivialerweise – gleich der Menge des verkauften Gutes X multipliziert mit seinem Preis: R=p⋅x. Der Erlös entspricht damit exakt den Ausgaben, die die Nachfrager haben, wenn sie das Gut erwerben, das der Verkäufer anbietet. In einfachen sog. Naturalwirtschaften wird Ware gegen Ware oder Leistung gegen Leistung getauscht. Das hat große Nachteile, weil nicht immer leicht jemand zu finden ist, der just an meinem Produkt Interesse hat, oder bei dem ich genau das Gut kaufen kann, was mich interessiert (vgl. dazu bereits Abschnitt 10.4 in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ausführlich). Deshalb hat sich das Geld als Tauschmedium auch weltweit durchgesetzt: Es dient als Verrechnungseinheit, über die auch sehr unterschiedliche Interessen vergleichbar und ganz verschiedene Arten von Kapital transferierbar werden (vgl. dazu noch Kapitel 8 und den Exkurs über soziale Räume und über die Frage, ob nicht letztlich doch das Geld die Welt regiert unten in diesem Band). Es ist nichts Verwerfliches daran. In den modernen Geldwirtschaften entsteht deshalb das Einkommen auch fast ausschließlich aus Gelderlös.
Wenn Menschen weder Geld noch andere Waren haben, die sie zum Tausch anbieten könnten, dann müssen sie das „anbieten“, was ihnen immer noch – neben ihren Nachkommen, den proles – bleibt: ihre Arbeitskraft. Der Preis für den Verkauf der Arbeitskraft der nicht aus Zufall so genannten Proletarier ist der Lohn, genauer: die Lohnrate w. Das Einkommen I ist für sie der Erlös aus dem Verkauf ihrer „Ware“ Arbeit. Es ergibt sich – wieder trivialerweise – aus der Menge der angebotenen Arbeit, am einfachsten berechnet über die Arbeitszeit t, multipliziert mit dem Preis der Arbeit, der Lohnrate w. Also: I=w⋅t (vgl. dazu auch noch Abschnitt 3.1 unten in diesem Band). Eine dritte Form des Einkommens ist die sog. Grundrente. Es gibt sie als Gegenwert zur Überlassung von Boden, etwa zur landwirtschaftlichen Produktion. Im Grunde kann man jede Art von Vermietung oder Verpachtung von Immobilien auch dazu zählen. Auch hier ergibt sich das Einkommen aus
Angebot und Nachfrage
33
Grundrente G aus der Menge der verpachteten Immobilien m multipliziert mit der Pachtrate r. Also: G=m⋅r. Meist verfügen die Akteure – wie beim Besitz von Boden oder Gebäuden – neben dem ständigen Einkommen noch über einen „stock“ an Gütern und Ressourcen. Diesen beständig unter Kontrolle stehenden stock von Ressourcen wollen wir zusammenfassend als das Kapital der Akteure bezeichnen. Das Kapital muß natürlich auch erworben und gepflegt werden. Man kann es erhöhen, indem man von seinem Einkommen spart. Man kann es natürlich auch ausgeben, etwa wenn die Preise steigen und man nicht verzichten will oder kann. Rasch kann das Kapital verfallen – manchmal ganz ohne eigenes Dazutun, wie bei einer Währungsreform oder einer politischen Revolution, die das Privateigentum abschafft. Und gelegentlich droht – wie beim Kapital der Ehre – die Gefahr, daß es mit einem Schlage seinen ganzen Wert verliert, weil man auf das falsche Pferd gesetzt hat. Es gibt eine ganze Reihe verschiedener Sorten von Kapital mit jeweils ganz eigenen Umständen des Erwerbs, der Nutzung und der Bestandspflege. In Kapitel 8 unten in diesem Band kommen wir darauf zurück.
Auch das Kapital selbst kann Erlös und Einkommen erzeugen: Es bringt Zinsen, wenn es verliehen wird. Das Kapitaleinkommen K ist dann – ähnlich wie zuvor beim Lohn und bei der Grundrente – vom Zinssatz i und der Menge des verliehenen Kapitals k abhängig. Also: K=i⋅k. Preise
Ist das Einkommen gegeben, hängt alles andere am Preis, den die Güter und die Leistungen haben. Sie sind sogar der wichtigere Teil der Restriktionen: Der einzelne Nachfrager hat keinen Einfluß darauf, während er viel eher versuchen kann, sein Einkommen zu erhöhen. Das Einkommen kann aber noch so hoch sein – die Preise entscheiden letztlich darüber, wie eng oder wie weit die Grenzen des Möglichen gezogen sind. Bei Inflationen merken die Menschen das unmittelbar. Wie aber kommen die Preise zustande? Hinter der Frage nach den Preisen steckt eine Frage, die sich an einen – meist anonymen – Akteur wendet: Bei welcher Gegenleistung ist ein anderer Akteur fähig und bereit, ein bestimmtes Gut zum Tausch anzubieten? Es geht also darum, wovon es abhängt, daß sich ein Akteur bewegen läßt, sich der Mühe der Produktion eines Gutes zu unterziehen und es auf einem Markt zur Transaktion des Tausches „Ware gegen Geld“ feilzuhalten. Damit sind wir endgültig beim „Gegenpol“ des Nachfragers auf einem Markt angelangt: beim Anbieter. Er ist der Produzent all der Güter, für die sich Nachfrager interessieren sollen und von deren Ausgaben er produziert, Erlöse erzielt, Gewinne macht und selbst nachfragt und lebt. Und wir ahnen es schon: Die Preise der Güter haben, letztlich, etwas mit den – insbesondere technisch bedingten und
34
Opportunitäten und Restriktionen
gesellschaftlich organisierten – Umständen zu tun, unter denen die Güter produziert werden. Denn: Nur was zuvor produziert worden ist, steht für die Transaktion auf einem Markt von Angebot und Nachfrage zur Verfügung. Der Mensch lebt nicht vom Geld allein.
2.3
Das Angebot
Das Angebot ist die anderen Akteuren „angebotene“ Menge bestimmter Güter und Dienstleistungen, für die der Anbieter von den Nachfragern im Gegenzug die Zahlung eines bestimmten Betrages erwartet: den Erlös als Produkt von Preis und verkaufter Menge von Gütern. Daraus muß er die Kosten für die Produktion des Gutes bestreiten, eventuelle Investitionen vornehmen und den Teil abzwacken, den er für seine private Verwendung vorsieht. Letzteres ist der Gewinn: der Überschuß des Erlöses über die reinen Produktionskosten. Zunächst wollen wir einen sehr einfachen Fall betrachten: die Produktion eines Gutes mit nur einem Produktionsfaktor. Daraus allein kann schon der wichtigste Zusammenhang gut verstanden werden: das sog. Gesetz des Angebotes. Dann aber soll eine etwas komplexere Situation betrachtet werden: die Erzeugung eines Gutes unter Einsatz von mehreren Produktionsfaktoren. Hier tritt für den Produzenten ein zuweilen sehr ernstes und diffiziles Entscheidungsproblem auf: In welcher Kombination soll er die Faktoren einsetzen, um möglichst günstig zu produzieren und eine möglichst hohe Differenz zwischen Erlös und Kosten, einen möglichst hohen Gewinn also, zu erzielen – was ihm dann wieder ein möglichst angenehmes Leben erlaubt. Ernst wird diese Entscheidung dann, wenn die Konkurrenz der Anbieter groß und die Kosten der Produktion hart an der Grenze der Rentabilität sind. Dann geht es um das Überleben am Markt. Nun gibt es nur zwei Möglichkeiten: hartes Kalkulieren und Gewinnmaximieren – oder das Ausscheiden aus dem Markt.
Die grundlegenden Zusammenhänge bleiben bei beiden Fällen jedoch gleichermaßen einfach und unerbittlich: Alle Güter dieser Welt, die nachgefragt und dann konsumiert werden können, müssen erst einmal produziert werden. Und für diese Produktion gilt – ob einfach oder komplex – erst recht die Weissagung der Deutschen Bank und die nachhaltig steuernde Kraft der Möglichkeiten. Das Gesetz des Angebotes
Die Empirie des Anbieterverhaltens ist ähnlich eindeutig wie die für die Nachfrage. Auch hier gilt ein stabiles, immer wieder beobachtetes Gesetz – das Gesetz des Angebotes. Es besagt: Mit der Zunahme der Preise steigt das Angebot, mit dem Rückgang der Preise sinkt es. Wir wissen es alle: Wenn die
36
Opportunitäten und Restriktionen
Der abnehmende Grenzertrag
Die Antwort auf die Frage, warum das Angebot mit dem Preis für das angebotene Gut zunimmt und bei sinkenden Preisen abnimmt, hat – letztlich – mit der Technologie der Produktion der Güter zu tun. Praktisch jede Produktion unterliegt nämlich – in the long run wenigstens – einem grundlegenden Gesetz: dem Gesetz vom abnehmenden Grenzertrag. Das hatten wir in Kapitel 3 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ im Zusammenhang mit den sozialen Produktionsfunktionen schon kennengelernt: Je mehr an Produktionsfaktoren eingesetzt wird, um so geringer wird der Zuwachs an Ertrag pro Einheit des eingesetzten Produktionsfaktors (vgl. Abbildung 3.1 in Kapitel 3 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Daraus ergibt sich die typische Form einer Produktionsfunktion mit einer zwar stetig positiven, aber immer kleiner werdenden Steigung. Es gibt sicher auch andere Produktionsfunktionen. Oft steigt mit der Zunahme einer Produktion der Grenzertrag anfangs sogar, zum Beispiel weil jetzt die Entwicklungs- und die Fixkosten der Produktion auf mehr Gütereinheiten umgelegt werden können. Diese sog. economies of scale, die Vorteile der Massenproduktion, stoßen aber immer irgendwann an ihre Grenzen. Schließlich geraten in dieser irdischen Welt alle Produktionsfunktionen in den Bereich eines abnehmenden Grenzertrages. Keine Erfindung und kein Konstruktivismus dieser Welt können diese Grenze aufheben. Deshalb können wir uns zur Darstellung des Prinzips, warum die Angebotsfunktionen grundsätzlich eine positive Steigung haben, auf den formal einfacheren Fall des sofort abnehmenden Grenzertrages beschränken.
Das Gesetz vom abnehmenden Grenzertrag kann so verstanden werden, daß jede zusätzlich erzeugte Einheit eines Gutes mehr Einheiten des Produktionsfaktors als die jeweils zuvor produzierte Einheit benötigt. Das hat eine wichtige Folge: Je Einheit des Produktionsfaktors wird mit der Zunahme der Produktion insgesamt im Durchschnitt eine immer geringere Menge des Gutes erzeugt. Bei einem abnehmenden Grenzertrag der Produktion sinkt also der Durchschnittsertrag pro eingesetzter Faktoreinheit. Die Produktionskosten
Wenn die Produktionsfaktoren zum Nulltarif zu haben wären, gäbe es immer noch kein Problem: Mühelos ließe sich die Produktion – und damit das Angebot – durch bloßen Mehreinsatz auch dann ausdehnen, wenn immer größere Faktormengen für jede neu erzeugte Einheit benötigt werden, und wenn – was das gleiche ist – der Ertrag für jede Einheit der Mehrproduktion immer kleiner wird. Es würde ja nichts kosten. Aber die benötigten Produktionsfaktoren ha-
Angebot und Nachfrage
37
ben immer einen Preis: Arbeit kostet Lohn, Kapital kostet Zinsen, Boden kostet Pacht – und so weiter. Und jede Produktion kostet Energie und Zeit, und alles das ist knapp. Es sind die Kosten der Produktion, die das Problem bilden und in denen sich schließlich die Unerbittlichkeit des Gesetzes vom abnehmenden Grenzertrag wiederfindet. Wir gehen von nur einem Produktionsfaktor V mit dem Faktorpreis q aus. Die Gesamtkosten C der Produktion einer bestimmten Menge des Gutes X ergeben sich dann – trivialerweise – aus der Menge v des eingesetzten Produktionsfaktors V multipliziert mit dessen Preis q. Also: C=q⋅v. Und sofort wird klar, wie der Kostenverlauf bei abnehmendem Grenzertrag ist: Die Kosten steigen je Einheit ausgebrachter Menge von X immer mehr an, weil ja – wegen des Gesetzes vom abnehmenden Grenzertrag – immer mehr an Produktionsfaktoren V eingesetzt werden muß, um die gleiche Menge von X herzustellen. Es erhöhen sich auf diese Weise also die Durchschnittskosten, weil pro produzierter Einheit von X immer mehr von dem Produktionsfaktor v eingesetzt werden muß, dessen Preis konstant bleibt. Die Durchschnittskosten werden auch die Stückkosten des Produktes genannt. Da die Durchschnitts- bzw. die Stückkosten bei abnehmendem Grenzertrag der Produktion größer werden, steigen auch die sog. Grenzkosten: Die für jede zusätzlich produzierte Einheit von X aufzubringenden Stückkosten werden immer größer und würden, falls das überhaupt möglich wäre, über alle Grenzen hinaus anwachsen.
Kurz: Die Kosten der Produktion des Gutes X nehmen mit der Zunahme der Produktion überproportional zu. Es ist die technisch bedingte Folge des Gesetzes vom abnehmenden Grenzertrag. Als Funktion zwischen Ertrag und Gesamtkosten sieht das dann aus wie eine Linie mit einer immer größer werdenden Steigung: Eine zusätzlich auszubringende Einheit des Gutes kostet um so mehr, je höher die Produktion bereits gefahren ist. Der Erlös
Aber auch das wäre noch kein Hindernis, wenn durch den Verkauf des Gutes X alle entstehenden Kosten wieder hereinkämen, etwa weil die Nachfrager bereit wären, jeden Preis zu zahlen. Was der Verkauf des Gutes X erbringt, ist – wie wir oben schon gesehen haben – der Erlös R. Er ist – wir wiederholen vorsichtshalber – gleich der Menge des verkauften Gutes X multipliziert mit dem jeweils geltenden Preis p, den die Nachfrager dafür zahlen: R=p⋅x. Zwischen der verkauften Menge x eines Gutes X und dem Erlös R besteht deshalb – trivialerweise – eine lineare Beziehung. Wir ahnen schon, daß diese zu-
Angebot und Nachfrage
39
Die geschilderten Verläufe der Kosten der Produktion und des Erlöses aus dem Verkauf des Gutes X sind in Abbildung 2.5 skizziert. Die Gerade R bezeichnet den mit der verkauften Menge des Gutes X proportional zunehmenden Verlauf des Erlöses bei einem gegebenen Preis. Die kurvlineare Funktion C spiegelt dagegen die überproportionale Zunahme der Kosten bei der Produktion von X wider, wie sie sich aus dem Gesetz vom abnehmenden Grenzertrag ergibt. Die Grenze des Angebots
Nun wird die technische Grenze einer jeden Ausweitung einer Produktion – und damit des Angebots von Gütern – bei konstant bleibenden Preisen unmittelbar sichtbar: Solange der Erlös R größer ist als die Kosten C, gibt es einen Gewinn. Die Gewinnzone beginnt in unserem Beispiel schon mit der ersten Einheit der Produktion. Wenn, wie meist üblich, zunächst die Kosten höher sind als der Erlös, etwa weil noch teure Anfangsinvestitionen anfallen, liegt dieser Punkt weiter rechts. Der Gewinn ist um so größer, je weiter R von C nach oben entfernt ist. Anfangs steigt in unserem Beispiel der Gewinn, dann stagniert er und sinkt schließlich immer rascher ab. Nach dem Schnittpunkt der beiden Kurven R und C in x** gibt es einen immer größer werdenden Verlust, den sich auch der altruistischste und optimistischste Unternehmer auf die Dauer nicht leisten kann. Diese letzte Grenze der Produktion und des Angebots liegt trivialerweise bei R=C. Sie legt die Menge fest, bis zu der ein Produzent bei einem gegebenen Preis und bei gegebener Technologie der Produktionsfunktion sein Angebot höchstens ausweiten kann. Und man ahnt es schon: Mehr könnte er nur unter zwei Bedingungen anbieten: Wenn der Preis steigen würde, weil dann der Erlös zunimmt und die Kostengrenze erst bei einer höheren Ausbringungsmenge überschritten würde. Oder wenn die Kostenkurve günstiger verliefe, weil auch dann erst bei einer größeren ausgebrachten Menge die Bilanz negativ würde (siehe dazu noch unten). Gewinnmaximierung und Marginalangebot
Eine Produktion und ein Angebot lohnt sich also in dem gesamten Bereich einer Ausbringungsmenge zwischen 0 und x**: Es fällt immer irgendein Gewinn ab. Der Gewinn G eines Unternehmers ist die Differenz zwischen Erlös und Kosten. Also: G=R-C. An einer Stelle ist der Gewinn maximal – am Punkt x*. Hier hat die Kostenfunktion, wie man sieht, die gleiche Steigung wie die Er-
40
Opportunitäten und Restriktionen
lösfunktion (siehe die eingezeichnete Parallele): Der Grenzerlös – bzw. der auf dem Markt erzielte Preis für das Gut – ist hier gleich den Grenzkosten (vgl. v. Böventer 1986, S. 192). Der Punkt x* bezeichnet demnach die Menge, die dem Unternehmer den höchsten Gewinn pro ausgebrachter Einheit beschert. Wenn der Unternehmer alleine auf eine solche Gewinnmaximierung orientiert wäre, dann würde er genau diese Menge produzieren und anbieten. Das werden die meisten Unternehmer aber wohl nicht tun, weil das Finden dieses Punktes sehr aufwendig ist. Wir werden aber weiter unten noch sehen, daß es einige Unternehmer gibt, die gar nicht anders können, als ihren Gewinn zu maximieren: Ihre Kostenkurve ist so ungünstig, daß sie nur an dieser Stelle überhaupt noch produzieren und anbieten können – oder vom Markt verschwinden. Der Punkt der Gewinnmaximierung und die Grenze der Produktion sind bei ihnen gleich. Und ihr „Gewinn“ ist dabei gleich null. Diese Unternehmer an der „Grenze“ der Möglichkeiten werden auch Grenz- oder Marginalanbieter genannt. Das Problem mit ihnen ist leicht zu verstehen: Der kleinste Windhauch fegt sie vom Markt – eine leichte Preissenkung ebenso wie eine nur geringe Kostenerhöhung. Darum gilt das Gesetz des Angebotes!
Jetzt wird endgültig klar, warum das Angebot von Gütern mit dem Preis des Gutes X positiv korreliert ist: Wenn – alle anderen Umstände gleichbleibend – der Preis des Gutes auf p+ steigt, dann nimmt der Erlös R+=x⋅p+ für die gleiche Menge x natürlich zu. Die R-Funktion erhält somit eine höhere Steigung und schneidet sich weiter rechts mit der C-Funktion. Und so verschieben sich die „absolute“ Grenze x** und der Punkt der gewinnmaximierenden Produktion x* auch nach rechts – und das Angebot wird ausgeweitet, sei der Unternehmer Gewinnmaximierer oder nicht. Analoges gilt umgekehrt: Wenn der Preis sinkt, dann verschieben sich der Schnittpunkt und die Produktionsgrenzen nach links, und die ausgebrachte Angebotsmenge wird zwingend kleiner. In Abbildung 2.6 sind diese Zusammenhänge dargestellt.
44
Opportunitäten und Restriktionen
Produktion? Zwei verschiedene Umstände sorgen dafür, daß sich die Kostenfunktionen und damit die Angebotsfunktionen insgesamt ändern: die Veränderung der Faktorpreise und Änderungen in der Technologie der Produktion. Der Einfachheit halber wollen wir nur die Verschiebung nach rechts betrachten: die Ausweitung des Angebotes bei konstanten Verkaufspreisen. Faktorpreise
Betrachten wir zunächst die Auswirkung von Änderungen der Faktorpreise. Das sind die Preise für die Beschaffung der Produktionsfaktoren, die benötigt werden, um das betreffende Gut zu erzeugen. Eine Verringerung der Faktorpreise – etwa: die Löhne oder die Zinsen sinken – hätte die Folge, daß sich die Kostenfunktion in Abbildung 2.7 nach rechts verschiebt – mit der oben beschriebenen Folge, daß jetzt eine Produktionsausweitung möglich wird. Die Technologie bliebe freilich gleich: Die hinter allem stehende Produktionsfunktion ändert sich ja nicht. Technologie
Das ist anders bei Änderungen der Technologie der Produktion. Sie betrifft den Verlauf der Produktionsfunktion selbst. Eine Verbesserung der Technologie bedeutet eine Erhöhung der Effizienz der Produktion: Mit dem gleichen Faktoreinsatz wird eine größere Menge des Gutes X erzeugt (vgl. dazu schon Abbildung 3.1 in Kapitel 3 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Deshalb sinken in diesem Fall für eine bestimmte Produktionsmenge die Produktionskosten, auch bei konstanten Faktorpreisen. Die Folge ist äußerlich wieder die gleiche wie zuvor: Die Kostenfunktion verschiebt sich erneut nach rechts, die Grenzkosten übersteigen den Grenzerlös erst bei einer höheren Ausbringungsmenge, und das Angebot kann auch bei gleichem Preis erhöht werden. Lohnverzicht und technischer Fortschritt
Faktorpreissenkungen und Verbesserungen der Effizienz haben also den gleichen Effekt: Sie erlauben die Ausweitung der Produktion des Gutes X bei gleichen Preisen. Besonders günstig wäre es für einen Produzenten daher, wenn beides gleichzeitig geschieht: Die Faktorpreise sinken und die Effizienz
Angebot und Nachfrage
45
der Produktion nimmt zu. Davon würden auch die Nachfrager profitieren: Für den gleichen Preis erhalten sie eine größere Menge. Deshalb sind Lohnzurückhaltung und technische Rationalisierungen nicht immer nur ein Teufelswerk der Kapitalisten zur Ausbeutung der Arbeiterklasse. Die Gewerkschaften haben das inzwischen – wenigstens hierzulande – längst gemerkt. Sie sagen es – vorsichtshalber und weil man dazu etwas von Produktionstheorie wissen muß – nur nicht ganz offen ihren Mitgliedern. Komplexe Technologien
Bisher haben wir das Gesetz des Angebotes nur unter der Annahme der Produktion eines Gutes unter Einsatz von nur einem Produktionsfaktor betrachtet. Das ist ein seltener Ausnahmefall. Die Produktion von Gütern ist meist nur in der Kombination von mehreren Produktionsfaktoren möglich. Bier etwa kann nun einmal nicht allein mit Hopfen, Malz, Wasser und Hefe gebraut werden. Man muß auch Arbeit, Braubottiche und Energie in die Produktion hineinstecken. Die Situation wird dann für den Produzenten und Anbieter erheblich komplexer als zuvor, wo es ja nur die Kostengrenze gab, die zu beachten war. Jetzt existiert eine große Zahl an unterschiedlichen Möglichkeiten der Produktion, von denen aber nur eine tatsächlich im Produktionsprozeß verwirklicht werden kann. Kurz: Der Produzent hat nun ein komplexes Problem der Entscheidung zu lösen, von dem abhängen kann, ob er auf dem Markt etwas verkaufen kann und dann Gewinn erzielen wird oder nicht. Wir wollen im folgenden nur den einfachsten Fall dieser Entscheidung betrachten: Die Entscheidung über den Einsatz unterschiedlicher Mengen v von zwei Produktionsfaktoren – V1 und V2 – zur Erzeugung des einen Gutes X. Das Ertragsgebirge
Die Produktionsfunktion für das Gut X lautet im Fall von zwei Produktionsfaktoren allgemein X = f(V1, V2). Der Verlauf läßt sich, gottlob, gerade noch in einem dreidimensionalen Koordinatensystem veranschaulichen (Abbildung 2.9).
46
Opportunitäten und Restriktionen
Abb. 2.9: Produktionsfunktionen und Ertragsgebirge für die Zweifaktorenproduktion
Die Mengen x des zu erzeugenden Gutes sind auf der senkrecht verlaufenden X-Achse, die verschiedenen möglichen Mengen v1 und v2 des Einsatzes der beiden Produktionsfaktoren auf den waagerecht und rechtwinklig angeordneten Achsen V1 und V2 abgetragen. Der Zusammenhang zwischen Faktoreinsatz und output ist in der dreidimensionalen Darstellung somit als ein „Ertragsgebirge“ erkennbar: Je weiter man sich vom Ursprung wegbewegt, je mehr also von den beiden Produktionsfaktoren eingesetzt wird, um so höher kommt man ein Gebirge hinauf: Das Gebirge des erzeugten Ertrages. Isoquanten
Der Punkt A in dem Diagramm kennzeichnet eine ganz bestimmte Kombination der beiden Produktionsfaktoren und des mit der Produktionsfunktion da-
Angebot und Nachfrage
47
für zu erwartenden Ertrages des Gutes X. Er hat die Koordinaten (v1A, v2A, xA). Der Punkt liegt – wie man sieht – auf einer in der Horizontalen angeordneten, gekrümmten Linie x3, die jeweils immer die gleiche Höhe auf der XAchse hat, aber unterschiedliche Zusammensetzungen des Faktoreinsatzes von V1 und V2 wiedergibt. Es ist diejenige Linie, die für alle verschiedenen Kombinationen des Faktoreinsatzes den gleichen Ertrag anzeigt. Diese Linie wird auch die Isoquante für den Ertrag der Höhe x3 genannt, weil sie die gleiche „Quante“ an Ertrag für verschiedene Faktorkombinationen von V1 und V2 wiedergibt. Leicht läßt sich vorstellen, daß es so viele Isoquanten wie unterschiedliche Ausbringungsmengen gibt. Der Übersichtlichkeit halber sind in das Diagramm nur fünf solcher Isoquanten eingetragen: x1, x2, x3, x4 und x5. Es hat sich eingebürgert, sie – wie die Höhenlinien einer Gebirgskarte – in das Ertragsgebirge jeweils so einzuzeichnen, daß sie gleiche Abstände im Ertrag – gleiche „Quantensprünge“ also – wiedergeben. Die fünf Isoquanten sollen Erträge in der Höhe von x1=10, x2=20, x3=30, x4=40 und x5=50 bezeichnen. Wenn man die Linien des gleichen Ertrages in der Sicht von oben aus dem dreidimensionalen Bild auf ein zweidimensionales Diagramm projiziert, erhält man eine Schar von Linien, die jeweils gleiche output-Mengen für die verschiedenen Kombinationen der Produktionsfaktoren anzeigen (vgl. Abbildung 2.10).
Angebot und Nachfrage
49
den Isohypsen erschließen, wie der Berg jeweils aussieht – und was sie beim Bergsteigen erwartet. Das gleiche gilt auch hier für die Isoquanten und das Ertragsgebirge: Man erkennt die Struktur des Ertragsgebirges, die nichts anderes wiedergibt als die Technologie der Produktionsfunktionen, die die Variablen V1, V2 und X verbindet. Für die beiden Produktionsfaktoren wurde auch in ihrer Kombination die gleiche Technologie angenommen wie für den Einfaktorenfall in Abbildung 3.1 in Kapitel 1 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“: Die Produktion ist mit dem Mehreinsatz der Produktionsfaktoren monoton steigend und sie folgt dem Gesetz des abnehmenden Grenzertrages. Das läßt sich an vier typischen Einzelheiten des Ertragsgebirges sehen. Erstens gilt, wie gesagt, das Gesetz vom abnehmenden Grenzertrag. Diese Annahme ist an den seitlichen Schnitten des Ertragsgebirges in der dreidimensionalen Darstellung in Abbildung 2.9 gut erkennbar. Dort sieht man den Verlauf der Produktionsfunktion jeweils eines Faktors, wenn der andere an einer bestimmten Einsatzmenge konstant bleibt. Dieser Verlauf entspricht exakt dem des Einfaktorenfalles unter dieser Annahme. Das Gesetz vom abnehmenden Grenzertrag wird in Abbildung 2.9 bzw. 2.10 auch an den graphischen Abständen zwischen den Isoquanten erkennbar: Die Abstände der Isoquanten, die ja einen gleichen Ertragszuwachs anzeigen, werden immer größer. Das heißt aber: Für den gleichen Ertragszuwachs muß von beiden Faktoren immer mehr eingesetzt werden, je höher der Ertrag schon ist. Zweitens wird angenommen, daß die Produktion von X ganz ohne Einsatz des jeweils anderen Faktors nicht möglich ist. Deshalb fällt das Ertragsgebirge an den Rändern bis auf „Normalnull“ ab. Wenn nicht von dem jeweils anderen Faktor wenigstens ein wenig eingesetzt wird, dann läßt sich auch bei unendlicher Ausdehnung des betrachteten Faktors nichts an output herstellen. Kurz: Für die Produktion – etwa von Bier oder Steaks – müssen die Faktoren kombiniert werden. Man spricht auch von der Limitationalität der Produktion: Sie stößt ohne den Einsatz anderer Faktoren auf gewisse technisch bedingte Grenzen. Drittens wird unterstellt, daß eine Kombination der Faktoren jeweils produktiver ist als ein „einseitiger“ Einsatz. Deshalb biegen sich die Kurven konvex mit ihrer „Spitze“ nach innen zum Ursprung. Diese Konvexität der Isoquantenschar bedeutet ja nichts anderes, als daß bei einer eher „symmetrischen“ Faktorkombination für den gleichen output weniger an Faktoreinsatz beider Faktoren nötig ist, als bei einer eher „einseitigen“ Faktorkombination. Kurz: Die „Mischung“ der Faktoren wird von der Technologie der Produktionsfunktionen her honoriert. Und schließlich ist viertens die Produktivität der beiden Faktoren exakt symmetrisch: Keiner der Faktoren hat ein technologisches Übergewicht an Effizienz gegenüber dem anderen. Deshalb spiegeln sich die Konturen des Ertragsgebirges genau an der 45o-Achse des Diagramms.
Es handelt sich bei der beschriebenen Produktionsfunktion um eine Variante eines formal besonders handlichen Typs einer Produktionsfunktion, der – nach den amerikanischen Ökonomen Cobb und Douglas so benannten – Cobb-Douglas-Funktion. Sie lautet für den Fall der Produktion eines Gutes X durch zwei Faktoren V1 und V2 allgemein x=A⋅v1α⋅v2β. In der Formel sind A eine Konstante, und α und β die Gewichte des Beitrags des jeweiligen Produktionsfaktors V1 bzw. V2. Die Gewichte sind jeweils größer 0 und kleiner 1,
50
Opportunitäten und Restriktionen
und in der Summe sind sie gleich 1. Für eine symmetrische Produktionsfunktion vom Cobb-Douglas-Typ mit zwei Produktionsfaktoren gilt dann also: x=A⋅v10.5⋅v20.5. Das sind natürlich alles Annahmen, die auch ganz anders sein können. Letztlich ist die Gestalt des Ertragsgebirges selbstverständlich eine Sache der Wirklichkeit – und nicht eine der eleganten Fiktion oder einer einfachen mathematischen Formel. Die Darstellung des Prinzips eines Ertragsgebirges – und das Zeichnen der Diagramme, sowie das Rechnen für den Mathematiker – wird durch die gemachten Annahmen einer Cobb-Douglas-Funktion der beschriebenen Gestalt aber etwas einfacher. Und wir wollen ja hier auch nur das Prinzip der Sache verstehen lernen. Änderungen in den Annahmen würden Änderungen in der Technologie der Produktion widerspiegeln und durch andere Konturen abzubilden sein. Der Grenzertrag könnte etwa zuerst vielleicht sogar zunehmen, wie bei den economies of scale der Massenproduktion. Die Produktionsfunktion könnte konkav sein, weil die Produktivität mit der „Mischung“ der Faktoren sinkt. Sie könnte auch Ecken haben, was anzeigen würde, daß die Produktionsfaktoren nur in bestimmten festgelegten komplementären Mischungen produktiv sind – wie ein rechter und ein linker Schuh für das Produkt „Paar Schuhe“. Auch könnte durchaus schon der Einsatz eines Faktors alleine für einen gewissen Ertrag sorgen. Natürlich kann die Produktionsfunktion auch asymmetrisch sein. Eine weitere Änderung ist besonders wichtig: Es können ganze Bereiche des Diagramms „leer“ sein, weil nur in bestimmten, nach außen abgegrenzten Sektoren der Faktorkombination ein Ertrag möglich ist. Das wäre ein Spezialfall der oben bereits erwähnten Limitationalität. Zur Übung sollten Sie sich einmal diese möglichen Änderungen aufzeichnen – und sich einige Beispiele aus der „Produktion“ sozialer „Güter“ ausdenken – wie etwa eine Freundschaft, erzeugt aus der „Kombination“ von Freunden mit unterschiedlichen Eigenschaften. Solche Änderungen sind nicht nur immer möglich, sie werden vielmehr von der „Natur“ bestimmter Güter geradezu auferlegt (vgl. dazu noch Abschnitt 3.3 unten in diesem Band).
Wir gehen einstweilen davon aus, daß die beschriebene Cobb-DouglasStruktur tatsächlich die Produktionsfunktion des Gutes X richtig beschreibt. Nun stellt sich „nur“ noch die eine Frage: Welche bestimmte Kombination der Faktoren aus den vielen möglichen soll es denn füglicherweise sein? Die Isokostengerade
Die Antwort beginnt wieder mit der Untersuchung der Restriktionen, denen der Produzent unterliegt. Diese liegen – wie wir oben gesehen haben – in den Kosten der Produktion. Die Kosten C ergeben sich aber aus den Mengen v1 bzw. v2 der für eine bestimmte output-Menge einzusetzenden Produktionsfaktoren V1 und V2, multipliziert mit den jeweiligen Faktorpreisen q1 bzw. q2. Allgemein also:
Angebot und Nachfrage
51
C = q1v1 + q2v2. Wir wollen nun annehmen, daß dem Produzenten ein bestimmter Betrag zum Einsatz der beiden Produktionsfaktoren zur Verfügung stünde. Dieser ergibt sich natürlich aus dem erwarteten Erlös für den Verkauf des Produktes X, denn erst mit diesem „Einkommen“ kann sich der Produzent die Produktionsfaktoren auf einem Markt besorgen. Für diesen Betrag, nennen wir ihn C’, könnte er sich ganz verschiedene Kombinationen der Produktion zusammenstellen. So soll zum Beispiel von V1 nichts (v1=0) eingesetzt werden, dafür aber die mit dem Betrag C’ maximal einsetzbare Menge von V2. Die Maximalmenge v*2 für den Faktor V2 ergibt sich für diesen Fall aus einer einfachen Umstellung der Kostenfunktion: Aus C’=q2v*2 folgt v*2=C’/q2. Auf eine ähnliche Weise ergibt sich für den Faktor V1 die mit C’ maximal einsetzbare Menge von V1 mit v*1 = C’/q1. Es gilt also für die maximal möglichen Mengen des mit einem bestimmten Budget bestreitbaren Einsatzes der Produktionsfaktoren V1 und V2: v*1=C’/q1 v*2=C’/q2 Der aufmerksame Leser wird längst die Analogie zum Problem der Ausgabe eines Einkommens für zwei Konsumgüter aus Kapitel 1 oben in diesem Band bemerkt haben: Die Kosten C’ des Produzenten für den Einsatz der Produktionsfaktoren V1 und V2 entsprechen den Ausgaben, die ein Konsument auf die verschiedenen Güterkombinationen verteilen kann, wenn er sein Einkommen vollständig ausgibt (vgl. Tabelle 1.1 und Abbildung 1.1 in Kapitel 1 oben in diesem Band). Die Werte v*1 und v*2 sind entsprechend wieder die Endpunkte einer Geraden, die den Möglichkeitsraum des Handelns, jetzt den der Produktion, festlegen. Es ist der Bereich der mit dem Betrag C’ überhaupt möglichen Kombinationen der beiden Produktionsfaktoren für die Erzeugung des Gutes X. Die Gerade, die diesen Möglichkeitsraum abgrenzt, ist die sog. Isokostengerade. Sie entspricht und berechnet sich ganz analog der Budgetgeraden beim Konsum von Gütern, jetzt lediglich mit den Faktormengen v und den Faktorpreisen q für die Produktionsfaktoren und mit dem einsetzbaren Kostenbudget C’ als Begrenzung: v1 = C’/q1 - (q2/q1)v2 v2 = C’/q2 - (q1/q2)v1.
52
Opportunitäten und Restriktionen
Alle weiteren Überlegungen aus Kapitel 1 oben in diesem Band über den Möglichkeitsraum und über die Folgen einer Änderung der Budgetrestriktionen lassen sich auf die Änderung der Isokostengeraden ebenfalls übertragen: Wenn ein Faktor billiger wird, läßt sich – bei konstanten Erlösen, aus denen die Kosten bestritten werden können – mehr davon einsetzen, und die Produktion kann ausgeweitet werden. Und wenn die Erlöse größer werden, aus dem die Kosten bezahlt werden können, dann wird ebenfalls ein Mehreinsatz bei konstanten Kosten für die Faktoren möglich. Es gelten auch alle Bedingungen für einen vielleicht „irrationalen“ Produzenten: Wenn der sich nicht um die Kosten der Produktion kümmert, dann sorgt wieder die Weissagung der Deutschen Bank mit allem Nachdruck dafür, daß er auf den Boden der Tatsachen geholt wird – oder ganz einfach von der Bildfläche als Produzent verschwindet. Auch der Investor Schneider mußte irgendwann einmal aufgeben und untertauchen. Die Folgen für das Angebot sind ebenfalls analog: Nur wenn sich die Isokostengrenze, die „Budgetrestriktion“ des Produzenten also, nach außen verschiebt – etwa durch eine proportionale Senkung der Faktorpreise insgesamt, durch eine Verbesserung der Technologie oder durch Mehreinnahmen aus dem Verkauf des Gutes X als Folge einer Erhöhung des Verkaufspreises – können die Produktion und somit das Angebot auf dem Markt ausgeweitet werden. Die Optimierung der Produktion
Anders als die meisten Konsumenten müssen manche – wenngleich sicher auch nicht alle – Produzenten sehr darauf achten, daß sie möglichst günstige Entscheidungen treffen. Die Konkurrenz schläft nicht, und das Gesetz des abnehmenden Grenzertrages ist hart und unerbittlich. Das alles läßt nicht viel Raum für spleens und bounded rationality. Wie aber kann ein Produzent, wenn er es denn möchte oder müßte, exakt die Kombination finden, bei der der Ertrag bei einem vorgegebenen Kostenbudget – und somit der Gewinn aus dem Erlös nach dem Verkauf des Gutes – am höchsten ist? Die Antwort ist mit Hilfe der graphischen Darstellung leicht zu geben. Dazu muß man in die Isoquantendarstellung des Ertragsgebirges der Abbildung 2.10 die Isokostengerade für ein gegebenes Budget C’ einzeichnen (vgl. Abbildung 2.11). Wir wissen aber schon, daß eine Produktion für das gegebene Budget C’ nur innerhalb des Möglichkeitsraumes der beiden Eckpunkte v1* und v2* erfolgen kann. Da das gesamte Budget ausgegeben werden soll, wird der gesuchte
54
Opportunitäten und Restriktionen
trages Ressourcen geschont, die Preise für die Nachfrager könnten gesenkt werden, und – auch das sei nicht verschwiegen – der Produzent könnte einen Gewinn erzielen, wenn die Kosten nicht ganz den Erlös aus dem Verkauf des Gutes aufzehren. Alles das gäbe es weniger oder nicht, wenn eine andere, eine ungünstigere, weniger „rationale“, Faktorkombination gewählt würde. Das wäre fast schon eine Sünde, nicht nur gegen die ökonomische Vernunft. Die Minimalkostenkombination
Bisher hatten wir die Optimierung der Produktion mit Blick auf die Maximierung des Ertrages bei einem gegebenen Kostenbudget betrachtet. Die Frage kann sich für einen Produzenten aber auch noch anders stellen. Wir wollen annehmen, daß der Produzent nur eine ganz bestimmte Menge x2 eines Gutes herstellen und anbieten möchte. Das könnte er mit sehr unterschiedlichen Kostenbudgets versuchen. In Abbildung 2.12 haben wir die Isoquante für die angestrebte output-Menge x2 und die Isokostengeraden für drei alternative Kostenbudgets – C1, C2 und C3 – eingezeichnet.
56
Opportunitäten und Restriktionen
frager dafür zu zahlen bereit sind. Wir wollen annehmen, daß es ein Erlös ist, der im Grunde auch höhere Produktionskosten auffangen könnte – sagen wir in Höhe der Isokostengeraden C3. Also: C3=R in Abbildung 2.12. Die Isokostengerade für C3 wäre dann – sozusagen – eine Erlösgerade. Unmittelbar wird nun erkennbar, warum ein Produzent ein Motiv hat, die Minimalkostenkombination zu finden: Durch die Minimierung der Kosten wird der Abstand der Isokostengeraden zur Erlösgeraden R maximiert. Und so wird über die Minimierung der Kosten der Gewinn des Unternehmers in Bezug auf einen gegebenen Erlös und eine gegebene Produktionstechnologie maximiert. Technischer Fortschritt
Nichts läge für einen an Gewinn interessierten Anbieter daher näher, als den Abstand zwischen Kosten und Erlös zu erhöhen. Zwei Dinge kann er nicht weiter beeinflussen: die Faktorpreise, die die Kosten bestimmen, und den Marktpreis des Gutes, an dem der Erlös hängt. Aber er könnte eine andere Größe zu beeinflussen versuchen: die Technologie der Produktionsfunktionen. Der Einfachheit halber wollen wir annehmen, daß die Effizienz beider Faktoren genau gleich zunimmt, wenn sie sich verbessert. Die Folge für das Ertragsgebirge ist klar: Die Isoquante für eine bestimmte Menge rückt mit der Verbesserung der Effizienz der Produktion näher an den Ursprung des Diagramms (vgl. Abbildung 2.13).
58
Opportunitäten und Restriktionen
dann wiederum den Erlös und so schließlich auch den Gewinn wieder absinken läßt, worauf unser Unternehmer erneut rationalisiert, seine Kosten senkt ... und so weiter, bis alle Anbieter des Faktors Arbeit durch die Rationalisierung arbeitslos geworden sind und als Nachfrager nicht mehr so recht in Frage kommen. Gleichwohl bleibt ganz unbestritten: Es ist der technische Fortschritt allein, die Verbesserung der Effizienz der Produktionsfunktion, die letztlich dazu führen, daß Ressourcen gespart werden können – bei gleichbleibendem Produktionsniveau. Alles andere ist eine Frage der Transaktion und der Verteilung des Ertrages und damit auch eine von Macht, Herrschaft und sozialer Ungleichheit. Aber vor jeder Transaktion muß erst einmal etwas zu verteilen da sein. Noch einmal: Die Marginalanbieter
Nicht immer muß ein Produzent die Minimalkostenkombination ganz genau treffen, um am Markt überleben zu können. Wenn die Differenz zwischen Erlös und Produktionskosten groß genug ist, kommt es auf die Höhe des Gewinns so sehr nicht an. Wenn der Gewinn stimmt, dann kann man sich um anderes kümmern als um das kleinliche Suchen nach der Minimalkostenkombination: das Image des Betriebes, die Farbe der Kacheln auf den Toiletten der Kantine oder die eigene Yacht im Mittelmeer. Das ist ganz anders bei den Unternehmern, die am Rande der Gewinnzone produzieren – etwa weil sie schlechtere Technologien haben oder weil in ihrem Markt die Erlöse gesunken sind. Bei einer schlechteren Technologie rückt die angezielte Isoquante weiter nach rechts oben – und droht vielleicht die Erlösgerade zu überschreiten, die ja die äußerste Grenze für die Produktion bildet. Und eine Senkung der Erlöse drückt die Erlösgerade nach links unten – eventuell sogar unter die Minimalkostengerade für die Produktion der gewünschten Menge. Und jedesmal muß die Produktion zurückgefahren, eventuell sogar ganz aufgegeben werden. Anbieter, für die sich die minimale Isokostengerade gerade mit der Erlösgeraden deckt, sind die oben bereits erwähnten Marginalanbieter. Bei jedem kleineren Fehltritt im Finden der Minimalkostenkombination bzw. der optimalen Faktorkombination und bei jeder noch so kleinen Verschlechterung der Preis- oder Produktionsbedingungen fegt es sie vom Markt. Die Marginalanbieter müssen daher – auch das haben wir schon gesehen – ganz besonders penible Faktorenkombinierer, Kostenminimierer und Gewinnmaximierer sein. Für den Zweifaktorenfall heißt das: Ihnen bleibt nur die Wahl einer äußerst
Angebot und Nachfrage
59
„rationalen“ Suche nach der Minimalkostenkombination – oder der Weg zum Konkursgericht. Manchmal helfen dem Marginalanbieter überraschende Erweiterungen des Möglichkeitsraumes aus dem Zwang zur Maximierung: Die Preise des angebotenen Gutes steigen, die Faktorpreise sinken, die Technologie der Produktion verbessert sich – oder der Staat zahlt Subventionen. So können sie überleben, weil nun der Abstand zwischen Erlös und Kosten etwas Spielraum für Laxheiten gibt. Aber darauf können sie sich nicht verlassen. Manchmal funkt zum Beispiel das Bundesverfassungsgericht dazwischen und streicht den Kohlepfennig. Dann ist das Geschrei groß, weil die Spanne zwischen Erlös und Kosten endgültig zu klein geworden ist. Und bei „negativem“ Gewinn hilft auf die Dauer auch das rationalste Optimieren nichts mehr.
Wir waren in diesem Abschnitt auf der Suche nach den Mechanismen, die für das Gesetz des Angebotes bzw. für den positiven Zusammenhang von Preis und Menge beim Angebot sorgen. Nun wird dieser Zusammenhang ganz deutlich: Die Angebotsmenge sinkt mit dem Preis des Gutes auch deshalb zwingend, weil bei den mit einer Preissenkung verbundenen Erlösminderungen die jeweiligen Marginalanbieter mit einem Spielraum von null plötzlich nicht mehr mithalten können – und ihr Angebot somit auf dem Markt fehlt. Sobald der Preis und die Aussicht auf Erlös aber wieder steigen, sind sie – oder andere – bald aber wieder mit dabei. Neue Möglichkeiten locken immer einige mutige Existenzgründer wieder auf den Markt, die der Aussicht auf die schnelle Mark nicht wiederstehen können. Dieses beständige Ausscheiden und Wiedereinsteigen von Marginalanbietern sorgt insbesondere dafür, daß das Gesetz des Angebotes – wie schon das der Nachfrage – seine eherne Geltung hat, auch ohne daß man davon ausgehen muß, daß die Produzenten – wie die Konsumenten – irgendwie besonders „rationale“ Menschen wären, die fortwährend nichts anderes wollen, als ihre Gewinne zu maximieren und – mühselig – genau den Tangentialpunkt der Isokostengerade mit der höchstmöglichen Isoquante zu suchen. Kurz: Für die Geltung der Gesetze des Angebotes und der Nachfrage muß man nur etwas über die objektiven Möglichkeiten der Produktion bzw. der Konsumtion wissen: Technologien, Kosten, Preise und Einkommen. Alles andere erledigt die Weissagung der Deutschen Bank: Wenn die Preise steigen, muß weniger nachgefragt und kann mehr angeboten werden, wenn sie sinken, muß weniger angeboten und kann mehr nachgefragt werden. Und deshalb sind die Angebotsfunktion positiv und die Nachfragefunktion negativ geneigt – ganz egal, was sich die Menschen bei ihrem Handeln denken oder welche Präferenzen sie im einzelnen haben. Die Gesetze der Knappheiten und des Marktes funktionieren ganz unabhängig von den Präferenzen der Menschen, ihrer „Rationalität“ und den normativen Orientierungen, die sie ihrem Handeln geben.
Kapitel 3
Die Produktion des Nutzens
Die Produktionstheorie erklärt das Verhalten von Unternehmern, die unter Einsatz von Produktionsfaktoren bestimmte Güter erzeugen und dann auf einem Markt verkaufen. Das Handeln allgemein ist, wie wir in Kapitel 3 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ festgehalten haben, ebenfalls eine Produktion – die Produktion von Nutzen. Das aber heißt: Die Produktionstheorie läßt sich ganz allgemein zur Erklärung des Handelns als Nutzenproduktion verwenden. Auch für die Erzeugung von Nutzen gibt es danach eine Produktionsfunktion. Sie gibt an, welche Kombination von Handlungen bzw. welche Kombination des Einsatzes von (primären und sekundären) Zwischengütern welchen Ertrag von Nutzen stiftet. Es ist eine „Nutzen“-Produktionsfunktion. Sie wird allgemein auch als Nutzenfunktion bezeichnet (vgl. dazu auch Kapitel 8 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
3.1
Konsum als Produktion
Die Idee, daß das ganz normale Alltagshandeln letztlich nichts anderes als eine „Produktion“ von Nutzen darstellt, stammt von Gary S. Becker. Er hat sie in seiner „New Theory of Consumer Behavior“ vorgeschlagen.1 Der Ausgangspunkt der Überlegungen ist die traditionelle Theorie des Konsumentenverhaltens. Diese nimmt an, daß die Konsumenten ihren jeweiligen Nutzen durch den bloßen Konsum von Gütern maximieren. Dieser Nutzen ist danach
1
Vgl. Robert T. Michael und Gary S. Becker, On the New Theory of Consumer Behavior, in: Gary S. Becker, The Economic Approach to Human Behavior, Chicago und London 1976, S. 131-149; Gary S. Becker, Eine Theorie der Allokation der Zeit, in: Gary S. Becker, Der ökonomische Ansatz zur Erklärung menschlichen Verhaltens, Tübingen 1982b, S. 97-130.
Die Produktion des Nutzens
61
eine Funktion der konsumierten Menge xi von Gütern. Allgemein gilt für n Güter also: U = u(x1, x2, ... , xi, ... , xn). Dabei gibt es – wie wir aus Kapitel 1 dieses Bandes schon wissen – die folgende Budgetrestriktion für das Einkommen I, für die Preise pi und für die Mengen xi der Güter Xi: I = Σpixi. Soweit gibt es also noch keinen Unterschied zur üblichen Konsumtheorie: Die Akteure kaufen auf dem Markt die Güterkombination, die sie mit ihrem Einkommen zu den gegebenen Preisen erwerben können und die ihnen den größten Nutzen bringt. Nun kommt aber die wichtige Überlegung: Für das Verhalten der Konsumenten sind nicht die Marktgüter unmittelbar wichtig. Sondern diese sind ihrerseits nur „Produktionsfaktoren“ für die Erzeugung des Nutzens. Eigentlich interessieren nämlich die Menschen nicht die Marktgüter, sondern nur ganz spezielle, meist auf dem Markt gar nicht erwerbbare Produkte, die sie selbst mit Hilfe der Marktgüter, aber auch anderer „indirekter“ Güter, und – vor allem – über den Einsatz von Zeit herstellen müssen. Erst diese speziellen Güter sind das, was den Nutzen bei den Akteuren produziert. Gary S. Becker nennt diese Güter commodities und kürzt sie mit dem Buchstaben Z ab. Wir haben die commodities schon in Kapitel 3 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ im Zusammenhang mit den sozialen Produktionsfunktionen kennengelernt: Es sind die primären Zwischengüter, die die Bedürfnisse der Menschen unmittelbar bedienen. Die Erzeugung des Nutzens folgt somit einer Funktion des Einsatzes bestimmter Mengen zi solcher commodities Zi: U = u(z1, z2, ... , zi, ... , zm). Die commodities Zi werden nun ihrerseits „produziert“. Und zwar unter Einsatz gewisser Mengen von Marktgütern xi und einem bestimmten Einsatz von Zeit Ti. Der Konsum der Marktgüter ist also nur ein Teil der Produktion des Nutzens über die Herstellung der commodities. Gary S. Becker nennt noch einen dritten Faktor der Nutzenproduktion über die Erzeugung der commodities: die Bedingungen aus der Umwelt E. Mit diesen Umweltbedingungen meint Gary S. Becker die materiellen, insbesondere die technischen Bedingungen Em der Produktion der commodities. Wir wollen hier ausdrücklich
62
Opportunitäten und Restriktionen
auch die sozialen Bedingungen Es und die kulturellen Umstände Ec der Erzeugung von physischem Wohlbefinden und sozialer Wertschätzung einfügen – die besonderen gesellschaftlichen und „konstitutionellen“ Festlegungen und „Definitionen“ des Wertes von kulturellen Zielen und der Geltung von institutionalisierten Mitteln also. Insgesamt ergibt sich damit als Funktion für die Produktion der commodities bzw. der primären Zwischengüter allgemein und abstrakt: Zi = zi(xi; Ti; Em,Es,Ec). Diese Sichtweise legt eine ganz neue Perspektive unter anderem für die Bewertung des Alltagshandelns nahe: Handeln oder der Erwerb von Gütern dient nicht dem Konsum, sondern ist eine Form der Produktion, der Produktion von Nutzen über die vorherige Erzeugung von commodities als Zwischengüter, die zwischen der Nutzenerzeugung im Organismus und der gesellschaftlichen Welt und den Märkten vermitteln. Ein einfaches Beispiel mag verdeutlichen, was gemeint ist. Es sei angenommen, daß für einen bestimmten Akteur sein physisches Wohlbefinden unmittelbar von der regelmäßigen Zufuhr von Rindfleischsuppe einer speziellen Zubereitung abhängig ist. Rindfleischsuppe wird also nicht einfach „konsumiert“, sondern dient der Produktion von Nutzen über die Erzeugung von physischem Wohlbefinden beim Akteur. Die spezielle Rindfleischsuppe ist ihm ein commodity bzw. ein primäres Zwischengut von hohem Interesse. Es kann auf dem Markt nicht gekauft, sondern muß erst noch selbst produziert werden. Dazu werden einerseits Marktgüter – Rindfleisch, Suppengrün, Gewürze, Heizenergie – benötigt, sowie andererseits Zeit zur Zubereitung der Suppe in der Küche und – man vergesse auch das nicht! – beim geselligen Genuß der Suppe zu Tisch: Zufriedene Mienen danken es Ihnen! Mit einem Orden, einem Weltrekord oder lieben Kindern ist es ganz ähnlich wie mit der Rindfleischsuppe: Das ist es, was die Menschen letztlich wollen. Aber es gibt diese Dinge nicht ohne Einsatz von Zeit und Mühen und vielen Vor- und Zwischenprodukten und vor allem nicht: zu kaufen.
Für die Produktion des Nutzens kommt es also auch darauf an, die nötigen Produktionsfaktoren miteinander zu kombinieren. Und wenn möglich oder nötig, müßte auch nun genau jene Kombination der commodities und deren Produktionsfaktoren gefunden werden, bei der der Ertrag an Nutzen möglichst maximal wird. Der Preis der Zeit Bei der Erzeugung der commodities gibt es ein lange übersehenes Problem: die Zeit. Der Akteur steht nämlich vor einem Dilemma: Soll er seine Zeit verwenden, um möglichst viel Einkommen für den Kauf der Marktgüter x zu erzielen, oder soll er mehr davon für die Erzeugung der commodities und de-
Die Produktion des Nutzens
63
ren Konsum belassen? Herr, gib mir Reichtum und die Zeit ihn zu genießen, lautet ein spanisches Sprichwort. Daß die Zeit so wichtig wird, liegt insbesondere daran, daß sie – anders als viele materielle Beschränkungen – grundsätzlich nicht vermehrbar ist. Der Tag hat nur 24 Stunden. Aber es liegt auch an einem ganz speziellen Sachverhalt: Die Produktion der commodities erfordert meist einen ganz besonders hohen Einsatz an Zeit. Und gerade die primären Zwischengüter, die die Menschen am meisten interessieren, sind oft nur unter einem sehr hohen Zeitaufwand herzustellen: Die Entstehung von Vertrautheit und der gelassene Genuß des Lebens, etwa, kosten Zeit, viel Zeit sogar. Und wer sie nicht aufbringt, erlangt diese Güter nicht. Beispielsweise: Ein Theaterbesuch oder eine sog. Beziehung kosten Zeit und sind als InstantProdukt nicht nur kaum zu haben, sondern auch wenig nutzenproduktiv. Ein Haushalt „konsumiert“ nicht nur die Güter, die auf dem Markt erworben werden, sondern produziert die eigentlich interessierenden primären Zwischengüter, wie eine wohnliche Umgebung und emotionale Geborgenheit, nur dann, wenn sich beide Partner dafür auch die Zeit nehmen. Nicht zuletzt gehören Kinder als für viele Eltern außerordentlich „primäres“ Zwischengut zu den „Erzeugnissen“, die nur dann Wertschätzung und Wohlbefinden erzeugen, wenn man sich sehr viel um sie kümmert. Ein Gameboy oder die teuren Klamotten helfen hier in keiner Weise. Und ein wissenschaftlich hoch stehendes Produkt, wie ein Lehrbuch der Soziologie, ist auch nur unter Einsatz von sehr viel, scheinbar vertaner Zeit – des Lesens, des Nachdenkens, des Gliederns und des Gehens von Neben- und Irrwegen – zu erwarten.
Kurz: In die Nutzenproduktionsfunktionen gehört notwendigerweise, wenn auch nicht für alle Produkte im gleichen Maße, auch die Zeit als Produktionsfaktor. Wichtig ist nun, daß die Zeit, die für die Produktion der commodities aufgewandt wird, nicht gleichzeitig für andere Aktivitäten verwandt werden kann. Insbesondere nicht: für die Erzielung von Geldeinkommen, mit dem man sich wieder mehr Marktgüter kaufen könnte: Fertigsuppen zum Beispiel oder teure Tennisschläger. Die Grundphilosophie dieser Erklärung ist für die Soziologie von höchster Bedeutung: Haushalte und Familien sind danach – anders als die Ökonomie lange angenommen hatte – keine bloßen „Konsumenten“, sondern „Produzenten“. Es sind kleine Betriebe zur Produktion der Mittel zum Leben. Hausfrauen (und heute mehr und mehr: Hausmänner) „verbraten“ also nicht lediglich das vom Gatten/von der Gattin so sauer verdiente Haushaltsgeld, sondern produzieren unter Einsatz von Zeit, Talent und eingekauften Marktgütern alle die Dinge, die das Leben erst lebenswert machen: physisches Wohlbefinden und soziale Anerkennung durch Leibgerichte, wohlgeratene Kinder, schnurrende Kater und nette Abende mit lieben Gästen, die hoffentlich immer früh genug nach Hause gehen, damit auch für andere commodities des Lebens noch etwas Zeit und Ausdauer bleibt.
64
Opportunitäten und Restriktionen
Der Kern der – auch so genannten – „neuen“ Konsumtheorie von Gary S. Becker ist, wie so oft bei genialen Entdeckungen, ein eigentlich ganz trivialer Sachverhalt: Für die Zeit, die für den Konsum von Gütern verbraucht wird, gibt es immer auch Opportunitätskosten, die sich je nach den relativen Preisen der Alternativen verschieben können. Diese Kosten der Zeit schlagen sich aber nicht offen, sondern nur als sog. Schattenpreise der jeweils konsumierten Güter nieder. Sie erzeugen versteckte Kosten, die bei der Produktion des Nutzens anfallen. Diese versteckten Kosten bestehen aus dem umgerechneten Verlust an Geldeinkommen, das erzielt werden könnte, wenn nicht konsumiert, sondern die gleiche Zeit zur Lohnarbeit verwandt würde. Dieser Verlust ist der Preis der Zeit bei der Produktion der commodities. Und je nachdem wie der sich ändert, verlagern sich auch die Interessen und das Handeln der Menschen auf andere Dinge. Erwerbszeit und Geldeinkommen Die Nutzenproduktion erfolgt – wie der einfache Konsum von Gütern – unter Restriktionen. Die Budgetrestriktion besteht aber – im Unterschied zur „traditionellen“ Konsumtheorie – aus zwei Begrenzungen: aus der Zeitrestriktion T und – wie gewohnt – aus der Restriktion durch das Geldeinkommen I. Das Geldeinkommen I begrenzt die Möglichkeiten des Erwerbs der Marktgüter. Die Marktgüter kosten, wie wir wissen, eben Geld. Das Geldeinkommen entspricht dann zum einen Teil dem Erwerbseinkommen. Es ist der Betrag, der sich aus der auf dem Arbeitsmarkt verbrachten Erwerbszeit Tw multipliziert mit der Lohnrate w ergibt. Also: Tww. Beispielsweise: Bei einer täglichen Arbeitszeit von Tw=8 Stunden und einem Stundenlohn von w=25 DM ergibt dies ein Erwerbseinkommen pro Tag von Tww=200 DM. Zum Erwerbseinkommen tritt jedoch auch noch das sonstige Geldeinkommen V – etwa aus KouponSchneiden, Lottogewinn oder Zahlungen der Großeltern. Also ergibt sich für das gesamte Geldeinkommen: I=V+Tww. Für das Geldeinkommen I können nach Maßgabe der Preise pi dann bestimmte maximale Mengen von Marktgütern xi gekauft werden: (1) ∑pixi = I = V + Tww. Die Gleichung (1) beschreibt somit die Budgetrestriktion für den Erwerb der Marktgüter – ganz analog noch zur „normalen“ Preistheorie, wie wir sie in Kapitel 1 oben in diesem Band kennengelernt haben. Nun kommt die Zeit-
Die Produktion des Nutzens
65
restriktion für die Herstellung der commodities ins Spiel. Die für den Konsum eines primären Zwischengutes Zi – für die eigentliche Nutzenproduktion also – jeweils benötigte Zeit sei mit Tc bezeichnet. Die gesamte Zeit T ist dann trivialerweise nichts anderes als die Summe der Konsumzeit Tc und der bei der Erwerbsarbeit zugebrachten Zeit Tw. Also: (2) T = Tw + Tc. Vierundzwanzig Stunden sind ein Tag! Und nur die Zeit, die nicht bei der Arbeit verbracht wird, steht für den Konsum der Menge zi an commodities zur Verfügung. Der Zeitaufwand für den Konsum der Menge zi des einzelnen Zwischengutes Zi sei mit Ti bezeichnet. Der Zeitaufwand für den Konsum aller commodities in einer bestimmten Periode ist dann die gesamte Konsumzeit Tc. Und die ergibt sich als Differenz der Gesamtzeit T zur Erwerbszeit Tw: (3) ΣTi = Tc = T - Tw. Für die Erzeugung einer bestimmten Menge zi des primären Zwischengutes Zi gibt es damit zwei feste Größen: erstens der für den Konsum einer bestimmten Menge zi von Zi insgesamt erforderliche Zeitaufwand Ti. Er ergibt sich aus der für eine Einheit zi von Zi erforderlichen Zeit ti mal der Menge der Einheiten zi von Zi, die konsumiert werden. Und zweitens: der analoge Aufwand an Marktgütern xi für die Erzeugung einer Einheit eines Zwischengutes Zi. Dieser Aufwand folgt aus der dazu nötigen Menge an Marktgütern bi pro Einheit des Zwischengutes Zi mal der Menge der Einheit zi. Die Unterscheidung von Zi und zi ist vielleicht nicht sofort einsichtig. Daher eine kurze Erläuterung. Wenn ein Abendessen zu zweit das Zwischengut Z1 und ein gemeinsamer Kinobesuch das Zwischengut Z2 wäre, dann bezeichnet z1 die Anzahl solcher Abendessen in einer Zeitperiode, sagen wir in einem Monat, und z2 entsprechend die Anzahl der gemeinsamen Kinobesuche. Der Zeitaufwand für ein Abendessen wäre entsprechend t1, etwa 4 Stunden, und der für einen Kinobesuch t2, etwa 3 Stunden mit allen Drum und Dran. Die erforderlichen Marktgüter b1 wären das, was man vom „Markt“ für ein Abendessen braucht, und b2 natürlich die beiden Kinokarten für einen Kinobesuch.
Das alles läßt sich in zwei Gleichungen zusammenfassen: (4) Ti = tizi xi = bizi.
66
Opportunitäten und Restriktionen
Ti und xi beschreiben damit den insgesamt nötigen Einsatz an Zeit und Marktgütern zur Erzeugung einer Einheit des Zwischengutes Zi. Die Gleichungen sind formale Erläuterungen der einfachen und einsichtigen These, daß für die Erzeugung eines nutzenstiftenden Zwischengutes Zi Marktgüter und Zeit benötigt werden, und daß sowohl die Zeit – wegen der Natur der irdischen Verhältnisse – wie die Kontrolle über die Marktgüter – über das Geldeinkommen und wegen der Weissagung der Deutschen Bank – begrenzt sind. Die penible Aufteilung der Komponenten dieser Grenzen dienen der Vorbereitung des eigentlichen Argumentes. Es lautet: Es gibt im Grunde nur eine grundlegende Restriktion, nämlich das denkbare Gesamteinkommen, daß sich ergäbe, wenn der Akteur seine gesamte Zeit zum Gelderwerb nutzen würde. Dieses mögliche Gesamteinkommen sei mit S bezeichnet. Das Argument ist formal jetzt leicht darstellbar: Über die Lohnrate w läßt sich die Konsumzeit Tc in entgangenes Geldeinkommen „umsetzen“. Wenn nämlich auch die Konsumzeit Tc mit Erwerbsarbeit verbracht würde, dann ergäbe das ein zu V und I zusätzliches Geldeinkommen in Höhe von Tcw. Und so ließe sich das folgende Gesamteinkommen S erzielen: (5) S = I + Tcw Und daraus läßt sich nach Gleichung (1) ableiten: (6) S = V + Tww + Tcw = V + (Tw + Tc)w = V + Tw Das maximal mögliche Erwerbseinkommen ist also Tw: Die 24 Stunden des Tages würden restlos bei der Arbeit verbracht und mit der Lohnrate w entgolten – falls jemand auch den Schlaf und die Freizeit bezahlt. Das tatsächliche Erwerbseinkommen I ergibt sich aus dem Erwerbsbestandteil Tww in dem Gesamtbetrag Tw plus dem restlichen Geldeinkommen V. Die Differenz zum maximal möglichen Einkommen Tw (+V) ist dann das sog. Schatteneinkommen Tcw. Der Betrag Tcw ist ja das Geldeinkommen, das bei der Produktion der commodities mit der dazu nötigen Konsumzeit verloren geht. Es sind die Opportunitätskosten, die mit der – mehr oder weniger zeitaufwendigen – Produktion der commodities entstehen. Nun zeigt sich erst, wie hoch der Gesamtpreis der Produktion des Nutzens über den Konsum eines primären Zwischengutes Zi ist. Bisher war beim Konsum immer nur der einfache Marktpreis für die Marktgüter berücksichtigt worden – und nicht das, was an Geldeinkommen und damit erwerbbaren an-
Die Produktion des Nutzens
67
deren Marktgütern entgeht, wenn die gleiche Zeit, die für die Produktion und den Konsum von Zi draufgeht, nun zum Gelderwerb genutzt würde, und damit der Kauf weiterer Marktgüter möglich wäre. Wie hoch ist aber dieser Gesamtpreis genau? Das Gesamteinkommen S beträgt nach Gleichung (5) S=I+Tcw. Für I läßt sich nach Gleichung (1) nun aber schreiben: I= Σpixi, und nach Gleichung (3) gilt Tc=ΣTi. Daraus ergibt sich: (7) S = Σpixi + ΣTiw. Nach Gleichung (4) können nun für xi der Ausdruck bizi und für Ti der Ausdruck tizi eingesetzt werden. Daraus folgt: (8) S = Σpi(bizi) + Σ(tizi)w = Σ(pibizi + tiziw) = Σ(pibi + tiw)zi. Der Gesamtaufwand für eine Einheit des primären Zwischengutes Zi beträgt also (pibi+tiw). Er sei mit ci abgekürzt. Der Gesamtaufwand ci=(pibi+tiw) für die Erzeugung einer Einheit des primären Zwischengutes Zi spaltet sich damit in zwei Teile. Der Teilausdruck pibi spiegelt den direkten, über den Marktpreis enthaltenen Anteil des Aufwandes, der Teilausdruck tiw den indirekten Anteil wider. Das ist die nicht der Erwerbsarbeit gewidmete, so gesehen: „vertane“, Zeit, die für die „Produktion“ des Nutzens über das Zwischengut benötigt wird, aber ihren Preis in dem dadurch entgangenen Geldeinkommen hat. Es ist der oben bereits erwähnte Schattenpreis, der für den Konsum einer Einheit des primären Zwischengutes Zi indirekt gezahlt werden muß – auch wenn dies der Akteur unmittelbar nicht merkt oder wahrhaben will. Angemerkt sei nur noch, daß der Schatten„preis“, wie man leicht sieht, eigentlich kein Preis ist, sondern, wie gesagt, den Aufwand wiedergibt, der hinter der Konsumzeit an entgangenem Erwerbseinkommen steht. Der Aufwand ci für eine Einheit des Zwischengutes Zi ergibt multipliziert mit der Menge zi des Konsums dann den gesamten Aufwand. S bezeichnet aber die gesamten verfügbaren Ressourcen des Akteurs. Die Budgetrestriktion für den – auch die Begrenzungen und Möglichkeiten der Zeit umfassenden – Möglichkeitsraum für den Konsum der commodities läßt sich dann so zusammenfassen:
68
Opportunitäten und Restriktionen
(9) S = Σcizi. Und genau analog zur „einfachen“ Konsumtheorie führt dies zu einer Budgetgeraden, die sich aus den (Gesamt-)Preisen der Zwischengüter und aus dem (Gesamt-)Einkommen des Akteurs ergibt. Die Änderung der Schattenpreise Zeit ist durchaus also Geld. Sie hat ihren Preis darin, daß sie für andere, eventuell lohnendere, Verwendungen verloren ist. Aber was heißt hier „lohnend“? Letztlich interessieren die Meschen sich ja nur für die commodities bzw. die primären Zwischengüter. Und deren Produktion erfordert Zeit. Auch sehr interessante commodities können ihren Wert verlieren, wenn die Zeitkosten für ihre Produktion zu hoch werden. Aber was dann? Es ist wohl anzunehmen, daß die Menschen – und sei es: noch so grob – darauf achten, ihre Zeit nicht mit vergleichsweise nutzloser werdenden Tätigkeiten zu vertun. Und daß sie neue Möglichkeiten, ihre Zeit lohnend zu verbringen, schließlich auch ergreifen. Kurz: Die Kosten der Nutzenproduktion können sich auch über die Änderung der Schattenpreise für die Zeit verändern. Und allein daraus können sich ganz massive Änderungen im Handeln der Menschen und in den daran anknüpfenden gesellschaftlichen Folgen ergeben. Wenn es sich beispielsweise nicht lohnt, in eine berufliche Ausbildung zu investieren, weil es später keine Aussicht auf Beschäftigung gibt, dann werden finanziell vergleichsweise uninteressante, sehr zeitaufwendige und – deshalb! – intellektuell anregende Aktivitäten attraktiv. Dies erklärt, warum Studenten der Betriebswirtschaft ihr Studium eher beenden als – sagen wir einmal – Philosophen und Philologen, die kein Lehramt anstreben. Es erklärt auch, warum das Interesse an brotlosen Fächern eher ansteigt, wenn die Jobchancen für andere Abschlüsse ebenfalls sinken. Und es erklärt, warum früher sehr viel mehr Frauen als heute ihre Bestimmung in der Familie und im Kinderkriegen sahen. Der Grund ist jedesmal der gleiche: Die Schattenpreise der Zeit sind für Philosophen und Philologen wesentlich geringer als für Betriebswirte. Sie sind geringer, wenn der Arbeitsmarkt ohnehin verfällt. Und sie sind heute für Frauen angesichts der für sie sehr veränderten Chancen auf dem Arbeitsmarkt enorm viel größer als etwa zu Kaiser Wilhelms Zeiten.
Wir wollen die handlungssteuernde Kraft der Schattenpreise der Zeit an dem zuletzt genannten Beispiel etwas näher verdeutlichen. Mit diesem Problem – der Fertilität – hat sich nicht zuletzt Gary S. Becker selbst sehr intensiv befaßt.2 Und das war sicher auch kein Zufall. 2
Gary S. Becker, Eine ökonomische Analyse der Fruchtbarkeit, in: Gary S. Becker, Der ökonomische Ansatz zur Erklärung menschlichen Verhaltens, Tübingen 1982c, S. 187214. Vgl. auch Kapitel 19 der „Soziologie. Allgemeine Grundlagen“.
Die Produktion des Nutzens
69
Zwei Situationen Ausgangspunkt der Überlegungen ist der deutliche Rückgang der Kinderzahlen in den westlichen Industriegesellschaften in den letzten Jahrzehnten bei einer gleichzeitigen Expansion der Erwerbsbeteiligung von Frauen.3 Betrachtet seien zwei Alternativen, in die investiert werden könnte: eine berufliche Karriere und eine Familie mit vielen Kindern. Es soll erklärt werden, warum sich Frauen im Laufe der Zeit mehr und mehr einer Erwerbstätigkeit zuwenden, und warum immer weniger auch eine größere Zahl von Kindern haben wollen. Dazu seien – in etwas vereinfachender und zuspitzender Weise – zwei Situationen verglichen. Die erste Situation beschreibt die Lage der Frauen – sagen wir – zu Beginn dieses Jahrhunderts. Der Aufwand für die Kindererziehung ist vergleichsweise niedrig. Dies hat vor allem mit den niedrigen indirekten Kosten, insbesondere mit den relativ geringen Zeitkosten für die Kindererziehung zu tun. Dies ist insbesondere eine Folge der schlechten Arbeitsmarktchancen für Frauen, die entweder gar nicht oder nur zu geringen Löhnen einer Erwerbstätigkeit nachgehen können. Kurz: Der Wert von tiw für die Produktion des Zwischengutes „Kinder“ in Gleichung (7) ist – relativ! – gering. Gleichzeitig sei angenommen, daß die Eintrittskosten in eine Berufskarriere für Frauen sehr hoch sind: Es ist – noch – ungewöhnlich, daß sie eine Berufskarriere anstreben. Und sie haben mancherlei Widerstand zu durchbrechen, den es für die Männer nicht gibt. Und die Folge: Eine berufliche Karriere ist relativ aufwendig und eine Familie mit vielen Kindern im Vergleich dazu recht preiswert. Und es sei auch nicht vergessen: Eine gut funktionierende Familie mit zahlreichen Kindern und dem (hoffentlich: primären) Zwischengut eines treuen Ehegatten ist unter diesen gesellschaftlichen Bedingungen für die Frauen auch mit einem hohen Ertrag an sozialer Wertschätzung und der Absicherung der Mittel für ihr physisches Wohlbefinden versehen.
Diese Bedingungen lassen sich als eine Budgetgerade modellieren, bei der die – direkten und die indirekten – Preise für das Gut K (Kinder) relativ geringer sind als für das Gut B (Beruf). Die Linie b*1-k*1 in der Abbildung 3.1 ist entsprechend die Linie, die den Möglichkeitsraum der Frauen für die Situation 1 absteckt.
3
Vgl. dazu Bernhard Felderer und Michael Sauga, Bevölkerung und Wirtschaftsentwicklung, Frankfurt/M. und New York 1988, Kapitel 4.
Die Produktion des Nutzens
71
Die Macht der Verhältnisse
Wir wollen davon ausgehen, daß die Menschen – ganz allgemein – immer an einer guten Ausbildung und auch im Prinzip an Kindern interessiert sind. Ansonsten machen sie sich keine besonderen Gedanken. Sie handeln also, so wollen wir in Fortsetzung der Überlegungen über die Wirksamkeit alleine der Restriktionen annehmen, nicht unbedingt „rational“, sondern – sagen wir einmal – auch mehr oder weniger zufallsbedingt oder traditional (vgl. dazu bereits Kapitel 1 und 2 in diesem Band). Diese Annahme spiegele sich darin, daß sich das konkrete Handeln der Menschen um den Mittelpunkt der jeweiligen Budgetgerade (normal-)verteilt. Das ist sicher keine sehr gewagte Vermutung: Die Menschen nehmen durchaus die objektiven Möglichkeiten in ihrer Umgebung wahr. Nicht alle wählen aber auch die gleiche Kombination der möglichen Alternativen. Sie verteilen sich wohl eher zufällig um die „wahrscheinlichste“ aller günstigen Kombinationen. Und das ist – wenn nichts anderes bekannt ist – der Mittelwert der Möglichkeiten, bei denen das Budget ausgeschöpft wird. Leicht ist jetzt zu sehen, was geschieht: Im Durchschnitt wählen die Akteure in der Situation 1 die Kombination (b1/k1). Es ist der Mittelpunkt der Budgetgeraden, die den Möglichkeitsraum für die Situation 1 abgrenzt: Wenig wird in eine Berufskarriere investiert, weil der Aufwand dafür groß – und der Ertrag auch ungewiß und niedrig – ist. Und viel näher liegt der Gedanke an eine Familie mit vielen Kindern: Sie kosten zwar viel Zeit, aber die ist relativ billig zu haben, weil es dafür eigentlich keine wesentlich bessere Verwendung gibt. Nun ändere sich die Lage so, wie für Situation 2 beschrieben. Jetzt wählen die Frauen die Kombination (b2/k2) als den Mittelwert der Budgetgeraden für die Situation 2. Und die Folge: Die Frauen verlagern ihre Investitionen vergleichsweise mehr auf einen Beruf. Und es verringern sich die Aktivitäten und Investitionen, die mit – zahlreichen – Kindern als primäre Zwischengüter zu tun haben. Das heißt keineswegs, daß die Frauen jetzt gar keine Kinder mehr haben wollen oder gar kinderfeindlich geworden wären. Aber es werden nur noch so viele Kinder geplant, daß immer noch Zeit übrig bleibt für eine berufliche Tätigkeit, die jetzt ja so lohnend ist, daß die mit Kindern verbrachte Zeit in der Tat und ganz wörtlich kostbar geworden ist. Der wichtige Punkt ist der, daß die AkteurInnen schon allein durch die Verschiebung der Budgetgeraden zu ihrem Tun gebracht werden. Sie müssen selbst dabei nicht viel überlegen. Und sie müssen auch ihre „Präferenzen“ nicht ändern. Es ist der mächtige Schatten der Zeitkosten, der sie – unmerklich, aber bestimmt – dazu bringt. Der Grund dafür ist an dem Modell leicht
72
Opportunitäten und Restriktionen
zu sehen:4 Die relativ vielen Kinder der Kombination (b1/k1) sind in der Situation 2 und das hohe Ausmaß an beruflichen Investitionen in der Kombination (b2/k2) in der Situation 1 nicht möglich. Auch diejenigen, die von ihren Präferenzen her gerne mehr in einen Beruf investieren möchten, können das in der Situation 1 nicht. Und von denen, die sich bei der deutlich teurer gewordenen Zeit in der Situation 2 dennoch für ein Kind bewußt entscheiden, werden sich vielleicht beim zweiten, dritten oder vierten Kind überlegen, ob denn das alles gewesen sein soll. Der Rückgang der Geburtenraten erfährt so eine sehr einfache und – darum! – auch besonders überzeugende Erklärung. Auf einen Wertewandel, auf die Änderung der Präferenzen der Menschen also, muß man nicht zurückgreifen. Es dürfte sogar eher so sein, daß sich die Werte und die Präferenzen der Menschen ändern, nachdem sie gemerkt haben, wie teuer die alten Orientierungen und Verhaltensweisen für sie geworden sind, nicht zuletzt in den Zeitkosten der Aktivitäten, auf die sich die Werte beziehen. Es ist die unaufdringliche Gewalt der objektiven Verhältnisse und die sanfte, aber nachhaltige Macht der relativen Knappheiten, die die Menschen – oft genug auch gegen ihre subjektiven Präferenzen und gegen (noch) geltende kulturell geteilte Werte – dazu bringen, sich systematisch anders zu verhalten. Und wenn nicht in jedem Einzelfall, so doch wenigstens im Aggregat etwa der Erwerbsquoten von Frauen und der Fertilitätsraten.
3.2
Nutzenmaximierung
Zur Erklärung des Rückgangs der Kinderzahlen haben wir wieder nur die Veränderung der Opportunitäten und der Restriktionen betrachtet. Die Produktionstheorie beschränkt sich in ihrer Erklärung des Handelns von Produzenten aber nicht auf die Restriktionen, auf die „Technik“ der Produktion und auf die Weisheit der Deutschen Bank allein. Sie gibt auch eine Regel für die Selektion der optimalen Faktorenkombination im Möglichkeitsraum des Handelns an: Der Unternehmer maximiert – unter Umständen – den Ertrag des Faktoreneinsatzes, indem er jene Faktorenkombination wählt, bei der der höchste, unter den gegebenen Restriktionen erreichbare Punkt im Ertragsgebirge verwirklicht wird. Der Grund dafür ist im Abschnitt 2.3 oben in diesem Band über das Angebot auf einem Markt deutlich geworden: Unternehmer, die das nicht tun, laufen Gefahr, vom Markt zu verschwinden. 4
Vgl. dazu auch: Gary S. Becker, Irrationales Verhalten und ökonomische Theorie, in: Gary S. Becker, Der ökonomische Ansatz zur Erklärung menschlichen Verhaltens, Tübingen 1982a, S. 171ff.; vgl. dazu auch schon Abschnitt 2.1 in diesem Band.
Die Produktion des Nutzens
73
Produktions- und Nutzentheorie
Was ein Produzent mit dem Ertrag seiner Produktionsfaktoren kann, müßte – wenigstens im Prinzip – aber auch ein Konsument, also: jeder normale Alltagsmensch, bei seinem Handeln können: die maximierende „Optimierung“ der Güterkombinationen für den Konsum bzw. der Zwischengüter oder der Handlungsalternativen für die Nutzenerzeugung. Die Analogie liegt mit dem Konzept der sozialen Produktionsfunktionen aus Kapitel 3 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ auf der Hand: Das „Produkt“, das der Alltagsmensch erzeugt, ist der Nutzen über die Bedienung der beiden allgemeinen Bedürfnisse nach sozialer Wertschätzung und nach physischem Wohlbefinden. Und das tut der Akteur, indem er jene „optimale“ Kombination von (primären und indirekten Zwischen-)Gütern bzw. Handlungen wählt, bei der der Ertrag an Nutzen maximal wird. Kurz: Die Produktionstheorie für das Handeln eines Unternehmers kann auch als Handlungstheorie für das Tun jedes Alltagsmenschen verwendet werden. In dieser Interpretation ist sie dann eine Variante der Nutzentheorie. In Kapitel 7 und 8 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ hatten wir die Nutzentheorie bereits allgemein, insbesondere in ihrer allgemeinsten Fassung als Wert-Erwartungstheorie vorgestellt. Mit der Interpretation des Handelns als Nutzenproduktion wollen wir sie auch als Nutzenproduktionstheorie bezeichnen. In der ökonomischen Konsumtheorie, in der dieses Prinzip für die Nachfrage nach Konsumgütern angewandt wird, heißt die betreffende Theorie auch Konsumtheorie oder Preistheorie (vgl. dazu bereits Kapitel 1 und Abschnitt 2.1 oben in diesem Band). Wenn man so will, ist die Nutzenproduktionstheorie also nichts anderes als die produktionstheoretische Umdeutung der Konsumtheorie, so wie das Gary S. Becker nahegelegt hat: Beim Konsum wird nicht einfach „verfrühstückt“ und „verbraten“, sondern etwas von Interesse „produziert“ – der Nutzen. Man kann es aber auch anders sehen: Die Produktionstheorie ist letztlich auch schon eine Nutzentheorie, denn auch ein Unternehmer will ja nur sein Bestes: einen möglichst hohen Nutzen, etwa über einen möglichst hohen Gewinn. Und den erreicht er, indem er die Produktion optimiert. Wichtig ist nur: Es gibt für die Produktion der Güter und den dadurch erzeugbaren Nutzen gewisse technische Bedingungen. Sie stehen in den (Nutzen-)Produktionsfunktionen und in den Restriktionen und können nicht durch Beschluß oder durch eine bloß subjektive „Definition der Situation“ geändert werden. Man könnte also durchaus die Nutzenproduktionstheorie als den Oberbegriff ansehen und die Produktionstheorie und die Konsumtheorie als Unterfälle davon. In jedem Fall sind es sämtlich Spezialfälle der Wert-Erwartungstheorie (vgl. dazu allgemein Kapitel 7 und 8 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
Die Analogien zwischen der Konsumtheorie und der Produktionstheorie liegen, wenn wir die Einzelheiten der Kapitel 1 und 2 in diesem Band dazu zusammenfassen, unmittelbar auf der Hand. Die Zielgrößen sind der Ertrag bei der Produktionstheorie einerseits und der Nutzen bei der Konsumtheorie bzw. bei der Nutzenproduktionstheorie andererseits. Sie sollen jeweils durch einen möglichst geschickten Einsatz von Ressourcen erzeugt werden. In der Produktionstheo-
74
Opportunitäten und Restriktionen
rie heißen diese Ressourcen Produktionsfaktoren, in der Konsumtheorie bzw. in der Nutzenproduktionstheorie sind es die Konsumgüter, die commodities bzw. die Zwischengüter, sowie das Handeln allgemein als „input“ in die Nutzenproduktion insgesamt. Die Alternativen, die zur Wahl stehen, sind gewisse Kombinationen der Produktionsfaktoren einerseits und solche der Konsumgüter, der commodities bzw. der Zwischengüter und des Handelns andererseits. Die Wahl der optimalen, den Ertrag bzw. den Nutzen maximierenden Kombination geschieht in beiden Fällen unter Restriktionen. Die Restriktionen gibt es in Form der Preise der Ressourcen einerseits und der jeweiligen Budgets der Akteure andererseits. Die Preise sind die Faktorpreise einerseits und die Güter- bzw. die Schattenpreise andererseits. Die Budgets bestehen beim Unternehmer – letztlich – aus dem Erlös, den er aus dem Verkauf der Produkte erzielen kann; und aus dem (Gesamt-)Einkommen des Konsumenten bzw. des Akteurs in der Haushaltsproduktion.
Nicht ganz so unmittelbar ist die Übertragung des Vorgangs der Maximierung, denn darüber hatten wir bei der Konsumtheorie und auch bei der Darstellung des Konzepts der Haushaltsproduktion noch nicht gesprochen. Insbesondere fehlt noch das Äquivalent zum Ertragsgebirge, zu den Isoquanten bzw. den Indifferenzkurven für den Ertrag. Das ist aber auch kein Problem: Wenn der „Ertrag“ bei der Nutzenproduktion der Nutzen ist, dann gibt es statt eines Ertragsgebirges nun ein Nutzengebirge. Und dessen Isohypsen sind die Linien aller jener Kombinationen des Einsatzes von Konsumgütern, commodities bzw. Zwischengütern und des Handelns, bei denen der gleiche Ertrag an Nutzen produziert wird. Den Isoquanten der Produktionstheorie entsprechen die sog. Isonutzenkurven in der Konsumtheorie. Beide stellen Formen von Indifferenzkurven dar: Die Indifferenz eines Unternehmers in Bezug auf einen Produktionsertrag und die Indifferenz eines Akteurs in Bezug auf einen Nutzenertrag.
Wir wollen die beschriebenen Analogien der Konzepte der Produktionstheorie und der Konsumtheorie bzw. der Nutzenproduktionstheorie gegenüberstellen (vgl. Abbildung 3.2).
75
Die Produktion des Nutzens
Konzept
Produktionstheorie
Nutzentheorie
Zielvariable
Ertrag/Gewinn
Nutzen
Ressourcen
Produktionsfaktoren
Konsumgüter/ commodities/ Zwischengüter/ Handeln
Alternativen
Faktorenkombination
Kombination von Konsumgütern/ commodities/ Zwischengütern/ Handeln
Faktorpreise Erlös Produktionsfunktion Ertragsgebirge/ Isoquanten Maximierung
Güter- bzw. Schattenpreise Einkommen/Kapital Nutzenfunktion Nutzengebirge/ Isonutzenkurven Maximierung
Restriktionen Preise Budget Funktion Indifferenzkurven Selektionsregel
Abb. 3.2: Die Konzepte der Produktionstheorie und der Nutzentheorie
In der letzten Zeile steht noch die Regel, nach der die jeweiligen Kombinationen gewählt werden. Auch hier stimmen die Produktionstheorie und die Nutzentheorie überein: Es geht beide Male um die Bestimmung des Optimalpunktes, bei dem die jeweiligen Funktionen unter den gegebenen Restriktionen maximiert werden – der Ertrag bzw. der Gewinn hier, der Nutzen dort. Das Konsumentenoptimum
Das Finden dieses maximierenden Optimalpunktes ist die Lösung des jeweils gleichen Problems: Bei welcher Kombination der (Handlungs-)Alternativen wird unter den gegebenen Restriktionen die jeweils „höchste“ Indifferenzkurve erreicht – die höchste Isoquante hier, die höchste Isonutzenkurve dort? Wir haben in das Diagramm des Möglichkeitsraumes von Robinson aus Kapitel 1 in diesem Band und seiner Wahl zwischen Bier und Steaks drei Indifferenz-
Die Produktion des Nutzens
77
Kombinationen wären entweder unmöglich oder würden einen möglichen Nutzen nutzlos verschenken. Die Bestimmung der Nutzenfunktion
Wir wollen uns die Zusammenhänge am Beispiel unseres Robinson noch etwas genauer ansehen. Bisher waren ja immer nur die Restriktionen seiner Wahl betrachtet worden: das Budget von Robinson mit 120 DM und die Preise – 10 DM für eine Maß Bier und 20 DM für ein Steak (vgl. die Übersicht in Tabelle 1.1, sowie die Abbildung 1.1 oben in diesem Band). Daraus ergaben sich die Budgetgerade und der Möglichkeitsraum. Nun ist mit den Indifferenzkurven auch seine Präferenzstruktur hinzugekommen. Wie aber kommt man an die Indifferenzkurven, deren Verlauf ja so offenkundig bestimmt, welcher Punkt auf der Budgetgeraden das Optimum bildet? Die Überlegung ist nicht schwer: Die Indifferenzkurven des Nutzengebirges geben die Isonutzenkurven für die Nutzenproduktion wieder. Und so wie man bei der Produktion von Gütern zur Wiedergabe der „Technologie“ der Produktion eine bestimmte Produktionsfunktion eingesetzt hat, muß man nun eine Funktion für die „Technologie“ der Nutzenproduktion annehmen. Das sind die Präferenzen, die Robinson jeweils hat: Wie fühlt er sich nach dem Konsum von 1,2,3 ... Maß Bier in Kombination mit 1,2,3 ... Steaks? Wir machen uns die Sache wieder möglichst einfach und nehmen zur Beschreibung der Nutzen-„Technologie“, der Präferenzenstruktur also, die in Abschnitt 2.3 oben in diesem Band als Produktionsfunktion bereits erwähnte Funktion und wenden sie auf die Produktion von Nutzen mit Hilfe von Bier und Steaks an: die Cobb-Douglas-Funktion. Die Cobb-Douglas-Funktion setzt, wie wir in Abschnitt 2.3 oben schon gesehen haben, den Ertrag x einer Produktion mit den eingesetzten Mengen v an Produktionsfaktoren über die Multiplikation dieser Mengen in Beziehung, im Exponenten jeweils mit ihrer Produktivität gewichtet. Sie lautet für den Zwei-Faktoren-Fall: x=Av1αv2β, wobei sich die Gewichte α und β jeweils zu 1 aufaddieren. Als „Ertrag“ wird hier nun lediglich der Nutzen U für den Akteur angesehen, den er erreicht, wenn er bestimmte Mengen x an Konsumgütern „einsetzt“. Ansonsten bleibt alles gleich wie in der Produktionstheorie.
Wiederum der Einfachheit halber nehmen wir an, daß Robinson sich in gleicher Weise für Steaks und Bier interessiert. Deshalb sind die Koeffizienten α und β auch gleich und betragen, weil es nur um zwei Güter geht und weil sich die Koeffizienten zu 1 aufaddieren, jeweils 0.50. Die allgemeine Nutzenfunktion U = f(x) erhielte damit – für die beiden Güter Xb und Xs und bei einer
78
Opportunitäten und Restriktionen
Konstanten von A=1 – über ihre Formulierung als Cobb-Douglas-Funktion eine schon viel konkretere und einfachere Gestalt: u = xb0.50xs0.50. Nun kann man für jede beliebige Güterkombination das Ausmaß der Nutzenproduktion berechnen. Nehmen wir dazu einmal die Kombination von 10 Maß Bier und einem Steak. Das ist die Güterkombination 1 unten rechts auf der Budgetgeraden in Abbildung 3.3, die an dieser Stelle die Indifferenzkurve u1 schneidet. Hiermit wird das ganze Einkommen von 120 DM aufgebraucht: 10⋅10 DM=100 DM für das Bier und 1⋅20 DM=20 DM für die Steaks, macht zusammen 120 DM. Um die Nutzenstiftung u1 aus dieser Kombination zu berechnen, brauchen wir jetzt nur die beiden Mengen in die obige Nutzen(produktions)funktion einzutragen und das Ganze auszurechnen. Das geht am einfachsten, wenn man die Ausdrücke logarithmiert und so die folgende Summe bildet: ln u1 = 0.50(ln xb)1 + 0.50(ln xs)1 = 0.50(ln 10) + 0.50(ln 1) = 0.50⋅2.302 + 0.50⋅0 = 1.151. Wenn man nun den Betrag 1.151 wieder exponiert, kommt der gesuchte Nutzenwert für die Kombination „zehn Bier, ein Steak“ heraus: u1 = exp(1.151) = 3.161. Nun wollen wir eine andere Kombination nehmen, die für das verfügbare Einkommen gerade noch möglich ist: acht Bier und zwei Steaks (Kombination 2 in Abbildung 3.3). Der Nutzen u2 für diese Kombination beträgt dann: ln u2 = 0.50(ln xb)2 + 0.50(ln xs)2 = 0.50(ln 8) + 0.50(ln 2) = 0.50⋅2.079 + 0.50⋅0.693 = 1.040 + 0.346 = 1.386. Die neue Güterkombination ergibt, wenn man das Ergebnis wieder exponiert, ein Nutzenniveau von u2=exp(1.386)=3.999. Und das ist, wie ja auch die Graphik zeigt, höher als das zuvor. Genau das ist der Sinn des Konzeptes der Nutzenmaximierung: Durch eine einfache Umverteilung in der Kombination der Güterwahl bei gleichem Aufwand wird es möglich, ein höheres Nutzenniveau zu erreichen, ohne daß sonst
Die Produktion des Nutzens
79
irgendein Schaden entstünde. Und wenn nichts weiter dagegen spricht: Warum sollte man darauf verzichten? Die Maximierung des Nutzens
Sofort stellt sich dann aber die naheliegende Frage: Wo wäre das höchste mit den gegebenen Mitteln erreichbare Nutzenniveau? Und wie könnte man es ohne langes Herumprobieren und ohne die immer etwas ungenauen Graphiken finden? Die Antwort darauf ist auch nicht schwer. Die entscheidende Überlegung ist, daß es im Konsumentenoptimum keine weitere Umverteilung der Güterkombination gibt, bei der noch ein Nutzenzuwachs zu errechnen wäre. Wenn man also ein Gut gegen das andere substituiert, dann ist im Optimum die Änderung im Nutzen kleiner oder höchstens gleich null. Kurz: Es muß die erste Ableitung der Nutzenfunktion gebildet und diese gleich null gesetzt werden. Wenn man dann die entsprechenden Werte aus den Restriktionen einsetzt, erhält man die gesuchte Güterkombination, die den Nutzen maximiert. Bildet man für die oben beschriebene Cobb-Douglas-Funktion die erste Ableitung nach xb und setzt sie gleich null, dann erhält man: 0 = 0.50/xb + (0.50/xs)(dxs/dxb). Die Steigung dieser Funktion ist das Substitutionsverhältnis bzw. die (Grenz-)Rate der Substitution der beiden Güter (vgl. dazu bereits Kapitel 1 oben in diesem Band). Diese Rate ist gleichzeitig gleich dem Verhältnis der Grenzproduktivitäten der beiden Güter für die Nutzenerzeugung:(dxs/dxb)=(δ u/δ xb)/(δ u/δ xs): die Rate des Nutzenzuwachses pro Einheit einer Änderung in der eingesetzten Menge von Xs oder Xb. Außerdem ist die (Grenz-)Rate der Substitution, wie wir aus Kapitel 1 oben in diesem Band auch schon wissen, gleich dem negativen Preisverhältnis der beiden Güter: (dxs/dxb)=-pb/ps. Das aber wiederum ist nichts anderes als die Steigung der Budgetgeraden, die den Möglichkeitsraum bestimmt. Mit anderen Worten: Wo die Steigung der Budgetgeraden mit der Steigung der Nutzen(produktions)funktion übereinstimmt, gibt es keinen Nutzenzuwachs mehr, wenn man die Güter doch irgendwie anders gegeneinander substituiert.6 Und das ist die Stelle, wo die Budgetgerade die „höchste“ Indifferenzkurve soeben berührt und beide Funktionen die gleiche Steigung haben.
Nun können wir das Konsumentenoptimum für unseren Robinson bestimmen. Dazu benötigen wir zunächst die (Grenz-)Rate der Substitution im Optimum. Die aber ist ja, wie wir eben gesehen haben, nichts anderes als das negative Preisverhältnis der beiden Güter. Also: (dxs/dxb)=-pb/ps=-(10/20)=-0.50. Damit ergibt sich für die auf null gesetzte erste Ableitung der Nutzen(produktions)funktion: 0=0.50/xb+(0.50/xs)(-0.50). Und so finden wir für 6
Vgl. zu diesen Einzelheiten die besonders klare Darstellung bei Edwin von Böventer, Einführung in die Mikroökonomie, 4. Aufl., München und Wien 1986, S. 89ff.; für die Anwendung der Cobb-Douglas-Funktion vgl. James S. Coleman, Foundations of Social Theory, Cambridge, Mass., und London 1990, S. 675ff.
80
Opportunitäten und Restriktionen
die gesuchten Mengen xbu wird, die Beziehungen:
max
und xsu
max
, bei denen der Nutzen maximiert
xbu max = 2xsu max xsu max = 0.50xbu max. Welche Mengen sind das aber in unserem Beispiel wieder ganz konkret? Dazu setzen wir einfach jeweils bei der Variable auf der rechten Seite die Bugdetgleichung ein und lösen den Ausdruck auf. Die beiden Budgetgleichungen für die Substitution von Bier gegen Steaks zu den gegebenen Preisen von 10 DM für ein Bier und 20 DM für ein Steak und dem angenommenen Einkommen von 120 DM hatten wir am Schluß des Kapitels 1 oben in diesem Band (für die Situation 1) aufgestellt. Sie müssen nicht nachschlagen. Hier sind sie noch einmal: xb = 12 – 2xs xs = 6 – 0.50xb Und das ergibt dann: xbu max = 2(6 – 0.50xbu max) xsu max = 0.50(12 – 2xsu max). Und daraus ergeben sich als Koordinaten für die gesuchte Güterkombination der Nutzenmaximierung die Werte von xbu max=6 und xsu max=3. Die Kombination der Nutzenmaximierung ist in der graphischen „Lösung“ des Problems im Punkt 3 gut zu sehen. Rechnen wir nun nur noch aus, bei welchem Nutzenniveau Robinson anlangt, wenn er sich die Mühe macht, genau diese Kombination – sechs Maß Bier und drei Steaks – mit seinem Budget zu verwirklichen. Es ist das Nutzenniveau u3 im Diagramm. Also: ln u3 = 0.50(ln xb)3 + 0.50(ln xs)3 ln u3 = 0.50(ln 6) + 0.50(ln 3) = 0.50⋅2.079 + 0.50⋅1.099 = 0.896 + 0.549 = 1.445. Und nach Exponieren ergibt sich für u3, den mit dem Budget von 120 DM und der angenommenen Präferenzenstruktur erreichbaren Maximalnutzen, der Wert von 4.242. Mehr ist nicht drin.
Die Produktion des Nutzens
81
Lohnt sich das Maximieren?
Alle die Überlegungen und Instrumente können unmittelbar für die Erklärung auch des Produzentenverhaltens angewandt werden. Es gibt keinen systematischen Unterschied zwischen der Produktion von Nutzen und der Produktion der Güter, mit denen dann wieder Nutzen produziert werden kann. Man könnte daher auf den Gedanken kommen, daß jedes Handeln der Regel der Maximierung folge. Für einen Produzenten als Marginalanbieter, den es sofort vom Markt fegt, wenn er nicht maximiert, ist das auch eine plausible Annahme (vgl. Abschnitt 2.3 oben in diesem Band). Aber was ist mit dem Unternehmer, der satte Gewinne einfährt, dem kein Aufsichtsrat im Nacken sitzt und der nicht Dagobert Duck heißt? Und was ist – erst recht – mit uns allen etwas trägen Alltagsmenschen mit unserer stets etwas mühseligen Produktion des Alltags, denen oft genug schon die Routine, geschweige denn Maximieren schwer fällt und denen es gelegentlich auch so ganz gut geht, wenn sie nicht genau den Optimalpunkt der Güterkombination treffen? Genau: Manchmal lohnt sich das „Maximieren“ vielleicht nicht – weil das Suchen des Optimalpunktes so aufwendig und der zusätzliche Gewinn, gegenüber dem, was wir schon haben, so vergleichsweise gering ist. Kurz: Faulheit ist oft ein kluger Entschluß zum Einsparen von Ressourcen für wichtigere Dinge als das Auffinden des Konsumentenoptimums. Sie wäre, so gesehen, eine besonders raffinierte Form der Maximierung. Änderungen in den Restriktionen
Optimiert wird innerhalb des Rahmens der Möglichkeiten, aber das Optimum liegt auch genau auf der Grenze dieser Möglichkeiten. Daher ändert sich das (Konsumenten-)Optimum sofort, wenn sich die Restriktionen ändern. In Kapitel 1 oben in diesem Band hatten wir zwei verschiedene Formen solcher Änderungen kennengelernt: Änderungen der Preise und Änderungen des Einkommens. Sie sind auch jetzt wieder die wichtigen Faktoren.
Die Produktion des Nutzens
83
einen Gutes, der sich auch auf die Nachfrage nach dem anderen Gut auswirkt (vgl. auch dazu bereits Kapitel 1 oben in diesem Band). Einkommensänderungen
Bei Einkommensänderungen verschiebt sich, weil die Preise ja gleich bleiben, die Budgetgerade insgesamt und daher parallel für beide Güter. Entsprechend dazu gibt es auch einen Einkommensexpansionspfad der Nachfrage (income expansion path: IEP; vgl. Abbildung 3.4b). Weil die Indifferenzkurven für die Nutzenproduktion genau symmetrisch sind, liegt dieser Pfad auf der 450Achse des Diagramms. Wenn die Nutzenproduktionsfunktionen für die Güter nicht so hübsch symmetrisch wären, verliefe der Einkommensexpansionspfad natürlich anders (vgl. dazu auch noch den folgenden Abschnitt 3.3 gleich unten in diesem Band). Überlegen Sie aber doch schon jetzt einmal: Das Gut X1 sei für die Akteure attraktiver als das Gut X2. Wie sähen dann die Indifferenzkurven, und wie der Preisexpansionspfad sowie der Einkommensexpansionspfad aus? Aggregierte Wirkungen
Im Aggregat haben die beschriebenen Veränderungen der Preise und des Einkommens über die Änderung des Konsumentenoptimums bestimmte typische Wirkungen. Drei solcher Wirkungen kann man unterscheiden. Die Nachfragefunktion hat erstens in aller Regel eine negative Steigung (vgl. Abbildung 3.5a, sowie bereits Abbildung 2.1 in Abschnitt 2.1 oben in diesem Band). Das folgt unmittelbar aus der angenommenen Struktur des Nutzengebirges und der Indifferenzkurven und der Änderung des Konsumentenoptimums: Mit jeder Entfernung des Konsumentenoptimums vom Nullpunkt wird ein höheres Nutzenniveau erreicht und deshalb eine höhere Menge des Gutes nachgefragt. Und das geschieht, wenn sich die Restriktionen für das Gut lockern, weil der Preis für das betreffende Gut sinkt. Die negative Steigung folgt also unmittelbar aus der besonderen Struktur des Nutzengebirges. Können Sie sich aber auch ein Nutzengebirge vorstellen, bei dem sich ein Preisexpansionspfad derart ergibt, daß die Nachfragefunktion nicht mehr negativ, sondern sogar positiv geneigt ist und die Nachfrage steigt, je teurer das Gut wird? Können Sie sich Güter vorstellen, die einer solchen „anomalen“ Nachfragefunktion folgen? Ein Tip: Porsche, Champagner, Versace-Kostüm?
Die Produktion des Nutzens
85
oben in diesem Band kennengelernt. Dort war indessen die Begründung eine andere: Die Menschen werden durch die Veränderung allein schon der Restriktionen dazu gedrängt – oder verführt – ihr Verhalten zu ändern. Die Weissagung der Deutschen Bank überspielt alle weiteren Selektionen und Optimierungen. Wir sehen nun, daß die Annahme einer optimierenden Selektion bei den Individuen zu den gleichen Beziehungen im Aggregat führt, wie in dem Fall, daß die Annahme der optimierenden Selektion nicht gemacht wird. Kurz: Es ist für die aggregierte Struktur der Nachfrage nach Gütern egal, ob die Menschen mühselig optimieren oder nur, blind der Weissagung der Deutschen Bank folgend, zu ihrem Tun gedrängt werden. Daher reicht für viele Erklärungen schon das Wissen um die Restriktionen und die Opportunitäten des Handelns aus. Gleichwohl ist es ganz nützlich zu wissen, daß auch beim Konsum – wie beim Handeln ganz allgemein – optimiert werden kann. Denn gelegentlich wird das Finden des Optimalpunktes auch für den trägen Alltagsmenschen wichtig. Dann nämlich, wenn es um wichtige Entscheidungen geht, wenn es mehrere, scheinbar ähnlich attraktive Alternativen gibt und wenn man nichts (mehr) zu verschenken hat. Dann wird auch vom normalen Akteur „gerechnet“ und „optimiert“, so wie das der Marginalanbieter auf einem Markt tut, dem das Wasser bis zum Halse steht.
3.3
Präferenzen
Im Zweiten Weltkrieg geriet der britische Ökonom R. A. Radford in Kriegsgefangenschaft und verbrachte einige Zeit in Lagern in Deutschland und in Italien. Dabei machte er eine Reihe von bemerkenswerten Beobachtungen. Etwa: Daß es einen lebhaften Handel im Lager, und sogar: nach draußen!, gab; daß dabei Zigaretten als eine Art von Geld und als eine übergreifende Verrechnungseinheit fungierten; daß die besseren Zigaretten die schlechteren nach einiger Zeit als Währung verdrängten; daß, überraschenderweise, mit der Verringerung der Rationen für Lebensmittel und Zigaretten die Nachfrage nach dem „Luxusgut“ Zigaretten stieg, obwohl diese Verknappung ja eine Art von Preiserhöhung bedeutete; daß der Markt um so einheitlicher und um so reibungsloser funktionierte, je länger das Lager schon bestand; und – insbesondere – daß es einen lebhaften Handel von Tee und Kaffee zwischen den englischen und den französischen Kriegsgefangenen gab.7
Der Grund für den Handel von Tee und Kaffee zwischen den Engländern und den Franzosen war leicht zu erklären: Für alle gab es die gleichen Rationen, aber die Engländer bevorzugten den Tee und hatten daher Kaffee übrig, die 7
R. A. Radford, The Economic Organization of a P.O.W. Camp, in: Economica, 12, 1945, S. 192f.
86
Opportunitäten und Restriktionen
Franzosen mochten lieber den Kaffee und waren daher bereit, den Tee abzugeben. Kurz: Aufgrund ihres typisch unterschiedlichen „Geschmacks“ ergab sich eine Interdependenz in Interesse und Kontrolle an Tee und Kaffee, ein Transaktionsinteresse und – weil nichts dagegen stand – ein lebhaftes Transaktionsgeschehen mit den Zigaretten als dem Medium der Transaktion (vgl. dazu bereits Kapitel 10 in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ausführlich). Woran aber lag das jeweils unterschiedliche Interesse der beiden Gruppen an Tee und Kaffee? An den Restriktionen konnte es (allein) nicht liegen. Denn der Preis für Tee und Kaffee – in Einheiten der Zigarettenwährung – war im ganzen Lager der gleiche, und auch das „Einkommen“ in der Zuteilung der Rationen war gleich. Es muß also – wenigstens: auch – an den „Präferenzen“ und damit: an den Nutzenfunktionen, am Nutzengebirge, an den Indifferenzkurven liegen. Wie aber soll man solche Unterschiede berücksichtigen. Die Antwort ist auch diesmal nicht schwer: Natürlich kann man in die Akteure nicht hineinsehen. Aber man kann – wenn man die Nutzentheorie einmal als richtig unterstellt – rekonstruieren, wie die Indifferenzkurven aussehen „müßten“, „damit“ es die beobachteten Unterschiede in den „Präferenzen“ für Tee und Kaffee gibt. In Abbildung 3.6 ist das dargestellt.
88
Opportunitäten und Restriktionen
Die beiden Nutzen(produktions)funktionen für die Engländer und für die Franzosen sähen daher dann so aus: ue = xTee0.80xKaffee0.20. uf = xTee0.20xKaffee0.80. Jetzt brauchte man nur noch die Preise und das Einkommen und könnte dann, wie wir das oben im einfachen symmetrischen Fall für Robinson getan haben, die beiden Konsumentenoptima bestimmen. Ein wichtiger Sachverhalt sei noch einmal betont: Obwohl es also Unterschiede im subjektiven „Geschmack“ zwischen Engländern und Franzosen gibt, gilt für alle das gleiche Preisverhältnis und daher die gleiche Rate der Substitution von Tee gegen Kaffee (vgl. Hirshleifer 1992, S. 88f.; vgl. dazu auch bereits Kapitel 1 oben in diesem Band). Nur innerhalb dieser objektiven Grenze können sich für die Gruppen ihre Unterschiede im Geschmack auswirken. Kurz: Die subjektiven Präferenzen suspensieren die objektiven Knappheiten im gesamten Aggregat nicht. Die „Technologie“ der Nutzenproduktion
Woran liegen also die Unterschiede im „Geschmack“? Die einfache Antwort: An den Unterschieden in den Präferenzen! Ist das aber eine zufriedenstellende Erklärung? Eigentlich nicht. Denn: Das wußten wir ja schon. Das Diagramm beschreibt ja letztlich nur noch einmal die Randbedingungen, aus denen sich der beobachtete Effekt ergibt, erklären tut es sie nicht. Die Frage müßte also anders gestellt werden: Wie entstehen eigentlich die Unterschiede in den Präferenzen, die in den Indifferenzkurven beschrieben werden? Und warum sind die Präferenzen, obwohl zwar subjektiv, dennoch keine beliebig änderbaren Sachverhalte? Ein erster Schritt zur Antwort auf die Frage danach, woher die Nutzenfunktionen bzw. die Indifferenzkurven ihre typische Struktur beziehen, ist eine Erinnerung an den Anfang dieses Bandes 4, „Opportunitäten und Restriktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“: Die Indifferenzkurven für die Präferenzen beschreiben eben keine einfach wandelbaren „Vorlieben“, sondern die jeweiligen Technologien der Nutzenproduktion. Und die sind objektiv vorgegeben. Die Präferenzen haben mit den inneren Bedingungen der Situation, mit der Identität der Akteure zu tun, die sie einmal erworben haben, nicht mehr einfach ablegen können und die für sie zu einem – nahezu – unverrückbaren Element ihrer (internen) „Umgebung“ geworden ist (vgl. dazu bereits Kapitel 1 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Das ist genauso wie bei einem Unternehmer angesichts der ihm gegenüberste-
Die Produktion des Nutzens
89
henden Technologien seiner Produktionsfaktoren: Ebenso wie dieser es nicht in der Hand hat, die Produktionsfunktionen für seine Maschinen einfach zu beschließen, sondern sie als externe Bedingungen hinnehmen muß, haben die Akteure ihre inneren Bedingungen eben auch nicht in der Hand und können daher nicht einfach bestimmen, was sie bevorzugen und was nicht. Die Engländer hätten im Gefangenenlager eben nicht einfach für sich festlegen können, Kaffee zu mögen, wenn es, beispielsweise, weniger Tee gegeben hätte und dadurch der Preis für den Tee nach oben gegangen wäre. Sicher gibt es so etwas wie subjektive Rationalisierungen, das Phänomen der sauren Trauben oder, was kleine und größere Mädchen manchmal tun, „sich umfreuen“, wenn etwas nicht geht, was sie sich wünschen (vgl. dazu Kapitel 8 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ u.a.). Aber das sind alles nur kurzfristige Anpassungen der Psychen an die Umstände, die die strukturell angelegten Mechanismen der Präferenzentstehung nicht außer Kraft setzen.
Über Geschmack kann man sich eben nicht streiten, einfach deshalb, weil auch der Geschmack eine feste Tatsache ist, mit der ein Konsument ebenso zu „rechnen“ hat, wie ein Produzent mit den Ertragsfunktionen seiner Produktionsfaktoren. Aber wie kommt es zu dieser „Tatsache“? Drei Mechanismen
Drei Mechanismen der „Konstitution“ von Präferenzen, ihrer Entstehung, Änderung und Struktur lassen sich unterscheiden: die Sozialisation, die Änderung der „Verfassung“ der Gesellschaft und die spezielle Technologie zur Produktion des Nutzens über bestimmte Güter. Sozialisation
Die Sozialisation ist, in der Sprache der Lerntheorie, der Vorgang, über den zunächst neutrale Stimuli mit Bewertungen – positiver oder negativer Art – versehen werden. Das geht über den Vorgang der Konditionierung (vgl. dazu bereits Kapitel 9 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, sowie noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Auf diese Weise ließe sich leicht erklären, warum Franzosen eher Kaffee, Engländer eher Tee, Chinesen keine Milch und die Deutschen hohe, dunkle Wälder mögen: Es müßte jeweils gezeigt werden, daß es eine entsprechende Verstärkungsgeschichte gab, oder falls nicht, wie man bei den Chinesen mit ihrer Abneigung gegen Milch vermutet, sogar schon eine biologisch-genetische Besonderheit für die jeweilige Präferenz sorgt. Noch besser wäre es natürlich, wenn man zeigen könnte, warum es diese und keine andere Verstärkungsgeschichte war, die die jeweilige Gruppe erfahren hat. Beispielsweise: Weil England Kolonien hatte, aus denen Tee preiswert zu beziehen war, und Frankreich solche, in denen
90
Opportunitäten und Restriktionen
Kaffee angebaut wurde, so daß die Versorgung mit einem als „belohnend“ erlebten Nahrungsmittel jeweils auf typisch unterschiedliche Weise erfolgte und sich daraus die typisch unterschiedlichen Verstärkungsgeschichten ergeben. Die Gesamtheit der sozialisierten typischen Präferenzen in einer Gesellschaft oder Gruppe wird – zusammen mit dem gleichzeitig erworbenen typischen Wissen – übrigens als deren Kultur bezeichnet. Nicht aber die „Kultur“ erklärt die Präferenzen, sondern die Mechanismen, die zur Entstehung der betreffenden Kultur geführt haben. Hier also: die Sozialisation und die strukturell unterschiedlichen Chancen für bestimmte Verstärkungen und biographische Prägungen. Die „Verfassung“ der Gesellschaft
Der zweite Mechanismus ist uns inzwischen wohlvertraut: Die subjektiven Präferenzen der Menschen folgen der gesellschaftlichen Definition der sozialen Produktionsfunktionen. Was jeweils als primäres Zwischengut bzw. als kulturelles Ziel festgelegt ist, wird wegen seiner Nähe zu den Bedürfnissen der Menschen und zur Nutzenproduktion unmittelbar interessant. Und genau darauf richten sich dann die „Präferenzen“ der Menschen. In Kapitel 3 und 4 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ haben wir diese Zusammenhänge schon ausführlich besprochen. Die wichtigste Folge: Mit der Änderung der Verfassung einer Gesellschaft, mit der Änderung der primären Zwischengüter bzw. mit der Änderung der kulturellen Ziele also, ändern sich auch die Interessen und die Präferenzen der Menschen für gewisse Ressourcen. Unser schönstes Beispiel dafür ist nach wie vor die Stasi-Medaille: Vor dem 9. November 1989 war sie in der DDR, wenigstens in gewissen Kreisen, begehrt, danach weit weniger. Und für die Änderung der Präferenzen bedurfte es keinerlei Sozialisation, obwohl vielleicht der eine oder andere an diesen Orden, wie an den Staat, dem er entstammte, im Laufe eines langen Lebens und einer ganz besonders beeindruckenden Verstärkungsgeschichte sein Herz schon sehr gehängt haben mag. Die Technik der Nutzenproduktion
Produktionsfunktionen beschreiben, wie wir wissen, eine „technische“ Beziehung zwischen input und output. Das tun die Nutzen(produktions)funktionen auch: Sie geben wieder, wie sich der Ertrag im Nutzen bei verschiedenen Güterkombinationen ändert. Übliche Annahmen für diese Funktion sind die Ste-
Die Produktion des Nutzens
91
tigkeit und der abnehmende Grenzertrag (vgl. bereits Kapitel 3 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“, sowie Abschnitt 3.2 oben in diesem Band). Im zweidimensionalen Fall ensteht so die typische Struktur der Indifferenzkurven: Die Indifferenzkurven berühren nie die Achsen und haben daher ihr Optimum niemals am „Rande“ der Güterachsen. Und sie haben eine konvexe Gestalt, das heißt: Sie krümmen sich zum Nullpunkt hin. Mit dieser formalen Struktur der Indifferenzkurven sind einige weitreichende inhaltliche Annahmen verbunden. Das Fehlen von Randoptima besagt, daß als Konsumentenoptimum nur Güterkombinationen in Frage kommen, und daß jede „einseitige“ Wahl eines homogenen Güterbündels der gleichen Art Nutzen verschenkt. Und die Konvexität drückt aus, daß im Vergleich eine heterogene Kombination einer homogeneren stets vorgezogen wird. Für den Konsum von Nahrungsmitteln oder für den Einsatz von Produktionsfaktoren ist das wohl auch meist eine plausible Vorstellung: Nur Steaks oder nur Bier gestalten den Abend schon etwas einseitig. Hier macht es die Mischung eben. Und Ähnliches gilt wohl für den Einsatz von Kapital und Arbeit, um, sagen wir, Autos zu produzieren: Am produktivsten ist eine Kombination von beiden Faktoren, weil mehrere Maschinen ohne Aufsicht bald stehen bleiben, oder auch ein Heer von Arbeitern ohne auch nur einen Schraubenschlüssel kein Auto zustandebringen kann.
Das aber muß keineswegs generell so sein. Es könnte durchaus Randoptima und eine konkave Gestalt der Indifferenzkurven geben. Warum denn nicht? Beispielsweise sind Freundschaften ein „Gut“, das Mischungen kaum verträgt, und von dem alle mehr haben, wenn es als homogener „Warenkorb“ vorhanden ist. In einer Untersuchung zu den sozialen Beziehungen von türkischen und jugoslawischen Arbeitsmigranten der ersten und der zweiten Generation war u.a. nach den „drei besten Freunden“ und deren Nationalität gefragt worden. Dabei ergab sich die folgende Verteilung für die ethnische Zusammensetzung der Freundschaftsnetze:8
8
Vgl. Hartmut Esser, Der Austausch kompletter Netzwerke. Freundschaftswahl als „Rational Choice“, in: Hartmut Esser und Klaus G. Troitzsch (Hrsg.), Modellierung sozialer Prozesse, Bonn 1991, S. 773-809.
92
Opportunitäten und Restriktionen
Tabelle 3.1: Ethnische Zusammensetzung der Freundschaftsnetze für türkische und jugoslawische Arbeitsmigranten der ersten und der zweiten Generation
Türken
Jugoslawen
Netzwerkstruktur
1. Gen.
2. Gen.
1. Gen.
2. Gen.
gesamt
homogen endophil
78.0
64.7
62.2
25.4
57.0
eine exophile Beziehung
13.9
9.8
14.8
20.1
17.3
zwei exophile Beziehungen
5.8
10.9
11.1
19.0
11.9
homogen exophil
2.3
4.6
11.9
35.5
13.5
346
394
378
389
1507
n
Unerwartet war nicht der Sachverhalt, daß die Freundschaftswahlen überwiegend endophil waren. Freundschaften sind üblicherweise von dieser Art. Unerwartet war vielmehr, daß mit dem Rückgang der innerethnischen Freundschaften offenkundig ein abrupter Wechsel des Netzwerkes einsetzt, und daß dann schlagartig die Freunde allesamt der anderen Ethnie entstammen. Es kommt, wenn man das Ergebnis etwas dramatisiert, zu einem Austausch von kompletten und in der Zusammensetzung homogenen Netzwerken.
Offenbar folgt also die Wahl von Freunden nicht den üblichen Nutzenproduktionsfunktionen, wonach die Heterogenität produktiver ist als die Homogenität der Kombination. Freunde sind offenbar nützlicher, wenn sie einander ähnlich sind und wenn es in dem Netzwerk keine „fremden“ Elemente gibt. Das aber ist eine technische Angelegenheit, die mit den speziellen Leistungen von Freundschaften für die Nutzenproduktion zu tun hat: Gemischte Freundschaften mögen zwar interessanter und aufregender sein, aber es gibt immer auch Kommunikationsprobleme, die das Verstehen behindern, es entstehen Dissonanzen, die durch ständige Erklärungen und Rücksichtnahmen gelöst werden müssen, und es gibt – nicht zuletzt – oft genug auch Normen der Endophilie – „Spiel nicht mit den Schmuddelkindern!“ –, auf deren Einhaltung meist schon sehr geachtet wird. Damit aber verändert sich die Struktur der Indifferenzkurven in charakteristischer Weise: Wenn das Optimum nicht in der Mischung, sondern in der Homogenität liegt, dann berühren die Indifferenzkurven den Rand des Diagramms. Und wenn die Mischung der „Güter“ Nutzeneinbußen
94
Opportunitäten und Restriktionen
Möglichkeiten u.a. durch die Opportunitäten, jemanden zu treffen, durch den Aufwand, den Kontakt über sprachliche Kommunikation aufzunehmen und durch gewisse soziale Distanzen, etwa zwischen Deutschen und Türken, die verhindern mögen, daß aus einem „meeting“ auch ein „mating“ wird.9 Allein daraus erklären sich wohl schon die großen Unterschiede in der Struktur der interethnischen Freundschaften zwischen Türken und Jugoslawen in der Tabelle 3.1: Türken sprechen, auch das war ein Ergebnis der erwähnten Studie, schlechter Deutsch als Jugoslawen, sie leben segregierter als die Jugoslawen, und die sozialen Distanzen der Deutschen zu ihnen (und umgekehrt!) sind auch größer. Das „Einkommen“ wollen wir als konstant über die Gruppen ansehen: Es ist die „Kompetenz“ zur Aufnahme von Freundschaften, und diese sei über die Gruppen hinweg im Prinzip gleich. Die „Preise“ spiegeln dagegen die unterschiedlichen Grade von Aufwand, die Restriktionen bei einer Freundschaftswahl zu überwinden: Wenn, etwa, ein Türke oder Jugoslawe gut Deutsch spricht, dann ist für ihn der „Preis“ für einen deutschen Freund geringer, als bei schlechten Sprachkenntnissen. Entsprechendes gilt für den nötigen Aufwand für eine Begegnung oder für die Überwindung einer sozialen Distanz. In das Diagramm in Abbildung 3.7a sind vier verschiedene Budgetgeraden für vier verschiedene „Preise“ eventueller deutscher Freunde eines Türken oder Jugoslawen eingezeichnet: Beginnend mit p1 werden die deutschen Freunde immer „erschwinglicher“. Anders als bei einer „normalen“ konvexen Struktur der Indifferenzkurven verharrt die Nachfragemenge nun aber zunächst mit sinkendem Preis bei null: Obwohl der Preis sinkt, ändert sich an der komplett homogenen Nachfrage nach innerethnischen Freunden nichts. Dann aber schlägt die Sache plötzlich vollständig um: Bei p3 wird das gesamte Netzwerk in einem Schlage ausgewechselt. Und bei weiter fallendem Preis wird es mit zusätzlichen Freunden der gleichen neuen Art ausstaffiert. Mischungen gibt es keine. Vorher nicht, und auch nachher nicht. Die Ergebnisse in Tabelle 3.1 sind nicht gänzlich eindeutig, enthalten aber ohne Zweifel einige Hinweise darauf, daß die Nachfrage nach Freunden einer anderen „Technologie“ der Nutzenproduktion folgt, als die etwa für die Produktion des Nutzens durch Steaks und Bier: Mischungen kommen zwar durchaus vor, aber die Homogenität wird ganz überwiegend vorgezogen. Auch verharrt die Nachfrage selbst bei deutlich sinkenden Preisen für interethnische 9
Vgl. zur Erklärung von Freundschaftswahlen: Paul F. Lazarsfeld und Robert K. Merton, Friendship as Social Process: A Substantive and Methodological Analysis, in: Morroe Berger, Theodore Abel und Charles H. Page (Hrsg.), Freedom and Control in Modern Society, Toronto, New York und London 1954, S. 30ff.; Christof Wolf, Gleich und gleich gesellt sich. Individuelle und strukturelle Einflüsse auf die Entstehung von Freundschaften, Hamburg 1996, S. 61ff. Vgl. auch Kapitel 1 in Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“.
Die Produktion des Nutzens
95
Kontakte – wie bei der zweiten türkischen Generation – stark in der innerethnischen Homogenität. Und bei den Jugoslawen, für die die Preise für interethnische Freundschaften besonders niedrig sind, gibt es eine klare Vorliebe für „rein“ deutsche Freundschaften.
Konkave Nutzenproduktionsfunktionen sind keine Seltenheit. Für viele soziologische Problemstellungen sind sie von ganz erheblicher Bedeutung. Zum Beispiel vertragen alle „systemischen“ Gebilde keine „Mischung“. Einstellungen, Werte, Identitäten, Paradigmen und belief systems ganz allgemein haben ihre orientierungsstiftende Wirkung nur in der Homogenität. Und deshalb gibt es hier meist auch keinen graduellen Wechsel, sondern eher eine abrupte Konversion, bei der sich vorher die „Anomalien“ schon deutlich angesammelt, aber noch keine sichtbare Wirkung erzeugt hatten. Für religiöse Doktrinen trifft dies wohl ganz besonders zu. Sie vertragen Mischungen mit anderen religiösen Doktrinen ganz und gar nicht. Für die „Wahl“ von Werten, politischen Überzeugungen und Religionen müßten daher auch konkave Indifferenzkurven die angemessene Modellierung der Präferenzstrukturen sein. Eine religiöse Konversion ist eben mehr als bloß der partielle Ersatz eines Teils des Glaubens gegen ein anderes Teil.10 Es ist der komplette Austausch eines ganzen (Glaubens-)Systems.
Die Präferenz für homogene oder heterogene Bündel von Gütern ist also keine beliebige Angelegenheit. Es ist eine technisch bedingte Folge der Strukturen der Nutzenproduktion durch bestimmte Arten von Gütern, die durch Sozialisation und durch die gesellschaftliche und die subjektive Definition der Situation nur begrenzt zu verändern sind. Das physische Wohlbefinden wird offenbar eher durch Güter in Mischungen, soziale Wertschätzung und Orientierung eher durch Güter in Homogenitäten bedient: Steaks und Bier hier, Freunde und Werte der gleichen Art dort. Die (Nutzen)Produktionsfunktionen dieser verschiedenen Güter spiegeln diese Technologien wieder. Und die Indifferenzkurven sind deren graphische Repräsentation. *** Die Präferenzen der Menschen fallen, so haben wir gesehen, also nicht vom Himmel. Sie sind die Folge gewisser technischer und materieller Umstände der Nutzenproduktion, bestimmter institutioneller Regelungen über die „Geltung“ bestimmter Verfassungen einer Gesellschaft oder Gruppe und gewisser 10
Vgl. zum Beispiel: R. Kenneth Jones, Paradigm Shifts and Identity Theory: Alternation as a Form of Identity Management, in: Hans Mol (Hrsg.), Identity and Religion, Beverly Hills 1978, S. 59-82; William. C. Shepherd, Conversion and Adhesion, in: Harry M. Johnson (Hrsg.), Religious Change and Continuity: Sociological Perspectives, San Francisco, Washington und London 1979, S. 251-263; David A. Snow und Richard Machalek, The Sociology of Conversion, in: Annual Review of Sociology, 10, 1984, S. 169f.; R. V. Travisano, Alternation and Conversion as Qualitatively Different Transformations, in: Gregory P. Stone und Harvey A. Faberman (Hrsg.), Social Psychology Through Symbolic Interaction, Waltham, Mass., 1970, S. 594-606.
96
Opportunitäten und Restriktionen
kultureller Prägungen über den Mechanismus der Sozialisation im Verlaufe der Biographie eines Akteurs. Ohne weiteres könnte man daher die Entstehung von typischen Arten und Verteilungen von Präferenzen auch soziologisch zu erklären versuchen – und dann daraus ableiten, was die Menschen tun werden und welche Folgen das hat. Das hat etwa Karl Marx gemeint, als er vorschlug, das „Bewußtsein“ nicht als „letzte“ und eigentliche Ursache der sozialen Prozesse anzusehen, sondern als Folge des „Seins“ der materiellen Umstände des Alltagshandelns. Max Webers Analyse über den Zusammenhang von Protestantismus und Kapitalismus oder die Erklärung von Alexis de Toqueville über die Grundhaltung des Adels im vorrevolutionären Frankreich waren jeweils auch eine solche soziologische Erklärung der Entstehung und Strukturierung von Präferenzen oder Interessen, die, wenn es sie dann einmal gibt, das Handeln und Fühlen der Menschen, zusammen mit den Erwartungen, bestimmen. Im Konzept der Situationslogik von Karl R. Popper hat diese Grundidee ihre präziseste Formulierung gefunden (vgl. dazu Kapitel 10 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“): Es ist die ganz besondere Aufgabe der Soziologie, die institutionelle Genese und die soziale Verteilung der Motive der Menschen zu erklären. Für die Technologie der Nutzenproduktion gilt das auch.
Kapitel 4
Verhandlungen
Die Beziehung zwischen Anbieter und Nachfrager ist ein besonders wichtiger Fall einer Transaktion (vgl. dazu bereits Kapitel 10 in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Dabei ist es ganz egal, was jeweils angeboten und nachgefragt wird: Geld gegen Güter, Anerkennung gegen guten Rat oder Kaffee gegen Tee. Wichtig ist nur, daß beide Parteien sich nach der Transaktion besser stellen als vorher – ohne daß irgendetwas mehr an Gütern produziert werden müßte. Mit der Transaktion gibt es einen Nutzen- und Wohlfahrtszuwachs alleine durch die Umverteilung der vorhandenen Ressourcen. Aber zu welchem Tauschverhältnis, zu welchem „Preis“ also? Auf einem Markt mit sehr vielen Anbietern und Nachfragern ist das weiter kein Problem: Die „Anonymität“ des Marktes bringt genau einen Preis zustande, wie wir in Kapitel 6 unten in diesem Band noch sehen werden. Wenn es jedoch nur wenige Akteure sind, im Extremfall: nur zwei – was dann? Genau das ist das Problem der Verhandlungen. Es entsteht, weil es mehrere, aber unter den Akteuren selbst wieder umstrittene, Möglichkeiten zu einer an sich für beide profitablen Einigung gibt. Die Edgeworth-Box Mit Hilfe der sog. Edgeworth-Box, so benannt nach dem Ökonomen Francis Y. Edgeworth1, kann man sich das Problem auf eine einfache Weise klarmachen. Dazu besuchen wir noch einmal die Insel von Robinson und Freitag. In Kapitel 5 in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ war beschrieben worden, daß die beiden wegen der jeweiligen Produktionsvorteile gut daran täten, sich gegenseitig zu spezialisieren, daß jeweils einer von ihnen ausschließlich Steaks und der andere ausschließlich Bier produ1
Francis Y. Edgeworth , Mathematical Psychics: An Essay on the Application of Mathematics to the Moral Sciences, London 1932 (zuerst: 1881).
98
Opportunitäten und Restriktionen
zieren sollte, und daß sie dann anschließend – zu ihrem beiderseitigen Vorteil – die beiden Güter tauschen könnten. Wir wollen davon ausgehen, daß die beiden tatsächlich die arbeitsteilige Produktion von Bier und Steaks vorgenommen haben und sich nun treffen, um ihre Produkte zu tauschen: Robinson kommt mit seinen Steaks, Freitag mit dem Bier. Der Einfachheit halber gehen wir davon aus, daß insgesamt 100 Maß Bier und 100 Steaks vorhanden sind. Um sich nicht völlig dem anderen auszuliefern, habe Robinson selbst auch zehn Maß Bier und Freitag seinerseits 15 Steaks erzeugt. Robinson kontrolliert daher 85 von den insgesamt 100 Steaks, und Freitag 90 von den insgesamt 100 Maß Bier.
Die Edgeworth-Box faßt diese Situation für beide Akteure und für alle Güter „im System“ zusammen (vgl. Abbildung 4.1). Zunächst ist, wie üblich, mit der linken senkrechten und der unteren waagerechten Achse die Situation von Robinson beschrieben: Von den 100 Steaks besitzt er 85, und von den 100 Maß Bier 10. Die Situation für Freitag wird von der anderen Ecke rechts oben aus dargestellt. Die obere waagerechte Linie gibt somit von rechts nach links an, was Freitag an Steaks besitzt, und die rechte senkrechte Achse folglich von oben nach unten, was er an Bier hat: 15 der insgesamt 100 Steaks und 90 der insgesamt 100 Maß Bier.
100
Opportunitäten und Restriktionen
Es gibt noch weitere interessante Kombinationen und Punkte in der Edgeworth-Box. In Punkt 3 beispielsweise berührt sich die Indifferenzkurve ur1 von Robinson gerade mit einer Indifferenzkurve von Freitag (uf3), die für Freitag jedoch einen deutlich höheren Nutzen ausdrückt als diejenige, die bei ihm durch die Ausgangsverteilung 1 ging. Mit anderen Worten: Robinson hätte an Nutzen nichts verloren, wenn er der Kombination im Punkt 3 zustimmen würde, aber Freitag stellte sich deutlich besser als zuvor. Ganz ähnlich sieht die Sache mit dem Punkt 4 aus. Jetzt könnte Robinson mit ur3 ein deutlich verbessertes Nutzenniveau erreichen, ohne daß Freitag eine Einbuße erleiden würde.
Die Indifferenzkurven, die durch die Ausgangsverteilung in Punkt 1 gehen, umhüllen also einen linsenförmigen Bereich, innerhalb dessen eine Vielzahl von Güterkombinationen liegen, die beide Akteure besser (oder mindestens gleich) stellen, als es in der Ausgangsverteilung der Fall ist. Innerhalb der umhüllten Fläche gibt es nun aber auch noch eine (unendlich große) Schar der Indifferenzkurven für Robinson und Freitag, die sich in ähnlicher Weise gerade so eben berühren, wie das in den Punkten 3 und 4 der Fall ist. Einer dieser vielen weiteren Berührungspunkte von Indifferenzkurven ist der Punkt 5. Hier treffen sich die Kurven ur2 für Robinson und uf2 für Freitag. Gegenüber dem Punkt 1 wäre die Einigung auf diese Kombination für beide ein Vorteil, bedeutet aber gegenüber dem Punkt 3 einen Nutzenzuwachs für Robinson und einen Verlust für Freitag und gegenüber dem Punkt 4 einen Verlust für Robinson und einen Nutzenzuwachs für Freitag. Die Besonderheit bei allen diesen Punkten – einschließlich der Kombinationen 3 und 4 – ist nun, daß es, ist er einmal erreicht, hiervon keine Abweichung mehr gibt, weil sich der abweichende Akteur sofort schlechter stellen oder der jeweils andere Akteur der Abweichung nicht zustimmen würde, weil er dann ja wieder an Nutzen verliert. Jeder der Punkte, bei denen sich in der „Linse“ die Indifferenzkurven gerade berühren, bildet also ein Gleichgewicht, wenn er einmal erreicht ist. Und weil es von einem solchen Punkt aus keine Möglichkeit gibt, einen der Akteure besser zu stellen, ohne dem anderen zu schaden, ist es ein stabiles und paretooptimales Gleichgewicht, wie wir es schon aus Kapitel 2 in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ kennen.
Somit gibt es zwischen den Punkten 3, 4 und 5 eine ganze Linie möglicher Kombinationen, bei denen sich die Akteure einigen könnten und nicht mehr davon abweichen würden. Diese Linie wird auch als Kontraktkurve (oder Kontraktlinie) bezeichnet. Nur auf dieser Kontraktkurve wird es ein Verhandlungsergebnis geben. Das Problem ist nur: Zwar haben beide Akteure ein Interesse an irgendeiner Kombination auf der Kontraktkurve, aber jeder möchte mit seiner Indifferenzkurve natürlich so weit wie möglich nach außen von seinem Nullpunkt wegkommen. Das geht aber nur wieder auf Kosten des anderen – erneut ein hübsches Beispiel für das Problem der antagonistischen Kooperation, das deutlich an die Konstellation eines partiellen Konfliktes von der Art der Battle of the Sexes erinnert (vgl. Abschnitt 3.3 in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Und ohne weiteres kann nicht
102
Opportunitäten und Restriktionen
nationen für beide Akteure. Auf den Achsen wird diese Fläche jeweils durch die Bewertungen begrenzt, die ein Akteur maximal erreichen könnte, wenn er alle Güter aus dem System kontrollieren würde und – logischerweise – der jeweils andere nichts mehr besäße. Diese Werte seien als der Maximalnutzen umax bezeichnet, den ein Akteur überhaupt erreichen könnte. In der Edgeworth-Box wären das die Bewertungen aus den Indifferenzkurven, die durch den Nullpunkt der Achsen für den jeweils anderen Akteur laufen. Sie sind in Abbildung 4.2 mit urmax für Robinson und mit ufmax für Freitag eingetragen. Der Punkt 1 in Abbildung 4.2 gibt dann die Bewertung der Ausgangsverteilung 1 aus der Edgeworth-Box mit den Nutzenhöhen ur1 und uf1 wieder; er fällt, wie wir oben gesehen haben, in der Bewertung mit dem Punkt 2 zusammen. Dieser Punkt wird auch als Drohpunkt bezeichnet, weil, wenn sich in der Verhandlung ein schlechteres Ergebnis abzeichnet, der betreffende Akteur die Verhandlung abbrechen und wenigstens darauf als Mindestauszahlung zurückgreifen könnte, ohne vom anderen darin abhängig zu sein, diese zu erreichen. Das, was er ohnehin schon hat, kann ihm niemand nehmen. Der Drohpunkt ist also nichts anderes als der Comparison Level für die Alternative (CLalt) in der Sprache der Tauschtheorie von Thibaut und Kelley (vgl. Kapitel 12 in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Es ist das, was dem Akteur verbleibt, wenn alles Verhandeln keinen Sinn mehr macht. Die Punkte 3 und 4 geben mit (ur3,uf1) und (ur1,uf3) dann die jeweiligen Nutzenhöhen an, wenn in der „Linse“ der Edgeworth-Box die äußeren Punkte 3 und 4 der Kontraktkurve erreicht sind. Bei jeweils einem Akteur ist damit auch dessen Drohpunkt erreicht; weniger würde er also nicht akzeptieren. Das Segment des „Kuchens“ mit den Eckpunkten (1,2)-3-4 gibt daher den Verhandlungsraum wieder: Alle die Kombinationen, bei denen sich eine Verbesserung für mindestens einen der beiden Akteure gegenüber dem Drohpunkt ergibt, stehen zur Verhandlung. Alle anderen sind indiskutabel. Die Kurve zwischen den Punkten 3 und 4 bildet ferner alle möglichen Nutzenwerte der Kontraktkurve ab. Auf dieser Linie also wird, wenn überhaupt, die Einigung in der Verhandlung stattfinden. Der Punkt 5 (mit der Nutzenkombination ur2,uf2) ist eines der möglichen Ergebnisse und er entspricht dem Punkt 5 in der Edgeworth-Box oben. Jedem der beiden Akteure wäre im Prinzip ein besseres Ergebnis möglich gewesen. Aber gegenüber dem Drohpunkt und gegenüber jedem anderen Resultat im Inneren des Segmentes (1,2)-3-4 hat sich jeder verbessert – alleine durch eine geschickte Transaktion und Umverteilung der Ressourcen. Die Linie 3-5-4 des Segmentes bildet somit die Nutzengrenze des ganzen Systems bzw. des Verhandlungsraumes.
Verhandlungen
103
Die große Frage ist dann nur: Welcher der vielen möglichen Punkte im Verhandlungsraum, auf der Nutzengrenze bzw. auf der Kontraktkurve wird es denn schließlich sein? Die insbesondere in der Ökonomie entwickelte Theorie der Verhandlungen gibt verschiedene Antworten auf diese Frage. Wir wollen die wichtigsten Lösungen zu diesem rasch sehr komplizierten Problem vorstellen.2 Die Nash-Lösung
Eine der ersten und richtungsweisenden Lösungen des Problems stammt von John F. Nash, den wir ja schon in Kapitel 2 in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ kennengelernt haben.3 Nash formuliert zunächst vier Bedingungen, die er an die Lösung stellt: Paretooptimalität, die Unabhängigkeit von irrelevanten Alternativen, Symmetrie und die sogenannte Unabhängigkeit von äquivalenter Nutzenrepräsentation (Nash 1950, S. 159f.; Holler 1992, S. 25f.). Paretooptimalität bedeutet, wie wir aus Kapitel 2 in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ wissen, daß die Lösung keine sein darf, bei der es noch Verbesserungen ohne Schlechterstellung eines Akteurs geben kann. Mit der Unabhängigkeit von irrelevanten Alternativen ist gemeint, daß eine Veränderung des Verhandlungsraumes, die die Nutzengrenze am Punkt der ursprünglichen Lösung nicht verändert, keine Auswirkung auf die Lösung haben darf, die sich nach der Veränderung des Verhandlungsraumes ergibt. Symmetrie heißt, daß die Nutzenwerte im Lösungspunkt für beide Spieler gleich sein sollen. Und die Forderung nach der Unabhängigkeit von äquivalenter Nutzenrepräsentation beinhaltet, daß die Lösung durch eine positive lineare Transformation der individuellen Nutzenfunktionen bzw. der individuellen Indifferenzkurven nur so verändert wird, daß sie mit derselben Transformation aus der ursprünglichen Lösung folgt.
2
3
Vgl. zu den verschiedenen Theorien der Verhandlung etwa: Ken Binmore und Partha Dasgupta (Hrsg.), The Economics of Bargaining, Oxford 1987; Douglas Heckathorn, A Unified Model for Bargaining and Conflict, in: Bahavioral Science, 25, 1980, S. 261-284; Jon Elster, The Cement of Society. A Study of Social Order, Cambridge u.a. 1989b, Kapitel 2: Bargaining, S. 50-96; Jon Elster, Nuts and Bolts for the Social Sciences, Cambridge u.a. 1989a, Kapitel XIV: Bargaining, S. 135-146; Manfred J. Holler, Ökonomische Theorie der Verhandlungen. Einführung, 3. Aufl., München und Wien 1992. Vgl. auch den inzwischen schon klassischen und immer noch bemerkenswerten Beitrag von Thomas C. Schelling, An Essay on Bargaining, in: Thomas C. Schelling, The Strategy of Conflict, Cambridge, Mass., 1960, S. 21-52. John F. Nash, The Bargaining Problem, in: Econometrica, 18, 1950, S. 155-162; John F. Nash, Two-Person Cooperative Games, in: Econometrica, 21, 1953, S. 128-140; vgl. auch die Zusammenfassung bei John C. Harsanyi, Rational Behavior and Bargaining Equilibrium in Games and Social Situations, Cambridge, Mass., u.a. 1977, S. 141ff.
104
Opportunitäten und Restriktionen
Diese, zugegebenermaßen etwas kompliziert klingenden, vier Bedingungen haben einen bestimmten inhaltlichen, ja geradezu normativen Hintergrund: Nash geht davon aus, daß sich die Akteure auf eine „faire“ Lösung einigen sollen, bei der – etwa – das Ergebnis nicht davon abhängig sein soll, wie die Skalierung der Nutzenfunktionen gerade aussieht; daher die Bedingung der Unabhängigkeit von irrelevanten Alternativen und von äquivalenter Nutzenrepräsentation. Auch solle es keine Unterschiede im Ergebnis als Folge gewisser „bargaining skills“ geben, die den Akteuren letztlich zufällige Gewinne erlauben würden; daher die Forderung nach der Symmetrie der Lösung. Die Nash-Lösung ist vor diesem Hintergrund dann recht einfach zu verstehen. Es gebe einen Verhandlungsraum mit einer Nutzengrenze und einem Drohpunkt, wie oben beschrieben. Die Lösung liegt – unter Erfüllung der genannten Bedingungen – dann genau dort, wo das sog. Nash-Produkt N maximiert wird. Das ist das Produkt der Nettogewinne der beiden Akteure, und der Nettogewinn ist natürlich der Nutzen u für jeden abzüglich des schon sicheren Gewinns im Drohpunkt c: N=(u1-c1)(u2-c2). Mit dieser Fassung wird sichergestellt, daß der gemeinsame Nutzen der beiden Akteure in symmetrischer Weise maximiert wird, was John F. Nash sich ja in seinen Bedingungen u.a. vorgenommen hatte. Für einen gegebenen Wert von N beschreibt das Nash-Produkt dann eine gleichseitige, zur 45oAchse symmetrische Hyperbel zwischen den Nutzenachsen, in denen sich der Verhandlungsraum befindet. Das Produkt N=(u1-c1’)(u2-c2) beschreibt oberhalb diesen Verlauf, weil der eine Ausdruck überproportional anwachsen muß, wenn der andere kleiner wird, „damit“ die Konstante N herauskommt. Die Lösung des Verhandlungsproblems liegt genau an der Stelle, an der die Nutzengrenze des Verhandlungsraumes gerade die höchst erreichbare Hyperbel verschiedener Werte des Nash-Produktes berührt. Es ist der Punkt A in Abbildung 4.3 mit den (Netto-)Nutzenwerten u1A-c1 und u2A-c2 für zwei Akteure 1 und 2 und den Drohpunkten c1 bzw. c2. Das Nash-Produkt hat hier seinen für den gegebenen Verhandlungsraum maximalen Wert Nmax (vgl. Nash 1950, S. 159f.; Nash 1953, S. 132f.). Andere Nash-Produkt-Hyperbeln werden entweder nicht erreicht oder haben einen geringeren Wert.
Verhandlungen
107
hat und in der Situation des Suckers besonders schlecht dasteht, hat einfach weniger Macht. Und es wäre ein Wunder, wenn sich dies in Verhandlungen nicht auswirken würde. Andererseits wäre es aber sicher auch nicht „fair“, wenn das Ergebnis einer Verhandlung nicht in irgendeiner Weise auch davon abhängen würde, daß jemand sich um eine Vermehrung seiner Möglichkeiten bemüht. Freitag, beispielsweise, hätte bei der Nash-Lösung nichts davon, wenn er durch erhöhte Anstrengungen versuchen würde, mehr an Bier zu produzieren und in das System einzubringen und so seine Nutzengrenze zu erhöhen, während der faule Robinson, wenn er so weitermacht wie bisher, in der (Nash-)Verhandlung dennoch den gleichen Anteil aus einem größer gewordenen Kuchen erwarten kann. Kurz: Jemand sollte nicht dafür bestraft werden, daß sich seine Möglichkeiten verbessern. Und das müßte in einer „realistischeren“ Lösung des Verhandlungsproblems ebenfalls zum Ausdruck kommen.
Aus diesen Schwierigkeiten und Überlegungen heraus ist die KalaiSmorodinsky-Lösung entstanden, so genannt nach ihren beiden Erfindern Ehud Kalai und Meir Smorodinsky.4 Die grundlegende Änderung gegenüber der Nash-Lösung ist die Forderung, daß die Nutzengewinne aus der Verhandlung zu den maximal möglichen Gewinnen der Akteure proportional sein sollen. Kalai und Smorodinsky nennen diese Forderung das Axiom der individuellen Monotonie und ersetzen damit das Axiom der Unabhängigkeit von irrelevanten Alternativen von Nash (Kalai und Smorodinsky 1975, S. 515ff.; Holler 1992, S. 62ff.). Die Lösung des Verhandlungsproblems hiernach ist graphisch leicht zu finden: Wenn aus dem Drohpunkt und den beiden oberen Grenzen des Verhandlungsraumes ein Rechteck gebildet und die Diagonale zwischen dem Drohpunkt und der oberen rechten Ecke dieses Rechtecks (außerhalb des Verhandlungsraumes) gezogen wird, dann liegt die Kalai-Smorodinsky-Lösung am Schnittpunkt der Nutzengrenze mit dieser Diagonale. Es ist der Punkt B in Abbildung 4.5 mit den Auszahlungen u1B und u2B. Kalai und Smorodinsky zeigen, ebenfalls mathematisch sehr kunstreich, daß bei einer Einigung das Axiom der individuellen Monotonie, sowie die drei anderen Bedingungen der Nash-Lösung in diesem Punkt erfüllt sind.
4
Ehud Kalai und Meir Smorodinsky, Other Solutions to Nash’s Bargaining Problem, in: Econometrica, 43, 1975, S. 513-518.
110
Opportunitäten und Restriktionen
kommt sie einfach teurer zu stehen, wenn sie eine gute Ausbildung haben und eine einträgliche Tätigkeit ausüben. Das hatten wir in Kapitel 3 oben in diesem Band im Zusammenhang mit der Haushaltsproduktionstheorie schon besprochen. Dort war der Rückgang der Kinderzahlen als alleine schon über gewisse Restriktionen erzwungen angesehen worden. Man kann diesen Zusammenhang zwischen Fertilität und Erwerbschancen von Frauen aber auch auf eine einfache und einsichtige Weise verhandlungstheoretisch erklären. Der Ausgangspunkt sei die Situation eines Paares mit einer bestimmten Nutzengrenze und dem Drohpunkt D1 mit den Auszahlungen ufD1 für die Frau und umD1 für den Mann. Die Auszahlungen für die Frau sind auf der senkrechten, die für den Mann auf der waagerechten Achse eingetragen (vgl. Abbildung 4.7).5 Daraus ergibt sich (nach Kalai-Smorodinsky) der Punkt A als Ergebnis in der Verteilung der nutzenstiftenden Ressourcen in der Beziehung. Nun geht es darum: Kinder oder keine Kinder? Wir wollen annehmen, daß beide – Mann wie Frau – Kinder lieben und gerne welche haben würden. Mit einem Kind würde sich die Nutzengrenze des Verhandlungsraumes für das Paar nach außen verschieben. Gegenüber dem Status quo A bedeutet das eine Nutzenerhöhung für beide, die zwischen den Punkten 1 und 2 des neuen Verhandlungsraumes ausgehandelt werden muß. Wenn der Einigungspunkt auch diesmal wieder nach Kalai-Smorodinsky proportional zu den Nutzengrenzen des Verhandlungsraumes gefunden wird, werden sich beide verbessern, und zwar von Punkt A auf Punkt B mit einem Wert von umB statt nur umA für den Mann und ufB statt nur ufA für die Frau. Also: Kinder!
5
Vgl. Notburga Ott, Familienbildung und familiale Entscheidungsfindung aus verhandlungstheoretischer Sicht, in: Gert Wagner, Notburga Ott und Hans-Joachim HoffmannNowotny (Hrsg.), Familienbildung und Erwerbstätigkeit im demographischen Wandel, Berlin u.a. 1989, S. 97-116.
112
Opportunitäten und Restriktionen
Der Punkt D2 in Abbildung 4.7 kennzeichnet den nach der Erwerbsunterbrechung drohenden Drohpunkt der Frau mit der extrem niedrigen Auszahlung ufD2. Sofort verändert sich der Verhandlungsraum wieder. Und zwar so, daß nun – wieder nach Kalai-Smorodinsky – der Punkt C herauskommt. Weil sich für den Mann der Wert seines Drohpunktes mit umD2=umD1 dabei nicht ändert, profitiert er mit einer Auszahlung in Höhe von umC von der „Entmachtung“ der Frau durch das Kinderkriegen noch einmal deutlich gegenüber der Auszahlung umA. Für die Frau aber sinkt der zu erwartende Nutzen auf ufC. Und das ist weniger als die Auszahlung bei Kinderlosigkeit mit ufA – und sogar schon bedrohlich nahe am ursprünglichen Drohpunkt mit dem Wert ufD1. Und dabei ist nicht zu vergessen: Die Absenkung des Drohpunktes ist nur sehr schwer zu revidieren. Und wer garantiert, daß das nicht doch, trotz aller Liebesschwüre, einmal ausgenutzt wird?
Infolgedessen „lohnt“ sich das Kinderkriegen, bei aller (Kinder-)Liebe, dann doch wieder nicht. Mehr noch: Es liefe auf ein gefährliches Wagnis hinaus. Dann besser, wenngleich schweren Herzens: Keine Kinder! Es ist, wie man sieht, (schon wieder) ein (Gefangenen-)-Dilemma: Obwohl beide Partner an Kindern interessiert sind, kommen sie nicht dazu, weil einer von beiden, wenigstens, befürchten muß, hinterher als der oder die Dumme dazustehen. Und allein, um das zu vermeiden, geschieht wieder nichts. Das alles wird sich auch eine noch so vernünftige Frau „rational“ so wohl nicht überlegen. Jedenfalls wird sie wohl nicht abends auf der Bettkante noch rasch eine Kalai-Smorodinsky-Lösung für ihren Fall aufzeichnen. Aber der Gedanke nagt doch wohl hier und da im Hinterkopf und auch bei mancherlei unvernünftigen Gelegenheiten. Er nagt um so mehr, je deutlicher sich die beschriebenen situationslogischen Gewichte der – so wohl nicht in allen Einzelheiten „bewußten“ – Entscheidung gegen das Kinderkriegen verschieben. Und das tun sie um so stärker, je mehr eine Frau zu verlieren hat. Besonders Frauen mit einer guten Ausbildung und einer höheren beruflichen Position hätten aber viel zu verlieren: Ihr Drohpunkt ist von vornherein höher und ändert sich daher weitaus stärker als bei Frauen mit einer schlechten Ausbildung und geringen Chancen außerhalb der Familie (vgl. Ott 1989, S. 111). Und genau das wird auch immer wieder empirisch festgestellt: Es sind insbesondere die Frauen mit der besseren Ausbildung und in den höheren beruflichen Stellungen, die auf Kinder verzichten.6
6
Vgl. Annette Kohlmann und Johannes Kopp, Verhandlungstheoretische Modellierung des Übergangs zu verschiedenen Kinderzahlen, in: Zeitschrift für Soziologie, 26, 1997, S. 268ff.
Verhandlungen
113
Das Kaldor-Kriterium
Die Grundlage der bisher besprochenen Konzepte von Verhandlungen ist das Pareto-Kriterium: Niemand darf durch eine Umverteilung schlechter gestellt werden als zuvor (vgl. dazu auch schon Kapitel 2 in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Wenn ui den für ein Verhandlungsergebnis erreichbaren Nutzengewinn für den Akteur i bezeichnet, und uj den für den Akteur j, dann gilt also die Bedingung: ui>uj; uj≥0. Auch das aber ist, wie die anderen Bedingungen von John F. Nash, wohl eine zu enge und zu optimistische Sicht der wirklichen Welt. Oft genug stehen sich Verhandlungspartner gegenüber, die sich um Projekte streiten, die dem einen sehr nutzen, dem anderen aber schaden. Nicht immer ist dabei der Schaden des einen größer als der Nutzengewinn des anderen. Trotzdem käme es nach dem Pareto-Kriterium nicht zu einem – insgesamt: profitablen – Ergebnis. Man könnte also auf die Idee kommen, nicht allein auf den individuellen Nutzengewinn zu sehen, sondern auf den Gesamt-Gewinn an Nutzen aus einer bestimmten Einigung. Das ist das sog. Kaldor-Kriterium, benannt nach dem Ökonomen Nicholas Kaldor, der die Idee 1939 in einem kurzen Beitrag im „Economic Journal“ dargelegt hat.7 Wenn, so Nicholas Kaldor, beispielsweise durch die Einführung des Freihandels, etwa für landwirtschaftliche Produkte, die Preise fallen und die Einkommen steigen, weil die Produktivität sich erhöht hat und es mehr Arbeitsplätze gibt, sich aber gleichzeitig für bestimmte Gruppen deren Situation verschlechtert, wie etwa bei den Gutsbesitzern, die zuvor von Subventionen und Privilegien gelebt haben, dann ist diese Verschlechterung bei einigen kein Grund, das in der Summe für alle profitable Unternehmen zu verlassen. Man müsse den Schaden nur ausgleichen: „It is only as a result of this consequential change in the distribution of income that there can be any loss of satisfactions to certain individuals, and hence any need to compare the gains of some with the losses of others. But it is always possible for the Government to ensure that the previous income-distribution should be maintained intact: by compensating the ‚landlords‘ for any loss of income and by providing the funds for such compensation by an extra tax on those whose incomes have been augmented. In this way, everybody is left as well off as before in his capacity as an income recipient; while everybody is better off than before in his capacity as a consumer. For there still remains the benefit of lower corn prices as a result of the repeal of the duty.“ (Ebd., S. 550; Hervorhebungen nicht im Original)
Beim Kaldor-Kriterium wird also nicht darauf geachtet, daß sich jeder besser stellt oder wenigstens nicht verliert, sondern nur daß der gemeinsam erzielte Nutzen größer ist als vorher. Es gilt jetzt, anders als beim Pareto-Kriterium, 7
Nicholas Kaldor, Welfare Propositions of Economics and Inter-Personal Comparisons of Utility, in: The Economic Journal, 49, 1939, S. 549-552.
Verhandlungen
115
auch den Meidungsraum nennen. Für das Kaldor-Kriterium werden die beiden restlichen Quadranten nordwestlich und südöstlich wichtig, in denen jeweils einer der Akteure einen Vorteil hat und der andere einen Nachteil. Die diagonale Linie von oben links nach unten rechts durch den Ursprung unterteilt die beiden Quadranten noch einmal: Oberhalb dieser Linie liegen alle Ergebnisse, bei denen der addierte Nutzen der beiden Akteure größer ist als null, unterhalb, wo er kleiner ist als null. Die beiden so entstehenden Dreiecke beschreiben, zusätzlich zum Pareto-Bereich, alle die Ergebnisse, bei denen der addierte Nutzen beider größer ist als null und für die daher das KaldorKriterium gilt. Weil der summierte Nutzen größer ist als null, würde, wie beim ParetoKriterium, mindestens einer der beiden Akteure von einer Einigung profitieren können, ohne daß der andere einen Schaden hat, sofern nur, anders als beim Pareto-Kriterium, der begünstigte Akteur von seinem Vorteil mindestens soviel abgibt, daß der Schaden des benachteiligten Akteurs ausgeglichen wird (siehe dazu unten noch Näheres zu den sog. Ausgleichszahlungen und Koppelgeschäften).
Der hier so genannte Kaldor-Bereich umfaßt also alle Ergebnisse oberhalb der Diagonalen durch den Nullpunkt von oben links nach unten rechts: die beiden oberen Dreiecke des nordwestlichen und des südöstlichen Quadranten, sowie den ganzen nordöstlichen Quadranten, in dem zusätzlich auch das Pareto-Kriterium gilt. Und wieder: Die „Definition“ der Situation – nach Pareto oder nach Kaldor
Der Pareto-Bereich ist also eine Teilmenge des Kaldor-Bereichs. Verhandlungen nach dem Kaldor-Kriterium setzen die Bereitschaft zu Kompromissen voraus, solche nach dem Pareto-Kriterium dagegen nicht. Welches der beiden Kriterien in einer Verhandlung jeweils „gilt“, hängt nicht zuletzt von der „Definition“ der betreffenden Situation durch die Akteure ab (vgl. Scharpf 1992, S. 54f.): Wenn alle nur egoistisch an ihren eigenen Vorteil denken und das „Gesamtwohl“ eben nicht (wertrational) im Auge haben, dann sind Ergebnisse nur im Pareto-Bereich möglich, weil niemand etwas abgeben will, selbst wenn alle zusammen mehr hätten. Anders ist es, wenn die Akteure eine eher gemeinschaftliche Orientierung haben. Dann ärgert es sie nicht, wenn sie etwas von ihrem Gewinn abgeben müssen, weil das Ganze ja profitiert – und sie selbst über den Ausgleich des Nachteils durch den anderen aber auch nicht darunter leiden müssen. Das Kaldor-Kriterium ist etwas für Altruisten, aber auch nur für solche, die eine Entschädigung für ihr „Opfer“ erwarten dürfen, wie wir gleich sehen werden.
116
Opportunitäten und Restriktionen
Kompromisse
Vielleicht ist die egozentrische Orientierung des Pareto-Kriteriums ja in der Tat eine etwas zu enge und nicht immer realistische Sicht dessen, woran sich Menschen bei Verhandlungen halten. Aber auch die Gemeinwohlorientierung beim Kaldor-Kriterium ist eine wohl etwas blauäugige Erwartung an den normalen Menschen. Wie schön wäre es daher, wenn man die Menschen so lassen kann, wie sie sind, meist: egoistisch nämlich, sie aber gleichwohl zu gemeinschaftlichem Tun bringen könnte! Das ist die Grundidee bei den Ausgleichszahlungen und bei den Koppelgeschäften, die sich oft als allseits nützlicher Kompromiß bei Verhandlungen ergeben, die zwar nicht das ParetoKriterium, wohl aber das Kaldor-Kriterium erfüllen. Ausgleichszahlungen Ausgleichszahlungen sind Entschädigungen, die der profitierende Akteur demjenigen zahlt, der einen Schaden aus dem Geschäft des Akteurs hat (vgl. dazu auch noch das sog. Coase-Theorem in Abschnitt 1.2 in Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Natürlich „lohnt“ sich ein solches Geschäft nur, wenn der Gesamt-Nutzen größer ist als der status quo für beide. Deshalb lassen sich auch mit Ausgleichszahlungen nur solche Projekte verwirklichen, die oberhalb jener Diagonale liegen, die den Kaldor-Bereich nach unten abgrenzt. In Abbildung 4.9 ist das skizziert (vgl. Scharpf 1992, S. 66).
118
Opportunitäten und Restriktionen
Verhandlungsraum erst bei Punkt C’ auf der Nutzenachse u1 und er endet mit dem Punkt C’’ auf der Nutzenachse u2. Verhandelt werden können nun alle die Projekte, die auf der Linie C’ und C’’ liegen. Es ist die Kontraktlinie für die Akteure. Welcher der Punkte zwischen C’ und C’’ dann realisiert wird, ist freilich, wie bei allen Kontraktlinien, eine offene Frage. Selbstverständlich könnte man jetzt auch die Lösungen nach Nash oder Kalai-Smorodinsky – auf eine diesmal „gerade“ Nutzengrenze – anwenden, um das zu erwartende Verhandlungsergebnis zu finden. Koppelgeschäfte
Ausgleichszahlungen setzen voraus, daß die betreffenden Güter entweder beliebig teilbar sind oder in Geldwert ausgedrückt und getauscht werden können. Das aber ist nicht immer der Fall oder möglich. Manchmal geht es um „diskrete“ Objekte oder um Dinge, für die sich Ausgleichszahlungen technisch, normativ oder gar moralisch verbieten. Einen die Nachbarn nervenden Hund etwa will der Besitzer aus emotionalen Gründen um keinen Preis abgeben, und die Nachbarn wollen schon aus Prinzip auf die lauten Grillabende nicht verzichten, auf die hin der nervöse Hund stets sein Gejaule anstimmt. Ähnlich inakzeptabel oder „unbezahlbar“ erscheinen oft Mülldeponien oder Autobahntrassen für Gemeinden, der Verzicht auf Sorgerechte für die Kinder oder die Katzen bei einer Scheidung oder Geständnisse oder Freisprüche in einem Prozeß. Meistens geschieht wegen der grundsätzlichen Unveräußerlichkeit der Güter nichts weiter – zum Schaden aller. Das BKA bot dem in Utrecht gefaßten Terroristen Folkerts seinerzeit 1 Million und ein neues Leben gegen den Verrat des Versteckes von Schleyer. Was hat Folkerts getan? Wir wissen es. Manchmal aber will es der Zufall, daß die Partner wechselseitig solche an sich unveräußerlichen Objekte halten und nicht gänzlich fundamentalistisch gesonnen sind, und daß sich alsbald eine Einigung über ganze „Pakete“ derartiger strittiger Einzelprojekte anbietet, die die für alle profitable Lösung abgibt. Solche Paketlösungen von Verhandlungen werden auch als Koppelgeschäfte bezeichnet. Abbildung 4.10 zeigt, warum es in der Tat oft attraktiv ist, derartige Pakete zu schnüren, selbst wenn es zuvor nicht den leisesten Gedanken an ein Nachgeben gab (vgl. Scharpf 1992, S. 72ff.).
120
Opportunitäten und Restriktionen
Wertbeladenheit eher als ein Ausgleich über Geld, weil nun die Münze die gleiche ist: Moral gegen Moral und Emotion gegen Emotion – und eben nicht gegen das in solchen Fällen in der Tat schnöde und sogar etwas anrüchige Geld (vgl. dazu auch Abschnitt 10.2 in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ über die Konvertibilität von Tauschgütern). Auch nicht 10 Milliarden hätten Folkerts seinerzeit umgestimmt, vielleicht aber eine öffentliche Erklärung des Bundeskanzlers Schmidt, in der dieser das Monopolkapital und den menschenverachtenden militärisch-industriellen Komplex gegeißelt hätte. Aber das wäre genauso undenkbar gewesen, damals: im bleiernen Herbst 1977. Verhandlung als Interaktion
In Verhandlungen geht es oft hoch her: Angebote und Gegenangebote, Zugeständnisse und Vermittlungsversuche, lange Nächte und viel Kaffee, Beschimpfungen und Wiederannäherungen, schließlich die Einigung, oft genug aber auch ein ergebnisloser Abbruch der Gespräche. Auch kosten die Verhandlungen etwas: Je länger sich eine Einigung hinauszögert, um so kleiner wird der Kuchen, den es noch zu verteilen gilt. Nicht immer wird mit offenen Karten gespielt: Versprechungen sind nicht ernst gemeint, es gibt Bluff, Drohungen, und vor allem den – unterschiedlich glaubwürdigen – Hinweis, daß einem die Hände gebunden sind und deshalb ein Zugeständnis gar nicht möglich sei. Wer glaubwürdig drohen kann, hat immer schon gute Karten, und wer als erster die Nerven verliert, hat meist schon alles verloren. Kurz: Verhandlungen sind ein interaktiver Prozeß, der Zeit in Anspruch nimmt, sie sind mit Kosten verbunden, und die Glaubwürdigkeit von Drohungen oder Bindungen spielen eine große Rolle (vgl. Elster 1989b, S. 68f.). In den bisher besprochenen Modellen kommt das alles nicht vor. Sie sind statisch und ein wenig aseptisch und daher etwas sehr wirklichkeitsfremd. Aber es gibt auch Modelle, in denen davon durchaus die Rede ist. Der Prozeß der Einigung: Das Zeuthen-Harsanyi-Modell
Von John C. Harsanyi stammt ein Modell, das den Prozeß genauer nachzubilden versucht, über den zwei Verhandlungspartner zur Nash-Lösung kommen. Er stützt sich dabei auf ein älteres Modell von Frederick Zeuthen, in dem die-
Verhandlungen
121
ser den ja oft verwickelten Prozeß von Lohnverhandlungen abbilden wollte. Das Zeuthen-Modell macht die folgenden Annahmen:9 1. Die beiden Spieler können ihre Angebote und Forderungen im Verlaufe des Verhandlungsprozesses revidieren, indem sie Konzessionen an den jeweils anderen Spieler machen. 2. Bei jedem Schritt schlagen beide Spieler gleichzeitig ein Abkommen vor: A1 ist der Vorschlag von Spieler 1, A2 der von Spieler 2. Werden die Vorschläge akzeptiert, so gibt es für die Spieler die Einigungsauszahlungen u1(A1) bzw. u2(A2). Kommt es nicht zur Einigung, erfolgen die Konfliktauszahlungen c1 und c2. 3. Der Spieler, der am wenigsten bereit ist, den Konflikt zu riskieren, bietet dem anderen eine Konzession an. Das ist das sog. Zeuthen-Prinzip. Es ist eine Variante des principle of least interest. 4. Sind beide Spieler zu einem Konflikt in gleicher Weise bereit, machen beide eine Konzession, sofern nicht bereits eine Einigung erzielt ist.
Die Vorschläge, die sich die Spieler gegenseitig unterbreiten, haben die folgenden Bewertungen: (1) u1(A1) > u1(A2) > c1 (für Spieler 1) (2) u2(A2) > u2(A1) > c2 (für Spieler 2). Jeder Spieler bewertet also den eigenen Vorschlag höher als das Angebot des anderen, und der Vorschlag des anderen wird stets höher bewertet als die Konfliktauszahlung, weil, wenn der andere einen schlechteren Vorschlag machen würde, es einer „Verhandlung“ ja nicht bedürfen würde. Wenn der Spieler 1 nun eine Konzession macht, so heißt das, daß die Bewertung für den Spieler 2 u2(A1) zunimmt, während die Bewertung u1(A1) für den Spieler 1 abnimmt. Die Konzessionsgrenze ist beim jeweiligen Konfliktpunkt erreicht; also dann, wenn, etwa für den Spieler 1, u1(A1)=c1 gilt. Der Spieler 1 wird dann einem Vorschlag des Spielers 2 zustimmen, wenn die Bewertung für dessen Angebot mindestens so hoch ist wie die zuletzt gemachte Konzession bzw. das zuletzt vorgelegte Angebot; wenn also gilt: u1(A2’) ≥ u1(A1). Ein Abkommen wird entsprechend dann geschlossen, wenn jedem mindestens so viel geboten wird, wie er zuletzt verlangt hat:
9
Frederik Zeuthen, Problems of Monopoly and Economic Warfare, New York 1968 (zuerst: London 1930), Kapitel IV: Economic Warfare, S. 111ff.; John C. Harsanyi, Approaches to the Bargaining Problem Before and After the Theory of Games: A Critical Discussion of Zeuthen’s, Hicks’, and Nash’s Theories, in: Econometrica, 24, 1956, S. 144-157. Die folgende Zusammenfassung folgt der Darstellung bei Harsanyi 1977, S. 149ff., und bei Holler 1992, S. 33ff.
122
Opportunitäten und Restriktionen
(3) u1(A2) ≥ u1(A1); und u2(A1) ≥ u2(A2). Was aber, wenn die Vorschläge noch nicht in dieser Weise miteinander kompatibel sind und eine weitere Konzession für einen Spieler nicht in Frage kommt? Dann gibt es nur zwei Möglichkeiten für einen Spieler: Die Wiederholung des letzten eigenen Vorschlages oder das Akzeptieren des letzten Vorschlags des Mitspielers. Die Wiederholung des letzten Vorschlages sei mit w und die Annahme mit a bezeichnet. Es sei nun p21 die vom Spieler 1 eingeschätzte Erwartung, daß der Spieler 2 mit der Wiederholung des Vorschlags von Spieler 1 (A1) nicht einwilligt (vgl. Harsanyi 1956, S. 147ff.). Entsprechend ist (1-p21) die Erwartung von Spieler 1, daß der Spieler 2 das Angebot A1 nun doch akzeptiert. Damit der Spieler 1 seinen Vorschlag A1 wiederholt, muß für ihn, den Regeln der WETheorie gemäß, die Nutzenerwartung dafür, daß der Spieler 2 das wiederholte Angebot akzeptiert, höher sein als die Bewertung des von Spieler 2 zuletzt gemachten Angebotes A2. Und weil sich die Nutzenerwartung für w einerseits aus der Nutzenerwartung für die Annahme von A1 durch den Spieler 2 und der Nutzenerwartung für die Ablehnung durch den Spieler 2 und damit für die Konfliktauszahlung c1 zusammensetzt, ergibt sich als EU-Gewicht für die Wiederholung des Angebotes A1 durch den Spieler 1: (4) EU(w)1 = (1-p21)u1(A1) + p21c1 ≥ u1(A2). Ist diese Bedingung erfüllt, wiederholt Spieler 1 sein letztes Angebot A1, ist sie nicht erfüllt, akzeptiert er das letzte Angebot von Spieler 2, A2, und erhält dann u1(A2). Durch die Umstellung der Beziehung 4 erhält man als Bedingung für die Wiederholung des Angebotes durch den Spieler 1: (5) p21 < (u1(A1) – u1(A2))/(u1(A1) – c1) = r1. Die Ziffer r1, die den langen Ausdruck rechts neben dem Ungleichheitszeichen zusammenfaßt, ist die sog. Risikogrenze des Spielers 1. Sie muß größer sein als die Erwartung p21, daß der Spieler 2 das Angebot ablehnt, „damit“ der Spieler 1 bei seinem Angebot bleibt. Die Risikogrenze r drückt also die Stärke und die Konfliktbereitschaft mit dem Gegenspieler aus. Es ist die Neigung, einen eigenen Vorschlag zu wiederholen, auch auf die Gefahr hin, daß der abgelehnt wird und dann nur noch die Konfliktauszahlung c erfolgt. Unterschiedliche Positionen der (relativen) Stärke und Schwäche lassen sich daher über den Vergleich der Risikogrenzen angeben: Ein Spieler i ist stärker und konfliktbereiter als ein Spieler j, wenn ri>rj gilt. Der Koeffizient r kann Werte zwischen 0 und 1 annehmen: 0
Verhandlungen
123
vor, wenn von beiden Spielern das gleiche Angebot gemacht wird (A1=A2), und somit eine Einigung erzielt wird. Weil p21 nicht kleiner als null werden kann, ist das Konfliktrisiko dann auch gleich null. Ist r1 gleich 1, dann bedeutet dies, daß u1(A2)=c1 ist: Das Angebot des Spielers 2 ist nicht mehr wert als die Konfliktauszahlung für den Spieler 1. Dann hat auch bei sehr hohen Werten von p21 für die Erwartung, daß Spieler 2 ablehnt, Spieler 1 keinerlei Grund, nachgiebig zu werden. Die Differenz u1(A1)-u1(A2) im Zähler des Bruchs der Ungleichung (5) gibt die Kosten für die Annahme des Angebotes A2 wieder: sein Verzicht auf ein eigenes, eventuell besseres Angebot als Einigungspunkt. Und je höher diese Kosten sind, um so wahrscheinlicher ist – ceteris paribus – die Hartnäckigkeit. Die Differenz im Nenner des Bruches u1(A1)-c1 gibt die eventuellen Kosten der Hartnäckigkeit, die Kosten des Konflikts also, wieder. Je höher die Bewertung des Drohpunktes ist, um so kleiner werden die Konfliktkosten, um so größer wird damit der Bruch und um so eher ist wieder mit Unnachgiebigkeit zu rechnen. Die Gleichung (5) erinnert deutlich an die Bedingung für die Evolution der Kooperation aus Abschnitt 5.3 in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“: Wenn das Verhältnis von Kooperationkosten und Konfliktkosten größer ist als die Erwartung über den Schatten der Zukunft, dann kommt es – leider – nicht zur Kooperation.
Nun kann das oben erwähnte Zeuthen-Prinzip auf eine einfache Weise ausgedrückt werden: Wenn r1 < r2 ist, dann wiederholt der Spieler 1 sein letztes Angebot nicht, sondern macht eine Konzession, wenn r1>r2 ist, tut dies der Spieler 2. Ist r1=r2=0, dann machen beide Spieler im nächsten Verhandlungsschritt eine Konzession. Und gilt r1>r2=0, dann machen beide Akteure das gleiche Angebot, und es kommt zur Einigung. Die Bedingung r1
Verhandlungen
125
tet. Dadurch wird das im Vergleich höhere Nash-Produkt N2 mit den Bewertungen u1(A2) und u2(A2) erreicht. Jetzt ist wieder der Spieler 1 am Zug – und so weiter, bis schließlich die Angebote mit A1’=A2’ identisch sind und die für den gegebenen Verhandlungsraum am höchsten gelegene Hyperbel des NashProduktes erreicht ist. Getrieben wird der ganze Prozeß durch das Zeuthen-Prinzip, das ja nichts anderes ist als eine Variante des principle of least interest: Derjenige, der die geringere Risikogrenze aufweist, wird nachgeben und eine Konzession machen, wodurch sich seine Position verschlechtert und die des Gegners verbessert wird. Und das geschieht um so eher, je konfliktbereiter der andere schon ist. Es ist die gleiche Dynamik, die im Büro von Peter M. Blau in Kapitel 12 aus Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ über die Macht den Ratsuchenden dazu brachte, dem schon etwas widerwilligen Experten mit noch größerer Dankbarkeit und Ehrerbietung daherzukommen: Seine Kosten für die drohende Nichteinigung sind einfach größer als für den anderen Akteur. Und erst eine hinreichend hohe Konzession bringt auch den zuvor noch etwas sturen Kollegen dazu, es sich doch noch einmal zu überlegen. Wenn der Kuchen immer kleiner wird
Verhandlungen sind nicht kostenlos. Sie verbrauchen Zeit, Nerven, Schlaf und viel Kaffee, oft teure Berater und Rechtsanwälte, und nicht zuletzt auch Vorsichtsmaßnahmen, um den Drohpunkt nicht allzu tief sinken zu lassen. Deshalb kann nicht unendlich weiterverhandelt werden, weil sonst der Gewinn unter den Fingern zerrinnt, um dessen profitable Aufteilung es geht. Wenn es beispielsweise zwischen zwei Parteien um die Aufteilung eines umstrittenen Erbes von 100 000 DM geht und jede der Parteien einen Anwalt bezahlt, der in jeder Verhandlungsrunde 10 000 DM kostet, dann läßt sich leicht ausrechnen, ab wann sich das „Verhandeln“ nicht mehr lohnt. Aber nicht nur das: Wer die höheren Kosten zu tragen hat, wessen Gewinn mit der Dauer der Verhandlungen stärker abnimmt, wer auf ein möglichst günstiges Ergebnis angewiesen ist oder den Gewinn alsbald benötigt, der besitzt in einer Verhandlung die schlechteren Karten. Und, wehe, die Gegenseite weiß davon (vgl. Elster 1989b, S. 71f.). So sei bekannt, daß die Anwaltskosten der Partei 1 C1=10 000 DM pro Runde betragen, die der Partei 2 aber C2=20 000 DM, etwa weil für sie die Sache schwerer durchzufechten zu sein scheint. Der für eine Partei mit der Verhandlungsrunde zum Zeitpunkt t zu erwartende Gewinn S(t) sei gleich der Einigungssumme S für die jeweilige Partei, abzüglich ihrer Verhandlungskosten C pro Runde, multipliziert mit der Anzahl t der Verhandlungsrunden bis dahin;
126
Opportunitäten und Restriktionen
also: S(t)=S-Ct. Die Partei 2 habe sich nun entschlossen, auf einer Aufteilung des Erbes zur Hälfte zu bestehen. Die Einigungssumme für beide Parteien wäre in diesem Fall also S1’=S2’=50 000 DM, und der zu verteilende Betrag dann diese Summe abzüglich der bis dahin angefallenen Verhandlungskosten. Die Partei 1 schlage nun zum Zeitpunkt t eine Aufteilung von 60% des Erbes zu ihren Gunsten vor. Die Einigungssumme wäre in diesem Falle daher für die Partei 1 der Betrag S1=60 000 DM, für die Partei 2, die gerne 50% haben möchte, jedoch nur S2=40 000 DM. Davon abzuziehen wären natürlich jeweils noch die Kosten der Verhandlungen bis zu dieser Einigung.
Die Frage ist nun: Kann die Partei 2 glaubwürdig auf ihrer Forderung nach einer hälftigen Aufteilung beharren? Die Antwort ist eindeutig: Nein. Denn die Partei 2 kann ja mit der Annahme des Angebotes der Partei 1 in der Runde t immerhin einen Betrag von S(t)2=S2-C2t=40 000-(20 000)t erwarten. Wenn die Partei 2 dieses Angebot aber nicht annimmt, dann ist als Summe nach der nächsten Verhandlungsrunde und bei einer, ohnehin: keineswegs sicheren, Einigung auf die hälftige Aufteilung höchstens zu erwarten: S(t+1)2=S2’-C2(t+1)=50 000-20 000(t+1)=50 000-(20 000)t-20 000=30 000-(20 000)t. Und das wäre ohne Zweifel weniger als die Summe, die mit der sofortigen Zustimmung zum Abgebot der Partei 1 zu erwarten ist. Und weil die Partei 1 das weiß, kann sie kaltlächelnd jeden Bluffversuch der Partei 2 bei deren Forderung nach der Hälfte des Erbes abwarten.
Kurz: Wem eine rasche Einigung auf den Nägeln brennt, der ist weniger konfliktbereit und in seinen Drohungen weniger glaubwürdig als derjenige, der nicht so sehr darauf angewiesen ist, rasch zu einem Ergebnis zu kommen. Und was für die Kosten einer Verhandlung gilt, läßt sich auch auf andere Aspekte der Ungeduld übertragen: Wer nicht mehr lange warten kann, etwa weil seine Lebenserwartung geringer ist oder weil der Wert des Gutes verfällt, wenn noch lange darum gestritten wird, der wird rascher auf ein Angebot eingehen – und große Probleme damit haben, der Gegenseite ein Zugeständnis abzuringen. Glaubwürdige Bindungen
Ein probates Mittel, den anderen zum Einlenken zu bewegen und ein Angebot anzunehmen, das für ihn ersichtlich nicht das beste ist, ist die glaubwürdige Bindung an den Ausschluß bestimmter Alternativen und die daraus erwachsende Drohung, ganz aus dem Geschäft auszusteigen, wenn das Angebot nicht angenommen wird. Wenn jemand beispielsweise nicht mehr als 450 000 DM für ein Haus bezahlen will, das ihm in Wirklichkeit 600 000 DM wert ist, dann muß er dem Verkäufer, der im Moment keine bessere Alternative für den Verkauf hat, aber auch die Wertschätzung des Hauses beim potentiellen Käufer kennt, klarmachen, daß er gar nicht mehr als 450 000 DM bezahlen kann. Wie soll das aber gehen? „Make it true“ empfiehlt Thomas C. Schelling
Verhandlungen
127
(1960, S. 24) einfacherweise. Beispielsweise könnte der potentielle Käufer vorher, öffentlich und unwiderruflich, eine Wette mit jemandem Dritten abgeschlossen haben, wonach er nicht mehr als 450 000 DM bezahlen werde, andernfalls er die Wette verloren habe und 200 000 DM bezahlen müsse. Und die Folge: „The seller has lost; the buyer need simply present the truth. Unless the seller is enraged and withholds the house in sheer spite, the situation has been rigged against him; the ‚objective‘ situation – the buyer’s true incentive – has been voluntarily, conspicuously, and irreversibly hanged. The seller can take it or leave it.“ (Ebd., S. 24)
An die Stelle der Wette können natürlich auch andere Formen der „irrationalen“ und gerade deshalb glaubwürdigen Bindung treten – eine Reputation als extremer Dickschädel oder Geizkragen beispielsweise, oder gültige Normen des Geschäftsverkehrs, etwa, wonach nicht lange in einer Verhandlung gefeilscht wird und das erste Gebot gilt. Unter Ehrenmännern. Bindungen als Kollektivübel
Eine gewisse Irrationalität würde also dem Käufer des Hauses helfen, einen für ihn günstigen Preis durchzusetzen: Wenn dieser als Hitzkopf oder prinzipientreuer Moralist bekannt ist, der alle seine Drohungen wirklich wahr macht und tatsächlich alle Brücken eines Kompromisses hinter sich abgebrochen hat, dann wird der Verkäufer wohl in den Handel einwilligen, obwohl er vielleicht doch noch etwas mehr hätte herausholen können. Was aber, wenn in einer Verhandlung alle Parteien sich vorher festlegen, nur ganz bestimmte Mindestangebote zu akzeptieren? Etwa: Der Makler besteht auf einem Preis von 750 000 DM für das Haus und zeigt dem Käufer die Vollmacht des Hausbesitzers, in der notariell verbrieft ist, daß er gar nicht anders kann. Man ahnt es schon: Dann droht, sozusagen, der GAU für die Verhandlung: Beide Parteien werden auf das Niveau ihrer gegenseitigen Maximalforderungen zurückgeworfen, obwohl jede von irgendeiner Einigung profitieren würde, auch von einer solchen, in der man die „irrationale“ Forderung des jeweils anderen einfach akzeptiert. Das läßt sich leicht an dem folgenden Beispiel sehen (Abbildung 4.12; vgl. Elster 1989a, S. 170f.).
129
Verhandlungen
dem anderen zuvorzukommen, aber auf diese Weise verhindert, daß ein – individuell wie kollektiv – besseres Ergebnis herauskommt. Wenn man die verschiedenen Auszahlungen in eine Matrix mit den gegenseitigen Strategien „Bindung“ vs. „Nicht-Bindung“ schreibt, dann erhalten wir die folgende Auszahlungsstruktur für die beschriebene Situation (Abbildung 4.13):
Spieler 2 Nicht-Bindung
Bindung
Nicht-Bindung
5, 5
4, 6
Bindung
6, 4
3.5, 3.5
Spieler 1
Abb. 4.13: Die gegenseitige Bindung bei einer Verhandlung als ChickenGame
Sofort wird deutlich, um welche spezielle Dilemma-Situation es sich handelt: Es ist ein Chicken-Game mit der schlechtesten Auszahlung bei beiderseitiger Festlegung. Und wir wissen aus Abschnitt 3.2 von Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“, was das bedeutet: Es gibt jetzt zwei (instabile) Gleichgewichte (mit 6,4 bzw. 4,6 als Auszahlungen), in denen jeweils einer dem anderen mit der Festlegung zuvorkommt und der jeweils andere darauf verzichtet, um den GAU der beiderseitigen Festlegung zu verhindern. Aber immerhin hat auch derjenige, der die Nerven verliert, einen gewissen Vorteil: Die beiden Spieler fahren nicht gemeinsam den Abhang ihrer Dickköpfigkeit hinunter. Das tun sie nur, wenn sie sich wirklich beide gebunden haben. Moral und Fundamentalismus nutzen in einem Konflikt immer nur einem. Wenn alle moralisch und fundamentalistisch sind, ist die Katastrophe nicht weit. Glaubwürdigkeit und Rationalität
Wer mit solchen Bindungen droht, muß aber wirklich glaubwürdig sein. Und dazu gehört nicht zuletzt, daß seine Drohung nicht gegen seine eigenen „rationalen“ Interessen verstößt. Drohungen, die nicht mit „guten Gründen“ der Vernunft und des Interesses untermauert sind, reichen nicht weit. Sehen wir
131
Verhandlungen
für den Spieler 2, statt zuvor 3, die der Spieler 2 eigentlich gerne eingestrichen hätte. Perfektes Gleichgewicht
Das beschriebene Problem hat in der Theorie der Verhandlungen zu einer weiteren Kritik am Konzept der Nash-Lösung geführt. Der Nobelpreisträger Reinhard Selten hat 1975 in einem bahnbrechenden Beitrag gezeigt, daß in Spielen, in denen es mehrere (pareto-optimale) Gleichgewichte geben kann, nur solche Gleichgewichte in Frage kommen, die „perfekt“ sind.10 Was damit gemeint ist, wird sofort klar, wenn man die in Abbildung 4.14 beschriebene Sequenz nicht in extensiver Form, sondern, wie in Abbildung 4.15 gezeigt, in der reduzierten Normalform eines Spiels schreibt (vgl. dazu auch schon Kapitel 2 aus Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
Strategien Spieler 2 wenn b, dann c
wenn b, dann d
a
1, 3
1, 3
b
0, 0
2, 2
Strategien Spieler 1
Abb. 4.15: Verhandlungsspiel aus Abbildung 4.14 in Normalform
Die Matrix enthält, wie üblich, die Auszahlungen für die verschiedenen Strategien der Spieler. Es gibt in dieser Darstellungsform des Spiels zwei Gleichgewichte: die Strategiekombination (a; wenn b, dann c) mit der Auszahlung (1,3) und (b; wenn b, dann d) mit der Auszahlung (2,2). Die Gleichgewichte sind jeweils pareto-optimal und wären daher Nash-Gleichgewichte: Wenn eines der Gleichgewichte, wie auch immer, erreicht ist, dann hat keiner der beiden Akteure mehr einen Anreiz, davon abzuweichen. So steht es in der redu10
Reinhard Selten, Reexamination of the Perfectness Concept for Equilibrium Points in Extensive Games, in: International Journal of Game Theory, 4, 1975, S. 25-55; vgl. auch Elster 1989b, S. 70f.
132
Opportunitäten und Restriktionen
zierten Form des Spiels. Die extensive Form des Spiels in Abbildung 4.14 aber macht klar, daß es „in Wirklichkeit“ nur ein Gleichgewicht geben kann: Die Strategie b des Spielers 1 und die Reaktion d des Spielers 2 mit der Auszahlung (2,2). Nur das ist ein „perfektes“ Gleichgewicht. Und nur das ist unter rationalen Spielern zu erwarten. Nicht alle Nash-Gleichgewichte sind also „perfekt“. Das Gleichgewicht (1,3) wäre nur dann möglich, wenn der Spieler 1 auf den Zug a irgendwie „irrational“ festgelegt wäre oder der Spieler 2 auf die Reaktion c, und wenn der Spieler 1 das auch wüßte und in Rechnung stellt. Der Verhandlungstheoretiker Ariel Rubinstein hat im Jahre 1982 auf dieser Grundlage und einigen Vorarbeiten eines schwedischen Kollegen, Ingolf Ståhl, ein weiteres Konzept der Verhandlungstheorie vorgeschlagen, das inzwischen das einfache NashKonzept abzulösen beginnt.11 Es ist ein Modell, das – wie das ZeuthenHarsanyi-Modell – Verhandlungen als interaktiven Prozeß auffaßt, das aber, anders eben als das Zeuthen-Harsanyi-Modell, die Idee des perfekten Gleichgewichts berücksichtigt und auch die Kosten der Verhandlung, sowie die mit ihr verrinnende Zeit und den damit kleiner werdenden Kuchen (vgl. Elster 1989b, S. 70ff.). Es ist der „Wirklichkeit“ schon wieder ein deutliches Stück näher als das von Beginn an etwas allzu blauäugige Nash-Modell. Verhandlung, Koordination und Konflikt
Ein Problem der Verhandlung entsteht, so sei noch einmal erinnert, dadurch, daß es auf der Kontraktkurve verschiedene Lösungen gibt, die beide Parteien besser stellen würden, aber jeweils eben nicht beide unbedingt gleich gut. Keines der Modelle, die wir kennengelernt haben, ist letztlich gänzlich befriedigend. Immer wieder zeigen sich, wenigstens am Rande und durch die Hintertür, bei den zunächst rein nutzentheoretischen Lösungsvorschlägen gewisse „irrationale“ Elemente, die das Geschehen u.U. massiv beeinflussen können: Zeitpräferenzen, Risikobereitschaft, Bindungen. Das Nash-Produkt und die Nash-Lösung sind ohne die Idee der Fairneß nicht denkbar. Und das Konzept der Monotonie nach Kalai-Smorodinsky knüpft auch an eine Wertung an: Jedem das Seine. Manches hängt von der übergreifenden Normierung und einer bestimmten „Definition“ der Situation ab. Beispielsweise: Ob das KaldorKriterium zum Zuge kommen kann, weil alle am Gemeinwohl interessiert 11
Ariel Rubinstein, Perfect Equilibrium in a Bargaining Model, in: Econometrica, 50, 1982, S. 97-109; Ariel Rubinstein, A Bargaining Model with Incomplete Information about Time Preferences, in: Econometrica, 53, 1985, S. 1151-1172; Ingolf Ståhl, Bargaining Theory, Stockholm 1972.
Verhandlungen
133
sind oder nicht, ist eine Frage der „Orientierung“ am Gemeinwohl. Aber das alles ist uns ja schon lange kein besonderes Geheimnis mehr: Wenn es verschiedene „rationale“ Möglichkeiten gibt, von denen sich keine unmittelbar für eine Lösung anbietet, dann werden „Irrationalitäten“, wie etwa Schellingpunkte, kulturelle Traditionen oder andere saliente Festlegungen in der Tat bedeutsam (vgl. dazu bereits Abschnitt 3.1 in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ über das Problem der Koordination auch bei Konflikten). Und auch derjenige, der von der sich anbietenden salienten Lösung einen gewissen Nachteil hat, wird ihr folgen, weil er – vernünftigerweise – eben nicht alles verlieren möchte. Das ist nicht zuletzt die Botschaft von Thomas C. Schelling gewesen, der sich nicht aus purem Zufall gleich nach dem „Essay on Bargaining“ in seinem Buch „The Strategy of Conflict“ (Schelling 1960, S. 53ff.) mit dem Problem der (stillschweigenden) Koordination über kognitive und kulturelle Anhaltspunkte und Gemeinsamkeiten selbst unter solchen Parteien beschäftigt hat, die in heftigem Konflikt miteinander stehen und von einer gelingenden Koordination ganz unterschiedlichen Nutzen hätten: Wenn die Interessen nicht in eine eindeutige Richtung weisen, werden – nicht nur in Verhandlungen – das Wissen und die Symbole wichtig, die die Menschen über alle Gegensätze hinweg miteinander teilen.
Kapitel 5
Tauschgleichgewicht
Die Verhandlung unter zwei Parteien ist ein ganz besonderer Fall von Angebot und Nachfrage. Es ist ein sog. Dyopol, eine Tauschsituation, in der zwei „Monopolisten“ aufeinandertreffen. Mehr als zwei Parteien bilden, solange es nur einige „wenige“ bleiben, ein sog. Oligopol. Bei Verhandlungen unter mehr als zwei Personen wird die Sache sofort viel komplizierter. Das liegt nicht nur daran, daß es jetzt einfach mehr Dickköpfe geben kann, sondern insbesondere an dem Umstand, daß sich nun Teilgruppen bilden und zu Koalitionen zusammenschließen können. Solche Verhandlungen werden auch als NPersonen-Verhandlungsspiele bezeichnet. Auch dafür sind Lösungskonzepte entwickelt worden, wie der sog. Shapley-Wert, der so etwas wie das NashGleichgewicht für multilaterale Verhandlungen ist.1 Wenn es noch mehr Teilnehmer gibt, entsteht nach und nach ein „anonymer“ Markt, auf dem der Beitrag jedes einzelnen nur noch verschwindend gering ist. Damit aber wird die Frage nach der Einigung interessanterweise wieder einfacher, schließlich sogar viel einfacher noch als für die Verhandlungen im Dyopol. Auch das hat einen einfachen Grund: Je mehr Akteure sich den Kuchen teilen müssen, um so kleiner wird die „Linse“ in der Edgeworth-Box, um die gestritten werden kann. Und um so kürzer wird folglich die Kontraktkurve und um so weniger kann noch „verhandelt“ werden. Schließlich schrumpft bei sehr großen Anzahlen von Anbietern und Nachfragern die Kontraktkurve zu einem einzigen Einigungspunkt, dem sog. Marktgleichgewicht. Dieser „eine“ Einigungspunkt wird allgemein auch als kompetitives Gleichgewicht oder als Tauschgleichgewicht (T) bezeichnet. Hier gibt es nur noch einen Preis und eine Menge der getauschten Güter (vgl. dazu noch das folgende Kapitel 6 in diesem Band ausführlich). Und folglich wird auch keine Theorie der Verhandlung mehr benötigt, sondern „nur“ noch ein Modell, das 1
Vgl. Manfred J. Holler, Ökonomische Theorie der Verhandlungen. Einführung, 3. Aufl., München und Wien 1992, Kapitel 7: Mehr-Personen-Verhandlungsspiele, insbesondere S. 103ff.
Tauschgleichgewicht
135
die Bildung dieses Gleichgewichtes erklärt. James S. Coleman hat ein solches Modell entwickelt: Das „Linear System of Action“.2 Es gilt, anders als das übliche Marktmodell der Ökonomie, das wir im folgenden Kapitel 6 besprechen werden, für beliebige Anzahlen und Eigenschaften von Akteuren und Ressourcen und damit im Prinzip auch für den Zwei-Personen-Fall. Es baut auf den beiden grundlegenden Beziehungen auf, die eine Situation bestimmen: Interesse und Kontrolle (vgl. dazu bereits Kapitel 1 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Der Ausgangspunkt des Modells ist eine bestimmte Verteilung von Ressourcen unter einer gewissen Anzahl von Akteuren. Gesucht wird diejenige Verteilung der Ressourcen, bei denen die Akteure ihren jeweiligen Nutzen maximieren. Das ist das Tauschgleichgewicht T.3 Es wird erreicht, indem die Akteure die anfänglich besessenen Ressourcen so tauschen, daß sie nachher mehr von den für sie interessanten Ressourcen haben als vorher und sich letztlich durch keinen weiteren Tausch mehr verbessern können. Kurz: Wenn ein pareto-optimales Gleichgewicht erreicht ist. In dem System gebe es 1,...,i,...,n Akteure und 1,...,j,...,m Ressourcen. Der Tausch beginnt mit einer bestimmten Ausgangsverteilung der Kontrolle der n Akteure über die m Ressourcen. Und an jeder der m Ressourcen hat jeder der n Akteure ein gewisses Interesse, das sich aus seinen Präferenzen dafür ergibt. Es ist dann cij die Kontrolle, die der Akteur i über die Ressource j zu Beginn der Tauschakte ausübt, und iji das Interesse, das der Akteur i an der Ressource j hat. Die gesamte Kontrolle über ein Gut und das gesamte Interesse eines Akteurs sind jeweils auf die Summe 1 normiert (vgl. dazu bereits Abschnitt 10.1 und Kapitel 12 in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Es gilt demnach: (1) Σcij = Σiji = 1.0. In kompakterer Weise lassen sich diese Bedingungen für größere Anzahlen von Akteuren und Ressourcen in Matrizenform schreiben. Dann ist C die nxm-Matrix der Kontrolle der n Akteure über die m Ressourcen und I die mxn-Matrix des Interesses an den m Ressourcen von seiten der n Akteure. Die 2
3
James S. Coleman, Foundations of Social Theory, Cambridge, Mass., und London 1990, Kapitel 25: The Linear System of Action, S. 681ff. Die folgende Darstellung orientiert sich an den Ausführungen bei James S. Coleman, die Notation ist jedoch den in diesem Buch bisher benutzten Abkürzungen für die Konzepte Kontrolle, Interesse, Preis und Macht angepaßt worden: c steht, wie bei Coleman, für Kontrolle; i steht hier für Interesse, p für den Preis eines Gutes und m für die Macht bzw. das Budget des Akteurs. Bei Coleman werden das Interesse mit x, der Preis – als „Wert“ der Ressource – mit v und die Macht mit r abgekürzt.
136
Opportunitäten und Restriktionen
Spaltensummen der beiden Matrizen sind wegen der Normierung jeweils gleich 1 (vgl. Tabelle 5.1). Tabelle 5.1: Die Matrizen von Kontrolle und Interesse im allgemeinen Tauschsystem (nach Coleman 1990, S. 682)
a. Kontroll-Matrix C
1 Akteure i n Σ..
Ressourcen 1 j c11 c1j ci1 cij cn1 cnj 1.0 1.0
b. Interesse-Matrix I
m c1m cim cnm 1.0
1.. Ressourcen j.. m Σ
Akteure 1 i i11 i1i ij1 iji im1 imi 1.0 1.0
n i1n ijn imn 1.0
Leicht lassen sich diese etwas abstrakten Überlegungen an unserem Beispiel mit Robinson und Freitag aus Kapitel 4 in diesem Band durchspielen. Die Ressourcen, um die es geht, seien erneut die 100 Steaks und die 100 Maß Bier. In der Ausgangsverteilung kontrolliere Robinson wieder 85 Steaks und 10 Bier, und Freitag 15 Steaks und 90 Bier. Für die Interessen wollen wir jedoch eine Änderung gegenüber dem Beispiel in Kapitel 4 vornehmen: Robinson und Freitag unterscheiden sich in ihren Interessen und haben wegen ihrer unterschiedlichen Präferenzen unterschiedliche Nutzenfunktionen. Solche voneinander abweichenden Nutzenfunktionen hatten wir schon bei den unterschiedlichen Vorlieben der Franzosen für Kaffee und der Engländer für Tee im Kriegsgefangenenlager kennengelernt (vgl. Abschnitt 3.3 oben in diesem Band). Freitag habe, wie in Kapitel 4, zwar jeweils gleiche Präferenzen für Steaks und Bier, Robinson interessiere sich jetzt jedoch deutlich mehr für die Steaks als für das Bier. Freitag verteile also, wie zuvor, seine Interessen jeweils zur Hälfte auf die beiden Güter, Robinson dagegen zu einem Anteil von 0.80 des Gesamtinteresses von 1.0 auf die Steaks und damit nur zu einem Anteil von 0.20 auf das Bier. Damit müssen bei Robinson die Gewichte im Exponenten der als Nutzenfunktion benutzten Cobb-Douglas-Funktion verändert werden.
Die Nutzenfunktionen für die „Produktion“ von Nutzen über Steaks und Bier lauten deshalb für Robinson und Freitag nunmehr: ur = xb0.20xs0.80 uf = xb0.50xs0.50.
138
Opportunitäten und Restriktionen
kennbar mehr herausholen. Der Grund dafür ist schon intuitiv leicht einzusehen: Robinson hat von den Steaks, die ihn besonders interessieren, mit 85 schon viel unter Kontrolle, und das Bier, von dem er nur 10 kontrolliert, interessiert ihn, wie die Indifferenzkurven zeigen, nicht sonderlich. Freitag ist dagegen an beiden Gütern gleichermaßen interessiert, also auch an den Steaks, von denen er aber, leider, mit 15 nur wenige hat.
Das alles ergibt die beiden folgenden Matrizen für die ursprüngliche Kontrolle über bzw. für das Interesse an Steaks und an Bier bei Robinson und Freitag (Tabelle 5.2): Tabelle 5.2: Die ursprüngliche Verteilung von Kontrolle und Interesse an Steaks und Bier bei Robinson und Freitag
a. Kontrolle
b. Interesse Ressourcen
Robinson Freitag Σ
Steaks 0.85 0.15 1.00
Bier 0.10 0.90 1.00
Akteure Steaks Bier Σ
Robinson 0.80 0.20 1.00
Freitag 0.50 0.50 1.00
Im Tauschgleichgewicht gibt es, wie man sich leicht vorstellen kann, nur einen Preis für die Güter. Der Preis aber ist, wie wir aus Kapitel 1 oben in diesem Band schon wissen, die Rate, mit der jeweils das eine Gut gegen das andere getauscht wird. Er ist somit der „Wert“, den eine Einheit eines Gutes hat. Weil jedes Gut „seinen“ Preis hat, gibt es soviel Preise wie es Güter gibt. Und wenn der Preis pj der Wert ist, den das Gut j besitzt, dann ist der Vektor p der mx1-Vektor aller m Preise für die m Ressourcen im System. In der Ausgangssituation kontrollieren, wie wir oben angenommen haben, die Akteure gewisse Mengen von den Ressourcen. Das ist, wenn man so sagen will, ihr „Einkommen“ bzw. ihr „Budget“, mit dem sie jetzt versuchen können, andere Güter einzutauschen. Der Gesamtwert der Ressourcen, die ein Akteur kontrolliert, ist aber nichts anderes als die Summe der Ressourcen, die er besitzt, multipliziert mit ihrem Preis. Dieser Gesamtwert der von einem Akteur kontrollierten Ressourcen, sein „Einkommen“ bzw. sein „Budget“, kann auch als die Macht m angesehen werden, die ein Akteur im System hat: Es ist die Menge der mit ihrem Wert gewichteten Ressourcen, die für die anderen Akteure von Interesse sind (vgl. dazu bereits Kapitel 12 in Band 3, „Soziales
Tauschgleichgewicht
139
Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Es gilt folglich für die Macht eines jeden Akteurs i im System: (2) mi = Σcijpj Die Macht mi eines Akteurs i bestimmt dann, als sein „Einkommen“ bzw. als sein „Budget“, wie seine Budgetrestriktion aussieht. Davon aber hängt ab, welche Güterkombinationen ihm überhaupt möglich sind. Gesucht wird nun – wie im einfachen Zwei-Güter-Fall aus Abschnitt 3.2 oben in diesem Band – jene Güterkombination aus allen möglichen, die seinen Nutzen vor dem Hintergrund der gegebenen Präferenzen maximiert. Wo dieses Maximum liegt, wissen wir im Prinzip auch schon aus Abschnitt 3.2 oben in diesem Band: Es ist erreicht, wenn das Verhältnis der Nutzenzuwächse pro eingesetzter Gütereinheit gleich dem (negativen) Preisverhältnis ist, bzw. wenn die Nutzenfunktion bzw. die Indifferenzkurve die gleiche Steigung wie die Budgetgerade hat. Wenn es viele Akteure und viele Ressourcen und obendrein noch unterschiedliche Interessen und Nutzenfunktionen gibt, ist die Lösung der Maximierungsaufgabe technisch deutlich unübersichtlicher als im einfachen Zwei-Güter-Fall nur eines „Konsumenten“. Die Mathematiker haben für solche Probleme der Maximierung unter gewissen Nebenbedingungen für größere Anzahlen von Gleichungen und Unbekannten die Technik der Lagrange-Multiplikatoren erfunden. Diese Technik müssen wir hier nicht darstellen.4 Wichtig ist nur das Ergebnis für unser spezielles Problem hier. Und das Ergebnis ist wiederum nicht sehr schwer zu verstehen.
Gesucht wird also die Maximierung der Nutzenfunktion ui(ci1,...,cim) unter der Nebenbedingung der Budgetrestriktion mi=Σcijpj. Mit Hilfe der o.a. Technik der Lagrange-Multiplikatoren findet man die folgende Gleichung, unter der diese Bedingungen erfüllt sind, wobei die Größe c*ij die im Nutzenmaximum vom Akteur i nachgefragte Menge der Ressource j bezeichnet (vgl. Coleman 1990, S. 683): (3) iji/(c*ijpj)ui - imi/(c*impm)ui = 0. Die Gleichung (3) ergibt, wenn man umstellt und ui wegkürzt, für alle Paare von Ressourcen j und k für jeden Akteur i im System: (4) iji/(c*ijpj) = iki/(c*ikpk).
4
Vgl. aber für eine auch für Nicht-Mathematiker gut verständliche Darstellung: Edwin von Böventer, Einführung in die Mikroökonomie, 4. Aufl., München und Wien 1986, S. 94ff.
140
Opportunitäten und Restriktionen
Mit der Multiplikation der beiden Brüche in Gleichung (4) jeweils mit ihrem Nenner, sowie der Summierung über j ergibt sich ferner: (5) c*ikpkΣiji = ikiΣc*ijpj. Da aber nach Gleichung (1) Σiji=1 und nach Gleichung (2) Σc*ijpj=mi sind, wird die Gleichung (5) zu: (6) c*ikpk = ikimi. Die Gleichung (6) setzt also die nutzenmaximierende Menge des Gutes k für den Akteur i zum Preis des Gutes k, seinem Interesse an dem Gut und seiner Macht bzw. seinen Möglichkeiten in Beziehung. Die Gleichung (6) läßt sich dann wiederum in die Gleichung (7) umstellen: (7) c*ik = ikimi/pk. Wenn nun beide Seiten der Gleichung mit pk multipliziert werden, und wenn über alle n Akteure i im System aufsummiert wird, ergibt sich, weil ja nach (1) auch Σc*ik=1 gilt: (8) pk = Σikimi Wird nun in Gleichung (8) für die Macht mi der Ausdruck Σcijpj gemäß Gleichung (2) eingesetzt, so ergibt sich für den Preis der Ressource k: (9) pk = ΣikiΣcijpj. Diese Beziehung zwischen Preisen, Interesse und Kontrolle läßt sich ebenfalls am einfachsten und kompaktesten in Matrix- und Vektorenschreibweise ausdrücken, wobei p der Vektor der Preise der Ressourcen und I und C die Interessen- bzw. die Kontrollmatrix für die Ausgangsverteilung der Ressourcen sind. Also: (10) p = ICp. Um die Berechungen durchführen zu können, müssen auch noch die Preise der Güter und die Macht der Akteure auf 1 normiert werden. Es gilt also: (11) Σpk = Σmi = 1.0.
141
Tauschgleichgewicht
Damit ist alles beisammen, um das gesuchte Tauschgleichgewicht T zu bestimmen: Bei welchen Mengen an Gütern können sich Robinson und Freitag durch einen beliebigen weiteren Tausch nicht mehr verbessern? Und was müßten sie gegenüber der Ausgangsverteilung abgeben bzw. bekommen, damit dieses Gleichgewicht erreicht wird? Die Lösung des Problems geschieht schrittweise. Weil die Werte der Interessen- und der Kontrollmatrix mit der Ausgangsverteilung gegeben sind, können zuerst über die Gleichungen (9) bzw. (10) die Preise pk bestimmt werden. Die so gefundenen Werte für die Preise können dann in die Gleichung (2) für die Bestimmung der Macht mi der Akteure eingesetzt werden. Und die Werte dafür wiederum können genutzt werden, um die Kontrolle über die Ressourcen im nutzenmaximierenden Gleichgewicht c*ij nach Gleichung (6) zu bestimmen.
Wie im Prinzip die Bestimmung des Tauschgleichgewichtes vor sich geht, sei gleich an dem konkreten Beispiel für Robinson und Freitag gezeigt. Zunächst muß der Vektor p für die Preise ps für ein Steak und pb für eine Maß Bier gefunden werden, wobei wegen der Normierung der Preise nach Gleichung (11) in diesem Fall freundlicherweise pb=1-ps gilt. Trägt man die noch offenen Preise und die bereits bekannten Werte für die Kontrolle und für das Interesse in die Vektoren und Matrizen der Beziehung (10) ein, so ergibt sich: ps
=
pb
0.80
0.50
0.20
0.50
•
0.85
0.10
0.15
0.90
•
ps 1-ps
Zuerst multiplizieren wir die Kontrollmatrix C mit dem Preisvektor rechts. Das ergibt einen Vektor mit den folgenden Werten: ps pb
=
0.80
0.50
0.20
0.50
•
(0.85ps+0.10(1-ps)) (0.15ps+0.90(1-ps))
Um den Wert für den Preis ps zu finden, muß nun die erste Zeile der Interessenmatrix mit dem so entstandenen neuen Vektor rechts multipliziert und das Ganze nach ps aufgelöst werden. Das ergibt: ps = 0.80(0.85ps+0.10(1-ps)) + 0.50(0.15ps+0.90(1-ps)) = 0.684. Und daraus findet man wegen der Gleichung (11) für pb einfacherweise sogleich:
142
Opportunitäten und Restriktionen
pb = 1 - ps = 0.316. Daraus läßt sich nun wiederum die Macht für Robinson und Freitag gemäß der Gleichung (2) ausrechnen: mr = crsps + crbpb = 0.85⋅0.684+0.10⋅0.316 = 0.613 mf = cfsps + cfbpb = 0.15⋅0.684+0.90⋅0.316 = 0.387. Und jetzt ist es nicht mehr schwer, das nutzenmaximierende Tauschgleichgewicht T und die damit verbundene Kontrolle c* über die Steaks und das Bier für Robinson und Freitag nach Gleichung (7) zu bestimmen: c*rs = isrmr/ps = 0.80⋅0.613/0.684 = 0.717 c*rb = ibrmr/pb = 0.20⋅0.613/0.316 = 0.388 c*fs = isfmf/ps = 0.50⋅0.387/0.684 = 0.283 c*fb = ibfmf/pb = 0.50⋅0.387/0.316 = 0.612. Das Tauschgleichgewicht T befindet sich also bei ca. 72 Steaks und etwa 39 Maß Bier für Robinson und 28 Steaks und 61 Maß Bier für Freitag. Es ist der Punkt T auf der Kontraktlinie der Egdeworth-Box in Abbildung 5.1. Man erkennt, daß im Tauschgleichgewicht T Robinson vergleichsweise besser dasteht als Freitag. Er kontrolliert 72% der Steaks und immerhin auch 39% des Bieres im System. Dazu hat er zwar 13 seiner 85 Steaks abgeben müssen, dafür aber 29 Maß Bier erhalten. Die Ungleichheit der Verteilung im Gleichgewicht hat einen einfachen Grund, den wir bei der Besprechung der Asymmetrie in den Indifferenzkurven schon gefunden haben: Robinson ist mächtiger als Freitag. Man sieht es an den Machtindizes mr und mf: Robinson kontrolliert 61% der Macht im System, Freitag die restlichen 39%. Und dieses Machtgefälle ist wiederum leicht zu verstehen: Robinson interessiert sich besonders für das, was er ohnehin schon hat – Steaks. Das treibt den Preis für die Steaks nach oben. Und weil Robinson von den für Freitag besonders interessanten und deshalb teuren Steaks schon vergleichsweise viel hat, ist er auf Freitag mit dessen relativ uninteressanten und deshalb vergleichsweise billigen Bier nicht sonderlich angewiesen. Die Ungleichheit im Tauschgleichgewicht T ist – so sei noch einmal festgehalten – eine Folge des Prinzips des geringsten Interesses und der dadurch erzeugten Machtunterschiede (vgl. dazu schon Kapitel 12 in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Gleichwohl machen beide Akteure aus der Situation das für sie beste. Freitag würde sich nur noch schlechter stellen, wenn er eine andere Verteilung haben möchte. Das alles gilt freilich nur für den Status quo, für die gegebenen Präferenzen also, die wohl nur schwer zu ändern sind, und auch nur für die gegebene Ausgangsverteilung. Daran allerdings könnte man etwas ändern. Nur hat Freitag die Macht dazu leider nicht. Und deshalb fügt er sich und optimiert das, was ihm bleibt. Es ist der „rationale“ Konsensus in die Unterwerfung. Ein 68er müßte jetzt graue Haare bekommen, wenn er sie noch nicht hat.
Tauschgleichgewicht
143
Das Coleman-Modell des Tauschgleichgewichtes präzisiert und integriert, wie wir sehen, die verschiedenen anderen Ansätze zur Erklärung von Tausch, Verhandlung und Macht, auch die, die wir aus den Kapiteln 10 und 12 aus Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ bereits kennen. Es ist das übergreifende Modell und Bindeglied zwischen den Verhandlungssystemen weniger Akteure auf der einen und dem System des anonymen Marktes großer Anzahlen von Anbietern und Nachfragern auf der anderen Seite. Und darum geht es im jetzt anschließenden Kapitel.
Kapitel 6
Das System des Marktes
Anbieter und Nachfrager befinden sich in einer Situation der Interessenkonvergenz: Sie möchten tauschen, weil das für sie beiderseitig nützlich ist. Sie haben aber nicht nur ein gemeinsames Interesse, sondern befinden sich auch in einem Konflikt miteinander: Der eine will seinen Nutzen, der andere seinen Gewinn maximieren. Und das heißt: Ein Nachfrager möchte einen möglichst niedrigen Preis zahlen, ein Anbieter einen möglichst hohen Preis erzielen. Aber welcher Preis soll es angesichts dieses „Widerspruchs“ denn sein? Es ist, wie wir sehen, erneut ein Fall der antagonistischen Kooperation, jenes grundlegenden Problems also, das sich durch fast alle sozialen Situationen zieht, in die Menschen eingebunden sind. Der Markt ist eine ganz besonders elegante, geräuschlose und unwiderstehliche Lösung dieses Problems, fast so, daß man vergessen könnte, daß die Akteure nicht nur zufrieden sind, sondern auch in Konflikt miteinander stehen. Er ist der „Ort“, an dem viele Anbieter und Nachfrager mit ihrem Angebot und ihrer Nachfrage aufeinandertreffen. Anders als im Dyopol oder im Oligopol kann bei einem Markt wegen der großen Zahl der Akteure nicht mehr „verhandelt“ oder gar gefeilscht werden. Seine Anonymität erzwingt eine einheitliche, eine stabile und eine von keinem einzelnen Akteur anfechtbare Lösung: Es gibt im Marktgleichgewicht nur einen Preis und eine Menge, die zu diesem Preis nachgefragt und angeboten wird. Wie aber kommt es dazu? Das Marktgleichgewicht Zur Lösung des Rätsels sehen wir uns die Nachfrage- und die Angebotsfunktion, die wir in Kapitel 2 oben in diesem Band getrennt betrachtet haben, einmal gemeinsam an (Abbildung 6.1):
146
Opportunitäten und Restriktionen
Form können die Angebots- und die Nachfragemenge als lineare Funktionen des Preises beschrieben werden. Weil es nur einen Preis p geben soll, gilt demnach: p = a - bxd für die Nachfragefunktion; p = c + dxs für die Angebotsfunktion. Für die Gleichgewichtsmenge x* gilt, daß die angebotene und die nachgefragte Menge übereinstimmen. Also: xd=xs=x*. Und für den Preis p kann in die Angebotsfunktion dessen Definition aus der Nachfragefunktion eingesetzt werden. Damit können wir die Gleichgewichtsmenge x* bestimmen. Es gilt: a - bx* = c + dx* a - c = (b + d)x*; und dann x* = (a - c)/(b + d). Für die Bestimmung des Gleichgewichtspreises gehen wir von der Nachfragefunktion und von der Annahme aus, daß für diesen Preis gilt: p*=a-bx. Seinen Wert findet man durch Einsetzen des eben gefundenen Ausdrucks für die bei diesem Preis geltende Gleichgewichtsmenge x*=(a-c)/(b+d). Also: p* = a - bx* = a - b((a - c)/(b + d)) Der Ausdruck a wird nun um den Bruch (b+d)/(b+d)=1 erweitert. Das ergibt: p* = a(b + d)/(b + d) - b(a - c)/(b + d)) = (a(b + d) - b(a - c))/(b + d) = (ab + ad - ab + bc)/(b + d) Und daraus folgt schließlich für den Gleichgewichtspreis p*: p* = (ad + bc)/(b + d). Noch einmal zusammengefaßt gelten für die Koordinaten des Marktgleichgewichtes somit die folgenden Beziehungen: p* = (ad + bc)/(b + d) x* = (a - c)/(b + d).
Das System des Marktes
147
Die Buchstaben bezeichnen die Steigungen und Achsenbschnitte der Angebots- und der Nachfragefunktion. Sind die Achsenabschnitte a und c und die Steigungen b und d der beiden Funktionen bekannt, lassen sich die Koordinaten des Marktgleichgewichtes leicht berechnen. Das wollen wir an einem Zahlenbeispiel gleich ausprobieren. Angenommen, die beiden Funktionen hätten die folgenden konkreten Parameter: p = 10 - xd. p = 2 + 3xs Nun müssen die betreffenden Werte nur noch in die Gleichungen für den Gleichgewichtspreis bzw. für die Gleichgewichtsmenge eingesetzt werden: p*= (10⋅3 + 1⋅2)/(1 + 3) = 32/4 = 8; x* = (10 - 2)/(1 + 3) = 8/4 = 2. Mit diesen Funktionen haben wir auch das Diagramm in Abbildung 6.1 gezeichnet. Das Marktgleichgewicht liegt mit seinen Koordinaten p*=8 und x*=2 genau im Schnittpunkt der Angebots- und der Nachfragefunktion.
Die Nachfrage- und die Angebotsfunktionen müssen natürlich nicht wie im Beispiel so einfach und – vor allem – nicht linear sein. Aber die Ermittlung des Marktgleichgewichtes ist selbstverständlich auch bei komplizierteren Funktionen möglich, wenn sie nur gewisse Eigenschaften haben, die es erlauben, eine mathematische Lösung zu finden. Das Wunder des Marktes
Im Marktgleichgewicht gibt es genau den Preis, der nötig ist, damit genügend Anbieter auf ihre (Produktions-)Kosten kommen, um genau diese Menge auf den Markt bringen zu können. Und es ist auch genau der Preis, der dafür sorgt, daß ausreichend Nachfrager da sind, die das Angebot annehmen können und wollen. Alle anderen Preise lassen entweder einen Überschuß an Nachfragern oder Anbietern oder einen Mangel daran entstehen. Das sieht man leicht an den beiden zum Gleichgewichtspreis p* alternativen Preisen p1 und p2 in Abbildung 6.1. Bei dem gegenüber p* zu hohen Preis p1 ist die Nachfragemenge zu niedrig und die Angebotsmenge zu groß. Es gibt ein Überschußangebot in Höhe von x1s-x1d, weil jetzt auch eigentlich unrentabel produzierende Anbieter auf den Markt drängen und weil viele
148
Opportunitäten und Restriktionen
Nachfrager nicht so viel bezahlen können oder wollen, wie für die Produkte verlangt wird. Der Preis p2 ist dagegen zu niedrig. Jetzt gibt es mit x2d-x2s eine Überschußnachfrage, weil nun auch Nachfrager mit einem geringeren Budget die Produkte verlangen, und weil gleichzeitig zu diesem niedrigen Preis manche Anbieter nicht mehr rentabel produzieren können, und deren Produkte daher auf dem Markt fehlen.
Das Marktgleichgewicht beschreibt ein kleines Wunder: Ohne jede Absprache und ohne jede weitere überindividuelle Koordination entsteht ein Preis, bei dem genau so viel angeboten wird, wie an Nachfrage vorhanden ist. Das Wunder entsteht als – so nicht intendierte – Folge der unzähligen bilateralen Verhandlungen und Transaktionen der einzelnen Anbieter und Nachfrager. Und daraus ergibt sich – ebenso wundersamerweise – im Kollektiv des Marktes eine stabile Ordnung, ohne daß diese Ordnung irgend jemand bewußt schafft. Der Markt ist ein „ultra“-stabiles soziales System, und die Ökonomie ist die „Systemtheorie“, die das Geschehen erklärt. Das Cobweb-Theorem
Bis heute gibt es allerdings (noch) keine befriedigende erklärende Theorie darüber, wie ohne Zeitverzögerung und ohne zentrale Koordination ein Marktgleichgewicht auch bei sehr großen Märkten entstehen kann, über die die Akteure keine Übersicht haben können. Aber nicht nur jeder Wochenmarkt funktioniert auf diese phantastische Weise. Warum der Punkt (p*,x*) ein Gleichgewicht ist, läßt sich jedoch gut verstehen, wenn wir es als das Ergebnis einer sukzessiv erfolgenden dynamischen Anpassung des Verhaltens von Anbietern und Nachfragern rekonstruieren (vgl. Abbildung 6.2).
Das System des Marktes
151
lige Abweichung des Preises vom Gleichgewichtspreis p* wieder. Unmittelbar wird sichtbar, was geschieht: Nach der Störung des Marktes in der Periode 0 durch den zu hohen Preis p0 sinkt der Preis in der Periode 1 unter den Gleichgewichtspreis auf p1. Aber die Auslenkung ist jetzt schon sichtbar geringer als in der Vorperiode. Das geht in einer im Prinzip unendlichen Folge von schließlich infinitesimal kleinen Schritten der Anpassung immer weiter – bis die Differenz zum Preis p* ganz verschwunden ist und der Markt im Grenzwert dieses Prozesses sein Gleichgewicht wiedergefunden hat. Feedback
Das Cobweb-Modell ist ein Spezialfall eines allgemeineren Zusammenhangs – der inneren Dynamik eines Prozesses, bei dem sich die Variablen zweier Funktionen gegenseitig beeinflussen. Eine solche wechselseitige kausale Beeinflussung von Variablen im Zeitablauf wird auch als Feedback bezeichnet (vgl. dazu auch schon die Abschnitte 7.3 und 7.4 in Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“): Die eine Variable „füttert“ die andere, und die füttert wieder die erste „zurück“. Diesen Zusammenhang wollen wir uns am Beispiel des Marktmodells einmal etwas genauer ansehen. Betrachtet werde die Dynamik eines Feedbackprozesses mit diskreten Zeitintervallen. In Abbildung 6.4 ist zunächst wieder die Änderung des Preises nach einer Abweichung vom Gleichgewicht so beschrieben, wie es das Cobweb-Theorem angibt: Der Preis steigt in der Periode n=0 vom Gleichgewichtspreis p* auf die Höhe p0. Es entsteht dadurch ein Angebotsüberschuß, und darauf fällt der Preis wieder, diesmal unter den Gleichgewichtspreis auf die Höhe p1.
Das System des Marktes
153
Verallgemeinert man diese Überlegung auf Differenzen der Auslenkungen zwischen beliebigen Perioden n und n+1, dann kann man für die Veränderung der Auslenkungen zwischen einer beliebigen Periode n und einer darauffolgenden Periode n+1 schreiben: dpn - dpn+1 = kdpn. Daraus ergibt sich für die Differenz der Abweichung vom Gleichgewichtspreis in der jeweils auf eine Periode n folgenden Periode n+1: dpn+1 = dpn - kdpn dpn+1 = (1-k)dpn. Das Gewicht (1-k) bestimmt also die auf die Periode n folgenden Änderungen der Abweichungen vom Gleichgewicht. Die Frage ist nun, was nach einer großen Anzahl von n Perioden mit dieser Abweichung vom Gleichgewicht geschieht. Angenommen sei wieder ein Auslenkungspreis p0, der eine erste Differenz zum Gleichgewichtspreis in der Periode 0 in Höhe von dp0 erzeugt. Dann beträgt die Differenz zum Gleichgewicht in den nächsten Perioden 1, 2 bis n allgemein: dp1 = (1-k)dp0 dp2 = (1-k)dp1 = (1-k)(1-k)dp0 = (1-k)2dp0 dp3 = (1-k)dp2 = (1-k)3dp0 . . . dpn = (1-k)ndp0. Die Beziehung dpn=(1-k)ndp0 der Änderung der Auslenkungen für beliebige Anzahlen von Perioden n ist die Grundgleichung des Systems dieses Feedbackprozesses. Mit ihr lassen sich alle Zustände des Systems – gemessen als Abweichungen der Preise vom Gleichgewicht – nach beliebig vielen Perioden berechnen. Man muß „nur“ zwei Parameter kennen: die Ausgangsdifferenz dp0 aus der „Störung“ p0 gegenüber dem Gleichgewicht p*; und – insbesondere – den Koeffizienten k bzw. das Gewicht (1-k).
154
Opportunitäten und Restriktionen
Einen wichtigen Fall eines Feedbackprozesses haben wir bereits graphisch in Abbildung 6.2 kennengelernt: Die Konvergenz des Prozesses wieder zurück zum Gleichgewichtspreis p*, bei dem die Abweichungen mal positiv, mal negativ um das Gleichgewicht herum oszillieren, aber immer kleiner werden. Dazu muß der Koeffizient k größer als 1, aber kleiner als 2 sein (siehe dazu auch noch unten näher). Das heißt, daß das Gewicht (1-k) zwischen 0 und -1 liegt. Das führt dazu, daß die Abweichungen vom Gleichgewicht mit der Periodenzahl immer kleiner werden, aber abwechselnd ein anderes Vorzeichen haben und deshalb einmal positiv und dann wieder negativ sind. Wenn beispielsweise k=1.5 wäre, dann ist (1-k)=-.5. In der Periode 0 ist (-.5)0 natürlich gleich 1, und die Abweichung daher 1⋅dp0=dp0. In der Periode 1 gilt dann (-.5)1=-.5. Die Abweichung ist jetzt negativ, aber im Betrag um die Hälfte kleiner geworden: (-.5)dp0. In der zweiten Periode gilt (1-k)2 gleich (-.5)⋅(-.5)=.25. Nun ist die Abweichung wieder positiv, aber erneut um die Hälfte geringer als zuvor: (.25)dp0. In der dritten Periode finden wir für das Gewicht (-.5)⋅(-.5)⋅(-.5)=-.125 bzw. für die Abweichung von der ersten Auslenkung -.125dp0 – und so weiter. Mit zunehmendem n geht somit der Betrag von (1-k)ndp0 asymptotisch gegen null: Der Prozeß findet unter ständigem Vorzeichenwechsel allmählich zum Gleichgewicht zurück.
Unter der geschilderten Bedingung ist der Grenzwert der Abweichung vom Gleichgewicht gleich null: Das Gleichgewicht ist nach n Perioden wieder erreicht. Und die Eigenschaft 1
Ein solcher Fall der Selbstkorrektur wird allgemein auch als negatives Feedback bezeichnet: Die Differenzen fallen mit der Dauer des Prozesses immer kleiner aus. Negatives Feedback ist einer der wichtigsten Mechanismen der Selbststeuerung von Systemen aller Art. Der Thermostat in der Wohnung funktioniert so, wie eine gute Ehe, bei der jede Störung sogleich wieder korrigiert wird. Es ist ein Fall der Selbstregulation eines Systems, ein Fall der Systemintegration also (vgl. dazu auch schon Kapitel und Abschnitt 7.4 in Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Bei einem positiven Feedback gilt das Gegenteil: Die Differenzen werden immer größer, und das System läuft von selbst aus dem Ruder und „explodiert“ schließlich geradezu. Sechs Prozeßtypen
Der Koeffizient k kann – wie man wohl schon ahnt – durchaus verschiedene Werte annehmen. Bestimmte Werte von k erzeugen typische Verläufe von Feedbackprozessen. Insgesamt sechs typische Fälle lassen sich unterscheiden.
Das System des Marktes
155
Von denen sind die ersten drei ohne, die nächsten drei mit Vorzeichenwechsel bei einer Änderung der Differenzen. Der erste betrachtete Fall ist auch ein negativer Feedbackprozeß. Er ist durch 0
2 ist, dann gerät das System mit einer noch so kleinen ersten Auslenkung außer Kontrolle: Die Amplituden der Differenzen in den Preisen werden immer größer. Es sei beispielsweise k=3. Dann gilt (1-k)=(1-3)=-2. Es wird unmittelbar erkennbar, daß der Wert (1-k)n=(-2)n bald über alle Grenzen hinauswächst, sobald es nur eine winzige Störung p0 gibt: Das System „explodiert“.
Das Marktmodell gehört zu den letzteren drei Typen, bei denen die Abweichungen stets ihre Richtung ändern. Das hat einen einfachen Grund: Weil die Steigungen von Angebot und Nachfrage ein unterschiedliches Vorzeichen haben, müssen die Anpassungen um das Gleichgewicht oszillieren. Das Cobweb-Theorem zeigt dieses Verhalten der Marktanpassung sehr anschaulich. Die „Explosion“ des Marktes
Den letzten Fall aus der Systematik der Feedback-Prozesse – die mögliche Explosion des Systems eines Marktes – wollen wir auch graphisch darstellen (Abbildung 6.5).
Das System des Marktes
157
dung 6.2 oder 6.3, in denen der Markt bald sein Gleichgewicht wieder findet. Fällt Ihnen etwas auf? Gleich unten werden wir das Rätsel lösen. Eine graphische Systematik
Der Koeffizient k kann ganz allgemein als ein Hinweis auf die „Sensibilität“ des Prozesses angesehen werden. Ist k genau gleich 0 oder 2, dann ist der Prozeß extrem unsensibel: Die einmal ausgelenkte Abweichung wird beibehalten, mal ohne, mal mit wechselndem Vorzeichen der konstant bleibenden Differenzen. Hat k den Wert 1, dann reagiert der Prozeß unendlich sensibel in Richtung auf eine Wiederherstellung des Gleichgewichtes. Wird k größer als 2, dann reagiert das System mit einer Ausweitung, die um so rascher verläuft, je größer k ist. Den freundlichen selbstkorrigierenden Fall des negativen Feedbacks haben wir nur, wenn k zwischen 0 und 1 oder zwischen 1 und 2 liegt. Und dann wird das Gleichgewicht um so eher wieder gefunden, je näher k an den Wert 1 – einmal von „unten“ von der 0 her, das andere Mal von „oben“ von der 2 her – herankommt.
In Abbildung 6.6 sind diese insgesamt sechs Prozeßtypen zusammenfassend systematisiert und graphisch verdeutlicht.
160
Opportunitäten und Restriktionen
Es sei angenommen, daß die Menge des Gutes X auf dem Markt – aus welchen Gründen auch immer – von x* auf x1 ausgeweitet worden sei. Der Punkt C bezeichnet die Höhe des Gleichgewichtspreises p*, der Punkt A den für die erhöhte Menge „nötigen“ Angebotspreis p1, und der Punkt B den Preis p2, den bei der Menge x1 die Nachfrager zu zahlen bereit wären. Wichtig sind nun die beiden Differenzen AC und CB. AC bezeichnet die Auslenkung in der ersten Periode, BC die nach der ersten Periode. Leicht wird jetzt erkennbar, wann das System konvergiert, wann es explodiert oder wann es dauerhaft in konstanten Zyklen um das Gleichgewicht oszilliert. Wenn AC größer ist als CB, dann konvergiert der Prozeß, weil in jeder folgenden Periode die Differenz der Abweichung kleiner wird. Das ist aber nur der Fall, wenn die Steigung der Angebotsfunktion relativ zur Nachfragefunktion größer ist. Denn nur dann ist in der Tat die zweite Differenz CB im Vergleich zur ersten Differenz AC kleiner. Umgekehrtes gilt für die „Explosion“: Wenn die Differenz AC kleiner ist als die Differenz CB, dann entfernt sich der Prozeß weg vom Gleichgewicht, weil jetzt in jeder Periode die Auslenkungsunterschiede zunehmen. Das ist der Fall, wenn die Steigung der Angebotsfunktion relativ zur Nachfragefunktion kleiner ist. Sind die beiden Steigungen jedoch gleich, dann sind auch die Abstände AC und CB jeweils immer gleich. Und dann oszilliert der Preis unendlich mit einer konstanten Differenz um den Gleichgewichtspreis p*.
Die Steigung der Angebots- bzw. der Nachfragefunktion wird auch als deren Elastizität bezeichnet. Damit ist – allgemein – das Verhältnis der proportionalen Änderung einer Variablen zur proportionalen Änderung einer anderen Variablen gemeint. Die Elastizität kann in einer Ziffer ausgedrückt werden, die angibt, um wieviele Einheiten sich eine Variable ändert, wenn sich die andere ändert. Dabei kommt es nur auf den numerischen Betrag, nicht auf das Vorzeichen an, weil das ja mit der Art der Angebots- bzw. der Nachfragefunktion festliegt: Die Steigung bzw. die Elastizität der Nachfragefunktion ist immer negativ, die des Angebotes positiv. Man läßt daher das Vorzeichen üblicherweise weg, wenn von der Elastizität die Rede ist. Meist geht man bei Angebot und Nachfrage von dem Preis als Bezugsgröße aus, und sieht dann, wie sich mit der Änderung des Preises um eine Einheit die Menge des Angebotes bzw. der Nachfrage ändert. Ist die Elastizität (numerisch) kleiner als eins, dann ändert sich die Menge nach einer Preisänderung unterproportional, ist sie größer als eins, dann ist die Änderung überproportional. Gleiche proportionale Änderungen entsprechen somit einer Elastizität von eins. Man unterscheidet entsprechend elastische von unelastischen Angebots- bzw. Nachfragefunktionen. Ein Angebot ist dann um so elastischer, je stärker die Angebotsmenge auf den Preis reagiert; das heißt: Je kleiner die Steigung der Angebotsfunktion ist. Analoges gilt für die Nachfrage. Sie ist um so elastischer, je sensibler die Nachfrage auf Preisänderungen antwortet. Auch das ist eher bei kleinen Steigungen der Fall. Ganz elastische Angebots- oder Nachfragefunktionen verlaufen also – nahezu – parallel zur Mengenachse, ganz unelastische demnach – nahezu – parallel zur Preisachse.
Es ist also die Elastizität der Angebots- und der Nachfragefunktionen und deren relative Beziehung, die bestimmen, wie das System eines Marktes letztlich reagiert, wenn es zu einer „Störung“ kommt. Die Elastizitäten haben ihrerseits
Das System des Marktes
161
aber letztlich wieder nur mit der Technologie der Produktion – der Güter wie des Nutzens durch den Konsum der Güter – zu tun: Ob ein Angebot rasch ausgeweitet werden kann oder nicht, ist von der Effizienz der dafür wichtigen Produktionsfunktionen abhängig und davon, ob die nötigen Produktionsfaktoren zur Ausweitung des Angebotes auch rasch besorgt werden können. Ähnliches gilt für die Elastizität der Nachfragefunktion: Für manche Güter müssen – und werden – die Menschen jeden Preis bezahlen, weil sie für ihr Überleben nötig sind – Nahrung, Wohnung und etwas Warmes für den Winter zum Beispiel. Auf andere Dinge können sie schon eher verzichten – Squashkurse, gekachelte Bäder oder Karibikreisen etwa. Und das tun sie dann auch, wenn die Preise dafür nur ein wenig steigen. Über Schweine, Lehrer und Mietwohnungen
Das Cobweb-Theorem nimmt eine sehr freundliche Welt an: Jede Störung des Gleichgewichtes, das ja allen sehr nutzt, obwohl niemand ganz zufrieden ist, wird über eine unsichtbare Hand wieder korrigiert. Kein Staat und kein Kartellamt müßten eingreifen. Der Blick auf die verschiedenen Prozeßtypen – in Abhängigkeit des Koeffizienten k, der Elastizitäten von Angebot und Nachfrage, letztlich also als Folge der „Technologie“ der alltäglichen Reproduktion der Menschen – lehrt aber, daß die Welt beileibe so freundlich nicht immer sein muß. Vor allem das Phänomen einer ungleichgewichtigen, ständig sich wiederholenden zyklischen Schwankung von Preisen und Angebotsmengen um den Gleichgewichtspunkt – der Prozeßtyp 5 also – tritt häufiger auf als vermutet. Solche zyklischen Schwankungen von Angebot und Nachfrage gibt es vor allem bei Gütern, die eine lange Produktionszeit erfordern, ehe sie auf den Markt gelangen. Das ist zum Beispiel bei Schweinen, bei Lehrern und bei Mietwohnungen so. Der Grund ist leicht einsehbar. Bauern, die überlegen, was sie demnächst züchten und anbieten sollen, Abiturienten, die ein Studium planen, oder Zahnärzte, die nicht wissen, wohin mit ihrem Geld, orientieren sich nämlich oft an dem aktuellen Preis für ihr jeweiliges „Angebot“: den Preis für Schweinefleisch, die Wahrscheinlichkeit einer Beamtenstelle, die Rendite von Anlageobjekten. Ist der jeweilige Preis – und damit: der erhoffte Erlös aus der Investition – hoch, dann beginnen sie in großer Zahl damit, das jeweilige Gut herzustellen, weil sie sich einen hohen Gewinn versprechen. Das tun sie jetzt aber alle gemeinsam als eine große, einheitlich agierende Kohorte: Jeder, der sich nicht beteiligen würde, wäre ja – aus seiner Sicht – ganz unklug: Er würde einen raschen und sicheren Gewinn vertun. Aber: Wie irren sie sich da!
Zunächst beginnt alles wie im Ausgangsmodell der Abbildung 6.2. Erst steigt der Preis – etwa auf Punkt 1: Die Koteletts werden teurer, die Bildungsrefor-
162
Opportunitäten und Restriktionen
mer jammern nach mehr Lehrern, und auch türkische Familien wollen endlich eine vernünftige Wohnung haben – und könnten die auch bezahlen. Der höhere Preis lockt nun potentielle Anbieter an: Schweinezüchter lassen mehr Säue besamen, mehr Abiturienten entschließen sich, Lehrer zu werden, und die Zahnärzte investieren mehr in den Wohnungsbau. Kurz: Die Produktion für ein erhöhtes Angebot läuft an. Das war der erste Teil der Geschichte. Nun folgt der zweite Abschnitt. Schweine, Pädagogen und Wohnungen brauchen eine gewisse Zeit bis sie fertig sind und auf dem jeweiligen „Markt“ angeboten werden können. Je nach der Länge der Trächtigkeit der Sauen und der Dauer der Aufzucht der Ferkel, je nach der Studiendauer der Pädagogen und je nach der Bauzeit für die Wohnungen bleibt der Preis auch noch so hoch wie zu der Zeit, als die Entschlüsse zur Produktion und Investition in das jeweilige Angebot fielen. Nun aber geschieht es: Die zusätzlichen Schweine, Pädagogen und Wohnungen kommen nach Ablauf dieser Frist allesamt und gleichzeitig auf den Markt. Dafür ist aber die Nachfrage entschieden zu klein. Und die Anbieter sehen sich bitter enttäuscht, denn die Preise fallen plötzlich ins Bodenlose: Der Schweinemarkt bricht zusammen, die frisch examinierten Lehrer müssen Taxi fahren, und die gerade neu erstellten Wohnungen finden keine Mieter. Nun beginnt der dritte Teil der Story. Die Anbieter – die neue Kohorte der Schweinezüchter, Abiturienten und Zahnärzte – nehmen nach dieser Erfahrung ihr Angebot in der Erwartung des jetzt neuen niedrigen Preises deutlich zurück und produzieren nur noch die dafür als Gleichgewicht angenommene Menge. Und die Folge später: Die Nachfrage übersteigt das Angebot in der folgenden Periode deutlich, der Preis steigt wieder auf die alte Höhe – und der ganze Zyklus fängt wieder von vorne an. Immer stimmt also etwas nicht: Entweder übersteigt die angebotene Menge die Nachfrage, oder das Angebot ist knapper als das, was gerade nachgefragt wird. Zwar explodiert das System wenigstens nicht, es findet aber auch kein Gleichgewicht – oder nur sehr zögerlich. In seiner vollen Reinheit tritt, wie wir oben schon sehen konnten, der Zyklus dann auf, wenn das Verhältnis der Elastizitäten von Angebot und Nachfrage genau gleich eins ist. Dann ist der Koeffizient k gleich 1, und dann sind die Differenzen zwischen den Perioden immer gleich. In Abbildung 6.8 haben wir diesen Spezialfall des CobwebTheorems in Anlehnung an die Darstellung in Abbildung 6.3 bzw. 6.5 skizziert.
164
Opportunitäten und Restriktionen
Änderungen des Gleichgewichtes
Das Modell von Angebot und Nachfrage ist – so haben Sie sicher längst schon selbst gemerkt – so einfach, daß es, wie Paul A. Samuelson vermutet hat, in der Tat ein Papagei fast schon anwenden könnte (vgl. Kapitel 2 oben in diesem Band). Viele komplexe soziale Phänomene lassen sich mit diesem einfachen Modell erklären. Und da es ja nur auf die Erklärungskraft ankommt – und eben nicht: auf viele Schnörkel und gelehrsame Wendungen in tausend Fußnoten – ist dies kein geringer Vorzug des Modells. Am ehesten eignet sich das Modell zur Erklärung von Änderungen und von Unterschieden des Verhaltens ganzer Kollektive von Akteuren. Einige Beispiele dazu. Warum reisen Manager lieber mit dem Flugzeug als mit der Bahn, auch wenn die Bahn sehr viel billiger als das Flugzeug ist? Die einfache Antwort: Weil für sie der Preis der Zeit für alle Verwendungen höher ist als für andere Menschen. Ihr Zeit„Einkommen“ ist systematisch kleiner als das anderer Menschen. Und vor diesem Hintergrund ist für sie das Flugzeug immer noch am günstigsten. Warum haben gut ausgebildete Frauen im Durchschnitt weniger Kinder als schlechter ausgebildete? Die einfache Antwort: Weil der in entgangenem Gehalt zu veranschlagende Preis der Kindererziehung bei einer guten Ausbildung deutlich höher ist als bei einer schlechten. Der Hintergrund ist wieder die Verknappung des Zeitbudgets durch die hohen Schattenpreise, die für jede Betätigung außerhalb der Karriere anfallen. Warum ist eine Benzinpreiserhöhung wesentlich wirksamer, um den Autoverkehr einzugrenzen, wirksamer jedenfalls als alle umweltmoralischen Appelle? Die einfache Antwort: Weil die meisten Autofahrer sich zwar ein schlechtes Gewissen, aber nicht den höheren Benzinpreis ohne eine Einschränkung in der Menge des getankten Benzins leisten können. Und weil sie so erst über die Weissagung der Deutschen Bank dazu gebracht werden, die Weissagung der Cree in ihrem Verhalten zu akzeptieren – auch wenn sie diese Weissagung nicht kennen oder für eine (rot-)grüne Spinnerei halten.
Zwei Arten von Änderungen bzw. von Unterschieden in den Restriktionen des Handelns sind insbesondere wichtig. Sie liegen mit den beiden zentralen Parametern des Marktgleichgewichtes nahe: Änderungen im Angebot und Änderungen in der Nachfrage. Dabei geht es jeweils um die komplette Änderung der Angebots- bzw. der Nachfragefunktion selbst, und nicht, wie oben beschrieben, um die „dynamische“ Anpassung an das Gleichgewicht nach einer Störung. Den Hintergrund dafür haben wir in Kapitel 1 und 2 oben in diesem Band schon ausführlich besprochen: Die Angebotsfunktion ändert sich insgesamt, wenn sich die Kosten der Produktion ändern – sei es durch technische Änderungen oder durch Änderungen der Faktorpreise. Und die Nachfragefunktion ändert sich insgesamt, wenn sich das Einkommen der Nachfrager ändert oder wenn es zu proportionalen Preisänderungen in den Gütern kommt. Immer ist der abstrakte Grund der gleiche: die Änderung der Kostengerade einerseits oder die der Budgetgeraden andererseits.
Das System des Marktes
165
Kurz: Es sind Änderungen im Möglichkeitsraum für die Produktion oder für die Konsumtion der Güter auf dem betreffenden Markte, die das Marktgleichgewicht verschieben. In Abbildung 6.9 haben wir diese beiden Arten von Änderungen skizziert. Der Übersichtlichkeit halber sind jeweils nur Änderungen in eine Richtung berücksichtigt: die Erhöhung des Angebotes (bei gleichem Preis) durch die Verschiebung der Angebotsfunktion von S auf S’, und die Erhöhung der Nachfrage (bei gleichem Preis) durch die Verschiebung der Nachfragefunktion von D aud D’. Eine Absenkung von Angebot und Nachfrage müßte man sich analog vorstellen.
Das System des Marktes
167
In Abbildung 6.9a sieht man, daß mit der neuen, etwa durch eine Kostensenkung bei der Produktion ermöglichten, Angebotsfunktion S’ eine Ausweitung des Angebotes zum gleichen Preis möglich ist. Aufgrund der Struktur des Marktes liegt der neue Gleichgewichtspreis mit p*’ unter dem alten mit p*. Es wird jetzt mit der Menge x*’ mehr von dem Gut X abgesetzt als zuvor mit x*. Kurz: Der Preis ist gesunken und die verkaufte Menge gestiegen. Die Nachfrager freuen sich, die Anbieter unter Umständen weniger. Ganz analog ist das bei einer Änderung der Nachfragefunktion auf D’ – etwa als Folge einer Gehaltserhöhung bei den Nachfragern (vgl. Abbildung 6.9b). Nun steigt die Nachfrage von x* auf x*’. Das tut aber auch der Preis für das Gut: Er geht von p* hinauf auf p*’. Kurz: Der Preis hat sich erhöht und die abgesetzte Menge ist kleiner geworden. Nun freuen sich die Anbieter, weil sie wieder rentabler produzieren können, aber die Nachfrager sehen etwas trauriger aus. Die neuen Preise und Mengen bilden natürlich wieder neue Gleichgewichte – mit allen dahinter stehenden dynamischen Vorgängen der Marktanpassung, wenn es einmal zu kurzfristigen Auslenkungen von dem gefundenen neuen Gleichgewicht kommt. Und solange sich an den Parametern der beiden Funktionen nichts ändert, bleibt es auch dabei. Ein Beispiel: Studiengebühren und die Senkung des Anspruchsniveaus
Wir wollen das System des Marktes an einem inhaltlichen Beispiel besprechen, das auf den ersten Blick nicht unmittelbar mit den Kategorien von Angebot und Nachfrage etwas zu tun zu haben scheint: Das Verhalten von Professoren und Studenten und die Folgen u.a. von Studiengebühren für die Qualität der universitären Ausbildung. Das Beispiel soll vor allem demonstrieren, wie man die einfachen Instrumente der „ökonomischen“ Analyse von Angebot und Nachfrage bzw. von Märkten auch für die Erklärung von Sachverhalten nutzen kann, die normalerweise als typisch soziologisch gelten, und bei denen man Sachverhalte aufdeckt, auf die man – bei aller Trivialität der Grundannahmen – nicht immer sofort kommt. Das Beispiel stammt aus dem in Kapitel 2 oben in diesem Band bereits erwähnten Buch von Richard B. McKenzie und Gordon Tullock, das eine ganze Reihe von „soziologischen“ und anderen nicht-ökonomischen Phänomenen mit Hilfe des besprochenen Marktmodells analysiert: das sexuelle Verhalten, etwa, die Diskriminierung der Geschlechter, die Wahl des Ehepartners und das Kinderkriegen, die Kriminalität und sogar das Sterben.2
2
Richard B. McKenzie und Gordon Tullock, Homo Oeconomicus. Ökonomische Dimensionen des Alltags, Frankfurt/M. und New York 1984, Kapitel 19: Die Lage an den Universitäten, S. 274ff.
168
Opportunitäten und Restriktionen
Gefragt wird hier nach den Folgen einer Einführung von Studiengebühren. Eines der Argumente der Befürworter von Studiengebühren ist ein oft bestätigter sozialpsychologischer Zusammenhang. Das Argument klingt zunächst ganz einsichtig: Was nichts kostet, ist auch subjektiv nichts wert. Mit der Einführung von Studiengebühren erhöhe sich folglich die subjektive Motivation der Studenten, das Studium zügig und mit einem hohen Lerneffekt zu Ende zu bringen. Möglicherweise ist die Annahme sogar richtig, daß mit der Einführung von Studiengebühren mancher Student seine Anstrengungen etwas stärker konzentrieren würde, und daß manche Karteileiche sich exmatrikulieren ließe, die daran vorher aus nachvollziehbaren Gründen nicht dachte. Aber ein Studium soll ja nicht nur rasch, sondern – vor allem wohl – mit einem vorzeigbaren und einen potentiellen Arbeitgeber überzeugenden Lernerfolg beendet werden: Nicht für die Professoren oder für den Wissenschaftsminister lernen wir, sondern für die eigene Karriere! Wie aber wirken die Studiengebühren auf das Lernergebnis? Die Analyse beginnt mit der Rekonstruktion von „Angebot“ und „Nachfrage“ nach Studienplätzen. Anbieter sind die Universitäten bzw. die Landesregierungen, Nachfrager die Studenten. In Abbildung 6.10 sind auf der Mengenachse mit q die Anzahl der Studienplätze und auf der Preisachse mit p der „Preis“ dafür abgetragen. Die Nachfragefunktion nach den Studienplätzen ist mit D, die Angebotsfunktion mit S gekennzeichnet.
170
Opportunitäten und Restriktionen
cher Nachfrageüberhang nach Studienplätzen gegenüber der Gleichgewichtsnachfrage q*. Die Antwort darauf – und das ist die zweite Verletzung des Marktprinzips des freien Spiels der Kräfte – ist uns allen bekannt: die Einführung eines Numerus Clausus. Das aber ist nichts anderes als die künstliche Begrenzung der Nachfragemenge auf jenen Punkt, den die „Kapazität“ der Universitäten gerade zuläßt. Diese Begrenzung staut die Nachfrage auf die Menge q2 zurück. Es wird unmittelbar deutlich, daß hierdurch der Nachfrageüberhang noch einmal wächst: Er beträgt nun die Differenz von q1 und q2. Und genau das ist es ja, was die Situation der Hochschulen auch derzeit immer noch ausmacht: ein Defizit an Studienplätzen bei anhaltender Überfülle der latenten Nachfrage. Diese Übernachfrage hat eine erste interessante Konsequenz: Die vor den Toren stehende Reservearmee von Studierwilligen erlaubt es den Professoren, mehr oder weniger zu machen, was sie wollen. Sie jammern zwar über die drohende – und teilweise auch: wirkliche – Überfülle. Aber sie wissen ganz genau, daß sie davon auch profitieren: Sie können sich – wenigstens in den Numerus-Clausus-Fächern – die besten Studenten aussuchen und von denen dann verlangen, was sie für richtig und nötig halten. Das aber ist nichts anderes als eine versteckte Anhebung des Preises, den die Studenten für das Studium zu zahlen haben. Leicht sieht man, wie weit dieser erhöhte Preis des Studiums getrieben werden kann: bis zur Höhe p2. Der Preis besteht dabei – wohlgemerkt – nicht aus Geld, wohl aber aus Anstrengung und Willfährigkeit gegenüber den Leistungsanforderungen und/oder Schikanen der Professoren. Richard B. McKenzie und Gordon Tullock beschreiben das für die Situation der amerikanischen Universitäten so: „Die Universität (die diesen versteckten Preis verlangen kann; HE) kann allgemeine Lehrpläne verfügen, mit denen der Student nicht einverstanden ist, und sie kann Verhaltensregeln verhängen, die die Studenten nicht mögen. Die Universität kann auch die Güte der Wohnungen vernachlässigen, der Studentenheime oder des Mensaessens, und sie kann von den Studenten, die auf dem Campus Auto fahren wollen, verlangen, daß sie ihren Wagen an entlegener Stelle parken müssen. Der Professor kann von den Studenten mehr Arbeit verlangen, als diese ohne weiteres leisten würden, und er kann verlangen, daß sie sich einen Lehrstoff aneignen, der sie wenig interessiert, der aber andererseits den Professor sehr interessiert. Wenn es den Studenten nicht paßt, wie sie inner- und außerhalb des Seminarraums behandelt werden, dann können sie immer ersetzt werden oder – etwas weniger streng – dadurch bestraft werden, daß sie schlechte Noten erhalten.“ (McKenzie und Tullock 1984, S. 276)
Die Differenz zwischen p2 und p1 ist dann der Spielraum, den die Professoren gegenüber den Studenten haben. Es ist ihre Macht, die aus der künstlich zurückgedrängten Nachfrage durch den Numerus Clausus entsteht. Folglich würde alles, was diesen Spielraum verringert, auch diese Macht wieder vermindern. Und die naheliegende Folgerung ist dann die: Studiengebühren be-
Das System des Marktes
171
deuten eine Verringerung dieses Spielraumes und eine Einschränkung der Macht der Professoren. Sie führen – in aller Regel – zu einer Senkung der Ansprüche an die Studenten und zu einer Verminderung der Qualität der Ausbildung. Aber wieso? Die Antwort ist leicht zu finden. Studiengebühren wären ohne Zweifel eine Anhebung des Preises für das Studium. Wenn sonst nichts geschieht, würde das etwa bedeuten, daß der faktische Preis von jetzt p2 auf p3 ansteigt. Dadurch aber würde die Nachfrage nach Studienplätzen auf die Menge q3 absinken: Die Studentenzahlen gehen um die Differenz q2-q3 zurück, die Seminare werden leerer, und das Gejammer der Professoren nach mehr Geld klingt immer hohler, weil es kaum noch Studenten und Prüfungen gibt. Wenn nun aber – wie nicht nur im amerikanischen Universitätssystem – letztlich die Positionen der Professoren (und die von deren auf Karriere hoffenden Mitarbeitern) ins Wanken geraten, wenn die Studenten selbst in den Numerus-ClaususFächern wegbleiben, muß nach Auswegen gesucht werden, um die Nachfragemenge wieder auf den alten Stand von q2 zurückzubringen. Es muß – von seiten der Professoren und der jungen Assistenten – die Nachfrage nach ihrem Angebot in den Seminaren angeregt werden. Wie aber geht das? Genau: durch die Absenkung jenes „Standard“-Preises, der zuvor dafür gesorgt hatte, daß das Studium kein Zuckerschlecken ist, um den Betrag der Studiengebühren: „Mit anderen Worten, der Preis, den die Studenten zu entrichten haben, um einen Kurs zu besuchen, wird dadurch gesenkt, daß die Anforderungen gesenkt werden und/oder das Notenniveau erhöht wird, das die Studenten bei konstanter Arbeitsleistung erwarten können.“ (Ebd., S. 278)
Kurz: Die Einführung der Studiengebühren hat den – wohl ebenso unbeabsichtigten wie unerwünschten – Effekt eines Wettbewerbs der Professoren um die bloße Anwesenheit der Studenten und die nach außen vorzeigbare Verkürzung des Studiums und die Verschlankung und Entschlackung der Studieninhalte. Diesen Wettbewerb führen sie mit viel Didaktik und zahllosen Lehrkommissionen, mit Anbiederei und modischem Schnick-Schnack, mit einer Absenkung der Standards und mit der Inflation in den Noten, obwohl sie das alles eigentlich von ihrem Berufsethos her und nicht zuletzt im wohlverstandenen Interesse der Studenten nicht wollen dürften. Und die interessante Folge: In der Ablehnung von Studiengebühren befinden sich die Professoren mit den Studenten „objektiv“ in einem Boot – wenngleich aus ganz unterschiedlichen Gründen und oft ohne, daß sie wissen, warum.
172
Opportunitäten und Restriktionen
Die Senkung der Nachfrage nach Bildung und die Ausweitung des Angebotes an Studienplätzen
Aber nicht nur die Einführung von Studiengebühren hätte diesen anspruchssenkenden Effekt: Alles, was die künstliche Überschußnachfrage verringert, führt zu den gleichen Folgen. Das könnte – abstrakt gesehen – über zwei verschiedene Wege gehen: über die Senkung der Nachfrage nach einem Universititätsstudium oder über die Ausweitung des Angebotes an Studienplätzen. Eine Senkung der Nachfrage könnte etwa dadurch einsetzen, daß mehr und mehr Abiturienten eine Lehre oder ein Fachhochschulstudium anstreben – wie das derzeit in der Tat zu beobachten ist. Die Erhöhung des Angebotes wäre etwa eine Folge des weiteren Ausbaus der Universitäten – wie das in den 60er und 70er Jahren geschah. Dann verschieben sich die Nachfragefunktion nach links oben bzw. die Angebotsfunktion nach rechts unten. Die Folgen für den verborgenen Preis des Studierens sind in Abbildung 6.11 gut zu erkennen.
174
Opportunitäten und Restriktionen
Wieder sind D bzw. S die Nachfrage- bzw. die Angebotsfunktionen. D’ und S’ bezeichnen die neuen Funktionen für Nachfrage und Angebot. Leicht wird erkennbar, was geschieht: Die Verringerung des Interesses an einem Universitätsstudium und die Absenkung der Nachfrage dadurch (Abbildung 6.11a) mildert, genauso wie der Ausbau der Universitäten und die Erhöhung des Angebotes (Abbildung 6.11b), den Druck auf die Universitäten: Die Überschußnachfrage sinkt – in beiden Fällen – von der Differenz q1-q2 auf die Differenz q1’-q2’. Einige Fächer könnten jetzt wieder vom Numerus Clausus befreit werden, die Notprogramme der Überlastzeiten könnten auslaufen, und es wäre wieder ein regulärer Studienbetrieb – „wie früher“ – möglich. Und alle würden sich freuen – die Studenten wie die Professoren. Aber sie freuen sich zu früh. Die Verringerung des Nachfragedrucks hat auch jene andere Seite, die wir oben bereits mit der Einführung von Studiengebühren zu erwarten hatten: Der durch die Überschußnachfrage erzwungene oder mögliche verborgene Preis für das Studium sinkt ebenfalls: von p2 auf p2’ jeweils. Die Folgen sind die gleichen wie bei den Studiengebühren: eine Entmachtung der Professoren, wenn sie die Studentenzahlen halten wollen. Die Studenten und deren „Interessen“ regieren – wenn sich die Bildungsnachfrage verringert oder die Universitäten ihr Angebot erhöhen, wenn keine „wirklichen“ Marktpreise zugelassen sind und die Honorierung der Professoren von Kopfzahlen und Lehrevaluationen abhängt! – mehr und mehr. Und dann kein Wunder: die Ansprüche werden gesenkt, die Durchschnittsnoten steigen, und der Wert eines Diploms sowie das Ansehen der Professoren sinken in den Keller. Der Ausbau des Bildungssystems in den 60er und 70er Jahren hatte in der Tat diese Folgen, wie inzwischen gut belegt ist (vgl. McKenzie und Tullock 1984, S. 280f.). Der derzeit erkennbare – leichte – Trend der Bildungsnachfrage weg von den Universitäten würde der Analyse zufolge – wie die Einführung von Studiengebühren – also einen weiteren Schub der Anspruchssenkung auslösen. Die Tendenzen zur Einführung gewisser Notdiplome, auch „Bachelor“ genannt, sind ein Zeichen dafür. Dagegen gäbe es, neben der Einführung des „reinen“ Marktes auch im Bildungssystem, nur ein wirklich probates Mittel: die drastische Verringerung des Studienangebotes – etwa über die Einführung einer Aufnahmeprüfung in die Universitäten. Dadurch würde ja die Menge q1 weiter nach links in Richtung q2 gerückt – und der verborgene Preis könnte wieder auf die alte Höhe gebracht werden. Mit der Prüfung könnten auch genau jene Studenten ausgesucht werden, für die hohe Anforderungen keine Zumutung, sondern ein Herzenswunsch sind. Nicht also die Anpassung der Universitäten an die durch die Bildung für alle erzwungene Öffnung der Universität für jedermann rettet die Qualität der Universitätsausbildung – und den Ruf der Universitäten wie den der Professoren –, sondern die mit Aufnahmeprüfungen unterstützte Verkleinerung der Universitäten zur Bereitstellung jenes auch nur in recht geringem Umfang benötigten Teils an wissenschaftlicher Ausbildung, für den die Universitäten einmal geschaffen worden sind. Für die in modernen Gesellschaften benötigte breite Ausbildung in zwar ebenfalls sehr anspruchsvollen, aber praxisnäheren und nicht ganz so abstrakten Dingen, sind die Fachhochschulen viel besser eeignet. Deren Angebot müßte im Gegenzug erweitert werden.
Das System des Marktes
175
So aber werden den Professoren in den Universitäten auf einmal Lehrevaluationen zugemutet, weil die Studenten den oftmals schwierigen und nicht so rasend interessanten abstrakten Stoff nicht alle sofort begreifen – und sie stimmen dem sogar freudig zu. Und bieten hinfort nur noch mundgerechte Veranstaltungen mit den allerneuesten Zeitgeistthemen an, in denen sich die Studenten wohlfühlen, aber nichts richtiges mehr lernen. Auf der Strecke bleiben dabei die „harten“ Fächer, die schwierigen und die abstrakten Inhalte – etwa in der Methodenlehre der Sozialwissenschaften oder in den Einzelheiten der erklärenden Soziologie. Aber das müssen ja auch nicht alle können. Es reicht, wenn Sie etwas wirklich Wichtiges und Nützliches lernen. Noch einmal: Über Papageien
Mit den einfachen Instrumenten der Analyse der Märkte und der bloßen Möglichkeiten des Handelns lassen sich – wie wir gesehen haben – schon viele, auch „typisch“ soziologische Zusammenhänge, gut erklären und verständlich machen (vgl. dazu insbesondere noch Kapitel 9 unten in diesem Band). Das Modell ist – wenn man es vor allem in seinen Hintergründen und in seiner Verankerung in der „Technologie“ der Güter- und der Nutzenproduktion verstanden hat – in der Tat so einfach, daß es auch ein Papagei nachsprechen könnte. Man wundert sich, daß es nicht auch weit außerhalb der Ökonomie mehr Anwendung findet. Wahrscheinlich ist das Modell dafür wiederum zu einfach. Niemand will ja als bloß nachplappernder Papagei gelten, besonders die sensiblen Soziologen nicht. Das ist gut zu verstehen. Viele Soziologen glauben aber darüberhinaus offenbar auch, daß das, was man – hinterher! – leicht verstehen kann, für sie nicht anspruchsvoll genug ist. Vielleicht haben sie aber auch nur eine gewisse Furcht davor, daß man ihnen auf die Schliche ihrer Schlichtheit kommen würde, wenn sie einmal ihre simplen Ideen etwas klarer ausdrücken würden, und wenn jedes Kind merken würde, daß ihre „Theorien“ und „Erklärungen“ eigentlich gar keine sind, und der Kaiser tatsächlich nichts anhat. Die erklärende Soziologie hat diese Ängste nicht. Sie ist nur an guten Erklärungen interessiert und fürchtet sich nicht vor der Einfachheit der Auflösungen der ihr gestellten Rätsel. Die Probleme können verzwickt sein, deren Lösungen sollten dagegen möglichst unkompliziert, einsehbar, unaufwendig – und kontraintuitiv – sein. Das ist ja gerade der Sinn von wissenschaftlichen Antworten auf die Fragen, die der Alltagsverstand nur mit allerlei Stammtischgeschwätz beantworten kann. Trivialität ist ein Vorzug, kein Mangel einer ein Problem gut erklärenden Theorie. Alles, was man
176
Opportunitäten und Restriktionen
richtig verstanden hat, ist trivial. Das ist trivial und – wie alle Trivialitäten – richtig.
Kapitel 7
Netzwerke und Beziehungsstrukturen
Die soziale Ordnung ist eines der wichtigsten Erklärungsprobleme der Soziologie, und wir wissen, daß ihre Entstehung keineswegs selbstverständlich ist. Mit dem Marktmechanismus scheint es so, als ließe sich das Problem auch für unendlich große Gruppen, für ganz und gar „anonyme“ und isolierte Akteure, für Verhältnisse mit einem extrem geringen Schatten der Zukunft und alleine auf der Grundlage von Interessen lösen. Aber Vorsicht! Märkte setzen schon die nicht immer gegebene Situation einer deutlichen Interessenkonvergenz voraus. Aber auch dann ist keine der nötigen Transaktionen völlig frei von antagonistischen Elementen: Die Nachfrager wollen alle einen möglichst niedrigen Preis für eine möglichst hochwertige Ware, und die Anbieter einen möglichst hohen Preis für ein möglichst kostensparendes Produkt. Dazu kommt stets ein – mehr oder weniger gravierendes – Vertrauensproblem: So gut wie immer muß einer der Akteure in eine Vorleistung eintreten und darauf hoffen, daß der andere dies auch wirklich honoriert. Meist fällt das Problem nicht sonderlich auf, etwa auf einem Wochenmarkt, auf dem der Verkäufer die Apfelsinen schon in den Einkaufskorb packt, während man selbst das Geld bereits in der Hand hält. Aber jeder Restaurantbesitzer und jeder Handwerker liefert erst einmal und hofft – mehr oder weniger unbesorgt –, daß die Rechnung auch bezahlt wird. Und meistens geht es ja auch gut. Nicht immer ist die Sache aber so unbedenklich, etwa bei riskanten Auslandsgeschäften oder bei einem Teppichhändler vor der Tür. Und manchmal gibt es Grund, sich hinterher darüber zu ärgern, daß man ein wirklich gutes Geschäft vor lauter Mißtrauen nicht gemacht hat. Kurz: Es gibt auch auf den zunächst so einfach und harmonisch aussehenden Märkten gewisse Transaktionshemmnisse, die sich aus den Risiken der zunächst nötigen Vorleistungen ergeben. Und daher ist es kein Wunder, daß man inzwischen auch in der Ökonomie erkannt hat, daß gerade die gut funktionierenden Märkte keineswegs bloß auf den Interessen der Akteure beruhen, sondern in eine Reihe von formellen Vorkehrungen und informellen Bedingungen eingebettet sind, die die Transaktionskosten soweit senken, daß die
178
Opportunitäten und Restriktionen
Akteure die stets verbleibenden Risiken getrost übersehen können: die institutionellen Regeln der sog. Marktordnung, meist über den Staat garantiert, und die informellen Usancen einer gewissen Marktmoral, an die sich die Akteure, wie es scheint, schon von alleine und ohne eine besondere soziale Kontrolle halten. Vor allem aber sind es offenbar jene informellen „moralischen“ Grundlagen, die die auf den ersten Blick ganz und gar interessegestützten Marktprozesse erst ermöglichen. Diese Grundlagen versehen die zunächst bloß kooperative „Praxis“ des Tausches mit einer gewissen Ethik der Kooperationsmoral und können so als eine Art von Schmiermittel einer Maschine angesehen werden, deren Lager ohne dieses Schmiermittel bald festlaufen würden. Nicht erst das Beispiel Rußlands und anderer Länder in Osteuropa hat gezeigt, daß es mit der „Liberalisierung“ der Transaktionen alleine noch lange nicht getan ist und daß der Wohlstand keineswegs sofort dann ausbricht, wenn die Wirtschaft von allen sozialen und staatlichen Fesseln befreit ist. Worauf aber beruhen diese moralischen Grundlagen der ökonomischen Transaktionen? Nur schwer vorstellbar ist, daß die (Wirtschafts-)Moral alleine aus „internalisierten“ Werten der Akteure bestünde, denn solche Einstellungen sind – ohne weiteres – außerordentlich instabil, worauf nicht zuletzt die interaktionistische Soziologie und die Sozialpsychologie der Einstellungsbildung zu Recht immer hingewiesen haben (vgl. dazu auch noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Eine vollends befriedigende Lösung ist aber auch nicht die von der „Evolution der Kooperation“, wie sie in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ vorgestellt wurde. Diese „Kooperation“ ist ja in der Tat eine bloße „rationale“ Praktik und eben (noch) keine „Ethik“, zu der sich die Akteure alleine aufgrund ihrer Interessen und des von ihnen wahrgenommenen Schattens der Zukunft entscheiden. Und auch, wenn man einmal die Interessen für gegeben ansieht, dann bleibt immer noch die Frage: Wovon hängt denn die Höhe des Schattens der Zukunft in dem Modell der Evolution der Kooperation ab? Und die allgemeine Antwort: Sie hängt von der zeitlichen und der sozialen „embeddedness“ der Akteure ab.1 Damit aber ist die Frage eigentlich nur verlagert. Denn was heißt dann „embeddedness“ konkret? Bei David Hume findet sich ein instruktives Beispiel, von dem aus man wenigstens intuitiv gut verstehen kann, worin das Problem besteht. Es ist das Beispiel von den beiden Ruderern, die zusammen in einem Boot sitzen und möglichst rasch, aber auch mit möglichst wenig An1
Vgl. dazu den auch programmatisch gemeinten Artikel von Mark Granovetter, Economic Action and Social Structure: The Problem of Embeddedness, in: American Journal of Sociology, 91, 1985, S. 481-510. Siehe auch schon die Kapitel 5, 7 und 11 in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“, sowie noch die Abschnitte 7.5 und 8.6 unten in diesem Band.
Netzwerke und Beziehungsstrukturen
179
strengung, gemeinsam ans andere Ufer wollen. Zunächst sieht die Situation wieder aus wie ein Gefangenendilemma (vgl. dazu schon Abschnitt 5.4 in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“): Keiner möchte den anderen nur mitziehen, was aber nicht ausgeschlossen werden kann, und deshalb müßten sich eigentlich beide „hängen“ lassen. Das aber geschieht, wie wir alle wissen, in einer solchen Situation, in der man gemeinsam in einem Boot sitzt, mitnichten. Und warum nicht? Ganz klar: Jeder kann den anderen beobachten und ihn, wenn er sich „unfair“ verhält, entsprechend sanktionieren. Aber nicht nur das: Bei wechselseitiger Beobachtbarkeit ist leicht feststellbar, welcher „Typ“ der andere Akteur ist – ob er Vertrauen verdient oder nicht. Und so kann man schon vorher entscheiden, ob man sich mit ihm in ein Boot setzt oder nicht, selbst wenn dann nicht mehr genau festzustellen wäre, was er tut. Das alles aber hat die Folge daß die „Ausbeutungs“-Kombinationen in dem Ruderboot praktisch ausgeschlossen werden können und daß sich so das Gefangenendilemma in ein einfaches Koordinationsspiel mit Interessenkonvergenz verwandelt.
Die „Moral“ ist dann also nichts anderes als die mit dem ganzen Geschehen schließlich auch mental und affektuell verbundene „Einstellung“, daß der Partner Vertrauen verdient bzw. die ganze Situation eine ist, in der gewisse Regeln auch dann „gelten“, wenn kein Staat für ihre Einhaltung sorgt (vgl. dazu auch noch Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ausführlich). Das Vertrauen in die jeweils anderen und die Moral der ganzen Geschichte beruhen also in der Tat nicht (alleine) auf den Interessen der Akteure, wohl aber auf so etwas wie der Verfügbarkeit und dem raschen Fluß von Informationen – etwa über das Verhalten und die Eigenschaften der Akteure. Und das wiederum ist durch einen strukturellen Sachverhalt bestimmt: die Anzahl, die Dichte und die besondere Struktur der Beziehungen, über die die Akteure in einem Netzwerk miteinander verbunden sind. Die sog. Netzwerkanalyse ist das – theoretische wie technische – Instrumentarium zur Beschreibung der Strukturen der sozialen Einbettung der Akteure und damit ein Mittel auch zur Erklärung der Entstehung sozialer Ordnung – und anderer sozialer Phänomene und Prozesse – als Folge solcher Strukturen.2 Ihre Grundkonzepte und die Basiskonstrukte sind der Gegenstand 2
Vgl. als Übersicht über die Netzwerkanalyse u.a. Ronald S. Burt, Models of Network Structure, in: Annual Review of Sociology, 6, 1980, S. 79-141; Ronald S. Burt, Toward a Structural Theory of Action. Network Models of Social Structure, Perception, and Action, New York 1982; Stephen D. Berkowitz, An Introduction to Structural Analysis. The Network Approach to Social Research, Toronto 1982; David Knoke und James H. Kuklinski, Network Analysis, Beverly Hills, London und New Delhi 1982; Michael Schenk, Soziale Netzwerke und Kommunikation, Tübingen 1984. Siehe auch verschiedene Beiträge in Franz Urban Pappi (Hrsg.), Methoden der Netzwerkanalyse, München 1987 oder bei Barry Wellman und Stephen D. Berkowitz (Hrsg.), Social Structures: A Network Approach, Cambridge u.a. 1988. Vgl. für die Anwendung in der Ethnologie: Thomas Schweizer, Muster sozialer Ordnung. Netzwerkanalyse als Fundament der Sozialethnologie, Berlin 1996. Für neuere Entwicklungen siehe u.a. Alain Degenne und Michel Forsé, Introducing Social Networks, London, Thousand Oaks und New Delhi 1999; Dorothea Jansen, Einführung in die Netzwerkanalyse. Grundlagen, Methoden, Anwendungen, Opladen 1999.
180
Opportunitäten und Restriktionen
des nun folgenden Kapitels. Und die werden wir noch brauchen, wenn im nächsten Kapitel dieses Bandes die Rede auf das (soziale) Kapital der Akteure kommt.
7.1
Soziale Einheiten und Beziehungen
Ein soziales Netzwerk ist zunächst nichts weiter als „... eine durch Beziehungen eines bestimmten Typs verbundene Menge von sozialen Einheiten wie Personen, Positionen, Organisationen usw.“ (Pappi 1987a, S. 13; Hervorhebungen so nicht im Original)
Damit sind die beiden grundlegenden Bestandteile sozialer Netzwerke benannt: (soziale) Einheiten und Beziehungen. Die Einheiten werden auch als Knoten oder Punkte, die Beziehungen auch als Kanten oder Linien bezeichnet. Über die Beziehungen bilden die Einheiten ein „System“, das seine eigenen Eigenschaften hat, die sich ihrerseits stets aber (auch) aus den Eigenschaften der Akteure ergeben. Soziogramm und Soziomatrix Bei der Netzwerkanalyse werden, wie die Definition auch schon festhält, nicht alle möglichen oder denkbaren, sondern nur Beziehungen „eines bestimmten Typs“ betrachtet. Ein Beispiel für ein derartiges Netzwerk „bestimmter“ Beziehungen wären die privaten Kontakte von SPD-Prominenten in einer rheinischen Kleinstadt zwischen Aachen und Köln, die unter dem Pseudonym „Altneustadt“ so etwas wie ein Versuchskaninchen für die empirische Untersuchung von Netzwerken geworden ist.3 Berücksichtigt wurden in dem Beispiel die sieben Akteure der SPD-Elite der – ansonsten sehr schwarzen – Kleinstadt Sehr kompakte Übersichten finden sich bei Franz Urban Pappi, Die Netzwerkanalyse aus soziologischer Perspektive, in: Pappi 1987a, S. 11-37. Vincent Buskens, Social Networks and Trust, Amsterdam 1999, Abschnitt 2.1: Social Network Analysis, S. 34-44. Das wohl beste Einführungsbuch in die Netzwerktheorie und -analyse ist John Scott, Social Network Analysis. A Handbook, London, Newbury Park und New Delhi 1991. Vgl. für empirische Anwendung etwa Paul Windolf und Jürgen Beyer, Kooperativer Kapitalismus. Unternehmensverflechtungen im internationalen Vergleich, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 47, 1995, S. 1-36. 3
Vgl. Edward O. Laumann und Franz U. Pappi, Networks of Collective Action. A Perspective on Community Influence Systems, New York, San Francisco und London 1976, S. 116; siehe auch Pappi 1987a, 26ff.
Opportunitäten und Restriktionen
182
einer Matrix, einer sog. Soziomatrix. Hierbei stehen die Akteure in den Zeilen und in den Spalten, und in den Zellen der Matrix findet sich jeweils die Information, ob die betreffende Beziehung zwischen einem Akteur i zu einem Akteur j vorliegt oder nicht (codiert mit 1, wenn es die Beziehung gibt, und sonst mit 0). In Abbildung 7.2a ist das Netzwerk aus Abbildung 7.1 in Form einer entsprechenden Soziomatrix wiedergegeben.
a. für gerichtete Beziehungen
b. für ungerichtete Beziehungen
1
2
3
4
5
6
7
∑
1
2
3
4
5
6
7
∑
1 2 3 4 5 6 7
0 1 0 0 0 0 0
1 0 1 1 0 0 0
0 1 0 0 0 0 0
0 1 1 0 1 0 1
0 0 0 0 0 1 0
0 0 0 1 0 0 0
0 0 0 0 1 0 0
1 3 2 2 2 1 1
0 1 0 0 0 0 0
1 0 1 1 0 0 0
0 1 0 1 0 0 0
0 1 1 0 1 1 1
0 0 0 1 0 1 1
0 0 0 1 1 0 0
0 0 0 1 1 0 0
1 3 2 5 3 2 2
∑
1
3
1
4
1
1
1
1
3
2
5
3
2
2
Abb. 7.2: Matrixdarstellung des Netzwerkes privater Kontakte unter SPD-Prominenten in Altneustadt (nach Pappi 1987a, S. 29
Eine solche (Sozio-)Matrix wird auch Berührungs- oder adjancancy-Matrix genannt (siehe dazu und zu der Matrix 7.2b noch Abschnitt 7.2 unten näher)4. In den Zeilen stehen die Akteure, von denen als „Sender“ die jeweiligen Beziehungen ausgehen, und in den Spalten die, die sie als „Empfänger“ erhalten. Entsprechend beschreibt bei einer Beziehung Rij der Index i den Sender dieser Beziehung und der Index j den Empfänger. Weil „private Kontakte“ mit sich selbst keine sinnvolle Sache sind, ist die Diagonale mit 0 codiert. Und so beschreibt etwa die dritte Zeile den Akteur 3 als Sender in seinen Beziehungen zu den anderen sechs Mitgliedern des Netzwerkes. Man sieht, daß bei manchen Akteuren die Beziehungen „reziprok“ bzw. symmetrisch sind, wie zwi4
Vgl. zur Darstellung von Beziehungen und Eigenschaften in Matrizenform bzw. in Vektoren und für das Rechnen mit Matrizen (und Vektoren): Thomas J. Fararo, Mathematical Sociology. An Introduction to Fundamentals, New York u.a. 1973, Kapitel 10: Vectors and Matrices, S. 125-149; Timothy M. Hagle, Basic Math for Social Scientists. Concepts, Thousand Oaks, London und New Delhi 1995, Kapitel 6: Matrix Algebra, S. 71-95.
Netzwerke und Beziehungsstrukturen
183
schen 1 und 2, zwischen 2 und 3 und zwischen 2 und 4, und bei anderen eben nicht. Und zwischen manchen Akteuren bestehen keine (unmittelbaren bzw. direkten) Beziehungen, wie zwischen 3 und 7 oder zwischen 1 und 6. Das alles konnte man – eigentlich viel anschaulicher – schon aus dem Soziogramm erkennen. Wir werden aber noch sehen, daß für manche Zwecke die Matrixdarstellung unentbehrlich ist. Soziale Einheiten
Als Knoten oder Punkte kommen bei sozialen Netzwerken, wie die Definition oben ebenfalls schon nahelegt, alle möglichen Einheiten in Frage: natürliche und juristische Personen, kollektive und korporative Akteure, aber auch abgrenzbare Positionen, etwa in Organisationen, oder recht konkrete soziale Gebilde, wie Familien, Clans, Städte, Regionen oder Länder, und auch gewisse Untereinheiten in den Netzwerken selbst, wie die sog. Cliquen. Hierzu ist eigentlich an dieser Stelle nicht viel mehr zu sagen (vgl. aber die Typologien sozialer Systeme und Akteurskonstellationen in Kapitel 2 von Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Beziehungen
Als „Beziehungen“ für soziale Netzwerke können ebenfalls alle möglichen Relationen berücksichtigt werden, die zwischen den sozialen Einheiten bestehen können, wie etwa private Kontakte, Sympathiebekundungen und die sog. soziometrischen Wahlen, mit wem man Kontakt haben möchte, Freundschaften oder Weisungsbefugnisse zwischen Akteuren, Geschäftsbeziehungen zwischen Firmen, Konflikte zwischen Gruppen, oder diplomatische Beziehungen zwischen Ländern oder Kriege zwischen ihnen. Diese Beziehungen können in Hinsicht auf gewisse formale oder aber auch inhaltliche Eigenschaften voneinander unterschieden werden (vgl. zum Folgenden u.a. Pappi 1987a, S. 15ff.). Formale Eigenschaften von Beziehungen
Es lassen sich vier Ebenen der formalen Eigenschaften von Beziehungen unterscheiden: mathematische Eigenschaften, die Gerichtetheit, die Bewertung und die Komplexität der Beziehungen.
184
Opportunitäten und Restriktionen
Im Anschluß an die Mengenlehre bzw. die Graphentheorie sind insbesondere drei mathematische Eigenschaften von Belang: die Reflexivität (bzw. die Nicht-Reflexivität), die Symmetrie (bzw. die Asymmetrie) und die Transitivität (bzw. die Intransitivität) der Beziehungen.5 Unter Reflexivität wird verstanden, ob eine Beziehung R auch auf die Einheit zurückverweist oder nicht. Es gilt also Rii. Das ist bei sozialen Einheiten nur selten der Fall: Private Kontakte, diplomatische Beziehungen oder Konflikte mit sich selbst zu unterhalten, wäre schon eine etwas seltsame Vorstellung. Manchmal macht die Beachtung der „Selbstwahl“ jedoch durchaus Sinn: Wenn etwa die Beziehungen zwischen Unternehmen über die Mitgliedschaft von Personen, in den jeweiligen Direktoraten zum Beispiel, definiert wird, dann spiegelt die Selbstwahl die Anzahl der durch das betreffende Unternehmen selbst konstituierten Vertretung im eigenen Vorstand wider. Meist wird die Selbstwahl jedoch ausgeschlossen. Die Symmetrie von Beziehungen beschreibt den Sachverhalt der Gegenseitigkeit, der Erwiderung bzw. der Reziprozität von Beziehungen: Rij und Rji. Wenn A in B verliebt ist, und B in A, dann ist diese Beziehung also symmetrisch, wenn nicht, ist sie nicht-symmeterisch bzw. asymmetrisch. Mit Transitivität ist schließlich gemeint, daß, wenn A mit B eine bestimmte Beziehung unterhält, und B mit C, dann diese Beziehung auch zwischen A und C besteht. Es gilt also: Rij, Rjk und Rik. Wenn beispielsweise A mit B und B mit C befreundet ist, dann müßte A auch mit C befreundet sein, „damit“ die Beziehung transitiv wäre. Das „muß“ natürlich empirisch keineswegs so sein, und wenn die beschriebenen Bedingungen nicht zutreffen, dann ist die Beziehung eben intransitiv (vgl. dazu auch schon Abschnitt 8.1 und die Ausführungen dort über „Die Ordnung der Präferenzen“ in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
In dem Soziogramm der SPD-Elite gibt es, wie wir gesehen haben, sowohl symmetrisch-reziproke gegenseitige wie asymmetrisch-nichtreziproke einseitige Beziehungen. Daneben beobachtet man auch transitive wie intransitive Relationen. Transitiv ist beispielsweise die Beziehung zwischen den Akteuren 5, 7 und 4: Akteur 5 unterhält private Kontakte mit Akteur 7, der seinerseits mit Akteur 4 in Beziehung steht, ebenso wie auch der Akteur 5. Um den Akteur 4 zu erreichen, hätte der Akteur 5 also zwei Möglichkeiten: direkt und indirekt über den Akteur 7. Ganz ähnlich sieht es mit dem Dreieck 2, 3 und 4 aus. Andererseits sind die Verbindungen zwischen 1, 2 und 3 erkennbar nicht-transitiv, und auch nicht die zwischen 4, 6 und 5, weil der Akteur 4 keinen direkten Kontakt zu 5 unterhält, wiewohl er von 5 selbst kontaktiert wird.
An dem Beispiel sieht man, daß es zur Bestimmung der mathematischen Eigenschaften streng auf die jeweils definierte Art der Beziehung ankommt. Hier wurden ja nur gerichtete Beziehungen betrachtet, die dann auch nicht erwidert werden müssen. Solche „einseitigen“ privaten Kontakte sind aber, außer bei politischen Eliten mit ihren Eitelkeiten vielleicht, kaum zu erwarten. 5
Vgl. zu den formalen Eigenschaften von Beziehungen u.a. Hubert Feger, Netzwerkanalyse in Kleingruppen: Datenarten, Strukturregeln und Strukturmodelle, in: Pappi 1987, S. 203ff.
Netzwerke und Beziehungsstrukturen
185
Für die „Erreichbarkeit“ eines Akteurs ist es ja beispielsweise auch egal, ob der i den j besucht oder umgekehrt. Wenn es auf die „Richtung“ der Beziehung nicht ankommt, dann spricht man auch von ungerichteten Beziehungen. Die Linien im Soziogramm erhalten dann Doppelpfeile, und in der Matrix sind die untere und die obere Hälfte dann jeweils gleich: Ungerichtete Beziehungen sind per defintionem symmetrisch. In Abbildung 7.2b ist die Berührungsmatrix für den Fall der ungerichteten Beziehungen dargestellt. Bei ungerichteten Beziehungen steigt – ceteris paribus – die Wahrscheinlichkeit für transitive Beziehungen. Nun wäre auch die Relation zwischen 4, 6, und 5 transitiv, wie man sich leicht an dem Soziogramm überzeugen mag. Beziehungen können im einfachsten Fall als entweder existent oder als nicht-existent beschrieben und entsprechend mit 0 oder 1 codiert werden. Man spricht dann auch von binärer Codierung. Das war in dem Soziogramm bzw. in der Matrix oben geschehen. Manche Beziehungen lassen sich jedoch auch in gewisser Weise bewerten, etwa nach ihrer Intensität, Häufigkeit oder Dauer. Das wäre für die privaten Kontakte sicher schon sinnvoll: Wie „tief“ gehen die Kontakte emotional und wie „intim“ sind sie? Wie oft kommt es zu den Begegnungen in einem bestimmten Zeitraum? Seit wann bestehen und wie regelmäßig erfolgen sie? Alles das könnte man in gewissen Maßzahlen ausdrücken und dann, etwa über die Stärke der Pfeile im Soziogramm oder über gewisse Indexziffern in der Berührungsmatrix, beschreiben. Bisher war bei den Beziehungen in dem Beispiel oben nur eine Art berücksichtigt worden: die privaten Kontakte. Zwischen Akteuren und sozialen Einheiten kann es jedoch ohne weiteres noch andere Beziehungen geben, wie etwa geschäftliche Verbindungen, familiäre und verwandtschaftliche Beziehungen oder irgendwelche emotionalen Bindungen. Wenn eine Beziehung nur aus einer einzigen Dimension besteht, bzw. nur eine Dimension empirisch erhoben und analysiert wird, dann wird sie auch als uniplex bezeichnet, wenn sie aus mehreren Dimensionen gleichzeitig besteht, als multiplex. Der „strukturelle“ Unterschied liegt auf der Hand: Bei Multiplexität ist der Bestand der Beziehung schon „strukturell“ gesicherter, weil die Beziehung – sozusagen – an mehreren Fäden hängt, von denen getrost einmal einer reißen kann, ohne daß die Beziehung insgesamt gleich in die Brüche geht. Das war beispielsweise früher bei den Familien in der Form des „ganzen Hauses“ der Fall. Das waren, wie man so sagt, funktional diffuse Einheiten, in denen alles gleichzeitig geschah, was zum Leben dazugehört. Die funktionale Differenzierung ist daher auch als ein Übergang solcher multiplexer „Ganzheiten“ in uniplexe Spezialbeziehungen anzusehen.
186
Opportunitäten und Restriktionen
Inhaltliche Dimensionen
Inhaltlich gibt es eigentlich keine Einschränkungen für die Frage, welche Beziehungen berücksichtigt werden sollen. Es hat einige Versuche gegeben, Beziehungen auch inhaltlich zu klassifizieren (vgl. etwa Knoke und Kuklinski 1982, S. 15f.; Pappi 1987a, S. 17f.). Das wollen wir hier nicht fortsetzen: Alle Merkmale, über die Akteure bzw. soziale Einheiten in Verbindung treten können, werden ggf. für die Netzwerkanalyse wichtig, d.h. also materiell, institutionell oder kulturell definierte Interdependenzen und Beziehungen und die daran anknüpfenden Formen des sozialen Handelns ganz allgemein, einschließlich der diversen Transaktionsbeziehungen und solche der Macht. In diesem Zusammenhang sei nur noch einmal an eine terminologische Klippe beim Sprechen über „soziale Beziehungen“ erinnert (vgl. dazu schon ausführlich Kapitel 9 in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“): Bei den „Relationen“ zwischen den sozialen Einheiten geht es immer um „Beziehungen“ in einem sehr weiten Sinn, nicht immer aber auch um „soziale Beziehungen“, wie sie Max Weber definiert hat. Das war ja lediglich jener Spezialfall des wechselseitig an gewissen „Maximen“ orientierten „Sichverhaltens mehrerer“, wie eine Freundschaft, eine Ehe oder ein Kampf. Letztlich also: eine durch gewisse normative Erwartungen gesteuerte Beziehung, wovon die Rollenbeziehung das wohl deutlichste Beispiel wäre. Es handelt sich bei den sozialen Beziehungen, wenn man so will, um einen Spezialfall der Beziehungen, die über institutionelle Regeln konstituiert sind.
Ansonsten ist zu den inhaltlichen Dimensionen nicht viel zu sagen. Die Auswahl der Beziehungen, die man erheben und analysieren will, ist eine Frage des Forschungsinteresses und eine von Hypothesen darüber, wie man gewisse Vorgänge über die Berücksichtigung von Netzwerkstrukturen erklären könnte. Und allein deshalb kann darüber hier nicht viel mehr bemerkt werden. Komplette und egozentrierte Netzwerke
Das in den Abbildungen 7.1 und 7.2 dargestellte Netzwerk ist ein sog. komplettes Netzwerk. Damit ist gemeint, daß es deutliche und stabile Grenzen nach außen gibt oder solche aus gewissen Gründen vom Forscher gezogen wurden und daß innerhalb dieser Grenzen alle irgendwie verbundenen Akteure erfaßt sind. Das wäre etwa für Schulklassen, für kleinere Gemeinden oder – wie hier – für abgrenzbare Gruppen sinnvoll und technisch auch machbar, aber auch für die Beziehungen von Positionen in Organisationen oder die Verbundenheit von Firmen durch gemeinsame Sitze in den jeweiligen Aufsichtsräten. Aber es gibt meist rasch Probleme bei der Erfassung kompletter Netzwerke. Neben dem häufig schwierigen Problem der Abgrenzbarkeit ist vor allem die Größe eine Hürde: Ab einer bestimmten Größe wachsen die mögli-
Netzwerke und Beziehungsstrukturen
187
chen Beziehungen ins Aschgraue, und allein schon die Datenerhebung wird dann nahezu unmöglich. Dafür gibt es aber einen unerhörten Vorzug der Erhebung und Analyse solcher „kompletter“ Netzwerke: Man hat die gesamte Struktur im Blick und kann untersuchen, ob und wie auch dem einzelnen Akteur ganz unzugängliche und unübersehbare Eigenschaften des ganzen Netzwerkes das Verhalten der Akteure beeinflussen. Gewissermaßen als Ausweg aus dem Dilemma, daß man einerseits schon die relationale Einbettung der Akteure erfassen möchte, andererseits aber, etwa bei den üblichen Massenumfragen, an die Erfassung kompletter Netzwerke nicht zu denken ist, wurde das Konzept der egozentrierten Netzwerke erfunden. Hierbei werden die Akteure erfaßt, die mit einer bestimmten Fokalperson – „Ego“ eben – in direktem Kontakt stehen. Und für die werden dann gewisse weitere Eigenschaften, wie Alter, Geschlecht, Bildung, soziale Schicht und gewisse Einstellungen meist, erhoben, wie sie sich ego darstellen, vor allem aber die unter ihnen selbst wiederum bestehenden Relationen. Auf diese Weise erhält man für jede Fokalperson gewisse Mini-Netzwerke, für die sich, wie für die kompletten Netzwerke, auch bestimmte strukturelle Eigenschaften bestimmen lassen, von denen man annehmen kann, daß sie für das Verhalten der Fokalperson wichtig sind – wie etwa die „Dichte“ des (egozentrierten) Netzwerkes (siehe dazu auch gleich unten mehr). Weil dabei (meist) keine kompletten Netzwerke erfaßt werden, spricht man auch von partiellen Netzwerken. Die egozentrierten Netzwerke bilden so etwas wie den „relationalen“ Kontext als „Nahumwelt“ der Akteure. Es ist das Netz seiner (unmittelbaren) Bezugsumgebung (vgl. dazu schon Abschnitt 11.6 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, sowie noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Wenn komplette Netzwerke erfaßt sind, dann hat man diese Nahumwelten der Akteure sozusagen als Abfallprodukt gleich auch schon. So gehören zum „Egonetz“ der privaten Kontakte des Akteurs 4 die Akteure 2 und 6, wenn man die ausgehenden Kontakte berücksichtigt, die Akteure 2, 3, 5 und 7, wenn es um die eingehenden Kontakte geht, und die Vereinigungsmenge 2, 3, 5, 6 und 7, wenn es die ungerichteten Kontakte sind. Der Akteur 4 hat also viele andere Akteure in seiner unmittelbaren Nahumgebung und er besitzt, wie man sieht, im Gesamtnetz auch eine zentrale Stellung. Das ist ganz anders bei dem Akteur 1: Der steht ganz am Rande des Geschehens, hat mit dem Akteur 2 nur einen Partner mit (reziprokem) privatem Kontakt und kann nur über diesen die anderen erreichen. Man sieht auch gleich, wie wichtig der Akteur 2 für den Akteur 1 ist: Wenn es den nicht gäbe, hätte der (marginale) Akteur 1 keinerlei Zugang zu dem „Rest“ des Netzwerkes.
Schon an diesen wenigen Fällen erkennt man, daß die Eigenschaften des kompletten Netzwerkes und die Strukturen der Nahumgebungen der Akteure zwar verschiedene Aspekte der sozialen Einbettung darstellen, aber nicht unverbunden sind (vgl. dazu auch noch Abschnitt 7.2 und 7.3 gleich unten in
188
Opportunitäten und Restriktionen
diesem Band, sowie bereits die Unterscheidung von System- und Sozialintegration in Kapitel 6 in Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Und man sieht sofort auch die Vorzüge der Erfassung kompletter Netzwerke: Wenn man nur egozentrierte Netzwerke erhebt, gewinnt man keinen Überblick über die Gesamtstruktur – es sei denn, man tut das in kleineren settings und hat das höchst unwahrscheinliche Glück, daß niemand, aber auch wirklich niemand, der für die Struktur des Gesamtnetzwerkes wichtig ist, bei der Datenerhebung ausfällt. Wie sähe beispielsweise das Netzwerk der SPD-Elite aus, wenn der Akteur 4 nicht erreichbar gewesen wäre oder das Interview verweigert hätte? Man sieht: Egozentrierte Netzwerke sind eigentlich immer nur eine Notlösung. Sie sind aber immer noch weitaus besser, als so zu tun, als hätten die Menschen keine Beziehungen zueinander, wie das in den allermeisten Umfragen ja tatsächlich geschieht. Insbesondere aber haben sie in einem bestimmten „Kontext“ durchaus auch ihren ganz eigenen Wert: Sie sind die für den Akteur unmittelbar relevante Bezugsumgebung, und das allein rechtfertigt, sie auch standardmäßig, etwa in Massenumfragen, als Teil des „subjektiven Kontextes“ zu erfassen. Fragestellungen und Hintergründe
Die Fragestellung der Netzwerkanalyse ist damit klar. Es geht zu allererst darum, gewisse soziale Prozesse darüber verständlich zu machen und zu erklären, daß die Akteure in gewisse „Systeme“ von Beziehungsstrukturen eingebettet sind, durch die sie, etwa, in typischer und objektiv strukturierter, von ihnen selbst nicht sonderlich beeinflußbarer Weise Zugang zu Informationen oder Möglichkeiten für Transaktionen haben – oder auch nicht. Es ist der Versuch, den Begriffen der „sozialen Struktur“ und der „sozialen Einbettung“ einen systemischen und systematischen Gehalt zu geben, ohne dabei die übliche Hochstapelei und Begriffsakrobatik der soziologischen Systemtheorie mitzumachen. Die Netzwerkanalyse ist eine zwar nicht ganz neue, aber immer noch etwas ungewohnte und recht selten benutzte Methode der Beschreibung der Strukturen sozialer Systeme und der Erklärung sozialer Prozesse darüber. Sie hat für ihre Entwicklung in die heutige Form im Wesentlichen zwei Wurzeln.6 6
Vgl. zum Folgenden Scott 1991, Kapitel 2: The Development of Social Network Analysis, sowie den Überblick von Erwin K. Scheuch, Netzwerke, in: Dieter Reigber (Hrsg.), Social Networks. Neue Dimensionen der Markenführung, Düsseldorf u.a. 1993, S. 95-130.
Netzwerke und Beziehungsstrukturen
189
Das ist erstens die soziometrische Analyse, wie sie Jacob Moreno vor dem Hintergrund von Überlegungen und Anregungen von Georg Simmel erfunden hat und wie sie später mit Hilfe der Mathematik der Graphentheorie formal weiterentwickelt wurde. Die zweite Wurzel ist die britische Sozialanthropologie in der Folge der Arbeiten von Alfred R. Radcliffe-Brown, die sich vor allem für gewisse interpersonale „Systeme“ hoher Kohäsion und Subgruppen innerhalb weiter gezogener Beziehungssysteme interessierte. Von diesen beiden Wurzeln aus gab es dann einige Verzweigungen und Überlappungen, von denen insbesondere die betriebssoziologischen Studien von Elton Mayo oder Fritz J. Roethlisberger, die Gruppentheorie von George C. Homans und die sozialanthropologischen und familiensoziologischen Arbeiten der sog. Manchester-Schule um Clyde C. Mitchell und Elizabeth Bott zu nennen sind. Es war aber erst die Zusammenführung der eher formalen und der eher inhaltlichen Beiträge aus allen diesen Strängen, die zum Durchbruch und zur heutigen Form der Netzwerkanalyse geführt haben, wobei es insbesondere die Gruppe der „Harvard Structuralists“ um Harrison White, James A. Davis und Edward O. Laumann in den späten 60er Jahren war, die diesen Durchbruch mindestens vorbereitet haben. Hierbei spielte die (Wieder-)Entdeckung und die Weiterentwicklung von zwei formalen Instrumenten für die Zwecke der Netzwerkanalyse eine bedeutsame Rolle: die Nutzung graphentheoretischer Methoden zur Beschreibung der Strukturen von Netzwerken und zur Identifikation von typischen und einander äquivalenten Teilstrukturen einerseits und die Entwicklung der Technik der sog. multidimensionalen Skalierung zur Beschreibung von räumlichen und sozialen Distanzen. Die endgültige Etablierung der Netzwerkanalyse geschah aber wohl erst mit den etwas weniger formalen, dafür aber inhaltlich um so so eindrucksvolleren Beiträgen von Mark Granovetter, die zu den meistzitierten Arbeiten der Soziologie insgesamt zählen: „The Strength of Weak Ties“ von 1973 und „Getting a Job“ von 1974.7 Darin wurde einerseits gezeigt, wie wichtig gerade die Überbrückung von ansonsten getrennten solidarischen Kleingruppen für die Integration und Handlungsfähigkeit eines größeren gesellschaftlichen Systems ist, und welch enorme Bedeutung die Beziehungen vor allem mit entfernten Bekannten für die eigenen Möglichkeiten haben, etwa einen neuen Job zu finden, wenn man ihn denn dringend braucht (vgl. dazu noch näher Abschnitt 8.6 unten in diesem Band über das Konzept des sozialen Kapitals).
Und jedesmal ist in allen diesen Vorarbeiten die Grundidee die gleiche: Es sind die Strukturen der Netzwerke insgesamt bzw. die Struktur der Positionierung der Akteure, die bestimmen, ob es, wie Max Weber sagen würde, eine „Chance“ für, sagen wir, eine übergreifende Integration bzw. für das baldige Finden eines Jobs gibt oder nicht: „It is undoubtedly the case that social network analysis embodies a particular theoretical orientation towards the structure of the social world and that it is, therefore, linked with structural theories of action.“ (Scott 1991, S. 38; Hervorhebungen so nicht im Original)
Wir werden in den folgenden beiden Abschnitten die wichtigsten Überlegungen und Instrumente zur Beschreibung von Beziehungsstrukturen zusammenfassen – nicht ohne darauf hinzuweisen, daß die Netzwerkanalyse, wie so viele andere methodische und theoretische Instrumente, die für die soziologi7
Mark Granovetter, The Strength of Weak Ties, in: American Journal of Sociology, 78, 1973, S. 1360-1380; Mark S. Granovetter, Getting a Job. A Study of Contacts and Careers, Cambridge, Mass., 1974.
190
Opportunitäten und Restriktionen
schen Erklärungen so wichtig sind, wie das etwa auch schon die Spieltheorie, die Verhandlungstheorie oder die Marktanalyse sind, eine formal rasch sehr komplizierte Sache werden kann und daß man sich mit diesen Einzelheiten nach Belieben vertiefend beschäftigen könnte. Wie in allen diesen Fällen kann man nur raten, das auch zu tun – wenn man ein inhaltliches Problem hat, das diese Vertiefung erfordert oder verdient. L’art pour l’art ist langweilig und unproduktiv. Das gilt nicht nur für die Netzwerkanalyse.
7.2
Die Einbettung der Akteure und die Struktur der Beziehungen
Netzwerke bestehen aus sozialen Einheiten und Beziehungen, und je nach Art der Anordnung der Einheiten und der Beziehungen haben sie unterschiedliche formale Eigenschaften, die für viele inhaltliche soziale Prozesse von hoher Bedeutung sind – wie etwa die Wahrscheinlichkeit, daß sich Vertrauen in einem Netzwerk ausbreitet in Abhängigkeit von seiner Dichte (siehe dazu gleich unten in Abschnitt 7.5 mehr dazu). Das ist es ja gerade, worum es bei der Netzwerkbetrachtung geht: daß sich schon aus der strukturellen Anordnung der Einheiten und aus den Strukturen der Beziehungen systematische inhaltliche Aussagen machen lassen, ganz unabhängig davon, was die Einheiten und die Beziehungen selbst bedeuten mögen. Dabei sind zwei Ebenen der Betrachtung zu unterscheiden: die Struktur der sozialen Einbettung der individuellen Akteure einerseits und die Strukturen des gesamten Netzwerkes andererseits. Drei formale Eigenschaften lassen sich dabei unterscheiden, wobei jeweils einmal der individuelle Akteur in seiner „relationalen“ Eigenschaft der Einbettung und einmal das komplette Netzwerk in seiner systemischen Struktur der Bezugspunkt der Betrachtung sind: die Verbundenheit, die Zentralität und das Prestige als relationale Eigenschaften der Akteure einerseits und die Dichte, die Zentralisierung und die Hierarchisierung als darauf bezogene systemische Eigenschaften des ganzen Netzwerkes andererseits.8 Das ist die gleiche Unterscheidung, die uns im Zusammenhang des Problems der „Integration“ in Kapitel 6 von Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“ bereits begegnet war: Es gibt die soziale Integration der individuellen Akteure untereinander und „in“ die Gesell8
Die Darstellung der folgenden auch formalen Einzelheiten folgt in groben Zügen den Zusammenfassungen bei Knoke und Kuklinski 1982, Kapitel 4; Pappi 1987a, S. 26ff.; Scott 1991, Kapitel 5 bis 7; Jansen 1999, Kapitel 6 bis 8.
Netzwerke und Beziehungsstrukturen
191
schaft hinein, und es gibt die systemische Integration der ganzen Gesellschaft als dem Grad des Zusammenhangs der Einzelteile zueinander. Beide Aspekte sind begrifflich und theoretisch ganz unterschiedlich zu behandeln, obwohl sie, wie wir gerade für die sozialen Netzwerke und die Beziehungsstrukturen der Akteure noch sehen werden, empirisch und teilweise auch logisch nicht vollkommen unabhängig voneinander sind. 7.2.1 Verbundenheit und Dichte
Die Grundlage aller Beschreibungen der Beziehungsstrukturen der individuellen Akteure und der Strukturen der Netzwerke insgesamt sind – natürlich – die Beziehungen zwischen den Einheiten. Zwei Einheiten, die eine bestimmte Beziehung unterhalten und deshalb in einem Soziogramm durch einen Pfeil oder eine Linie verbunden sind, werden auch als einander berührend („adjacent“) bezeichnet. Alle Einheiten, die von einer bestimmten Einheit aus unmittelbar berührt werden, bilden dann die Nachbarschaft dieser Einheit. Verbundenheit
Die Verbundenheit einer Einheit ist dann die Anzahl der Einheiten, die diese Einheit in ihrer Nachbarschaft hat. Diese Verbundenheit wird auch als Grad oder (der englischsprachigen Ausdrucksweise folgend) als Degree di des Akteurs i bezeichnet. Bei gerichteten Beziehungen kann dann noch danach unterschieden werden, ob sich die Verbundenheit auf die Einheit als Sender oder als Empfänger, also auf die ausgehenden oder auf die eingehenden Beziehungen richtet. Die Verbundenheit eines Akteurs i hinsichtlich der ausgehenden Beziehungen wird als Außengrad bzw. Outdegree odi bezeichnet, hinsichtlich der eingehenden als Innengrad bzw. Indegree idi. Der Außengrad eines Akteurs ist dabei nichts anderes als „seine“ Zeilensumme in der betreffenden Berührungsmatrix, und der Innengrad ist die entsprechende Spaltensumme (vgl. die Matrix der sieben SPD-Prominenten in Abbildung 7.2a). Bei ungerichteten Beziehungen, wenn es also nur darauf ankommt, ob überhaupt eine Beziehung besteht oder nicht, ist die Matrix symmetrisch, und dann sind die Spalten- und die Zeilensummen natürlich gleich. Deshalb gibt es hier auch nur den „Degree“. Das ist in Abbildung 7.2b dargestellt. Und man sieht gleich auch, daß der Degree einer Einheit jeweils die Vereinigungsmenge von Outdegree und Indegree ist.
192
Opportunitäten und Restriktionen
Um den Degree für Netzwerke verschiedener Größe vergleichen zu können, wird die jeweilige (Spalten- oder Zeilen-)Summe manchmal noch durch n-1 geteilt, wobei n die Größe des Netzwerkes ist. Das so entstehende Maß wird auch als relativer Degree oder als central degree cdi bezeichnet. Also: cdi=di/(n-1) mit di als Degree des Akteurs i. So hat beispielsweise der Akteur 4 einen relativen Degree von 5/6 und der Akteur 1 einen von 1/6. Für Indegree und Outdegree gilt die Normierung auf die Netzwerkgröße entsprechend.
Der Degree (bzw. Indegree und Outdegree) ist bei all seiner Einfachheit schon ein aussagekräftiges Maß für die Einbettung der Akteure bzw. der sozialen Einheiten. Wir erkennen z.B. die starke Verflechtung des Akteurs 4 an seinem hohen Degree von d4=5 bzw. von cd4=5/6=0.833, und seine Begehrtheit daran, daß er von vier anderen Akteuren gewählt wird, aber selbst zu zweien bei privaten Kontakten aktiv wird, sowie die auch marginale Position des Akteurs 1 mit einem cd1 von nur 1/6=0.167. Erreichbarkeit
Mit seiner Nachbarschaft ist ein Akteur direkt verbunden. In Abbildung 7.1 und Abbildung 7.2a (für die gerichteten Beziehungen) sieht man, daß der Akteur 2 die Akteure 1, 3 und 4 oder der Akteur 5 die Akteure 4 und 7 in der Nachbarschaft ihrer direkten (ausgehenden) Beziehungen haben. Die Verbundenheit eines Akteurs muß sich aber keineswegs nur auf seine unmittelbare Nachbarschaft erstrecken. Jeder der Akteure könnte auch andere Akteure außerhalb seiner Nachbarschaft erreichen, und zwar dann über mehrere Schritte. Der zunächst sehr marginale Akteur 1 könnte etwa den Akteur 3 über den Zwischenschritt des Kontaktes mit Akteur 2 erreichen und sogar den weit entfernten Akteur 5 über die (gerichteten) Kontakte mit Akteur 2, dann auch den Akteur 4, die Akteure 6 und 5 und sogar – darüber – den Akteur 7. Er hätte auch noch einen Umweg gehen können, nämlich über den Akteur 3, wie man an dem Soziogramm sieht.
Sequenzen von Schritten zwischen verschiedenen Einheiten werden auch als Pfade bezeichnet. Die Länge eines Pfades ist die Anzahl der jeweils betrachteten direkten Verbindungen dieses Pfades. So hat die „indirekte“ Verbindung von Akteur 1 zu Akteur 3 eine Länge von zwei, und die zu Akteur 5 eine solche von vier, wenn er den „kürzesten“ Weg geht, und eine von fünf, wenn er den Umweg über den Akteur 3 nimmt. Als Distanz bzw. als Pfaddistanz wird dann die Länge des kürzest-möglichen Pfades zwischen zwei Akteuren bezeichnet. Die (Pfad-)Distanz von Akteur 1 zu Akteur 3 wäre dann zwei, und die von Akteur 1 zu Akteur 5 betrüge vier (siehe dazu auch unten noch mehr). Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen und Konzepte lassen sich dann auf eine einfache Weise die Verbundenheiten auch von weiter entfernten Ak-
Netzwerke und Beziehungsstrukturen
193
teuren bestimmen. Ausgangspunkt ist die Matrix der unmittelbaren Verbundenheit über die direkten Beziehungen zur Nachbarschaft, wie sie für die gerichteten Beziehungen in Abbildung 7.2a zusammengefaßt sind. Wenn man diese Matrix mit sich selbst multipliziert, dann erhält man eine neue Matrix, in deren Zellen dann die Erreichbarkeit der Akteure über zwei Schritte bzw. einer Distanz von zwei steht (vgl. Abbildung 7.3).
0 1 0 0 0 0 0
1 0 1 1 0 0 0
0 1 0 0 0 0 0
0 1 1 0 1 0 1
0 0 0 0 0 1 0
0 0 0 1 0 0 0
0 0 0 0 1 0 0
•
0 1 0 0 0 0 0
1 0 1 1 0 0 0
0 1 0 1 0 0 0
0 1 0 0 0 1 0
0 0 0 1 0 0 1
0 0 0 0 1 0 0
0 0 0 1 0 0 0
Abb. 7.3: Die Bestimmung der Erreichbarkeit über längere Distanzen durch die Multiplikation der Soziomatrix mit sich selbst
Die ursprüngliche Berührungsmatrix sei mit A bezeichnet, A’ ist dann die Transponierte von A, mit der A mulitpliziert wird. Warum sich aus der Multiplikation A⋅A’=A2 die Erreichbarkeit über eine Distanz von zwei ergibt, läßt sich leicht veranschaulichen, wenn man bedenkt, was bei dieser Multiplikation geschieht: Es wird für jede Zeile i aus A und für jede Spalte j aus A’ die Produktsumme aller Werte der Beziehungen gebildet. Beispielsweise ergeben sich für die Zellen 1,4 und 1,6 der Matrix A2 folgende Wert: Zelle 1,4: 0⋅0+1⋅1+0⋅0+0⋅0+0⋅0+0⋅1+0⋅0=1 Zelle 1,6: 0⋅0+1⋅0+0⋅0+0⋅1+0⋅0+0⋅0+0⋅0=0 Einen Wert von 1 nehmen die Zellen also nur dann an, wenn der Akteur i einen unmittelbaren Kontakt mit einem Akteur k hat, der selbst wieder mit dem Akteur j unmittelbar in Beziehung steht. Das ist für die indirekte Beziehung einer Distanz von zwei Schritten bei dem Akteur 1 mit dem Akteur 4 tatsächlich der Fall: Akteur 1 hat mit dem Akteur 2 eine direkte Beziehung, und der wiederum mit dem Akteur vier. Für den Weg von 1 nach 6 gilt das nicht. Hier gibt es keine Zwischenperson, die die Verbindung über eine Distanz von (höchstens) zwei Schritten herstellt. Und deshalb enthält die Matrix der Verbundenheit über zwei Schritte an dieser Stelle auch einen Eintrag von null.
Opportunitäten und Restriktionen
194
Wenn man so die Matrix A2 bildet, kommt das Folgende heraus (Abbildung 7.4a):
a. Pfade der Länge 2 1 0 1 1 0 0 0
0 3 1 0 1 0 1
1 0 1 1 0 0 0
1 1 1 1 1 1 0
0 0 0 1 0 0 0
0 1 1 0 1 0 1
b. Pfade der Länge 3 0 0 0 0 0 1 0
0 3 1 0 1 0 1
3 1 3 3 1 1 0
0 3 1 0 1 0 1
1 3 2 2 1 1 1
0 1 1 0 1 0 1
1 1 1 1 1 1 0
0 0 0 1 0 0 0
Pfade der Länge 5 0 1 2 2 3 4 3
1 0 1 1 2 3 2
2 1 0 2 3 4 3
2 1 1 0 1 2 1
4 3 3 2 0 1 3
3 2 2 1 2 0 2
5 4 4 3 1 2 0
Abb. 7.4: Die Erreichbarkeitsmatrix der Länge zwei, drei und fünf
Jetzt sieht man, daß der Akteur 1 doch nicht ganz so marginal ist: Über einen Pfad von zwei Schritten hat er Zugang zu den Akteuren 3 und 4, was sich leicht auch an dem Soziogramm feststellen läßt. Und entsprechend sind alle anderen Einträge zu lesen: Eine 1 steht dort, wo es zwischen zwei Akteuren eine indirekte Beziehung der Distanz von zwei Schritten gibt. In den Diagonalen steht jetzt eine weitere interessante Information: Es ist die Zahl der Zweier-Pfade, die auf den Akteur wieder zurückweisen, und das ist nichts anderes als die Zahl der reziproken Beziehungen, die jeder Akteur hat. Hier fällt besonders der Akteur 2 mit drei solchen Reziprozitäten auf. Selbstverständlich kann man die ganze Prozedur jetzt auch für drei, vier usw. Schritte wiederholen. In Abbildung 7.4b steht die Matrix A⋅A2’=A3. Sie gibt ganz analog die Erreichbarkeit der Akteure über drei Schritte an. Und jetzt sehen wir, daß schon sehr viel weniger Akteure untereinander nicht mehr erreichbar sind. Und leicht läßt sich „ausrechnen“, daß nach nur wenigen weiteren Schritten jeder mit jedem, wenngleich über längere Distanzen, verbunden ist. Nach fünf Schritten ist, wie man sieht, keiner der Akteure mehr unerreicht. Sobald das der Fall ist, kann man die Einträge in der Matrix als die Pfaddistanzen ansehen, von denen oben schon die Rede war – die jeweiligen kürzesten Verbindungen der Akteure auch über indirekte Wege. Auf der raschen Auffüllung von Erreichbarkeitsmatrizen nach nur wenigen Schritten beruht auch das sog. small-world-Phänomen: Über nur relativ wenige Schritte, etwa sechs oder sieben, ist so gut wie jeder von uns mit, sagen wir, Bill Clinton verbunden. Und genau darauf beruht auch die oft unglaubliche Reise, die man mit den Links im Internet beginnen kann:
Netzwerke und Beziehungsstrukturen
195
Über oft nur ganz wenige Schritte erreicht man Welten, die man nicht für möglich hält – wie das Familienministerium von Frau Bergmann, der züchtigen, das noch nicht einmal sehr indirekt mit Pornoanbietern verbunden (gewesen) ist.
Die Erreichbarkeit eines Akteurs ergibt sich, wie man sieht, aus der Verbundenheit zu seiner Nachbarschaft und der Nachbarschaft der Akteure in seiner Nachbarschaft. Es ist eine außerordentlich wichtige Eigenschaft, wenn es etwa darum geht, wie rasch und wie reibungslos jemand an Informationen überhaupt herankommen kann und wie sehr er selbst in der Lage ist, Informationen in der sozialen Umgebung zu verbreiten. Wenn man in dem Soziogramm aus Abbildung 7.1 die Akteure 2 und 4 mit den Akteuren, sagen wir, 1, 5, 6 und 7 vergleicht, dann sieht man deutlich derartige Unterschiede in den jeweiligen strukturellen „Chancen“ der Beeinflussung durch andere und von anderen. Dichte
Verbundenheit und Erreichbarkeit sind Eigenschaften der Beziehungsstrukturen, die die individuellen Akteure haben. Die Dichte ist die entsprechende Maßzahl zur Beschreibung des Grades der Verbundenheit als Eigenschaft eines ganzen Netzwerkes. Sie ist – einfacherweise – das Verhältnis der Anzahl der tatsächlich vorliegenden zur Anzahl der maximal möglichen Beziehungen in dem Netzwerk. Da sich die maximal möglichen Beziehungen aus der Kombination der logisch möglichen Beziehungen zwischen den Einheiten ergibt, ist die Berechnung der Dichte eine einfache Sache: Für n Einheiten in einem Netzwerk sind bei ungerichteten Beziehungen (n(n-1))/2 Kombinationen möglich. Und wenn dann nr die Anzahl der tatsächlichen Beziehungen ist, errechnet sich die Dichte D zu D=nr/(n(n-1))/2. Das ergibt für unser Modellnetzwerk aus Abbildung 7.1 eine Dichte von D=12/(7⋅6)/2=12/21=0.57, wenn man die dort aufgeführten Beziehungen nicht nach ihrer Richtung unterscheidet. Für gerichtete Beziehungen wird der Ausdruck dann nur nicht mehr durch 2 dividiert, weil hier ja nur eine Art der Beziehung und damit auch nur eine Hälfte der Soziomatrix betrachtet wird. Entsprechend wäre die Dichte nur für die ein- bzw. die (dazu komplementären) ausgehenden Beziehungen Di=Do=12/7⋅6=12/42=0.29.
Das Maß für die Dichte eines Netzwerkes kann, wie man sieht, zwischen 0 und 1 variieren: Es ist null, wenn es keinerlei Beziehungen tatsächlich gibt, und es ist eins, wenn alle möglichen Beziehungen auch tatsächlich vorhanden sind. Die damit beschriebene Dichte kennzeichnet dann so etwas wie den Grad der Kohäsion eines Netzwerkes ganz allgemein und damit die strukturell gegebenen Möglichkeiten, daß sich die Akteure in einem Netzwerk leichter
196
Opportunitäten und Restriktionen
oder schwerer erreichen und daß sich, etwa, Informationen rasch oder weniger rasch verbreiten können. Die Dichte ist die wohl wichtigste strukturelle Grundlage für die Absenkung von Kosten der Rückmeldung und der sozialen Kontrolle, und daher wundert es nicht, daß in dichten Netzwerken kaum jemand etwas tun kann, ohne daß das sofort an allen anderen Stellen des Netzwerkes bekannt würde. Die Entstehung des sog. Systemvertrauens – als einer besonderen Form des sozialen Kapitals – beruht darauf (vgl. dazu noch die Abschnitte 7.5 und 8.6 unten in diesem Band). 7.2.2 Zentralität und Zentralisierung
Die Verbundenheit bzw. die Erreichbarkeit ist nicht alles, was die soziale Einbettung eines Akteurs ausmacht: Die Akteure 2 und 4 sind in ihrer Erreichbarkeit ganz ähnlich, aber irgendwie steht der Akteur 4 mehr im „Zentrum“ des Geschehens: Auf ihn sind vier der sechs Pfeile gerichtet, auf den Akteur 2 dagegen nur drei von sechs, und außerdem scheint der Akteur 4 eine Art von Brückenfunktion zwischen der linken und der rechten Seite des Netzwerkes zu haben. Alles dies ist mit dem Konzept der Zentralität gemeint. Es hat seinen Hintergrund in der Idee vom soziometrischen Star. Das ist, etwa in einer Schulklasse, derjenige, den die meisten zum Freund haben möchten, oder in einer Basketballmannschaft diejenige, die die meisten Zuspiele erhält. Und wenn man sich die beiden Netzwerke in Abbildung 7.5 ansieht, dann sieht man auch, daß Netzwerke unterschiedlich „zentralisiert“ sein können: In Abbildung 7.5a sind alle Akteure um einen soziometrischen Star angeordnet und in Abbildung 7.5b gibt es niemanden, der irgendwie „zentral“ heraussticht.
198
Opportunitäten und Restriktionen
lich: Man teilt den jeweiligen Wert durch n-1 und erhält die relative lokale Zentralität Cl(i)’. Die lokale Zentralität läßt sich natürlich auch für die gerichteten Beziehungen bestimmen; hier sind entsprechend der Indegree bzw. der Outdegree die Grundlage (mit Cli(i) bzw. Clo(i) dann als den betreffenden Maßzahlen). Die lokale Indegree-Zentralität ist dabei identisch mit dem lokalen (Indegree-)Prestige des Akteurs (siehe dazu auch noch Abschnitt 7.2.3 gleich unten). Die globale Zentralität Cg(i) eines Akteurs i bezeichnet dann dessen Zentralität, die sich ergibt, wenn man seine Verbundenheit zu den anderen Akteuren auch über weitere Pfade als 1 betrachtet und damit seine Prominenz im System des gesamten Netzes erfassen will. Die Berechnung von Cg(i) ergibt sich aus der Summe aller Pfaddistanzen des Akteurs i zu allen anderen Akteuren j im Netzwerk (außer zu sich selbst, versteht sich). Diese Summe wird dann mit ihrem Kehrwert multipliziert. Das ergibt Cg(i)=1/(Σdij) (für i≠j) für die ungerichteten Beziehungen und jeweils analog Cgo und Cgi für die gerichteten. Die Summe der Pfaddistanzen für die (eingehenden) Beziehungen des marginalen Akteurs 1 im SPD-Netzwerk beträgt z.B. 15 und für den zentralen Akteur 4 nur 8, wie man sich leicht an der Spalte eins bzw. vier von Abbildung 7.3c vergegenwärtigen kann. Daraus ergibt sich nach der Multiplikation mit dem Kehrwert jeweils Cgi(1)=1/15=0.067 und Cgi(4)=1/8=0.125. Und genau das sieht man auch im Soziogramm: Der Akteur 4 steht deutlich mehr im „Zentrum“ des Geschehens. Auch dieses Maß läßt sich, wie üblich, auf die Netzwerkgröße normieren. Es heißt dann Cg’(i). Makler-Zentralität
Der Akteur 4 im SPD-Netzwerk ist nicht nur das Ziel und der Ausgangspunkt der meisten Nennungen, sondern er vermittelt auch, wie man an dem Soziogramm sieht, zwischen zwei enger verdichteten Teilen des Elitenetzwerkes. Diese Vermittlungsfunktion von Akteuren soll mit dem Konzept der MaklerZentralität erfaßt werden: die Einnahme „strategisch“ wichtiger Positionen zwischen gewissen Verdichtungen des Netzwerkes. Diese Makler-Position eines Akteurs wird auch als „Betweenness“ bezeichnet. Um diesen Aspekt zu verdeutlichen, wollen wir eine noch etwas andere Netzwerkform betrachten – den sog. Doppelstern (vgl. Abbildung 7.6).
Netzwerke und Beziehungsstrukturen
2
1
3
4
199
6
5
7
9
8
Abb. 7.6: Doppelstern und Betweenness
Und man sieht gleich: Obwohl der Akteur 5 in dem Doppelstern nicht in sehr viele Beziehungen eingebunden ist, hat er dennoch eine sehr „zentrale“ Funktion: Er ist der einzige Vermittler oder „Makler“ zwischen den beiden „Sternen“. Die Maßzahlen für die Makler-Zentralität eines Akteurs i beruhen auf der Überlegung, daß ein Akteur eine um so stärkere Maklerfunktion bzw. Betweenness hat, je öfter die Beziehung zwischen zwei Akteuren j und k über ihn verläuft. Eines dieser Maße ist Cb(i)= Σbij(i), wobei bij die Anzahl der paarweisen Beziehungen bezeichnet, bei denen i an irgendeiner Stelle einer indirekten Verbindung zwischen i und k als Vermittler fungiert. Betrachtet werden dabei immer nur die Paare, in denen i nicht selbst vorkommt und, natürlich, in denen j nicht gleich k ist. Wir wollen uns zur Verdeutlichung einmal die Makler-Zentralität des Akteurs 3 in Abbildung 7.6 ansehen. In dem Doppelstern gibt es gemäß der Kombinatorik insgesamt (n (n1)/2)=(9⋅8)/2=36 paarweise Beziehungen. Davon sind 28, in denen i nicht selbst als Partner vorkommt. Von diesen 28 für die Berechnung der Betweenness noch in Frage kommenden paarweisen Verbindungen liegt der Akteur 3 in 18 Fällen auf der einzigen Verbindungsstrecke zwischen i und j, nämlich zwischen 1 und 2, 1 und 4, 1 und 5, 2 und 4, 2 und 5, 4 und 5, 1 und 6, 1 und 7, 1 und 8, 1 und 9, 2 und 6, 2 und 7, 2 und 8, 2 und 9, 4 und 6, 4 und 7, 4 und 8, 4 und 9. Damit beträgt Cb(3)=18. Den gleichen Wert hat der Akteur 7, der, wie man leicht sieht, auch die gleiche „Position“ als Makler in dem Netzwerk hat (vgl. dazu auch noch unten zum Konzept der „strukturellen Äquivalenz“). Für den Akteur 1 ergibt sich Cb(1)=0, ebenso wie für die anderen außenstehenden Akteure 2, 4, 6, 8 und 9. Sie sind für die Überbrückung von Beziehungen allesamt überflüssig und (auch) in dieser Hinsicht nicht „zentral“.
200
Opportunitäten und Restriktionen
Auch die Betweenness-Maße der Zentralität können wieder auf die Netzwerkgröße normiert werden. Der Bezugspunkt ist dabei die einfache Sternstruktur, die die logisch größte Zentralität aufweist. Für eine solche Sternstruktur beträgt die Betweenness des soziometrischen Stars darin (n2-3n+2)/2. Mit diesem Betrag müßten nun die „absoluten“ Betweenness-Werte dividiert werden, um auf die relative Makler-Zentralität eines Akteurs in einem Netzwerk der Größe n zu kommen. Zur Übung können Sie ja jetzt einmal die Makler-Zentralität der Akteure 1, 3 und 4 der SPD-Clique ausrechnen. Der in der Mitte des Doppelsterns in Abbildung 7.6 stehende Akteur 5 kommt auf einen Wert von Cb(5)=16. Dessen Wert der Makler-Zentralität ist deshalb geringer, weil die Akteure in den beiden Cliquen links und rechts neben ihm in ihren Beziehungen ganz ohne ihn auskommen. Gleichwohl ahnt man, daß er doch ganz wichtig für die „Integration“ des gesamten Netzwerkes ist. Dafür aber kennen wir schon eine Maßzahl: die globale Zentralität, berechnet über längere Pfade bzw. über Pfaddistanzen der Akteure als den kürzest-möglichen Verbindungen zwischen ihnen. Und der Akteur 5 hat, wie man leicht nachrechnen kann, insgesamt die geringsten Pfaddistanzen, um die anderen Akteure im Netzwerk zu erreichen. Zentralisierung
Die Zentralisierung eines Netzwerkes ist das Ausmaß, zu dem es um einen Mittelpunkt oder Kern herum organisiert und verdichtet ist. Stern und Kreis bilden in dieser Hinsicht zwei Extremformen (siehe Abbildung 7.5 oben). Beide Netzwerke enthalten 9 Einheiten, der Stern weist 8 und der Kreis 9 Beziehungen auf. Das ergibt für den Stern eine Dichte von D(S)=8/((9⋅8)/2) =8/36=0.22 und für den Kreis eine von D(K)=9/((9⋅8)/2)=9/36=0.25. Die Dichtewerte sind also ganz ähnlich. Auf den ersten Blick aber erkennt man eine weitere strukturelle Eigenschaft, in der sich die beiden Netzwerke sehr deutlich unterscheiden: Der Stern ist erkennbar „zentraler“ organisiert als der Kreis. In dem Stern steht ein Akteur, der Akteur 1 nämlich, in der Mitte von allen anderen, und die befinden sich allesamt ganz „marginal“ am Rand. Dagegen ist in dem kreisförmigen Netzwerk jeder Akteur nur ein Glied in einer ununterbrochenen Kette und unterscheidet sich in seiner Zentralität nicht von irgendeinem anderen. Ein Maß für den Grad der Zentralisierung eines ganzen Netzwerkes läßt sich dann gemäß folgender Überlegung formulieren: Ein Netzwerk ist um so zentralisierter, je größer die Unterschiede der Akteure in ihrer individuellen Zentralität sind. Solche Maße der Zentralisierung ganzer Netzwerke beruhen
Netzwerke und Beziehungsstrukturen
201
also auf den Maßzahlen für die Zentralität der individuellen Akteure. Der Bezugspunkt bei der Berechnung der Unterschiede in der Zentralität der Akteure ist der jeweils zentralste Akteur von allen im Netzwerk. Die Zentralisierung eines ganzen Netzwerkes C(X) wird dann als Summe der Differenzen in der Zentralisierung aller Akteure des Netzwerkes bezogen auf den zentralsten Akteur a* berechnet und zur maximal möglichen Differenz in Beziehung gesetzt. Dann ergibt sich C(X) zu C(X)=( ΣCd(a*)-Cd(i))/max(ΣCd(a*)-Cd(i)). In dem sternförmigen Netzwerk von Abbildung 7.5a hat der Akteur 1 einen Degree von 8, alle anderen Akteure haben einen von 1. Der Akteur 1 dient somit als Bezugspunkt a* bei der Berechnung des Grades der (lokalen) Zentralisierung des Sterns. Somit gibt es acht Differenzen von 7, und das summiert sich zu 56. Die maximale Differenz in den Zentralitätswerten der Akteure beträgt, wie Freeman (1977) gezeigt hat, für die lokale Zentralität n2-3n+2. Daraus folgt hier für diesen Wert der Betrag 92-3⋅9+2=56. Und das ergibt für den Stern S die (lokale) Zentralisierung von Cl(S)=56/56=1. Beim kreisförmigen Netzwerk K gibt es keinen „zentralen“ Akteur, deshalb sind hier auch alle Differenzen zu einem beliebigen „zentralsten“ Akteur gleich null, und damit hat dort auch die (lokale) Zentralisierung Cl(K) den Wert 0/56=0.
Stern und Kreis sind, was die lokale Zentralität angeht, damit so etwas wie idealtypische Gegenpole in ihrer Struktur der Zentralisierung. Die Maßzahlen für die globale und für die auf der Makler-Zentralität aufbauenden Zentralisierung eines Netzwerkes werden dazu ganz analog berechnet. Sie können ja nachprüfen, ob dabei für den Stern und den Kreis jeweils wieder so hübsche Unterschiede herauskommen (vgl. für die Berechnung der maximalen Differenzen dabei Jansen 1999, S. 133ff.). Und Sie können selbstverständlich jetzt auch noch die Zentralisierung der SPD-Elite in Altneustadt in allen ihren Varianten ausrechnen. 7.2.3 Prestige und Hierarchisierung
Das Prestige ist die Wertschätzung, die ein Akteur genießt, und eine im Zusammenhang der Netzwerkanalyse naheliegende Interpretation wäre die Anzahl der auf ihn gerichteten soziometrischen Wahlen. Und so ist es auch: Das einfachste Maß für das Prestige eines Akteurs in einem Netzwerk ist sein Indegree (siehe dazu schon oben). Das Prestige eines Akteurs wird also über die Spaltensumme in der Soziomatrix der auf ihn gerichteten Beziehungen gemessen. Im Netzwerk der SPD-Elite von Abbildung 7.2a hat danach der Akteur 4 mit einem Indegree von 4 ein höheres Prestige als alle anderen. Zu beachten ist, daß die lokale Zentralität generell nicht damit zusammenfallen muß: Für die ungerichteten Beziehungen hat, wie man sieht, der Akteur 2 eine zentralere Stellung als der Akteur 4.
202
Opportunitäten und Restriktionen
Über das einfache lokale Indegree-Prestige hinaus gibt es auch die Erweiterung auf Maße eines globalen Prestiges. Hierbei werden, es sei wiederholt, auch längere Pfade und indirekte Beziehungen berücksichtigt. Dieses Prestige wird auch als Proximity-Prestige bezeichnet. Die auf einen Akteur so ausgerichtete auch fernere Umgebung läßt sich auch als seine persönliche Einflußsphäre verstehen. Das Rang-Prestige schließlich berücksichtigt nicht nur die Existenz von Beziehungen, die sich auf einen Akteur richten, sondern auch deren „Qualität“. Danach hat ein Akteur ein um so höheres Prestige, je mehr Prestige die Akteure haben, die ihn wählen. Und das ist ja auch nachvollziehbar: Wer von Robert K. Merton zitiert wird, der hat ohne Frage ein höheres Prestige als Wissenschaftler als einer, dem das von, sagen wir, Max Miller, Bernhard Giesen, Klaus Eder oder Helmut Willke zusammen widerfährt, weil Merton alleine schon einen deutlich höheren Impact seiner Arbeiten aufweisen kann als die große Menge der Mittelmäßigen, die sonst kaum jemand zur Kenntnis nimmt. Ganz analog zur Beziehung von Zentralität und Zentralisierung läßt sich auch der Grad der Hierarchisierung eines kompletten Netzwerkes bestimmen: Es ist die Differenz des Prestiges der einzelnen Akteure zum Prestige des Akteurs mit dem höchsten Wert, bezogen wieder auf das logisch mögliche Maximum dieser Differenz in einem Netzwerk der Größe n. Und alles das läßt sich dann auch wieder für die Hierarchisierung des Netzwerkes bezogen auf das (lokale wie das globale) Indegree-, das Proximity- oder das Rang-Prestige bestimmen.
7.3
Prestige, Macht und strukturelle Autonomie
Wer über ein hohes Prestige verfügt, kann manches, was andere nicht können: Er hat – über die bloße Wertschätzung hinaus – Einfluß und genießt Vertrauen und kann auf diese Weise Dinge bewegen, vor denen andere hilflos dastehen. Das Prestige hat insofern eine gewisse Ähnlichkeit mit der Macht von Akteuren, es ist aber beileibe nicht das Gleiche. Darauf hatten wir schon zum Schluß des Kapitels 12 über Macht in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ hingewiesen. Der wichtigste Unterschied wurde oben am Beispiel des Rang-Prestiges deutlich: Das (Rang-)Prestige steigt mit dem Prestige der Akteure, die mit ihm in Beziehung stehen, aber die Macht eines Akteurs sinkt ja mit der Macht, die die Akteure haben, über die jemand Macht ausübt.
Netzwerke und Beziehungsstrukturen
203
Warum das so ist, war auch schon in Kapitel 12 von Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ klar geworden: Wenn jemand, den ich bisher in der Hand hatte, mit einer „dritten“ Person als Alternative aufwarten kann, dann steigt dessen Macht, und damit steigt auch sein Drohpunkt und meine Macht über ihn sinkt entsprechend. Und es gilt auch der umgekehrte Fall: Wenn zu dem „Alter“, der bisher alleine um meine Gunst buhlte, eine „dritte“ Person als Konkurrenz in der Beziehung zu mir auftritt, dann steigt meine Macht und die von Alter sinkt entsprechend ab.
Wie läßt sich nun diese Widersprüchlichkeit in der Wirkung von Macht und Prestige auf meine Stellung in einem Netzwerk auflösen? Die Antwort auf das Problem hat Phillip Bonacich in einem kurzen, aber wirklich klärenden Artikel gegeben:10 Es kommt auf die Art der Ressourcen an, auf denen die jeweiligen Beziehungen beruhen. Negative Verbundenheit
Der erste Fall ist der der Macht, wie wir dieses Konzept bisher stets behandelt haben: Handelt es sich um knappe, nicht vermehrbare Güter mit der Eigenschaft der Rivalität, dann werden sog. negative Verbundenheiten konstituiert, und es geht um die Macht zwischen den Akteuren, die ja in der Tat auf nichts weiter als dem Verhältnis von Interesse und Kontrolle an knappen Gütern beruht. Das ist schon bei den sog. Privatgütern so, um deren Besitz die Akteure konkurrieren müssen, weil sich der Besitz ausschließt und nicht teilen läßt, am deutlichsten aber bei den sog. Positionsgütern, von denen nur der was hat, der sie zuerst oder ausschließlich besitzt (vgl. dazu Abschnitt 6.2 in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Hier vermindert in der Tat jede Macht der anderen Akteure die Macht eines bestimmten Akteurs über sie. Positive Verbundenheit
Das ist aber ganz anders bei Ressourcen oder Leistungen wie Informationen, Hilfe, Geselligkeit, Sympathie, Vertrauen oder eben Wertschätzung: Hier behindert der Besitz einer Ressource bei den anderen Akteuren den Besitz oder die Nutzung dieser Ressource bei einem bestimmten Akteur eben nicht, eher im Gegenteil. Beziehungen auf der Grundlage solcher nicht-rivalisierender Ressourcen werden als positive Verbundenheiten bezeichnet. Diese liegen dann vor, wenn sich die jeweiligen Beziehungen gegenseitig unterstützen 10
Phillip Bonacich, Power and Centrality: A Family of Measures, in: American Journal of Sociology, 92, 1987, S. 1170-1182.
204
Opportunitäten und Restriktionen
bzw. komplementär zueinander sind oder sich gar gegenseitig mehren, wie das etwa bei der Geselligkeit oder der Sympathie ohne Zweifel der Fall ist. Die wichtigste Folge von positiven Verbundenheiten ist, daß ein Akteur um so mehr von einer bestimmten Beziehung hat, je mehr der mit ihm verbundene Akteur selbst wieder an Beziehungen dieser Art unterhält. Und so steigt bei positiver Verbundenheit die Verfügung eines Akteurs über diese Ressource mit der Verfügung über die gleiche Ressource durch die mit ihm verbundenen Akteure. Zwei Welten, zwei Strategien
Positive Verbundenheiten sind typisch für dicht geknüpfte Netzwerke von diffusen Kommunikations-, Informations-, Vertrauens- und Unterstützungsbeziehungen, negative dagegen für die lockeren, indirekten und spezifischen Beziehungen, die mit der Transaktion von (knappen) Gütern zu tun haben. Und von daher gibt es auch zwei ganz unterschiedliche Ansätze für die Gewinnung von Handlungsspielräumen in sozialen Netzwerken: entweder über die Organisation einer möglichst weitreichenden Kommunikation mit möglichst engen Vernetzungen und diffusen solidarischen Verpflichtungen, oder aber über die möglichst konkurrenzlose Kontrolle von knappen und für die Akteure wichtigen Ressourcen. Es ist der Unterschied zwischen, sagen wir, Kohl und Schalk-Golodkowsky: Der eine lebte von seinen vielen Telefonaten mit möglichst vielen, die auch wieder viel mit solchen telefonierten, die von ihnen abhängig waren, und so die Weisungen des Patriarchen wirkungsvoll und weit gestreut nach unten weitergaben, der andere davon, daß er an einer für das ganze damalige Ost-West-„System“ zentral wichtigen Stelle eine Verbindung hielt, die ihm keiner streitig machen konnte oder wollte. Es ist der Unterschied in der Macht der locals in den strong ties guter Freunde einer dicht vernetzten Lebenswelt zu jener der cosmopolitans aus ihren weak ties entfernter Bekannter, mit denen sie ein weit verzweigtes System überbrücken und daraus für alle anderen so interessant und so wichtig werden. In Abschnitt 8.6 gleich unten in diesem Band über die verschiedenen Sorten des sozialen Kapitals werden wir auf diese Unterscheidung wieder stoßen. Strukturelle Autonomie
In diesem Zusammenhang hat Ronald S. Burt auf einen interessanten Sachverhalt hingewiesen, auf den eigentlich schon Mark Granovetter mit seinen
206
Opportunitäten und Restriktionen
Die Situation solcher Makler zwischen isolierten Netzwerken von strong ties hat Ronald S. Burt als strukturelle Autonomie bezeichnet. Und man sieht es gleich: Die starke Stellung von YOU im Gesamtnetzwerk beruht eben nicht (nur) auf den positiven Verbundenheiten, wie sie innerhalb der drei dicht verbundenen Teilgruppen herrschen, sondern insbesondere auf seiner einzigartigen „Position“ – eben zwischen allen Stühlen. Und leicht wird auch vorstellbar, was geschieht, wenn es andere Makler gäbe: Die Akteure in den Teilgruppen wären auf ihn nicht mehr so angewiesen wie zuvor, und sie würden das an Macht gewinnen, was er einbüßt. Die Maklerposition ist ja auch ein „Positions“-Gut und enthält damit schon von ihrer Logik her Elemente einer negativen Verbundenheit. Auch darauf werden wir in Abschnitt 8.6 unten in diesem Band noch im Zusammenhang mit jener Variante des sozialen Kapitals wieder zu sprechen kommen, die dort als Positionskapital bezeichnet wird. Und wir werden dort auch noch sehen, daß die Einnahme der Position eines Maklers nicht ohne jede positive Verbundenheit, etwa eine solche des Vertrauens oder der Verpflichtung, auskommt.
7.4
Cliquen und strukturelle Äquivalenz
Die Besonderheit der Netzwerkanalyse ist ihre strikt strukturelle Perspektive: Nicht aus irgendwelchen „individuellen“ Motiven oder Erwartungen heraus erkläre sich das soziale Geschehen, sondern aus der strukturellen Anordnung der Einheiten in einem bestimmten Netz von Beziehungen. Unterschiedliche Muster der Verbundenheit und Dichte, etwa, erklären, wie leicht und unverzerrt oder wie schwer und verrauscht Informationen in einer politischen Elite zirkulieren und damit, ob sich so etwas wie eine funktionierende soziale Kontrolle und darüber dann ein gewisses „Systemvertrauen“ kaum und nur mühevoll oder relativ leicht und spontan etablieren kann. Es ist die in diesem Band 4 dieser „Speziellen Grundlagen“ im Mittelpunkt stehende Betrachtungsweise der Bedeutung allein schon von „Opportunitäten und Restriktionen“ zur Erklärung der sozialen Prozesse, die die Besonderheit der Netzwerkperspektive ausmacht. Die Bestimmung typischer Muster von Netzwerkstrukturen ist daher eines der wichtigsten Anliegen in dieser Perspektive. Es lassen sich zwei unterschiedliche Ansätze zur Bestimmung von Netzwerkstrukturen unterscheiden: erstens die Identifikation von Zonen unterschiedlicher Dichte – von sog. Cliquen – innerhalb eines Netzwerkes, und zweitens die Rekonstruktion gewisser Ähnlichkeiten oder gar Identitäten der Akteure im Muster ihrer Beziehungen in Form von Kategorien und Typen von
Netzwerke und Beziehungsstrukturen
207
Akteuren, die in Hinsicht auf das Muster ihrer Beziehungen „Positionen“ einer strukturellen Äquivalenz einnehmen. 7.4.1 Cliquen
Cliquen sind nichts weiter als besonders stark verdichtete Teile eines Netzwerkes. Der theoretische Hintergrund ist die Vorstellung, daß in Cliquen besondere Formen der häufigen, personalen, funktional diffusen, emotionalen und solidarischen Beziehungen entstehen, wie sie für die „Lebenswelten“ der Menschen und für die sog. Primärgruppen typisch sind (vgl. dazu auch noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ausführlich). Von daher liegt es nahe, die unmittelbaren Beziehungen der Akteure zum Ausgangspunkt der Cliquenanalyse (auch: „clique detection“) zu nehmen. Eine Clique ist in diesem Sinne als eine Gruppe von mindestens drei Akteuren definiert, die alle direkt und wechselseitig miteinander verbunden sind. In diesem Sinne würde es, wenn man nur die ungerichteten Beziehungen berücksichtigt, in dem SPD-Netzwerk von Abbildung 7.1 zwei Cliquen geben: die Akteure 2, 3 und 4 einerseits und die Akteure 4, 5, 6 und 7 andererseits. Der Akteur 4 ist dann Mitglied beider Cliquen, die sich in seiner Person überlappen und für die er eine Maklerposition innehat. Für die gerichteten Beziehungen gibt es keine Clique, wenngleich die Akteure 2, 3 und 4 kurz davor stehen. „Damit“ es eine Clique – im strengen Sinne der wechselseitigen direkten Verbundenheit – würde, müßte der Akteur 4 noch zu dem Akteur 3 einen privaten Kontakt aufnehmen (siehe dazu gleich unten noch mehr).
Schon bei Anzahlen von vier oder fünf Personen läßt sich allein vom Aufwand her kaum erwarten, daß alle mit allen wechselseitig direkt verbunden sind. Deshalb sind solche Cliquen meist auch nicht viel größer als vier Personen, und es hat nahegelegen, das Cliquenkonzept entsprechend etwas abzuschwächen, damit auch größere Regionen einer (relativ) höheren Verdichtung erfaßt werden können. Das hat zur Einführung des Konzeptes der sog. nClique geführt. Nun wird anstelle der direkten Verbundenheit eine Pfaddistanz der Länge n angenommen, um die Cliquen zu identifizieren. Für eine Pfaddistanz von n=2 ergäbe das im SPD-Netzwerk von Abbildung 7.1 nur noch eine, wenngleich vergrößerte Clique (für die ungerichteten Beziehungen): die Akteure 2, 3, 4, 6 und 7 sind gegenseitig über einen Pfad von maximal 2 Schritten zu erreichen. Der Akteur 5 bleibt aber auch jetzt noch, ebenso wie der ohnehin sehr marginale Akteur 1, außen vor.
Eine weitere Schwierigkeit der engen Definition des Cliquenbegriffs besteht darin, daß oft nur deshalb keine Clique zu identifizieren ist, weil bei nur einem Akteur eine Beziehung fehlt. Das war etwa oben bei dem Akteur 4 im SPD-Netzwerk für die Bestimmung einer Clique über die gerichteten Bezie-
Opportunitäten und Restriktionen
210
und die Patienten haben nur Beziehungen zu den beiden Ärzten, aber nicht untereinander und auch nicht zu den Schwestern. Die Soziomatrix dieses Or-
N1
N2
N3
D1
D2
P1
Pn
N1 N2 N3
1 1
1 1
1 1 -
1 1 1
1 1 1
0 0 0
0 0 0
D1 D2
1 1
1 1
1 1
1
1 -
1 1
1 1
P1 Pn
0 0
0 0
0 0
1 1
1 1
0
0 -
Abb. 7.10: Soziomatrix des Soziogramms der Rollenbeziehungen in Abbildung 7.9
ganisationssystems sieht dann so aus (Abbildung 7.10): Wir haben die Matrix gleich in gewisse Felder unterteilt und die Akteure nach ihren Positionen zusammengestellt und voneinander durch Abstände getrennt. Und so sieht man leicht, was mit der strukturellen Äquivalenz von Beziehungsmustern in einem Netzwerk gemeint ist: Die drei Kategorien der Schwestern, der Ärzte und der Patienten haben jeweils ein ganz typisches Muster in der Soziomatrix – so wie das in dem Soziogramm ja schon erkennbar war. In der Soziomatrix sieht man jetzt aber auch gewisse typische Felder von Beziehungen zwischen den Kategorien, die jeweils entweder allesamt aus Einsen oder Nullen bestehen. Das sind hier die neun durch die strukturelle Äquivalenz der drei Kategorien erzeugten Felder. Unter einem Block wird in der Netzwerkanalyse dann auch Zweierlei verstanden: die Kategorien der strukturell äquivalenten Akteure einerseits und die Beziehungsmuster, wie sie sich in den Feldern der Soziomatrix zeigen, andererseits. Daß sich die Blöcke in unserem Beispiel so einfach und so rein zeigen, hatte natürlich mit der bewußten (und unrealistischen) Stilisierung zu tun. Meist sind die Muster komplexer und nicht so gereinigt wie hier, auch nicht in den festesten Organisationen, ganz zu schweigen von eher informellen Netzwerken, in denen keine institutionelle Positionsstruktur schon gewisse Vorgaben macht. Die sog. Blockmodellanalyse ist dann das formale Verfahren, aus gewissen Beziehungsdaten solche Muster von Blöcken für strukturell äquivalente Akteure und Felder zu identifizieren, über Maßzahlen zusammen-
Netzwerke und Beziehungsstrukturen
211
zufassen und auch graphisch darzustellen, etwa über Verfahren der Clusteranalyse oder der multidimensionalen Analyse. Das ist im Einzelnen eine mathematisch recht komplizierte und auch aufwendige Angelegenheit, für die es inzwischen aber einige handhabbare Software-Programme gibt (vgl. die Hinweise etwa bei Scott 1991, S. 176ff; Jansen 1999, S. 263ff.). Die Grundidee ist aber stets die gleiche: die Identifikation gewisser Ähnlichkeiten der Akteure in ihren Beziehungen zueinander. Es ist, wenn man so will, der Versuch, in den zunächst nicht weiter geregelten Beziehungsmustern von Netzwerken und informellen Gruppen so etwas wie eine „Organisation“ zu entdecken, eine Organisation, die aber eben nicht (nur) über institutionelle Regeln konstitutiert ist, sondern über die wie auch immer zustandegekommenen Beziehungen der Akteure untereinander.
7.5
Die Entstehung und die Wirkung von Netzwerken
Beziehungen fallen nicht vom Himmel, und ebenso ist es nicht selbstverständlich, daß es gewisse Netzwerkstrukturen gibt. Warum bestimmte Beziehungen bestehen oder nicht, ist die grundlegende Erklärungsfrage der Netzwerktheorie. Dazu hat sie aber eigentlich so gut wie nichts gesagt. Und das hat auch einen guten Grund: Es ist die ganz allgemeine Frage, warum es soziale Systeme in einer sich reproduzierenden und stabilen Weise gibt. Es ist die Frage, die die Soziologie und diese „Grundlagen“ insgesamt beschäftigt, und deshalb sei zur Erklärung der Entstehung von Beziehungen und Netzwerken auf die Antworten an jenen Stellen verwiesen, an denen das Problem behandelt wird: Interdependenzen, Interaktionen, soziale Beziehungen und Transaktionen insbesondere und damit der gesamte Komplex des sozialen Handelns. Auch für die Wirkungen von Netzwerken und Beziehungsmustern lassen sich keine speziellen Antworten geben. Von vorrangiger Wichtigkeit ist jedoch der „strukturelle“ Aspekt: Das jeweilige Muster der Beziehungen eines Akteurs und die Netzwerkstrukturen insgesamt bilden einen auch schon ausschließlich „materiellen“ und „technischen“ Rahmen von Opportunitäten und Restriktionen, unter denen die „Chancen“ für bestimmte soziale Vorgänge systematisch variieren. Das gilt, wie wir schon zu Beginn dieses Kapitels betont haben, insbesondere für die Chancen des verzerrungsfreien Flusses von Informationen und Kommunikationen und die daran hängenden Folgen für die Erwartungen und Bewertungen der Akteure, etwa für deren Einschätzung über die Höhe eines bestimmten Schattens der Zukunft künftiger Begegnungen mit dem gleichen Akteur oder der Rückmeldung von Handlungen an andere Akteure. Vor diesem Hintergrund sind die Netzwerkstrukturen insbesondere für
212
Opportunitäten und Restriktionen
die Emergenz von „Systemen“ des Vertrauens und gewisser Gefühle der Verpflichtung bedeutsam. Um das zu zeigen, greifen wir das Beispiel der Erntehilfebauern von David Hume noch einmal auf, das wir in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ schon ausführlich besprochen haben. Deren Problem war klar: Ein Bauer müßte schon in Vorleistung mit seiner Hilfe treten und darauf vertrauen, daß der andere Bauer ihn nicht sitzen läßt, wenn er an der Reihe ist. Es handelt sich dabei also um ein Spiel mit imperfekter Information. Drei Auszahlungskombinationen gibt es: RR, bei der beide Akteure kooperieren und jeder einen Gewinn von R erhält; PP, bei der keiner der Akteure dem anderen hilft und jeder die Auszahlung P bekommt; und ST, bei der der Bauer A dem Bauern B hilft, der Bauer B diese Vorleistung aber nicht erwidert, und wobei der Bauer A auf den Betrag S und der Bauer B auf den Betrag T kommt. Die Kombination TS kann man ausschließen, da wohl niemand, dem nicht geholfen wird als „Gegenleistung“ selbst hilft. T ist bei diesem Spiel die höchste Auszahlung von allen, weil dem betreffenden Bauern geholfen wird, er selbst aber nichts tut, S ist die geringste aus der einseitigen Vorleistung. Die Auszahlung aus der gegenseitigen Hilfe R ist kleiner als T, aber größer als P. Es gilt also die Ungleichung T>R>P>S, und damit ist eine Bedingung für das Vorliegen eines Gefangenendilemmas erfüllt. Das betreffende Spiel wird auch als Vertrauensspiel bezeichnet (vgl. dazu auch schon näher Kapitel 2 in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“; vgl. auch Buskens 1999, S. 6ff.).
Besser wäre es für beide ohne Zweifel, zu kooperieren, und alles käme darauf an, daß der Bauer A dem Bauer B vertrauen könnte, daß der die Gutmütigkeit nicht ausnutzt und das Vertrauen mißbraucht. Ob der Bauer B aber vertrauenswürdig ist oder nicht, weiß der Akteur A nicht. Er hat darüber wohl seine Vermutungen, und zwar in der Höhe p – die Erwartung, daß der Bauer B die Eigenschaft der Vertrauenswürdigkeit tatsächlich hat oder nicht (in der Höhe von 1-p). Aber ob das wirklich zutrifft, das weiß der Bauer natürlich nicht. Die Natur hat eben ihren Zug im Verborgenen gemacht. Was soll der Bauer A nun also tun? Es handelt sich, wieder einmal, um ein relativ einfaches Entscheidungsproblem, dessen Struktur wir schon an vielen Stellen dieser „Speziellen Grundlagen“ benutzt haben: Vertrauen oder Mißtrauen? Die Alternativen sind die Plazierung von Vertrauen V einerseits und das Mißtrauen M andererseits, und auch die Auszahlungen sind klar: Wenn der Akteur A dem Bauern B zu Recht vertraut und der die Hilfe erwidert, gibt es einen Gewinn in der Höhe von R, wenn aber der Bauer B das Vertrauen mißbraucht, einen Verlust in der Höhe von S. Mißtraut der Bauer A gleich von Beginn an, dann erhält er mit Sicherheit die Auszahlung P. Die Nutzenerwartungen für V und M sind dann also: EU(V) = pR + (1-p)S EU(M) = P. Daraus folgt als Bedingung für die Entscheidung zum Vertrauen: pR + (1-p)S>P.
Netzwerke und Beziehungsstrukturen
213
Und daraus ergibt sich: p>(P-S)/(R-S). Der Ausdruck P-S beschreibt folglich den potentiellen Verlust des Bauern A, wenn sein Vertrauen mißbraucht wird, und der Ausdruck R-S den potentiellen Gewinn bei der tatsächlichen Erwiderung des Vertrauens.
Und man sieht gleich: Wenn das Vertrauen sinkt, dann „müssen“ der potentielle Verlust kleiner und/oder der potentielle Gewinn aus dem Geschäft größer werden, „damit“ es zur Plazierung von Vertrauen kommen kann (vgl. dazu auch das Theorem über die Evolution der Kooperation und das Zusammenspiel des Schattens der Zukunft und der verschiedenen Anreize zu Kooperation und Defektion in Abschnitt 5.3 von Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Wovon aber hängen die Größen in der Ungleichung ihrerseits ab? Es geht jetzt also wieder um die Formulierung von Brückenhypothesen zwischen den abstrakten Variablen des Vertrauensspiels und gewissen Eigenschaften sozialer Situationen. Bezogen auf bestimmte Netzwerkstrukturen fällt die Antwort nicht schwer. Insbesondere der Wert von p dürfte von der Geschwindigkeit des Informationsflusses und der Richtigkeit bei der Übermittlung der Inhalte abhängen, aus denen der Grad der Vertrauenswürdigkeit der Akteure hervorgeht. Und das ist vor allem eine Frage der „technischen“ Bedingungen der Kommunikationskanäle und der mehr oder weniger langen Wege, die zurückzulegen sind, „damit“ die Akteure erreicht werden können. Von daher läßt sich leicht vermuten, daß es etwa die Dichte von Netzwerken ist, die den Fluß von Informationen und damit die Wahrscheinlichkeit der Plazierung von Vertrauen – ceteris paribus – erleichtert (vgl. dazu Buskens 1999, S. 40f. und Kapitel 4 insbesondere). Ähnliches läßt sich für die Struktur des Prozesses der Verbreitung von Neuerungen und anderen „Diffusionen“ annehmen.12 In ganz ähnlicher Weise hängen auch andere Strukturmerkmale von Netzwerken mit Variablen zusammen, von denen man weiß, daß sie die Entstehung von sozialer Ordnung erleichtern. Das gilt etwa auch für Eigenschaften der Zentralisierung und der Hierarchisierung von Netzwerken: Zentralisierte und hierarchisierte Netzwerke bieten – grosso modo und ceteris immer paribus – gute Möglichkeiten zur Überwindung des Problems des kollektiven Handelns (vgl. dazu auch bereits Kapitel 7 in Band 3, „Soziales Handeln“, sowie noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“). 12
Vgl. dazu auch die Studie von Coleman, Katz und Menzel: James S. Coleman, Elihu Katz und Herbert Menzel, Medical Innovation. A Diffusion Study, Indianapolis, New York und Kansas City 1966; sowie das Beispiel 5 in Kapitel 9 unten in diesem Band.
214
Opportunitäten und Restriktionen
Hoch organisierte und stark zentralisierte Gruppen mit einer hohen Kontaktdichte sind als kollektive Einheiten einfach schlagkräftiger und handlungsfähiger als egalitär angeordnete Zirkel einer geringen Kontaktdichte, wie etwa bei den Parzellenbauern in Frankreich, bei denen auch jeder ganz für sich allein vor der Frage stand, was er tun sollte, als es um den kollektiven Vorgang der Revolution des Louis Napoleon ging. Die Art der Beziehungsmuster in Netzwerken bestimmt also schon auf strukturelle Weise die Chance, daß sich Vertrauen und Kooperation in sozialen Gebilden ausbreiten und dann eventuell als eine Art von Ethik oder Moral auch „in“ den Akteuren verfestigen können. Als Folge davon werden viele Dinge leichter, die ansonsten am Egoismus der Akteure oder an den Transaktionskosten gescheitert wären. Und als Dreingabe fühlen sich die Menschen in Netzwerken mit einer relativ hohen Dichte in einem gewisse Sinne auch „aufgehoben“: Die psychische Stabilität der Menschen ist sehr wesentlich vom Grad ihrer Einbettung in soziale Beziehungen und von einer fortlaufenden sozialen „Kontrolle“ ihres Tuns abhängig.13 Ein solches „Systemvertrauen“ und die daran hängenden Leistungen sind ein Kapital, das mit Geld alleine nicht zu kaufen ist. Es ist ein „soziales“ Kapital, das daran hängt, daß die Beziehungen der Akteure ganz bestimmte Strukturen aufweisen, die sie, die Akteure, keineswegs immer unter Kontrolle haben (vgl. dazu insgesamt gleich unten in diesem Band noch das Kapitel 8 über das „Kapital der Akteure“).
13
Vgl. zu den unterstützenden Funktionen von Netzwerken u.a. Bernd Röhrle, Soziale Netzwerke und soziale Unterstützung, Weinheim 1994, Kapitel 4 insbesondere.
Kapitel 8
Das Kapital der Akteure
Nur solche Ressourcen, die die Akteure unter Kontrolle haben, können sie als Mittel für die Erreichung ihrer Ziele einsetzen. Das ist die einfache Botschaft aller Erklärungen sozialer Prozesse über die Opportunitäten des Handelns. Der allgemeine Ausdruck für die Menge der kontrollierten Ressourcen eines Akteurs ist der des Kapitals. Normalerweise denkt man bei dem Ausdruck „Kapital“ an Geld- oder Sachvermögen. Unter Kapital wird aber, zumindest in der Soziologie, deutlich mehr gefaßt als es die übliche Vorstellung vom finanziellen oder ökonomischen Kapital nahelegt. Die Grundüberlegung dabei ist ganz folgerichtig: Es gibt sehr verschiedene Ressourcen, mit deren Hilfe interessante Güter hergestellt oder getauscht und zur Grundlage von Macht und Abhängigkeit werden können. Und das Geld ist dabei keineswegs die einzige Ressource (vgl. dazu bereits Kapitel 10 in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ausführlich). Wir wollen insgesamt sechs verschiedene Arten von Kapital unterscheiden und vergleichend besprechen: das ökonomische Kapital, das Humankapital, das kulturelle Kapital, das institutionelle Kapital und das politische, sowie das soziale Kapital. Ein Beispiel für das ökonomische Kapital wäre ein Geldvermögen oder eine Immobilie. Die schulische Bildung ist der Musterfall für das Humankapital. Kulturelles Kapital ist die Ausstattung eines Akteurs mit Symbolen. Es kommt in sehr verschiedenen Formen vor: als nicht ohne weiteres erwerbbare Fertigkeit im Umgang mit Symbolen bzw. als „guter Geschmack“, als veräußerbares Kunstwerk oder als zu verleihender Titel. Zum institutionellen Kapital gehören die durch eine Verfassung geschützten Rechte, und das politische Kapital sind die organisierten und institutionalisierten Interessenvertretungen der Akteure. Als soziales Kapital schließlich dienen die Netzwerke guter Bekannter, die einem verpflichtet sind und auf deren Ressourcen ein Akteur daher einen gewissen Zugriff hat, aber auch eine funktionierende Gemeinschaft, die – oft unbeabsichtigt und oft nicht gewußt – viele interessante und wichtige Dinge ermöglicht, die es ohne die funktionieren-
216
Opportunitäten und Restriktionen
de Gemeinschaft nicht gäbe: soziale Kontrolle, Vertrauen oder die Geltung von Werten, Normen und Moral zum Beispiel. In einem kurzen Exkurs zum Abschluß des Kapitels soll auch auf das – vor allem von Pierre Bourdieu thematisierte – Konzept der sozialen Räume und auf die Frage eingegangen werden, ob nicht letztlich das Geld doch die Welt regiert, und ob – und gegebenenfalls: wie – sich die verschiedenen Kapitalarten ineinander verrechnen und transferieren lassen (vgl. dazu schon Abschnitt 10.2 in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ über die Konvertibilität verschiedener Tauschgüter). Das Kapital der Akteure ist – bis auf die nicht seltenen Ausnahmen eines angeborenen Kapitals wie ein anerkannter Adelstitel, eine bestimmte Hautfarbe mit hohem Prestige oder eine in den Schoß gefallene Erbschaft – immer das Ergebnis einer Vorproduktion bzw. einer Investition in der Vergangenheit, mindestens aber einer Anstrengung in der Gegenwart. Das Kapital oder der Kredit, den man braucht, um es zu bekommen, muß selbst einmal produziert und erworben worden sein. Und: Es muß in der Regel auch immer wieder neu reproduziert werden, weil es normalerweise – mehr oder weniger schleichend – verfällt. Genau darin unterscheiden sich die verschiedenen Kapitalsorten vor allem. Geldvermögen – etwa – kann in einer nicht weiter zu beachtenden gewinnbringenden Form angelegt werden und behält und mehrt seinen Wert, indem man es einfach „liegen“ läßt. Es verfällt allenfalls ein wenig über die Inflation. Und das auch nur dann, wenn es vom Akteur „individuell“ ungeschickt angelegt wird. Demgegenüber muß das sog. soziale Kapital der sozialen Beziehungen zu jeder Zeit sehr pfleglich behandelt und immer wieder durch eigenen Einsatz – nicht zuletzt unter Einsatz von viel Zeit – neu erzeugt werden. Weil jedes Kapital aus Ressourcen besteht, werden auch wieder die Begriffe der Kontrolle und des Interesses wichtig, die die Grundlage für die Interdependenzen der Menschen bilden. Die Kontrolle ist die – selbstverständliche – notwendige Bedingung dafür, daß bestimmte Ressourcen als Kapital und als „Budget“ für das Handeln fungieren können. Kontrolliertes Kapital kann aber unterschiedlich wertvoll sein: Ein Jodeldiplom ist wahrscheinlich weniger wert als eine Million DM, ein echter Rembrandt vielleicht mehr als eine schlechte Ehe. Das Interesse erst bestimmt – zusammen mit der Kontrolle – also den Wert eines Kapitals – sei es direkt über das eigene Interesse daran oder indirekt über die Interessen anderer Akteure, die mein für mich recht uninteressantes Kapital gegen ihr, mich mehr interessierendes Kapital, zu tauschen bereit sind. Mit anderen Worten: Alles, was wir über die Produktion von Ressourcen und über die Transaktion des Tausches inzwischen gelernt haben, läßt sich auf die Erzeugung, die Verteilung und die Wirkung von Kapi-
Das Kapital der Akteure
217
tal übertragen. Und insbesondere gilt wieder: Je mehr Kontrolle ein Akteur über Kapitalien hat, die für ihn und – vor allem – für andere Akteure von Interesse sind, um so höher ist der Wert seines Kapitals, um so mehr kann er seine Wünsche im Austausch durchsetzen und um so größer ist – ganz allgemein – seine Macht. Damit bei einer Ressource von „Kapital“ gesprochen werden kann, muß sie also einige spezielle Eigenschaften aufweisen. Dazu gehören die Lagerbarkeit, wie bei Getreide oder bei einem echten Rembrandt; die Möglichkeit der Investition, wie bei einem Vermögen oder einem Bildungsabschluß; auch ein gewisser Gebrauchswert, wie bei Maschinen, mit denen man bestimmte Güter herstellen kann, oder einem Stück Land, das sich bebauen läßt; die Möglichkeit der Akkumulation, wie bei Geld und Titeln; und – natürlich – auch die Möglichkeit der De- oder der Re-Evaluation, wie bei einer beruflichen Position im Verlaufe eines strukturellen Wandels der Gesellschaft oder beim Geld im Zuge einer Währungsreform.
Produktion, Investition, Akkumulation, Allokation, Verwendung und Bewertung der verschiedenen Kapitalien unterliegen auch stets bestimmten technischen Bedingungen. Daraus allein schon ergeben sich jene Eigenschaften, über die wir bereits – in Kapitel 6 von Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ – die Güter und Ressourcen allgemein unterschieden haben: Teilbarkeit, Ausschließbarkeit, Rivalität, Veräußerlichkeit, Erhaltung, Übertragbarkeit und externe Effekte. An diesen technischen Umständen und den daraus folgenden Eigenschaften liegt es entsprechend, ob ein bestimmtes Kapital ein Privatgut, ein Kommunalgut, ein Kollektivgut oder ein Positionsgut ist: Das persönliche Einkommen oder ein Gemälde wären etwa ein Privatgut. Eine „an sich“ interessierende gute Freundschaft wäre ein Kommunalgut, ein Netzwerk von guten Bekannten fast schon eine Art von „ökonomischem“ Kapital und damit nahezu ein Privatgut, während ein System von unbefragten Vertrauensbeziehungen in einem ganzen Netzwerk von Beziehungen dagegen eher ein Kollektivgut, genauer wohl: ein Assurance-Gut darstellt. Und ein als Unikat verkauftes Modellkleid oder eine Eintragung in das Guiness-Buch der Rekorde wären dagegen ein Positionsgut.
Die Eigenschaften lassen sich – etwas vereinfachend – auf zwei Dimensionen zurückführen: die Autonomie des Akteurs bei der Produktion und Verwendung und die Generalisierbarkeit der Nutzung des Kapitals. Bei Autonomie können die individuellen Akteure das Kapital selbst erwerben und verwenden. Sie benötigen dabei nicht unmittelbar die Mitwirkung anderer Akteure. Bei Heteronomie – dem Gegenteil der Autonomie – sind sie auf die Mithilfe anderer Akteure angewiesen. Es ist der wohlbekannte Unterschied zwischen einer parametrischen und einer sozialen Situation, der nun für die Produktion und die Verwendung von Kapitalien bedeutsam wird (vgl. dazu Kapitel 1 in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Mit der Eigenschaft der Generalisierbarkeit ist gemeint, daß der Wert und die Verwendung eines Kapitals nicht an einen spezifischen Kontext gebunden sind. Ist letzteres der
218
Opportunitäten und Restriktionen
Fall, dann spricht man auch von der Spezifizität eines Kapitals. Das Beherrschen einer nicht gängigen Sprache, wie etwa Latein oder Türkisch, oder eine gemeinsame Biographie zwischen zwei FreundInnen wären Beispiele für ein derartiges spezifisches Kapital: Die Nützlichkeit des Latein oder des Türkischen hängt davon ab, ob es (noch) jemand versteht oder für wichtig hält, und die „Erträge“ aus einem Gespräch von der Art „Weißt Du noch ... ?“ gibt es nur, solange es die Freundschaft gibt und die beteiligten Personen leben. Kapital ist demnach die akkumulierte und kontrollierte Menge der – primären wie indirekten – Zwischengüter, mit denen sich soziale Wertschätzung und physisches Wohlbefinden erzeugen läßt. Autonomie bzw. Heteronomie und Generalisierbarkeit bzw. Spezifizität spiegeln die technischen, sozialen und kulturellen Eigenschaften für diese Produktion von Wertschätzung und Wohlbefinden wider. Es sind jeweils „Variablen“ mit fließenden Übergängen. Die verschiedenen Kapitalien bilden in diesen Eigenschaften Kombinationen mit zum Teil großen Unterschieden: Das ökonomische Kapital – etwa in der Form von Geld – ist vergleichsweise autonom zu erwerben und zu verwenden und, zumal wenn man eine „Leitwährung“ besitzt, relativ generalisiert wertvoll und einsetzbar. Das soziale Kapital – etwa das einer guten Nachbarschaft oder das einer glücklichen Ehe – ist dagegen nicht auf bloß eigenen Entschluß und einsame Investition hinzukriegen und hat seinen Wert nur in einer sehr spezifischen Verwendung, die nicht zuletzt an die „Identität“ der betreffenden Personen und an die gemeinsame „Geschichte“ der Beziehungen gebunden ist. Die Unterscheidung von Autonomie und Heteronomie bzw. von Generalisierbarkeit und Spezifizität ist freilich immer sehr „relativ“: Kein Kapital ist ganz autonom oder ganz heteronom in seiner Produktion, ganz generalisiert oder ganz spezifisch in seiner Verwendung. Die Mark verfällt mit dem Euro, über den Kaiser Kohl bestimmt hat, und das, was jemand in einer guten Ehe an sozialem Kapital angesammelt hat, nutzt ihm vielleicht beim Aufbau einer neuen Beziehung, wenn die einstmals so gute Ehe zerbrochen ist. Dies alles macht eine begriffliche Einteilung nicht leichter. Das ist aber auch nicht weiter schlimm: Wichtiger als die begrifflich lupenreine Einteilung in Typen ist das Verständnis für die jeweilige typische „Logik“ der Produktion, Akkumulation, Verteilung und Verausgabung des jeweiligen Kapitals. Eine systematisierende Einteilung in die Eigenschaften fällt dabei nebenbei ab.
Wir wollen in der nun folgenden Darstellung der verschiedenen Kapitalarten im Groben nach den beiden Dimensionen der Autonomie gegenüber der Heteronomie und der Generalisierbarkeit gegenüber der Spezifizität vorgehen: Von mehr Autonomie zu mehr Heteronomie, und von mehr Generalisierbarkeit zu mehr Spezifizität. Deshalb beginnen wir das Kapitel jetzt mit dem ökonomischen Kapital als der Form mit dem höchsten Grad an Autonomie bei der Kontrolle und der weitesten Generalisierbarkeit seiner Verwendung, und
Das Kapital der Akteure
219
beschließen es mit dem sozialen Kapital, bei dem Heteronomie und Spezifizität die charakteristischen Eigenschaften sind.
8.1
Ökonomisches Kapital
Als ökonomisches Kapital seien alle insbesondere zu wirtschaftlichen Zwecken einsetzbaren physischen und finanziellen Ressourcen verstanden, über die der individuelle Akteur ein privates Eigentumsrecht besitzt. Im einzelnen zählen in diesem Sinne zum ökonomischen Kapital erstens alle materiellen Güter, die für andere Akteure von Interesse sind und/oder zur Produktion interessanter Güter eingesetzt werden können. Also: Grund und Boden, Maschinen oder Gebäude. Dieses Kapital wollen wir als physisches Kapital bezeichnen. Zum ökonomischen Kapital gehören dann zweitens, selbstverständlich, alle verbrieften Titel mit einlösbaren Ansprüchen auf Geldzahlungen, das sog. finanzielle Kapital – in welcher Form auch immer: Bundesschatzbriefe, Aktien, eine Lebensversicherung, ein Bausparvertrag, ein Rentenanspruch, ein eingeräumter Kreditrahmen und auch das laufende Geldeinkommen. Das ökonomische Kapital bildet, wie wir schon aus Kapitel 1 oben in diesem Band wissen, den äußersten Rahmen des opportunity set für die Teilnahme am Marktgeschehen der Gütermärkte (aller Art). Das ökonomische Kapital gehört zu den typischen Privatgütern: Es ist – meist – teilbar, veräußerlich und hat die Eigenschaft der Erhaltung. Das heißt: Wenn es verausgabt wird, verringert es sich um diesen Betrag. Es kann auf sehr verschiedene Weise erworben werden: Vererbung, Raub, Lottogewinn – meist jedoch erst durch der Hände Arbeit und ein wenig Glück bei Unternehmungen, für deren Produkte andere gerne einen hohen Preis bezahlen. Wie bei jedem Gut müssen auch hier Vorleistungen erbracht und Investitionen getätigt werden: Bildung als Voraussetzung für einen gut bezahlten Job, die Aufnahme eines Kredits zur Eröffnung eines Betriebes oder die lukrative, aber auch riskante Geldanlage zur Mehrung des ökonomischen Kapitals durch dasselbe. Das ökonomische Kapital kann – wie kaum eine andere Form des Kapitals – deshalb auch ganz privat von Einzelpersonen in autonomer Entscheidung erworben und ebenso verausgabt werden – nicht immer zur vollen Zufriedenheit des jeweiligen Akteurs. Onkel Dagobert ist sehr reich und – wenigstens was das Geld angeht – ganz autonom. Er ist – daher – aber auch sehr einsam. Und außerdem hat er nie Zeit. Er ist so gesehen ein armer Mann. Das finanzielle Kapital ist vergleichsweise generell verwendbar. Es ist der Gegenpol zu allen Formen des „spezifischen“ Kapitals, auf die wir noch zu sprechen kommen. Zwar kann man für Geld nicht alles kaufen. Aber Geld
Opportunitäten und Restriktionen
220
stinkt auch bekanntlich nicht. Es wird allgemein gerne für (fast) alles genommen – gerade weil es das Mittel ist, mit dem sich sehr viele verschiedene Wünsche erfüllen lassen. Seine Annahme ist – so könnte man etwas mißverständlich sagen – „motivfrei“: Sie ist eben nicht an ein bestimmtes Motiv gebunden. Das macht ja gerade die gesellschaftliche Funktion des Geldes als symbolisch generalisiertes Medium der Kommunikation und des Tausches aus (vgl. dazu bereits die Abschnitte 10.2 und 10.4 in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“): Geld senkt die sog. Transaktionskosten des Tausches von Gütern aller Art beträchtlich. Und das tut es genau deshalb, weil es nicht an eine spezifische Situation oder an eine spezifische Verwendung gebunden ist. Geld ist – relativ – kontextfrei. Und wohl auch deshalb wird es als Kapital – weltweit – immer beliebter (vgl. dazu auch noch den Exkurs über soziale Räume und über die Frage, ob nicht letztlich doch das Geld die Welt regiert am Ende dieses Kapitels).
8.2
Humankapital
In Abschnitt 6.2 von Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ waren wir auf den bemerkenswerten Satz von Georg Simmel gestoßen, daß das wertvollste Objekt für den Menschen der Mensch sei – und zwar: „unmittelbar wie mittelbar“.1 Dies ist der Kern des Konzeptes des Humankapitals: Der Mensch und seine Fähigkeiten sind eine produktive Ressource, vielleicht sogar die einzige. Und es lohnt sich oft sehr, in diese Ressource zu investieren – bei sich selbst oder bei anderen, an deren Humankapitalwert einem etwas liegt: Kinder, Mitarbeiter, Tennispartner. Entstanden ist das Konzept des Humankapitals im Anschluß an Beobachtungen in den frühen 60er Jahren, wonach das wirtschaftliche Wachstum der Industriegesellschaften alleine mit der Entwicklung des ökonomischen Kapitals nicht hinreichend erklärt werden konnte. Als Humankapital wurden – vor allem in der Folge der bahnbrechenden Veröffentlichungen der Ökonomen Jacob Mincer, Theodore W. Schultz und unseres inzwischen wohlbekannten Gary S. Becker in den 60er Jahren2 – dann alle jene wachstumsfördernden Ein1
2
Georg Simmel, Soziologie der Konkurrenz, in: Georg Simmel, Schriften zur Soziologie, Frankfurt/M. 1983 (zuerst: 1903), S. 178. Vgl. dazu den Überblick bei Beate Krais, Bildung als Kapital: Neue Perspektiven für die Analyse der Sozialstruktur?, in: Reinhard Kreckel (Hrsg.), Soziale Ungleichheiten, Sonderband 2 der Sozialen Welt, Göttingen 1983, S. 200ff.; Jacob Mincer, On-the-Job Training: Costs, Returns, and Some Implications, in: The Journal of Political Economy, 70, 1962, S. 50-79; Theodore W. Schultz, Investment in Human Capital, in: The American
Das Kapital der Akteure
221
flüsse bezeichnet, die mit den produktiven Eigenschaften und Fähigkeiten von Menschen zusammenhängen. Die politisch ganz bewußt betriebene Expansion des Bildungswesens in den westlichen Industriegesellschaften war eine unmittelbare Folge dieser Annahmen. Die Sesamstraße und die Öffnung der Universitäten für (fast) alle ist ein bis heute erhaltenes Relikt auch der damaligen öffentlichen Haltung zur Investition in Humankapital und der Erschließung brachliegender „Bildungsreserven“ vor allem in den unteren Schichten der Gesellschaft. Und auch die Anwerbung indischer Computerspezialisten, wie sie Gerhard Schröder zur Freude der Arbeitgeberverbände angeregt hat, beruht auf dem Gedanken, hierzulande nicht vorhandenes Humankapital einfach zu importieren – ganz so, wie man auch Erdöl einführt, das ein Land nicht selbst hat, aber dringend zur Produktion des Reichtums braucht. Die Investition in die Bildung Zum Humankapital zählen dann im Prinzip alle produktiven Eigenschaften des Menschen: seine Intelligenz, Gesundheit, seine Fähigkeit zur Mobilität, sein Informationsstand, seine emotionale Belastbarkeit, seine Kreativität u.a. Inzwischen wird darunter jedoch fast nur noch seine schulische Bildung oder berufliche Qualifikation verstanden, einschließlich der Fähigkeit, das Lernen gelernt zu haben. Humankapital ist so gesehen im wesentlichen Bildungskapital. Der Umfang und der Wert des Humankapitals – als Eigenschaft einer Gesellschaft oder einer Person – ist wie jedes Kapital in erster Linie eine Folge von Investitionen. Das heißt: Es muß zu seiner Akkumulation auf aktuellen Konsum verzichtet werden – in der Erwartung eines höheren Ertrages aus der Nutzung des Kapitals in der Zukunft. Dies gilt für die Investition in die Bildung genauso wie für die Gesundheitsvorsorge und die Bereitstellung der anderen Facetten des Humankapitals. Die Humankapitaltheorie ist daher nicht aus Zufall insbesondere eine Theorie zur Erklärung von Bildungsinvestitionen. Wir wollen einen Aspekt daraus etwas näher betrachten: die Entscheidung für die Fortsetzung einer schulischen oder beruflichen Bildung in einem bestimmten Alter. Die Grundüberlegungen sind sehr einfach und auch ohne weitere Formalisierung zu verstehen.3 Angenommen sei ein Abiturient im Alter
3
Economic Review, 51, 1961, S. 1-17; Gary S. Becker, Human Capital. A Theoretical and Empirical Analysis, with Special Reference to Education, 2. Aufl., New York 1975, Kapitel 2 insbesondere. Vgl. dazu Mark Blaug, An Introduction to the Economics of Education, Harmondsworth 1970, Kapitel 2 und 6. Für eine formale Darstellung des Entscheidungsproblems auch für verschiedene Arten des Trainings und des damit zu erwerbenden Humankapitals vgl. Gary
222
Opportunitäten und Restriktionen
von 18 Jahren, der vor der Entscheidung steht, jetzt ein Studium aufzunehmen oder gleich in einen bezahlten Beruf einzusteigen. Was soll der Abiturient tun? Für seine Entscheidung muß er sich ein Bild darüber machen, was mit seinem Leben geschieht, wenn er das eine oder das andere tut. Betrachten wir zunächst den Fall, daß der Abiturient nichts weiter investiert. Wenn er gleich eine Lehre – etwa in einer Bank – begänne, dann hätte er ein Einstiegseinkommen zu erwarten, das – wenn alles sich normal entwickelt – im Verlaufe seines Lebens zunimmt: Seine Fähigkeiten und Erfahrungen, die er mit der Ausübung des Berufes on the job erwirbt, steigen. Und das schlägt sich in dem Preis nieder, den er als Gehalt für seine Arbeit verlangen kann und wohl auch erhält. Gleichzeitig verfällt sein zu einem bestimmten Zeitpunkt erworbenes Humankapital aber auch allmählich, wenn nicht ständig neu investiert wird: Menschen verlernen und vergessen, und das einmal erworbene Wissen veraltet und verliert durch zwischenzeitliche Innovationen seinen Wert. Und die Folge: Zunächst überwiegen die einkommenssteigernden Effekte des Lernens im Beruf, und dann machen sich immer mehr die einkommensmindernden Effekte des Lebensalters bemerkbar.
Für den gesamten Lebenslauf kann ein Akteur daher typischerweise einen zunächst ansteigenden, dann stagnierenden und schließlich wieder etwas abfallenden Ertrag aus seiner Arbeit erwarten (vgl. Becker 1975, S. 61). Und genau das wird empirisch auch beobachtet (vgl. Krais 1983, S. 203; Blaug 1970, S. 172). Soll das aber alles gewesen sein? Nun kommt für den achtzehnjährigen Abiturienten das andere Szenario und die Frage nach den Auswirkungen einer zusätzlichen Bildungsinvestition auf sein Leben ins Spiel. Auch nun gibt es einen typischen Verlauf der Entwicklung des Einkommens. Das Studium ist eine Zeit fast ohne Einkommen. Wenn es – erfolgreich! – beendet wird, dann übersteigt das Anfangseinkommen jedoch dasjenige, das ohne das Studium zur gleichen Zeit erreicht worden wäre, um einen bestimmten Betrag. Ansonsten bleibe die Struktur des Verlaufs die gleiche: erst ein weiteres Ansteigen, dann die Stagnation und schließlich das Absinken des Einkommens – bis zur Pensionierung. Der Einfachheit halber wollen wir annehmen, daß die Differenz in den Einkommen über diesen Verlauf hinweg stets gleich bleibe.
In einem einfachen Schema lassen sich die beiden Konstellationen über zwei typische Kurven von Einkommensbiographien darstellen (Abbildung 8.1).
S. Becker 1975, S. 16ff., 37ff. Siehe auch bereits das Beispiel zur Modellierung der Bildungsentscheidung in der Sprache der WE-Theorie in Abschnitt 7.2 von Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“.
224
Opportunitäten und Restriktionen
Der Preis der Bildung Wir haben in Abschnitt 2.1 oben in diesem Band gesehen, daß die Nachfrage nach einem begehrten Gut insbesondere vom Preis abhängt, der dafür zu zahlen ist. Dies gilt auch für die Nachfrage nach Bildung. Auch die hat ihren – wenngleich oft staatlich subventionierten – Preis (vgl. dazu auch das Beispiel über die Studiengebühren in Kapitel 6 oben in diesem Band). Und da auch für Investitionen in Humankapital die Ressourcen nicht unbegrenzt sind, ist die Steigung der entsprechenden Nachfragefunktion ebenfalls negativ – ganz unabhängig von den Wünschen, Präferenzen und Vorstellungen der Menschen über den Wert der Bildung im einzelnen. Der Preis für die Bildungsinvestition hängt dann ferner im wesentlichen von zwei Komponenten ab. Das ist erstens der unmittelbare Aufwand für die Bildungsinvestition: Studiengebühren, Literatur, die Studentenbude unter anderem. Die zweite Komponente bringt einen Kostenfaktor ins Spiel, der typisch ist für jede Art von Investition: der Zinssatz, der für das Kapital zu zahlen ist, mit dem die – stets riskante – Investition vorfinanziert werden muß. Denn: Während der Ausbildung wird ja kein Einkommen erzielt. Bei jeder Bildungsinvestition muß für die Zeit des Verzichtes auf ein Einkommen also ein Kredit aufgenommen werden. Dies muß nicht unbedingt ein Geldkredit bei einer Bank oder einem reichen Gönner sein – obwohl auch dies natürlich vorkommt. Es ist auch ein gedanklicher Kredit, den man sich selbst gibt oder den die Familie im Vertrauen auf den Erfolg des Sprößlings an emotionaler Zuwendung und an sozialer Unterstützung einräumt. Der Zinssatz für das während der Bildungszeit benötigte Kapital wird als Anteil des Betrages ausgedrückt, der als Kredit in Anspruch genommen wird: Je höher der Zins, desto größer der Preis für die Investition. Es sind die indirekten Kosten der Bildung. Der Zinssatz selbst richtet sich nach den – finanziellen, gedanklichen, emotionalen oder sozialen – Aufwendungen, die nötig sind, um die einkommenslose Zeit bis zum erfolgreichen Ende der Ausbildung zu überbrücken. Die Zinsen für geliehenes Kapital sind deshalb um so geringer, je ertragreicher das Unternehmen zu werden verspricht und je mehr sich das Vertrauen als gerechtfertigt zu erweisen scheint. Eine Investition in ein Studium mit sehr guten Berufsaussichten kostet entsprechend weniger als eines mit schlechten, ein intelligenter Schüler muß weniger für den Kredit zahlen als ein dummer.
Der Gesamtpreis der Bildungsinvestition pro Jahr Ausbildung wäre dann natürlich gleich dem unmittelbaren Aufwand plus den indirekten Kosten in Abhängigkeit des Zinssatzes für den benötigten Kredit. Wenn die Preise für den Aufwand und der Zinssatz sowie die Struktur der Nachfragefunktion für die Bildung gegeben sind, läßt sich leicht bestimmen, wieviel an Nachfrage nach einem bestimmten Studium – in einer Kohorte von Abiturienten mit bestimmten Berufswünschen und Qualifikationen zum Beispiel – zu erwarten ist. Sofort wird dann auch einsichtig, was geschieht, wenn der Preis der Bildung sinkt – sei es, daß der unmittelbare Aufwand abnimmt, sei es, daß der Zins und damit die mittelbaren Kosten sinken: Die Nachfrage nach Bildung steigt.
Das Kapital der Akteure
225
Unsicherheit und Vergleich Wenn das alles nur so einfach wäre! Zukunftsplanungen geschehen immer unter starken Unsicherheiten, zumal dann, wenn viel auf dem Spiele steht und eine Fehlentscheidung teuer zu stehen kommen könnte. „Drum prüfe, wer sich ewig bindet“ gilt in gewisser Weise auch für den Kauf eines Hauses oder die Entscheidung für eine berufliche Karriere. Und es ist natürlich nicht leicht, das Lebenseinkommen und die Erträge einer bestimmten Bildungsinvestition, sowie die entgangenen Gewinne und die noch kommenden Kosten im voraus abzuschätzen und auf der Grundlage dieser Schätzung eine derart weitreichende Entscheidung zu treffen wie die für oder gegen ein Studium. Aber ganz im Dunkeln tappen die Menschen ja nun auch wieder nicht: Sie haben Vergleichsmöglichkeiten. Dazu dienen beispielsweise Geschwister und deren Freunde, die gerade studiert haben, aber auch die eigenen Eltern bzw. die Eltern der Freunde und Bekannten, die möglicherweise einen vergleichbaren Beruf ausüben. Damit aber gibt es einen relativ sicheren Bezugspunkt der Schätzung: Das Einkommen von Erwachsenen im Alter von – sagen wir – 45 Jahren mit oder ohne eine bestimmte Bildungsinvestition kann ganz zuverlässig beobachtet werden. Und dies – kombiniert mit der plausiblen Schätzung der Struktur der Lebenseinkommenskurve insgesamt – erlaubt durchaus eine Einschätzung des Gesamtertrages, beispielsweise eines Studiums im Vergleich zu einer Lehre. Weil der Blick in die Zukunft aber so unsicher und die Investition in die Bildung eine besonders riskante Angelegenheit sind, läßt sich leicht ausmalen, wie wichtig jetzt auch nur halbwegs verläßliche Referenzpunkte werden, die die Unsicherheit für die Planung des Lebens etwas verringern: alle möglichen Vorbilder und „Modelle“ aus dem augenscheinlichen Alltag, die wenigstens die Sicherheit des unmittelbaren Erlebens haben. Sie werden auch dann handlungsleitend, wenn die Akteure wissen, daß ihre „objektiven“ Chancen besser sind und sie mit einiger Wahrscheinlichkeit an ihrem höchstmöglichen Glück vorbeigehen (vgl. dazu noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“ über das Problem von „Orientierung und Handeln“). Allein so wird schon verständlich, warum die Bildungs- und Mobilitätsforschung der letzten Jahrzehnte eigentlich nur einen stabilen Befund ermittelt hat: Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm; denn seinen Baum kennt der Apfel ganz gut, den Rest der Welt weit weniger.
226
Opportunitäten und Restriktionen
Unterschiede in der Nachfrage nach Bildung Nun läßt sich – auch in Ergänzung zu dem Modell der Bildungsentscheidungen aus Abschnitt 7.2 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ – noch besser verstehen, warum es immer deutliche Unterschiede im Bildungsverhalten zwischen den sozialen Schichten gegeben hat – und bei aller Öffnung des Bildungssystems wohl auch weiterhin geben wird: Die unmittelbaren Ausgaben für die Bildung sind – bezogen auf deren Gesamteinkommen – bei den unteren Einkommensgruppen deutlich höher als bei den besser Verdienenden. Das alleine führt dazu, daß die oberen Schichten mehr an Bildung nachfragen. Außerdem werden in den unteren Schichten die Erfolgsaussichten geringer eingeschätzt: Der Zins für das entgangene Einkommen wird dort höher angesetzt, weil für sie das Risiko höher zu sein scheint. Und folglich erhöht sich der Gesamtpreis der Bildung für die unteren Schichten auch dann, wenn die unmittelbaren Ausgaben gleich wären. Schlechte Zeugnisse? Die Unsicherheit bei der Karriereplanung und die Unterschiede in der Verfügung von sichtbaren „Modellen“ des Bildungserfolges ist ein dritter, vielleicht sogar der wichtigste Faktor. Es gibt eine empirische Besonderheit, die darauf hindeutet, daß die Unterschiede im Bildungsverhalten zwischen den sozialen Schichten weniger etwas mit den unterschiedlichen Preisen und Kosten, sondern in der Tat eher mit der Art des Umgangs mit den eingeschätzten Risiken und mit der Nachfragestruktur nach Bildung, also mit der Gestalt der Nachfragefunktion selbst, zu tun hat. Wir kennen diese Besonderheit aus Abschnitt 7.2 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ schon: Raymond Boudon hat festgestellt, daß Eltern aus unteren Schichten ihre Kinder – gleiche Kosten der Bildung vorausgesetzt – sofort dann von der weiterführenden Schule nehmen, wenn sich erste Schwierigkeiten zeigen. Bei Erfolg in der Schule unterscheiden sie sich jedoch kaum vom Verhalten der oberen Schichten.4 Wie wäre dieser (Interaktions-)Effekt zu erklären? Zwei Deutungen bieten sich an. Die erste Interpretation hat damit zu tun, daß schlechte Zeugnisse den Preis für die weitere Investition bei den Schichten unterschiedlich beeinflussen, weil sie auf verschiedene Weise ein Signal für den drohenden Mißerfolg sind. 4
Raymond Boudon, Die Logik des gesellschaftlichen Handelns. Eine Einführung in die soziologische Denk- und Arbeitsweise, Neuwied und Darmstadt 1980, S. 178ff.
Das Kapital der Akteure
227
Ein schlechtes Zeugnis ist ja ein recht verläßlicher Hinweis darauf, daß der Erfolg unsicher geworden ist. Es zeigt an, daß man mit den Rückzahlungen des Kredits – an die Familie vor allem – nicht a jour ist. Kurz: Mit den schlechten Zeugnissen steigen der Zins und damit der Preis für die Investition. So wirkt dieses Signal aber nur in Gruppen, in denen dann tatsächlich am Erfolg gezweifelt werden muß – und in denen nicht etwa angenommen werden kann, daß alles noch gut gehen wird. Das hat gute Gründe. Beispielsweise: Die oberen Schichten haben immer noch andere Möglichkeiten, ihren mißratenen Kindern über Privatlehrer, Nachhilfestunden und teure Quetschen einen erfolgreichen Abschluß auch nach mehreren Ehrenrunden zu verschaffen. Es gibt dort mehr Erfahrungen darin, daß ein schlechtes Zeugnis in der Oberschule kein endgültiges Versagen bedeutet. Und es gibt eine höhere kulturelle Affinität zu dem Milieu der Schule und der Lehrer, aus der sich auch ein gewisses Ausmaß an Vertrauen in den Schulerfolg ableiten läßt – notfalls mit Hilfe einer milden Form der Bestechung. Der subjektive Preis für die Bildung steigt deshalb – bei schlechten Zeugnissen – nur in den unteren Schichten, nicht aber in den oberen.
Wegen dieser Unterschiede in den Preiseffekten der schlechten Zeugnisse verringert sich die nachgefragte Menge nach Bildung auch nur bei den unteren Schichten – auch bei gleicher Nachfragefunktion und bei gleichem sonstigen Aufwand für die unterschiedlichen Schichten. In Abbildung 8.2a ist skizziert, wie das mit Hilfe der Instrumente von Preis und Nachfragefunktion verständlich werden kann.
Das Kapital der Akteure
229
Die Funktion D ist in Abbildung 8.2a die für beide Schichten gemeinsam geltende Nachfragefunktion für Bildung. Zunächst gelte für beide Schichten der gleiche Preis p1u,o. Dabei wird unterschiedslos die Menge q1u,o an Humankapital nachgefragt. Nun gibt es Zeugnisse. Für die guten Schüler ändert sich nichts. Ihr „Preis“ bleibt der gleiche. Es ändert sich auch nur wenig für die schlechten Schüler aus den besseren Kreisen. Für sie steigt – wegen der subjektiven Sicherheit des schließlichen Erfolges und wegen des geringeren Anteils des Zinses am Gesamteinkommen der Eltern – der Preis nur wenig – auf p2o. Die Nachfrage nach Bildung geht dort deshalb auch kaum zurück – von q1u,o auf q2o. Das ist anders für die schlechten Schüler aus den unteren Schichten. Hier steigt der Preis über den beschriebenen Mechanismus des nun für sie sprunghaft ansteigenden Zinses massiv auf p2u. Und entsprechend deutlich geht auch die Nachfrage auf q2u zurück. Und das heißt meistens: rasches Ende der Schulkarriere und ab in die Produktion und in die Lohnarbeit bzw. die Dönerbude. Die zweite preis- und nachfragetheoretische Deutung des Ergebnisses von Raymond Boudon geht davon aus, daß die Gestalt der Nachfragefunktion bei unteren und oberen Schichten unterschiedlich ist. Dabei wird davon ausgegangen, daß obere Schichten ein bestimmtes Mindestmaß an Bildung für dringlicher halten als das im Durchschnitt in unteren Schichten der Fall ist (vgl. dazu das Konzept des Statusverlustes im Beispiel aus Abschnitt 7.2 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Das mag auch kulturelle oder normative Gründe haben. Wahrscheinlicher ist etwas anderes: Die Organisation des Alltags ist in unteren Schichten vergleichsweise mehr um solche Ressourcen angeordnet, für die eine höhere Bildung nicht unbedingt erforderlich ist. Dort muß eben keine Arztpraxis übernommen oder die Tradition der Juristenfamilie fortgesetzt werden. Für untere Schichten wird – jedenfalls im Vergleich – vielmehr das soziale Kapital bedeutsamer. Und das muß sogar durch ganz andere Dinge erworben und gepflegt werden als etwa das Erlernen des Satzes von Pythagoras. Die Verwiesenheit auf andere Quellen des Kapitals als das Humankapital ist besonders augenfällig bei Immigranten: Die ethnische Gemeinde bietet eine relativ leicht zugängliche Alternative für die Lebensgestaltung, für die eine schulische Überqualifikation fast schon schädlich wäre.
Für die mittleren (und die oberen) Schichten ist daher eine gute Bildung eine nahezu unumgängliche Existenzvoraussetzung. So sehen dort die sozialen Produktionsfunktionen aus: Wer nicht mindestens Abitur hat, dem bleibt nur noch eine Karriere als Schwarzes Schaf der Familie oder als Hilfsregisseur, sprich: Kabelschlepper beim WDR. Deshalb wird dort (fast) alles darangesetzt, einen unteren Standard im Bildungsabschluß nicht zu unterschreiten – koste es fast, was es wolle. Das hat natürlich Auswirkungen auf die Gestalt der Nachfragefunktionen für die unteren und die oberen Schichten. Bei einem niedrigen Preis unterscheiden sie sich kaum, wohl aber bei einem höheren: Für die oberen Schichten wird wegen der Bildung als notwendiger Bedingung
230
Opportunitäten und Restriktionen
des Statuserhaltes mit der Zunahme des Preises die Nachfragefunktion – „koste es, was es wolle“! – immer unelastischer, während sie für die unteren Schichten mit steigendem Preis eine immer größere Elastizität bekommt (zum Konzept der Elastizität von Nachfrage und Angebot vgl. das Kapitel 6 oben in diesem Band). In Abbildung 8.2b sind diese Unterschiede in der Struktur der Nachfragefunktion skizziert. Bei einem niedrigen Preis p1 gilt noch die „gemeinsame“ Nachfragefunktion D. Hier unterscheidet sich die nachgefragte Menge mit q1u,o daher nicht. Nun steige der Preis für beide Gruppen gleichermaßen auf p2 – bis in die Region der nach sozialer Schicht unterschiedlichen Nachfragefunktionen Du und Do. Deutlich sieht man die Folge: Die Nachfrage nach Bildung geht wegen der unterschiedlichen Elastizitäten bei den unteren Schichten mit der Menge q2u sehr viel deutlicher zurück als bei den oberen Schichten mit der Menge q2o. Dabei ist es jetzt egal, ob die Preiserhöhung mit dem Aufwand oder mit dem Zinssatz zu tun hat. Wahrscheinlich wirken in den unteren Schichten alle genannten Mechanismen gleichzeitig: Die größeren objektiven Restriktionen, die geringer eingeschätzte Notwendigkeit der Bildung, die kaum vorhandenen „Modelle“ des Erfolges, die höher veranschlagten subjektiven Risiken und der andere Umgang damit. Und wenn die Bildungs-„Revolution“ vielleicht auch für die einheimische Bevölkerung sehr weit gegangen ist: Mindestens die Einwanderer haben mit den gleichen Dingen zu tun wie die einheimischen Unterschichten bis vor etwa 30 Jahren. Der Wert der Bildung Kaum ein Werbespruch war erfolgreicher als jener Slogan der Bildungseuphorie der 60er Jahre, der alle Eltern ermunterte, ihre Kinder immer länger auf immer bessere Schulen zu schicken. Hinter dieser Formel stand das unausgesprochene Versprechen auf eine rasche und erfolgreiche berufliche Karriere. Die Zeiten des naiven Glaubens, daß Bildung sich immer lohne, sind inzwischen nachhaltig vorüber. Das hat mit einem in der früheren Euphorie ganz übersehenen Sachverhalt zu tun (vgl. dazu auch schon ausführlich Abschnitt 7.1 in Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“): Das bloße Angebot an Bildung kann stärker vermehrt werden als das von gut bezahlten Jobs. Die Bildung ist offenbar eher ein schon durch eigene Investitionen autonom erwerbbares Privatgut, das wenigstens einen Teil seines Wertes behält, wenn es allgemein zugänglich ist. Freilich verliert auch ein Bildungszertifikat an Wert, wenn alle es besitzen. Insofern gibt es auch hier eine gewisse Rivalität. Die ist aber nichts im Vergleich zu den beruflichen Po-
Das Kapital der Akteure
231
sitionen. Die haben demgegenüber alle Eigenschaften eines Positionsgutes: Sie sind strukturell knapp und wesentlich schwerer zu vermehren als die Bildung für alle. Und die Folge: Mit der Senkung des Preises für die Bildung und mit der Minderung des Risikos des Versagens bei den unteren Schichten – etwa über die Einrichtung von Gesamtschulen und Gesamthochschulen – konnte es zwar eine massive Bildungsexpansion geben. Da die Anzahl der gut bezahlten Berufspositionen aber nicht in dem gleichen Maße expandierte, setzte schon bald der Wettlauf um den Platz an der Sonne im Leben nach dem Examen ein. Und der war nicht weniger gnadenlos und nach sozialer Herkunft kaum weniger selektiv als der zuvor, als die Bildung noch ein Privileg der oberen Schichten war.5 Es scheint sogar zu einer ärgerlichen Paradoxie gekommen zu sein: Alle müssen heute für die gleiche Position mehr Anstrengungen unternehmen als zuvor. Ohne Abitur ist ja fast schon keine Lehrstelle mehr zu bekommen. Die höheren Bildungsabschlüsse haben „ ... an Bedeutung gewonnen, weil die bildungsbezogenen ‚Eintrittspreise‘ in die Berufslaufbahnen angehoben wurden: wo früher niedrigere Schulabschlüsse ausreichend waren, werden in Zukunft höhere Schulabschlüsse gefordert. Ein höheres Bildungsniveau ist also nach der Bildungsexpansion weniger Garantie, aber mehr Voraussetzung für höheren Sozialstatus. Ein bestimmter Bildungsabschluß reicht immer weniger aus, um in den Genuß bestimmter Vorteile zu kommen; gleichzeitig wird er aber immer notwendiger, um die Chancen auf diese Vorteile zu wahren.“6
Und weil das so ist, wird die formale schulische Bildung alleine immer weniger zielsicher für die Zuweisung der beruflichen Positionen. Sie ist notwendig geworden, aber bei weitem nicht mehr hinreichend für einen attraktiven Job.
8.3
Kulturelles Kapital
Mit der Abwertung der Bildung als Titel, der zu einer bestimmten „Position“ gewissermaßen schon berechtigt, werden, wie es neuerdings scheint, außerschulische Qualifikationen für die Positionszuweisung immer wichtiger. Woran soll sich ein Personalchef auch halten, wenn alle Bewerber ein Einserabitur vorweisen können? Was als Demokratisierung und generelles Recht für alle 5
6
Vgl. dazu die aufschlußreichen Analysen bei Walter Müller und Dietmar Haun, Bildungsungleichheit im sozialen Wandel, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 46, 1994, S. 13ff., S. 35ff. Rainer Geißler, Soziale Schichtung und Bildungschancen, in: Rainer Geißler (Hrsg.), Soziale Schichtung und Lebenschancen in der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1987, S. 81f.
232
Opportunitäten und Restriktionen
gedacht war, hat – ganz gegen die Absichten der Bildungsreformer – mit einer nachhaltigen Stärkung jener höchst spezifischen Fähigkeiten geendet, die auf keiner Schule und auf keiner Universität zu lernen sind. Damit sind wir beim kulturellen Kapital angelangt. Kinder aus unteren Schichten erhalten nämlich – nach wie vor – nicht nur die schlechteren Zeugnisse, sondern machen auch bei gleichem Bildungsabschluß deutlich weniger Karriere, spätestens dann, wenn es nach den Anfangspositionen um das Weiterkommen in die wirklich gehobenen Posten geht. Außerdem gibt es eine bemerkenswerte, über viele Länder hinweg stabile, Korrelation zwischen sozialer Schicht bzw. dem Bildungsgrad und der Beteiligung an der sog. Hochkultur: Heino hier, Schostakowitsch da. Offensichtlich sind also sowohl der Erwerb von Humankapital, wie dessen Verwertung in der Produktion von ökonomischem Kapital (über die Berufskarriere), wie der Zugang zu prestigebesetzten Sphären kultureller Praktiken und des sog. guten Geschmacks einigen Bedingungen unterworfen, die außerhalb der Schule zu suchen sind (vgl. dazu schon die Abschnitte 4.4 und 4.5 in Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Wie lassen sich diese Beziehungen erklären? Der französische Soziologe Pierre Bourdieu hat in seinen Schriften deutlich die Aufmerksamkeit auf die spezifischen kulturellen Fertigkeiten gelenkt, die gesellschaftlich unterschiedlich bewertet werden und den Akteuren – je nach Verfügung über diese Fertigkeiten – in unterschiedlichem Maße Startvorteile bei der Besetzung der sozialen Positionen und bei dem Erwerb auch von formaler Bildung und von ökonomischem Kapital verleihen.7 Pierre Bourdieu nennt diese spezifischen Fertigkeiten – bzw. die objektivierten und institutionalisierten Spuren davon – zusammenfassend kulturelles Kapital.8 Es kommt nach Bourdieu in drei verschiedenen Formen vor: als inkorporiertes, als objektiviertes und als institutionalisiertes kulturelles Kapital.
7
8
Vgl. dazu das zentrale Werk von Pierre Bourdieu über „Die feinen Unterschiede“: Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt/M. 1982. Für eine Zusammenfassung der Grundüberlegungen von Bourdieu vgl. Hans-Peter Müller, Sozialstruktur und Lebensstile. Der neuere theoretische Diskurs über soziale Ungleichheit, Frankfurt/M. 1992, S. 238-351. Vgl. als knappe Übersicht Stefan Hradil, System und Akteur. Eine empirische Kritik der soziologischen Kulturtheorie Pierre Bourdieus, in: Klaus Eder (Hrsg.), Klassenlage, Lebensstil und kulturelle Praxis. Beiträge zur Auseinandersetzung mit Pierre Bourdieus Klassentheorie, Frankfurt/M. 1989, S. 113-117. Pierre Bourdieu, Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, in: Reinhard Kreckel (Hrsg.), Soziale Ungleichheiten, Sonderband 2 der Sozialen Welt, Göttingen 1983, S. 185ff.
Das Kapital der Akteure
233
Inkorporiertes Kulturkapital Symbole sind Zeichen der Ordnung, der Orientierung und der systematischen Erinnerung an Eindrücke aus Erfahrungen in einer sozialen Umgebung. Mit dem Verstehen von Symbolen können große Informationsmengen rasch und unaufwendig verarbeitet werden. Mit Symbolen verbundene und durch sie ausgelöste Codes sind der Schlüssel zur Ordnung der an sich stets überkomplexen Eindrücke, zur „Rahmung“ und zur „Definition“ der Situation und zur Auslösung gewisser Programme des Denkens, des Fühlens und vor allem des Handelns in der betreffenden Situation (vgl. dazu noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ausführlich). Kulturelle Kompetenz ist dann, ganz allgemein, die Fähigkeit zur sicheren, souveränen und in seinem Rahmen auch verfeinerten und innovativen Beherrschung eines bestimmten kulturellen – ästhetischen, kognitiven, linguistischen und sozialen – Codes, sowie der überlegenen, kreativen und zuweilen strategisch genutzten, ironisch gemeinten oder subtil distanzierten Ausführung des dazu gehörenden Programms des Handelns, etwa in Mimik, Gestik und Rhetorik. Loriot und Richard von Weizsäcker haben diese Fähigkeit, Helmut Kohl und Günther Verheugen nicht (siehe dazu insgesamt auch schon Abschnitt 3.2 in Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Diese Fähigkeit nennt Pierre Bourdieu das inkorporierte kulturelle Kapital. Das Attribut „inkorporiert“ hat mit der besonderen Weise zu tun, wie die Codes gelernt werden müssen: Sie müssen in einem lebenslangen und möglichst früh einsetzenden Prozeß der „Verinnerlichung“ erworben werden. Erst dann ist jenes Maß an souveräner Codebeherrschung möglich, das es erlaubt, mit dem Code spielerisch, produktiv und sichtbar leicht umzugehen. Das inkorporierte Kulturkapital wird dabei zu einem festen „Besitztum“ des Akteurs, zu einem Teil seines „Habitus“. Es ist daher nicht einfach übertragbar. Es kann eigentlich nur – wie Pierre Bourdieu sagt – „auf dem Wege der sozialen Vererbung“ weitergegeben werden: Jede Verinnerlichung setzt bereits von den psycho-physischen Bedingungen her voraus, daß der Lernvorgang früh, konsequent, systematisch und ununterbrochen stattfindet. Das inkorporierte kulturelle Kapital kann damit als eine spezielle Form des Humankapitals angesehen werden. Der Ort seiner Vermittlung ist aber nicht die Schule, der Betrieb oder die Universität, sondern die Familie. Nur in der Familie sind ja die Bedingungen für eine solche Habitualisierung kultureller Codes gegeben, weil jede richtige Habitualisierung einen möglichst frühen, möglichst ununterbrochenen und möglichst durch Fremdeinflüsse ungestörten Lernverlauf voraussetzt. Und wenn es in der Familie Begrenzungen für den Erwerb eines bestimmten, später vielleicht für die Statuszuweisung wichtigen,
234
Opportunitäten und Restriktionen
inkorporierten kulturellen Kapitals gibt, dann hat dies Folgen für den Kampf um die Positionen, die durch den Erwerb formaler Bildung allein nicht ausgeglichen werden können. Und genau deshalb schlägt sich die soziale Herkunft immer wieder in den Berufskarrieren als eigene Größe nieder – trotz aller Gleichheit in der formalen Bildung und Ausstattung mit schulisch erworbenem Humankapital. Objektiviertes Kulturkapital Die materialisierten Spuren und Erzeugnisse kultureller Kompetenzen sind – anders als die internalisierten bzw. inkorporierten Kompetenzen selbst – natürlich übertragbar: Gemälde, Bücher, Skulpturen, Denkmäler, Gebäude, Musikinstrumente und CDs kann man kaufen. Dazu braucht man meist ökonomisches Kapital. Und die Erschaffer dieser Erzeugnisse können sich ihren Lebensunterhalt – meist mehr schlecht als recht – damit finanzieren. Die übertragbaren und als Privatgut erwerbbaren kulturellen Erzeugnisse nennt Pierre Bourdieu das objektivierte Kulturkapital. Kulturkapital und Codebeherrschung Die Nutzung des objektivierten Kulturkapitals und – vor allem – sein Wert ist für den Besitzer in starkem Maße davon abhängig, wie es ihm gelingt, die jeweilige Botschaft zu entschlüsseln: Es ist das inkorporierte Kulturkapital, das dem objektivierten Kulturkapital erst seinen subjektiven Wert verleiht. Reinhard Wippler hat diesen Zusammenhang in einem interessanten Modell im Anschluß an das Konzept der sozialen Produktionsfunktionen systematisch erklärt (vgl. dazu bereits Abschnitt 3.3 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“).9 Die Grundlage ist eine Differenzierung der Bedingungen für die Erzeugung des physischen Wohlbefindens. Zwei verschiedene Formen des physischen Wohlbefindens bzw. der Nutzenproduktion lassen sich dadurch unterscheiden: Comfort und Pleasure. Comfort ist das Ausmaß der Befriedigung der biologischen Funktionserfordernisse. Hier gilt das bekannte Gesetz der Sättigung bzw. des abnehmenden Grenznutzens: Je mehr es an Güterversorgung und dadurch erreichter Bedürfnisbefriedigung schon gibt, desto geringer ist der Nutzenzuwachs an Comfort mit jeder weiteren Einheit. Pleasure bezeichnet dagegen einen 9
Reinhard Wippler, Cultural Resources and Participation in High Culture, in: Michael Hechter, Karl-Dieter Opp und Reinhard Wippler (Hrsg.), Social Institutions. Their Emergence, Maintenance und Effects, Berlin und New York 1990, S. 190ff.
236
Opportunitäten und Restriktionen
So freundlich ist die soziale Umgebung aber leider fast nie, wie jeder weiß, der in Vorlesungen sich entweder tödlich langweilt oder nichts versteht, weil der Dozent die richtige Mischung aus Anforderung und Redundanz nicht findet. Es kommt deshalb darauf an, daß ein Akteur die Fähigkeit erwirbt, selbst den Grad der Anregung manipulieren zu können: Wenn es zuviel wird, hat er genügend Hintergrundwissen, um die Vielfalt der Anregungen selbst zu vereinfachen. Und wenn es langweilig wird, kann er etwas hineinlesen, was anderen unzugänglich ist. Beispielsweise: Die unerträglich verschmierte Modulation im Konzert für Klarinette und Orchester A-dur KV 622 von Wolfgang Amadeus Mozart, dessen zweiter Satz in Adagio soeben im Soundtrack von Green Card erklingt, fällt nur dem Kenner auf, und der kann sich innerlich darüber erregen oder amüsieren, wenn der Film ansonsten, oder die jeweilige Begleitung, nicht genügend arousal potential bieten. Diese Fähigkeit zur autonomen Manipulation des Anregungspotentials aber folgt just jener Codebeherrschung, von der oben beim inkorporierten Kulturkapital die Rede war. Und die wird nur über die Familie und nur über ein frühes und langwieriges Training vermittelt, im übrigen natürlich nicht nur für Kunstgenuß, sondern für jeden etwas verfeinerten Geschmack, an was auch immer. Und die Folge: Wahren (Kunst-)Genuß wird derjenige gar nicht mehr entwickeln können, der nicht von Kindesbeinen an die Chance hatte, die entsprechende Codebeherrschung zu trainieren. Und wirkliches Interesse an bestimmten Formen des objektivierten Kulturkapitals kann folglich nur derjenige haben, der die betreffende Codebeherrschung tatsächlich „inkorporiert“ hat. Ein Kunstwerk kann man kaufen, das Kunsterlebnis nicht. Szenen und Sphären Das objektivierte Kulturkapital bildet typische Muster von kulturellen Bereichen. Teils sind es Märkte – wie der Kunst-, der Film- oder der Musikmarkt, teils sind es abgestimmte, evolutionär entstandene kulturelle Systeme, derer sich die Akteure bedienen können, manchmal sogar müssen – wie die Sprache, das Geflecht der kulturellen Gebräuche oder die verschiedenen „Milieus“ und „Szenen“ in einer Gesellschaft. Teils sind es aber auch organisierte Sphären, in denen die Produktion und der Gebrauch kultureller Objekte stattfindet – wie in den Fernsehanstalten oder in den öffentlich alimentierten Tempeln der Hochkultur unserer Städte (vgl. dazu schon Kapitel 3 in Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“). In jedem Fall aber „besteht“ auch das objektivierte Kulturkapital nur solange, wie es angeeignet und verwendet und decodiert wird. Kurz: Das objektivierte Kul-
Das Kapital der Akteure
237
turkapital ist an ein Mindestmaß von inkorporiertem Kulturkapital und dessen beständiger Praktizierung gebunden. Institutionalisiertes Kulturkapital Das inkorporierte Kulturkapital ist stets an einen ganz spezifischen Organismus gebunden und damit den biologischen und psychischen Begrenzungen sowie dem Verfallsdatum seines Trägers unterworfen. Das erschwert seine Übertragbarkeit sehr. Was aber, wenn der Erbe die guten Manieren und den feinen Geschmack des Erblassers partout nicht inkorporieren will oder kann, aber die vornehme Tradition der Familie unbedingt fortgeführt werden soll? Die Objektivierung von inkorporiertem Kulturkapital in Form von an Personen übertragbaren Titeln ist ein geschickter Weg, um dieses Problem, wenigstens teilweise, zu lösen. Das beginnt schon bei den schulischen Titeln, sofern sie auch als Anzeichen für die Inkorporation von kulturellem Kapital herhalten sollen: „Der schulische Titel ist ein Zeugnis für kulturelle Kompetenz, das seinem Inhaber einen dauerhaften und rechtlich garantierten konventionellen Wert überträgt.“ (Bourdieu 1983, S. 190)
Durch – schulische und andere – Titel, durch Ehrenzeichen und Symbole können also Zuschreibungen über ein bestimmtes kulturelles Kapital verliehen, ausgetauscht, verkauft, vererbt, aber auch aberkannt werden. Dies ist ein hilfreiches Instrument zur Erhöhung der Konvertibilität des kulturellen Kapitals in anderes Kapital, zur Objektivierung und Generalisierung von Ehre und sozialer Wertschätzung und zur Verstetigung von Positionen. Jetzt können Personen leichter füreinander eine Nachfolge antreten. Es genügt jetzt die Ernennung zum Professor, um die Vermutung von Kompetenz und Weltfremdheit zuzuschreiben, die ansonsten nur mühselig zu lernen und auszuüben sind. Was der Professor an Codebeherrschung wirklich vorzuweisen hat, ist dann nicht mehr ganz so wichtig. Pierre Bourdieu findet dafür starke, nicht unbedingt auch sympathisierende Worte: „Die Alchimie des gesellschaftlichen Lebens hat daraus eine Form von kulturellem Kapital geschaffen, dessen Geltung nicht nur relativ unabhängig von der Person seines tatsächlichen Trägers ist, sondern auch von dem kulturellen Kapital, das dieser zu einem gegebenen Zeitpunkt besitzt: Durch kollektive Magie wird das kulturelle Kapital ebenso institutionalisiert wie, nach Merleau-Ponty, die Lebenden ihre Toten mit Hilfe von Trauerriten ‚institutionalisieren‘.“ (Ebd.; Hervorhebung im Original)
238
Opportunitäten und Restriktionen
Das derart institutionalisierte Kapital der Titel, Ehrenzeichen und Statussymbole wird gelegentlich auch als symbolisches Kapital bezeichnet (vgl. dazu schon den Exkurs über die Ehre in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Wie bei jedem Symbol müssen aber die Beziehungen zwischen Zeichen und Substanz erhalten bleiben – wenn es keine Inflation der Titel und Ehrenzeichen geben soll. Dies ist aber beim kulturellen Kapital auch kein besonderes Problem. Denn: Es bleibt schon aus psychophysischen Gründen immer der Bezug auf die „Verinnerlichung“ und das inkorporierte kulturelle Kapital als der wichtigsten Bedingung für den wirklichen Erwerb kultureller Kompetenzen. Und an diesen hängt ja letztlich alles andere, wenn es ernst wird. Das wissen alle Parvenus nur zu genau.
Strukturelle Aspekte des kulturellen Kapitals Durch diese objektiven, teilweise sogar technischen Voraussetzungen des Erwerbs kulturellen Kapitals allein schon läßt sich die Reproduktion der deutlichen kulturellen Unterschiede – in Lebensführung, Habitus, Praxis und Lebensstil – auch zwischen zunächst nur ökonomisch geschiedenen sozialen Gruppen leicht erklären: Die Verinnerlichung findet in einem lebenslangen und ununterbrochenen Prozeß meist in der Familie statt. Und darauf ist von außen kaum Einfluß zu nehmen. Insoweit ferner die – fast nur in der Familie vermittelbare – Beherrschung bestimmter Codes, der Inhalt eines bestimmten inkorporierten kulturellen Kapitals also, auch für den Erwerb von Humankapital und von ökonomischem Kapital unterschiedlich „produktiv“ ist, lassen sich über die kulturellen Faktoren auch leicht die – gewollte oder unbeabsichtigte, aber gern hingenommene – Schließung der oberen Schichten und die stabile Reproduktion auch der vertikalen Gliederung einer Gesellschaft erklären (vgl. Bourdieu 1982, insbesondere Teil 1 und 2; Hradil 1989, S. 113ff.; Müller 1992, S. 259ff.). Das ist der Kern der zu Recht vielbeachteten Theorie von Pierre Bourdieu über die strukturellen Ursachen und die strukturellen Wirkungen der zunächst rein kulturell und ganz unschuldig daherkommenden „Feinen Unterschiede“: Die soziale Ungleichheit der Gesellschaft reproduziert sich zu einem sehr großen Teil über die Familie und andere „ständische“ Zugehörigkeiten und zwar über die dort in unterschiedlichem Maße vermittelte Ausstattung mit kulturellem Kapital. Und die Angehörigen jener sozialen Gruppen, die alleine auf die Schule für den Erwerb ihres anderswo verwendbaren Humankapitals angewiesen sind, behalten ihre Nachteile ein Leben lang – mit der Folge, daß
Das Kapital der Akteure
239
das Gesamtgefüge der Gesellschaft auch dann stabil bleibt, wenn die schulische und universitäre Bildung ein Recht für jedermann ist und wenn der ökonomische Preis eine solche Bildung durchaus gestattet (vgl. dazu auch schon ausführlich Kapitel 4 in Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“). So kommt es, daß in den sog. modernen, auf dem Prinzip von Leistung und Qualifikation aufgebauten Gesellschaften die askriptiven Elemente der Statuszuweisung ihre Bedeutung keineswegs verlieren. Mit dem Ausbau des Bildungssystems und mit dem so offenbar sogar notwendig gewordenen Zugang aller zu Formen der höheren Bildung, werden – bei dem notwendigerweise knapp bleibenden Positionsgut der höheren beruflichen Positionen – andere Selektionsmechanismen greifen müssen als die der bloßen Ausstattung mit Humankapital. Und so kommt es zu einem – soziologisch interessanten, gesellschaftspolitisch eher ärgerlichen – Paradox: Was mit dem generalisierten Recht auf Bildung für alle begann, endet mit einer Verstärkung der Bedeutung des kulturellen Kapitals und damit der Familie, der sozialen Herkunft und spezifischer askriptiver Merkmale ganz allgemein bei der Zuweisung der sozialen Stellung in der Gesellschaft.
8.4
Institutionelles Kapital
Institutionen sind – ganz allgemein gesagt – sanktionierte soziale Regeln, in denen festgelegt ist, wie bestimmte Dinge getan werden müssen, damit mit ihnen Wertschätzung und Wohlbefinden erzeugt werden kann (vgl. dazu noch Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ausführlich). Sie definieren die Situation aber nicht nur über die Art und die Effizienz der sozialen Produktionsfunktionen, sondern auch dahingehend, daß man sich auf die Einhaltung der einmal festgelegten Regeln verlassen kann. Sie bringen so in die Produktion von Gütern, mehr aber noch in die Transaktionen zwischen den Akteuren, eine hohe Sicherheit hinein. Mit einer Bundesbank und einer funktionierenden Kriminalpolizei im Rücken kann ich vor Falschgeld verhältnismäßig sicher sein. Und dieses durch die Institution abgesicherte Vertrauen erlaubt es, die Aufmerksamkeit – als eine sehr wichtige und knappe Ressource – auf die eigentlich produktiven Dinge zu lenken. Institutionell abgesichertes Vertrauen wirkt also wie eine proportionale Preissenkung für alle Produkte und wie eine Einkommens- oder eine Kapitalerhöhung. Es ist – über die verläßliche Erzeugung eines hohen Schattens der Zukunft – das Geheimnis hinter der Evolution der verläßlichen Kooperation auch unter opportunistischen Egoisten: Statt sicherer Defektion ist jetzt verläßliche Kooperation zu erwarten,
240
Opportunitäten und Restriktionen
und damit eine Erhöhung der kollektiven wie individuellen Wohlfahrt bereits bei relativ geringen Kooperationsgewinnen. Wir wollen diesen Effekt von Institutionen auch zum „Kapital“ der Akteure zählen und die kooperativen Folgen einer gelungenen Institutionalisierung dann als institutionelles Kapital bezeichnen. Sichtbarster Ausdruck des institutionellen Kapitals sind bestimmte Rechte, die jemand im Geltungsbereich der betreffenden Institution – unter Hinweis auf die geltende „Verfassung“ – einklagen und sich mit einem „Rechtsanspruch“ darauf verlassen kann, daß er dabei nicht alleine steht. Die Besonderheit des institutionellen Kapitals besteht dabei darin, daß alle Akteure des Geltungsbereiches einer Institution davon etwas haben – auch diejenigen, die sich an den Kosten für den Aufbau nicht besonders beteiligt haben und sich um den Erhalt der Institution nicht sonderlich kümmern. Institutionen sind Kollektivgüter, genauer: Öffentliche Güter, und unterliegen den dabei geläufigen Dilemmata ihrer Bereitstellung (vgl. dazu auch noch Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ausführlich). Daher ist es – im Interesse aller, die an dem institutionellen Kapital interessiert sind! – ratsam, sie mit einer eigenen Organisation und mit einem eigenen Stab der Durchsetzung von Sanktionen zu versehen. Die sicherste Art der Verankerung des institutionellen Kapitals ist – wie wir aus Kapitel 5 in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ für die Sicherung der sozialen Ordnung insgesamt wissen – der Staat und eine funktionsfähige Verwaltung mitsamt seinen Gerichten und seiner militärischen Macht als – wie Max Weber sagt – „Erzwingungsstab“ für die Durchsetzung der institutionellen Regeln und damit als Garantie für den Erhalt des institutionellen Kapitals (vgl. dazu aber auch noch Abschnitt 8.6 über das sog. soziale Kapital unten in diesem Band).
8.5
Politisches Kapital
Gelegentlich gelingt es spezifischen Gruppen, eigene Institutionen der Absicherung ihrer Interessen zu bilden und als schlagkräftige Verbände zu organisieren. Parteien, Gewerkschaften, der Bauernverband und andere „Lobbyisten“ und Interessenvertretungen wie der ADAC oder der Bund der Steuerzahler gehören dazu. Solche Verbände fungieren für die von ihnen vertretenen Akteure auch als eine Art von Sonderkapital: Man muß sich nicht selbst um die Wahrnehmung und Durchsetzung der Interessen im politischen Raum kümmern. Das senkt ebenfalls die Preise für die betreffenden Güter und für die interessierenden Aktivitäten – wie die Sicherung der Subventionen für
Das Kapital der Akteure
241
Landwirtschaft und Bergbau, die Durchsetzung von Lohnforderungen oder die freie Fahrt für freie Bürger. Und oft genug gelingt es – beispielsweise den Gewerkschaften – sogar das Einkommen in Geld unmittelbar darüber zu vergrößern, daß die betreffende Interessenvertretung Erfolg in der Vertretung der Interessen ihrer Klienten hat. Verbände, Parteien und Vertretungen dieser Art sind so gesehen ein Spezialfall des institutionellen Kapitals: Sie bilden ein spezifisches institutionelles Kapital für bestimmte Gruppen. Wir wollen die erfolgreiche Organisation spezifischer Interessen als das politische Kapital der betreffenden „Interessen“-Gruppe bezeichnen. Wie beim institutionellen Kapital, das allen Akteuren der jeweiligen Öffentlichkeit zugute kommt, ist auch das politische Kapital natürlich ein Kollektivgut bzw. ein Öffentliches Gut, diesmal jedoch nur für die spezielle Gruppe der Interessenten und nicht für die „Allgemeinheit“ insgesamt. Da die Anzahl der Interessenten hierbei vergleichsweise klein und deren Interessen vergleichsweise stark, spezifisch und gleichgerichtet sind, ist zu erwarten, daß solche speziellen Verbände schon eher spontan entstehen und stärker unterstützt werden als die allgemein geltenden Institutionen einer Gesellschaft (vgl. dazu bereits Kapitel 7 in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ausführlich). Und es ist dann auch zu erwarten, daß sie in, wenngleich wechselnden, Konflikten zur Durchsetzung ihrer jeweils eigenen Interessen stehen. Damit die Konflikte zwischen den Interessengruppen um ihr jeweils spezifisches politisches Kapital jedoch nicht wiederum in ein System allseitiger Defektion münden, wird der Staat mit seiner übergreifenden Verfassung und der Sicherung gewisser „unveräußerlicher“ Rechte als allgemein geltendem institutionellen Kapital so wichtig, an dem alle Anteil haben sollen, auch die Interessengruppen und ihre Mitglieder: Als Rahmen für die Konflikte um die partikularen politischen Kapitalien der vielen Interessengruppen und dafür, daß diese sich nicht über Gebühr gegenseitig in einer möglichen Kooperation blockieren. Und der Staat fungiert als Garant für das mit der Verfassung allen Staatsbürgern verliehene institutionelle Kapital als das mitunter einzige Kapital aller derjenigen, deren Interessen oft vergessen werden, die sich aus eigener Kraft kaum selbst organisieren können, deshalb über keinerlei politisches Kapital verfügen und auch nicht viel an ökonomischem Kapital, Humankapital und kulturellem Kapital kontrollieren: Hausfrauen, Obdachlose und Scheidungswaisen zum Beispiel. Aber selbst aus diesem Rahmen des generalisierten institutionellen Kapitals fallen einige heraus: Die dauerhaft ansässig gewordenen Ausländer beispielsweise, die – wenngleich nicht unfreiwillig – ohne die besonderen staats-
242
Opportunitäten und Restriktionen
bürgerlichen Rechte des Aufnahmelandes auskommen müssen, weil sie den letzten institutionellen Schutz ihrer Existenz, ihre angestammte Staatsbürgerschaft, nicht aufgeben wollen. Die Definition der Geltung bestimmter Institutionen sorgt offenkundig nicht nur für die Inklusion von Akteuren in die Segnungen des institutionellen Kapitals, sondern stets auch für die Exklusion anderer Akteure von der Teilhabe daran (vgl. dazu schon Kapitel 5 in Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Und dann muß man sich nicht wundern, wenn diese Gruppen versuchen, ihre Interessen auch außerhalb der Verfassung des Aufnahmelandes zu organisieren und in Form ethnischer Organisationen ein eigenes politisches Kapital aufzubauen.
8.6
Soziales Kapital
Das ökonomische Kapital, das Humankapital, auch das kulturelle und sogar das institutionelle und das politische Kapital können als eine Art von „Besitz“ der Akteure verstanden werden, den sie, bei aller sozialer Verankerung jeder dieser Ressourcen, selbst als „isolierte“ Individuen verhältnismäßig autonom kontrollieren: Geld, Bildung, Geschmack, Rechte und die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft oder im ADAC „hat“ man, wenn man sie denn hat, ohne daß andere Akteure unmittelbar dazu noch sonderlich benötigt werden. Das ist ganz anders bei jener Form von Kapital, die als soziales Kapital bezeichnet wird. Es geht hier um ein verwickeltes Thema mit vielen schillernden Facetten, und wir müssen schrittweise vorgehen. 8.6.1 Was ist „soziales Kapital“? Mit sozialem Kapital sind zunächst alle die Ressourcen gemeint, die ein Akteur mobilisieren kann und von denen er profitiert, weil er in ein Netzwerk von Beziehungen zu anderen Akteuren eingebunden ist. Und nur über diese Beziehungen und nur über die Existenz des Netzwerkes insgesamt gibt es das soziale Kapital. Bei Pierre Bourdieu lesen wir das ganz ausdrücklich: „Das Sozialkapital ist die Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens verbunden sind.“ (Bourdieu 1983, S. 190; Hervorhebungen so nicht im Original)
Das Kapital der Akteure
243
Pierre Bourdieu definiert das soziale Kapital über die Beziehungen des Kennens anderer Akteure und der Gewinnung von Anerkennung durch sie. Wir werden noch sehen, daß das nicht genug ist. Bitte beachten Sie, daß hier nur von „Beziehungen“ und nicht von „sozialen Beziehungen“ gesprochen wird. Unter einer „sozialen Beziehung“ hatten wir im Anschluß an Max Weber in Kapitel 9 von Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ die besondere „Einstellung“ der Akteure verstanden, mit der sie ihre „Beziehung“ definieren und über die sie sich in ihrem Handeln wechselseitig orientieren: als Freundschaft, als Konkurrenz oder als Klassengemeinschaft beispielsweise. Der Begriff der Beziehung ist allgemeiner (siehe dazu auch schon Kapitel 7 oben in diesem Band): die Verbindung zweier oder mehrerer Akteure über irgendeine Relation, wie etwa das gegenseitige Kennen oder Anerkennen, auch ohne daß dies von einer besonderen Einstellung begleitet wäre, mit der die Akteure ihre Beziehung belegen. Eine „soziale Beziehung“ ist so gesehen natürlich auch eine Beziehung: die Verbundenheit der Akteure über eine geteilte Einstellung, an der sie ihr Tun wechselseitig orientieren. Eine soziale Beziehung im Sinne Webers ist demnach ein Spezialfall einer Beziehung: die Beziehung einer bestimmten Einstellung oder Orientierung, mit der die Akteure gegenseitig ihre Situation definieren.
Oft sind die Beziehungen selbst schon von unmittelbarem Interesse: Jemanden zu kennen ist schon für sich interessant. Aber das ist ebenso oft nicht alles, was an einer Beziehung oder an einem ganzen Netzwerk von Beziehungen interessiert, in das ein Akteur eingebunden ist. Die Anerkennung beispielsweise ist eine Leistung des anderen Akteurs, die je nach den Eigenschaften dieses Akteurs durchaus unterschiedlichen Wert haben kann: Vom Chef anerkannt zu werden ist etwas anderes als von dem Kollegen, der jetzt schon wieder angetrottet kommt und mit demütigem Blick von mir einen guten Rat haben will. Und ein kollegiales Klima in einem Büro ist auch jenseits des bloßen Kennens eine große Erleichterung für alle und eine wertvolle Voraussetzung für die produktive Nutzung der Ressourcen jedes einzelnen. Kurz: An den Akteuren, mit denen ich bilaterale Beziehungen unterhalte, und an dem gesamten System des Netzwerkes der Beziehungen hängen interessante Ressourcen, an die ich herankommen könnte. Die Gesamtheit des Wertes der Ressourcen und Leistungen, die ein Akteur aus der Existenz von Beziehungen zu anderen Akteuren und aus dem Vorhandensein eines Netzwerkes von Beziehungen insgesamt kontrolliert, ist dann sein soziales Kapital.10 10
Vgl. dazu insbesondere: James S. Coleman, Foundations of Social Theory, Cambridge, Mass., und London 1990, Kapitel 12: Social Capital, S. 302ff. Vgl. zu den verschiedenen Bedeutungen und Konzepten des Begriffs „soziales Kapital“ die Übersicht bei Sonja Haug, Soziales Kapital. Ein kritischer Überblick über den aktuellen Forschungsstand, Arbeitspapier AB II/15 des Mannheimer Zentrums für Europäische Sozialforschung, Mannheim 1997. Vgl. auch Alejandro Portes, Social Capital: Its Origins and Applications in Modern Sociology, in: Annual Review of Sociology, 24, 1998, S. 1-24.
244
Opportunitäten und Restriktionen
Vom Nutzen entfernter Bekannter Der Begriff des sozialen Kapitals taucht – soweit das zu rekonstruieren ist – erstmals in einer Arbeit von Glenn C. Loury11 auf. Dabei ging es um die damals sowohl politisch wie theoretisch Ärgernis erregende Fortdauer rassischer, ethnischer und geschlechtsbezogener Unterschiede in den Einkommen der amerikanischen Bevölkerung, auch bei gleicher formaler Bildung. Glenn C. Loury meinte, daß auch die sozialen Umstände bei der Bildung von Humankapital beachtet werden müßten, insbesondere die der Umsetzung der formalen Bildung in arbeitsmarktrelevante Eigenschaften: „An individual’s social origin has an obvious and important effect on the amount of resources that is ultimately invested in his or her development. It may thus be useful to employ a concept of ‚social capital‘ to represent the consequences of social position in facilitating acquisition of the standard human capital characteristics.“ (Ebd., S. 176; Hervorhebung nicht im Original)
Glenn C. Loury benutzt den Begriff des sozialen Kapitals also, um Unterschiede im Erwerb von Humankapital, auch bei gleicher formaler schulischer Bildung, resultierend aus unterschiedlichen sozialen Umständen zu erklären. Das ist eigentlich das, was Pierre Bourdieu unter kulturellem Kapital verstanden und womit er die besondere Bedeutung der Familie herausgestellt hat. Seine davon verschiedene – und heute vorwiegend gemeinte – Bedeutung hat das Konzept im Zusammenhang der Untersuchung des Prozesses der Umsetzung von Humankapital erhalten, speziell: bei der Besetzung beruflicher Positionen nach einer Jobsuche. Hier waren vor allem die Arbeiten von Nan Lin richtungsweisend.12 Es war nämlich festgestellt worden, daß es eine überaus starke und so nicht erwartete Beziehung zwischen dem Status der Freunde und Bekannten einer Person und dem nach einer Jobsuche erreichten Berufsstatus gab. Dies ließ sich schließlich damit erklären, daß ein großer Anteil der Jobvermittlungen eben nicht über die individuelle Qualifikation alleine, sondern über die Vermittlung durch Freunde und Bekannte verläuft. Die niederländischen Soziologen Henk D. Flap und Nan D. de Graaf fanden für die Niederlande einen im internationalen Vergleich noch niedrigen, aber vor dem Hintergrund einer bloß leistungsbezogenen Vermittlung doch erstaunlich hohen Wert: Etwa ein Drittel der Befragten gab an, ihre Jobs über gute Bekannte vermittelt bekommen zu haben. Für die USA wurden sogar 60%, und für die Bundes11
12
Glenn C. Loury, A Dynamic Theory of Racial Income Differences, in: Phyllis A Wallace und Annette LaMond (Hrsg.), Women, Minorities, and Employment Discrimination, Lexington, Mass., und Toronto 1977, S. 153-188. Nan Lin, Social Resources and Instrumental Action, in: Peter V. Marsden und Nan Lin (Hrsg.), Social Structure and Network Analysis, Beverly Hills 1982, S. 131-145; Nan Lin, John C. Vaughn und Walter M. Ensel, Social Resources and Occupational Status Attainment, in: Social Forces, 59, 1981, S. 1163-1181.
Das Kapital der Akteure
245
republik Deutschland mehr als 40% berichtet. Allerdings kam aus der Studie von Flap und de Graaf auch heraus, daß eine solche Vermittlung nur gelingt, wenn der Befragte das nötige Humankapital schon mitbringt. Ganz alleine auf Beziehungen sollte man sich also nicht verlassen. Und aus den Untersuchungen war auch sehr deutlich geworden, daß es vor allem die Anzahl der entfernten Bekannten ist, die die Jobsuche erleichtert und erfolgversprechend macht. Allerdings scheinen es dann aber auch wieder eher die guten Freunde zu sein, die bei der Vermittlung der besonders hochdotierten Positionen hilfreich sind. Hierfür müssen wohl die Verpflichtungen und das nötige Vertrauen bei einer derart riskanten Empfehlung besonders hoch gewesen sein. Und dies ist wiederum eher nur bei sehr guten Bekannten und Freunden der Fall, die ihrerseits wieder engen Kontakt untereinander pflegen.13
Kurz: Es ist ganz nützlich, ein weitgespanntes Netz an – mehr oder weniger guten – Freunden und Bekannten zu haben, die vielleicht einen Tip geben, eine Empfehlung aussprechen oder sonstwie bei der Suche nach einem Job oder einem lukrativen Auftrag behilflich sein können. Und die einem aus früheren Begegnungen hinreichend verpflichtet sind, damit sie auf die Anfrage auch wie gewünscht reagieren. Die Spezifizität des sozialen Kapitals Geld wird überall gerne genommen. Mit einer exzellenten Bildung kann man viele Personalchefs überzeugen. Gute Manieren gefallen auf allen Opernbällen dieser Welt. Die Bürgerrechte werden einem nur genommen, wenn man straffällig wird. Und die Vertretung seiner Interessen verliert nur der, der aus der Interessenvertretung austritt. Kurz: Das ökonomische Kapital, das Humankapital, das kulturelle Kapital und sogar das institutionelle und das politische Kapital sind – mehr oder weniger – fungibel (vgl. dazu noch den Exkurs über soziale Räume und über die Frage, ob nicht letztlich doch das Geld die Welt regiert am Ende dieses Kapitels): Sie behalten ihren Wert auch außerhalb des engen Kontextes, in dem es erzeugt und erworben worden ist. Das ist beim sozialen Kapital grundsätzlich anders. Weil es in den Beziehungen des Netzwerkes steckt, kann es von den Beziehungen auch nicht abgelöst und „mitgenommen“ werden. Jeder, der das Netzwerk verläßt, verliert notwendigerweise das soziale Kapital, über das er im Netzwerk verfügen konnte. Und – so sei sofort hinzugefügt – er vermindert mit seinem Exodus auch unmittelbar das soziale Kapital der anderen. Kurz: Das soziale Kapital ist nicht nur ein 13
Hendrik D. Flap und Nan D. de Graaf, Social Capital and Attained Occupational Status, in: The Netherlands Journal of Sociology, 22, 1986, S. 146f.; 156f.; Bernd Wegener, Vom Nutzen entfernter Bekannter, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 39, 1987, S. 286f.; Nan Lin, Walter M. Ensel und John C. Vaughn, Social Resources and Strength of Ties: Structural Factors in Occupational Status Attainment, in: American Sociological Review, 46, 1981, S. 393-405.
246
Opportunitäten und Restriktionen
Kapital, das sich in Einsamkeit, Freiheit und Autonomie grundsätzlich nicht erzeugen und ansammeln läßt, sondern auch eines, das in einem besonders ausgeprägten Maße an einen bestimmten sozialen Kontext gebunden ist und daher ein nicht fungibles und somit ein sehr spezifisches Gut darstellt. Um so aufgeregter reagieren deshalb die Menschen auf Bedrohungen seines Wertes und seiner Erzeugung, vor allem, wenn es das einzige Kapital ist, über das sie verfügen. Sobald sie aber auf andere Kapitalien zurückgreifen können, läßt sie relativ kalt, was mit dem Netzwerk ihrer Beziehungen und dem sozialen Kapital wird. Denn weil es so spezifisch ist, schränkt es den Spielraum des Handelns doch oft auch sehr ein. Menschen verlassen – so lehrt die Geschichte – sofort die Enge einer jeden „Hausgemeinschaft“, sobald sich die Gelegenheit dazu bietet. Was sie dabei an (sozialem) Kapital zerstören, kümmert sie nicht weiter, weil es sie ja nicht mehr betrifft. Zwei Arten des sozialen Kapitals Die durch Beziehungen mobilisierbaren Ressourcen sind also – ganz allgemein – das soziale Kapital eines Akteurs. Es gibt dafür auch volkstümliche Ausdrücke wie Filz oder Klüngel. Auf gut Kölsch lautet die Definition des sozialen Kapitals etwas salopp: Mer kenne uns, mer helpe uns! Und: Jot Fründe, die stonn zosamme!14 Hier klingt eine wichtige Unterscheidung an: Das soziale Kapital hat – sozusagen – zwei Gesichter. Einerseits ist es das, was ein individueller Akteur an seinen entfernten Bekannten oder seinen engeren Freunden hat, andererseits aber auch das, was das gesamte Netzwerk in seiner Struktur für alle darin einbeschlossenen Akteure leistet, beispielsweise die rasche Zirkulation von Informationen, wodurch die Einhaltung von Normen, etwa der Unterstützung eines Freundes in der Not, in einem Kollektiv deutlich erleichtert wird, auch ohne daß es großartige formelle Einrichtungen der sozialen Kontrolle geben müßte. Die Unterscheidung wird gleich deutlicher, wenn man sich einmal die Ressourcen und Leistungen ansieht, die durch Beziehungen und Netzwerke möglich sind. Sechs Arten von Ressourcen und Leistungen können – mindestens – unterschieden werden: erstens der Zugang zu Informationen und geselliger Unterhaltung über gewisse Beziehungen zwischen Akteuren; zweitens die Bereitschaft anderer Akteure, sich vertrauensvoll auf gewisse riskante Unternehmungen mit einem bestimmten Akteur einzulassen; drittens die Erbringung von Hilfeleistungen und die Gewährung von Solidarität; viertens das Vorhandensein von sozialer Kontrolle und einer gewissen Aufmerksamkeit für das Schicksal und das Tun der Akteure in einem ganzen Beziehungsystem, etwa in einer Familie, Verwandtschaft oder Nachbarschaft; fünftens 14
Hartmut Esser, Kleines Lexikon der Kölner Schule, 3., wesentlich erweiterte Aufl., Ratingen und Bergisch Gladbach 2000 (zuerst: 1990), Stichwort „Strong Ties“.
Das Kapital der Akteure
247
die Existenz eines Klimas des Vertrauens in einem Netzwerk, etwa unter den Kollegen eines Forschungsinstitutes; und sechstens die Geltung von Normen, Werten und Moral in einer Gruppe, Organisation oder Gesellschaft.
Die ersten drei Arten von Ressourcen und Leistungen unterscheiden sich von der vierten, fünften und sechsten Art in einer wichtigen Hinsicht: Der Zugang zu Informationen und zu Möglichkeiten der geselligen Unterhaltung, die vertrauensvolle Bereitschaft anderer zu riskanten Unternehmungen und zu Hilfe und Solidarität hängen stark vom vorherigen eigenen individuellen intentionalen Einsatz eines Akteurs ab und sind, wenn man die Bekannten gut genug kennt und wenn die Freunde wirkliche Freunde sind, dann fast schon so etwas wie Privatgüter, über die man fest verfügen kann, wenn man sie braucht. Das Vorhandensein von sozialer Kontrolle und Aufmerksamkeit, eines Klimas der Kooperation und des „System“-Vertrauens oder die übergreifende Geltung von Normen, Werten und Moral sind dagegen allesamt Kollektivgüter. Sie haben einen sehr viel stärker emergenten Charakter als die anderen Ressourcen und Leistungen und sind insbesondere durch individuelle Anstrengung alleine nicht zu erlangen, wie wir ja aus Kapitel 7 in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ über das Problem des kollektiven Handelns schon wissen. Beziehungskapital und Systemkapital Das soziale Kapital eines Akteurs läßt sich vor diesem Hintergrund in zweierlei Weise verstehen. Erstens als die mit Bewertungen versehene Menge von Ressourcen, an die dieser Akteur herankommen kann, weil er in unmittelbarer oder mittelbarer Beziehung zu anderen Akteuren steht, die diese Ressourcen kontrollieren, und in die er durchaus absichtsvolle „Beziehungsarbeit“ gesteckt hat, die sich, wenn alles gut geht, als „feste“ Ausstattung mit sozialem Kapital auszahlt. Diese Form des sozialen Kapitals sei daher als Beziehungskapital bezeichnet. Soziales Kapital besteht aber nicht nur als Beziehungskapital zwischen einzelnen Akteuren. Es kann – zweitens – auch als emergente Eigenschaft eines ganzen Netzwerkes bzw. eines kompletten kollektiven Systems von Akteuren angesehen werden – funktionierende soziale Kontrolle und fürsorgliche Aufmerksamkeit, Vertrauen in das „System“ insgesamt und eine übergreifende Moral, etwa in einer Gruppe, einer Organisation, einer Gemeinde, einer Region, einer ganzen Gesellschaft, auch einer Zweierbeziehung als „Ganzes“. Weil es sich bei der sozialen Kontrolle und kollektiven Aufmerksamkeit, beim Vertrauen in das ganze „System“ und bei der Geltung einer übergreifenden Moral um Eigenschaften des Beziehungssystems handelt,
248
Opportunitäten und Restriktionen
die über die Beziehungen der einzelnen Akteure hinausweisen, von ihnen nicht individuell geschaffen werden können und Aspekte einer übergreifenden „Einstellung“ der Akteure auf das jeweilige soziale System insgesamt enthalten, sei diese Form des sozialen Kapitals als Systemkapital bezeichnet. Die Unterscheidung erinnert u.a. an die Maßzahlen zur Beschreibung der Beziehungsstrukturen von Akteuren in Netzwerken einerseits – wie die Zentralität oder das Prestige – und der Strukturen ganzer Netzwerke andererseits – wie die Zentralisierung und die Hierarchisierung (vgl. Kapitel 7 oben in diesem Band). 8.6.2 Beziehungskapital Das Beziehungskapital ist in gewisser Weise die „soziale“ Verlängerung der „autonomen“ Sorten von Kapital und kann auch – fast – auf die gleiche Weise erworben und gepflegt werden, wie das ökonomische und das Humankapital: durch intentionale Akte der Investition eines einzelnen Akteurs in Beziehungen zu anderen Akteuren. Wer mehr in Kontakte investiert statt in stilles Studieren, kennt schließlich einfach mehr Menschen, hat mehr Freunde und verfügt daher im Notfall über mehr Möglichkeiten, auf ihre Hilfe zurückzugreifen, als der, der sich mehr in die Bücher verkrochen und dabei zwar u.U. viel an Humankapital angesammelt hat, aber nicht weiß, was er machen soll, wenn er einmal Unterstützung, Rat und Solidarität braucht. Beziehungen und soziales Kapital Das Beziehungskapital kann also, ganz allgemein, als „persönliche“ Ausstattung eines Akteurs angesehen werden, deren Menge und Wert auch davon abhängt, wieviel sich der Akteur darum vorher bemüht hat. Die Ausstattung eines Akteurs mit Beziehungskapital ist der Wert aller der Ressourcen und Leistungen, auf die er über seine unmittelbaren und mittelbaren Beziehungen zu anderen individuellen Akteuren zugreifen kann. Im einfachsten Fall sind das für den Akteur Ego die Ressourcen RA, die ein Akteur A kontrolliert, mit dem Ego eine Beziehung unterhält, und an die er herankommen kann, weil es die Beziehung gibt – und weil der Akteur A auch bereit ist, die Kontrolle an der Ressource abzugeben, wenn er von Ego gefragt wird. Etwa: bestimmte Informationen über einen Kollegen oder ein halbes Pfund Kaffee bei der Nachbarin, wenn unerwarteter Besuch kommt. Steht nun A wiederum mit anderen Akteuren – B und C etwa – in einer solchen Beziehung, dann hat Ego auf in-
Opportunitäten und Restriktionen
250
Das soziale Einkommen Beziehungen lohnen sich also, wie es scheint. Was ist nun aber, wenn die Aufnahme und der Unterhalt von Beziehungen etwas kostet und wenn nicht alle Ressourcen aus den Beziehungen gleich interessant sind? Genau: Weil in das Beziehungskapital mit Absicht und erfolgreich investiert werden kann und weil das, wie bei jeder Investition, mit Kosten verbunden ist, muß ein Akteur sich schon überlegen, ob er seine knappen Ressourcen für die, oft sehr aufwendige, Pflege seines Beziehungskapitals oder für andere Zwecke einsetzt. Von Gary S. Becker stammt hierzu – wieder einmal – ein interessantes Modell.15 Wir gehen wie in Abschnitt 3.1 oben in diesem Band wieder von der Idee der Nutzenproduktion durch commodities bzw. durch primäre Zwischengüter Z aus. Neben gewissen Marktgütern X trage nun aber auch die soziale Umgebung des Akteurs, die von ihm unterhaltenen Beziehungen also, zur Nutzenproduktion über die Erzeugung der commodities Z bei. Die Menge der Beziehungen, die der Akteur i unterhält, werde mit R bezeichnet. Die grundlegende Produktionsfunktion für den Nutzen der Person i lautet damit, wenn wir zunächst einmal die Zeit und die anderen Umgebungsumstände weglassen: ui = Z(X,R). Die Menge der Beziehungen R setzt sich dann aus zwei Bestandteilen zusammen: Erstens gibt es eine Grundausstattung Di des Akteurs i an Beziehungen, die er „hat“, ohne selbst etwas dafür zu tun: die Beziehungen etwa, über die der Vater eines reichen Sohnes verfügt und auf die der Sohn zurückgreifen könnte, ohne selbst etwas dafür investiert zu haben. Und zweitens gibt es die Menge h an Beziehungen, die der Akteur selbst durch eigene Investitionen erzeugt hat. Es gilt dann für R als, wie Gary S. Becker sagt, „die ‚soziale Umwelt‘ von i“ (Becker 1982d, S. 287): R = Di + h. Wenn das Geldeinkommen des Akteurs i nun I beträgt, und wenn der Preis px den Marktpreis der Güter X und der Preis pr den für die Erzeugung jeder Ein-
15
Gary S. Becker, Eine Theorie sozialer Wechselwirkungen, in: Gary S. Becker, Der ökonomische Ansatz zur Erklärung des menschlichen Verhaltens, Tübingen 1982d, S. 285ff.
Das Kapital der Akteure
251
heit der sozialen Umgebung R bezeichnen, dann gilt die folgende Budgetrestriktion: px⋅x + pr⋅h = I. Da aber die Gleichung R=Di+h, und damit h=R-Di gilt, kann man die Budgetrestriktion für die Person i auch so schreiben: px⋅x + pr(R – Di) = Ii px⋅x + pr⋅R – pr⋅Di = Ii. Und daraus ergibt sich: px⋅x + pr⋅R
= Ii + pr⋅Di = Si.
Der Ausdruck Si bezeichnet das gesamte Einkommen, das ein Akteur i hat. Es umfaßt sein Geldeinkommen I, wie das „Einkommen“ pr⋅Di, das er von seiner Grundausstattung an Beziehungen hat, umgerechnet in Geldeinkommen über die Preise pr für den Aufbau der betreffenden Beziehungen. Es ist das soziale Einkommen des Akteurs i. Die linke Seite der Gleichung px⋅x+pr⋅R beschreibt dann, wie das gesamte Einkommen des Akteurs „ausgegeben“ wird: Es wird die Menge x an Marktgütern erworben und die Menge R an Beziehungen unterhalten, wobei in R die kostenlose Grundausstattung D schon enthalten ist. In einem Diagramm kann diese Konstellation so zusammengefaßt werden (Abbildung 8.5):
Das Kapital der Akteure
253
teile in die Ausweitung des Beziehungsnetzes zu investieren. Zu einem gegebenen Preis pr für eine jede Beziehung könnte mit dem Einkommen I die Ausstattung mit Beziehungen, um einen Betrag h, aufbauend auf die Grundausstattung D, maximal bis zur Höhe S0, dem gesamten Einkommen aus I und prDi also, ausgebaut werden, jeweils natürlich unter entsprechendem Verzicht auf Marktgüter bei deren Preis px. Die Linie E0-S0 wäre demnach die Budgetgerade aller der Kombinationen von Marktgütern und Beziehungen, die mit dem Einkommen I über die Grundausstattung D hinaus zu realisieren sind. Und wieder haben wir – wie im Fall des Robinson Crusoe und seiner Entscheidung für bestimmte Güterbündel von Bier und Steaks in Kapitel 1 oben in diesem Band – ein Problem: Welche Kombination von Marktgütern und Beziehungen soll es denn sein? Und wieder wissen wir auch ohne die Einzeichnung von Indifferenzkurven und ohne die Suche nach den jeweiligen Konsumentenoptima ganz sicher: Es können nur Kombinationen innerhalb der Budgetrestriktion, also innerhalb des Dreiecks E0-D-S0 sein – beispielsweise die Kombinationen a oder b, aber nicht die Kombination c. Und wir wissen auch: Jede Änderung der Preise für die Marktgüter bzw. für die Beziehungen und jede Änderung des Einkommens bzw. der Grundausstattung mit Beziehungen verändert diese Möglichkeiten. Zeit und Beziehungsarbeit Bisher haben wir die Zeit als Ressource und als Produktionsfaktor für den Aufbau und den Erhalt von Beziehungen und zur Investition in soziales Kapital noch nicht beachtet. Aus Abschnitt 3.1 oben in diesem Band wissen wir aber, daß Zeit in der Tat Geld sein kann: Sie kostet genau das, was man hätte an Geldeinkommen erzielen können, wenn man sie bei einer Erwerbstätigkeit verbracht hätte. Kurz: Jede Zeit, die nicht zur Einkommenserzielung verwendet wird, hat ihren Schattenpreis. Gerade für die Investition in Beziehungen zu anderen Akteuren wird dieser Gesichtspunkt wichtig: Der Aufbau und die Pflege von Beziehungen ist nicht zuletzt sehr zeitintensiv, wenngleich nicht für alle Beziehungen gleichermaßen. Jede Veränderung der Schattenpreise der Zeit, die bei der Investition in Beziehungen verbracht wird, verändert daher über diese Zusammenhänge die Preise pr für den Aufbau eines Beziehungsnetzes. Und wenn der Schattenpreis der Zeit steigt, weil sich die Erwerbsarbeit mehr lohnt, dann hat das Auswirkungen auf die Investition in Beziehungen und darüber dann auch auf die Verfügung über soziales Kapital.
254
Opportunitäten und Restriktionen
Auch das läßt sich an Hand der Abbildung 8.5 leicht zeigen. Zunächst seien die Zeitkosten noch niedrig, und der Unterhalt eines Beziehungsnetzes ist bei der so gegebenen Budgetgeraden E0-S0 im Umfang etwa der Lage des Punktes b möglich. Nun steigen, so sei angenommen, die Kosten der Zeit an, etwa weil die Chancen für eine lohnende Erwerbsarbeit deutlich besser geworden sind und weil deshalb die Schattenpreise der „Beziehungsarbeit“ zugenommen haben. Wegen der steigenden Preise für die Zusatzbeziehungen h verschiebt sich die Budgetgerade auf der R-Achse nach links, und das maximale Ausmaß von möglichen Beziehungen sinkt auf den Punkt S1. Und die Folge: Die Kombination b von Marktgütern und Beziehungsnetz kann nicht mehr unterhalten werden. Und der Umfang der Beziehungen muß eingeschränkt werden.
Mit dem materiellen Wohlstand und mit der Mehrung der Chancen – und der steigenden Notwendigkeit! – für eine lukrative Erwerbsarbeit und für den Erwerb von Kapital, das kein soziales Kapital ist, werden die Beziehungen zu anderen Menschen also – vergleichsweise – teurer: Weil der Preis der Zeit ansteigt und weil Beziehungen meist viel an Zeit kosten. Nicht ohne Grund sagt plötzlich die inzwischen berufstätig gewordene Professorengattin den Tee bei der Gemahlin des Rektors ab, während sie vorher mit Begeisterung dabei war, weil sie vor lauter Langeweile ohnehin nicht gewußt hätte, wo sie sonst den Tag hätte vergeuden sollen. Und über den folgenden Spruch in einem Cartoon kann man vor diesem Hintergrund nicht nur lachen: „I’m rather fortunate. I have no parents, so Medicare is no problem, and I have no children, so the environment is no problem“. Drei Arten des Beziehungskapitals Nicht alle Ressourcen und nicht alle Arten von Beziehungen sind gleich, und entsprechend lassen sich verschiedene Arten von Beziehungskapital unterscheiden. Drei Arten sind besonders wichtig, die wir mit Positionskapital, Vertrauenskapital und Verpflichtungskapital bezeichnen möchten. Positionskapital In Beziehungskapital kann investiert werden, und wir haben gesehen, daß es dabei durchaus um „optimierende“ Entscheidungen gehen kann. Das gilt auch für die Frage, welche Art von Beziehungen klugerweise aufgebaut werden sollen und wie man sich in einem größeren System von Beziehungen geschickt einordnet, ganz einfach deshalb, weil jeder immer nur eine begrenzte Anzahl von Beziehungen unterhalten kann. Wer zum Beispiel Zugang zu möglichst vielen verschiedenen Informationen oder möglichst vielen ver-
Das Kapital der Akteure
255
schiedenen Arten der Geselligkeit sucht, sich aber nur in einem Kreis enger Freunde aufhält, die einander gut kennen und die gleichen Interessen haben, vergeudet seine Zeit, jedenfalls was diesen engen Zweck angeht. Es käme vielmehr darauf an, die mit einem gegebenen Budget an Zeit und Geld möglichen Beziehungen exakt so zu verteilen, daß mit jeder Beziehung Zugang zu einer anderen Information bzw. zu einer anderen Art der Geselligkeit möglich wird. Das ist die Grundidee des Konzeptes der strukturellen Lücken, auf englisch: structural holes, das Ronald S. Burt im Anschluß an Überlegungen von Mark Granovetter über die Bedeutung der sog. weak ties entwickelt hat.16 Eine strukturelle Lücke ist ein „Loch“ zwischen verschiedenen Netzwerken, wobei die Akteure innerhalb der Netzwerke eng miteinander verbunden sind oder immer nur Zugang zu ähnlichen Personen haben. Wegen dieser engen Verbindungen innerhalb der Netzwerke und wegen der Ähnlichkeit der Zugänge und der Personen sind die Kontakte, die man zu den verschiedenen Personen eines solchen Netzwerkes starker Beziehungen unterhält, redundant: Wenn ich schon einen Akteur kenne, weiß ich im Grunde alles auch über die anderen. Weil ich aber an möglichst viel an verschiedener Information oder Geselligkeit interessiert bin, käme es darauf an, meine Kontakte auf möglichst nicht-redundante Beziehungen zu verteilen. Und das heißt: Immer nur mit einer Kontaktperson aus einem Netzwerk Beziehungen zu unterhalten, deren Leistungen für mich nicht-redundant sind – und ansonsten auf Kontakte von der Art der strong ties zu verzichten. Das Beziehungskapital, das ein Akteur aus der – möglichst geschickten – Besetzung solcher struktureller Lücken bezieht, sei das Positionskapital des Akteurs. Es heißt so, weil es alleine durch die geschickte Positionierung in einer gegebenen Netzwerkstruktur vermehrt oder kostengünstiger unterhalten werden kann. Es erhöht sich mit der Anzahl der nicht-redundanten Kontakte und mit dem darüber mobilisierbaren Wert der Ressourcen und Leistungen in den Netzwerken, zu denen der jeweilige Zugang besteht. An einem einfachen Beispiel läßt sich zeigen, was damit gemeint ist. Geht man davon aus, daß ein Akteur Zugang zu vier, über strukturelle Lücken getrennte Netzwerke zu je vier Akteuren hat, die alle über starke Beziehungen miteinander verknüpft sind, dann würde die volle Beteiligung daran den Unterhalt von 16 Beziehungen erfordern. Von den 16 Beziehungen sind aber nur vier nicht-redundant. Der Akteur würde also für die gleiche Menge an Infor16
Ronald S. Burt, Structural Holes. The Social Structure of Competition, Cambridge, Mass., und London 1992, insbesondere Kapitel 1: The Social Structure of Competition, S. 8-49; Mark Granovetter, The Strength of Weak Ties, in: American Journal of Sociology, 78, 1973, S. 1360-1380.
Das Kapital der Akteure
257
ter und deshalb weniger nützlich sind. Ronald S. Burt hat diese Strategie des optimierenden Beziehungsmanagements ganz kühl als Empfehlung so beschrieben: „ ... select one contact in each cluster to be a primary link to the cluster. Concentrate on maintaining the primary contact, and allow direct relationships with others in the cluster to weaken into indirect relations through the primary contact. ... Repeating this operation for each cluster in the network recovers effort that would otherwise be spent maintaining redundant contacts. By reinvesting that saved time and effort in developing primary contacts to new clusters, the network expands to include an exponentially larger number of contacts while expanding contact diversity.“ (Ebd. 1992, S. 21)
Das heißt: Gibt es, wie in dem Beispiel der 16 Kontakte oben, noch redundante direkte Beziehungen zu „sekundären“ Personen in einem Netzwerk: Brich sie ab! Denn: Sie nutzen Dir nichts. Vertrauens- und Verpflichtungskapital So weit, so geschickt, aber auch so gut? Die Frage ist ja doch sofort: Warum sollte der eine primäre Kontakt eigentlich gelingen, wenn sich der betreffende Akteur in dem Netzwerk so „strategisch“ behandelt und seine guten Freunde derart als bloßes „sekundäres“ Beiwerk herabgestuft sieht? Eine Antwort darauf, warum eine Kontaktperson einwilligt, ergibt sich aus dem Positionskapital, das ein Akteur hat, selbst: Der Akteur hält gerade durch eine geschickte Positionierung „zwischen“ allen Netzwerken, die sonst nichts voneinander erfahren würden, Informationen bereit, die für die jeweilige Kontaktperson in der Regel allein deshalb von hohem Interesse ist, weil es ansonsten keinerlei Zugang dazu gäbe. Eine Kontaktperson tauscht also gewissermaßen die eigene Information gegen diejenige, die Ego aus den anderen Netzwerken hat. Gerade deshalb ist es ja so wichtig, die Kontakte nicht mit redundanten Beziehungen aufzufüllen: Die verschiedenen, ansonsten unzugänglichen Informationen und Zugänge des Akteurs, der die strukturelle Lücke füllen will, sind der Grund und die wichtigste Motivation für die primäre Kontaktperson, mit dem „Broker“ in Beziehung zu treten und selbst Informationen herauszurücken und Zugänge zu eröffnen. Nicht immer aber reicht dieses Broker-Wissen aus, um den Zugang zu eröffnen. Manchmal erscheint das Risiko zu hoch, daß eine wichtige Information an die falsche Stelle gerät, und dann wird eben diese Information nicht weitergeleitet. Oder das Interesse einer besonders interessanten Kontaktperson ist doch nicht hoch genug, daß sie sich darauf einläßt. Warum Kontaktpersonen in eine Beziehung über das bloße Interesse an der Information, die
258
Opportunitäten und Restriktionen
der Broker bereithält, hinaus einwilligen, ist erneut die Frage danach, was die Beziehungen, über die sich das soziale Kapital eines Akteurs verwirklicht, eigentlich über das bloße Kennen und über die unmittelbaren Tauschinteressen hinaus konstituiert. Etwas verschämt spricht Ronald S. Burt dieses Problem so an: „The critical decision obviously lies in selecting the right person to be a primary contact. The importance of trust has already been discussed. With a trustworthy primary contact, there is little loss in information benefits from the cluster and a gain in the reduced effort needed to maintain the cluster in the network.“ (Ebd.)
Wie aber soll dieses offensichtlich auch für das strategisch gedachte Beziehungsmanagement so nötige Vertrauen zu jemandem entstehen, den man nur über den einen punktuellen Kontakt kennt? Warum sollte der sich ferner um alles in der Welt verpflichtet fühlen, die gewünschte Information zu liefern, wenn er angegangen wird? Und wie soll es umgekehrt Vertrauen und ein Gefühl der Verpflichtung zu jemandem geben, der ganz offensichtlich nur auf seinen Vorteil bedacht ist, auf die Einbettung in ein System starker Beziehungen von Freunden offenkundig bewußt verzichtet und nur auf den Möglichkeiten und strukturellen Lücken seiner sozialen Umgebung herumsurft? Die Antwort ist einfach: Auch um in bloß „strategischer“ Absicht sein Positionskapital zu optimieren, ist ein Mindestmaß von Vertrauen und Verpflichtung in den jeweiligen Beziehungen nötig. Die Bereitschaft anderer Akteure, sich auf riskante Unternehmungen einzulassen, wie das etwa die Weitergabe einer heiklen Information oder die Empfehlung eines Bekannten ist, der einen später schwer blamieren könnte, sinkt nämlich mit dem Vertrauen, das ich bei diesen Akteuren genieße. Und daß er mir überhaupt die gewünschte Information gibt oder die Empfehlung ausspricht, kann ich auch nur dann erwarten, wenn er sich mir gegenüber verpflichtet und dadurch in besonderer Weise motiviert fühlt. Kurz: Neben dem bloßen Kennen anderer Akteure werden für die Mobilisierung der Ressourcen und Leistungen das Vertrauen des anderen und dessen Verpflichtung wichtig, die Kontrolle über die Ressourcen und Leistungen abzugeben. Mehr noch: Durch Vertrauen und durch Verpflichtungen erst gewinnen die Beziehungen zwischen den Akteuren jene unbedingte Sicherheit, die das Beziehungskapital – bei aller Komplexität, Kontingenz und dadurch erzeugter Fragilität jeder „Beziehung“ – zu einem festen „Kapital“ mutieren läßt, das „wie“ ein Privatgut „besessen“ werden kann. Es ist das gleiche Problem wie das der Entstehung eines generalisierten Tausches: Es muß etwas dazukommen, das über die bilateralen Tauschinteressen hinausgeht. Und obendrein sind manche Ressourcen und Leistungen nur darüber zu erlangen: Die
Das Kapital der Akteure
259
Einwilligung in riskante Unternehmungen beruht vor allem auf Vertrauen, zeitlich nicht bestimmbare Leistungen, wie Hilfe und Solidarität in Notfällen, auf Verpflichtungen. Das Vertrauen, das ein Akteur Ego bei anderen Akteuren genießt, ist somit selbst eine Art von Kapital. Es ist die Erwartung des jeweils anderen Akteurs, daß ein von ihm dem Ego entgegengebrachtes Vertrauen gerechtfertigt ist und nicht mißbraucht wird. Wenn R der Gewinn aus einem Unternehmen ist, den ein Akteur ziehen kann, wenn er dem Ego vertraut, und P der Verlust, wenn Ego das Vertrauen mißbraucht, wenn ferner p der Grad der Erwartung ist, daß Ego das Vertrauen rechtfertigt, und entsprechend (1-p), daß er es mißbraucht, dann ist die Nutzenerwartung EU(V) für die Plazierung des Vertrauens in Ego gleich p⋅R, und die für die Plazierung von Mißtrauen EU(M) gleich (1-p)P. Als Bedingung für die Plazierung des Vertrauens gilt dann, wegen der Bedingung EU(V)>EU(M), die Schwellenwertbedingung R/P>(1-p)/p (vgl. dazu bereits das „Vertrauensmodell“ in Abschnitt 3.2 von Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“, sowie in Abschnitt 7.5 oben in diesem Band). Und daraus wird deutlich, daß bei einer hohen Vertrauenserwartung p auch bei der Möglichkeit sehr starker Verluste dennoch das Vertrauen plaziert wird.
Genau das aber hilft, auch dann Ressourcen und Leistungen, wie eine heikle Information, zu erhalten, wenn die „Kosten“ wegen des Mißbrauchsrisikos hoch sind und die rein „strategische“ Motivation nicht ausreicht, um dies auszugleichen. Die über eine Reputation als „vertrauenswürdig“ aktivierbaren Ressourcen und Leistungen anderer Akteure sei als das Vertrauenskapital eines Akteurs bezeichnet (vgl. dazu bereits den Exkurs über die Ehre in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Es setzt sich aus der Höhe der jeweiligen Erwartung p, dem Wert der jeweils aktivierbaren Ressourcen und Leistungen und – natürlich – der Anzahl der Beziehungen zusammen. In ähnlicher Weise kann ein Akteur Verpflichtungskapital besitzen. Der Grad, in dem sich ein Akteur Ego einen anderen Akteur verpflichtet hat, ist – sozusagen – eine Funktion der Menge der „credit slips“, der Schuldscheine, die er, Ego, dem anderen Akteur gegenüber hält. Die Verpflichtung ist eine zusätzliche Motivation des verpflichteten Akteurs, die Ressource abzugeben oder die Leistung zu erbringen. Sie speist sich nicht zuletzt aus dem Wissen, daß mit der Verletzung der Verpflichtung der jeweils andere Akteur in Zukunft seinerseits keine Leistungen mehr erbringen wird. Es steht – gewissermaßen – der Kooperationsgewinn des ganzen „Systems“ auf dem Spiel. Das Verpflichtungskapital eines Akteurs bestimmt sich dann – analog zum Vertrauenskapital – aus der Höhe der Verpflichtungen der anderen Akteure ihm gegenüber, dem Wert der darüber aktivierbaren Ressourcen und Leistungen und der Anzahl der Beziehungen, die er unterhält.
260
Opportunitäten und Restriktionen
Wie entstehen nun aber Vertrauen und Verpflichtungen und das daran gebundene Beziehungskapital? Wir wissen es längst aus Kapitel 5 und 11 in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“, insbesondere über das Entstehen von generalisiertem Tausch und von Reziprozität: Vertrauen entsteht über die zur Gewohnheit gewordene Verläßlichkeit von Akteuren, Versprechungen zu halten, und Verpflichtungen entstehen durch das Erbringen von Vorleistungen, die den anderen sichtbar und merklich in die Schuld setzen. Dieses alles wiederum gibt es nicht aus reinem Altruismus heraus, sondern aus bestimmten Interessen an der Beziehung und über gewisse Absicherungen, daß die (Vor-)Leistungen nicht einseitig ausgebeutet werden und ein Brechen des Versprechens oder eine Verletzung der Verpflichtung bemerkt wird. Vertrauen und Verpflichtungen werden schließlich, wenn es die gegenseitigen Leistungen eine Zeit lang gegeben hat und als nützlich empfunden wurden, von einer eigenen Moral unterstützt, von einer affektiv gefärbten Einstellung der gegenseitigen Orientierung also, die das ganze System auch dann erhält, wenn einmal die Interessen schwächer geworden, die Absicherungen nicht lückenlos und die Vorleistungen etwas einseitig geworden sind. Und wann gibt es das alles, die Interessen, die Absicherungen und die stützende Moral? Auch das wissen wir schon: Wenn die Dependenz der Akteure voneinander hoch ist, wenn die Akteure eine unbefristete gemeinsame Zukunft erwarten, wenn es keine Alternativen gibt, wenn es keine Störungen von außen und keine Änderungen gibt und wenn die Akteure allesamt in ununterbrochenem Kontakt zueinander stehen. Und das ist vornehmlich – oder gar: nur – in Netzwerken starker Beziehungen der Fall.
Damit aber wird das Problem des Beziehungskapitals offenbar: Jede „intentionale“ und „strategische“ Investition in eine Beziehung muß wenigstens so tun, als ginge es um mehr als nur um die Optimierung der Zugänge und um die eigensüchtige Kontrolle der Ressourcen anderer. Der Aufbau von Vertrauen durch Verläßlichkeiten und die Errichtung von Verpflichtungen durch Vorleistungen vertragen offen vorgetragene „rationale“ und „egoistische“ Erwägungen nicht. Sobald auch nur der Hauch eines „strategischen“ Handelns auf die Beziehung fällt, ist die Investition umsonst. Und deshalb allein kann ein wirklich „rationaler“ Akteur nicht alles an Beziehungskapital bloß über schwache Beziehungen anzusammeln versuchen. Er muß auch ein paar wirklich gute Freunde haben, die man mit deren Freunden des öfteren sieht und die man nicht nur als Mittel zum Zweck der Optimierung des Beziehungskapitals ansieht, obwohl sie es – über den reinen intrinsischen Gewinn hinaus – natürlich sind. Die schwierige Komposition des Beziehungskapitals Damit wird das Problem deutlich: Schwache Beziehungen sind für den Zugang zu nicht-redundanten Informationen und unterschiedlicher Geselligkeit günstig, starke für die Entstehung von Vertrauen und Verpflichtungen. Aber auch der geschickteste Positions-Surfer muß sich auf einen gewissen Anteil starker Beziehungen einlassen, damit man ihm vertraut und verpflichtet ist. Und schon gibt es wieder ein schwieriges und interessantes Optimierungs-
Das Kapital der Akteure
261
problem: Wie sollte die Komposition meines Netzwerkes aus starken und schwachen Beziehungen aussehen, damit ich meine Ausstattung mit Beziehungskapital – und mit den anderen Formen des Kapitals! – so gestalte, daß die Produktion des Nutzens optimal wird? Kaum etwas hat die Menschen erfinderischer gemacht als die Lösung dieses Problems der Optimierung des Beziehungskapitals angesichts seiner Vieldimensionalität: Weihnachtskarten und die vielen kleineren Geschenke, die die Freundschaft auch aus der Distanz erhalten, Fotos mit Frau, Kind und Hund in der Anzeige des Immobilienhais, Arbeitsessen und gemütliche Abende mit eigens georderten Bardamen, Amigo-Reisen, Karnevalsvereine, Rotary- und Lion-Clubs, Alumnivereinigungen und die Rituale des Mittagessens in der Mensa, Teerunden der GattInnen der DekanInnen usw. sind sämtlich Ergebnisse zur Lösung dieses komplizierten Optimierungsproblems. Viele gar nicht so geplante Zusammenkünfte und Aktivitäten haben unintendiert diese Funktion. So hat beispielsweise das Inzesttabu bei Stammesgesellschaften dafür gesorgt, daß sich – eigentlich sehr riskante – ökonomische Beziehungen über die Stammesgrenzen hinaus entwickelten. Man merkt diese latenten Funktionen erst, wenn die das Problem unbemerkt lösenden, unbeabsichtigten Folgewirkungen ausbleiben: Es gibt die Absolventenfeiern wieder, weil die Universitäten plötzlich Probleme mit dem Landtag bekommen, dessen Abgeordnete die Universität nicht gerade als gastlichen Ort erlebt haben, den sie jetzt mit Milliardenbeträgen unterstützen sollen. Es gibt hunderttausend andere Varianten der Lösung des Problems und der Folgen seiner Nicht-Lösung. Keineswegs alle werden nur als Zumutung oder als investive Beziehungsarbeit angesehen. Aber die Wirkung ist genau die: eine Investition für ein äußerst nützliches Gut, von dem man oft erst merkt, wie wichtig es ist, wenn die Beziehung zerbricht und alles damit verbundene Beziehungskapital plötzlich nicht mehr da ist.
Ganz so kompliziert und vieldimensional ist – gottlob – die Angelegenheit dann empirisch doch wieder nicht: Freundschaften und Bekanntschaften sind ja meist nicht das Ergebnis kalkulierter Investitionen. Hilfreiche soziale Netzwerke sind vor allem ein Nebenprodukt anderer Aktivitäten und – insbesondere – durch das „an sich“ schon sehr begehrte Kommunalgut der Geselligkeit motiviert. Sie werden meist ganz ohne instrumentelle Nebenabsicht aufgebaut und unterhalten. Und das ist auch ganz klug so: Freunde, die merken, daß man sie nur für den Notfall vorhält, sind bald keine mehr. Die Freude am Karneval bringt die Oberen der Stadt Köln wirklich aus Spaß an d’r Freud – und natürlich am Besäufnis – zusammen, die dann zum Wohl der Stadt – wie zu ihrem eigenen – wunderbar und unauffällig klüngeln können. Und beim Rektorball treffen die eigentlich ganz gestreßten Professoren, die von ihren wirklich am Tanzen interessierten Begleiterinnen hingeschleppt wurden, am Tisch zufälligerweise auf eine ganz aufgeschlossene Bankiersgattin aus der lokalen Szene, die dann wiederum auf ihre Weise hilft, ein ansonsten übersehenes Projekt zum Wohle der Universität auf die Beine zu stellen.
Der Wohlstand der Menschen und deren abnehmende Dependenz voneinander untergräbt – leider – die Gelegenheiten zur unauffälligen und kostengünstigen Schaffung von Beziehungen und zur zwanglosen „Optimierung“ der Kompo-
262
Opportunitäten und Restriktionen
sition des Netzwerkes. Man trifft sich nicht mehr, weil man sich nicht mehr braucht, und weil die Schattenpreise der „nutzlosen“ Geselligkeit höher geworden sind. Vielmehr sitzt man materiell gut versorgt, aber einsam und gelangweilt vor der Glotze. Das Ergebnis ist derzeit gut zu beobachten: Auch wenn die Menschen Geselligkeit sehr schätzen und durchaus viele Freunde haben wollen, zerstört der Wohlstand die strukturelle Grundlage dafür, daß man sich zwanglos und unaufwendig trifft und so – nebenbei und ganz unbeabsichtigt – auch ein soziales Netz von starken und schwachen Beziehungen aufbaut, in dem das Beziehungskapital verankert ist. Und was nicht nebenbei und daher auch nicht wirklich „authentisch“ erzeugt wird, muß auf eigens entstehenden Märkten für teures Geld als Instant-Produkt mit meist nur geringer Halbwertszeit und etwas schalem Geschmack bezogen werden. Beziehungskapital und positive Verbundenheit Macht bedeutet die ungleiche Kontrolle interessanter Ressourcen unter Akteuren. Das Beziehungskapital ist etwas anderes: Es ist der Zugang zu den Ressourcen, die andere Akteure kontrollieren, und dieser Zugang muß aus „mehr“ bestehen als aus der bloßen „Macht“, die ein Akteur über einen anderen hat. Vor allem darf der Zugang nicht auf grundsätzlich knappen, nicht vermehrbaren Ressourcen beruhen. Es muß sich, worauf schon in Kapitel 11 in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ und in Kapitel 7 oben in diesem Band hingewiesen wurde, bei den Beziehungen zwischen den Akteuren um positive Verbundenheiten handeln. Informationen wie beim Positionskapital und Vertrauen und Verpflichtungen wie beim Vertrauensund beim Verpflichtungskapital begründen solche positiven Verbundenheiten. Und deshalb hat das Beziehungskapital auch jene wundersame Eigenschaft, die die „reine“ Macht eben nicht hat: Es vermehrt sich mit der Macht und dem Beziehungskapital der anderen Akteure. Kein Wunder, daß Filz und Klüngel so beliebt sind und – letztlich – jede bloße Macht als „ontolistische“ Kontrolle interessanter Ressourcen auszustechen vermögen. 8.6.3 Systemkapital Beziehungskapital kann – in gewissen Grenzen, wie wir gesehen haben – intentional und sogar „optimierend“ angesammelt werden. Das ist beim Systemkapital ganz anders. Das hat zwei Gründe. Erstens hat sich der „Besitz“ des sozialen Kapitals ganz von den einzelnen Akteuren abgelöst, obwohl das
Das Kapital der Akteure
263
Systemkapital natürlich nur durch sie und durch die Beziehungen zwischen ihnen existiert. James S. Coleman hat das so ausgedrückt: „As an attribute of the social structure in which a person is embedded, social capital is not the private property of any of the persons who benefit from it.“ (Coleman 1990, S. 315; Hervorhebungen nicht im Original)
Zweitens entsteht, auch: daher, Systemkapital nicht unmittelbar durch individuelle intentionale Bemühungen. Vom Systemkapital profitieren, anders als beim Beziehungskapital, alle Akteure eines Netzwerkes oder Kollektivs, auch diejenigen, die in dieses Kapital nicht investiert haben. Und von dem Verfall dieses Kapitals sind auch wieder alle betroffen, auch die, die sich zuvor um seinen Aufbau bemüht haben und weiter an seinem Bestand interessiert sind. Das Problem hat Andreas Diekmann so beschrieben: „Die Mitglieder einer sozialen Gruppe profitieren zwar von der Bereitstellung von Sozialkapital, haben aber individuell keinen Anreiz, aus Gründen der Kooperationsförderung in Sozialkapital zu investieren.“17
Kurz: Das Systemkapital ist ein Kollektivgut, genauer: ein Öffentliches Gut, dessen Produktion, wie wir aus Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ wissen, nicht nur von den Interessen der Akteure allein abhängt. Systemkontrolle, Systemvertrauen, Systemmoral Drei Arten von Systemkapital wurden zu Beginn dieses Abschnittes unterschieden: funktionierende soziale Kontrolle und kollektive Aufmerksamkeit, das Vorhandensein eines übergreifenden Vertrauens in die Kooperationsbereitschaft der Akteure und in das „Funktionieren“ des Systems insgesamt sowie die übergreifende Geltung von Werten, Normen und Moral. Das Ausmaß der in einem „System“ von Beziehungen vorhandenen sozialen Kontrolle und kollektiven Aufmerksamkeit sei als die Systemkontrolle, das übergreifende, auf das gesamte „System“ bezogene Vertrauen als das Systemvertrauen und die Geltung von Werten, Normen und Moral als die Systemmoral eines Netzwerkes oder Kollektivs bezeichnet. Systemkontrolle entsteht, wenn die Informationen über das Verhalten der Mitglieder in einem Netzwerk rasch und vollständig zirkulieren und es somit unwahrscheinlich wird, daß jemand sich „abweichend“ verhält, ohne daß das 17
Andreas Diekmann, Sozialkapital und das Kooperationsproblem in sozialen Dilemmata, in: Analyse und Kritik, 15, 1993, S. 32.
264
Opportunitäten und Restriktionen
auffiele. Es ist die „monitoring capacity“ einer Gruppe oder Organisation, die es erlaubt, Probleme des kollektiven Handelns leicht zu überwinden, weil dann niemand unbemerkt den free rider spielen kann, und auch rasch bekannt wird, wer sich für die Allgemeinheit selbstlos einsetzt und Anerkennung verdient hat. Systemkontrolle ist, wenn es keine Else Kling gibt, die den Job gerne alleine erledigt, die unmittelbare Folge einer bestimmten Netzwerkstruktur: hohe Dichte, Geschlossenheit und Stabilität der Beziehungen (vgl. dazu insgesamt schon Kapitel 7 oben in diesem Band). Nicht immer wird die Systemkontrolle als angenehm erlebt. Wer einmal in der geschlossenen Gesellschaft eines Eifeldorfes, in der Lindenstraße oder einer Wohngemeinschaft gelebt hat, weiß, was gemeint ist. Systemvertrauen ist ein diffuses, nicht auf einzelne Akteure bezogenes Vertrauen in das Funktionieren des Systems insgesamt.18 Es kann sich vor dem eher „technischen“ Hintergrund einer funktionierenden Systemkontrolle bilden: Wer immer ein ihm entgegengebrachtes Vertrauen nicht rechtfertigt, muß damit rechnen, daß er die Kooperationsbereitschaft der anderen zum letzten Male ausgenutzt hat. Und das wissen oder erfahren bei einer funktionierenden Systemkontrolle alle anderen, so daß jeder der Akteure nahezu sicher sein kann, daß eine Vorleistung nicht ausgebeutet oder ein free rider nicht entdeckt wird. Mit der Entstehung von Systemvertrauen wird das Funktionieren des Systems von Strukturen des Informationsflusses jedoch unabhängiger: Systemvertrauen überbrückt gewisse Lücken in der Systemkontrolle, wenngleich nicht endlos. Systemmoral ist die Verbreitung einer alle Akteure übergreifenden „Moral“ der gegenseitigen Verpflichtung bzw. die „Geltung“ von Normen und Werten ganz allgemein. Systemmoral besteht aus einer besonderen, orientierenden und handlungssteuernden „Einstellung“, mit der die Akteure die ganze Situation sehen und ihr Handeln den Imperativen der jeweiligen Werte unterordnen. Moral, Norm- und Wertgeltung konstituieren damit eine soziale Beziehung der gegenseitigen Orientierung über die besonderen Beziehungen des jeweiligen Netzwerkes hinweg. Gibt es eine derartige Moral, Norm- und Wertgeltung einmal, ist die Gefahr der Verstrickung in soziale Dilemmasituationen deutlich vermindert. Und so können auch die Kosten und Risiken aller möglichen kollektiv wie individuell nützlichen Transaktionen drastisch gesenkt werden (vgl. dazu auch noch Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Das ist wohl die wichtigste Leistung der Systemmoral. Ar18
Vgl. zu dieser auf das Funktionieren ganzer gesellschaftlicher Systeme bezogenen Bedeutung des Konzeptes des Vertrauens u.a.: Francis Fukuyama. Trust. The Social Virtues and the Creation of Prosperity, New York u.a. 1995; Barbara A. Misztal, Trust in Modern Societies. The Search for the Bases of Social Order, Cambridge 1996.
Das Kapital der Akteure
265
beitsgruppen mit einer hohen Leistungsmoral oder Gesellschaften mit ausgeprägtem Bürgersinn wären Beispiele dafür. Nicht nur der Vollständigkeit halber sei noch angefügt, daß die Systemmoral – wie die Systemkontrolle und das Systemvertrauen – auch Kollektivübel sein können:19 Die Geltung einer Moral der Ganovenehre macht zum Beispiel das organisierte Verbrechen leichter, die fundamentalistische Moral von terroristischen Vereinigungen setzt deren Verstand ganz außer Kraft, und die stets sorgfältig verschwiegenen „Werte“ des kölschen Klüngels, des roten Filzes im Ruhrgebiet und des „Systems Kohls“ sind auch nicht gerade das, was man unbedingt ein Kollektivgut nennen müßte. Mit der Etablierung einer übergreifenden Systemmoral ist das Kollektiv von den strukturellen Bedingungen des Informationsflusses – Dichte, Geschlossenheit und Stabilität des Netzwerkes – noch ein Stück unabhängiger als beim Systemvertrauen. Systemmoral entsteht aber gleichwohl wiederum nur vor dem Hintergrund dieser strukturellen Bedingungen einer funktionierenden Systemkontrolle und eines zirkulierenden Systemvertrauens. Systemkapital und komplexe Gesellschaft So gesehen stößt die Erzeugung von Systemmoral, wie des Systemkapitals insgesamt, in großen und komplexen Gesellschaften an deutliche strukturelle Grenzen. Diese Grenzen können – in gewissen Grenzen! – so überwunden werden wie das Problem des kollektiven Handelns in größeren Gruppen nach Mancur Olson (vgl. Kapitel 7 in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“): selektive Anreize für Kontrolle, Vertrauen und Moral oder die Vernestung und Überkreuzung von gesellschaftlichen Sub-Einheiten, in und zwischen denen sich das Kollektivgutproblem wieder etwas leichter lösen läßt. Aber auch das wird, so scheint es, immer schwieriger. Mancherlei Verfallserscheinungen der modernen Demokratien und Unterschiede in der Entwicklungsfähigkeit von Gesellschaften, etwa zwischen Nord- und Süditalien, werden unter Hinweis auf die (Nicht-)Existenz dieser Art des „kollektiven“ sozialen Kapitals erklärt.20 Nach wie vor ist jedoch unklar, wie die Mecha19
20
Vgl. dazu etwa Alejandro Portes und Patricia Landolt, The Downside of Social Capital, in: The American Prospect, 94, 1996, S. 18-21. So insbesondere Robert D. Putnam, Making Democracy Work. Civic Traditions in Modern Italy, Princeton, N.J., 1993, insbesondere Kapitel 6: Social Capital and Instituional Success, S. 163-185; vgl. kritisch dazu u.a. Pamela Paxton, Is Social Capital Declining in the United States? A Multiple Indicator Assessment, in: American Journal of Sociology, 105, 1999, S. 88-127.
266
Opportunitäten und Restriktionen
nismen aussehen sollen, die den Bürgersinn in großen und komplexen Gesellschaften erblühen lassen sollen. Und es ist nicht weniger umstritten, ob es des Bürgersinns für den Erhalt und das Funktionieren dieser Gesellschaften überhaupt bedarf. Vielleicht erhalten sich die großen komplexen Gesellschaften der Moderne ja ohnehin auf eine ganz andere Weise als über Systemkontrolle, Systemvertrauen und Systemmoral: als gigantisches Netzwerk von Interdependenzen und eher als „Markt“ statt als eine übergreifende gesellschaftliche Einheit, in der noch Kontrolle, Vertrauen und Moral vonnöten wäre, damit sie nicht verfällt (vgl. dazu bereits Abschnitt 5.5 in Band 3, „Soziales Handeln“, sowie Kapitel 6 in Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“ über die Ordnung und Integration komplexer Gesellschaften). Und das Problem der chronischen Unterentwicklung und des amoralischen Familismus in Süditalien, um den Fall aufzugreifen, mit dem sich Robert D. Putnam beschäftigt, ist daher vielleicht auch weniger eines der Unterausstattung mit Systemkapital als eines, das damit zu tun hat, daß es die übergreifenden Interdependenzen und damit das wohl wichtigste Merkmal einer „modernen“ Gesellschaft kaum, wohl aber üppiges Systemkapital in den lokalen und an Verwandtschaften gebundenen gesellschaftlichen Einheiten gibt, vor dessen Hintergrund sich eine funktionale gesellschaftliche Differenzierung von alleine nur schwer durchsetzen kann. Systemkapital, Systemleistungen und Dependenz Die Systemkontrolle bildet so etwas wie die „technische“ Basis des Systemkapitals. Das Systemvertrauen und erst recht die Systemmoral sind aber deren Überbau. Ohne funktionierende Systemkontrolle müssen Systemvertrauen und Systemmoral schließlich verfallen. Systemmoral und Systemvertrauen sind gut, Systemkontrolle ist besser. Das ist die eine Seite. Daneben sind es aber wiederum auch die als belohnend und problemlösend erlebten Leistungen des Systems, die die Akteure dazu bringen, sich der Systemkontrolle zu fügen, dem Systemvertrauen zu folgen und der Systemmoral zu entsprechen. Diese Systemleistungen sind die Kooperationsgewinne im Kollektiv, die niemandem individuell zugeschrieben werden können, aber von den kollektiven Leistungen der Akteure abhängig sind. Gibt es die Leistungen, dann erhalten sich auch das Systemvertrauen und die Systemmoral. Der strukturelle Hintergrund bleiben freilich stets die Systemkontrolle und die dafür nötigen strukturellen Bedingungen: Dichte, Geschlossenheit und Stabilität des Netzwerkes. Und dahinter steckt wieder die Bedingung, die wir schon bei der Entstehung der sozialen Ordnung ganz allgemein feststellen konnten (vgl. Kapitel 5 in Band
Das Kapital der Akteure
267
3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ insgesamt): das Fehlen von Alternativen und die Dependenz der Akteure von den Leistungen genau dieses Systems. Meist wissen die Akteure freilich nicht, daß sie die Nutznießer einer solchen strukturellen Anordnung und von den Leistungen des Systems abhängig sind. Und dann tun sie manchmal etwas, was unbeabsichtigt die Systemkontrolle, die Leistungen des Systems und darüber auch das Systemvertrauen und die Systemmoral zerstört. James S. Coleman schildert ein wohl nicht allzu seltenes Beispiel: „For example, where there exists a dense set of associations among some parents of children attending a given school, these involve a small number of persons, ordinarily mothers who do not hold full-time jobs outside the home. Yet these mothers themselves experience only a subset of the benefits of this social capital generated for the school. If one of them decides to abandon these activities, for example, to take a full-time job, this may be an entirely reasonable action from a personal point of view, and even from the point of view of her household and children. The benefits of the new activity for her far may outweigh the losses which arise from the decline in associations with other parents whose children attend the school. But her withdrawal from these activities constitutes a loss to all those other parents whose associations and contacts are dependent on them.“ (Coleman 1990, S. 316)
Ähnliche Effekte kann der Wegzug auch nur einer Familie aus einem bis dahin gut funktionierenden Bekanntschaftsnetz oder die Wegberufung eines bestimmten Kollegen aus einer bis dahin harmonierenden Fakultät haben. Unter ungünstigen Umständen bricht dann das ganze Beziehungssystem und die gesamte Produktion von Systemleistungen zusammen. Und alle wundern sich, was geschehen ist und trauern den alten Zeiten hinterher, in denen jeder noch jedem traute und das Leben so wunderbar leicht erschien. 8.6.4 Eine Zusammenfassung Das soziale Kapital ist der Wert aller der Ressourcen und Leistungen, die ein Akteur durch seine Einbettung in Beziehungen zu anderen Akteuren erlangen und kontrollieren kann. Zwei Arten von sozialem Kapital wurden zunächst unterschieden: Beziehungskapital und Systemkapital. Für sein Beziehungskapital kann jeder einzelne Akteur intentional etwas tun: Er kann sein Positionskapital durch die geschickte Überbrückung von strukturellen Lücken steigern, er kann durch Verläßlichkeit und sichtbare Bindungen sein Vertrauenskapital erhöhen, und er kann durch Vorleistungen, die andere Akteure in seine Schuld setzen, Verpflichtungskapital aufbauen. Das Systemkapital entsteht und besteht demgegenüber eher auf emergente Weise. „Individuelle“ Intentionen alleine sind nicht ausreichend. Eine funktionierende Systemkontrolle und
Das Kapital der Akteure
269
Beziehungskapital (Linien): Positionskapital Vertrauenskapital Verpflichtungskapital
........... – – –
_________
Systemkapital (Umrandungen): Systemkontrolle Systemvertrauen Systemmoral
.......... – – –
________
In der Darstellung ist beim Systemkapital immer nur die „weitestgehende“ Form eingezeichnet: Systemmoral vor Systemvertrauen und Systemkontrolle. Angenommen wird dabei jeweils, daß die „darunter“ liegenden, „materielleren“ Formen des Systemkapitals jeweils auch gegeben sind: Systemvertrauen beruht auf Systemkontrolle, und Systemmoral auf Systemvertrauen.
Zwei voneinander getrennte Netzwerke mit jeweils drei Akteuren werden betrachtet. Sie sind über den Akteur Ego miteinander verbunden. Ego ist eine Liaison-Person, die die strukturelle Lücke zwischen den beiden – mehr oder weniger – geschlossenen Netzwerken schließt. Das tut Ego, so wollen wir annehmen, um damit sein Positionskapital zu erhöhen. Genau deshalb unterhält er auch, den Regeln zum Beziehungsmanagement von Burt folgend, auch nur Kontakt zu jeweils einem Mitglied der beiden Netzwerke, möglichst zu einem solchen, das einen „primären“ Kontakt in das Netzwerk hinein ermöglicht. Ego kennt den A, ist mit ihm aber auch über Vertrauen und Verpflichtungen verbunden. Den E aus dem anderen Netzwerk kennt er dagegen nur, Vertrauen und Verpflichtungen gibt es in dieser Beziehung nicht. Von A darf Ego daher erwarten, daß der ihn ggf. auch mit heiklen Informationen bedient, bei E ist das unsicher, weil der keinen Grund hätte, Ego zu helfen, zumal dann, wenn E es sich dadurch mit seinen guten Freunden D und F verderben würde. Die Akteure A, B und C bilden, wie man sieht, das eine Netzwerk. Hier herrscht, den Ego einbeziehend, ein gewisses Systemvertrauen, von dem alle profitieren würden, wenn es um ein kollektives Unternehmen ginge. Das Systemvertrauen ist aber nur teilweise durch eine dichte Netzwerkstruktur gesichert: A, B und C kennen sich, aber Ego steht etwas außerhalb. Diese Unvollständigkeit des Netzwerkes erzeugt strukturelle Probleme des raschen Informationsflusses, so daß zu erwarten ist, daß die Produktion der Systemkontrolle irgendwann leidet und darüber dann auch das Systemvertrauen. Deshalb könnte Ego recht bald nicht mehr in den Genuß des Systemvertrauens von B und C kommen, wenngleich die bilaterale Vertrauensbeziehung zu A zunächst erhalten bleiben dürfte. Es könnte jedoch auch sein, daß das gesamte Systemkapital zusammenbricht, weil sich aus den Störungen des Informationsflusses Irritationen in die Beziehungen einschleichen, die auch die anderen Beziehungen schließlich tangieren. Das ist ganz anders in dem zweiten Netzwerk. Hier sind alle drei Akteure – D, E und F – über die Beziehungen des Kennens, des Vertrauens und der Verpflichtung lückenlos verbunden. Und – auch: infolgedessen – gilt eine feste Systemmoral für das Netzwerk, abgesichert durch die Dichte und die Geschlossenheit der Beziehungen und durch das Beziehungskapital der miteinander verbundenen individuellen Akteure, und durch die dadurch wiederum mögliche Systemkontrolle und das dadurch erzeugte Systemvertrauen. Welche Folgen der etwas dünne Kontakt von E zu dem „Fremden“ Ego hat, läßt sich leicht vorstellen. Entweder muß sich Ego um weiteres Positionskapital bemühen, damit E sein Interesse an der Beziehung zu ihm nicht verliert, besonders dann, wenn die Informationen aus
270
Opportunitäten und Restriktionen
dem Netzwerk A-B-C so interessant nicht sind. Oder aber Ego wird auch Vertrauen und Verpflichtungen mit E aufbauen müssen. Und damit das geschieht, kommt Ego an den guten Freunden seines primären Kontaktes E nicht gänzlich vorbei.
Die verschiedenen konkreten Ressourcen und Leistungen, die das soziale Kapital ausmachen, können den sechs speziellen Arten des sozialen Kapitals zugeordnet werden. Nicht-redundante Information und vielfältige Geselligkeit gibt es eher über das Positionskapital, die Bereitschaft anderer, sich auf riskante Transaktionen einzulassen, hängt vom Vertrauenskapital eines Akteurs ab, und Hilfe und Solidarität sind ohne vorherige Ansammlung von Verpflichtungskapital kaum zu erwarten. Systemkontrolle, Systemvertrauen und Systemmoral sind „kollektiv“ verfügbare und kollektiv erzeugte Ressourcen: soziale Kontrolle und kollektive Aufmerksamkeit für Abweichungen und, das sei nicht übersehen, für altruistische Vorleistungen; eine hohe generalisierte Bereitschaft zu Vorleistungen ohne die lästige Nachfrage nach dem „Ausgleich“ im Vertrauen auf das Funktionieren eines generalisierten Tausches; und die fraglose Geltung von Werten, Normen und Moral, die kollektives Handeln ohne jede „rationale“ Überlegung ermöglicht. Die Mechanismen und die strukturellen Bedingungen der Akkumulation und der Entstehung von sozialem Kapital in seinen insgesamt sechs Varianten lassen sich ferner so zusammenfassen. Sofern intentionale individuelle Investitionen, wie besonders beim Positionskapital, betroffen sind, gelten die Regeln der Nutzenmaximierung: Verzichte auf den Erwerb von Marktgütern solange, wie sich der Aufbau und Unterhalt einer Beziehung lohnt! Und ordne Deine Beziehungen im Netzwerk strukturell so an, daß möglichst viel an (Positions-)Kapital mit Deinen Mitteln zu erlangen ist! Positionskapital wird also durch eine geschickte Form des Beziehungsmanagements angesammelt. Hierfür ist die Einbindung in möglichst viele und möglichst nicht-redundante weak ties günstig. Das Vertrauenskapital wird durch Verläßlichkeit und sichtbare Commitments, das Verpflichtungskapital durch erkennbare und zuschreibbare Vorleistungen und durch die Ansammlung von credit slips erzeugt. Hierfür sind eher Strukturen von strong ties geeignet, weil darüber am ehesten die Verläßlichkeit erkannt, eine Vorleistung zweifelsfrei zugeschrieben und eine Verletzung des Vetrauens und der Verpflichtung kontrolliert werden kann. Die Entstehung von Systemkontrolle hängt von der Geschwindigkeit und Vollständigkeit des Informationsflusses ab. Das Systemvertrauen bildet sich, ebenso wie eine Systemmoral, über die Erfahrung einer gewissen Systemleistung, und sie wirken beide als eine besondere, orientierende Einstellung, mit der die Akteure ihre Situation auch unabhängig vom Handeln konkreter einzelner Akteure sehen. Will man hier Systemvertrauen und Systemmoral unterscheiden, dann hängt das Systemvertrauen eher von der Erfahrung einer kontinuierlichen Systemleistung ab, während die Systemmoral alle Eigenschaften einer orientierenden und die Situation fest definierenden „Einstellung“ hat, die auch dann noch eine Zeit bestehen bleibt, wenn es Einbrüche bei der Systemleistung gibt. Die strukturellen Bedingungen für alle drei Formen des Systemkapitals sind die Dichte, die Geschlossenheit und die Stabilität des gesamten Systems einerseits und die Dependenz der Akteure von den Leistungen des Systems andererseits.
Das Kapital der Akteure
271
Weil alle Formen des sozialen Kapitals, auch die des Beziehungskapitals und letztlich sogar das Positionskapital, Eigenschaften eines „kollektiven“ Gutes haben, werden für jede Form des sozialen Kapitals, die ein Akteur erwerben oder behalten möchte, die Produktionsbedingungen wichtig, die für die Produktion kollektiver Güter ganz allgemein gelten. Es sind die Bedingungen der Evolution der Kooperation unter rationalen Egoisten bzw. die eines Systems des generalisierten Tausches (vgl. dazu Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ausführlich). Und das heißt: Die Investition bzw. die (Vor-)Leistung muß sich in the long run lohnen, es darf keine attraktiven Alternativen geben und es muß – irgendwie – gewährleistet sein, daß eine einseitige Vorleistung nicht ausgebeutet wird. Das gilt schon für die eher individuelle Form des sozialen Kapitals, das Beziehungskapital, erst recht aber für die kollektive Form, das Systemkapital. In der Abbildung 8.8 sind alle diese Unterscheidungen von Formen des sozialen Kapitals, der damit mobilisierbaren Ressourcen und Leistungen, der Mechanismen, über die das jeweilige soziale Kapital entsteht, und der jeweiligen typischen Produktionsbedingungen systematisiert.
soziales Kapital
Beziehungskapital
Systemkapital
Positionskapital
Vertrauenskapital
Verpflichtungskapital
SystemKontrolle
SystemVertrauen
SystemMoral
typische Ressourcen und Leistungen
Information/ Geselligkeit
riskante Transaktion
Hilfe/ Solidarität
soziale Kontrolle/ kollektive Aufmerksamkeit
general Bereitschaft der Vorleistungen
Geltung von Werten, Normen und Moral
Mechanismen
Beziehungsmanagement
Verläßlichkeit/ Commitments
Vorleistungen/ Credit Slips
Informationsfluß
Systemleistungen
Einstellungen
Strukturelle Bedingungen
weak ties
strong ties
Dichte, Geschlossenheit, Stabilität, Dependenz
Abb. 8.8: Eine Systematik der verschiedenen Formen des sozialen Kapitals
Das Konzept des sozialen Kapitals ist seit einiger Zeit in aller Munde. So neu ist es aber gewiß nicht. Es ist ein anderer Ausdruck für den Kooperationsgewinn, den im Prinzip antagonistische und egoistische Akteure dadurch erzie-
272
Opportunitäten und Restriktionen
len können, daß sie sich aufeinander einlassen. Und auch die Probleme, die mit der Produktion und dem Erhalt des sozialen Kapitals – welcher Form auch immer – verbunden sind, sind nicht unbekannt. Es ist nichts weniger als das Problem, wie soziale Ordnung unter „rationalen“ Akteuren entstehen kann. Wie wir, etwa schon aus Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ wissen, gibt es dazu inzwischen einige recht überzeugende Antworten.
Exkurs über soziale Räume und über die Frage, ob nicht letztlich doch das Geld die Welt regiert Das soziale Kapital ist im Vergleich zu den anderen Kapitalarten eine besonders spezifische Form des produktiven Vermögens von Akteuren. Innerhalb des jeweiligen Netzwerkes innerhalb der jeweiligen Sphäre ist es vollständig verwendbar. Außerhalb ist es jedoch kaum noch etwas wert: „Like physical capital and human capital, social capital is not completely fungible, but is fungible with respect to specific activities. A given form of social capital that is valuable in facilitating certain actions may be useless or even harmful (!; HE) for others.“ (Coleman 1990, S. 302; Hervorhebungen nicht im Original)
Vollständig fungibel ist aber kein Kapital. Einer begrenzten Verwendbarkeit unterliegen – worauf James S. Coleman zu Beginn des Zitates hinweist – auch die anderen Formen des Kapitals: Titel etwa lassen sich nur begrenzt mit Geld kaufen. Und eine gute Ausbildung ist über soziale Beziehungen sehr viel weniger zu haben als der attraktive Job hinterher. Dies ist ein Sachverhalt, den Pierre Bourdieu – mit seiner gesamten Theorie der funktionalen Differenzierung und des jeweils sehr unterschiedlichen sozialen Sinns in den verschiedenen Sphären der Gesellschaft im Rücken – sehr betont hat: Der „soziale Raum“ der Gesellschaft ist in typisch unterschiedliche Bereiche mit typischen Grenzen für die Fungibilität der Kapitalien unterteilt. Etwa: Wirtschaft, Schule, Kultur (vgl. dazu insgesamt auch Kapitel 3 in Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Pierre Bourdieu spricht auch von „Feldern“. Für jeden dieser Räume bzw. Felder gelten unterschiedliche Arten des Kapitals als fungibel: Geldkapital hier, ein bestimmter Sprachstil oder die Beherrschung eines alten Instrumentes dort. Innerhalb eines jeden Raumes hat das jeweils spezifische Kapital aber die gleiche Funktion: Es „ ... stellt Verfügungsmacht im Rahmen eines Feldes dar, und zwar Verfügungsmacht über das in der Vergangenheit erarbeitete Produkt (insbesondere die Produktionsmittel) wie
Das Kapital der Akteure
273
zugleich über die Mechanismen zur Produktion einer bestimmten Kategorie von Gütern, und damit über eine bestimmte Menge an Einkommen und Gewinne.“21
„Kapital“ wäre damit also – ganz allgemein gesagt – das Ausmaß der jeweils von einem Akteur kontrollierten institutionalisierten Mittel zur Erreichung der in einem spezifischen sozialen Raum jeweils bedeutsamen kulturellen Ziele. Das Kapital ist dann – in der Sprache des Konzeptes der sozialen Produktionsfunktionen – die Menge der kontrollierten indirekten Zwischengüter, die der Akteur zur Erzeugung der – je nach Feld ja tatsächlich unterschiedlichen – primären Zwischengüter einsetzen kann (vgl. dazu Kapitel 3 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Und da es zwischen den sozialen Räumen bzw. Feldern verschiedene primäre Zwischengüter bzw. kulturelle Ziele gibt, weil also die sozialen Produktionsfunktionen zwischen den sozialen Räumen verschieden definiert sind, gilt auch, daß die institutionalisierten Mittel jeweils nur in ihren Feldern relevant und produktiv sind: „Gleich Trümpfen in einem Kartenspiel, determiniert eine bestimmte Kapitalsorte die Profitchancen im entsprechenden Feld (faktisch korrespondiert jedem Feld oder Teilfeld die Kapitalsorte, die in ihm als Machtmittel und Einsatz im Spiel ist). So bestimmt der Umfang an kulturellem Kapital (Analoges gilt – mutatis mutandis – für ökonomisches Kapital) die Gewinnchancen in den Spielen, in denen kulturelles Kapital wirksam ist, und damit die Stellung innerhalb des sozialen Raums (zumindest insoweit sie vom Erfolg im kulturellen Feld abhängt).“ (Ebd.; Hervorhebungen so nicht im Original)
Pierre Bourdieu hat aber auch darauf hingewiesen, daß – in gewissen Grenzen freilich – die verschiedenen Kapitalsorten dennoch in einem gewissen Maße fungibel bleiben und – trotz ihrer Bindung an einen jeweils ganz spezifischen sozialen Sinn – gegeneinander getauscht bzw. umgewandelt werden können. Wir lesen beispielsweise den lapidaren Satz: „Die anderen Kapitalarten können mit Hilfe von ökonomischem Kapital erworben werden ...“ (Bourdieu 1983, S. 195)
Aber das hat immer seinen Preis. Nämlich: Den „ ... Preis eines mehr oder weniger großen Aufwandes an Transformationsarbeit ...“ (Ebd.; Hervorhebung im Original)
Dieser Preis der Transformation des einen in das andere Kapital kann schwanken und je nach sozialem Raum und je nach Kapitalart unterschiedlich
21
Pierre Bourdieu, Sozialer Raum und „Klassen“. Leçon sur la leçon. Zwei Vorlesungen, 2. Aufl., Frankfurt/M. 1991, S. 10.
274
Opportunitäten und Restriktionen
hoch sein. Nicht nur einmal indirekt macht Pierre Bourdieu also die Annahme, daß letztlich das Geld doch die Welt regiert. Davon kann unberührt bleiben, daß man sich in der Tat – wenigstens in funktional differenzierten Gesellschaften – für Geld keine Wahrheit und keine Liebe und keine politische Macht auf einem freien Verrechnungsmarkt kaufen kann (vgl. dazu schon Abschnitt 10.2 über die „Konvertibilität“ der Tauschgüter in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Aber man kann sich – wiederum freilich in gewissen Grenzen – bei genügend ökonomischem Kapital die Voraussetzungen für das Finden der Wahrheit, für das Erwecken einer Liebe oder für das Erringen von Macht mit Geld schaffen: Forschungsinstitute können finanziert, trauliche Abende arrangiert und Wahlkampagnen organisiert werden, und alles das verlangt nach Bimbes. Freilich garantiert auch noch so viel finanzielle Unterstützung sicher nicht das Finden von Wahrheit, das Erwecken der Liebe oder das Erringen der Macht. Aber es macht die Sache sehr viel leichter und den Erfolg durchaus wahrscheinlicher – im Vergleich zu der Situation, daß nach der Wahrheit ganz ohne Geld geforscht werden müßte, die Liebe füreinander in großer materieller Not entflammen sollte oder die Macht im gänzlich finanzfreien Raum errungen werden könnte.
Das genau ist gemeint: Hinter den anderen Kapitalsorten steckt letztlich immer auch das ökonomische Kapital als Basis. Aber der Transformation der Kapitalien und der bruchlosen Zurückführung auf das ökonomische Kapital sind gleichwohl Grenzen gesetzt: „Man muß somit von der doppelten Annahme ausgehen, daß das ökonomische Kapital einerseits allen anderen Kapitalarten zugrundeliegt, daß aber andererseits die transformierten und travestierten Erscheinungsformen des ökonomischen Kapitals niemals ganz auf dieses zurückzuführen sind, weil sie ihre spezifischten Wirkungen überhaupt nur in dem Maße hervorbringen können, wie sie verbergen (und zwar zu allererst vor ihrem eigenen Inhaber), daß das ökonomische Kapital ihnen zugrundeliegt und insofern, wenn auch nur in letzter Instanz, ihre Wirkungen bestimmt.“ (Ebd. 1983, S. 196; Hervorhebungen so nicht im Original)
Also: Geld regiert zwar in der Tat die Welt, aber es bleiben auch im TurboKapitalismus der Zukunft immer Reste und Nischen des spezifischen sozialen Sinns, die selbst den höchsten Bestechungssummen unzugänglich bleiben. Das aber sollten alle „Honorar“-Professoren, Kunstmäzene und reichen Präsidenten von Fußballvereinen ohne Zuschauerzuspruch bedenken: Sie werden nie richtige Professoren, nie wirkliche Kunstkenner und nie Präsidenten von tatsächlich volkstümlichen Vereinen sein – obwohl sie alle nur davon träumen und wirklich alles dafür geben würden, was sie in ihrem sozialen Raum kontrollieren. Mit Geld kann man zwar sehr viel, aber eben nicht alles kaufen. Das jedoch wollen – und können – sie wohl nicht zugeben – die Honorarprofessoren, die Kunstmäzene und die Präsidenten. Sonst hätten sie ihr Geld – oder was sie sonst für die Ehre hergegeben haben – behalten.
Kapitel 9
Die stumme Macht der Möglichkeiten
Die Strukturen der Möglichkeiten bilden den weitesten, aber dann auch den festesten Rahmen des Handelns in einer Situation. Die Idee von der Erklärung sozialer Prozesse alleine schon über typische Muster von Möglichkeiten ist ebenso einfach wie überzeugend: Welche Alternativen des Handelns haben die Menschen überhaupt und – vor allem – welche haben sie eben nicht? Was können sie aufgrund dessen überhaupt tun? Und welche zwingenden Folgen hat das dann wieder für die sozialen Strukturen? Die Idee ist auch deshalb so überzeugend, weil sie – fast! – ganz ohne weitere Annahmen über die Menschen auskommen kann. Über die schwankenden psychischen Motive und über die vielleicht ebenso schwankenden Regeln bei der Selektion des Handelns muß man – wiederum: fast! – nichts wissen. Es genügen die Kenntnis der grundlegenden strukturellen Muster der Gesellschaft und die Benennung der Opportunitäten des Handelns in der Situation. Zahllose soziale Vorgänge lassen sich so schon hinreichend verständlich machen und erklären. Etwa: Warum kommen bestimmte Formen der Kriminalität eher in den unteren Schichten vor als in den oberen Schichten der Gesellschaft, und warum andere wieder eher in den oberen Schichten? Warum sind Einwanderer oft ganz besonders innovativ – auch was nicht ganz legale neue Wege betrifft? Warum hat der Ausbau des Bildungswesens fast nichts an den Grundstrukturen der sozialen Ungleichheit geändert, wohl aber zu einem verschärften Wettbewerb um die attraktiven Positionen geführt? Jedesmal ist die Antwort die gleiche: Die für Bankraub und Autodiebstahl nötigen Techniken – wie Schweißen oder das Kurzschließen einer Zündung – werden eher in den unteren Schichten vermittelt. Das nötige Wissen und die lohnenden Anlässe – etwa – für eine Steuerhinterziehung gibt es dagegen eher in den Kreisen der Besserverdienenden. Einwanderer wollen – wie alle anderen auch – zu Wohlstand und Ansehen kommen. Aber ihnen sind viele Wege dazu verschlossen, die den Einheimischen offen stehen. Folglich machen sie sich auf die Suche nach neuen, nicht immer ganz gesetzestreuen Wegen. Und wenn mit dem Ausbau des Bildungssystems nicht die Anzahl der Positionen gleichermaßen mitwächst, dann entsteht nach dem Abschluß der Ausbildung ein um so härterer Wettbewerb um die noch freien Positionen, bei denen jetzt auch wieder kulturelle Vorteile und Nachteile wirksam werden, die es jenseits des formalen Bildungszertifikates gibt.
276
Opportunitäten und Restriktionen
Immer ist es also die stumme Macht der bloßen Möglichkeiten, die alleine schon das Geschehen treibt. Es ist eine ganz besonders wichtige und beherzigenswerte Form der soziologischen Situationslogik im Sinne von Karl R. Popper (vgl. dazu schon Kapitel 10 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). In dem nun folgenden, den Band 4 dieser „Speziellen Grundlagen“ über die Logik der strukturellen Möglichkeiten abschließenden Kapitel wollen wir einige Beispiele der Erklärung sozialer Prozesse durch die stumme Macht der bloßen Möglichkeiten genauer besprechen. Wir beginnen mit einer einfachen Theorie der Zusammenhänge von Bevölkerungsstrukturen und den Beziehungen der Menschen und kommen dann zu Modellen, die insbesondere zeigen, wie die Menschen sich in den Strukturen ihrer Möglichkeiten wechselseitig beeinflussen, wie sich das „Verhalten“ der Systeme dieser Wechselbeziehungen von den Absichten und Erwartungen der Menschen verselbständigen kann und wie sich eine Gruppe schließlich über die Dynamik der Macht der Möglichkeiten selbst gegen ihre vitalen Interessen die Lebensgrundlage zerstören kann. Die Beispiele sind dabei alles andere als bloße Lehrbuch-Fälle allein zur Demonstration der Idee von der zwingenden Logik der Möglichkeitsstrukturen. Es sind auch Modelle für typische Abläufe bestimmter sozialer Prozesse, die für eine Vielzahl anderer soziologischer Fragestellungen unmittelbar angewandt werden können: die Erklärung der Entstehung von Beziehungen aller Art, von sozialen Bewegungen, von sozialen und räumlichen Differenzierungen, von Systemgleichgewichten und deren Änderung und von Zyklen der Dominanz von Gruppen zum Beispiel.
Beispiel 1: Heterogenität, Homogenität und die Beziehungen zwischen Gruppen Der amerikanische Soziologe Peter M. Blau hat eine beeindruckend einfache Theorie der Entstehung typischer Beziehungen zwischen Gruppen und anderer sozialer Prozesse aufgestellt. Seine Grundidee ist von einer entwaffnenden Logik: Wenn Du der einzige Eskimo weit und breit bist und soziale Kontakte haben möchtest, dann mußt Du zu Nicht-Eskimos Beziehungen aufnehmen. Anders gesagt: Die durch die Bevölkerungsstruktur auferlegten Restriktionen erzwingen die Muster der Beziehungen und die von anderen Strukturen des
Die stumme Macht der Möglichkeiten
277
Verhaltens der Menschen.1 Peter M. Blau entwickelt sein Konzept für drei Arten sozialer Strukturen: für Muster von Kontakten zwischen Mitgliedern verschiedener Gruppen, für Raten der Mobilität zwischen verschiedenen Gruppen und für Raten von Konflikten zwischen Gruppen. Die diese Strukturen erklärenden strukturellen Variablen sind bestimmte Formen der sozialen Differenzierung einer Bevölkerung. Mit „sozialer Differenzierung“ sind dabei drei verschiedene Aspekte gemeint: die Heterogenität, die Ungleichheit und die Gruppenüberschneidung2. Das sind alles Merkmale der Bevölkerung einer Gesellschaft, nicht der einzelnen Akteure. Sie ergeben sich aus bestimmten Arten der Verteilung von Merkmalen der individuellen Akteure in der Population. Heterogenität, Ungleichheit und Gruppenüberschneidung sind, wie Peter M. Blau sagt, die strukturellen Parameter, die die Chancen für Kontakte, Mobilität und Konflikte bestimmen. Zwei Arten von strukturellen Parametern werden unterschieden: nominale und graduelle Parameter (Blau 1994, S. 13ff.; S. 25). Nominale Parameter beziehen sich auf qualitativ abgrenzbare Eigenschaften ohne weitere Rangordnung – wie Religion, Hautfarbe oder Geschlecht, graduelle Parameter auf kontinuierlich variierende Eigenschaften mit einer Rangordnung – wie Einkommen, Ausbildung oder Macht. Die Verteilung der nominalen Parameter erzeugt die horizontale Differenzierung der Bevölkerung nach Heterogenität – und damit nach den Möglichkeiten, „qualitativ“ verschiedenen, aber im Prinzip ranggleichen Gruppen zuzugehören. Die Verteilung der graduellen Parameter bestimmt die vertikale Differenzierung nach Ungleichheit – und damit die Chancen der Zugehörigkeit zu mehr oder weniger statusfernen Gruppen. Die Heterogenität steigt mit der Anzahl der unterschiedlichen Kategorien und mit dem Grad der Gleichverteilung eines nominalen Parameters über eine Bevölkerung: Je mehr verschiedene Gruppen es gibt und je weniger sich die Bevölkerung auf eine davon konzentriert, um so größer ist die Heterogenität der Bevölkerung. Die Ungleichheit nimmt mit der Differenz zwischen der 1
2
Vgl. Peter M. Blau, Structural Contexts of Opportunities, Chicago und London 1994. Das Buch ist eine vereinfachende Zusammenfassung zweier früherer Arbeiten von Peter M. Blau zur strukturellen Erklärung sozialer Prozesse: Peter M. Blau, Inequality and Heterogeneity. A Primitive Theory of Social Structure, New York 1977; Peter M. Blau und Joseph E. Schwartz, Crosscutting Social Circles. Testing a Macrostructural Theory of Intergroup Relations, Orlando 1984. Man beachte: Das ist eine andere Bedeutung der Bezeichnung „soziale Differenzierung“ als die, die wir in den „Speziellen Grundlagen“ bisher verwendet haben (vgl. Kapitel 2 und 3 in Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“). Dort wird darunter die Unterschiedlichkeit einer Gesellschaft hinsichtlich ihrer sozialen Systeme verstanden und eben nicht: in Hinsicht auf die Akteure bzw. die Bevölkerung, wie bei Peter M. Blau.
278
Opportunitäten und Restriktionen
niedrigsten und der höchsten Position, mit dem Grad der Statusferne zwischen den Gruppen also, und mit dem Grad der Ungleichverteilung eines kontinuierlichen Parameters zu: Je größer die Spannweite im Besitz bestimmter Ressourcen ist und je mehr die Ressourcen in nur wenigen Händen konzentriert sind, um so größer ist die Ungleichheit. Das Differenzierungsmerkmal der Gruppenüberschneidung bezeichnet schließlich die Kovariation von Merkmalen der Heterogenität bzw. von solchen der Ungleichheit. Es ist der Sachverhalt, den Georg Simmel mit der „Kreuzung sozialer Kreise“ bezeichnet hat:3 Der Einzelne gehört mehreren Gruppen gleichzeitig an, und die jeweilige Kombination der Gruppenzugehörigkeit kann unter den einzelnen Akteuren entweder wiederum ganz ähnlich oder aber ganz und gar einzigartig und „individuell“ sein. Wenn die Dimensionen von Variablen der Heterogenität oder der Ungleichheit – wie Hautfarbe und Einkommen zum Beispiel – hoch miteinander korrelieren und die Kreuzung der sozialen Kreise damit wiederum sehr ähnliche Gruppenkombinationen erzeugt, liegt eine – wie Peter M. Blau sagt – Konsolidierung der Gruppengrenzen vor. Dann entstehen durch die Überlappung der korrelierenden Merkmale deutliche Grenzen und Gegensätze zwischen den „gekreuzten“ Gruppen, etwa zwischen armen Farbigen und reichen Weißen. Wenn die Parameter dagegen vollkommen unkorreliert sind, dann multiplizieren sich die „neu“ entstehenden Gruppenkombinationen nach allen logischen Möglichkeiten. Das Ausmaß der Intersektion ist dann maximal. Nun schwächen sich die Gruppengrenzen und die Gruppengegensätze ab, weil es jetzt reiche und arme Schwarze, ebenso wie reiche und arme Weiße gibt. Konsolidierung und Intersektion sind die Extrempunkte auf der Variablen „Gruppenüberschneidung“ als strukturelles Merkmal einer Bevölkerung. Der – je nach Anzahl der beteiligten Einzelmerkmale: mehr oder weniger – multidimensionale Raum der sozialen Differenzierung, von Heterogenität, Ungleichheit und Gruppenüberschneidung also, bildet damit den festen Rahmen für die Möglichkeiten und für die Chancen der Entstehung anderer sozialer Strukturen: Kontakte, Mobilität, Konflikte. Das Argument ähnelt stark der Weissagung der Deutschen Bank aus Kapitel 1 und der Überlegung aus Abschnitt 2.1 oben in diesem Band, die Gary S. Becker als Begründung für die negative Neigung der Nachfragefunktion, ganz unabhängig von den speziellen Motiven und der „Rationalität“ der Menschen, bemühen konnte:
3
Georg Simmel, Die Kreuzung sozialer Kreise, in: Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, 5. Aufl., Berlin 1968 (zuerst: 1908), S. 305-344; vgl. dazu schon Kapitel 2 in Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“.
Die stumme Macht der Möglichkeiten
279
„Opportunities are limited, and I cannot obtain my first choice if it has been preempted by others.“ (Blau 1994, S. 23; Hervorhebung nicht im Original)
Und: „An underlying assumption of the macrostructural theory presented here is that the population structure, conceptualized as people’s distributions in a multidimensional space, exerts independent effects on social relations by circumscribing the opportunities and limiting the choices in a population.“ (Ebd., S. 28; Hervorhebungen nicht im Original)
Also: Was nicht geht, das geht nicht. Und nur, was geht, kann gehen, wenn überhaupt. Wenn es außer mir weiter keine Eskimos gibt, dann kann es auch keine Kontakte unter Eskimos geben. Wenn es keine oberen Schichten gibt, dann ist Aufwärtsmobilität unmöglich. Und wenn es eine andere Gruppe nicht gibt, oder auch wenn sich zwei Gruppen nie begegnen, dann können sie nicht zu Konkurrenten werden und sich somit auch nicht in einem Konflikt in die Haare geraten. Die zentrale Variable der Möglichkeiten für Kontakte, Mobilität und Konflikte ist also die schiere Existenz der jeweils anderen Gruppe – variierend über den, neben Zeit und Raum, wohl deutlichsten Parameter der Möglichkeiten und Begrenzungen: die bloße Gruppengröße. Will man die Opportunitätentheorie von Peter M. Blau in einem Satz zusammenfassen, dann besagt sie, daß die Zahlenrelationen zwischen Gruppen unterschiedlicher Parameter bestimmen, wie sich die Art der Beziehungen und das Ausmaß der Mobilität und der Konflikte strukturieren. Peter M. Blau hat sein Konzept in zwei Annahmen und vier Theoremen zusammengefaßt. Wir vereinfachen und erläutern die Theoreme gegenüber der Darstellung bei Peter M. Blau noch etwas. Dabei wird insbesondere ein Theorem über die Wirkung von Mobilität zwischen Gruppen auf die Intergruppenbeziehungen ausgelassen, weil das mit dem Grundargument nicht unmittelbar in Beziehung steht. Peter M. Blau wird verzeihen: Er hat seine Theorie gegenüber der ursprünglichen Fassung von 1977 in mehreren Schritten schließlich selbst immer mehr vereinfacht und erläutert manches seiner „logischen“ Argumente auch inhaltlich recht ausführlich, besonders wenn die Logik der Strukturen dem soziologischen Augenschein zu widersprechen scheint.
Die grundlegenden Annahmen lauten für den Fall der Strukturierung von Beziehungen – ganz allgemein – durch die Strukturen der Verteilung von Merkmalen einer Bevölkerung so: Annahme 1: Die Wahrscheinlichkeit für eine bestimmte Form der Beziehung hängt von den Opportunitäten eines Kontaktes ab, weil Beziehungen erst dann entstehen können, wenn es zu Kontakten überhaupt erst kommt. Annahme 2: Die Nähe im multidimensionalen sozialen Raum erhöht die Wahrscheinlichkeit für das Entstehen von Beziehungen. „Nähe“ kann dabei eine räumliche oder eine soziale Nähe sein.
Opportunitäten und Restriktionen
280
Das erste Theorem im Anschluß an die beiden Annahmen ist ein – wie Blau sagt – mathematischer Truismus. In der Tat: Theorem 1:
Die Wahrscheinlichkeit von Intergruppenbeziehungen variiert mit den relativen Größen der Gruppen, aus denen eine Population besteht.
Das erste Theorem läßt sich an einem einfachen Diagramm der Verteilung von zwei Gruppen klar machen (Abbildung 9.1):
a. Geringe Heterogenität x x
o x
x
o x
x
x x x
b. Hohe Heterogenität
x
x
x
o x
x
x
o
x
o
o
o o
o
o
x
x x
o
o o x x x x x o x x o x o o x x
o
x
Abb. 9.1: Heterogenität und Kontaktmöglichkeiten
Die Situation in Abbildung 9.1a beschreibt eine Konstellation sehr unterschiedlicher Größen der Gruppen, aus denen die Population besteht. Die Population umfaßt hier 16 Akteure. Es gibt eine große Gruppe des nominalen Parameters A von 14 Mitgliedern; sie ist mit x gekennzeichnet. Und es gibt eine sehr kleine Gruppe von zwei Personen mit dem nominalen Parameter B, dargestellt mit dem Zeichen o. Die Proportionen der Gruppengrößen betragen 0.875 für die Gruppe A, und 0.125 für die Gruppe B, und sind damit recht ungleich zwischen den beiden Gruppen. Angenommen sei beispielsweise, daß die Akteure jeweils drei verschiedene Beziehungen gleichzeitig unterhalten müssen, um die Probleme ihres Alltags zu bewältigen: Je eine zum Privatleben, zum Arbeiten und zur Freizeit. Sofort wird erkennbar, was geschehen muß: Die beiden Angehörigen der Minderheit aus der Gruppe B können die nötigen Beziehungen nicht alle untereinander aufnehmen – und suchen sich dann notgedrungen das, was sie jetzt noch brauchen, bei der Majorität. Der Anteil der von ihnen unterhaltenen Intergruppenbeziehungen ist für sie deshalb notwendigerweise hoch: Mindestens zwei von drei Beziehungen der Mitglieder der Gruppe B sind exophiler Art. Und das auch dann, wenn sie eigentlich endophile Präferenzen für alle Arten von Beziehungen haben sollten: Es geht nicht anders. Genau dieser
Die stumme Macht der Möglichkeiten
281
Effekt – die soziale Assimilation von Mitgliedern relativ kleiner Gruppen in der Umgebung von größeren Gruppen – wird dann auch empirisch immer wieder beobachtet.4
Die Rate der Intergruppenbeziehungen ist für die Minderheit also relativ groß. Für die Mehrheit ist sie dagegen, aus den gleichen strukturellen Gründen, notwendigerweise sehr klein: Die Majorität A muß wegen ihrer schieren Größe fast ausschließlich unter sich bleiben. Die beiden Minderheitsangehörigen könnten gar nicht so viel an Kontakten verkraften, „damit“ die Rate dort höher würde. Kurz: Obwohl die Mitglieder der kleineren Gruppe zu einer relativ hohen Rate von Intergruppenbeziehungen gezwungen werden, ist die gesamte Rate der Intergruppenbeziehungen bei stark unterschiedlichen Gruppengrößen nur gering, weil die Majorität dann fast ganz unter sich bleiben muß. Das wird sofort anders, wenn sich die Gruppengrößen angleichen. Wir haben in Abbildung 9.1b eine Struktur der perfekten Gleichverteilung der beiden Gruppen A und B dargestellt: Die Population umfaßt nun 32 Akteure. Die Gruppen A und B haben jetzt jeweils 16 Mitglieder und damit eine Proportion von je 0.50. Sie verteilen sich wie vorher zufällig in einem geographischen Raum. Die beiden zuvor recht einsamen Mitglieder der Gruppe A können sich über Mangel an Gesellschaft Ihresgleichen jetzt nicht mehr beklagen. Nun könnten die Mitglieder der beiden Gruppen zwar – wenn die manchmal wegen der zufälligen Verteilung nötigen Umwege einmal nicht weiter beachtet werden – leicht auch ganz unter sich bleiben. Aber es steigen – natürlich immer: ceteris paribus – mit der Angleichung der Größen der beiden Gruppen die Chancen für Intergruppenkontakte. Das wird gleich klar, wenn man bedenkt, daß – unter der Annahme der Zufallsverteilung – die Chance für einen Intergruppenkontakt gleich dem Produkt aus der Proportion der einen Gruppe mit der Proportion der anderen Gruppe ist. Weil es dabei auf die Reihenfolge der Kontakte – A trifft B oder B trifft A bedeutet jeweils einen Intergruppenkontakt – nicht ankommt, muß dieses Produkt noch mit der Anzahl der Gruppen r multipliziert werden, hier also: mit zwei. In unserem Fall gilt folglich für die Chance PC für einen Intergruppenkontakt zwischen zwei Gruppen A und B: PC = r(PA⋅PB), wobei PA und PB jeweils die Anteile der Gruppen A und B an der Gesamtpopulation und r die Anzahl der Gruppen sind. Bei zwei gleichverteilten Gruppen A und B heißt das: PC=2(0.50⋅0.50)=0.50. Die Chance von 0.50 für einen Intergruppenkontakt ist, wieder unter der Annahme des random mixing, der maximale Wert für PC bei zwei Gruppen. Bei jeder Abweichung von der Gleichverteilung sinken die Chancen wieder. Beispielsweise ist die Chance für einen Intergruppenkontakt unter den Be-
4
Vgl. etwa Robert C. Bealer, Fern K. Willits und Gerald W. Bender, Religious Exogamy: A Study of Social Distance, in: Sociology and Social Research, 48, 1963, S. 69-79; John H. Burma, Interethnic Marriage in Los Angeles, 1948-1959, in: Social Forces, 42, 1963, S. 156-165; Che-Fu Lee, Raymond H. Potvin und Mary J. Verdieck, Interethnic Marriage as an Index of Assimilation: The Case of Singapore, in: Social Forces, 53, 1974, S. 112119.
282
Opportunitäten und Restriktionen
dingungen der Abbildung 9.1a mit den Proportionen 0.875 bzw. 0125 gleich 2(0.875⋅0.125). Also: PC=0.21875, und damit deutlich geringer als das Maximum von 0.50.
Das Theorem 2 setzt entsprechend dieser Überlegungen die Proportionen der Gruppengrößen und damit die Heterogenität einer Population mit der Wahrscheinlichkeit von Intergruppenbeziehungen in Verbindung. Es lautet einfacherweise: Theorem 2:
Je größer die Heterogenität einer Population, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit für Intergruppenbeziehungen.
Das Theorem 3 spezifiziert in analoger Weise die Beziehung zwischen dem Strukturparameter der Ungleichheit einer Population und der Wahrscheinlichkeit für Intergruppenbeziehungen. Es lautet ganz entsprechend dem Theorem 2 für die Heterogenität, nun aber für die Wahrscheinlichkeit von Beziehungen zwischen statusfernen Gruppen: Theorem 3:
Je größer die Ungleichheit in einer Population, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit für Beziehungen zwischen statusfernen Gruppen.
Die Beziehung zwischen dem Strukturparameter der Gruppenüberschneidung und der Wahrscheinlichkeit für Intergruppenbeziehungen ist etwas komplizierter zu begründen. Das grundlegende Argument lautet: Wenn die Konsolidierung der Gruppengrenzen gering ist, wenn also die Intersektion der Gruppenzugehörigkeiten groß ist, dann bedeutet ein – beliebiger – Kontakt in einer bestimmten Dimension, daß notwendigerweise Kontakte auch auf anderen Dimensionen der Gruppenzugehörigkeiten stattfinden. Und das sind dann natürlich Intergruppenbeziehungen, selbst wenn der eine Kontakt, um den es geht, mit jemandem aus der „gleichen“ Gruppe stattfindet. Folglich gilt das Theorem 4: Theorem 4:
Gruppenüberschneidungen erhöhen die Wahrscheinlichkeit für Intergruppenbeziehungen.
Die Theoreme 1 bis 4 sind für Intergruppenbeziehungen ganz allgemein formuliert. Auf die Kontakte zwischen Gruppen lassen sie sich unmittelbar anwenden. Auf eine ganz ähnliche Weise lassen sich dann die Zusammenhänge zwischen den Strukturparametern Heterogenität, Ungleichheit und Gruppenüberschneidung für Mobilität und Konflikte ableiten. Danach erhöhen Heterogenität, Ungleichheit und Gruppenüberschneidung die Wahrscheinlichkeit für die Mobilität zwischen den Gruppen – allein wegen der mit Heterogenität, Unstrukturell gleichheit und Gruppenüberschneidung anwachsenden Möglichkeiten für einen Gruppenwechsel oder für einen sozialen Aufstieg oder Abstieg (Blau 1994, S. 36ff.): Wenn es keine andere Gruppe gibt, in die
Die stumme Macht der Möglichkeiten
283
stieg (Blau 1994, S. 36ff.): Wenn es keine andere Gruppe gibt, in die man abwandern, ab- oder aufsteigen könnte, dann ist viel an Bewegung über die Gruppengrenzen hinweg eben nicht drin (vgl. dazu aber auch schon das Konzept der strukturellen Mobilität in Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Peter M. Blau vergißt nicht hinzuzufügen: ceteris paribus, wobei insbesondere gemeint ist, daß mit Heterogenität und Ungleichheit mitunter die sozialen Barrieren für einen Wechsel auch zunehmen und somit unter Umständen die strukturellen Chancen der Mobilität mehr als ausgleichen können. Bei Heterogenität und Ungleichheit werden auch Konflikte zwischen Gruppen wahrscheinlicher, allein schon aus dem logischen Truismus, daß es für Konflikte der Konkurrenten mit anderen Interessen aus anderen Gruppen bedarf (Blau 1994, S. 39ff.). Und wenn solche Konkurrenten fehlen, dann gibt es – logo – auch keinen Konflikt. Das heißt: Die Mitglieder kleinerer Gruppen sind – der Theorie von Peter M. Blau zufolge – öfters in Konflikte verwickelt, sei es als Übeltäter, sei es als Opfer, einfach weil es öfters Anlaß für Reibereien mit Außenstehenden gibt, die im Zweifel andere Interessen und Vorstellungen haben. Mit steigender Heterogenität steigt dann auch die Rate der Konflikte zwischen den Gruppen. Und mit zunehmender Ungleichheit gibt es mehr Konflikte zwischen Gruppen, die im Status voneinander entfernt sind. Auf den ersten Blick etwas komplizierter ist der Zusammenhang von Gruppenüberschneidung und Konfliktwahrscheinlichkeit: Die Gruppenüberschneidung sorgt im Falle der Konsolidierung der Gruppenzugehörigkeiten für eine Verschärfung, im Falle der Intersektion in „crosscutting cleavages“ für eine Abschwächung der Konfliktbereitschaften zwischen den Gruppen. Warum? Die Überlegung ist eigentlich ganz einfach: „Crosscutting cleavages keep conflicts within bounds. They are the result of multigroup affiliations and intersection in complex societies, which create cross-pressures for the many persons who belong to groups that have opposite views on some issues. A person’s ethnic group and colleagues at work, her union and church, his fraternity and professional association often have different political viewpoints and support opposite candidates in elections. Such situations put individuals under cross-pressure, which may lead some not to take sides at all and undermine others’ inflexible opposite convictions. ... In short, intersecting cleavages mitigate intergroup conflict.“ (Ebd., S. 41; Hervorhebungen nicht im Original)
„Crosspressures“ und das Entstehen von konfliktdämpfender Empathie sind, obwohl sich eine Reihe von sozialen und sozialpsychologischen Prozessen dahinter verbergen, die nicht bloß „logischer“ Natur sind, ebenfalls eine logische Folge gewisser Ausprägungen des Strukturparameters der Gruppenüberschneidung: Durch die Kreuzung ihrer sozialen Kreise leben die Menschen stets in mehreren Welten gleichzeitig, haben damit auch immer etwas „wider-
284
Opportunitäten und Restriktionen
sprüchliche“ Interessen und verspüren dadurch, daß sie bei einem Konflikt auf einer Dimension immer auch etwas auf einer anderen Dimension zu verlieren haben. Der Konflikt, der „eigentlich“ zwischen den Gruppen besteht, wird durch die Überkreuzung der Konfliktfronten sozusagen in die einzelne Person hineinverlegt. Das wußte, wie so vieles, schon Georg Simmel: „Die frühere Unzweideutigkeit und Sicherheit weicht ... einer Schwankung der Lebenstendenzen ... .“ (Simmel 1968, S. 313)
Wenn sich aber die Gruppengrenzen auf mehreren Dimensionen der Heterogenität oder der Ungleichheit konsolidieren, dann gibt es für einen Konflikt immer mehrere Gründe gleichzeitig, die sich sozusagen in eine Richtung hinein kumulieren. Deshalb wohl ist in Gesellschaften mit einer ausgeprägten ethnischen Schichtung die Gefahr für Konflikte zwischen den Gruppen besonders hoch. Dann kovariieren die ethnische Heterogenität mit der ökonomischen Ungleichheit. Es gibt scharfe Gruppengrenzen und deutliche Gruppengegensätze. Und weil es um die Anerkennung als ethnische Gruppe und um ökonomische Vorteile gleichzeitig geht, gibt es für die Gruppen bei einem Konflikt auch immer nur die eine Perspektive: Alles oder nichts. Wenn es aber – wieder: beispielsweise – arme und reiche Farbige und arme und reiche Weiße in jeweils gleicher Proportion gibt, dann bleiben die Gegensätze zwischen Arm und Reich und zwischen Farbigen und Weißen mit jedem denkbaren Konflikt teilweise erhalten. Und dann reichen die Interessen für die wirkliche Austragung eines Konfliktes zwischen den Gruppen meist nicht aus. Kurz: Die gesellschaftliche Pluralisierung und Kreuzung der sozialen Kreise beschränken die Bereitschaft zu Konflikten schon strukturell. Und das ganz unabhängig von den Motiven und Unzufriedenheiten der einzelnen Menschen.
Beispiel 2: Segregation Die Annahme, daß sich Menschen mit ähnlichen kulturellen Eigenschaften eher mögen als solche, die sich etwa in Sprache, Geschmack und Kleidungsgewohnheiten unterscheiden, ist sicher nicht falsch. Auf jeder Party von einander noch etwas fremden Personen läßt sich das beobachten: Meist schon nach kurzer Zeit finden sich die Grüppchen zusammen, die sich zuvor schon in mancherlei Hinsicht etwas näher standen. Das muß keineswegs heißen, daß sie die jeweils anderen nicht mögen oder mit ihnen nichts zu tun haben wollen. Es ist einfach netter so unter seinesgleichen.
Die stumme Macht der Möglichkeiten
285
Wie solche Segregationen entstehen, hat Thomas C. Schelling mit einem sehr einfach auf einem Schachbrett nachzustellenden Modell demonstriert.5 Das Grundmuster kennen wir bereits aus dem vorhergehenden Beispiel von Peter M. Blau. Es war das Areal von 64 Feldern, besetzt von 16 bzw. 32 Akteuren zweier unterschiedlicher Gruppen mit den Eigenschaften o und x. Sie verteilten sich auf diesem Areal zufällig. Die Akteure besetzten nicht alle Positionen auf dem Areal. Es gab freie Räume in dem Feld, 48 bzw. 32 an der Zahl. Für das nun folgende Beispiel wollen wir davon ausgehen, daß 45 Felder durch Akteure besetzt, und daß folglich 19 Felder frei sind. Die beiden Gruppen seien annähernd gleich groß: Die Gruppe x umfasse 22, die Gruppe o 23 Mitglieder. Weil es eine Reihe von freien Feldern gibt, könnten die einzelnen Akteure leicht ihre Position wechseln – etwa dann, wenn sie mit ihrer aktuellen Situation unzufrieden sind. Wann aber sind sie unzufrieden? Das sei dann der Fall, wenn in ihrer Nachbarschaft zu viele Personen der jeweils anderen Gruppe leben. Das muß keine Fremdenfeindlichkeit sein. Niemand könnte wohl etwas dagegen einwenden, wenn Du oder ich etwa nur gerne hätten, daß mindestens mehr als ein Drittel der unmittelbaren Nachbarn der eigenen Gruppe angehören. Diese recht schwache Affiliationsneigung sei hier als Kriterium für die Zufriedenheit mit der jeweiligen sozialen Umgebung angenommen. Eine Nachbarschaft für einen Akteur bilden alle die Personen, mit denen der Akteur in unmittelbarer Nähe lebt. Das sind maximal acht Personen eines 3x3-Feldes – mit dem betrachteten Akteur im Mittelpunkt. Bei leeren Feldern in der Umgebung oder am Rand des Areals vermindert sich die Zahl der Nachbarn, die als Nachbarschaft „zählen“, entsprechend. Immer wird nur eines verlangt: Mindestens mehr als ein Drittel der tatsächlich vorhandenen Nachbarn muß der eigenen Gruppe angehören. Gibt es nur einen Nachbarn, muß der, damit die Bedingung erfüllt ist, natürlich der eigenen Gruppe angehören, bei zweien muß es auch einer sein, bei drei, vier oder fünf Nachbarn müssen es zwei, bei sechs, sieben oder acht müssen es drei sein. Eine zufällige Ausgangsverteilung der beiden Gruppen findet sich in Abbildung 9.2a.
5
Thomas C. Schelling, Micromotives and Macrobehavior, New York und London 1978, Kapitel 4: Sorting and Mixing: Race and Sex, S. 147ff.; Thomas C. Schelling, Dynamic Models of Segregation, in: Journal of Mathematical Sociology, 1, 1971, S. 149ff., 154ff.
Opportunitäten und Restriktionen
286
b. unzufriedene Akteure
a. Verteilung Beginn x x x x o o o x x o
x o x o x o
x o x o o x o x o x o o x x x o x o
o x o o x x o o o o x
x
x
x
x
x
x
o
o
o
c. neue Verteilung
x x x o
x x x o o o
o o
x x o o o o o x x x x x
o x x o o x o o o o o o x o o x x x
x x o o
Abb. 9.2: Ausgangsverteilung zweier Gruppen, damit unzufriedene Akteure und die nach den Wanderungen eingetretene neue Verteilung
Alle Akteure bilden auf diese Weise füreinander Nachbarschaften mit einer bestimmten Struktur der Gruppenzusammensetzung. Zwei Nachbarschaften haben wir fett herausgehoben. Die eine liegt oben rechts mit einem nicht-fetten x in der Mitte, die andere unten halblinks mit einem nicht-fetten o. Zunächst die Nachbarschaft oben rechts. Hier ist der Akteur x mit seiner Umgebung zufrieden: Von den insgesamt sieben Nachbarn sind drei Angehörige seiner eigenen Gruppe. Das erfüllt die Bedingung, daß mehr als ein Drittel der Nachbarn der eigenen Gruppe angehören sollen. Das ist anders bei dem o unten halblinks, umringt von vier x und nur zwei o. Hier ist genau ein Drittel der Nachbarn seinesgleichen, aber es müssen „mehr als ein Drittel“ sein, damit er zufrieden ist.
Die nach dieser Regel in der Ausgangsverteilung unzufriedenen Akteure sind in Abbildung 9.2b aufgeführt. Es sind insgesamt neun – sechs aus der Gruppe x und drei aus der Gruppe o, darunter auch der o aus der Nachbarschaft unten halblinks. Die neun unzufriedenen Akteure könnten nun, um in eine für sie bessere Situation zu gelangen, ihre Position verändern, und zwar dorthin, wo es ein freies Feld gibt. Sie werden also nach Möglichkeit ein solches freies Feld aufsuchen, in dem sie eine ihnen eher zusagende Nachbarschaft finden – und zwar auf dem kürzest möglichen Wege. Das wäre für den unzufriedenen o unten links beispielsweise das freie Feld ganz unten links außen, weil er dann von zwei Nachbarn einen hat, der ihm ähnlich ist, und weil damit das Kriterium der Zufriedenheit erfüllt ist. Und dahin geht er dann auch, wie Abbildung 9.2c links unten zeigt. Vor Freude über die ihm jetzt zusagende neue Umgebung ist er fett und für uns besser sichtbar geworden. Ähnliches tun sukzessiv auch alle anderen, die mit ihrer Nachbarschaft unzufrieden sind.
Die stumme Macht der Möglichkeiten
287
Jeder der wandert, verändert natürlich das Setting für alle anderen. Es kommt für die Nachzeichnung des Prozesses daher auch auf die Reihenfolge der „Züge“ an. Für das strukturelle Ergebnis des Vorgangs ist das aber nicht so wichtig. Der Einfachheit halber wollen wir annehmen, daß die Wanderungen sukzessive von oben links nach rechts und dann zeilenweise nach unten vorgenommen werden. Jede andere Regel der Sukzession der Wanderungen wäre auch möglich. Eines der so eintretenden möglichen Ergebnisse ist in Abbildung 9.2c dargestellt. Alle sind nun zufrieden – wie sich der Leser vielleicht selbst überzeugen möchte. Wichtig ist aber vor allem das eingetretene kollektive Ergebnis: Die beiden Gruppen bilden deutlich ausgeprägte Muster der Segregation. Die x-Gruppe findet sich zum Beispiel in drei homogenen Enklaven wieder, getrennt durch ein zusammenhängendes Band der o-Gruppe. Leicht lassen sich die Parameter des Modells ändern: die relativen Gruppengrößen, die Anteile der freien Felder und die Stärke der Affiliationsneigung. Das hat Thomas C. Schelling auch ausführlich getan. Das erstaunlichste Ergebnis aller dieser Variationen war, daß unter nahezu allen Bedingungen mehr oder weniger rasch eine stabile Segregation der Gruppen eintritt. Dazu muß die Affiliationsneigung nicht stark sein. Schon schwache individuelle Präferenzen für Binnengruppenkontakte schaffen über die geschilderte Dynamik der Nutzung von Möglichkeiten der Mobilität starke kollektive Segregationen: „A moderate urge to avoid small-minority status may cause a nearly integrated pattern to unravel, and highly segregated neighborhoods to form.“ (Schelling 1978, S. 154; Hervorhebungen nicht im Original)
Kurz: Schon schwache individuelle Motive schaffen – unter Umständen! – starke gesellschaftliche Strukturen. Besonders rasch geschieht das, wenn die Gruppenzusammensetzung nicht homogen, sondern wenn eine Gruppe in einer deutlichen Minderheit gegenüber der anderen Gruppe ist. Dann geschieht, wie Sie leicht selbst nachspielen können, auch im Modell genau das, was empirisch immer wieder in den großen Städten mit den dort ansässigen fremdethnischen Gruppen beobachtet wird: Die Minderheit der Migranten bildet einen homogenen Kern etwa in der Innenstadt, umgeben von einem Ring der Mehrheitsgruppe der einheimischen Bevölkerung. Und das ganz ohne Diskriminierung, ohne externe Planung, nur und als Ergebnis der Affiliationswünsche der so segregierten Minderheit – alleine als Folge der Wahrnehmung von Möglichkeiten, dahin zu gehen, wo es ihnen am ehesten konveniert.
288
Opportunitäten und Restriktionen
Beispiel 3: Kritische Massen und Mobilisierung Die Mobilität ist eine mögliche Reaktion auf die Unzufriedenheit mit den Möglichkeiten der Situation. Eine andere wäre die Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse, die einen ärgern. Das nun folgende Beispiel befaßt sich mit der Macht der Möglichkeiten gerade bei der Entstehung von Revolutionen und sozialen Bewegungen. Beginnen wollen wir mit einem oft berichteten Paradox: Revolutionen und soziale Bewegungen finden nicht schon allein deshalb statt, weil die Menschen unzufrieden sind – sonst gäbe es Proteste und Revolutionen unentwegt (vgl. dazu auch schon Abschnitt 10.4 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, sowie noch Band 5 „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Im Gegenteil. Alexis de Tocqueville (1805-1859) hat im Zusammenhang seiner Analyse der Vorgeschichte der Französischen Revolution gemeint, daß erst, wenn sich das gröbste Elend aufzulösen und die ärgste Unterdrückung zu lockern beginne, die Zeit reif für eine Revolution sei. Warum das so ist, kann viele Gründe haben. Einen der wichtigsten haben wir in Kapitel 7 von Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ausführlich besprochen: Revolutionen und soziale Bewegungen sind Spezialfälle des kollektiven Handelns. Eine der Lösungen des Problems war ja, daß sich eine Kerntruppe findet, die hinreichend interessiert und auch in der Lage ist, die Sache auf die Beine zu stellen. Bei unterdrückten und verelendeten Massen findet sich diese Gruppe von wagemutigen und hinreichend mächtigen Aktivisten jedoch nur sehr schwer. Und so geschieht in aller Regel nichts, selbst wenn das Interesse an einer Änderung der Situation allgemein überaus stark ist. Genau das aber ist das Problem: Revolutionen und soziale Bewegungen haben bestimmte kollektive Ziele, die für die Akteure auch individuell einen gewissen Wert haben. Das ist jedoch nicht genug. Für den Erfolg muß es u.a. ein Mindestmaß an Mobilisierung von Ressourcen geben – Gewehre, Flugblätter, Geld für eine Pressekampagne zum Beispiel. Das ist riskant. Und es kostet. Aber wer traut sich? Und wer soll das bezahlen? Alles hängt – wieder einmal – davon ab, ob sich der Einzelne durch seinen individuellen Beitrag schon versprechen kann, daß die Bewegung auch zum kollektiven Erfolg führt. Das Problem ist jedoch nicht nur eines des kollektiven Handelns nach der Logik des N-Personen-Gefangenendilemmas. Es ist auch eine Folge bestimmter „technischer“ Umstände der Organisation einer Bewegung. Denn: Wenn schon wenige erste Beiträge die Wahrscheinlichkeit des Erfolges stark verbessern, dann sind die Chancen für ein Gelingen der Bewegung durch eine erste Tat größer, als wenn erst sehr viel an Ressourcen zusammenkommen muß, bevor sich die Bewegung gewissermaßen selbst tragen kann.
Das ist die Grundidee von der „Kritischen Masse“: Es gibt gewisse Schwellen der Mobilisierung, die erst überschritten werden müssen, damit es zur „Selbstorganisation“ einer Revolution oder sozialen Bewegung kommen kann. Die Überwindung dieser Schwelle ist eine einerseits technisch, andererseits sozial bedingte Angelegenheit. Die technischen Bedingungen der Mobilisierung beziehen sich auf die Struktur der Produktionsfunktion, die den Einsatz bestimmter Ressourcen durch die Akteure mit der Erfolgswahrscheinlichkeit der Bewegung verbindet. Die sozialen Bedingungen einer Mobilisierung haben mit der Verteilung des Interesses am Erfolg und der Kontrolle bestimmter Mittel in der
Die stumme Macht der Möglichkeiten
289
betreffenden Population zu tun – mit der Differenzierung der Bevölkerung nach Interesse und Kontrolle also. Wir wollen uns zunächst mit dem technischen Aspekt befassen, und danach mit dem sozialen. Der soziale Aspekt der Differenzierung einer Bevölkerung wird in Beispiel 4 noch gesondert aufgegriffen und vertieft, wenn es um die sog. Schwellenwerte des kollektiven Handelns geht. „Richtige“ Erklärungen von Revolutionen und sozialen Bewegungen müssen – neben vielen anderen Dingen – im Prinzip natürlich auf alle Aspekte gleichzeitig achten: das PD-Problem des kollektiven Handelns, die Produktionsfunktionen und die kritischen Massen, die Differenzierung der Bevölkerung nach Interesse und Kontrolle und die Schwellenwerte.
Der Kern des Modells der kritischen Masse ist das Konzept der Produktionsfunktion.6 Die Idee der Produktionsfunktion ist uns schon geläufig (vgl. Kapitel 3 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ und Abschnitt 2.3 oben in diesem Band). Gleichwohl noch einmal in aller Kürze: Eine Produktionsfunktion beschreibt die – vorwiegend technisch bedingte – Beziehung zwischen einem input und einem output. Der input sind hier bestimmte Ressourcen r (an Geld oder Zeit), der output die Wahrscheinlichkeit p(r), daß mit einem bestimmten Einsatz die Revolution bzw. die soziale Bewegung Erfolg habe und das kollektive Gut tatsächlich produziert werde. Das kollektive Gut habe dabei einen Gesamtwert von V. Die betreffende Gruppe umfasse die Größe N. Wir wollen dann annehmen, daß der individuelle Wert v des kollektiven Gutes dem Durchschnitt V/N entspricht. Die Kosten für den Einsatz einer jeden Ressource seien konstant und für alle Akteure gleich k. Der Einfachheit halber sei jede Einheit von k mit 1 DM angenommen. Es ist dann r die Menge der individuell eingesetzten Ressourcen. Die Menge der überhaupt mobilisierbaren Ressourcen sei auf 1 normiert. Für den schließlichen Erfolg gebe es eine – aus objektiven, weil technischen Gründen! – minimal erforderliche Mindesthöhe von mobilisierten Ressourcen Rmin, bei der der Erfolg von den Akteuren subjektiv mit einer Mindestwahrscheinlichkeit von p(r)minals hinreichend sicher angesehen werden kann – beispielsweise mit einem p(r)min von 0.90. „Damit“ es sich um ein Kollektivgut handelt, muß der Gesamtwert des kollektiven Gutes V größer sein als die mit den Kosten gewichtete Mindestmenge Rmin der zu mobilisierenden Ressourcen. Also: V>kRmin. Als Beispiel sei an eine Kampagne gegen die Errichtung eines Flugplatzes in einem Wohngebiet von 1000 Hauseigentümern gedacht. Der Schaden durch den Flugplatz für die Hauseigentümer werde auf 20 Millionen DM geschätzt, mit einem durchschnittlichen Schaden von 20 000 DM pro Hausbesitzer. Eine – nach allen bisherigen Erfahrungen – hinreichend sicher erfolgreiche Kampagne zur Abwendung des Flugplatzes erfordere die Mobilisierung von 100 000 DM an Ressourcen, etwa für eine Anzeigenkampagne oder für die Bestechung des Fraktionsvorsitzenden der örtlichen Regierungspartei. Damit gelten in der Terminologie des Modells: N=1000, V=2 000 000, v=20 000 und kRmin=100 000.
Was soll der einzelne Hausbesitzer nun aber unter den verschiedenen Bedingungen tun? Wir wissen aus der Analyse des Problems des kollektiven Han6
Vgl. Pamela Oliver, Gerald Marwell und Ruy Teixeira, A Theory of the Critical Mass. I. Interdependence, Group Heterogeneity, and the Production of Collective Action, in: American Journal of Sociology, 91, 1985, S. 522-556.
Opportunitäten und Restriktionen
290
delns in Kapitel 7 von Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“, daß der einzelne Akteur nur dann teilnimmt, wenn seine Bilanz stimmt: Der erwartete Nutzen aus seiner Beteiligung muß größer sein als die individuellen Kosten, die er zu tragen hat. Wenn Ur nun der als individueller Nutzen erlebte Nettoertrag aus dem individuellen Beitrag ist, dann muß der größer sein als die auf ihn entfallenden Kosten. Der Nettoertrag ist aber gleich dem Wert v, den er erwarten kann, wenn die Kampagne Erfolg hat, gewichtet mit der Wahrscheinlichkeit p(r), daß sie wirklich erfolgreich ist, abzüglich der Kosten, die der individuelle Ressourceneinsatz r für ihn mit sich bringt. Dies ergibt den folgenden Zusammenhang: Ur = v⋅p(r) – kr. Die Werte von k und v liegen fest. Damit aber hängt die Höhe des Nettoertrages Ur von dem Zusammenhang der Variablen p(r) und r ab: Wie beeinflußt eine bestimmte Mobilisierung von Ressourcen die Wahrscheinlichkeit, daß die Mindestmobilisierung erreicht wird und die Revolution gelingt? Der Zusammenhang von r als input und p(r) als output ist aber der Inhalt der Produktionsfunktion zwischen Ressourceneinsatz und der Wahrscheinlichkeit des Erfolges. Die betreffenden Produktionsfunktionen können natürlich ganz unterschiedliche Verläufe haben. Wir wollen aus der Fülle aller Möglichkeiten drei wichtige Formen herausgreifen, weil sie die soziologischen Aspekte des Problems der Mobilisierung von Revolutionen als Folge von zunächst technisch vorgegebenen Opportunitäten besonders gut verdeutlichen: konvex verlaufende Produktionsfunktionen mit abnehmendem, konkav verlaufende Produktionsfunktionen mit zunehmendem und S-förmige Produktionsfunktionen mit zuerst zunehmendem, dann stagnierendem und schließlich abnehmendem Grenzertrag. Die drei Formen von Produktionsfunktionen sind in Abbildung 9.3 skizziert.
Die stumme Macht der Möglichkeiten
293
gativ. Ab dem kritischen Punkt r* lohnt sich für diese Funktion die Investition jedoch – und zwar in einem immer stärkeren Maße (Abbildung 9.4b). Alles kommt also darauf an, die kritische Masse von Ressourcen r* zu mobilisieren. Wenn das gelingt, dann wird die Mindestmenge Rmin mit Sicherheit erreicht, weil jetzt geradezu ein Wettlauf der Beteiligung beginnt, da jeder fühlt, daß es sich auch für ihn lohnt, und bei dem jede weitere Investition die nächste noch lohnender macht. Einen interessanten Sonderfall bildet schließlich die Produktionsfunktion mit S-förmigem Verlauf. Eine solche Funktion wäre beispielsweise p(r)=3r2-2r3. Die dazugehörige Ableitung p(r)’=6r-6r2 bildet die Form einer nach unten offenen Parabel (vgl. Abbildung 9.4c): Die Steigung beginnt bei null und nimmt dann zu, der Zuwachs der Steigung wird aber immer geringer, erreicht dann ein Maximum und nimmt schließlich immer rascher wieder ab, bis die Steigung wieder null ist. Die Funktion p(r)’ schneidet, wenn das Maximum der Steigung größer ist als k/v, die kritische Grenze zweimal. Dadurch gibt es einen Sektor an Ressourceneinsatz zwischen den beiden kritischen Punkten r* und r**. Vorher lohnt es sich nicht, und nachher auch nicht. Wenn Rmin innerhalb des Sektors liegt, muß – wie bei der Funktion mit zunehmendem Grenzertrag – erst die kritische Masse r* erreicht werden. Wenn Rmin dagegen größer als r** ist, dann entsteht auch bei Überschreiten der ersten kritischen Grenze r* zusätzlich das gleiche Problem wie bei der Funktion mit abnehmendem Grenzertrag: Eine Mobilisierung findet zwar statt, aber sie reicht für den Erfolg des Unternehmens nicht aus.
Die Produktionsfunktionen folgen – es sei noch einmal wiederholt – gewissen technischen Umständen, die die Akteure als Möglichkeitsstrukturen vorfinden. Nun wird auch der soziale Aspekt der Möglichkeiten zur Mobilisierung wichtig: die Differenzierung der Bevölkerung in Hinsicht auf eine bestimmte Verteilung des Interesses an dem Kollektivgut und der Kontrolle über die nötigen Ressourcen in der Population. Bisher waren wir ja davon ausgegangen, daß die Bevölkerung in Hinsicht auf Interesse und Kontrolle homogen ist. Das aber ist empirisch meist nicht der Fall, und es hat auch weitreichende Folgen für die Chancen einer Mobilisierung. Wir wollen den Aspekt der Differenzierung der Bevölkerung nur an einem Fall durchgehen, der wohl der empirisch häufigste ist: zunehmende Grenzerträge und das dabei besonders gravierende Problem der Überwindung einer kritischen Masse der Mobilisierung von Ressourcen. Dazu sei angenommen, daß die Produktionsfunktion der Funktion p(r)=ar+r2 (mit a>0) folge, und daß die Steigung der Produktionsfunktion p(r)’ deshalb mit p(r)’=a+2r gleich zu Beginn bereits größer als null ist. Das Interesse der Akteure bestimmt den von ihnen eingeschätzten Wert v des Gelingens des Unternehmens: Je höher das Interesse an dem Kollektivgut, desto höher ist der Wert v. Die Kontrolle der Akteure über die zu mobilisierenden Ressourcen bestimmt die jeweiligen Kosten k: Je geringer die Kontrolle über eine Ressource, desto größer sind die Kosten k, sie zu besorgen und einzusetzen. Anders gesagt: Wenn die Ressourcen schon kontrolliert werden, kostet ihre Mobilisierung nichts weiter. Und je schwieriger die Beschaffung der Ressourcen ist, um so mehr kostet das.
Die Population sei nun in zwei Segmente unterteilt. Die Akteure aus dem Segment A haben ein Interesse an dem Kollektivgut mit dem Wert vA und eine Kontrolle über die Ressourcen mit daraus folgenden Kosten in Höhe von
Die stumme Macht der Möglichkeiten
295
grenzt sind. Die reichen Wohltäter könnten maximal auch nur Ressourcen in Höhe von rA bereitstellen. Damit aber wäre die Mindestmobilisierung Rmin noch lange nicht erreicht. Nun wird der „Anschluß“ für andere Segmente aus der Population wichtig. Und siehe: Die Kosten-Nutzen-Relation für die Angehörigen des Segmentes B ist – welch ein Tag! – derart, daß der für dessen Teilnahme kritische Punkt r*B durch die Mobilisierung des Segmentes A auf dem Punkt rA leicht überschritten wird. Und nun lohnt sich mit einem Mal auch für die zurückhaltendere Gruppe B die Ressourcenmobilisierung. Der durch die Gruppe A begonnene Prozeß kann also weiterlaufen, weil dadurch die Gruppe B „angesteckt“ wird. Und mühelos wird mit der Bereitstellung von Ressourcen nun auch durch die Gruppe B bei rB die Mindestmobilisierung Rmin erreicht. Kurz: Eine „günstige“ Struktur der Differenzierung der Population sorgt für die nötigen „Anschlußmöglichkeiten“ dafür, daß die Bewegung auf die Beine kommt: „A pool of highly interested and resourceful individuals willing to contribute in the initial region of low returns may therefore become a ‚critical mass‘ creating the conditions for more widespread contributions.“ (Oliver, Marwell und Teixeira 1985, S. 543; Hervorhebung nicht im Original)
Manchmal reicht es auf diese Weise schon aus, daß es nur einen Helden gibt, der den Anfang macht und durch seine Tat die anderen mitreißt (vgl. dazu auch noch Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“ und das Problem des „missing heroe“ bei der Einrichtung von Institutionen). Dazu muß dieser aber nicht nur etwas Wirksames tun können, sondern auch ein besonders starkes Interesse an dem Gelingen der Bewegung haben: „If even one such person exists, he or she may begin a process in which continuously increasing numbers of group members find that the contributions of others have changed the situation to one in which they, too, wish to contribute. The bandwagon may roll, started by a single person. For the process to start, however, this initiator must have an extraordinarily high interest in the collective good ... .“ (Ebd.; Hervorhebung nicht im Original)
Nicht immer gibt es solche nützlichen Idioten oder Gruppen von vermögenden und interessierten Aktivisten, weil die Bevölkerung zu homogen in ihrem Mittelmaß ist. Unterschiede im Interesse und in der Kontrolle unter den Betroffenen, und nicht die Gleichheit der Massen im Elend verbessern also die Chancen, daß etwas geschieht – zum Wohle auch der Mittelmäßigen: „ ... the resolution of an accelerative collective dilemma is highly problematic, depending on the rare circumstance of there being a critical mass of persons whose combination of interests and resources is high enough to overcome the feasibility problem. Groups fortunate enough to have a critical mass can enjoy the collective good; less fortunate groups cannot. Resource and interest heterogeneity are essential to the resolution of accelerative collective dilemmas,
296
Opportunitäten und Restriktionen
for a homogeneous group cannot contain a critical mass.“ (Ebd., S. 542; Hervorhebung nicht im Original)
Es ist die gleiche Idee, die Mancur Olson schon hatte: Nicht die große Masse der ohnmächtigen Interessierten schafft das Kollektivgut, sondern eher mächtige und besonders interessierte Vorreiter tun etwas, was zwar in ihrem individuellen Interesse liegt, von dem aber alle profitieren. Es ist – wieder – ein Fall der Ausbeutung der Großen durch die Kleinen. Die Tragik so mancher nicht-stattgefundenen Revolution oder sozialen Bewegung liegt in dieser nur zu verständlichen Asymmetrie: Mitmachen würde schon der eine oder andere auch der Kleinen, wenn der Ressourceneinsatz schon anfangs hohe Erträge bringen würde. Für ein Picknick, einen Betriebsausflug oder eine Familienfeier trifft das wohl auch zu. Die werden ja auch gerne und häufig organisiert, weil schon das Organisieren Spaß macht. Revolutionen sind aber riskantere und aufwendigere Unternehmungen. Für sie gelten eher Produktionsfunktionen mit erst sehr spät steigenden Erträgen. Und selbst wenn das Interesse sehr groß wäre: Meist kontrollieren die an der Revolution Interessierten nicht genug von den nötigen Ressourcen. Dadurch bleibt für sie die Ratio k/v meist unüberwindlich hoch. Und deshalb geschieht gerade bei großer Verelendung der Massen fast nie etwas. Und so wird auch das Paradox verständlich, auf das Alexis de Tocqueville aufmerksam gemacht hat: Wenn sich die Lage bessert, dann sinkt vielleicht das Interesse an der Revolution etwas, aber es verbessert sich dann auch die Kontrolle über die Ressourcen – und zwar meist mehr noch als durch die Verbesserung der Lage das Interesse an der Revolution abnimmt. Wenn jetzt nur für eine besonders interessierte und befähigte – und etwas verrückte – Untergruppe die kritische Grenze der Teilnahme überschritten wird und Interesse und Kontrolle bei den übrigen „Massen“ nur einigermaßen „günstig“ verteilt sind, dann bricht der Sturm los. Plötzlich. Unwiderstehlich. Unaufhaltsam.
Beispiel 4: Schwellenwerte und die Eigendynamik von Kollektiven Die Idee der Differenzierung einer Population als struktureller Hintergrund für die Mobilisierung sozialer Prozesse läßt sich verallgemeinern. Dazu muß nur angenommen werden, daß die Akteure im Prinzip alle möglichen Grade von Interesse an dem Kollektivgut und an Kontrolle über die nötigen Ressourcen haben können. Das heißt: Sie variieren in der Konstanten k/v in beliebiger Weise. Und das heißt wiederum: Sie „benötigen“ ganz unterschiedli-
Die stumme Macht der Möglichkeiten
297
che Mengen bereits mobilisierter Ressourcen, um selbst hinreichend zur Teilnahme motiviert zu sein. Die Menge der schon mobilisierten Ressourcen können natürlich auch bereits teilnehmende andere Personen sein. Insofern läßt sich die für jeden Akteur nötige „kritische Masse“ auch als die Menge bereits teilnehmender anderer Personen angeben, die nötig ist, damit der Akteur selbst teilnimmt. Die für einen Akteur i für seine eigene Teilnahme derart „notwendige“ Anzahl anderer, bereits teilnehmender Akteure ist sein individueller Schwellenwert der Teilnahme si. Die Handlungsregel ist ganz einfach: Der Akteur i beteiligt sich an der Aktivität, wenn mindestens eine gewisse Anzahl von s anderen Akteuren bereits teilnimmt. Andernfalls läßt er es sein.7 Das sog. sterbende Seminar ist ein Beispiel für die Funktionsweise von Schwellenwerten (vgl. Schelling 1978, S. 91f.). Es werde ein Seminar – sagen wir: ein Lektürekurs über Luhmann – angeboten. In der ersten Sitzung erscheinen tatsächlich 25 StudentInnen. Nicht alle sind gleich an dem Thema interessiert. Manche sind richtige Luhmann-Enthusiasten und würden auch kommen, wenn sie unter sich blieben, andere wollen sich erst einmal anhören, wie die Sache so läuft. Drei der weniger enthusiastischen StudentInnen fanden das Seminar in der ersten Sitzung dann doch nicht so rasend interessant, weil es außer Luhmann und dem Assistenten nichts Nettes zu sehen gab – und bleiben in der zweiten Sitzung weg. Die übrigen StudentInnen merken den Schwund natürlich in der nächsten Sitzung. Mit der geringeren Teilnehmerzahl wird die Sache uninteressanter: Die Wahrscheinlichkeit, abgefragt zu werden, steigt, und der frühe Schwund ist auch ein Signal dafür, daß der Luhmann-Kurs so rasend wichtig auch nicht sein kann. Daraufhin finden die nächsten fünf das Seminar nicht mehr ganz so attraktiv. Und so weiter – bis entweder eine stabile, hochmotivierte Kerngruppe übrig geblieben ist, oder aber das Seminar nach einigen Sitzungen wegen Teilnehmermangels abgesetzt wird.
Das Beispiel läßt schon ahnen, daß das „Verhalten“ des Kollektivs vor allem von der Verteilung der Schwellenwerte in der Gruppe abhängt. So ist es in der Tat. Wir wollen – der Einfachheit halber – annehmen, daß die Gruppe aus 100 Akteuren bestehe. Jeder der individuellen Akteure hat „seinen“ Schwellenwert si. Der Schwellenwert kann Werte zwischen null und 100, annehmen: Bei s=0 ist das Interesse so groß, daß niemand sonst teilnehmen muß, bei s=99 müßten alle anderen schon teilnehmen, um es selbst zu tun. Ein Schwel7
Vgl. zum Konzept der Schwellenwertmodelle insbesondere: Mark Granovetter, Threshold Models of Collective Behavior, in: American Journal of Sociology, 83, 1978, S. 14201443; Mark Granovetter und Roland Soong, Threshold Models of Diffusion and Collective Behavior, in: Journal of Mathematical Sociology, 9, 1983, S. 165-179. Für die Weiterentwicklung und eine Anwendung auf den Fall der Leipziger Montagsdemonstrationen vgl. Susanne Lohmann, The Dynamics of Informational Cascades. The Monday Demonstrations in Leipzig, East Germany, 1989-91, in: World Politics, 47, 1994, S. 42101. Die folgende Darstellung stützt sich vor allem auf: Thomas C. Schelling, Micromotives and Macrobehavior, New York und London 1978, Kapitel 3: Thermostats, Lemons, and Other Families of Models, S. 91ff.
Die stumme Macht der Möglichkeiten
299
haben müssen, und daß sich deshalb maximal an der Bewegung nur jene 85 Personen beteiligen würden, für die es Schwellenwerte innerhalb des Bereichs zwischen 0 und 100 gibt. Die Säulen der Stabdiagramme haben wir mit durchgehenden Linien einer angenommenen kontinuierlichen Verteilung verbunden. Die einfache Verteilung ähnelt in – sehr – groben Zügen der Normalverteilung, die kumulierte Häufigkeitsverteilung deren Summenfunktion. In Abbildung 9.6b sind die Punkte 0,0 und 100,100 der beiden Variablen F(s) und s und durch eine Diagonallinie verbunden. Diese Diagonale ist eine ganz besondere Linie: Sie kennzeichnet alle einzelnen Bezugspunkte bereits vorhandener Teilnehmer F(s), bei denen sich ein Akteur i mit einem bestimmten Schwellenwert si beteiligen würde, weil nun die Voraussetzung für seine eigene Teilnahme erfüllt ist. Zwei Fälle sind zu unterscheiden: Wenn F(s)<si ist, dann nimmt der Akteur nicht teil, wenn F(s)=si oder wenn F(s)>si ist, dann doch. Und die Folge: Immer wenn die kumulierten Häufigkeiten unterhalb der Diagonale liegen, dann nehmen weitere Akteure nicht teil, und die, die es schon taten, ziehen sich wieder zurück, weil die für die eigene Teilnahme „nötige“ Anzahl von Teilnehmern nicht erreicht wird. Und immer wenn sie sich auf oder oberhalb der Diagonalen befinden, dann werden Akteure mit höheren Schwellenwerten angelockt, weil nun die „nötige“ Teilnehmerzahl erreicht ist. In Abbildung 9.7 haben wir dieses „Verhalten“ des Kollektivs für eine stilisierte kontinuierliche Verteilung von Schwellenwerten skizziert.
Die stumme Macht der Möglichkeiten
301
sehen dann, was passiert und ziehen daraus ihre Konsequenzen. Es sind diese erwartungsgesteuerten Versuche der Akteure und die Reaktionen auf die Versuche der anderen, die den Prozeß – vor dem Hintergrund der strukturell gegebenen und damit festliegenden Verteilung der Schwellenwerte – treiben. Thomas C. Schelling beschreibt den Vorgang der individuellen Handlungen, die das „Verhalten“ des „Systems“ ausmachen und antreiben, so: „Suppose 25 or 30 people were expected to attend, possibly because that’s the number who attended last week. With that expectation there are only a dozen who will show up, and most of them will be disappointed, only one or two wanting to attend with a dozen. Next week we should expect almost nobody, and nobody at all the week after. If instead two-thirds are expected, three quarters will show up, none disappointed, and there are still others who would have appeared had these 75 been expected. And next week if 75 are expected 80 or more will show, and by the following week all will be present who would ever attend. If more than 85 are expected 85 will attend, none disappointed, and the 85 should continue.“ (Schelling 1978, S. 105)
Die kumulierte Häufigkeitsverteilung F(s) schneidet in dem angenommenen Beispiel die Diagonale in drei Punkten (a, b und c; vgl. Abbildung 9.7b). Die drei Schnittpunkte kennzeichnen – vor dem Hintergrund der geschilderten Vorgänge – drei typische Ergebnisse: die Gleichgewichte des Systems. Der Punkt a bezeichnet den Fall, daß F(s) und s genau gleich sind. Solange – etwa in einem Seminar – exakt soviele kommen, wie die Akteure mindestens als nötig erachten, wird niemand enttäuscht sein, und alle werden wiederkommen. Es wird aber, wenn nichts Zufälliges oder Unerwartetes geschieht, auch niemand mehr hinzustoßen, weil dazu eine höhere Beteiligung anderer nötig wäre, die es jedoch auch nicht gibt, weil dazu mehr Teilnehmer nötig wären, als anwesend sind. Wenn aber jetzt auch nur einer, etwa aus Krankheitsgründen, wegbleibt, verfällt die Teilnahme rasch. Das Seminar „muß“ ja für alle mindestens die Größe s=a haben, aber die ist mit dem Fehlen auch nur eines Teilnehmers nicht mehr erreicht. Der Prozeß strebt dann schrittweise auf den Punkt b, auf dem er dann verharrt: Niemand nimmt mehr teil. Wenn dagegen nur einer mehr erschiene als a, etwa ein zufällig vorbeikommender Seniorenstudent, dann werden sofort Teilnehmer mit höheren Schwellenwerten angezogen – solange bis der Punkt c erreicht ist. Dieser Punkt wird auch erreicht, wenn – wie auch immer – noch mehr Akteure mit dann allerdings auch höheren Schwellenwerten teilgenommen hätten. Die werden jetzt auch enttäuscht und bleiben dann weg – bis wieder Schwellenwert und Teilnehmerzahl genau gleich sind.
Die Pfeile bezeichnen die Dynamik des Systems und die Richtung der Bewegung des Kollektivs. Vom Punkt a weisen die Pfeile weg, zu den Punkten b und c führen sie hin, wobei c von beiden Richtungen her erreicht wird. Der Punkt a kennzeichnet damit ein instabiles Gleichgewicht: Sobald es auch nur eine minimale Abweichung von der Bedingung F(s)=s gibt, strebt der Prozeß von diesem Gleichgewicht weg zu einem anderen. Die Punkte b und c sind dagegen stabile Gleichgewichte: Sie werden bei einer Auslenkung vom instabilen Gleichgewicht und von jedem anderen Punkt der Verteilung mit Sicherheit wieder erreicht. Für die angenommene Verteilung hat das eine interessan-
Die stumme Macht der Möglichkeiten
303
mitreißen. Aber auch das ist oft zu wenig, wie man der Verteilung 2 entnehmen kann. Zwar beginnen einige wenige mit hinreichend niedrigen Schwellenwerten, aber der „Anschluß“ an die konservativeren breiten Massen wird nicht gefunden. Es bleibt beim Aktivismus einer kleinen radikalen Minderheit in der Größe von b’ – und das war es dann auch. Das ist bei der Verteilung 3 anders. Hier ist die Zahl der zu allem entschlossenen agents provocateurs nicht höher als in der Konstellation 2. Aber danach sieht es für die Bewegung günstiger aus, weil jetzt der Anschluß an breitere Schichten der Bevölkerung gefunden ist. Der Prozeß strebt nun unaufhaltsam der Mobilisierung c zu. Leicht ist der Zusammenhang der Schwellenwertmodelle zu dem Konzept der kritischen Masse aus dem Beispiel 3 herzustellen. Wir wollen annehmen, daß für den Erfolg der Bewegung die Mindestmobilisierung Rmin erforderlich war. Die wird mit der Konstellation 3 locker überschritten. Gut wird jetzt auch erkennbar, worin das Problem liegt, wenn die Kerntruppe der agents provocateurs oder der interested wealthy benefactors nicht groß genug ist: Es „darf“ zwischen ihnen und den konservativeren Teilen der betroffenen Bevölkerung keine größere Lücke in der Mobilisierbarkeit, in den nötigen kritischen Massen, in den Schwellenwerten geben. Wie diese Lücke in der Anschlußfähigkeit des Prozesses geschlossen werden kann, ist eine andere Frage. Sie ist – theoretisch – leicht zu beantworten: durch Erhöhung des Interesses und die Vergrößerung des Wertes v und/oder durch die Stärkung der Ressourcenkontrolle und die damit mögliche Senkung der Kosten k. Beides senkt den Schwellenwert für die Teilnahme: Wenn ich in meinen Interessen stark „betroffen“ bin, dann wird mir zunehmend egal, was die anderen machen. Und wenn die Zeit reif ist, wenn sich also die Verteilung der Schwellenwerte der kritischen Grenze der Diagonale im unteren und mittleren Bereich angenähert hat, dann genügt schon ein Funke, um die Bombe platzen zu lassen. Die Erhöhung der Brotpreise oder ein nicht gegebener Elfmeter – zum Beispiel.
Das „Verhalten“ des Kollektivs wird ohne Zweifel von individuellen Akteuren getragen. Entscheidend ist aber ein struktureller Sachverhalt, den die individuellen Akteure selbst nicht unter Kontrolle haben und meist auch nicht kennen können: die Verteilung der Schwellenwerte. Sie allein bestimmt die Zahl und die Art der Gleichgewichte. Es lassen sich für typische Verteilungen von Schwellenwerten typische Formen des Verhaltens der Kollektive ableiten. Zwei davon möchten wir – nicht nur zur Illustration des Prinzips – darstellen: Das Verhalten eines Kollektivs bei einer Normalverteilung und bei einer Uförmigen Verteilung der Schwellenwerte.8 Die beiden Verteilungen spiegeln jeweils ganz unterschiedliche gesellschaftliche Verhältnisse in der „Betroffenheit“ wider. Die Normalverteilung spiegelt den Normalfall einer verhältnismäßig integrierten Gesellschaft mit einigen, aber relativ wenigen, die sehr unzufrieden sind, aber auch nur relativ wenigen, die jedem Wandel abhold wären, wider. Normalverteilt sind eher die Probleme einer schweigenden und im Grunde recht zufriedenen Mehrheit, die weder besonders radikal, noch besonders konservativ ist. Eine U-förmige Verteilung von Schwel8
Vgl. Andreas Diekmann, Sozialkapital und das Kooperationsproblem in sozialen Dilemmata, in: Analyse und Kritik, 15, 1993, S. 27ff.
Die stumme Macht der Möglichkeiten
305
100 Prozent der Bevölkerung. Die U-Verteilung erzeugt dagegen nur ein Gleichgewicht – und zwar ein stabiles. Es liegt – weil die Verteilung auch symmetrisch ist – genau in der Mitte der Schwellenwerte und der Teilnehmerzahl. Das aber hieße: Die halbe Gesellschaft geht auf die Straße. Nicht auszudenken. Dieses Ergebnis ist schon etwas kontraintuitiv: In einer „integrierten“ Gesellschaft bleibt danach alles ruhig – bis es, wie auch immer, zu einer Mobilisierung mindestens der Hälfte der Bevölkerung kommt, worauf sich die andere Hälfte ebenfalls beteiligt und die Gesellschaft sich komplett ändert. In einer „gespaltenen“ Gesellschaft dagegen gibt es immer nur die Gegensätze der Gruppe, keine „Integration“, aber auch keine Revolution, die die gesamte Bevölkerung umfaßt. Das alles sagt jedenfalls das Schwellenwertmodell für den Fall, daß sich die Schwellenwerte in der angegebenen Weise verteilen. Und wenigstens auf den ersten Blick widerspricht dem der empirische Augenschein nicht: Die allermeisten „Revolutionen“ einer integrierten Gesellschaft (mit normalverteilten Schwellenwerten) finden eben nicht statt, einfach weil die nötige Anfangsmobilisierung mit der Hälfte(!) der Bevölkerung so gut wie nie erreicht wird.
Das Modell der Schwellenwerte ist beileibe nicht nur auf das Entstehen von Revolutionen oder die Mobilisierung von sozialen Bewegungen anwendbar – wie das Beispiel des sterbenden Seminars schon zeigt. Alle denkbaren kollektiven Unternehmungen, die auch davon leben, daß die Akteure sich darin unterscheiden, wieviele andere für sie schon dabei sein müssen, damit sie sich auch entschließen können, lassen sich damit leichter verstehen: das Leben und Sterben einer Freizeitfußballmannschaft, das Aufrauschen und Abebben von Beifall im Theater oder nach einer Vorlesung, das verbotene Parken, das Rauchen in Nichtraucherabteilen, das Äußern von Meinungen und die sog. Schweigesignale, die Verbreitung modischer oder technischer Neuerungen, wie das Inlineskaten oder das Internet, die ethnische Zusammensetzung eines Stadtviertels, die personelle Besetzung einer Fakultät oder einer Universität – zum Beispiel. Alle diese Prozesse sind davon abhängig, wie die Verteilung der kritischen Schwellenwerte vorher schon ist und wieviele Akteure dann – wie auch immer – tatsächlich schon mitmachen. Ohne Zweifel sind dabei die Interessen und Kontrollen der Individuen beteiligt. Sie bestimmen ja die Verteilung der nötigen kritischen Massen und der Schwellenwerte. Aber der wichtige Punkt ist hier wie bei den anderen Modellen der stummen Macht der Möglichkeiten auch: Die Akteure fungieren in ihrem jeweiligen Verhalten wechselseitig als objektiver Kontext von Möglichkeiten. Und es ist die strukturell gegebene Anordnung der Interessen und der Kontrolle der Individuen, die bestimmt, was insgesamt geschieht – meist ohne oder oft genug sogar gegen die erklärten Absichten und Erwartungen der individuellen Akteure.
306
Opportunitäten und Restriktionen
Beispiel 5: Netzwerkstrukturen und die Ausbreitung von Neuerungen Unterschiedliche Schwellenwerte sind Folgen unterschiedlicher Grade an Interesse und Kontrolle, aber auch an Vorsicht und Furcht vor ungewissen Konsequenzen. Deshalb brauchen manche Menschen mehr, andere weniger Vorreiter, um selbst mitzumachen. Normalerweise sind die Menschen nicht sehr wagemutig. Manchmal aber gehört der Mut zur Neuerung geradezu zu ihrem Beruf. Wissenschaftler, Manager und Techniker müssen stets auf der Suche nach neuen Wegen sein. Auch Ärzte gehören dazu: Ständig kommen neue Medikamente auf den Markt. Nicht alle taugen etwas. Daher ist eine gewisse Zurückhaltung durchaus verständlich. Aber wer bei einem wirklich guten neuen Präparat zu spät kommt mit dem Verschreiben, den bestrafen die Patienten – mit Wegbleiben oder – viel schlimmer – mit Besserwisserei und peinlichen Hinweisen auf die nicht so verschlafenen Konkurrenten, bei denen die Bekannten so gut mit diesem neuen Wunderpräparat bedient wurden. Die Aufnahme eines neuen Medikamentes in das Routinerepertoire der Verschreibungen ist ein Spezialfall des allgemeineren Problems der Übernahme von Neuerungen. Neuerungen setzen sich auf sehr unterschiedliche Weise durch: Allmählich und in einer fast konstanten Rate, plötzlich wie eine Welle anwachsend und mit stürmischer Gewalt – oder aber, nach einem schon zögernden Aufflackern, überhaupt nicht. Zwei Fragen treten bei der Erklärung solch unterschiedlicher Verläufe der Übernahme von Neuerungen auf: Wie kommt ein Akteur an die Information über die Neuerung? Auf welche Weise ist er zu der Überzeugung gelangt, daß die Neuerung auch für ihn persönlich der bessere Weg ist? Für die erste Frage ist der Bezug zu den Opportunitäten unmittelbar einsichtig: Wenn es keine oder nur wenig Gelegenheiten gibt, an Informationen über Neuerungen zu gelangen, dann wird die Übernahme nicht oder relativ spät erfolgen. Bei der zweiten Frage ist der Bezug nicht gleich so offenbar. Ist das nicht eine Angelegenheit der Güte der Neuerungen und der „individuellen“ Entscheidung, bei der die Opportunitäten keine Rolle mehr spielen? In einer bald nach ihrem Erscheinen berühmt gewordenen Studie haben James S. Coleman, Elihu Katz und Herbert Menzel genau auch diese zweite Frage untersucht:9 Was bringt Ärzte dazu, ein neues Medikament in ihr Repertoire aufzunehmen, nachdem sie davon Kenntnis erlangt haben? Und welche Rolle spielt dabei eine besondere Art der strukturellen Gelegenheiten: Die Verfüg9
James S. Coleman, Elihu Katz und Herbert Menzel, Medical Innovation. A Diffusion Study, Indianapolis, New York und Kansas City 1966.
Die stumme Macht der Möglichkeiten
307
barkeit von freundschaftlich verbundenen Kollegen, mit denen man die Fragen um das Für und Wider des neuen Medikamentes offen und sachlich diskutieren kann. Das Medikament, um das es ging, haben Coleman, Katz und Menzel Gammanym genannt. In einem Zeitraum von insgesamt 17 Monaten wurde für 216 Ärzte in vier Städten des amerikanischen Mittelwestens untersucht, wann sie Gammanym erstmals verschrieben haben und was sie danach taten. Zu erklären waren typisch unterschiedliche Verläufe der Übernahme von Gammanym. Als Orientierungshypothese diente die oben schon erwähnte Zwei-Stufen-Theorie der Kommunikation: Wer hat warum eher Zugang zu Informationen über das neue Medikament? Und bei wem funktioniert warum die Umsetzung der Information in die Übernahmeentscheidung eher? Bei der Studie kamen im wesentlichen drei Dinge heraus. Erstens korrespondierten eine Reihe von individuellen Merkmalen der Ärzte mit unterschiedlichen Raten der Übernahme: Die jüngeren, die besser ausgebildeten, die wissenschaftlich mehr interessierten, die viele Kongresse besuchenden und Fachjournale lesenden Ärzte verschrieben Gammanym eher als ihre älteren und etwas verschlafenen Kollegen. Das war ganz offensichtlich vor allem ein Effekt der frühzeitigeren Information über das neue Präparat durch den besseren Zugang zu Informationen über neue Medikamente und des höheren individuellen Interesses, einmal etwas anderes zu versuchen. Interessanterweise hatten dabei die Besuche von Pharmavertretern keinen Einfluß auf das Verschreibungsverhalten (Coleman, Katz und Menzel 1966, S. 44). Der wichtigste individuelle Faktor für die Umsetzung war vielmehr – zweitens – die Gewohntheit des Arztes im Umgang mit Medikamenten aus der Familie der Gammanym-Präparate: Wer in der Vergangenheit schon häufig ein zu Gammanym ähnliches Präparat verschrieben hatte, tat das deutlich eher als diejenigen, für die Gammanym von der Art des Medikamentes her ganz neu war. Wichtiger aber als alle diese „individuellen“ Variablen erwies sich – drittens – die soziale Integration der Ärzte. Damit war die Tätigkeit in einem Krankenhaus, in einer Gemeinschaftspraxis, die Einbindung in ein Netzwerk von Informationsaustausch und Fachdiskussionen, sowie das Vorhandensein von Ärzten unter den Freunden gemeint (vgl. zum Begriff der Integration in Netzwerken Kapitel 6 in Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“, und Kapitel 7 oben in diesem Band). Das Ergebnis war neu und ganz eindeutig: Wer – ganz allgemein – mit anderen Ärzten Kontakt hatte, verschrieb Gammanym deutlich eher als jemand, der ganz allein in der Einsamkeit seiner Praxis verblieb.
Drei der Ergebnisse haben wir in Abbildung 9.10 zusammengefaßt.
Die stumme Macht der Möglichkeiten
309
chen Präparat (Abbildung 9.10b) hat ebenfalls einen deutlich erkennbaren Effekt auf die Differenz in der Übernahme. Aber hier zeigt sich zwischen den Gruppen auch ein Unterschied in der Struktur des Verlaufs. Die Kurven sind nicht mehr parallel zueinander. Bei niedriger Gewohntheit ist die Struktur die gleiche wie in Abbildung 9.10a, bei hoher Gewohntheit ist sie anders. Nun steigt die Übernahme in den ersten Phasen relativ steil bis zu einer oberen Grenze an und verflacht dann plötzlich auf dem rasch erreichten hohen Niveau. Dieses Muster in den Unterschieden zwischen den Gruppen finden wir noch ausgeprägter in Abbildung 9.10c bei der Wirkung der sozialen Integration. Bei den isolierten Ärzten gibt es wieder einen von Beginn an niedrigeren und flacher verlaufenden, stets geringer werdenden Anstieg des Verschreibens von Gammanym. Bei den sozial integrierten Ärzten beginnt der Prozeß auf einem etwas höheren Niveau, verläuft aber gleich von Beginn an sehr steil und endet ganz abrupt mit dem Erfassen (fast) der gesamten Population der miteinander bekannten Ärzte. Offensichtlich ist hier ein anderer Mechanismus am Werke.
Die Unterschiede in der Höhe der Übernahmerate zwischen den Gruppen nach „individuellen“ Merkmalen lassen sich recht leicht erklären. Sie spiegeln die Unterschiede in der individuellen „Anfälligkeit“ wider, der Neuerung nachzugeben. Wie aber lassen sich die erkennbaren Unterschiede in den Strukturen des Prozesses erklären? Und warum ist es offenbar insbesondere die soziale Integration in bestimmte Beziehungen, die diesen Unterschied in der Struktur des Prozeßverlaufes bewirkt? Dazu wollen wir uns einmal den Vorgang der Verbreitung einer Neuerung in verschiedenen Populationen näher ansehen. Der zentrale Unterschied sei dabei das Ausmaß der sozialen Integration der Akteure in drei Populationen (Ebd., S. 104ff.). In der ersten Population habe jeder der Akteure genau drei Freunde, mit denen er in Kontakt steht. In der zweiten Population gebe es nur jeweils zwei Freunde. Und in der dritten Population haben alle nur jeweils einen Freund. Betrachtet werde die Verbreitung einer Neuerung in den ersten drei Monaten. Dabei wird angenommen, daß in jedem Monat aus irgendwelchen externen Gründen einer der Akteure in Kontakt mit der Neuerung kommt und sie übernimmt. Dieser benötigt dann genau einen Monat, um alle seine Freunde dazu zu bringen, die Neuerung auch zu übernehmen. Was geschieht? Der Vorgang ist in Abbildung 9.11 zusammengefaßt (nach: Coleman, Katz und Menzel 1966, S. 105).
Die stumme Macht der Möglichkeiten
311
Die extern „angesteckten“ Akteure sind mit Vierecken gekennzeichnet, die von ihnen über die Beziehung beeinflußten Freunde mit Kreisen. Im ersten Monat werde in jeder Population ein Akteur extern und eher zufällig zur Übernahme der Neuerung bewogen. Bei Netzwerken der Größe drei (Abbildung 9.11a) führt dies wegen der sozialen Verbundenheit mit drei Akteuren zu drei neuen Ansteckungen im zweiten Monat. Dies ergibt für den zweiten Monat zusammen mit der angenommenen weiteren externen Ansteckung eine Anzahl von vier Übernahmen. Jeder der vier Angesteckten hat wiederum drei Freunde, von denen drei einen, so sei angenommen, bereits im ersten Monat angesteckten Freund haben. Daraus ergeben sich – wiederum bei einer weiteren extern motivierten Übernahme – im dritten Monat 10 Ansteckungen. Und so weiter. Bei Netzwerken mit zwei Freunden (Abbildung 9.11b) ist der Verlauf schon erheblich schleppender: Nach der einen Übernahme im ersten Monat gibt es jetzt im zweiten Monat nur drei, dann fünf – und so weiter. Immerhin steigt die Übergangsrate aber noch an. Dies ist anders für Populationen nur mit Dyaden als Netzen (Abbildung 9.11c). Jetzt bleibt es bei nur zwei Ansteckungen ab dem zweiten Monat. Für die ganz isolierten Doktoren gäbe es nur externe Ansteckungen: Jeden Monat eine.
Damit wird der Unterschied in der Struktur des Prozeßverlaufes zwischen sozial integrierten und isolierten Ärzten unmittelbar klar: Bei einer höheren sozialen Vernetzung füttert sich der Prozeß mit dem Voranschreiten der Zeit immer stärker selbst: „This explains the fact that ‚social‘ variables divide doctors into an integrated group ... , which exhibits increasing responsiveness to gammanym as the year goes on, and a group of more or less isolated individuals, whose responsiveness to gammanym remains fairly constant over the months.“ (Coleman, Katz und Menzel 1966, S. 106)
Unterschiede im „Niveau“ des Prozesses – welcher Struktur auch immer – werden durch die „individuellen“ Variablen erklärbar. Auf die Struktur des zeitbezogenen Prozesses haben sie keinen weiteren Einfluß: „‚‚Individual‘ variables, evidently, represent factors that do not increase in their progammanym content with the passage of time, although they do divide doctors into categories that have different levels of responsiveness to gammanym to begin with.“ (Ebd.)
Natürlich hat dieser Vorgang der „autokatalytischen“ Erfassung der Population eine Grenze: Wenn immer mehr schon angesteckt sind, dann bleibt für Neuansteckungen immer weniger Platz. Deshalb bricht der Prozeß auch nach einer gewissen Zeit – mehr oder weniger plötzlich – in sich zusammen, während diese Sättigung sich bei den isolierten Populationen gleich von Beginn an und auch zum Schluß nur viel allmählicher bemerkbar macht. Hinter den geschilderten Prozessen bei sozial integrierten und isolierten Populationen stecken zwei ganz allgemeine Modelle der Verbreitung nicht nur von Neuerungen. Es handelt sich um Modelle eines Prozesses der Diffusi-
312
Opportunitäten und Restriktionen
on. Sie sind anwendbar für alle möglichen Sorten von Neuerungen: Moden, ansteckende Krankheiten, Gerüchte, Techniken und Wissen ganz allgemein. Die beiden Modelle haben die Gemeinsamkeit, daß die Änderungsrate in der Ansteckung jeweils von der zu einem bestimmten Zeitpunkt t schon erreichten Sättigung abhängig ist. Darauf waren wir ja schon gestoßen: Wenn schon viele angesteckt sind, dann müssen die Neuansteckungen zurückgehen. Betrachtet werde die Ansteckung mit der Neuerung Y. Der Anteil der schon Infizierten werde mit y ausgedrückt. Die Ansteckungsrate ist dann die Veränderung dieses Anteils in einer bestimmten, infinitesimal kleinen Zeiteinheit t: dy/dt. Sie ist – wie man sich leicht vorstellen kann – von der Sättigung der Population mit den Neuerungen abhängig: Zu Beginn können noch viele angesteckt werden, später immer weniger. Die Sättigung läßt sich somit als Differenz zwischen dem Anteil der schon Infizierten y und der auf die Größe 1 normierten Gesamtpopulation ausdrücken. Wenn die Einzelansteckungen ausschließlich extern bedingt sind und mit einer festen Rate k erfolgen, dann ist die Ansteckungsrate dy/dt=k(1-y). Der Koeffizient k drückt dabei Unterschiede in der responsiveness – etwa für verschiedene individuelle Variablen, wie etwa die individuelle Orientierung der Ärzte – aus. Bei einem „reinen“ Ketten- oder Schneeballprozeß, bei dem jeder Angesteckte wieder eine bestimmte Anzahl anderer aus der Population infiziert ist die Änderungsrate dagegen dy/dt=ky(1-y). Denn: Jeder Angesteckte hat wieder Kontakt mit anderen aus der Population, die er wiederum ansteckt. Und die Wahrscheinlichkeit, daß sich ein Angesteckter mit einem nicht Angesteckten trifft ist – im einfachsten Fall – dem Produkt der jeweiligen Anteile genau gleich (vgl. dazu auch schon das Beispiel 1 in diesem Kapitel und das Modell der Kontaktwahrscheinlichkeiten für unterschiedliche Populationsstrukturen).
Man sieht unmittelbar, warum es bei dem Kettenmodell zu Beginn des Prozesses nur wenig Ansteckungen gibt, es dann aber zu einem rapiden Zuwachs in der Ansteckungsrate kommen muß: Anfangs ist y noch klein, und damit das Produkt ky(1-y) auch. Dann wird das Produkt y(1-y) immer größer – bis y=.50 beträgt, und die Hälfte der Population erfaßt ist. Hier erreicht die Ansteckungsrate ihr Maximum, und die Kurve der kumulierten Ansteckungen ihre höchste Steigung. Schließlich wird y immer größer, damit aber (1-y) notwendigerweise immer kleiner – bis ky(1-y) wieder gegen null geht. Die Struktur des Prozesses beim Kettenmodell wäre damit ein S-förmiger Verlauf. Das Modell der konstanten externen Ansteckung dagegen hat den Verlauf eines abnehmenden Grenzzuwachses, weil die Population der anzusteckenden Organismen von Beginn an immer kleiner wird, „intern“ ja keine Ansteckungen erfolgen und auch die Anfälligkeit k ja in der Zeit konstant ist. Wir haben die beiden Idealtypen von Diffusionsprozessen in Abbildung 9.12 zusammengefaßt und jeweils auch Unterschiede in der individuellen Anfälligkeit zwischen bestimmten Gruppen über unterschiedliche Werte von k berücksichtigt.
Die stumme Macht der Möglichkeiten
315
„The paradox disappears, however, when it is realized that office partnerships are small closed systems of relationships, and that a snowball process very quickly reaches its limits within small closed systems.“ (Ebd., S. 110; Hervorhebung im Original)
Es ist exakt die Situation wie sie in Abbildung 9.11c dargestellt wurde: ein Arzt mit einem „Freund“ und einer konstant kleinen Ansteckungsrate. Dieser Sachverhalt verweist auf die enorme Bedeutung von sog. Brückenbeziehungen zwischen den kleinen geschlossenen Netzwerken von Freundschaften oder Gemeinschaftspraxen. Erst über bestimmte liaison persons kann die Ansteckung von einer kleinen Lebenswelt zur nächsten überspringen. Mark S. Granovetter berichtet in seiner Studie über die „Strength of Weak Ties“ von einem ähnlich gelagerten Fall. Die italienische Gemeinde des West End von Boston war nicht in der Lage, sich gegen eine drohende „Stadterneuerung“ zur Wehr zu setzen – obwohl alle Welt den Eindruck hatte, daß es sich um eine eng vernetzte Welt guter Bekannter handelte, die sich wegen dieser Vernetzung leicht hätten dagegen mobilisieren lassen müssen. Den Eindruck hatten die („teilnehmenden“) Beobachter aus den Familien gewonnen, zu denen sie Zugang hatten. Was die Beobachter übersehen hatten, war dann dies: Die Familien hielten in der Tat zusammen wie Pech und Schwefel. Aber es gab zwischen ihnen keinerlei Überbrückung.10 Die italienische Gemeinde war, wie Mark S. Granovetter sagt, „completely partitioned into cliques“ (Ebd., S. 1373). Und das war zuwenig für ein erfolgreiches kollektives Handeln gegen die Stadtverwaltung zur Abwehr der sog. Stadterneuerung in Boston.
Was lernen wir? Beziehungen und Netzwerkstrukturen sind die für die Verbreitung von Neuerungen wichtigsten Bedingungen und bilden insoweit ein äußerst wichtiges (soziales) Kapital, etwa von Professionsgemeinschaften. Sie strukturieren die Möglichkeiten sogar so, daß der Prozeß eine Art von Eigenleben bekommt. Natürlich gibt es diese Möglichkeiten nicht von „Natur“ aus. Sie können geschaffen, geändert und zerstört werden. Auch das haben wir ja schon in Abschnitt 8.6 oben in diesem Band über das soziale Kapital gesehen. Aber wenn es sie einmal gibt, dann steuern sie den Prozeß – deutlicher jedenfalls als es die allermeisten individuellen Variablen tun könnten.
Beispiel 6: Toleranz und Koexistenz Im zweiten Beispiel hatten wir gesehen, wie deutliche Segregationen aus eigentlich recht wenig ausgeprägten Affiliationsneigungen entstehen können. 10
Mark S. Granovetter, The Strength of Weak Ties, in: American Journal of Sociology, 78, 1973, S. 1373ff. Vgl. dazu auch Abschnitt 8.6 über das sog. soziale Kapital im vorhergehenden Kapitel. Der hier angesprochene Aspekt ist ein Fall des nicht ausreichend vorhandenen Systemkapitals bei der Gemeinde der italienischen Familien, genauer, der nicht ausreichenden Systemkontrolle aufgrund einer unvollständigen Vernetzung der Mitglieder mit der Folge, daß es zur Organisation des Kollektivgutes „Widerstand gegen die Stadtverwaltung“ bei den italienischen Familien nicht gekommen ist.
316
Opportunitäten und Restriktionen
Die Präferenzen für die Zusammensetzung einer Nachbarschaft oder eines größeren Wohnviertels müssen natürlich nicht für alle Akteure gleich sein: Die einen möchten vielleicht ganz unter sich leben, andere wären mit einer gemischten Nachbarschaft zufrieden, und wieder andere würden es sogar nett finden, daß sie in einem ansonsten ganz von Angehörigen der anderen Gruppe bewohnten Gebiet siedeln. Die unterschiedlichen Präferenzen für eine bestimmte Zusammensetzung des Wohnviertels könnte man dann als unterschiedliche Toleranzen ansehen, Angehörige der jeweils anderen Gruppe im eigenen Wohnviertel zuzulassen. Die Toleranzen wirken dabei wie ein Schwellenwert: Wenn der Anteil der anderen Gruppe im Viertel einen maximalen Wert der jeweiligen Toleranz überschreitet, dann zieht der betreffende Akteur in ein Gebiet um, das seinen Präferenzen eher entspricht. Das ist die Grundidee des nun folgenden Modells über die Dynamik des „Verhaltens“ eines Systems von Gruppen, deren Mitglieder um das gleiche Wohngebiet konkurrieren und sich in ihrer Toleranz unterscheiden. Es stammt ebenfalls von Thomas C. Schelling (Schelling 1978, S. 155ff.; Schelling 1971, S. 167ff.). Mit ihm läßt sich – wie auch schon bei dem Modell der Entstehung von Segregationen – zeigen, wie verschiedene Populationen miteinander „interagieren“, indem das Verhalten der Akteure für die anderen Akteure jeweils die objektiven Bedingungen ändert, was sie dann u.U. wieder zu einem bestimmten Verhalten bringt ... und so weiter. Es ist auf ganz verschiedene „Nachbarschaften“ anwendbar, etwa auf die Mitgliedschaften in Organisationen, Vereinen oder Fakultäten, oder auf den Besuch von Freizeitparks, Parties oder Restaurants. Nun zu dem Modell. Beginnen wir mit der ersten wichtigen Größe: die Toleranz der Akteure. Eine bestimmte Toleranz kann man in der Toleranzrelation r ausdrücken, die ein Akteur für die Komposition seiner Wohnumgebung zuzulassen bereit ist. Eine Toleranzrelation von r=0 hieße, daß niemand der anderen Gruppe dort wohnen dürfte, eine von r=1, daß das Verhältnis der beiden Gruppen genau gleich sein dürfte, eine von r=2, daß doppelt soviele zugelassen würden wie von der eigenen Gruppe – und so weiter. Die Toleranzrelationen beziehen sich also auf das zugelassene Verhältnis der absoluten Größe der Gruppen in einem Gebiet. Die Gruppengröße ist daher die zweite wichtige Variable. Wir wollen nur zwei Gruppen annehmen: Weiße (W) und Schwarze (S). Die Gruppengröße insgesamt sei mit N bezeichnet. Die Gruppe der Weißen umfasse genau 100 Personen, die der Schwarzen sei 50 Personen groß. Es gilt also: Nw=100 und Ns=50. Wichtig wird nun drittens die Verteilung der Toleranzrelationen r über die Akteure der beiden Gruppen hinweg. Die Werte der Toleranzrelationen r, sollen – wieder der Einfachheit halber – bei beiden Gruppen nur zwischen null
Opportunitäten und Restriktionen
318
0.4, was bedeutet, daß nun 0.4⋅40=16 Angehörige der W-Gruppe zugelassen würden. Der Zusammenhang zwischen den Toleranzrelationen und der jeweils zugelassenen Anzahl von Angehörigen der jeweils anderen Gruppe folgt aufgrund der Annahme einer Gleichverteilung logischerweise einer negativ geneigten linearen Funktion. Wenn wir die maximale (In-)Toleranzrelation mit R, die Gruppengröße insgesamt mit N, die jeweils betrachtete Anzahl mit n und die damit variierenden Toleranzrelationen mit r bezeichnen, dann gilt für diese Funktion, weil R der Achsenabschnitt der r-Achse ist, und weil die Steigung -R/N der Funktion das negative Verhältnis angibt, um wieviel sich die Toleranzrelation r ändert, wenn sich n um eine Einheit ändert: r = R – (R/N)n So läßt sich für jeden Wert von n der dazugehörige Wert von r bestimmen (und umgekehrt). Für die beiden Gruppen ergeben sich verschiedene Funktionen, weil die Gruppengrößen unterschiedlich sind: Nw=100 und Ns=50. Mit R=2 bei beiden Gruppen findet man somit: rw = 2 – 0.02⋅nw rs = 2 – 0.04⋅ns. Wir werden die beiden Formeln gleich brauchen, um herauszufinden, wieviele weitere Angehörige der anderen Gruppe jeweils toleriert werden, wenn es eine bestimmte Anzahl nw bzw. ns in einem Gebiet schon gibt.
Weil in einem bestimmten Gebiet immer jeweils bestimmte absolute Anzahlen von Mitgliedern der verschiedenen Gruppen leben, bezieht sich die Zufriedenheit der Akteure letztlich darauf, wieviele von ihrer eigenen Gruppe in absoluten Zahlen dort schon leben und wieviele sie von der anderen Gruppe dann noch in absoluten Zahlen maximal zulassen würden – gegeben natürlich das tolerierte Größenverhältnis r der beiden Gruppen. Die bei einer gegebenen Toleranzrelation r maximal hingenommene absolute Anzahl von Angehörigen der anderen Gruppe sei als die absolute Toleranz t bezeichnet. Für unsere beiden Gruppen haben wir zwei verschiedene Bezüge von t: die absolute Toleranz tsw der Weißen gegenüber den Schwarzen für eine gegebene Anzahl nw von Weißen im Gebiet, und die absolute Toleranz tws der Schwarzen gegenüber den Weißen bei einer vorliegenden Anzahl ns von Schwarzen. Die absoluten Toleranzen tsw und tws lassen sich für die gegebene Gleichverteilung der Toleranzrelationen r über die beiden Populationen leicht ausrechnen: tsw = nw⋅rw tws = ns⋅rs. Gesucht werden jeweils die Werte von tsw bzw. tws bei variierenden Anzahlen nw bzw. ns. Welche Werte jeweils r hat, läßt sich nach den beiden gerade oben
320
Opportunitäten und Restriktionen
Das Ergebnis ist natürlich eine „logische“ Folge der Verteilung der Toleranzrelationen und der jeweiligen Gruppengrößen. Die Logik, die die Struktur des Verlaufs der absoluten Toleranzen tsw bzw. tws gegenüber dem Zuzug weiterer Mitglieder der anderen Gruppe in Abhängigkeit der Anzahl schon anwesender Mitglieder der eigenen Gruppe nw bzw. ns erzeugt, ist jedesmal die gleiche. Nämlich: Die tolerantesten Mitglieder einer Gruppe lassen am meisten zu. Wenn sie selbst nur wenige an der Zahl sind, ist aber auch bei hohen Toleranzrelationen nur wenig Platz für die anderen. Deshalb sind auch die tolerierten absoluten Anzahlen der anderen Gruppe nur gering. Wenn die Anzahl der Angehörigen der eigenen Gruppe steigt, können zwar mehr aufgenommen werden, aber es verringern sich auch die Toleranzrelationen, weil jetzt mehr und mehr intolerantere Personen der eigenen Gruppe hinzugekommen sind. Bei der angenommenen Gleichverteilung ist die Maximalgrenze der absoluten Toleranz t jeweils bei N/2 erreicht. Danach sinkt die Bereitschaft zur Aufnahme stärker, als die wachsende Anzahl von Angehörigen der eigenen Gruppe an Zuzug der anderen Gruppe zulassen würde. Beide Gruppen interagieren also miteinander: Was die Angehörigen der einen Gruppe tun, hat Folgen für die Situation der anderen. Wenn es für Schwarze in einem Gebiet – etwa – zuviele Weiße gibt, dann können sie umziehen – und machen damit das von ihnen verlassene Gebiet für Weiße interessant, die niedrigere Toleranzrelationen haben und deshalb vorher um das Gebiet einen Bogen machten. Die innere Dynamik dieses Systems läßt sich leicht rekonstruieren, wenn wir die Verteilungen der absoluten Toleranzen t in Abhängigkeit der Anwesenheitszahlen n für beide Gruppen in ein Diagramm einzeichnen (Abbildung 9.16).
322
Opportunitäten und Restriktionen den folgenden maximalen absoluten Toleranzen und als Resultat des Vergleichs mit dem aktuellen Zustand: tsw = 20⋅1.6 = 32 > ns = 20 tws = 20⋅1.2 = 24 > nw = 20. Das Ergebnis ist eindeutig: Bei allen Akteuren aus beiden Gruppen bleibt die Anzahl der Anwesenden der anderen Gruppe unter der kritischen Grenze der Toleranzen: 32 bzw. 24 als Toleranzgrenzen bei jeweils nur 20 Anwesenden der anderen Gruppe. Sie haben keinerlei Anlaß wegzuziehen. Im Gegenteil: Es werden andere, hinreichend tolerante Akteure aus beiden Gruppen noch von außen her angezogen. Dies ist durch den nach oben und nach rechts zeigenden kleinen Pfeil symbolisiert.
Region II: Ein Beispiel für die Region II wäre die Anwesenheit von 50 Weißen und wieder 20 Schwarzen. Das ergibt diese absoluten Toleranzen: tsw = 50⋅1.0 = 50 > ns = 20 tws = 20⋅1.2 = 24 < nw = 50. Die Weißen können es hier aushalten: Ihre absolute Toleranz ist mit 50 weit höher als die aktuelle Anzahl der Schwarzen von 20. Aber den Schwarzen sind die Weißen zuviel: Sie tolerieren 24, müssen sich aber mit 50 abgeben. Und die Folge: Es werden noch mehr Weiße zuziehen, einige Farbige aber ausziehen. Der Pfeil zeigt diese Bewegung an: nach unten und nach rechts. Region III: Hierfür seien 15 Weiße und 30 Schwarze angenommen. Das ergibt für die folgenden absoluten Toleranzen: tsw = 15⋅1.7 = 25.5 < ns = 30 tws = 30⋅0.8 = 24 > nw = 15. Jetzt ist es genau umgekehrt wie in Region II: Die Weißen wollen ausziehen, weil es für sie zuviele Schwarze sind, und es wollen noch mehr Schwarze einziehen, weil die Schwelle der tolerablen Anzahl von Weißen unterschritten ist. Deshalb zeigt der Pfeil für die Dynamik des „Systems“ nach oben und nach links. Region IV: Nehmen wir als Beispiel dafür etwa den Fall von 25 Weißen und 40 Schwarzen. Wir ahnen es schon: Jetzt sind für beide Gruppen zuviel von den anderen anwesend. Die Toleranzgrenzen sind für jede Gruppe überschritten. Denn es gilt nun: tsw = 25⋅1.5 = 37.5 < ns = 40 tws = 40⋅0.4 = 16 < nw = 25. Und die Folge: Beide Gruppen drängen in Gebiete, in denen weniger der jeweils anderen Gruppe anwesend sind. Der Pfeil zeigt daher nach unten und nach links.
Die stumme Macht der Möglichkeiten
323
Sieht man sich die Dynamik des Systems – grob skizziert über die Pfeile für die vier Regionen – insgesamt an, dann wird erkennbar, daß es auf zwei stabile Gleichgewichte hin tendiert. Das erste liegt beim Punkt a mit den Koordinaten (0,50), und das zweite beim Punkt b mit den Koordinaten (100,0). Was genau geschieht, hängt von der Ausgangssituation des Prozesses ab. Thomas C. Schelling beschreibt die Vorgänge so: „If initially one color predominates it will move toward complete occupancy. If initially some of both are present, in ‚satisfied‘ numbers, relative speeds of black and white entry will determine which of the two eventually turns discontent and evacuates. If both are initially present in large numbers, relative speeds of exit will determine which eventually becomes content with the ratio, reverses movement, and occupies the territory.“ (Ebd., S. 160)
Kurz: Schon bald wird es – trotz aller Toleranzen auf beiden Seiten – wieder vollkommen homogene Gebiete geben, in denen sich die beiden Gruppen separieren. Aber was ist mit dem gemischten Gebiet der Region I, in dem doch alle mit der multikulturellen Situation ganz zufrieden sind? Leider ist das keine stabile Angelegenheit. Den Grund haben wir oben schon gesehen: Das Gebiet zieht Außenstehende aus beiden Gruppen an. Das aber wiederum verändert die Situation sukzessiv und unaufhaltsam: „The difficulty is that any such mixture attracts outsiders, more of one color or both colors, eventually more of just one color, so that one color begins to dominate numerically. A few individuals of the opposite color then leave; as they do, they further reduce the numerical status of those of their own color who stay behind. A few more are dissatisfied, and they leave; the minority becomes even smaller, and cumulatively the process causes evacuation of them all.“ (Ebd., S. 160f.)
Also: Nach und nach bewegt sich die Zusammensetzung des Gebietes auf den Punkt c zu. Dieser Punkt bezeichnet aber ein instabiles Gleichgewicht. Jede noch so kleine Abweichung davon führt dazu, daß ein anderes Gebiet – II, III oder IV – erreicht wird. Und von dort aus geht es dann schnurstracks auf eines der beiden stabilen Gleichgewichte a oder b zu. Und es ist zu Ende mit der friedlichen Koexistenz. Das geschilderte spezielle Ergebnis ist natürlich auch eine Folge der Wahl der Annahmen und der Parameter, vor allem über die Toleranzrelationen, die Gruppengrößen und die Verteilung der Toleranzrelationen über die Gruppen. Die gleiche Logik kann man aber ohne weiteres für andere Annahmen und Parameter anwenden. Thomas C. Schelling tut das dann auch (Schelling 1978, S. 161ff.). Eine Änderung des Modells wäre etwa die, daß – alles andere gleichbleibend – die Gruppen die gleiche Größe von N=100 haben und daß jetzt die maximale (In-)Toleranzrelation bei beiden Gruppen R=5 ist. Nun sehen die Toleranzgrenzen folgendermaßen aus (Abbildung 9.17):
326
Opportunitäten und Restriktionen
Das ist ein in der empirischen Scheidungsforschung stets gefundenes typisches Ergebnis. Unmittelbar nach der Heirat geschieht noch nicht viel, und das ist ja auch kein Wunder: Es dauert ja immer etwas, ehe eine Liebe zerbricht, vor allem aber bis auch die nötigen rechtlichen Schritte abgewickelt sind. Bald aber nimmt das Risiko, gemessen über die sog. Hazardrate r, deutlich zu, erreicht etwa in dem offenbar in der Tat verflixten siebten Jahr seinen Höhepunkt und sinkt dann kontinuierlich wieder ab. Wie könnte man sich nun aber diesen „sichel“-artigen Verlauf des Scheidungsrisikos erklären? Es gibt im Grunde zwei verschiedene Erklärungen. Die eine sei als das Mis-Match-Modell bezeichnet. Sie besagt, daß es bei den Ehen im Grunde zwei gänzlich verschiedene Typen gibt: einerseits Ehen, bei denen von vorne herein gleich schon der Wurm drin ist, etwa weil die Partner nicht zusammenpassen und sie das sofort nach der Heirat auch merken; diese Ehen werden folglich schon bald nach der Heirat geschieden. Und andererseits Ehen, denen nichts und niemand etwas anhaben kann und die deshalb nie geschieden werden; sie sind gewissermaßen gegen ihren Zerfall immun. Wenn nun die „Risiko“-Ehen alsbald geschieden werden, dann steigt natürlich im ganzen Aggregat aller Ehen das Scheidungsrisiko erst einmal an. Damit scheiden aber notwendigerweise die Risikoehen nach und nach aus dem Aggregat aus, so daß es bald immer weniger Scheidungskandidaten gibt. Und die Folge: Die Hazardrate sinkt wieder – und geht schließlich gegen null, weil niemand mehr da ist, der dem Risiko unterliegt. Es ist im Prinzip der gleiche Vorgang wie bei der Rate von Ansteckungen bei Epidemien oder bei der Diffusionsrate von Neuerungen (vgl. dazu auch schon das Beispiel 5 oben in diesem Kapitel): Zuerst sind die Ansteckungs- bzw. die Übernahmeraten hoch und dann müssen sie absinken, weil es immer weniger sind, die noch von der Epidemie erfaßt werden oder die Neuerung noch übernehmen könnten. Diese Erklärung hat einiges für sich. Die andere ist aber auch nicht ohne. Sie beruht auf einem ganz anderen Ansatz, nämlich dem, daß im Grunde alle Ehen den gleichen Grundprozeß durchlaufen, den man vereinfachend mit dem Dreierschritt Honeymoon-Krise-Anpassung beschreiben könnte: Auf die schöne Zeit des Honeymoon folgt für alle unweigerlich die Krise, die aber bald wieder in einer Anpassung aneinander überwunden wird, wenngleich nicht von allen Paaren. Und die Paare, bei denen die Krise nicht überwunden wird, lassen sich dann scheiden. Wichtig ist dabei, daß sich die drei Schritte dieses Prozesses nicht bloß „irgendwie“ hintereinander ereignen, sondern einer endogenen und unentrinnbaren Dynamik unterliegen. Und die treibende und letztlich das Ergebnis bestimmende Kraft sind – wieder einmal – die Bestrebungen der Akteure zur möglichst effizienten Nutzenproduktion und vor
Die stumme Macht der Möglichkeiten
327
allem die Restriktionen des Handelns, denen sie dabei schrittweise und fast unvermeidbar unterliegen. Dieses Modell des Funktionierens und des evtl. Zerfalls von Ehen wird auch als das Micro-Model of Marriage (MMM) bezeichnet.12 Seine Grundannahmen stammen aus der ökonomischen Theorie der Heirat und der Scheidung von Gary S. Becker, ergänzt durch einige Ideen aus der „exit-voicetheory“ von Albert O. Hirschman und dem Konzept der sog. X-efficiency aus der Theorie der Organisationen von Harvey Leibenstein: Ehen werden geschlossen und stabil gehalten, sofern der gemeinsam erwartete Ehegewinn höher ist als der Gewinn, den jeder der Partner von Alternativen erwarten kann, wie das Leben als Single oder das in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft. Weiterhin wird angenommen, daß eine Ehe in eine Scheidung einmündet, wenn der erwartete Ehegewinn kleiner ist als der Gewinn, der nach der Auflösung der Ehe noch erreichbar ist. Der Kernvorgang aller dieser Prozesse ist die erfolgreiche Produktion von Ehegewinn und die Nicht-Verfügbarkeit besserer Alternativen. Das MMM geht damit von der Annahme aus, daß eheliche Beziehungen eine Art von „Organisation“ darstellen mit dem Ziele der Produktion von Ehegewinn. Wie andere Organisationen sind Ehen damit ebenfalls stets von der Versuchung begleitet, die Gegenleistungen für bestimmte Aufwendungen des jeweils anderen Partners zu reduzieren und damit individuelle Ressourcen auf Kosten des anderen einzusparen (vgl. dazu auch noch Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Daher gibt es eine konstante Gefahr, daß die Produktion des Ehegewinns ihre „Effizienz“ verliert. Aus diesem Grund benötigen eheliche Beziehungen – wie jede andere Organisation – ein bestimmtes System der sozialen Kontrolle. Teil dieser Kontrolle ist eine spezielle Besonderheit von Ehen: die spezifische emotionale Loyalität der Partner zueinander und, zumindest gelegentlich, zu der ehelichen Beziehung als einer „Institution“ mit einem Wert für sich selbst. Deshalb wird angenommen, daß bei Absinken der Produktion von Ehegewinn nicht unmittelbar ein Exit erfolgt, sondern zunächst eine Zunahme an Protesten in der Hoffnung, daß die Produktion des Ehegewinns wieder ansteigen möge. Eine Bedingung für diese erneute Verbesserung der Produktion des Ehegewinns ist jedoch die Aufmerksamkeit der Partner zueinander und im Speziellen die Reagibilität des Verhaltens auf die Protestreaktionen, sowie die Korrektur des Verhaltens, das zuvor zur Verminderung in der Produktion des Ehegewinns geführt hatte. Die Reagibilität auf das Protestverhalten kann verhältnismäßig gering sein, wenn es eine hohe Produktivität in der ehelichen Beziehung zur Produktion des Ehege12
Vgl. Hartmut Esser, Social Modernization and the Increase in the Divorce Rate, in: Journal of Institutional and Theoretical Economics, 149, 1993, S. 252-277.
328
Opportunitäten und Restriktionen
winns gibt, z.B. durch einen guten „match“ der Partner nach der Ansammlung gemeinsamer Erfahrungen und der Etablierung einer „gemeinsamen Welt“; oder einfacherweise durch eine schon technisch effiziente interne Organisation des Alltags. Dies impliziert, daß in Fällen einer hohen Produktivität die Aufmerksamkeit und der Aufwand, der für die Produktion eines hinreichenden Ehegewinns nötig ist, verhältnismäßig gering sein kann. Das MMM verbindet damit vier Typen von Variablen durch vier Funktionen zu einem Interdependenzsystem, dem System der Ehe, wobei wir, der Einfachheit halber, das System als symmetrisch und damit für beide Partner die gleichen Parameter annehmen wollen. Die Variablen sind der Ehegewinn, Protest, Aufmerksamkeit und Aufwand. Die vier Funktionen von Zusammenhängen zwischen diesen Variablen können wie folgt beschrieben werden: Der Ehegewinn wird durch den Input eines bestimmten Ausmaßes an Aufwand produziert, und beide Größen variieren damit gleichsinnig und positiv (1); der Grad des produzierten Ehegewinns bestimmt das Protestausmaß in der Weise, daß geringere Grade von Ehegewinn eine höhere Protestintensität provozieren (2); das Ausmaß des Protestes bestimmt dann den Grad der Aufmerksamkeit (3); und der Grad der Aufmerksamkeit wiederum bestimmt den Aufwand, der getrieben wird, um den Ehegewinn zu produzieren (4). Die erste und die vierte Funktion beschreiben sozusagen den Produktionsaspekt der ehelichen Beziehung, die beiden anderen Funktionen das interne Kontrollsystem der Ehe (vgl. Abbildung 9.19).
330
Opportunitäten und Restriktionen
unterschieden werden. Es sind die drei „Stadien“, die dem MMM zufolge jede Ehe durchläuft: Honeymoon, Krise und Anpassung. Das Gleichgewicht „Honeymoon“ ist durch hohe Beiträge jeder der beiden Partner gekennzeichnet, seien es Beiträge an Aufwand zur Produktion des Ehegewinns oder solche des Protestes, und einem hohen Grad an gegenseitiger Aufmerksamkeit. Es gibt jedoch dabei eine charakteristische „Unproduktivität“ der Produktionsfunktion für den Ehegewinn in Abhängigkeit von dem Input an Aufwand. Der Grund dafür ist einfacherweise, daß die Partner in dieser Phase zwar stark aufeinander bezogen sind, sich jedoch noch nicht sehr gut kennen. Diese Unbekanntheit selbst ist ein wichtiger Aspekt des hohen Ausmaßes an Aufmerksamkeit sowie auch der Attraktivität zueinander (und damit des Ehegewinns): Nur was neu ist, reizt besonders. Diese erste Phase der Ehe ist damit gekennzeichnet durch einen hohen Grad an Aufwand, Ehegewinn, Protest und Aufmerksamkeit.
Der exzessive Grad an Aufmerksamkeit und Aufwand kann jedoch kaum über eine längere Periode aufrecht erhalten werden. Die Gründe dafür liegen sowohl in internen wie externen Prozessen, die die Möglichkeiten für einen nicht endenden Honeymoon nachhaltig begrenzen. Der interne Prozeß hat mit der engen Verbindung von Unvertrautheit und Attraktivität zu tun. Starke Emotionen und die „romantische Liebe“ kühlen sich nahezu automatisch mit dem Zuwachs an Vertrautheit der Partner ab. Externe Prozesse sind im speziellen die Rückkehr zu den Restriktionen des Alltagslebens und Änderungen in der ehelichen Beziehung selbst. Kinder beispielsweise absorbieren einen großen Teil der gegenseitigen Aufmerksamkeit der Partner und verringern auf diese Weise die Reagibilität auf eventuellen Protest, und die eintretenden Zeitrestriktionen machen höhere Grade von Aufmerksamkeit und Aufwand nicht länger möglich. Das ist das zweite Stadium in der Geschichte der Beziehung: die Krise. Diese Phase ist durch eine Änderung in der Funktion zwischen Protest und Aufmerksamkeit gekennzeichnet: Der gleiche Grad an Protest bringt nicht mehr den gleichen Grad an Aufmerksamkeit wie zuvor (vgl. die Veränderung 1 auf die Funktion 3’ in Abbildung 9.19). Die Kontrollstruktur in der Beziehung bricht mindestens partiell zusammen. Der geringere Grad an Aufmerksamkeit vermindert den Aufwand, und deshalb sinkt die Produktion des Ehegewinns gleichzeitig. Diese Phase ist durch ein hohes Ausmaß an Protest gekennzeichnet, mindestens bei einem der beiden Partner, und die Grade der Aufmerksamkeit, des Aufwandes und des ehelichen Gewinns sind kleiner als zuvor.
Alles hängt nun davon ab, ob die Produktion von Ehegewinn wieder gesteigert werden kann. Die Ehe kommt nun in eine Phase der Bifurkation: Entweder führt die Krise zur Auflösung der Ehe oder zu einer effizienteren Organisation in der Produktion des Ehegewinns und somit zu einer Restabilisierung des Systems auf einem dann wieder hinreichend hohen Ausmaß der Produktion von Ehegewinn. In der Phase der Krise kann insbesondere die Investition in das sogenannte ehespezifische Kapital empfindlich gestört sein, so daß
Die stumme Macht der Möglichkeiten
331
wichtige Vorbedingungen für die Produktion höherer Grade von Ehegewinn in späteren Phasen der Ehe nicht erfüllt werden. Eine Restabilisierung kann jedoch nur dann wieder erreicht werden, wenn die (Produktions-) Funktionen zwischen Aufwand und Ehegewinn verbessert werden, damit der Verlust an Ehegewinn aus der Phase der Krise (über-) kompensiert werden kann (vgl. die Veränderung 2 auf die Funktion 1’ in Abbildung 9.19). Der wohl wichtigste Weg zur Erhöhung der Effizienz der Produktion von Ehegewinn ist irgendeine Form der „Anpassung“ der Beziehung an die neue Alltagssituation, wie beispielsweise die Entdeckung eines besseren Matches als zuvor, die Änderung von (schlechten) Gewohnheiten und – für die meisten Ehen wohl am wichtigsten – ein gewisses Ausmaß an ehelicher Arbeitsteilung. Dies ist das dritte Gleichgewicht: Anpassung. Mit dem gleichen Grad an Aufwand kann nun mehr Ehegewinn produziert werden. Im neuen Gleichgewicht gibt es einen geringeren Grad an Aufmerksamkeit und weniger Aufwand, aber ein hohes Ausmaß an Ehegewinn, und zwar in Abhängigkeit von der konkreten Gestalt der Funktionen, und das Protestniveau ist auch wieder reduziert. Das Modell zeigt außerdem eine interessante und nicht triviale Implikation: Protest ist auch nach der Reorganisation der Ehe zu einer höheren Produktivität ein Teil des Gesamtsystems. Mit anderen Worten: Die Kontrollstruktur der Beziehung bleibt intakt, und auch in Ehen mit einem hohen Grad an wechselseitiger Anpassung gibt es weiter Streit.
Wenn die Transformation der Beziehung zu einer effizienteren Organisation hingegen fehlschlägt, ist die permanente Verminderung des Ehegewinns das Ergebnis. Deshalb ist ein viertes Gleichgewicht möglich: Wenn der Protest mittelfristig als fruchtlos erfahren wird, vermindert sich die Reagibilität zwischen Ehegewinn und Protest, und das führt wiederum zu sehr geringen Graden bei allen vier Variablen: geringe Aufmerksamkeit, geringer Aufwand, geringer Ehegewinn und – last but not least – geringes Protestniveau (in Abbildung 9.19 nicht dargestellt). Kurz: Das System zur Produktion von Ehegewinn ist zusammengebrochen. Wenn nun mindestens einer der Partner eine für ihn akzeptable Alternative wahrnimmt, ist das (zumindest psychische) Ende der Ehe besiegelt. Wenn man nun den Ehegewinn aus der Honeymoon-Phase, bestehend aus der Attraktivität und hoher Aufmerksamkeit, und den aus der Anpassung zu einem Gesamtehegewinn aggregiert, so erhält man einen typischen Funktionsverlauf der Höhe des Ehegewinns mit der Zeit (vgl. Abb. 9.20). Die (Netto-) Produktion des Ehegewinns sinkt unmittelbar nach dem Beginn der Ehe, weil der Honeymoon relativ rasch ausläuft und die Anpassung noch nicht gut ist. Sie erreicht relativ rasch einen bestimmten Tiefpunkt und steigt dann nach einer (eventuellen) erfolgreichen Reorganisation wieder an. Wenn der Nettogewinn während des Prozesses der abnehmenden Produktion für mindestens einen der Partner unter eine bestimmte kritische Schwelle (CL) absinkt, bricht die Ehe zusammen, bevor die Effekte einer Reorganisation wirksam werden
Die stumme Macht der Möglichkeiten
333
die Investition in ehespezifisches Kapital ein – mehr oder weniger komplizierter – Fall der sogenannten antagonistischen Kooperation ist. Beide Partner können durchaus ein hohes Interesse an der Reorganisation haben, wenn es jedoch auch nur die Möglichkeit gibt, daß die Reorganisation fehlschlägt und die Ehe eventuell später doch zusammenbricht, könnten die Partner vor der „Anpassung“ zurückschrecken, ganz einfach weil sie sich selbst vor der „sucker“-Position schützen wollen (vgl. dazu auch das Verhandlungsmodell zur Erklärung der Kinderlosigkeit von vor allem gut ausgebildeten Frauen von Notburga Ott in Kapitel 4 oben in diesem Band). Dieses Problem ist für Ehen besonders schwerwiegend, weil jede Anpassung und jede Investition Kapital produziert, das spezifisch nur für diese Ehe gilt und durch das die Abhängigkeit vom Weiterbestand dieser Beziehung anwächst. Dieses wiederum erhöht die Differenz zwischen der Bedrohung mit der sucker-Position und der sicheren Alternative zur „Defektion“, und damit steigt die Neigung, die Anpassung zu lassen, unabhängig vom Ausmaß des Gewinnes, den jeder zu erwarten hat, wenn die Beziehung erhalten bleibt. Der erfolgreiche Übergang vom Honeymoon über die Krise zur Anpassung erfordert damit die Lösung eines Problem des kollektiven Handelns, im ernstesten Fall in Form eines Gefangenendilemmas, in milderen Fällen in der Form eines Chicken- oder eines AssuranceGames. Das MMM ist, wenn man es sich genauer ansieht, nichts anderes als eine Erweiterung des Cobweb-Theorems, das wir in Kapitel 6 oben in diesem Band besprochen haben, nur daß das „System“ jetzt aus vier statt nur aus zwei variablen Größen gebildet wird. Es gründet seine Dynamik auf Veränderungen in der Stärke der Zusammenhänge zwischen ihnen: Die Abnahme der Reagibilität auf den Protest erzeugt die Krise, und die Erhöhung der Effizienz des Aufwandes zur Produktion des Ehegewinns führt daraus wieder heraus. Diese Änderungen in den Funktionen zwischen den Variablen wiederum werden mit dem Auftreten und der Überwindung gewisser Restriktionen – technischer, zeitlicher, auch psychologischer und sogar physiologischer Art – erklärt: Die überhöhte Aufmerksamkeit kann nicht endlos weitergehen und das bessere Kennenlernen beeinträchtigt unvermeidlicherweise die gegenseitige Attraktivität. Und die eheliche Arbeitsteilung ist eine effiziente Technik, diese Begrenzungen wieder aufzuheben. Dabei treten freilich zusätzlich noch andere Probleme auf, wie das Spezialisierungsdilemma für die Arbeitsteilung in der Ehe bzw. das Gefangenendilemma, dem sich die Partner bei ihren Anpassungen gegenübersehen: Niemand will den Kürzeren ziehen oder hinterher als der sucker mit leeren Händen dastehen (vgl. dazu schon Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ausführlich). Zur Überwindung der Krise kommt es nach dem MMM daher auch nur, wenn das an sich Unwahr-
334
Opportunitäten und Restriktionen
scheinliche geschieht: blindes Vertrauen darin, daß alles gut geht, und die „Rahmung“ der Beziehung als eine, die nicht einmal im Traume zur Disposition steht (vgl. dazu auch noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Die Liebe ist dafür oft nicht genug. Man sollte noch erwähnen, daß die Sichel-Funktion der Hazardrate mit beiden Erklärungen vereinbar ist – Scheidung als Folge eines Mis-Matches gleich am Anfang oder als Ergebnis einer nicht gelungenen Anpassung in der Krise. Und so ohne weiteres läßt sich nicht feststellen, welcher Mechanismus jeweils am Werke ist. Es gibt jedoch Hinweise darauf, daß die Ehen in den früheren Kohorten, etwa die in den 50er und 60er Jahren, eher nach dem ersten Modell, und die aktuell geschlossenen Ehen eher nach dem zweiten Modell, dem MMM also, funktionieren.14
Beispiel 8: Der selbsterzeugte Untergang Nicht immer ist die Organisation einer gemeinsamen ertragreichen Unternehmung das Problem der gesellschaftlichen Ordnung. Und nicht immer leben Gruppen friedlich nebeneinander oder meiden sich wenigstens nur, wenn sie nichts voneinander wissen wollen. Manchmal ist die Ausbeutung der einen durch eine andere Gruppe das Ziel. Gelegentlich bildet die ausgebeutete Gruppe sogar die (alleinige) Lebensgrundlage für die ausbeutende Gruppe. Beispiele dafür wollen wir – zunächst – nur in der Natur suchen. Etwa: Dorsche und Heringe, Füchse und Hasen oder Walfänger und Wale. Dabei fungieren die Dorsche, die Füchse und die Walfänger als Räuber, die Heringe, die Hasen und die Wale als Beute. Räuber und Beute bilden ein besonders interessantes System der wechselseitigen Beeinflussung ihrer Möglichkeiten. Es gibt nämlich nicht nur für die Beute ein Problem: Wenn die Ausbeutung nicht mehr möglich ist, weil die Beutepopulation von den allzu aggressiven Räubern schon zu sehr dezimiert wurde, dann geht es der Räuberpopulation selbst an den Kragen. Denn je mehr die Räuber von ihrer Beute fressen, desto knapper wird dadurch ihre dringend benötigte Lebensgrundlage. Das aber wiederum nutzt der Beute: Je weniger Räuber es aus schierem Nahrungsmangel als Folge ihrer Räuberei gibt, desto eher kann sich der Bestand der Beuteorganismen wieder erholen, desto üppiger wird nun wieder die Nahrungsgrundlage für die Räuber, desto 14
Vgl. Hartmut Esser, Heiratskohorten und die Instabilität von Ehen, in: Thomas Klein, und Johannes Kopp, Scheidungsursachen aus soziologischer Sicht, Würzburg 1999, S. 83ff.
Die stumme Macht der Möglichkeiten
335
mehr Räuber gibt es schließlich wieder, die dann erneut mehr von der Beute fangen können ... und so weiter. Kurz: Die Räuber fressen mit ihrer Beute buchstäblich die eigenen Möglichkeiten zum Überleben auf. Das gibt der Beute wieder mehr Gelegenheit, sich zu erholen. Und das wiederum vermehrt die Lebens- und Fortpflanzungsmöglichkeiten für die Räuber. Das sog. Räuber-Beute-Modell, das diese innere Logik abbildet, macht drei spezielle Annahmen, die sich in zwei charakteristischen Gleichungen zusammenfassen lassen.15 Die Annahmen lauten: 1. In Isolation verändert sich jede der beiden Populationen proportional zu ihrer jeweiligen Größe. 2. Die Beutepopulation wächst dabei, solange die Geburtenrate die Sterberate übersteigt, exponentiell über alle Grenzen, weil für sie genug Nahrung da ist, und es außer der natürlichen Sterblichkeit keine weitere Dezimierung des Bestandes gibt. Die Räuberpopulation stirbt dagegen in einer bestimmten Rate allmählich aus, weil sie keine Nahrung hat. 3. Die Anzahl der Beutevorfälle ist proportional zur Anzahl der Begegnungen zwischen Räuber und Beute. Diese ist wiederum proportional zum Produkt der Populationsgrößen: Wenn es wenig Räuber gibt, sind die Begegnungen ebenso selten wie in dem Fall, daß nur wenig Beute vorhanden ist.
Wenn wir die Räuberpopulation mit R und die Beutepopulation mit B bezeichnen, dann lassen sich vor dem Hintergrund der o.a. Annahmen die Veränderungen in den Populationen als Funktion der Zeit und als ein Paar von Differentialgleichungen angeben: dB/dt = aB – bBR dR/dt = mBR – nR. Dabei sind die Ausdrücke a,b, m und n bestimmte Parameter, die je nach Fall verschieden sein können. In der ersten Gleichung bezeichnet a die Reproduktionsrate der Beuteorganismen: Den relativen Überschuß an Geburten über die natürlichen Sterbefälle. Die ist bei Heringen höher als bei Hasen und – erst recht – als bei Walen. Mit dem Koeffizienten b wird das Risiko der Beute ausgedrückt, bei einer Begegnung mit einem Räuber tatsächlich gefressen zu werden. Die Geschicklichkeit der Räuber beim Fangen und die der Beute beim Ausweichen geht hier ein. Die Reproduktionsrate der Räuberorganismen bei einer Begegnung wird mit dem Parameter m erfaßt. Hier geht insbesondere der Nahrungswert der Beute für die Räuber ein. Schließlich beschreibt n die Sterberate der Räuber.
15
Vgl. Michael Olinick, An Introduction to Mathematical Models in the Social and Life Sciences, Reading, Mass. u.a., 1978, Kapitel 4: Ecological Models: Interacting Species, insbesondere S. 84f., 101-107.
Opportunitäten und Restriktionen
336
Gefragt wird nun nach dem „Verhalten“ dieses Systems der interagierenden Populationen von Räuber und Beute. Das Verhalten des Systems besteht darin, daß beide Populationen sich jeweils in Abhängigkeit voneinander in einer unentrinnbaren und eigendynamisch-autonomen Reihenfolge verändern. Dabei sind zwei Konzepte wichtig: das des sog. kritischen Punktes und der Begriff des Orbits. Ein kritischer Punkt ist dann erreicht, wenn die Änderungsraten für beide Populationen gleich null ist, wenn also gilt: dB/dt=dR/dt=0. Dann befindet sich das System in einem Gleichgewicht, aus dem es alleine nicht mehr herauskommt. Ein Orbit – oder wie man auch sagt: eine Trajektorie – sind alle Wertekombinationen der Funktionen des Systems, die sich mit dem Ablauf der Zeit ergeben. Bei zwei Funktionen sind das Kombinationen von Wertepaaren, die sich als eine Kurve in einem zweidimensionalen Diagramm zeichnen lassen. Ein Orbit kann in Bezug auf einen kritischen Punkt grundsätzlich zweierlei Arten von „Verhalten“ zeigen: Er kehrt nicht (mehr) zum kritischen Punkt zurück, wenn er ihn – irgendwie – einmal verlassen hat. Oder aber er kehrt wieder zum kritischen Punkt zurück und beginnt von dort eine neue „Umlaufbahn“. Wie sieht nun aber das Verhalten unseres Räuber-Beute-Systems aus? Zunächst wollen wir die kritischen Punkte bestimmen. Dazu müssen wir nur berücksichtigen, daß in einem kritischen Punkt die Änderungsrate der Populationen gleich null ist. Folglich gilt: dB/dt = aB – bBR = B(a – bR) = 0; dR/dt = mBR – nR = R(mB – n) = 0. „Damit“ die Zuwachsraten von B oder R jeweils gleich null sind, gibt es zwei Möglichkeiten. Die eine ist die, daß die Ausdrücke (a-bR) und (mB-n) beide null sind. Damit gilt aber als eine denkbare Bedingung dafür, daß die Beute sich im Bestand nicht ändert: a – bR = 0 R = a/b.
Die stumme Macht der Möglichkeiten
337
Und als Bedingung dafür, daß der Bestand der Räuber konstant bleibt, gilt entsprechend: mB – n = 0 B = n/m. Somit liegt ein kritischer Punkt exakt in den Koordinaten (a/b, n/m). Er liegt mit den Parametern a, b, m und n der beiden Änderungsfunktionen fest. Ein zweiter kritischer Punkt liegt natürlich da, wo der Bestand an Räubern und Beute gleichzeitig gleich null sind. Denn dann gilt ja dB/dt=0(a-bR)=0, und dR/dt=0(mB-n)= 0. Der zweite kritische Punkt hat also die Koordinaten (0,0). Er gilt ganz unabhängig von den Parametern der Funktionen. Wie sieht nun aber der Orbit des Systems der interagierenden Populationen von Räuber und Beute aus? Dazu wollen wir zunächst das Diagramm mit den Variablen R und B und die beiden kritischen Punkte aufzeichnen (vgl. Abbildung 9.21).
Die stumme Macht der Möglichkeiten
339
Die Frage ist also, wie sich nach den Funktionen des Systems die beiden Populationen in den Quadranten bewegen. Es gibt jeweils nur zwei Möglichkeiten: Zunahme oder Abnahme der Populationen. Konstant können sie nicht bleiben, weil kein kritischer Punkt erreicht ist. Und sind B und R nicht gleich null, wie im kritischen Punkt 1 mit den Koordinaten (0,0), dann gibt es eine Veränderung nur wenn die Ausdrücke (a-bR) bzw. (mB-n) verschieden von null sind. Beginnen wir mit der Beutepopulation. Für die Veränderung gilt: dB/dt=B(a-bR). Wenn a-bR>0 ist, dann wächst die Beutepopulation. Jetzt gilt: a-bR > 0 = -bR > -a = -R > -(a/b) = R < a/b. Also: Wenn R kleiner ist als a/b, dann wächst die Beutepopulation. Das ist auch ganz einsichtig: Wenn es weniger Füchse gibt als im „Gleichgewicht“, dann kann sich der Bestand an emsig rammelnden Hasen wieder erholen. Damit sind die beiden Quadranten III und IV beschrieben. Entsprechend schrumpft die Beutepopulation, wenn R größer ist als a/b. Das trifft für die Quadranten I und II zu. Auf eine ganz analoge Weise läßt sich dann bestimmen, wann die Räuberpopulation wächst oder schrumpft. Sie wächst, wenn dR/dt=R(mB-n)>0. Nun muß mB-n größer als null sein. Und damit: mB-n > 0 = mB > n = B > n/m. Wenn B also größer als die „kritische“ Grenze n/m ist, dann wächst die Räuberpopulation, wenn B kleiner als n/m ist, dann vermindert sie sich. Auf diese Weise werden die vier Quadranten für die Entwicklung der Beutepopulation beschrieben.
Daraus ergibt sich für die vier Quadranten die folgende Konstellation von Parameterkombinationen und Veränderungen der Populationen: Quadrant I II III IV
a/b R >R
n/m B >B
dR/dt >0 <0 <0 >0
dB/dt <0 <0 >0 >0.
Änderung Änderung Räuber Beute + + + +
In das Diagramm der Abbildung 9.17 haben wir mit Pfeilen die Bewegungen der Räuber- und der Beutepopulation für die vier Quadranten eingezeichnet. Aus der Anordnung der Pfeile läßt sich gut erkennen wie die Grundstruktur des Orbits aussieht: Er beschreibt eine Bahn gegen den Uhrzeigersinn um den kritischen Punkt 2 (n/m,a/b) herum. Der genaue Verlauf kann natürlich erst mit der Angabe der Parameter für a, b, n und m angegeben werden, und auch
340
Opportunitäten und Restriktionen
dann nur in Näherungsverfahren. Außerdem ist der Verlauf des Orbits von den jeweils angenommenen Startwerten abhängig. In das Diagramm haben wir einen denkbaren Orbit in der Form einer Ellipse eingezeichnet. Das Ergebnis ist bemerkenswert: Räuber und Beute bewegen sich in einem autonomen System eines sich exakt gleich wiederholenden Prozesses. Empirisch hat man freilich nur selten solche Zyklen gefunden. Realistischer sind Modelle, bei denen sich der Orbit allmählich einem Gleichgewicht in einem der kritischen Punkte nähert. Ein solches Modell wurde beispielsweise von P.H. Leslie und J.C. Gower vorgeschlagen (vgl. die Darstellung bei Olinick 1978, S. 106f.). Dabei veränderten sie die Funktion für die Räuber derart, daß deren Wachstum auch davon abhängt wie groß ihre Population im Verhältnis zur Beute ist: Je größer/kleiner der Anteil der Beute im Verhältnis zu den Räubern ist, desto stärker wächst/schrumpft die Räuberpopulation. Die Gleichungen sehen danach so aus: dB/dt = aB – bBR dR/dt = (c – e(R/B))R, wobei a, b, c und e wiederum bestimmte konstante Parameter bilden.
Das Verhalten dieses Systems ist anders als im einfachen Räuber-BeuteModell: Es strebt zyklisch und in immer geringeren Abweichungen einem Gleichgewicht zu (vgl. Abbildung 9.22):
342
Opportunitäten und Restriktionen
Bisher waren wir bei den Beispielen aus der Tierwelt geblieben. Soziologische Anwendungen des Räuber-Beute-Modells sind verführerisch und suggestiv: Sklaverei, die Ausbeutung der Arbeiterklasse durch die Klasse der blutsaugenden Kapitalisten oder die Ausplünderung der Dritten Welt durch die Industrieländer wurden – und werden – gelegentlich so gesehen. Die unmittelbare Anwendbarkeit des reinen Räuber-Beute-Modells ist für das Verhältnis zwischen gesellschaftlichen Gruppen aber nur selten gegeben: Menschliche „Räuber“ sind nicht auf eine Beute-Spezies festgelegt, um wirklich mit ihrer „Beute“ unterzugehen. Und auch die Beute ist so wehrlos nicht – wie die Geschichte gezeigt hat. Karl Marx hatte wohl so etwas wie ein einfaches, autonomes und zwangsläufiges Räuber-Beute-Modell im Auge: Die Kapitalisten unterminieren mit ihrer Ausbeutung der Arbeiterklasse notwendigerweise ihre eigene institutionelle Lebensgrundlage. Und wie hat er sich darin geirrt! Anders sieht die Geschichte freilich für den Fall aus, daß der Mensch der Räuber und die natürliche Umwelt die Beute ist – wie wir das mit dem Beispiel von den Walfängern auch angedeutet haben. Hier werden in der Tat solche Zyklen ja auch beobachtet. Sie erinnern sehr an das Verhalten der Parteien, die sich in einem Chicken-Game befinden (vgl. dazu Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“): Die Umwelt wird solange ausgebeutet bis der Untergang droht. Dann darf sie sich etwas erholen, weil alle vor der letzten Konsequenz zurückschrecken. Aber kaum ist das geschehen, geht der Kreislauf wieder von vorne los. Es gibt auch Varianten des Räuber-BeuteModells, bei dem die Räuber die Beute, von der ihre eigene Existenz abhängt, schließlich so weit dezimieren, daß sie mit ihrer Beute den zweiten kritischen Punkt (0,0) erreichen – und dann gemeinsam untergehen. Homo sapiens ist derzeit drauf und dran, dies als Räuber mit der natürlichen Umwelt als seiner Beute hinzubekommen. *** Soweit die acht Beispiele zur stummen Macht der schieren Möglichkeiten. Sie alle kommen für die Klärung ihres jeweiligen Problems – fast – ohne eine besondere Logik der Selektion des Handelns aus. Meist reichen ganz einfache Regeln der Handlungswahl und nur wenige grundlegende Motive und Bedingungen: Affiliationsmotive, Schwellenwerte, Toleranzen – zum Beispiel. Die alles treibende Logik ist die Situationslogik der möglichen und der unmöglichen Alternativen gemäß der Weissagung der Deutschen Bank. Über die einzelnen Menschen braucht man dabei nicht viel zu wissen. Drei Variablen bestimmen vor allem die Wirkung der stummen Macht der Möglichkeiten: die Größe von Gruppen, das Bestehen von Beziehungen und
Die stumme Macht der Möglichkeiten
343
die Verfügbarkeit von Positionen bzw. von (besseren) Alternativen. Drei Folgen ergaben sich insbesondere jeweils aus typischen Konstellationen daraus: Gelegenheiten zur Aufnahme von Kontakten, Möglichkeiten der Entstehung von beiderseits nützlicher Kooperation und die Unausweichlichkeit von Konflikten – etwa aus der Konkurrenz um die gleichen Positionen oder aus der Unausweichlichkeit unerwünschter Begegnungen. Die Dynamik des Geschehens kommt aber nicht vom „System“ selbst her. Sie beruht vielmehr auf den – in ihren Folgen meist so nicht beabsichtigten – Anpassungen der Akteure an die sich ihnen bietenden Gelegenheiten: das Nutzen und Aufsuchen günstigerer und die Meidung oder das Fliehen vor ungünstigeren Situationen. Die Anpassungen schaffen dabei ihrerseits wieder neue Konstellationen von Gelegenheiten. Und je nach Art der Interdependenz kommt es zu Gleichgewichten, zu Zyklen oder zu nicht endenden offenen Verläufen des „Verhaltens“ des Systems der Möglichkeiten, oft genug, ohne daß die Akteure übersehen oder gar verstehen können, was mit ihnen und dem von ihnen gebildeten System geschieht.16 Im Hintergrund der Strukturen der Möglichkeiten, des Wertes von Zielen wie der Wirksamkeiten von Mitteln, steht stets die jeweils vorhandene „Technologie“, über die die interessierenden Ressourcen produziert werden. Das ist einerseits die „technische“ Technologie, von der beispielsweise abhängen kann, wieviel Gewehre benötigt werden, um etwa eine hochgerüstete Regierung aus dem Amt zu jagen, oder die bestimmt, daß die Teilung der sozialen Arbeit einen Zuwachs an Produktivität möglich macht. Und andererseits ist es die gesellschaftliche Technologie der sozialen Produktionsfunktionen, die durch eine institutionelle Satzung bestimmt, welche Möglichkeiten interessant sind und welche nicht, oder welche Gruppen sich mögen und welche nicht. Mit der Änderung der Technologien der (sozialen) Produktionsfunktionen ändern sich sofort auch die Möglichkeiten – und alle dadurch angestoßenen Folgen und daran hängenden sozialen Prozesse. Alle diese Technologien und Bedingungen sind von einigen grundlegenden, letztlich durch keine gesellschaftliche „Definition“ auszuräumenden, Knappheiten umgeben: die unumstößlichen Knappheiten von Raum, Energie und Zeit. Sie bestimmen letztlich die relativen Preise der Alternativen: Das 16
Die Beispiele demonstrieren auch einige typische Probleme der Aggregation und der Transformation individueller Effekte in kollektive Sachverhalte und der „Erklärung“ von sozialen Emergenzen. Es handelt sich um eine Sammlung von Strukturmodellen für ähnliche Problemstellungen. Vgl. dazu schon Kapitel 1 in Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“, sowie insgesamt als Übersicht über derartige Modellierungen sozialer Prozesse Volker Müller-Benedict, Selbstorganisation in sozialen Systemen. Erkennung, Modelle und Beispiele nichtlinearer sozialer Dynamik, Opladen 2000.
344
Opportunitäten und Restriktionen
Raumschiff Erde hat nur einen Umfang von 40 000 Kilometern, die nichterneuerbare Energie ist begrenzt, und der Tag hat nur 24 (Echtzeit-)Stunden. Das aber sind – immer noch – deutlich dehnbare Grenzen. Durch Erschließung und Landgewinnung etwa läßt sich – immer noch – Raum gewinnen. Mit neuen Erfindungen hat sich die nutzbare Energie bisher immer noch vermehrt; und vielleicht gibt es ja einmal Techniken – wie die kontrollierte Kernverschmelzung oder die Photovoltaik –, die diese Knappheiten weit hinausschieben. Und selbst für die Zeit gibt es eine solche Dehnbarkeit. Dabei sind nicht einmal die kulturell und institutionell in der Tat sehr variablen Zeitvorstellungen gemeint. Mit technischen Erfindungen wie dem Flugzeug kann Zeit ebenso gespart werden wie mit sozialen Erfindungen: Gut verhandelte Verträge und wirksame Institutionen ersparen später manches zeitraubende Palaver. Für die – subjektiv empfundene – Knappheit der Zeit gibt es dabei ein eigenartiges Paradox. Das hat damit zun tun, daß in einer bestimmten Zeiteinheit tatsächlich nur eine Handlung ausgeführt werden kann. Je mehr alternative attraktive Gelegenheiten es aber gibt, die Zeit ertragreich zu verwenden, um so „knapper“ wird die Zeit: Die Opportunitätskosten der jeweils gewählten Alternative steigen. Zeit ist dann Geld. Und Zeit hat nur, wer sonst wenig besitzt, wofür sich ein bestimmtes Tun lohnt. Daher ist der spanische Trinkspruch: „Salut, amor y pesetas y mucho tiempo para disfrutarlo!“ auch wirklich nur ein gutgemeinter Wunsch. Die „technische“ Technologie bildet die materielle Basis der Möglichkeiten. Ihre Nutzung und Umsetzung ist aber immer nur in einem institutionell definierten Rahmen von Regeln und Vereinbarungen möglich. Manchmal entstehen bestimmte Erfindungen erst, wenn es bestimmte gesellschaftliche Regeln gibt: Warum soll ich eine hilfreiche Maschine erfinden, wenn es keinen Patentschutz gibt, der mir die Nutzung der Erträge sichert? Erst institutionelle Regeln und kulturelle Definitionen bestimmen außerdem den Wert und die Kontrolle zahlloser Ressourcen, Eigenschaften und Kapitalien: Ob eine schwarze oder eine weiße Hautfarbe mehr zählt, ob ein freier Platz besetzt werden kann oder nicht, ob sich eine Revolution lohnt – zum Beispiel. Kurz: Die stumme Kraft der Möglichkeiten ist nicht allein eine Folge von „natürlichen“ und nur „technisch“ bedingten objektiven Knappheiten. Sie hängt auch ganz wesentlich vonn den durch die Menschen selbst konstruierten und konstituierten institutionellen Regeln und selbst definierten kulturellen Bezügen ab, in deren Rahmen sie ihre Möglichkeiten wahrnehmen, ihre Interessen finden und den Sinn ihres Handelns sehen. Auf sie werden wir in den nun noch folgenden beiden Bänden dieser „Speziellen Grundlagen“ über die „Institutionen“ und über „Sinn und Kultur“ ausführlich zu sprechen kommen.
Die stumme Macht der Möglichkeiten
345
Exkurs über die Methode der abnehmenden Abstraktion und über das Verhältnis von Soziologie, Psychologie und Ökonomie Die Modelle über die oft zwingende Dynamik der stummen Macht der Möglichkeiten sind, wie die spieltheoretischen Modelle bestimmter sozialer Situationen aus Band 3, „Soziales Handeln“, oder die struktursoziologischen Modelle der Situationslogik aus Band 1, „Situationslogik und Handeln“, und Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“, samt und sonders „Abstraktionen“. Die sog. Wirklichkeit folgt ihrer speziellen Situationslogik nie so ganz. Das ist aber auch gar nicht ihr erster Zweck. Alle diese Modelle dienen zunächst „nur“ als formaler Bezugsrahmen für das, was „wirklich“ geschieht. Ihr Hauptvorzug ist, daß sie einfach, unaufwendig und allgemein anwendbar sind. Einfach sind sie, weil sie eine – relativ – unaufwendige theoretische Ordnung von Abläufen erlauben, die auf den ersten Blick oft ganz „komplex“ aussehen. Unaufwendig sind sie, weil ihre formalen Eigenschaften geklärt sind und niemand sich unbedingt selbst wieder an die zum Teil komplizierten mathematischen Beweise ihrer inneren Logik machen muß. Es muß lediglich geprüft werden, ob die Anwendungsbedingungen des Modells im empirisch gegebenen Fall erfüllt sind. Und allgemein anwendbar sind sie, weil sie auf ganz verschiedene inhaltliche Problembereiche und auf alle möglichen historischen Umstände und gesellschaftlichen Situationen angewandt werden können – sofern freilich ihre Anwendungsbedingungen gegeben sind. Die systematisierende Leistung solcher Modelle ist oft schon der wichtigste Schritt zu einem besseren Verständnis der Mechanismen, die – zum Beispiel – bestimmte Formen von Beziehungen zwischen Gruppen oder Muster der „Interaktion“ von Populationen führen. Was aber geschieht, wenn sich die Wirklichkeit den Vorhersagen der abstrakten Modelle nicht beugen will? Siegwart Lindenberg hat für den Fall, daß ein einfaches und abstraktes situationslogisches Modell die gesuchte Erklärung nicht liefert, eine wichtige Heuristik entwickelt: die Methode der abnehmenden Abstraktion.17 Die grundlegendste Regel dieser Methode läßt sich leicht einprägen: Modelliere so einfach und abstrakt wie möglich, und nur so kompliziert und realistisch wie gerade nötig! Das ist eine einfache und schöne Regel. Aber sie ist leichter aufgeschrieben als befolgt. Wir wollen daher – in weitgehender Anlehnung an die 17
Vgl. ins besondere Siegwart Lindenberg, Die Methode der abnehmenden Abstraktion: Theoriegesteuerte Analyse und empirischer Gehalt, in: Hartmut Esser und Klaus G. Troitzsch (Hrsg.), Modellierung sozialer Prozesse, Bonn 1991, S. 29-78. Vgl. dazu auch schon Abschnitt 7.3 in der „Soziologie. Allgemeine Grundlagen“, sowie die Einleitung von Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“.
346
Opportunitäten und Restriktionen
Überlegungen und Vorschläge von Siegwart Lindenberg – die wichtigsten Elemente dieser Heuristik darstellen. Theoriegesteuerte Analyse
Der Hintergrund aller Überlegungen zur Methode der abnehmenden Abstraktion ist das Konzept der theoriegesteuerten Analyse. Damit ist gemeint, daß es bei Erklärungen immer um die Ableitung des Explanandums aus möglichst wenigen und möglichst einfachen theoretischen Prämissen gehen soll. Der Ausgangspunkt der Überlegung ist die Unterscheidung von zwei verschiedenen Dimensionen von Aspekten eines Erklärungsproblems. Die erste Dimension bezieht sich auf die Haupt- und auf die Nebenaspekte des Problems. Hauptaspekte sind diejenigen Aspekte, ohne die man bei einer Analyse des Phänomens nicht zu einer adäquaten Problemlösung kommt. Nebenaspekte beziehen sich auf Sachverhalte, die keine Hauptaspekte sind, aber die Qualität der Problemlösung noch erhöhen können, wenn sie berücksichtigt werden. In Abschnitt 10.4 von Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ über „Die – oft verzwickte – Logik der unintendierten Folgen“ beispielsweise waren die studentischen Proteste an den amerikanischen Hochschulen auch schon über bestimmte Verteilungen von Schwellenwerten der Bereitschaft dazu erklärt worden. Ein Hauptaspekt dabei war die Tatsache, daß die Akteure sich bei ihrem Handeln in der Tat nach ihren individuellen Schwellenwerten richteten, wobei jeder der „Vorreiter“ das gleiche Gewicht für die eventuelle eigene Teilnahme hatte. Davon war auch oben im Beispiel 4 über die Schwellenwertmodelle allgemein immer ausgegangen worden. Ein – für die Erklärung des genauen Verlaufs der Proteste evtl. durchaus beachtlicher – Nebenaspekt läge dann darin, daß sich die Studenten von der Teilnahme bestimmter anderer Personen – etwa guter Bekannter oder gewisser opinion leader im Unterschied zu anonymen Fremden oder den üblichen Mitläufern – in unterschiedlicher Weise hätten mitreißen lassen können, und daß dann die einfache Annahme der Gleichgewichtung der Teilnehmer bei der Bestimmung der Schwellenwerte hätte fallengelassen werden müssen. Gleichwohl bliebe es auch dann bei dem Hauptaspekt einer Erklärung des Vorgangs über das Schwellenwertmodell.
Die zweite Dimension unterscheidet allgemeine und besondere Aspekte des Problems. Allgemeine Aspekte sind diejenigen Aspekte, die eine große Zahl verschiedener Klassen von Phänomenen in einem Problemfeld gemeinsam haben. Und besondere Aspekte sind solche, die nur einer speziellen Teilklasse von Phänomenen in dem Problembereich zukommen. Ein allgemeiner Aspekt wäre beispielsweise die Struktur des Gefangenendilemmas als allgemeine Struktur einer Vielzahl ganz verschiedener inhaltlicher Situationen, wie das Erntehilfebeispiel von David Hume oder die Situation der Soldaten im Schützengraben, von der Edna Ullmann-Margalit berichtet (vgl. Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Auch die Struktur unseres Schwellenwertmodells, das ja auf beliebige Arten von Ansteckungsprozessen angewandt werden kann, beschriebe einen solchen allgemeinen Aspekt.
Die stumme Macht der Möglichkeiten
347
Insoweit es dabei auch Abweichungen von der immer mitgemeinten Selektionsregel der maximierenden Rationalität der Akteure gibt, wie „irrationale“ Selbstbindungen, Altruismus und moralisches Handeln, haben wir es mit speziellen Aspekten zu tun: Die „allgemeinen“ Grundstrukturen des Modells – Gefangenendilemma oder Schwellenwertmodell – lassen sich nur in sozialen bzw. historischen Konstellationen anwenden, in denen die Menschen nicht wertrational, nicht affektuell und nicht traditional, sondern „situationsgerecht“ und daher zweckrational handeln.
Aus den beiden Dimensionen ergibt sich eine einfache Typologie:
allgemeine Aspekte
besondere Aspekte
Hauptaspekte
Typ 1
Typ 2
Nebenaspekte
Typ 3
Typ 4
Abb. 9.23: Typologie der Aspekte einer Theoriegesteuerten Analyse
Für einen Theoretiker, der an der Erklärungskraft seiner Theorie, und damit: an einem hohen Informationsgehalt, interessiert ist, wäre es nun optimal, wenn er es mit Phänomenen nur vom Typ 1 zu tun hat: Er kennt die Hauptaspekte seines Problems und damit auch allgemeine Aspekte für andere Probleme. Er hat damit das zentrale Erklärungsmodell für sein Problem und die Hauptaspekte einer ganzen Reihe anderer Phänomene im Griff, die diese Hauptaspekte teilen. Und genau das ist es ja, was eine gute Erklärung ausmacht und wonach alle suchen (sollten): Das Vielfältige und Komplizierte wird aus wenigen und einfachen Prämissen ableitbar, die auch auf andere, vergleichbare Fragen anwendbar sind und dort zu Lösungen führen. Abstraktion und Anomalien
Eine theoriegesteuerte Analyse ist also die Suche nach den allgemeinen Hauptaspekten eines Phänomens. In der Ökonomie ist diese Sichtweise der theoriegesteuerten Analyse sehr verbreitet. Siegwart Lindenberg zitiert dazu zwei berühmte Ökonomen: Frank Knight und Milton Friedman. Wir wollen diese Zitate, weil sie so lehrreich sind, hier auch wiedergeben. Frank Knight schreibt zu der von ihm so genannten „analytischen Methode“:
348
Opportunitäten und Restriktionen
„Der Wert der Methode beruht auf der Tatsache, daß große Gruppen von Problemsituationen bestimmte Elemente gemeinsam haben und diese Elemente nicht nur in jedem Fall anwesend sind, sondern zusätzlich auch noch sowohl gering an Anzahl als auch wichtig genug sind, um die Situationen zu dominieren.“18
Und Milton Friedman äußert sich so: „Eine Hypothese ist wichtig, wenn sie viel durch wenig ‚erklärt‘, also wenn sie die gemeinsamen (common) und entscheidenden (crucial) Elemente aus der Masse der das zu erklärende Phänomen umgebenden Umstände absondert.“19
Warum diese Methode so vorzüglich erscheint, hat einen einfachen methodologischen Grund: Je allgemeiner der Geltungsbereich einer Theorie ist, desto höher ist ihr Informationsgehalt, desto besser sind die Erklärungen und alles, was daran hängt – wie Prognosen und praktische Empfehlungen. Es wäre also „theoretisch“ am schönsten, wenn man die Hauptaspekte eines Problemfeldes kennt, wenn es möglichst wenige Nebenaspekte gibt, die noch wichtig werden könnten, und wenn es dabei dann möglichst wenige besondere Aspekte und Anomalien gibt. Die neoklassische Ökonomie hat ihre Erfolge vor allem dieser Vorgehensweise und den starken Abstraktionen für die Hauptaspekte ihrer Problemfelder zu verdanken – insbesondere einigen wirklich heroischen Vereinfachungen, etwa im Menschenbild des homo oeconomicus. Die wichtigste Folge ihrer sehr abstrakten Annahmen über das menschliche Handeln – perfekte Information und geordnete Präferenzen – ist die mathematische Ableitbarkeit einer Vielzahl ökonomischer Prozesse: Marktgleichgewichte, Konjunkturen oder Außenhandelsströme. Und viele Ökonomen wehren sich – aus jetzt wohl nicht mehr ganz unverständlichen Gründen – vehement gegen eine Abkehr von dieser Idee. Jede Verunreinigung ihrer Abstraktionen würde sie ihrer größten Stärke berauben: die relativ leichte formale Lösbarkeit ihrer Aggregationsprobleme mit Hilfe der sog. Marginalanalyse. Deshalb – und weniger aus Unwissen – ignorieren viele Ökonomen die – empirisch unabweisbaren – nicht-rationalen Besonderheiten des menschlichen Handelns ganz bewußt.
Die Wirklichkeit ist oft nicht so wie sie sein sollte, damit bestimmte mathematische Aggregationen relativ leicht möglich sind. Aber auch dann haben die Ökonomen immer noch einen weiteren guten Grund für ihre Hartnäckigkeit, bei ihren sehr abstrakten allgemeinen Hauptaspekten zu bleiben: Wenn man auch mit – erwiesenermaßen – falschen Annahmen in den Prämissen zu guten Vorhersagen auf der Ebene der aggregierten Effekte kommt, dann ist das Vorgehen gewissermaßen durch seinen Erfolg gerechtfertigt. Ein solcher Instrumentalismus ist nichts Verwerfliches an sich: Jede theoretische 18
19
Frank H. Knight, Risk, Uncertainty, and Profit. Chicago 1971 (zuerst: 1921), S. 4; Hervorhebungen so nicht im Original, Übersetzung von Siegwart Lindenberg, 1991, S.35. Milton Friedman, The Methodology of Positive Economics, in: William Breit und Harold M. Hochman, Readings in Microeconomics, 2. Aufl., Hinsdale, Ill., 1971, S. 36; Hervorhebungen so nicht im Original, Übersetzung durch Siegwart Lindenberg, 1991, S. 35; Wiederabdruck aus Milton Friedman, Essays in Positive Economics, Chicago 1953.
Die stumme Macht der Möglichkeiten
349
strumentalismus ist nichts Verwerfliches an sich: Jede theoretische Hypothese macht Annahmen, die nicht vollkommen „wahr“ sind. Und nirgendwo steht geschrieben, daß diese Annahmen nicht auch bei der angewandten Handlungstheorie liegen dürften. Gleichwohl gehen manchmal Erklärungen hartnäckig daneben: Es dürfte Versicherungen nicht geben, Wahlen würden nicht stattfinden und es gäbe keine Spenden, wenn die strengen Gesetze der Wert-Erwartungstheorie, die für das Handeln der Menschen in den Modellen der Ökonomen einen Hauptaspekt bildet, wirklich zuträfen. Versicherungen, Wahlen und Spenden gibt es jedoch empirisch, und das nicht zu selten. Was jetzt? Nun tritt das Problem endgültig auf, für das die Methode der abnehmenden Abstraktion erfunden worden ist. Es besteht in dem Versuch zur Lösung eines Dilemmas: dem zwischen der Allgemeinheit und Einfachheit der Annahmen einerseits und ihrer Nähe zur immer zu komplexen „Realität“ andererseits. Es läßt sich in einer einfachen Frage formulieren: Wie weit muß ich, wenn ich die Hauptaspekte kenne, in der Berücksichtigung besonderer Aspekte gehen (Typ 2), wenn ich mit der alleinigen Berücksichtigung der allgemeinen Aspekte (Typ 1) nicht weiter gekommen bin? Diese Frage läßt sich auch so stellen: Wie „realistisch“ müssen die Annahmen werden, wenn sich zeigt, daß die Erklärungen mit den bis dahin unterstellten abstrahierenden Annahmen nicht gelingen? Im konkreten Fall also: Wie müßte die Handlungstheorie aussehen, wenn die einfache Wert-Erwartungstheorie zu versagen scheint? Zwei allgemeine Empfehlungen ...
Heuristiken schreiben nicht exakt vor, was in jedem einzelnen Fall zu tun ist. Das wäre hier auch ganz undenkbar. Gleichwohl lassen sich einige Empfehlungen für den Fall des Falles formulieren, daß das Modell – anscheinend – nur durch die Berücksichtigung von Typ 2-Aspekten gehalten werden kann. Die erste und allgemeinste Empfehlung kennen wir schon. Sie wird jetzt aber etwas verständlicher und konkreter: Gehe von der Abstraktion des Typ-1Modells gerade eben so weit herunter, daß die Erklärung gelingt. Daran knüpft sich eine zweite, ebenfalls allgemeine Empfehlung: Wenn es einmal nötig war, den Abstraktionsgrad zu lockern, dann versuche in der Folge alles, um wieder auf den alten Grad der Allgemeinheit zurückzukehren. Theoriefortschritt besteht vor allem darin, daß es gelingt, zuvor als unerklärbar angesehene besondere Phänomene schließlich dennoch wieder als Variante der allgemeinen Hauptaspekte eines Problemfeldes erkennbar werden zu lassen –
350
Opportunitäten und Restriktionen
und eben nicht in der Ansammlung aller möglichen Nebenaspekte, um die Anomalien des Falles in den Griff zu bekommen. ... und noch eine dritte
Wenn Erklärungen auf der Grundlage abstrakter Annahmen mißlingen, dann kann das im Prinzip immer an irgendeiner „Besonderheit“ an einer der verschiedenen Stellen der soziologischen Erklärung gelegen haben: falsche Brückenhypothesen in der Logik der Situation, eine unzutreffende Handlungstheorie in der Logik der Selektion, Fehler bei den Transformationsregeln in der Logik der Aggregation, oder eine Kombination davon. Handelt es sich um ein Prozeß-Modell mit vielen Einzelsequenzen und möglichen externen Einflüssen, dann vervielfacht sich das Problem der Suche nach dem Grund für die Abweichung rasch ins Bodenlose. Die für die Strategie der Theoriebildung wie für das Vorgehen bei der abnehmenden Abstraktion wohl häufigsten und gravierendsten Probleme liegen insbesondere im Übergang der beiden Ebenen der Erklärung: der Schritt von der Makro- hinunter auf die Mikroebene in der Verbindung der Logik der Situation mit der Handlungstheorie, und der Schritt von der Mikrowieder hinauf auf die Makroebene in der Logik der Aggregation. Und immer stellt sich bei Abweichungen und Anomalien die Frage: War die Logik der Situation anders als gedacht? Gab es Fehler in der Aggregation? Oder hat sich plötzlich die Logik der Selektion geändert? Oder gar alles gleichzeitig?
Aggregationsprobleme sind, wenn man keine Rechenfehler gemacht hat, meist die Folge von versteckten Fehlern in der Analyse der Logik der Situation: Eine falsch angenommene Verteilung von Auszahlungen in einem spieltheoretischen Modell oder von kritischen Massen bzw. von Schwellenwerten in einem Prozeßmodell sind unrichtige Beschreibungen der Logik der Situation der Akteure, die, angewandt auf das jeweilige Situations- bzw. Prozeßmodell, zu falschen Ergebnissen für das „Verhalten“ des Systems führen müssen. Und daß sich plötzlich die Natur des Menschen und damit die Handlungstheorie geändert hat, ist auch eher unwahrscheinlich. Daher lautet die dritte Empfehlung für den Fall einer Anomalie des Modells auch ganz einfach: Suche immer zuerst nach Besonderheiten in der Situation des Akteurs! Und damit eng verbunden: Hüte Dich sehr, allzu rasch Änderungen in der Logik der Selektion und in der Handlungstheorie vorzunehmen! Und noch etwas deutlicher ausgedrückt: Hände weg vor allem von der Maximierungsregel!
Die stumme Macht der Möglichkeiten
351
Das Grundproblem der Struktursoziologie
Eine der Grundregeln der klassischen Soziologie war es, Strukturen nur aus Strukturen erklären zu wollen. Die Opportunitätentheorie von Peter M. Blau, von der wir oben einige Einzelheiten kennengelernt haben, ist einer der neueren Versuche für eine solche Struktursoziologie, die beansprucht, soziale Ereignisse und Zusammenhänge alleine auf der Ebene kollektiver Gesetze erklären zu können. Das Problem mit solchen Strukturerklärungen wird unmittelbar deutlich: Geht sie einmal schief, dann gibt es keine Möglichkeit, zunächst zu versuchen, gewisse Annahmen – Brückenhypothesen oder Transformationsregeln – auf ihre Fehlerhaftigkeit zu überprüfen und den „Kern“ der Theorie, den „Hauptaspekt“ also, unangetastet zu lassen. Stattdessen muß die jeweilige struktursoziologische Hypothese sofort in ihrem Kern verändert oder aber komplett gegen ein ganz neues Modell ausgetauscht werden. Das Modell der soziologischen Erklärung erlaubt es dagegen, in flexibler und gleichzeitig gezielter Weise mit Anomalien und unerwarteten Fehlern umzugehen. Das ist eine Folge der Aufgabe einer „rein“ makrosoziologischen Strukturerklärung: Nun wird die Trennung der Erklärung in einen makro- und einen mikrotheoretischen Teil und die gezielte Betrachtung von Fehlern in den beiden Übergängen zwischen diesen Ebenen möglich. Ohne die „Vertiefung“ in die Ebene der Akteure und deren Handeln gäbe es die kritischen Übergänge der Logik der Situation und der Aggregation nicht – und damit auch keine Möglichkeit, gezielt nach Nebenaspekten zu suchen, die die Anomalie vielleicht auf eine einfache Weise auflösen helfen. Bastardtheorien
Soziologische Theorien, die die verschiedenen Schritte bei der soziologischen Erklärung nicht sorgfältig auseinanderhalten, sondern, sogar: programmatisch, zu einem Erklärungsargument zu verbinden versuchen, nennt Siegwart Lindenberg Bastardtheorien. Damit sind vor allem solche Theorien gemeint, die für die Verbindung zwischen Situation und Handeln nicht zwischen einer Logik der Situation und einer Logik der Selektion unterscheiden, sondern beide Schritte zu einer unentwirrbaren Einheit mischen. Im Konzept der Situationslogik nach Kapitel 10 aus Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ wird – implizit – auch eine solche Bastardtheorie angenommen: Neben der trivialen Logik des situationsgerechten Handelns gäbe es nur noch die Situationslogik der objektiven institutionellen Gegebenheiten. Solche Bastardtheorien sind eigentlich der Normalfall in der Soziolo-
352
Opportunitäten und Restriktionen
gie, deren Grundüberzeugung ja die ist, daß die Strukturen bzw. die Situation das Handeln bestimmen – und nicht die Gene oder der Charakter der Menschen. Die einfachen Modelle der Kontextanalyse, die etwa von dem Anteil der SPD-Wähler in einem Stimmbezirk auf das Wahlverhalten der Wähler dort unmittelbar schließen, gehören zu solchen „Mischlings“-Theorien (vgl. dazu bereits Kapitel 11 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“), ebenso wie etwa die in Beispiel 1 oben in diesem Kapitel dargelegte Auffassung von Peter M. Blau, daß die schiere Gruppengröße die Intergruppenbeziehungen erkläre, oder die Hypothese von Emile Durkheim, daß eine protestantische Umgebung die Menschen mehr zum Selbstmord bringe als eine katholische.
Bastardtheorien beruhen – wie die Konzepte einer übergreifenden Situationslogik der gesellschaftlichen Strukturen ganz allgemein – auf besonders waghalsigen Abstraktionen. Nämlich die, daß es die Strukturen, die Normen oder die Institutionen höchstpersönlich sind, die da handeln. Aber – wie sagte doch Max Weber? Genau: Nicht die Konventionalregel des Grußes nimmt den Hut vom Kopfe ... ! Manchmal gelingen solche „strukturellen“ Erklärungen zwar durchaus, etwa wenn die strukturellen Verhältnisse festgemauert und stabil genug sind – wie bei der Vererbung von sozialer Ungleichheit außerhalb den turbulenten Zeiten einer Revolution; wie bei der Bestimmung von Lebensläufen durch die ehernen Vorgaben der demographischen Prozesse zu bestimmten Perioden, der Arbeitsmarktstrukturen oder der bildungspolitischen Regelungen; oder wie bei den massiven Strukturen der nationalstaatlichen Verfassungen, die sich ja in der Tat nur sehr langsam ändern. Immer dann ist die Stunde der „strukturellen Soziologie“ gekommen. Dann gibt es nichts weiter zu fragen, und die Akteure geraten – nicht ganz zu Unrecht – aus dem Gesichtsfeld. Und Peter Flora verkündet in Mannheim – und jeder „richtige“ Soziologe kann ihn gut verstehen –, daß mi die Menschn überhaapt net intressian. Oft genug aber mißlingen diese strukturellen Erklärungen mitsamt ihren Bastardtheorien – genauso wie viele Abstraktionen der neoklassischen Ökonomie. Die Protestanten bringen sich – etwa in den Städten – auf einmal weniger um als die Katholiken. Die Wahlsoziologie findet keine Stammwähler und keine strukturellen Effekte der sozialdemokratischen Milieus mehr. Die Burgess-Zonen der Großstädte verschwinden auch vor der Sonde der abgefeimtesten Faktorialökologie. Plötzlich gibt es wie aus heiterem Himmel eine Studentenbewegung, eine Friedensbewegung, eine Frauenbewegung usw. – und hören allesamt bald wieder auf, obwohl die Universitäten übler daran sind als je zuvor, obwohl es jetzt mehr Kriege gibt als vorher, und obwohl die Frauen immer noch die Kinder bekommen. Der Sozialismus zerfällt über Nacht tatsächlich – aber ganz unerwarteterweise in tausend ethno-religiöse Scherben. Und in der riskanten Erlebnis- bzw. der erlebnisreichen Risikogesellschaft scheinen sich die Strukturen der Gesellschaft ganz aufzulösen, die Individuen „wirbeln durcheinander“, müssen sehen, wie sie ihre Identität in einer BastelBiographie selbst ordnen und ein Milieu finden, das ihren Ideosynkrasien Genüge tut.
Die stumme Macht der Möglichkeiten
353
Es ist – der Leser hat es sicher längst bemerkt – unser altes Problem der Unvollständigkeit. Es ist uns schon in der Einleitung zur „Soziologie. Allgemeine Grundlagen“ und in Abschnitt 11.5 von Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ begegnet. Und sofort stellt sich für die strukturelle Soziologie die Frage: Was nun? Was tun? Und das alles ohne eine Möglichkeit der abnehmenden Abstraktion in die Tiefe des Modells der soziologischen Erklärung! „Strukturelle“ Soziologen, die berufsmäßig und aus tiefer Überzeugung mit Bastardtheorien arbeiten, wissen jetzt nicht mehr so recht weiter, weil sie das gesamte Gemisch aus Strukturannahmen und unterschlagenen Handlungstheorien ändern müssen: „In Bastardtheorien sind Kerntheorie und Brückenannahmen so ineinandergeschoben, daß man sie nicht mehr auseinander halten und daher nur als ganzes Paket ersetzen kann“. (Lindenberg 1991; S. 51; Hervorhebung nicht im Original).
Kurz: Es fehlt nun eine übersichtliche Heuristik für die Suche nach Fehlern bei auftretenden Unvollständigkeiten in der Erklärung. Viele fallen dann vom Programm einer erklärenden Soziologie ab und suchen ihr Heil in der – wie sie es nennen – institutionellen bzw. historischen Analyse. Das kann der richtige Weg sein, wenn es zu einer genaueren institutionellen Analyse für die Logik der Situation führt und wenn die „neuen“ Effekte über eine explizite Logik der Selektion und über eine korrekte Logik der Aggregation tatsächlich abzuleiten sind. Aber wieder haben es die strukturellen Soziologen auch nach dieser Verfeinerung ihrer Situationsanalyse nur mit Bastardtheorien zu tun – denn sie wollen bzw. müssen ja die Akteure ignorieren. Und sie können deshalb nicht zwischen Situation, Selektion und Aggregation und zwischen akteursnahen und akteursfernen Strukturen der Situation, zwischen sozialen Strukturen und psychischen Motiven unterscheiden. Deshalb aber bleibt die theoretische Hilflosigkeit in einer so konzipierten Soziologie stets erhalten. Wen interessiert der Mensch?
Mit der Trennung der Ebenen der Analyse, mit den beiden Übergängen zwischen der Makro- und der Mikroebene und mit der Empfehlung, zuerst – und mit einem ganz besonderen Blick – auf die Logik der Situation zu sehen, gibt es im Modell der soziologischen Erklärung eine klare Heuristik und eine deutlich markierte Schwelle dafür, wie weit die individuellen Menschen interessieren: Suche nach eventuell übersehenen Besonderheiten in der Situation der Akteure! Bleibe dabei auf einer möglichst allgemeinen Ebene und werde – „historisch“ und „institutionell“ – nur so genau wie gerade nötig! Und hüte
354
Opportunitäten und Restriktionen
Dich ganz besonders vor leichtfertigen Änderungen im Modell der Selektion des Handelns – etwa daß es jetzt eben traditional zugegangen sei und nicht – wie gerade noch angenommen – zweckrational! Zwei Annahmen
Diese Empfehlung beruht auf zwei – wenn man so will – axiomatischen Grundannahmen bei der theoriegesteuerten Analyse sozialer Prozesse. Die erste kennen wir schon: Alle Menschen maximieren letztlich ihren Nutzen, indem sie möglichst viel an sozialer Wertschätzung und physischem Wohlbefinden zu produzieren trachten. Auf welche Weise sie das aber tun und was für sie jeweils dabei von „Interesse“ ist, das hängt von den primären und indirekten Zwischengütern, und damit: von den gesellschaftlichen Strukturen, also: von der jeweiligen Logik der Situation, ab. Die zweite Annahme betont das typisch soziologische Interesse bei der ganzen Vorgehensweise: Es interessieren die individuellen Besonderheiten der Menschen eigentlich nicht. Die Menschen und ihre Eigenheiten berühren die erklärende Soziologie nur insoweit wie ihre Einbettung in eine Situation und ihre darauf erfolgenden Selektionen erklären helfen, warum sich bestimmte Situationsmerkmale dann tatsächlich in systematisches Handeln umsetzen. Auch in der erklärenden Soziologie interessiert – wie in der strukturellen Soziologie und in der neoklassischen Ökonomie – also der einzelne Mensch durchaus nicht. Die Menschen werden allein aus einem theoretischen Grund wichtig: Ohne eine Trennung der Logik der Selektion von der Logik der Situation gibt es keine Variablen einer allgemeinen Handlungstheorie, auf die die speziellen Situationsvariablen bezogen werden können und so eine Verbindung zu den allgemeinen Aspekten eines Problemfeldes bilden könnten. Ohne eine allgemeine Handlungstheorie würde ein zentraler Teil eines Typ-1-Aspektes ersatzlos aufgegeben. Und ohne die immer konstant bleibenden Variablen der Handlungstheorie gibt es keine theoretische Schwelle, bei der die spezialisierende Vertiefung der Situationsanalyse in die Ideosynkrasien der einzelnen Menschen Halt machen oder wieder auf eine allgemeinere Ebene hinaufgehoben werden könnte. Dann ist es nicht mehr weit bis zu einem Psychologismus, der die Familie durch einen Familientrieb, das Verbrechen durch kriminelle Energie, die Einhaltung der Normen durch deren Internalisierung und die Verständigung durch ein Motiv zum kommunikativen Handeln erklären möchte.
Die Menschen und ihr Handeln werden also in den Modellen der erklärenden Soziologie – kurz gesagt – nur aus einem methodologischen Grund benötigt: um die Bastardtheorien zu vermeiden, bei denen es ja eben nicht möglich ist, den Weg der abnehmenden Abstraktion getrennt nach Variationen in der Logik der Situation (bzw. der Aggregation) oder in der Logik der Selektion zu gehen. Und deshalb muß die verwendete Handlungstheorie auch nicht unbedingt ganz „realistisch“ und genau sein.
Die stumme Macht der Möglichkeiten
355
Psychologie und Soziologie
Auch diesen zweiten Grundsatz der theoriegesteuerten soziologischen Analyse – die Vermeidung einer allzu starken Annäherung der Annahmen über die Akteure an deren individuelle Besonderheiten – hat Siegwart Lindenberg mit Hilfe eines instruktiven Diagramms verdeutlicht.
Psychologie
Soziologie
analytischer Primat
psychische Systeme
soziale Systeme
theoretischer Primat
individuell-1
individuell-2
Abb. 9.24: Analytischer und theoretischer Primat bei Psychologie und Soziologie
Die Soziologie unterscheidet sich danach von der Psychologie – und den anderen, unmittelbar am Menschen bzw. an psychischen Systemen interessierten Disziplinen – durch den theoretischen Primat der kollektiven Phänomene: Es interessieren nur die sozialen Systeme und Prozesse. Dagegen muß die Psychologie es mit den Individuen genauer nehmen. Ihre Aufgabe ist es ja, die ganze Komplexität der bio-psychischen Zusammenhänge beim menschlichen Denken und Handeln aufzudecken und zu erklären. Ihr analytischer Primat liegt daher tatsächlich auf der Ebene der Individuen und der innerindividuellen psychischen Vorgänge. Unterscheiden sich auch Soziologie und Psychologie in ihrem analytischen Primat, so liegt der theoretische Primat jedoch in beiden Disziplinen auf der individuellen Ebene: Die Psychologie arbeitet – natürlich – mit Theorien, die individuelles Denken und Handeln erklären sollen. Das tut – wenngleich nicht ausschließlich – aber auch die Soziologie: Die Logik der Selektion ist eine Theorie des Entscheidens bzw. des Handelns der menschlichen Akteure. Gleichwohl gibt es einen wichtigen Unterschied. Siegwart Lindenberg hat ihn mit den eigenartigen Bezeichnungen „individuell-1“ und „individuell-2“ gekennzeichnet, die wir trotz ihrer sprachlichen Holprigkeit übernehmen wollen. Der Unterschied liegt darin, wie genau es die Psychologie gegenüber der Soziologie mit der Erklärung des Handelns – darunter auch das Denken und Interpretieren als innerliches Tun – nehmen muß. Die Psychologie muß hier so differenziert wie nur möglich sein. Das ist ja ihre professionelle Aufgabe. Sie hat dabei auch eine Unzahl wichtiger Einsichten gewonnen – beispielsweise,
356
Opportunitäten und Restriktionen
daß die Menschen beim Handeln meist nicht „rechnen“, sondern grobe Daumenregeln anwenden. Die dabei gefundenen Theorien nennt Lindenberg individuell-1-Theorien. Die Soziologie kann – und soll – es aber bei den von ihr benutzten Theorien des Handelns nicht so genau nehmen wie die Psychologie es muß. Ihre Aufgabe ist nicht die Motivanalyse oder etwa die Erklärung komplexer Vorgänge der Wahrnehmung, sondern die Erklärung der sozialen Prozesse. Dazu braucht sie zwar den Bezug auf Akteure und Theorien des Handelns – allein schon deshalb, um den Fehler der Bastardtheorien zu vermeiden und zwischen einer Logik der Situation und einer der Selektion unterscheiden zu können. Aber die benutzten Handlungstheorien müssen es „nur“ zulassen, die eigentliche Aufgabe möglichst unaufwendig zu erfüllen. Und das heißt vor allem: Es genügt, wenn in der benutzten Theorie des Handelns die unterschiedlichen Situationen möglichst großer Klassen von Menschen berücksichtigt und deren Handeln so bereits erklärt werden kann. Erst wenn das nicht geht, tritt ein Problem auf: das Problem der abnehmenden Abstraktion. Theorien des individuellen Handelns, die für diese Aufgabe geeignet sind, nennt Siegwart Lindenberg individuell-2-Theorien. Drei Anforderungen
Drei spezielle Anforderungen müssen derartige individuell-2-Theorien erfüllen, wenn sie für die Zwecke der soziologischen Erklärung geeignet sein sollen (vgl. Lindenberg 1991, S. 53f.). Erstens sind Handlungstheorien für den Typ „individuell-2“ um so mehr geeignet, je weniger Information pro Individuum benötigt wird, um die Situation zu beschreiben, in der sich das Individuum befindet. Das geht dann gut, wenn man in einer Handlungstheorie ganze Klassen von Situationen über Erwartungen bzw. über Bewertungen der Folgen beschreiben kann – und beispielsweise eben nicht mühsam zur Vorhersage eines Handelns rekonstruieren muß, wie die komplette Lern- und Sozialisationsgeschichte der Menschen seit ihrer frühen Kindheit ausgesehen hat. Zweitens sind Handlungstheorien für den individuell-2-Typ um so eher geeignet, je weniger sich ihre Variablen vom kollektiven Niveau entfernen und – beispielsweise – ein bestimmtes Handeln nicht durch ein spezielles psychologisches „Motiv“ des Akteurs erklärt wird, sondern durch situationale Umstände, eventuell auch solche, die dieses Motiv erzeugt haben mögen. Hier verbindet sich das Konzept der individuell-2-Theorien mit dem Konzept der sozialen Produktionsfunktionen, das ja auch deutlich machen sollte, wie sich die sozialen Strukturen
Die stumme Macht der Möglichkeiten
357
über gewisse spezielle Zwischengüter auf die beiden allgemeinen Bedürfnisse der Menschen – soziale Wertschätzung und physisches Wohlbefinden – auswirken und ihre speziellen „Interessen“ steuern (vgl. dazu Kapitel 3 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ausführlich und grundlegend). Die „Motive“ sind in dieser Sicht keine psychologischen, sondern strukturell erzeugte und mithin: soziologische, Ursachen für das soziale Handeln.
Das Konzept der sozialen Produktionsfunktionen ist der theoretische Hintergrund für die Vorgabe, bei der abnehmenden Abstraktion immer möglichst nahe an den sozialen Strukturen der jeweiligen Situation zu bleiben – und die dann eventuell noch vorhandenen psychischen Ideosynkrasien der Menschen als – soziologisch irrelevante, psychologisch, psychoanalytisch oder theologisch möglicherweise höchst bedeutsame – Restvarianz stehen zu lassen. So wäre eine Erklärung der Hartherzigkeit von Onkel Dagobert über die Annahme eines psychologischen Motivs des Gewinnstrebens vom Typ „individuell-1“ – nicht nur fast tautologisch, sondern auch soziologisch ganz und gar uninteressant. Soziologisch bedeutsam wäre dagegen der Nachweis, daß in Entenhausen das Rechts- und Prestigesystem so strukturiert ist, daß ältere, von den eingesessenen Netzwerken isolierte Enten soziale Wertschätzung und physisches Wohlbefinden nur durch das Anhäufen enormer Geldmengen erreichen können – und deshalb auch dieses „Motiv“ entwickeln, wenn immer sie sich in dieser Situation befinden und unabhängig von ihrer Sozialisation und Lerngeschichte. Eine historische bzw. institutionelle Analyse von Entenhausen und seiner Population könnte dann noch erklären, warum es dort zu dieser Art der gesellschaftlichen Organisisation der sozialen Produktionsfunktionen gekommen ist. Wenn man das alles weiß, wird ein eigenes, individuell-1-Motiv der Geldgier für die Erklärung des Handelns der erwachsenen Enten in Entenhausen ganz und gar überflüssig. Daß Onkel Dagobert darüber hinaus auch noch eine – frühentlich erworbene – quasisexuelle Obsession für das Baden im Geld hat, ist wiederum soziologisch und für den Erfolg der Erklärung ganz und gar unerheblich – psychoanalytisch und sozialisationstheoretisch dagegen um so interessanter.
Schließlich sollte eine individuell-2-Theorie es drittens zulassen, daß allzu einfache und abstrakte Brückenhypothesen zwischen der objektiven Situation und den Variablen der Handlungstheorie – den Erwartungen und den Bewertungen also – jederzeit problematisiert und auch wieder entproblematisiert werden können. Also beispielsweise: Wenn es um die Erklärung der Teilnahme an Lotterien oder der Versicherung vor seltenen Naturkatastrophen geht. Dann versagen nämlich die einfachen Brückenhypothesen der Gleichsetzung von objektiver und subjektiver Wahrscheinlichkeit: Die objektive Nutzenerwartung für Lotterien und für Versicherungen ist stets negativ – sonst gäbe es die Versicherungspaläste und die Lottoskandale nicht. Es gibt also für die Erklärung der Teilnahme an Lotterien und des Kaufs von Versicherungen mit Hilfe des abstrakten Modells der objektiven Erwartungen eine Anomalie, weil eine zu einfache individuell-2-Theorie angewandt wurde. Nun kann aber berücksichtigt werden, was die Psychologie mit ihren individuell-1-Theorien für solche Fälle der Erwartung seltener Ereignisse herausgefunden hat: daß von Menschen normalerweise kleine Wahrscheinlichkeiten über- und große Wahrscheinlichkeiten unterschätzt werden.
358
Opportunitäten und Restriktionen
Mit dem Einbau dieser weniger abstrakten, aber auch etwas unhandlicheren, jedoch empirisch zutreffenden Annahmen kann die „Anomalie“, daß es Versicherungen und Lotterien „wirklich“ gibt, leicht und erklärungskräftig beseitigt werden. Für andere Probleme mit sozialen Situationen, bei denen es wieder nur auf nicht-seltene Erwartungen ankommt, kann man aber getrost wieder zurück auf die gröbere Ebene einer individuell-2-Theorie gehen, die die objektiven mit den subjektiven Wahrscheinlichkeiten gleichsetzt – und in diesen Fällen in den aggregierten Effekten zu vollkommen zufriedenstellenden Ergebnissen führt. Für die Abgrenzung von den psychologistischen individuell-1-Theorien ist die Feststellung noch wichtig, daß die genannten drei Anforderungen von vielen psychologischen bzw. sozialpsychologischen Theorien nicht gut erfüllt werden: Sie sind oft zu kompliziert, sie sind meist zu weit weg von den sozialen Strukturen oder lassen es nicht zu, daß unterschiedliche Strukturen in ihren unabhängigen Variablen Platz finden, und sie erlauben es auch meist nicht, wieder zu abstrakteren Fassungen zurückzukehren, wenn man sie einmal eingesetzt hat. Beispiele wären die psychoanalytische Theorie, die behavioristische Lerntheorie, die Theorie der symbolischen Interaktion, sowie viele der neueren Theorien der kognitiven (Sozial-)Psychologie. Welche Theorie des Handelns die gestellten Anforderungen im Zusammenhang von soziologischen Erklärungen und mit der Perspektive einer stets erforderlichen abnehmenden Abstraktion am besten erfüllt, ist, wenn man die „Speziellen Grundlagen“ bis hierher gelesen hat, nicht schwer zu erraten. Es ist die Wert-Erwartungs-Theorie, die wir in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ausführlich besprochen haben. Sie steht in Einklang mit den biologischen und anthropologischen Erkenntnissen über den homo sapiens, ist abstrakt genug für die meisten Problemfelder der Soziologie und läßt sich gut mit komplexeren Annahmen anreichern – und wieder vereinfachen, wenn sich das als möglich erweist. Auch deshalb ist sie die Grundlage im Kern der Modelle nicht nur über die stumme Macht der Möglichkeiten gewesen. Sechs Regeln
Freundlicherweise hat Siegwart Lindenberg seine Überlegungen zur Methode der abnehmenden Abstraktion in sechs konkreteren Regeln zusammengefaßt. Sie gehen über die allgemeinen Empfehlungen zu diesem Problembereich hinaus. Wir geben sie hier – teils weiter komprimierend, teils etwas ergänzend – wieder.
Die stumme Macht der Möglichkeiten
359
1. Beginne mit dem einfachst möglichen Modell, mache aber diese einfachen Annahmen auch explizit, auch wenn die soziologischen Feingeister sofort zu rufen anfangen: trivial, trivial! 2. Wenn eine Problematisierung der Annahmen nötig wird, dann nimm sie so vor, daß Du möglichst sicher bist, daß diese neuen Annahmen auch haltbar sind! Anders gesagt: Informiere Dich bei den Nachbardisziplinen über den Stand der Dinge für den Fall, daß es nötig wird! 3. Ändere die Annahmen über die subjektiven Ansichten und die Kognitionen der Akteure erst dann, wenn die strukturellen Annahmen über die externen Bedingungen in der Situation schon komplexer geworden sind! Also: Bemühe das Thomas-Theorem erst dann, wenn es wirklich nicht mehr anders geht! Aber auch dann gilt: Überprüfe die unterstellten subjektiven Interpretationen gesondert und suche wieder strukturelle Gründe dafür, warum die Menschen ihre Situation so eigenartig sehen! 4. Problematisiere Fehler nur so lange, wie der Gewinn an Erklärungskraft den zusätzlichen Aufwand bei der Problematisierung rechtfertigt! Hierfür gibt es – leider – keine feste Regel. Man braucht sehr viel an Hintergrundwissen und an Erfahrungen mit Fehlschlägen – möglichst am eigenen Leib. 5. Versuche, die Ergebnisse der komplexeren Modelle wieder so zu vereinfachen, daß sie als allgemeine Aspekte auch in anderen Modellen verwendbar werden. Dazu wird es normalerweise nötig sein, die komplexeren Effekte selbst als Folge einfacherer Strukturen zu erklären. Beispielsweise: Wenn ich erklären kann, unter welchen strukturellen Bedingungen die Menschen nicht zweckrational, sondern traditional handeln, dann wird es möglich, dieses Wissen auch in anderen Problemfeldern anzuwenden, bei denen dieses Phänomen auftritt. Am schönsten wäre es freilich, wenn es schließlich für alle auftretenden Besonderheiten wieder eine allgemeine übergreifende Erklärung gibt. 6. Hüte Dich vor ad-hoc-Annahmen! Jede Problematisierung und jede spezialisierende Zusatzannahme muß eigens begründet werden können! Aber das ist ja eigentlich für einen Wissenschaftler ganz selbstverständlich. Alles andere wäre nichts als eine sich selbst betrügende Prophezeihung.
Die sechs Regeln sind im Einzelfall sicher nicht leicht zu beachten. Sie helfen aber, den Hauptfehler zu vermeiden, der bei Fehlschlägen einer Theorie immer besonders gerne gemacht wird: das Ausweichen auf irgendwelche Nebenaspekte des Problems und auf solche, die außer im gegebenen Fall kaum eine Bedeutung haben. Wie geht es weiter?
Siegwart Lindenberg hat seinen Vorschlag der Methode der abnehmenden Abstraktion auch deshalb formuliert, um einigen typischen Unsitten der Soziologen einerseits und der Ökonomen andererseits zu begegnen. Die neoklassische Ökonomie ist zwar in ihren Modellen sehr exakt, aber zu abstrakt und zu realitätsfern. Und die Soziologie ist voll von interessanten und
360
Opportunitäten und Restriktionen
zu realitätsfern. Und die Soziologie ist voll von interessanten und „realistischen“ Deskriptionen, aber zu wenig theoretisch-systematisch in ihren Aussagen. Die erste Unsitte ist der sog. Modellplatonismus, ein Etikett, das von Hans Albert stammt; die zweite ist eine Art von – wie Siegwart Lindenberg sagt – Komplexitätsfetischismus. Beide Disziplinen hängen sehr an ihren Lastern – und sie fürchten nichts mehr, als den Sünden der Gegenseite zu verfallen. Nach wie vor befürchten Ökonomen, daß sie mit einer Annäherung an realistischere Annahmen genauso komplexitätsversessen und damit in theoretischer Hinsicht genauso schlampig werden müßten wie die Soziologen. Und viele Soziologen scheuen aus nicht unverständlichen Gründen davor, die inhaltsleeren Tautologien des Modellplatonismus der Ökonomen zu übernehmen. Aber gottlob: Allmählich beginnt sich – hier wie dort – herumzusprechen, daß es auch anders gehen müßte. Die Methode der abnehmenden Abstraktion weist – vor dem Hintergrund des Konzeptes der theoriegesteuerten Analyse – hier einen pragmatischen und gleichzeitig systematischen Ausweg. Freilich ist – so Siegwart Lindenberg (1991, S. 69) – von „beiden Seiten ... nun ein gewisser Stilbruch zu erwarten“: Die einen – die Ökonomen – müssen bereit sein, in ihren Modellen der „Wirklichkeit“ in ihren Annahmen über die Hauptaspekte des sozialen Handelns der Menschen einen systematischen Platz einzuräumen. Und die anderen – die Soziologen – müssen endlich auch lernen, abstrakte Modelle der sozialen Zusammenhänge und Prozesse zu bauen, wenn sie eine theoretisch ernstzunehmende Disziplin werden wollen. Daß dabei schließlich vielleicht die Grenzen zwischen den Fächern verschwimmen könnten, sollte dann nicht weiter beunruhigen. Wie hoffte Karl Marx einmal dereinst? Genau: Es wird eine Wissenschaft sein.
Literatur
Bealer, Robert C., Fern K. Willits und Gerald W. Bender, Religious Exogamy: A Study of Social Distance, in: Sociology and Social Research, 48, 1963, S. 69-79 Becker, Gary S., Irrationales Verhalten und ökonomische Theorie, in: Gary S. Becker, Der ökonomische Ansatz zur Erklärung menschlichen Verhaltens, Tübingen 1982a (Mohr), S. 167-186 Becker, Gary S., Human Capital. A Theoretical and Empirical Analysis, with Special Reference to Education, 2.Aufl., New York 1975 (Columbia University Press) Becker, Gary S., Eine Theorie der Allokation der Zeit, in: Gary S. Becker, Der ökonomische Ansatz zur Erklärung menschlichen Verhaltens, Tübingen 1982b (Mohr), S. 97-130 Becker, Gary S., Eine ökonomische Analyse der Fruchtbarkeit, in: Gary S. Becker, Der ökonomische Ansatz zur Erklärung menschlichen Verhaltens, Tübingen 1982c (Mohr), S. 187-214 Becker, Gary S., Eine Theorie sozialer Wechselwirkungen, in: Gary S. Becker, Der ökonomische Ansatz zur Erklärung des menschlichen Verhaltens, Tübingen 1982d (Mohr), S. 282-317 Berkowitz, Stephen D., An Introduction to Structural Analysis. The Network Approach to Social Research, Toronto 1982 (Butterworths) Binmore, Ken, und Partha Dasgupta (Hrsg.), The Economics of Bargaining, Oxford 1987 (Blackwell) Blalock, Hubert M., Theory Construction. From Verbal to Mathematical Formulations, Englewood Cliffs, N.J., 1969 (Prentice Hall) Blau, Peter M., Inequality and Heterogeneity. A Primitive Theory of Social Structure, New York 1977 (Free Press) Blau, Peter M., Structural Contexts of Opportunities, Chicago und London 1994 (University of Chicago Press) Blau, Peter M., und Joseph E. Schwartz, Crosscutting Social Circles. Testing a Macrostructural Theory of Intergroup Relations, Orlando 1984 (Academic Press) Blaug, Mark, An Introduction to the Economics of Education, Harmondsworth 1970 (Penguin Books) Bonacich, Phillip, Power and Centrality: A Family of Measures, in: American Journal of Sociology, 92, 1987, S. 1170-1182 Boudon, Raymond, Die Logik des gesellschaftlichen Handelns. Eine Einführung in die soziologische Denk- und Arbeitsweise, Neuwied und Darmstadt 1980 (Luchterhand) Bourdieu, Pierre, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt/M. 1982 (Suhrkamp) Bourdieu, Pierre, Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, in: Reinhard Kreckel (Hrsg.), Soziale Ungleichheiten, Sonderband 2 der Sozialen Welt, Göttingen 1983 (Otto Schwartz), S. 183-198
362
Literatur
Bourdieu, Pierre, Sozialer Raum und „Klassen“. Leçon sur la leçon. Zwei Vorlesungen, 2. Aufl., Frankfurt/M. 1991 (Suhrkamp) Böventer, Edwin von, Einführung in die Mikroökonomie, 4. Aufl., München und Wien 1986 (Oldenbourg) Brüderl, Josef, und Andreas Diekmann, The Log-Logistic Rate Model. Two Generalizations with an Application to Demographic Data, in: Sociological Methods & Research, 24, 1995, S. 158-186 Burma, John H., Interethnic Marriage in Los Angeles, 1948-1959, in: Social Forces, 42, 1963, S. 156-165 Burt, Ronald S., Models of Network Structure, in: Annual Review of Sociology, 6, 1980, S. 79-141 Burt, Ronald S., Toward a Structural Theory of Action. Network Models of Social Structure, Perception, and Action, New York u.a. 1982 (Academic Press) Burt, Ronald S., Structural Holes. The Social Structure of Competition, Cambridge, Mass., und London 1992 (Harvard University Press) Buskens, Vincent, Social Networks and Trust, Amsterdam 1999 (Thela Publishers) Coleman, James S., Foundations of Social Theory, Cambridge, Mass., und London 1990 (Belknap Press) Coleman, James S., Elihu Katz und Herbert Menzel, Medical Innovation. A Diffusion Study, Indianapolis, New York und Kansas City 1966 (Bobbs-Merrill) Degenne, Alain, und Michel Forsé, Introducing Social Networks, London, Thousand Oaks und New Delhi 1999 (Sage) Diekmann, Andreas, Sozialkapital und das Kooperationsproblem in sozialen Dilemmata, in: Analyse und Kritik, 15, 1993, S. 22-35 Edgeworth, Francis Y., Mathematical Psychics: An Essay on the Application of Mathematics to the Moral Sciences, London 1932 (Kelly); zuerst: London 1881 Elster, Jon, Nuts and Bolts for the Social Sciences, Cambridge u.a. 1989a (Cambridge University Press) Elster, Jon, The Cement of Society. A Study of Social Order, Cambridge u.a. 1989b (Cambridge University Press) Esser, Hartmut, Der Austausch kompletter Netzwerke. Freundschaftswahl als „Rational Choice“, in: Hartmut Esser und Klaus G. Troitzsch (Hrsg.), Modellierung sozialer Prozesse, Bonn 1991 (Informationszentrum Sozialwissenschaften), S. 773-809 Esser, Hartmut, Social Modernization and the Increase in the Divorce Rate, in: Journal of Institutional and Theoretical Economics, 149, 1993, S. 252-277 Esser, Hartmut, Heiratskohorten und die Instabilität von Ehen, in: Thomas Klein und Johannes Kopp, Scheidungsursachen aus soziologischer Sicht, Würzburg 1999 (Ergon), S. 63-89 Esser, Hartmut, Kleines Lexikon der Kölner Schule, 3., wesentlich erweiterte Aufl., Ratingen und Bergisch Gladbach 2000 (Hugenpoet); zuerst: Ratingen und Bergisch Gladbach 1990 Fararo, Thomas J., Mathematical Sociology. An Introduction to Fundamentals, New York u.a. 1973 (Wiley) Feger, Hubert, Netzwerkanalyse in Kleingruppen: Datenarten, Strukturregeln und Strukturmodelle, in: Franz U. Pappi (Hrsg.), Methoden der Netzwerkanalyse, München 1987 (Oldenbourg), S. 203-251 Felderer, Bernhard, und Michael Sauga, Bevölkerung und Wirtschaftsentwicklung, Frankfurt/M. und New York 1988 (Campus) Flap, Hendrik D., und Nan D. de Graaf, Social Capital and Attained Occupational Status, in: The Netherlands Journal of Sociology, 22, 1986, S. 145-161
Literatur
363
Frank, Robert H., Microeconomics and Behavior, New York u.a. 1991 (McGraw-Hill) Freeman, Linton C., A Set of Measures of Centrality Based on Betweenness, in: Sociometry, 40, 1977, S. 35-41 Freeman, Linton C., Centrality in Social Networks. Conceptual Clarification, in: Social Networks, 1, 1978/79, S. 215-239 Friedman, Milton, The Methodology of Positive Economics, in: William Breit und Harold M. Hochman, Readings in Microeconomics, 2. Aufl., Hinsdale, Ill., 1971 (Holt, Rinehart and Winston), S. 23-54 Fukuyama, Francis, Trust. The Social Virtues and the Creation of Prosperity, New York u.a. 1995 (Free Press) Geißler, Rainer, Soziale Schichtung und Bildungschancen, in: Rainer Geißler (Hrsg.), Soziale Schichtung und Lebenschancen in der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1987 (Enke), S. 79-110 Granovetter, Mark S., The Strength of Weak Ties, in: American Journal of Sociology, 78, 1973, S. 1360-1380 Granovetter, Mark S., Getting a Job. A Study of Contacts and Careers, Cambridge, Mass., 1974 (Harvard University Press) Granovetter, Mark, Threshold Models of Collective Behavior, in: American Journal of Sociology, 83, 1978, S. 1420-1443 Granovetter, Mark, Economic Action and Social Structure: The Problem of Embeddedness, in: American Journal of Sociology, 91, 1985, S. 481-510 Granovetter, Mark, und Roland Soong, Threshold Models of Diffusion and Collective Behavior, in: Journal of Mathematical Sociology, 9, 1983, S. 165-179 Hagle, Timothy M., Basic Math for Social Scientists. Concepts, Thousand Oaks, London und New Delhi 1995 (Sage) Harsanyi, John C., Approaches to the Bargaining Problem Before and After the Theory of Games: A Critical Discussion of Zeuthen’s, Hicks’, and Nash’s Theories, in: Econometrica, 24, 1956, S. 144-157 Harsanyi, John C., Rational Behavior and Bargaining Equilibrium in Games and Social Situations, Cambridge, Mass., u.a. 1977 (Cambridge University Press) Haug, Sonja, Soziales Kapital. Ein kritischer Überblick über den aktuellen Forschungsstand, Arbeitspapier AB II/15 des Mannheimer Zentrums für Europäische Sozialforschung, Mannheim 1997 Heckathorn, Douglas, A Unified Model for Bargaining and Conflict, in: Bahavioral Science, 25, 1980, S. 261-284 Hirshleifer, Jack, und Amihai Glazer, Price Theory and Applications, 5. Aufl., Englewood Cliffs, N.J., 1992 (Prentice-Hall) Holler, Manfred J., Ökonomische Theorie der Verhandlungen. Einführung, 3. Aufl., München und Wien 1992 (Oldenbourg) Hradil, Stefan, System und Akteur. Eine empirische Kritik der soziologischen Kulturtheorie Pierre Bourdieus, in: Klaus Eder (Hrsg.), Klassenlage, Lebensstil und kulturelle Praxis. Beiträge zur Auseinandersetzung mit Pierre Bourdieus Klassentheorie, Frankfurt/M. 1989 (Suhrkamp), S. 111-141 Jansen, Dorothea, Einführung in die Netzwerkanalyse. Grundlagen, Methoden, Anwendungen, Opladen 1999 (Leske + Budrich) Jones, R. Kenneth, Paradigm Shifts and Identity Theory: Alternation as a Form of Identity Management, in: Hans Mol (Hrsg.), Identity and Religion, Beverly Hills, 1978 (Sage), S. 59-82
364
Literatur
Kalai, Ehud, und Meir Smorodinsky, Other Solutions to Nash’s Bargaining Problem, in: Econometrica, 43, 1975, S. 513-518 Kaldor, Nicholas, Welfare Propositions of Economics and Inter-Personal Comparisons of Utility, in: The Economic Journal, 49, 1939, S. 549-552 Klein, Thomas, und Johannes Kopp, Die Mannheimer Scheidungsstudie, in: Thomas Klein und Johannes Kopp (Hrsg.), Scheidungsursachen aus soziologischer Sicht, Würzburg 1999 (Ergon), S. 11-22 Knight, Frank H., Risk, Uncertainty, and Profit, Chicago 1971(Chicago University Press); zuerst: Boston 1921 Knoke, David, und James H. Kuklinski, Network Analysis, Beverly Hills, London und New Delhi 1982 (Sage) Kohlmann, Annette, und Johannes Kopp, Verhandlungstheoretische Modellierung des Übergangs zu verschiedenen Kinderzahlen, in: Zeitschrift für Soziologie, 26, 1997, S. 258-274 Krais, Beate, Bildung als Kapital: Neue Perspektiven für die Analyse der Sozialstruktur?, in: Reinhard Kreckel (Hrsg.), Soziale Ungleichheiten, Sonderband 2 der Sozialen Welt, Göttingen 1983 (Otto Schwartz), S. 199-220 Lancaster, Kelvin J., Moderne Mikroökonomie, 3. Aufl., Frankfurt/M. und New York 1987 (Campus) Laumann, Edward O., und Franz U. Pappi, Networks of Collective Action. A Perspective on Community Influence Systems, New York, San Francisco und London 1976 (Academic Press) Lazarsfeld, Paul F., und Robert K. Merton, Friendship as Social Process: A Substantive and Methodological Analysis, in: Morroe Berger, Theodore Abel und Charles H. Page (Hrsg.), Freedom and Control in Modern Society, Toronto, New York und London 1954 (van Nostrand), S. 18-66 Lee, Che-Fu, Raymond H. Potvin und Mary J. Verdieck, Interethnic Marriage as an Index of Assimilation: The Case of Singapore, in: Social Forces, 53, 1974, S. 112-119 Lin, Nan, John C. Vaughn und Walter M. Ensel, Social Resources and Occupational Status Attainment, in: Social Forces, 59, 1981, S. 1163-1181 Lin, Nan, Social Resources and Instrumental Action, in: Peter V. Marsden und Nan Lin (Hrsg.), Social Structure and Network Analysis, Beverly Hills 1982 (Sage), S. 131-145 Lin, Nan, Walter M. Ensel und John C. Vaughn, Social Resources and Strength of Ties: Structural Factors in Occupational Status Attainment, in: American Sociological Review, 46, 1981b, S. 393-405 Lindenberg, Siegwart, Die Methode der abnehmenden Abstraktion: Theoriegesteuerte Analyse und empirischer Gehalt, in: Hartmut Esser und Klaus G. Troitzsch (Hrsg.), Modellierung sozialer Prozesse, Bonn 1991 (Informationszentrum Sozialwissenschaften), S. 29-78 Lohmann, Susanne, The Dynamics of Informational Cascades. The Monday Demonstrations in Leipzig, East Germany, 1989-91, in: World Politics, 47, 1994, S. 42-101 Loury, Glenn C., A Dynamic Theory of Racial Income Differences, in: Phyllis A. Wallace und Annette M. LaMond (Hrsg.), Women, Minorities, and Employment Discrimination, Lexington, Mass., und Toronto 1977 (Heath), S. 153-188 McKenzie, Richard B., und Gordon Tullock, Homo Oeconomicus. Ökonomische Dimensionen des Alltags, Frankfurt/M. und New York 1984 (Campus) Michael, Robert T., und Gary S. Becker, On the New Theory of Consumer Behavior, in: Gary S. Becker, The Economic Approach to Human Behavior, Chicago und London 1976 (University of Chicago Press), S. 131-149
Literatur
365
Mincer, Jacob, On-the-Job Training: Costs, Returns, and Some Implications, in: The Journal of Political Economy, 70, 1962, S. 50-79 Misztal, Barbara A., Trust in Modern Societies. The Search for the Bases of Social Order, Cambridge 1996 (Polity Press) Müller, Hans-Peter, Sozialstruktur und Lebensstile. Der neuere theoretische Diskurs über soziale Ungleichheit, Frankfurt/M. 1992 (Suhrkamp) Müller, Walter, und Dietmar Haun, Bildungsungleichheit im sozialen Wandel, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 46, 1994, S. 1-42 Müller-Benedict, Volker, Selbstorganisation in sozialen Systemen. Erkennung, Modelle und Beispiele nichtlinearer sozialer Dynamik, Opladen 2000 (Leske + Budrich) Nash, John F., The Bargaining Problem, in: Econometrica, 18, 1950, S. 155-162 Nash, John F., Two-Person Cooperative Games, in: Econometrica, 21, 1953, S. 128-140 Olinick, Michael, An Introduction to Mathematical Models in the Social and Life Sciences, Reading, Mass., u. a. 1978 (Addison-Wesley) Oliver, Pamela, Gerald Marwell und Ruy Teixeira, A Theory of the Critical Mass. I. Interdependence, Group Heterogeneity, and the Production of Collective Action, in: American Journal of Sociology, 91, 1985, S. 522-556 Ott, Notburga, Familienbildung und familiale Entscheidungsfindung aus verhandlungstheoretischer Sicht, in: Gert Wagner, Notburga Ott und Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny (Hrsg.), Familienbildung und Erwerbstätigkeit im demographischen Wandel, Berlin u. a. 1989 (Springer), S. 97-116 Pappi, Franz Urban (Hrsg.), Methoden der Netzwerkanalyse, München 1987a (Oldenbourg) Pappi, Franz Urban, Die Netzwerkanalyse aus soziologischer Perspektive, in: Franz Urban Pappi (Hrsg.), Methoden der Netzwerkanalyse, München 1987b (Oldenbourg), S. 11-37 Paxton, Pamela, Is Social Capital Declining in the United States? A Multiple Indicator Assessment, in: American Journal of Sociology, 105, 1999, S. 88-127 Portes, Alejandro, Social Capital: Its Origins and Applications in Modern Sociology, in: Annual Review of Sociology, 24, 1998; S. 1-24 Portes, Alejandro, und Patricia Landolt, The Downside of Social Capital, in: The American Prospect, 94, 1996, S. 18-21 Putnam, Robert D., Making Democracy Work. Civic Traditions in Modern Italy, Princeton, N.J., 1993 (Princeton University Press) Radford, R. A., The Economic Organization of a P.O.W. Camp, in: Economica, 12, 1945, S. 189-201 Radnitzky, Gerard, und Peter Bernholz (Hrsg.), Economic Imperialism. The Economic Approach Applied Outside the Field of Economics, New York 1987 (Paragon House) Ramb, Bernd-Thomas, und Manfred Tietzel (Hrsg.), Ökonomische Verhaltenstheorie, München 1993 (Vahlen) Röhrle, Bernd, Soziale Netzwerke und soziale Unterstützung, Weinheim 1994 (Beltz) Rubinstein, Ariel, Perfect Equilibrium in a Bargaining Model, in: Econometrica, 50, 1982, S. 97-109 Rubinstein, Ariel, A Bargaining Model with Incomplete Information about Time Preferences, in: Econometrica, 53, 1985, S. 1151-1172 Samuelson, Paul A., Volkswirtschaftslehre. Eine Einführung, Band I, 3. Aufl., Köln 1964 (Bund-Verlag) Scharpf, Fritz W., Koordination durch Verhandlungssysteme: Analytische Konzepte und institutionelle Lösungen, in: Arthur Benz, Fritz W. Scharpf und Reinhard Zintl (Hrsg.), Horizontale Politikverflechtung. Zur Theorie von Verhandlungssystemen, Frankfurt/M. und New York 1992 (Campus), S. 51-96
366
Literatur
Schelling, Thomas C., An Essay on Bargaining, in: Thomas C. Schelling, The Strategy of Conflict, Cambridge, Mass., 1960 (Harvard University Press), S. 21-52 Schelling, Thomas C., Dynamic Models of Segregation, in: Journal of Mathematical Sociology, 1, 1971, S. 143-186 Schelling, Thomas C., Mircromotives and Macrobehavior, New York und London 1978 (Norton) Schenk, Michael, Soziale Netzwerke und Kommunikation, Tübingen 1984 (Mohr) Scheuch, Erwin K., Netzwerke, in: Dieter Reigber (Hrsg.), Social Networks. Neue Dimensionen der Markenführung, Düsseldorf u.a. 1993 (ECON Verlag), S. 95-130 Schultz, Theodore W., Investment in Human Capital, in: The American Economic Review, 51, 1961, S.1-17 Schweizer, Thomas, Muster sozialer Ordnung. Netzwerkanalyse als Fundament der Sozialethnologie, Berlin 1996 (Reimer) Scott, John, Social Network Analysis. A Handbook, London, Newbury Park und New Delhi 1991 (Sage) Selten, Reinhard, Reexamination of the Perfectness Concept for Equilibrium Points in Extensive Games, in: International Journal of Game Theory, 4, 1975, S. 25-55 Shepherd, William C., Conversion and Adhesion, in: Harry M. Johnson (Hrsg.), Religious Change and Continuity: Sociological Perspectives, San Francisco, Washington und London 1979 (Jossey-Bass), S. 251-263 Simmel, Georg, Die Kreuzung sozialer Kreise, in: Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, 5. Aufl., Berlin 1968 (Duncker & Humblot), S. 305-344; zuerst: Leipzig 1908 Simmel, Georg, Soziologie der Konkurrenz, in: Georg Simmel, Schriften zur Soziologie, Frankfurt/M. 1983 (Suhrkamp); zuerst in: Neue Deutsche Rundschau, 14, 1903, S. 10091023 Snow, David A., und Richard Machalek, The Sociology of Conversion, in: Annual Review of Sociology, 10, 1984, S. 167-190 Ståhl, Ingolf, Bargaining Theory, Stockholm 1972 (EFI) Travisano, R. V., Alternation and Conversion as Qualitatively Different Transformations, in: Gregory P. Stone und Harvey A. Faberman (Hrsg.), Social Psychology through Symbolic Interaction, Waltham, Mass., 1970 (Xerox College Publication), S. 594-606 Wegener, Bernd, Vom Nutzen entfernter Bekannter, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 39, 1987, S. 278-301 Wellman, Barry, und Stephen D. Berkowitz (Hrsg.), Social Structures: A Network Approach, Cambridge u.a. 1988 (Cambridge University Press) Windolf, Paul, und Jürgen Beyer, Kooperativer Kapitalismus. Unternehmensverflechtungen im internationalen Vergleich, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 47, 1995, S. 1-36 Wippler, Reinhard, Cultural Resources and Participation in High Culture, in: Michael Hechter, Karl-Dieter Opp und Reinhard Wippler (Hrsg.), Social Institutions. Their Emergence, Maintenance and Effects, Berlin und New York 1990 (de Gruyter), S. 187204 Wolf, Christof, Gleich und gleich gesellt sich. Individuelle und strukturelle Einflüsse auf die Entstehung von Freundschaften, Hamburg 1996 (Dr. Kovač) Zeuthen, Frederik, Problems of Monopoly and Economic Warfare, New York 1968 (Kelley); zuerst: London 1930